Rache im Realismus: Recht und Rechtsgefühl bei Droste-Hülshoff, Gotthelf, Fontane und Heyse 9783839446355

Dania Hückmann examines how revenge breaks into bourgeois society in the literature of realism and asks: Does revenge re

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German Pages 218 Year 2018

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Table of contents :
Inhalt
Danksagung
Einleitung
Höhere Gewalt?
I. Rache der Schrift: Annette von Droste-Hülshoffs Die Judenbuche (1842)
II. Rache und (falsche) Versprechen: Jeremias Gotthelfs Die schwarze Spinne (1842)
Rache und Recht
III. Mimetische Effekte: Rache, Recht und Theater Theodor Fontanes Grete Minde (1880)
IV. Rache als Unfähigkeit zu trauern: Paul Heyses Andrea Delfin (1859)
Ritualisierte Rache: Das Duell
V. Vorgeschriebene Rache Das Duell in Fontanes Cécile (1886) und Effi Briest (1894)
V.1 Eine Frage der Ehre? Theodor Fontanes Cécile (1886)
V.2 Pflicht zur Rache: Das Duell. Theodor Fontanes Effi Briest (1894)
Offene Rechnungen — Ausblick
Literatur
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Rache im Realismus: Recht und Rechtsgefühl bei Droste-Hülshoff, Gotthelf, Fontane und Heyse
 9783839446355

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Dania Hückmann Rache im Realismus

Literalität und Liminalität  | Band 24

Editorial Die literaturtheoretischen Entwicklungen der letzten Jahrzehnte haben zu einer Öffnung der Philologien insbesondere für kultur- und medienwissenschaftliche Fragestellungen beigetragen. Die daraus resultierende Erweiterung des Literaturbegriffs bedingt zugleich, dass die unscharfen Ränder der kulturellen Grenzen in den Blick rückten, wo Fremdes und Eigenes im Raum der Sprache und Schrift ineinander übergehen. Die Reihe Literalität und Liminalität trägt dem Rechnung, indem sie die theoretischen und historischen Transformationen von Sprache und Literatur ins Zentrum ihres Interesses rückt. Mit dem Begriff der Literalität richtet sich das Interesse auf Schriftlichkeit als Grundlage der Literatur, auf die Funktion der Literaturtheorie in den Kulturwissenschaften sowie auf das Verhältnis literarischer Texte zu kulturellen Kontexten. Mit dem Begriff der Liminalität zielt die Reihe in theoretischer und historischer Hinsicht auf Literatur als Zeichen einer Kultur des Zwischen, auf die Eröffnung eines Raums zwischen den Grenzen. Die Reihe wird herausgegeben von Achim Geisenhanslüke und Georg Mein.

Dania Hückmann (PhD), geb. 1978, lehrt deutsche Literatur und Erinnerungskultur an der New York University in Berlin. 2015-2016 war sie Harvard College Fellow am Department of Germanic Languages and Literatures. Sie forscht zu Recht und Literatur mit einem Fokus auf Narratologie und Trauma, Zensur und Zeugenschaft. Publiziert hat sie u.a. zu Jean Améry, Heinrich von Kleist, Thomas Bernhard und Quentin Tarantinos Inglourious Basterds.

Dania Hückmann

Rache im Realismus Recht und Rechtsgefühl bei Droste-Hülshoff, Gotthelf, Fontane und Heyse

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.

© 2018 transcript Verlag, Bielefeld Alle Rechte vorbehalten. Die Verwertung der Texte und Bilder ist ohne Zustimmung des Verlages urheberrechtswidrig und strafbar. Das gilt auch für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und für die Verarbeitung mit elektronischen Systemen. Umschlagkonzept: Kordula Röckenhaus, Bielefeld Umschlagabbildung: Auszug aus Friedrich Nietzsches »Zarathustra« Satz: Justine Buri, Bielefeld Druck: Majuskel Medienproduktion GmbH, Wetzlar Print-ISBN 978-3-8376-4635-1 PDF-ISBN 978-3-8394-4635-5 https://doi.org/10.14361/9783839446355 Gedruckt auf alterungsbeständigem Papier mit chlorfrei gebleichtem Zellstoff. Besuchen Sie uns im Internet: https://www.transcript-verlag.de Bitte fordern Sie unser Gesamtverzeichnis und andere Broschüren an unter: [email protected]

Inhalt Danksagung | 9 Einleitung | 11 Literatur als Surrogat der Rache? | 12 Rache in Recht und Literatur | 14 Rache im Realismus | 16 Rache nach Kleist | 21 Rache als Unfähigkeit zu trauern | 24 Kapitelüberblick | 27

H öhere G ewalt ? I. Rache der Schrift Annette von Droste-Hülshoffs Die Judenbuche (1842) | 33 »Laß ruhn den Stein –« | 35 Rechtsgefühl | 37 Täterprofil Friedrich Mergel | 40 Traumatisches Präsens | 44 »Gerechtigkeit!« | 47 Von Schrei zu Schrift | 52

II. Rache und (falsche) Versprechen Jeremias Gotthelfs Die schwarze Spinne (1842) | 59 Das Versprechen | 62 (Sich) Versprechen | 67 Verbrechen und der Beginn der Gemeinschaft | 69 Der versprochene Körper | 74 Die Ordnung der Rache(spinne) | 79 Der Spinneneffekt | 82

R ache und R echt III. Mimetische Effekte: Rache, Recht und Theater Theodor Fontanes Grete Minde (1880) | 89 Modell Rachemärchen | 91 Rache als mimetisches Begehren | 94 Mimesis zwischen Gericht und Theater | 97 Recht und Literatur | 102 Recht oder das Begehren nach Gerechtigkeit | 106 Rache als Nachstellen des Verlusts | 110 IV. Rache als Unfähigkeit zu trauern Paul Heyses Andrea Delfin (1859) | 117 Recht als Präventivstrafe | 121 Korrupte Staatsgewalt | 123 Rhetorik der Rache | 127 Rache zwischen Manie und Melancholie | 131 Das Unerhörte der unerhörten Begebenheit | 136 Disqualifizierte Rache | 139

R itualisierte R ache : D as D uell V. Vorgeschriebene Rache Das Duell in Fontanes Cécile (1886) und Effi Briest (1894) | 145 V.1 Eine Frage der Ehre? Theodor Fontanes Cécile (1886) | 155 Die Wirklichkeit nach Leslie Gordon | 156 Anekdoten statt Realien | 159 Rache in der Oper | 161 Vom Umkuren zur Rache und zum Duell | 165 Eine Frage des Ehrgefühls | 167 Das Duell und das Ende des Erzählens | 170

V.2 Pflicht zur Rache: Das Duell Theodor Fontanes Effi Briest (1894) | 173 Rache, Duell und die Zeit | 175 »Muss es sein?« | 177 »Ich muss.« | 181 »[…] alles erledigte sich rasch« | 186 »Wollen Sie…« | 188 Hilfskonstruktionen | 191

Offene Rechnungen – Ausblick | 195 Literatur | 205

Danksagung An erster Stelle möchte ich meinen Betreuern und Mentoren Paul Fleming und John Hamilton für ihre stets ermutigende Unterstützung und pointierte wie bedachte Kritik danken, die mich auf den Wegen aus bekanntem Terrain auf das weite Feld des Realismus begleiteten. Ich danke Eckart Goebel für seinen hilfreichen Rat und für das Bekanntmachen mit Jean Améry sowie Ernst Osterkamp für die erbaulichen Gespräche auf beiden Seiten des Atlantiks. Alys George danke ich für ihre anregenden Kommentare und ihre Freundschaft. Neben der beständigen Unterstützung des German Department der New York University haben das Dean’s Dissertation Fellowship und das Humanities Initiative Honorary Fellowship mich in der finalen Phase finanziell großzügig gefördert. Herzlich bedanke ich mich bei Jane Tylus, Gwynneth Malin und allen fellows der Humanities Initiative für die positive und motivierende Arbeitsatmosphäre, die sie geschaffen haben. Dieses Buch wäre nicht möglich gewesen ohne Bruce Bromley, Ulrich Baer, Andrea Dortmann, Pat Hoy III, Winfried Menninghaus, Shireen Patell, Avital Ronell, Nancy Ruttenburg und Thomas Weitin, die mein Denken geprägt, hinterfragt und inspiriert haben. Besonderer Dank gilt auch Ulf Heidel für das akribische Lektorat. Achim Geisenhanslüke, Georg Mein und dem transcript Verlag danke ich dafür, dass sie das vorliegende Buch in die Reihe Literalität und Liminalität aufnehmen. Meinen Eltern, Brigitte und Jochen, und meiner Schwester Eva danke ich für ihre Großzügigkeit und Liebe. Getragen wurde das Projekt von den herausfordernden wie auf bauenden Gesprächen und Ermutigungen meiner Kollegen, Freunde & partners in crime, insbesondere Sarah Lilling, Sage Anderson, Dwai Banerjee, J.  M. Leon, Andrea Donath, Erin Evers, Sharon Danielle Göpfert, Claire Greenleaf Siebers, Matt Hackett, David Hansen, Arne Höcker, Timo Höfer, Josh Jordan, Jonathan Kassner, Alice Lincoln, Mari Mac Lean, Allan Madin, Midnight, Natalie Nagel, Lindsay O’Connor, Andrew Romig, Natalie & Chris Sage, Steffen Schuchhardt, Chadwick Smith, Cara Shousterman, Delia Solomon, Lauren Shizuko Stone und Sonia Werner. Die Verwandlung zum Buch gelang durch den liebevollen Rückhalt von Adham Badr und die Ruhe von Nura.

Einleitung

Diess, ja diess allein ist Rache selbst: des Willens Widerwille gegen die Zeit und ihr »Es war«.1 Die Reaktion des Geschädigten auf das Trauma hat eigentlich nur dann eine völlig »kathartische« Wirkung, wenn sie eine adäquate Reaktion ist; wie die Rache. Aber in der Sprache findet der Mensch ein Surrogat für die Tat, mit dessen Hilfe der Affekt nahezu ebenso »abreagiert« werden kann. 2

Die Literatur des Realismus ist nicht unbedingt für exzessive Emotionen bekannt. Bei den weitschweifenden Beschreibungen, die das Markenzeichen realistischer Texte sind, entsteht eher der Eindruck, dass darin eigentlich gar nichts passiert. Und doch begegnen wir in den zwischen 1840 und 1900 verfassten Texten des Realismus auffällig vielen Rachegeschichten.3 Die Feldzüge der Rächer und Rächerinnen sind vielleicht nicht so dramatisch erzählt wie 1 | Friedrich Nietzsche, Sämtliche Werke. Kritische Studienausgabe, Bd. 4: Also sprach Zarathustra, hg. von Giorgio Colli und Mazziano Montiari, München: dtv 1999, 180. 2 | Josef Breuer und Sigmund Freud, »Über den psychischen Mechanismus hysterischer Phänomene. Vorläufige Mitteilung«, in: Sigmund Freud, Gesammelte Werke, Bd. 1: Studien über Hysterie. Frühe Schriften zur Neurosenlehre, hg. von Anna Freud et al., Frankfurt a.M.: Fischer 1952, 81-98, hier: 87. 3 | Ich übernehme den von Wolfgang Preisendanz für den Realismus vorgegebenen Zeitrahmen und beschäftige mich mit Texten, die zwischen 1840 bis 1900 entstanden sind. Den Anfang des Realismus nicht mit dem Ende der gescheiterten Revolution von 1848 zusammenfallen zu lassen, erscheint mir sinnvoll, da damit der Realismus nicht politischen Eckdaten untergeordnet wird. Der offenere Zeitrahmen gibt mehr Raum, um gesamtgesellschaftliche Entwicklungen und Strömungen wie Industrialisierung oder die Herausbildung des modernen Gerichtswesens mitzudenken. Wolfgang Preisendanz, »Voraussetzungen des poetischen Realismus in der deutschen Erzählkunst des 19. Jahrhunderts (1962)«, in: Richard Brinkmann (Hg.), Begriffsbestimmung des literarischen Realismus, Darmstadt: Wissenschaftliche Buchgesellschaft 1969, 453479, hier: 471.

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bei Heinrich von Kleist, aber es fehlt auch ihnen nicht an emotionaler Sprengkraft. Die Rache Suchenden sind darin von einer allzu menschlichen Sehnsucht getrieben: dem Wunsch nach Wiedergutmachung. Während in Deutschland ein zu Beginn des 19. Jahrhunderts etabliertes modernes Gerichtswesen dafür zuständig war, Recht zu sprechen und Verbrechen zu strafen, versagt es in realistischen Texten oft bereits bei der Beweisaufnahme. Dagegen setzt Rache das Versprechen, erlittenes Unrecht zurückzuzahlen und damit auszugleichen. Statt die von den Rache Übenden ersehnte Gerechtigkeit zu bringen, führt die Rache zu einem Exzess der Zerstörung. In den hier eingehend analysierten Texten von Annette von Droste-Hülshoff, Jeremias Gotthelf, Theodor Fontane und Paul Heyse hält sie dieses Versprechen jedoch in keinem einzigen Fall: Im Realismus scheitert die Rache. Mit Friedrich Nietzsches Also sprach Zarathustra lässt sich einwenden, dass Rache ohnehin zum Scheitern verurteilt ist, denn sie will das Unmögliche: die Zeit umkehren. Laut Zarathustra rebellieren Rache Übende gegen nichts Geringeres als gegen den Lauf der Zeit. Es quält sie, dass sie Vergangenes nicht ändern können und »die Zeit nicht zurückläuft«.4 Sie wollen erlittenes Unrecht nicht hinnehmen, sondern es ungeschehen machen. Mit einem ähnlichen Zeitempfinden konfrontiert, beschreiben Josef Breuer und Sigmund Freud es als »wunderlich«5, dass es Erlebnisse gebe, denen das Fortschreiten der Zeit nichts anhaben könne. Selbst in der Erinnerung wecken etwa traumatische Ereignisse noch Affekte, die so intensiv sind, als hätten die Betroffenen sie gerade erst durchlebt. Überraschenderweise sehen Breuer und Freud eine »adäquate Reaktion«6 auf ein solches Trauma ausgerechnet in der Rache.

L iter atur als S urrogat der R ache ? Während in Also sprach Zarathustra Rache von einem Verlangen getrieben ist, das Vergangene zu ändern, eröffnet sie für Freud und Breuer einen Ausweg aus einer Vergangenheit, die nicht vergehen will. In beiden Fällen sind Rächer und Rächerinnen Menschen, die in der Gegenwart des Vergangenen gefangen sind. Philosophisch wie psychoanalytisch betrachtet speist sich der Durst nach Rache demnach aus einem erlittenen Verlust oder einem Unrecht, den bzw. das die Betroffenen nicht überwinden können. Weit davon entfernt, Rache als Strategie zu empfehlen, um ein Trauma zu verarbeiten, haben Breuer und 4 | Nietzsche, Also sprach Zarathustra, 180. 5 | Breuer und Freud, »Über den psychischen Mechanismus hysterischer Phänomene«, 86. 6 | Breuer und Freud, »Über den psychischen Mechanismus hysterischer Phänomene«, 87.

Einleitung

Freud sogleich eine Alternative parat: das »Surrogat« Sprache. Der ökonomische Impuls der Rache – Gleiches mit Gleichem zu vergelten – solle umgelenkt werden und nicht in Handeln münden, sondern in sprachlichem Ausdruck. Im Sprechakt werde dann die Reaktion auf einen Verlust nachgeholt und so der daran geknüpfte Affekt (im Nachhinein) abreagiert. Dadurch könne die Verletzung, »die vergolten ist, wenn auch nur durch Worte, […] anders erinnert [werden] als eine, die hingenommen werden mußte«.7 Das Erlebte in Sprache zu übertragen ersetzt also nicht nur das Handeln, sondern schreibt auch das Es war, das Zarathustra so plagt, einfach um. Ist Literatur also der ultimative Katalysator, um Rache zu entschärfen, indem sie diese in Sprache übersetzt? Durch die Ersatzfunktion, die Breuer und Freud der Sprache zuschreiben, würde die Gewalt der Rache in dem Moment gebannt, in dem sie dargestellt würde. Doch was passiert mit dem exzessiven Wesen der Rache? Mit ihrer Tendenz, Kettenreaktionen zu entfachen? Kann Sprache die Macht rächender Gewalt tatsächlich vollständig absorbieren? Die in der Zeit des Realismus entstandenen Texte von Droste-Hülshoff, Gotthelf, Fontane und Heyse antizipieren die Gefahr, dass das exzessive Wesen der Rache selbst in erzählter Form noch fortwirkt. Dabei dient nicht allein die Sprache in diesen Texten als Surrogat für die Rache. Vielmehr entwirft jeder Text eigene erzählerische Strategien, um Rache einzugrenzen und ihr Scheitern zu inszenieren. Das beginnt bereits mit der Wahl des Genres. Von Sophokles’ Antigone über Shakespeares Hamlet bis zu Schillers Die Räuber dominiert das Theater als Genre der Rache. Bei den Autoren und Autorinnen des Realismus ist es hingegen die eher unscheinbare Novelle, das Genre der »unerhörten Begebenheit«, wie es in Goethes berühmter Definition heißt.8 Darüber hinaus werden die Darstellungen der Rache in Rahmengeschichten verpackt und in lang vergangene Zeiten versetzt. Als wäre selbst das noch nicht genug, verweisen Droste-Hülshoffs Die Judenbuche (1842) und Gotthelfs Die schwarze Spinne (1842) die Rache in den Bereich der Legenden, um ihre gewaltsamen Impulse zu bannen. In Heyses Andrea Delfin (1862) und Fontanes Grete Minde (1879) verfallen die Charaktere, die gegen die Justiz rebellieren, dem Wahnsinn und in Fontanes Romanen Cécile (1886) und Effi Briest (1896)9 wird 7 | Breuer und Freud, »Über den psychischen Mechanismus hysterischer Phänomene«, 87. 8 | Gespräch vom 20. Januar 1827, in: Johann Peter Eckermann, Gespräche mit Goethe in den letzten Jahren seines Lebens, hg. von Heinz Schlaffer, München: Hanser 1986, 200-205, hier: 203. 9 | Dass Effi Briest und Cécile, in denen Rache allein in der ritualisierten Form des Duells auftaucht, in Romanform geschrieben sind, deutet bereits darauf hin, dass in ihnen nicht Rache als unerhörte Begebenheit im Zentrum steht, sondern die Geschichte der Titelheldinnen.

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die Rache im Duell ritualisiert. Kurz, im Realismus taucht Rache auf, nur um als scheiterndes Unternehmen entlarvt zu werden. Dabei kommen gerade die für den Realimus charakteristischen Stilmittel wie Rahmenerzählungen, das Genre der Novelle sowie der Modus des Beschreibens zum Einsatz, und zwar als Strategien, um die Gewalt der Rache einzuhegen. Allerdings funktionieren diese Strategien nicht immer – Rahmenerzählungen können zum Beispiel brüchig werden und darin enthaltene Rachelegenden nicht mehr sicher einschließen; eine Figur, die als hexenhafte Fremde präsentierte wird, kann aus heutiger Sicht wie eine heldenhafte Rebellin wirken. Die Darstellung der Rache im Realismus steht also vor dem Dilemma, dass jeder Versuch, sie erzählerisch einzugrenzen, sie zugleich herauf beschwört. Damit laufen die Texte immer Gefahr, dass die Rache erzählerisch außer Kontrolle gerät.

R ache in R echt und L iter atur Historisch betrachtet reflektieren realistische Texte, indem sie Rache im Scheitern repräsentieren, das Ziel des modernen Rechts, Rache strukturell zu bannen. Das Exzessive der Rache lässt uns leicht vergessen, dass sie wie das Recht auf einem Ausgleichsgedanken beruht. Als Verlangen nach Gerechtigkeit verkörpert sie sozusagen die emotionale Dimension des Rechts, die das Gerichtswesen, welches Gerechtigkeit nur als Rechtsprechen denkt, zu verdrängen sucht. Dabei bilden Rache und Recht, wie René Girard in Das Heilige und die Gewalt schreibt, keinesfalls Gegensätze: »Es gibt im Strafwesen kein Rechtsprinzip, das vom Racheprinzip wirklich verschieden ist.«10 Rache und Recht wurzeln beide im Prinzip der Vergeltung und haben das gemeinsame Ziel, Unrecht zu strafen. Girard sieht im modernen Gerichtswesen schlicht eine Fortführung der Rache mit anderen, das heißt hier mit öffentlichen Mitteln. Rache werde gebannt, indem sie in das moderne Gerichtswesen überführt werde. Dabei hebe das Gerichtswesen die Rache keinesfalls auf, »vielmehr begrenzt es sie auf eine einzige Vergeltungsmaßnahme«, die Strafe.11 Girard präsentiert das Gerichtswesen als juridisches Gegenstück zu dem Versuch, Rache sprachlich bzw. erzählerisch einzugrenzen. Allerdings gehen für Girard Rache und ihr Exzess restlos im Gerichtswesen auf, so dass wir heute quasi nichts mehr mit ihr zu tun haben: »Dieser Teufelskreis existiert für uns nicht«, denn »die Entscheide der gerichtlichen Autorität behaupten sich immer als das letzte Wort der Rache« und damit als Endpunkt der Gewalt.12 Entgegen dieser Einschätzung zeigen realistische Tex10 | René Girard, Das Heilige und die Gewalt, Frankfurt a.M.: Fischer 1992, 29. 11 | Girard, Das Heilige und die Gewalt, 29. 12 | Girard, Das Heilige und die Gewalt, 29.

Einleitung

te, dass Rache sehr wohl ein Nachleben hat. Das subjektive Verständnis von Gerechtigkeit, das der Rache eigen ist, macht sie zum Schatten eines überlebten Rechtsgedankens. Im Realismus können Rächer und Rächerinnen dabei zugleich Seismographen dafür sein, wie rechtmäßig die Justiz funktioniert. In diesem Sinne hat Rache auch etwas Mahnendes, denn sie steht für die Möglichkeit, dass alte Rechtsprinzipien jederzeit wiederkehren könnten, sollte das bestehende Gerichtswesen versagen. In realistischen Texten kann Rache nie gänzlich vom Gerichtswesen absorbiert werden, sondern verhält sich – einer Schläferzelle gleich – oftmals über lange Strecken inaktiv. Die Literatur des Realismus entwickelt also eigene Formen der Surrogatfunktion, die Freud und Breuer der Sprache und Girard dem Gerichtswesen zuschreiben. Wenn Droste-Hülshoff, Gotthelf, Fontane und Heyse Rache als scheiterndes Projekt präsentieren, korrespondiert dies wie gesagt mit dem Entstehen des modernen Gerichtswesens zu Beginn des 19. Jahrhundert. Diese (rechts‑)historische Entwicklung, die Michel Foucault in Die Wahrheit und die juristischen Formen diskutiert, verweist auf erste Indizien, die darauf hindeuten, wogegen die Rächer und Rächerinnen im Realismus denn eigentlich rebellieren. Um 1840 steckt das moderne Rechtswesen noch in seinen Kinderschuhen; der Realismus entsteht also während einer juristischen Schwellenzeit, in der unterschiedliche Rechtsgedanken im Konflikt miteinander stehen.13 Nach 13 | Wenn es in Bezug auf den Realismus um Recht und Literatur geht, denken wir nicht unbedingt als Erstes an Rache, sondern eher an Adalbert Stifters sanftes Gesetz, »wodurch das menschliche Geschlecht geleitet wird«, wie es in seiner Vorrede zu Bunte Steine (1853) heißt. Adalbert Stifter, »Vorrede«, in: Adalbert Stifter, Bunte Steine. Ein Festgeschenk, Furth im Wald: Vitalis 2005, 7-14, hier: 9. Doch selbst hier taucht die Rache als Störenfried auf. Es sind nämlich gerade zerstörerische Gefühle wie der »furchtbar einherrollende[] Zorn, die Begier nach Rache, de[r] entzündete[] Geist, der nach Tätigkeit strebt«, die dem »sanften Gesetz« Probleme bereiten und drohen, dessen allgemeine Gültigkeit ins Wanken zu bringen. Stifter, »Vorrede«, 9. Bei Stifter ist es keinesfalls klar, wie Paul Fleming herausstellt, ob Zorn und Rache unter dasselbe »sanfte Gesetz« fallen wie gnädige und unterstützende Handlungen. Fielen sie unter ein anderes Gesetz, würde das jedoch zugleich bedeuten, dass es nicht das eine Gesetz gibt, das sowohl Natur als auch Gesellschaft regiert, und damit gäbe es dann auch nicht das eine ethische Gesetz, auf das alle Handlungen, egal ob destruktiv oder konstruktiv, bezogen werden können. Paul Fleming, Exemplarity and Mediocrity. The Art of the Average from Bourgeois Tragedy to Realism, Stanford: Stanford University Press 2009, 150. Neben dem Gedanken eines alles umfassenden ethischen Regelwerks wirkt das Regelwerk der weltlichen Justiz eher blass. Die Rache exponiert diese Blässe, indem sie selbst nur als Riss in der Vorstellung eines alles regierenden Regelwerks denkbar ist. Sie erscheint als Konfliktfigur, anhand derer sich der Effekt des juristischen Wandels sowohl auf die Figuren als auch auf die Darstellung von Wirklichkeit abzeichnet. Wenn

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Foucault wechseln die juristischen Formen von einem binären Rechtskonzept – in dem sich zwei Parteien gegenüberstehen – zu einem triangulären Rechtsverständnis, in dem eine dritte Instanz hinzukommt, die den Konflikt beurteilt. Dadurch soll, ganz im Sinne Girards, das persönliche Element durch eine objektiv richtende Instanz ersetzt werden. Zur Zeit des Realismus zeigt sich der von Foucault beschriebene Wandel in Deutschland etwa in den Debatten über die Rechtskodifikation und vor allem darin, dass mit der Gründung des Deutschen Reichs 1871 der ausgeprägte Föderalismus ein Ende nahm und ein einheitliches Reichsgesetzbuch verabschiedet wurde. Diesem kühlen Regelwerk der Justiz steht der Racheakt als eine Handlung entgegen, die von einem zutiefst subjektiven Gerechtigkeitsgefühl motiviert wird. Der Rechtsstaat beansprucht zwar, Recht zu sprechen – die für die Rache Übenden zentrale Frage nach (moralischer) Gerechtigkeit ist für die Justiz jedoch höchstens sekundär. Dieser Konflikt gründet zum Teil darin, dass es der modernen Justiz weniger um Gerechtigkeit geht als um das Befolgen des Rechts. In diesem Sinne argumentiert Immanuel Kant in der Metaphysik der Sitten, das »strikte Recht« sei »nämlich das, dem nichts Ethisches beigemischt ist«.14 Für Kant sind Fragen der Gerechtigkeit, um Thomas Weitins Formulierung zu borgen, »ethische Fragen und stellen sich daher nicht juristisch«.15 Rächer und Rächerinnen weigern sich, diese (weitgehende) Trennung von Recht und Gerechtigkeit anzuerkennen.

R ache im R e alismus Das Alltägliche darzustellen, ist die Mission realistischer Texte – ein Ziel, zu dem das Thema Rache auf den ersten Blick nicht recht passen will, steht sie doch gerade für den eigenwilligen Bruch mit sozialen und legalen Konventionen, wie sie den Alltag prägen.16 Gerade den Umstand, dass im Realismus soles um allgemeine Gültigkeit eines Regelwerks geht, kann die allzu subjektive Rache nur stören. 14 | Immanuel Kant, »Einleitung in die Rechtslehre«, in: Immanuel Kant, Die Metaphysik der Sitten. Werkausgabe, Bd. 8, hg. von Wilhelm Wischedel, Frankfurt a.M.: Suhrkamp 1977, 315-341, hier: 339. 15 | Thomas Weitin, Recht und Literatur, Münster: Aschendorff 2010, 53. 16 | Wie es in der Forschung mittlerweile gewissermaßen Tradition ist, sehe auch ich davon ab, mich an einer Definition des Realismus zu versuchen. So weist etwa Brinkmann auf die Abwesenheit eines einheitlichen Begriffs hin. Richard Brinkmann, »Zum Begriff des Realismus für die erzählende Dichtung des neunzehnten Jahrhunderts (1958)«, in: Richard Brinkmann (Hg.), Begriffsbestimmung des literarischen Realismus, Darmstadt: Wissenschaftliche Buchgesellschaft 1969, 222-235. Robert C. Holub

Einleitung

che Konventionen sowohl dargestellt auch als verletzt werden, macht laut Eric Downing die konfliktreiche doppelte Natur realistischer Texte aus. Er bezieht sich dabei zum einen auf Roman Jakobsons formale Analyse, die Realismus im Spannungsfeld zwischen literarischen Konventionen und ihrer Deformation verortet, bis Letztere, wenn oft genug wiederholt, selbst wieder zur Konvention wird, die wiederum von späteren Literaten und Literatinnen gebrochen wird. Zum anderen rekurriert Downing auf Roland Barthes, der in seinen Überlegungen neben formalen Aspekten auch die »textuality of the extraliterary realm«17 berücksichtigt und gerade den scheinbar überflüssigen Details die Fähigkeit zuspricht, einen »Wirklichkeitseffekt« zu produzieren, indem sie nicht einfach auf das Wirkliche verweisen, sondern so tun, als seien sie selbst das Wirkliche.18 In Double Exposure. Repetition and Realism in Nineteenth-Century German Fiction baut Downing auf der von Jakobson beschriebenen Dynamik und Barthes’ Bezug auf den außerliterarischen Bereich auf und schlägt vor, »to see realism not only as grounded in a repetition or redundancy of the dominant discourses, but also in its resistance«, die sich in »the deformation and discrediting of literary and social codes« zeige.19 In den im Folgenden disbezeichnet literarischen Realismus als »resistent« gegen Definitionen. Robert C. Holub, Reflections of Realism: Paradox, Norm and Ideology in 19th Century German Prose, Detroit: Wayne State University Press 1991, 15. Christiane Arndt sieht das generelle Problem, einen einheitlichen Realismusbegriff zu entwickeln, in der Frage, in welchem Verhältnis Text und Realität stehen – Realismus zu definieren komme einer Forderung nach einer Definition von Wirklichkeit gleich. Christiane Arndt, Abschied von der Wirklichkeit. Probleme bei der Darstellung von Realität im deutschsprachigen literarischen Realismus, Freiburg: Rombach 2009, 21. In diesem Sinne konstatiert auch Christian Begemann: »Eine konsistente programmatische Theorie der Literatur hat die Ära des Realismus in den deutschsprachigen Ländern nicht hervorgebracht«. Christian Begemann, »Einleitung«, in: Christian Begemann (Hg.), Realismus. Epoche – Autoren – Werke, Darmstadt: Wissenschaftliche Buchgesellschaft 2007, 1-10, hier: 8. 17 | Eric Downing, Double Exposure: Repetition and Realism in Nineteenth-Century German Fiction, Stanford: Stanford University Press 2000, 5. Für einen generellen Überblick über die Epoche des literarischen Realismus und dessen historische, soziale sowie gattungsspezifische Besonderheiten siehe Hugo Aust, Realismus. Lehrbuch Germanistik, Stuttgart: Metzler 2006; Hugo Aust, Literatur des Realismus, Stuttgart: Metzler 2000; Sabine Becker, Bürgerlicher Realismus. Literatur und Kultur im bürgerlichen Zeitalter 1848-1900, Stuttgart: UTB 2003. 18 | Roland Barthes, »Der Wirklichkeitseffekt«, in: Roland Barthes: Das Rauschen der Sprache, Frankfurt a.M.: Suhrkamp, 2006, 164-172, hier: 171. 19 | Downing, Double Exposure, 13. Downing entwickelt diese doppelte Natur realistischer Texte in Bezug auf Roman Jakobsons »Über den Realismus in der Kunst« und Roland Barthes’ »Wirklichkeitseffekt«. In seiner rein formalen Analyse definiere

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kutierten Texten bildet Widerstand ein wesentliches Element der Rachehandlung. Dementsprechend werde ich zunächst nachzeichnen, wie Rache in den jeweiligen Texten als Widerstand gegen soziale und rechtliche Konventionen zum Ausdruck kommt und wogegen sie genau rebelliert.20 In einem zweiten Schritt untersuche ich, welche literarischen Strategien entworfen werden, um die Rache und den in ihr enthaltenen Widerstand zu diskreditieren, und wie diese Strategien damit dem Ziel des modernen Gerichtswesens nachfolgen, wenn sie Rache (narratologisch) eingrenzen. Meine Analyse bezieht also auch den außerliterarischen Raum mit ein, allerdings nicht um (Barthes folgend) zu untersuchen, wie die Texte Wirklichkeitseffekte produzieren, sondern um zu betrachten, wie realistische Texte den (historischen) Wandel rechtlicher und sozialer Konventionen anhand des Phänomens Rache verhandeln. In den im Folgenden betrachteten Texten taucht Rache entweder in Gestalt einer höheren Macht auf (Droste-Hülshoff, Gotthelf) oder als Ausdruck eines zutiefst subjektiven Gerechtigkeitsempfindens (Fontane, Heyse). Dabei fällt auf, dass Rächer und Rächerinnen keine wirkliche bzw. keine generalisierbare Alternative zum bestehenden Recht entwerfen, sondern lediglich das überholte Rechtsprinzip ausgleichender Gerechtigkeit reaktivieren. In beiden Jakobson Realismus einerseits »by its effort to overcome or at least violate the literary codes of its traditional predecessors«, andererseits werden »realism’s own norms, devices, codes and practices eventually« kanonisiert und selbst zu Konventionen, die von nachfolgenden Kunst Schaffenden deformiert würden. Downing, Double Exposure, 4. Downing folgt wie gesagt Barthes, der in seinen Überlegungen zudem die »textuality of the extraliterary realm« berücksichtige, und warnt zugleich, dass »the bridge between the literary and extraliterary is to be trodded cautioulsy«. Downing, Double Exposure, 5. 20 | Downing konzentriert sich hingegen auf den Widerstand gegen Konventionen im Hinblick auf die Selbstreflexion realistischer Texte, insbesondere auf die »textual details and strategies that [demonstrate] realism’s own peculiar and often overlooked modes of self-reflection – and self-negation«. Downing, Double Exposure, 13. Damit argumentiert er auch gegen Holubs These, dass realistische Texte ihre selbstreflexiven Momente verbergen und Realismus »self-destructs by reflecting on its own fictional underpinning«. Holub, Reflections of Realism, 18. Für Holub zeigt eine Analyse der verborgenen Selbstreflexion im Realismus, wie darin alles Fremde und Andere ausgegrenzt wird. Downing argumentiert überzeugend, dass Theoretiker wie Holub nur eine Seite der von Downing identifizierten doppelten Natur realistischer Texte betrachten, wenn sie sich allein auf die Darstellung der Konventionen (und Ausgrenzung alles Fremden) konzentrieren. Wenngleich Downings Fokus auf die »modes of selfreflection – and self-negation« realistischer Texte nicht Gegenstand meiner Analyse sind, präsentiert das Phänomen der Rache dennoch (zumindest auf der Handlungsebene) die zweite Seite von Downings Konzept – den Widerstand gegen Konventionen. Downing, Double Exposure, 13.

Einleitung

Fällen bedeutet Rache also ein Festhalten an bzw. eine Rückkehr zu vergangenen Rechtskonzepten, die Teil einer metaphysischen Weltordnung sind – einer Ordnung mithin, in der nicht das nüchterne Recht regiert, sondern eine höhere Form von Gerechtigkeit existiert. Gerade die Texte, in denen wir noch einer göttlichen Gewalt begegnen – Droste-Hülshoffs Die Judenbuche und Gotthelfs Die schwarze Spinne –, präsentieren diese höhere Gewalt dabei jedoch als Phänomen einer längst vergangenen Zeit. Selbst hier gehört die metaphysische Ordnung also bereits zur Welt der Legenden. Bei Heyse und in Fontanes Novelle Grete Minde wiederum ist die Rache so subjektiv motiviert, dass sich aus ihr keine verallgemeinerbare Idee von Gerechtigkeit ableiten lässt. Die Texte zeichnen sich also durch eine Spannung zwischen der Rache, die Gerechtigkeit verspricht, und der Inszenierung ihres Scheiterns aus. Diese Spannung lässt sich als Ausdruck eines Abschiednehmens verstehen, das Christiane Arndt pointiert als »übergeordnete[n] Gestus der Epoche«21 bezeichnet. Abschiednehmen antizipiert zwar ein Ende, aber der Verlust ist noch nicht eingetreten und damit ist das »Gegenwärtige noch nicht endgültig verloren«.22 Ich lese das Festhalten der Rache Übenden an der Idee einer (höheren) Gerechtigkeit jenseits des Gerichtswesens als Reaktion auf das mit der Industrialisierung einhergehende Geflecht von Veränderungen, zu denen neben technischen und wissenschaftlichen Innovationen auch die Entstehung des modernen, einheitlichen, nach klaren Regeln geordneten Gerichtswesens zählt.23 Rache widersetzt sich den dabei etablierten rechtlichen und sozialen Konventionen.

21 | Arndt, Abschied von der Wirklichkeit, 16. Vgl. hierzu auch den Band Wirklichkeit und Wahrnehmung. Neue Perspektiven auf Theodor Storm, hg. von Elisabeth Strowick und Ulrike Vedder, Bern: Peter Lang 2013. 22 | Arndt, Abschied von der Wirklichkeit, 16. In Bezug auf das Verhältnis von Darstellung und Wirklichkeit beinhalte diese Atmosphäre letztlich einen »Abschied von der unzweifelhaften Referenz«. Arndt, Abschied on der Wirklichkeit, 16. Die Judenbuche und Die schwarze Spinne reagieren auf diesen drohenden Verlust, indem sie ihre eigenen Referenzen produzieren – beide Texte insistieren darauf, dass Buche und Balken (die jeweils Träger des Rachefluchs sind) außerhalb des Textes existieren, und zwar in der Welt der Lesenden. 23 | Zum Einfluss der Naturwissenschaften im Realismus merkt Preisendanz an, die Dichtung fühle sich vor allem »bedrängt oder herausgefordert durch die mächtig zunehmende Autorität, die die Naturwissenschaften, aber auch die Psychologie und die Soziologie für das moderne Bild der Wirklichkeit gewinnen«. Preisendanz, »Voraussetzungen des poetischen Realismus«, 462. Die detaillierte Beschreibung von Milieu und Familiengeschichte in Droste-Hülshoffs Die Judenbuche und Fontanes Grete Minde zeigt exemplarisch, wie sich der poetische Realismus auch an Psychologie und Soziologie orientierte.

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Vor dem Hintergrund dieser Entwicklungen wird laut Arndt »in literarischen Texten aus dem späten 19. Jahrhundert […] der Wirklichkeitsbezug virulent diskutiert«.24 Im Hinblick auf Rache wird die Möglichkeit, Wirklichkeit unterschiedlich wahrzunehmen, oft als Spannung zwischen Textebene und Figurenperspektive inszeniert. Die Erzeugung dieser Spannung kann z.B. darauf beruhen, wie die Rhetorik der Rache Übenden von der Wirklichkeit abweicht, wie Ereignisse von der Gemeinschaft, welcher die Rache fordernde Figur angehört oder einst angehörte, interpretiert werden oder wie die Erzählinstanz diese Ereignisse beschreibt.25Arndt versteht die Unsicherheit, welche die literarischen Texte hinsichtlich des Wirklichkeitsbezugs bzw. der Referenz befällt, als Symptom eines drohenden Verlusts der Darstellbarkeit. Sie identifiziert wie gesagt einen damit einhergehenden Modus des »Abschiednehmen[s]«, der die Epoche durchziehe, wobei das Abschiednehmen »die gleichzeitige Notwendigkeit und Endgültigkeit des Aktes ebenso betont wie dessen aktuellen Aufschub«.26 Sieht man Abschiednehmen als das Antizipieren eines kurz bevorstehenden Verlusts, so Arndt, dann wird in realistischen Texten die Wirklichkeit »quasi ›sterbend‹ festgehalten« und der »Abschied von der Wirklichkeit wieder und wieder inszeniert«.27 Die augenfällige Präsenz der Rache im Realismus signalisiert ein solches Abschiednehmen von einer überlebten (metaphysischen) Idee von Recht und Gerechtigkeit. Was in der Rache verkapselt liegt, ist das Versprechen einer gerechteren Welt, das auf der (persönlichen) Vergeltung eines subjektiven Verlusts beruht. Dabei ist es gerade der von Arndt betonte Moment des Abschieds, in dem das 24 | Arndt, Abschied von der Wirklichkeit, 9. 25 | Im Kontext der Rache geht es darum, wie Figuren und Erzählstimme Wirklichkeit interpretieren und darstellen. Mein Ansatz unterscheidet sich dabei sowohl von Roland Barthes’ »Wirklichkeitseffekt« als auch von Georg Lukács’ Unterscheidung zwischen erzählen und beschreiben, die beide vor allem daran interessiert sind, wie literarische Texte versuchen, den Effekt des Realen hervorzurufen. Roland Barthes, »Der Wirklichkeitseffekt«; Georg Lukács, »Erzählen oder Beschreiben?«, in: Richard Brinkmann (Hg.), Begriffsbestimmung des literarischen Realismus, Darmstadt: Wissenschaftliche Buchgesellschaft 1969, 33-85. 26 | Arndt, Abschied von der Wirklichkeit, 16. Auch Marianne Wünsch stellt fest, dass »die spätrealistische Konzeption der Realität zunehmend von der Relevanz des Todes dominiert wird und sowohl in der Erzählung individueller wie kollektiver Geschichte Realität als etwas erscheint, das sich permanent – durch Tod und Todesäquivalenz – entzieht und das als Verlust erfahren wird«. Marianne Wünsch, »Vom späten ›Realismus‹ zur ›Frühen Moderne‹. Versuch eines Modells des literarischen Strukturwandels«, in: Michael Titzmann (Hg.), Modelle des literarischen Strukturwandels, Tübingen: Niemeyer 1991, 187-203, hier: 198. 27 | Arndt, Abschied von der Wirklichkeit, 16.

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Verlorene noch nicht ganz verloren ist, der die Rache als aussichtsloses Festhalten am Vergangenen kennzeichnet. Eben diese Perspektive wird in den hier diskutierten Texten als verrückte Sicht präsentiert, als Ausdruck einer entzauberten übersinnlichen Macht (Gotthelf, Droste-Hülshoff) oder des Wahnsinns (Heyse, Fontanes Novelle). Damit öffnet sich im Kern dieser Texte eine Diskrepanz zwischen der Figurenperspektive – in der Rache zu Gerechtigkeit führen soll – und der Textebene, auf der ein ganzes Arsenal an narratologischen Strategien aufgefahren wird, um die Rache als Weg zur Gerechtigkeit zu disqualifizieren.

R ache nach K leist Literaturhistorisch lässt sich das Phänomen der Rache im Realismus jenseits von Schillers poetischer Gerechtigkeit zwischen den Texten von Heinrich von Kleist und denen von Arthur Schnitzler verorten. Kleist hat kaum einen Text geschrieben, in dem Rache keine Rolle spielt. Er benutzt sie oft, um die Grenzen des Gerichtswesens auszutesten: In Michael Kohlhaas (1810) bringt der Feldzug der Titelfigur den Staat ins Wanken, Antonio Piachi verweigert in Der Findling (1811) die Absolution, weil er seine Rache in der Hölle weiterführen möchte, und in Die Familie Schroffenstein (1803) ermorden Eltern wegen eines Erbstreits ihre eigenen Kinder. Bei Kleist lässt sich die Rache also nicht gerade als scheiterndes Projekt bezeichnen. Michael Kohlhaas reagiert auf den Missbrauch seiner Rappen durch den Junker von Tronka, indem er halb Sachsen in Schutt und Asche legt. Am Ende der Novelle haben sich die schwer geschundenen und vorübergehend gar für tot erklärten Rappen jedoch auf magische Weise erholt und werden Kohlhaas in einem »von Wohlsein glänzenden« Zustand vorgeführt.28 In der Wiederherstellung der Pferde erfüllt sich der tiefste Wunsch des Rächers: Unrecht wird ungeschehen gemacht. Damit nicht genug vollzieht er seinen letzten Racheakt noch auf dem Weg zum Schafott, wenn er vor den Augen des Kurfürsten von Sachsen, seines Erzfeindes, den Zettel herunterschluckt, auf dem eine Weissagung darüber notiert ist, wer dessen Dynastie einst zu Fall bringen wird. Seine Rache reicht so über seinen Tod hinaus. Trotz seiner Gewaltexzesse weckt der Rosshändler Kohlhaas bei uns Lesenden am Ende ähnlich wie schon bei Luther Sympathien. In diesem Sinne entspricht Kleists Novelle Peter Szondis Verständnis des Tragischen als Modus, 28 | Heinrich von Kleist, »Michael Kohlhaas«, in: Heinrich von Kleist, Sämtliche Werke und Briefe, Bd. 3: Erzählungen, Anekdoten, Gedichte, Schriften. Text und Kommentar, hg. von Klaus Müller Salget, Frankfurt a.M.: Deutscher Klassiker-Verlag 1990, 12-142, hier: 140.

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dem zufolge der tragische Konflikt in einer unauflösbaren »Einheit der Gegensätze«29 besteht, die zum Untergang des Helden führt. In Kohlhaas’ Fall ist gerade seine Tugend sein Untergang: »Das Rechtgefühl aber machte ihn zum Mörder und Räuber.«30 Da es ihm gelingt, einige seiner Knechte von seiner Mission zu überzeugen, und er später weitere Mitstreiter anheuert und bezahlt, damit sie sich seinem Feldzug anschließen, den er (trotz des Aufgebots an Soldaten, das der Staat ihnen entgegenstellt) erfolgreich führt, fühlt sich der Staat von seiner Rache bedroht. Kohlhaas ist eine tragische Figur, die kurzfristig zum Rebellenführer avanciert. Doch auch wenn er sich am Ende freiwillig in die Hände der Justiz begibt, bedeutet dieses Ende wie schon angedeutet nicht den uneingeschränkten Triumph des Rechts über die Rache. In den realistischen Novellen und Romanen fehlt den Rache Übenden eine solche tragische Disposition. Hier ist der zentrale Konflikt nicht von einer Einheit der Gegensätze charakterisiert, sondern gänzlich prosaischer Natur. In Grete Minde oder Andrea Delfin begegnen wir keinen revolutionären, sondern reaktionären, in den Duellanten in Effi Briest und Cécile gesellschaftskonformen Charakteren. Allen bleibt es versagt, zu heldenhaften Figuren zu werden, und in keinem Fall wird ihre Rache Gegenstand eines öffentlichen Gerichtsprozesses. Ohne Prozess, in dem die Rache Übenden ihre Motive präsentieren könnten, bleiben die Hintergründe ihrer Mission weitgehend im Dunkeln und kann keine gesellschaftliche Wirkung entfalten. Die Rächer und Rächerinnen im Realismus erinnern demnach eher an Søren Kierkegaards ironisches Subjekt. Laut Kierkegaard kämpft der tragische Held »für das Neue, er trachtet das zu vernichten, was für ihn ein Verschwindendes ist«.31 Für das ironische Subjekt hingegen gilt: »[D]as Neue besitzt es nicht. Es weiß bloß dies, daß das Gegenwärtige der Idee nicht entspricht. Es ist dazu berufen, Gericht zu halten.«32 In diesem Sinne mangelt es auch den Rache Übenden im Realismus an einer Vorstellung von etwas Neuem – ihr Blick bleibt auf das Vergangene gerichtet. Die Wirklichkeit der Rächer und Rächerinnen ist eine von Verletzungen gezeichnete; sie bereiten keiner neuen Ordnung den Weg, sondern wiederholen in ihrer Rache den erlittenen Verlust und generieren nichts als Zerstörung. Ihre Unfähigkeit, eine eigene Vision von Gerechtigkeit zu entwerfen, die über ihr eigenes Racheverlangen hinausgeht, ist Teil ihres Scheiterns. Eine solche Alternative würde den Abschied von der Vergangenheit bedeuten, aber ein solches Loslassen gehört nicht zur DNA der Rache. 29 | Peter Szondi, Versuch über das Tragische, Frankfurt a.M.: Insel Verlag 1961, 60. 30 | Kleist, »Michael Kohlhaas«, 139. 31 | Søren Kierkegaard, Über den Begriff der Ironie. Mit ständiger Rücksicht auf Sokrates, übers. v. Hans Heinrich Schaeder, München, Berlin: Oldenbourg 1929, 218. 32 | Kierkegaard, Über den Begriff der Ironie, 218.

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Kündigt sich in der Subjektivität der Rache also bereits die Moderne an, in der die Sicht auf die Welt in unterschiedliche Perspektiven zerfällt, die nicht mehr vereinheitlicht werden können?33 Preisendanz warnt zu Recht davor, kurzerhand im »Akzentuieren der Erzählperspektive, in der subjektiven Brechung des Dargestellten ein geisteswissenschaftliches Moment« zu vermuten und auf ein »Bewußtsein und Eingeständnis der wesenhaften Subjektivität aller Welterfahrung« zu schließen.34 Im Realismus sind Rache Übende verschrobene Einzelgänger und ‑gängerinnen. Ihre Rache stellt einen existenziellen Konflikt zwischen Ich und anderen dar, der sich in dem Verlangen verdichtet, dass das eigene subjektive Gerechtigkeitsverständnis allgemeine Gültigkeit haben solle.35 Insofern die subjektive Sicht der Rache zugrunde liegt, enthalten die hier besprochenen Texte Impulse der Moderne, die aber noch nicht für eine generelle Atomisierung der Subjekte in der Gesellschaft stehen. Anders gesagt, wir sind noch nicht beim inneren Monolog wie in Schnitzlers Leutnant Gustl (1900) angelangt. Wenn sich in Effi Briest der Ehemann der Titelheldin, Geert von Innstetten, mit den Konsequenzen des Duells konfrontiert, dann 33 | Marianne Wünsch untersucht den literarischen Strukturwandel vom späten Realismus zur frühen Moderne in Bezug auf die Transformation des Status von Subjekt und Psychologie, Werten und Normen und berücksichtigt dabei unterschiedliche Konzepte von Realität. Als ein Ideal des Realismus beschreibt sie ein Subjekt, »dessen Bewußtsein der Ort der Rationalität und Normativität ist: Bewußtseinsinhalte normsetzender Art führen zu einer negativen Bewertung der Figuren«. Wünsch, »Vom späten ›Realismus‹ zur ›Frühen Moderne‹«, 189. Eben solchen negativ bewerteten Subjekten begegnen wir in den hier diskutierten Rächern und Rächerinnen. Wünsch versteht die Wirklichkeit im Realismus als eine »sozial objektivierbare bzw. intersubjektive: Realität oder zumindest Oberfläche der Realität ist, was zwischen rationalen und bewußten Subjekten konsensfähig ist«. Wünsch, »Vom späten ›Realismus‹ zur ›Frühen Moderne‹«, 198. Rache läuft einem solchen Konsens oftmals zuwider und lässt ihn streckenweise als korrupt erscheinen, insbesondere wenn er von Seiten der Obrigkeit vorgegeben oder aufgezwungen wird. Demnach lässt sich in Bezug auf die Rächer und Rächerinnen im Realismus auch eine Charakteristik der frühen Moderne feststellen, nämlich die von Wünsch herausgestellte Tendenz, »nicht sozial konsensfähige, d.h. subjektivierte Realitäten bzw. Realitätserfahrungen zuzulassen und darzustellen.«. Wünsch, »Vom späten ›Realismus‹ zur ›Frühen Moderne‹«, 199. In diesem Sinne können Rache Übende als Schwellenfiguren zwischen Realismus und Moderne gelesen werden. 34 | Preisendanz, »Voraussetzungen des poetischen Realismus«, 474. 35 | Diese subjektive Dimension prägt selbst die Rache der übersinnlichen Instanzen in Die Judenbuche und Die schwarze Spinne, wenngleich in leicht abgeänderter Form. Darin wird die Rache übersinnlicher Instanzen nämlich keinesfalls als Fakt präsentiert – es hängt auch hier an dem oder der Einzelnen, ob er oder sie an göttliche und teuflische Mächte glaubt.

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tut er dies in Form einer rationalen Analyse, unbehelligt von der Wucht der Emotionen, die einen Leutnant Gustl fast in den Selbstmord treiben. Innstetten kann rational bleiben, weil ihm jeglicher Racheimpuls fehlt. Im Realismus wird die mit Rache assoziierte Subjektivität als getrübt dargestellt, indem sie ans Übersinnliche delegiert oder als vom Wahnsinn verrückte bzw. durch gesellschaftliche Doktrin deformierte Haltung präsentiert wird. Rache verklärt vielleicht die subjektive Perspektive der Rache Übenden, aber sie erfasst (noch) nicht die Erzählstimme.

R ache als U nfähigkeit zu tr auern In den hier diskutierten Texten reagieren Rache Übende – wie Nietzsche, Breuer und Freud suggerieren – auf einen Verlust, der wie eine klaffende Lücke die Gegenwart zugleich perforiert und organisiert. Ob man an Friedrich Mergel, Grete Minde oder Andrea Delfin denkt, ihr persönliches Verständnis von Recht und Gerechtigkeit ist nicht von politischen Überlegungen, sondern von persönlichen Verlusterfahrungen geprägt. Dass wir in diesen Texten gerade keinen Figuren begegnen, die eine klare politische Agenda haben oder gar einen gesellschaftlichen Umsturz planen, zeigt die konservative Haltung dieser Texte nach der gescheiterten Revolution von 1848.36 Im Zentrum stehen vielmehr die subjektiven Erfahrungen der Figuren, die zwar in Konflikt mit dem bestehenden Recht geraten, aber keine Alternative dazu entwerfen, weder in Form von Reformen noch in der einer Revolution. Die rechtshistorischen Entwicklungen im Blick behaltend, lese ich Rache zudem als Reaktion auf einen individuellen (traumatischen) Verlust. Unter Trauma verstehe ich eine Verletzung, die den Bezug zur Welt und zur Gesellschaft bzw. zu den anderen nachhaltig erschüttert.37 Ich folge oder entwickle 36 | Dass selbst Heyses Protagonist Andrea Delfin, der den Staat zum Einstürzen bringen will, hier keine Ausnahme bildet, werde ich im entsprechenden Kapitel zeigen. 37 | Angloamerikanischen traumatheoretischen Ansätzen folgend verstehe ich Trauma als ein Schockerlebnis, das die Betroffenen überwältigt, wie Judith Herman schreibt: »Traumatic events overwhelm the ordinary systems of care that give people a sense of control, connection, and meaning.« Judith Herman, Trauma and Recovery: The Aftermath of Violence – from Domestic Abuse to Political Terror, New York: Basic Books 1997, 33. Siehe hierzu Dania Hückmann, »Traumaliteratur«, in: Frauke Berndt und Eckart Goebel (Hg.), Handbuch Literatur und Psychoanalyse, Berlin: De Gruyter 2017, 583-600. Da in realistischen Texten Rache auf einen Verlust reagiert, können traumatheoretische Ansätze – die sich mit dem Effekt traumatischer Ereignisse auf Verstehen, Erinnern und soziale Bindungen beschäftigen – helfen, die Beweggründe der Rache Übenden nachzuvollziehen. So werden traumatische Ereignisse etwa, wie bereits Sigmund Freud

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dabei keinen abstrakten Traumabegriff, sondern untersuche, wie sich Verlust im grammatikalischen Gewebe der Texte abzeichnet. In diesem Sinne leistet das vorliegende Buch in erster Linie einen narratologischen Beitrag zur Realismusforschung. Die darin enthaltene Analyse einer Grammatik der Gewalt lädt zudem zu generelleren Rückschlüssen darüber ein, wie Gewalt und Trauma in Literatur zum Ausdruck kommen können. Auch wenn Rache zum Exzess tendiert, erwächst sie zunächst aus einem Verlust und einem auf diesem gründenden Verlangen nach Ausgleich. In diesem kalkulierenden Ansatz liegt wohl ihr größtes Problem. Denn wie kalkuliert man den Verlust von Liebe, Familie, Erbe und Zugehörigkeit? Nach welchem Maß zahlt man ihn zurück? In Menschliches, Allzumenschliches schreibt Nietzsche, »die Rache der Wiederherstellung bewahrt nicht vor weiterem Schaden, sie macht den erlittenen Schaden nicht wieder gut, – ausser in Einem Falle. Wenn unsere Ehre durch den Gegner gelitten hat, so vermag die Rache sie wiederherzustellen.«38 Dass Rache selbst bei einem solchen »Nebenverlust« wie der Ehre nicht zum Ausgleich führen muss, sondern durchaus im Unglück enden kann, zeigen Fontanes Cécile und Effi Briest. Als zutiefst subjektive Erfahrung lässt sich für Verlust kein angemessenes, geschweige denn ein allgemeingültiges Maß finden. Dementsprechend verkalkulieren sich die Rächer und Rächerinnen immer wieder bei dem Versuch, Verlust und Unrecht aufzurechnen, und verdoppeln am Ende den Schmerz, wenn sie glauben, einen erlittenen Verlust dadurch vergelten zu können, dass sie anderen ebenfalls einen Verlust beibringen, ihnen ein Unrecht zufügen. Verfolgt man dieses Vergeltungsprinzip der Rache, das Unrecht wiedergutma-

und Pierre Janet argumentieren, anders erinnert als normale Erfahrungen, da sie nach Bessel A. van der Kolk und Onno van der Hart nicht in Form von »narrative memory« abgespeichert werden. Anstatt einen theoretischen Beitrag zur Traumaforschung zu leisten, werde ich zeigen, wie sich (traumatische) Verluste erzählerisch und auf der grammatikalischen Ebene abzeichnen. Bessel A. van der Kolk und Onno van der Hart, »The Intrusive Past: The Flexibility of Memory and the Engraving of Trauma«, in: Cathy Caruth (Hg.), Trauma. Explorations in Memory, Baltimore: The Johns Hopkins University Press 1995, 158-182, hier: 163. Dabei steht etwa im Vordergrund, wie die hier diskutierten Texte das Phänomen Trauma bzw. sein Erleben zeitlich darstellen. Gerade die Zeiterfahrung wird vom Trauma gestört, denn es ist »an event that has no beginning, no ending, no before, no during and no after«. Dori Laub, »Bearing Witness«, in: Dori Laub und Shoshana Felman (Hg.), Testimony. Crises of Witnessing in Literature, Psychoanalysis, and History, New York: Routledge 1992, 57-74, hier: 69. 38 | Friedrich Nietzsche, Sämtliche Werke. Kritische Studienausgabe in 15 Bänden, Bd. 2: Menschliches, Allzumenschliches, hg. von Giorgio Colli und Mazziano Montiari, München: dtv 1999, 565, Hervorh. i. O.

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chen soll, zurück zu dem Verlust, der sie motiviert, zeichnet sich ein spiegelndes Moment ab: Rache wird als Nachstellen des erlittenen Unrechts lesbar. In seiner tiefgreifenden Analyse Double Exposure entfaltet Downing die unterschiedlichen Facetten der Wiederholung im Realismus in Hinblick auf Narratologie, Psychoanalyse und kritische Theorie. In meiner Analyse spielen neben dem Wechselspiel zwischen literarischen und sozialen Konventionen, die Downing betrachtet, auch rechtliche Konventionen eine zentrale Rolle. Ich lese Rache dabei in erster Linie als den Versuch, Verluste nachzustellen, und nicht als deren Wiederholung. Einen persönlichen Verlust zu wiederholen ist dabei allein schon deswegen zum Scheitern verurteilt, weil das, was verloren wurde, für das rächende Individuum einzigartig ist. Wiederholen und Nachstellen fangen zwar beide die Intention der Rache Übenden ein, Gleiches mit Gleichem zu vergelten, aber Nachstellen betont zudem das mimetische bzw. inszenierende Wesen der Rache. Rächer und Rächerinnen identifizieren das Objekt ihrer Rache, das ihre Welt zunichtegemacht hat, – gewissermaßen ein erster Versuch, Ordnung und Kontrolle zurückzugewinnen – und richten ihr Handeln nun ihrerseits auf seine Zerstörung aus. Dementsprechend soll der Racheplan die eigene Subjektposition stabilisieren. Rache trägt den Impuls in sich, Wirklichkeit aus der Leerstelle des Verlusts heraus zu konstruieren und fungiert in den hier besprochenen Texten auch als Ersatz für eine Verarbeitung von Verlust, für Trauer. Die Temporalität der Rache, also ihr Verharren in einem ewig gegenwärtig erscheinenden Verlust, korrespondiert mit Arndts Konzept des Abschiednehmens als Weltbezug. Kurz, Rache beinhaltet eine Unfähigkeit Abschied zu nehmen. Diese psychologische Dimension der Rache kollidiert mit dem unflexiblen und unpersönlichen Wesen der Justiz, das im harschen Kontrast zur von Verletzung zerfressenen Konstitution der Rache Suchenden steht. In den hier besprochenen Novellen des Realismus scheitert allerdings nicht nur die Rache, sondern auch das Justizwesen. In Die Judenbuche etwa zeigt sich der Staat unfähig, auch nur eine Straftat – sei es Holzfrevel oder Mord – aufzuklären. Dieses klägliche Versagen des Staates potenziert den Verlust der Rächer und Rächerinnen. In manchen Fällen registriert das Recht das erlittene Unrecht nicht einmal. Dabei werden im Gerichtswesen blinde Flecken des Rechts selbst sichtbar. Da es nicht einschreitet und im Namen der Anklagenden die Vergeltung des Unrechts übernimmt, verfallen diese der Rache. Um die (rechts‑)historischen, psychologischen sowie erzähltheoretischen Dimensionen der Rache im Realismus zusammenzudenken, bediene ich mich einer interdisziplinären Methode. Dabei ist mein Ansatz in erster Linie ein narratologischer, der sich auf die Erzähltechniken konzentriert, mit denen im Realismus Rache eingegrenzt werden soll. Die zentrale epochenspezifische Dimension dieser Strategien besteht darin, dass sie das Ziel des aufkommenden

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modernen Rechtswesens bekräftigen, Rache zu bannen. Um darüber hinaus sowohl die Subjektivität der Racheakte feiner herauszuarbeiten als auch die Rolle, die persönliche, existenzielle Verluste beim Entstehen der Rache spielen, werde ich meine narratologischen Beobachtungen auf traumatheoretische sowie psychoanalytische Ansätze beziehen. Es geht mir dabei nicht darum, den Figuren (post‑)moderne Krankheitsbilder zuzuschreiben, sondern aufzuzeigen, wie die Texte (traumatische) Verluste auf der erzählerischen sowie grammatikalischen Ebene inszenieren und kenntlich machen. Bei dieser Analyse habe ich festgestellt, dass die Texte oft genau dann für einen Moment von der Vergangenheit ins Präsens wechseln, wenn sie eine Gewalterfahrung bzw. ein traumatisches Ereignis beschreiben. Ich bezeichne dieses Phänomen als traumatisches Präsens und zeige, dass es nicht nur Gewalttaten generell darstellt, sondern dass es in realistischen Texten sowohl dazu dient, Verlusterfahrung zu beschreiben, welche die Rache auslösen, als auch den Racheakt selbst kennzeichnet. Verlust und Rache brechen durch diese zeitlichen Sprünge punktuell aus dem Narrativ aus. Anhand des traumatischen Präsens repräsentieren die Texte, dass Rache Übende das Es war ihres Verlusts als ein Es ist erleben. Da Rache immer wieder zum erlittenen Verlust und zu des »Willens Widerwille gegen die Zeit und ihr ›Es war‹« zurückweist, streift meine Lektüre der Rache auch den Bereich von Trauer, Manie und Melancholie (nach Freud).39

K apitelüberblick Jedes Kapitel zeigt die unterschiedlichen narratologischen, gattungsbezogenen oder grammatikalischen Strategien auf, welche die einzelnen Texte entwerfen, um die Rache in ihren Wirkungen einzugrenzen, wobei jeweils eine juristische, historische, philosophische und psychoanalytische Rahmung vorgenommen wird. Meine Arbeit versucht nicht, eine übergeordnete Definition von Rache im Realismus zu erstellen, sondern anhand der einzelnen Werke unterschiedliche epochenspezifische sowie generelle Facetten der Rache zu entfalten. Inwiefern kann Literatur tatsächlich als Surrogat für Rache und Gewalt dienen? Welche Möglichkeiten und Limitationen dieser Funktion zeichnen sich in den Texten des Realismus ab? Von diesen Kernfragen ausgehend zeige ich, wie Rache im Realismus erzählerisch eingegrenzt und dadurch zugleich bewahrt wird. Die ersten beiden Kapitel stehen unter der Überschrift Höhere Gewalt? und handeln vom Echo des Magischen in frühen Texten des Realismus. In DrosteHülshoffs Die Judenbuche bleibt bis zum Ende offen, ob sich im Text überhaupt 39 | Nietzsche, Also sprach Zarathustra, 180.

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ein (menschlicher oder göttlicher) Racheakt ereignet hat. In meiner Interpretation nehme ich die Möglichkeit ernst, dass am Ende eine übersinnliche Instanz mit im Spiel ist, und untersuche die Darstellung der Morde und der in die Buche geritzten Inschrift. Um die besondere Rolle der Zeit für die Rache zu konzeptualisieren, stehen Zeitlichkeit sowie die Tempora dieses Textes im Vordergrund. Daran entwickle ich das bereits erwähnte Konzept des traumatischen Präsens, das uns auch in Die schwarze Spinne und Andrea Delfin begegnen wird. Die Interpretation der Zeit steht auch im Zentrum des zweiten Kapitels, und zwar in Bezug auf das Versprechen. In Gotthelfs Novelle Die schwarze Spinne wird der Pakt mit dem Teufel in Form eines Versprechens geschlossen, das seine Vertragspartnerin, die Dorf bewohnerin Christine, allerdings nicht als verbindlichen Vertrag interpretiert, sondern als Absprache, deren Einhaltung man stets weiter in die Zukunft verschieben kann. Anders gesagt, sie behandelt das Versprechen schlicht wie ein Sich-Versprechen. Für diese eigensinnige Interpretation des Versprechens rächt sich der Teufel. Seine Rache werde ich vor dem Hintergrund sprachtheoretischer (Austin, Benveniste, Felman), philosophischer (Hamann, Derrida) sowie juristischer Überlegungen zum Versprechen analysieren. In Die Judenbuche wie in Die Schwarze Spinne begegnen wir einer göttlichen bzw. teuflischen Macht, die hier nicht explizit mit religiösen Diskursen verknüpft, sondern als Ausdruck einer metaphysischen Weltordnung betrachtet wird. Allerdings erscheint diese Ordnung im Realismus nicht mehr als allgemeingültiges und somit einziges die Wirklichkeit strukturierendes Prinzip, sondern als nur noch bedingt durch den Glauben Einzelner. Kapitel drei und vier zu Rache und Recht beschäftigen sich mit der Rache als Reaktion auf ein korruptes bzw. veraltetes Gerichtswesen. In Fontanes Grete Minde und Heyses Andrea Delfin wählen die Titelfiguren den Weg der Rache, weil sie vom Gerichtswesen enttäuscht sind und daher von dieser Seite keine Gerechtigkeit mehr erwarten. Grete Minde inszeniert das Verhältnis von Recht und Literatur, indem der Text die mimetischen Verbindungen von Theater und Gericht durchspielt. Die Literatur liefert hier Modelle für das Leben. So prägt Mimesis bzw. ein mimetisches Begehren (Girard) auch Gretes Rache, die sich am Ende als Nachstellen des Unrechts erweist, das sie durchlebt hat. Den theoretischen Rahmen zum vierten Kapitel, das Andrea Delfin behandelt, bilden die Gattungstheorie der Novelle und die Frage, wie sich Rache zu Trauer, Manie und Melancholie verhält. Ich lese darin Rache als exemplarisches Motiv der Novelle, die nach Goethe immer eine unerhörte Begebenheit beinhaltet. In beiden Texten legen die nach Rache Strebenden zwar die Schwachstellen des Gerichtswesens und dessen systemische Gewalt (Žižek) bloß, aber ihre von subjektiven Motiven getriebene Rache vermag es nicht, ein Gegenmodell zu stiften und so die Gemeinschaft für ihre Sache zu gewinnen.

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Das Abschlusskapitel Ritualisierte Rache: das Duell beschäftigt sich, wie schon der Titel besagt, mit dem Duell als einer bereits ritualisierten Form der Rache. Die Thematik von Rache und Duell bilden eine bisher kaum beachtetet Schnittstelle zwischen zwei in diesem Doppelkapitel untersuchten Romanen Fontanes: Cécile und Effi Briest. Die Interpretation beider Texte konzentriert sich auf die Überreste der Rache in ihrer ritualisierten Form und versteht die Rolle des Duells in der bürgerlichen Gesellschaft (Frevert) als Ausdruck der Disziplinargesellschaft im Sinne Foucaults. Dabei spielt die Rhetorik der Figuren eine wesentliche Rolle. Während die im Duell endende Rache in Cécile von einem imaginierten Betrug ausgelöst wird, konzentriert sich das gesamte Kapitel zu Effi Briest auf Innstettens Verwendung des Modalverbs müssen und dessen persönliche wie gesellschaftliche Implikationen. Fontanes Texte zeigen, wie Rache gesellschaftlich durch das Ritual des Duells eingegrenzt werden soll, und entwerfen dabei eigene Strategien, um den Akt des Duells darstellerisch zu entdramatisieren. Darüber hinaus reflektieren diese Texte kritisch, dass die Gesellschaft die Ritualisierung der Rache im Duell erfordert, und zeigen: Im Duell wird selbst dort Rache geübt, wo jeder Rachedurst fehlt.

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Höhere Gewalt?

I. Rache der Schrift

Annette von Droste-Hülshoffs Die Judenbuche (1842)

Kriminologisch betrachtet ist Die Judenbuche (1842) ein frustrierender Text, in dem kein einziges der vielen Verbrechen aufgeklärt wird. Es bleibt im Dunkeln, unter welchen Umständen Friedrich Mergels Vater zu Tode kommt, von wem Förster Brandis und Aaron ermordet werden, wer hinter dem Holzfrevel steckt und wie es dazu kommt, dass Friedrich am Ende tot im Baum hängt. Was die Morde verbindet, ist allein der Tatort: Alle sterben im Wald.1 Als Aarons Leiche dort gefunden wird, gerät Friedrich unter Verdacht, sich für eine Demütigung 1 | Die Suche nach eindeutigen Beweisen für diese Verbrechen führt schnell zur hermeneutischen Frustration. Die Debatte darüber, inwiefern die Beweislast ausreicht, um die Verbrecher – insbesondere Friedrich – zu überführen, hat die Forschung lange Zeit dominiert und in zwei Lager gespalten. Heinrich Henel hat den Umstand, dass die Beweisbarkeit der Verbrechen im Text konstant unterminiert wird, zum eigentlichen Thema der Novelle erklärt und liest sie als »Geschichte vom Richten«, die darauf abzielt, die Lesenden »zum Ertragen des Zweifels, zum Aushalten in der Ungewißheit« zu erziehen. Heinrich Henel, »Annette von Droste-Hülshoff. Erzählstil und Wirklichkeit«, in: Egon Schwarz et al. (Hg.), Festschrift für Bernhard Blume. Aufsätze zur deutschen und europäischen Literatur, Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht 1967, 146-172, hier: 156-159. Diesem Ansatz stehen die Interpreten gegenüber, die an einer gewissen Eindeutigkeit der Beweislage festhalten (Emil Staiger, Walter Silz). Emil Staiger, Annette von Droste-Hülshoff, Frauenfeld: Huber 1962; Walter Silz, Realism and Reality, Chapel Hill: University of North Carolina Press 1965. Der jüngste Beitrag dieser Interpretationslinie stammt von Norbert Mecklenburg, der allerdings nicht Friedrichs Schuld, sondern seine Unschuld für klar bewiesen hält. Auch er bleibt letztlich der traditionellen Dichotomie von (Un‑)Beweisbarkeit verhaftet, wenn er Johannes als Mörder benennt und damit zwar den Täter, aber nicht das Interpretationsschema wechselt. Vgl. Norbert Mecklenburg, Der Fall Judenbuche. Revision eines Fehlurteils, Bielefeld: Aisthesis 2008. Meine Interpretation folgt im Ansatz Henel. Ich nehme die hermeneutische Offenheit des Textes zum Ausgangspunkt, um (anstatt der Schuldfrage) die Interpretationsmöglichkeiten (d.h. die Gegenwart übersinnlicher Mächte) zu untersuchen, die sich aus ihr ergeben.

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gerächt und Aaron ermordet zu haben. Dass er daraufhin mit seinem Freund Johannes flieht, macht ihn umso verdächtiger. Da das Verbrechen nie aufgeklärt wird, schlägt die jüdische Gemeinde zum Andenken an den Mord am Fundort der Leiche einen hebräischen Schriftzug in eine Buche. Jahre später kehrt Johannes in das Dorf B. zurück; doch schon kurz darauf wird er erhängt an einem Ast der sogenannten Judenbuche aufgefunden und seine Leiche als die Friedrichs identifiziert. Die Inschrift wird erst in der letzten Zeile der Novelle übersetzt: Es ist ein Rachefluch, der den Mörder mit dem Tod bedroht. Der Rachefluch kommt also erst ins Spiel, als die Strafverfolgung versagt und es nicht einmal zur Anklage kommt. Zur Zeit des Realismus wurde das Gerichtswesen tiefgreifend modernisiert. Ziel der Reformen war es, dem Urteilsvermögen der Richter durch einheitliche Gesetzestexte eine objektive Grundlage zu verschaffen. Das subjektive Rechtsgefühl sollte so durch ein verbindliches juridisches Regelwerk ersetzt werde. Diese rechtshistorische Spannung wird in Die Judenbuche als Konflikt zwischen subjektivem und reglementiertem Recht inszeniert. Rache erscheint dabei nicht als Alternative zum Recht, sondern repräsentiert eine vergangen geglaubte (göttliche) Ordnung, die erst in dem Moment reaktiviert wird, in dem die Justiz scheitert.2 Wir lernen Friedrich Mergels Heimat als Ort mit losem Rechtssystem kennen, an dem durch die »häufig unzulänglichen Gesetz[e]« das Verständnis »der Einwohner von Recht und Unrecht einigermaßen in Verwirrung gerathen« ist und sich ein zweites »Recht der öffentlichen Meinung, der Gewohnheit« herausgebildet hat.3 Kurz, das Rechtsverständnis der Gemeinschaft ist ein betont subjektives. Ähnliches gilt auch für die Vertreter des Gesetzes: »[…] die Gutsbesitzer, denen die niedere Gerichtsbarkeit zustand, straften und belohnten nach ihrer in den meisten Fällen redlichen Einsicht; der Untergebene that, was ihm ausführbar und mit einem etwas weiten Gewissen verträglich schien« (3). In Die Judenbuche stellt der Gutsherr eine historisch-rechtliche Schwellenfigur dar: Er repräsentiert die feudale Hierarchie und verkörpert zugleich eine richtende Instanz, die für das moderne Rechtswesen kennzeichnend ist.

2 | Für eine tiefgreifende Interpretation der religiösen Konflikte der Novelle siehe William Donahue, »›Ist er kein Jude, so verdient er einer zu sein‹. Droste-Hülshoff’s Die Judenbuche and Religious Anti-Semitism«, in: The German Quarterly 72/1 (Winter 1999), 44-73: hier 46. Für meine Interpretation sind die religiösen Aspekte der Rache nur am Rande relevant, da sich mein methodischer Rahmen auf rechtshistorische Aspekte bezieht und darauf, wie diese sich im narrativen und grammatikalischen Gewebe der Novelle abzeichnen. 3 | Annette von Droste-Hülshoff, »Die Judenbuche. Ein Sittengemälde aus dem gebirgigten Westphalen«, in: Annette von Droste-Hülshoff, Historisch-kritische Ausgabe, Bd. V,1: Prosa. Text, hg. von Walter Woesler, Tübingen: Niemeyer 1978, 1-42, hier: 3. Zitate werden im Folgenden unter Angabe der Seitenzahl direkt im Text nachgewiesen.

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In Die Judenbuche scheitern alle rechtlichen Verfahren. Die zwei Repräsentanten des Rechts – Gutsherr und Gerichtsschreiber – befinden sich tatsächlich nie am selben Ort. Als der Förster Brandis ermordet wird, beginnt das Beweisverfahren ohne den Gutsherrn: »Die Abwesenheit des Gutsherrn hatte den Gerichtsschreiber genöthigt, auf eigene Hand die Sache einzuleiten.« (22) In Aarons Fall ist es hingegen der Gutsherr, der das Verfahren alleine beginnt: »Da der Amtsschreiber gerade abwesend war, so betrieb Herr von S. selbst alles rascher, als sonst geschehen wäre« (31). Am darauffolgenden Tag behauptet der Amtsschreiber »die ganze Geschichte verschlafen zu haben, da der gnädige Herr nicht nach ihm geschickt. – ›Sie kommen immer zu spät,‹ sagte Herr S. verdrießlich.« (32) Jedes Verfahren der ironisch beschriebenen Amtsträger ist übereilt, unvollständig und bleibt folgenlos. Das Versagen der vom Gutsherrn verkörperten Justiz öffnet in der Novelle eine Art Leerstelle, einen rechtlich opaken Raum, der Platz für die auf Ausgleich gerichtete alte Rechtsform der Rache lässt. Dieser Raum zeichnet sich auf der narratologischen und temporalen Ebene ab, und zwar darin, wie Rache – mit dem Prolog beginnend – mittels zeitlicher Strukturen und pronominaler Beziehungen inszeniert wird.

»L ass ruhn den S tein –« Wo ist die Hand so zart, daß ohne Irren Sie sondern mag beschränkten Hirnes Wirren, So fest, daß ohne Zittern sie den Stein Mag schleudern auf ein arm verkümmert Seyn? Wer wagt es, eitlen Blutes Drang zu messen, Zu wägen jedes Wort, das unvergessen In junge Brust die zähen Wurzeln trieb, Des Vorurtheils geheimen Seelendieb? Du Glücklicher, geboren und gehegt Im lichten Raum, von frommer Hand gepflegt, Leg hin die Waagschal’, nimmer dir erlaubt! Laß ruhn den Stein – er trifft dein eignes Haupt! – (3)

Der Prolog beginnt mit einem Plädoyer, das uns – reich an biblischen Untertönen – davor warnt, über ein »arm verkümmert Seyn« zu urteilen. Gerade denen, die aus guten Verhältnissen kommen, stehe es nicht zu, die zu richten, die mittellos und vernachlässigt aufgewachsen sind.4 Anders gesagt, bevor die 4 | Ähnlich wird auch die neutestamentarische Warnung – mit dem Maße, mit dem ihr messet, wird euch gemessen werden (Matthäus 7,2) – präzisiert, indem bestimmt wird, wer nicht richten soll: Der »Glückliche […], geboren und gehegt/[…] Leg hin die

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Novelle überhaupt angefangen hat, spricht sie uns die Fähigkeit ab, die Ereignisse beurteilen zu können. Diese Vorwarnung endet mit einer Drohung: »Laß ruhn den Stein – er trifft dein eignes Haupt! –« (3) Der ambivalente Gedankenstrich, der den Prolog zum Text öffnet, hebt (mit seinem Gegenstück) zugleich hervor, was passiert, wenn man die Warnung nicht befolgt und dennoch (ver‑) urteilt: Der Prolog bewertet das Verurteilen von Schwächeren als Steinwurf und präsentiert es als einen Gewaltakt, auf den unweigerlich Gegengewalt folgt. Der Steinwurf zeichnet die Flugbahn der Rache vor: Gewalt führt zu Gegengewalt. Wer dem neutestamentarischen Appell – richtet nicht, auf dass ihr nicht gerichtet werdet (Matthäus 7,1) – nicht Folge leistet, dem drohen alttestamentarische Konsequenzen. Damit verweist der Gedankenstrich bereits auf die letzte Zeile des Textes, den sagenumwobenen Rachefluch, der in die Judenbuche geritzt wurde. Die realistische Novelle wird also von formelhaften Versen eingerahmt, die Rache versprechen. Die Racheformeln, die am Anfang und Ende der Judenbuche stehen, sind biblischen Texten entlehnt, in Versform verfasst und setzen sich dadurch sprachlich wie visuell vom Rest der Novelle ab – sie wirken dadurch überlebt. Doch ausgerechnet diese Rachesprüche ragen grammatikalisch in die Gegenwart. Das liegt zunächst an der Verwendung der zweiten Person Singular: Das Du des Prologs spricht jemanden an.5 Unter den Personalpronomen haben du und ich eine besondere Stellung. Sie gehören zu keiner konkreten Person, sondern nehmen flexible Positionen innerhalb eines Dialogs ein, die sich ständig ändern, je nachdem wer gerade spricht und wer angesprochen wird.6 Gehen Wagschal’, nimmer dir erlaubt!« Damit wird sozial Privilegierten die Urteilsfähigkeit schlicht abgesprochen. Donahue liest den Prolog im Zusammenhang mit dem christlichjüdischen Disput über die Erbsünde und argumentiert, dass mit dem Evozieren dieses Streits die jüdische Gemeinde von Beginn an von den gnädigen Betrachtungen des Prologs ausgenommen ist. Für ihn erinnert der Prolog an eine moderne Variante der Erbsünde, die eine Unausweichlichkeit der Ereignisse nahelegt. Donahue, »›Ist er kein Jude, so verdient er einer zu sein‹«, 46. 5 | Ihrem Verständnis von Friedrich als jüdischer Figur folgend, liest Martha Helfer den Prolog als Aufforderung an Friedrich: »Er fordert Friedrich auf, die Waage beiseitezulegen, weil sie sonst das ermisst, was er ist: ein Jude.« Martha Helfer, Das unerhörte Wort. Antisemitismus in Literatur und Kultur, übers. von Christophe Fricker, Göttingen: Wallstein 2011, 159. Da im Prolog das »Du« als »Du Glücklicher« präzisiert wird und dem darin implizierten Adressaten zudem eine behütete Kindheit zugesprochen wird, die im Kontrast zu Friedrichs von Gewalt und Tod zerrütteter Kindheit steht, interpretiere ich dieses »Du« dagegen als unspezifische Ansprache. 6 | In diesem Sinne bezeichnet Roman Jakobson du und ich als »Verschieber« (shifter). Roman Jakobson, »Verschieber, Verbkategorien und das russische Verb«, in: Roman

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sie dazu noch ein »solidarisch[es]« Verhältnis zu dem sie begleitenden Verb ein, können sie eine Aussage vergegenwärtigen.7 Mit Verben im Präsens kombiniert – »Du Glücklicher […]/Leg hin die Waagschal’« –, reicht ihre aktualisierende Kraft bis in die Gegenwart der Lesenden hinein und bringt uns damit direkt mit dem Geschehen in Verbindung. Diese Verwendung von Pronomen und Tempus deutet auf eine Grammatik der Rache, deren weitere Bausteine ich im Verlauf der Untersuchung aufzeigen werde. »– er trifft dein eignes Haupt –« lässt offen, wann der vergeltende Stein genau treffen wird. Aber er wird treffen, es ist nur eine Frage der Zeit. Die Kombination von du und Präsensverben spiegelt das zutiefst persönliche Wesen der Rache wider, die ihr Objekt jederzeit treffen kann. In Die Judenbuche kommt Rache, wie gesagt, allerdings erst ins Spiel, nachdem das Gerichtswesen dabei versagt, Mörder zu überführen.

R echtsgefühl Mit dem Prolog ist die Frage des Urteilsvermögens keinesfalls abgeschlossen. Die Erzählstimme erweitert die Forderung, weniger Privilegierte nicht zu richten: Es ist schwer, jene Zeit unparteiisch in’s Auge zu fassen; sie ist seit ihrem Verschwinden entweder hochmüthig getadelt oder albern gelobt worden, da den, der sie erlebt, zu viel theure Erinnerungen blenden und der Spätgeborene sie nicht begreift. (3f.)

Wir haben es nicht mit einer vergangenen, sondern mit einer verschwundenen Zeit zu tun, die weder von Zeitzeugen und ‑zeuginnen noch in Retrospektive klar erfasst werden könne. Nach all diesen Warnungen, dass wir nicht vorschnell urteilen sollen, kommt die Erzählstimme selbst zu einem überraschend klaren Urteil über das Dorf B. um 1738: So viel darf man indessen behaupten, daß die Form schwächer, der Kern fester, Vergehen häufiger, Gewissenlosigkeit seltener waren. Denn wer nach seiner Ueberzeugung handelt, und sey sie noch so mangelhaft, kann nie ganz zu Grunde gehen, wogegen nichts seelentödtender wirkt, als gegen das innere Rechtsgefühl das äußere Recht in Anspruch nehmen. (4)

Jakobson, Form und Sinn. Sprachwissenschaftliche Betrachtungen, übers. von Gabriele Stein, München: Fink 1974, 35-54. 7 | Émile Benveniste, Probleme der allgemeinen Sprachwissenschaft, übers. von Wilhelm Bolle, München: List Verlag 1974, 284.

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Nachdem die Erzählinstanz die Rechtssituation im Dorf B. beschrieben hat, wechselt der Text genau an der Stelle vom Präteritum ins Präsens, an der er dem »seelentödtende[n]« äußeren Recht das innere Rechtsgefühl entgegensetzt.8 Das Präsens verleiht der Aussage Zeitlosigkeit und Allgemeingültigkeit. Dieser temporale Wechsel widerspricht der Vorstellung, dass es eigentlich das Gesetz ist, das zeitlos sein soll, und schreibt diese Eigenschaft stattdessen dem persönlichen Rechtsgefühl zu.9 Ist dieses innere Rechtsgefühl Ausdruck des Gewissens, das sich moralisch über das weltliche Recht stellt?10 Die Formulierung »das innere Rechtsgefühl« erinnert an die berühmte Charakterisierung von Kleists Michael Kohlhaas: »Das Rechtgefühl aber machte ihn zum Räuber und Mörder.«11 Das fehlende »s« in Kleists Rechtgefühl unterscheidet es grundlegend von Droste-Hülshoffs Rechtsgefühl: Während Kohlhaas’ Rechtgefühl »ein Gefühl für das Rechte, Gerechte, Richtige oder Sittliche« benennt, steht das Rechtsgefühl für ein »Gefühl für das Recht, 8 | In dieser Opposition zeigt sich weiter, wie Donahues überzeugende Lektüre demonstriert, dass der Gegenüberstellung von innerem und äußerem Recht eine religiöse Opposition zugrunde liegt, nämlich die zwischen dem (mit Rache assoziierten) Alten und dem (mit Gnade verbundenen) Neuen Testament, kurz zwischen Judentum und Christentum. Wenn Werte wie die christliche Innerlichkeit allerdings als »unattained possibilities« präsentiert werden, wird die die Erzählung strukturierende Dichotomie zugleich in Frage gestellt. Donahue, »›Ist er kein Jude, so verdient er einer zu sein‹«, 47. Donahue zufolge verläuft die für den Realismus charakteristische Verklärung im Sinne einer Ästhetisierung in der Novelle durch einen christlichen Filter. 9 | Richard T. Gray liest die Spannung zwischen äußerem und innerem Recht in Bezug auf den Holzfrevel in erster Linie als eine zwischen common und canonical law. Vgl. Richard T. Gray, »Red Herrings and Blue Smocks. Ecological Destruction, Commercialism, and Anti-Semitism in Annette von Droste-Hülshoff’s Die Judenbuche«, in: German Studies Review 26/3 (Okt. 2003), 515-542, hier: 517-521. Die allgemeine Formulierung der Passage erlaubt jedoch auch eine weitergreifende Interpretation. 10 | Helmut Koopmann versteht das »innere Rechtsgefühl« als gleichbedeutend mit innerer Moral, welche in Droste-Hülshoffs Novelle dem weltlichen Recht eindeutig vorgezogen werde. Helmut Koopmann, »Die Wirklichkeit des Bösen in der Judenbuche der Droste«, in: Walter Huge und Winfried Woelser (Hg.), Annette von Droste-Hülshoff. ›Die Judenbuche‹. Neue Studien und Interpretationen (Zeitschrift für deutsche Philologie 99, Sonderheft), Berlin u.a.: Schmidt 1980, 71-85, hier: 74f. Moralisch wäre dann auch Friedrichs Tod zu lesen, etwa als »Selbstgericht« bzw. als »Triumph des moralischen Gesetzes in Friedrich«, der (als Mörder Aarons) »die Rache an sich selbst vollzieht«. Koopmann, »Die Wirklichkeit des Bösen in der Judenbuche der Droste«, 82. Doch was Rache gerade ausmacht – und diese psychologische Dimension werde ich in Bezug auf den Fall Andrea Delfin genauer ausführen –, ist, dass sie sich gegen das Außen wendet. 11 | Kleist, »Michael Kohlhaas«, 13.

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für das bloß juristisch Richtige«.12 Kleist inszeniert die pathologische Ambivalenz von Kohlhaas’ Rechtgefühl als ein von Trauer (um Pferde und Frau) gespeistes Verlangen nach ausgleichender Gerechtigkeit.13 – Die Judenbuche verortet dagegen das juristisch Richtige im Einzelnen. Im Rechtsgefühl der Dorfbewohner und ‑bewohnerinnen äußert sich keine innere Moral, wie sie bei Kleist im Zentrum steht, sondern der Kern einer jeden Rachefantasie, in der sich der Rächer oder die Rächerin als urteilende und strafende Instanz gerechtfertigt sieht, und zwar in Opposition zum existierenden Gerichtswesen. In Die Judenbuche erhebt die Erzählstimme diesen inneren rechtlichen Kompass zum Handlungsimperativ. Damit öffnet sich eine Seitentür für die Legitimation der persönlichen Rache. Denn was wäre mehr Ausdruck des Rechtsgefühls als das Verlangen, selbst Recht zu sprechen und zu strafen? Friedrich Mergel ist kein Michael Kohlhaas, der selbst als Rächer noch wie ein Ehrenmann erscheint: »[…] far from signalizing him as an extraordinary individual – as Kleist does in the opening sentence to Michael Kohlhaas – she [Droste-Hülshoff] depicts the social setting out of which grew this inconspicuous ›Menschenkind‹ Friedrich Mergel«.14 Die detaillierte Beschreibung des sozialen und rechtlichen Milieus, in dem Friedrich aufwächst, liest sich wie der Entwurf einer auf mildernde Umstände plädierenden Verteidigung durch die Friedrich gegenüber empathische Erzählinstanz.15 Während Kohlhaas’ Rache 12 | Joachim Rückert, »›… Der Welt in der Pflicht verfallen …‹. Kleists Michael Kohlhaas als moral-rechtsphilosophische Stellungnahme«, in: Kleist-Jahrbuch (1988-89), 357403, hier: 385. 13 | Für weitere Ausführungen zu Rache und Rechtgefühl in Michael Kohlhaas siehe meinen Aufsatz »Unrechtes und Ungerechtes: Rache bei Kleist«, in: Ricarda Schmitt et al. (Hg.), Heinrich von Kleist: Konstruktive und destruktive Funktionen von Gewalt, Würzburg: Königshausen & Neumann 2012, 231-246. 14 | Silz, Realism and Reality, 47. 15 | Die jüdischen Figuren, insbesondere Aaron und seine Frau, sind von dieser empathischen Erzählhaltung ausgeschlossen, mit der Friedrichs Charakter, seine Mutter und auch Johannes beschrieben werden. Sie werden in der Novelle nicht zu Charakteren entwickelt, sondern als Typen präsentiert. Dabei werden sie entweder mit antisemitischen Beinamen wie »Lumpenmosche« oder »Wucherjoel« bezeichnet oder verbleiben wie etwa Aarons Frau gänzlich namenlos. Die wechselnde Empathie der Erzählstimme sowie das Typenhafte, das diese jüdischen Figuren definiert, zeigt, wie Karin Doerr herausstellt, dass es sich bei den antisemitischen Elementen in Die Judenbuche nicht allein um eine Darstellung der antisemitischen Haltung der damaligen Zeit handelt, sondern dass sie Teil der narrativen Struktur sind, vgl. Karin Doerr, »The Specter of Anti-Semitism in and around Annette von Droste-Hülshoff’s ›Judenbuche‹«, in: German Studies Review 17/3 (Okt. 1994), 453-455. Zum Thema Antisemitismus in Die Judenbuche siehe insbesondere: Jefferson S. Chase, »Part of the Story. The

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den konsequenten Ausdruck seines Rechtgefühls bedeutet, wird in Die Judenbuche die Rache nicht als Verlangen eines Charakters präsentiert, sondern als Wirkung vergangen geglaubter Rechtskonzepte. Die Wirkung der Racheformeln ist am Ende zwar möglich, bleibt aber zutiefst fraglich. Rache widersteht dem Lauf der Zeit und besteht weiter, einer Art Schläferzelle gleich, die sich jederzeit wieder aktivieren kann. Dieses schlummernde Rachepotential zeigt sich in der Temporalität der Passage: Dadurch dass die Reflexionen über das innere Rechtsgefühl im Präsens verfasst sind, erscheinen sie – wie bereits der Passus über den Stein – zwischen Gegenwart und Zukunft gebannt. Rache manifestiert sich hier strukturell als das weiterhin Gegenwärtige oder vielmehr als das nicht Vergehende. Vom Prolog bis zur letzten Zeile verharrt die Sprache der Rache im Präsens.

T äterprofil F riedrich M ergel Wir erfahren viel über das, weitgehend dubiose, Rechtsverständnis von Friedrichs Umfeld und über die häusliche Gewalt, die seine Kindheit prägt. Das verängstigte Kind wird zu einem schwer berechenbaren Erwachsenen, dem »Leichtsinn, Erregbarkeit und vor Allem ein grenzenloser Hochmuth« eigen ist und der »Alles daran setzte, durch Wahrmachung des Usurpirten möglicher Beschämung zu entgehen« (26). Friedrich wird als ein zum Exzess tendierender Charakter beschrieben, der vor nichts zurückschreckt, um Demütigungen zu umgehen. Es ist nicht durch die ihm entgegengebrachte Anerkennung, sondern »durch seine gefürchtete Kühnheit und noch mehr gefürchtete Tücke«, dass er im Dorf eine gewisse Stellung erlangt hatte, die »um so mehr anerkannt wurde, je mehr man sich bewußt war, ihn nicht zu kennen und nicht berechnen zu können, wessen er am Ende fähig sey« (26). Die Beschreibung Friedrichs als unberechenbarer Charakter mit »sehr empfindliche[m] Ehrgefühl« liest sich so geradezu wie das psychologische Profil einer Kriminalakte.16 Nach dieser Beschreibung verwundert es nicht, dass Friedrich krass reagiert, als seine Ehre auf einer Hochzeit gleich zweimal angegriffen wird.17 Significance of the Jews in Annette von Droste-Hülshoff’s Die Judenbuche«, in: Deutsche Vierteljahrsschrift für Literaturwissenschaft und Geistesgeschichte 71 (1997), 127145; Donahue, »›Ist er kein Jude, so verdient er einer zu sein‹«. 16 | Zum Hochmut als Todsünde Friedrichs siehe Heinz Rölleke, Annette von DrosteHülshoff. Die Judenbuche, München: Oldenbourg 2001, 31. Den Zusammenhang von Ehrgefühl, Rehabilitation, Rache und Gesellschaft werde ich im Kapitel zum Duell expliziter behandeln. 17 | Bedenkt man, dass Friedrich wegen seines Vaters jahrelang gehänselt wurde, dann wird die tiefgreifende Bedeutung der gesellschaftlichen Anerkennung ersichtlich – ihr

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Da ist zunächst der Butterdiebstahl seines Schützlings Johannes. Friedrich empfindet den Diebstahl als Affront gegen sich und bestraft Johannes sofort mit aller Härte: Er beschimpft ihn, schlägt ihm ins Gesicht und versetzt ihm »einen tüchtigen Fußtritt« (28). Dieser brutale Gewaltakt befriedigt ihn jedoch nicht: Friedrich kehrt niedergeschlagen zurück; seine Würde war verletzt, das allgemeine Gelächter schnitt ihm durch die Seele. […] Er war im Begriff, sich wieder hinter die Bassviole zu flüchten; doch zuvor noch ein Knalleffekt: er zog seine silberne Taschenuhr hervor, zu jener Zeit ein seltener und kostbarer Schmuck (28).

Die Uhr wirkt wie Balsam auf sein gekränktes Ehrgefühl und verfehlt auch nicht ihre Wirkung auf die Hochzeitsgesellschaft. Selbst als »Friedrichs Nebenbuhler«, Wilm Hülsmeyer, ihn auf seine Uhr anspricht und ihm unterstellt, er habe sie nicht bezahlt, begegnet Friedrich dieser Provokation mit »stolze[m] Blick« und »schweigender Majestät« (28). Die Uhr schützt ihn gegen die spitzen Worte Hülsmeyers, so dass er nicht aggressiv, sondern souverän reagiert. Kurze Zeit später entfacht ausgerechnet diese Uhr einen Streit zwischen Aaron und Friedrich. Aaron taucht »plötzlich« auf der Hochzeit auf und fordert Friedrich »vor allen Leuten« auf, die Taschenuhr endlich zu bezahlen (29). Diese Auseinandersetzung und die Vorgeschichte – Friedrichs Gewaltausbruch gegenüber Johannes und die Bedeutung der Uhr als Statussymbol – fließen in Friedrichs Täterprofil ein. Eindeutig beweisen, dass er Aarons Mörder ist, tun sie jedoch nicht. Das ist unter andrem der lückenhaften Darstellung der Ereignisse geschuldet. Genau nach der Konfrontation zwischen Friedrich und Hülsmeyer wechselt nämlich die Perspektive der narrativen Instanz abrupt und beschreibt das den Lesenden bis dahin gänzlich unbekannte Hochzeitspaar, bis auch diese Beschreibung plötzlich abbricht und es heißt: »Friedrich war nicht mehr dort.« (29) Wir haben unversehens das zentrale Ereignis der Novelle verpasst und erfahren erst im Nachhinein, und auch dann nur in groben Zügen, von dem Geschehen, dessen Schauplatz Friedrich »wie vernichtet« verlassen hat. Dass Verlust bei der Hochzeit erscheint dann als peinigende Wiederholung der bis in die Kindheit zurückreichenden Demütigungen. Claudia Liebrand hebt die traumatischen Erlebnisse von Friedrichs Kindheit hervor, wogegen Ronald Schneider eine (sozial‑) pathologische Interpretation eröffnet. Claudia Liebrand, Kreative Refrakturen. Annette von Droste-Hülshoffs Texte, Freiburg: Rombach 2008, 195-232; Ronald Schneider, »›Laß ruhn den Stein …‹ Sozialpsychologische und psychoanalytische Aspekte zur Interpretation der Judenbuche«, in: Walter Huge und Winfried Woelser (Hg.), Annette von Droste-Hülshoff. ›Die Judenbuche‹. Neue Studien und Interpretationen (Zeitschrift für deutsche Philologie 99, Sonderheft), Berlin u.a.: Schmidt 1980, 118-131.

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realistische Texte mehr von alltäglichen als von außergewöhnlichen Begebenheiten handeln, erklärt kaum, dass dieser Streit nicht beschrieben wird, während er passiert. Die Auseinandersetzung zwischen Aaron und Friedrich ist vielmehr Teil einer Kette von Leerstellen, die Droste-Hülshoffs Novelle durchzieht, zu denen auch der Tod von Friedrichs Vater oder die Morde am Förster Brandis und an Aaron gehören. Indem wesentliche dramatische Momente nicht dargestellt werden, verschiebt sich der Fokus vom Streit auf dessen Auswirkungen. Dieses narrative Manöver distanziert die Lesenden von den Ereignissen und untergräbt damit jede Möglichkeit, sie eindeutig zu beurteilen. Der fehlende Zugang zum Geschehen wird grammatikalisch bestärkt, indem die Konfrontation zwischen Friedrich und Aaron in der abgeschlossenen Vergangenheit, im Plusquamperfekt, nacherzählt wird: Eine große, unerträgliche Schmach hatte ihn getroffen, da der Jude Aaron, ein Schlächter und gelegentlicher Althändler aus dem nächsten Städtchen, plötzlich erschienen war, und nach einem kurzen, unbefriedigenden Zwiegespräch ihn laut vor allen Leuten um den Betrag von zehn Thalern für eine schon um Ostern gelieferte Uhr gemahnt hatte. Friedrich war wie vernichtet fortgegangen und der Jude ihm gefolgt, immer schreiend: »O weh mir! warum hab‹ ich nicht gehört auf vernünftige Leute! Haben sie mir nicht hundertmal gesagt, Ihr hättet all Eu’r Gut am Leibe und kein Brod im Schranke!« – Die Tenne tobte von Gelächter; manche hatten sich auf den Hof nachgedrängt. – »Packt den Juden! wiegt ihn gegen ein Schwein!« riefen Einige; andere waren ernst geworden. (29)

Dadurch dass die Handlung in der abgeschlossenen Vergangenheit verfasst wird, folgt die Grammatik der Passage der Warnung des Prologs, nicht über die damalige Zeit zu urteilen. Das Plusquamperfekt versagt den Lesenden schlicht den Zugang. Wir haben das Geschehen nicht nur verpasst – die Ereignisse bleiben uns verschlossen. In Droste-Hülshoffs Entwürfen zur Novelle ist diese Szene noch dramatischer formuliert; dort heißt es über die Reaktion der Gemeinschaft: »Alles nimmt Mergels Parthey, und droht dem Juden«.18 Das Gelächter der Dabeistehenden richtet sich in der Endfassung zwar auch gegen Friedrich, aber nicht ausschließlich – verbal angegriffen wird in erster Linie Aaron, denn »das Aufwiegen gegen ein nach dem mosaischen Gesetz unreines Schwein bedeutet eine Gleichsetzung und damit besonders tiefe Erniedrigung des Juden Aaron.«19 Friedrichs schwere Kindheit charakterisiert ihn als ein »verkümmert Seyn« (3) – wer es richtet, den trifft ein Stein. Nach dem Prolog 18 | Annette von Droste-Hülshoff, »Entwürfe und Notizen, H7«, in: Annette von DrosteHülshoff, Historisch-kritische Ausgabe, Bd. V,2: Prosa. Dokumentation, hg. von Walter Woesler, Tübingen: Niemeyer 1984, 386-392, hier: 387. 19 | Walter Huge, »Erläuterungen«, in: Annette von Droste-Hülshoff, Historisch-kritische Ausgabe, Bd. V, 2: Prosa. Dokumentation, hg. von Winfried Woesler, Tübingen:

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wird Aaron dann in dem Moment, in dem er Friedrich anklagt, zum Aggressor stilisiert, der einen Gegenschlag zu erwarten hat. Der Text zeichnet (mittels Prolog) Friedrich als Opfer sozialer Umstände und unterstellt Aaron (der, historisch betrachtet, als Jude in der damaligen Zeit ständiger Diskriminierung ausgesetzt war, was im Text allerdings nicht thematisiert wird) eine gewisse Mitschuld am weiteren Geschehen. Anders gesagt, das Bild des bumeranghaften Steinwurfs suggeriert paradoxerweise, dass Aaron seinen Tod selbst verschuldet habe.20 Niemeyer 1984, 225-248, hier: 242. Für eine Interpretation des Wortlauts dieser Szene siehe Helfer, Das unerhörte Wort, 157-159. 20 | In der von Droste-Hülshoffs Onkel August Franz Haxthausen verfassten Geschichte eines Algerier-Sklaven, die ihr als Vorbild diente, ist eine solche Wendung vom Täter zum Opfer noch expliziter angelegt: Bereits im Titel wird der (hier eindeutig als Mörder überführte) Winkelhannes als »Algerier-Sklave« bezeichnet und der Text als Geschichte seiner Sklaverei konfiguriert. August Franz Haxthausen, »Geschichte eines Algerier-Sklaven«, in: Annette von Droste-Hülshoff, Historisch-kritische Ausgabe, Bd. V,2: Prosa. Dokumentation, hg. von Winfried Woesler, Tübingen: Niemeyer 1984, 214-223. Zielt dagegen Droste-Hülshoffs Darstellung, die das Mordopfer Aaron als Aggressor präsentiert und zugleich den zu Gewaltausbrüchen tendierenden Friedrich als gebrochene Figur erscheinen lässt, nicht darauf ab, die binäre Opposition von Täter und Opfer zu unterlaufen? Gray liest die Verschiebung von Täter- und Opferposition in Die Judenbuche als »psychological displacement« und zeigt auf, wie die Dorfgemeinschaft »divert their anger and mockery of Friedrich into anti-Semitic abuse of the Jew Aaron«. Gray, »Red Herrings and Blue Smocks«, 529. Diese Wut habe einen ökonomischen Ursprung: »Anti-Semitism thereby serves as a convenient way for the Paderborn populace – who after all, covertly support the activities of the Blaukittel and themselves participate freely in profit-mongering acts of wood poaching – to ignore their own complicity with the destructive dialectic of exchange-value economics and transfer guilt to a convenient Other.« Gray, »Red Herrings and Blue Smocks«, 529. Gray liest diese Verdrängungsstrukturen, die sich exemplarisch in der kollektiven (Gemeinschaft) wie individuellen (Friedrich) Aggression gegen Aaron zeigen, weniger als Ausdruck von Antisemitismus, sondern als »critical representation« der Mechanismen, nach denen der antisemitische Diskurs funktioniert: »[…] it exposes the mechanism by which the process of abjection operates and thereby opens the door to its critical analysis«. Gray, »Red Herrings and Blue Smocks«, 530. Diese kritische Darstellung antisemitischer Mechanismen sehe ich in der Novelle kaum angelegt. Zum Vergleich von Haxthausens Text und Die Judenbuche siehe etwa Winfried Woesler, »Die Literalisierung eines Kriminalfalls«, in: Walter Huge und Winfried Woelser (Hg.), Annette von Droste-Hülshoff. ›Die Judenbuche‹. Neue Studien und Interpretationen (Zeitschrift für deutsche Philologie 99, Sonderheft), Berlin u.a.: Schmidt 1980, 5-20; Michael Werner, »Dichtung oder Wahrheit?«, in: Walter Huge und Winfried Woelser (Hg.), Annette von Droste-Hülshoff. ›Die Judenbuche‹. Neue Stu-

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Tr aumatisches P r äsens Während der Vorfall zwischen Aaron und Friedrich nicht direkt beschrieben wird, fehlt es der Verkündung von Aarons Ermordung nicht an Dramatik: Es »tobte ein furchtbarer Sturm« und im Haus den Gutsherrn beten alle gerade gemeinsam: Ein furchtbarer Donnerschlag. Alle fuhren zusammen; dann furchtbares Geschrei und Getümmel die Treppe heran. […] Die Thüre ward aufgerissen und herein stürzte die Frau des Juden Aaron, bleich wie der Tod, das Haar wild um den Kopf, von Regen triefend. Sie warf sich vor dem Gutsherrn auf die Knie. ›Gerechtigkeit!‹ rief sie, ›Gerechtigkeit! Mein Mann ist erschlagen!‹ und sank ohnmächtig zusammen. (30)

Aarons Frau stürzt unter Schock in die Gebetsszene hinein, verlangt nach Gerechtigkeit und bricht zusammen. Dieser Schockzustand prägt auch den Bericht über die Ereignisse. Obwohl weder die genauen Umstände des Konflikts noch die des Mordes je geklärt werden, erfahren wir durch einen Bericht, der die »Aussagen der Jüdin und ihres Knechtes Samuel« zusammenfasst, vom Fund der Leiche. Auf der Suche nach Aaron waren sie im Brederholz vom Gewitter überfallen worden und hatten unter einer großen, am Berghange stehenden Buche Schutz gesucht; der Hund hatte unterdessen auf eine auffallende Weise umhergestöbert und sich endlich, trotz allem Locken, im Walde verlaufen. Mit einemmale sieht die Frau beim Leuchten des Blitzes etwas weißes neben sich im Moose. Es ist der Stab ihres Mannes, und fast im selben Augenblicke bricht der Hund durch’s Gebüsch und trägt etwas im Maule: es ist der Schuh ihres Mannes. (31)

Hatte der Hund eben noch in der abgeschlossenen Vergangenheit des Plusquamperfekts herumgestöbert, sieht die Frau mit einemmale den Stab ihres Mannes. Wenn das Blitzlicht den Tatort erleuchtet, bricht die temporale Struktur der Beschreibung plötzlich auf: Der abrupte Wechsel ins Präsens aktualisiert das Vergangene oder zeigt vielmehr, dass es immer noch gegenwärtig ist. Der Bericht, bestehend aus Erinnerungsfetzen von Aarons Frau und Beschreibungen des Knechts, deutet den Fund der Leiche allein metonymisch an: Stab und Schuh stehen stellvertretend für den Toten. Es ist also eine sprachliche dien und Interpretationen (Zeitschrift für deutsche Philologie 99, Sonderheft), Berlin u.a.: Schmidt 1980, 21-31; siehe außerdem Clemens Heselhaus’ und insbesondere Liebrands Analyse, die vor allem die Unterschiede hinsichtlich der Frage herausstellt, wie in beiden Texten juristische Verfahren dargestellt werden. Clemens Heselhaus, Annette von Droste-Hülshoff. Werk und Leben, Düsseldorf: Bagel 1971, 146-165; Liebrand, Kreative Refrakturen.

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Leerstelle, die Aarons Verlust anzeigt. In diesem Sinne bildet die gesamte Episode von Aarons Ermordung ein leeres, opakes und daher undurchdringliches Zentrum, das durch keinen Beweis erhellt wird, sondern allein eine Reihe von Vermutungen generiert. Die »Aussage« von Knecht und Frau gleicht einem Lückentext, der den Fund von Aarons Leiche stockend beschreibt, wobei die unter Schock stehende Frau den Bericht des Knechts »nur im Allgemeinen unterstützt« (31). Da uns nur ein Bericht vom Mord und dem Fund von Aarons Leiche vorliegt, erzählt der Text die Ereignisse nicht poetisch, sondern folgt der juristischen Konvention und beschreibt sie. Für Georg Lukács ist es allerdings bekanntlich allein das Erzählen, dass uns ein menschliches Schicksal näherbringen kann, wohingegen in einer Beschreibung »das Wichtige und das Unwichtige mit gleicher Eindringlichkeit beschrieben wird«.21 Die Beschreibung hat keinen Sinn für Dramatik; ob Hund, Frau oder Leiche, sie behandelt alle gleich und hebt nicht hervor, was die Menschen tatsächlich bewegt. Diesen Umstand führt Lukács auch auf die Zeitlichkeit von Erzählen und Beschreiben zurück: »Die Beschreibung macht alles gegenwärtig. Man erzählt Vergangenes. Man beschreibt das, was man vor sich sieht, und die räumliche Gegenwart verwandelt Menschen und Dinge auch in eine zeitliche Gegenwärtigkeit. Dies ist aber eine falsche Gegenwart, nicht die Gegenwart der unmittelbaren Aktion im Drama.«22 Formal betrachtet, hätte eine erzählte Version von Aarons Ermordung wohl einen dramatischeren Effekt als eine beschreibende. Was dem Bericht jedoch auf inhaltlich-formaler Ebene gelingt, ist, dass er den Schockmoment des Leichenfundes speichert. Das Beschreiben vergegenwärtigt diesen Schock nicht nur durch den Modus des Beschreibens, sondern durch punktuelle Wechsel ins Präsens. Der Text grenzt die Gewalt des Mordes, also die vermeintliche Rache Friedrichs ein, indem er ihn nicht (dramatisch) erzählt, sondern beschreibt. Zugleich wird dabei jedoch die Gewalt dargestellt und ihr einschneidender Effekt registriert, und zwar als Bruch mit der temporalen Struktur der Passage: als Wechsel ins Präsens. In diesem Sinne bildet der Modus des Beschreibens eine Strategie, mit der in Die Judenbuche die brachiale Gewalt der Rache narratologisch eingegrenzt und zugleich repräsentiert wird. Indem es den Tod Aarons als gegenwärtigen darstellt, dramatisiert das Präsens diese Szene auf ganz eigene Weise. Diese aktualisierende Macht wird seit der Antike dem sogenannten historischen Präsens zugeschrieben,23 was von Käte Hamburger in Die Logik der Dichtung fiktionstheoretisch noch zugespitzt wird. Während sie dem historischen Präsens in autobiographischen 21 | Lukács, »Erzählen oder beschreiben?«, 217. 22 | Lukács, »Erzählen oder beschreiben?«, 216. 23 | Longinus (first century C.E.), »On Sublimity« (Auszug), in: The Norton Anthology of Theory and Criticism, hg. von Vincent B. Leitch, New York: Norton & Co. 2001, 135-154.

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Texten eine vergegenwärtigende Macht zuspricht, da darin tatsächlich Erlebtes wieder vor Augen geführt wird, spricht sie ihm (in Anlehnung an BrugmanDelbrück) im historischen Text lediglich die »Funktion dramatischer Veranschaulichung« zu.24 Hamburgers Theorie hat zeugenschaftstheoretische Implikationen, da sie die Möglichkeit einer temporal vergegenwärtigenden Funktion des Präsens an die Position des Erzählers als Augenzeuge knüpft. Eine »temporal vergegenwärtigende Funktion« des historischen Präsens in der epischen Fiktion hält sie hingegen für verfehlt und schreibt ihm eine rein »fiktional vergegenwärtigende Funktion« zu.25 Im Prolog etabliert die Verwendung des Präsens eine ambivalente Zeitlichkeit, die zwischen Gegenwart und Zukunft changiert. Dagegen bezieht sich der Wechsel ins Präsens, der im Bericht mit der Metaphorik des Blitzschlags sowie mit adverbialen Wendungen – »mit einemmale«, »fast im selben Augenblick« – korrespondiert, auf ein Jetzt. Diese Elemente markieren den Schock, den Aarons Ehefrau empfindet, als sie ihren Mann tot auffindet. Der Text kippt buchstäblich mit dem Blick der Frau ins Präsens, als sie das erste Indiz der Leiche ihres Mannes sieht. Dieser temporale Wechsel26 geht mit einer inhaltlichen Zäsur einher: In einer Gegenwärtigkeit verharrend, widersetzt sich der Tod Aarons einer Integration in die Zeitlichkeit und damit auch in die (grammatikalische) Ordnung des Textes. Diese beharrliche Präsenz fasst den Mord 24 | Käte Hamburger, Die Logik der Dichtung, Stuttgart: Klett-Cotta 1977, 87. 25 | Hamburger, Die Logik der Dichtung, 87. 26 | Hamburger diskutiert die Verwendung von Tempora in Texten im Zusammenhang einer Theorie der Fiktion. Harald Weinrich erweitert Hamburgers Ansatz, indem er das Tempus mit der Position von Sprecher/Sprecherin und Hörer/Hörerin zusammendenkt. Er zählt das Präsens zur Tempus-Gruppe der besprochenen Welt, zu der auch dramatische Dialoge, juristische Kommentare sowie Formen ritualisierter und performativer Rede gehören. Während die Tempora der erzählten Welt Teil eines Kommunikationsmodells sind, in dem der Hörer/die Hörerin »für die Dauer« der Erzählung »mehr Zuschauer als agierende Person ist« (63), generieren die Tempora der besprochenen Welt eine gewisse Aktualität bzw. »Spannung«, denn »die Rede ist ein Stück Handlung«. Harald Weinrich, Tempus. Besprochene und erzählte Welt, München: Beck 2001, 50. Weinrich argumentiert, dass das Präsens das Beschriebene aktuell erscheinen lässt und damit eine Sprechsituation generiert, in der das Verhältnis von Sprecher/Sprecherin und Hörer/Hörerin zum Beschriebenen aktualisiert wird. Indem in Die Judenbuche das Zeugnis von Aarons Frau streckenweise im Präsens formuliert wird, werden zum einen die Geschehnisse aktualisiert und zum anderen wird der Gutsherr in die Position des Hörers versetzt – er wird zum Zeugen des Berichts der Frau. Während Weinrich und Hamburger generell über die Verwendung des Präsens in längeren Textpassagen sprechen, konzentriert sich meine Interpretation auf kurze Wechsel ins Präsens und den Bezug zwischen Pronomen, Tempus und Semantik.

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als traumatischen Einschnitt, dessen Effekt bis ins grammatikalische Gewebe des Texts reicht. Da sich der Wechsel ins Präsens nicht in der direkten Rede (von Frau oder Knecht) vollzieht, sondern im Bericht, bezieht sich diese temporale Zäsur nicht auf die Figurenperspektive, sondern auf das Erzählen ihres Schocks durch die Erzählinstanz. Der aktualisierende Effekt dieses abrupten Wechsels betrifft weniger das Genre des Textes, sondern die Darstellung (traumatischer Ereignisse). Was sich hier auf grammatikalischer Ebene ereignet, entspricht traumatheoretischen Ansätzen, die ein Trauma als Phänomen betrachten, das keiner linearen Zeitlichkeit entspricht, sondern in Form von Flashbacks plötzlich wiederkehrt.27 Die traumatische Dimension dieses Ereignisses rekonfiguriert die dem historischen Präsens zugeschriebene aktualisierende Wirkung unter dem Vorzeichen des Schocks. So wie ein Trauma nicht in bestehende Denk- und Erinnerungsmuster integriert werden kann, wird der Anblick von Aarons Leiche mit einem anderen Tempus beschrieben als der Rest des Textes. Kurz, der Wechsel ins Präsens repräsentiert den Schockeffekt des Mordes. Das Präsens dramatisiert nicht einfach die Szene, es gibt dem Eindruck von Hamburger, dass unter Umständen die »präsentische Form sogar störend« wirken kann,28 eine neue Bedeutung. Das Präsens konstituiert in der Tat eine Störung, die sowohl die grammatikalische als auch die inhaltliche Ebene des Textes betrifft. Ich lese die Verwendung des Präsens und die mit ihm einhergehende strukturelle wie inhaltliche Erschütterung als narrative Strategie, die ich als traumatisches Präsens bezeichnen möchte. Das traumatische Präsens, dem wir auch in Die schwarze Spinne und in Andrea Delfin begegnen werden, setzt eine grammatikalische Zäsur, die im Kontrast zu einem in der Vergangenheitsform verfassten Text als Moment lesbar wird, in dem sich etwas weigert, Vergangenheit zu werden. Es ist kein ausschließlich temporales bzw. strukturelles Phänomen: Die zeitliche Zäsur geht mit einer inhaltlichen einher, mit einem Bruch mit gängigen Wahrnehmungs‑, Bedeutungs‑ und Erfahrungsmustern.

»G erechtigkeit !« Noch unter Schock stehend, wendet sich Aarons Frau nach der Ermordung ihres Mannes an den Gutsherrn, und zwar in seiner Funktion als Vertreter des Rechts: »›Gerechtigkeit!‹ rief sie, ›Gerechtigkeit! […]‹« (30). Später murmelt sie »halb verwirrt oder vielmehr stumpfsinnig« vor sich hin: »›Aug um Auge, Zahn um Zahn!‹ dieß waren die einzigen Worte, die sie zuweilen hervorstieß« 27 | Siehe etwa van der Kolk und van der Hart, »The Intrusive Past«. 28 | Hamburger, Die Logik der Dichtung, 90.

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(31). Wandelt sich also das Verlangen der Jüdin nach Gerechtigkeit zu einem nach Rache? Während Rache und Recht heute oft als unvereinbare Wege zur Gerechtigkeit gelten, betonen Denker von Nietzsche bis Girard die enge Verwandtschaft der beiden. Nietzsche versteht Strafe als »Rache der Gesellschaft an Einem, der sie nicht ehrt« und anerkennt: »das heißt – Strafe ist Rache. –«29 Für ihn geht die persönliche Rache nahtlos in die staatliche (als Strafe) über, so dass mit der Strafe, sozusagen als Nebeneffekt, auch die persönliche Rache befriedigt werden kann.30 Wie schon in der Einleitung angesprochen, gibt es auch laut Girard im »Strafwesen kein Rechtsprinzip, das vom Racheprinzip wirklich verschieden ist. Es ist das gleiche Prinzip, das in beiden Fällen am Werk ist, nämlich jenes der gewalttätigen Reziprozität, der Vergeltung.«31 Das Prinzip der Vergeltung liegt auch dem ius talionis zugrunde, das die Frau Aarons hier als »Aug um Auge, Zahn um Zahn!« zitiert. Mit dieser alttestamentarischen Formulierung des ius talionis (Ex 21,24) ruft sie einen Rechtsgedanken auf, der zwar wie die Rache auf dem Prinzip von Ausgleich beruht, aber gerade darauf abzielt, den Exzess der persönlichen Rache einzugrenzen,32 diesen »endlosen Prozess«,33 bei dem ein Racheakt den nächsten jagt. Nach Donahue dient die Darstellung des (nicht ausschließlich) alttestamentarischen ius talionis – anhand des Ausrufs von Aarons Frau und später als Inschrift in der Buche – dazu, »to reinscribe well-worn cultural prejudices about a worldly, material, and ›exterior‹ Judaism superseded by a superior, inward Christianity«, wie sie etwa im Prolog zum Ausdruck kommt.34 Recht werde damit als »threatening ›legalism‹ of the author’s day, that body of thought most at odds with Christian faith« repräsentiert und mit dem Judentum identifiziert.35 Mit ihrem Ausruf nach Gerechtigkeit untergräbt die Frau jedoch zugleich die im Text konstruierten »gegensätzlichen Bilder der hexenähnlichen, rachsüchtigen Jüdin und der frommen, tugendhaften Christin«.36 Aus heutiger Sicht betrachtet, eröffnet die Frau ein Gegennarrativ zu dieser Gegenüberstellung: Sie will sich nicht (persönlich) rächen, sondern wendet sich mit ihrem Ruf nach Gerechtigkeit an den Gutsherrn in seiner Funktion als weltlicher Richter und stellt sich damit auf die Seite des irdischen Rechts. Indem sie in 29 | Nietzsche, Menschliches, Allzumenschliches, 567, Hervorh. i. O. 30 | Vgl. Girard, Das Heilige und die Gewalt, 29f. 31 | Girard, Das Heilige und die Gewalt, 29. 32 | Vgl. hierzu Donahue, »›Ist er kein Jude, so verdient er einer zu sein‹«, 56. 33 | Girard, Das Heilige und die Gewalt, 28. 34 | Donhaue, »›Ist er kein Jude, so verdient er einer zu sein‹«, 56. 35 | Donahue, »›Ist er kein Jude, so verdient er einer zu sein‹«, 57. 36 | Helfer, Das unerhörte Wort, 160. Vgl. auch Doerr, »The Specter of Anti-Semitism« und Donahue, »›Ist er kein Jude, so verdient er einer zu sein‹«.

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ihrem Appell zwischen dem Ruf nach Gerechtigkeit und dem ius talionis wechselt, verbindet sie den alttestamentarischen Ausgleichsgedanken mit dem der Justiz. Jenseits rein religiöser Diskurse (und vermutlich entgegen der Intention der Autorin) fordert Aarons Frau Gerechtigkeit, und zwar aus der Position derjenigen, die einen traumatischen Verlust erlitten hat. Dass der Gutsherr diesem Appell nicht Folge leisten kann, ist dagegen ein weiteres Beispiel dafür, dass seine Versuche, Recht zu sprechen, ausnahmslos scheitern. Dabei verkörpert gerade er die richtende Instanz, die das moderne Rechtssystem ausmacht. Es gelingt ihm nicht einmal, einen Fall zur Anklage zu bringen. Die Impotenz des Gerichtswesens ebnet den Weg zum Rachefluch. Der Glaube an übersinnliche Kräfte infiltriert die realistische Novelle jedoch nicht erst mit der Inschrift, sondern unterwandert das Gerichtswesen bereits während der Beweisaufnahme. So sind zwei Knechte davon überzeugt, in der Mordnacht »von des alten Mergels Geist verfolgt worden zu seyn« (30). Diese Gespensterbegegnung geht in die Beweisaufnahme mit ein: »Der Anklage bedurfte es nicht, da Herr von S. selbst Zeuge eines Auftritts gewesen war, der den dringenden Verdacht auf ihn [Friedrich] werfen mußte; zudem die Gespenstergeschichte von jenem Abende […]« (31). Der Glaube an Geister steht demnach nicht im Widerspruch zum juristischen System. Der Gutsherr glaubt vielleicht nicht an Geister, gleichwohl betrachtet er die vermeintliche Begegnung der Knechte mit Merkels Geist als Indiz für eine wie auch immer geartete Präsenz im Wald. Für ein juristisches Verfahren fehlt in Die Judenbuche wie gesagt am Ende immer irgendetwas – sei es ein Geständnis, eine Zeugenaussage oder ein Beweis. Der Rachefluch konkurriert also nicht mit dem irdischen Recht, sondern wird eingesetzt, als dieses scheitert. Die Judenbuche verwendet, wie Downing (auf Barthes und Jakobson auf bauend) hervorhebt, Wiederholungen und Redundanzen als Strategie, um Alltag abzubilden, speziell den Alltag juristischer Konventionen.37 Indem das Gerichtswesen hier wieder und wieder versagt, etabliert Die Judenbuche dessen Inkompetenz als Regel, vor dessen Hintergrund sich die Rache als Ausnahmefall abzeichnet. Die Rache bedeutet dabei zwar einen Bruch mit den juristischen Konvention, etabliert selbst aber keine eigentlich neue Konvention,38 da sie zum einen den Rückfall zu einem früheren Rechtsprinzip bedeutet und es zum anderen eine Glaubensfrage bleibt, ob sich hier tatsächlich eine übersinnliche Macht rächt. 37 | Downing, Double Exposure, 2-6. 38 | Damit fällt Rache aus der von Downing beschriebenen doppelten Struktur heraus, die realistische Texte kennzeichnet und der zufolge diese sowohl literarische und soziale Konventionen wie auch deren Deformation abbilden. Downing, Double Exposure, siehe etwa 9-14. Rache bildet in realistischen Texten einen Ausnahmefall, der sich nicht verallgemeinern lässt; sie bietet keine zukunftstaugliche Alternative.

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Es sind also letztlich die blinden Flecken im Gerichtswesen, die Aarons Mörder ungestraft davonkommen lassen und den Anlass für den in die Buche geritzten Fluch geben. Die Inschrift taucht in Die Judenbuche zunächst als hebräischer Schriftzug auf und wird erst in der letzten Zeile des Textes übersetzt. Jetzt kennen wir zwar den Inhalt des Rachefluchs, aber seine Wirkung bleibt rätselhaft. Dazu kommt noch, dass es sich bei dem Toten nicht, wie zuerst angenommen, um Johannes handelt, sondern um Friedrich. Wie um ein Gegengewicht zu diesen Rätseln zu bilden, versichert uns die Erzählstimme: Dieß hat sich nach allen Hauptumständen wirklich so begeben im September des Jahres 1788. – Die hebräische Schrift an dem Baume heißt: »Wenn du dich diesem Orte nahest, so wird es dir ergehen, wie du mir gethan hast.« (42, Hervorh. D. H.).

Mit dem Verb »heißt« kippt die Erzählung ins Präsens. Damit sprengt die im traumatischen Präsens eingeführte Inschrift den temporalen Rahmen der Novelle und ragt plötzlich in die Gegenwart hinein. Wie im Fall des Leichenfunds durch Aarons Frau betrifft der Tempuswechsel auch hier nicht die Wahrnehmung einer einzelnen Figur, sondern wird von der narrativen Instanz eingesetzt, um die Buche zu beschreiben. Allerdings hat das Beschreiben im traumatischen Präsens in Bezug auf die Inschrift noch einen tiefgreifenderen Effekt: Der Satz »Die hebräische Schrift an dem Baume heißt« punktiert nicht nur die Temporalität der Handlung, sondern besteht auf einer materiellen Existenz des Baumes.39 Ich lese dieses Insistieren, dass der Baum auch in der Welt jen39 | »Zwei Jahre nach seinem Tode ist jener Baum, worein die Juden ihre dunklen Zeichen geschnitten, umgehauen worden. Die Rinde aber hatte diese in den langen Jahren herausgewachsen, daß man ihre Form und Gestaltung nicht erkennen konnte.« Haxthausen, »Geschichte eines Algerier-Sklaven«, 223. So beschreibt Haxthausen in Geschichte eines Algerier-Sklaven das Schicksal des Baums. Sein Text endet mit dem Fall der Buche. Die darin eingeritzte Racheformel ist den Gesetzen der linearen Zeitlichkeit entsprechend herausgewachsen, damit unlesbar geworden und wirkt wie ein überholtes Prinzip. Haxthausens Text ist entlang juristischer Verfahren organisiert; hier werden Mörder überführt und bestraft. Die jüdische Gemeinschaft will dem Gutsherrn die Buche abkaufen, damit der Rabbiner ein hebräisches Zeichen in sie hineinschneiden kann, »daß der Mörder, den unser Gott finden werd, keines rechten Daudes sterben soll!« (217) Bei Haxthausen spricht die Inschrift ein deutliches Machtwort: Gott wird als ausführende Rechtsinstanz benannt, die, dem ius talionis folgend, den Mörder aufsuchen und bestrafen wird. Da der Rachefluch nur paraphrasiert im Text auftaucht, bleibt der genaue Inhalt der Inschrift allerdings verborgen. Richard Hauschild erklärt den Umstand, dass Haxthausens Erzählung die Inschrift nicht enthält, damit, dass

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seits des Texts existiert, als Ausdruck des »Abschiednehmen[s]«, das Christiane Arndt – wie in der Einleitung ausgeführt – als »übergeordnete[] Geste der Epoche« versteht.40 Abschiednehmen meint hier den Moment, in dem der Abschied noch nicht vollzogen, sondern noch aufgeschoben ist: »Dieser Abschiedsgestus markiert das ›Dazwischen‹ einer Epoche, die den Abschied von der unzweifelhaften Referenz und damit von der Wirklichkeit narrativ inszeniert.«41 Die Judenbuche inszeniert diese Unsicherheit anhand der suspekten Beweisführung, in der selbst Geister als Indiz gehandelt werden, und indem sie mit der Judenbuche ihre eigene (außer‑)textliche Referenz produziert. Zugleich steht die Schrift im Baum für den überlebten Glauben an übersinnliche Gerechtigkeit. Als grammatikalischer Effekt des traumatischen Präsens erscheint diese höhere Macht jedoch nicht mehr als unzweifelhafte, sondern lediglich als mögliche Realität. Die Materialität des Baumes verbindet darüber hinaus Fluch, Schrift und das Buch Die Judenbuche. Grimms Wörterbuch verweist auf die etymologische Verbindung von Buche, Buchstabe und Buch; im Eintrag »Buch« heißt es dort, dass unsere Vorfahren »zum gewöhnlichen gebrauch auf büchene breter ritzten«, und so ging »die vorstellung des eingeritzten über auf buche, den namen des baums«,42 aus dessen Holz sich am leichtesten Buchstaben schnitzen ließen. In diesem Sinne tragen Buch und Buchstabe ihren materiellen Ursprung im Buchenholz in sich. In Die Judenbuche verdichten sich diese etymologischen Schichten von Buche, Buchstabe, Buch zu einer Referenz auf einen materiellen Baum. In seiner Interpretation des Wortes stiften in Hölderlins Andenken verweist Anselm Haverkamps darauf, dass in ihm ein »›Versteifen‹ der Zeichen« mitschwingt, »das die Festigkeit des Bleibens in der Dauerhaftigkeit des festen zur Zeit ihrer Niederschrift die hebräische Inschrift bereits »gänzlich verwachsen und unleserlich geworden war« und daher »der genaue Wortlaut jener wirklichen Inschrift gar nicht im Aktenbericht wiedergegeben werden« konnte. Weiter verweist er, wenngleich in einem zweifelnden Tonfall, auf einen Bericht eines Joseph Redegeld. Demzufolge seien Schaulustige zur Buche gepilgert und viele hätten, »um ein Andenken zu besitzen, einen Buchstaben aus der Inschrift herausgeschnitten, so daß zuletzt nichts mehr von ihr vorhanden war«. Richard Hauschild, »Die Herkunft und Textgestaltung der hebräischen Inschrift in der Judenbuche der Annette von Droste-Hülshoff«, in: Euphorion 46 (1952), 85-99, hier: 90. Hier zeigt sich, wie Aberglaube und Legenden sich als Wirklichkeit in den Interpretationen der Erzählungen niederschlagen können. 40 | Arndt, Abschied von der Wirklichkeit, 16. 41 | Arndt, Abschied von der Wirklichkeit, 16. 42 | Siehe »Buch«, in: Deutsches Wörterbuch von Jacob Grimm und Wilhelm Grimm, Erstbearbeitung (1854-1960), digitalisierte Version: http://woerterbuchnetz.de/cgibin/WBNetz/wbgui_py?sigle=DWB&mode=Vernetzung&lemid=GB12398#XGB12398 (2.3.2018).

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Buchstabens, nicht der konstanten Bedeutung garantiert«.43 Demnach ist es keinesfalls die Bedeutung der Buchstaben, die von Dauer ist, sondern schlicht ihre Materialität. Das die Inschrift einführende »heißt« bekräftigt die Beständigkeit des festen Buchstabens, am Baum und im Buch Die Judenbuche. Für eine »konstant[e] Bedeutung« gibt es hingegen keine Garantie. Der Text weist also über sich hinaus und besteht darauf, dass die Inschrift heute lesbar ist, aller linearen Zeitlichkeit zum Trotz.

V on S chrei zu S chrif t Das Netz von Referenzen auf Übersinnliches, das Die Judenbuche durchzieht, höhlt nicht nur das juristische Verfahren aus, sondern etabliert auch die Möglichkeit, dass eine übersinnliche Ordnung (weiter) existieren könnte. So entsteht ein Raum, in dem überwunden geglaubte oder übersinnliche Mächte auftauchen könnten, was die Inschrift am Ende nicht als völlig unerwarteten Fremdkörper erscheinen lässt. Das Einstreuen von Szenen, in denen – zumindest für einzelne Charaktere – übersinnliche Kräfte als selbstverständlicher Bestandteil der Wirklichkeit wahrgenommen werden, etabliert das Übernatürliche zwar nicht als absolute Macht, aber doch als machtvolle Instanz, die in die Wirklichkeit eingreifen und sie steuern könnte. In Die Judenbuche sind viele Mächte am Werk und je nachdem, an welche die Lesenden glauben, kann Friedrichs Tod durch Erhängen wahlweise als Schuldeingeständnis, Selbstmord, Selbstjustiz oder als Rache einer übersinnlichen Macht gelesen werden. Dass am Ende allein die Möglichkeit besteht, Friedrichs Tod auf (die von der Inschrift angedrohte) Rache zurückzuführen, bildet den Höhepunkt hermeneutischer Offenheit. Die Buche steht in einem und für einen von Gewalt erfüllten Wald, in dem bereits Friedrichs Vater und der Förster Brandis zu Tode kamen. Die stürmische Nacht, in der Aaron gefunden wird, erinnert an die ebenfalls von Unwettern gebeutelte Todesnacht von Friedrichs Vater. Wie Friedrich damals glaubte, Schreie zu hören, so wollen wie schon erwähnt die zwei Knechte von »des alten Mergels Geist verfolgt« worden sein, in ihrem Bericht heißt es: »plötzlich ein gellender Schrei und ganz deutlich die Worte: ›O weh, meine arme Seele!‹« (30). Da in der Novelle weder der Schrei noch der darauf folgende Ausruf klar zugeordnet werden können, bestätigt er sowohl den abergläubischen Diskurs (der Knechte) als auch den juristischen (des Gutsherrn) und untergräbt gerade durch diese Unentschiedenheit die Souveränität beider.

43 | Anselm Haverkamp, Laub und Trauer. Hölderlins späte Allegorie, München: Fink 1991, 86.

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Nach Jean-Luc Nancy ist die Stimme (voice) »the irrefutable mark of the subject’s presence. […] each voice has its imprint or its indelible signature.« 44 Da die Schreie im Wald jedoch niemandem konkret zugeordnet werden können und von manchen sogar für Geisterstimmen gehalten werden, gerät ihr Status als »indelible signature« ins Wanken, zumindest können sie nicht entziffert werden. Das (erkennbar) Einzigartige der Stimme und damit auch die Einzigartigkeit des Opfers verlieren sich im Wald. Durch die Inschrift wird die Buche vom Tatort zum Ort eines Zeugnisses, an dem sich Schrei in Schreiben verwandelt. Nachdem Aarons Mörder nicht gefasst und das Verfahren eingestellt worden ist, steht die Inschrift der Judenbuche für die verstummten Schreie des Opfers ein: »Wenn du dich diesem Orte nahest, so wird es dir ergehen, wie du mir gethan hast.« (42)

Buche und Schrift erinnern an die Ermordung Aarons, das Scheitern der Justiz und das rächende Wirken einer übersinnlichen Macht. Diese bezeugende Funktion ist mit dem Rachefluch untrennbar verwoben. Doch wer spricht in der Inschrift? In der Inschrift fallen Aberglaube und Zeugenschaft zusammen. Eben dieses Verhältnis betrachtet Benveniste unter etymologischen Gesichtspunkten, wenn er zwischen superstes und testis unterscheidet. Während testis unserem Verständnis des Zeugen/der Zeugin als anwesender dritter Person entspricht, klingt in superstes, das so viel wie »überlebend« bedeutet, auch die Assoziation zu superstitio an: Superstitio ist Benveniste zufolge »›the gift of »presence»›, the faculty of giving testimony as if one had actually been there«. Aberglaube stellt dann eine Form des Hellsehens dar, das jemandem erlaubt, »to know the past as if he or she had been present, superstes«.45 Die Inschrift funktioniert quasi wie eine hellseherische Zeugin: Der Rachespruch ist von einer wissenden Instanz formuliert, die spricht, als ob sie (während des Mordes) anwesend gewesen wäre. An die Ermordung Aarons mahnend, markiert die Inschrift eine Schnittstelle zwischen Religion und Aberglaube sowie zwischen der religiösen Inschrift und dem Glauben an ihre Macht.

44 | Jean-Luc Nancy, »Vox Clamans in Deserto«, in: Notebooks in Cultural Analysis, Bd. 3, hg. von Norman F. Cantor und Nathalie King, Durham: Duke University Press 1986, 3-14, hier: 8. 45 | Émile Benveniste, Indo-European Language and Society, übers. von Elizabeth Palmer, Coral Gables/FL: University of Miami Press, 1973, 536.

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Da der Schrei im Wald46 verhallt und Aarons Zeugnis nicht mehr gehört werden kann, bezeugt der Schriftzug, den die Gemeinde in den Baum hackt,47 auch das Fehlen seines Schreis. Was vom Schrei in der Schrift erhalten bleibt, ist unter anderem, dass sie sich an jemanden richtet, an ein Du. Sind du und ich im Gespräch zumindest kurzfristig an die jeweils sprechende bzw. angesprochene Person gebunden, fehlt dem Du in der Inschrift ein konkreter Referent. Das Du kann als konkrete und als generelle Anrede gelesen werden. Es stellt sich also die Frage, wer sich mit dem Rachefluch an wen richtet.48 Mittels der Personalpronomen führt die Inschrift auf den ersten Blick wieder eine persönliche Dimension in den Ausgleichsgedanken ein: Es geht um die Vergeltung eines bestimmten Mordes an einem bestimmten Mörder. Und doch zerfällt in der Schrift die Intimität des Du, da hier – grammatikalisch gesprochen – die persönliche Ansprache nicht von einer allgemeinen unterschieden werden kann, ähnlich wie in jedem Schrei im Wald ein Echo vergangener Morde mitklingt. Das Du der Inschrift wendet sich an alle, die sich dem Baum nähern, bis hinein in die Gegenwart.

46 | Zu einer ausführlichen Diskussion der Judenbuche als Ort der Toten vor dem Hintergrund von Vergils Aeneis und Torquato Tassos Gerusalemme Liberata siehe Dania Hückmann, »The Dead Speak: On the Legibility of Trees in The Aeneid, Gerusalemme liberata, and Die Judenbuche«, in: The Germanic Review 90/3 (2015), Sonderheft »Containment in Realism«, hg. von Dania Hückmann, 171-186. 47 | Liebrand weist auf das motivische und lexikale Assoziationsnetz hin, das »Beil« und »schlagen« im Text verknüpft: »Die Bäume, die ›geschlagen‹ werden, verweisen auf die Menschen, die im Wald, dem Bereich der Gefahr, des Ungewissen ›erschlagen‹ werden […]. Mit einem Beil in einen Baum ›hineingeschlagen‹ wird auch die jüdische Schrift – jene Zeichen, die auch durch das Instrument ihrer Aufzeichnungen mit dem Tod verknüpft werden.« Liebrand, Kreative Refrakturen, 203. Doerr hebt hervor, dass Droste-Hülshoff von Haxthausens Version abweicht, wenn sie das Beil/die Axt als Instrument benennt, mit dem die Inschrift in den Baum geschlagen wird, wodurch Assoziationen mit der Kriminalität der Holzfrevler geweckt werden. Doerr, »The Specter of Anti-Semitism«, 456. 48 | Ähnlich wie Benveniste spricht auch Weinrich von der dritten Person als einer »Restkategorie«: »Die dritte Person schließlich, gleich ob Er, Sie oder Es, bezeichnet ausschließlich des Sprechers und Hörers die Welt, soweit sie Gegenstand der Rede ist.« Weinrich, Tempus, 42-43. Ich arbeite mit einem sehr weiten Verständnis der dritten Person. Im Kontext meiner Analyse verstehe ich die dritte Person schlicht als Position, die sich auf eine Referenz bezieht und sich gerade dadurch von den Pronomen ich und du (als Funktionen ohne festen Referenten) unterscheidet. Anhand dieses basalen Verständnisses der Pronomen lassen sich Assoziationen zu historischen Wechseln von Rechtsprinzipien entfalten.

I. Rache der Schrift

Die Entwürfe zur Judenbuche zeigen, dass Droste-Hülshoff die Inschrift gerade in Bezug auf ihre allgemeinen bzw. partikularen Implikationen wiederholt umschrieb und dabei erwog, in der Anrede statt »du« ganz konkret »der Mörder« zu schreiben.49 Indem die Endfassung »wenn du« mit einem Verb im Präsens kombiniert, aktualisiert sie nicht nur die Gegenwart von Buche und Rachefluch, sondern zieht auch deren physische Präsenz in die Gegenwart der Lesenden. Anhand der Inschrift zeichnet sich im Zusammenspiel von Pronomen und Zeitlichkeit, von ich und du im Präsens, eine Grammatik der Rache ab: Rache besteht in einem Konflikt zwischen zwei Parteien, der sich immer wieder aktualisiert. Gerade weil die Verschieber du und ich nicht konkret an eine Person bzw. Personen gebunden sind, geht der Bezug auf den singulären Verlust Aarons im grammatikalischen Gewebe des Textes verloren.50 Die Inschrift stellt zwar eine Reaktion auf den Mord an Aaron dar, aber in ihrer allgemeinen Formulierung verweist sie weder auf Aaron als Opfer noch spricht das Du explizit den Mörder Aarons an. Aaron taucht in der Inschrift nur noch als Dativobjekt auf, als »mir«, dem Gewalt »gethan« wurde. Die Übertragung des Schreis in Schrift enthält also selbst einen gewaltsamen Zug, wobei die Gewalt im singulären Verlust Aarons besteht.51 Es ist also paradoxerweise gerade die Perso49 | Vgl. »Entwürfe und Notizen, H8«, in: Annette von Droste-Hülshoff, Historischkritische Ausgabe, Bd. V, 2: Prosa. Dokumentation, hg. von Walter Woesler, Tübingen: Niemeyer 1984, 396-432, hier: 397. 50 | »[…] in its final form [im Unterschied zu den konkreten Vorstufen der Novelle, D. H.] the charm assumes a discursive generality that almost entirely defies specification: the precise nature of the retribution remains unnamed, and as a result the act for which retribution is sought cannot be identified«, so Gray. Er schlägt vor, die Inschrift »inclusively rather than exclusively« zu lesen, »subsuming all these possible references« – die Todesfälle wie auch die durch Holzfrevel geschundene Natur. In diesem Sinne steht die Buche für Gray »as a representative for all the victims in this text, human and vegetable«. Gray, »Red Herrings«, 534. In diesem kollektiven Opferverständnis droht die Singularität von Aarons Tod jedoch relativiert zu werden. Betrachtet man anstatt der referentiellen die pronominale Ebene, dann wird die Gewalt lesbar, die mit einer Verallgemeinerung des Urteilsspruchs einhergeht. 51 | Martin Heidegger thematisiert diese Frage, wenn er über Nietzsches Also sprach Zarathustra schreibt: »Denn es möchte nur bedacht sein im Denken, das eine Art des Rufens ist und deshalb bisweilen ein Schreien sein muß. Im Geschriebenen erstickt der Schrei leicht, vollends dann, wenn das Schreiben sich nur im Beschreiben ergeht und es darauf absieht, das Vorstellen zu beschäftigen«. Martin Heidegger: Was heißt Denken?, Gesamtausgabe, I/8: Veröffentlichte Schriften (1910-1976), hg. von Paola-Ludovika Coriando, Frankfurt a.M.: Vittorio Klostermann, 2002, 52-53. Als gesteigertes Rufen richtet sich der Schrei an jemanden und verlangt nach Gehör. Dass der Schrei, wenn er

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nalisierung des Rachefluchs, die diesen ins Allgemeine kippen lässt, denn in der Schrift spricht das Du nicht explizit Aarons Mörder an, sondern jede und jeden, die oder der sich der Schrift nähert. Der singuläre Verlust Aarons wird in der Schrift in eine Formel übersetzt. Da die Inschrift nicht klar identifiziert, wer hier wem mit Rache droht, fehlt die persönliche Dimension, die der Rache eigen ist. Diese Übertragung beeinflusst auch das der Rache eigene Wechselspiel, worin ein Vergeltungsschlag auf den nächsten folgt: Diese Kettenreaktion endet, wenn der (verallgemeinerte) Rachefluch als Schrift erscheint. Der Baum wird zum Boten der Racheformel und ersetzt den Gegenspieler/die Gegenspielerin. Mit anderen Worten, die Inschrift kappt den Exzess der Rache. Damit wird sie zur Metapher für das Verhältnis von Rache, Recht und Literatur. Obwohl die Novelle das Gerichtswesen durchweg negativ präsentiert, imitiert sie dennoch dessen Versuch, der Rache ein Ende zu setzten, indem sie diese in Schrift überträgt. Damit verfolgt in Die Judenbuche paradoxerweise die Inschrift das von Girard herausgestellte Ziel der Justiz: »die Rache […] im Zaum zu halten« und die von ihr ausgehende »Gefahr einer endlosen Eskalation« der Gewalt zu verhindern.52 In der Novelle existiert die Instanz des Richters, die das moderne Gerichtswesen charakterisiert, zwar theoretisch in der Person des Gutsherrn, aber dieser versagt in seiner Rolle als Vertreter des Rechts. Damit wird in Die Judenbuche der von Girard beschriebene grundsätzliche Wechsel von persönlicher zu öffentlicher Rache (als Strafe) nicht in die Praxis umgesetzt. Stattdessen springt an dieser Stelle die Inschrift ein: Mit ihr übernimmt das überlebte Rechtsprinzip der göttlichen Rache in Form des ius talionis die Aufgabe (des Gerichtswesens), den Exzess der Rache einzugrenzen. Wie das Wechselspiel zwischen erster und zweiter Person Singular im Text der Inschrift beweist, folgt diese noch dem binären Rechtsgedenken des ius talionis: »Wenn du dich diesem Orte nahest, so wird es dir ergehen, wie du mir gethan hast.« (42) Auf der Ebene der Pronomen würde das Einsetzen einer dritten, richtenden Instanz, an der Girard den Übergang zum modernen Rechtssystem festmacht, die Einführung der dritten Person bedeuten. Durch die dritte Person, diese »unpersönliche[] Invariante«, würde die intime »Beziehung der Persönlichkeit«, die ich und du verbindet, entpersonalisiert.53 Ihre grammatikalische Rolle korrespondiert also mit der objektivierenden Rolle, die Girard dem Gericht zuschreibt, das für Recht und damit die Rationalisierung der Rache einsteht, sowie mit Foucaults Gedanken in Die Wahrheit und die juristischen Formen, dem zufolge der Wechsel zum modernen Rechtswesen damit einhergeht, in Schrift übersetzt wird, »leicht erstickt«, impliziert, dass in dieser Übertragung etwas verwandelt werden oder gar verloren gehen kann. 52 | Girard, Das Heilige und die Gewalt, 30f. 53 | Benveniste, Probleme der allgemeinen Sprachwissenschaft, 259.

I. Rache der Schrift

dass mit dem Richter neben den zwei streitenden Parteien eine dritte, urteilende Instanz eingeführt wird. Vor einem Richter werden ich und du zu Ankläger/ Anklägerin und Angeklagtem/Angeklagter und damit zu dritten Personen. Anders gesagt, im Verhältnis zwischen ich, du und dritter Person drückt sich grammatikalisch der Wechsel zum modernen Rechtswesen aus, der zu Beginn des 19. Jahrhunderts seinen Anfang nimmt. Droste-Hülshoffs Novelle endet allerdings mit dem Versagen der dritten Instanz – angesichts dieses Scheiterns kehrt die Rache zurück. Während die Pronomen die Racheformel entschärfen, da sie im geschriebenen Text ihren konkreten Bezug zu bestimmten Personen verlieren, wird sie durch den Modus der Beschreibung und die Zeitlichkeit der Passage, das Präsens, bewahrt. Das die Inschrift einführende »heißt« zieht die Racheformel, wenngleich ohne spezifischen Adressaten/spezifische Adressatin, in die Gegenwart, so dass der Fluch bis heute weiterwirkt. Damit ist es das Racheprinzip selbst – »Wenn du dich diesem Orte nahest, so wird es dir ergehen, wie du mir gethan hast« –, das trotz allem in diesem Text aktualisiert bleibt. Die im traumatischen Präsens eingeleitete Inschrift in Droste-Hülshoffs Die Judenbuche zeigt, dass Rache keinem linearen Zeitverständnis folgt. Der Rachefluch wird vielmehr als Figur potentieller Wiederkehr bereits überwunden geglaubter Gerechtigkeitskonzeptionen lesbar. Selbst in die ent-individualisierende Formel der Inschrift gekleidet, steht Rache vor allem für ein subjektives Moment, das sich einer Eingliederung in allgemeine (juristische) Regelwerke entgegenstellt. In diesem Sinne widersetzt sich Rache in Die Judenbuche einer Verrechtlichung der Welt im Zuge der Modernisierung des Gerichtswesens und besteht auf dem eigenen Rechtsgefühl. Und doch begegnen wir in Die Judenbuche keinem Rachehelden à la Michael Kohlhaas, der explizit Gerechtigkeit für alle verlangt, und hören kein Zeugnis wie in Schillers Verbrechen aus verlorener Ehre, ja wir begegnen nicht einmal einer konkreten Rachedrohung oder einem eindeutig identifizierbaren Rächer bzw. einer Rächerin. In Droste-Hülshoffs Text wird die Rache in Form einer höheren Macht dadurch entschärft, dass sie uns durch die Erzählinstanz lediglich als eine mögliche Lesart des Schlusses präsentiert wird. Einer ähnlichen Einhegung der Rache begegnen wir im folgenden Kapitel zu Gotthelfs Die schwarze Spinne, allerdings in Form der für den Realismus charakteristischen Rahmenerzählung. Beide Texte zeugen von einer anhaltenden Auseinandersetzung mit vergangenen Gerechtigkeitsgedanken und Rechtsinstanzen im Angesicht der Entwicklung des modernen Gerichtswesens. In Die Judenbuche wird Rache als mögliche Reaktion auf das Verfehlen der Justiz präsentiert, deren tatsächliche Wirksamkeit am Ende offenbleibt.

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II. Rache und (falsche) Versprechen

Jeremias Gotthelfs Die schwarze Spinne (1842)

Jeremias Gotthelfs Die schwarze Spinne (1842) beginnt mit der Beschreibung einer fruchtbaren Landschaft, in der die ersten Sonnenstrahlen die Geschöpfe zu »fröhlichem Leben« erwecken und die »Amsel ihr Morgenlied« schmettert.1 Im Herzen dieser idyllischen Umgebung »stand stattlich und blank ein schönes Haus, eingefaßt von einem prächtigen Baumgarten, in welchem noch einige Hochäpfelbäume prangten in ihrem späten Blumenkleide« (27). Dort wird gerade eine Tauffeier vorbereitet und die Erzählstimme wird nicht müde, mit einer flaubertschen Liebe zum kulinarischen Detail die Reichhaltigkeit der Speisen zu preisen. Inmitten dieses harmonisch anmutenden Szenarios fällt der Blick eines Taufgasts auf einen architektonischen Schandfleck. Das Haus, so die Frau, gefalle ihr zwar »ganz ausnehmend wohl«, aber sie wundere sich, »warum da gleich neben dem ersten Fenster der wüste, schwarze Fensterpfosten (Bystel) ist, der steht dem ganzen Hause übel an« (44). Dieses Stück Holz sei nicht nur hässlich, sondern »ja noch dazu zu kurz, oben und unten ist es angesetzt« (44) und damit als Teil eines Fensterrahmens gänzlich ungeeignet. In dem Moment, in dem die Gäste ihre Aufmerksamkeit dem Balken zuwenden, wechselt auch die Erzählperspektive von der eines indirekten Erzählers zu der des Großvaters des zu taufenden Kindes. Dieser erzählt nach einigem Drängen der Gäste eher unwillig die sich um diesen Balken rankende Legende und damit öffnet sich die Rahmen- zur Binnenerzählung. Die Legende ist eine Rachegeschichte, die in einer längst vergangenen Zeit spielt, in der die Dorf bewohnerin Christine einen Pakt mit dem Teufel schließt, um die Gemeinschaft zu retten. Dieser Pakt verletzt den Bund der Gemeinschaft mit Gott, und als Christine ihr Versprechen an den Teufel nicht hält, befinden sich die Menschen mit beiden Seiten der göttlich-teuflischen Ordnung im 1 | Jeremias Gotthelf, »Die schwarze Spinne«, in: Jeremias Gotthelf, Gesammelte Werke in neun Bänden, Bd. 7, Zürich: Rentsch 1962, 27-113, hier: 27. Zitate werden im Folgenden unter Angabe der Seitenzahl direkt im Text nachgewiesen.

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Konflikt. Der Teufel rächt sich an Christine und der Gemeinde, indem er seine Vertragspartnerin in eine todbringende schwarze Spinne verwandelt. Um den Preis ihres eigenen Lebens sperrt eine märtyrerhafte alte Frau die Giftspinne schließlich in einen Holzbalken, aus dem diese Jahre später, als die Dorfgemeinschaft sich zunehmend vom Glauben abwendet, wieder befreit wird und in den sie, erst nachdem sie unzählige Tote gefordert hat, der zweite Märtyrer der Legende – Christen – erneut einsperrt. Der Balken, in dem die Spinne bis heute gefangen sein soll, entpuppt sich dann als ebenjenes unpassende Element im Fensterrahmen. So ragt er störend in die Idylle2 und bildet ein Scharnier zwischen Binnen- und Rahmenerzählung.3 Wie in Die Judenbuche rächt sich auch in Die schwarze Spinne eine höhere Macht, und so wird Rache auch hier als ein Phänomen aus lang vergangenen Zeiten präsentiert. Um die Rache einzugrenzen, wird sie in dieser Novelle der Welt der Legenden zugeordnet und die darin vorkommende Rachespinne wird zum einen materiell im Balken und zum anderen narrativ in der Binnenerzählung gefangen gehalten. Trotz dieser Sicherheitsvorkehrungen bleibt mit dem 2 | Nach Renate Böschenstein-Schäfer ist es gerade der immanente Tod, der die Idylle und das ihr eigene zyklische Verständnis von Zeit bedroht. Daher beinhalteten idyllische Darstellungen oftmals den »Versuch, die Zeit aus der menschlichen Existenz auszuschließen«. Renate Böschenstein-Schäfer, Idylle, Stuttgart: Metzler 1977, 9. In Gotthelfs Novelle verkörpert die Spinne ein Memento mori, das (qua Rahmenhandlung) in der Legende und damit in einer mythischen Vergangenheit gebannt werden soll. Zur Rahmenerzählung in Gotthelfs Novelle als Idylle vgl. etwa Hermann Pongs, »Jeremias Gotthelf, Die schwarze Spinne«, in: Studium Generale 20/5 (1967), 304-313 und Benno von Wiese, Die deutsche Novelle von Goethe bis Kafka. Interpretationen, Düsseldorf: Bagel 1956. 3 | Meine Interpretation konzentriert sich auf die Verbindung der beiden Erzählebenen. Demgegenüber heben andere Untersuchungen hervor, was beide Ebenen trennt, siehe etwa Benno von Wiese, der vom »schärfsten Kontrast« zwischen beiden Erzählebenen spricht. Von Wiese, Die deutsche Novelle, 177. Nach Richard Riegler werden die Grauen der Legende durch den »geschickt gewählten Rahmen erheblich abgeschwächt«. Richard Riegler, »Spinnenmythos und Spinnenaberglaube in der neueren Erzählungsliteratur«, in: Schweizer Archiv für Volkskunde 26 (1925), 55-69, hier: 62. Jamie Rankin zufolge verläuft dieser Kontrast zwischen Rahmen- und Binnenerzählung in die entgegengesetzte Richtung, »as the moral strength of the inner story’s heroes illuminates the moral laxity of the frame characters«. Jamie Rankin, »Spider in a Frame. Didactic Structures of ›Die schwarze Spinne‹«, in: The German Quarterly 61/3 (Sommer 1988), 403-418, hier: 414. Nicht die Novelle, sondern die Rahmung habe einen didaktischen Effekt. Es gehe darum, dass die Zuhörer und Zuhörerinnen in der Rahmenerzählung die Moral der Geschichte des Großvaters verstehen und damit zu »examples of morally sensitive listeners« werden. Rankin, »Spider in a Frame«, 415.

II. Rache und (falsche) Versprechen

Holzpfosten die Gefahr bestehen, dass die Rachespinne wieder in die Gegenwart der Rahmenerzählung einbrechen könnte, ebenso wie in Die Judenbuche die im traumatischen Präsens verfasste Inschrift in die Gegenwart hineinragt. Beide Novellen präsentieren Rache als ein Phänomen aus vergangenen Zeiten, das jedoch materiell – ob durch Baum oder Balken – bis heute weiterexistiert. Das unzulängliche Material des Balkens, das »zu kurz« und deshalb »oben und unten« angesetzt war, lässt bereits durchblicken, dass sich die unterschiedlichen Ebenen der Novelle nicht so klar trennen lassen, wie es laut Wolfgang Lukas für realistische Romane charakteristisch ist: »Die Situation, von der erzählt wird, und die Situation in der erzählt wird, bilden in der realistischen Rahmenerzählung in jedem Fall zwei autonome fiktionale ›Welten‹, die durch Zeit und meist auch durch den Raum fundamental voneinander getrennt sind.«4 Im Umkehrschluss heißt das, wir können daran, wie Texte Raum und Zeit darstellen, ablesen, wo(durch) die Trennung dieser beiden Erzählebenen instabil wird. In Die schwarze Spinne handelt es sich, mit Gérard Genette gesagt, »weniger um eine Schranke oder eine undurchlässige Grenze als um eine Schwelle«,5 welche die Ebenen trennt. Als eine solche »›unbestimmte Zone‹ zwischen innen und außen«6 bildet diese Schwelle – der störende Balken – das zentrale Merkmal der Rahmenstruktur in Gotthelfs Novelle. Der ästhetisch mangelhafte Fensterrahmen signalisiert bereits, dass die Rahmengeschichte (Taufe) und Binnengeschichte (die vom Großvater erzählte Legende) nicht verlässlich voneinander getrennt werden können.7 4 | Wolfgang Lukas, »›Fremde‹ vs. ›eigene‹ Geschichte. Anthropologie und Poetologie in der (Rahmen)Erzählung des späten Realismus«, in: Hans-Peter Ecker und Michael Titzmann (Hg.), Realismus-Studien, Würzburg: Ergon 2003, 251-293, hier: 254, Hervorh. i. O. Giovanni Boccaccios Dekameron dient realistischen Texten sowohl als Vorbild für deren novellistische Form (wie ich im folgenden Kapitel zu Heyses Andrea Delfin diskutieren werde) als auch für die Verwendung der Rahmenerzählung. Zur Funktion der Rahmenerzählung siehe etwa Gerrit Stratmann, Rahmenerzählungen in der Moderne. Situation und Gestaltung einer Erzählform zwischen 1883 und 1928, Marburg: Tectum 2000; zur Rahmenerzählung im Realismus siehe etwa Andreas Jäggi, Die Rahmenerzählung im 19. Jahrhundert. Untersuchungen zur Technik und Funktion einer Sonderform der fingierten Wirklichkeitsaussage, Bern: Lang 1994. 5 | Gérard Genette, Paratexte. Das Buch vom Beiwerk des Buches, übers. von Dieter Hornig, Frankfurt a.M.: Suhrkamp 2001, 10. 6 | Genette, Paratexte, 10. 7 | Lars Korten spricht von zwei Binnenerzählungen der Novelle, da der Großvater seine Geschichte an einer Stelle unterbricht. Ich werde im Folgenden weiterhin generell von einer Binnenerzählung sprechen, da für meine Interpretation diese Unterbrechung nicht relevant ist. Lars Korten, Poietischer Realismus. Zur Novelle der Jahre 1848-1888. Stifter, Keller, Meyer, Storm, Tübingen: Niemeyer 2009.

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Während in Die Judenbuche die Rache im Präsens spricht und als Inschrift im Baum bis heute lesbar bleibt, erhält sie in Die schwarze Spinne eine bestialische Körperlichkeit. Wie bei Droste-Hülshoff sind auch bei Gotthelf übersinnliche Mächte im Spiel. Ich verstehe Gott und Teufel in Gotthelfs Novelle als höhere Gewalten, die für eine metaphysische Weltordnung stehen, und konzentriere meine Analyse darauf, welchen Rechtsgedanken sie vertreten, anstatt sie im Kontext religiöser Diskurse zu betrachten.8 In Die schwarze Spinne geht es nicht wie in Die Judenbuche um ein Spannungsverhältnis zwischen göttlichen und weltlichen Rechtsprinzipien, aber auch hier folgt der Konflikt juristischen Mechanismen – es wird ein Versprechen gegeben, besiegelt und gebrochen und dieser Bruch wiederum wird bestraft. Wie führt ein Versprechen zur Rache, und das ausgerechnet in Form einer Giftspinne? Es ist, wie sich zeigen wird, ein Akt der Literalisierung.

D as V ersprechen Der Teufel nähert sich der Gemeinschaft zu einem Zeitpunkt, zu dem sich die Bauern in einer ausweglosen Situation befinden: Sie sollen für den Ritter Stoffel, ihren Lehnsherrn, bei dessen Schloss durch das Umpflanzen hundert 8 | Die schwarze Spinne ist zweifelsohne ein religiöser Text. Obwohl sich die Forschung einig ist, dass es sich um eine didaktische Novelle handelt, gibt es keinen Konsens darüber, worin die Moral der Geschichte genau besteht. Für einen Überblick über die unterschiedlichen Interpretationen siehe Rankin und Donahue, der auch eine bahnbrechende Analyse der genderpolitischen Machtverhältnisse sowie der Rezeption der Novelle nach 1945 liefert. Rankin, »Spider in a Frame«. William Donahue, »The Kiss of the Spider Woman: Gotthelfs ›Matricentric‹ Pedagogy and its (Post)war Reception«, in: The German Quarterly 67/3 (Sommer 1994), 304-324. Die Forschung beschäftigt sich weitgehend mit den religiösen bzw. mythischen Implikationen der Novelle (Muschg, von Wiese, Hughes, Pongs), ihren stilistischen Besonderheiten (Rankin, Schöne, Keller) sowie mit ihren historischen Bezügen (Hermand, Lindemann). Walter Muschg, »Jeremias Gotthelf, Die schwarze Spinne (1842)«, in: Peter André Bloch (Hg.), Pamphlet und Bekenntnis: Aufsätze und Reden, Freiburg: Walter 1968; von Wiese, Die deutsche Novelle; G.T. Hughes, »Die schwarze Spinne als Fiktion«, in: German Life and Letter 9/4 (1956), 250-260; Pongs, »Jeremias Gotthelf«; Albrecht Schöne, Säkularisation als sprachbildende Kraft. Studien zur Dichtung deutscher Pfarrersöhne, 2. Aufl., Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht 1968, 139-180; R. E. Keller, »Language and Style in Gotthelf’s Die schwarze Spinne«, in: German Life and Letters 10/1 (1956), 2-13; Jost Hermand, »Napoleon und die schwarze Spinne. Ein Hinweis«, in: Monatshefte 52/5 (Okt. 1962), 225-232; Klaus Lindemann, Jeremias Gotthelf, die schwarze Spinne: Zur biedermeierlichen Deutung von Geschichte und Gesellschaft zwischen den Revolutionen, Paderborn: Schöningh 1983.

II. Rache und (falsche) Versprechen

ausgewachsener Buchen einen Schattengang anlegen, wofür der Ritter ihnen noch dazu nur einen Monat Zeit gibt. Doch selbst wenn ihnen dies gelingen sollte, würden sie nicht dazu kommen, ihre Felder zu bepflanzen, und müssten im Winter verhungern. Sie reagieren mutlos, verzweifelt und passiv auf die vermessenen Anforderungen des Ritters, im Gegensatz zum als Jäger getarnten Teufel – der »vermaß sich zu schwerer Rache gegen solche Tyrannei« (51). Als der Teufel als Gegenleistung für seine Hilfe »nicht viel, nicht mehr als ein ungetauftes Kind« fordert, wird er umgehend von einer Retter- zu einer Schreckensfigur (51). Dadurch dass ausgerechnet der Teufel als Rebell auftritt, erhält Widerstand gegen Tyrannei eine negative Färbung, die anhand der Figur der Christine noch misogyn verschärft wird. Christine tritt als selbstbewusste Außenseiterin auf und ist die Einzige, die bei der Erzählung über den Grünen, wie der Teufel auch genannt wird, nicht von einer »namenlose[n] Angst« ergriffen wird: Ein einziges Weib schrie nicht den andern gleich. Das war ein grausam handlich Weib, eine Lindauerin soll es gewesen sein, und hier auf dem Hofe hat es gewohnt. Es hatte wilde, schwarze Augen und fürchtete sich nicht viel vor Gott und Menschen. Böse war es schon geworden, daß die Männer dem Ritter nicht rundweg das Begehren abgeschlagen; wenn es dabeigewesen, es hätte ihm es sagen wollen, sagte es. Als sie vom Grünen hörte und seinem Antrage, und wie die Männer davongestoben, da ward sie erst recht böse und schalt die Männer über ihre Feigheit […]. (52)

Indem er sie als »grausam« und »wild« beschreibt, stilisiert der Großvater Christine zur animalischen Figur, als wäre sie bereits lange vor ihrer gewaltsamen Transformation ein Spinnentier gewesen (52). Auf Christine als »Weib« verweisend, verbirgt die geradezu beschwörende Verwendung des neutralen Pronomens »es« ihre Weiblichkeit und etabliert (spätestens seit Freud) eine Verbindung mit einer animalischen, unbewussten und unkontrollierbaren Macht. Diesen misogynen Beschreibungen des Großvaters zum Trotz legt Christines Rebellion einen Machtkonflikt zwischen Mensch und übersinnlicher Ordnung offen. Christine fehlt es an Unterwürfigkeit gegenüber diesseitigen wie jenseitigen Mächten und das ist ihr peccatum originale. Diese ›ursprüngliche Sünde‹ führt zu einem Spiel mit Bedeutungen, das der Teufel mehr als ernst nimmt. Christines Entschlossenheit, mit Ritter wie Teufel zu verhandeln, steht im Kontrast zu den orientierungslosen Bauern, die »suchten Rat und fanden keinen« (52) und verfolgen damit eine Strategie der Verdrängung und des Verschweigens – »vom Grünen redete Niemand« (53). Legen wir – aus heutiger Sicht – den Fokus nicht auf die reichen religiösen Referenzen der Novelle, sondern auf Christines aktive und furchtlose Haltung, können wir sie in die Tradition von Rebellen und Rebellinnen einreihen, die bestehende Machtkonstel-

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lationen herausfordern.9 Sie avanciert allerdings nicht zu einer ambivalenten Kohlhaas-Figur, die von Kleists Erzähler als Rächer und Ehrenmann zugleich angelegt wird. Ihre aktive Haltung wird vom Großvater mit bedauerndem und abwertendem Tonfall kommentiert. Als normative Stimme einer patriarchalen Ordnung stellt er fest, dass sie keine der Frauen sei, »die froh sind, daheim zu sein, in der Stille ihre Geschäfte zu beschicken« (54). Ungeachtet dieser Bewertung bleibt Christine die einzige Figur, die zumindest versucht, einen Ausweg aus dem Dilemma der Gemeinschaft zu finden. Indem sich Christine dem Teufel jedoch mental wie physisch entgegenstellt, setzt sie sich verstärkt seiner Wirkung aus, so dass sie schließlich, von seiner Macht gebannt, nicht mehr mit den anderen Dorf bewohnern und ‑bewohnerinnen fliehen kann: Nur Christine, die Lindauerin, konnte nicht fliehen, sie erfuhr es, wie man den Teufel leibhaftig kriegt, wenn man ihn an die Wand male. Sie blieb stehen wie gebannt …. Gellend lachte der Grüne den Männern nach, aber gegen Christine machte er ein zärtlich Gesicht und faßte mit höflicher Gebärde ihre Hand. Christine wolle sie wegziehen, aber sie entrann dem Grünen nicht mehr, es war ihr, als zische Fleisch zwischen glühenden Zangen. Und schöne Worte begann er zu reden, und zu den Worten zwitzerte lüstern sein rot Bärtchen auf und ab. (55)

Gotthelfs Teufel ist ein geübter und sinnlicher Rhetoriker, der Christine mit »höflicher Gebärde«, »zärtlich« behandelt und ihr durch seine »schöne[n] Worte« immer »weniger schreckhaft« erscheint, bis sie auf den Gedanken kommt, dass – »wenn man recht mit ihm zu reden wüßte« – »man ihn übertölpeln« könne »wie die andern Männer auch« (55f.). Sie behandelt den Teufel wie einen Irdischen und »is indicted then, not only for dealing with the devil, but for treating him like a typical man«.10 Aber als sie versucht, über seine Forderung – ein ungetauftes Kind – zu verhandeln, winkt der Teufel ab: »Das ist mein Lohn, an den ich gewohnt bin« (56).11 9 | Christines aktive Reaktion auf die Unterdrückung durch den tyrannischen Ritter zeichnet sich erst vor der passiven Gemeinschaft – »the community as co-conspirators« – in all seiner Schärfe ab. Donahue, »The Kiss of the Spider Woman«, 312. Donahue assoziiert das passive Verhalten, das die Gemeinschaft an den Tag legt, überzeugend mit der Popularität von Die schwarze Spinne nach dem Zweiten Weltkrieg und liest sie als Zeichen der gesellschaftlichen Verdrängung und Entschuldigung der passiven Mitläufer und Mitläuferinnen. 10 | Donahue, »The Kiss of the Spider Woman«, 307. 11 | Der Rachediskurs in Die schwarze Spinne beinhaltet einen ökonomischen Subtext, der sich von der Verhandlung mit dem Teufel über den Austausch von Arbeit gegen Lohn (das Kind) und die Implikationen von Schuld als Schulden bis hin zu dem Versuch er-

II. Rache und (falsche) Versprechen

In ihren Verhandlungen mit dem Teufel ist nie von einem Vertrag oder Pakt die Rede: Sie geben sich gegenseitig ein Versprechen. Allerdings hat Christine dabei, wie gesagt, von Anfang an etwas anderes im Sinn als der Teufel: Und der Glaube verließ sie nicht, daß sie listiger als der Grüne sei und wohl ein Einfall kommen werde, ihn mit langer Nase abzuspeisen. Darum sagt Christine, sie für ihre Person wolle zugesagt haben; wenn aber dann später die Männer nicht wollten, so vermöchte sie sich dessen nicht, und er solle es sie nicht entgelten lassen. Mit dem Versprechen, zu tun, was sie könne, sei er hinlänglich zufrieden, sagte der Grüne. (57)

Historisch wurde das Versprechen lange mit dem Vertrag gleichgesetzt und bis zum Ausgang des 18. Jahrhunderts scheint »die Lehre vom Versprechen als Bestandteil der Vertragstheorie« noch »unproblematisch«.12 In diesem Sinne versteht der Teufel das Versprechen als bindenden Pakt. Er verspricht, den Bauern umgehend zu helfen, und betont, er »begehre das Kind ja nicht zum voraus«, es genüge ihm völlig, wenn man ihm »verspricht, das erste zu liefern ungetauft, welches geboren« (56f., Hervorh. D. H.). Christine nimmt die metaphysische Ordnung, die Teufel und Gott vertreten, nicht allzu ernst und sieht hier eine Möglichkeit, das Versprechen als einseitiges Abkommen zu behandeln. Man könne dem Teufel seinen Lohn ja später verweigern, nachdem er »sein Versprechen gehalten« (57); damit wäre die Gemeinschaft aus ihrem Dilemma gerettet, ohne dem Teufel dafür ein Kind zu opfern. Für sie bedeutet das (erst in der Zukunft zu erfüllende) Versprechen immer schon ein SichVersprechen, ein falsches Versprechen, mit dem sie den Teufel überlisten will. Kurz, für den Teufel ist das Versprechen ein Vertrag, für Christine kann es auch ein Versprecher sein. Sie scheint sich allerdings bewusst zu sein, dass es gefährlich ist, das Versprechen anders auszulegen als der Teufel, und will sich daher nicht als Stellvertreterin der Gemeinschaft verstanden wissen; sie wäre »sogar gerne zärtlich geworden, um Stündigung«, Aufschub, zu erhalten (57, Hervorh. D. H.). Letztlich versichert sie aber doch, zu tun, was in ihrer Macht steht; dem Teufel reicht diese Zusage vollkommen.

streckt, den Wert zweier Dinge (das Kind – das Wohl der Gemeinschaft) gegeneinander abzuwägen. Dieser Subtext kann in seiner Komplexität hier nur angerissen werden. 12 | Gerald Hartung, »Zur Genealogie des Versprechens. Ein Versuch über die begriffsgeschichtlichen und anthropologischen Voraussetzungen der modernen Vertragstheorie«, in: Manfred Schneider (Hg.), Die Ordnung des Versprechens, München Fink 2005, 277293, hier: 278. Hartung verweist in diesem Kontext auf die Definition des Vertrags des Allgemeinen Landrechts für die Preußischen Staaten, das festhält: »Versprechen und Annahme machen also das Wesen eines Vertrags aus.« Zit. n.: Hartung, »Zur Genealogie des Versprechens«, 279.

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In The Scandal of the Speaking Body führt Shoshana Felman den Umstand, dass manche ein Versprechen anders auslegen als andere, auf grundverschiedene Sprachverständnisse zurück.13 In diesem Sinne verfolgt der Teufel, als Vertreter der übersinnlichen Ordnung, ein konstatives Verständnis von Sprache und Sprechakten: »If it is not given to man to know truth in its totality, such absolute knowledge exists nonetheless in the word of God, in whose omnipotence, indeed, language originates. Thus incarnating the authority of truth, God […] underwrites the authority of language as a cognitive instrument.«14 Im Sprachverständnis der metaphysischen Ordnung gibt es eine gottgegebene, absolute Wahrheit und Sprechakte können daher nach dem Kriterium wahr/unwahr bewertet werden. Dieser kognitiven stellt der Sprachphilosoph J. L. Austin eine andere, performative Interpretation von Sprechakten entgegen: Er beurteilt sie danach, ob sie gelingen oder nicht, ob sie zu happy/unhappy Ergebnissen führen. Anders gesagt, Austin beurteilt Sprechakte nicht nach ihrem Wahrheitsgehalt, sondern nach ihren Resultaten – bei ihm können Sprechakte auch scheitern, wenn sie nicht realisiert werden. Eine derartige »theory of failures« lehnt der Linguist Emile Benveniste hingegen strikt ab.15 Die Möglichkeit, dass ein Sprechakt scheitert und damit eben keinen Akt bedeutet, ist für die Vertreter und Vertreterinnen eines kognitiven Sprachverständnisses wie Benveniste schlicht inakzeptabel.16 Auf Die schwarze Spinne bezogen heißt das: Während der Teufel nur eine Bedeutung des Versprechens (als Vertrag) zulässt, gibt es für Christine nicht die eine ›wahre‹ Bedeutung des Versprechens. Sie setzt auf das von Austin aufgezeigte Potential, dass ein Sprechakt scheitern kann, also auf die Möglichkeit, dass er nicht verwirklicht wird. Kurz, sie führt schlicht einen anderen Sprechakt als der Teufel aus – er vollzieht mit dem Versprechen einen Vertrag, sie

13 | Felman, Shoshana, The Scandal of the Speaking Body. Don Juan with J. L. Austin or Seduction of Two Languages, übers. von Catherine Porter, Stanford: Stanford UP 2003, 13. Felman argumentiert, dass der zentrale Konflikt in Don Juan einer zwischen dem performativen Sprachverständnis (Don Juans) und dem konstativen (seiner Geliebten und Antagonisten) ist. Diese Unterscheidung korrespondiert auf der sprachtheoretischen Ebene mit dem unterschiedlichen Verständnis von Sprechakten durch Benveniste und Austin: »As a promise of science, linguistics is a promise respected and kept. As a promise of consciousness, philosophy is a promise that cannot be kept«. Felman, The Scandal of the Speaking Body, 47. Damit erweise sich Austin gegenüber Benveniste als Don Juan, »not keeping his promise of a constative of the performative«. Felman, The Scandal of the Speaking Body, 46. 14 | Felman, The Scandal of the Speaking Body, 13f. 15 | Felman, The Scandal of the Speaking Body, 45. 16 | Siehe Felman, The Scandal of the Speaking Body, 43-47.

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hingegen einen Versprecher.17 Doch es ist eben dieses sprachliche »floundering«, dieses Taumeln, das für Christine gefährlich wird, denn »slipping away is exhilarating, but brings its revenges«.18

(S ich) V ersprechen Während in Die Judenbuche die Möglichkeit, dass das Übersinnliche Teil der Wirklichkeit ist, ambivalenten Beschreibungen der Ereignisse geschuldet ist, erhält das Übersinnliche in Die schwarze Spinne einen eigenen, in Zeit und Genre verschobenen Raum: die vom Großvater erzählte Binnengeschichte. Reagiert die Rache in Droste-Hülshoffs Text auf die Unfähigkeit des juristischen Apparats, wird sie bei Gotthelf zum Instrument, um die Macht der übersinnlichen Ordnung zu verteidigen (Teufel). Im Konflikt zwischen Christine und dem Teufel geht es im Grunde darum, wer die Macht hat, Bedeutungen zu fixieren. Die Autorität des Teufels hängt davon ab, dass seine Interpretation des Versprechens als Vertrag für alle gilt. Im philosophischen Diskurs taucht das dem Konflikt zwischen Christine und dem Teufel als übersinnlicher Macht zugrunde liegende Problem grob gesagt als Frage auf, ob sich das Einzelne generalisieren lässt. Wenn Nietzsche den Menschen als das Tier beschreibt, »das versprechen darf«, bezieht er sich auf unsere Fähigkeit, vorausdenken und ‑planen zu können bzw. etwas, das wir versprochen haben, auch zu erfüllen. Allerdings fragt Nietzsche sogleich, ob diese Fähigkeit »nicht das eigentliche Problem vom Menschen« sei,19 eben weil es voraussetzt, dass wir standhaft bleiben und unser Wort halten.20 Für Kant 17 | Wie oben diskutiert, hat der Teufel ein konstatives Sprachverständnis. Christines Verständnis korrespondiert allerdings nicht gänzlich mit dem Don Juans, das sich gerade durch die ständige Wiederholung des Versprechens auszeichnet, das nie erfüllt wird. Ihr geht es demgegenüber darum, die Möglichkeit der »infidelity« des Versprechens auszunutzen. Felman, The Scandal of the Speaking Body, 46. 18 | John L. Austin, How to Do Things with Words, Cambridge: Harvard UP 1962, 61. 19 | Friedrich Nietzsche, »Genealogie der Moral«, in: Friedrich Nietzsche, Sämtliche Werke. Kritische Studienausgabe in fünfzehn Bänden, Bd. 5, hg. von Giorgio Colli und Mazzino Montinari, Berlin: De Gruyter 1967, 245-412, hier: 291, Hervorh. i. O. 20 | Werner Hamacher zufolge hat das Versprechen sowohl tiefgreifende Implikationen für Kants kategorischen Imperativ als auch für Nietzsches Konzept des Willens. Das Versprechen diene Kant dabei nicht schlicht als Beispiel, sondern als »Paradigma für das Selbstverständnis des Willens«. Werner Hamacher, Entferntes Versprechen. Studien zur Philosophie und Literatur von Kant bis Celan, Frankfurt a.M.: Suhrkamp 1997, 65. In Bezug auf Die schwarze Spinne ist der Zusammenhang von Willen und Versprechen kaum relevant – allein die Präsenz des Teufels und sein Effekt auf Christine demontieren

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und Nietzsche sei, so Werner Hamacher, insbesondere das für das Versprechen charakteristische Moment des Aufschubs wichtig, das Christine sich zunutze machen will. Versprechen und kategorischer Imperativ seien »Sprachhandlungen […], die voraus- und vorsprechen, versprechen, was kommen soll«.21 Hamacher sieht in dem im Versprechen enthaltenen »Voraus der Sprache« eine generalisierende Geste, nämlich die »Möglichkeit einer gesetzeskonformen, universellen Sprache; da das absolute Voraus ihres Sprechens aber von keiner einzigen endlichen Sprache erreichbar ist, gibt es die Sprache selbst allein als Versprechen – und also als immer schon gebrochenes Versprechen.«22 Versprechen wie kategorischer Imperativ verweisen demnach auf eine denkbare Zukunft, in der das Partikulare (ob in Form von Sprache oder ethischer Maxime) zum Allgemeinen werden könnte. Diese generalisierende Bewegung existiert allerdings nur im Bereich der Vorstellung. In diesem Sinne ist die Idee einer universellen Sprache, in der alle idiosynkratischen Aspekte, welche die Sprache des oder der Einzelnen charakterisieren, zugunsten universeller, fixierter Bedeutungen getilgt würden, zwar denkbar, aber nicht realisierbar. Die Erhebung der eigenen Maxime zum generellen Gesetz, der Übergang von einem singulären zu einem absoluten Sprachverständnis bzw. von einer individuellen zu einer allgemeingültigen Interpretation verbleiben, wie Hamacher zeigt, im Imaginären – sie scheitern an der Empirie. Es sind insofern von jeher gebrochene Versprechen, die irgendwann in der Zukunft umgesetzt werden sollen, wozu es aber tatsächlich nie kommt. Der Bruch ist demnach strukturell im Versprechen angelegt und ereignet sich nicht als Sprechakt, den eine Person nicht einhält, sondern als Akt, der sich in der Sprache vollzieht. Mit Hamacher könnten wir Christines »gebrochenes Versprechen« damit entschuldigen, dass das Scheitern nicht ihrer Intention geschuldet ist, sondern die strukturelle Unmöglichkeit, alles Partikulare ins Allgemeine zu überführen, zum Ausdruck bringt. Die hier betrachtete Problematik in Die schwarze Spinne unterscheidet sich in einem nicht unerheblichen Aspekt von dieser philosophischen Diskussion: Das Erfüllen von Christines Versprechen ist nicht von vornherein strukturell unmöglich. Wenn die Gemeinschaft dem Teufel das Kind ungetauft übergeben hätte, wäre das Versprechen erfüllt worden und alle hätten sich an das Versprechen in seiner Bedeutung als Vertrag gehalten. Christine will aber von Anfang an nichts versprechen, sondern geht den Pakt mit dem Ziel ein, ihn zu brechen, indem sie die dem Versprechen eigene Temporalität des Aufschubs instrumentalisiert. Anders gesagt, Christine bedient sich des Voraus des Verein Verständnis von Christine als einer Art Repräsentantin des kantischen Willens nach dem Prinzip der Autonomie und Freiheit. 21 | Hamacher, Entferntes Versprechen, 68. 22 | Hamacher, Entferntes Versprechen, 69.

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sprechens als Taktik. Außerdem bedient sie sich der doppelten Semantik des (Sich‑)Versprechens (die Hamann nicht thematisiert). Diese Semantik stellt Jacques Derrida in den Vordergrund, wenn er herausstellt, wie Paul de Man Heideggers »›[d]ie Sprache spricht’« in »›[d]ie Sprache verspricht (sich)‹« verwandelt.23 Damit entlarve de Man eine fundamentale hermeneutische Unsicherheit: Sprechen sei demnach immer potentielles (Sich‑)Versprechen. De Man suggeriere demnach, »daß das Wesen des Sprechens das Versprechen ist, daß es kein Sprechen gibt, welches nicht verspricht«.24 Er verabschiedet damit das Denken eines (wie auch immer gearteten) Ursprungs der Sprache; ihr Wesen entspricht demnach vielmehr einer Bewegung der différance, das heißt einem unablässigen Changieren zwischen sprechen und (sich) versprechen. Christines Interpretation repräsentiert eben dieses hermeneutische Schlingern, das die Interpretationshoheit der übersinnlichen Ordnung, die der Teufel beansprucht, konterkariert. Während in Die Judenbuche die Geschehen im Wald unterschiedlich interpretiert werden, wird in Die schwarze Spinne der Pakt mit dem Teufel als das zentrale Ereignis nicht einfach unterschiedlich interpretiert, sondern es wird darüber hinaus deutlich, dass die unterschiedlichen Interpretationen auf unterschiedlichen Sprachverständnissen beruhen. Das Versprechen provoziert eine Sprachkrise, die darin besteht, dass das Verständnis davon, was Worte bedeuten, nicht mehr von allen geteilt bzw. von einer metaphysischen Macht determiniert wird. In der Möglichkeit, dass Wort und Welt unterschiedlich interpretiert werden können, liegt die ultimative Attacke Christines gegen die übersinnliche Gewalt. Christine behandelt den Teufel wie alle Männer, das heißt, für sie ist seine Interpretation nicht allgemeingültig, sondern lediglich eine Interpretation unter anderen. Der Teufel aber will nichts von einer solchen Gleichberechtigung wissen und straft ihre Rebellion mit aller Härte.

V erbrechen und der B eginn der G emeinschaf t Christine will mit ihrem Wortspiel verhindern, dass dem Teufel ein Kind übergeben wird. Ist ihre List dann nicht eigentlich eine Notlüge? Um die Frage, ob und, wenn ja, wie Lügen legitimiert werden können – bzw. wie im Gegenzug die Wahrheitspflicht begründet werden kann –, drehte sich im 17. und 18. Jahrhundert eine juristische wie philosophische Debatte.25 In den pragmatisch 23 | Jacques Derrida, Mémoires. Für Paul de Man, übers. von Hans-Dieter Godek, Wien: Passagen 1988, 131. 24 | Derrida, Mémoires, 130. 25 | Martin Annen, »Die Idee des ›stillschweigenden Vertrages‹«, in: Manfred Schneider (Hg.), Die Ordnung des Versprechens, München: Fink 2005, 103-126, hier: 115.

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ausgerichteten Überlegungen von Rechtsgelehrten wie Hugo Gropius und Samuel Pufendorf bestätigte die Ausnahme der Notlüge die Regel der Wahrheitspflicht. Lügen seien etwa dann als ›legitime‹ Falschaussagen zu betrachten, wenn durch sie das Leben Unschuldiger gerettet werden könnte. Was auf der juristischen Ebene gerechtfertigt erschien, warf philosophisch allerdings geradezu existenzielle Probleme auf. In diesem Kontext tauchte immer wieder der Begriff des »stillschweigenden Vertrags« auf, der »Vertrag des Versprechen[s]« bezeichnete, »Sprache so zu verwenden, daß Verlaß auf die Äußerungen anderer gegeben und somit Verständnis unter den Menschen möglich ist«.26 Philosophen wie Johann David Michaelis und später Immanuel Kant gingen gar so weit zu fordern, dass wir ausnahmslos, unter allen denkbaren Umständen, die Wahrheit sagen müssten: »Denn vorausgesetzt, es bestünde ein Recht, das dem Menschen bisweilen zu lügen gestatte, dann führe dies zum Zusammenbruch der gesellschaftlichen Ordnung.«27 Dann könnten Menschen sich nicht mehr auf die Worte der anderen verlassen, was nach Michaelis alle vertraglichen und zwischenmenschlichen Verbindungen zerrütten würde. Auch in dieser Debatte wird also der Gedanke verfolgt, dass, wenn Menschen Worte unterschiedlich meinen bzw. interpretieren (können), dies die gesellschaftliche Ordnung gefährde – und damit auch die herrschenden Machtverhältnisse. In Die schwarze Spinne gefährden Christines Sprachspiele nicht den Umgang miteinander, sondern die metaphysische Ordnung selbst. Die schwarze Spinne inszeniert diese Gefahr, wenn Christine die Worte des Teufels anders als er interpretiert und damit weder die Idee einer absoluten Wahrheit noch die einer metaphysischen Macht anerkennt. Mit der teuflischen Rache wehrt sich die von Christine hinterfragte und von daher geschwächte metaphysische Macht gegen eine säkulare Neuinterpretation der Weltordnung. Christines (Sich‑)Versprechen etabliert dabei eine neue Gemeinschaft, die durch eine gemeinsame Schuld verbunden ist. Für Nietzsche steht das Versprechen nicht nur für die Fähigkeit, Zukunft zu denken und das Handeln auf sie auszurichten, sondern in ihm drückt sich auch das fundamentale zwischenmenschliche Verhältnis aus: das zwischen Schuldner/Schuldnerin und Gläubiger/Gläubigerin,28 das bei Nietzsche sozusagen die Urform der Ge-

26 | Annen, »Die Idee des ›stillschweigenden Vertrages‹«, 104. 27 | Annen, »Die Idee des ›stillschweigenden Vertrages‹«, 115. 28 | Auf die religiösen Assoziationen mit Schuld, etwa in Bezug auf die Vertreibung von Adam und Eva aus dem Paradies und damit auf die Erbsünde sowie auf Jesus’ Tod am Kreuz als einer Schuld, die nie beglichen werden kann, kann hier nicht weiter eingegangen werden. Ich möchte lediglich anmerken, dass auch im religiösen Kontext der Zusammenhang von Schuld und Gemeinschaft wesentlich erscheint.

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meinschaft bildet.29 Mit dem Teufelspakt reiht sich Die schwarze Spinne in eine Tradition von Geschichten individuell oder kollektiv begangener und in jedem Fall grausamer Verbrechen ein, die Roberto Esposito als »founding crime« bezeichnet.30 In Communitas. The Origin and Destiny of Community wendet sich Esposito gegen ein Verständnis von Gemeinschaft als etwas, das von Subjekten besessen wird oder das Identität stiftet:31 Gemeinschaften werden ihm zufolge vielmehr durch Schuld zusammengehalten. Gründungsverbrechen – wie der gebrochene Teufelspakt – verwiesen auf »the breach, the trauma, the lacuna out of which we originate. Not the origin but its absence, its withdrawal.«32 Dies zeige sich bereits in den etymologischen Wurzeln von communitas: »[…] the ancient and presumably originary meaning of communis had to be ›he who shares an office [carica], a burden [carico], a task [incarico].‹ From here it emerges that communitas is the totality of persons united not by a ›property‹ but precisely by an obligation or a debt; not by an ›addition‹ [più] but by a ›subtraction‹ [meno]: by a lack«.33 In Die schwarze Spinne besteht die Lücke, der Mangel, der die Gemeinschaft als schuldige konstituiert, in dem versprochenen Kind, das sie dem Teufel verweigert. Wenn die Gemeinschaft den Pakt eingeht, wird dadurch auch sie in die Ordnung des Versprechens aufgenommen und trägt die Schuld des Vertragsbruchs mit, ob sie will oder nicht. Würde die Gemeinschaft jedoch die Schuld gegenüber dem Teufel begleichen, nähme sie im selben Moment eine andere Schuld auf sich, nämlich die, ein Kind geopfert zu haben. Ihre Schuld bestünde, wenngleich in anderer Form, als gemeinschaftsbindendes Element weiter. Was man auch über Christine sagen mag, sie erreicht am Ende ihr Ziel: Kein Kind wird dem Teufel übergeben. Sie zieht die Schuld, einen Pakt nicht

29 | Während Fausts Pakt mit dem Teufel allein ihm zugutekommt, geht Christine ihr Versprechen mit dem Teufel zum Wohl der Allgemeinheit ein. In Gotthelfs Text wird die Frage, ob sie dazu von der Gemeinschaft autorisiert wurde, weder explizit thematisiert noch problematisiert: Ihr Versprechen schließt die Gemeinschaft schlicht mit ein. 30 | Roberto Esposito, Communitas. The Origin and Destiny of Community, übers. von Timothy Campbell, Stanford: Stanford UP 2010, 8. 31 | Esposito folgt Jean-Luc Nancys Bestreben in The Inoperative Community, gängige Konzepte von Gemeinschaft neu zu denken, und zwar nicht als Zusammenschluss von Individuen bzw. als Kollektiv, das durch eine Form von geteilter Substanz verbunden ist, sondern als Singularitäten, die durch Kommunikation verbunden sind: »[…] there is no original or origin of identity. What holds the place of an ›origin‹ is the sharing of singularities.« Jean-Luc Nancy, The Inoperative Community, übers. von Peter Connor und Lisa Garbus, Minneapolis: University of Minnesota Press 1991, 33. 32 | Esposito, Communitas, 8. 33 | Esposito, Communitas, 6.

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eingehalten zu haben, der moralischen Schuld eines Kinderopfers vor.34 Dank ihrer gründet die Gemeinschaft nicht in einem Opfer – Christines Versprechen schafft vielmehr die Möglichkeit, dass das Opfer ausgesetzt werden kann. Steht das dem Teufel entzogene Kind also für die von Esposito beschriebene Lücke? So einfach verhält es sich nicht. Bei dem Vertragsbruch geht es dem Teufel nicht nur darum, dass ihm ein ungetauftes Kind verweigert wird. Der Bruch geht tiefer. Christine greift, wie gesagt, mit ihrer eigenen Interpretation die Grundfesten der metaphysischen Ordnung an, da sie mit deren bestehenden Deutungsmustern bricht. Indem sie durch ein sprachliches Manöver die absolute Definitionsmacht der übersinnlichen Instanz relativiert, stürzt sie in ihrem Unglauben diese Ordnung in eine Krise. Diese Autoritätskrise wird auf und mit Christines Körper ausgetragen, den der Teufel Stück für Stück in sein Racheinstrument verwandelt.35 Dieser Prozess beginnt in dem Moment, in dem der Teufel das Versprechen nicht mit einer Unterschrift, sondern mit einem Kuss besiegelt:36 Jetzt schauderte es Christine doch an Leib und Seele, jetzt, meinte sie, komme der schreckliche Augenblick, wo sie mit Blut von ihrem Blute dem Grünen den Akkord unterschreiben müsse. Aber der Grüne machte es viel leichtlicher und sagte, von hübschen 34 | In Das Heilige und die Gewalt spricht Girard dem Opfer hingegen eine versöhnende Funktion zu: »Das Opfer schützt die ganze Gemeinschaft vor ihrer eigenen Gewalt, es lenkt die ganze Gemeinschaft auf andere Opfer außerhalb ihrer selbst«. Girard, Das Heilige und die Gewalt, 18, Hervorh. i. O. Dadurch kommt dem Opfer auch eine wesentliche Rolle in der Entstehung von Gesellschaft und Religion zu. 35 | Christine geht das Versprechen mit dem Teufel ein, aber auch die Gemeinschaft denkt über den Pakt nach, allerdings in ausschließlich ökonomischen Kategorien: »Sie begannen zu rechnen, wie viel mehr wert sie alle seien als ein einzig ungetauft Kind, sie vergaßen immer mehr, daß die Schuld an einer Seele tausendmal schwerer wiege als die Rettung von tausend und abermal tausend Menschenleben« (59). Die Erzählstimme (des Großvaters) weist die Möglichkeit, die Bestimmungen des Pakts in ökonomische Begriffe zu übertragen, radikal zurück. Das Verrechnen einer Seele gegen den Tod vieler wird klar als Fehlkalkulation präsentiert, die nicht aufgehen kann. 36 | Von Wiese liest das Besiegeln des Paktes mit einem Kuss als »grauenvolle Hochzeit zwischen Christine und dem Teufel. Der Vorgang zeigt eine dreifache, untrennbar verschmolzene Dämonie: die des Elementaren, des Erotischen und des Bösen.« Von Wiese, Die deutsche Novelle, 180. Dabei ignoriert er zum einen die Gewalt, die der Teufel gegen Christine ausübt, und übersieht zum anderen die wesentliche rechtliche Dimension dieses Moments. Donahue verdeutlicht in seiner detaillierten Analyse, wie die Sekundärliteratur diese Gewalt gegen Christine nicht nur weitgehend ignoriert, sondern die misogyne Haltung des Großvaters gegenüber Christine vorbehaltslos wiederholt. Donahue, »The Kiss of the Spider Woman«, 307.

II. Rache und (falsche) Versprechen

Weibern begehre er nie eine Unterschrift, mit einem Kuß sei er zufrieden. … Christine konnte nicht fliehen, war wiederum wie gebannt, steif und starr. Da berührte der spitzige Mund Christines Gesicht, und ihr war, als ob von spitzigem Eisen aus Feuer durch Mark und Bein fahre, durch Leib und Seele; und ein gelber Blitz fuhr zwischen ihnen durch und zeigte Christine freudig verzerrt des Grünen teuflisch Gesicht, und ein Donner fuhr über sie, als ob der Himmel zersprungen wäre. (57f.)

Christine unterschreibt den Pakt also nicht, sondern sie selbst wird gezeichnet. Mit der ›Unterschrift‹ des Teufels verliert sie also bereits einen Teil ihrer agency; sie bleibt »wie gebannt, steif und starr« und erfährt, wie sie und die Welt wie von einem »Blitz« zerschlagen werden. Ihr Plan bleibt davon jedoch zunächst unberührt; die Gemeinschaft folgt ihrer Taktik, dem Teufel seinen »Lohn« auf unbestimmte Zeit vorzuenthalten, indem sie die Neugeborenen sofort taufen lassen. Mit jeder Taufe wächst jedoch die Bedrohung durch den Teufel, die auf Christines Wange lesbar ist: Sie verspürt »plötzlich ein feurig Eisen« an der Stelle, wo der Teufel sie geküsst hat; bald sieht man dort einen »fast unsichtbaren Fleck«, dann einen schwarzen Punkt, der »ward größer und schwärzer, einzelne dunkle Streifen liefen von ihm aus, und nach dem Munde hin schien sich auf dem runden Flecke ein Höcker zu pflanzen« (68f.). Die in ihrer Wange heranwachsende Spinne wird von einer Drohgebärde zur grausamen Realität, als ein weiteres Kind getauft wird: Da war es Christine, als ob plötzlich das Gesicht ihr platze, als ob glühende Kohlen geboren würden in demselben, lebendig würden, ihr gramselten über das Gesicht weg, über alle Glieder weg, als ob alles an ihm lebendig würde und glühend gramsle über den ganzen Leib weg. Da sah sie in des Blitzes fahlem Scheine langbeinig, giftig, unzählbar schwarze Spinnchen laufen über ihre Glieder, hinaus in die Nacht …. Endlich sah sie keine mehr den frühern folgen, der Brand im Gesichte legte sich, die Spinne ließ sich nieder, ward zum fast unsichtbaren Punkte wieder, schaute mit erlöschenden Augen ihrer Höllenbrut nach, die sie geboren hatte und ausgesandt zum Zeichen, wie der Grüne mit sich spaßen lasse. (71)

Christines Wahrnehmung der aus ihrer Wange platzenden Spinnenbrut ist im Modus des Als-ob und im Konjunktiv II beschrieben, als handle es sich um eine Fiktion, um einen Alptraum. Diese Distanzierung qua Konjunktiv markiert den Positionswechsel Christines von der Vertragspartnerin zum Inkubator der Rache.37 Die von Alliterationen durchsetzte Szene – in der Spinnen über »Gesicht« und »Glieder« »glühend« »gramselten« – ästhetisiert die grausame 37 | Donahue betont in diesem Zusammenhang die den Text durchziehende Dominanzgebärde, mittels derer der Teufel sich den Willen der Protagonistin über ihren Körper zu unterwerfen anstrebt, und liest die Spinne in ihr als Schwangerschaft, »which kicks in

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›Geburt‹, indem sie ihr einen mythisch verklärten Klang verleiht. Doch auch nach dem Schlüpfen der Spinnenplage, die genau das zerstört, was die Bauern durch den Pakt mit dem Teufel zu bewahren hofften – ihre Ernte –, gibt die Spinne nicht lange Ruhe. Sie wächst in Christines Wange heran und Christine erscheint zunehmend »verwildert, rachedurstig, aufs neue von der wachsenden Spinne gefoltert« (73). Von der Spinne gemartert, versucht sie die Gemeinschaft nun doch davon zu überzeugen, dem Teufel ein Kind zu überlassen, was sie selbst mit allen semantischen Tricks zu verhindern suchte. Bis dahin von der Gemeinschaft als »Fremde […] übel geplagert« (60) und vom Großvater als aufmüpfige Ehefrau verfemt, ergibt sich ihr Status als Außenseiterin jetzt aus ihrer kassandrahaften Position: Sie warnt die Gemeinschaft, denn nur sie ahnt, »wie grässlich die einbrechende Plage« sein wird (73).

D er versprochene K örper Die Gemeinschaft entscheidet sich schließlich doch – im stillen Einverständnis –, das nächste Kind zu opfern, womit Christines Schuld beglichen wäre. Die Bauern wollen den Priester daran hindern, pünktlich zur Taufe zu erscheinen. Doch der Priester interveniert im letzten Moment, rettet das Kind und löst, als er sie mit Weihwasser bespritzt, Christines grausame Verwandlung in eine Spinne aus: […] vom geweihten Wasser berührt, schrumpft mit entsetzlichem Zischen Christine zusammen wie Wolle im Feuer, wie Kalch im Wasser, schrumpft zischend, flammensprühend zusammen bis auf die schwarze, hochgeschwollene, grauenvolle Spinne in ihrem Gesicht, schrumpft mit dieser zusammen, zischt in diese hinein, und diese sitzt nun giftstrotzend trotzig auf dem Kinde, und sprüht aus ihren Augen zornige Blitze dem Priester entgegen. Dieser sprengt ihr Weihwasser entgegen, es zischt wie auf heißem Steine gewöhnliches Wasser; immer größer wird die Spinne […]. (82) 38

only if the woman fails to stay in line« und die nicht nur »punishment, but ultimately loss of subjectivity« bedeute. Donahue, »The Kiss of the Spider Woman«, 307f. 38 | Zu Parallelen zwischen Die schwarze Spinne und Ovids Metamorphose siehe David Gallagher, »The Transmission of Ovid’s Arachne Metamorphosis in Jeremias Gotthelf’s Die Schwarze Spinne«, in: Neophilologus 92 (2008), 699-711. Ein wesentlicher Unterschied zwischen Ovids und Gotthelfs Spinnengeschichten sei, dass in Ovids Arachne »the goddess Pallas punishes Arachna for her pride, which is her boast that she is a better weaver than the goddess, but in Die schwarze Spinne a moral flaw is not punished, rather an insistence on upholding a moral position«. Gallagher, »The Transmission of Ovid’s Arachne Metamorphosis, 703.

II. Rache und (falsche) Versprechen

Wie die Spinnenplage wird auch diese Verwandlung in poetischer Sprache beschrieben – durch die rhythmische Wiederholung des »schrumpft« im Zusammenspiel mit der Flammensymbolik ereignet sich eine Engführung von Klang und Ding, die im Zischen gipfelt. Sprache gewinnt eine Körperlichkeit und verleiht der Rache eine klangliche und visuelle Präsenz. Die poetische Rhythmik und der beschwörende Klang der Passage entsprechen Nancys Charakterisierung mythischer Sprache: »It is the speech and language of the very things that manifest themselves, […]: it does not speak of the appearance or the aspect of things; rather, in myth, their rhythm speaks and their music sounds.«39 Dabei sei es »precisely the incantation … that gives rise to a world in the advent of a language«.40 Die an einen Zauberspruch erinnernde Sprache evoziert eine mythische Welt, in der Christine, vom Weihwasser getroffen, auf grausame Weise in die Spinne »zischt«. Zugleich verschleiert der rhythmische Klang die Brutalität dieser Verwandlung, die ihre körperliche und damit auch ihre sexuelle Identität zerstört. Die poetische Sprache beschwört eine übersinnliche Welt herauf, die die realistische Novelle heimsucht – und zwar im Präsens. Wie in Die Judenbuche wechselt der Text ins traumatische Präsens, um den Gewaltexzess der Rache darzustellen, die Christines gebrochenes Versprechen mit ihrer Verwandlung bestraft. Anhand des Tempuswechsels zieht die vom Großvater erzählte Legende die mythische Welt in die Gegenwart. Auch in Gotthelfs Novelle spricht die Rache im Präsens.41 Christine verbleibt – wenn man überhaupt noch von der Existenz Christines ausgehen kann – im Spinnenkörper mit zornig blitzenden Augen. Sie verliert ihre Stimme sowie ihr – mit Levinas gesprochen – Antlitz 42 und damit die Fähigkeit, im Gegenüber Empathie und Verantwortungsgefühl zu erwecken. Der Großvater beschreibt die Spinne dementsprechend im Modus des Als-ob: »[…] erst wenn alle im Tode sich wanden, setzte sie sich auf die Schwelle und glotzte schadenfroh in die Vergiftung, als ob sie sagen wollte, sie sei es und sei

39 | Nancy, The Inoperative Community, 50. 40 | Nancy, The Inoperative Community, 50. 41 | Dass es hier allerdings der Großvater ist, der das traumatische Präsens verwendet, um Christines traumatische Verwandlung zu vergegenwärtigen, und nicht die Erzählinstanz, grenzt die vergegenwärtigende Wirkung des Präsens ein; der Großvater bricht die temporale Distanz zwischen Legende und Rahmenerzählung auf, aber nicht wie in Die Judenbuche die zwischen Novelle und Lesenden. Auf diesen Aspekt werde ich später in Bezug auf die Gegenwärtigkeit des Balkens noch genauer eingehen. 42 | Die Gewalt der Spinne richtet sich vor allem gegen die Gesichter der Gemeinschaft, die sie brutal entstellt, wenn sie todbringend über sie läuft, was die Spinne als Chiffre der Pest erscheinen lässt. Christines eigene physische Entstellung verbindet ihr Schicksal, also die Rache an ihr, mit der Rache, die durch sie an der Gemeinschaft vollzogen wird.

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doch wieder da« (104). Ohne Stimme und ohne Antlitz sind ihr die menschlichen Züge geraubt und der Konjunktiv versagt uns Einblick in ihr Inneres. Die Rache des Teufels bedeutet für Christine, aus der Gemeinschaft verbannt und im Spinnenkörper gefangen zu sein. Von der Gemeinschaft verstoßen, spiegelt sich in der Gewalt an ihr die ursprüngliche Bedeutung von Rache wider: Im germanischen Recht bedeutete sie, dass ein Mitglied der Gesellschaft außerhalb der Landesgrenzen verwiesen wurde.43 In Christines Fall ist diese Verbannung zutiefst körperlich; sie wird aus ihrem eigenen Körper und damit aus der menschlichen Gemeinschaft verwiesen, deren Schutz doch gerade ihr Ziel war.44 Ihr ewiges Gefängnis entsteht dadurch, dass der Teufel buchstäblich ihr Rückgrat invertiert: Im Gegensatz zu Menschen haben Spinnen ein Außenskelett. Um ihre autarke Stimme zum Schweigen zu bringen, sperrt die übersinnliche Ordnung sie in einen stummen Spinnenkörper. Als (Wirtin der) Spinne verliert sie ihren Subjektstatus und wird zum Objekt, an dem sich die Interpretationsmacht der übersinnlichen Ordnung in ihrem ganzen rachedurstigen Exzess entlädt. Während Christines Versprechen durch die Zeitlichkeit des Voraus einen Raum der Möglichkeiten eröffnet, ist ihre körperliche Verwandlung endgültig. Das Weihwasser verwandelt sie von einer Anwältin der Kinder zur Exekutive des Teufels. Ihr Körper schrumpft mit der Spinne »zusammen« und »zischt in diese hinein« (82), so dass der Spinnenkörper zu einem Gefängnis, einem lebendigen Sarg ihres einstigen Selbst wird. In der Novelle verwandelt sich nicht nur die Frau in eine Spinne, sondern auch die Zeitlichkeit des Versprechens: Die von Nietzsche betonte zukunftsorientierte Zeitlichkeit ändert sich zu einer 43 | Siehe »Rache«, in: Deutsches Wörterbuch von Jacob Grimm und Wilhelm Grimm, Erstbearbeitung (1854-1960), digitalisierte Version: http://woerterbuchnetz.de/cgibin/WBNetz/wbgui_py?sigle=DWB&mode=Vernetzung&lemid=GR00095#XGR00095 (21.03.2018). 44 | Die Verhandlungen mit dem Teufel begannen schließlich als Reaktion auf den vermessenen Auftrag des Ritters Stoffel, doch letztlich ersetzt die Forderung des Teufels schlicht die des Ritters. Wenn der Teufel später selbst als »Ritter« bezeichnet wird, erweist sich sein Anspruch als Teil einer Genealogie unzumutbarer Forderungen von weltlichen wie metaphysischen Autoritäten, zu denen auch die Adam und Eva sowie Abraham von Gott auferlegten Prüfungen gehören. Christine bricht aus dieser Reihe von Prüfungen aus, indem sie die Regeln des Versprechens neu interpretiert. Darin dass sich die Menschen nicht gegen den sie unterdrückenden Ritter wehren, sondern in einer passiv erduldenden Haltung verharren, offenbart sich die antirevolutionäre Haltung des Textes. Dadurch, dass die Geschichte den Sündenfall der Gemeinschaft, aber vor allem auch »(female) disobedience to divine command« in den Vordergrund stellt, werden wir von den durch die weltlichen Autoritäten oktroyierten Qualen abgelenkt. Donahue, »The Kiss of the Spider Woman«, 306.

II. Rache und (falsche) Versprechen

zyklisch permanenten. Sobald Christine zur Spinne wird, bleibt sie für immer an den Vertrag gebunden, da sie als dessen Strafinstanz existiert; zugleich wird sie für alle Ewigkeit von der Gemeinschaft getrennt, da jede ihrer Berührungen für ihre Mitmenschen tödlich ist. Die Rache des Teufels spiegelt also den Vertragsbruch: Wie Christine das Versprechen, das sie dem Teufel gegeben hat, als ein Sich-Versprechen behandelt, betrachtet der Teufel ihr Sich-Versprechen nun als ein Sich-(ihm-)versprochen-Haben. Damit verwandelt sich Christines semantische Verschiebung zur hermeneutischen Gewalt: als habe Christine als Vertragspartnerin (Subjekt einer Handlung) dem Teufel sich, mit Geist und Körper, überschrieben (Objekt des Teufels). Er behandelt das Versprechen nun wie ein Eheversprechen: »If every marriage is, of course, a promise, every promise is to a certain extent a promise of marriage – to the extent that every promise promises constancy above all, that is, promises consistency, continuity in time between the act of commitment and the future action.«45 Damit sie die Rolle mit Beständigkeit erfüllt, die der Teufel ihr zugedacht hat, muss sie jedoch erst in ein Spinnentier verwandelt werden.46 Während Christine spielerisch mit den Bedeutungsnuancen des Versprechens umgeht, nutzt die übersinnliche Gewalt diesen Sprechakt als Basis ihrer Rache, indem sie es als Eheversprechen in Form einer körperlichen Inbesitznahme vollzieht. Anders gesagt, ihre Rache ist ein Akt exzessiver Literalisierung. Die Rache des Teufels bedeutet ein Explizit-Machen des (Ehe‑)Versprechens, wie es Rüdiger Campe an anderer Stelle ausführt. Campe begreift versprechen als explizit machen und überlegt, inwiefern ein Versprechen denn eigentlich seine Umsetzung mitspricht. Als »Grammatik des Aktes« gedacht, werde mit einem Versprechen zugleich ein »institutionelle[r] Rahmen« mitentworfen, in dem der Akt umgesetzt werden soll bzw. »in dem etwas-Sagen etwas-Tun sein

45 | Felman, The Scandal of the Speaking Body, 20, Hervorh. i. O. 46 | Christines Verwandlung erscheint als unheimliche Umsetzung von Avital Ronells an Nietzsche anschließendem Gedanken zur Zeitspanne, die zwischen dem verbalen Versprechen und dem Moment seiner Umsetzung liegt: Man sei möglicherweise nicht mehr dieselbe Person, die das Versprechen gab. Im Moment des Versprechens wirkt der Teufel wie eine Narkotikum auf Christine und damit stellt sich die Frage: »Will you be bound evermore by a contract on whose line you can’t walk, much less sign?« Avital Ronell, The Test Drive, Champaign: University of Illinois Press 2007, 312. Christine ist bereits in dem Moment, in dem sie nicht unterzeichnet, sondern gezeichnet wird, eine andere. Sie muss, um ihr Versprechen zu halten, erst von der pragmatischen AntiMetaphysikerin in ein sprach- und gesichtsloses Spinnentier, von der Aktivistin gegen dies- und jenseitige Mächte in deren Exekutive verwandelt werden.

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kann«.47 In diesem Sinne betrachtet der Teufel das Versprechen innerhalb des institutionellen Rahmens der übersinnlichen Ordnung. Doch wie bei Austin das Versprechen versagen kann, steht es nach Campes Theorie jedem und jeder frei, der »Grammatik des Aktes« – und in Die schwarze Spinne ist letztlich alles eine Frage der Grammatik – »entweder zu gehorchen oder mit ihr ein rhetorisches Spiel zu treiben«.48 Indem Christine sich nicht der von der göttlich-teuflischen Ordnung beanspruchten Deutungshoheit unterwirft, entwirft sie einen neuen Interpretationsrahmen, der auf einer semantischen Ordnung beruht, in der die Menschen Welt und Wort eigenständig interpretieren. In Die schwarze Spinne begründet das Explizit-Machen des Versprechens am Ende keine neue Institution: Es soll vielmehr die bereits bestehenden Machtstrukturen absichern. Entgegen dem philosophischen Diskurs, der das Versprechen allein als sprachliches und zeitliches Phänomen denkt, exponiert Die schwarze Spinne die Körperlichkeit des (Sich‑)Versprechens. Dabei entlarvt der Text (vermutlich gegen die Intention des Autors) die dunkle genderspezifische Färbung des Versprechens, die in der abschätzigen Art, mit welcher der Großvater Christine beschreibt, bereits angelegt ist. Am Ende demonstriert die übersinnliche Ordnung ihre Macht, Wort in Welt zu verwandeln. Damit wird Sprache selbst zur Rache. Der Teufel instrumentalisiert Christines Körper, um die Autorität der übersinnlichen Ordnung über Bedeutung, Gesellschaft und Einzelne zu beweisen. Denn in der Welt der Legenden herrschen weiter übersinnliche Mächte, die Worte verwirklichen können. Die Spinne existiert darin jenseits weltlicher Beschränkungen; sie war »bald hier, bald dort« und »die Menschen konnten sie nicht meiden, sie war nirgends und allenthalben« (85f.). Niemand ist gegen ihr Gift immun und die fromme Greisin, welche letztlich die Spinne in jenen Balken sperrt, muss dafür ihr Leben lassen. Doch wie die Taufe die Erbsünde nicht aufheben kann, so kann auch ein sich aufopfernder Akt wie dieser die Rache nicht beenden, 47 | Rüdiger Campe, »Making it Explicit. Don Giovannis Versprechen oder eine Vorgeschichte des Sprechakts bei Austin«, in: Manfred Schneider (Hg.), Die Ordnung des Versprechens, München: Fink 2005, 17-40, hier: 21, Hervorh. D. H. 48 | Campe, »Making it Explicit«, 21. Campe diskutiert diesen Aspekt des Spiels zum einen im Kontext von Austins Theorie als Spiel einer Abgrenzung performativer von konstativen Aussagen und zum andern im Zusammenhang mit Mozarts Don Giovanni im Kontext des Heiratsversprechens als Spiel »zwischen instituiertem Akt und rhetorischen Manövern«. Campe, »Making it Explicit«, 26. Er geht dabei nicht explizit auf die Ambivalenz ein, die sich aus der Dynamik des (Sich‑)Versprechens ergibt. An dieser Stelle wäre es spannend, Campes Verständnis der Verbindung von Äußerungen und sozialen Verhaltensweisen in Die schwarze Spinne anhand der Machtverhältnisse zwischen Christine und dem Teufel näher zu betrachten.

II. Rache und (falsche) Versprechen

sondern lediglich aufschieben. Ihr Umgang mit der Rachespinne entspricht paradoxerweise Christines Interpretation des Versprechens als Aufschub.

D ie O rdnung der R ache (spinne) Wie in Die Judenbuche hat das Vergehen der Zeit auch in Die schwarze Spinne keine Auswirkungen auf die Rache – sie ragt, als im Balken versteckte Spinne, in die Gegenwart hinein. Ihr Wirken zeichnet sich in der grammatikalischen Struktur des Textes ab, wenn der Großvater seine Erzählung vom Einsperren der Spinne mit folgendem Satz beschließt: »Die schwarze Spinne ward nicht mehr gesehen zur selben Zeit, denn sie saß in jenem Loche gefangen, wo sie jetzt noch sitzt.« »Was, dort im schwarzen Holz?« schrie die Gotte und fuhr eines Satzes vom Boden auf (91f., Hervorh. D. H.).

Der kurze Wechsel ins Präsens bricht punktuell den temporalen Rahmen, also die Trennung zwischen Vergangenheit und Gegenwart auf. Das traumatische Präsens nivelliert damit die zeitliche Distanz, die Binnen- und Rahmenerzählung eigentlich trennt.49 Zugleich tilgt der Aufschrei der Gotte (schweizerisch für Patin): »dort im Holz?«, auch noch die räumliche Distanz zwischen damals und heute. Die Aussagen von Gotte und Großvater negieren jede zeitliche und räumliche Distanz zwischen Legende und Jetzt. Auch hier generiert der Text also eine materielle Referenz. Allerdings hat diese eine andere Qualität als die Inschrift im Baum in Die Judenbuche, was mit der Art und Weise zu tun hat, wie das traumatische Präsens in Gotthelfs Novelle zum Einsatz kommt. Während die Übersetzung der drohenden Inschrift am Ende von Droste-Hülshoffs Novelle steht und bis in die Gegenwart der Lesenden hineinragt, hat Gotthelf mit der Rahmenerzählung einen Damm um die Drohung der Rachespinne konstruiert. Außerdem ist es in Die schwarze Spinne mit dem Großvater, wie bereits erwähnt, ein Charakter, der von der Existenz der Spinne im Fensterrahmen erzählt, und nicht wie in Die Judenbuche die Erzählinstanz. In Die schwarze Spinne dient die Erzählinstanz der Rahmenerzählung dazu, den Riss in der temporalen Struktur der Erzählung, den das traumatische Präsens verursacht hat, sogleich wieder einzugrenzen – sie beschreibt den Schrei der Gotte im Präteritum. Nichtsdestotrotz bleibt der Wirklichkeitseffekt der erzählten Legende innerhalb der Novelle bestehen.

49 | Siehe hierzu Lukas, »›Fremde‹ vs. ›eigene‹ Geschichte«.

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Die Gotte dient als »pedagogical target of the interior stories«:50 Sie schreit und springt auf »und jetzt brannte sie ihr Rücken, sie drehte sich, sie schaute hinter sich […] und kam nicht von der Angst, die schwarze Spinne sitze ihr im Nacken«. Und als die Hebamme mit hochrotem Kopf kommt, um die Runde, die sich um den Großvater geschart hat, zum Essen zu rufen, war es, »als ob die Spinne auf demselben herumgekrochen wäre« (92). Die Spinne wird für die Zuhörenden physisch erfahrbar, wobei das Als-ob die Kreatur an dieser Stelle nicht als Fiktion kennzeichnet, sondern, im Gegenteil, ihr Potential hervorhebt, jederzeit gegenwärtig werden zu können. Die (vermeintliche) Wirklichkeit der Spinne außerhalb der Legende bildet eine traumatische Zäsur, durch die Rahmen- und Binnenerzählung temporal und örtlich in eins fallen. Die Präsenz der Spinne in der Gegenwart der Rahmenerzählung untergräbt die Ordnung des Textes, welche die Legende bis dahin innerhalb einer realistischen Novelle eingebettet hatte. Die im Rahmen gefangene Spinne bewirkt diese Nivellierung der Erzählebenen in einer Novelle, die um die Erosion einstiger Ordnungen, Autoritäten und Interpretationen organisiert ist. Die Rachespinne bildet den Knotenpunkt, an dem diese Prozesse zusammenlaufen, und verkörpert das Nachwirken der alten metaphysischen Ordnung, die in der realistischen Novelle eine Spinne braucht, um real zu wirken. Indem die Spinne im Rahmen gegenwärtig bleibt, garantiert sie auch, dass das Versprechen der Rache – sich in der Zukunft zu bewahrheiten – weiter besteht.51

50 | Donahue, »The Kiss of the Spider Woman«, 305. 51 | Dass das Versprechen in dem Moment, in dem es gegeben wird, nicht als erfüllt oder gebrochen betrachtet werden kann, hängt mit seiner Zeitlichkeit zusammen. Wie der Vertrag, so Jacques Lezra, folgt es dem future contingent, das eine in die Zukunft hin offene Struktur darstellt: »future contingent propositions are not determinately true or false, or not necessarily true or false, or not yet (for us) true or false«. Jacques Lezra, Wild Materialism, New York: Fordham UP 2010, 98. Die Zusage, dass die Gemeinschaft dem Teufel das erstgeborene Kind überlassen wird, kann in dem Moment, in dem sie gegeben wird, noch nicht als richtig oder falsch, als wahr oder unwahr betrachtet werden. Der Teufel – und letztlich auch Christine – weiß anfangs nicht, ob das Versprechen gehalten oder gebrochen wird. Erst der Moment, in dem das Kind dem Teufel (nicht) übergeben wird, entscheidet über die Bedeutung des Versprechens. Lezra nennt das Versprechen einen dieser ›Fälle‹ (»cases«) von »prospective acts«: »All entail a disposition toward futurity or a threat that is necessarily future oriented«. Lezra, Wild Materialism, 99, Hervorh. D. H. In Die schwarze Spinne besteht die Zukunftsorientiertheit des Versprechens einerseits im Aufschub des Datums – Christine behandelt das Versprechen, als ob es nie einzulösen wäre –; andererseits bleibt die andere Seite der Zukunftsorientiertheit des Versprechens – der »threat« und damit eine zukünftige Bedrohung – weiter bestehen, nämlich als schwarze Spinne.

II. Rache und (falsche) Versprechen

Doch zunächst bringt die eingesperrte Spinne eine Idylle hervor, die an die Beschreibung am Anfang der Novelle denken lässt: Als die Leute die Spinne eingesperrt wußten, sie ihres Lebens wieder sicher, da soll es ihnen gewesen sein, als seien sie im Himmel und der liebe Gott mit seiner Seligkeit mitten unter ihnen, und lange ging es gut. Sie hielten sich zu Gott und flohen den Teufel …. Dieses Haus aber betrachteten alle mit Ehrfurcht, fast wie eine Kirche. … Sie [die Großmutter] lehrte ihre Enkel, hier sei die Spinne gebannt durch Gott Vater, Sohn und Heiligen Geist; solange diese drei heiligen Namen gelten in diesem Hause, … so lange seien sie vor der Spinne sicher und diese fest im Loche …. Hier an diesem Tische, hinter ihnen die Spinne, werden sie nie vergessen, wie nötig ihnen Gott und wie mächtig er sei; so mahne sie die Spinne an Gott und müsse dem Teufel zum Trotz ihnen zum Heil werden. (95f.)

Rache stellt am Ende den Glauben an Gott wieder her. Diese Passage verzahnt Legende und Rahmengeschichte nicht nur motivisch durch die Taufe, sondern auch materiell durch den Balken und räumlich durch das Haus. Damit wird Rache zum Element des zyklischen Kreislaufs, der für die Idylle charakteristisch ist und in dem die Grenzen zwischen Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft aufgehoben sind.52 Der Großvater präsentiert die Idylle als Ausdruck dessen, »wie nötig ihnen Gott und wie mächtig er sei«; die Spinne »mahne« die Taufgäste an seine Macht. Dabei deutet er – »dem Teufel zum Trotz« – die Spinne von einer Rachefigur in eine Art Heilsfigur um. Die Gefahr, dass die Spinne aus dem Balken befreit werden könnte, werde schließlich nur dann akut, wenn die Gemeinschaft aufhöre, an die Existenz der Spinne und an die übersinnliche Ordnung zu glauben. Anders gesagt, Rache wird reaktiviert, wenn Christines Ursünde – ihr fehlender Glaube an die göttlich-teuflische Ordnung – von der Gemeinschaft wiederholt wird. Genau eine solche Wiederholungstat führt der Text den Lesenden vor. Nachdem die Spinne zum ersten Mal eingesperrt wurde, hält die Idylle 200 Jahre, bevor sie brüchig wird. Bei Gotthelf ist die Rache geduldig. Der Großvater bekräftigt das zyklische Wechselspiel von Idylle und Rache, indem er dieselben misogynen Schuldvorwürfe wiederholt, die er schon gegen Christine vorbrachte; wie einst »war ein schlau und kräftig Weib hier Meister, sie war keine Lindauerin, aber doch glich sie Christine in vielen Stücken. Sie war auch aus der Fremde, der Hoffart, dem Hochmute ergeben« (98). Dieser dominanten Frau steht ihr frommer Sohn gegenüber – Christen ist das märtyrerhafte Gegenbild zu seiner Mutter und Christine. Als neue Gutsbesitzerin hat die Mutter das alte Bauernhaus dem »Gesinde« überlassen, dessen Haltung gegenüber Autoritäten mit exakt denselben Worten beschrieben wird wie zu52 | Siehe hierzu Böschenstein-Schäfer, Idylle.

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vor die von Christine: »[…] sie hatten keine Furcht mehr vor Gott und Menschen« (100, Hervorh. D. H.). Sie begehen damit wie gesagt die Ursünde, derer sich schon Christine schuldig gemacht hatte: Sie wenden sich von Gott ab. Das »Gesinde« nimmt weder die Autorität von Gott und Teufel noch die Drohung der Giftspinne ernst. Ein Knecht benutzt den Holzbalken, um »die Mägde zu schrecken oder zahm zu machen«, und droht ihnen, die Spinne frei zu lassen. Als die Mägde ihn ignorieren, greift der Knecht »in halber Raserei nach einem Bohrer« und dreht den Zapfen aus dem Holz: Da bebte von ungeheurem Donnerschlag das ganze Haus, der Missetäter stürzte rücklings nieder, ein roter Glutstrom brach aus dem Loche hervor, und mittendrin saß groß und schwarz, aufgeschwollen im Gifte von Jahrhunderten, die Spinne und glotzte in giftiger Lust über die Frevler hin, die versteinert in tödlicher Angst kein Glied bewegen konnten, dem schrecklichen Untiere zu entrinnen, das langsam und schadenfroh ihnen über die Gesichter kroch, ihnen einimpfte den feurigen Tod. (103)

Das Vergehen der Zeit hat die Rachelust der Spinne nur verstärkt und daher ist ihr Körper »aufgeschwollen im Gifte von Jahrhunderten«. Auch dieses Mal opfert sich ein Gläubiger, Christen, um die Spinne wieder in den Balken zu sperren. Das erneute Auftauchen der Spinne untermauert die Drohung, dass Rache die Gemeinde jederzeit wieder heimsuchen kann. Die Familie des Großvaters zieht die Lehre, dass jedes neue Haus zwei Dinge bewahren müsse, »das alte Holz, worin die Spinne sei«, und den »alten Sinn, der ins alte Holz die Spinne geschlossen« (111). Sowohl die heutige wie auch die einstige Idylle beruht auf dem gefolterten und zur ewigen Strafe verurteilten Körper Christines. Ihr Spinnenkörper erhält dabei eine doppelte Funktion als Garant und Bedrohung der übersinnlichen Ordnung: Haus und Gemeinschaft sind um den Balken und damit um die gefangene Spinne konstruiert. Als verborgenes Memento mori generiert die Spinne die Idylle und droht sie zugleich zu vernichten, sollte nicht an sie geglaubt werden.

D er S pinneneffek t Die Bedrohung durch die Spinne zwingt der Gemeinschaft einen Verhaltenskodex auf, eine Art Gesellschaftsvertrag, der sie vor der Rückkehr der Rache bewahren soll. Die Spinne verkörpert also einen Imperativ mit klarer Handlungsmaxime: Handle so, als ob die Spinne real wäre. Sie verkörpert sozusagen einen kategorischen Imperativ inklusive hobbesianischer Strafandrohung.53 53 | In Jenseits des Unbehagens zeigt Eckart Goebel, dass »Freuds hydraulisches Triebmodell eine verblüffende Nähe zum mechanistischen Weltbild Thomas Hobbes’

II. Rache und (falsche) Versprechen

Der Handlungsimperativ gründet allerdings nicht wie bei Kant in der Vernunft und ist somit auch nicht Ausdruck des Willens des Einzelnen. Die Drohung, die das Befolgen des Imperativs – moralisch zu handeln – garantieren soll, beruht auf der Gefahr, dass die Spinne real sein könnte.54 Letztlich kommt es nicht darauf an, ob die Geschichte der Spinne real oder erfunden ist, es zählt nur, dass sie uns so vorkommt, als ob sie real sei. Damit die Gemeinschaft den Handlungsimperativ befolgt, muss die Erinnerung an das Versprechen und die Spinne als drohende Exekutive intakt unterhält«, die sich in überraschend genauen sprachlichen Entsprechungen abzeichnet. Eckart Goebel, Jenseits des Unbehagens. »Sublimierung« von Goethe bis Lacan, Bielefeld: transcript 2009, 163. Esposito analysiert das Verhältnis von Opfer und Angst bei beiden Denkern und schließt: »It is the commonality first of expulsion and then of the conspiracy, of the common oath cum-iuratio, that makes possible and motivates the pact that fear imposes: the ›common fear‹ that in both Hobbes and Freud follows from the ›reciprocal fear‹ of the natural state; with the difference that in Freud reciprocal fear is itself preceded by a movement backward, without end, away from ›paternal fear‹«. Esposito, Communitas, 37. Während bei Freud und Hobbes diese Angst zu einem Gesellschaftsvertrag führt, der durch eine Exekutive gewahrt werden soll, resultiert sie in Die schwarze Spinne zwar auch in der Gründung einer Gemeinschaft, aber das Einhalten des Vertrages hängt vom Glauben der Gemeinschaft an die vom Großvater erzählte Geschichte ab. 54 | Diese Schwierigkeit, zwischen realen und sagenhaften Ereignissen zu unterscheiden, findet sich nach Jacques Derrida auch schon in Freuds Darstellung der Entstehung des Gesetzes in Der Mann Moses und die monotheistische Religion. Freud beschreibt die ›Urszene‹ des Gesetzes dort folgendermaßen: Die Söhne ermorden ihren Vater, weil sie seinen Gesetzen nicht folgen wollen. Von tiefer Schuld ergriffen, vertuschen sie dann den Mord und behalten die bestehenden Rituale bei, als ob der Vater noch am Leben wäre, und machen ihn dadurch umso mächtiger. In Freuds Text sei es alles andere als klar, ob es sich bei dieser Urszene tatsächlich um eine wahre oder eine erfundene Geschichte handelt. Bei Freud wie bei Gotthelf präsentiert das Erzählen selbst das, was Nancy als »the thought of a founding fiction, or a foundation by fiction« bezeichnet. Nancy, The Inoperative Community, 53, Hervorh. i. O. Derrida zufolge »erfand« Freud »den Begriff, wenn nicht das Wort ›Verdrängung‹ als Antwort auf die Frage nach dem Ursprung des moralischen Gesetzes.« Jacques Derrida, Préjuges: Vor dem Gesetz, übers. von Hans-Dieter Gondek, Wien: Passagen 2010, 46. In Die schwarze Spinne wird eine Verdrängung der Rache von Gott und Teufel als Abfall vom Glauben präsentiert. Bei Freud wie auch bei Gotthelf ist es die Schuld – und damit der Verweis auf ein founding crime im Sinne Espositos –, die verdrängt wird. Esposito liest den Vatermord bei Freud als Moment, in dem die Söhne ihre eigene Identität aufgeben »in favor of an identification with someone who is no longer but who is still able to pull them down into the void. Making themselves brothers in guilt«. Esposito, Communitas, 39.

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bleiben. Da dies vom Glauben an die Spinne abhängt, braucht es einen überzeugenden, das heißt hier einen Realitätseffekte schaffenden Erzähler. Der Großvater verbindet die Geschichte der Spinne mit der der Gemeinschaft, damit die Zuhörer und Zuhörerinnen »understand themselves and the world, and they understand why it was necessary for them to come together, and why it was necessary that this be recounted to them«.55 Die Aufgabe des Großvaters ist es demnach, durch sein Erzählen einen mythischen, die Gemeinschaft einenden Effekt zu erzielen. Er muss die Geschichte also so erzählen, dass sie real genug wirkt, um die Zuhörenden – wie die Gotte – so zu ängstigen, dass sie das Gesetz der Rache, das die Spinne verkörpert, gar nicht erst herausfordern und den Zapfen im Balken stecken lassen. Anders gesagt, Erzählen soll Realität generieren. Dieser angestrebte Wirklichkeitseffekt gründet nicht, wie bei Barthes, im zwecklosen Detail, sondern darin, wie Grammatik (Präsens) und Referenz (Balken) zusammenwirken. Es ist der Rahmen, der für die Wirklichkeit der Spinne bürgt, denn, wie einer der Taufgäste anmerkt: »Alles kann man kaum glauben, und etwas muß an der Sache sein, sonst wäre das alte Holz nicht da.« (120) Der Balken dient also dazu, die Legende und damit die Existenz der Spinne bzw. der göttlich-teuflischen Ordnung zu belegen. Er bildet eine materielle Referenz zur Legende, die sie in der Gegenwart verankert. Allein dass es jedoch notwendig ist, einen Beleg für die übersinnliche Autorität zu liefern, untergräbt deren Allmacht und zeigt, wie schwach der Glaube an sie mittlerweile ist. Der realistische Text kippt allerdings nicht vollends in die Welt der Legenden zurück. Mit der Erzählung des Großvaters ragt die mythische Welt in die Gegenwart hinein, in der seine Spinnengeschichte bereits als Aberglaube gilt. Der Großvater ist sich durchaus bewusst, dass die Wirklichkeit der Spinne mittlerweile keine anerkannte Tatsache, sondern eine Glaubensfrage ist. Über die Jahrhunderte ist die Geschichte der schwarzen Spinne vom Allgemeinwissen zu einem geheimen Wissen der Familie geworden. Der Großvater geht nicht mehr davon aus, dass alle Dorf bewohner und ‑bewohnerinnen seinen Glauben (an die Realität der Spinne) teilen: Daher »erbte« sich das Wissen um die Spinne »bei uns vom Vater auf den Sohn, und als das Andenken davon bei den anderen Leuten im Tale sich verlor, hielt man es in der Familie sehr heimlich« (110). Dass der Glaube des Großvaters an Spinne/Gott nicht von allen geteilt wird, spiegelt den Kernkonflikt zwischen Christine und dem Teufel wieder: Wort und Wirklichkeit können unterschiedlich interpretiert werden. Dass es in Gotthelfs Novelle nun dem Erzähler zukommt, die übersinnliche Autorität zu bestätigen, untergräbt diese mit derselben Geste. Christines freie Interpretation des Versprechens hat die Grundfesten der metaphysischen Welt an55 | Nancy, The Inoperative Community, 44.

II. Rache und (falsche) Versprechen

gegriffen. Während uns Die Judenbuche ein Nebeneinander unterschiedlicher Perspektiven auf die Wirklichkeit präsentiert, stellt Die schwarze Spinne anhand unterschiedlicher Interpretationen von Worten den Zerfall einer metaphysischen Deutungsmacht dar. Rache wird hier nicht von einem Begehren nach Gerechtigkeit ausgelöst, sondern stellt einen Versuch dar, die Macht der metaphysischen Ordnung zu erhalten. Die in der Gegenwart verankerte Legende stellt einen für die Epoche des Realismus charakteristischen Versuch dar, »Möglichkeiten der Repräsentation zu finden, die es erlauben, den unausweichlichen Verlust aufzuschieben oder gar ganz zu umgehen.«56 In diesem Sinne ist auch die Geschichte des Großvaters letztlich eine des Abschiednehmens, und zwar von einer nach metaphysischen Prinzipien geordneten Welt.57 Die Geschichte der schwarzen Spinne hält an dieser Welt fest und sucht sie zu verteidigen. Sie endet mit dem vermeintlichen Sieg der übersinnlichen Ordnung und einer daraus resultierenden Idylle. Doch gerade als im Balken gebannte Spinne erinnert Christine immer auch an den Autoritätsverlust der himmlischen Ordnung, die es offensichtlich nötig hat, eine aufsässige Frau in eine stumme Spinne zu verwandeln und diese dann wiederum als Drohgestalt aufzubieten, um die eigene Macht zu verteidigen und die Gemeinschaft unterwürfig zu halten. Das Versprechen wird zum Nexus, in dem sich juristische, religiöse und linguistische Konflikte überschneiden, die dann in einer Machtdemonstration münden, die Christine zwar verstummen lässt, aber das von ihr ausgelöste sprachliche Schlingern nicht revidieren kann. Der Teufel rächt sich zwar für ihre alternative Interpretation des Pakts, aber ungeschehen machen kann er das damit vollzogene In-Frage-Stellen seiner Autorität nicht mehr. Der Exzess der Rache verweist auf einen Verlust, der nicht rückgängig gemacht werden kann. Hinter dem Sprachspiel steht der Verlust einer ganzen Weltordnung, so dass Literatur zu einem Medium wird, in dem diese Ordnung weiter real wirken kann – wenn auch nur gegenüber den Lesenden. Christine kommt so letztlich auch zu ihrer Rache, denn gerade insofern sie als verborgene Spinne die Jahrhunderte überdauert, bestehen auch Zweifel an ihrer eigenen Existenz weiter und damit an der übersinnlichen Ordnung. Auch in Die schwarze Spinne bricht die Rache mittels des traumatischen Präsens die Trennung zwischen Gegenwart und mythischer Vergangenheit auf. Doch die im zeitlichen Scharnier sitzende Spinne verleibt sich auch die Zukunft ein, indem sie als Drohung im Balken existiert. In beiden Novellen taucht Rache als übersinnliche Vergeltung auf, wobei ihre Macht dabei vor allem eine Macht 56 | Arndt, Abschied von der Wirklichkeit, 15. 57 | Zu Arndts Konzept des Abschiednehmens siehe den Abschnitt »Rache im Realismus« in der Einleitung.

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über die Zeit ist. Gotthelf und Droste-Hülshoff setzen das Übersinnliche ein, um die Zeit und Ort transzendierende Gewalt der Rache auszustellen. Rache zieht nicht nur das Vergangene in die Gegenwart, sondern verstellt auch den Raum in die Zukunft, so dass die Gegenwart unter dem Vorzeichen der drohenden Rache steht. Das Vergehen der Zeit hat keine Auswirkung auf die Rache, die als Spinne im Balken oder als Inschrift im Baum weiterbesteht. Rache symbolisiert zudem die Rückkehr vergangen geglaubter Rechtsinstanzen im Realismus. Als von höheren Mächten eingesetztes überlebtes Rechtsprinzip dargestellt und dabei ins Legendenhafte verkehrt, soll Rache in Rahmenerzählungen gebannt und als Aberglaube abgetan werden. Beide betrachteten Texte entwerfen entsprechende Strategien, um die exzessive Gewalt der Rache als in der Vergangenheit liegend zu entkräften. Die Zeitlichkeit der Rache bleibt jedoch das Präsens – durch diese Zeitform nistet sie sich in das grammatikalische Gewebe der Texte ein und dauert fort. Die folgenden Kapitel beschäftigen sich mit dem Exzess der Rache und der Frage, welche Art von Verlust ihn auslöst. Auch hier spielt die Zeit wieder eine wesentliche Rolle, allerdings nicht in Bezug auf die Zukunft, sondern auf die Vergangenheit: »Diess, ja diess allein ist Rache selbst: des Willens Widerwille gegen die Zeit und ihr ›Es war‹.«58

58 | Nietzsche, Also sprach Zarathustra, 180.

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III. Mimetische Effekte: Rache, Recht und Theater

Theodor Fontanes Grete Minde (1880)

Theodor Fontanes Novelle Grete Minde (1880) beruht auf zwei historischen Ereignissen: einem Gerichtsprozess und einer Theateraufführung, die beide in fatalen Bränden endeten. Am 13. September 1617 brannte die Stadt Tangermünde fast vollständig ab. Im Rahmen der Ermittlungen beschuldigte einer der Verdächtigen unter Folter sich selbst sowie seine Frau Margarete Minde der Brandstiftung. Als Motiv für die Tat machten die Ratsherren Margaretes Wunsch nach Rache infolge eines Erbstreits mit ihrem Onkel Heinrich aus, der bezweifelte, dass sie tatsächlich die Tochter seines Bruders war.1 Nach einem fadenscheinigen Prozess wurde Margarete Minde zum Tode verurteilt und am 23. März 1619 auf dem Scheiterhaufen hingerichtet. – Der zweite Brand, auf den sich die Novelle bezieht, ereignete sich knapp 40 Jahre später im Rathaus der Stadt, wo ein Puppentheater gerade Das Jüngste Gericht aufführte. Bei einem pyrotechnischen Bühneneffekt sprangen Funken auf ein Pulverfass über, das explodierte, woraufhin das ganze Rathaus in Brand geriet.

1 | Der tatsächliche Sachverhalt wurde erst zweieinhalb Jahrhunderte später durch den Stadtgerichtsrat Ludolf Parisius aufgeklärt, der die Aktenlage erneut sichtete und zu dem Schluss kam, dass Margaretes Verurteilung auf widersprüchlichen Aussagen und dem Meineid eines Bürgermeisters beruhte. Ihre Hinrichtung war demnach also ein Justizmord. Fontane konnte dies allerdings nicht wissen, als er Grete Minde schrieb. Siehe Birgit A. Jensen, »Die Entfachung der kindlichen Vitalität in Theodor Fontanes Grete Minde«, in: German Life and Letters 50/3 (Juni 1997), 139-353, hier: 342. Für eine detaillierte Darstellung des Erbstreits siehe ebenfalls Jensen, »Die Entfachung der kindlichen Vitalität« und Claudia Schmitz, »Stoff. Ein heilloses Weib«, in: Theodor Fontane, Das erzählerische Werk. Große Brandenburger Ausgabe, Bd. 3: Grete Minde, Berlin: Aufbau 1997, 121-124.

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In Grete Minde greift Fontane zwar auf diese historischen Ereignisse – Erbstreit, Prozess und beide Brände2 – zurück, stellt dabei aber die persönliche Geschichte der Titelfigur in den Vordergrund.3 Gretes Leben wird nach dem Tod der Eltern von dem ihr feindselig gegenüberstehenden Bruder Gerdt und dessen Frau Trud bestimmt. Um ihrem Alltag zu entkommen, flüchtet sich Grete in die Welt von Literatur, Märchen und Theater. Dabei fällt es ihr nicht immer leicht, zwischen realer und fiktiver Welt zu unterscheiden, so dass sie etwa beim Besuch des von einem Puppentheater aufgeführten Stücks Das Jüngste Gericht glaubt, selbst vor Gottes Gericht zu stehen. Von literarischen 2 | In der Forschungsliteratur wird das Verhältnis von Recht und Literatur in Grete Minde als Vergleich zwischen historischer Realität und literarischem Text diskutiert (Pniower) oder Gretes Verhalten (oftmals im Vergleich zu Kleists Michael Kohlhaas) im Kontext des Widerstandsrechts betrachtet (Losch). Otto Pniower, Dichtungen und Dichter. Essays und Studien, Berlin: Fischer 1912. Zu Parallelen und Unterschieden zwischen Kleists Michael Kohlhaas und Grete Minde in Bezug auf das Widerstandsrecht siehe Bernhard Losch, »Widerstandsrecht bei Fontane. Grete Minde gegen Unterdrückung und Rechtsverweigerung«, in: Fontane Blätter 67 (1999), 59-74; zum Verhältnis von Grete Minde und Kohlhaas zu Recht und Gesellschaft und ihre diesbezüglichen Konflikte siehe Gunter H. Hertling, »Kleists Michael Kohlhaas und Fontanes Grete Minde: Freiheit und Fügung«, in: The German Quarterly 40/1 (Jan. 1967), 24-40 sowie Humbert Settler, Fontanes Hintergründigkeiten, Flensburg: Baltica Verlag 2006. 3 | Psychologische Interpretationen knüpfen oft an Fontanes eigene Beschreibung der Novelle als Projekt an, in dem er »eine ›psychologische Aufgabe‹ lösen und ohne Retardierung erzählen kann«, so Fontane in einem Brief an seine Frau Emilie Fontane vom 11. August 1878, zit.n. Schmitz, »Stoff«, 123. Siehe dazu auch die Diskussion zwischen Volker Giel und Klaus Globig: Klaus Globig, »Theodor Fontanes Grete Minde: Psychologische Studie, Ausdruck des Historismus oder sozialpolitischer Appell?«, in: Fontane Blätter 4/8 (1981), 706-713 und Volker Giel, »1. Zur Anlage des Aufsatzes von Klaus Globig – 2. Grete Minde. Versuch einer Interpretation«, in: Fontane Blätter 5/1 (1982), 68-73. Giel hält Globigs plakativ politischer Interpretation einen humanistischen Ansatz entgegen, wenn er die in der Novelle verhandelten Konflikte als generelle Problematik menschlicher Emanzipation versteht. Jensen wiederum argumentiert, dass die oft beklagte Ambivalenz hinsichtlich der Frage, ob die Schuld bei Grete oder der Gesellschaft zu verorten sei, von der Novelle ausdrücklich angestrebt werde. Sie führt Gretes Konflikte mit dem Recht auf eine »innere[] ›Modernisierung‹« Gretes zurück, die mit einem veralteten Rechtssystem kollidiere. Jensen, »Die Entfachung der kindlichen Vitalität«, 348. Die Kernfrage der Ursachenforschung zielt auf Gretes Motiv. Für einen Überblick über den Forschungsstand siehe Hans Ester, »Grete Minde. Die Suche nach dem erlösenden Wort«, in: Christian Grawe (Hg.), Interpretationen. Fontanes Novellen und Romane, Stuttgart: Reclam 2008, 44-64; Frederick Betz (Hg.), Erläuterungen und Dokumente. Theodor Fontane. Grete Minde, Stuttgart: Reclam 1986.

III. Mimetische Effekte: Rache, Recht und Theater

Geschichten inspiriert fliehen Grete und der Nachbarjunge Valtin als sie fast noch Kinder sind aus der Stadt: Valtin will mit Grete »weit, weit fort, in ein schönes Thal« – er habe »einmal in einem alten Buche davon gelesen […]; und die Menschen die dort leben, lieben einander und werden alt und sterben ohne Schmerz.«4 In Wirklichkeit kommt es ganz anders: Nach einigen Jahren, die sie mit einer reisenden Puppentheater-Truppe durch die Lande ziehen, erkrankt Valtin schwer und Grete kehrt nach seinem Tod verarmt mit dem gemeinsamen Kind nach Tangermünde zurück, um ihren Bruder Gerdt um Unterstützung zu bitten. Der weist sie zurück, worauf Grete vor Gericht zieht, um ihr Erbe einzuklagen. Gerdt begeht Meineid, weswegen Grete den Prozess, ihr Erbe und damit jede Existenzgrundlage für sich und ihr Kind verliert. Die Novelle endet nicht, wie der historische Fall, mit Gretes Hinrichtung wegen Brandstiftung, sondern mit Gretes von einem Märchen inspirierter Rache: Sie legt ihre Heimatstadt in Schutt und Asche, wobei sie selbst, während das Feuer bereits wütet, mit ihrem und dem Kind ihres Bruders auf den Kirchturm steigt und so beide mit in den Tod reißt.5

M odell R achemärchen Als Grete und Valtin noch Kinder sind, fragt er sie, ob sie das Märchen vom Machandelboom kenne. »Gewiß kenn ich das. Das ist ja mein Lieblingsmärchen«, entgegnet Grete, »Regine [das Kindermädchen] muß es mir immer wieder erzählen« (7). Der Inhalt des Märchens wird in der Novelle nicht wiedergegeben, dabei bildet es die Blaupause für Gretes Verständnis von Gerechtigkeit.6 Im 4 | Theodor Fontane, Das erzählerische Werk. Große Brandenburger Ausgabe, Bd. 3: Grete Minde, hg. von Christine Hehle, Berlin: Aufbau 1997, 37. Zitate aus der Novelle werden im Folgenden unter Angabe der Seitenzahl direkt im Text nachgewiesen. 5 | Auf den vielschichtigen religiösen Subtext der Novelle, der schon im Titel des Theaterstücks Das Jüngste Gericht anklingt und sich im Konflikt zwischen katholischem und protestantischem Glauben durch den gesamten Text zieht, kann ich hier nicht weiter eingehen. Zur Rolle von Religion in Grete Minde siehe Hans Ester, Der selbstverständliche Geistliche. Untersuchungen zur Gestaltung und Funktion des Geistlichen im Erzählwerk Theodor Fontanes, Leiden: Springer 1975, 54-61; Jan Bos, Die kritische Funktion der religiösen Motivik in Fontanes »Grete Minde«, unveröff. Magisterarbeit, Utrecht 1980 und Pniower, Dichtungen und Dichter, 295-332. 6 | Walter Müller-Seidel zeigt auf, dass insbesondere die Beschreibungen von Grete und Valtin mit Märchenmotiven durchsetzt sind, die wiederum auf das Idyllische verweisen und schließt: »Es ist die Gesellschaft als diese, die entfremdet, verstört und Eintracht verhindert; und mehr noch verhindert sie idyllisches Dasein im Hier und Jetzt«, und in diesem Sinne sei »nicht die Idylle, sondern die verhinderte Idylle […] das

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Märchen vom Machandelboom von den Gebrüdern Grimm tötet eine böse Stiefmutter ihren Stiefsohn und setzt ihn der Familie zum Abendessen vor. Durch magische Kräfte (seiner verstorbenen Mutter) werden die Knochen des Kindes in einen rächenden Vogel verwandelt, der die Mörderin tötet, indem er einen riesigen Stein auf sie fallen lässt. Sobald die Stiefmutter tot ist, kehrt der Junge prompt ins Leben zurück. Im Reich dieses Märchens kann Unrecht ungeschehen gemacht werden – hier ist die Vergangenheit nicht unveränderbar. Laut Zarathustra ist die Strafe lediglich eine Begleiterscheinung der Rache – wogegen diese eigentlich rebelliert, ist die Zeit und ihr Es war. Der noble Anspruch der Rache, erlittenes Unrecht bestrafen zu wollen, sei nichts als ein Vorwand: »›Strafe‹, nämlich, so heißt sich die Rache selbst: mit einem Lügenwort heuchelt sie sich ein gutes Gewissen.« 7 Der Rächer oder die Rächerin wolle zwar strafen, aber nur, weil er sein bzw. sie ihr eigentliches Begehren nicht erfüllen kann: die Vergangenheit nach dem eigenen Willen zu gestalten. »Es war«: also heisst des Willens Zähneknirschen und einsamste Trübsal. Ohnmächtig gegen Das, was gethan ist – ist er allem Vergangenen ein böser Zuschauer./Nicht zurück kann der Wille wollen; dass er die Zeit nicht brechen kann und der Zeit Begierde, – das ist des Willens einsamste Trübsal. […] Dass die Zeit nicht zurückläuft, das ist sein Ingrimm; »Das, was war« – so heisst der Stein, den er nicht wälzen kann./[…] Also wurde der Wille, der Befreier, ein Wehethäter: und an Allem, was leiden kann, nimmt er Rache dafür, dass er nicht zurück kann./Diess, ja diess allein ist Rache selber: des Willens Widerwille gegen die Zeit und ihr »Es war«. 8

Das marternde Bewusstsein, das Vergangene nicht ändern zu können, macht demnach das Wesen der Rache aus. In Grete Minde verspricht das Märchen einen Ausweg aus diesem Dilemma. Hier ist nicht einmal der Tod endgültig und so kann das, was war, verändert und ein Verlust ungeschehen gemacht werden. Die erfolgreiche Rache verspricht ein glückliches Ende, wo alle vergnügt bis ans Ende ihrer Tage leben. Im Märchen ist das möglich, weil die Zeit zurückgedreht, der Junge ins Leben zurückkehren und damit die Geschichte geändert werden kann. Das Märchen vom Machandelboom steht hier für das Potential von Literatur, Geschichte umzuschreiben und damit Rächer und Rächerinnen nicht (wie im Fall der historischen Margarete Minde) allein als KriMotiv, auf das es Fontane ankommt.« Walter Müller-Seidel, Theodor Fontane. Soziale Romankunst in Deutschland, Stuttgart: Metzler 1975, 73f. Hans Ester weist auf eine weitere Märchenreferenz in dieser Szene zwischen Valtin und Grete hin: Hans Christian Andersens Däumelinchen. Ester, »Grete Minde«, 52-54. Siehe auch Renate Schäfer, »Fontanes Melusine-Motiv«, in: Euphorion 56 (1962), 69-104. 7 | Nietzsche, Also sprach Zarathustra, 180. 8 | Nietzsche, Also sprach Zarathustra, 179f.

III. Mimetische Effekte: Rache, Recht und Theater

minelle zu betrachten, sondern (wie in Fontanes Novelle) die Geschichte einer Rache als Reaktion auf Unrecht zu präsentieren. Als Valtin im Sterben liegt, beschäftigt ihn der Wunsch, Grete eine wenn nicht glückliche, so doch erträgliche Zukunft zu eröffnen. Grete kann sich kein Leben ohne ihn vorstellen: »Ach, daß ich leben muß! Valtin, mein einzig Geliebter, nimm mich mit Dir, mich und unser Kind. Was hier noch war, warst Du. Nun gehst Du. Und wir sind unnütz auf dieser Welt.« (87f.) Valtin versucht, Gretes Endzeitstimmung eine Zukunftsvision entgegenzustellen. Auf seinem Totenbett ringt er ihr das Versprechen ab, nach seinem Tod in ihre Heimatstadt zurückzukehren, um ihren Bruder zu bitten, sie und ihr Kind aufzunehmen; sollte der sie zurückweisen, »dann geh’ ihn an um Dein Erbe, das wird er Dir nicht weigern können« (88). Valtin entwirft gleich zwei Modelle für Gretes Zukunft: Sie kann entweder als Schwester oder als legales Subjekt, das ihr Erbe einfordert, in ihre Heimat zurückkehren. Es kommt allerdings, wie Grete es prophezeit hat: Ihr Bruder weist sie nicht nur zurück, sondern spricht ihr die Familienzughörigkeit ab und verweigert ihr das Erbe. Grete reagiert auf diese harsche Zurückweisung mit einem tiefen Begehren nach Rache: Grete war allem Anscheine nach ruhig aus dem Hause getreten; aber in ihrem Herzen jagte sich’s wie Sturm und hundert Pläne schossen in ihr auf und schwanden wieder, alle von dem einen Verlangen eingegeben, ihrem Haß und ihrer Rache genug zu thun. Und immer war es Gerdt, den sie vor Augen hatte, nicht Trud; 9 und auf seinen Schultern stand ein rothes Männlein mit einem rothen Hut und einer rothen vielgezackten Fahne, das wollt’ er abschütteln; aber konnt’ es nicht. (107, Hervorh. i. O.)

9 | In der Novelle erscheint zunächst ihre Schwägerin Trud als Gretes stärkste Widersacherin. Sie grenzt Grete wegen ihres südländischen Aussehens und ihrer Herkunft aus. Die Aggressionen lassen sich auf Gretes Mutter zurückführen, eine katholische Spanierin, von der Grete nicht nur ihre Schönheit geerbt, sondern auch den katholischen Glauben angenommen hat, was die protestantische Trud als Grund nimmt, sie zu verteufeln. Da Grete aber auch viele Fürsprecher und ‑sprecherinnen hat, darunter den protestantischen Prediger Gigas, beinhaltet die Novelle ein Gegenbild zur Haltung von Gerdt und Trud wie auch zur misogynen Darstellung Margarete Mindes in den historischen Quellen. Der damalige Bürgermeister Helmreich, der letztlich daran beteiligt war, Margarete Minde zum Tode zu verurteilen, bezeichnete sie etwa als »Hürlein, […]/An welchem nicht ein gutes Haar,/Von Jugend auf zu finden war«. Zitiert in: Schmitz, »Stoff«, 122. Für eine Betrachtung von Trud und Gerdt als Repräsentant/in der gesellschaftlichen Ordnung und deren Einfluss auf Gretes Verhalten siehe Sabine Cramer, »Grete Minde. Structures of Societal Disturbance«, in: Marion Doebling (Hg.), New Approaches to Theodor Fontane. Cultural Codes in Flux, Rochester: Camden House 2000, 136-160.

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Ihr inneres Chaos aus Aggressionen und Gedankenfetzen mündet in einem Verlangen nach Rache. In Gretes Rachefantasien bildet das Märchenhafte einen ordnenden Impuls, der ihre konfusen Gedanken, die »alle von dem einen Verlangen« nach Rache gelenkt sind, in einer Vision bündelt: das »rothe Männchen«, das Gerdt nachstellt. Während Gerdt seine Schwester zwar aus dem gemeinsamen Elternhaus werfen kann, kann er das rote Männchen nicht so einfach abschütteln. Gretes Rachevorstellung richtet sich gegen die Ungerechtigkeit ihres Bruders – zunächst straft sie ihn allerdings nicht selbst, wie es Rache Übende üblicherweise tun, sondern imaginiert eine Märchenfigur als Strafinstanz, die ihr im Moment der Verzweiflung zur Seite steht.

R ache als mime tisches B egehren Grete entwickelt ihr Begehren nach Rache keinesfalls spontan aus sich selbst heraus, sondern empfindet es dem Genre des Märchens nach. Ein solches mimetisches Begehren entsteht, Girard zufolge, immer in einer Dreieckskonstellation zwischen dem begehrenden Subjekt, dem Objekt der Begierde und einem Mittler, der eine Vorbildfunktion einnimmt, und es ist letztlich dessen Begehren, das das Subjekt nachahmt. Das begehrende Subjekt eignet sich dabei nicht nur die Begehren von Vorbildern an, sondern schöpft auch aus Kunst und Literatur. So wie Cervantes’ Don Quixote oder Flauberts Emma Bovary »das Begehren der von ihnen frei gewählten Vorbilder« nachahmen, wählt auch Grete sich ein solches Vorbild, doch ist es bei ihr kein Ritterroman oder eine Romanze, sondern ein Märchen.10 Der mimetische Effekt des Rachemärchens besteht darin, dass er Grete ein Gerechtigkeitskonzept liefert. Im Verlauf der Novelle entwickelt sich ihre Idee von Gerechtigkeit weiter, und zwar wiederum angetrieben durch ihr mimetisches Verhältnis zu literarischen und später juristischen Texten.11 Auf dem Gedanken, dass mimetischen Effekten transformativ-performative Kräfte innewohnen, basiert auch Stephen Halliwells umfassende Analyse der mimetischen Künste seit Plato: »The whole history of mimeticism manifests a dual concern with the status of artistic works or performances and with the experience they invite or make available.«12 Mimesis hat demnach nichts 10 | René Girard, Figuren des Begehrens. Das Selbst und der Andere in der fiktionalen Realität, übers. v. Elisabeth Mainberger-Ruh, Berlin: Lit 1999, 14. 11 | Ich lese Grete Minde also nicht als selbstreflexiven Text, in dem Literatur über sich selbst als Medium reflektiert, sondern als Text, in dem der Effekt von Recht und Literatur auf Grete zur Darstellung kommt. 12 | Stephen Halliwell, The Aesthetics of Mimesis. Ancient Texts and Modern Problems, Princeton: Princeton UP 2002, 16.

III. Mimetische Effekte: Rache, Recht und Theater

mit (zweitrangigen) Kopien oder Nachmacherei zu tun, vielmehr kann sie, wie Halliwell betont, Verwandlungen bewirken bzw. anstoßen. Wie der Effekt des Märchens in Grete Minde zeigt, hat Literatur in Fontanes Novelle genau diese aktive mimetische Kraft: »For ›literature,‹ far from simply reflecting (as Girard always seems somewhat tempted to think) a prior generalized mimetism, is on the contrary what provokes mimetism.«13 Literatur prägt Gretes mimetisches Begehren (Girard) nach Gerechtigkeit und provoziert darüber hinaus einen »mimetism« (Lacoue-Labarthes), d.h. eigene transformative Kräfte. Anders gesagt, mimetisches Begehren erzeugt in Gretes Vorstellung das Bild des roten Männchens und damit stößt das Rachemärchen eine Wendung ihrer Welt ins Magische an.14 Die Welt des Märchens formt Gretes Vorstellung von Gerechtigkeit und bestärkt sie in ihrer Forderung gegen den ungerechten Bruder. Das rote Männchen drückt Gretes Begehren aus, den Bruder zu drangsalieren und zu strafen. Denken wir Mimesis als Nachstellen, verbindet sie mimetisches Begehren, das wir anderen nachempfinden, und Rache, die meint, Gleiches mit Gleichem zu vergelten.15 In seiner Lektüre von Nietzsches Zarathustra konstruiert Mar13 | Philippe Lacoue-Labarthe, Typography. Mimesis, Philosophy, Politics, Stanford: Standford University Press 1989, 130. 14 | Eine wesentliche Kritik Lacoue-Labarthes an Girards mimetischem Begehren ist, dass Girard, indem er das Begehren als Begehren eines anderen präsentiert, letztlich die Frage der Darstellung umgeht. Lacoue-Labarthe beschreibt dieses Ausklammern treffend als »›another stage‹: – still a stage to be sure, but not yet that of a spectacle, one that is separated from any enclosed theater, from any space perhaps, inaccessible, in any case, to any perception whatsoever – on which the prescribed scenario of desire, unbeknownst to the supposed ›subject‹, would be played every time? Another ›stage‹ of which the stage itself, of the world or of the theater (set in whatever manner; this is important), would never, owning to the constraint exerted by the primitive repetition, be anything other than an external lining«. Lacoue-Labarthe, Typography, 113. In Girards Denken wird dem mimetischen Begehren also eine generierende (oder verwandelnde) Dynamik abgesprochen. Das mimetische Begehren erscheint dann als ein ewiges Nachstellen, dem sein eigentliches Objekt verloren gegangen ist. 15 | Ich verwende den Begriff Nachstellen, da er vorwiegend mimetische und keine tiefenpsychologischen Implikationen hat, wie etwa Freuds Konzept des Wiederholungszwangs. In Double Exposure verwendet Downing u.a. Freuds Theorie des Wiederholungszwangs, um zu zeigen, wie realistische Texte Wiederholung und Redundanz einsetzen, um Alltag darzustellen. Dabei hebt er hervor, dass es für Freuds Verständnis des Wiederholungszwangs irrelevant sei, ob das wiederholte Ereignis real oder fiktiv ist. Downing, Double Exposure, 17. Im Kontext von Grete Minde ist es hingegen wesentlich, dass Grete einen realen Verlust und ein tatsächliches Unrecht erlebt. Im Text wird das Unrecht, das Grete durch ihren Bruder erfährt, sowohl von Trud als auch von Richter

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tin Heidegger eine Art Etymologie der Rache, die sie als ein Nachstellen verstehbar macht: »Rache, rächen, wreken, urgere heißt: stoßen, treiben, vor sich hertreiben, verfolgen, nachstellen. In welchem Sinne ist die Rache ein Nachstellen?«16 Nachstellen ist demnach rebellisch und zukunftsorientiert: »Das rächende Nachstellen widersetzt sich im voraus dem, woran es sich rächt. Es widersetzt sich ihm in der Weise, daß es herabsetzt.«17 In Grete Minde verkörpert das rote Männchen eine imaginäre Vorhut der Rache Gretes, die dem Bruder die Erniedrigung, die sie durch ihn erfährt, heimzahlen will. Somit bildet nachstellen – im doppelten Sinne von (ver‑)folgen und imitieren – die Schnittmenge zwischen Rache, Literatur und Mimesis. In ihrer Vorstellung rebelliert Grete gegen die Zurückweisung des Bruders, lange bevor sich ihr Racheplan konkretisiert und sie ihn umsetzt. Die Psychoanalytikern Nina Thomas hebt hervor, dass Rachefantasien positive Effekte auf Menschen haben können, die Missbrauch erfahren haben: »The appeal of vindictive fantasies lies in how we are transformed. No longer weak or subservient, we are mighty and virtuous […]. The imagined revenge exacts suffering that we tell ourselves, is only what the ›other‹ is due.«18 Rachefantasien erlauben uns, ein Gegenbild zu einer Gewalterfahrung zu entwerfen, worin die Person, die Unrecht getan hat, bestraft wird. In diesem Sinne hilft die Vorstellung des roten Männchens Grete in der von ihr empfundenen Machtlosigkeit und weist ihr den Weg in die Handlungsfähigkeit. Die zentrale Bedeutung des Magischen für Grete signalisiert gleichzeitig ihren anbrechenden Wahnsinn, der von Beginn an mit ihren Rachefantasien kurzgeschlossen wird. Rache erscheint dann nicht allein als Widerstand oder Rebellion gegen, sondern zugleich als pathologische Reaktion auf erlittenes Unrecht und Grete, auch wenn ihre Forderungen legitim sind, als unzurechnungsfähige Anklägerin. Diese Engführung von Rache und Wahnsinn, die auch in Die schwarze Spinne und Andrea Delfin auftaucht, bildet eine zentrale Strategie realistischer Novellen, um Rache als alternatives GerechtigkeitskonGuntz bestätigt. Die Erzählstimme bekräftigt diese Einschätzung und die Überforderung Gretes, wenn sie kurz vor Gretes Racheakt feststellt: »Es war ihr mehr auferlegt worden, als sie tragen konnte« (113). Damit hebt Fontanes Novelle die entscheidende Rolle des sozialen Kontexts hervor, der Gretes Trauma dadurch verstärkt, dass das erlittene Unrecht vom Gericht bestätigt wird. 16 | Martin Heidegger, »Wer ist Nietzsches Zarathustra?«, in: Martin Heidegger, Gesamtausgabe, I/7: Vorträge und Aufsätze (1936-1953), hg. von Friedrich-Wilhelm von Herrmann, Frankfurt a.M.: Vittorio Klostermann 2000, 99-126, hier: 111. 17 | Heidegger, »Wer ist Nietzsches Zarathustra?«, 111f. 18 | Nina Thomas, »An Eye for an Eye: Fantasies of Revenge in the Aftermath of Trauma«, in: Danielle Knafo (Hg.), Living with Terror, Working with Trauma. A Clinician’s Handbook, New York: Jason Aronson 2004, 297-31, hier: 307.

III. Mimetische Effekte: Rache, Recht und Theater

zept von vornherein zu disqualifizieren. Doch zunächst gelingt es Grete noch, ihren Wahnsinn zurückzudrängen. »Bin ich irr?« (107), fragt sie und widersteht der mimetischen Kraft des Märchens, indem sie dieses selbst als verzerrte Wirklichkeit entlarvt und zurückweist.

M imesis z wischen G ericht und The ater Unter solchen Bildern und Vorstellungen war sie grad‹ über den Rathhausplatz hinaus, als sie plötzlich, wie von einem Lichtschein geblendet, sich wieder umsah, und der halben Mondesscheibe gewahr wurde, die still und friedlich, als regiere sie diese Stunde, über dem Giebelfelde des Rathhauses stand. Und sie sah hinauf, und ihr war, als lege sich ihr eine Hand beruhigend auf das Herz. »Es soll mir ein Zeichen sein«, sagte sie. »Vor den Rath will ich es bringen; der soll mich aufrichten … Nein, nicht aufrichten. Richten soll er. Ich will nicht Trost und Gnade von Menschenmund und Menschenhand, aber mein Recht will ich, mein Recht gegen ihn, der sich und seiner Seelen Seligkeit dem Teufel verschrieben hat. (107, Hervorh. i. O.)

Grete versteht die Mondsichel über dem Rathaus als »Zeichen«, und es ist dieses Zeichen, das nun ihr Denken umlenkt – weg von dem fantastischen Modell des Rachemärchens hin zum Rechtsweg. Dieser Fokuswechsel ändert keinesfalls ihr Begehren nach Gerechtigkeit, sondern lediglich ihre Vorgehensweise. Gretes Wechsel zu einem juristischen Gerechtigkeitsgedanken zeigt sich zunächst in ihrer Vorstellung, dass der Rat sie »aufrichten« werde. Aufrichten teilt bereits den Wortstamm mit dem juristischen Vokabular von Recht und richten – aufgerichtet zu werden bildet ein Gegenbild zu Gerdts Zurückweisung: Als sie sich ihm zu Füßen warf und ihn bat, sie oder zumindest ihr Kind aufzunehmen, richtete Gerdt sie eben nicht auf, sondern »ließ sie liegen« (104).19 Doch Gretes Vorstellung transformiert sich, als ihr Wunsch, dass der Rat sie aufrichten solle, dem Verlangen Platz macht, dass der Rat richten solle. In diesem Moment überträgt Grete ihr Begehren nach Gerechtigkeit auf eine dritte Instanz: den Rat. Diese Wendung zum Recht wird noch dadurch verstärkt, dass Grete die religiösen und juristisch veralteten Konzepte von »Trost und

19 | Grete befolgt zwar Valtins Vorgaben genau, aber gleichzeitig entwickelt sie auch selbst einen alternativen Plan: »›Ja, ich will um einen Platz am Herd bitten und will seine Magd sein und will mich vor ihm niederwerfen. Aber‹ – und ihre Stimme zitterte – ›wenn ich mich niedergeworfen habe, so soll er mich auch wieder aufrichten. Weh’ ihm und mir, wenn er mich am Boden liegen läßt’« (100). In diesem Moment kollidiert das mimetische Modell Valtins mit dem des Märchens. Grete verhält sich also nicht einfach wie eine mimetische Figur, die mechanisch die Narrative nachstellt, die andere ihr präsentieren.

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Gnade von Menschenmund und Menschenhand« zurückweist und stattdessen bekräftigt, »mein Recht will ich, […] gegen ihn« (107). Wenn sich Grete von ihrem Verlangen nach Rache abwendet und stattdessen ihr Recht einfordert, folgt sie der Umformung der Rache zum Recht, die Girard in Die Gewalt und das Heilige als anthropologische Entwicklung beschreibt. Die für das Rechtsverständnis »primitive[r] Gesellschaften« charakteristische persönliche Rache werde demnach durch den Rechtsstaat abgelöst, ohne dass dabei das Prinzip der Rache – das Moment des Ausgleichs – gänzlich verloren gehe: »Unser System erscheint uns nur deshalb rationaler, weil es dem Racheprinzip konsequenter entspricht. Der Nachdruck, mit welchem auf der Bestrafung des Schuldigen bestanden wird, hat keinen anderen Sinn. Statt auf Verhütung, Besänftigung oder Umgehung der Rache hinzuarbeiten […], rationalisiert das Gerichtswesen die Rache.«20 Die größte Gefahr, welche von der Rache für die Gemeinschaft ausgeht, ist ihr Exzess, bei dem ein Vergeltungsschlag den nächsten jagt, so dass ihre Gewalt »sich auszubreiten und die gesamte Gesellschaft zu erfassen« droht.21 Eben dieser Gewaltspirale soll der Strafprozess ein Ende machen.22 Während jeder Racheakt wie ein weiteres Argument in einem Disput erscheint, entscheidet das rechtskräftige Urteil endgültig im Sinne einer Partei. Der Anblick des Rathauses hat auf Grete eben jenen Rationalisierungseffekt, den auch das moderne Gerichtswesen anstrebt: Indem sie sich einer neuen Rhetorik des (Auf‑)Richtens bedient, transformiert Grete ihr Verlangen nach Rache zu einem nach Recht.23 Die Novelle meldet jedoch Zweifel an, wenn es 20 | Girard, Das Heilige und die Gewalt, 38. 21 | Girard, Das Heilige und die Gewalt, 28. 22 | Auch Thomas Weitin hebt hervor, dass die Brandenburgische Kriminalordnung von 1717 den »Sinn der Strafverfolgung« als »Gewährleistung der Sicherheit des Gemeinwesens« definiert. Thomas Weitin, Zeugenschaft. Das Recht der Literatur, München: Fink 2009, 39. 23 | Gretes Gedankengang endet allerdings mit einem Abgleiten in religiöse Vorstellungen: »mein Recht gegen ihn, der sich und seiner Seelen Seligkeit dem Teufel verschrieben hat« (107). Ich lese diesen Lapsus nicht als eindeutigen Rückfall zu ihrem früheren Modell der Gerechtigkeit mittels märchenhafter Rache, sondern als Indikator dafür, dass ein Modell nicht restlos von einem anderen ersetzt wird. Grete mag zwar in der gegenwärtigen Situation eine Präferenz für ein bestimmtes Modell zeigen und anstreben, dieses nachzustellen, aber sie bleibt dennoch eine Figur, die unterschiedliche und gelegentlich widersprüchliche Modelle in sich trägt, um ihr Begehren nach Gerechtigkeit zu stillen. Selbst als sie sich dem Gerichtswesen zuwendet, besteht ihr Begehren nach Genugtuung weiter fort, wenngleich in geschwächter Form. Jensen interpretiert Gretes Abgrenzung vom Gedanken der Gnade und ihren Fokus auf ihr Recht als »Resultat ihrer fortgeschrittenen inneren ›Modernisierung‹«, welche sie auf Gretes Sozialisierung durch ihre Eltern und das Kinder-

III. Mimetische Effekte: Rache, Recht und Theater

darum geht, wie nachhaltig dieser Wandel ist. Während für Girard diese Rationalisierung ein abgeschlossener Prozess ist, durch den die Rache vollends vom Rechtssystem absorbiert wird, bleibt in Grete Minde Rache – und damit der mimetische Effekt des Märchens – weiterhin als Alternative erhalten, um Gerechtigkeit zu erlangen. Zwar strebt Grete in dem Moment, in dem sie das Rathaus erblickt, vorerst nicht mehr danach, literarische Vorbilder umzusetzen, sondern danach, als legales Subjekt vor das Gericht zu treten. Dieser Wandel ist aber nur ein vorläufiger. Trotz seines rationalisierenden Effekts auf Grete ist das Rathaus nicht frei von literarischen Assoziationen, fand hier doch die besagte Aufführung von Das Jüngste Gericht statt. Recht und Theater teilen sich in Grete Minde einen Schauplatz: Das Rathaus dient als Gerichtssaal und zugleich als Theatersaal. Die Verhandlung um ihr Erbe findet also in demselben Saal statt, »in dem, zu Beginn unserer Erzählung, die Puppenspieler gespielt und das verhängnisvolle Feuerwerk abgebrannt hatten« (109). Als Kinder besuchen Grete und Valtin hier wie gesagt die Vorstellung Das Jüngste Gericht und Grete identifiziert sich so sehr mit einer der Schauspielerinnen, dass »ihr war, als würde sie selbst vor Gottes Thron gerufen« (19). Während das Theater Grete real erscheint, zeichnet sich auch auf der Handlungsebene ein für eine realistische Novelle eher unerwartetes Wechselspiel zwischen den beiden Sphären ab. Während Grete und Valtin gerade die Aufführung besuchen, wird im Minde’schen Haushalt heftig die Wirkung des Theaters diskutiert. Während Trud sich über die religiöse Thematik des Puppenspiels erzürnt, macht sich Gerdt über den Pfarrer lustig, der immerzu vom »höllisch Feuer« predige: »Und nun kommt dieser Puppenspieler und thut’s ihm zuvor und brennt uns ein wirklich Feuerwerk …«/Er konnte seinen Satz nicht enden, denn in eben diesem Augenblicke hörten sie, vom Marktplatze her, einen dumpfen Knall, der so heftig war, daß alles Geräth im Zimmer in ein Klirren und Zittern kam; und eh sie noch einander fragen konnten, was es sei, wiederholten sich die Schläge, dreimal, viermal, aber schwächer. (21) mädchen Regine zurückführt. Anders als Gerdt, der noch nach vorbürgerlichen Prinzipien erzogen wurde, die er nun auch an seinen Sohn weitergibt, wird Grete zu einem selbstbewussten und »vernunftbegabten Subjekt« erzogen, das sich dem »willkürlichen GnadenGewalt-Schema« widersetzt und stattdessen sein Recht fordert. Dass Grete dennoch der Rache verfällt, führt Jensen darauf zurück, dass sie mit einer prä-modernen Gesellschaft konfrontiert ist. Jensen, »Die Entfachung der kindlichen Vitalität«, 351. Ich lese Gretes Fähigkeit, sich als legales Subjekt zu imaginieren und als solches auch vor das Gericht zu treten, als Beispiel für die Macht der Imagination, aus bestehenden Mustern auszubrechen und alternative Rollen zu erwägen. Bei Gretes Auftritt vor Gericht werden allerdings die Grenzen der Fiktion deutlich; Gretes Vorstellung von sich als juristischem Subjekt kann in der vom Recht gesetzten Wirklichkeit nicht bestehen.

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Diese dumpfen Knalle stammen – wie im historischen Vorbild – von einem missglückten Bühneneffekt, der eine reale Katastrophe auslöst. Das Feuermotiv schlittert durch alle Register: vom allegorischen Feuer (in der Predigt) zum Spezialeffekt im Theater (Feuerwerk) bis hin zu der tatsächlichen, in Gerdts Spottrede hineinbrechenden Explosion, die den verheerenden Brand auslöst. Diese Kette, in der ein Feuer das andere jagt, illustriert die mimetischen Effekte zwischen Theater, Gericht und Welt.24 Da die Erzählinstanz immer wieder abrupt zwischen der Diskussion in der Küche über das Theater und den Ereignissen im Theater hin- und herspringt, wirkt es fast so, als hätte nicht ein Zufall, sondern Gerdts Rede die Explosion ausgelöst. Durch diese sprunghafte Erzählweise scheint es, als hätten seine Worte einen mimetischen, transformativen Effekt. In »Über das mimetische Vermögen« assoziiert Walter Benjamin Mimesis mit Magie, wenn er darauf verweist, dass sich das mimetische Vermögen von einer »Gabe, Ähnlichkeiten hervorzubringen«, zu einer »Gabe, Ähnlichkeiten zu sehen«, gewandelt habe.25 Damit sei die Fähigkeit, etwas zu verwandeln, zur Fähigkeit verkümmert, das Verwandelte zu interpretieren. Die Nähe von Gerdts Rede über ein »wirklich Feuerwerk« und dem »dumpfen Knall« der Explosion beweist zwar nicht, dass Gerdts Worte das Feuer entzündeten, aber die Erzählstruktur drängt uns diese (absurd scheinende) Interpretation geradezu auf. Für Benjamin ist es letztlich die Sprache bzw. die Schrift, die als »Archiv unsinnlicher Ähnlichkeiten«26 herhält und somit das einstige mimetische Vermögen und dessen Macht zur Verwandlung speichert. In diesem Sinne beschreibt er die Sprache als »höchste Stufe des mimetischen Verhaltens« und als »Medium, in welches ohne Rest die früheren Kräfte mimetischer Hervorbringung und Auffassung hineingewandert sind, bis sie so weit gelangten, die der Magie zu liquidieren«.27 Im Bühnenbrand blitzt ein Rest dieser Magie auf, die einst Ähnlichkeiten produzierte. In der Szene wird deutlich, dass es nicht nur Gretes subjektive Vorstellungswelt ist, die von mimetischen Effekten angesteckt wird, sondern auch die Handlung selbst. Mimetische Effekte spielen in Fontanes Novelle vor allem dort eine zentrale Rolle, wo es um das Verhältnis von Recht und Literatur geht. Das Erzählverfahren bestätigt ironischerweise

24 | Diese Kette mimetischer Effekte hat – vom Titel des Stücks bis zu Gerdts Anmerkung, dieses stünde in Konkurrenz mit dem Gottesdienst – eindeutig religiöse Konnotationen, auf die in dieser Arbeit nicht weiter eingegangen werden kann. 25 | Walter Benjamin, »Über das mimetische Vermögen«, in: Walter Benjamin: Gesammelte Werke, Bd. 2, hg. von Rolf Tiedemann/Hermann Schweppenhäuser, Frankfurt a.M.: Suhrkamp 1991, 210-213, hier: 210f. 26 | Benjamin, »Über das mimetische Vermögen«, 213. 27 | Benjamin, »Über das mimetische Vermögen«, 213.

III. Mimetische Effekte: Rache, Recht und Theater

Gretes Erfahrung, dass Theater und Leben keine klar getrennten Welten sind, sondern sich ihre Wirkungsfelder vielmehr permanent kreuzen. Die örtliche Doppelbesetzung des Rathauses – als Gerichts- und als Theatersaal – entspricht den historischen Tatsachen und reflektiert dabei, wie sich (im Zuge der Modernisierung des Rechts) die Verfahren von Theater und Justiz annäherten. Öffentliche Prozesse wurden in Deutschland erst mit der Reichsprozessordnung 1877 eingeführt, aber bereits zu Beginn des 19. Jahrhunderts mehrte sich die Kritik an dem im Geheimen stattfindenden Verfahren, bei dem das Urteil vor allem auf dem Aktenstudium beruhte: »Der geheime Charakter des schriftlichen Verfahrens war mit dem Selbstverständnis der im Entstehen begriffenen bürgerlichen Gesellschaft unverträglich. Sie verlangte Öffentlichkeit und Transparenz. Vor aller Augen sollte verhandelt werden, nichts sollte im Verborgenen geschehen.«28 Diese Entwicklung entspricht Thomas Weitin zufolge einem Verlangen nach dem Sichtbar-Werden des Rechts: Das geheime Verfahren, in dem Richter allein die Akten zu Gesicht bekamen, sollte einem öffentlichen Prozess mit Zeugenaussagen weichen. Mit diesem Schritt in die Öffentlichkeit wird das Gerichtsverfahren folglich zu einem performativen Raum, in dem das Recht zur Darstellung kommt bzw. in dem es zu einer »Dramatisierung des Rechts« kommt.29 In Grete Minde berichtet Fontane zwar von einem öffentlichen Prozess, in dem Grete als Zeugin vor die Richter tritt; abgesehen davon wird das Verfahren aber von veralteten Rechtsprinzipien und einer (weiterhin von ständischen Prinzipien geprägten) bürgerlichen Ordnung geprägt, in der Frauen als Zeuginnen nicht gleichberechtigt sind. Mit Gretes Anspruch auf ihr Erbe entwirft der Text, wie ich zeigen werde, eine Vision der Emanzipation, die in der historischen Welt der Novelle scheitert, da in ihr das moderne Gerichtswesen noch nicht (vollständig) implementiert ist. So urteilt der Rat als – neben Klägerin und Angeklagtem – dritte Instanz nicht nach Beweisen, sondern folgt einem dubiosen Klassifizierungsverfahren; doch dazu gleich mehr. Dass Grete am Ende zur Kindsmörderin wird, stellt das emanzipatorische Ideal, das sie verkörpert, in den Schatten von Verbrechen und Wahnsinn. Nichtsdestotrotz eröffnet ihr das Rathaus zunächst einen Raum, in dem sie die Rolle als Anklägerin einnehmen kann. Wie Christine in Die schwarze Spinne gegenüber dem Teufel als gleichrangige Vertragspartnerin auftritt, agiert auch Grete, als wäre sie vor Gericht ihrem Bruder gleichgestellt.

28 | Weitin, Recht und Literatur, 19. 29 | Weitin, Zeugenschaft, 67.

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R echt und L iter atur Nach Jacques Rancière sind es eben solche Doppelbesetzungen von Orten wie die des Rathauses in Grete Minde, die schon Plato beunruhigten: »From the Platonic point of view, the stage, which is simultaneously a locus of public activity and the exhibition-space for ›fantasies‹, disturbs the clear partition of identities, activities, and spaces.«30 Auch der Raum, in dem Gretes Erbprozess stattfindet, ist demnach von einem bestimmten »aesthetic regime of politics« geprägt, »a regime based on the indetermination of identities, the delegitimation of positions of speech, the deregulation of partitions of space and time«.31 Als Theater- und Gerichtssaal wird dieser Raum zum Verhandlungsort, an dem potentiell Rollen verändert und die Vergangenheit neu interpretiert werden können. Was Plato beunruhigt, stellt für Grete eine Chance dar. In Grete Minde sind jedoch nicht nur die Räume doppelt besetzt, sondern auch die Figuren nehmen unterschiedliche Rollen an. Bereits als Grete ihren Bruder um seine Unterstützung bittet – »Hilf mir, und wenn nicht mir, so hilf dem Kind« (104) –, hat sie ihre einstige Rolle als abhängige Stiefschwester hinter sich gelassen: Du hast mich nicht erhören wollen in meiner Noth, so höre mich denn in meinem Recht. Ich bin als eine Bittende gekommen, nicht als eine Bettlerin. Denn ich bin keine Bettlerin. Ich bin des reichen Jacob Minde Tochter. Und so will ich denn mein Erbe. Hörst Du, Gerdt, mein Erbe. (Hervorh. i. O., 105)

Als Gerdt ihren Appell zurückweist – »Erbe! Du hast keins« (105) –, klagt sie ihn vor Gericht an. Dort präsentiert sie nüchtern ihren Fall, berichtet, dass Gerdt ihr das Erbe verweigere und sie und ihr Kind des Hauses verwiesen habe, und schließt: »Aber wenn ich kein Recht hab’ an sein brüderlich Herz, so hab’ ich doch ein Recht an mein väterlich Gut.« (110) Sie folgt ihrer vor dem Rathaus entworfenen Rhetorik des (Auf‑)Richtens und appelliert nicht an ihren Bruder, sondern an das Gericht. Als Valtin und Grete als Jugendliche aus der Stadt flohen, schlossen sie sich eben jener Theatergruppe an, deren Aufführung von Das Jüngste Gericht sie als Kinder besucht hatten. Als Grete nun als Mutter in ihre Heimatstadt zurückkehrt, ist aus der kindlichen Zuschauerin eine erwachsene Schauspielerin geworden. Damit repräsentiert sie selbst die Nähe von Theater und Recht, die bereits das Rathaus symbolisiert: Als Anklägerin betritt Grete (Schauspielerin von Beruf) den Gerichtssaal (mit seiner Vergangenheit als Bühne), um dort 30 | Jacques Rancière, The Politics of Aesthetics. The Distribution of the Sensible, übers. von Gabriel Rockhill, New York: Continuum 2004, 13. 31 | Rancière, The Politics of Aesthetics, 13f.

III. Mimetische Effekte: Rache, Recht und Theater

ihren Erbanspruch gegen ihren Bruder geltend zu machen. Doch die entscheidende Doppelrolle nimmt ihr Bruder Gerdt ein: Er ist zugleich Angeklagter und Ratsmitglied. Das heißt, er repräsentiert einen offenkundigen Interessenkonflikt zwischen Recht und Macht. Diese örtlichen und personalen Doppelbesetzungen deuten bereits an, dass der durch den im Rathaus abgehaltenen Prozess eröffnete Raum es schier unmöglich macht, die unterschiedlichen Rollen und Identitäten, welche die Beteiligten innerhalb der Familie und in ihrem Beruf innehaben, klar voneinander zu trennen (Rancière). Dass an diesem Ort keine klassische Tragödie, sondern Puppentheater aufgeführt wurde, lässt die bevorstehende Verhandlung dabei in einem ganz eigenen Licht erscheinen. Über das Stück Das Jüngste Gericht erfahren wir von einem Mitglied der Truppe, dass sie »zwei Mal gespielt [haben] jeden Tag, erst die Puppen und dann wir selber« (82). Hier deutet sich an, dass im Rathaussaal, der eben auch als Bühne fungiert, Menschen wie Marionetten auftreten. Während im Theater Puppen an die Stelle der Schauspieler und Schauspielerinnen treten, wird die Rolle der Ratsmitglieder als Richter im Erbstreit von Gerdt manipuliert. Für Grete eröffnet dieser Raum in erster Linie die Möglichkeit, sich von der ihr von ihrem Bruder zugeteilten Rolle der mittellosen Stiefschwester zu befreien. Mit ihrer Erbschaftsklage rebelliert sie gegen diese Rolle und entwickelt die Hoffnung, dass das Gericht ihre Zugehörigkeit zur Familie anerkennt und damit sie und ihr Kind in Zukunft finanziell abgesichert sind. In der Erbfrage materialisiert sich ein alter Disput um Gretes Zugehörigkeit zur Familie, die Gerdt ihr von jeher abgesprochen hat. Es ist letztlich ein Streit darum, wie die Vergangenheit zu beurteilen ist, und zwar konkret darum, ob das Familienvermögen Gretes oder Gerdts Mutter zu verdanken ist. Solange sich der Streit zwischen den zwei Geschwistern als Konfliktparteien abspielt, stehen beide Interpretationen zwar gegen‑, aber zugleich auch nebeneinander. Nietzsches Es war ist zu diesem Zeit noch wandelbar: Vergangene Ereignisse können zwar nicht ungeschehen gemacht werden, aber sie können neu interpretiert werden, wodurch eine neue Gegenwart geschaffen werden kann, in der Grete ihr Erbe erhält. In diesem Sinne interpretiert Fontanes Novelle die historischen Ereignisse neu, indem sie den Fokus nicht wie der historische Prozess auf den Brandanschlag, sondern auf Gretes Vorgeschichte legt, welche ihren Erbanspruch legitimiert. In Gretes Vorstellung soll ihr Fall von einem Richter als objektiver Instanz bewertet werden. Ihr Anspruch entspricht der von Foucault in Die Wahrheit und die juristischen Formen32 diskutierten historischen Verschiebung des Rechtskonzepts zu Beginn des 19. Jahrhunderts: Damals wandelte sich das binäre Rechtsverständnis (in dem zwei Parteien sich einigen) zu einem triangulären (in dem eine dritte Instanz urteilt). Gretes moderner Rechtsanspruch kolli32 | Vgl. hierzu die Einleitung.

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diert jedoch mit einem Rechtssystem, das noch einer antiquiert erscheinenden Beweisführung folgt. In Grete Minde gilt ein Recht, das der preußischen Kriminalordnung von 1805 nachempfunden ist, die Weitin als »Hybrid zwischen altem und neuem Prozessrecht« bezeichnet.33 Grete erhält zwar einen öffentlichen Prozess, aber die Urteilsfindung ist an spezifische »Vorregulierungen« gebunden, die den »Ermessungsspielraum« des Richters limitieren und hinter denen sich »konkrete rechtssystemexterne Wertungen wie die Einstufung von Juden als prinzipiell unglaubwürdig« verstecken.34 In diesem System wird die Glaubwürdigkeit von Zeugen und Zeuginnen nicht anhand ihrer Aussagen, sondern anhand vorgeschriebener Kriterien bestimmt.35 Dementsprechend wird Gretes Fall nicht danach beurteilt, wie überzeugend oder wahrhaftig ihre Zeugenaussage ist, sondern nach einem sogenannten Zeugenkatalog. Die darin enthaltenen, über die Jahrhunderte um- und weiterentwickelten Kriterien »legten die Glaubwürdigkeit dem Stand, der Religion und den sonstigen Lebensumständen des Zeugen entsprechend von vornherein fest und bestimmten so a priori den Beweiswert seiner Aussage«.36 Diese Reglung sollte »der subjektiven Beurteilung des Richters möglichst wenig Spielraum […] lassen«.37 In Gretes Fall entscheidet also nicht eigentlich der Richter, sondern ein Katalog, der, insofern er die gesellschaftlichen Machtkonstellationen widerspiegelt, die Aussage einer Frau kategorisch der eines Mannes unterordnet. Es ist also gerade der – erst dem modernen Ideal nach unparteiische – Richter, dessen Urteil von einem parteiischen Zeugenkatalog determiniert wird. In Grete Minde sind die Zeugenaussagen von Gerdt und Grete die einzigen, die das Gericht berücksichtigt. Gretes Aussage ist in der Sache aber letztlich irrelevant, denn Gerdts Aussage hat von vornherein mehr Gewicht als ihre, ist er doch nicht nur ein Mann, sondern obendrein noch Ratsglied.

33 | Weitin, Zeugenschaft, 81. 34 | Weitin, Zeugenschaft, 81. Losch liest den Prozess in Grete Minde vor diesem Hintergrund als »unrichtige Rechtsausübung« und argumentiert, dass Grete »unmittelbar zum Widerstand berechtigt gewesen wäre«. Losch, »Widerstandsrecht bei Fontane«, 67f. Dem ist entgegenzuhalten, dass der Rechtsweg in Grete Minde durchaus eingehalten wird. Es liegt kein eigentlicher Verfahrensfehler vor; wie der Hinweis auf die Zeugenprotokolle verdeutlicht, haben wir es ja mit einem Rechtssystem zu tun, das Zeugnisse nach der sozialen Position und nicht nach Inhalt gewichtet. Losch geht von einer Deckungsgleichheit von Recht und Gerechtigkeit aus, die in der historischen Rechtslage keine Basis hat. Das Begehren, das Recht und Gerechtigkeit in eins fallen sollen, findet allein im Gretes Anspruch ein letztes Echo. 35 | Weitin, Zeugenschaft, 74-76. 36 | Weitin, Zeugenschaft, 74. 37 | Weitin, Zeugenschaft, 74.

III. Mimetische Effekte: Rache, Recht und Theater

In vollem Bewusstsein, dass der Rat seine Aussage anerkennen muss, ohne sie zu prüfen, begeht Gerdt Meineid. In dieser Situation bezichtigt ihn nun ausgerechnet seine Ehefrau Trude, die Grete immer feindselig gegenüberstand, Grete zu Unrecht ihr Erbe verweigert zu haben: »Ein Unheil giebt’s! […] Sprich nicht, Gerdt; ich lese Dir das schlechte Gewissen von der Stirn herunter. […] Sie hat ein Erbe.« (106, Hervorh. i.  O.) Der Text lässt somit kaum Zweifel daran, dass Gerdt Meineid begeht, welcher jedoch – wegen der bindenden Zeugenkatalogkriterien – juristisch nicht verfolgt oder auch nur als Unrecht registriert wird. Richter Guntz bleibt keine andere Wahl, als Gretes Klage abzuweisen: »Das ist Tangermünder Recht« – ein Recht, das er im selben Atemzug als »ein unbillig Recht, ein todtes Recht« bezeichnet (111f.), womit er selbst das Urteil als ungerecht bezeichnet. Nachdem das Urteil gesprochen ist, appelliert Richter Guntz an Gerdts »christliche[] Barmherzigkeit« (111), um Grete doch zu ihrem Erbe zu verhelfen. Doch damit verfährt der Richter genau entgegen Gretes Rhetorik. Während sie sich vom religiös konnotierten Rechtsgedanken der Gnade ab- und einer juristischen Rhetorik zuwendet, plädiert der Richter an Gerdts religiöse Werte. Gerdt aber lehnt erneut ab. Grete reagiert auf das Urteil zunächst gefasst; sie holt ihr Kind unter ihrem Mantel hervor, und »jetzt hob sie’s in die Höh’, wie zum Zeichen, daß sie’s nicht verheimlichen wolle« (112). Mit dieser Geste macht sie für alle sichtbar, dass das Urteil vor allem ihr Kind trifft. Das Urteil zeigt, welchen Einfluss das Recht auf die Wirklichkeit hat: »[…] a judgment is always to be taken for the truth«.38 Es geht dabei nicht um metaphysische Wahrheitskonzepte, sondern darum, dass die Interpretation, die das Urteil konstruiert, Wahrheit konstituiert. In dem Moment, in dem der Streit vor Gericht gebracht wird, entscheidet der Rat als dritte, übergeordnete Instanz über den Konflikt der Geschwister. Die Vergangenheit wird damit nicht nur interpretiert, sondern über sie wird ein rechtskräftiges Urteil getroffen, das verbindlich und für alle Zeit gilt. In diesem Sinne setzt das Recht Wirklichkeit. Das gerichtliche Urteil über die Erbfrage erkennt Gerdts Version der Familiengeschichte offiziell an und legalisiert sie damit, mit allen Konsequenzen. Obwohl Gretes Schwägerin und der Richter die Rechtmäßigkeit ihres Anspruchs bestätigen, erhält Gerdt Recht, weil letztlich seine Position entscheidend ist. Was Grete widerfährt, ist also kein Unrecht im juristischen, sondern im moralischen Sinne. Gretes Rache richtet sich dementsprechend gegen die Ungerechtigkeit ihres Bruders und gegen die Obrigkeit, die ihn bestätigt. Kurz, in Grete Minde ist das Auseinanderklaffen von Recht und Gerechtigkeit im Recht selbst angelegt.

38 | Peter Goodrich, »Screening Law«, in: Law and Literature 21/1 (Frühjahr 2009), 1-23, hier: 8.

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R echt oder das B egehren nach G erechtigkeit Das Erbrecht verklammert den persönlich-familiären mit dem öffentlich-rechtlichen Bereich. Laut Herbert Marcuse soll es das Verhältnis zwischen Staat und Familie regeln: »Indem das Eigentum in der Familie verankert und im Erbrecht durch die Geschlechterfolge garantiert wird, empfängt das Individuum sein Eigentum gleichsam von der Allgemeinheit selbst kraft einer ewigen Naturordnung zu Lehen und Dienst für die Allgemeinheit.«39 Eben diese Erbregelung sabotiert Gerdt und destabilisiert damit nicht nur Gretes Verhältnis zur Familie, sondern auch ihr Verhältnis zum Staat. In Grete Minde repräsentiert das Gerichtswesen eine institutionelle Gewalt, die Slavoj Žižek als »objective violence« bezeichnet. Gretes Rache als sichtbare, exzessive Gewalt fällt dagegen unter die Kategorie der ›subjektiven‹ Gewalt, »[that] is experienced as such against the background of a non-violent zero level«.40 Eben diesen vermeintlich gewaltfreien Normalzustand stellt Žižek in Frage; sein Begriff der objektiven Gewalt bezeichnet »precisely the violence inherent to this ›normal‹ state of things«.41 Diese vermeintlich unsichtbare, objektive Gewalt setzt sich aus der in der Sprache verankerten symbolischen und der systemischen Gewalt zusammen, die Žižek als katastrophale Symptome des politischen und ökonomischen Systems versteht. In Grete Minde wird das Gericht zum Raum, in dem die Mechanismen der objektiven Gewalt sichtbar werden. Da Gericht und Theater beide auf dieselben rhetorischen und performativen Requisiten zurückgreifen, eignet sich ihr Verhältnis laut Peter Goodrich besonders gut, um die Komplizenschaft zwischen Recht und Literatur aufzuzeigen.42 Im Verhältnis von Recht und Literatur werde »the social spectacle of law«43 sichtbar, das heißt die Konstruktion des Gesetzes entlang politischer und gesellschaftlicher Mächte. Goodrich hebt die kreativ-imaginären Kräfte hervor, die bei solchen Konstruktionen am Werke sind: »[…] the literary and the legal variously take on the illusion, the figures of social theatre they describe.«44 Als ›soziales Spektakel‹ beinhaltet der Gerichtsprozess in Grete Minde die Blaupause der Machtverhältnisse, deren objektive Gewalt ihren Höhepunkt darin findet, dass Gretes Geschichte, obwohl sie an-

39 | Herbert Marcuse, »Ideengeschichtlicher Teil«, in: Max Horkheimer et al.: Studien über Autorität und Familie. Forschungsbericht aus dem Institut für Sozialforschung, Bd. 5, Lüneburg: zu Klampen 1987, 136-228, hier: 185. 40 | Slavoj Žižek, On Violence, London: Profile Books 2009, 2. 41 | Žižek, On Violence, 2. 42 | Goodrich, »Screening Law«. 43 | Goodrich, »Screening Law«, 15. 44 | Goodrich, »Screening Law«, 2.

III. Mimetische Effekte: Rache, Recht und Theater

gehört wird, wegen ihrer gesellschaftlichen Position als mittellose Frau in juristischer Hinsicht folgen‑ und wirkungslos bleibt. Gerdts Verhalten in der Novelle reflektiert das der Stadträte im zugrunde liegenden historischen Fall. Diese versuchten, ihre ökonomischen Interessen zu sichern, so Birgit Jensen, »indem sie den Forderungen Margaretes zwar nachgaben, sich dann aber einmütig hinter Heinrich Minde stellten und Margarete und ihren neugeborenen Sohn aus der Stadt wiesen.«45 Um das Weiterbestehen ihrer Macht zu garantieren, reagiert der historische »Tangermünder Stadtrat […] auf einen unzeitgemäßen Störenfried wie Margarete Minde mit sozialer Ausgrenzung«.46 Fontane verlagert den (Interessen‑)Konflikt zwischen den »Stadtvätern« und Margarete auf den zwischen zwei Stiefgeschwistern. Damit werden Unrecht und Rache als individuelle Verfehlungen dargestellt, denen das Gerichtswesen nichts entgegenhalten kann und die es machtlos dulden muss. Obwohl Richter Guntz das Recht selbst als ungerecht und veraltet bezeichnet, setzt der Rat es dennoch um. Die Gerichtsszene stellt in Grete Minde die Macht der objektiven Gewalt aus, die von den Gesetzestexten und den ökonomischen Machtverhältnissen ausgeht und gegen die sich Gretes Rache als subjektive Gewalt richtet. Dabei versagt das Gerichtswesen moralisch, weil Gerdt als politisch machtvoller Akteur dessen Mechanismen ausnutzt. Die systemische Gewalt wird zwar repräsentiert, aber dadurch eingegrenzt, dass das Unrecht, das aus ihr resultiert, auf das Handeln eines Einzelnen zurückgeführt wird.47 Indem die Novelle das Versagen des Rechts mit Gerdts Meineid begründet, macht sie den juristischen Konflikt zu einem persönlichen. Das Rechtssystem erscheint hier letzten Endes als veraltet, aber nicht als per se korrupt – korrupt ist vielmehr der Einzelne. Um an das ihr zustehende Erbe zu gelangen, wählte Grete zunächst den Rechtsweg, der in der Novelle an Valtin, an fiktive Welten und alternative Lebensläufe gebunden ist. Wenn Grete vor Gericht zieht, entwirft sie eine neue Subjektposition jenseits der diskriminierenden Rolle, die ihr der Zeugenschaftskatalog zuweist. Hier zeigt sich für einen Moment ihr Potential, zur tragischen Heldin zu avancieren, deren vornehmliche Funktion nicht darin besteht, »zu vernichten«, was ist, sondern darin, »das Neue geltend zu machen und dadurch indirekt das Vergangene zu vernichten«.48 Dieser Weg kann aber nur in der Vorstellung erfolgreich beschritten werden, da ein Erfolg – und damit die Chance, ihr Verlangen nach Gerechtigkeit zu befriedigen – darauf 45 | Jensen, »Die Entfachung der kindlichen Vitalität«, 344. 46 | Jensen, »Die Entfachung der kindlichen Vitalität«, 344. 47 | Während in Grete Minde Gerdt Meineid begeht, war es im historischen Fall der Bürgermeister. Jensen, »Die Entfachung der kindlichen Vitalität«, 342. 48 | Kierkegaard, Über den Begriff der Ironie, 218.

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beruhen würde, dass Grete ihrem Bruder rechtlich gleichgestellt wäre. Im historischen Kontext der Novelle existiert diese Idee der Gleichstellung allein im Bereich der Imagination. Damit eröffnet die Fiktion – so tun, als ob das Recht sie als Gleichgestellte behandelte – einen Gegenentwurf zu der vom Recht gesetzten Wirklichkeit. Gretes mimetisches Begehren deckt einen Abgrund auf, der sich historisch daraus ergibt, dass im Gerichtswesen Recht und Gerechtigkeit auseinandertreten. Die vom Urteil gesetzte Wirklichkeit, die Grete als zutiefst ungerecht erfährt, reaktiviert ihr Verlangen nach Gerechtigkeit als Rachedurst. Desillusioniert von dem Verfahren verlässt Grete den Gerichtssaal; auf ihrem Weg nach draußen rezitiert sie noch einen Spruch, der nun an Gott als letzten Richter appelliert: »Verlaß Dich nicht auf Dein Gewalt, Dein Leben ist hier bald gezahlt, Wie du zuvor hast ’richtet mich, Also wird Gott auch richten Dich« (112, Hervoh. i. O.).

Grete hat diese Worte auf einer Tafel gelesen, die auf der Rückseite des Rathauses angebracht ist und die sie kurz vor ihrem Verfahren entdeckt – sie musste »schon alt sein, das ließ sich an dem graugrünen Moos und den altmodischen Buchstaben erkennen« (109). Die Positionierung der Inschrift an der »Rückwand« des Rathauses und die »altmodischen Buchstaben« suggerieren, dass es sich um einen veralteten, fast vergessenen Rechtsgedanken handelt, dem zufolge Gott am Ende für Gerechtigkeit sorgt (109). Wie ihr das Märchen immer wieder vorgelesen wurde, liest Grete nun diese Inschrift »immer wieder, bis sie jedes Wort auswendig wußte« (109). Sie eignet sich dieses Modell genauso an wie als Kind das des Märchens – sie verinnerlicht es durch Wiederholen – und aktiviert damit dessen mimetische Kräfte. Wenn Grete sich von ihrem Entwurf einer gleichgestellten Position vor Gericht ab- und wieder der Gerechtigkeitsidee des Märchens – der Rache – zuwendet, fällt sie bereits wieder aus der Rolle der potentiellen tragischen Heldin, die für etwas Neues kämpft, in die des ironischen Subjekts, wie Søren Kierkegaard es genannt hat. Dieses, so Kierkegaard, »besitzt das Neue nicht. Es weiß bloß dies, daß das Gegenwärtige der Idee nicht entspricht. Es ist dazu berufen, Gericht zu halten.«49 Grete zieht zunächst vor Gericht, um die untragbare Situation mit ihrem Bruder zu verhandeln. Als die scheitert, richtet sie selbst und straft die Gemeinschaft mit brachialer Gewalt, die nichts als Zerstörung zurücklässt. Dabei ist ihr Auftreten vor Gericht wie das des ironischen Subjekts »in einem gewissen Sinne prophetisch, denn [es] deutet beständig auf etwas Zukünftiges hin,« nämlich 49 | Kierkegaard, Über den Begriff der Ironie, 218.

III. Mimetische Effekte: Rache, Recht und Theater

auf die (damals nicht existente) Gleichstellung der Frau vor Gericht.50 Zugleich ist ihre »Stellung und Situation […] der des Propheten entgegengesetzt«, denn dieser »geht Hand in Hand mit seiner Mitwelt«, wohingegen Grete sich gegen ihre Mitwelt wendet als diese ihr die Existenzgrundlage nimmt.51 Grete kann von ihrem Verlangen nach Gerechtigkeit nicht ablassen oder, anders gesagt, sie ist nicht in der Lage, sich von ihrer Vorstellung von Gerechtigkeit zu verabschieden, welche sie (über das Erbe) mit ihren Eltern und (über das Märchen) mit Valtin und ihrer gemeinsamen Kindheit assoziiert. Die von Arndt beschriebene Geste des Abschiednehmens,52 die den Realismus durchzieht, zeigt sich in Grete Minde als Festhalten an einer Idee von Gerechtigkeit, die hier untrennbar mit einer geliebten Person verbunden ist. Die Rache erlaubt Grete diese Welt zu bewahren, in der sie zu einer Familie und zu Valtin gehört. Ein Abschied von dieser Idee, welche das Gerichtsurteil ihr abverlangt, würde auch einen endgültigen Abschied dieser Zugehörigkeit bedeuten. Als Grete nach dem Prozess den Marktplatz überquert, kann das Rathaus das in ihr auf brodelnde Verlangen nach Rache nicht mehr umlenken. Sie orientiert sich nun wieder am Gerechtigkeitsmodell, das sie sich in ihrer Kindheit angeeignet hat: an der Rache. Sie entfernt sich von diesem Ort, der von einem Symbol des Rechts zu einem des Unrechts geworden ist, und »richtete […] sich auf, wie von einem wirr-phantastischen Hoheitsgefühl ergriffen« (112, Hervorh. D. H.). An dieser Stelle nimmt die Rhetorik des (Auf‑)Richtens eine emanzipatorische Wendung – Grete wird vom Objekt, das andere aufrichten (könnten), zum Subjekt, das sich selbst aufrichtet. Am Anfang dieser Rhetorik steht Gretes Kniefall, mit dem sie ihren Bruder um Hilfe bittet; später entwickelt sich in ihr das Begehren, nicht von ihrem Bruder, sondern vom Gericht aufgerichtet zu werden, das wiederum dem Begehren Platz macht, dass in ihrem Fall gerichtet, der Sachverhalt also sowohl ›korrigiert‹ als auch juristisch ›beurteilt‹ werde. Diese letzte Drehung der Rhetorik des (Auf‑)Richtens legt die gemeinsamen Wurzeln offen, die in der Novelle Selbstbestimmung und Rache verbinden: Grete reagiert nicht mehr, sondern verfolgt aktiv ihr Ziel, das ihr widerfahrene Unrecht zu richten. Dass Grete genau in diesem Moment von einem »wirr-phantastischen Hoheitsgefühl« erfasst wird, verleiht diesem emanzipatorischen Subtext allerdings eine pathologische Note. Einem ähnlichen emanzipatorischen Impuls, der sogleich eingegrenzt wird, begegnen wir in Die schwarze Spinne, nämlich in Christines Affront gegen den Teufel, wenn sie sich so verhält, als ob sie ihm als Vertragspartnerin gleichgestellt wäre. Grete durchläuft allerdings den gegensätzlichen Prozess von Christine, die von 50 | Kierkegaard, Über den Begriff der Ironie, 218. 51 | Kierkegaard, Über den Begriff der Ironie, 218. 52 | Zum Konzept des Abschiednehmens bei Arndt siehe die Einleitung.

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der Vertragspartnerin, die (sich) versprechen kann, zum leibeigenen Spinnentier des Teufels wird. Nichtsdestotrotz rebellieren beide Frauen gegen Unrecht und damit beinhalten beide Rachegeschichten eine, wenngleich sehr subtile, Emanzipationsgeschichte. Doch beide Novellen diskreditieren diese von ihren Autoren wohl kaum beabsichtigte weibliche Emanzipation letztlich ganz entschieden: In Die schwarze Spinne geht Christine einen Pakt mit dem Teufel ein und unterliegt seiner Gewalt; Grete Minde lässt zwar keinen Zweifel daran, dass Grete Unrecht erfahren hat und begründet damit zunächst Gretes Rachedurst – aber letzten Endes endet ihre Rebellion im Kindermord.

R ache als N achstellen des V erlusts Gretes Rachedurst wird durch das ihr widerfahrende Unrecht geschürt. Erst durch das Urteil wird Gerdts Haltung verwirklicht, d.h. zu einer Realität, die Grete nicht revidieren oder uminterpretieren kann. Ihre Rache richtet sich gegen die beiden Instanzen, die ihr Unrecht zugefügt haben, gegen ihren Bruder und gegen die Tangermünder Stadtregierung: Sie brennt ihre Heimatstadt mitsamt ihrem Elternhaus nieder und reißt außer ihrem eigenen auch Gerdts Kind mit in den Tod. Dadurch verwandelt sie die Welt um sie herum in ein Spiegelbild ihrer inneren von Verlust zersetzten Welt – in eine Aschelandschaft der Zerstörung. Diese Einäscherung der Welt erinnert an Kleists Darstellung von Michael Kohlhaas’ Rachefeldzug, in dem er halb Deutschland niederbrannte.53 Gretes wie Kohlhaas’ Brandstiftungen zeugen von einer von Trauer durchsetzten Rache, die auch die folgenden Generationen (be‑)trifft. In Kleists Novelle werden Kohlhaas’ Kinder zu Rittern geschlagen und mit dieser Geste an ihren Landesherrn gebunden. Wenn er am Ende mit dem ominösen Zettel das Wissen mit in den Tod nimmt, wer die Dynastie seines Gegners, des Kurfürsten, beenden wird, richtet sich dieser letzte Racheakt explizit gegen die Nachfolger und die Zukunft der Dynastie. Als Kohlhaas Augenblicke vor seiner Exekution den »wohl bekannten Mann«, den Kurfürsten, in der Menge wahrnimmt, löst er

53 | Kleists Text führt genau Buch über die Häuser und Kirchen, die Kohlhaas niederbrennt. Die Verbindung zwischen Rache und Trauer ist in Michael Kohlhaas noch expliziter als in Grete Minde, da in Kleists Text Kohlhaas’ Rache direkt auf den Tod seiner Frau folgt und er buchstäblich von ihrem Grab zu seinem Rachefeldzug aufbricht. In beiden Fällen beinhaltet Rache eine Unfähigkeit zu trauern, wenn beide Figuren sich in den brutalen Aktionismus ihrer Rache stürzen. Den Zusammenhang von Rache und Trauer werde ich im folgenden Kapitel zu Andrea Delfin betrachten.

III. Mimetische Effekte: Rache, Recht und Theater

die Kapsel von der Brust; er nahm den Zettel heraus, entsiegelte ihn, und überlas ihn: und das Auge unverwandt auf den Mann mit blauen und weißen Federbüschen gerichtet, […] steckte er ihn in den Mund und verschlang ihn. Der Mann mit blauen und weißen Federbüschen sank, bei diesem Anblick, ohnmächtig und in Krämpfen nieder. 54

Auch wenn Kohlhaas’ Handeln streckenweise wahnsinnig erscheint, sticht in diesem letzten Moment sein berechnendes Wesen heraus. Seine Rache richtet sich auch gegen die Kinder des Kurfürsten, allerdings bedient er sich nicht physischer, sondern psychischer Gewalt, um seinen Gegner in die Knie zu zwingen. Grete rächt dagegen Gerdts ungerechtes Handeln gegen ihr Kind, dem er ein Zuhause und mit dem Erbe die Existenzgrundlage verweigert, mit physischer Gewalt. Indem die Rache die Kinder mit einbezieht, weist sie auch in Michael Kohlhaas und Grete Minde in die Zukunft. Worin sich beide Werke jedoch wesentlich unterscheiden, ist die Art und Weise, wie Rache dargestellt wird. Während Kohlhaas’ Rache im Text minuziös nachgezeichnet wird und jedes Haus, das er abbrennt, aufgezählt wird, wirken Gretes Motive und ihre Taten zunehmend verschwommen. Wie die tatsächlichen Rachehandlungen in Grete Minde präsentiert werden, untergräbt die Rebellion gegen das Unrecht, die sie motiviert. Als Grete ihren Rachefeldzug beginnt und die Scheunen der Stadt anzündet, rückt ihr Wahnsinn in den Vordergrund, der sich schon bei ihren ersten Rachefantasien vom roten Männchen bemerkbar machte. Grete versteckt sich zunächst in einer der Scheunen und wartet auf die Abenddämmerung: Endlich aber blieb die Helle fort, und sie wußte nun, daß es wirklich Abend geworden. Und darauf hatte sie gewartet. Sie bückte sich und tappte nach ihrem Bündel, das sie bei Seite gelegt, und als sie’s gefunden und sich wieder aufgerichtet hatte, gab es im Dunkeln einen blassen, bläulichen Schein, wie wenn sie einen langen Feuerfaden in ihrer Hand halte. Und nun ließ sie den Faden fallen und kroch, ohne sich umzusehen, aus der Fachwerköffnung wieder ins Freie hinaus. (114)

Auf den ersten Blick ist nicht klar, was hier genau beschrieben wird – was tut Grete hier eigentlich? Sobald sie ihre Tat ausgeführt hat und sich wieder aufrichtet, geht der Text paradoxerweise in eine unpersönliche Form über – nun »gab es […] einen blassen, bläulichen Schein«. In der abgeschlossenen Vergangenheit beschrieben, rückt die Szene in eine Ferne, die keinen empathischen Bezug zu Grete erlaubt. Alles, was wir von ihr wissen, ist, dass sie darauf gewartet hatte, dass es Abend wird, um etwas zu tun, aber ihr Beweggründe wie auch ihr tatsächliches Handeln bleiben unklar. Dass der Text dann auch noch 54 | Kleist, »Michael Kohlhaas«, 141.

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ausgelöst durch das »wie wenn« in den Konjunktiv wechselt, lässt die Ereignisse gänzlich irreal erscheinen, bis wir endlich ein paar Zeilen später das Resultat des herabgefallenen »Feuerfadens« erfahren: »Endlich drängte sich ein schwarzer Qualm aus der Dachöffnung« und »eh noch eine Viertelstunde um war, schlug an zwanzig Stellen das Feuer auf« (115). Die Brandstiftung wird zum einen mittels des Konjunktivs in Ambivalenz getaucht und zum anderen fehlt der im Modus des Irrealen beschriebenen Passage ein Subjekt. Wenn die narrative Stimme schlicht zu »gab es im Dunkeln einen blassen, bläulichen Schein« übergeht, scheint es fast, als würden die Dinge einfach geschehen, ohne dass jemand handelt. Peter Demetz liest den Wechsel in den Konjunktiv als Beweis, »daß der Erzähler selbst davor zurückschreckt, das Verbrechen als persönliche Aktion darzustellen«, und daher »ins Unpersönliche und zur Rhetorik des wie-wenn« zurückgreife, und versteht dies als »eine Korrektur, die das mögliche Kunstwerk fast zerstört«.55 Ich lese diesen Wechsel in den Konjunktiv demgegenüber zunächst als Ausdruck von Gretes persönlicher Pathologie und damit als Fontanes Versuch, Gretes Rache-Exzess grammatikalisch wie psychologisch einzugrenzen. Wahnsinn und distanzierte Erzählhaltung bilden in Grete Minde zwei narrative Strategien, welche die Rache an eine verzerrte Wahrnehmung koppeln und damit diskreditieren. Zugleich signalisiert dieses Kippen in den Konjunktiv die Grenze dieser Strategie: Es markiert den Moment, in dem der Text selbst für einen Augenblick wie vom Wahnsinn ergriffen wird und in eine ambivalente Beschreibung der Ereignisse verfällt, die sich einer eindeutigen Interpretation schlicht verweigert. Der Modus des Irrealis steigert sich, wenn Grete »in vollem Irrsinn« (116) den Sohn ihres Bruders entführt und mit ihm und ihrem eigenen Kind auf den bereits in Flammen stehenden Kirchturm steigt. Sie blickt auf die brennende Stadt hinab: »Ein Feuermeer unten die ganze Stadt; Vernichtung an allen Ecken und Enden, und dazwischen ein Rennen und Schreien, und dann wieder die Stille des Todes.« (116) Der Anblick von Gretes Rache wird hier als reiner Nominalsatz wiedergegeben – ohne Verb erstarrt der Text mit diesem Satz plötzlich zum Bild. Ein Nominalsatz stellt laut Émile Benveniste »eine zeitlose und dauernde Beziehung auf« und hat »den Wert eines Arguments, eines Beweises, einer Referenz«.56 In der narrativen Struktur von Grete Minde zeichnet sich Rache also nicht in Form des traumatischen Präsens ab, sondern als zeitlose Referenz, die wie im Schock gefroren ist. Dieser Stillstand wird aber sogleich von Gretes Handeln aufgelöst:

55 | Peter Demetz, Formen des Realismus: Theodor Fontane. Kritische Untersuchungen, Frankfurt a.M.: Ullstein 1973, 84. 56 | Benveniste, Probleme der allgemeinen Sprachwissenschaft, 183-186.

III. Mimetische Effekte: Rache, Recht und Theater

[…] sie sah, wie sich vom Platz aus Aller Blicke nach der Höhe des Thurmes und nach ihr selbst richteten. Unter denen aber, die hinaufwiesen, war auch Gerdt. Den hatte sie mit ihrer ganzen Seele gesucht, und jetzt packte sie seinen Knaben und hob ihn auf das Lukengebälk, daß er frei dastand und im Wiederscheine des Feuers von unten her in aller Deutlichkeit gesehen werden konnte. Und Gerdt sah ihn wirklich und brach in die Knie und schrie um Hülfe. (117, Hervorh. i. O.)

Grete erklimmt den Glockenstuhl, als würde sie einer theatralischen Bühnenanweisung folgen. Wie die Rache Michael Kohlhaas’ kommt auch die Gretes ohne bittere Rhetorik aus und vollzieht sich allein durch Blicke und Gesten. Gretes Rache ist wortlos und doch wird in ihren Gesten die Geschichte ihrer Verluste lesbar. Auf dem Kirchturm stehend nimmt sie eine erhöhte Position ein, die an die des Rachevogels im Märchen vom Machandelboom oder auch an die der Titelfigur in Senecas Medea57 erinnert und von der aus sie alle Blicke auf sich zieht. Ihr Blick sucht jedoch allein ihren Bruder, um vor seinen Augen ihre finale grausame Geste zu vollziehen: Sie hebt seinen Sohn auf das brennende Lukengebälk und invertiert damit Gerdts Weigerung, ihr eigenes Kind aufzunehmen. Zugleich stellt sie ihre vor Gericht vollzogene Geste nach, als sie ihr eigenes Kind in die Höhe hob, damit der Rat es sehen konnte. Mit dieser Racheszene wendet sich Grete gegen die Weigerung von Bruder und Gemeinschaft, sie als Schwester bzw. Bürgerin anzusehen.58 Grete inszeniert ein Gegenbild zu dieser Wirklichkeit, in der weder sie noch ihr Kind als Erben anerkannt werden, wenn sie sich nun zu derjenigen macht, auf die alle ihre Blicke richten und die nun ihren Bruder, der sie liegen ließ, in die Knie zwingt. Entgegen 57 | Anders als in Euripides’ Stück, in dem die Kinder nicht auf der Bühne getötet werden, steigt Medea in Senecas Version in der letzten Szene, als im Hintergrund schon der Palast brennt, mit den Kindern, von denen sie eines bereits getötet hat, auf den Dachfirst, tötet dort vor Jasons Augen auch das zweite Kind und wirft ihm dann beide Kinderleichen vor die Füße, bevor sie in einem Drachenwagen in den Himmel entflieht. Ob sie ihre Kinder aus Rache oder Verzweiflung ermordet, gehört zu den meistdiskutierten Fragen des Medea-Mythos. Wenn Grete in ihrem erweiterten Suizid nicht nur sich selbst und ihr Kind ermordet, sondern auch Gerdts Sohn mit in den Tod reißt, wird sie wie Medea als Figur gezeichnet, die immer mehr dem Wahnsinn verfällt. Vgl. Seneca, Medea, Stuttgart: Reclam 2003. 58 | Giel liest Gretes Konflikte mit der Stadtgemeinde als »allgemeine menschheitsemanzipatorische Problematik« und als Versuch Gretes, aus der »selbstverschuldeten Unmündigkeit« im Sinne Kants auszubrechen. Giel, »1. Zur Anlage des Aufsatzes von Klaus Globig«, 70. Dieser Ansatz unterschlägt allerdings sowohl den gender-spezifischen Aspekt des Konflikts als auch die Rolle, die Familie, Recht und Gemeinschaft in Bezug auf Gretes Außenseiterposition spielen.

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der mit dem Gerichtswesen assoziierten Rhetorik des Aufrichtens entfaltet sich Gretes Rache als Sequenz der Zusammenbrüche. Ihre Rache kulminiert in einem tragischen Kataklysmus, denn noch bevor jemand die brennende Kirche erreichen kann, »stürzte die Schindeldecke prasselnd zusammen, und das Gebälk zerbrach, an dem die Glocken hingen, und Alles ging niederwärts in die Tiefe« (117). Dabei speist sich Gretes Rache aus den Modelltexten, die sie im Verlauf der Novelle durchgespielt hat, und bildet eine Zitatcollage der Zerstörung. So stellt Grete in ihrer Rache die von ihr erlittenen Verluste nach, wobei das mimetische Verhältnis zwischen dem Unrecht, das sie erlebt hat, durch den Exzess der Rache, mit dem sie darauf reagiert, fast bis zur Unkenntlichkeit verzerrt ist. In Grete Minde zeigt sich Rache somit als ein Nachstellen (Heidegger) erlittenen Unrechts. Ihr Exzess nivelliert jedoch ihren Gerechtigkeitsanspruch. Mit diesem Ende weicht Grete Minde deutlich von den historischen Geschehnissen ab, in denen die reale Margarete wegen Brandstiftung angeklagt, gefoltert und hingerichtet wurde. Die Brutalität des Umgangs mit Margarete demonstriert den Umgang des Rechts mit Rächern und Rächerinnen und damit auch das Verhältnis des modernen Gerichtswesens mit seiner eigenen Vorgeschichte. In diesem Sinne lässt sich in Bezug auf das Gerichtswesen selbst ebenfalls von einem mimetischen Begehren sprechen. Das Begehren des Gerichtswesens ist (wie das der Rache) auf eine Form des Ausgleichs gerichtet und nimmt sich damit die Rache zwar zum Modell, strebt aber zugleich an, individuelle Rache zu bannen bzw. zu ersetzen. Fontanes Grete entzieht sich nicht nur dem Prozedere eines Verfahrens wegen Brandstiftung, sondern lässt auch potentielle Rachegelüste, die ihr Bruder gegen sie oder ihre Nachkommen hegen könnte, ins Leere laufen. Fontane legt den Fokus zwar auf Gretes Vorgeschichte und liefert somit eine Begründung für ihr Verhalten; er fügt jedoch auch den Kindermord hinzu, den keine Erklärung rechtfertigen kann. Anders als in ihren Rachefantasien, in denen sie sich vorstellte, dass Gerdt von einem Kobold bestraft wird, imitiert sie mit ihrem Racheakt nicht nur das abscheuliche Verhalten ihres Bruders, sondern übertrifft seine Gewalt auch noch bei Weitem.59 Darin, dass sie auch die Kinder, also die nächste Generation der Familie umbringt und damit eine dauerhafte Familienfehde verhindert, bevor sie sich überhaupt als Möglichkeit präsentiert, erscheint ihre Rache als verzerrte Ver59 | Thomas weist auf die Gefahr hin, dass Rächer und Rächerinnen am Ende zu dem werden, was sie eigentlich zu bekämpfen meinen: »Acts of revenge, however, risk precipitating the repetition of untamable cycles of violence and threaten the avenger with a similar dehumanizing effect that occurred in response to the original trauma.« Thomas, »An Eye for an Eye«, 308.

III. Mimetische Effekte: Rache, Recht und Theater

sion des mimetischen Begehrens des Gerichtswesens, als mimetischer Exzess. Dieser Exzess zeigt sich auch im Feuer – dem Medium ihrer Rache –, das ihren Heimatort in Schutt und Asche legt. Dieses Bild des Ortes, der gewissermaßen dem Erdboden gleichgemacht wird, wirkt wie ein entstellter Ausdruck des Begehrens nach ausgleichender Gerechtigkeit als eines Gleichmachens, das sich hier als katastrophales Einebnen materialisiert. Indem sie sich und den Kindern das Leben nimmt, vermeidet Grete zwar eine Auseinandersetzung mit der Justiz, aber zugleich realisiert sie damit das Begehren des Gerichtswesens, dem Exzess der individuellen Rache ein Ende zu setzen. Das Ziel der Rache und das des Rechts fallen somit auf unheimliche Weise in eins. In Grete Minde versagt Rache jedoch darin, Gerechtigkeit zu bewirken und generiert am Ende nichts als Zerstörung. In diesem Sinne imitiert Fontanes realistische Novelle das Ziel des Gerichtswesens, Rache einzugrenzen. Dabei kommen verschiedene narrative Strategien zum Einsatz, um Rache als reinen Gewaltexzess zu disqualifizieren. Dadurch dass Grete als Wahnsinnige präsentiert wird und die Novelle letztlich selbst auf Distanz zu ihrer Figur geht, tritt das Unrecht, das ihr widerfahren ist, zunehmend in den Hintergrund. Dieses Begehren, Rache zu disqualifizieren, bestimmt auch das Ende der Novelle, das uns gleich zweimal darauf aufmerksam macht, dass Gretes Rache nicht die leisesten Auswirkungen auf ihr Umfeld hatte. Der Text endet nämlich keinesfalls mit Gretes Racheexzess – von dem Bild des einbrechenden Kirchturms wechselt der Text vielmehr zum Alltagsgeschehen im Arendseer Frauenstift, auf dessen Friedhof Valtin begraben liegt: »[…] alles war wie sonst. Die Fenster standen offen, und das Feuer brannte drinnen im Kamin« (117). In dieser idyllischen Atmosphäre erhalten die Nonnen60 die Nachricht, »Tangermünde liegt in Asche« (118), und denken sofort an Grete. Die Domina erinnert an ein Zeichen, das sie meint, auf Gretes Stirn gesehen zu haben, und integriert die Rachegeschichte so in den Diskurs einer schicksalhaften Fügung. Um nochmal zu unterstreichen, dass sich durch Gretes Rache rein gar nichts geändert hat, schiebt der Text sogleich noch einen zweiten Beleg nach: Am Abend aber gaben die Puppenspieler den »Sündenfall«. Der Saal war gefüllt und der Beifall war groß. Niemand achtete des Wechsels, der in Besetzung der Rollen stattgefunden hatte. Zenobia spielte den Engel. (118) 60 | Das Kapitel, in dem Grete die Nonnen kennenlernt, heißt »Nonnen von Arendsee«, obwohl den Frauen dieser Titel bereits aberkannt worden war. Als Katholikinnen (wie Grete und ihre Mutter) stehen sie im Konflikt mit dem ansässigen Priester, der Valtin nicht auf dem protestantischen Friedhof begraben wollte, weil er dessen Glauben anzweifelte. Die ehemaligen Nonnen haben also wie Grete ihren Platz in der Gesellschaft verloren und erlauben der Außenseiterin Grete, Valtin auf dem Friedhof des Klosters zu beerdigen.

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Am Ende steht die zweifach betonte Rückkehr zum Alltag, »alles war wie immer« und »niemand achtete des Wechsels«, der Gretes Tod geschuldet ist. Diesen Bildern, die Kontinuität versprechen, steht das Bild von Gretes Racheakt entgegen, der eben nicht wie im Märchen einfach ungeschehen gemacht werden kann. Grete steht weiter auch für die Möglichkeit, dass »the clear partition of identities, activities, and spaces«61, um mit Rancière zu sprechen, verstört und unterlaufen werden kann. Ihre Rache bleibt eine Rebellion gegen das Recht und gegen dessen Macht, Wirklichkeit zu setzen. Allerdings ist für das Unrecht, das Grete wiederfährt, in erster Linie ihr Bruder verantwortlich. In Paul Heyses Andrea Delfin spitzt sich – wie ich im Folgenden zeigen werde – die Spannung zwischen Rächer und Staat zu, weil es hier nicht ein Einzelner, sondern der Staat ist, der sich korrupt verhält.

61 | Rancière, The Politics of Aesthetics, 8.

IV. Rache als Unfähigkeit zu trauern

Paul Heyses Andrea Delfin (1859)

Mit der bösen Tat ist’s wie mit den Kirschen, schüttelt man eine herunter, so fallen zwanzig nach, und dieses Blut wird viel Blut kosten.1

In Andrea Delfin (1859) kehrt der für tot gehaltene Adelige Candiano im Jahr 1762 unter dem falschem Namen Andrea Delfin nach Venedig zurück, um sich an der Staatsinquisition zu rächen, die seine Familie ermordet und einen Anschlag auf sein Leben verübt hat. Das am besten gehütete Geheimnis des Tribunals ist die Identität der drei Staatsinquisitoren, die den Kopf von Regierung und Justiz bilden. Gegen diese Staatsgewalt richtet sich Delfins Rache: Er will den Staat zum Zusammenbruch bringen, indem er die Mitglieder des geheimen Tribunals ermordet. Doch nachdem er zwei Anschläge auf Inquisitoren verüben konnte, geht sein Plan schief: Er tötet versehentlich seinen besten Freund, den Baron Rosenberg. Ohnehin bereits totgeglaubt, nimmt sich Delfin daraufhin selbst das Leben – womit er paradoxerweise den Wunsch der Staatsgewalt erfüllt, die ihn von Beginn an tot sehen wollte. In der Novelle erschüttern Delfins Rachemorde den von der machthungrigen Staatsinquisition geprägten Alltag Venedigs. Laut Goethe sind es derartige »unerhörte Begebenheiten«,2 welche die Novelle als literarische Gattung charakteri-

1 | Paul Heyse, Andrea Delfin. Prosa und Gedichte, Berlin: Aufbau Taschenbuch Verlag 1994, 68. Zitate aus der Novelle werden im Folgenden unter Angabe der Seitenzahl direkt im Text nachgewiesen. 2 | Gespräch vom 20. Januar 1827, in: Eckermann, Gespräche mit Goethe, 203. Während Hugo Aust Goethes von Eckermann fixierten »Moment der Begebenheit« in der »Novellengeschichte als durchaus fruchtbare Kennzeichnung« betrachtet (Aust, Novelle, 9), hinterfragt Korten, »ob Goethes Diktum mehr als eine bloße Übertragung der italienischen novella liefert«, und liest das Unerhörte im Sinne von ungehört, neu. Korten, Poietischer Realismus, 12. Die Stärke von Goethes Begriff liegt meines Erachtens gerade in der doppelten Bedeutung von unerhört als bisher ungehört und

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sieren.3 Paul Heyse knüpft an Goethes Verständnis an; für ihn erlebte die Novelle im Realismus zudem nicht nur eine Renaissance;4 er sah sie als das Genre seiner Zeit. In ihr gehe es um das Alltägliche, um das »Thatsächliche«, das nicht mehr – wie noch in der romantischen Novelle – vom Märchenhaften regiert werde.5 unfassbar und in den kriminologischen Implikationen des Begriffs Begebenheit. Vgl. hierzu Hugo Aust, Novelle, Stuttgart: Metzler 1990, 9-12. 3 | Nach Tom Kindt kennzeichnet eine solche »Fokussierung eines Geschehensmoments« die Handlung der Novelle, die gerade »keine kanonische Gattung« darstellt, da es ihr an einer »normativen Poetik fehlt«. Tom Kindt, »Novelle«, in: Dieter Lamping et al. (Hg.), Handbuch literarischer Gattungen, Stuttgart: Kröner 2009, 540-549, hier: 540542. Boccaccio gilt als Begründer der Novelle, sein Dekameron hat ihr eine literarische Form verliehen, aber kein theoretisches Fundament gelegt. In diesem Sinne bezeichnet Hannelore Schlaffer die Novelle als ein Stiefkind unter den Gattungen: »Seit ihrer Entstehung begleitete die Tragödie eine Poetik; der Novelle hingegen fehlt der Aristoteles.« Hannelore Schlaffer, Poetik der Novelle, Stuttgart: Metzler 1993, 5. Als erster Theoretiker der Novelle gilt Friedrich Schlegel. Siehe etwa Aust, Novelle, 27f. Zu Heyses Gedanken zur Novelle siehe etwa: Christiane Ullmann, »Form and Content in Heyse’s Novelle Andrea Delfin«, in: Seminar. A Journal of Germanic Studies 12/1 (Feb. 1977), 109-120; Winfried Freund, »Einleitung – ›… und ob es eine Tat war oder ein Ereignis …‹ Ein Versuch über die Novelle«, in: Winfried Freund (Hg.), Deutsche Novellen. Von der Klassik bis zur Gegenwart, München: Fink 1993, 7-13; Rainer Hillenbrand, »Heyses sogenannte Falkentheorie«, in: Roland Berig und Walter Hettche (Hg.), Paul Heyse. Ein Schriftsteller zwischen Deutschland und Italien, Frankfurt a.M.: Peter Lang 2001. 4 | Heyse betont, dass die »Wendung zum Realismus« der Novelle davon abhing, dass der »soziale und künstlerische Geist im allgemeinen« einen Wandel durchlief. Der Fokus auf das Tatsächliche, das die Novelle im Realismus auszeichnet, bildet den gemeinsamen Nenner verschiedener von Heyse genannter epochaler Veränderungen seit der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts, die von der Entwicklung neuer empirischer Methoden in den Naturwissenschaften über die Etablierung der quellenbasierten Geschichtsschreibung bis zur Expansion des Journalismus reichen. Paul Heyse, »Einleitung zum Deutschen Novellenschatz«, in: Paul Heyse: Andrea Delfin. Prosa und Gedichte, Berlin: Aufbau Taschenbuch Verlag 1994, 245-257, hier: 248. Ich verstehe die Veränderungen des Rechtswesens als Teil dieser Modernisierung, die in realistischen Novellen zur Darstellung kommt. 5 | Goethe bleibt für Heyse zwar der »Begründer der deutschen Novelle«, aber erst mit Johann Ludwig Tieck »datiert der Aufschwung dieser Gattung bei uns«; denn Tieck habe die Novelle »aus der Zaubernacht und Dämmerung der Romantik in das helle Tageslicht« geführt. Heyse, »Einleitung zum Deutschen Novellenschatz«, 246f. In Die Judenbuche und Die schwarze Spinne finden sich gerade in Bezug auf die Rache noch Restbestände des Märchenhaften, allerdings ist das Übersinnliche dort keine allgemein anerkannte Größe mehr, sondern existiert nur noch in der Wahrnehmung Einzelner.

IV. Rache als Unfähigkeit zu trauern

Strukturell um ein »Grundmotiv«6 angeordnet, soll die Novelle »etwas Eigenartiges, Specifisches schon in der bloßen Anlage«7 haben und inhaltlich dadurch bestechen, dass in ihr »der Ausnahmefall, das höchste, individuelle und allerpersönlichste Recht im Kampf der Pflichten, seine Geltung findet«.8 In Andrea Delfin stellt Rache dieses »Eigenartige[], Specifische[]« dar, denn als individuelles Streben nach Gerechtigkeit bildet sie einen »Ausnahmefall« im Regelwerk der Justiz. Nach Heyses Definition stellt Rache gewissermaßen das Novellenmotiv par excellence dar. Doch ist seit den Griechen nicht das Drama das Genre der

6 | Heyses Begriff des »Grundmotivs« erinnert an Tiecks Gedanken des »Wendepunkts« und Goethes »unerhörte Begebenheit«; alle drei Dichter sind sich darin einig, dass die Novelle ein überraschendes Ereignis enthalten soll, das die Handlung neu ausrichtet – wie Delfins Rachemorde, die den Alltag Venedigs erschüttern. Johann Ludwig Tieck, Kritische Schriften, Bd. 2, Leipzig: Brockhaus 1829, 376-388. In diesem Sinne resümiert Ullmann: »Heyse’s theory is basically a continuation of Tieck’s idea of the Wendepunkt and Goethe’s concept of the unerhörte Begebenheit. Heyse’s contribution to the German Novellentheorie is found in his insistence that a précis should form the basis of a Novelle«. Ullmann, »Form and Content in Heyse’s Novelle Andrea Delfin«, 112. Die Möglichkeit, einen Text in wenigen Sätzen zusammenzufassen, scheint mir (auch wenn Heyse dies als Merkmal nennt) weniger ein für die Novelle fruchtbares Gattungsmerkmal abzugeben als zu betonen, wie wesentlich ein zentrales Grund- bzw. Leitmotiv für die Gattung ist. 7 | Heyse, »Einleitung zum Deutschen Novellenschatz«, 254. Zur Exemplifizierung eines solchen Grundmotivs führt er eine Erzählung aus Boccaccios Dekameron an. Darin tötet der verarmte Adelige Federigo seinen geliebten Falken, um Donna Giovanna zu beeindrucken, die sich bei ihm zum Essen eingeladen hat. Doch ausgerechnet diesen Falken wollte Giovanna erbitten, da ihr im Sterben liegender Sohn einzig nach ihm verlangt hatte. Entgegen der verbreiteten Forschungsmeinung, die Heyses Anmerkungen zur Novelle als Falkentheorie bezeichnen, hält Hillenbrand dies für gänzlich verfehlt und argumentiert, dass der »berühmte ›Falke‹ im Grunde nur eine Kompositionstechnik« sei, welche »im aristotelischen Sinne den Stoff nicht nur wiedergibt, sondern auch formt, also Mimesis mit Poiesis verbindet«. Hillenbrand, »Heyses sogenannte Falkentheorie«, 83. Siehe hierzu auch Ullmann, »Form and Content in Heyse’s Novelle Andrea Delfin«, 113. Hillenbrand zufolge wollte Heyse letztlich der »Gefahr der Formlosigkeit und des Formalismus in der modernen Novellistik« ein »Gegenmittel« entgegenstellen, nämlich einen »klar faßbaren Handlungskern«. Hillenbrand, »Heyses sogenannte Falkentheorie«, 81. Die hier zu Andrea Delfin angestellten novellentheoretischen Überlegungen beschränken sich auf die Bedeutung der unerhörten Begebenheit sowie auf einzelne Referenzen auf Heyses Verständnis der realistischen Novelle. 8 | Heyse, »Einleitung zum Deutschen Novellenschatz«, 251.

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Rache? Sollten wir die realistische Novelle als »Schwester des Dramas« ansehen, wie Theodor Storm vorschlägt?9 »Nil humani a me alienum puto – Alles, was eine Menschenbrust bewegt, gehört in meinen Kreis«, so lautet bei Heyse die »Loosung« der Novelle.10 Unter »alles« versteht er allerdings in erster Linie den »Ausnahmefall«, und zwar genau die »Fälle, die sich durch den Eigensinn der Umstände und Charaktere und eine durchaus nicht allgemein gültige Lösung der dramatischen Behandlung entziehen«.11 Während das Drama sich mit dem Exemplarischen beschäftige, verwerte die Novelle auch das »bis an die Grenze des Häßlichen sich Verirrende«. Das »helle Tageslicht«,12 zu dem uns die realistische Novelle führen soll, unterscheidet sich also explizit von Schillers Idee der Bühne als Plattform für »sittliche Bildung« und »die ganze Aufklärung des Verstandes«.13 Wie vom Drama grenzt Heyse die Novelle auch vom Roman ab, der keine Momentaufnahmen, sondern eine ganze Welt darstellen wolle: »Wenn der Roman ein Cultur- und Gesellschaftsbild im Großen, ein Weltbild im Kleinen entfaltet, […] so hat die Novelle in einem einzigen Kreise, einen einzelnen Conflict, eine sittliche oder Schicksals-Idee.«14 Die Novelle unterscheidet sich also von Roman und Drama vor allem darin, dass sie nicht den Anspruch hat, etwas Allgemeingültiges darzustellen.15 Als »Experiment« lasse sie höchstens eine Andeutung auf ein großes Ganzes »durchschimmern«.16 In den hier diskutierten Novellen lässt sich aus der Rache in der Tat kein alternatives Prinzip zur bestehenden Justiz ableiten, da die Rächer und Rächerinnen einen zutiefst subjektiven Gerechtigkeitsgedanken verfolgen, der sich 9 | Theodor Storm, »Eine zurückgezogene Vorrede aus dem Jahre 1881«, in: Theodor Storm, Sämtliche Werke. Märchen. Kleine Prosa, Bd. 4, hg. von Dieter Lohmeier und Karl Ernst Laage, Frankfurt a.M.: Deutscher Klassikerverlag 1988, 408-410, hier: 409. 10 | Heyse, »Einleitung zum Deutschen Novellenschatz«, 251. 11 | Heyse, »Einleitung zum Deutschen Novellenschatz«, 251. 12 | Heyse, »Einleitung zum Deutschen Novellenschatz«, 247. 13 | Friedrich Schiller, »Was kann eine gute stehende Schaubühne eigentlich wirken?«, in: Friedrich Schiller, Schillers Werke, Bd. 20: Philosophische Schriften, 1. Teil, unter Mitwirkung von Helmut Koopmann hg. von Benno von Wiese, Weimar: Hermann Böhlaus Nachfolger 1962, 87-100, hier: 97. 14 | Heyse, »Einleitung zum Deutschen Novellenschatz«, 253. 15 | Ullmann zufolge soll das von Heyse herausgestellte »Specifische« eine »universal application« oder gar moralische Implikationen haben. Vgl. Ullmann, »Form and Content in Heyse’s Novelle Andrea Delfin«, 113. Dieser Lesart folgend ließe sich von Novellen eine Art ›Moral der Geschichte‹ ableiten. Dieser Ansatz steht allerdings im Widerspruch zu Heyses Verständnis, dass eine Novelle gerade keine »allgemein gültige Lösung« beinhalten müsse. Heyse, »Einleitung zum Deutschen Novellenschatz«, 254. 16 | Heyse, »Einleitung zum Deutschen Novellenschatz«, 253f.

IV. Rache als Unfähigkeit zu trauern

nicht verallgemeinern lässt. Rache wird also sowohl inhaltlich als auch qua Genre als etwas »Verirrtes« präsentiert und damit disqualifiziert. Liest man Andrea Delfin vor dem Hintergrund von Heyses Verständnis der Novelle, dann scheint das Scheitern der Rache von vorneherein im Genre angelegt.

R echt als P r äventivstr afe Den historischen Tatsachen entsprechend zeigt Andrea Delfin das Venedig des Jahres 1762 nicht als blühende Handelsmacht, sondern als Republik, die in die Hände paranoider Inquisitoren gefallen ist und kurz vor dem Zusammenbruch steht. Die Vorgeschichte von Delfins Rache erfahren wir aus einem Brief, den er an den im Exil lebenden Reformer Querini schreibt.17 Delfin (Candiano) berichtet darin, dass die Inquisitoren sich insbesondere von den auf dem Festland etablierten Adelsfamilien wie den Candianos bedroht fühlten, da sie dessen »Losreißen« von der »Mutterstadt Venedig« fürchteten (44). So sei zunächst sein Bruder unter Verdacht geraten, gegen das Tribunal intrigiert zu haben. Er sei daher vom Festland nach Venedig gerufen, inhaftiert und verhört, jedoch aus Mangel an Beweisen wieder aus der Haft entlassen worden: »Aber man dachte nicht daran, ihn zu begnadigen«, schreibt Delfin weiter, »er erlag einem langsam wirkenden Gift« (45). In seinem Brief kritisiert Delfin in erster Linie das Rechtswesen Venedigs und bezichtigt die Staatsinquisitoren der juristischen Korruption, da ihre Urteilsfindung nicht auf Beweisen beruhe, sondern auf dem Erahnen und damit letztlich dem Erfinden eines verbrecherischen Potentials möglicher Verdächtiger. Während Delfins Aussagen im Verlauf der Novelle oftmals durch widersprechende Darstellungen anderer Charaktere in Frage gestellt werden, wird diese Aussage durch eine Szene bestätigt, in der ein Staatsinquisitor die Verbannung eines Adeligen damit begründet, dass dieser in Zukunft gegen das Recht verstoßen könnte: »Es war eine väterliche Maßregel, daß wir ihn verbannten, ehe er schuldig wurde« (61). Das Tribunal folgt dem Prinzip der Präventivstrafe und behandelt alle, die womöglich ein Verbrechen begehen könnten, bereits als Kriminelle. Diese Präventivstrafe produziert eine Wirklichkeit, in der alle nicht nur verdächtig, sondern potentiell bereits schuldig sind. Andrea Delfin ist eine Novelle der Verdachtsmomente, in der eine paranoide Staatsinquisition überall feindliche Verschwörungen vermutet und jeder jeden verdächtigt, nachdem der erste Mord geschehen ist. Dass ein Verdacht wie eine Tatsache wirken kann, wird den 17 | Für einen Vergleich der Figur mit dem historischen Vorbild siehe Boyd Mullan, »Death in Venice: The Tragedy of a Man and a City«, in: Colloquia Germanica 29 (1996), 97-114, hier: 100f.

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Lesenden anhand von Delfins Charakter aufgezeigt, der bereits bei seinem ersten Erscheinen als verdächtige Gestalt beschrieben wird: »[…] sein Gesicht befremdete […]. Es war nicht jung, nicht alt, […], die Augen feurig, dagegen der Ausdruck des Mundes und die Art zu sprechen müde und überlebt, und das kurzgeschorene Haar in seltsamem Gegensatz zu den noch jugendlichen Zügen völlig ergraut« (29). Delfin wirkt rätselhaft bis unheimlich, sein weißes Haar spricht für eine dramatische Vorgeschichte. Obwohl sich der Verdacht, dass Delfin mit Candiano identisch und er tatsächlich der Rächer ist, im Text erst spät bestätigt, besteht von Beginn an kaum ein Zweifel daran, dass dieser Verdacht der Wahrheit entspricht. Wir sind also selbst der Versuchung ausgesetzt, wie die Inquisition zu verfahren und einen Verdacht wie einen Beweis zu behandeln.18 Im Hinblick auf die Vorgeschichte seiner Rache schreibt Delfin in dem Brief weiter, dass sich, nachdem sein Bruder ermordet worden sei, der Verdacht der Inquisition gegen ihn selbst gerichtet habe: »Das böse Gewissen der Herren der Republik deutete auf mich, als den am härtesten Getroffenen, der einen Bruder zu rächen hatte« (45). Das Tribunal rechnet also damit, dass die Bevölkerung mit Rache auf die im geheimen agierenden Inquisitoren reagiert, kalkuliert dies in ihr Handeln mit ein und fabriziert damit jene Kriminellen, die sie vermeintlich bekämpft. Der Überfall auf das Haus Candiano ist eine dieser Denkweise entspringende Präventivmaßnahme. Um Candiano daran zu hindern, die Ermordung seines Bruders zu rächen, wird seine verbleibende Familie ermordet und sein Elternhaus bis auf die Grundmauern niedergebrannt. Candiano wird also paradoxerweise bereits als Rächer verurteilt, bevor er überhaupt Rachepläne hegt. Um weiteren Anschlägen zu entgehen, täuscht er seinen Tod vor, taucht unter und nimmt den Namen eines ermordeten Bediensteten an, Andrea Delfin. Nach dem Verlust seiner Familie und völlig von seinem bisherigen Umfeld isoliert, verfällt er in eine lähmende Depression, von der er sich erst erholt, als er von Querinis Plänen hört, das Tribunal zu reformieren, das für die Ermordung seiner Familie verantwortlich ist. Als Querini jedoch scheitert und ins Exil verbannt wird, will Delfin dessen Vorhaben auf eigene Faust umsetzen,

18 | Eben in der innerhalb der Novelle fortlaufend dargestellten und auch auf die Lesenden übertragenen Aufforderung, die Figuren und Ereignisse zu dechiffrieren, liegt eine in die Moderne verweisende Charakteristik der Novelle: Wirklichkeit ist hier keine gegebene, sondern beruht auf der Notwendigkeit, die Ereignisse zu interpretieren bzw. zu entschlüsseln. Hillenbrand hebt das Zusammenspiel aus strukturellen Erwägungen Heyses und modernen Impulsen hervor; Heyse strebe »sinnliche Anschaulichkeit durch aristotelische Kompositionsprinzipien und psychologische Durchdringung der modernen Charaktere gleichermaßen« an. Hillenbrand, »Heyses sogenannte Falkentheorie«, 81.

IV. Rache als Unfähigkeit zu trauern

allerdings nicht als Reformer, sondern »mit dem Arm des unsichtbaren Richters und Rächers zum Heil meines teuren Vaterlandes« (46). Delfins Anspruch, für das Wohl der Gemeinschaft zu kämpfen, steht im Widerspruch dazu, wie andere Figuren sein Handeln interpretieren, und dazu, wie er von der Erzählstimme beschrieben wird. Dadurch wirkt seine Racherhetorik subjektiv gefärbt. Bevor ich genauer auf das psychologische Profil eingehe, das der Text von Delfin zeichnet, möchte ich das System betrachten, das seine Rache auslöst: die Inquisition.

K orrup te S ta atsge walt In Andrea Delfin begegnen wir – wie in Grete Minde – einer subjektiven und einer den Alltag prägenden systemischen Gewalt im Sinne Žižeks. Delfin ermordet die ersten beiden Staatsinquisitoren auf offener Straße, was seine Rache als »directly visible ›subjective‹ violence«19 kennzeichnet, wie sie uns in Form von Verbrechen oder Terrorakten begegnet.20 Da Delfin seine Identi19 | Žižek, On Violence, 2. Žižek legt nahe, dass diese ›subjektive Gewalt‹ Walter Benjamins Konzept der »göttlichen Gewalt« entsprechen könne. Er bezieht sich dabei auf Benjamins Schrift »Zur Kritik der Gewalt«, in der Benjamin der »mythischen Gewalt«, die er als Recht und Grenzen setzende Gewalt versteht, die »göttliche Gewalt« entgegenstellt, die er als Recht und Grenzen vernichtende Macht betrachtet. Benjamin, »Zur Kritik der Gewalt«, in: Walter Benjamin, Zur Kritik der Gewalt und andere Aufsätze, Frankfurt a.M.: Suhrkamp 1965, 29-65. Eine Analyse der unterschiedlichen Nuancen von Benjamins komplexem Verständnis unterschiedlicher Gewalten kann hier unmöglich geleistet werden. Meine Diskussion beschränkt sich auf Benjamins Gedanken zur rechtsetzenden und rechterhaltenden Gewalt, da diese Begriffe erlauben, die Mechanismen der staatlichen und individuellen Gewalt in Andrea Delfin genauer zu fassen. Zur Rache in der Novelle als Ausdruck der göttlichen Gewalt möchte ich lediglich anmerken, dass der Effekt der Rache letztlich nicht genau bestimmt werden kann; es bleibt am Ende offen, ob Delfins Handeln den Staat zu Fall bringt oder stärkt. 20 | Hillenbrand stellt heraus, dass Heyse im engen Dialog mit seinem Schwiegervater Franz Kluger stand, der eine Art Rechtstheorie entwickelte, der zufolge es, »immer und zwangsläufig« zu einem Konflikt kommt »zwischen dem legitim Bestehenden und dem Neuen, das an seine Stelle treten will und immer zunächst illegitim ist«. Heyse übertrage, so Hillenbrand, diese Notwendigkeit des Konflikts in den Bereich der Moral, »wobei das neue zunächst als nur individuelles auftritt«, und inszeniere den Zusammenstoß von Individuum und Gemeinschaft in seinen Novellen, wo jeder »Ausnahmefall« »einzeln beurteilt« werden müsse. Kluges Theorie folgend werde das Neue entweder »reformatorisch integriert« oder es werde »revolutionär, beseitigt das Alte mit Gewalt und setzt sich an seine Stelle«. Hillenbrand, »Heyses sogenannte Falkentheorie«, 84f.

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tät sowie seine Motive und Ziele vor der Gemeinschaft verbirgt, kann diese in seinem Fall jedoch keinen »clearly identifiable agent« der subjektiven Gewalt ausmachen.21 Im Gegensatz zu Michael Kohlhaas, der seine Forderungen durch öffentliche Anschläge publik macht, scheut Delfin die Öffentlichkeit. Die Tatwaffen – drei Dolche mit der Inschrift »Tod allen Inquisitoren«, die er am Tatort zurücklässt – benennen zwar das Objekt seiner Rache, aber weder Grund noch Ziel. Delfins sichtbare Gewaltausbrüche stehen im Kontrast zur systemischen Gewalt des Staates, die im Verborgenen agiert und damit versucht, die dem ›Normalzustand‹ inhärente Gewalt zu vertuschen.22 Dementsprechend entledigt sich die Staatsinquisition ihrer vermeintlichen Feinde mit Gift oder lässt sie auf einer Gondelfahrt verschwinden. In Heyses Novelle erfahren wir von der systemischen Gewalt der Staatsmacht vorwiegend durch die Äußerungen Dritter. Gleich zu Beginn der Novelle bezeichnet Delfins Vermieterin Giovanna die Inquisition als »heimliche[] Justiz« (36), da sie die Bevölkerung weniger durch sichtbare Polizeipräsenz als durch eine Armee von Spitzeln kontrolliere (94). Die korrupt Staatsgewalt in Andrea Delfin reflektiert das historische Venedig im 16. Jahrhundert, wo der Rat der Zehn durch einen Putsch an die Macht kam: Die Inquisitori di Stato »had been introduced in an unconstitutional move in 1539 to tighten security and had the right to try and condemn in secret without consultation outside its own number.«23 Um die Inquisition als Rechtsinstanz einzusetzen, wurden also rechtswidrige Methoden angewandt, die im Weiteren in den Verfahren fortwirken, derer sich die Inquisition bedient, um die eigene Macht und Ordnung zu bewahren. Heyses Novelle stellt nun die Dynamik zwischen jenen zwei Gewalten zur Schau, die mit Walter Benjamins Schrift »Zur Kritik der Gewalt« als rechtsetzende und als rechterhaltende Gewalt bezeichnet werden können, nämlich zwischen der Gewalt, die sich (historisch) in der Gründung des Rates der Zehn manifestierte, und der Gewalt, die dieses System aufrechterhält.24 Benjamin zufolge wäre es denkbar, dass das Interesse des Staats bzw. Hillenbrands Ansatz bildet eine rechtsphilosophische Variante von Downings Diskussion sozialer und literarischer Konventionen in Double Exposure. In Andrea Delfin begehrt Rache zwar gegen die bestehende (Rechts‑)Ordnung auf, aber wie in den anderen in dieser Untersuchung diskutierten Texten begründet sie selbst keine neue Konvention oder Norm, sondern bleibt ein Ausnahmefall. 21 | Žižek, On Violence, 1. 22 | Žižek, On Violence, 2. 23 | Mullan, »Death in Venice«, 101. 24 | Obwohl Benjamin wie auch Žižek vom modernen Nationalstaat ausgehen, lassen sich ihre strukturellen Analysen auch auf den Aufbau und das Wechselverhältnis zwischen individueller und staatlicher Macht übertragen, welche das eher grob skizzierte Rechtssystem der venezianischen Inquisition in Heyses Novelle auszeichnet.

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des »Rechtes an der Monopolisierung der Gewalt gegenüber der Einzelperson sich nicht durch die Absicht erklärt, die Rechtszwecke, sondern vielmehr durch die, das Recht selbst zu wahren«.25 Ein Staat wird also mittels der rechtsetzenden Gewalt etabliert. Um das solchermaßen etablierte Recht und die daran gekoppelte eigene Machtposition zu schützen, setzt der Staat – etwa in Gestalt der Polizei – die rechterhaltende Gewalt ein. In Andrea Delfin arbeitet die von der Inquisition eingesetzte rechterhaltende Gewalt im Verborgenen, aber nicht ohne eindeutige Signale ihrer Macht an die Bevölkerung zu senden, wie etwa das ironische venezianische Sprichwort »Wasser vom Kanal/kuriert radikal« verdeutlicht. Giovanna, deren Mann verschwunden ist, entschlüsselt es für Delfin: »[…] es hat einen eigenen Sinn, Herr, einen bösen Sinn, wenn man bedenkt, wie manches Mal auf Befehl der Oberen eine Gondel mit Dreien auf die Lagunen hinausfuhr und mit Zweien wiederkam« (30). Die Gondelfahrt illustriert die Mechanismen der korrupten Justiz: Beweisführung, Prozess, Urteil sowie Strafvollzug finden im Verborgen statt und so wird das Verschwinden eines Menschen zum einzigen Zeichen der geheimen Hinrichtungen. Laut Benjamin ist es nun jedoch gerade die Todesstrafe, welche die hier vereinfacht skizzierte Trennung der beiden Gewalten kollabieren lässt.26 Die Rechtsordnung demonstriert ihre Macht, indem sie die Todesstrafe verhängt, doch mit dieser ragen zugleich die »Ursprünge« der Rechtsordnung, also die Gewalt, die sie gründete, »repräsentativ in das Bestehende« hinein. Die Todesstrafe ist also zugleich Ausdruck der rechtsetzenden und der rechterhaltenden Gewalt, denn durch sie »bekräftigt […] das Recht sich selbst«.27 In Andrea Delfin stehen Gondeln für die bevorstehende bzw. vollzogene Todesstrafe und verwei-

25 | Benjamin, »Zur Kritik der Gewalt«, 35. 26 | Benjamins Unterscheidung bedeutet also keine strikte Opposition von rechterhaltender und rechtsetzender Gewalt. Auf Pascal rekurrierend beschreibt Jacques Derrida den Moment der rechtsetzenden Gewalt als »a performative and therefore interpretive violence that in itself is neither just nor unjust«. Jacques Derrida, »Force of Law: ›The Mythical Foundation of Authority‹«, in: Drucilla Cornell et al. (Hg.), Deconstruction and the Possibility of Justice, New York: Routledge 1992, 3-67, hier: 13. In Andrea Delfin kommt lediglich die performative Gewalt zum Ausdruck. Die auf diese folgende interpretative Gewalt, die ein neues Recht retrospektiv rhetorisch begründet und legitimiert und damit mit bestehenden Diskursen und Rechten bricht, bleibt aus, da es kein offizielles Narrativ zu den Morden gibt. Heyse stellt die Fluktuation zwischen der rechtsetzenden Gewalt des Staates und der Gewalt des Rächers heraus, die sich gegenseitig destabilisieren. Beide untergraben letztlich den rechterhaltenden Aspekt der Gewalt – sie statuieren paradoxerweise beide eine Destabilisierung. 27 | Benjamin, »Zur Kritik der Gewalt«, 42f.

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sen auf die korrupte Gewalt, mit der sich der Rat der Zehn einst etablierte und nun seine Macht aufrechterhält. Die rechterhaltende Gewalt des Tribunals zeigt sich im plötzlichen Verschwinden von Menschen. Das Verschwinden eines Menschen ist von unfassbarer Grausamkeit; es bedeutet einen paradoxen Verlust ohne Objekt, bei dem der Verlust nie gewiss ist und ein Raum zwischen Hoffnung und Abschied entsteht.28 In Andrea Delfin werden die Gondeln zum Sinnbild der Macht der Inquisition – mit ihnen werden die Körper beseitigt und zugleich ihre Abwesenheit zur Schau getragen. Die leeren Gondeln symbolisieren nicht nur die Todesstrafe und damit die Macht des Staates über Leben und Tod, sondern deuten auf die ortlose, unsichtbare, systemische Macht der Inquisition hin. Die Todesstrafe, die Benjamin als »etwas Morsches im Recht« bezeichnet,29 bedeutet damit zugleich eine Schwachstelle im System. Das »feinere[] Gefühl« registriere in der vom Staat vollzogenen Todesstrafe eine Unstimmigkeit zwischen dem alten Gedanken, dass es allein dem Schicksal zukomme, über Leben und Tod zu richten, und der Legitimation durch das Recht, die diese Entscheidung dem Staat zugesteht.30 Im Realismus stehen oftmals übersinnliche Mächte für diesen Schicksalsgedanken ein. Dem menschengemachten Recht mangelt an der Autorität des Schicksals, das Ausdruck göttlicher Gerechtigkeit ist. Die Justiz folgt letztlich einem menschlichen Regelwerk und keiner universellen Notwendigkeit. Doch insofern die Staatsinquisition im Verborgenen agiert und durch ihre Spitzel überall präsent sein könnte, kann sie sich als allmächtig und allgegenwärtig und damit als schicksalhaft wirkende Macht inszenieren. Delfins Rache richtet sich gegen ebendiesen Anschein, dass die Staatsmacht unantastbar sei.

28 | Im Hinblick auf die Büchse der Pandora bezeichnet Nietzsche die Hoffnung als »in Wahrheit das übelste der Uebel, weil sie die Qual der Menschen verlängert.« Nietzsche, Menschliches, Allzumenschliches, 82. Diese Hoffnung quält Delfins Vermieterin Giovanna. Ihr Ehemann Orso zählt zu den vielen Verschwundenen und sie wartet auf seine Rückkehr, obwohl er bereits für tot erklärt wurde. Durch Delfins Rachemorde entwickelt sie die wahnhafte Idee, dass ihr Mann zurückgekehrt sei und die Rachemorde verübe. Damit würde der Tote zum Untoten – Unrecht und Verlust wären quasi zurückgenommen. So funktioniert es jedoch nur im Märchen (vom Machandelbaum). Giovannas Glaube an Geister verzeichnet einen in den Bereich des Wahnsinns verschobenen Überrest der romantischen Novellenkonzeption, in der das Wunderliche und Übersinnliche noch Teil des Alltäglichen ist. In Heyses Novelle ist Wirklichkeit nicht mehr gegeben und lesbar, sondern verlangt nach einer Interpretation, ohne jedoch gänzlich vom Zweifel an Wahrnehmung und Wirklichkeit erfasst zu sein, der die Moderne kennzeichnet. 29 | Benjamin, »Zur Kritik der Gewalt«, 43. 30 | Benjamin, »Zur Kritik der Gewalt«, 43.

IV. Rache als Unfähigkeit zu trauern

Delfin reagiert auf die Staatsgewalt, indem er das geheime Morden der Inquisition invertiert: Er lässt seine Opfer in aller Öffentlichkeit liegen. Diese Sichtbarkeit setzt Delfins Rache von der Gewalt der Inquisition ab und kennzeichnet sie als unerhörte Begebenheit in einem von der Inquisition bestimmten Alltag. Er stellt den verschwundenen Körpern und unsichtbaren Verfahren öffentliche Anschläge entgegen, deren Ziel durch die Inschrift »Tod allen Inquisitoren« auf den Tatwaffen deutlich preisgeben wird (68). Delfins subjektive Gewalt unterscheidet sich zwar in ihrer Sichtbarkeit von der systemischen der Inquisitoren, doch zugleich korrespondiert sein Racheplan mit Blick auf sein Bestreben, die eigene Identität zu verbergen, mit den machterhaltenden Maßnahmen des Rates der Zehn, dessen Mitglieder der Öffentlichkeit unbekannt sind.

R he torik der R ache Delfins öffentliche Gewaltakte, die direkt ins Zentrum der staatlichen Macht treffen, haben theoretisch das Potential, sich zu einer rechtsetzenden Gewalt zu entwickeln, die das alte System stürzen und eine neue Ordnung etablieren würde. Dabei würde Heyses Text den lateinischen Wurzeln des Begriffs Novelle entsprechen: »auf juristische Kontext beschränkt« bedeute novellae legae soviel wie »neuen Gesetzen«.31 Inwiefern Delfins Rache jedoch in der Tat so etwas wie neue Gesetze etabliert, wird sich zeigen. Ist Delfin demnach ein Revolutionär, der für eine gerechtere Welt kämpft? Oder ist er ein Terrorist, der vor allem die Gemeinschaft destabilisiert? Und weiter gefragt, kommentiert die Novelle in ihrer Darstellung von Delfin die gescheiterte Revolution von 1848? Zeitlich und örtlich von der Gegenwart des Realismus abgekoppelt, bezieht sich der Text nur unmerklich auf dieses historische Ereignis. Im Text wird, so Hugo Aust, »das politische Problem nicht nur auf den psychopathologischen Einzelfall« verschoben, sondern auch in den Kontext eines pathologischen »totalitären Überwachungssystems« gestellt.32 Die Frage, ob wir es hier mit einem »Motiv des politischen Widerstands« oder mit dem »Problem der Legitimität terroristischer Aktionen« zu tun haben, wird in der Novelle in Form von zwei gegenläufigen Interpretationen der Racheakte inszeniert, und zwar 31 | Kindt, »Novelle«, 541. 32 | Aust, Realismus, 226. Während Aust die Widerstandsthematik als Verweis auf die gescheiterte Revolution von 1848 liest, weist die Novelle Mullan zufolge keine direkten Bezüge zur Gegenwart des Realismus auf; er liest Candiano und Venedig beide als »victims of self-deception, erroneously persuading themselves that desirable political ends can justify savagely violent means«, und arbeitet die Parallelen zwischen ihrem jeweiligen Untergang heraus. Mullan, »Death in Venice«, 103.

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als Widerspruch zwischen Delfins Selbsteinschätzung und der Bewertung der übrigen Figuren.33 Dass sich Delfin als politischer Widerstandskämpfer versteht, wird in seinen Briefen an Querini deutlich, in denen er versucht, seine Rache als Beginn einer gerechteren Ordnung und damit einer gerechteren Welt zu legitimieren: Ich bin mir heilig bewußt, daß nicht Haß gegen die Personen, nicht Rache für erlittenes Leid, nicht einmal der gerechte Gram um das Weh, das meinen Lieben widerfahren, meinen Arm gegen die Gewaltherren bewaffnet. Was mich bewegt, für ein ganzes in Knechtschaft versunkenes Volk als Retter aufzutreten und einzeln den Spruch zu vollstrecken, der zu anderen Zeiten vom Gesamtwillen einer freien Nation über ungerechte, dem Arm des Richters unerreichbare Mächtige verhängt worden ist, – es ist weder Eifersucht, noch eitle Ruhmbegier; es ist nur eine Schuld, die ich durch eine tatenlose Jugend auf mich geladen habe […]. (46f.)

In seinem Selbstverständnis als »unsichtbarer Richter« und seinem Verweis auf »Gott, in dessen Schutz [er seine] Sache befehle« (47), versucht Delfin die Kluft zwischen Rächer und Richter zu überbrücken, indem er sich auf eine höhere Gewalt beruft. Ironischerweise nähert er sich damit aber zugleich der im Geheimen agierenden Inquisition an. Er argumentiert, dass er allein deshalb handle, weil er eine tiefe »Schuld« angesichts seiner »tatenlose[n]«, unpolitischen Jugend empfinde. Jegliche emotionale Motivation zurückweisend, stilisiert er sich zum selbstlosen Retter eines ganzen Volkes. Die Berufung auf Gott, um die eigene Rebellion gegen das weltliche Recht zu rechtfertigen, ist unter Rächern und Rächerinnen weit verbreitet, man denke nur an Michael Kohlhaas’ berühmte Auseinandersetzung mit Luther oder auch an die Verheißung göttlicher Gerechtigkeit, die Grete Minde auf der Tafel am Rathaus liest und später dem Gericht entgegenstellt. Darüber hinaus soll die Behauptung, er führe Querinis Reformpläne weiter, Delfins Mission Autorität verleihen. Delfins Aussage, dass er nicht »aus Rache für erlittenes Leid«, sondern als »Retter« des Volkes agiere, steht allerdings die Beschreibung seiner Erscheinung in der Novelle gegenüber. So heißt es, als er vor der aufgebahrten Leiche seines ersten Opfers steht: »[…] kein Zucken seines Mundes, noch der Augen, die scharf auf den Toten gerichtet waren, verriet, daß der Rächer vor seinem Opfer stand.« (74, Hervorh. D. H.) Delfins Selbstverständnis wechselt beständig, mal versteht er sich als Rächer und Richter, mal als Retter der Nation; die beschreibende Erzählstimme hingegen kennt solche kategorische Verwirrung nicht und bezeichnet ihn schlicht als Rächer. Der für den Realismus charakteristische Modus der Beschreibung lässt keinen Zweifel daran, dass Delfin in der Tat ein Rächer ist. Solche narrativen Setzungen lassen Delfins subjektive 33 | Aust, Realismus, 223, Hervorh. i. O.

IV. Rache als Unfähigkeit zu trauern

Perspektive als unglaubhaft erscheinen und diskreditieren seine Vorstellung, dass Rache und Recht im Einklang miteinander stünden. Gegen seine eigene Rhetorik und für eine persönliche Motivation seiner Rache spricht zudem,34 dass seine Opfer ihm keinesfalls unbekannt sind; jeder Staatsinquisitor, den er tötet bzw. verletzt, hat persönliche Relevanz: Sein erstes Opfer ordnete die Ermordung seines Bruders an; der zweite Staatsinquisitor meint, ihn als Candiano erkannt zu haben, und droht damit, ihn zu entlarven; der letzte Mord – der versehentlich den Freund trifft – sollte gerade diesen vor einem Anschlag der Inquisitoren bewahren. Ab dem ersten Mord stellt sich also der Verdacht ein, »that the motive for the murder […] is blood-revenge to which the motive of the personal security of the hero is added«.35 Delfin kleidet seine Rache in ein revolutionäres Narrativ der Notwehr und des Kampfes für alle, aber im Verlauf des Textes treten immer mehr die persönlichen Motive seines Handelns hervor.36 Delfins Vorgehen steht – entgegen seiner eigenen Überzeugung – am Ende immer auch unter Verdacht, in erster Linie ein blutiger Rachefeldzug zu sein, der die eigenen egoistischen Wünsche befriedigt. Ausgerechnet der von Delfin geliebte Rosenberg ist sein größter Kritiker:37 Er »verabscheue« die Morde und hält »ihre Anstifter für kurzsichtige Politi34 | Wie Ullmann aufzeigt, wird in der Novelle bereits früh deutlich, dass Delfin »may labour under a misconception«. Ullmann, »Form and Content in Heyse’s Novelle Andrea Delfin«, 114. Mullan argumentiert: »[…] he deceives himself every bit as much as he deceives others«. Mullan, »Death in Venice«, 102. 35 | Ullmann, »Form and Content in Heyse’s Novelle Andrea Delfin«, 115. 36 | Hillenbrand zufolge sind gerade die persönlichen Motive das, was »den Terrorist[en]« zum »Sympathieträger« macht: »An der Fragwürdigkeit seines Tuns bleibt kein Zweifel,« aber »gerade seine persönlichen Motive, die er gerne abstreiten würde, finden unser Verständnis; seine Verirrung besteht in ihrer Verquickung mit vorgeschobenen politischen Ideologien«. Rainer Hillenbrand, Heyses Novellen. Ein literarischer Führer, Frankfurt a.M.: Peter Lang 1998, 154. 37 | Aust zufolge formuliert Rosenberg eine akkurate Kritik an den Adeligen, wonach es diesen lieber sei, einen der ihren »ohne Recht und Gesetz diesem dreiköpfigen Götzen zum Opfer fallen zu sehen, als unter dem Schutz von Gesetzen und Rechten zu leben, die sie mit dem Volk gleichstellen würden.« (85) Aust, Realismus, 225f. (alle folgenden Zitate ebenda). Dieser »Selbstverschuldung« und »Kurzsichtigkeit« Delfins falle Rosenberg letztlich selbst zum Opfer. Allerdings sei davon keinesfalls eine »griffige Lehre« wie die »vom Grubenfall des Grubengräbers« abzuleiten: Wenn Heyse dem »geopferten Freund die Wahrheit in den Mund legt, drängt sich der Eindruck auf, als ob gerade die klare Sicht tödliche Folgen haben müsste«. Doch welche Mächte zu dieser ›Konsequenz‹ führen, bleibt fraglich: »Das kann Zufall sein, Wirkung eines dämonischen Schicksals oder unbewusste Tat eines pathologischen Charakters«. Aust hebt auch in diesem Kontext Parallelen zwischen Heyses Darstellung Venedigs und seiner politischen

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ker« (84). Mit seiner Kritik an dem (auto‑)destruktiven Wesen der Inquisition, über die er anmerkt, »wie furchtbar sich die Schneide ihrer Waffen gegen sie selbst gekehrt hat« (86), nimmt er ironischerweise sein eigenes Ende und damit auch den Wendepunkt von Delfins Rache vorweg. Seine Aussage bezeugt, wie sehr Delfins Taten anfangen denen der Inquisition zu ähneln. Eine weitere Stimme, die Delfins Selbstverständnis als Retter Venedigs konterkariert, ist die von Giovanna. Als Angehörige eines niedrigeren Standes hatte sie gegenüber Delfin bereits Querinis Pläne kritisiert, weil die Reformen des exilierten Politikers nur den oberen Schichten nützen würden und nicht der gesamten venezianischen Gesellschaft. Querini sei zwar »ein rechtschaffener Herr und großer Gelehrter«, aber wer ihn auf der Straße gesehen habe, der habe sofort gemerkt, dass er »ein Nobile war von der Feder am Hut bis zu den Schuhschnallen, und was er gegen das Tribunal redete und handelte, war nicht fürs Volk, sondern für die großen Herren« (36). Der »Gesamtwillen« bzw. das »Volk«, in dessen Namen Delfin zu handeln meint, ist keineswegs eine homogene Gemeinschaft, sondern eine durch Standesgrenzen tief gespaltene (47). Dieselbe Problematik durchzieht mithin auch Delfins gewaltsame Fortführung von Querinis Ambitionen. Wenn wir Giovanna Glauben schenken, möchte Venedigs Bevölkerung weder einen revolutionären Kohlhaas noch einen reformierenden Querini. Ihre Kritik an Querinis Reformplänen deutet auf den standespolitischen und machtorientierten Charakter von Delfins Umsturzfantasien. Sie legt nahe, dass Delfin nicht an einem gerechten Venedig für alle interessiert ist, sondern die Machtverhältnisse restituieren will, in denen nicht die Inquisitoren, sondern Adelsfamilien wie seine eigene herrschten. Delfin imaginiert sich zwar als tragischer Held und meint, »er kämpft für das Neue«, allerdings verdreht er die Prioritäten, die Kierkegaard für den tragischen Helden formuliert: »[…] aber seine Aufgabe ist doch nicht so sehr das Vernichten, als das Neue geltend zu machen und dadurch indirekt das Vergangene zu vernichten.«38 Wie Grete Minde konzentriert sich auch Andrea Delfin letztlich auf die Zerstörung des Alten. Da seine Strategien immer mehr denen der Inquisition zu ähneln beginnen, vernichtet er das Bestehende also, wie wir sehen werden, »nicht durch das Neue, sondern er vernichtet es durch es selbst«.39 Dabei meint Delfin zwar, etwas Neues zu schaffen, aber Giovannas Kritik an Querini trifft ebenso auf Delfin zu. Er will am Ende keine »neuen Gesetze« etablieren, wie die etymologischen Wurzeln der Novelle nahelegen, sondern eine Rückkehr zur WeltordGegenwart heraus. Ihm zufolge entspricht Rosenbergs Kritik an der Haltung des Adels in Venedig »in etwa der Kritik am Verhalten des Bürgertums während der Märzrevolution bzw. in der Zeit des Verfassungskonflikts«. 38 | Kierkegaard, Über den Begriff der Ironie, 218. 39 | Kierkegaard, Über den Begriff der Ironie, 220.

IV. Rache als Unfähigkeit zu trauern

nung, bevor die Inquisition die Macht der Adeligen kappte. Dementsprechend wählt er ein veraltetes Rechtsprinzip – die Rache. Wie zentral Delfins Familiengeschichte für seine Rache ist, wird deutlich, wenn wir die Spuren der von ihm begangenen Morde zurückverfolgen. Diese Spuren führen von der Wunde, die den Freund tötet, über die Wunden der Staatsinquisitoren bis zurück in Delfins bzw. Candianos Familiengeschichte. Am Anfang steht dabei nicht allein eine physische Wunde, sondern ein psychologisches wie physisches Trauma (wobei das griechische trauma wiederum »Wunde« bedeutet): die Ermordung seiner Familie. Delfin entwickelt seine Rachepläne nicht als Widerstandskämpfer, sondern, so meine These, als Reaktion auf diesen traumatischen Verlust.

R ache z wischen M anie und M el ancholie Der Anschlag auf Delfins bzw. Candianos Familie bildet eine Schlüsselszene, die den psychologischen Hintergrund seiner Rache ausmacht. Erst am Morgen nach dem Anschlag kommt er langsam wieder zu sich: Die Stätte war ein menschenleerer Trümmerhaufen, meine Schwester in den Flammen umgekommen, meine braven Diener erschlagen, teils in das brennende Haus zurückgetrieben./Viele Stunden lag ich so neben dem rauchenden Schutt und starrte in das leere Nichts, das mir meine Zukunft bedeutete […]. Eins wußte ich: Solange man mich am Leben glaubte, würde man mich für einen Feind halten und überall hin verfolgen. Das brennende Grab war geräumig genug; wenn ich verschwand, würde niemand zweifeln, daß auch ich dort bei den Meinigen ausruhte. (45f.)

Candiano erwacht in einer eingeäscherten Welt, in der er nur ein »leere[s] Nichts« erblickt und er sich keine Zukunft mehr vorstellen kann. Er nimmt den Namen eines ermordeten Bediensteten an, Andrea Delfin, und lebt in dieser zerbrochenen Welt vor sich hin: »Eine Ohnmacht hatte sich auf meinen Geist gesenkt, als wäre durch jenen Schlag, der mich zu Boden warf, das Organ des Willens in mir zertrümmert worden« (46). Delfin erscheint nicht nur die Welt sinnentleert, sondern, wie Freud es für den Melancholiker beschreibt, auch sein Wille scheint gebrochen: »Bei der Trauer ist die Welt arm und leer geworden, bei der Melancholie ist es das Ich selbst.«40 Delfin dämmert lange in diesem paralysierten Zustand vor sich hin, in dem er keinen Bezug zum Leben finden kann. Der Melancholiker weiß nach Freud wohl, »wen, aber 40 | Sigmund Freud, »Trauer und Melancholie«, in: Sigmund Freud, Studienausgabe, Bd. 3, hg. von Alexander Mitscherlich et al., Frankfurt a.M.: Fischer 1975, 193-212, hier: 200.

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nicht, was er an ihm verloren hat«,41 denn Melancholie kann wie auch Trauer »die Reaktion auf den Verlust einer geliebten Person oder einer an ihre Stelle gerückten Abstraktion wie Vaterland, Freiheit, ein Ideal usw.« sein.42 Candiano erfährt in den Trümmern einen doppelten Verlust: Er verliert seine Familie und den Glauben an ein gerechtes Venedig. Candiano reagiert auf den mörderischen Anschlag auf seine Familie, der ihn mit nichts als einem »menschenleeren Trümmerhaufen« zurücklässt, zunächst mit einer lähmenden Melancholie, bis er von den Reformbestrebungen Querinis hört. Allein der Gedanke, dass Venedig reformiert werden könnte, setzt ungeahnte Energien in Candiano, der sich mittlerweile Delfin nennt, frei: »Mit einer fieberhaften Spannung, die mich verjüngte und mir das Bewußtsein meiner Lebenskraft zurückgab, verfolgte ich die Nachrichten aus Venedig« (46). Querinis Reformen eröffnen plötzlich einen Ausweg aus seiner Melancholie und bewirken eine manische Wiederbelebung.43 Es scheint, als wäre Delfin »mit einem Schlag« aus seiner Schockstarre befreit, als habe – wie es wiederum bei Freud über Manie heißt – »das Ich den Verlust« plötzlich überwunden, »nur daß es wiederum dem Ich verdeckt bleibt, was es überwunden hat und worüber es triumphiert«.44 Delfin kompensiert dieses Nichtwissen, indem er die persönlichen Hintergründe seines Zustandes ignoriert und sich angeblich ganz auf das Allgemeinwohl konzentriert. Eben dieser Fokus hält ihn davon ab, wieder in Melancholie zu verfallen. Doch genau dieser Rückfall droht einzutreten, als Querinis Reformpläne scheitern und er ins Exil verbannt wird.45 In seinem Brief an Querini schreibt Delfin: 41 | Freud, »Trauer und Melancholie«, 199. 42 | Freud, »Trauer und Melancholie«, 197. 43 | Freud hebt in Bezug auf Manie hervor, dass die Betroffenen oft meinten, den Verlust überwunden zu haben: »Der Manische demonstriert uns auch unverkennbar seine Befreiung von dem Objekt, an dem er gelitten hatte, indem er wie ein Heißhungriger auf neue Objektbesetzungen ausgeht.« Freud, »Trauer und Melancholie«, 208. Delfin geht es hingegen eher um die Befreiung aus der melancholischen Disposition; er kanalisiert seinen ›Heißhunger‹ in seine Rachepläne. Allerdings besteht, wie ich zeigen werde, die melancholische Bindung zu seinem traumatischen Verlust weiter. 44 | Freud, »Trauer und Melancholie«, 208. 45 | Dem Deutschen Wörterbuch zufolge ist im Wort Rache »ein alter gemeingermanischer rechtsbegriff beschlossen, das setzen auszerhalb des landrechts und die austreibung aus dem lande in folge angriffst auf den landfrieden«. »Rache«, in: Deutsches Wörterbuch von Jacob Grimm und Wilhelm Grimm, Erstbearbeitung (1854-1960), digitalisierte Version: http://woerterbuchnetz.de/cgi-bin/WBNetz/wbgui_py?sigle= DWB&mode=Vernetzung&lemid=GR00095#XGR00095 (2.5.2018). Im Kontext der Entwicklung des Rechts kann Rache also eine staatliche Reaktion auf Landfriedensbruch bedeuten. Ein Restgehalt dieser Bedeutung haftet der Rache selbst im Zuge der

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Im nächsten Augenblick drang es wie ein Feuerstrom durch alle meine Sinne. Der Entschluß stand fest, das Werk, das Ihr auf dem offenen Wege des Rechts und des Gesetzes nicht hattet vollbringen können, auf dem Wege der Gewalt und einer furchtbaren Notwehr, mit dem Arm des unsichtbaren Richters und Rächers zum Heil meines teuren Vaterlandes hin auszuführen. (46)

Sein gesamter Körper wehrt sich gegen die neuerliche »Resignation«; die Angst davor durchfährt Delfin wie ein »Feuerstrom«, der den »Entschluß« zur »furchtbaren Notwehr« auslöst. Wirkte anfangs Querinis Reforminitiative wie ein Antidepressivum auf Delfin, soll ihn nun sein Racheplan vor einem Rückfall in die Melancholie schützen. Genau diesen Umstand sucht Delfin dadurch zu verbergen, dass er gegenüber Querini (und sich selbst) alle persönlichen Aspekte seiner Rache herunterspielt und sie damit rechtfertigt, dass er sie als Fortführung der Reformen mit anderen Mitteln präsentiert. Delfins Rache stellt einen Versuch dar, sich von einem ohnmächtigen Zuschauer in einen aktiv Handelnden zu verwandeln. Dass Delfin Rache als eine Art Ersatz zur Trauerarbeit ansieht, zeigt sich, wenn er an Querini schreibt, dass er nur einen Wunsch habe, nämlich ihm, Querini, im »befreiten Venedig« noch einmal zu begegnen, das möge Gott ihm »als einzigen Ersatz für alles, was er mir genommen«, gewähren (47). Er betrachtet seine erfolgreiche Rache also als Ausgleich für seinen traumatischen Verlust und damit auch als Ende von Trauer und Melancholie. Die Verbindung von Delfins Rache mit dem traumatischen Verlust seiner Familie bleibt im Text stets sichtbar, da seine Person immer wieder mit den Toten assoziiert wird: Sobald er alleine ist, wird sein Gesicht »immer düsterer und schmerzlicher« und er »schien für alles um ihn her erstorben, und nur die Augen lebten an ihm« (38). In dieser totenähnlichen Starre spiegeln sich seine persönlichen Verluste wider, die – entgegen seiner eigenen Rhetorik – seine Rache mit motivieren. Delfin bekräftigt seine Identifikation mit den Toten nicht nur dadurch, dass er sich der Vorstellung verschreibt, er sei mit dem Rest seiner Familie unter dem »rauchenden Schutt« (45) begraben, und dass er den Namen eines Verstorbenen annimmt, sondern auch dadurch, dass er sich wiederholt als Kranken bezeichnet, der nicht mehr lange zu leben hat. Dass der Tod konstitutiv für seine Identität ist, zeigt sich zudem auch darin, dass das einzige Bild, das er von seiner Zukunft entwerfen kann, das seines bevorstehenden Ablebens ist.

»verallgemeinerung des begriffs« weiter an, denn es »bleibt immer die vorstellung des vertreibens und verfolgens im hintergrunde«. Allerdings wurde der oder die Vertriebene dadurch nicht zu einem homo sacer im Sinne Agambens – Rache mittels Vertreibung wurde vielmehr als mildere Alternative zur Strafe der Vogelfreiheit betrachtet.

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Der Fall Andrea Delfin präsentiert Rache als eine weitere Unfähigkeit zum Trauern neben Melancholie und Manie, mit denen sie zugleich bestimmte Elemente teilt: Wie der melancholische Mensch sind auch Rache Übende unfähig, das Verlorene loszulassen; dem manischen ähneln sie wiederum darin, dass sie sich, anstatt zu trauern, zwanghaft in Aktivität stürzen und nach Triumph streben. Was in der Rache jedoch noch hinzukommt, ist ihre ganz eigene Bedeutung der Zeit. Nach Freud ist Trauer und Melancholie gemein, dass sie »nach einem gewissen Zeitraum abgelaufen« sind, wenn der Verlust be- bzw. durchgearbeitet wurde. Rache hingegen kennt kein Verfallsdatum. Denn anstatt den Verlust zu verarbeiten, stellen Rächer und Rächerinnen ihn ins Zentrum ihrer Welt. Wenn Delfin in seinen Briefen an Querini seine Handlungen als politischen Widerstand darstellt, formuliert er am Ende nichts anderes als eine manische Rhetorik der Rache, die seine Unfähigkeit zu trauern oder, um mit Christiane Arndt zu sprechen, Abschied zu nehmen kompensieren soll. Delfins Morde etablieren wie gesagt keine neue Ordnung, sondern stoßen die Gesellschaft lediglich in eine tiefe Unsicherheit. Die Erzählstimme beschreibt die Auswirkungen seiner Rache nach dem zweiten Anschlag wie die eines Erdbebens: In den Schrecken des ersten Bebens »mischt sich zu lebhaft Überraschung und Befremden«, und so haftet dem Ereignis etwas Unwirkliches an und erst die »Wiederkehr der Gefahr verewigt die Furcht und deutet auf eine unabsehliche Reihe von Schrecknissen hinaus« (92). »Unabsehlich« bedeutet einerseits, dass etwas mit den Sinnen nicht überblickt bzw. begriffen werden kann, und andererseits, dass etwas nicht berechnet bzw. beurteilt werden kann. Wenn die Angst als eine vor weiteren »unabsehliche[n]« Gewalttaten beschrieben wird, wirkt dieses Adjektiv wie eine ins Visuelle übertragene Form der unerhörten Begebenheit. Durch die für alle sichtbaren Toten repräsentiert Delfins Rache im (juristischen) Alltag Venedigs eine unvorhersehbare Begebenheit, deren Auswirkungen nicht eingeschätzt werde können. Es ist das Voraus der Rache, dass sie in der Zukunft erfüllt werde, in der wir jederzeit ankommen könnten, das auch ihre Macht in Die schwarze Spinne und Die Judenbuche ausmacht. Die Rache lebt in der Drohung weiter, dass weitere Morde jederzeit geschehen könnten, in dem Versprechen, kein Ende zu nehmen. Während Delfins Trauma auf ein spezifisches Ereignis – den Überfall auf sein Elternhaus – zurückgeführt werden kann, sind es für die Gemeinschaft die wiederholten Rachemorde, die destabilisierende Auswirkungen haben. Beide Episoden werden im Text sprachlich verknüpft: Das Vokabular, mit dem der Effekt des (nicht unmittelbar tödlichen) Mordanschlags auf den zweiten Staatsinquisitor beschrieben wird, erinnert daran, wie Delfin seinen Zustand nach dem Anschlag auf die Familienvilla der Candianos beschreibt:

IV. Rache als Unfähigkeit zu trauern

Aber die Wunde des Inquisitors gefährdete dennoch das Leben und verursachte jedenfalls einen Stillstand in der Tätigkeit des Geheimen Tribunals, das ohne Einstimmigkeit seiner drei Mitglieder keinen Spruch tun durfte. Seine Herrschaft war also für den Augenblick gelähmt, und, was wichtiger war, das undurchdrungene Geheimnis, in das sich die feindliche Macht hüllte, zerstörte den Glauben an die Allwissenheit und Allmacht des Triumvirats. (93, Hervorh. D. H.)

Mit dieser Beschreibung etabliert der Text eine Nähe zwischen Delfins Rache und seinem Trauma. Auch für Delfin hatte seine ›Wunde‹, das Trauma seines Verlusts, sein Leben zum »Stillstand« gebracht und er verbrachte viele Jahre wie »gelähmt«, unfähig eine Entscheidung zu treffen. Wie in Grete Minde wird der Racheakt als ein Nachstellen des erlittenen Verlusts lesbar: Auch in Andrea Delfin ist nicht nur die »revenge fantasy«, sondern der Racheakt ein »mirror image of the traumatic memory«.46 In Andrea Delfin lässt sich Arndts Gedanke, dass realistische Texte Wirklichkeit als Auseinandersetzung mit Verlust präsentieren, anhand von Delfins Unfähigkeit zu trauern bzw. Abschied zu nehmen nachvollziehen. Seine Rache erlaubt ihm nicht nur »das Gegenwärtige festzuhalten«.47 Inszeniert als Spiegelbild seines Verlusts, stellte sie zugleich einen Versuch dar, »Möglichkeiten der Repräsentation zu finden, die es erlauben, den unausweichlichen Verlust aufzuschieben oder gar ganz zu umgehen«.48 Wenn Delfin in den Briefen sein Handeln als Befreiungskampf im Namen der Bevölkerung darstellt, verbirgt er vor Querini wie auch vor sich selbst die Bedeutung, die der Verlust seiner Familie für ihn hat. Der Text untergräbt seine Perspektive jedoch als verirrte Weltsicht, indem sie von anderen Figuren sowie Kommentaren der Erzählstimme negiert wird. In Andrea Delfin wie auch in Grete Minde kollidiert die von persönlichen Verlusten geprägte Perspektive der Rache Übenden nicht nur mit dem Rechtswesen, sondern auch mit der Sicht der Gemeinschaft. Beide Texte grenzen Rache also dadurch ein, dass sie sie als eine von Verlust durchsetzte und damit verirrte Weltsicht präsentieren. Auf das Vergangene fixiert, ist ihre Zukunftsvision nichts als eine Sehnsucht nach einer verlorenen Vergangenheit. Die Lähmung, die Delfins Rache bewirkt, trifft nicht nur das Tribunal, sondern breitet sich auf das Volk aus: Für einen Moment zwingt Delfin dem Tribunal einen Stillstand auf, der seine eigene Ohnmacht reflektiert. Doch diese Ohnmacht ist Delfin nicht genug. Wie die Staatsinquisition Delfin töten wollte, zielt er im Gegenzug darauf ab, das »Tribunal abzuschaffen« (35), um ein »befreite[s] Venedig« (47) zu etablieren. Der Rat der Zehn reagiert auf die seine 46 | Herman, Trauma and Recovery, 189. 47 | Arndt, Abschied von der Wirklichkeit, 15. 48 | Arndt, Abschied von der Wirklichkeit, 15.

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Mechanismen lähmenden Morde mit mehr Druck auf die Bevölkerung; er schränkt ihre Bewegungsfreiheit weiter ein und stellt mehr Spitzel ein: »Halb Venedig war besoldet, daß es die andere Hälfte überwachte« (94). Das Misstrauen untereinander steigt: »Der Rückschlag zeigte sich bald in der Verödung der Stadt, wo alles zu stocken schien« (94). Das gewaltsame Wechselspiel zwischen Rächer und Inquisitoren kumuliert im Bild der ausgestorbenen Stadt, in dem sich das ausgebrannte Haus der Candianos um ein Vielfaches vergrößert abzeichnet. Es ist das Unwissen um die Identität des Täters, die Delfin eine solche Verödung bewirkende Macht verleiht, da sie die Inquisitoren mit ihren geheimen Identitäten und ihre darauf fußende (All‑)Macht in aller Öffentlichkeit dem Spott preisgibt. Da der Rat nicht einmal einen konkreten Verdacht hat, kann er nicht das Mittel der Präventivstrafe einsetzen. Delfins Rache verwandelt ganz Venedig in die Landschaft seines eigenen Traumas. Im Verlauf dieses Prozesses haben seine Handlungen ganz ähnliche Auswirkungen wie die Herrschaft der verhassten Inquisition. In der Rache spiegelt sich also nicht nur der Verlust wieder, den der Rächer erlitten hat, sondern mit dem Nachstellen des Traumas im Racheakt nähert sich das Opfer auch immer mehr dem Täter an.49

D as U nerhörte der unerhörten B egebenheit Delfins Rachefeldzug endet mit einer unerhörten Begebenheit, die seinem eigenen Racheplan entspringt – er ermordet versehentlich seinen Freund Rosenberg: »Ich habe den Richter gespielt und bin zum Mörder geworden«, schreibt er in seinem zweiten Brief an Querini (115). Diese Verlagerung des Wendepunkts der Novelle in die Psyche Delfins bedeutet nicht, dass seine Geschichte als »Psychologisierung und Pathologie der Ausnahmefälle abzuwerten« ist.50 Die Wechselwirkung zwischen subjektiver und systemischer Gewalt offenbart vielmehr, dass Delfin und die Inquisition in derselben Pathologie gefangen sind. Ein Höhepunkt der Annäherung zwischen staatlicher (systemischer) und rächender (subjektiver) Gewalt ist der Moment, in dem die Inquisition nach dem ersten Mord ausgerechnet Delfin als Spion anwirbt. Er sieht sich in der Rolle des Doppelagenten in eigener Sache und erfährt so von dem geplanten Anschlag auf den Freud. Beim Versuch, Rosenberg zu schützen, indem er einen weiteren Staatsinquisitor ermordet, richtet er wie schon erwähnt seinen Dolch versehentlich gegen den Freund:51 Die »unsichtbare Hand« des Rächers 49 | Thomas, »An Eye for an Eye«, 303. 50 | Aust, Realismus, 225. 51 | Ebenso wie Delfin Rosenberg gegenüber äußert, »ich [wünschte] fast, Ihr reiset nicht gerade jetzt« (98), riet er einst seinem Bruder, »nicht sogleich abzureisen, um

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wird zur Exekutive des geheimen Tribunals (68).52 Der Anschlag auf Rosenberg schießt sogar über das Ziel der Inquisition hinaus, die ihn gar nicht tot sehen will: »Man sähe es lieber, wenn er krank wäre«; man war allerdings »der Meinung nicht, daß das Mittel tödlich sein soll; dies wäre sogar ernstlich zu verhüten« (106f., Hervorh. i.O.). Delfins Gewalt übersteigt also sogar die vom Tribunal angestrebte. Diese unerhörte Begebenheit führt somit paradoxerweise zur Deckungsgleichheit von staatlicher und rächender Gewalt: Delfin wird ungewollt zum Instrument der Inquisition. Für die venezianische Bevölkerung ist die systemische Gewalt der Staatsinquisition Alltag; Delfins Rache bildet den »Ausnahmefall« innerhalb dieses Alltags, die unerhörte Begebenheit im Sinne eines ungeheuerlichen, kriminellen Ereignisses. Mit dem Mord an Rosenberg wird das Unerhörte gedoppelt: Der Mord stellt gewissermaßen das Unerhörte innerhalb der Rache dar und wirkt wie eine innere Spiegelung der Ausnahme im Ausnahmefall. Mit dieser Dopplung wird Goethes Gattungsprinzip zu einer Strategie, die Rache ins Unrecht verkehrt. Der Mord an Rosenberg präsentiert das Unerhörte dieser unerhörten Begebenheit. Dieses gedoppelte Unerhörte schlägt sich auch im grammatikalischen Gewebe des Textes nieder. Es gibt nur einen Moment in der Novelle, in dem der in Vergangenheitsform verfasste Text ins Präsens wechselt – Rosenbergs Todesmoment:53

nicht neuen Verdacht zu erwecken« (45); was er über seinen Bruder sagt, gilt ebenso für Rosenberg: »Aber ich dachte nicht, daß alles, was ich tat, um ihn und uns zu retten, uns nur um so gewisser verderben sollte« (43). Dass die Versuche, seinen Bruder wie auch Rosenberg zu schützen, misslingen, bestätigt Hillenbrands These: »Überhaupt erweisen sich alle Vorsichtsmaßnahmen als kontraproduktive«, oder anders gesagt, »[d]as Gegenteil ist richtig: wer etwas zu verbergen oder zu verhindern sucht, führt es gerade dadurch herbei«; dies gilt für Rächer und Inquisitoren gleichermaßen. Hillenbrand, Heyses Novellen, 154. 52 | Auf den ersten Blick scheint hier Winfried Freunds Einschätzung bestätigt zu werden, dass die Novelle einen eher konservativen Umgang mit der Thematik des Widerstands pflegt: »Die Novelle duldet keine Alleingänge. Darin liegt ihr häufig hervorgehobener gesellschaftlicher Charakter begründet. Wer sich außerhalb des kollektiv Gültigen stellt, den holt das Gesetz, das Schicksal oder sein persönliches Verhängnis ein und räumt ihn ohne viel Aufhebens aus dem Weg.« Freund, »Einleitung«, 9. Dies heißt nicht, dass Delfins Handeln kein revolutionäres Potential zugeschrieben werden kann, es negiert allerdings seinen Aufstieg zum Helden – ein Status, den ihm nur die Gesellschaft verleihen könnte. 53 | Siehe dazu Mullan, »Death in Venice«, 104.

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Schon näherte sich der Einsame der Brücke. Auf einmal hört er einen Fußtritt hinter sich, er wendet sich um, die Hand läßt den Mantel sinken, aber in demselben Augenblick bricht seine hohe Gestalt zusammen; der Stahl war ihm tief ins Leben gefahren. (109)

Als der verkleidete Rosenberg seinen Mörder hinter sich hört, wechselt die narrative Stimme ins Präsens und beschreibt, wie er tot zusammenbricht, ohne dass die körperliche Präsenz des Mörders in dieser Szene explizit benannt wird. In dem Moment, in dem Delfin im Sinne der Inquisitoren handelt, wird er selbst wie das Unsichtbare beschrieben, das deren Macht charakterisiert. Dass es ein Dolch war, der ihm »tief ins Leben gefahren«, erfahren wir erst im nächsten Satz, in dem die Erzählstimme bereits wieder ins Präteritum gewechselt ist. Das traumatische Präsens markiert dieses Ereignis als eines, das nicht zeitlich in den Rest der Novelle eingeordnet oder fixiert werden kann, und damit als unerhörte Begebenheit der Novelle. Als Delfin in dem Toten seinen geliebten Freund erkennt, überkommt ihn, wie beim Verlust seiner Familie, eine »Starrheit seines Leibes« (98). Rosenberg war die einzige Figur, die Delfin zeitweise aus seiner emotionalen Todesstarre reißen konnte. Seine Rache versetzt ihn also am Ende zurück in den Schockzustand, der sie erst ausgelöst hatte. Delfin platziert den Körper seines toten Freundes – wie einst die ermordeten Staatsinquisitoren – in aller Öffentlichkeit und inszeniert ihn so als sichtbaren Ausdruck staatsfeindlicher Gewalt. Die Leiche des Barons wird dabei zum Körper einer doppelten Einschreibung, die nur für Delfin selbst lesbar ist. Indem er seinen Dolch aus der Leiche zieht und an sich nimmt, verbirgt er das Scheitern seiner Rache und lenkt den Verdacht auf die Inquisitoren. Delfin vertuscht seine Rolle im unerhörten Mord des Freundes und tarnt den fehlgegangenen Racheakt als Gewalt der Inquisition.54 Mit dem Mord wird das Ziel der Rache – das Sichtbarmachen der unsichtbaren Staatsgewalt – ad absurdum geführt: Die Wunde im Körper des Freundes, die das Scheitern der Rache darstellt, erscheint als Ausdruck der Staatsgewalt.55 54 | Bevor Andrea Delfin sich das Leben nimmt, gesteht er seine Taten in einem zweiten Brief an sein Vorbild, den Reformer Querini. Mullan betrachtet die Briefe als Schwäche der Novelle, denn diese Kommunikationsform habe »the unfortunate effect of dissipating most of the tension so skillfully built up in the opening pages of the story«. Mullan, »Death in Venice«, 107. Meines Erachtens betonen die Briefe vor allem Delfins Isolation: Während Grete Minde vor den Rat wie auf eine Bühne tritt und ihr Recht fordert, indem sie ihren auswendig gelernten Text vorträgt, richtet Delfin die Rechtfertigung seiner Handlungen nicht an ein Publikum, sondern allein an einen Leser – er schickt seine Nachricht ironischerweise ins Exil. 55 | Hannelore Schlaffer eröffnet neben den bisher diskutierten Bedeutungen des Unerhörten als unerwartete und überraschende Begebenheit – zu denen wir im Hinblick

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D isqualifizierte R ache Der für Heyse von Ludwig Tieck geebnete Weg der Novelle »aus der Zaubernacht und Dämmerung der Romantik in das helle Tageslicht heraus«56 endet für Delfin mit der Überzeugung, dass die einzige Möglichkeit, die ihm nach dem Scheitern seiner Mission verbleibt, der Suizid ist. Andrea Delfin vermeidet damit nicht nur einen Auftritt vor Gericht – er verurteilt sich, wie Grete, selbst zum Tode. Ich lese diese beiden Suizide sowie das Vermeiden eines Prozesses, bei dem die Gründe der Rache thematisiert würden, als Strategie beider Texte, um den möglicherweise aufrührerischen Effekt der Rache einzugrenzen und das subjektive Verständnis von Gerechtigkeit zu diskreditieren, das die Rache in sich trägt. Am Ende der Novelle – wie um seinen Decknamen Delfin zu parodieren – stürzt er sich von einer Gondel ins Meer und ertrinkt. In seinem Abschiedsbrief an Querini schlägt er einen reuigen Tonfall an und verkündet, er werde sich nun »vor das Angesicht Gottes, des höchsten Richters« begeben (115). Mit dem Eingeständnis, er habe sich »der Gerechtigkeit angemaßt, die Gott sich vorbehalten« (115), will er jedoch nicht sagen, dass er sich dieser Macht unterwirft, denn sein Suizid stellt sicher, dass er bis zuletzt sein eigener Richter auf Grete Minde auch noch die ungehörte Klage hinzufügen können – noch eine weitere Bedeutung des Unerhörten in Goethes unerhörter Begebenheit: das Obszöne der Begebenheit. Schlaffer argumentiert, dass das für Boccaccio charakteristische »sexuelle[] Zentrum der Novellenhandlung« in den Novellen des 19. Jahrhunderts verschleiert werden sollte. Schlaffer, Poetik der Novelle, 32. Eine Taktik sei dabei die Bestrafung gewisser Liebesbeziehungen. Bestrafung sei dabei nicht zwingend juristisch zu verstehen, sondern könne auch die Form einer sozialen Strafe annehmen, etwa die der gesellschaftlichen Ausgrenzung, wie sie Grete Minde erfährt. Das Verbrechen sollte also die eigentliche, für Schlaffer immer sexuell konnotierte, unerhörte Begebenheit verschleiern. Schlaffers Ansatz steht im Dialog mit Rolf Füllmann, der argumentiert: »[…] als ›Falke‹, als Hauptmotiv im Sinne der Novellentheorie Heyses, fungieren in diesen Novellen oftmals Wunden und Narben, die sich die geschlechtlichen Antipoden häufig gegenseitig zufügen und die dann Rache und liebende Pflege motivieren.« Rolf Füllmann, »Die symbolischen Wunden – Paul Heyses Novellen und das weibliche Begehren – Teil I: Frauengestalten zwischen Fantastik und Exotik«, in: Studia Germanica Universitatis Vesprimiensis 2 (1998), 145-166, hier: 145. Für Füllmann sind die – auch für ihn sexuell konnotierten – Wunden die eigentlichen Handlungsmotive von Heyses Novelle, um die sich die zwischenmenschlichen Beziehungen konfigurieren. Demnach wäre nicht der Mord an Rosenberg, sondern Delfins innige Freundschaft mit ihm das Unerhörte der Novelle. Damit wäre allerdings die Rache als Thematik der Novelle auf eine Verschleierungstaktik der homoerotischen Beziehung reduziert. 56 | Heyse, »Einleitung zum Deutschen Novellenschatz«, 247.

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bleibt. Dafür sprechen auch die Gedanken, die ihn auf der Gondelfahrt beschäftigen, nachdem er den Brief an Querini bereits verfasst hat: Und begleitete ihn nicht noch immer die Hoffnung, daß aus seiner Freveltat dennoch Rettung und Befreiung für seine Mitbürger erblühen könne, daß vielleicht sogar der Mord des Unschuldigen, den die Stimme des Volkes unfehlbar dem Tribunal zuschreiben würde, das begonnene Werk vollenden und das Maß der Gewaltherrschaft würde überfließen machen? (114)

Obwohl Delfin in seinem letzten Brief an Querini eingesteht, dass seine Rache gescheitert ist, versucht er gerade mit seinem Tod noch ihr Weiterwirken abzusichern. Der Mord an Rosenberg kann nämlich »ebenso zur Stabilisierung des tyrannischen Systems wie zu seiner Demontage beitragen, je nachdem ob er als Meuchelmord im Auftrag der ›Staatssicherheit‹ oder als weiteres Beispiel für die Ohnmacht seines scheinbar allgegenwärtigen Überwachungsapparates an die Öffentlichkeit dringt«.57 Erst dadurch, dass Delfin verschwindet, ohne vorher als Mörder identifiziert worden zu sein, ergibt sich die Möglichkeit, dass sein Tod eine nachhaltige Wirkung haben kann. Denn solange niemand um den Tod des Rächers weiß, bleibt die Drohung bestehen, dass weitere Gewaltakte folgen. Delfin stirbt einen leisen Tod, der nicht von »einer allgemeinen Klage des Volks«58 begleitet wird wie Michael Kohlhaas’ Hinrichtung bei Kleist. Heyse inszeniert Delfin geradezu als Anti-Kohlhaas. Indem er seine Motive geheim hält, können seine Taten keine allgemeine Anerkennung finden. Und doch ist beiden Rächern gemein, dass ihre Rache Gerechtigkeit für alle bringen soll, und zwar in der Zukunft, nach ihrem Tod. Die Rache steht hier, wie auch bei Grete Minde, am Ende über dem Leben. Wenn Delfin am Ende des Textes mit der Gondel aufs offene Meer fährt und sich in den Fluten das Leben nimmt, evoziert dieses Bild die frühere Szene, in der eine Gondel, die mit drei Passagieren aufs Meer fährt, nur mit zwei zurückkehrt. Der Selbstmord Delfins wiederholt dieses Bild, allerdings ist es 57 | Aust, Realismus, 226. Welche dieser beiden Möglichkeiten eher zutrifft, bleibt in der Novelle offen; Aust liest sie vor dem Hintergrund der historischen Ereignisse: »Als historische Novelle, die das Ende der venezianischen Republik im Jahr 1797 als sicheres Zukunftswissen voraussetzen kann (Venedig fällt im Frieden von Campoformio an Österreich), und als Parabel, die den Zerfall des Habsburger Imperiums als zeitgenössische Wirklichkeit vor sich hat (Österreich verliert nach den Niederlagen von Magenta und Solferino die Lombardei an Frankreich bzw. an das national erwachte Italien), situiert sie ihren Konflikt in einem vieldeutigen, unabgeschlossenen Raum, der mit kryptischen Signalen für die eigene Gegenwart versehen ist.« Aust, Realismus, 226. 58 | Kleist, »Michael Kohlhaas«, 142.

IV. Rache als Unfähigkeit zu trauern

nun Delfin selbst, der das Urteil vollzieht, das die Inquisition von Beginn an über ihn gefällt hatte: die Todesstrafe. Die Novelle endet mit einer »leere[n] Gondel«, die »auf der Brandung tanzte« – von Delfin »keine Spur« (116). Selbst mit seinem Suizid imitiert Delfin also noch die Verfahren der Inquisition, die er zu durchkreuzen denkt, und verwandelt sich selbst in den Toten, der er für die Welt Venedigs bereits war. Delfins Suizid zeigt beispielhaft, wie sich in Heyses Novelle staatliche und persönliche Gewalt – wie beim Mord an Rosenberg – gegenseitig spiegeln und potenzieren. Durch diese Wechselwirkung sind subjektive und systemische Gewalt in ihrer Erscheinung nicht mehr zu trennen. Delfins Taten richten sich zwar gegen die Inquisition, aber sie entsprechen letztlich deren Zielen. In Andrea Delfin stellt der Rächer den erlittenen Verlust nach, was in dem Moment unheimlich wird, in dem seine Rache, die dem Gedanken der ausgleichenden Gerechtigkeit folgt, am Ende vollständig in der Zielsetzung der Inquisition aufgeht. Es ist das für die Novelle zentrale Gattungsmerkmal – die unerhörte Begebenheit –, die Delfins Rache als Nachstellen der systemischen Rache der Inquisition lesbar macht. In Andrea Delfin legt Rache die Verwandtschaft von subjektiver und systemischer Gewalt offen. Hier fallen rechtsetzende und rechterhaltende Gewalt nicht allein in der Todesstrafe in eins; Charakteristiken der rechterhaltenden Gewalt (wie etwa die Geheimhaltung) mutieren zum Instrument der sich gegen den Staat erhebenden rächenden Gewalt. Die Novelle verdeutlicht, dass sich diese beiden Gewalten nicht klar voneinander trennen lassen, sondern immer Gefahr laufen, ineinander überzugehen oder sich gegenseitig zum Exzess zu steigern. Es ist der Exzess der subjektiven und der systemischen Gewalt, der sich als autodestruktiver Impuls beider herausstellt. Sowohl die unsichtbare Gewalt der Inquisition als auch die sichtbare Delfins kippen immer wieder ineinander und generieren beide nichts als neues Unrecht. Die Novelle zieht alle Register, um Delfins Rache und seine Vision einer gerechteren Wirklichkeit zu diskreditieren. Durch die Dopplung der unerhörten Begebenheit wird die Rache als Ausnahmefall strukturell gedoppelt und damit selbst aus der Sicht des Rächers in Unrecht verkehrt. Darüber hinaus werden die Morde von keiner Figur im Text positiv bewertet. Querini, dessen Mission Delfin fortzuführen meint, reagiert mit »tiefem Kummer« auf die »verhängnisvollen Blätter«, die Delfin an ihn richtet (47). Giovanna und vor allem Rosenberg verdammen die Anschläge, ohne zu wissen, dass Delfin hinter ihnen steckt. Dass Delfin in Bezug auf sein Handeln und seine Rhetorik vollständig isoliert ist, legt den zutiefst subjektiven Kern der Rache offen und unterstreicht, dass sie sich nicht generalisieren lässt. Die Novelle handelt, Heyses Verständnis entsprechend, von einem Ausnahmefall, der die Unmöglichkeit verdeut-

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licht, ein subjektives Begehren in einen allgemeinen Wert bzw. Maßstab zu verwandeln. Es ist diese unerfüllte verallgemeinernde Geste, die in den hier diskutierten Texten immer wieder als Rachefantasie durchgespielt wird. Andrea Delfin sowie Grete Minde erleben den Alltag nicht als neutralen Hintergrund ihres Lebens, sondern als von gewalttätigen Verhältnissen geprägt. Es ist ihre Rache – im Sinne eines Unerhörten, Unabsehbaren –, die diese Verhältnisse lesbar macht. Sowohl in Fontanes als auch in Heyses Novelle führt die systemische Gewalt zu einem persönlichen Verlust bzw. potenziert diesen. Die Ungerechtigkeit, die dem Rächer Andreas Delfin wie der Rächerin Grete Minde von Seiten des Staates wiederfährt, verblasst allerdings im Schatten der exzessiven Gewalt der Racheakte. Unfähig mit seinem traumatischen Verlust umzugehen, verfällt Delfin von der Melancholie in eine manische Aktivität und generiert mit seiner Rache ein Spiegelbild seiner zerstörten Welt. Dass Rache, neben Melancholie und Manie, eine weitere Unfähigkeit zu trauern darstellt, lässt sich auch für Grete Mindes Fall konstatieren. In ihrem Fall nimmt Valtin die Rolle ein, die für Delfin Querini innehat: Valtin eröffnet für sie eine alternative Zukunft zur Missachtung, die sie durch ihren Bruder erfährt. Als auf Valtins Tod dann auch noch der von einem korrupten System bestimmte Gerichtsprozess folgt, wird auch sie von manischer Aktivität ergriffen und stellt mit ihrer Rache – der Zerstörung ihrer Heimatstadt – den erlittenen Verlust nach. Am Ende nehmen sich Grete Minde wie Andrea Delfin das Leben und vollziehen damit die Todesstrafe, die der Staat über sie verhängt hätte, an sich selbst. Wahnsinn, Suizid und Gewaltexzess disqualifizieren Rache in Grete Minde und Andrea Delfin als alternativen Weg zur Gerechtigkeit. In beiden Novellen wird Rache als pathologischer Einzelfall präsentiert und erfüllt damit die Aufgabe, die Heyse der realistischen Novelle zuschreibt, etwas Einzigartiges, eine Verirrung, also die Ausnahme von der Regel darzustellen.

Ritualisierte Rache: Das Duell

V. Vorgeschriebene Rache

Das Duell in Fontanes Cécile (1886) und Effi Briest (1894)

Ich werde täglich an Ihre Ehrengerichtsgeschichte erinnert, freie Menschen von natürlicher unbefangener Empfindung giebt es nicht mehr, alles steckt, zum Theil ohne es zu wissen (und das ist das Allerschlimmste), in Staatspatentheit und Offiziosität. Es ist traurig.1

Ist das Duell überhaupt ein Racheakt? Die strenge Reglementierung des Duells situiert es rein formal eher in der Nähe des Rechts. Zugleich teilt es mit der Rache deren außerrechtlichen Status und das Ziel, einen Betrug oder Ehrverlust zu vergelten. Das Duell stellt sozusagen eine Form der Rache dar, bei der man sich vorher auf die Regeln geeinigt hat, und bildet somit eine Zwitterfigur zwischen Rache und Recht. In Fontanes Cécile (1886) und Effi Briest (1894) begegnen wir der außergewöhnlichen Situation, dass den Ehemännern die Affären ihrer Frauen nicht gleichgültiger sein könnten. Beide Romane kreisen um die Frage, was passiert, wenn im Fordern und Durchführen des Duells kein subjektives, emotionsgeladenes Verlangen nach Rache mehr vorhanden ist. Weswegen und für wen duelliert man sich in Fontanes Texten überhaupt noch? Dieses letzte Kapitel bildet zugleich das Schlusskapitel, denn hier geht es nicht nur um die Darstellung der Rache, sondern auch und gerade um eine Reflexion darüber, wie erfolgreich das Duell darin ist, ihr exzessives Wesen zu bändigen. Rache ist hier nicht der geplante Akt eines oder einer Einzelnen, sondern – in der Form des Duells – zu einem von der bürgerlichen Gesellschaft anerkannten Ritual geworden. In Bezug auf Cécile und Effi Briest ist die Frage nicht, welchen Effekt Rache hat und wie sie mit literarischen Mitteln eingegrenzt wird, sondern welchen Effekt Eingrenzungsstrategien wie das Duell auf das Miteinander und auf das Erzählen haben. 1 | Brief von Theodor Fontane an Georg Friedlaender vom 5. Oktober 1888, in: Theodor Fontane, Briefe an Georg Friedlaender, hg. von Walter Hettche, Frankfurt a.M.: Insel 1994, hier: 135.

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Ritualisierte Rache: Das Duell

Während wir heutzutage Rache mit kaltblütig kalkulierten Gewaltakten assoziieren, die rechtlich besonders hart bestraft werden, da sie nicht im Affekt, sondern vorsätzlich begangen werden, denken wir beim Duell eher an ein Kavaliersdelikt. Dieser Unterschied ist in der Sprache des Duells angelegt: Während das Vokabular der Rache eines des Zurück- bzw. Heimzahlens, des Ausgleichs und der kalkulierten Planung ist, spricht man in Bezug auf das Duell nicht von Verletzung, sondern von Ehrverletzung, nicht von Genugtuung, sondern von Satisfaktion. Zwar bedeutet das lateinische satisfactio nichts anderes als eben Genugtuung (satis = genug, facere = tun), aber verwendet wurde der Begriff der Satisfaktion lediglich im Kontext des Duells. Fontanes Romane betonen einen entscheidenden Unterschied zwischen Rache und Duell: Während Rächer und Rächerinnen von ihrem eigenen Gerechtigkeitssinn motiviert sind, folgt der Duellant einem von der bürgerlichen Gesellschaft anerkannten oder vielmehr vorgegebenen Ehrenkodex.2 Cécile und Effi Briest spielen die Frage der Ehre anhand der Thematik des Ehebruchs durch, den die betrogenen Ehemänner in erster Linie als Angriff auf ihre Ehre und damit als Bedrohung ihres gesellschaftlichen Status betrachten, der nur durch ein Duell verteidigt werden kann. Duell und Rache streben zwar beide nach Ausgleich, aber im Duell erhält der Verlust, der ausgeglichen werden soll, ein entscheidendes Präfix: Verlust ist hier Ehrverlust und damit vor allem einer in den Augen der Gesellschaft. Insofern die Ehre im Zentrum des Duelldiskurses steht, wird der Racheimpuls zur Ehrensache verkehrt. Im gleichen Zug fällt die am Ehebruch beteiligte Frau gänzlich aus dem Diskurs heraus und wird in Fontanes Texten aus der Gesellschaft verwiesen. Literarisch wie historisch lassen sich Fontanes Darstellungen des Duells zwischen Kleists Der Zweikampf (1811) und Schnitzlers Leutnant Gustl (1900) situieren. Kleists Novelle beschäftigt sich mit einem früheren Verständnis des Zweikampfs, das diesen noch als integralen Teil des Rechtssystems, in dem ein Gottesurteil zum Ausdruck kommt, versteht. Worin dieses Urteil besteht, wird in Kleists Text zur wesentlichen Frage, da der Zweikampf zwar eindeutig ausgeht – der eine Duellant wird leicht, der andere lebensgefährlich verletzt –, die Folgen der Verletzungen jedoch dieses Resultat umkehren, da der leicht Verletzte tödlich erkrankt und sich der lebensgefährlich Getroffene erholt: »The problem being one on this occasion that those who read the judgment of God 2 | Für eine Diskussion der Rolle der Ehre innerhalb des Duelldiskurses siehe: Ute Frevert, Ehrenmänner. Das Duell in der bürgerlichen Gesellschaft, München: dtv 1995, 109146; Norbert Elias, Studien über die Deutschen. Machtkämpfe und Habitusentwicklung im 19. und 20. Jahrhundert, hg. von Michael Schröter, Frankfurt a.M.: Suhrkamp 1989, 14-146; Jeffrey Schneider, »Masculinity, Male Friendship, and the Paranoid Logic of Honor in Theodor Fontane’s Effi Briest«, in: The German Quarterly 75/3 (Sommer 2002): 265-281.

V. Vorgeschriebene Rache

are forced to read a second time, differently.«3 Bei Kleist soll der Zweikampf eigentlich zeigen, wer durch den göttlichen Urteilsspruch als Schuldiger ausgemacht wird, aber »what God reveals to the spectators, if he reveals anything at all, is not quite ›truth‹ but entanglement of traces«.4 In Der Zweikampf folgt das Duell theoretisch noch dem binären Rechtsgedanken germanischer Stammesgesellschaften, nach dem das Recht, wie Foucault konstatiert, »nur eine bestimmte, geregelte Form des Zweikampfes und der Ausübung von Rache« war.5 Rechtskonflikte wurden demzufolge allein zwischen den zwei streitenden Parteien geklärt, es gab keine dritte, richtende, sondern allein eine interpretierende Instanz, die den Zweikampf las und die in Der Zweikampf eben darin versagt, eine eindeutige Interpretation zu liefern. Laut Foucault war »die Ähnlichkeit mit einem Duell, bei dem zwei Individuen, Familien oder Gruppen gegeneinander antraten«, in einem binären Rechtssystem »typisch für eine strafrechtliche Auseinandersetzung«.6 Für das germanische Recht galt demnach: »[…] das strafrechtliche Verfahren war lediglich die Ritualisierung dieses Zweikampfes.« 7 Im modernen Verfahren wird der binäre Rechtsgedanke, der dem Zweikampf zugrunde liegt, trianguliert, insofern zu den zwei Streitenden noch ein Richter hinzukommt. Diese Erweiterung bildet den Kern des Wechsels der juristischen Formen, der sich um 1800 herum vollzieht. Duelle erscheinen in dieser Übergangszeit gewissermaßen als letztes Relikt des binären Rechtsgedankens, das zwar unter Strafandrohung steht, aber dennoch insofern geduldet ist, als es nur milde bestraft wird.8 Im Verlauf seiner Entstehungsgeschichte seit dem 16. Jahrhundert wurde das Duell nach und nach strikteren Regeln unterworfen: Es erhielt ein immer enger geflochtenes Regelwerk, das die Abläufe vom Zeitrahmen, in dem das Duell stattfinden kann, über die dem ›Ver3 | Carol Jacobs, Uncontainable Romanticism. Shelley, Brontë, Kleist, Baltimore: Johns Hopkins Press 1989, 160. Am Ende stirbt zwar ein Mörder, aber damit ist die Ordnung nicht unbedingt wieder hergestellt, vielmehr sind Duell und Urteil als Mittel der Wahrheitsfindung fraglich geworden. 4 | Jacobs, Uncontainable Romanticism, 167. 5 | Michel Foucault, Die Wahrheit und die juristischen Formen, übers. von Michel Bischoff, Frankfurt a.M.: Suhrkamp 2003, 56. 6 | Foucault, Die Wahrheit und die juristischen Formen, 55. 7 | Foucault, Die Wahrheit und die juristischen Formen, 55f. 8 | Das Duell lebte so auch nach seinem Verbot fort, wenngleich immer mehr im Verborgenen. Es stellte zwar eine Bedrohung des staatlichen Gewaltmonopols dar, aber dadurch dass es strafrechtlich verfolgt wurde, kamen die Fürsten in die Position, die Strafen für die Duellanten zu mildern und damit eine Machposition gegenüber dem Adel (und später dem Bürgertum) gerade durch das Dulden des Duells aufrechtzuerhalten. Siehe Frevert, Ehrenmänner, 80-93.

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Ritualisierte Rache: Das Duell

brechen‹ angemessenen Waffen bis zur genauen Anzahl der Schritte (beim Duell mit Schusswaffen) genauestens reglementierte. Der Duellkodex teilt mit dem Realismus also die Liebe fürs Detaillierte. Die Geschichte des Duells umfasst also eine Ritualisierung der Rache, die mit einer Disziplinierung einhergeht.9 Dass sich das Ritual vor allem auch als eine den Körper streng reglementierende Abfolge bestimmter Handlungen präsentiert, hebt seine militärischen Wurzeln hervor. In diesem Sinne lese ich das Duell – wie wir ihm etwa bei Kleist begegnen – als Vorläufer der Disziplinierung der Gesellschaft im Sinne Foucaults. Anders gesagt, das Phänomen des Duells antizipiert den Wechsel der juristischen Formen. Als Schwellenfigur trägt es die Merkmale unterschiedlicher juristischer Formen in sich und damit auch deren Reibungsstellen und Konfliktpotentiale. Die Darstellung des Duells in realistischen Texten repräsentiert die letzten Zuckungen des Duells als ritualisierte Form rächender Selbstjustiz. Fontanes Texte zeigen, wie sich militärische Prinzipien mit längst überlebten gesellschaftlichen Verhaltensanforderungen in einem parajuristischen Ritual verschränken, das über gesellschaftliche Zugehörigkeit entscheidet. Cécile und Effi Briest skandalisieren das Fortbestehen dieses parajuristischen Rituals, indem sie in aller Deutlichkeit zeigen, wie das Duell nicht nur als militärisches Ritual, sondern vor allem als Forderung der bürgerlichen Gesellschaft weiterbesteht. In Fontanes Romanen geht es nicht mehr um das Duell als juristische Form, die ein göttliches Urteil verkörpern soll, sondern um die Frage – und an diesem Punkt greifen die Romane eine sozialhistorische Problemstellung auf –, welche Rolle dieser parajuristischen Form im Zuge der Modernisierung des Gerichtswesens überhaupt noch zukommt. Cécile und Effi Briest weichen allein darin von Kleists Der Zweikampf ab, dass sie das Duell dezidiert als außerrechtliches Phänomen thematisieren. Hier geht es nicht wie bei Kleist um die hermeneutische Ebene, also um die Lesbarkeit des Duells, sondern um die 9 | Das Regelwerk des Duells mit seinen genauen Vorschriften und Protokollen der körperlichen und zeitlichen Abläufe erinnert an die von Foucault beschriebenen Vorschriften in militärischen, schulischen und medizinischen Institutionen. Nach Foucault zielt die Disziplinierung der Gesellschaft explizit auf den Körper: »Der menschliche Körper geht in eine Machtmaschinerie ein, die ihn durchdringt, zergliedert und wieder zusammensetzt«, wodurch die Disziplin am Ende »unterworfene und geübte Körper, fügsame und gelehrige Körper« fabriziert. Michel Foucault, Überwachen und Strafen. Die Geburt des Gefängnisses, übers. von Walter Seitter, Frankfurt a.M.: Suhrkamp 1977, 176f. Allerdings möchte ich an dieser Stelle nochmals betonen, dass das Duell nicht schlicht Ausdruck der Durchsetzung der Disziplinarmacht spätestens im 19. Jahrhundert ist, sondern dieser zeitlich vorausgeht. Das Duell hat in seiner binären Struktur also einige Merkmale mit den Disziplinierungsstrategien gemein, sperrt sich jedoch zugleich dagegen, in das moderne Rechtswesen aufgenommen zu werden.

V. Vorgeschriebene Rache

Konsequenzen, die sich daraus ergeben, dass dieser ritualisierte Racheakt weiterhin von der Gesellschaft eingefordert wird. Während sich bei Kleist das Urteil am Körper der Duellanten abzeichnen soll, ist die Handlung in Leutnant Gustl vollständig ins Innere des Protagonisten verlagert. Fontane und Schnitzler stellen beide den vehementen sozialen Druck dar, der auf Männern lastet, insofern sie ihre Ehre nicht mit Worten, sondern im Duell unter Beweis stellen sollen. Anders als bei Schnitzler, bei dessen Protagonisten Gustl sich das Duell allein in dessen innerer Wirklichkeit, und zwar als innerer Monolog abspielt, wird das Duell bei Fontane weder als Konflikt mit anderen Personen noch als einer innerhalb des eigenen Selbst inszeniert. In Cécile und Effi Briest ist das Duell in erster Linie Produkt einer gesellschaftlich oktroyierten Forderung, die im Zusammenbruch kommunikativer wie persönlicher Konstellationen und letztlich im Tod der Protagonistinnen mündet. Im Gegensatz zu den bisher behandelten Novellen rekurrieren Fontanes Cécile und Effi Briest explizit auf zeitgenössische Vorbilder.10 Sie sind allerdings nicht nur in diesem Sinne Zeitromane,11 sondern zeichnen sich durch eine 10 | Die Handlung von Effi Briest korrespondiert streckenweise mit der sogenannten Ardenne-Affäre, die mit dem Duell zwischen Elisabeth von Ardennes Ehemann und ihrem Liebhaber Emil Hartwich endet. Ein zentraler Unterschied zwischen dem historischen Fall und Fontanes Roman ist, dass Armand von Ardenne den Briefwechsel zwischen seiner Frau und Hartwich entdeckte, während die Affäre stattfand. Zu Details der Ardenne-Affäre und Fontanes Umgang mit dem historischen Material siehe Christiane Hehle, »Stoff. Ein preußischer Skandal und seine Metamorphose im Roman«, in: Theodor Fontane, Das erzählerische Werk. Große Brandenburger Ausgabe, Bd. 15: Effi Briest, hg. von Christiane Hehle, Berlin: Aufbau 1998, 353-362. Auch die Handlung in Cécile entspricht in groben Zügen historischen Begebenheiten, wie etwa der Geschichte des Ehepaars Eulenberg, und beschäftigt sich mit der rechtsgeschichtlichen Problematik des Duells in der Epoche des Realismus. Siehe Hans Joachim Funke und Christine Hehle, »Stoff. ›Finden, nicht erfinden‹«, in: Theodor Fontane, Das erzählerische Werk. Große Brandenburger Ausgabe, Bd. 9: Cécile, hg. von Hans Joachim Funke und Christine Hehle, Berlin: Aufbau 2000, 219-232. 11 | Paul Böckmann versteht Fontanes Romane als Zeitromane: »[Ihr] wesentliches Thema ist der Mensch in seiner Zeitlichkeit, die Macht der Zeit im Wandel der politischgesellschaftlichen Zustände und Ordnungen.« Paul Böckmann, »Der Zeitroman Fontanes (1959)«, in: Wolfgang Preisendanz (Hg.), Theodor Fontane, Darmstadt: Wissenschaftliche Buchgesellschaft 1973, 80-110, hier: 110. Böckmann ist in der Geschichte der Germanistik eine problematische Stimme, da er 1933 das »Bekenntnis der deutschen Professoren an den deutschen Hochschulen zu Adolf Hitler und dem nationalsozialistischem Staat« unterschrieb und ab 1937 Mitglied der NSDAP war. In seinem Verständnis von Fontanes Zeitroman ist er sehr danach bestrebt, die politische sowie zeitkritische Di-

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Ritualisierte Rache: Das Duell

spezifische Temporalität aus: Beide Duellszenarien sind insofern Geistergeschichten, als in ihnen entweder (wie im Fall von Cécile) das Duell davon ausgelöst wird, dass längst Vergangenes immer noch beleidigt, oder (wie im Fall von Effi Briest) eine Affäre Jahre später entdeckt wird. Das Duell ist also von einer doppelten Nachträglichkeit geprägt: Das antiquierte Rechtsprinzip wird von weit zurückliegenden Ereignissen ausgelöst. Dass der »Zwang zum privaten Zweikampf als Zeichen der Zugehörigkeit zu den Schichten, die ›Ehre‹ besaßen«, in Deutschland noch bis ins frühe 20. Jahrhundert wirkte und damit wesentlich länger als in anderen europäischen Ländern, ist Teil der Geschichte dieses veralteten Rechtsrituals.12 Meine Lektüre des Duells in Fontanes Romanen ist Ute Freverts ausführlicher sozialhistorischer Analyse des Phänomens verpflichtet. Sie stellt die Ritualisierung des Duells im späten 17. und 18. Jahrhundert in Zusammenhang mit der »Einbindung des Adels in ein System höfisch-monarchischer Machtkonzeption und -repräsentation« und führt aus, dass sich dies auch auf das Duell auswirkte, »das sich immer deutlicher zu einem hochgradig ritualisierten Ehrenzweikampf entwickelte, in dessen formaler Gebundenheit sich das steife Zeremoniell der höfischen Gesellschaft spiegelte«.13 Diese zunehmende Reglementierung des Duells korrespondiert mit der zunehmenden Formalisierung des Rechtswesens und vollzieht sich zugleich parallel zu einer Aussonderung des Duells aus dem Rechtssystem.14 Das Duell wurde in Deutschland auch deshalb so lange geduldet, weil es das Verhältnis von Kaiser und Adel festigte. Nachdem auch das Bürgertum in dieses Ritual der Privilegierten mit einbezogen wurde, erschien es vielen gar als eine Art Demokratisierungsgeste. In Fontanes Texten wird das Duell als Auslaufmodell dargestellt, als Überbleibsel eines veralteten Rechtsgedankens, der Militär und Adel privilegiert, indem er ihren Vertretern gestattet, ihre Konflikte unter sich auszutragen und damit das Rechtssystem zu umgehen. In Cécile und Effi Briest bildet es den mension von Fontanes Romanen zu schmälern. Dabei rekurriert er insbesondere auf den Briefwechsel zwischen Fontane und Georg Friedlaender, in denen sich Fontane äußerst kritisch gegenüber Ehrenkult und Adel äußert. Wie das vorliegende Kapitel zu zeigen hofft, beinhaltet die Darstellung des destruktiven Effekts der Rolle von Adel, Militär und Ehrenkult sehr wohl eine fundamentale Kritik am parajuristischen und gesellschaftlich geforderten Ritual des Duells. Dass Cécile und Effi Briest beide im Titel auf das Schicksal der Frauenfiguren verweisen, verlangt zudem danach, die Romane auch als Zeitromane über Geschlechterrollen zu verstehen. 12 | Elias, Studien über die Deutschen, 68. 13 | Frevert, Ehrenmänner, 36. 14 | Im Mittelalter war das Duell wie gesagt noch ein integraler Teil des Rechtssystems: In ihm waren göttliche und weltliche Gerechtigkeit vereint, da sich im Duell Gottes Wille zeigen sollte, welcher dann von einem Richter benannt und in Recht überführt wurde.

V. Vorgeschriebene Rache

Wendepunkt nicht nur in der Handlung, sondern auch im Erzählen. Allerdings handelt es sich dabei nicht um eine unerhörte Begebenheit wie in den besprochenen Novellen, sondern um ein vorhersehbares, unausweichliches Ereignis. Insofern die Duelle nicht in Novellen, sondern in Romane eingebettet sind, liegt der Schwerpunkt auf ihrer Vorgeschichte bzw. ihrem Nachleben – ihre Sprengkraft ist durch einen spezifischen gesellschaftsgeschichtlichen Zeitgeist bedingt. Die Legitimation des Duells wird bereits ab der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts kontrovers diskutiert. Diese Debatte und vor allem die Frage nach den Konsequenzen der von einem (kleinen) Teil der Gesellschaft affirmierten Forderung nach dieser ritualisierten Rache klingen in Fontanes Cécile und Effi Briest nach. Wie Freverts detaillierte Analyse des Duells in der bürgerlichen Gesellschaft zeigt, kritisierten die Duellgegner15 nicht nur, dass das Duell außerhalb des Rechtssystems existierte und dadurch das Gewaltmonopol des Staates unterlief, sondern auch, dass der Aufruf zum Duell darauf beruhte, wie die Beteiligten selbst eine Situation bewerteten, also auf ihrem persönlichen und daher subjektiven Empfinden: Indem die ehrverletzende Tat nicht von einem unabhängigen Dritten begutachtet und gerichtet, sondern unter den Parteien selbst verhandelt und ausgekämpft wurde, rückte dieses Verhalten in die Nähe eines Racheakts, der aber, wie Knigge meinte, ›das geschehene Übel nicht hebt’ und daher ›unzweckmäßig und unvernünftig‹ sei. Darüber hinaus kämen im Duell nicht kühle Überlegung und Abwägung zum Zuge, sondern ›Affekt und Leidenschaft‹, ›rohe Gewalt statt Vernunft‹.16

Die hier formulierte Kritik reflektiert den von Foucault betonten Wechsel der juristischen Formen hin zum modernen Rechtswesen, das eine richtende dritte Instanz verlangt und jegliche Emotionalität aus seinen Verfahren zu verbannen sucht, wie auch René Girard betont.17 Dass in der von Frevert dargestellten Duell-Kritik Adolph Knigges Über den Umgang mit Menschen zitiert wird, das als Aufklärungsschrift für Taktgefühl konzipiert war und als erstes Gentleman-Handbuch gilt, unterstreicht den betont kultivierten Tonfall der Gegner des Duells. Mit Nietzsche wiederum wäre gegen Knigge einzuwenden, dass es auf den Auslöser des Duells ankommt, ob dieses den erlittenen Verlust auszugleichen vermag. In Menschliches, Allzumenschliches geht Nietzsche davon aus, dass weder der Verlust eines Menschen noch der von Besitz ausgeglichen 15 | Im Bezug auf die öffentlichen Debatten über das Duell schreibe ich ausschließlich von Duellgegnern und Befürwortern in der maskulinen Form, da Frauen in diesen öffentlichen Diskursen keine Stimme hatten. 16 | Frevert, Ehrenmänner, 47. 17 | Vgl. Girard, Das Heilige und die Gewalt, 39.

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werden kann. Im Fall der Ehre macht er jedoch, wie bereits im Kapitel zu Die Judenbuche beschrieben, eine Ausnahme, denn ein Angriff auf die Ehre könne durch Rache – und hier dient ihm das Duell als Beispiel – durchaus wieder ausgeglichen werden.18 Das Versprechen des Duells liegt also nicht darin, dass es einen Ausgleich der Verletzung verspricht, sondern die Wiederherstellung des gesellschaftlichen Status, der an die Ehre gebunden ist. Während die Gegner des Duells dessen Nähe zu den Affekten der Rache als Kritikpunkt anführen, sehen die Befürworter im Duell »ein Mittel zur Zivilisierung der Gesellschaft«.19 Dieses Argument hatte gerade im 18. und frühen 19. Jahrhundert Konjunktur: Die Zivilisierung qua Duell sollte sich demnach auch dadurch vollziehen, dass dieses einst dem Adelsstand sowie den höheren militärischen Rängen vorbehaltene Ritual nun auch für Vertreter höherer bürgerlicher Schichten geöffnet wurde.20 Für die Duellbefürworter ist es zudem »kein Instrument der Rache«, sondern »ein Medium der Versöhnung«,21 da es die Duellanten als Gleichgestellte behandelt (denn nur als solche durften sie sich überhaupt duellieren) und darüber hinaus als Entscheidungs- und damit als Endpunkt eines Konflikts herhalten soll. Dieses Versöhnungsargument legt nahe, das Duell als Katalysator eines Verwandlungsprozesses zu sehen, als kathartisches Moment, durch das negative Emotionen und Affekte abreagiert werden können. Das minuziöse Planen, das der Rache eines Andrea Delfin oder einer Grete Minde vorausgeht, soll beim Duell von einem Regelwerk vorweggenommen bzw. durch dieses aufgehoben werden. Das Duell teilt also das Bestreben des Rechtssystems, den Exzess der Rache durch ein Regelwerk zu bändigen bzw. das Rachebegehren darin zu sublimieren. Gleichzeitig bleibt der zum Duell Fordernde in der Position des Rache Übenden, wenn er selbst zum ausführenden Organ der Vergeltung wird. Auch in ihrer sublimierten Form als Duell bleibt also immer ein Rest der Rache und dem ihr zugrunde liegenden binären Rechtsgedanken wirksam. In Cécile und Effi Briest führt nicht der Ehebetrug, sondern die Tatsache, dass er öffentlich wird, zur Duellforderung. Dabei wird die emotionale Dimension der Rache als Überschuss präsentiert, denn in beiden Texten könnte der Betrug die Ehemänner nicht unberührter lassen. In diesem Paradox – die Rachemechanismen greifen, obwohl es an persönlichen Motiven fehlt – zeichnet sich die Besonderheit des Duells in Cécile und Effi Briest ab: Das Duell erscheint als ein von Rachegelüsten befreiter Mechanismus, dem es zwar an eigener Motivation wie auch an juristischer Legitimität mangelt, aber nicht an destruktiver Macht. In beiden Texten wird das Duell vor allem als gesellschaftliches Ritual prä18 | Vgl. Nietzsche, Menschliches, Allzumenschliches, 565. 19 | Frevert, Ehrenmänner, 67, Hervorh. i.O. 20 | Frevert, Ehrenmänner, 67. 21 | Frevert, Ehrenmänner, 69, Hervorh. i.O.

V. Vorgeschriebene Rache

sentiert, das eine Eigendynamik entwickelt: Es bindet keine Rachebedürfnisse mehr, sondern schreibt letztlich Rache (wenngleich in ritualisierter Form des Duells) vor, da der Ehebruch qua gesellschaftlicher Norm als Reaktion auf eine Beleidigung aufgefasst werden muss. In diesem Sinne beinhalten Fontanes Duell-Texte eine Reflexion des Versuchs, Rache einzugrenzen.

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V.1 Eine Frage der Ehre? Theodor Fontanes Cécile (1886)

Stoff: Ein forscher Kerl, 35, Mann von Welt, liebt und verehrt – nein, verehrt ist zu viel – liebt und umkurt eine schöne junge Frau, kränklich, pikant. Eines schönen Tages entpuppt sie sich als reponirte Fürstengeliebte. Sofort veränderter Ton, Zudringlichkeit mit den Allüren des guten Rechts. Conflikte; tragischer Ausgang.1

Mit diesen Worten fasst Fontane in einem Brief an Adolf Glaser Cécile (1886) zusammen. Er verwendet zunächst das Wort verehrt, um das Verhältnis von Leslie Gordon zu der verheirateten Cécile von St. Arnaud zu beschreiben, ersetzt es aber sogleich durch das wenig gebräuchliche »umkurt«. Während couren so viel wie »jemandem die Ehre erweisen« bedeutet, ändert das Präfix »um« diese Bedeutung zu »um jemanden werben« und weist bereits darauf hin, wie sich Gordons Verhalten gegenüber Cécile vom respektvollen Umgang zur übergriffigen Distanzlosigkeit wandelt.2 Am Ende ist es in der Tat seine Respektlosigkeit Cécile gegenüber, die den Grund für das Duell liefert. Bereits in dieser Synapse wird das Bekanntwerden von Céciles Vergangenheit zum Wendepunkt, der »sofort« zu einem anderen Tonfall Gordons und den »Allüren des guten Rechts« führt.3 Im Roman beginnt der »tragische Ausgang« in 1 | Am 25. April 1885 schickt Theodor Fontane das Exposé von Cécile an den Redakteur Gustav Karpeles, zit.n.: Hans Joachim Funke und Christine Hehle, »Entstehung«, in: Theodor Fontane, Das erzählerische Werk. Große Brandenburger Ausgabe, Bd. 9: Cécile, hg. von Hans Joachim Funke und Christine Hehle, Berlin: Aufbau 2000, 241-250, hier: 243. 2 | Siehe den Eintrag »couren« im Deutschen Fremdwörterbuch, Bd. 3, bearb. von Gerhard Strauß et al., Berlin: De Gruyter 1997, 827. 3 | Während die Rache als das Thema der Novelle erschien, eignet sich das Duell genau nicht dafür, denn es war zur Zeit des Realismus noch allzu konventionell. Bedenkt man Gordons Vertrautheit mit militärischen Gepflogenheiten, dann liegt nahe, dass Gordon davon ausgehen muss, dass St. Arnaud auf sein Verhalten mit der Forderung zum Duell reagieren muss.

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Ritualisierte Rache: Das Duell

der Oper, wo Gordon Cécile – für alle sichtbar – beleidigt, indem er sich wie ein eifersüchtiger Liebhaber aufführt und damit in aller Öffentlichkeit den Eindruck erweckt, dass er eine Affäre mit Cécile (gehabt) und sie somit ihren Ehemann betrogen hätte. Nach diesem öffentlichen Affront des Zivilingenieurs,4 der wegen Schulden aus dem Militär ausgeschieden ist, fordert Céciles Ehemann Pierre von St. Arnaud, Oberst a. D., ihn zum Duell. Gordon fällt. Cécile nimmt sich das Leben.

D ie W irklichkeit nach L eslie G ordon Gordon hat eine sehr lebendige Fantasie und tendiert dazu, die Wirklichkeit nach seinen Vorstellungen umzuschreiben, wodurch er auch das Duell provoziert. Diese Tendenz demonstriert er bereits, als er das Ehepaar St. Arnaud zum ersten Mal sieht und ihnen eine turbulente Vergangenheit andichtet, bevor er auch nur ein Wort mit ihnen gewechselt hat. Der Altersunterschied der Eheleute und die Tatsache, dass St. Arnaud verfrüht aus dem Militär ausgeschieden ist, regen seine Fantasie an – unter »Rechnen und Erwägen erging er sich in immer neuen Mutmaßungen«5 und kommt zu dem Schluss: »Dahinter steckt ein Roman.« (14)6 Anders gesagt: »[…] right away the novel reveals itself

4 | Als Zivilingenieur ist Gordon ein Experte im Feld der internationalen Kommunikation und technischen Innovation. Seine Kommunikation mit Cécile scheitert im Roman hingegen auf ganzer Linie. Zu den historischen und literarischen Vorbildern von Gordon siehe: Hehle, »Stoff«, 225-229. 5 | Theodor Fontane, Das erzählerische Werk. Große Brandenburger Ausgabe, Bd. 9: Cécile, hg. von Hans Joachim Funke und Christine Hehle, Berlin: Aufbau 2000, 14. Zitate aus dem Roman werden im Folgenden unter Angabe der Seitenzahl direkt im Text nachgewiesen. 6 | Diese Aussage Gordons hat einen ganzen Forschungszweig dazu inspiriert, sich mit dem Roman hinter dem Roman zu beschäftigen. In diesem Sinne versteht Ingrid Mittenzwei nicht die Lesenden, sondern Cécile als eigentliche Adressatin des Gesagten, dieses sei oftmals »nicht bedeutsam für den Leser, es ist bedeutsam für Cécile; es spricht nicht für sich, es ist gesprochen für Cécile und wird von ihr gewogen; Cécile, die Gestalt mit jenem Roman ›dahinter‹, ist die erste Leserin dieses Romans«. Ingrid Mittenzwei, Die Sprache als Thema. Untersuchungen zu Fontanes Gesellschaftsroman, Bad Homburg: Gehlen 1970, 87. Tilman Lang liest den Roman vor dem Hintergrund der technischen Innovationen zur Zeit des Realismus und deren Effekte auf Kommunikation und Sprache. Tilman Lang, »Cécile: Reading a Fatal Interpretation«, in: Marion Doebling (Hg.), New Approaches to Theodor Fontane. Cultural Codes in Flux, Rochester: Camden House 2000, 68-98.

V.1 Eine Frage der Ehre?

to be the story of an interpretation.« 7 Wenn die Erzählstimme Gordons Überlegungen als »Rechnen« bezeichnet, etabliert dies erste Assoziationen mit dem Vokabular der Rache, das in Cécile, wie ich zeigen werde, eng mit den Akten des Interpretierens und Inszenierens verknüpft ist. Dass Gordon seine Mutmaßungen wie Fakten behandelt, um daraus eine eigene Vision des Geschehens zu konstruieren, zeigt sich am prägnantesten, wenn er den Brief seiner Schwester liest, der vage Informationen zu Céciles Vergangenheit als angeblich weitergereichte Fürstengeliebte enthält. Die diffusen Aussagen der Schwester bieten den idealen Nährboden für Gordons Fantasie. Seiner Figurenperspektive steht der von der Erzählstimme explizit ambivalent gehaltene Sachverhalt entgegen, wie Carola Blod-Reigl herausstellt: »Dieses Motiv der Fürstengeliebten wird im Verlauf der Erzählung über ein Netz von Anspielungen, Andeutungen und Verweisen suggestiv mit der Protagonistin Cécile von St. Arnaud verbunden, ohne daß jedoch eine eindeutige, durch den Erzähler bestätigte Aussage diesbezüglich zu finden wäre.« 8 Indem die Erzählstimme eine eindeutige Perspektive auf Céciles Vergangenheit verweigert,9 betont sie die subjektive, sensationslüsterne und verfälschende Lesart Gordons.10 7 | Lang, »Cécile«, 78. 8 | Carola Blod-Reigl, »Aurora und Marinelli – Zitierunfähigkeit und verweigertes Zitat in Fontanes Cécile«, in: Andrea Gutenberg und Ralph J. Poole (Hg.), Zitier-Fähigkeit, Berlin: Schmidt 2001, 104-122, hier: 104. Da die Erzählstimme sie nur als Cécile kennt, so wie ja auch der Romantitel nur ihren Vornamen nennt, während sie Gordon mit seinem Nachnamen und ihren Mann als St. Arnaud oder Oberst bezeichnet, scheint Cécile nicht recht zu jemandem zu gehören. Dementsprechend werde ich in meiner Analyse der Namensgebung der Erzählstimme folgen. 9 | Peter James Bowman weist auf die paradoxe Charakterisierung Céciles hin: »[…] she is both a woman of the world and childlike, avid to be admired and yet not flirtatious, easily tired and yet occasionally capable of considerable physical effort.« Peter James Bowman, »Theodor Fontane’s Cécile: An Allegory of Reading«, in: German Life and Letters 53/1 (Jan. 2000), 17-36, hier: 21. Ähnlich merkt Claudia Liebrand an, dass Cécile für die männlichen Figuren eine »leere Projektionsfläche« darstellt: »Sie wird von ihren Beobachtern, Bewunderern und Gesprächspartnern in die Rolle der Nervösen, der Koketten, der Gesellschaftsdame gedrängt. Entlarvt als Ex-Mätresse, Fürstengeliebte ›in Duplo‹, rubriziert als femme fragile und femme fatale« und zugleich mit Maria Stuart, Aurora und mit Eva und Magdalena assoziiert. Claudia Liebrand, Das Ich und die andern. Fontanes Figuren und ihre Selbstbilder, Freiburg: Rombach 1990, 74. 10 | Bettina Plett, »Rahmen ohne Spiegel. Das Problem des Betrachters bei einem ›Mangel an Sehenswürdigkeiten‹ in Fontanes Cécile«, in: Bettina Plett (Hg.), Theodor Fontane. Neue Wege der Forschung, Darmstadt: Wissenschaftliche Buchgesellschaft 2007, 230-245, hier: 242. Plett sieht im Kontrast zwischen Gordons starrem Bild von

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Ritualisierte Rache: Das Duell

Gordons Vorstellung speist sich aus Informationsfetzen, literarischen Motiven und gesellschaftlichen Diskursen, aus denen er eine eigene Geschichte zu generieren beginnt.11 Der Roman zeichnet diesen Prozess, durch den Gordon den »Roman« von Céciles Vergangenheit selbst hervorbringt, explizit nach: Er lehnte sich, den Arm aufstützend, in eine der Ecken und sann und rechnete, bis allmählich eine Bilderreihe, darin es auch an grotesken Gestalten nicht fehlte, die Reihe seiner Gedanken ablöste. Vorauf erschien die schöne Frau von Zache […]. Und dann sah er Cécile, wie sie die Straße heraufsah. Und dann kamen die, auf die sie wartete: erst ein Alter in Jagdjoppe, rüstig und jovial und mit grauem Backenbart, englisch gestutzt und geschnitten, und dann ein Junger in Reisekostüm, fein und durchsichtig, und hüstelnd, und dann ein Dritter in Uniform, mit hohen Schultern und Gold am Kragen. Und er musste lachen und sagte: »Marinelli. Ja, Kleinerfürsten-Hofmarschall … und in der Welt hat sie gelebt. Traurig genug.« (187)

Gordon denkt hier nicht einfach nach, sondern »sann und rechnete« (187, Hervorh. D. H.), anders gesagt, er kalkuliert. Er führt hier seine Rechnung weiter, die er bei seiner ersten Begegnung mit Cécile begonnen hat, und fabriziert imaginäre Beweisbilder: »Hier wird eine Gedankenreihe durch eine phantasierte Bilderreihe abgelöst, die sich szenisch wie Theaterauftritte gliedert und Céciles Werdegang als Fürstengeliebte veranschaulichen soll.«12 In dieser Passage besticht seine Vorstellung zudem durch die detaillierten Beschreibungen der Männer – vom Backenbart bis zum Gold der Uniform. Dieses Wechselverhältnis zwischen realistischer Beschreibung und theatralischer Inszenierung Cécile und der ambivalenten Darstellung ihrer Geschichte durch die Erzählstimme die zentrale Spannung des Romans: Durch die Verweigerung einer ›eindeutigen‹ Deutung inszeniere der Text ein »Grundproblem von Erkennen und Verstehen als Diskurs über die Techniken des Betrachtens auf der Folie des realistischen Schreibens im bürgerlichen Zeitalter.« Plett, »Rahmen ohne Spiegel«, 240. 11 | Zu den literarischen Rollenzitaten in Cécile siehe Liselotte Voss, Literarische Präfiguration dargestellter Wirklichkeit bei Fontane. Zur Zitatstruktur seines Romanwerks, München: Fink 1985 sowie Bettina Plett, Die Kunst der Allusion. Formen literarischer Anspielungen in den Romanen Theodor Fontanes, Köln: Böhlau 1986. Gegen eine Verständnis von Cécile als ›Rollenzitat‹ und damit als Teil einer literarischen Genealogie, die u.a. Emilia Galotti und Orsina mit einschließt, wendet Blod-Reigl ein, in Cécile gehe es weniger um Zitate als um Zitierfähigkeit. Während Referenzen auf Emilia Galotti oder Wallenstein leicht identifiziert seien, beinhalte der Roman darüber hinaus ein komplexes Netzwerk aus literarischen und historischen Referenzen, was einer Identifikation der Figuren mit einzelnen Vorbildern zuwiderlaufe. Damit verhält es sich mit der Zitierfähigkeit von Céciles literarischer Genealogie wie mit der ihrer Vergangenheit – sie bleibt obskur. 12 | Blod-Reigl, »Aurora und Marinelli«, 112.

V.1 Eine Frage der Ehre?

bildet den Hintergrund des Opernbesuchs, bei dem Gordon sein erfundenes Skript in der Loge des Theaters weiterspielt.13 Doch bevor wir zu dieser Szene kommen, folgen wir den Beteiligten noch auf einen Schlossbesuch, der zeigt, dass Gordon nicht der einzige Charakter ist, der (Wissens‑)Lücken mit Geschichten füllt.14

A nekdoten stat t R e alien Dieses Muster – Fantasie ergänzt Fakten – begegnet uns auch beim Schlossbesuch, den Cécile, St. Arnaud, Gordon und eine Bekannte, Rosa, unternehmen. Der Besuch des alten, längst verlassenen Schlosses bildet strukturell die Schablone für den späteren Opernbesuch, wenn es darum geht, in welchem Verhältnis Realien und deren Interpretation zueinander stehen. Bei der Führung durch das verwaiste Schloss bleibt dem Kastellan nichts weiter, als

13 | Blod-Reigl, »Aurora und Marinelli«, 112. 14 | Lang liest die unterschiedlichen Interpretationen der Wirklichkeit, welche Figuren und Erzählstimme anstellen, vor dem Hintergrund historischer und technischer Entwicklungen im 19. Jahrhundert und betrachtet Cécile als »a world composed of competing and conflicting orders and self-interpretations«, in der »divergent interpretations and/ or systems of reality claim validity and compete for legitimation«. Lang, »Cécile«, 68f. Cécile zeige, welchen verstörenden Einfluss technische Innovationen darauf haben, wie Wirklichkeit verstanden und interpretiert wird. Lang, »Cécile«, 78. Seinem Beruf als Zivilingenieur entsprechend nehme Gordon sein Umfeld »telegraphically« auf, das heißt, »he is able […] to pick up even the minutest signals. But precisely because Gordon picks up signifiers and not meanings, what he receives makes little sense in terms of conventional social discourse.« Lang, »Cécile«, 81. Nach Lang ist Gordon also gewissermaßen der gesellschaftliche Referenzrahmen verloren gegangen. Auf Jacques Derridas »Structure, Sign, and Play in the Discourse of the Human Sciences« rekurrierend, argumentiert Lang: »[A] semiological rupture in the nineteenth century […] set[s] the stage for reformulating the question of the conditions and possibilities of interpretation, […] regarding the relation, or rather the inescapable conflicted connection between orders of reference and orders of representation […]. In literary works, this problem is presented in the thematization of interpretive processes as processes of appropriating the real«. Lang, »Cécile«, 77. Im Kontext der vorliegenden Studie interessiert besonders die Frage der Darstellung interpretativer Prozesse in Bezug auf deren soziale Determiniertheit. Ich argumentiere, dass Gordons Rache darauf beruht, dass er sehr wohl in sozialen und literarischen Diskursen versiert ist und nach Belieben inhaltlich wie formal aus ihnen zu zitieren vermag.

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Ritualisierte Rache: Das Duell

über Dinge zu sprechen, die nicht mehr da waren. Eine nicht leichte Pflicht. Er unterzog sich derselben aber mit vielem Geschick, indem er den herkömmlichen, an vorhandene Sehenswürdigkeiten anknüpfenden Kastellans-Vortrag in einen umgekehrt sich mit dem Verschwundenen beschäftigenden Geschichts-Vortrag umwandelte. (48, Hervorh. i. O.)

So heißt es etwa in seinem Vortrag: »›[…] hier, wo die Tapete fehlt, genau hier stand der Thron selbst«, und weiter, »während er auf einen großen aber leeren Goldrahmen zeigte, […] ›hier in diesem Goldrahmen befand sich die Hauptsehenswürdigkeit des Schlosses: der Spiegel aus Bergkristall‹.« (49) Abgerissene Tapeten und leere Rahmen sind alles, was von der einst prunkvollen Vergangenheit übrig geblieben ist. Anekdoten stehen für fehlende Dinge ein, die wiederum auf abwesende Personen verweisen. Die beschriebenen Dinge sind »nicht einmal mehr brauchbare Träger von Realien, mit denen noch etwas zu machen ist«, sondern »sie sind ganz einfach nicht mehr da.«15 Kurz: »Die ›Lokalbeschreibung‹ des Schloßinterieurs ist ein kunstvolles Erzählen über nichts«.16 In diesen Beschreibungen fehlender Objekte wird nicht nur das Auslaufen einer Epoche demonstriert, sondern zugleich die Bereitschaft mancher Charaktere, Anekdoten mehr zu schätzen als den realen Gegenstand. So meint St. Arnaud über den fehlenden Spiegel: »Im Ganzen genommen ist mir die Geschichte lieber als der Spiegel« (50).17 Dieser leichtfertige Umgang mit Realem bezieht sich im Verlauf des Romans nicht nur auf die Präsenz bzw. Abwesenheit von materiellen Gegenständen, sondern auch auf Céciles Vergangenheit. In der Schloss-Szene wird ein zentrales Grundmuster variiert, das Gordons Perspektive auf Cécile von Anfang an kennzeichnet und letztlich alle zwischenmenschlichen Beziehungen implodieren lässt: das Ersetzen der Realien durch Vorstellungen. Im Schloss geschieht dies als ironisches »Spiel, das ›Formen des Realismus‹ aufnimmt, nicht um ihnen zu genügen, sondern um sie ad absurdum zu führen«.18 Dementsprechend wird das Erzählen selbst zum Objekt und an die Stelle einer mimetischen Beziehung zwischen Objekt und Beschreibung tritt ein Erzählen, das materielle Leerstellen füllen soll. Kurz, Mimesis wird zugunsten eines supplementären Beschreibens verabschiedet

15 | Mittenzwei, Sprache als Thema, 84. 16 | Mittenzwei, Sprache als Thema, 84. 17 | Elena Tesnak zufolge verweist der Spiegel auf »Céciles Suche nach Identität, die ihr durch die aufoktroyierten Deutungsmuster und Rollenzwänge der männlichen Figuren abhanden gekommen ist bzw. sich nie hat entwickeln können.« Elena Tesnak, Theodor Fontane. Wegbereiter für weibliche Emanzipation um 1900?, Hamburg: Verlag Literatur & Wissenschaft 2011, 73. Siehe hierzu auch, Liebrand, Das Ich und die andern, 73. 18 | Mittenzwei, Sprache als Thema, 84.

V.1 Eine Frage der Ehre?

und Erzählen schafft sich seine Realien selbst.19 Diese Spannung zwischen vorhandenen, verschwundenen und – in Gordons Fall – hinzugedachten Dingen bildet in Cécile den Katalysator der Rachethematik, die im Duell endet.

R ache in der O per Während beim Schlossbesuch das Verfahren, gemäß dem Geschichten für fehlende Objekte einstehen, ironisch zugespitzt ist, hat Gordons eigene Variante – die Ergänzung der Fakten durch Fiktionen – fatale Folgen. Gordon besucht die Oper, kurz nachdem er einen Brief von seiner Schwester erhalten hat und nun glaubt, die genauen Umstände von Céciles Vergangenheit zu kennen, aus denen er ableitet, dass sie vor ihrer Heirat mit St. Arnaud eine Fürstengeliebte war.20 Dieses vermeintliche Wissen ändert seinen Blick auf Cécile und er meint, ihr fortan keinen Respekt mehr entgegenbringen zu müssen. In dieser Ansicht fühlt er sich bestätigt, als er Cécile in der Oper in Begleitung des Geheimrats Hedemeyer sieht: Aber er sah und hörte nichts mehr und starrte nur, während er Kinn und Mund in seine linke Hand vergrub, nach der Loge hinüber, ganz und gar seiner Eifersucht hingegeben und von einem prickelnden Verlangen erfüllt, lieber zu viel als zu wenig zu sehen. (194)

19 | In ihrer detaillierten Analyse der Rolle der Bilder in Cécile – als Kunstobjekte sowie als Form des Sich-ein-Bild-Machens – zeigt Plett, dass alle männlichen Figuren in Céciles Umfeld, Gordon, ihr Ehemann und auch ihr Beichtvater Dörffel, danach streben, »das Bildnis von ihr zu einem Abbild zu machen, das mit den präfigurierten Bildern, die der Betrachter in sich trägt, zur Deckung gebracht werden kann.« Damit ist Cécile ständig in Gefahr, »im Prozess des Erzählens über sie eine entindividualisierte, zweidimensionale Abbildung zu werden – eine Projektionsfläche für die Repetition und Bestätigung formalisierter Vorstellungen«. Plett, »Rahmen ohne Spiegel«, 235. Ob als Bild oder Geschichte, Cécile wird durch die Männerfantasien ihres Umfelds fixiert. Dieser schematische Umgang mit ihr findet in der Duellthematik seinen Höhepunkt, da sie darin, wie ich zeigen werde, nicht nur von Gordon, sondern auch von St. Arnaud wie ein Objekt behandelt wird, um dann gänzlich aus dem Diskurs zu fallen. 20 | Zu Gordons Wahl, Richard Wagners Oper Tannhäuser und nicht Rodreich Benedix’ Theaterstück Störenfried zu besuchen, siehe Horst Thomé, Autonomes Ich und ›Inneres Ausland‹. Studien über Realismus, Tiefenpsychologie und Psychiatrie in deutschen Erzähltexten (1848-1914), Tübingen: Max Niemeyer 1993, 318-392. In seiner psychoanalytischen, streckenweise reduktiven Lektüre argumentiert Thomé, dass der Tannhäuser Gordons Eifersuchtsanfall mit auslöst, da ihn die Oper mit einer realitätsfernen Wirklichkeit konfrontiert.

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Sein Blick ist nicht der eines Beobachters,21 sondern ein suchender Blicke, der »zu viel« sehen will. Gerade sein lückenhaftes Wissen über Céciles Vergangenheit, verleitet ihn dazu, nicht nur die Geschichte ihrer Vergangenheit zu erfinden, sondern auch die einer anstößigen Gegenwart. Gordon folgt an dieser Stelle dem Zeitverständnis der Rache, die weder Vergehen noch Vergessen kennt und vergangenen Ereignissen dieselbe Bedeutung zumisst wie gegenwärtigen. Seine Mutmaßungen verstellen ihm den Blick auf die Objekte seiner Beobachtung, die der Oper ganz entgegen Gordons Einschätzung »nicht nur oberflächlich, sondern aufmerksam und mit einem gewissen Ernst folgten« (194). Dieser Anblick beruhigt seine von erwartungsvoll antizipierter Dramatik gefärbte Stimmung jedoch nicht im Geringsten: Gordon litt Höllenqualen, und über seine Rache brütend, war er nur darüber in Zweifel, ob er sich im gegebenen Moment (und der Moment mußte sich geben) lieber als »Böses Gewissen« oder als »Mephisto« geriren solle. Natürlich entschied er sich für das letztere. Spott und superiore Witzelei waren der allein richtige Ton, und als ihm dies feststand, fiel zum ersten Male der Vorhang. (194, Hervorh. i. O.)

Gordons »Höllenqualen« und sein Verlangen nach »Rache« ergeben sich nicht aus dem, was er tatsächlich sieht, sondern aus dem, was er hinzufügt. Seine für Rächer und Rächerinnen typische, weil vom Exzess des Zuviel geprägte 21 | In der Forschung wird Gordon oftmals als Beobachterfigur gelesen. Bettina Plett argumentiert, dass die Erzählstimme weitgehend »die Beobachter- und Interpretationsfunktionen an Gordon delegiert«; seine Perspektive sei »an naturwissenschaftlich-positivistischer Methode orientiert«. Plett, »Rahmen ohne Spiegel«, 236. Bowman meint:​ »[T]he novel not only requires to be ›read‹, but also contains a ›reader‹« (22), nämlich Gordon; sein Status ändere sich jedoch »from that of a reader who observes events and people to that of a character who participates in the story«. Bowman, »Theodor Fontane’s Cécile«, 26, Hervorh. i.O. Bowman wendet sich gegen Hermann Korte und Magdalene Heuser, die Gordon als Detektivfigur betrachten: »A detective looks for very specific information relating to a crime whereas Gordon in Cécile is trying to comprehend a whole person« (33). Als Leser leiste sich Gordon allerdings auch Fehllektüren, »he takes these virtues to excess, showing an inclination even early on in the novel to pigeon-hole those he encounters«. Bowman, »Theodor Fontane’s Cécile«, 29. Dieser Exzess mündet schließlich in einer Überinterpretation, die in der Oper in reine Fiktion übergeht. Ein Verständnis von Gordon als »Beobachter«, »Leser« oder »Detektiv« übersieht, dass er keine passive Rolle als bloß Interpretierender einnimmt, sondern anhand seiner fixen Ideen aktiv Wirklichkeit mitgestaltet. Zu Gordon als Detektiv siehe Hermann Korte, Ordnung und Tabu. Studien zum poetischen Realismus, Bonn: Bouvier 1989, 101-125 sowie Magdalene Heuser, »Fontanes Cécile. Zum Problem des ausgesparten Anfangs«, in: Zeitschrift für deutsche Philologie 92 (1973), 37-58.

V.1 Eine Frage der Ehre?

Perspektive entsteht letztlich aus einem Nichtwissen, aus einer Leerstelle, die er mit Fiktionen füllt, welche die tatsächlichen Vorkommnisse verzerren. Er denkt sich nicht nur den Geheimrat als Céciles (neuen) Liebhaber, sondern imaginiert sich selbst in der Rolle des betrogenen Liebhabers, der er in Wahrheit nie gewesen ist. Als Vorbild für seine Rolle wählt er Mephisto und folglich »Spott und superiore Witzelei« als »allein richtige[n] Ton«.22 Damit entscheidet er sich gezielt für den Ton der Provokation und der Beleidigung, der im Kontrast zu seinem bisherigen taktvollen Umgang mit Cécile und St. Arnaud steht. Die Identifikation mit Mephisto bedeutet nicht nur die Adaption einer ironisch-affektierten Sprache, sondern erscheint zunächst auch als Ausbruch aus gesellschaftlichen (und militärischen) Konventionen, denen er bisher gefolgt ist. In seinen veränderten Ton »spielt Gesellschaftliches hinein«, nämlich die Verurteilung einer Frau, die vermeintlich einst die Geliebte eines Fürsten war; »was sich Gordon gegenüber Cécile herausnehmen zu können glaubt, ist dadurch motiviert«.23 Auf den zweiten Blick spielt Gordon allerdings einen alten 22 | Cécile konfrontiert ihn mit dieser Wandlung seines Tons, bezeichnet seinen Besuch in der Loge als »Beleidigung« und wirft Gordon vor, er fordere von ihr, »daß ich immer kleiner vor Ihrer Größe werde« (200). In ihrem Verständnis von Gordons Verhalten als Beleidigung klingt bereits eine Duelldrohung an bzw. die einzige Form davon, die ihr als Frau möglich ist – sie verweist auf ihre Position als verheiratete Frau: »[…] ich bin nicht schutzlos. Ich beschwöre Sie, zwingen Sie mich nicht, diesen Schutz anzurufen, es wäre Ihr und mein Verderben« (200). 23 | Müller-Seidel, Theodor Fontane, 186. Gerade in Gordons Mutmaßungen über Céciles sieht Müller-Seidel das »gesellschaftlich Typische seines Verhaltens. In der Sicht des Erzählers signalisieren sie den Verzicht auf Allwissenheit oder deren Fiktion.« Müller-Seidel, Theodor Fontane, 188. Da die Erzählstimme Gordons Mutmaßungen an keiner Stelle bestätigt und sein dubioses Verhalten im Detail beschreibt, präsentiert sie seine Ideen als Ausdruck einer lebhaften Fantasie. Dabei bewahrt die Erzählstimme Plett zufolge die Rätselhaftigkeit Céciles und macht die gewaltsame Projektion seitens der männlichen Figuren sichtbar. So werden die Lesenden angehalten, eben nicht »nach ähnlichen Mustern zu verfahren, wie Fontane dies für die Figuren um Cécile vorführt«, Plett, »Rahmen ohne Spiegel«, 242. Im Hinblick auf psychoanalytische Überlegungen über die »Tiefenstruktur« der Psyche argumentiert Anette Schwarz, dass es sich Fontane in Cécile »zur Aufgabe [macht], genau jene zu diesem historischen Zeitpunkt erkannte und diskutierte Vielschichtigkeit der Psyche, ihre ›Mehrdeutigkeit‹ und Interpretationsbedürftigkeit poetisch zu erfassen.« Anette Schwarz, »Cécile – Die Verortung einer Leerstelle. Romanform und Psyche«, in: Peter Uwe Hohendahl und Ulrike Vedder (Hg.), Herausforderungen des Realismus. Theodor Fontanes Gesellschaftsromane, Berlin: Rombach 2018, 107-122, hier: 109. Die »internen Leser« Céciles – St. Arnaud und Gordon – begegnen der Vielschichtigkeit ihrer Psyche mit »Widerstand[]« und verfehlen sie dadurch. Schwarz, »Cécile«, 111.

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Skandal nach, nämlich die Beleidigung Céciles durch einen Oberstleutnant noch während ihrer Verlobungszeit mit Oberst St. Arnaud. Schon die damalige Beleidigung Céciles aufgrund ihrer angeblich skandalösen Vergangenheit führte – wie Gordon sehr wohl weiß – zu einem Duell mit tödlichen Folgen für St. Arnauds Gegner. Gordon gibt sich jedoch nicht damit zufrieden, alte Geschichten wieder aufzuwärmen. Er erfindet eine neue Version, in der er selbst eine Hauptrolle übernimmt: Er handelt, als ob er Céciles Geliebter wäre. In der Pause »stürmte Gordon hinüber« in die Loge, in der Cécile mit dem Geheimrat sitzt, und obwohl sie auf den ersten Blick nur über oberflächliche Themen plaudern, bedeutet Gordons Tonfall einen Affront. Den Mephisto mimend, ignoriert er nicht nur den Geheimrat, sondern spricht in der Rolle des verletzten Geliebten mit »seinem spitzesten Ton« und mit »forcirter guter Laune« (195). Cécile »zitterte« bei diesem Auftritt, hört aber »den spöttischen Ton nur halb heraus, desto deutlicher der Geheimrath«, der später St. Arnaud von den Ereignissen berichtet (195f.). Gordons Rache besteht darin, Cécile öffentlich zu beleidigen, indem er ihr zuerst in der Oper eine Szene macht und ihr dann nach Hause folgt, um dasselbe Spiel noch einmal – und wieder im Beisein des Geheimrats – zu wiederholen. Die eigentliche Kränkung Gordons, so wird letztlich deutlich, besteht darin, dass Cécile ihn nicht zum Geliebten wollte. Er rächt sich für ihre Zurückweisung und damit paradoxerweise für ihr ehr- bzw. tugendhaftes Verhalten. Die Loge erinnert zwar an einen bühnenähnlichen Rahmen, aber sie konstituiert eben keinen fiktionalen, sondern einen sozialen Raum. Der Öffentlichkeit, repräsentiert durch das Opernpublikum im Allgemeinen und den Geheimrat im Besonderen, kommt an dieser Stelle eine entscheidende Rolle zu. Dem Duell als gesellschaftlicher Forderung entsprechend macht der öffentliche Affront in Fontanes Romanen das Duell unumgänglich: »Der Ehrenkodex des Offizierskorps ließ dem beleidigten Offizier keine andere Wahl, als die Beleidigung mit einem Duell zu ahnden.«24 Während Grete Minde mit ihrer Rache auf ein Versagen des Gerichtswesens reagiert und Andrea Delfin seinen Racheplan als Reaktion auf den Tod seiner Familie entwirft, ist es im Fall Gordons kein traumatischer Verlust, sondern der fiktive Verlust einer imaginierten Zurückweisung, der seine Rache motiviert.25 Rache resultiert also paradoxerweise daraus, dass eine Affäre und damit ein Ehebruch nicht stattgefunden haben. 24 | Frevert, Ehrenmänner, 125. 25 | Plett kontrastiert Gordons Umgang mit Fakten und Fiktion mit den Ausführungen des Privatgelehrten Eginhard gegenüber St. Arnaud. Eginhard zufolge gehören zum Erfassen historischer Zusammenhänge zwei Dinge: Man müsse »Personen und Taten aus ihrer Zeit heraus zu begreifen und sich vor Sentimentalitäten zu hüten wissen« (90). Gordon fehle es an beiden Fähigkeiten und damit an einem »verantwortungsbewussten

V.1 Eine Frage der Ehre?

V om U mkuren zur R ache und zum D uell Gordons anhaltend trotzig aggressiver Haltung stehen Céciles deutliche Warnungen gegenüber, dass sein veränderter Tonfall fatale Konsequenzen haben werde. In ihrer Diskussion mit Gordon, die auf den Opernbesuch folgt, widersetzt sich Cécile dem Bild der femme fragile, das Gordon (wie auch St. Arnaud) von ihr hat, mit einer pointierten Einschätzung der Situation: »Nicht meine Haltung im Theater ist schuld« an seiner Eifersucht, sondern ihre »Lebensgeschichte«, die er zu kennen glaubt (202). Cécile redet von Eifersucht allein als »Recht« auf Eifersucht und spricht ihm ab, »ein Anrecht auf Forderungen und Rücksichtslosigkeiten« zu haben (200-202, Hervorh. D. H.). Sie bemüht sich um eine Sprache mit juristischen Untertönen, wird aber auch dann nicht gehört: »Céciles Tragödie wurzelt vor allem darin, daß sie sich […] in einem Gewebe von Narrativität befangen findet, aus dem sich zu befreien sie nie imstande ist.«26 Einen entscheidenden Teil dieses Gewebes bildet der Duelldiskurs, in dem es um Vorstellungen von Rechten geht, die vom Rechtssystem weder registriert noch anerkannt werden. Recht haben ist darin keine legale, sondern eine gesellschaftlich-patriarchalische Kategorie. Dass Gordon mit diesen Diskursen und Verhaltenskodizes vertraut ist, zeigt er ab der ersten Begegnung mit dem Ehepaar St. Arnaud. Er weiß »mit Rücksicht auf den Rang des Obersten, diesem das erste Wort überlassen zu müssen« (20), und beschreibt ihn seiner Schwester gegenüber als »Garde-Offizier from top to toe« (59). Seine Interaktionen mit St. Arnaud sind von der Thematik ihrer Gespräche bis zur Grußgeste militärisch geprägt. Während Gordon St. Arnaud ausschließlich in formellen Situationen begegnet, spielt sich seine Beziehung zu Cécile weitgehend im privaten Bereich ab. Der Opernbesuch bricht diese Ordnung auf. Es ist nämlich allein die Tatsache, dass die Ereignisse in der Öffentlichkeit stattfinden, die Gordons emotionalen Konflikt in eine Frage der Ehre verwandelt. Wenn es um das eigentliche Verhältnis von Cécile und Gordon geht, legt St. Arnaud ein frappierendes Desinteresse an den Tag. Auf ihr Angebot, ihre Unschuld zu beweisen, indem sie ihm ihren Briefwechsel mit Gordon überreicht, erwidert er: Unsinn. Ich kenne Liebesbriefe; die besten kriegt man nie zu sehen und was dann bleibt, ist gut für nichts. Uebrigens sind mir seine Betheuerungen und vielleicht auch Bedauerungen absolut gleichgiltig; aber nicht sein Auftreten vor Zeugen, nicht sein Benehmen in Gegenwart Anderer. Er hat Dich beleidigt. […]. Das in der Loge mochte gehen, aber Umgang mit seinem ausgewählten Gegenstand« – Cécile. Plett, »Rahmen ohne Spiegel«, 233. 26 | Daragh Downes, »Cécile«, in: Christian Grawe und Helmuth Nürnberger (Hg.), Fontane Handbuch, Stuttgart: Kröner 2000, 563-574, hier: 572.

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Dich bis hierher verfolgen, unerhört! Als ob er den Rächer seiner Ehre zu spielen hätte. (204)

Im weiteren Gespräch der Eheleute fragt St. Arnaud Cécile über die Ereignisse aus und überträgt sie eins nach dem anderen in die Sprache gesellschaftlicher und militärischer Konventionen. Er zwingt die ambivalente Sprache des Flirts in klare Kategorien und ritualisiert so die Emotionen der Rache im Duelldiskurs. Auch wenn St. Arnauds Stimmung erhitzt ist, filtert seine Rhetorik dezidiert emotionale Aspekte heraus und wirkt damit wie eine Sublimierungsrhetorik, in der das Persönliche immer wieder mit dem öffentlichen Anspruch abgeglichen wird. Dabei bezeichnet er Gordons Verhalten wiederholt als »Spiel«, rückt seine Haltung in den Bereich des Irrealen, wenn er sie im Konjunktiv II beschreibt und entlarvt, was Gordons Rache eigentlich ist: eine Inszenierung. Doch genau dieses Spiel provoziert das Duell: »[…] er gerirt sich, als ob er legitimste Rechte geltend zu machen hätte; Prätension über Prätension. Aber, mein Herr von Gordon, Sie sind in der falschen Rolle.« (206) Gerade in Gordons Inszenierung liegt laut St. Arnaud die Beleidigung, die das Duell unumgänglich macht: Insofern Cécile sich, wie sie versichert, »keines Entgegenkommens« bewusst ist, das Gordons Verhalten »auch nur einen Schimmer von Recht gegeben hätte, so liegt eine Beleidigung vor, die nicht nur Dich betrifft, sondern vor allem auch mich« (205, Hervorh. i. O.). Hier zeigt sich das, was Anette Schwarz als St. Arnauds »(Sprach-)Gewalt« über Cécile bezeichnet; während er sie »buchstäblich mundtot« macht, indem er immerzu auf ihre Nervenkrankheit verweist, benutzt er hier den Duelldiskurs, um sich ins Zentrum des Geschehens zu setzen.27 An dieser Stelle wird deutlich, dass sich beide Männer Céciles Position in ihrer Interpretation der Ereignisse aneignen: Gordon eignet sich ihre Geschichte an, woraufhin St. Arnaud ebendiese Version dem gesellschaftlich-militärischen Diskurs des Duells einverleibt. Dabei wird Cécile erst in Gordons Fiktion durch die von ihm imaginierte Fürstengeliebte und dann in St. Arnauds Aufrufen des Duelldiskurses durch ihn selbst ersetzt. Beide Männer zeigen kein Interesse daran, wie Cécile die Ereignisse damals wie heute sieht oder erlebt hat. Auch hier zählen die Geschichten – selbst die fabrizierten – mehr als das Reale. Der Umstand, dass St. Arnaud allein auf seine Ehre fixiert ist, erscheint in einem anderen Licht, wenn wir bedenken, dass er das Militär eben deshalb verlassen musste, weil er an einem Duell beteiligt war. Die einzige mit dem Militärischen verquickte Praxis, an der er weiterhin teilnehmen kann und an der sein sozialer Status als Oberst a.D. weiterhin hängt, ist paradoxerweise das offiziell vom Militär nicht geduldete Duell. Während Gordon sich also für den Verlust von etwas rächt, was er nie hatte 27 | Schwarz, »Cécile«, 113.

V.1 Eine Frage der Ehre?

(eine Affäre mit Cécile), verteidigt St. Arnaud etwas, das ihm bereits genommen wurde (seinen militärischen und sozialen Status als Oberst).28 Gordon und St. Arnaud sind demnach beide auch melancholische Charaktere, deren Handeln von etwas motiviert ist, das sie bereits verloren haben. In Cécile entsprechen sich Rache und Duell insofern, als beide auf einer emotionalen Leerstelle gründen: Weder eine Verführung (Gordons oder Céciles) noch ein Betrug (an St. Arnaud) hat stattgefunden. Damit werden sowohl Rache als auch Duell als Mechanismen im Leerlauf präsentiert, die tödliche Konsequenzen haben, obwohl ihnen jeglicher Wirklichkeitsbezug fehlt. Strukturell erinnern Rache und Duell an die inhaltlosen Bilder im Schloss. Wie beim Schlossbesuch Anekdoten für Objekte einstanden, reagieren hier Rache und Duell auf Fiktionen, die wie Wirklichkeit gehandelt werden. Denn letztlich ist egal, was tatsächlich passiert ist, denn sobald Gordon sich in der Öffentlichkeit so verhält, als ob etwas passiert wäre, sind die gesellschaftlichen Normen aktiviert und müssen bis zum Ende durchgespielt werden.

E ine F r age des E hrgefühls Johann Wolfang von Goethe verteidigt das Duell noch im Jahr 1827 als eine Art Zivilisierungsmaßnahme: »Was kommt auf ein Menschenleben an? Eine einzige Schlacht rafft Tausende weg. Es ist wichtiger, daß das Prinzip des Ehrenpunkts, eine gewisse Garantie gegen rohe Tätigkeiten, lebendig erhalten werde.«29 Goethe spricht dem Duell also keine rechtliche, sondern eine vornehmlich gesellschaftliche Funktion zu. Auch Fontanes Interesse gilt in erster Linie dem gesellschaftlichen Imperativ des Duells, allerdings konzentriert er sich auf dessen Konsequenzen. Dabei sind seine Texte weit davon entfernt das Duell als Präventivmittel »gegen rohe Tätigkeiten« zu präsentieren. In Effi Briest und Cécile kommen Duelle einem Todesurteil gleich, und zwar nicht nur für einen der Duellanten, sondern für diejenigen, um deren Ehre es angeblich ausgefochten wird: Cécile und Effi. Cécile, die von Anfang an wie eine »todgeweihte Patientin ›behandelt‹« wird, erliegt am Ende nicht ihrer Krankheit, sondern dem Verhalten der Männer, die weder interessiert, was sie sagt, noch, was sie tatsächlich getan hat.30 In Fontanes Texten besiegelt der Tod der Protagonis28 | Dass Cécile und St. Arnaud seit dem Duell in der bürgerlichen Gesellschaft keine gern gesehenen Gäste mehr sind, zeigt sich bereits auf den ersten Seiten des Romans, als ein General, der die St. Arnauds erkennt, zwar »mit besonderer Artigkeit in das Coupé hinein grüßte, dann aber sofort vermied, abermals in die Nähe desselben zu kommen« (7). 29 | Zit. n. Frevert, Ehrenmänner, 68. 30 | Anette Schwarz, »Cécile«, 113.

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tinnen die Ökonomie des Duells, gemäß der das Objekt der Begierde aus dem Verfahren ausgeschlossen wird und am Ende selbst aus dem Leben scheidet. Der Charakter St. Arnaud hingegen teilt nicht nur Goethes leichtfertige Haltung hinsichtlich des Lebens Einzelner, seine Rhetorik weist viele Parallelen zum Konzept der Rache in Menschliches, Allzumenschliches auf. Darin unterscheidet Nietzsche zwischen Rache, die auf Selbsterhaltung abzielt, und Rache, die Wiederherstellung anstrebt. Heutzutage würden wir diese erste Kategorie, die allein anstrebt, »mit Leib und Leben davonzukommen«, als Affekt oder Notwehr bezeichnen. In der zweiten Form der Rache hingegen basieren Rache und Duell auf dem gleichen Prinzip: der Wiederherstellung der Ehre. Wie bereits in Zusammenhang mit Die Judenbuche diskutiert, können Nietzsche zufolge Besitz, Rang oder Familie, wenn sie denn einmal verloren sind, nicht durch Rache wiederhergestellt werden: »Wiederherstellung bezieht sich allein auf einen Nebenverlust […]. Wenn unsere Ehre durch den Gegner gelitten hat, so vermag die Rache sie wiederherzustellen.«31 St. Arnaud fühlt sich nicht etwa von dem Verhältnis zwischen Cécile und Gordon verletzt, er ist vielmehr, wie die Erzählstimme uns wissen lässt, »an seiner empfindlichsten, wenn nicht an seiner einzig empfindlichen Stelle getroffen, in seinem Stolz« (207, Hervorh. i. O.). Dieser Wechsel der narrativen Struktur vom Dialog zwischen Cécile und St. Arnaud zur Erzählstimme gewährt uns Einblick in das vom militärischen Wertesystem geformte Innenleben St. Arnauds. Mit dem Wechsel zur auktorialen Erzählstimme stellt der Text performativ den Effekt des militärischen Wesens auf den Oberst a. D. dar: Hier spricht kein Ich, kein Selbst über seine Innenwelt, sondern eine körperlose auktoriale Stimme. St. Arnauds rationalisierende Rhetorik, das Duell und das Gerichtswesen teilen letztlich eine Zielsetzung: Racheimpulse sollen mittels Ritual bzw. Gesetz eingehegt werden. Während in Effi Briest Innstettens Emotionen in Konflikt mit seinen militärischen Werten geraten, hat das Militärsystem St. Arnaud so nachhaltig geprägt, dass seine Emotionen mit dessen Wertigkeit in vollendetem Einklang stehen – es geht ihm nicht um »das Liebesabenteuer«, sondern um verletzten Stolz und darum, »daß die Furcht vor ihm, dem Manne der Determiniertheiten, nicht abschreckender gewirkt hatte« (207, Hervorh. i. O.). Nach Nietzsche vermag allein die Rache den »Nebenverlust« (der Ehre) wiedergutzumachen, denn »durch die Rache beweisen wir, dass wir auch ihn nicht fürchten: darin liegt die Ausgleichung, die Wiederherstellung.«32 In diesem Sinne geht es St. Arnaud vor allem darum: »Gefürchtet zu sein, einzuschüchtern, die Superiorität, die der Muth giebt, in jedem Augenblick fühlbar zu machen, das war recht eigentlich seine Passion.« (207) Wenngleich St. Arnauds Rhetorik Racheim31 | Nietzsche, Menschliches, Allzumenschliches, 565, Hervorh. i. O. 32 | Nietzsche, Menschliches, Allzumenschliches, 566, Hervorh. i. O.

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pulse rationalisiert und damit ritualisiert, bleibt in seiner »Passion« für seine Ehre noch ein Rest der für die Rache typischen Leidenschaft erhalten. Außer in seiner Fruchtlosigkeit besteht Gordons Affront gegen ihn auch darin, dass St. Arnaud sich von einem ihm nicht gleichgestellten »Kabelmann« beleidigt fühlt: »[D]ieser Durchschnitts-Gordon, dieser verflossene preußische Pionier-Lieutenant, dieser Kabelmann und internationale Drahtzieher, der hatte geglaubt, über ihn weg sein Spiel spielen zu können. Dieser Anmaßliche …« (207, Hervorh. i. O.). Die Erzählstimme gibt uns Einblick in St. Arnauds Gedanken und wir erfahren so, dass er Gordon als nicht ebenbürtig ansieht und in den Bereich von Spiel und Theater verweist. Der Akt des Duellierens verspricht dergleichen Kränkungen dadurch zu beheben, dass er die Gegner kategorisch gleichstellt. Allein die Teilnahme an einem Duell beruhte, wie Frevert ausführt, auf der Akzeptanz des Gegenübers als eines Gleichgestellten: »Die Verwandlung des Feindes in den Freund vollzog sich dann im Medium des Kampfes«, wobei die Todesgefahr des Duells »beide Kämpfer einer Art rituellen Reinigung [unterzog] in der alle negativen Gefühle des Hasses, der absichtsvollen Schädigung und Feindschaft abgestreift wurden.«33 Bei St. Arnaud wirken diese Mechanismen, denn, wie er nach dem Duell an Cécile schreibt, beim Duell erfährt er dann doch eine »Herzensbewegung«; er empfindet also nur gegenüber einem Mann eine erotische Anziehung und Nähe, die ihm gegenüber seiner Frau gänzlich fehlt. St. Arnaud bekennt weiter, dass er Gordons »Muthe Gerechtigkeit schuldig [ist] und mehr noch seiner unsentimentalen Entschlossenheit«, die ihm »beinah imponiert hat« (213). Dass Gordon das Reglement des Duells ohne jede Dramatisierung befolgt,34 rehabilitiert ihn in St. Arnauds Augen. Das Duell führt also zumindest für St. Arnaud zu einer Versöhnung, die jedoch in Anbetracht seiner Flucht an die Riviera, durch die er sich der Strafverfolgung entzieht, des Tods seines Widersachers und des Suizids Céciles ad absurdum geführt wird. Indem er sich letztlich dem Rechtsstaat entzieht, zeigt St. Arnaud einen Charakterzug des nach Rache Strebenden: Er stellt das eigene über das staatliche Rechtsverständnis. Wie Andrea Delfin und Grete Minde versteht auch St. Arnaud am Ende allein sich selbst als Richter in eigener Sache.

33 | Frevert, Ehrenmänner, 70. 34 | Vor dem Hintergrund von Gordons Vertrautheit mit militärischen Gepflogenheiten wirken seine Provokation in der Oper und seine Bereitschaft, in das Duell einzuwilligen, wie eine weitere theatralische Inszenierung, nämlich wie ein in den Ehrendiskurs gekleideter Suizid.

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D as D uell und das E nde des E rz ählens In Cécile nimmt das Duell seinen Lauf, doch mit seiner Durchführung zerfällt der Roman. Während in Effi Briest das Duell in der Mitte des Romans situiert ist und einen Wendepunkt der Handlung einleitet, bildet es in Cécile deren Abschluss.35 Mit St. Arnauds Brief an Gordon, der die Duellforderung enthält, wandelt sich der Roman zunehmend zum Briefroman. Als Cécile kurz darauf Gordons Brief und damit »seine letzten Worte« liest, schreit sie auf: »Merk’ die Minute … Er ist erschossen … jetzt« (211, Hervorh. i. O.). In einem Text, in dem die Gegenwart ständig vom Nachleben der Vergangenheit durchkreuzt wird, bricht der Moment des Duells plötzlich auf die Minute genau ins Jetzt ein. Durch die Ellipsen erscheint dieser Moment in Form aneinandergereihter Fragmente, als ein auf einen (imaginierten) Zeitpunkt reduziertes Ereignis.36 Ich lese diesen Bruch in der Erzählstruktur als Repräsentation der Wirkung der ritualisierten Rache auf die Textstruktur: Das Erzählen verarmt zur Schriftkultur des Duells – zum Protokoll. Nach Céciles Ausruf beschreibt uns die narrative Stimme weder Stimmung noch Gedanken der Charaktere. Die Erzählstimme hört auf zu erzählen und leitet lediglich knapp die folgenden Texte ein: eine kurze Zeitungsnotiz, die von Gordons Tod und der Überführung seiner Leiche in seine Heimat berichtet, einen Brief St. Arnauds an Cécile, in dem er ihr vom Duell erzählt und sie bittet, ihm ins Exil zu folgen, und schließlich ein Brief des Hofpredigers Dörffel, der St. Arnaud von Céciles Selbstmord in Kenntnis setzt. Mit diesem letzten Brief schließt der Roman. Der Protokollstil bildet eine weitere Eingrenzung bzw. Ritualisierung der Racheimpulse: Auf die rhetorische Eingrenzung von Gordons emotionalen Racheimpulsen im Diskurs des Duells folgt die protokollhafte Wiedergabe der Briefe. Mit dem Wechsel zum Briefformat wird jeder Dialog zwischen den Briefschreibern suspendiert. Den Briefen von Gordon, St. Arnaud und Dörffel ist gemein, dass auf sie keine Antwort folgt. Die Briefe sind von Toten, an Tote oder im Namen von Toten geschrieben. Am Ende von Cécile steht also gewissermaßen eine Reihe von Todesanzeigen. Die fatalen Konsequenzen sowohl von Gordons Rache an Cécile als auch von St. Arnauds Rache an Gordon re35 | Das Unerhörte ist in diesem Roman, »über den novellistischen Bezirk« hinausgehend, »weniger die Begebenheit als das erzählerische Verfahren«. Plett, »Rahmen ohne Spiegel«, 231. Mit der Darstellung des Duells mündet das Unerhörte der Geschichte, so meine These, in einem narrativen Wendepunkt: Mit der schriftlich überlieferten Duellforderung, wandelt sich Cécile zum Briefroman. 36 | Man kann diesen Moment mit Lang als Ausdruck des Effekts technischer Innovationen auf die Erzählstruktur lesen, insofern die Briefe eine Übergangsfigur zwischen Erzählen und Telegrammstil darstellen. Lang, »Cécile«.

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sultieren in einem Zusammenbruch des Erzählens selbst. – Nicht einmal das Duell wird noch beschrieben. Aus St. Arnauds Brief an Cécile erfahren wir nur, dass er die fatale Konsequenz des Konflikts für vermeidbar gehalten hatte: »Der Ausgang der Sache machte doch einen Eindruck auf mich, und so bot ich ihm die Hand der Versöhnung. Aber er wies sie zurück. Eine Minute später war er nicht mehr.« (212) Insofern St. Arnauds Erzählung direkt vom zurückgewiesenen Versöhnungsangebot zu Gordons Tod übergeht, wird uns das Ereignis des Duells vorenthalten. Auch in der Darstellung wird also die bereits im Duell ritualisierte und damit eingegrenzte Rache formal eingebunden. Die Leerstelle in der Darstellung reflektiert die Struktur der Rache, die in Gordons Fall als eine Art emotionales Supplement aus einem konstruierten Besitzanspruch entstand. In Cécile wird sowohl die Provokation als auch die Forderung zum Duell als entleerte Form präsentiert. Während es Gordons Rache an einem realen Motiv fehlt, reduziert sich St. Arnauds emotionale Reaktion auf die Sorge um seine Ehre. Rache wirkt als hohle performative Formel, die entweder als theatralische Inszenierung oder als entleertes gesellschaftliches Ritual nichts als Apathie, fremdgesteuerte Passion und Destruktion bewirkt. In Cécile bildet das Duell handlungstechnisch das Ende des Romans, bedeutet inhaltlich den physischen bzw. gesellschaftlichen Tod der Protagonisten und Protagonistinnen und markiert formal das Ende des Erzählens. Rache resultiert hier nicht wie in den bisher analysierten Novellen aus einer Verlusterfahrung. Gordon reagiert vielmehr auf eine gesellschaftlich präfigurierte Verschiebung in seinem Bild von Cécile und lebt damit ein Gesellschaftsurteil nach. Letzten Endes erscheinen weder Gordons noch St. Arnauds Rache wie eine emotionale Reaktion auf einen Objektverlust oder als von einem Gerechtigkeitsbedürfnis motiviertes Handeln, sondern wie eine Ersatzstruktur, die sich um eine Leerstelle herum bildet. Diese Leerstellen verweisen dabei auch auf die Komplizenschaft der gehobenen Gesellschaft, die dazu beiträgt, ein Racheritual am Leben zu halten, in dem Frauen nur als Objekte und nie als Subjekte ihres Handelns und Sprechens vorkommen.37 Doch der Roman geht noch einen Schritt weiter, indem er ausstellt, dass Rache individuell sowie gesellschaftlich konstruiert ist. Der Text zeigt uns vor allem auch die Macht der

37 | Erst mit ihrem Suizid erlangt Cécile eine gewisse agency und bestimmt zumindest ihre letzte Ruhestätte selbst. »Durch ihren Selbstmord setzt sie sich«, wie Schwarz überzeugend argumentiert, »buchstäblich ›apart‹ als eine Stimme, der nicht länger zudiktiert werden kann, was sie nun in Eigenhand und als letzten Willen in ihren eigenen Worten verfasst«. Schwarz, »Cécile«, 121.

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Fiktion auf, Wirklichkeit zu beeinflussen und zu gestalten.38 Denn in Cécile ist Rache am Ende nichts als eine Inszenierung, die wie Realität behandelt wird. Über das Nachleben vergangener Ereignisse in Cécile schreibt Fontane an seinen Verleger einen Satz, der auch Effi Briest im Kern zusammenfasst: »Der Grundgedanke des kl. Romans ist der von der unerbittlichen Macht zurückliegender Geschehnisse, die durch reinen Wandel und aufrichtige Buße vor Gott zu sühnen, aber gesellschaftlich nicht zu tilgen sind.«39 Was nicht vergeht, ist nicht das für Rache Übende charakteristische Gerechtigkeitsstreben, sondern das von der Gesellschaft einmal gefällte Urteil. Während St. Arnaud noch vordergründig am Pathos der Ehre festhält und Gordons emotionale Ausbrüche mit dem Duelldiskurs abgleicht, begegnen wir in Effi Briest in Innstetten jemandem, der gerade diesen Diskurs kritisch reflektiert, um sich ihm dann doch zu unterwerfen.

38 | Es mutet fast unheimlich an, dass Leslie Gordon – neben Grete Minde und Andrea Delfin – auf den ersten Blick weniger wie ein Verrückter als wie ein verkappter Romantiker erscheint. Und doch fehlt es ausgerechnet seiner Rache an jeglichem Realitätsbezug. 39 | Zit. n. Funke und Hehle, »Entstehung«, 246, Hervorh. i. O.

V.2 Pflicht zur Rache: Das Duell

Theodor Fontanes Effi Briest (1894)

[I]ch bin ohne jedes Gefühl von Haß oder gar von Durst nach Rache.1 Nun, es kam, wie’s kommen mußte, wie’s immer kommt. (11)

Geert von Innstetten verspürt nicht das geringste Rachebedürfnis, als er erfährt, dass ihn seine Frau Effi vor mehr als sechs Jahren mit Major Crampas, mit dem Innstetten zusammen gedient hat, betrogen hat. Die Affäre ereignete sich noch im damaligen Wohnort der Innstettens, im hinterpommerschen Kessin, lange bevor sie nach Berlin zogen. Der Affront scheint umso belangloser, da es nicht nur dem Ehemann an Rachedurst fehlt, sondern es bereits der Ehebrecherin und ihrem Liebhaber an Leidenschaft füreinander mangelte. Effi beschreibt Crampas als jemanden, »den ich nicht einmal liebte und den ich vergessen hatte, weil ich ihn nicht liebte« (325).2 Auch sonst kommt im Emotionshaushalt der Innstettens wenig Leidenschaft auf und so gründen

1 | Theodor Fontane, Das erzählerische Werk. Große Brandenburger Ausgabe, Bd. 15: Effi Briest, hg. von Christiane Hehle, Berlin: Aufbau 1998, 277. Zitate aus dem Roman werden im Folgenden unter Angabe der Seitenzahl direkt im Text nachgewiesen. 2 | Gerhard Neumann zufolge handelt »Effi nicht aus dem Antrieb des Begehrens«, sondern folgt »klischeehaften Leitmustern« und lebt, insoweit sie Ehefrau und Geliebte ist, als »Imitation, Replik, ›Fake‹ eines abwesenden Originals«. Gerhard Neumann, »›Eigentlich war es doch ein Musterpaar‹. Die Trübe Passion der Effi Briest«, in: Cahiers d’Études Germaniques 45 (2003): 209-228, hier: 214. Christian Grawe hingegen interpretiert Effis Ehebruch überzeugend als Protest und Rebellion in einer Zeit, in der das Thema Sexualität mit strikten gesellschaftlichen Tabus belegt war und die Ehe als »sakrosankte Bastion von Ordnung und Anstand begriffen« wurde; Ehebruch gefährdete demnach nicht nur die moralische Integrität der und des Einzelnen, sondern auch die Gesellschaft. Christian Grawe, »Effi Briest«, in: Christian Grawe (Hg.), Interpretationen. Fontanes Novellen und Romane, Stuttgart: Reclam 1991, 217-242, hier: 220.

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auch hier die Affäre und das auf sie folgende Duell letztlich auf emotionalen Leerstellen. Diese Leerstellen stehen im Zentrum der Diskussion, Darstellung und späteren Reflexion des Duells in Effi Briest (1894). Während St. Arnaud in Cécile zumindest noch seine Ehre verteidigen will, sieht Innstetten diese gesellschaftliche Forderung zunehmend abgeklärt und kritisch. Da ihm jegliches Rachebedürfnis fehlt, gibt es eigentlich nichts, das mittels des Duells ritualisiert bzw. eingegrenzt werden müsste. Dennoch folgt er am Ende den gesellschaftlichen Konventionen und fordert Crampas zum Duell. Was Effi Briest von Cécile unterscheidet, ist, dass hier nicht die Eheleute über die Ereignisse diskutieren, sondern Innstetten und sein Sekundant Wüllersdorf ein rechtsphilosophisches Gespräch über die Mechanismen des Duells führen. Dabei wirft der Text die Frage auf, was mit dem Duell passiert, wenn das, was es eigentlich ritualisieren soll, also der Racheimpuls, gar nicht vorhanden ist. Der Roman präsentiert und reflektiert also die leeren Mechanismen eines Rituals, das trotz seiner Antiquiertheit für alle Beteiligten tödliche Folgen hat. Zur Zeit des Realismus galt das Duell wie schon gesagt keinesfalls als überwunden bzw. antiquiert, sondern war eine in Militärkreisen weiterhin fest etablierte und – trotz kritischer Stimmen – auch in der bürgerlichen Gesellschaft nicht nur tolerierte, sondern geforderte Praxis. In Fontanes Texten hat diese Praxis dabei unterschiedliche Auswirkungen: Während es in Cécile St. Arnauds militärische Karriere beendet, wird Innstettens politische Karriere (vom Landrat zum Ministerialrat in Berlin) durch das Duell sogar gefördert, denn sein Vorgesetzter im Ministerium findet »alles, was geschehen, in der Ordnung« (288).3 Worin besteht diese Ordnung, die mit dem Duell eingehalten bzw. erhalten und von Seiten des Militärs abgesegnet wird? Wie in Cécile hängt auch in Effi Briest die Rechtfertigung des Duells weniger mit dem Affront des Ehebruchs zusammen als mit dem daraus für den Ehemann folgenden öffentlichen Ehrverlust. In Effi Briest braucht es dafür allerdings keine öffentliche Bloßstellung, wie Gordon sie in Cécile inszeniert. Hier ist es gerade das vertrauensvolle Gespräch mit dem befreundeten Geheimrat Wüllersdorf über Sinn und Legitimität des Duells, die für Innstetten einem Öffentlich-Werden des Ehebruchs gleichkommt – ein einzelner Mitwis3 | Rolf Christian Zimmerman zufolge wurde die Verbindung zwischen Effi Briest und Cécile bisher »zu stiefmütterlich behandelt«, denn tatsächlich teilen beide Romane nicht nur »das wichtige Duellmotiv«: »Hier wie dort wird die junge Frau entsprechend schon am Anfang der Geschichte ein Opfer ihrer unschuldigen Kindlichkeit, am Ende aber ein Opfer der mit ihren Männerbräuchen jede natürliche Menschlichkeit vergewaltigenden Männergesellschaft.« Rolf Christian Zimmermann, »Was hat Fontanes Effi Briest noch mit dem Ardenne-Skandal zu tun? Zur Konkurrenz zweier Gestaltungsvorgaben bei Entstehung des Romans«, in: Fontane Blätter 64 (1997): 89-109, hier: 101.

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ser steht also für die Öffentlichkeit. Dies mag pedantisch erscheinen, aber es entspricht dem zur Zeit des Realismus noch aktiven Ehrenkodex, dem eine »paranoid dynamic«4 zugrunde liegt, deren Logik zufolge sich jeder Freund augenblicklich in einen Feind und jeder Konflikt in einen um Leben oder Tod verwandeln kann, wenn es um die Ehre geht. Zwischenmännliche Beziehungen standen unter Generalverdacht, die Ehre eines oder beider Betreffenden zu gefährden, und zwar nicht nur wie im Fall von Innstetten und Crampas durch Ehebruch, sondern auch wie im Fall von Wüllersdorf durch Mitwisserschaft, mit der er dieser Logik nach zur potentiellen Bedrohung von Innstettens sozialem Status wird. Die Ehre fungierte als Wert, um den sich zwischenmenschliche Beziehungen konfigurierten und der sowohl das Männlichkeitsbild als auch den sozialen Status determinierte.5 Neben den sozialen Konsequenzen zeichnet Effi Briest auch nach, wie die Rache ritualisiert wird, nämlich anhand des Regelwerks des Duells. Eine der zentralen Eingrenzungsstrategien betrifft dabei die Zeit, was sich –­ wie auch in Cécile – auf das Erzählen auswirkt.

R ache , D uell und die Z eit In Effi Briest ist am Ende alles eine Frage der Zeit bzw. der Nachträglichkeit, und dementsprechend findet auch die Duellforderung verspätet statt6 – Innstetten erfährt von Effis Affäre wie gesagt erst Jahre später.7 Doch mit dieser 4 | Schneider, »Masculinity«, 273. 5 | Das Duell regulierte, wie Schneider überzeugend argumentiert, das Verhalten zwischen Männern. Schneider, »Masculinity«, 266-269. Siehe hierzu auch Leslie L. Miller, »Fontane’s Effi Briest. Innstetten’s Decision: In Defense of the Gentleman«, in: German Studies Review 4/3 (Okt. 1981), 383-402: 390. 6 | Dass in dem Roman das Vergangene nicht vergehen will und Effis Mutter, Luise Briest, Innstetten und Effi selbst immer wieder von der Vergangenheit eingeholt werden, ist ein in der Forschung vielseitig diskutiertes Thema. Siehe etwa Russel E. Berman, »Effi Briest and the End of Realism«, in: Todd Kontje (Hg.), A Companion to German Realism 1884-1900, Rochester: Camden 2002, 339-364 sowie Inka Mülder-Bach, »›Verjährung ist […] etwas Prosaisches‹. Effi Briest und das Gespenst der Geschichte«, in: Deutsche Vierteljahrsschrift 83 (2009): 619-642. 7 | Mit der für den Text charakteristischen Nachträglichkeit weicht Fontane radikal von der von ihm selbst wiederholt als historische Vorlage ausgewiesenen Ardenne-Affäre ab. Der Altersunterschied zwischen Rittmeister Armand Leopold Ardenne und Elisabeth Ardenne, geborene Edle und Freiin von Ploth, betrug nur fünf Jahre und ihr Mann erfuhr von ihrer Affäre mit dem Amtsrichter Emil Ferdinand Hartwich nicht im Nachhinein, sondern während sie stattfand. Elisabeth Ardenne überlebte zudem ihren Mann und baute sich eine eigene Existenz auf – Fontane präsentiert seine Effi hingegen als femme fragile.

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Entdeckung muss auf einmal alles ganz schnell gehen, so schreiben es die Regeln des Duells vor. Innstetten bleiben zwischen dem Moment, in dem er die Briefe auffindet, die Effis Untreue beweisen, und dem der Duellforderung, die Wüllersdorf Crampas in seiner Funktion als Sekundant überbringt, nur wenige Stunden. Wie etwa der detaillierte Duell-Codex von Gustav Hergsell von 1897 besagt, durfte der Zeitraum zwischen der Erkenntnis des ehrverletzenden Ehebruchs und der Duellforderung 24 Stunden nicht überschreiten.8 Dieses Zeitdiktat steht dem Wesen der Rache entgegen, das auf die (oft unbestimmte) Zukunft gerichtet ist. Das Regelwerk des Duells schreibt die Abfolge der Ereignisse präzise vor und forciert damit eine Ordnung zeitlicher Dringlichkeit, die einen zentralen Aspekt der Ritualisierung der Rache ausmacht. Fontane nimmt es in Effi Briest ohnehin mit dem »Ablauf der chronologischen Zeit« übergenau, sie werde so »pedantisch registriert, dass der Leser die Monate und Wochen, ja die Tage und Stunden zählen kann«.9 Dieses akkurate Registrieren etabliert einen »datengenaue[n] Realismus«, der die Zeitlichkeit des Duells und ihren Effekt auf die Handlung genau erfasst.10 Der moderne Staat zielt darauf ab, das Rachebedürfnis in einem allgemeinen, also rechtlichen Regelwerk zu binden, indem er das Gewaltmonopol beansprucht. Im Siehe Hehle, »Stoff«, 353-358. Die Forschung übernimmt fast ausnahmslos Fontanes Aussage, er habe den Ardenne-Fall für seinen Roman kaum geändert. Zimmermann betont dagegen die grundlegenden Unterschiede und folgert: Bei Fontane werde aus der »souveränen Else von Ardenne« eine »vitalitätsarme Kindfrau«. Zimmermann, »Was hat Fontanes Effi Briest noch mit dem Ardenne-Skandal zu tun?«, 95. 8 | Gustav Hergsell, Duell-Codex, 2. Aufl., Wien: A. Hartleben’s Verlag 1897, 30. 9 | Mülder-Bach, »›Verjährung ist […] etwas Prosaisches‹«, 624f. 10 | Hugo Aust, »Effi Briest oder Suchbilder eines fremden Mädchens aus dem Garten«, in: Fontane Blätter 64 (1997): 66-88, hier: 70. Mülder-Bach bezeichnet den Text als »Zeitroman« im dreifachen Sinne, nämlich als Roman über die Gesellschaft der 1880er Jahre unter Bismarck, über »die Rhythmen und Formen« individueller, kollektiver und geschichtlicher Zeit sowie über »das Vergehen und Nicht-Vergehen (in) der Zeit«. Mülder-Bach, »›Verjährung ist […] etwas Prosaisches‹«, 624. Brian Tucker liest dieses »Nicht-Vergehen« als Form der Langeweile. Brian Tucker, »Performative Boredom in Effi Briest: On the Effects of Narrative Speed«, in: The German Quarterly 80/2 (Frühjahr 2007): 185-200. Langeweile werde nicht nur als Erfahrung Effis beschrieben, sondern vom Text performativ anhand der Zeitstruktur vorgeführt, indem die Erzählzeit über lange Strecken genutzt werde, um etwas zu beschreiben, das sich auf der Ebene der tatsächlich erzählten Zeit deutlich schneller vollziehe. Michael Fried betrachtet die Zeitlichkeit in Effi Briest hingegen vor dem Hintergrund von Kierkegaards Entweder/ Oder und der darin diskutierten Schwierigkeit, das Alltägliche darzustellen. Michael Fried, Menzels Realismus. Kunst und Verkörperung im Berlin des 19. Jahrhunderts, München: Fink 2007, 165-192.

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Duell geht es zwar wie im Rechtswesen darum, Racheimpulse durch ein Regelwerk einzugrenzen, aber der in seiner Ehre verletzte darf – bzw. muss, ob er will oder nicht – selbst Vergeltung üben, vorausgesetzt dass er sich genau an die vorgeschriebenen Handlungs- und Zeitabfolgen hält. Die Rache wird in den vorgegebenen Abläufen des Duells – Distanz, Waffen, Bewegungsabläufe, Zeitrahmen – ritualisiert. Das Zeitdiktat des Duells wiederum scheint auf die Zeitstruktur des Romans abgefärbt zu haben. Nach Foucault funktioniert Kontrolle in der modernen Gesellschaft über die »Zeit des Menschen« und nicht wie in den feudalen Gesellschaften »im Wesentlichen auf territorialer Grundlage«.11 Das Phänomen des Duells geht dem Aufkommen der Disziplinargesellschaft im Sinne Foucaults natürlich voraus. Es stellt eine seit dem Mittelalter gängige ritualisierte Form der Rache dar, die den Exzess der Rache dadurch eingrenzt, dass sie als einmaliger Kampf zwischen den beiden streitenden Parteien vollzogen wird. Ich lese das Duell vor diesem Hintergrund als Schwellenfigur, die Merkmale der Rache wie der Disziplinierung in sich trägt. Die Zeitvorgaben des Duells etwa, die den Zeitrahmen von Innstettens Reaktion diktieren, bilden eine Disziplinarstrategie im Sinne Foucaults: Sie takten sein Handeln und den weiteren Handlungsverlauf. Der Zeitrahmen, innerhalb dessen Innstetten Wüllersdorf als seinen Sekundanten informieren muss, ist strikt vorgegeben. Wie er sich für diesen Weg entscheidet, beschreibt der Text jedoch nicht und schließt uns damit aus Innstettens persönlichem Abwägen aus. Wir sehen ihn nur von außen, erfahren, dass er geschockt reagiert, als er auf den Briefen an Effi Crampas’ Handschrift erkennt: »[I]n seinem Kopf begann sich alles zu drehen«, daraufhin geht er auf sein Zimmer und man hört »sein Auf- und Abschreiten auf dem Teppich« (273). Die Erzählstimme lässt uns vor der Tür stehen; wir dürfen Innstetten auch nicht auf den Spaziergang folgen, von dem er erst wiederkehrt, als die Sonne schon untergeht. Was er in dieser Zeit durchlebt, bleibt unbeschrieben, so dass sich das genaue Entstehen der Motivation, Crampas zum Duell zu fordern, als Leerstelle im Text abzeichnet. Später stellt sich heraus, dass er in dieser Zeit Wüllersdorf herbeigerufen hat – damit ist das Ritual ausgelöst und nimmt seinen Lauf.

»M uss es sein ?« Dass sein Austausch mit Wüllersdorf bereits vom Duellprotokoll beeinflusst ist, drückt sich in der mechanischen Nüchternheit aus, mit der Innstetten den Sachverhalt darlegt:

11 | Foucault, Die Wahrheit und die juristischen Formen, 114.

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»Es ist«, begann er, »um zweier Dinge willen, daß ich Sie habe bitten lassen: erst um eine Forderung zu überbringen und zweitens um hinterher, in der Sache selbst, mein Sekundant zu sein; das eine ist nicht angenehm und das andere noch weniger. Und nun Ihre Antwort.« (275)

Innstettens Bitte lässt alle entscheidenden Aspekte der Situation aus: Motivation (der Ehebruch), Konsequenz (das Duell) und Beteiligte (Innstetten, Effi und Crampas) bleiben unbenannt. Er spricht in einer emotionslosen Sprache, die von der Mechanik des Rituals geprägt ist. Erst Wüllersdorfs Antwort bricht mit dieser formalen Sprache: »Aber eh’ ich die Sache kenne, verzeihen Sie mir die naive Vorfrage: muß es sein? Wir sind doch über die Jahre weg, Sie, um die Pistole in die Hand zu nehmen, und ich, um dabei mitzumachen. Indessen mißverstehen Sie mich nicht, alles dies soll kein ›nein‹ sein. Wie könnte ich Ihnen etwas abschlagen. Aber nun sagen Sie, was ist es?« (276, Hervorh. i. O.)

Wüllersdorfs Muss es sein? hinterfragt die Notwendigkeit des Duells gerade im Hinblick auf die Zeit. Ihm geht es im Gegensatz zu Innstetten nicht um die Dringlichkeit des Duells, sondern um die Frage, ob sie nicht »über die Jahre weg« seien, also persönlich zu alt und historisch in einer Epoche angekommen, in der das Duell schlicht ein überholtes Ritual ist. Sein Muss es sein? stellt das strikte Regelwerk des Duells in Frage und schafft zumindest für einen Moment Raum, um über Innstettens persönliches Empfinden zu sprechen: »Es sieht fast so aus, Wüllersdorf, als ob die sechs oder sieben Jahre einen Eindruck auf Sie machten. Es giebt eine Verjährungstheorie, natürlich, aber ich weiß noch nicht, ob wir hier einen Fall haben, diese Theorie gelten zu lassen.«/»Ich weiß es auch nicht«, sagte Wüllersdorf. »Und ich bekenne Ihnen offen, um diese Frage scheint sich hier alles zu drehen.«/Innstetten sah ihn groß an. »Sie sagen das im vollen Ernst?« (276)

Gerade was die Verjährung betrifft, finden sich in dem ansonsten überaus detaillierten Regelwerk des Duell-Codex keine klaren Anweisungen. Sie bildet eine Leerstelle innerhalb der parajuristischen Ordnung.12 Das Duell regelt 12 | Hergsells Duell-Codex bestätigt also Innstettens Vermutung, da darin das Thema Verjährung gänzlich unerwähnt bleibt. Wie Schneider herausstellt, ist Innstettens Entscheidung zum Duell durchaus gerechtfertigt, aber »the question of a time limit serves as a moment of indecidability that in the end makes it impossible to determine a rational course of action within the terms set by the system of honor. […] the possibility that a duel might be necessary makes it necessary. By not duelling, Innstetten would open himself up to the charge that he had neglected his honor.« Schneider, »Masculinity«,

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zwar den zeitlichen Ablauf des Rituals selbst, aber nicht die der notwendigen Schritte, die ihm vorausgehen. Obwohl Innstetten und Wüllersdorf den Gedanken der Verjährung letztlich verwerfen, erlaubt ihre Diskussion einen Einblick in Innstettens persönliches Zeitempfinden. In den bisher diskutierten Texten hatte das Vergehen der Zeit keinen Einfluss auf das Racheverlangen. In Die Judenbuche oder Die schwarze Spinne hat Zeit vielmehr eine traumatische Dimension und dient nicht dazu, den Schmerz über den Verlust zu mindern, sondern verharrt in Form der Inschrift im Baum bzw. der Spinne im Holz in einer ewigen Gegenwärtigkeit. Das Duell setzt dieser Zeitlichkeit eine alternative, reglementierende und im Ritual mündende Zeitfolge entgegen, welche die Rache bannen soll. Der minutiös vorgegebene Ablauf bewahrt jedoch zugleich einige Aspekte der Rache, auch das Duell kennt keine Verjährung und hat ein nachträgliches bzw. nachtragendes Wesen. Die Zeitlichkeit der Rache hat also gewissermaßen im Duell ihre Spuren hinterlassen – allerdings ist es hier die Gesellschaft, die auf seiner Durchführung besteht, und nicht der Rache Übende. Während das Racheverlangen eines Andrea Delfins vom Lauf der Zeit nicht abgeschwächt wird, erwägen Innstetten und Wüllersdorf, ob die vergangene Zeit das Duell nicht überflüssig macht. Diese Überlegungen verdeutlichen, dass hier keine Rächer rechnen, sondern Juristen. Dass sie den Gedanken letztlich verwerfen, veranschaulicht, wie das Duell in der Zeitlichkeit der Rache verhaftet bleibt, die keine Verjährung, keine Abschwächung des Affronts über die Jahre kennt. Auf die Verjährungsdiskussion folgt die Frage, wie das Leid zu berechnen sei; allerdings vergleicht Wüllersdorf nicht – wie für die Rache üblich – Leid mit Leid, sondern addiert alles Leid in einer Rechnung zusammen: […] Ihr Lebensglück ist hin. Aber wenn Sie den Liebhaber totschießen, ist Ihr Lebensglück sozusagen doppelt hin, und zu dem Schmerz über empfangenes Leid kommt noch der Schmerz über gethanes Leid. Alles dreht sich um die Frage, müssen Sie’s durchaus thun? Fühlen Sie sich so verletzt, beleidigt, empört, daß einer weg muß, er oder Sie? Steht es so? (277)

Wüllersdorf zufolge führt das Duell nicht zum Ausgleich, sondern zur Verdopplung des Leids. Er koppelt die Frage des Müssens, also nach der Notwendigkeit des Duells, daran, ob Innstetten persönlich noch Unrecht empfindet. Wenn er den Ausgleich eines individuell empfundenen Vergehens als Ziel des Duells betrachtet, rekurriert er auf das Verlangen der Rache Suchenden, persönlich erlittenes Unrecht zu vergelten. Damit wäre die Forderung zum Duell 275. Kurz, die Mechanismen des Duells werden von Unsicherheiten nicht geschwächt, sondern forciert.

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also davon abhängig, ob der Betroffene noch ein akutes Begehren nach Rache verspürt oder nicht. Während in Michael Kohlhaas und Andrea Delfin die Rache in einem Recht(s)gefühl gründet, wird sie in Effi Briest als Frage des Zeitgefühls verhandelt. In einer früheren Fassung von Effi Briest stellte Wüllersdorf nicht nur fest, dass nun Innstettens Lebensglück hin sei, sondern schloss daraus: »So was kann nicht vernarben.«13 In dieser Formulierung klingt die mit der Rache assoziierte Unfähigkeit mit, über einen Verlust hinwegzukommen – diese kategorische Ablehnung einer möglichen Versöhnung enthält der Roman nicht mehr. In der Endfassung versucht Wüllersdorf das Müssen gegen Innstettens Wollen, also Pflicht gegen Bedürfnis abzuwägen. Innstetten weiß jedoch mit seiner Frage wenig anzufangen und antwortet: »Ich weiß es nicht.« Auf Wüllersdorfs Insistieren – »Sie müssen es wissen« – reagiert er mit »nervöser Erregung«: […] ich bin gekränkt, schändlich hintergangen, aber trotzdem, ich bin ohne jedes Gefühl von Haß oder gar von Durst nach Rache. Und wenn ich mich frage, warum nicht? so kann ich zunächst nichts andres finden, als die Jahre. Man spricht immer von unsühnbarer Schuld; vor Gott ist es gewiß falsch, aber vor den Menschen auch. Ich hätte nie geglaubt, daß die Zeit, rein als Zeit, so wirken könne. Und dann als zweites: ich liebe meine Frau, ja, seltsam zu sagen, ich liebe sie noch, und so furchtbar ich alles finde, was geschehen, ich bin so sehr im Bann ihrer Liebenswürdigkeit, eines ihr eigenen heiteren Charmes, daß ich mich, mir selbst zum Trotz, in meinem letzten Herzenswinkel zum Verzeihen geneigt fühle. (277, Hervorh. i. O.)

Im Fall Innstettens hat die Zeit ihre Arbeit geleistet und die Rachegelüste, die durch das Duell kanalisiert werden sollen, sind bereits entschärft. Sein Zeitempfinden steht dem der Rächer und Rächerinnen entgegen, für die der Verlust vom Lauf der Zeit unberührt bleibt und ewig gegenwärtig erscheint. In einer früheren Version des Romans ging es an derselben Stelle nicht schlicht um »Jahre«, die vergangen waren, sondern spezifisch um »Jahre, die Verjährung«14, also um eine juristisch gefasste Form des Vergehens von Zeit. In der Endfassung hat Innstettens Zeitverständnis dann eine persönlichere Färbung erhalten, wenn er anmerkt, es sei ganz allgemein die Zeit »rein als Zeit«, die ihn versöhnlich stimmt und der nun paradoxerweise die Duellvorschriften entgegenstehen, die eine Vergeltungstat vorschreiben. Auf der persönlichen Ebene stimmt Innstetten Wüllersdorf zu, denn er empfindet Effi gegenüber Liebe und keine Rachegefühle. Allerdings ist das Duell, wie in Cécile, keine private Angelegenheit. Gerade in den oberen Schichten 13 | Walter Schafarschik (Hg.), Erläuterungen und Dokumente: Theodor Fontane. Effi Briest, Stuttgart: Reclam 2002, 77, Hervorh. D. H. 14 | Schafarschik, Erläuterungen und Dokumente, 77.

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war die Ehe »eine gesellschaftliche Veranstaltung schlechthin« und als solche »Bestandteil einer ständischen Kultur mit entsprechend symbolischen Formen. Eine dieser Formen ist das Duell und der zu ihm gehörende Kodex der Ehre.«15 Auf Wüllersdorfs Frage: »[W]ozu die ganze Geschichte?«, entgegnet Innstetten dementsprechend: »Weil es trotzdem sein muß.« (278)

»I ch muss .« Innstetten greift Wüllersdorfs Muss es sein? auf, betrachtet die aufgeworfene Frage allerdings nicht als persönliche, sondern als gesellschaftliche Angelegenheit.16 Er begründet den von ihm empfundenen Imperativ, Crampas zum Duell zu fordern, obwohl er keine Rachegefühle hegt, damit, dass er zu einem Kollektiv gehöre: »Man ist nicht bloß ein einzelner Mensch, man gehört einem Ganzen an, und auf das Ganze haben wir beständig Rücksicht zu nehmen, wir sind durchaus abhängig von ihm. […] Aber im Zusammenleben mit den Menschen hat sich ein Etwas ausgebildet, das nun ›mal da ist und nach dessen Paragraphen wir uns gewöhnt haben, alles zu beurteilen, die andern und uns selbst. Und dagegen zu verstoßen, geht nicht; die Gesellschaft verachtet uns, und zuletzt thun wir es selbst und können es nicht aushalten und jagen uns die Kugel durch den Kopf. […] Also noch einmal, nichts von Haß oder dergleichen, und 15 | Müller-Seidel, Theodor Fontane, 354. 16 | Zur Interpretation des Duells vor dem Hintergrund der Philosophie Hegels und Kants siehe etwa Christine Renz, Geglückte Rede. Zur Erzählstruktur in Theodor Fontanes Effi Briest, Frau Jenny Treibel und Der Stechlin, München: Fink 1999, 19-46. Renz liest die Gespräche der beiden Männer als »eine am konkreten Einzelfall erprobte Analyse des ›allgemeinen Weltzustandes‹« im Sinne Hegels. Renz, Geglückte Rede, 24. Mülder-Bach bezieht das Gespräch von Wüllersdorf und Innstetten auf »die Sphäre von Rechtsgefühl und Sittlichkeit, von individueller Selbstständigkeit und politisch-sozialer Ordnung, an der sich in Hegels Ästhetik die Weltzustände der Poesie und Prosa scheiden.« Mülder-Bach, »›Verjährung ist […] etwas Prosaisches‹«, 634. Julia Annas hingegen sieht Effis Konflikt zum Teil darin, dass sie als Nicht-Kantianerin in einer vom »Kantian view of morality« dominierten Gesellschaft lebe. Julia Annas, »Personal Love and Kantian Ethics in Effi Briest«, in: Philosophy and Literature 8/1 (1984), 15-31, hier: 16. Marcia Baron argumentiert dagegen, dass es nicht kantische Moral oder Pflicht ist, die in Effi Briest problematisiert wird, sondern »rigid adherence to society’s rules«. Marcia Baron, »Was Effi Briest a victim of Kantian Morality?«, in: Philosophy and Literature 12/1 (April 1988), 95-113, hier: 108f. Ohne der Feststellung, dass es Anspielungen auf Kant im Roman gibt, widersprechen zu wollen, stellt sich für mich die Frage, ob Innstetten überhaupt als mündiges Subjekt im Sinne Kants gelten kann.

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um meines Glückes willen, das mir genommen wurde, mag ich nicht Blut an den Händen haben; aber jenes, wenn Sie wollen, uns tyrannisierende Gesellschafts-Etwas, das fragt nicht nach Charme und nicht nach Liebe und nicht nach Verjährung. Ich habe keine Wahl. Ich muß.« (278)

Im Zentrum von Innstettens Argument steht ein »tyrannisierende[s] Gesellschafts-Etwas«, das sich nicht den staatlichen Gesetzen unterwirft, sondern die legislative Macht der Gesellschaft verkörpert. In einer früheren Version des Romans, in der es dieses »Etwas« noch nicht gab, hieß es stattdessen noch, es »hat sich das ausgebildet, was wir die Ehre nennen, ein Gesellschaftsprodukt«.17 Indem im Roman nicht mehr von Ehre die Rede ist, sondern von einem Etwas, das Innstetten als tyrannisch und gesellschaftlich qualifiziert, wird der Effekt dieser Macht verallgemeinert – sie erstreckt sich nicht nur auf den Bereich des Militärs und seinen Ehrenkodex, sondern auf die Gesellschaft insgesamt. Innstetten definiert in dieser Passage dieses Etwas nicht als spezifische Personengruppe, sondern beschreibt in entpersonalisierter Form, was Norbert Elias als »Gesellschaft der Satisfaktionsfähigen« bezeichnet, der das Duell als »Zuchtmittel« und als »Zugehörigkeitssymbol« diene.18 Er versteht es auch nicht explizit als Gegensatz zu sich selbst, sondern beginnt sein Argument mit Generalisierungen, spricht in Wir-Form, dann von sich im Passiv und als indirektem Objekt, dem sein Glück genommen worden ist, und wechselt erst nach dieser Bewegung durch unpersönliche grammatikalische Formen, die ein Selbst lediglich implizieren, in die Ich-Form.19 Dieses Ich hat »keine Wahl«, es ist ein Ich, das muss, und zwar nicht aus sich selbst heraus, sondern es gehorcht einem Müssen, das von einem kollektiven Etwas vorgegeben wird. Innstettens Ich spricht nicht einmal über seine eigenen Erfahrungen in der ersten Person Singular; sein Ich erscheint erst als ein den Forderungen des Kollektivs unterworfenes, müssendes Ich. Diese Unterordnung des Ich korrespondiert mit Jeffrey Schneiders Beschreibung, wie sich der Ehrenkodex auf das Verhältnis von Ich und Gemeinschaft auswirkt: Der Ehrenkodex verspricht »a degree of personal autonomy, self determination and integrity«: »Though honor is specified in a system of rules that are supposed to be internalized as part of one’s masculine subjectivity, the interpre-

17 | Schafarschik, Erläuterungen und Dokumente, 78, Hervorh. D. H. 18 | Elias, Studien über die Deutschen, 68f. 19 | Begegnen wir im »Duell als einem gesellschaftlichen Ritual« einer »Unausweichlichkeit […] wie in der klassischen Tragödie«? Müller-Seidel, Theodor Fontane, 365. Durch die Diskussion der Verjährungsfrage und die Tatsache, dass Innstetten den Druck, den er empfindet, auf ein Gesellschafts-Etwas zurückführt, stellt der Text die Ereignisse nicht als schicksalhaft-unausweichlich, sondern als historisch konstruiert dar.

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tation of these rules is arbitrated by the group not by individuals within it.«20 In diesem Sinne wird auch Wüllersdorfs individuelles Konzept des Müssens letztlich von Innstettens kollektivem Müssen absorbiert. Denn wie in Cécile kommt auch in Effi Briest letztlich der Gesellschaft die Macht zu, Ereignisse allgemeingültig zu interpretieren. Da der Ehrenkodex über Tatbestände entscheidet, welche das Recht nicht als Straftat ausweist,21 generiert er – wie die Inquisitoren in Andrea Delfin – seine eigenen Straftaten. Entgegen dem Regelwerk des Duells, das Ehebruch als Ehrverlust ansieht und damit zum Affront macht, der Vergeltung verlangt, besagt Paragraph 172 des Reichsgesetzbuches von 1871, dass Ehebruch nur auf einen entsprechenden Antrag hin strafrechtlich verfolgt und im Fall einer Scheidung mit bis zu sechs Monaten Gefängnis bestraft wird.22 Das Gerichtswesen belässt die Bewertung des Ehebruchs also bei der oder dem Betrogenen. Die Paragraphen des »tyrannisierende[n] Gesellschafts-Etwas« stehen also über dem Gesetz. Ein Verstoß gegen den Ehrenkodex verlangt, dass er vergolten wird; ansonsten wird er mit gesellschaftlichem Ausschluss bestraft,23 20 | Schneider, »Masculinity«, 267f. 21 | Vor Gericht wurde zwar der Ehebruch, aber nicht die Beleidigung, die das Duell auslöste, als Straftat betrachtet, wie Albert von Boguslawski 1896 in Die Ehre und das Duell schreibt: »Das deutsche Gesetz kennzeichnet den Ehebruch allerdings als eine Strafthat, als ein ›Vergehen‹, aber zählt ihn nicht zu den Beleidigungen, was gewiß im juristischen Sinne richtig ist.« Albert von Boguslawski, »Die Ehre und das Duell«, Berlin 1896, in: Schafarschik, Erläuterungen und Dokumente, 155-161, hier: 158. 22 | Downes merkt dazu an: »Zwischen Entstehung und Erscheinen des Romans liegt zudem der Abschluß der langjährigen Diskussion um das Bürgerliche Gesetzbuch. Diese großangelegte deutsche Rechtskodifizierung, 1896 vom Reichstag verabschiedet, tritt zu Beginn des neuen Jahrhunderts in Kraft«. Daragh Downes, »Effi Briest. Roman«, in: Fontane Handbuch, hg. von Christian Grawe und Helmuth Nürnberger, Tübingen: Kröner 2000, 633-650, hier: 635. Obwohl die gesetzliche Regelung des Ehebruchs laxer gewesen sei als die des Duells, stellt Downes für die generelle Rechtslage fest, dass gerade die »familien- und eherechtlichen Bestimmungen«, die 1896 festgesetzt wurden, »gegenüber dem älteren preußischen Recht, dem in der Mitte des 19. Jahrhundert revidierten Allgemeinen Landrecht für die preußischen Staaten von 1794, eher eine Festigung tradierter patriarchalischer Vorstellungen als einen Fortschritt in der modernen Auffassung der Ehe als Partnerschaft« bedeuteten. Downes, »Effi Briest«, 635. 23 | Boguslawski argumentiert, dass beim Ehrverlust einer Frau »der Gatte, Vater, Bruder mit einzustehen« habe, das heißt, der sogenannte Ehrverlust betraf die gesamte Familie. Boguslawski, »Die Ehre und das Duell«, 158, Hervorh. i.O. Effis Eltern verhalten sich also gesellschaftlichen Konventionen entsprechend, wenn sie Effi eiskalt zurückweisen: »Das elterliche Haus wird Dir verschlossen sein; […]. Nicht weil wir zu sehr an der Welt hingen und ein Abschiednehmen von dem, was sich ›Gesellschaft‹ nennt, uns als etwas

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was Innstetten zufolge einer Todesstrafe gleichkommt, die nicht vom Staat, sondern vom Selbst – durch Suizid – vollzogen wird.24 Innstetten spricht wiederum bezeichnenderweise nicht in Ich-Form, wenn er vom Suizid spricht, sondern davon, dass »wir« die Verachtung »nicht aushalten« können und »uns die Kugel durch den Kopf [jagen]«. Dieses Wir umfasst an dieser Stelle nicht nur die vom Militär geprägten Schichten der Gemeinschaft, zu der Wüllersdorf und Crampas gehören, sondern markiert zugleich, dass hier militärische Werte mit generellen Gesellschaftswerten und Forderungen identisch sind. An dieser Stelle wird offensichtlich, dass Innstettens Rechtsverständnis mehr von seiner militärischen Vergangenheit als von seinem Jurastudium oder seiner Stellung als Land- bzw. Ministerialrat geprägt ist. Innstetten spricht dabei nicht nur ohne das Pathos eines Leslie Gordon, sondern auch ohne die Ichbezogenheit eines St. Arnaud, der seinem Stolz emotionaler verbunden ist als seiner Frau. Obwohl er offen die Liebe zu seiner Frau erklärt, unterwirft er sich dennoch den Ansprüchen der bürgerlichen Gesellschaft, setzt damit Effi der gesellschaftlichen Ächtung aus und entzieht ihr die gemeinsame Tochter. Norbert Elias spricht in Bezug auf Duell und Ehrenkodex von einem Wechsel vom Fremd- zum Selbstzwang,25 den Schneider explizit mit der Bedeutung der Ehre im Militär verbindet: »Honor proved enormously efficient because it dispersed the responsibility of surveillance from hierarchical superiors to forms of control exercised by all those possessing honor: honor was internalized as self-esteem while externalized as surveillance by other officers«.26 Es bietet sich natürlich an, diesen Wechsel psychoanalytisch zu lesen, als Illustration davon, wie das Über-Ich (in Form des tyrannischen Gesellschafts-Etwas) mittels der unbedingt Unerträgliches erschiene; nein nicht deshalb, sondern einfach weil wir Farbe bekennen, vor aller Welt, ich kann Dir das Wort nicht ersparen, unsere Verurtheilung Deines Thuns […] aussprechen wollen« (301f.). 24 | Miller merkt zur sozialen Dimension von Innstettens Selbstmordgedanken an: »[…] if an officer were denied the opportunity of restoring his honor through a duel he would often regard suicide as preferable to the dishonor implicit in that situation«. Miller, »Fontane’s Effi Briest«, 399. 25 | Elias, Studien über die Deutschen, 128f. Im Hinblick auf die gesellschaftliche und militärische Sozialisation argumentiert Elias, dass »die individuelle Charakterstruktur, auf deren Herausbildung die Erziehung mit Hilfe des studentischen und militärischen Ehrenkanons abgestellt war, eine relativ hohe Abhängigkeit des individuellen Gewissens von der Meinung anderer Menschen« einschloss: »Der Begriff Ehre selbst weist auf diese Struktur hin. Denn sosehr das Bewußtsein der eigenen Ehre die Selbststeuerung lenkt, die Furcht vor dem Verlust der Ehre in den Augen der Wir-Gruppe hat immer eine zentrale Funktion als Verstärkerin des Selbstzwanges, der nötig ist, um sich so zu verhalten, wie es der Ehrenkanon verlangt.« Elias, Studien über die Deutschen, 129. 26 | Schneider, »Masculinity«, 267.

V.2 Pflicht zur Rache: Das Duell

Rhetorik des Müssens auf das Ich (Innstettens) einwirkt. Allerdings klingen in diesem von Elias wie Schneider umrissenen Wechselspiel von der Fremdzur Selbstkontrolle vor allem auch die von Foucault beschriebenen Mechanismen der Disziplinierung an, und zwar als Form der Selbstüberwachung. Das Gespräch zwischen Wüllersdorf und Innstetten beinhaltet ein gegenseitiges Überprüfen, ob bzw. inwiefern das eigene Denken und Empfinden mit dem gesellschaftlich vorgegebenen und militärisch geprägten Regelwerk des Duells deckungsgleich ist. In dem Gespräch über persönliche und gesellschaftliche Notwendigkeiten, das hier zwei militärisch geschulte Juristen führen, wird deutlich, wie nicht nur die Emotionen, sondern auch der individuelle Gerechtigkeitssinn, welcher Rache Übende auszeichnet, in der Diskussion rationalisiert und diszipliniert wird. In diesem Sinne lese ich die Repräsentation des Duells in Effi Briest auch als Darstellung des Effekts, den es auf die Erzählstruktur hat. In Effi Briest verliert zwar der Inhalt des Duells – der die Rache substituierende Ehrenkodex – an Bedeutung, aber die Macht der Mechanik des Rituals wirkt uneingeschränkt fort. Die Macht des Gesellschaft-Etwas, in dessen Grammatik Innstetten gefangen ist, zeigt sich darin, dass in der Art und Weise wie Wüllersdorf und Innstetten müssen verwenden, ganz unterschiedliche Implikationen mitschwingen. Wüllersdorfs Muss es sein? fragt letztlich nach dem persönlichen Willen, also nach dem, was Innstetten eigentlich will; Innstettens Müssen hingegen ist Ausdruck des gesellschaftlich-militärischen Imperativs. Eben in dieser Bewegung vom persönlichen zum allgemein oktroyierten Müssen wird das Wollen aufgehoben und damit verbleibt der individuelle Racheimpuls als das, was er für Innstetten von jeher war: eine Leerstelle. An die Stelle des individuellen Racheimpulses tritt der gesellschaftliche Duellzwang. Die Rache wird also gewissermaßen durch den Lauf der Zeit entschärft und dann paradoxerweise durch das Duell, wenngleich in ritualisierter Form, wieder aktiviert. Verkörpert Innstetten also allein die Mechanismen der Disziplinargesellschaft? Dagegen spricht, dass im Verlauf von Innstettens Reflexionen zunehmend deutlich wird, dass sich die Ritualisierung nicht einfach mechanisch vollzieht: Sie wird im grammatikalischen Auf bau seines Reflexionsprozesses als Konflikt lesbar. Am Ende macht Wüllersdorfs Mitwisserschaft, welche eine ähnliche Funktion erfüllt wie die Öffentlichkeit in Cécile, das Duell unumgänglich. In Effi Briest steht ein Mitwisser für das Kollektiv, denn, wie Innstetten retrospektiv feststellt, für ihn gab es ab dem Moment, wo er Wüllersdorf als Sekundanten zu sich rief, kein Zurück mehr. Mit diesem Argument konfrontiert, nimmt auch Wüllersdorf seine Einwände zurück und gesteht ein:

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»Ich finde es furchtbar, daß Sie recht haben, aber Sie haben recht. Ich quäle Sie nicht länger mit meinem ›muss es sein‹. Die Welt ist einmal, wie sie ist, und die Dinge verlaufen nicht, wie wir wollen, sondern wie die anderen wollen.« (280, Hervorh. i. O.)

Wüllersdorf bezeichnet das Verständnis des Duells daraufhin zwar als »Gottesgericht«, als »Unsinn« und den »Ehrenkultus«, auf den es sich beruft, als »Götzendienst«, um jedoch sogleich einzuwenden: »[…] aber wir müssen uns ihm unterwerfen, solange der Götze gilt« (280). Im Endeffekt hat Innstetten sich selbst den Prozess gemacht, und damit reflektiert sein Verhalten Foucaults Beschreibung der Unterwerfungsmechanismen in der disziplinierten Gesellschaft: »Derjenige, welcher der Sichtbarkeit unterworfen ist und dies weiß, übernimmt die Zwangsmittel der Macht und spielt sie gegen sich selbst aus; er internalisiert das Machtverhältnis, in welchem er gleichzeitig beide Rollen spielt; er wird zum Prinzip seiner eigenen Unterwerfung.«27 Das Formelhaft-Werden des Sprechens, das seinen schriftlichen Ausdruck in Richtlinien und Protokollen findet, schlägt sich nicht nur im Duelldiskurs der Freunde nieder, sondern auch in der radikal verknappten Darstellung des eigentlichen Duells.28 Die Ritualisierung infiltriert also nicht nur die Charaktere, sondern auch das Erzählen selbst.

»[…] alles erledigte sich r asch « Man begrüßte sich, worauf beide Sekundanten beiseite traten, um noch ein kurzes sachliches Gespräch zu führen. Es lief darauf hinaus, daß man a tempo avancieren und auf zehn Schritt Distance feuern solle. Dann kehrte Buddenbrook [Crampas’ Sekundant] an seinen Platz zurück; alles erledigte sich rasch; und die Schüsse fielen. Crampas stürzte. (285)

Crampas fällt in einem Satz, der auf sein grammatikalisches Minimum beschränkt ist: Subjekt und Verb. Wie in Cécile wird das das Duell umgebende 27 | Foucault, Überwachen und Strafen, 260. 28 | Wüllersdorf, der nach wie vor versucht, die Regeln etwas freier zu interpretieren, versucht der Situation die Schwere zu nehmen, indem er anmerkt: »Sie vergessen, es kann auch alles glatt ablaufen.« Innstetten entgegnet schlicht: »Darf nicht.« (284) Innstettens Verwendung von dürfen anstelle von müssen bedeutet nur ein scheinbares Abweichen von seiner Rhetorik: »Darf nicht« kommt der imperativischen Bedeutung hier näher als muss nicht. An dieser Stelle käme nicht müssen im Gegensatz zu nicht dürfen geradezu einer freien Entscheidung gleich. Erneut fehlt es Innstettens Formulierung an einem personifizierten Subjekt. Im Gegensatz zum »[i]ch muss« (278) bleibt im »Darf nicht« nichts mehr von einer handelnden Instanz übrig.

V.2 Pflicht zur Rache: Das Duell

Procedere in einem protokollhaften Tonfall beschrieben, worin die entpersonalisierten Platzhalter »man« und »es« für die Figuren einstehen. Vom eigentlichen Duell erfahren wir nichts. Anstatt von den Ereignissen lesen wir von den Anweisungen und vom Resultat. Die Szene wirkt betont oder vielmehr überbetont sachlich und der Beschreibung fehlt es nicht nur an jeder Dramatik, sondern auch an den für realistische Texte charakteristischen Details. Als wäre es selbst vom Duellkodex ergriffen, verfällt das Erzählen in Effi Briest ins Protokollieren. Der Roman verschiebt hier nicht schlicht – wie es für den Realismus charakteristisch ist – den Fokus vom Außergewöhnlichen auf das Alltägliche, sondern rafft das Außergewöhnliche mittels eines Protokollstils, welcher das Ereignis auf Abläufe und Formalien reduziert, bis am Ende das eigentliche Duell als Leerstelle verbleit. In dieser reduzierten Beschreibung klingt erneut die Dringlichkeit des Duells an, die Hergsell in seinem Duell-Codex als »genauste Pünktlichkeit« bezeichnet und die auf der Regel gründet, dass von dem Moment des Ankommens am Duellplatz bis zum Duell nicht mehr als zehn Minuten vergehen dürfen.29 Die Kontrolle über die Zeit korrespondiert nach Foucault mit der über Details und etabliert »so etwas wie ein anatomisch-chronologisches Verhaltensschema«.30 Neben der Zeit wird auch der Akt »in seine Elemente zerlegt; die Haltung des Körpers, der Glieder, der Gelenke wird festgelegt; jeder Bewegung wird eine Richtung, ein Anschlag, eine Dauer zugeordnet; ihre Reihenfolge wird vorgeschrieben«.31 Diese Disziplinierungsstrategien sind rudimentär in den Vorgaben des Duells angelegt, die genauen Vorschriften über Distanz, Waffenwahl und Schusssignal enthalten dabei die unkontrollierte Gewalt der Rache und mechanisieren sie in der ritualisierten Abfolge des Duellgeschehens. Die Effekte der Ritualisierung der Rache im Duell und die darin enthaltene Disziplinierung von Zeit und Handeln prägen sich als Protokollstil, Entpersonalisierung und Tempus in der narrativen Struktur ein. Diese Mechanisierung zieht sich in der Struktur des Textes von Innstettens Rhetorik bis in die Darstellung des Ereignisses. Dabei entsteht ein von inhaltlichen wie darstellerischen Leerstellen durchsetzter Text, der auf eine dem Duell vorausgehende Leerstelle verweist, nämlich auf das Fehlen des individuellen Verlangens nach Rache. In diesem Sinne schreibt auch Aust: »Wenn keine Liebe die Ehe begründet und keine Leidenschaft den Ehebruch erklärt, wenn kein Haß die Tötung motiviert und Rechtsunsicherheit (Verjährungsproblem, Normendiskussion) den Vorfall als Strafakt in Frage stellt, dann droht eine wildwüchsi-

29 | Hergsell, Duell-Codex, 49. 30 | Foucault, Überwachen und Strafen, 195. 31 | Foucault, Überwachen und Strafen, 195.

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ge Leere den ordentlichen Erzählgang zu überwuchern«.32 Am Ende schreibt paradoxerweise das Duell, das die Rache bannen soll, diese vor.

»W ollen S ie …« Am Ende der Duellszene steht ein letztes Es muss sein: Innstetten muss Crampas’ Verlangen Folge leisten, einige letzte Worte an ihn zu richten, denn, wie Wüllersdorf betont, »›Crampas will Sie noch sprechen, Innstetten. Sie müssen ihm zu Willen sein. Er hat keine drei Minuten Leben mehr.‹« (286) Innstetten unterwirft sich diesem dringlichen Imperativ und tritt an Crampas heran: »Wollen Sie …« das waren seine letzten Worte./Noch ein schmerzlicher und doch beinah freundlicher Schimmer in seinem Antlitz, und dann war es vorbei. (286)

Am Ende des Duells steht Crampas’ Gegenfrage zu Innstettens Müssen, die Frage nach dessen Wollen. Allerdings folgt diesem Wollen eine Ellipse und damit verbleibt es als Geste, die auf eine weitere Leerstelle verweist: Innstettens Willen. In seinen auf das Duell folgenden Reflexionen »vergegenwärtig[t]« sich Innstetten diesen Augenblick und deutet Crampas’ Blick: »›Innstetten, Prinzipienreiterei … Sie konnten es mir ersparen und sich selbst auch.‹ Und er hatte vielleicht recht.« (287)33 An dieser Stelle hält Innstetten dem »tyrannisierende[n] Gesellschafts-Etwas« seine persönliche Haltung entgegen, wenngleich erst im Nachhinein. Von der Dringlichkeit des Duells, die sich in dessen protokollhafter Beschreibung ausdrückt, sind wir wieder in Innstettens Zeitlichkeit – der Nachträglichkeit – angekommen. Allein hier, im irreversiblen Nachhinein, tritt plötzlich wieder sein Willen hervor, wenngleich nur im Zugeständnis, dass ein anderer ›Recht hatte‹. 32 | Aust, »Effi Briest«, 69. 33 | Müller-Seidel liest das Verhältnis von Crampas und Innstetten als eines zwischen unterschiedlichen Prinzipien: »Gegenüber der Prinzipienreiterei, wie sie für Innstetten charakteristisch ist, kann dem Major von Crampas eine bismarckähnliche Prinzipienverachtung nicht abgesprochen werden«; beide gehören jedoch »in ihrer Gegensätzlichkeit zusammen«. Müller-Seidel, Theodor Fontane, 360. Dem ist entgegenzusetzen, dass Innstetten seine Wertevorstellungen im Verlauf kritisch reflektiert und teilweise sogar ändert. Innstettens und Crampas’ gemeinsame Militärzeit hervorhebend, warnt Leslie L. Miller davor, Innstettens Verhalten an heutigen Verhaltensmustern zu messen: Die Duellforderung sei »only partially the expression of his personal temperament and individual character. In large measure it reflects a loyalty to his Stand, to an acquired value system and the mentality which was characteristic of the collective of which he was a member, the officer corps and its code of honor.« Miller, »Fontane’s Effi Briest«, 390.

V.2 Pflicht zur Rache: Das Duell

In Innstettens Reflexionen über das Duell schweifen seine Gedanken jedoch nicht einfach zurück zu Vergangenem: […] dieselben Gedanken wie zwei Tage zuvor, nur daß sie jetzt den umgekehrten Gang gingen und mit der Überzeugtheit von Recht und seiner Pflicht anfingen, um mit dem Zweifel dran aufzuhören. »Schuld, wenn sie überhaupt, ’was ist, ist nicht an Ort und Stunde gebunden und kann nicht hinfällig werden von heute auf morgen. Schuld verlangt Sühne; das hat einen Sinn. Aber Verjährung ist etwas Halbes, etwas Schwächliches, zum mindesten, ’was Prosaisches.« Und er richtete sich an dieser Vorstellung auf und wiederholte sich’s, daß es gekommen sei, wie’s habe kommen müssen. Aber im selben Augenblicke, wo dies für ihn feststand, warf er’s wieder um. »Es muß eine Verjährung geben, Verjährung ist das einzig Vernünftige; ob es nebenher auch noch prosaisch ist, ist gleichgültig; das Vernünftige ist meist prosaisch. […]« (286, Hervorh. i. O.)

Erst im reflektierenden Rückblick kommt Innstetten im Präsens an, wenn er die Verjährung zur einzig vernünftigen Lösung in der Gegenwart erklärt. Seine Gedanken vollziehen »den umgekehrten Gang« vom allgemeinen, gesellschaftlichen Imperativ des sich Duellieren-Müssens, der mit einschließt, dass Verjährung als etwas »Schwächliches« betrachtet wird, hin zu der Überzeugung: »Es muß eine Verjährung geben«. Mit diesem Richtungswechsel seines Denkens gelangt er von einem negativen zu einem positiven Verständnis des Prosaischen: Das vernünftige Prosaische wird einem schicksalhaft anmutenden – es kam, »wie’s habe kommen müssen« – entgegengesetzt. Inka MülderBach stellt das »Groteske« von Innstettens Gebrauch des Prosaischen heraus: »Denn die Stimme, die nachträglich im Namen der Vernunft prosaische Verjährung verlangt, ist identisch mit derjenigen, die Verjährung als prosaisch verwarf und danach handelte. In beiden Fällen ist das Urteil außengelenkt, und in beiden wird es von der Angst diktiert, […] den ungeschriebenen Codices der Männlichkeit nicht zu genügen.«34 Dass Innstettens Reflexionen der persönliche Tonfall zu fehlen scheint, hängt mit seinem Satzbau zusammen, der Benvenistes grundsätzlichem Verständnis von Nominalsätzen entspricht: Sie sind in direkter Rede präsentiert und formulieren allgemeine Behauptungen.35 Innstetten verwendet in seinen Reflexionen fast ausschließlich das Verb sein. Dieses hat hier jedoch keine beschreibende Funktion, sondern dient dazu, »eine zeitlose und dauernde Beziehung« zu etablieren, »die wie ein Argument einer Autorität handelt«.36 Seine Rede hat denselben Effekt, den Benveniste dem Nominalsatz zuschreibt: »Die so formulierte Aussage ist wegen des dauerhaften Charakters ihres Inhalts fä34 | Mülder-Bach, »Verjährung«, 636. 35 | Benveniste, Probleme der allgemeinen Sprachwissenschaft, 183. 36 | Benveniste, Probleme der allgemeinen Sprachwissenschaft, 183.

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hig, als Referenz, als Rechtfertigung zu dienen, wenn man eine Überzeugung schaffen will«.37 Selbst in der nachträglichen Reflexion tendiert Innstetten zum Formelhaften und ist nicht in der Lage, seinen eigenen Willen sowie seinen emotionalen Zustand in Worte zu fassen. Und doch ändert sich in dieser Passage etwas Wesentliches, nämlich Innstettens Zeitverständnis, und das erlaubt ihm, wie wir sehen werden, eine ganz neue Sicht auf damals und heute. In der Reflexion zieht er den Zeitgedanken der Verjährung, den das moderne Gerichtswesen vertritt, dem der potentiell ewig bestehenden Schuld vor, der Rache und Duell eigen ist. Innstetten verlangt nach einem Gesetz der Verjährung und damit nach einer zeitlichen Grenze: »[…]. Aber wo fängt es an? Wo liegt die Grenze? […] Wo ist sie? War sie da? War sie schon überschritten? […] Ja, wenn ich voll tödlichem Haß gewesen wäre, wenn mir hier ein tiefes Rachegefühl gesessen hätte … Rache ist nichts Schönes, aber ’was Menschliches und hat ein natürliches menschliches Recht. So aber war alles einer Vorstellung, einem Begriff zu Liebe, war eine gemachte Geschichte, halbe Komödie. Und diese Komödie muß ich nun fortsetzen und muß Effi wegschicken und sie ruinieren, und mich mit … Ich mußte die Briefe verbrennen, und die Welt durfte nie davon erfahren. Und wenn sie dann kam, ahnungslos, so mußt’ ich ihr sagen: ›Da ist Dein Platz‹, und mußte mich innerlich von ihr scheiden. Nicht vor der Welt. Es giebt so viele Leben, die keine sind, und so viele Ehen, die keine sind … dann war das Glück hin, aber ich hätte das Auge mit seinem Frageblicke und mit seiner stummen leisen Anklage nicht vor mir.« (287)

Ohne Racheimpuls, den Innstetten als »menschliches Recht« bezeichnet, verkomme das Duell zum Mechanismus und dann bleibt am Ende eine »gemachte Geschichte«, deren Ablauf von anderen vorgegeben wird. Das Muss des Duells lenkt dann auch die Zukunft in erzwungene Bahnen, in denen Innstetten das Ritual »fortsetzen« und damit Effi und sich selbst »ruinieren muß«. In dieser grammatikalischen Struktur, in der müssen in die Vergangenheitsform gesetzt wird, liegt die Dramatik Innstettens. Er ist eine gänzlich in der Vergangenheit verhaftete Figur – er heiratet Effi, weil er einst ihre Mutter nicht heiraten konnte, und ruiniert nun Effis Zukunft, weil er wegen vergilbter Briefe ein überholtes Ritual durchführt. Inmitten seiner Kontemplation leitet eine Ellipse jedoch plötzlich den Wechsel von der Zukunftsform, dem Futur des Müssens, zu dessen Vergangenheitsform ein: »sie ruinieren, und mich mit … ich mußte die Briefe verbrennen« (287). Mit diesem Tempuswechsel kommt eine alternative Möglichkeit ins Spiel. Wenn er den Modus dieses Imperativs – des Müssens – ins Präteritum setzt, wird es zum Vehikel eines Neudenkens des Vergangenen. Das »mußte« generiert plötzlich eine neue Abfolge der Er37 | Benveniste, Probleme der allgemeinen Sprachwissenschaft, 185.

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eignisse, in der Innstetten die Briefe verbrennt, Effi nicht verstößt und sich zwar »innerlich« von ihr distanziert, aber nicht »vor der Welt«. An dieser Stelle macht Innstetten den Betrug bzw. die Verletzung seiner Ehre von einer öffentlichen zu einer persönlichen Angelegenheit.38

H ilfskonstruk tionen Es ist nicht ohne Ironie, dass Innstettens Sprache vom Müssen dominiert wird, das für einen Handlungsimperativ einsteht, obwohl es als Modalverb gar keinen Imperativ bilden kann. Die Grenzen seiner Sprache, also die des Müssens, sind die Grenzen seiner Welt, und doch erweisen sich diese Grenzen – durch die konjunktivische Verwendung des Müssens – am Ende als weiter als zunächst gedacht. Dennoch kommt sein Umdenken zu spät. Diese Nachträglichkeit ist in der grammatikalischen Komposition von müssen immer schon impliziert, da es wie alle Modalverben ein Präteritopräsentium darstellt, welches »das Präsens so bilde[t] wie andere Verben das Präteritum«.39 Dass müssen selbst in der Gegenwart »Formen des alten Präteritums«40 enthält, korrespondiert mit Innstettens Zeitgefühl, worin die Gegenwart immerzu mit Vergangenem und Verlorenem besetzt ist. Was ihm bleibt, ist eine entleerte Welt, und zwar nicht eine von einem Verlust entleerte Welt, welche die Rache in den bereits besprochenen Novellen motiviert, sondern ein im Zuge der Ritualisierung der Rache im Duell vereinsamtes Leben. Für Effi führt die ritualisierte Rache erst in die gesellschaftliche Ausgrenzung und dann in den Tod. Sie hat nicht einmal die Möglichkeit, ihre Seite zu präsentieren, da Innstetten seine Gedanken zu den Ereignissen allein mit Wüllersdorf teilt und Effi durch einen Brief informiert, dass ihr bisheriges Leben beendet ist. Wenn uns Innstetten Jahre später in seinem Büro beschrieben wird, reagiert er auf eine weitere Beförderung mit Gedanken an die Leere, die das Duell in sein Leben zurückgelassen hat: »Er maß seither mit anderem Maß, sah alles anders an«; er sieht das »Glück« nun vor allem im »behaglichen Abwickeln des 38 | In Innstettens Reflexionen liegt Schneider zufolge eine Kritik: »Innstetten’s inability to think outside the social logic offers a far-reaching critique of dueling and honor culture because it casts doubts on the very terms – masculinity, autonomy, rationality – that underwrite the use of honor and of duelling to resolve conflicts between male members of society.« Schneider, »Masculinity«, 278. In Effi Briest prägt diese »social logic« Innstettens Sprachgebrauch, insbesondere den Gebrauch des Modalverbs müssen. 39 | Peter Eisenberg, Grundriß der deutschen Grammatik, Bd. 2: Der Satz, Stuttgart: Metzler 1999, 97. 40 | Eisenberg, Grundriß der deutschen Grammatik, 97.

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ganz Alltäglichen« und erinnert sich plötzlich, »daß es ein Glück gebe, daß er es gehabt, aber daß er es nicht mehr habe und nicht mehr haben könne« (337f.). Innstetten trauert in seinen Gedanken an dieser Stelle nicht (wie im Fall von Effis Mutter) einem Leben nach, das er nie hatte, sondern sehnt sich nach einem Leben, das er glaubte, abbrechen zu müssen. Dementsprechend beschreibt er Wüllersdorf gegenüber sein erfolgreiches und dennoch leeres Leben in einer Welt der Institutionen, deren Werte ihm nichts mehr bedeuten: »[I]ch möchte aus dieser ganzen Geschichte heraus; nichts gefällt mir mehr; je mehr man mich auszeichnet, je mehr fühle ich, daß dies alles nichts ist« (340). Innstettens Welt hat sich in einen melancholischen Raum verwandelt. Verstehen wir Rache – wie bereits in Bezug auf Andrea Delfin – neben der von Freud aufgeführten Manie und Melancholie als eine weitere Aberration der Trauer, die auf einen Verlust reagiert, dann stellt Innstetten hier einen Sonderfall dar: Bei ihm führt gerade der Racheakt, dem es von jeher an emotionaler Motivation fehlte, zu dem Verlust, der ihn in die entleerte Welt des Melancholikers führt. In Effi Briest generiert die zum vorgegebenen Ritual erstarrte Rache eine entleerte Welt der Formen und Konventionen. Der Roman zeigt uns ein Bild der Rache, das nicht zur Genugtuung führt; anstatt einen Ausweg aus der Melancholie zu versprechen, wie in Andrea Delfin, führt sie in Effi Briest in die Melancholie. Was bleibt, ist: »Einfach hier bleiben und Resignation üben. Wer ist denn unbedrückt« (341), wie Wüllersdorf seinem Freund Innstetten rät. Letztlich gehe es einfach nicht ohne »Hülfskonstruktionen«, denn man müsse aus dem »kleinen und kleinsten so viel herausschlagen wie möglich, und ein Auge dafür haben, wenn die Veilchen blühen« (341f.).41 Dass dieser »Ethos zweier hoher preußischer Staatsbeamter« nicht dazu geführt hat, dass Effi Briest als »defaitistisches Werk öffentlich angegriffen oder gar von der Zensur belangt wurde«42, kann nur verwundern, vor allem wenn man bedenkt, was für einen Skandal Schnitzlers Leutnant Gustl auslösen sollte. In Bezug auf die Handlung stehen diese Hilfskonstruktionen am Ende einer langen Kette von Ereignissen, die sich um Leerstellen konfigurieren – eine Affäre, der es an Leidenschaft fehlt, führt zu einem Duell, dem es an Rachebegehren fehlt, und endet in einem Alltag, in dem Hilfskonstruktionen dazu dienen sollen, die Melancholie in Schach zu halten. Effi Briest ist nicht nur »a novel about what is not said«43, sondern auch darüber, was nicht existiert. Der Roman erweist sich nicht als Rachegeschichte im eigentlichen Sinne, sondern als Geschichte über die Rache als Leerstelle. 41 | Grawe liest in dieser Aussage die »subversivste Botschaft Fontanes über das preußisch-deutsche Staatswesen im Wilhelminismus«. Grawe, »Effi Briest«, 239. 42 | Grawe, »Effi Briest«, 240. 43 | Berman, »Effi Briest and the End of Realism«, 342.

V.2 Pflicht zur Rache: Das Duell

Liest man Rache, wie ich hier vorschlagen möchte, als eine Art Exzess des Subjektiven, als Begehren, die Welt nach dem eigenen Rechtsgefühl zu gestalten, dann markiert ihr Fehlen auch eine Krise des Individuums. In diesem Sinne erscheint Rache in Fontanes Texten zugleich als Warnung vor dem Exzess des Subjektiven und als Trauerfigur über dessen Schwinden in einer von gesellschaftlichen Forderungen disziplinierten Welt, die droht, in eine melancholisch entleerte zu kippen. Effi Briest und Cécile zeigen, welche paradoxe Wendung die Rache nimmt, wenn sie im Duell ritualisiert wird: Das Duell grenzt sie nicht ein, sondern schreibt sie am Ende vor. Obwohl der »Ehrenkultus« als überholte Konstruktion im Leerlauf beschrieben wird, muss er in Fontanes Romanen dennoch vollzogen werden. In Effi Briest spricht eigentlich kaum jemand tatsächlich von Ehre – der Ehrenkodex wirkt als sinnentleerter Mechanismus fort, allerdings mit tyrannischer Macht. Ähnlich wie es in Die Judenbuche und Die schwarze Spinne letztlich irrelevant ist, ob die Wirkung des Übersinnlichen in seiner potentiellen oder tatsächlichen Existenz gründet, so geht es im Duell auch nicht eigentlich um den Ehrenkodex, sondern um den Kult, der sich aus ihm entsponnen hat, und die darin enthaltenen Kontrollmechanismen. Fontanes Romane zeigen die Gefahr, welche die Ritualisierung der Rache, die ich als Ausdruck der Disziplinierung der Gesellschaft und des Einzelnen lese, für zwischenmenschliche Beziehungen und für das Erzählen darstellt. In der Art und Weise, wie die Texte die Duelle zeitlich genau getaktet und protokolliert darstellen, imitieren sie das Regelwerk des Duells. Dabei zeigen sie zugleich die Kehrseite dieser Eingrenzungsstrategien: das Ende des Erzählens.

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Offene Rechnungen — Ausblick Wie im Realismus werden auch in der heutigen Popkultur alle möglichen Register gezogen, um Rache einzugrenzen und ihr Versprechen nach Gerechtigkeit zu diskreditieren. Gerade in Film und Fernsehen hat Rache als Topos Konjunktur. Der Konflikt zwischen einem Individuum, dem ein Unrecht widerfahren ist, und den Institutionen, die dessen Verlangen nach Gerechtigkeit enttäuschen, bildet eine treibende Kraft, die realistische Texte insbesondere mit den unzähligen Krimiserien bzw. ‑reihen von Tatort über CSI bis Criminal Minds verbindet. Um das Eingrenzen der Rache im Recht immer wieder durchzuspielen, entwerfen Krimiformate eigene Strategien, z.B. indem sie die Fälle von Ermittlern und Ermittlerinnen untersuchen lassen, die in der Regel die Sympathien des Publikums innehaben. Die im Realismus vom Wandel juristischer Formen ausgelöste Rebellion gegen die nüchterne Ordnung des Rechts birgt bis heute Konfliktpotential. Das Versprechen der Rache, Gerechtigkeit zu bringen, endet demnach keinesfalls mit dem Aufkommen des modernen Rechtswesens, wie René Girard meint,1 sondern lebt gerade dort auf, wo rechtliche und gesellschaftliche Konventionen ein Unrecht nicht verhindern oder bestrafen oder es gar vorantreiben. Quentin Tarantino stellt sozusagen den Kleist des 21. Jahrhunderts dar, aber selbst in einigen seiner Werke handeln die Rache Übenden teilweise im Auftrag der Regierung, ob als militärische Einheit in Inglourious Basterds (2009) oder als Kopfgeldjäger in Django Unchained (2012). Ins filmische Medium abgewandert, können Rache Suchende – man denke auch an Arya Stark, Cersei Lannister und Daenerys Targaryen in Game of Thrones (seit 2011) – wieder zu positiven oder zumindest ambivalenten Figuren aufsteigen. Im folgenden Ausblick werde ich die bisher angestellten Überlegungen zu den analysierten Texten in Dialog miteinander bringen und skizzieren, inwiefern meine Beobachtungen zur Rache auch über die literaturhistorische Epoche des Realismus hinausweisen. Im Realismus scheitern Rächer und Rächerinnen darin, ein erlittenes Unrecht auszugleichen. Alle besprochenen Texte präsentieren dabei unterschiedliche Strategien, um Rache erzählerisch 1 | Siehe Girard, Das Heilige und die Gewalt, 29.

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Rache im Realismus – Recht und Rechtsgefühl bei Droste-Hülshoff, Gotthelf, Fontane und Heyse

einzugrenzen. Cécile und Effi Briest beginnen mit ihrer kritischen Darstellung des Duells zugleich eine Reflexion über den Versuch der Gesellschaft, Rache im Duell zu ritualisieren und damit zu bändigen. Dabei tritt in aller Schärfe hervor, welch ausschlaggebende Rolle der Gesellschaft bei der Entstehung von Rache zukommt. Im Falle des Duells verlangt die Gesellschaft sogar den – illegalen – Racheakt, mit dem die Betroffenen ihre Zugehörigkeit zur Gesellschaft bestätigen bzw. verdienen sollen. Damit fordern Fontanes Romane dazu auf, auch in den übrigen Fällen noch einmal genauer hinzusehen, welche Rolle die Gesellschaft und das sie vertretende Rechtswesen spielen, wenn es darum geht, wie Rachedurst entsteht. Realistische Texte inszenieren das Weiterbestehen des längst überlebten Rechtsgedankens der Rache oftmals im Rahmen eines Einzelfalls mit pathologischen Zügen und stellen somit das subjektive Wesen der Rache in den Vordergrund. Die Texte präsentieren Rache nie als ernst zu nehmende Alternative zum Recht, sondern delegieren sie entweder in den Raum der Legenden und des Übersinnlichen, des Spuks und der Magie oder zeichnen sie als von Wahnsinn und Melancholie getriebenes Handeln. Rache übende Figuren haben ein sehr ausgeprägtes subjektives Rechtsgefühl, aber ihnen fehlt die Fähigkeit, andere von ihrer Mission zu überzeugen und mitzuziehen. Ihre Motivation und ihre Verlangen werden immer individuell und fallspezifisch dargestellt. Und doch existieren diese sich rächenden Verrückten nicht in einem Vakuum, sondern reagieren auf ihr Umfeld oder versuchen sich daran abzureagieren. Das Bestechende an der Repräsentation der Rache im Realismus ist, wie sie, indem sie das Scheitern der Rache fokussiert, Licht auf die Mechanismen wirft, gegen die sie auf begehrt. Ob in Form einer korrupten Regierung, eines ohnmächtigen Rechtswesens oder einer teuflischen Ordnung – realistische Texte skizzieren immer auch die systemische Gewalt, die Rache aktiviert oder zumindest verstärkt. Rache wird dadurch als Reaktion auf systemische Gewalt und als Ausdruck einer Isolation angesichts einer Welt ohne Empathie lesbar. Im Realismus richten sich die Rächer und Rächerinnen mit ihrem subjektiv begründeten Auf begehren gegen die Entstehung des modernen Rechtswesens und damit gegen eine Welt, in der das Rechtswesen nicht den Anspruch hat, (moralische) Gerechtigkeit zu bringen, sondern nur, den Gesetzen Geltung zu verschaffen. Indem die Texte die Schwächen des Rechtswesens aufzeigen, bestätigen sie Todd Kontjes’ Feststellung, »that German-speaking writers were, in fact, quite aware of the social consequences of modernization and that they discussed them, at least implicitly, within their work«.2 In ihrem Widerstand gegen den Wechsel der juristischen Formen meinen die Rache Übenden selbst nicht nur Recht sprechen, sondern es auch umsetzen zu müssen. Realis2 | Todd Kontje, »Introduction. Reawakening German Realism«, in: Todd Kontje (Hg.), A Companion to German Realism, 1848-1900, Rochester: Camden 2002, 1-28, hier: 9.

Offene Rechnungen – Ausblick

tische Texte entlarven also Schwachstellen des Rechtswesens – und dennoch präsentieren sie Rache keinesfalls als legitime oder erfolgversprechende Alternative. Darin liegt der konservative, epochenspezifische Charakterzug dessen, wie Rache im Realismus zur Darstellung kommt. Die Texte zitieren nicht nur Regelwerke, historische Fälle und die juristischen Debatten ihrer Zeit, sondern stellen gerade im Scheitern der Rache das Ziel des Rechtswesens nach, Rache einzugrenzen. Dass die Rache bis heute als eine Bedrohung der Gesellschaft und ihrer Institutionen angesehen wird, zeigt sich im juristischen Alltag darin, dass durch Rache motivierte Taten besonders hart bestraft werden, weil sie nicht aus Affekt geschehen, sondern vorsätzlich geplant werden. Das Zeitgefühl der Rächer und Rächerinnen, d.h. die Tatsache, dass Zeit ihren Rachedurst unberührt lässt, spielt bei der Schärfe der Bestrafung eine wesentliche Rolle. In den zeitgenössischen Krimiserien erinnert die zunehmende Bedeutung des Profiling, durch das Kriminelle in einem Atemzug erklärt, pathologisiert und diskreditiert werden, an die Darstellung der Rache im Realismus. Am Ende stechen natürlich nicht nur im Realismus meistens die brachialen Racheakte heraus, mit denen die Rache Übenden auf Unrecht nicht bloß reagieren, sondern immer gleich überreagieren. Es fehlt ihnen einfach das rechte Maß. Doch mit welchem Maß lässt sich der Verlust eines Menschen messen? Ob im Fall des nicht aufgeklärten Todes Aarons in Die Judenbuche, der Ermordung von Andrea Delfins Familie oder von Valtins Tod, durch den Grete Minde jede Zukunftsvision verliert – mit jedem dieser Todesfälle geht für die Zurückbleibenden eine ganze Welt verloren. Teil der fixen Idee derjenigen, die Rache begehren, ist die Illusion, dass eben sie das rechte Maß kennen, mit dem sie Verlust kalkulieren und begleichen können. Am Ende haben sie jedoch weniger einen Sinn für Gerechtigkeit als ein Rechtsgefühl. Genau solchen zutiefst subjektiven Gefühlen will das moderne Rechtswesen ein ›Maß‹, d.h. ein allgemeines Regelwerk entgegensetzen. Doch den hier betrachteten Figuren reicht dieses Bemühen nicht, deshalb wenden sie sich der Rache zu, die Gerechtigkeit verspricht, als könnten ihre Verluste ausgeglichen und vergolten werden. Dass dieses Versprechen ein falsches ist, darin besteht im Realismus die Tragik der Rächer und Rächerinnen. Dementsprechend wird in keinem der diskutierten Texten das Versprechen der Rache eingelöst, Gerechtigkeit zu bringen – die Rache scheitert ausnahmslos. Auch wenn in realistischen Texten jedes Racheprojekt misslingt, gibt es auch hier Momente, in denen die ironischen Subjekte (Kierkegaard) zumindest das Potential zum Heldenhaften zeigen. In diesen Augenblicken geben die Eingrenzungsstrategien der Texte den Rache begehrenden Figuren nach. Dann entwerfen ausgerechnet diese Verrückten und aus der Welt Gefallenen plötzlich eine Alternative zum Ist-Zustand. Es sind kurze, fast utopisch anmutende Momente, in denen gewitzte Rächer und Rächerinnen plötzlich ein

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ganzes System ins Wanken bringen, wie Christine in Die schwarze Spinne, wenn sie sich das Recht nimmt, Welt und Wort selbst zu interpretieren. Grete Minde tritt – der Welt, in der sie lebt, zum Trotz – als Klägerin vor das Gericht und besteht auf ihrem (gleichen) Recht. Ähnlich, wenngleich weniger radikal sieht Geert von Innstetten in Effi Briest im Gedanken der Verjährung letztendlich einen Ausweg aus dem Duellzwang. Diese Visionen können sich jedoch angesichts der starren juristischen und gesellschaftlichen Konventionen nicht durchsetzen. Während Innstettens Sinneswandel schlicht zu spät kommt, verblasst das legitime Auf begehren der beiden Rebellinnen Christine und Grete mit Blick auf den Tod und die Zerstörung, die sie über die Gemeinschaft bringen. Nichtsdestotrotz begegnen wir im Realismus zwischen den Zeilen immer wieder schattenhaften Entwürfen einer neu geordneten, einer gerechteren Welt. Damit verabschiedet der Realismus auch die Idee, dass es eine metaphysische oder übergeordnete rechtliche Instanz gebe, die Gerechtigkeit für alle garantieren könnte. Der Verlust eines solchen absoluten Prinzips sucht auch gelegentlich noch unsere postmoderne Gegenwart heim. Im Realismus stehen hinter den unerhörten Racheakten ungehörte Leidensgeschichten. Die Betroffenen reagieren auf traumatische Verluste nicht mit Trauer oder Melancholie, sondern mit einem unstillbaren Durst nach Rache. Ein Trauma beeinflusst nicht nur unsere Fähigkeit, Ereignisse zu verstehen und zu erinnern, sondern erschüttert auch soziale Bindungen und damit den Bezug zur Welt. Es allein als individuelle Pathologie zu verstehen, greift zu kurz: »Traumatic events have primary effects not only on the psychological structure of the self but also on the systems of attachment and meaning that link individual and community.«3 Eben darin liegt eine Chance bzw. die Verantwortung einer Gemeinschaft, diejenigen aufzufangen, die ein Trauma erlitten haben. Dabei hat eine Gemeinschaft die Macht, Traumata schon dadurch zu lindern, dass sie Leid und Unrecht anerkennt. In diesem Sinne wäre dann das Rechtswesen nicht nur eine moderne und institutionalisierte Form der Rache (Girard, Foucault), sondern auch eine Instanz, die Leid im Namen der Gemeinschaft anerkennen und bekämpfen kann. In den hier diskutierten Werken begegnen wir jedoch stummen (Die Judenbuche, Die schwarze Spinne) und unterdrückten (Andrea Delfin) Gemeinschaften oder aber Gerichten, die ein erlittenes Unrecht nicht einmal registrieren (Grete Minde). Den Betroffenen fehlt so jeglicher Rückhalt. Genau an dieser Stelle kommt das Erzählen ins Spiel. Der Literatur des Realismus fehlt es zwar an poetischer Gerechtigkeit, aber es sind dennoch ›Zeugenschaftstexte‹, da in ihnen Verlust und Trauma bis ins grammatikalische Gewebe der Texte hinein registriert werden und damit eine Stimme erhalten. Ein Beispiel für diese 3 | Herman, Trauma and Recovery, 51.

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Zeugnisfunktion des Erzählens ist das traumatische Präsens. Es wirkt wie ein Stolpern in der Zeitlichkeit eines Textes, das den durch einen Verlust verursachten Riss in der Welt nicht nur markiert, sondern diesen auch bis in die Gegenwart hineinragen lässt. Das traumatische Präsens ist eine Strategie realistischer Texte, um Rache durch ein für sie charakteristisches Stilmittel – das Beschreiben – einzugrenzen. Als kurzer Wechsel von der Vergangenheit ins Präsens und zurück wirkt es wie eine Klammer, die ein traumatisches Ereignis oder einen Racheakt enthält. Dabei ist es kein auf den Realismus beschränktes Phänomen, sondern zugleich auch ein Beispiel dafür, wie sich traumatische Effekte generell im grammatikalischen Gewebe von Texten abzeichnen. Im Präsens beschrieben wird der Verlust als Gegenwart etabliert, und zwar unabhängig davon, ob wir ansonsten eine Geschichte lesen, die in der Vergangenheit erzählt wird. Indem der Text das Ereignis in einem kurzen Zeitsprung eingrenzt, bewahrt er dieses zugleich als ewig gegenwärtiges – bis heute. Ein weiterer Wesenszug, der Rache zum einen als Reaktion auf den Wandel zum modernen Recht kennzeichnet und zum anderen über die Epoche des Realismus hinausweist, ist ihre Zeitlichkeit. Mit der Frage der Zeit kehren wir zum Anfangszitat zurück: »Diess, ja diess allein ist Rache selbst: des Willens Widerwille gegen die Zeit und ihr ›Es war‹«, schreibt Nietzsche in Also sprach Zarathustra und identifiziert damit das Vergehen der Zeit als das eigentliche Problem der Rache Suchenden.4 Für Zarathustra besteht das Dilemma darin, dass wir das Vergangene nicht mehr ändern können und gezwungen sind, es hinzunehmen. Damit wären auch die erlittenen Verluste irreversibel. Grete Minde und Christine rebellieren gegen dieses Verdikt, da sie davon überzeugt sind, dass, wenn schon nicht die Ereignisse, so doch deren Interpretationen geändert werden können. In dem Moment, wo in Grete Minde jedoch nicht ihre Interpretation dessen, wie es war, sondern die ihres Bruders vom Gericht legitimiert wird, erstarrt das Vergangene zu einer fixierten Geschichte, und was bleibt, ist der immer gegenwärtige Verlust ihrer Zugehörigkeit zur Minde’schen Familie. Während in Grete Minde das Gericht das Zeugnis Gretes diskreditiert, noch bevor es angehört wird, setzt der Teufel in Die schwarze Spinne brachiale Gewalt ein, um Christine zu unterwerfen. In beiden Texten bedrohen die Stimmen der Frauen bzw. ihre Interpretation der Ereignisse die bestehenden Machtverhältnisse fundamental und werden so mit systemischer bzw. physischer Gewalt zum Schweigen gebracht. Zugleich bewahren und bezeugen die Texte (in Form ihrer Aussagen oder allein als Beschreibung) die Rebellion der Frauen gegen das Unrecht, das sie erfahren. Sigmund Freud und Josef Breuer teilen Gretes und Christines Überzeugung, dass wir zwar nicht vergangene Ereignisse, aber doch deren Interpre4 | Nietzsche, Also sprach Zarathustra, 180.

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tation ändern können, zu einem gewissen Grad. Ein Trauma könne nur dann verarbeitet werden, wenn der oder die Geschädigte »eine adäquate Reaktion« darauf hat, das heißt eine Reaktion »wie die Rache« oder indem er bzw. sie in der »Sprache […] ein Surrogat für die Tat« finde.5 Die Anklagen von Grete und Aarons Frau erinnern uns allerdings daran, dass Sprechen bzw. Zeugnis-Ablegen nur dann als Ersatz funktionieren kann, wenn dies auch von der Gemeinschaft gehört und anerkannt wird. Wo Freud und Breuer bei der individuellen Psyche verharren, stellen realistische Texte das Verhältnis von Individuum und Gemeinschaft in den Vordergrund. Damit etwas real wirkt, reicht es nicht, dass ich allein es glaube. Ich kann meine Geschichte so oft ich möchte umschreiben, doch ohne gesellschaftliche bzw. rechtliche Anerkennung meiner Version der Ereignisse bleibt sie ein Hirngespinst. Insofern Grete die juristische Anerkennung ihres Anspruchs anstrebt, verabschiedet sie sich von der Märchenwelt und entpuppt sich (für einen Moment) als pragmatische Realistin. Selbst Andrea Delfin, der unter allen Umständen versucht, seine Pläne geheim zu halten, kann den Wunsch nach Gehör nicht ganz aufgeben und teilt seine Pläne zumindest mit einem Leser (Querini). In Rache übenden Figuren begegnen wir isolierten Charakteren, denen Rache als einziger Weg erscheint, um wieder in Beziehung mit ihrer Umwelt zu treten. Doch dabei bleiben sie wie in einem Teufelskreis gefangen, insofern sie immerzu das Vergangene als Gegenwart erleben. Ihre Rache baut auf der Blaupause einer Welt auf, die um die Leerstelle eines unwiederbringlichen Verlusts konstruiert ist. In von der Gesellschaft ignorierten Traumata kann demnach die Gefahr lauern, dass Rache aufkommt. Das bedeutet natürlich nicht, dass alle Traumatisierten potentiell Rache Suchende sind, aber in Einzelfällen kann Verzweiflung angesichts von Ausweglosigkeit (Grete, Delfin) in Gewalt kippen und Betroffene können alten Rechtsprinzipien wie der Rache verfallen. Der Teufel in Die schwarze Spinne zeigt noch eine ganz andere Ursache auf, die brutale Rache entfachen kann: die Angst, eine Machtposition zu verlieren. In Die schwarze Spinne ist es bereits die Gegenstimme bzw. die eigene Stimme einer Frau, die mit brachialer, körperlicher Gewalt zum Verstummen gebracht wird, weil sie die Interpretationsmacht einer ganzen (patriarchalischen) Ordnung gefährdet. Die besprochenen Texte selbst dienen als Zeugnisse dafür, was die Rächer und Rächerinnen erfahren haben. Allerdings bezeugen sie wie gesagt zugleich das Scheitern der Rache und bestätigen – als weitgehend in der Vergangenheit verfasste Erzählungen –Zarathustras Grauen vor dem unveränderbaren Es war. Und doch kann Rache nie gänzlich gebannt werden, sondern lauert in Holzbalken, Inschriften und in der Literatur generell. Sie besteht als Potential wei5 | Breuer und Freud, »Über den psychischen Mechanismus hysterischer Phänomene«, 87.

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ter und droht auszubrechen, wenn das subjektive Rechtsgefühl betrogen wird und das Rechtswesen ein Unrecht nicht als solches (an)erkennt oder ungestraft lässt. Die besprochenen Texte sind dabei auch Abschiedstexte bzw. Texte über die Unmöglichkeit, Abschied zu nehmen. Im Kontexte des Realismus erweist sich Rache als eine Form des Abschiednehmens von der Wirklichkeit im Sinne Arndts – und zwar als Abschied von einer von allen geteilten Vorstellung von Gerechtigkeit. Sie erscheint damit als Ausdruck eines Als-ob, als Fiktion, dass der eigene Gerechtigkeitssinn generalisierbar sei. In diesem Zerfallen des Allgemeinen in unterschiedliche, oftmals widersprüchliche Perspektiven liegt das moderne Moment der Rache im Realismus. Dabei beinhaltet jener Abschied auch den von einer Welt, in der Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft aufeinanderfolgen, denn die Rächer und Rächerinnen sehen in Gegenwart und Zukunft nur weitere Schauplätze des Verlusts, den sie nachstellen wollen. In dieses Erzählen, das die Rache als vergangenes Phänomen präsentiert, ragt allerdings immer wieder das Versprechen der Rache hinein, dass sie sich in Zukunft erfüllen wird, wie die Schrift in Die Judenbuche und der Balken in Die schwarze Spinne prophezeien und worauf letztlich auch Delfins Suizid abzielt. Rache kennt nur die Gegenwart, selbst über den Tod der Betroffenen hinaus. Rachetexte drehen sich um die Unmöglichkeit, über Verluste hinwegzukommen. Indem sie diesen Wesenszug der Rache herausstellen, reichen die besprochenen Texte über ihren historischen Kontext hinaus. Da der Rachewunsch nicht vom Vergehen der Zeit beeinflusst wird und der Verlust, der ihn auslöst, immer gegenwärtig bleibt, entspricht die Zeitlichkeit der Rache der des Traumas. Auch jenseits der Epoche des Realismus läuft die Zeit für die Rächerin oder den Rächer anders als für den Rest der Welt, denn sie trägt den Riss in sich, den ein Verlust hinterlassen kann. Und eben den Verlust spielen die Rache Übenden immer wieder nach, als wollten sie die Welt in ihre eigene Erfahrung hineinzwingen. Indem sie den Verlust nachzustellen suchen, aktualisieren sie zugleich das Trauma, das ihnen widerfahren ist. Das Nachstellen selbst ist eine verzerrte Form des Zeugnisses. Im Nachstellen bauen sie eine ganze Welt um den Verlust und bewahren ihn damit als Kern ihrer Gegenwart. Ist Rache also eine Pathologie des Zeitgefühls? Sie hat zumindest eine eigenwillige Zeitlichkeit. Aber auch hier stellt sich die Frage, ist es eine pathologische und wenn ja, die Einzelner? Oder hat die Gesellschaft etwas mit ihr zu tun? In seinem Essay »Ressentiments« (1966) beschäftigt sich Jean Améry mit eben dieser Fragestellung – allerdings aus der Perspektive eines HolocaustÜberlebenden, der über die Nachkriegszeit reflektiert. In seinen Texten bin ich zum ersten Mal auf das Thema Rache und das in ihr verankerte Versprechen der Gerechtigkeit aufmerksam geworden. Améry steht jedoch nicht am Ende dieses Buches, weil er dessen Thematik vorgegeben hat, sondern weil seine

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Gedanken zu Rache und Ressentiments noch einmal eine andere Perspektive auf die Bedeutung der Zeitlichkeit eröffnen. Wenn Améry in »Ressentiments« darüber reflektiert, wie sich der Holocaust auf Denken, Darstellbarkeit und menschliches Miteinander auswirkt, kommt er immer wieder auf das Thema Rache zu sprechen, nur um diese als Option gleich wieder zu verwerfen. Denn angesichts der Grauen des nationalsozialistischen Massenmords wirkt jede Idee einer ›ausgleichenden‹ Gerechtigkeit absurd. In einer Zeit, in der diskutiert wurde, ob die Morde der Nationalsozialisten verjähren sollen,6 steht Rache in Amérys Texten für einen Wunsch nach Gerechtigkeit ein. Wo in realistischen Texten das Scheitern der Rache wieder und wieder inszeniert wird, bedeutet Amérys wiederholtes Abschiednehmen von der Rache letztlich einen Abschied von der Gerechtigkeit (nach Auschwitz). Auch wenn Améry die Möglichkeit der Gerechtigkeit verwirft, verteidigt er vehement seine Ressentiments, die wie die Rache an der Vergangenheit festhalten, und zwar »gegen Nietzsche, der das Ressentiment moralisch verdammte, und gegen moderne Psychologie, die es nur als einen störenden Konflikt denken kann«.7 Wenn wir jedoch für einen Moment bei der Zeit bleiben, bei dem Zarathustra plagenden endgültigen Es war, zeigt sich eine Verbindung zwischen Nietzsche, realistischen Texten und Améry. Rache und die ihr nahe verwandten Ressentiments8 eröffnen eine Ausweg aus diesem Es war, dem die Betroffenen ansonsten ohnmächtig gegenüberstehen. Im Realismus finden die Rächer und Rächerinnen zwar letztlich keinen Ausweg aus dieser Ohnmacht – ihre Sicht bleibt isoliert und die Machtverhältnisse bleiben bestehen –, aber Grete und Christine unternehmen zumindest den Versuch, das Es war neu zu interpretieren. Auch Améry geht den Weg der Neuinterpretation und widersetzt sich dem Gedanken, dass Ressentiments und damit im Kern auch die Rache von einem pathologischen Zeitgefühl geprägt sind:

6 | Die Frage der Verjährung von Mord wurde in der Bundesrepublik Deutschland angesichts der nationalsozialistischen Verbrechen in den 1960er Jahren intensiv diskutiert, eine endgültige Antwort jedoch wiederholt aufgeschoben. Erst 1979 wurde die Verjährung endgültig aufgehoben, ein Jahr nachdem Améry starb. 7 | Jean Améry, »Ressentiments«, in: Jean Améry, Werke, Bd. 2: Jenseits von Schuld und Sühne. Unmeisterliche Wanderjahre. Örtlichkeiten, hg. von Irene HeidelbergerLeonard, Stuttgart: Klett-Cotta 2002, 118-148, hier: 133 Améry, »Ressentiments«, 127. 8 | Verbunden durch ein Festhalten am Vergangenen unterscheiden sich Rache und Ressentiment vor allem darin, dass Rache zu Gewaltakten führt und Ressentiments in erster Linie eine Haltung darstellen. Ressentiments stellen gewissermaßen ein mentales Surrogat der Rache dar.

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Der faul und wohlfeil Vergebende unterwirft sich dem sozialen und biologischen Zeitgefühl, das man auch das »natürliche« nennt. Natürliches Zeitbewußtsein wurzelt tatsächlich im physiologischen Prozeß der Wundheilung und ging ein in die gesellschaftliche Realitätsvorstellung. Es hat aber gerade aus diesem Grund nicht nur außer-, sondern widermoralischen Charakter. Recht und Vorrecht des Menschen ist es, daß er sich nicht einverstanden erklärt mit jedem natürlichen Geschehen, also auch nicht mit dem biologischen Zuwachsen der Zeit. 9

Améry verwirft das »natürliche« lineare Zeitbewusstsein, weil es sich selbst im Umgang mit unermesslichem Grauen den Prozess der Wundheilung zum Vorbild nimmt. Denn Zeit heilt eben nicht alle Wunden. Daher stellt Améry dem sogenannten natürlichen Zeitgefühl das des Ressentiments entgegen, das wie die Rache auf der Gegenwärtigkeit des Vergangenen beharrt: »Absurd fordert es, dass Irreversible solle umgekehrt, das Ereignis unereignet gemacht werden.«10 Anders gesagt, das Ressentiment widersetzt sich dem Hinnehmen und besteht darauf, dass die Verbrechen in der Erinnerung gegenwärtig bleiben. Dazu schreibt Améry den Wunsch der Rächer und Rächerinnen, die das Geschehene ungeschehen machen wollen, um, und zwar in einen »Wunsch nach Zeitumkehrung«, den die Gemeinschaft teilen könnte.11 Dies sei natürlich ein absurder Wunsch, eine »moralische[] Träumerei«, wie er gleich eingesteht.12 Aber die Macht dieses Wunsches liegt nicht darin, dass er realisiert werden kann, sondern darin, dass er geteilt werden kann. Der kollektive Wunsch nach Zeitumkehr könnte dann das Surrogat zum Racheakt bilden. Wir können vielleicht das Es war nicht ändern, aber unsere Sicht auf und unsere Haltung zum Vergangenen. Tarantinos Inglourious Basterds (2009) und Django Unchained (2012) antworten gewissermaßen auf diesen Wunsch nach Zeitumkehr, der für Nietzsche und Améry den Kern der Rache ausmacht. Auch hier dient Rache nicht in erster Linie dazu, eine neue Zukunft zu entwerfen, sondern sie wird in die historische Vergangenheit injiziert. Die Filme schreiben das Es war um und entwerfen eine radikale, fiktive Vision, wie es anders hätte sein können.13 Kunst wird zum Surrogat der Rache, allerdings ist sie auch hier eingegrenzt, da sie als Fiktion in der abgeschlossen Vergangenheit durchgespielt wird. Tarantino 9 | Améry, »Ressentiments«, 133 10 | Améry, »Ressentiments«, 128. 11 | Améry, »Ressentiments«, 143. 12 | Améry, »Ressentiments«, 144. 13 | Vgl. hierzu Dania Hückmann, »Vengeful Fiction: (Re-)Presenting Trauma in Inglourious Basterds (2009)«, in: The Horrors of Trauma in Film: Violence, Void, Visualization, hg. von Michael Elm, Kobi Kabalek, and Julia B. Köhne, Newcastle: Cambridge Scholars Publishing 2014, 90-107.

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stellt also das in den Vordergrund, was in realistischen Texten nur für einen Moment in der Rebellion Gretes oder Christines auf blitzt: dem, wie es immer war, eine radikal andere Vision der Ereignisse entgegenzusetzen. Erst auf dieser Basis wird eine andere Zukunft bzw. Gegenwart möglich. Améry deutet eine solche Vision einer anderen Zukunft lediglich an, denn sie basiert nicht allein auf einem Umschreiben von dem, was war, sondern auch auf einer neuen Position hierzu. Er verbindet Rache mit einem Imperativ, sich (miteinander) zu erinnern.14 Seine Überlegungen zum Ressentiment, das wie die Rache im Kern ein starres Festhalten an Vergangenem bedeutet, lädt uns ein, auch die Rache nicht allein als pathologischen Zustand zu sehen, sondern als Imperativ, Unrecht zu erinnern. Den von Racheverlangen Getriebenen können die sogenannte natürliche Zeit und die Idee, dass allein die gesund sind, die alles, egal wie grausam und schmerzhaft es (gewesen) sein mag, möglichst zeitnah verarbeiten, nur unmenschlich vorkommen. Demnach steht Rache nicht für eine Alternative zum Recht, sondern für die Sehnsucht nach einem gerechten, d.h. nach einem (auch individuelle) Verluste anerkennenden Umgang mit Vergangenem. In der Rache lebt das Versprechen der Gerechtigkeit bzw. eines gerechteren Miteinander weiter, in all seiner Unmöglichkeit.

14 | Vgl. hierzu, Dania Hückmann, »Beyond Law and Justice – Revenge in Améry«, in: The Germanic Review 89/2 (2014), 233-248.

Literatur Q uellen Améry, Jean, »Ressentiments«, in: Jean Améry, Werke, Bd. 2: Jenseits von Schuld und Sühne. Unmeisterliche Wanderjahre. Örtlichkeiten, hg. von Irene Heidelberger-Leonard, Stuttgart: Klett-Cotta 2002, 118-148. Droste-Hülshoff, Annette von, »Entwürfe und Notizen, H7«, in: Annette von Droste-Hülshoff, Historisch-kritische Ausgabe, Bd. V, 2: Prosa. Dokumentation, hg. von Walter Woesler, Tübingen: Niemeyer 1984, 386-392. Droste-Hülshoff, Annette von, »Entwürfe und Notizen, H8«, in: Annette von Droste-Hülshoff, Historisch-kritische Ausgabe, Bd. V, 2: Prosa. Dokumentation, hg. von Walter Woesler, Tübingen: Niemeyer 1984, 396-43. Droste-Hülshoff, Annette von, »Die Judenbuche. Ein Sittengemälde aus dem gebirgigten Westphalen«, in: Annette von Droste-Hülshoff, Historisch-kritische Ausgabe, Bd. V, 1: Prosa. Text, hg. von Walter Woesler, Tübingen: Niemeyer 1978, 1-42. Fontane, Theodor, Das erzählerische Werk. Große Brandenburger Ausgabe, Bd. 9: Cécile, hg. von Hans Joachim Funke und Christine Hehle, Berlin: Auf bau 2000. Fontane, Theodor, Das erzählerische Werk. Große Brandenburger Ausgabe, Bd. 15: Effi Briest, hg. von Christiane Hehle, Berlin: Auf bau 1998. Fontane, Theodor, Das erzählerische Werk. Große Brandenburger Ausgabe, Bd. 3: Grete Minde, hg. von Christine Hehle, Berlin: Auf bau 1997. Fontane, Theodor, Briefe an Georg Friedlaender, hg. von Walter Hettche, Frankfurt a.M.: Insel 1994. Gotthelf, Jeremias, »Die schwarze Spinne«, in: Jeremias Gotthelf, Gesammelte Werke in neun Bänden, Bd. 7, Zürich: Rentsch 1962, 27-113. Haxthausen, August Franz, »Geschichte eines Algerier-Sklaven«, in: Annette von Droste-Hülshoff, Historisch-kritische Ausgabe, Bd. V,2: Prosa. Dokumentation, hg. von Winfried Woesler, Tübingen: Niemeyer 1984, 214-223. Hergsell, Gustav, Duell-Codex, 2. Aufl., Wien: A. Hartleben’s Verlag 1897. Heyse, Paul, Andrea Delfin. Prosa und Gedichte, Berlin: Auf bau Taschenbuch Verlag 1994.

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Literaturwissenschaft Achim Geisenhanslüke

Wolfsmänner Zur Geschichte einer schwierigen Figur März 2018, 120 S., kart. 16,99 € (DE), 978-3-8376-4271-1 E-Book PDF: 14,99 € (DE), ISBN 978-3-8394-4271-5 EPUB: 14,99 € (DE), ISBN 978-3-7328-4271-1

Götz Großklaus

Das Janusgesicht Europas Zur Kritik des kolonialen Diskurses 2017, 230 S., kart., z.T. farb. Abb. 24,99 € (DE), 978-3-8376-4033-5 E-Book: 21,99 € (DE), ISBN 978-3-8394-4033-9

Elisabeth Bronfen

Hollywood und das Projekt Amerika Essays zum kulturellen Imaginären einer Nation Januar 2018, 300 S., kart. 29,99 € (DE), 978-3-8376-4025-0 E-Book: 26,99 € (DE), ISBN 978-3-8394-4025-4

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Literaturwissenschaft Yves Bizeul, Stephanie Wodianka (Hg.)

Mythos und Tabula rasa Narrationen und Denkformen der totalen Auslöschung und des absoluten Neuanfangs März 2018, 178 S., kart. 29,99 € (DE), 978-3-8376-3984-1 E-Book: 26,99 € (DE), ISBN 978-3-8394-3984-5

Michael Gamper, Ruth Mayer (Hg.)

Kurz & Knapp Zur Mediengeschichte kleiner Formen vom 17. Jahrhundert bis zur Gegenwart 2017, 398 S., kart., zahlr. Abb. 34,99 € (DE), 978-3-8376-3556-0 E-Book kostenlos erhältlich als Open-Access-Publikation ISBN 978-3-8394-3556-4

Dieter Heimböckel, Georg Mein, Gesine Lenore Schiewer, Heinz Sieburg (Hg.)

Zeitschrift für interkulturelle Germanistik 8. Jahrgang, 2017, Heft 2: Vielfältige Konzepte – Konzepte der Vielfalt. Zur Theorie von Interkulturalität 2017, 204 S., kart. 12,80 € (DE), 978-3-8376-3818-9 E-Book: 12,80 € (DE), ISBN 978-3-8394-3818-3

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