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German Pages [225] Year 2016
Hans-Ulrich Lessing Volker Steenblock (Hg.)
»Was den Menschen eigentlich zum Menschen macht …« Klassische Texte einer Philosophie der Bildung
VERLAG KARL ALBER
https://doi.org/10.5771/9783495861011
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B
Hans-Ulrich Lessing / Volker Steenblock (Hg.) »Was den Menschen eigentlich zum Menschen macht …«
VERLAG KARL ALBER
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Die Frage nach der richtigen Bildung ist eines der großen Themen und Hauptmotive der Philosophie und Pädagogik von Platon über Humboldt bis zu Peter Bieri. Angesichts gegenwärtiger Tendenzen zu einer funktionalen, sozioökonomisch motivierten und »empirisch« in Ankreuzoptionen einholbaren Definition von Bildung versammelt der Band ausgewählte Beiträge einer »klassischen« Philosophie der Bildung, um an deren ursprüngliche Gehalte zu erinnern. Betont wird dabei der Eigenwert humaner Selbstkultivierung und eine von hierher ermöglichte, sozial verantwortete Handlungsfähigkeit.
Die Herausgeber: Hans-Ulrich Lessing, geb. 1953, apl. Professor für Philosophie an der Ruhr-Universität Bochum. Volker Steenblock, geb. 1958, Professor für Kulturphilosophie und Philosophiedidaktik an der Ruhr-Universität Bochum.
https://doi.org/10.5771/9783495861011 .
Hans-Ulrich Lessing / Volker Steenblock (Hg.)
»Was den Menschen eigentlich zum Menschen macht …« Klassische Texte einer Philosophie der Bildung
Verlag Karl Alber Freiburg / München
https://doi.org/10.5771/9783495861011 .
2. Auflage 2013 © VERLAG KARL ALBER in der Verlag Herder GmbH, Freiburg im Breisgau 2010 Alle Rechte vorbehalten www.verlag-alber.de Satz und PDF-E-Book: SatzWeise GmbH, Trier ISBN (Buch) 978-3-495-48433-3 ISBN (PDF-E-Book) 978-3-495-86101-1
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Inhalt
Vorwort
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Platon Bildung als Umwendung der Seele (»Politeia«, nach 387 v. Chr.)
7
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13
. . . . . . . . . . . . .
46
Jan Amos Comenius »Alle alles zu lehren« (»Große Didaktik«, 1657) . . . . . . . . .
53
Friedrich Schiller Über die ästhetische Erziehung des Menschen (1795)
. . . . . .
87
Wilhelm von Humboldt Theorie der Bildung des Menschen (1793) . . . . . . . . . . . .
108
Johann Gottfried Herder Die goldene Kette der Bildung (»Ideen zur Philosophie der Geschichte der Menschheit«, 1784/85) . . . . . . . . . . . . .
119
Johann Gustav Droysen Der Mensch und die Menschheit (»Historik«, 1857) . . . . . . .
125
Friedrich Nietzsche Zur Kritik der Bildung (»Morgenröte«, 1881; »Götzen-Dämmerung«, 1889) . . . . . . . . . . . . . . . . . .
139
Theodor W. Adorno Theorie der Halbbildung (1959) . . . . . . . . . . . . . . . . .
145
Giovanni Pico della Mirandola Über die Würde des Menschen (1487)
5 https://doi.org/10.5771/9783495861011 .
Inhalt
Hans-Georg Gadamer Bildung und Überlieferung (»Wahrheit und Methode«, 1960) . . .
168
Jörg Ruhloff Die Tradition humanistischer Bildung seit der Renaissance und die gegenwärtige Neudefinition von »Bildung« (2009) . . . . . . . .
183
Peter Bieri Wie wäre es, gebildet zu sein? (2005) . . . . . . . . . . . . . .
203
Literatur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
219
Quellennachweise
. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 223
6 https://doi.org/10.5771/9783495861011 .
Vorwort
Eine Philosophie der Bildung vertritt jene Sinnperspektive, die im Eigenwert humaner Selbstkultivierung und einer von hier aus ermöglichten sozial verantworteten Handlungsfähigkeit liegt. Sie schließt daran an, dass der Begriff der Bildung seiner Geschichte nach nicht zuletzt Theologie, seinem Anspruch nach aber vor allem Philosophie ist. Gegenüber seiner naturhaften Existenz, aber auch gegenüber eigenen undurchschauten Sinnbildungen gewinnt der Mensch in der vernunftgeleiteten Arbeit kultureller Orientierung die Freiheit, das »uneingelöste Versprechen« (Helmut Peukert) der Bildung für Individuum und Gesellschaft zur Wirkung zu bringen. Die Frage nach der richtigen Bildung ist eines der großen Themen und Hauptmotive der Philosophie und Pädagogik seit Platon, der sie als »Umwendung« der Seele bzw. des ganzen Menschen bestimmt. Sie spannt einen signifikanten Bogen philosophischer Reflexion über die Jahrhunderte hinweg, in dessen Verlauf Comenius’ christlicher Humanismus ebenso die Idee des Menschen in der Bildung festhält, wie Giovanni Pico della Mirandolas Renaissance-Humanismus dies tut, für den Würde und Glück des Menschen darin ihren Ausdruck finden, dass dieser in bestimmter Hinsicht zu einem Werk seiner selbst zu werden vermag. Im Neuhumanismus bezeichnet Wilhelm von Humboldt es als »die letzte Aufgabe unseres Daseins«, »dem Begriff der Menschheit in unsrer Person, sowohl während der Zeit unsres Lebens als auch noch über dasselbe hinaus, durch die Spuren des lebendigen Wirkens, die wir zurücklassen, einen so großen Inhalt, als möglich, zu verschaffen«. In dieser Formel wird, wie mit Recht festgestellt worden ist, in Verbindung mit der Philosophie Kants »Bildung« zu einer autonomen Zielsetzung des Humanen, wie sie nicht mehr um äußerer Zwecke (der Ökonomie usw.) willen überboten werden kann. Das Bildungsideal der deutschen Klassik stellt dabei keine zeitenthobene Utopie dar, denn bereits Friedrich Schiller setzt das Bildungsprogramm seines ästhetischen Huma7 https://doi.org/10.5771/9783495861011 .
Vorwort
nismus gegen eine zeitgenössisch konstatierte (und aus heutiger Perspektive verschärfte) Fragmentierung und Zerrissenheit des Menschen. Die vom philosophischen Bildungsbegriff geforderte Arbeit an der menschlichen Selbstwerdung erzeugt, wie Johann Gottfried Herder zeigt, in ihrem Vollzug die kulturelle Welt; für die Sinnbestimmung unserer Selbstverwandlung als Menschen in Lehr- und Lernprozessen steht der Begriff der Humanität. Unter dem Einfluss der Philosophie Hegels sucht der Historiker Johann Gustav Droysen unsere je individuelle Menschenbildung in die Perspektive einer Menschheitsentwicklung als objektiven Bildungsprozess einzuordnen. Die Enttäuschungen, die ihr dabei wie jedem Projekt menschlicher Arbeit drohen, spiegeln sich in der Kritik Friedrich Nietzsches an der Art, in der ein Bildungsbürgertum – wie man gesagt hat, »so recht und schlecht« – das Ideal der Bildung zu leben versuchte; der in Deutschland zwischenzeitlich erfolgte völlige Abfall von diesem Ideal findet ein bitteres Echo in der Stellungnahme Theodor W. Adornos. 1 Anders freilich, als im Modus der Bildung, erscheint ein adäquates Konzept kultureller Orientierung auch gegenwärtig nicht vorstellbar. 2 Auf den Zusammenhang von Bildung und Überlieferung verweist Hans-Georg Gadamer; zugleich gibt er in seinem Hauptwerk »Wahrheit und Methode« eine schöne Einführung in den Bildungsbegriff, in deren Zusammenhang auch auf dessen humanistische Wurzeln verwiesen wird. Jörg Ruhloff konfrontiert die humanistische Tradition des Bildungsbegriffs mit aktuellen Tendenzen seiner Umdeutung, auf die im Folgenden noch einzugehen ist. Die Aktualität der Bildung zu Beginn des 21. Jahrhunderts demonstriert schließlich das fulminante Plädoyer von Peter Bieri. Insbesondere die von Wilhelm Dilthey ausgehende Geisteswissenschaftliche Pädagogik, die an den Neukantianismus anschließenden Hinter dieser Kritik steht in letzter Instanz ein Interesse an den Gehalten, für die Bildung eigentlich zu stehen hätte. Dies wird heute z. B. deutlich, wenn sich im Nachklang zu Adorno ein Wissen kritisieren lässt, das keineswegs wirkungslos ist, aber verfügbar sein soll, flexibel dem »weltgeistanalog« installierten Markt verfügbar und damit ohne die synthetisierende, orientierende und eigenständige Kraft, die wir mit dem Begriff der Bildung verbinden: »Nicht Halbbildung ist das Problem unserer Epoche, sondern die Abwesenheit jeder normativen Idee von Bildung, an der sich so etwas wie Halbbildung noch ablesen ließe.« Konrad Paul Liessmann: Theorie der Unbildung. Wien 2006, 9; entsprechend zu »PISA«: »Signifikanter zeigt sich Unbildung in keinem Zentrum vermeintlicher Bildung« (75). 2 Vgl. Volker Steenblock: Theorie der kulturellen Bildung. München 1999. 1
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Vorwort
Pädagogen sowie überhaupt die »Theorien und Modelle« der Allgemeinen Pädagogik und Didaktik lassen ihre Verbindung mit einem Begriff philosophischer Bildung erkennen. Die deutliche, für die wichtige neuere Theorielinie einer »Kritischen Erziehungswissenschaft« »emanzipatorisch« gedachte Normativität seiner Erwartungen (Herwig Blankertz) wird gelegentlich gegen diesen philosophischen Bildungsbegriff ins Feld geführt. Die Skepsis, ja Zurückweisung reicht von der Forderung nach seiner Abschaffung um der Vereinheitlichung der internationalen Wissenschaftssprache willen (!) bis hin zum Versuch seiner Ersetzung durch Vorstellungen der eine Zeit lang viel diskutierten Systemtheorie. Besonders aber werden wir in der gegenwärtigen Diskussion Zeugen einer Neuausrichtung des Bildungsverständnisses von, wie wir lesen, »epochalem Charakter«. Es wird vorgeschlagen, »Bildung« in Ankreuztests zu reproduzieren bzw. durch empirisch messbare Lernleistungen zu definieren. 3 Hierhinter verbirgt sich der alte Konflikt derer, die Erziehung und Bildung als ein humanes Projekt verstehen, mit denen, die daraus eine Technologie (»Beyond Freedom and Dignity«) machen wollen; ein Konflikt, der sich bis auf das Anliegen der platonischen Philosophie gegenüber der Sophistik zurückverfolgen ließe. 4 Obwohl der »Literacy«-Begriff heute mit Teilhabechancen an der Kultur argumentiert, setzt er sich dem Verdacht aus, den inneren Zusammenhang zwischen Kultur und Bildung zu verfehlen, in dessen Kern es darum geht, ob Menschen qua »Kompetenzen«-Ausbildung systemischen ökonomischen Dynamiken zuzuhalten sind, oder ob man sie als Personen, als die (Mit-)Autoren ihrer Lebensverhältnisse anerkennt. Humanität nämlich, »ihr eigener Sinn kann nicht getrennt werden von der Einrichtung der menschlichen Dinge. Bildung, welche davon absieht, […] ist schon zur Halbbildung geworZur entsprechenden Neukonzeption von »Bildung« Jürgen Baumert: Deutschland im internationalen Bildungsvergleich, in: Nelson Kilius u. a. (Hrsg.): Die Zukunft der Bildung. Frankfurt 2002, 100–150. – Kritisch Richard Münch: Globale Eliten, lokale Autoritäten. Bildung und Wissenschaft unter dem Regime von PISA, McKinsey und Co. Frankfurt 2009. Vgl. auch Jörg Ruhloff: »Einmaligkeit« oder Kritik einer wissenschaftspolitischen Machterschleichung, in: Pädagogische Korrespondenz 3 (2007), 5–17, mit dem Vorwurf, eine Pädagogik der Persönlichkeitsentwicklung werde durch Steuerung im Sinne sozioökonomischer Funktionstüchtigkeit und neoliberalen Managementgebotes ersetzt. 4 Rudolf Rehn: (Philosophische) Bildung und Markt. Aktuelle Überlegungen zu einem alten (Streit-)Thema, in: Rudolf Rehn, Christina Schües (Hrsg.): Bildungsphilosophie. Freiburg und München 2008, 21–35. 3
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Vorwort
den« 5 . Bezeichnet Bildung den Prozess, in dem der Mensch seine intellektuell-sittliche Gestalt gewinnt und sich selbst die Möglichkeit eröffnet, sich in seinem Menschsein zu verbessern, potentiell auch kritisch-widerständig zu sein, so hat ihre »epochale« Umdefinierung in Kompetenzenregister womöglich gar etwas Polizeiliches, etwas von Kontrolle und Fremdbestimmung. 6 Letzterem gegenüber aber gilt: Gerade die zunehmende Komplexität von Gesellschaft und Kultur erfordert nicht einfach die funktionalistische Befähigung zur Anpassung an beliebige neue Lagen und Situationen, sondern ein verantwortliches Subjekt als Akteur, das bewerten, einschätzen und gestalten kann. Indem Bildung an eben jener Stelle steht, an der bei jedem Projekt kultureller Gestaltung anzusetzen wäre, fordert sie unser in letzter Instanz nur philosophisch zu bestimmendes Bemühen heraus, menschliche Verhältnisse zu beurteilen und einzurichten zu helfen. Ihre konstatierte gemeinsame »konjunkturelle Beziehung« 7 wird einer Philosophie erhalten bleiben, die die Pädagogik benötigt, um sich mit den Lebenswelten avancierter Gesellschaften zu vermitteln, und auch einer Pädagogik, die an ihre philosophische Grundlagenreflexion rückgebunden bleibt. 8 Denn normativen Fragen entgeht nicht, wer sich einfach die vorfindliche »Normalität« existierenden Wirtschaftens zur Norm setzt, dessen Mechanismen er die Menschen anpassen will. Auf diesen vorbenannten Grundansatz der Bildung, wie eine zweieinhalbtausendjährige Traditions- und Theorielinie ihn entwickelt, möchte unsere Textsammlung angesichts seiner gegenwärtigen Unterbietung hinweisen. 9 Wie bereits unser Reader zur KulturphilosoSo mit Adorno: Alfred Schirlbauer: Die totalitäre Sprache des Papiers. Heydorns »Industriefaschismus« in Zeiten neoliberaler Bildung, in: Agnieszka Dzierzbicka u. a. (Hrsg.): In bester Gesellschaft. Einführung in philosophische Klassiker der Pädagogik von Diogenes bis Baudrillard. Wien 2008, 158–161, 160. 6 Andreas Dörpinghaus: Bildung. Plädoyer wider die Verdummung, in: Forschung und Lehre. Supplement 9 (2009), 3–14. – Von einem »Versuch der Machtergreifung über den Menschen«, der aus der Perspektive der Bildung aber zum »Werk seiner selbst« bestimmt ist, spricht Marian Heitger: »output«, in: Vierteljahrsschrift für wissenschaftliche Pädagogik 84 (2008), 242 f. 7 Käte Meyer-Drawe: Über Pädagogik und Philosophie, in: Dirk Rustemeyer (Hrsg.): Symbolische Welten. Würzburg 2002, 91–107. 8 Vgl. Anton Hügli: Philosophie und Pädagogik. Darmstadt 1999. 9 Zur weiteren Erschließung des bekannt vielschichtigen Begriffsspektrums der »Bildung« verweisen wir auf das Literaturverzeichnis; zur Aktualität der Bildung planen wir eine ergänzende Veröffentlichung. 5
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Vorwort
phie 10 ist sie aus Lehrveranstaltungen hervorgegangen, die wir an der Ruhr-Universität Bochum durchgeführt haben. So wenig wie im Band zur Kulturphilosophie verleugnen wir in der Textauswahl gerade bei diesem Thema die Relevanz der deutschsprachigen Tradition; 11 die Anordnung der ausgewählten Texte folgt im Allgemeinen – jedoch nicht strikt – der Chronologie. Interpunktion und Orthographie der Textvorlagen wurden, wenn nicht anders angemerkt, gewahrt. Notwendige Vereinheitlichungen in den Anmerkungen wurden stillschweigend vorgenommen. Sperrungen im Originaltext wurden kursiviert. Auslassungen der Herausgeber stehen in […]; detailerläuternde Anmerkungen in den Texten der von uns ausgesuchten Autoren sind in der Regel nicht mit abgedruckt. Die Erläuterungen der Herausgeber zu den wiedergegebenen Textauszügen und die Erläuterungen der Autoren zu ihren eigenen Texten sind in zwei Fußnotenhierarchien dargestellt. Die Überschriften entsprechen den Titeln, denen die Auszüge entnommen sind, oder sie stammen von den Herausgebern. Letzteres ist jeweils per Anmerkung kenntlich gemacht. In jedem Fall sollen sie einen ersten möglichst anschaulichen Hinweis auf den Hauptgegenstand des Textauszuges geben. Den Texten sind Einführungen vorangestellt, welche die Autoren kurz vorstellen, ihre Bedeutung für die Zusammenhänge der Bildungsphilosophie zu umreißen suchen und als »Lektüreanleitungen« dienen sollen. Für Hilfen bei der Texterfassung danken wir Frau Martina Tomczak. Bochum, im Frühjahr 2010
Hans-Ulrich Lessing Volker Steenblock
10 Gudrun Kühne-Bertram, Hans-Ulrich Lessing, Volker Steenblock (Hrsg.): Mensch und Kultur. Klassische Texte der Kulturphilosophie. 2. Aufl. Hannover 2009. 11 Anders akzentuiert in England und in den USA (wo dieser Begriff sich primär auf die Theorie-Klassiker der Pädagogik sowie deren grundsätzliche Themen, Fragen und Ziele als Disziplin schlechthin bezieht) die angelsächsische »Philosophy of Education« ihren Gegenstand. Unter dem Einfluss des Pragmatismus von Charles Sanders Peirce vertrat hier vor allem John Dewey eine demokratische Erziehungsphilosophie (Democracy and Education, 1916). Differenzierend zur Inanspruchnahme Deweys zur Markierung eines »Bruches« mit der traditionell »philosophischen« europäischen bzw. deutschen Pädagogik zugunsten einer nunmehr »pragmatischen« vgl. in Auseinandersetzung mit Jürgen Oelkers die Arbeit von Johannes Bellmann: John Deweys naturalistische Pädagogik. Paderborn 2007, 183 ff.; auch sei Deweys Pragmatismus (mit Blick auf die erwähnte, gegenwärtig in der Erziehungswissenschaft favorisierte output-orientierte Leistungsmessung) kaum die »Philosophie von PISA« (190).
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Platon
Platon (427–347 v. Chr.) stammte aus führendem Athener Adel, schloss sich aber bereits in seiner Jugend dem geradezu plebejischen, 42 Jahre älteren Sokrates an und gelangte auf diese Weise zu der neuen Kulturerrungenschaft Philosophie, statt eine der üblichen Karrieren seines Standes zu machen. Er gründete im Hain des altattischen Heros Akádemos bzw. in der Nähe eines entsprechenden Heiligtums im Nordwesten Athens vor den Toren der Stadt eine Institution, die formal ein privater Kultverein zu Ehren der Musen war. In Wahrheit aber entstand in diesem baumbestandenen Park, in dem Platon ein Gymnasion (also eine Sportanlage und Kultstätten) schon vorfand, die, wenn man so will, erste europäische »Universität« im Sinne einer »höheren Lehranstalt«, nämlich die seither sprichwörtliche »Akademie« zur Erlangung und Vermittlung theoretischer Erkenntnisse in Lehrvorträgen und Lehrgesprächen. Diese Gründung kann als eines der bedeutendsten Ereignisse der Kulturgeschichte überhaupt gelten. Hier waren Wissen, Reflexion und Orientierung zum ersten Mal nachhaltig, systematisch und dauerhaft auf eigenen Füßen etabliert. Gegen das Auftreten der Sophisten als bezahlter »Weisheitslehrer« in der athenischen Gesellschaft, gegen ihren Relativismus und gegen ihre technisch-funktionalistische Reduktion des Wissens- und Bildungsbegriffes sucht Platon nach einem wirklichen Wissen (epistêmê), das sich durch Orientierungskraft und Vorbildlichkeit auszeichnen muss. Er versteht Philosophie als einen Zugang des Denkens zu einer Relevanzstufe über unsere stets veränderliche und bestreitbare Alltagserfahrung hinaus. Den Status dieser Welt wahren Seins beschreibt die im Zentrum der platonischen Philosophie stehende »Ideenlehre«, also die Theorie von den überzeitlichen und überirdischen »Ideen«, an deren »Spitze« die »Idee des Guten« steht. Der dadurch anvisierte Bereich wird abgesetzt von der sinnlich wahrnehmbaren, wechselvollen Welt des Werdens und Vergehens, die bestenfalls eine unvollkommene Abbildung jener ewigen zeitlosen Strukturen sein kann. (1) Platons Es(1)
Vgl. – einführend und zugleich differenzierend – Ekkehard Martens: Platon. Stuttgart 2009.
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Platon
sentialismus: der von ihm postulierte objektive Status des Wahren und ethisch Guten sieht sich nach seitheriger zweieinhalbausendjähriger »Arbeit am Logos« heute aufgrund der Erfahrung einer schwer zu übersteigenden Pluralität der Kulturen und durch die Einsicht in die historische Konstruktivität aller menschlichen Kultur nachhaltig in Frage gestellt. Dorothea Frede hat demgegenüber den Kern des platonischen Anliegens durch Verweis auf den analogen Status unaufgebbarer Menschenrechte zu plausibilisieren gesucht. (2) Allein aber, dass die ebenso nötige wie schwierige Frage nach dem Sinn des Wissens und einer Begründung der Bildung durch die »Politeia« als philosophischem und pädagogischem Klassiker aufgeworfen wird und präsent bleibt, rechtfertigt und erfordert ihre Lektüre in Zeiten einer sozioökonomisch motivierten Ausblendung dieser nur philosophisch (und nicht soziologisch, psychologisch o. ä.) zu leistenden Reflexion. Sokrates, von Platon als paradigmatischer Lehrer des Menschengeschlechtes inszeniert, dürfte das Anliegen der Bildung offener interpretiert haben als Platons visionäre Utopie eines letzten überzeitlichen Ganzen – beide eint jedoch, so hat man mit Recht bemerkt, »die Überzeugung, dass die Arbeit an einer Bildung, die zu einer gerechteren Ordnung führt, der eigentliche, keinem anderen Zweck aufzuopfernde Selbstzweck des menschlichen Daseins ist«. (3) Bildung (paideia) realisiert den Zugang des Denkens zu dieser Dimension des Seins, der gegenüber unsere empirisch alltägliche Welt kraft Nachahmung und Teilhabe existiert. In der »Politeia«, also in Platons Buch vom Staat, (4) aus dem der nachstehende Text stammt, geben die bekannten Gleichnisse (Höhlen-, Linien-, Sonnengleichnis) hiervon eine »hinführende Ahnung«. Anhand des Sonnengleichnisses wird (in Passagen, bevor unser Textauszug einsetzt) als maßgebendes Ziel aller Paideia die höchste Erkenntnis in der Schau der reinen »Idee des Guten« (504a–509b) entwickelt; das Liniengleichnis ordnet die verschiedenen uns möglichen Erfahrungs- und Wissensformen den Auffassungen Platons entsprechend von einem bloß (2)
Dorothea Frede: Platons Essentialismus – ein hoffnungsloser Fall von Anachronismus?, in: Marcel van Ackeren, Jörn Müller (Hrsg.): Antike Philosophie verstehen. Darmstadt 2006, 131– 147. (3) Vgl. Dietrich Benner, Friedhelm Brüggen: »Bildung – Theorie der Menschenbildung«, in: Winfried Böhm u. a. (Hrsg.): Handbuch der Erziehungswissenschaft Bd. 1: Grundlagen/Allgemeine Erziehungswissenschaft. Paderborn 2008, 209–226, 210. (4) Vgl. als Lektürehilfe und Kommentar zur »Politeia«: Wolfgang Kersting: Platons »Staat« (Reihe Werkinterpretationen). Darmstadt 1999. – Eine übersichtliche erste Einführung zu Platons »Pädagogik« gibt Dirk Fonfara in: Christoph Horn, Jörn Müller, Joachim Söder (Hrsg.), Platon-Handbuch, Stuttgart 2009, 240–245.
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Bildung als Umwendung der Seele (»Politeia«, nach 387 v. Chr.)
empirischen bis zu einem geistig zu erringenden Wissen an (509b–511e). Das im folgenden Textauszug (dem siebenten Buch der »Politeia«) einleitend präsentierte Höhlengleichnis beschreibt nun als eine einzige große Bildungsmetapher schlichthin in ebenso bildlicher wie eindrucksvoller Weise den Weg des Aufstiegs von den minderen Erkenntnisstufen zur normsetzenden höchsten Erkenntnis (514a–521b). Platon lässt seinen Lehrer Sokrates ein Gedankenexperiment erläutern, das von einem gefesselten Gefangenen in einer Höhle handelt, der – zunächst einmal gegen seinen Willen – schrittweise in die wahre Welt befreit wird. Alles, was ihm in der Höhle wichtig war, wird dem Gefangenen aber nach einer Zeit der Gewöhnung gegenüber der jetzt erlangten eigentlichen Erkenntnis irrelevant erscheinen. Das Gleichnis will sagen: Wir alle leben in einer solchen Höhle, als die sich unsere empirisch-alltäglich-selbstverständlich aufgefasste Welt (in der Schleiermacherschen Übersetzung heißt sie im folgenden Text: »die durch das Gesicht uns erscheinende Region«) darstellt. Und für uns alle gilt, was für den Gefangenen gilt: Man muss über diese sinnliche Welt hinauskommen und einer wirklich relevanten – auch in ethischer und politischer Hinsicht entscheidenden – Erkenntnis, der »Idee des Guten« – der Sonne im Gleichnis – ansichtig werden. Die körperliche Lösung der Fesseln der Gefangenen meint also auch und erst recht eine geistige Befreiung und die physische Umwendung des Kopfes fort aus dem »Schattendasein« ist zugleich eine Ausrichtung auf das immer hellere Licht der Erkenntnis. Am Ende eines durchaus mühevollen Weges (5) wird zudem noch eine gleichsam zweite, wie das Schicksal des Sokrates zeigt, durchaus riskante Umwendung als Rückwendung zu den menschlichen Verhältnissen nötig sein. Diese Rückwendung dementiert die ursprüngliche Umwendung in keiner Weise, sondern sie vollendet sie erst. Unser Gefangener muss gleichsam seinerseits »befreiend« tätig werden: Erst eine Übernahme praktisch-politischer Verantwortung vollendet die Bildung. Es ist ein unabdingbarer Bestandteil ihres Begriffs, dass mehr und mehr Menschen an ihr partizipieren, dass also in letzer Konsequenz die Gemeinschaft eine Gemeinschaft der Bildung wird. Bildung impliziert einen sozialen Dienst zugunsten der Gesellschaft. (6) (5)
Dieser Aspekt wird betont bei Käte Meyer-Drawe: Höhlenqualen. Bildungstheoretische Provokationen durch Sokrates und Platon, in: Rudolf Rehn, Christina Schües (Hrsg.): Bildungsphilosophie. Freiburg und München 2008, 36–51. (6) Peter Kauder: Der Gedanke der Bildung in Platons Höhlengleichnis. Hohengehren 2001, 78.
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Platon
Im vorbenannten Modus eines Strebens nach wahrer Erkenntnis sieht Platon somit nicht nur eine »theoretische« Frage, sondern dieses ist ihm auch ein zuhöchst »praktisches« Anliegen; nicht umsonst entstammt der nachfolgende Textauszug einer Schrift über den Staat. Für Plato ist die idealistische Metaphysik eine auch das menschliche Verhalten orientierende Größe. (7) Nur von der »Ideenwelt« her können Individuen und Gemeinwesen wieder sittlich ausgerichtet werden; »nur wer als Philosoph außerhalb der menschlichen Welt die Idee des Guten erblickt hat, ist überhaupt in der Lage, im Bereich der menschlichen Pragmata vernünftig zu handeln«. (8) Erkennt man die wahren Verhältnisse der Dinge im Lichte der Idee des Guten, wird man dieser Erkenntnis entsprechend gut handeln und das Böse verachten. Wenn aber hierzu auch gehört, im Hinblick auf die Einsicht und das gute Handeln anderer pädagogisch zu wirken, und die (wenn) menschlichen Angelegenheiten, vor allem der Staat, insgesamt einer vernünftigen Einrichtung bedürfen, stellt sich das Problem der rechten Bildung auch politisch – vor allem der Bildung der Regenten, deren höherer Einsichtsstand sogar eine »Herrschaft der Philosophen« legitimieren soll. Dies macht sie zu einem besonders wichtigen und sensiblen Bereich, und es wird im weiteren Verlauf des Textes einiger Aufwand betrieben, dieses Feld umfassend darzulegen. Platon bestimmt im nachstehenden Textauszug im Anschluss an das Höhlengleichnis die Bildung zunächst grundsätzlich. Es wird deutlich: sie ist nicht ein »Einpflanzen« von Wissen in die Seele (518b–c). Dies würde der sophistischen Lehrpraxis entsprechen: »Nämlich sie behaupten, wenn keine Erkenntnis in der Seele sei, könnten sie sie ihr einsetzen, wie wenn sie blinden Augen ein Gesicht einsetzten.« Eine eigentlich pädagogische Dimension ist mit einer solchen Vorstellung noch gar nicht erreicht. Im Sinne einer wirklichen Pädagogik kann man jedoch offenbar davon ausgehen, dass dem Menschen das Vermögen zu einer Einsichtsart, die die Stufe eines bloß funktionalen Wissens übersteigt, ursprünglich und seinem Wesen nach innewohnt. Dieses Vermögen ist in der Höhle aber nicht in Anspruch genommen worden; das Gleichnis thematisiert eine »Fesselung«, der wir unterliegen, und die einem Zustand der Unbildung entspricht, da die Seele auf ein Falsches und Scheinbares ausgerichtet ist. (7)
Dorothea Frede: Das Philosophie-Curriculum in Platons Staat, in: Johannes Rohbeck (Hrsg.): Ethisch-philosophische Basiskompetenz (Jahrbuch für Didaktik der Philosophie und Ethik, Bd. 5). Dresden 2004, 40–64. (8) Günther Bien: Das Theorie-Praxis-Problem und die politische Philosophie bei Platon und Aristoteles, in: Philosophisches Jahrbuch der Görres-Gesellschaft 76 (1968), 264–313, 283.
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Bildung als Umwendung der Seele (»Politeia«, nach 387 v. Chr.)
Bildung ist nun die Kunst einer »Umwendung« oder »Umlenkung« (periagwgffi, periagogê) der Seele selbst (518c–d) unter Aufhebung der Fesselung und Wegwendung vom Scheinbaren. (9) Von dieser Umwendung sagt Sokrates im folgend wiedergegebenen Textauszug: »Das ist nun freilich, scheint es, nicht wie sich eine Scherbe umwendet, sondern es ist eine Umlenkung der Seele, welche aus einem gleichsam nächtlichen Tage zu dem wahren Tage des Seienden jene Auffahrt antritt, welche wir eben die wahre Philosophie nennen wollen.« Eine solche Bestimmung impliziert erkennbar eine grundsätzliche Neuorientierung des ganzen Menschen, der, an vorhandene Fähigkeiten anknüpfend, ein anderes Verhältnis zu sich selbst und zur Welt gewinnt. Platons bildliche Sprache wendet sich dabei gegen das »was sich wie Bleikugeln an die Gaumenlust und andere Lüste und Weichlichkeiten anhängt und das Gesicht der Seele nach unten wendet« (519a). Die Philosophie als Bildung verhilft gleichsam zu einem neuen Sehen: »das in barbarischem Schlamm vergrabene Auge der Seele (en borborô barbarikô tini to tês psychês ómma) zieht sie gelinde hervor und führt es aufwärts« (533d). Bei Platon gewinnt der Bildungsbegriff visionäre Kräfte, deren Hoffnungen bis hin zu einer neuen Bildung für eine neue Gesellschaft reichen. Platons Ausführungen zur Bildung und seine Gleichnisse beziehen sich bei alledem in gleichsam »zuspitzender« Weise auf die Erziehung der in seinem Idealstaat vorgesehenen Herrscherphilosophen. Diese besteht – neben der schon für die »Wächter« des Idealstaates selbstverständlichen Ausbildung in den gymnastischen und musischen Fächern – in einem gründlichen, sich bis zum fünfzigsten Lebensjahr der Kandidaten erstreckenden Bildungsgang, für den Platon im weiteren Verlauf seiner Ausführungen nun ein regelrechtes Curriculum vorlegt. (10) Zunächst ist dem detaillierten Lehrplan zufolge eine mathematische Propädeutik nötig, von der er sich eine
(9)
Vgl. zum Begriff der »Seele« bei Platon sowie überhaupt für eine aktuelle Übersetzung und Kommentierung sowie für weitere Literaturangaben Rudolf Rehn: Platons Höhlengleichnis. Das Siebte Buch der Politeia. Griechisch-Deutsch übersetzt, erläutert und herausgegeben von Rudolf Rehn. Mit einer Einleitung von Burkhard Mojsisch. Mainz 2005. (10) Innerhalb der Ausbildung ist streng darauf zu achten, dass jeweils charakterlich und intellektuell geeignete Naturen ausgewählt werden – nicht solche, die borniert »nach Schweineart in der Dummheit herumsudel(n)« (535e). Die Auswahl geschieht in Form systematischer Elitenförderung (es sind aber immer Männer und Frauen als Kandidaten gemeint, 540c) mit den im Text ausgeführten genauen Angaben, was bis zum zwanzigsten Lebensjahr, bis zum dreißigsten und danach usw. geschehen soll. Mit der Jahrgangsstufenzuordnung zu den Curriculumsinhalten wird die Schilderung des besten Staates abgeschlossen.
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Platon
Förderung des philosophischen Charakters verspricht (526c). (11) Hierzu ist – Platon wird damit den mittelalterlichen Lehrplan der »septem artes liberales« prägen (12) – eine Art Quadrivium (vierfacher Weg) der mathematischen Wissenschaften zu studieren, nämlich Arithmetik (522b–526c), Geometrie (526c–528d), Astronomie und Harmonielehre (528d–531c). Die nächste Stufe bildet die Dialektik (531d–534c), die schließlich zum Höchsten, zur Ideenschau hin leiten soll, die sie aber nicht zu »erzwingen« vermag. (13) Nach der Propädeutik im Knabenalter erfolgt eine Hinführung zur Dialektik; ab dem 30. Lebensjahr erfolgt eine Auswahl derer, die zur Dialektik befähigt sind – mit gemeint sind immer auch geeignete Frauen – (537c ff.) und die sich alsdann weiter unentwegt mit der Dialektik zu beschäftigen haben (539d–e). Diese versucht, ohne jegliche Wahrnehmung, allein durch die Vernunft zum Wesen der Dinge vorzudringen, und sie lässt auch nicht davon ab, das Gute selbst (= die Idee des Guten) durch Einsicht zu erfassen zu suchen. So gelangt sie an das Ziel des Einsehbaren wie das Sehvermögen an das Ziel des Sichtbaren (532a–b). Ab dem 35. bis zum 50. Lebensjahr erfolgt jene bereits erwähnte Rückwendung oder »zweite Umwendung«, nun zurück in das politisch-praktische Leben (539e–540a). Wer sich zugleich im tätigen Leben und in der Wissenschaft bewährt, wird schließlich zum Ziel, zur Schau des Guten selbst geführt (540a). Dieses Wissen um das Gute selbst muss also wiederum die Gemeinschaft und die Mitbürger und sich selbst »ordnen«; d. h. neben der Philosophie muss er auch bereit sein, das Regentenamt ausüben (540b). Sein Leben erfüllt sich, wenn er auch andere Menschen erzogen und der Stadt als Wächter zurückgelassen hat; nun kann er zu den Inseln der Seligen scheiden.
(11) Eine mögliche Eignung der Rechenkunst für gewerbliche und ökonomische Zusammenhänge findet Platon offenbar nicht einmal der Erwähnung wert. (12) Vgl. Josef Dolch: Lehrplan des Abendlandes. 2. Aufl. Ratingen 1965. (13) Diese höchste Einsicht ist sprachlich und methodisch nicht bis ins Letzte einholbar; sie geschieht, wie es im Siebenten Brief an einer berühmten Stelle heißt, »plötzlich« (exaiphnes): »Denn das lässt sich nicht in Worte fassen wie andere Wissenschaften, sondern aus dem Zusammensein in ständiger Bemühung um das Problem und aus dem Zusammenleben entsteht es plötzlich wie ein Licht, das von einem springenden Funken entfacht wird, in der Seele und nährt sich dann weiter« (341d).
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Bildung als Umwendung der Seele (»Politeia«, nach 387 v. Chr.)
Bildung als Umwendung der Seele (»Politeia«, nach 387 v. Chr.) (14) Nächst dem, sprach ich, (15) vergleiche dir unsere Natur in Bezug auf Bildung (Paideia) und Unbildung folgendem Zustande. Sieh nämlich Menschen wie in einer unterirdischen, höhlenartigen Wohnung, die einen gegen das Licht geöffneten Zugang längs der ganzen Höhle hat. In dieser seien sie von Kindheit an gefesselt an Hals und Schenkeln, so daß sie auf demselben Fleck bleiben und auch nur nach vorne hin sehen, den Kopf aber herumzudrehen der Fessel wegen nicht vermögend sind. Licht aber haben sie von einem Feuer, welches von oben und von ferne her hinter ihnen brennt. Zwischen dem Feuer und den Gefangenen geht oben her ein Weg, längs diesem sieh eine Mauer aufgeführt wie die Schranken, welche die Gaukler vor den Zuschauern sich erbauen, über welche herüber sie ihre Kunststücke zeigen. – Ich sehe, sagte er. – Sieh nun längs dieser Mauer Menschen allerlei Gefäße tragen, die über die Mauer herüber ragen, und Bildsäulen und andere steinerne und hölzerne Bilder und von allerlei Arbeit; einige, wie natürlich, reden dabei, andere schweigen. – Ein gar wunderliches Bild, sprach er, stellst du dar und wunderliche Gefangene. – Uns ganz ähnliche, entgegnete ich. Denn zuerst, meinst du wohl, daß dergleichen Menschen von sich selbst und voneinander je etwas anderes gesehen haben als die Schatten, welche das Feuer auf die ihnen gegenüberstehende Wand der Höhle wirft? – Wie sollten sie, sprach er, wenn sie gezwungen sind, zeitlebens den Kopf unbeweglich zu halten! – Und von dem Vorübergetragenen nicht eben dieses? – Was sonst? – Wenn sie nun mit einander reden könnten, glaubst du nicht, daß sie auch pflegen würden, dieses Vorhandene zu benennen, was sie sähen? – Notwendig. – Und wie, wenn ihr Kerker auch einen Widerhall hätte von drüben her, meinst du, wenn einer von den Vorübergehenden spräche, sie würden denken, etwas anderes rede als der eben vorübergehende Schatten? – Nein, beim Zeus, sagte er. – Auf keine Weise also könnten diese irgend(14)
Platon, Politeia 514a–541b; hier nach: Platons Werke (deutsch) von Friedrich Schleiermacher. Dritten Teiles erster Band. Berlin 1862, S. 231–257 (überarbeitet). (15) Es spricht Platons Lehrer Sokrates. Er verdeutlicht im Gleichnis dem Glaukon den Bildungsweg des Philosophen. Der Grieche Glaukon war ein älterer Bruder Platons, mit Sokrates befreundet und von Platon in der Politeia als greiser und weiser Gesprächspartner dargestellt, der Sokrates auffordert, dieser möge ihn davon überzeugen, dass ein gerechtes Leben besser sei als ein ungerechtes. Dies führt schließlich zur Konzeption eines Idealstaates, der besser als jede individuelle menschliche Gestalt geeignet wäre, Gerechtigkeit zu repräsentieren.
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etwas anderes für das Wahre halten als die Schatten jener Kunstwerke? – Ganz unmöglich. – Nun betrachte auch, sprach ich, die Lösung und Heilung von ihren Banden und ihrem Unverstande, wie es damit natürlich stehen würde, wenn ihnen folgendes begegnete. Wenn einer entfesselt wäre und gezwungen würde, sogleich aufzustehen, den Hals herumzudrehen, zu gehen und gegen das Licht zu sehn, und, indem er das täte, immer Schmerzen hätte und wegen des flimmernden Glanzes nicht recht vermöchte, jene Dinge zu erkennen, wovon er vorher die Schatten sah: was, meinst du wohl, würde er sagen, wenn ihm einer versicherte, damals habe er lauter Nichtiges gesehen, jetzt aber, dem Seienden näher und zu dem mehr Seienden gewendet, sähe er richtiger, und, ihm jedes Vorübergehende zeigend, ihn fragte und zu antworten zwänge, was es sei? Meinst du nicht, er werde ganz verwirrt sein und glauben, was er damals gesehen, sei doch wirklicher als was ihm jetzt gezeigt werde? – Bei weitem, antwortete er. – Und wenn man ihn gar in das Licht selbst zu sehen nötigte, würden ihm wohl die Augen schmerzen und er würde fliehen und zu jenem zurückkehren, was er anzusehen im Stande ist, fest überzeugt, dies sei weit gewisser als das zuletzt Gezeigte? – Allerdings. – Und, sprach ich, wenn ihn einer mit Gewalt von dort durch den unwegsamen und steilen Aufgang schleppte und nicht losließe, bis er ihn an das Licht der Sonne gebracht hätte, wird er nicht viel Schmerzen haben und sich gar ungern schleppen lassen? Und wenn er nun an das Licht kommt und die Augen voll Strahlen hat, wird er nichts sehen können von dem, was ihm nun für das Wahre gegeben wird. – Freilich nicht, sagte er, wenigstens sogleich nicht. – Gewöhnung also, meine ich, wird er nötig haben, um das Obere zu sehen. Und zuerst würde er Schatten am leichtesten erkennen, hernach die Bilder der Menschen und der andern Dinge im Wasser, und dann erst sie selbst. Und eben so was am Himmel ist und den Himmel selbst würde er am liebsten in der Nacht betrachten und in das Mond- und Sternenlicht sehen, als bei Tage in die Sonne und in ihr Licht. – Wie sollte er nicht! – Zuletzt aber, denke ich, wird er auch die Sonne selbst, nicht Bilder von ihr im Wasser oder anderwärts, sondern sie selbst an ihrer eigenen Stelle anzusehen und zu betrachten im Stande sein. – Notwendig, sagte er. – Und dann wird er schon herausbringen von ihr, daß sie es ist, die alle Zeiten und Jahre schafft und alles ordnet in dem sichtbaren Raume und auch von dem, was sie dort sahen, gewissermaßen die Ursache ist. – Offenbar, sagte er, würde er nach jenem auch hierzu kommen. – Und wie, wenn er nun seiner ersten Wohnung gedenkt und 20 https://doi.org/10.5771/9783495861011 .
Bildung als Umwendung der Seele (»Politeia«, nach 387 v. Chr.)
der dortigen Weisheit und der damaligen Mitgefangenen, meinst du nicht, er werde sich selbst glücklich preisen über die Veränderung, jene aber beklagen? – Ganz gewiß. – Und wenn sie dort unter sich Ehre, Lob und Belohnungen für den bestimmt hatten, der das Vorüberziehende am schärfsten sah und sich am besten behielt, was zuerst zu kommen pflegte und was zuletzt und was zugleich, und daher also am besten vorhersagen konnte, was nun erscheinen werde, glaubst du, es werde ihn danach noch groß verlangen und er werde die bei jenen Geehrten und Machthabenden beneiden? Oder wird ihm das Homerische begegnen und er viel lieber wollen das Feld als Tagelöhner bestellen einem dürftigen Mann und lieber alles über sich ergehen lassen, als wieder solche Vorstellungen zu haben wie dort und so zu leben? – So, sagte er, denke ich, wird er sich alles eher gefallen lassen, als so zu leben. – Auch das bedenke noch, sprach ich. Wenn ein solcher nun wieder hinunterstiege und sich auf denselben Schemel setzte: würden ihm die Augen nicht ganz voll Dunkelheit sein, da er so plötzlich von der Sonne herkommt? – Ganz gewiß. – Und wenn er wieder in der Begutachtung jener Schatten wetteifern sollte mit denen, die immer dort gefangen gewesen, während es ihm noch vor den Augen flimmert, ehe er sie wieder dazu einrichtet, und das möchte keine kleine Zeit seines Aufenthalts dauern, würde man ihn nicht auslachen und von ihm sagen, er sei mit verdorbenen Augen von oben zurückgekommen und es lohne nicht, daß man versuche hinaufzukommen; sondern man müsse jeden, der sie lösen und hinaufbringen wollte, wenn man seiner nur habhaft werden und ihn umbringen könnte, auch wirklich umbringen? – So sprächen sie ganz gewiß, sagte er. – Dieses ganze Bild nun, sagte ich, lieber Glaukon, mußt du mit dem früher Gesagten verbinden, die durch das Gesicht uns erscheinende Region der Wohnung im Gefängnisse gleichsetzen und den Schein von dem Feuer darin der Kraft der Sonne; und wenn du nun das Hinaufsteigen und die Beschauung der oberen Dinge setzt als den Aufschwung der Seele in die Region der Erkenntnis, so wird dir nicht entgehen, was mein Glaube ist, da du doch dieses zu wissen begehrst. Gott mag wissen, ob er richtig ist; was ich wenigstens sehe, das sehe ich so, daß zuletzt unter allem Erkennbaren und nur mit Mühe die Idee des Guten erblickt wird, wenn man sie aber erblickt hat, sie auch gleich dafür anerkannt wird, daß sie für alle die Ursache alles Richtigen und Schönen ist, im Sichtbaren das Licht und die Sonne, von der dieses abhängt, erzeugend, im Erkennbaren aber sie allein als Herrscherin Wahrheit und Vernunft hervorbringend, und 21 https://doi.org/10.5771/9783495861011 .
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daß also diese sehen muß, wer vernünftig handeln will, sei es nun in eigenen oder in öffentlichen Angelegenheiten. – Auch ich, sprach er, teile die Meinung, so gut ich eben kann. – Komm denn, sprach ich, teile auch diese mit mir und wundere dich nicht, wenn diejenigen, die bis hierher gekommen sind, nicht Lust haben, menschliche Dinge zu betreiben, sondern ihre Seelen immer nach dem Aufenthalt oben trachten; denn es ist ja natürlich, wenn sich dies nach dem vorher aufgestellten Bilde verhält. – Natürlich freilich, sagte er. – Und wie? Kommt dir das wunderbar vor, fuhr ich fort, daß, von göttlichen Anschauungen unter das menschliche Elend versetzt, einer sich übel gebärdet und gar lächerlich erscheint, wenn er, solange er noch trübe sieht und ehe er sich an die dortige Finsternis hinreichend gewöhnt hat, schon genötigt wird, vor Gericht oder anderwärts zu streiten über die Schatten des Gerechten oder die Bilder, zu denen sie gehören, und dieses auszufechten, wie es sich die etwa vorstellen, welche die Gerechtigkeit selbst niemals gesehen haben? – Nicht im mindesten zu verwundern! sagte er. – Sondern, wenn einer Vernunft hätte, fuhr ich fort, so würde er bedenken, daß durch zweierlei und auf zwiefache Weise das Gesicht gestört sein kann, wenn man aus dem Licht in die Dunkelheit versetzt wird, und wenn aus der Dunkelheit in das Licht. Und ebenso, würde er denken, gehe es auch mit der Seele, und würde, wenn er eine verwirrt findet und unfähig zu sehen, nicht unüberlegt lachen, sondern erst zusehen, ob sie wohl von einem lichtvolleren Leben herkommend aus Ungewohnheit verfinstert ist oder ob sie, aus größerem Unverstande ins Hellere gekommen, durch die Fülle des Glanzes geblendet wird; und so würde er dann die eine wegen ihres Zustandes und ihrer Lebensweise glücklich preisen, die andere aber bedauern; oder, wenn er über diese lachen wollte, wäre sein Lachen nicht so lächerlich als das über die, welche von oben her aus dem Lichte kommt. – Sehr richtig gesprochen, sagte er. – Wir müssen daher, sprach ich, so hierüber denken, wenn das Bisherige richtig ist, daß die Unterweisung (Paideia) nicht das sei, wofür einige sich vermessen sie auszugeben. Nämlich sie behaupten, wenn keine Erkenntnis in der Seele sei, könnten sie sie ihr einsetzen, wie wenn sie blinden Augen ein Gesicht einsetzten. – Das behaupten sie freilich, sagte er. – Die jetzige Rede aber, sprach ich, deutet an, daß dieses der Seele eines jeden einwohnende Vermögen und das Organ, womit jeder begreift, wie das Auge, nicht anders als mit dem gesamten Leibe zugleich sich aus dem Finstern ins Helle wenden konnte, so auch dieses nur mit der gesamten Seele zugleich von dem 22 https://doi.org/10.5771/9783495861011 .
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Werdenden abgeführt werden muß, bis es das Anschauen des Seienden und des glänzendsten unter den Seienden aushalten lernt. Dieses aber, sagten wir, sei das Gute; nicht wahr? – Ja. – Hiervon nun eben, sprach ich, mag sie wohl die Kunst sein, die Kunst der Umlenkung, auf welche Weise wohl am leichtesten und wirksamsten dieses Vermögen kann umgewendet werden, nicht die Kunst, ihm das Sehen erst einzubilden, sondern als ob es dies schon habe und nur nicht recht gestellt sei und nicht sehe, wohin es solle, ihm dieses zu erleichtern. – Das leuchtet ein, sagte er. – Die anderen Tugenden der Seele nun, wie man sie zu nennen pflegt, mögen wohl sehr nahe liegen denen des Leibes; denn in der Wirklichkeit früher nicht vorhanden, scheinen sie erst hernach angebildet zu werden durch Gewöhnungen und Übung; die des Erkennens aber mag wohl vielmehr einem göttlicheren angehören, wie es scheint, welches seine Kraft niemals verliert, nur aber durch Lenkung nützlich und heilbringend oder auch unnütz und verderblich wird. Oder hast du noch nicht auf die geachtet, die man böse aber klug nennt, wie scharf ihr Seelchen sieht und wie genau es dasjenige erkennt, worauf es sich richtet, daß es also kein schlechtes Gesicht hat, aber dem Bösen dienen muß und daher, je schärfer es sieht, um desto mehr Böses tut. – Allerdings, sagte er. – Ebendieses indes an einer solchen Natur, wenn sie von Kindheit an gehörig beschnitten und das dem Werden oder der Zeitlichkeit Verwandte ihr ausgeschnitten worden wäre, was sich wie Bleikugeln an die Gaumenlust und andere Lüste und Weichlichkeiten anhängt und das Gesicht der Seele nach unten wendet, würde dann, hiervon befreit, sich zu dem Wahren hinwenden und dann bei denselbigen Menschen auch dieses auf das schärfste sehen, eben wie das, dem es jetzt zugewendet ist. – Natürlich, sagte er. – Und wie, sprach ich, ist nicht auch dies natürlich und nach dem bisher Gesagten notwendig, daß weder die Ungebildeten und der Wahrheit Unkundigen dem Staat gehörig vorstehen werden, noch auch die, welche man sich immerwährend mit den Wissenschaften beschäftigen läßt? Die einen, weil sie nicht einen Zweck im Leben haben, auf welchen zielend sie alles täten, was sie tun für sich und öffentlich; die andern, weil sie gutwillig gar nicht Geschäfte werden betreiben wollen, in der Meinung, daß sie noch immer auf den Inseln der Seligen leben und also abwesend sind. – Richtig, sagte er. – Uns also, als den Gründern der Stadt, sprach ich, obliegt es, die trefflichsten Naturen unter unsern Bewohnern zu nötigen, daß sie zu jener Kenntnis zu gelangen suchen, welche wir im vorigen als die größte aufstellten, nämlich das Gute zu sehen und die 23 https://doi.org/10.5771/9783495861011 .
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Reise aufwärts dahin anzutreten; aber wenn sie dort oben zur Genüge geschaut haben, darf man ihnen nicht erlauben, was ihnen jetzt erlaubt wird. – Welches meinst du? – Dortzubleiben, sprach ich, und nicht wieder zurückkehren zu wollen zu jenen Gefangenen, noch Anteil zu nehmen an ihren Mühseligkeiten und Ehrenbezeigungen, mögen diese nun geringfügig sein oder bedeutend. – Also, sagte er, wollen wir ihnen Unrecht zufügen und schuld daran sein, daß sie schlechter leben, da sie es besser könnten? – Du hast wieder vergessen, Freund, sprach ich, daß der Gesetzgeber sich nicht dieses angelegen sein läßt, daß ein Geschlecht im Staat sich ausgezeichnet wohl befinde, sondern daß er im ganzen Staate Wohlsein muß hervorzubringen suchen, indem er die Bürger ineinanderfügt und sie teils überredet, teils nötigt, einander mitzuteilen von dem Nutzen, den jeder dem gemeinen Wesen leisten kann, und indem er Männer dieser Art dem Staate selbst zuzieht, nicht um sie hernach gehenzulassen, wohin jeder will, sondern um sich selbst ihrer für den Verein des Staates zu bedienen. – Richtig, sagte er; das hatte ich freilich vergessen. – Betrachte nun, o Glaukon, fuhr ich fort, daß wir den bei uns sich bildenden Philosophen kein Unrecht tun werden, sondern ganz Gerechtes gegen sie aussprechen, wenn wir ihnen zumuten, für die andern Sorge zu tragen und sie in Obhut zu halten. Wir werden ihnen nämlich sagen, daß die in andern Staaten Philosophen werden, billigerweise an den Arbeiten in denselben keinen Teil nehmen; denn sie bilden sich zu solchen von freien Stücken wider Willen der jedesmaligen Verfassung, und das sei ganz billig, daß, was von selbst gewachsen ist, da es niemanden für seine Kost verpflichtet ist, auch nicht Lust hat, jemanden Kostgeld zu bezahlen. Euch aber haben wir zu eurem und des übrigen Staates Besten wie in den Bienenstöcken die Weisel (16) und Könige erzogen und besser und vollständiger als die übrigen ausgebildet, so daß ihr tüchtiger seid, an beidem teilzunehmen. Ihr müßt also nun wieder herabsteigen jeder in seiner Ordnung zu der Wohnung der übrigen und euch mit ihnen gewöhnen, das Dunkle zu schauen. Denn gewöhnt ihr euch hinein, so werdet ihr tausendmal besser als die dortigen sehen und jedes Schattenbild erkennen, was es ist und wovon, weil ihr das Schöne, Gute und Gerechte selbst in der Wahrheit gesehen habt. Und so wird uns und euch der Staat wachend verwaltet werden und nicht träumend, wie jetzt die meisten von solchen verwaltet werden, welche Schattengefecht miteinander treiben (16)
Ameisen- oder Bienenköniginnen.
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und sich entzweien um die Obergewalt, als ob sie ein gar großes Gut wäre. Das Wahre daran ist aber dieses: der Staat, in welchem die zur Regierung Berufenen am wenigsten Lust haben zu regieren, wird notwendig am besten und ruhigsten verwaltet werden, der aber entgegengesetzte Regenten bekommen hat, auch entgegengesetzt. – Ganz gewiß, sagte er. – Meinst du nun, daß unsere Zöglinge uns ungehorsam sein werden, wenn sie dies hören, und sich nicht jeder an seinem Teil im Staate werden mitplagen wollen, die übrige viele Zeit aber miteinander im Reinen wohnen? – Unmöglich! antwortete er; denn nur Gerechtes fordern wir ja von Gerechten. Auf alle Weise jedoch werden sie nur recht, wie zu etwas Notwendigem, jeder zu seiner Amtsführung gehen, ganz das Gegenteil von denen, die jetzt in den Staaten regieren. – Denn so verhält es sich, Freund, sprach ich. Wenn du denen, welche regieren sollen, eine Lebensweise ausfindest, welche besser ist als das Regieren, dann kannst du es dahin bringen, daß der Staat wohl verwaltet werde; denn in einem solchen allein werden die wahrhaft Reichen regieren, die es nicht an Golde sind, sondern woran der Glückselige reich sein soll, an tüchtigem und vernunftmäßigem Leben. Wenn aber Hungerleider und Arme an eigenem Gut an die öffentlichen Angelegenheiten gehen, in der Meinung, von dort her Gutes an sich reißen zu müssen: so geht es nicht. Denn wird die Verwaltung etwas, worum man sich reißt und schlägt: so muß ein solcher einheimischer und innerer Krieg die Kriegführenden selbst und den übrigen Staat verderben. –Vollkommen richtig, sagte er. – Kennst du nun, sprach ich, eine andere Lebensweise, welche aus der bürgerlichen Gewalt wenig macht, als die der echten Philosophie? – Keine, beim Zeus, sprach er. – Nun aber sollen ja nicht Liebhaber des Regierens dazu gelangen, weil sie sonst als Mitbewerber darum streiten werden. – Freilich. – Welche anderen also willst du nötigen, mit der Fürsorge für den Staat sich zu befassen, als welche sowohl dessen am kundigsten sind, wodurch ein Staat gut verwaltet wird, als auch welche zugleich andere Belohnungen kennen und eine andere Lebensweise als die staatsmännische? – Keine anderen, sagte er. – Willst du also, daß wir nun schon dieses überlegen, auf welche Weise wir zu solchen gelangen, und wie man sie ans Licht heraufbringt nach Art einiger, von denen erzählt wird, sie seien aus der Unterwelt zu den Göttern hinaufgestiegen? – Wie sollte ich nicht wollen! sagte er. – Das ist nun freilich, scheint es, nicht wie sich eine Scherbe umwendet, sondern es ist eine Umlenkung der Seele, welche aus einem gleichsam nächtlichen Tage zu dem wahren Tage des Seienden jene 25 https://doi.org/10.5771/9783495861011 .
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Auffahrt antritt, welche wir eben die wahre Philosophie nennen wollen. – Allerdings. – Also müssen wir sehen, welche unter allen Kenntnissen eine solche Kraft habe? – Wie sollten wir nicht! – Welche Wissenschaft, o Glaukon, könnte wohl ein solcher Zug sein für die Seele von dem Werdenden zu dem Seienden? Dieses aber fällt mir eben noch ein, indem ich rede: sagten wir nicht, unsere Herrscher müßten notwendig in ihrer Jugend wackre Kriegskämpfer sein? – Das sagten wir. – Also muß ja wohl die Wissenschaft, die wir suchen, auch dieses noch dazu haben außer jenem. – Was denn? – Kriegerischen Männern nicht unbrauchbar zu sein. – Das muß sie, wenn es angeht. – In der Gymnastik (17) und Musik aber sind sie uns ja zuvor schon unterwiesen worden. – So war es, sagte er. – Und die Gymnastik hat es doch ganz mit einem Werdenden und Vergänglichen zu tun, denn sie führt Aufsicht über Wachstum und Verfall des Leibes. – Offenbar. – Diese also wäre nicht die gesuchte Wissenschaft. – Freilich nicht. – Aber etwa die Musik, wie wir sie früher beschrieben haben? – Aber die wir ja, sagte er, ein Gegenstück zur Gymnastik, wenn du dich erinnerst. Sie erzog durch Gewöhnungen unsere Wächter mittels des Wohlklanges eine gewisse Wohlgestimmtheit nicht Wissenschaft ihnen einflößend, und mittels des Zeitmaßes die Wohlgemessenheit, woneben sie in Reden noch anderes diesem Ähnliches hatte, mochten es nun die fabelhafteren sein oder die der Wahrheit verwandteren; eine Wissenschaft aber, die zu demjenigen gut ist, was du jetzt suchst, war wohl gar nicht in ihr. – Auf das genaueste, sprach ich, bringst du mir es in Erinnerung. Denn dergleichen hatte sie in der Tat nicht. Aber, bester Glaukon, wo wäre nun eine solche? Die Künste dünkten uns doch insgesamt unedel zu sein? – Freilich. – Und was also für eine andere Kenntnis bleibt uns noch übrig, wenn Musik, Gymnastik und Gewerbskünste ausgeschlossen sind? Wohl, sagte ich, wenn wir außer diesen nichts mehr finden können: so laß uns etwas von dem nehmen, was sich auf sie aller bezieht. – Was doch? – Wie jenes gemeine, dessen alle Künste und Verständnisse und Wissenschaften noch dazu bedürfen, was auch jeder mit zuerst lernen muß. – Was denn? sagte er. – Jenes Schlichte, sprach ich, die eins und zwei und drei zu verstehen; ich nenne es aber, um es kurz zusammenzufassen, Zahl und Rechnung. Oder ist es damit nicht so, daß jegliche Kunst und Wis(17) Die Gymnastik (gr. gymnastiké [téchne¯]: »üben«, »schulen«, daher auch »Gymnasium«) ist die Kunst der Leibesübungen, die so genannt werden, weil derartige Übungen bei den Griechen nackt (»gymnós«) ausgeführt wurden.
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senschaft daran teilnehmen muß? – Gar sehr, sagte er. – Nicht auch, sprach ich, die Kriegskunst? – Diese nun ganz notwendig, sagte er. – Wenigstens, sagte ich, den Agamemnon (18) stellt doch in den Tragödien Palamedes (19) überall als einen ganz lächerlichen Feldherrn dar. Oder besinnst du dich nicht, daß er sagt, nachdem er die Zahl ausgemittelt, habe er die Ordnungen dem Heer eingerichtet vor Ilion (20) und die Schiffe und alles andere gezählt, als ob sie vorher wären ungezählt gewesen wären, und Agamemnon, wie es scheint, nicht einmal gewußt habe, wieviel Füße er hatte, wenn er ja nicht zählen konnte. Und was für ein Feldherr muß er also wohl gewesen sein? – Ein gar abgeschmackter, sagte er, wenn das wahr ist. – Wollen wir also nicht festsetzen, daß für einen Kriegsmann zählen und rechnen können eine notwendige Kenntnis sei? – Diese wohl vorzüglich, sagte er, wenn er nur etwas von den Aufstellungen verstehen, ja wenn er nur ein Mensch sein soll. – Denkst du nun, sprach ich, über diese Kenntnis eben das was ich? – Was denn? – Sie mag wohl zu dem auf die Vernunfteinsicht Führenden, was wir suchen, ihrer Natur nach gehören, niemand aber sich ihrer recht als eines auf alle Weise zum Sein Beziehenden bedienen. – Wie, sagte er, meinst du das? – Ich will versuchen, sprach ich, deutlich zu machen, wie es mir vorkommt. Wie ich aber bei mir selbst unterscheide, was ein Leitmittel zu dem ist, wovon wir reden, und was nicht, das betrachte zuerst mit mir und stimme dann bei oder stimme ab, damit wir auch dieses deutlicher sehen, ob es ist, wie mir ahnt. – Zeige es nur, sagte er. – Ich zeige dir also, sprach ich, wenn du es siehst, in den Wahrnehmungen einiges, was gar nicht die Vernunft zur Betrachtung auffordert, als werde es schon hinreichend durch die Wahrnehmung bestimmt, anderes hingegen, was auf alle Weise jene herbeiruft zur Betrachtung, als ob dabei die Wahrnehmung nichts Gesundes ausrichte. – Offenbar, sagte er, meinst du, was sich nur von ferne zeigt und was nach Licht und Schatten gezeichnet ist. – Diesmal, sprach ich, hast du nicht so recht getroffen, was ich meine. – Was also, sagte er, meinst du denn? – Nicht auffordernd, sprach ich, ist das, was nicht in eine entgegengesetzte Wahrnehmung zugleich ausschlägt; (18)
Agamemnon war der griechischen Mythologie nach König von Mykene, Oberbefehlshaber der griechischen Fürsten gegen Troja. (19) Palamedes ist ein griechischer Sagenheld, der aus dem trojanischen Krieg und als sagenhafter Erfinder bekannt ist. Er taucht nicht in den Schriften Homers auf, jedoch in (verlorenen) Tragödien des Aischylos. (20) Ilion ist ein alternativer altgriechischer Name für die Stadt Troja (vgl. Homer: Ilias).
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was aber dazu ausschlägt, setze ich als auffordernd, weil die Wahrnehmung nun dieses um nichts mehr als sein Gegenteil kundgibt, sie mag nun von nahem darauf zukommen oder von weitem. So wirst du aber wohl deutlicher sehen, was ich meine. Dies, sagen wir also, wären drei Finger, der kleinste und hier der andere und der mittlere. – Ja, sagte er. – Und denke, daß ich von ihnen als in der Nähe Gesehenen rede. Betrachte mir aber nun dieses an ihnen. – Was doch? – Ein Finger ist offenbar jeder von ihnen auf die gleiche Weise, und in sofern ist es ganz einerlei, ob man ihn in der Mitte sieht oder am Ende und ob er weiß ist oder schwarz, stark oder dünn, und was noch mehr dergleichen, denn durch alles dieses wird die Seele der meisten nicht aufgefordert, die Vernunft weiter zu fragen, was wohl ein Finger ist; denn nirgends hat ihnen derselbe Anblick gezeigt, daß ein Finger auch das Gegenteil von einem Finger ist. – Freilich nicht, sagte er. – Dies wäre also offenbar nicht die Vernunft auffordernd oder aufregend. – Offenbar nicht. – Wie aber ihre Größe und Kleinheit? Sieht auch sie das Gesicht hinreichend, und so, daß es ihm keinen Unterschied macht, ob einer in der Mitte liegt oder am Ende? Und erkennt ebenso Dicke und Dünnheit, Weichheit und Härte das Gefühl? Und zeigen nicht ebenfalls die andern Sinne dergleichen alles nur mangelhaft an? Oder geht es nicht jedem Sinne so, daß zuerst der über das Harte gesetzte Sinn auch über das Weiche muß gesetzt sein und der Seele wahrnehmend Hartes und Weiches als dasselbe meldet? – So ist es, sagte er. – Muß nun nicht hierbei die Seele zweifelhaft werden, als was ihr doch diese Wahrnehmung das Harte andeutet, wenn sie doch dasselbe weich nennt, und so auch die des Leichten und Schweren, als was doch leicht und schwer, wenn sie doch das Schwere als leicht und das Leichte als schwer kundgibt. – Freilich, sagte er, müssen diese Aussagen der Seele gar wunderlich erscheinen und näherer Betrachtung bedürftig. – Natürlich also versucht die Seele bei dergleichen zuerst, Überlegung und Vernunft herbeirufend, zu erwägen, ob jedes solche Angemeldete eins ist oder zwei. – Natürlich. – Und erscheint es als zwei, so ist doch jedes von beiden ein anderes und eines. – Ja. – Und wenn jedes von beiden eins ist und beide zwei, so erkennt sie doch zwei gesonderte, denn ungesondert würde sie nicht zwei erkennen, sondern eins. – Richtig. – Großes freilich und Kleines, sagten wir, sah auch das Gesicht, aber nicht gesondert, sondern als ein Vermischtes. Nicht wahr? – Ja. Um aber dieses deutlich zu machen, ward die Vernunft genötigt, ebenfalls Großes und Kleines zu sehen, nicht vermischt sondern getrennt, also auf entgegen28 https://doi.org/10.5771/9783495861011 .
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gesetzte Weise wie jenes. – Richtig. – Und nicht wahr, von daher fiel es uns zuerst ein, danach zu fragen, was wohl recht das Große und Kleine ist? – Allerdings. – Und so nannten wir dann das eine das Erkennbare, das andere das Sichtbare. – Ganz richtig, sagte er. – Dieses nun wollte ich auch jetzt sagen, daß einiges auffordernd für die Vernunft ist, anderes nicht; was nämlich in die Sinne fällt zugleich mit seinem Gegenteil, als auffordernd ansetzend, was aber nicht, als nicht erregend für die Vernunft. – Jetzt verstehe ich es schon, sagte er, und es dünkt mich auch so. – Wie nun? Die Zahl und die Einheit, zu welchem von beiden scheinen sie dir zu gehören? – Ich weiß nicht, sagte er. – Berechne es nur, sprach ich, nach dem Vorhergesagten. Denn wenn die Einheit deutlich genug an und für sich gesehen oder von sonst einem Sinne ergriffen wird: so könnte sie dann keine Hinleitung sein zum Wesen, eben wie wir von dem Finger sagten. Wenn aber mit ihr zugleich immer irgendein Widerspiel von ihr gesehen wird, so daß kein Ding mehr eins zu sein scheint als auch das Gegenteil davon; dann wäre schon eine weitere Beurteilung nötig, und die Seele würde darüber bedenklich werden müssen und, den Gedanken in sich aufregend, untersuchen und weiter fragen, was doch die Einheit selbst ist. Und so gehörte dann die Beschäftigung mit der Einheit unter jene Leitenden und zur Beschauung des Seienden Hinlenkenden. – Eben dieses aber, sagte er, hat die Wahrnehmung, die es mit dem Eins zu tun hat, ganz besonders an sich. Denn wir sehen dasselbe Ding zugleich als eines und als unendlich vieles. – Wenn nun die Eins, sprach ich, so wird wohl die gesamte Zahl eben dieses an sich haben. – Allerdings. – Das Zählen aber und Rechnen hat es ganz und gar mit der Zahl zu tun. – Freilich. – Dies also zeigt sich als leitend zur Wahrheit. – Auf ganz vorzügliche Weise. – Und gehört also unter die Kenntnisse, die wir suchten. Denn dem Krieger ist es seiner Aufstellungen wegen notwendig, dieses zu verstehen; dem Philosophen aber, weil er sich dabei über das Sichtbare und das Werden erheben und das Wesen ergreifen muß, oder er ist doch nie der eigentliche Rechner. – So ist es, sagte er. – Unser Staatswächter aber ist ein Krieger und ein Philosoph. – Wie sollte er nicht! – So wäre denn die Kenntnis ganz geeignet, o Glaukon, sie gesetzlich einzuführen, und die, welche an dem Größten im Staate teilhaben sollen zu überreden, daß sie sich an die Rechenkunst geben und sich mit ihr beschäftigen, nicht auf gemeine Weise, sondern bis sie zur Anschauung der Natur der Zahlen gekommen sind durch die Vernunft selbst, nicht Kaufs und Verkaufs wegen wie Handelsleute und Krämer 29 https://doi.org/10.5771/9783495861011 .
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darüber nachsinnend, sondern zum Behuf des Krieges und wegen der Seele selbst und der Leichtigkeit ihrer Umkehr von dem Werden zum Sein und zur Wahrheit. – Sehr wohl gesprochen, sagte er. – Und nun, sprach ich, begreife ich auch, nachdem die Kenntnis des Rechnens so beschrieben ist, wie herrlich sie ist und uns vielfältig nützlich zu dem, was wir wollen, wenn einer sie des Wissens wegen betreibt und nicht etwa des Handels wegen. – Wieso? sagte er. – Dadurch ja, was wir eben sagten, wie sehr sie die Seele in die Höhe führt und sie nötigt, mit den Zahlen selbst sich zu beschäftigen, nimmer zufrieden, wenn einer ihr Zahlen, welche sichtbare und greifliche Körper haben, vorhält und darüber redet. Denn du weißt doch, die sich hierauf verstehen, wenn einer die Einheit selbst in Gedanken zerschneiden will, wie sie ihn auslachen und es nicht gelten lassen; sondern wenn du sie zerschneidest, vervielfältigen jene wieder, aus Furcht, daß die Einheit etwa nicht als Eins, sondern als viele Teile angesehen werde. – Ganz richtig, sagte er. – Was meinst du nun, Glaukon, wenn jemand sie fragte: Ihr Wunderlichen, von was für Zahlen redet ihr denn, in welchen die Einheit so ist, wie ihr sie wollt, jede ganz jeder gleich und nicht im mindesten verschieden, und keinen Teil in sich habend? Was, denkst du, würden sie antworten? – Ich denke dieses, daß sie von denen reden, welche man nur denken kann, unmöglich aber auf irgendeine andere Art handhaben. – Siehst du also, sprach ich, Lieber, wie notwendig diese Kenntnis uns in der Tat sein muß, da sie die Seele so offenbar nötigt, sich der Vernunft selbst zu bedienen zum Behuf der Wahrheit selbst? – Gar sehr freilich, sagte er, bewirke sie dieses. – Und wie? Hast du wohl dies schon bemerkt, wie die, welche von Natur Zahlenkünstler sind, auch in allen andern Kenntnissen sich schnell fassend zeigen, die von Natur Langsamen aber, wenn sie im Rechnen unterrichtet und geübt sind, sollten sie auch keinen andern Nutzen daraus ziehen, wenigstens darin alle gewinnen, daß sie in schneller Fassungskraft sich selbst übertreffen. – So ist es, sagte er. – Und gewiß auch, wie ich denke, wirst du nicht leicht vieles finden, was dem Lernenden und Übenden soviel Mühe machte als eben dieses. – Gewiß nicht. – Aus allen diesen Gründen also dürfen wir die Kenntnis nicht loslassen, sondern die edelsten Naturen müssen darin unterwiesen werden. – Ich stimme ein, sagte er. – Dies eine also, sprach ich, stehe uns fest. Das andere aber, was damit zusammenhängt, wollen wir auch sehn, ob uns das etwas nützt? – Welches? fragte er; oder meinst du die Meßkunst? – Eben diese, sprach ich. – Was nun an ihr auf das Kriegswesen Bezug hat, sagte er, so ist wohl offen30 https://doi.org/10.5771/9783495861011 .
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bar, daß dieses nützt. Denn um Lager abzustecken, feste Plätze einzunehmen, das Heer zusammenzuziehen oder auszudehnen und für alles, was die Richtung des Heeres in den Gefechten selbst und auf den Märschen betrifft, wird es einen großen Unterschied machen, ob einer ein Meßkünstler ist oder nicht. – Zu dem allen, sagte ich, ist freilich ein sehr kleiner Teil der Rechenkunst und der Meßkunst hinreichend; der größere und weiter vorschreitende Teil derselben aber, laß uns zusehen, ob der einen Bezug hat auf jenes, nämlich zu machen, daß die Idee des Guten leichter gesehen werde. Es trägt aber, sagten wir, alles dasjenige hierzu bei, was die Seele nötigt, sich nach jener Gegend hinzuwenden, wo das Seligste von allem Seienden sich befindet, welches eben sie auf jede Weise sehen soll. – Richtig gesprochen, sagte er. – Also wenn die Meßkunst uns nötigt, das Sein anzuschauen, so nützt sie; wenn das Werden, so nützt sie nicht. – Das behaupten wir freilich. – Und dieses, sprach ich, wird uns wohl niemand, wer nur ein weniges von Meßkunst versteht, bestreiten, daß diese Wissenschaft ganz anders ist als die, welche sie bearbeiten, darüber reden. – Wieso? – Sie reden nämlich gar lächerlich und notdürftig; denn es kommt heraus, als ob sie bei einer Handlung wären und als ob sie eines Geschäftes wegen ihren ganzen Vortrag machten, wenn sie quadrieren, eine Figur anfügen, hinzusetzen und was sie sonst für Ausdrücke haben; die ganze Sache aber wird bloß der Erkenntnis wegen betrieben. – Allerdings, sagte er. – Und ist nicht auch noch dies einzuräumen? – Was doch? – Daß wegen der Erkenntnis des immer Seienden, nicht des bald Entstehenden, bald Vergehenden? – Leicht einzuräumen, sagte er. Denn offenbar ist die Meßkunst die Kenntnis des immer Seienden. – Also, Bester, wäre sie auch eine Leitung der Seele zum Wesen hin und ein Bildungsmittel philosophischer Gesinnung, daß man nämlich oben richte, was wir jetzt gar nicht geziemend nach unten halten. – So sehr als möglich tut sie das. – So sehr als möglich müssen wir also, sprach ich, darauf halten, daß dir die Leute in deinem Schönstaate der Geometrie nicht unkundig seien. Und auch der Nebengewinn davon ist nicht unbedeutend. – Welcher? – Dessen du erwähntest in bezug auf den Krieg; ja auch bei allen andern Kenntnissen, um sie vollkommener aufzufassen, wird ein gewaltiger Unterschied sein zwischen denen, die sich mit Geometrie abgegeben haben und die nicht. – Ein gänzlicher, beim Zeus, sagte er. – Also diese zweite Kenntnis wollen wir unserer Jugend aufgeben. – Das wollen wir. – Und wie? Die Sternkunde etwa als die dritte? Oder meinst du nicht? – Ich gewiß, sagte er. Denn die Zeiten immer genauer zu 31 https://doi.org/10.5771/9783495861011 .
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bemerken, der Monate sowohl als der Jahre, ist nicht nur dem Ackerbau heilsam und der Schiffahrt, sondern auch der Kriegskunst nicht minder. – Wie anmutig du bist, sprach ich, daß du scheinst die Leute zu fürchten, sie möchten meinen, du wolltest unnütze Kenntnisse aufbringen. Das aber ist die Sache, nichts Geringes, jedoch schwer zu glauben, daß durch jede dieser Kenntnisse ein Sinn der Seele gereinigt wird und aufgeregt, der unter anderen Beschäftigungen verlorengeht und erblindet, obwohl an dessen Erhaltung mehr gelegen ist als an tausend Augen; denn durch ihn allein wird die Wahrheit gesehen. Die nun dieser Meinung auch sind, werden deine Rede, es ist nicht zu sagen wie, vortrefflich finden; die aber hiervon noch nichts irgend gemerkt haben, werden ganz natürlich glauben, daß du nichts sagst. Denn einen andern Nutzen, der der Rede wert wäre, sehen sie nicht dabei. So sieh nun lieber gleich, zu welchen von beiden du redest, oder ob du für keinen von beiden Teilen, sondern deiner selbst wegen vorzüglich die Sache untersuchst, nur aber auch niemandem mißgönnen willst, wer etwa noch einen Nutzen davon haben kann. – So, sprach er, will ich am liebsten, vorzüglich meiner selbst wegen, reden sowohl als auch fragen und antworten. – So lenke denn, sprach ich, wieder zurück. Denn nicht richtig haben wir jetzt eben das Nächste an der Meßkunde angegeben. – Wieso, fragte er. – Indem wir, sprach ich, nach der Fläche gleich den Körper in Bewegung nahmen, ohne ihn zuvor an und für sich betrachtet zu haben. Und es wäre doch recht, nach der zweiten Ausdehnung die dritte zu nehmen. Diese hat es aber zu tun mit der Ausdehnung des Würfels und mit allem, was Tiefe hat. – Richtig, sagte er. Aber dies, o Sokrates, scheint noch nicht gefunden zu sein. – Und zwar, sprach ich, aus doppelter Ursache; sowohl weil kein Staat den rechten Wert darauf legt, wird hierin nur wenig erforscht bei der Schwierigkeit der Sache, als auch bedürfen die Forschenden eines Anführers, ohne den sie nicht leicht etwas finden werden, und der wird sich zuerst schwerlich finden, und wenn er sich auch fände, würden ihm, wie die Sache jetzt steht, die, welche in diesen Dingen forschen, weil sie sich selbst zuviel dünken, nicht gehorchen. Wenn aber ein ganzer Staat sich an die Spitze stellte, der die Sache gehörig zu schätzen wüßte: so würden sowohl diese gehorchen als auch die Sache würde, wenn anhaltend und angestrengt gesucht, wohl ans Licht kommen müssen, wie sie sich verhält, da sie schon jetzt, wiewohl von den meisten gar nicht geachtet, sondern eher gehemmt, und von den Forschenden selbst, welche die rechte Einsicht nicht haben, wieweit sie nützlich ist, dennoch dem allen zum Trotz 32 https://doi.org/10.5771/9783495861011 .
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vermöge ihres innern Reizes gedeiht und man sich gar nicht wundern muß, daß sie ans Licht gekommen ist. – Anziehend, sagte er, ist sie freilich ganz besonders. Aber erkläre mir noch deutlicher, was du eben meintest. Die ganze Lehre von den Ebenen nanntest du doch Geometrie. – Ja, sprach ich. – Und dann zunächst ihr erst die Astronomie, darauf aber lenktest du um. – Eilfertig, sprach ich, alles recht schnell durchzunehmen, verspätete ich mich vielmehr. Denn da die Methode, die Tiefe oder das Körperliche zu finden das nächste war, übersprang ich diese, weil es mit der Untersuchung noch lächerlich steht, und nannte nächst der Meßkunde die Sternkunde, die es mit der Bewegung des Körperlichen zu tun hat. – Richtig gesprochen. – So wollen wir denn, sprach ich, die Sternkunde als die vierte setzen, als würde die jetzt ausgelassene sich schon einstellen, wenn nur ein Staat sich darum bekümmerte. – Natürlich! sagte er. Und was du mir eben tadeltest, o Sokrates, wegen der Sternkunde, daß ich sie auf gemeine Art gelobt, so will ich sie jetzt, so wie du sie auch treibst, loben. Denn das dünkt mich jedem deutlich, daß diese die Seele nötigt, nach oben zu sehen, und von dem Hiesigen dorthin führt. – Vielleicht, sprach ich, ist es jedem deutlich außer mir; denn mir scheint es nicht so. – Sondern wie? – Daß sie, wie sich jetzt die, welche sich zur Philosophie hinaufführen wollen, mit ihr beschäftigen, gerade unterwärts sehen macht. – Wie meinst du das? fragte er. – Gar vornehm, sprach ich, scheinst du mir die Kenntnis von dem, was droben ist, bei dir selbst zu bestimmen, was sie ist. Denn du wirst wohl auch, wenn einer Gemälde an der Decke betrachtet und hinaufgereckt etwas unterscheidet, glauben, daß der mit der Vernunft betrachtet und nicht mit den Augen. Vielleicht nun ist deine Ansicht die rechte, meine aber einfältig. Denn ich kann wieder nicht glauben, daß irgendeine andere Kenntnis die Seele nach oben schauen mache als die des Seienden und Unsichtbaren, und wenn einer nach oben gereckt oder nach unten blinzelnd nur irgend Wahrnehmbares zu lernen trachtet: so leugne ich sogar, daß er etwas lerne, weil es von nichts dergleichen eine Wissenschaft gibt, und behaupte, daß seine Seele aufwärts schaue, sondern nur unterwärts, und wenn er auch ganz auf dem Rükken liegend lernte zu Lande oder zu Wasser. – Da ist mir recht geschehen, sagte er, und wohlverdient hast du mich gescholten. Aber wie meinst du, müsse man die Sternkunde anders lernen, als jetzt geschieht, wenn sie mit Nutzen für das, was wir meinen, erlernt werden soll? – So, sprach ich, daß man diese Gebilde am Himmel, da sie doch im Sichtbaren gebildet sind, zwar für das beste und vollkommenste in 33 https://doi.org/10.5771/9783495861011 .
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dieser Art halte, aber doch weit hinter dem Wahrhaften zurückbleibend, in was für Bewegungen die Geschwindigkeit, welche ist, und die Langsamkeit, welche ist, sich nach der wahrhaften Zahl und allen wahrhaften Figuren gegeneinander bewegen und was darin ist forttreiben, welches alles nur mit der Vernunft zu fassen ist, mit dem Gesicht aber nicht. Oder meinst du etwa? – Keineswegs wohl. – Also, sprach ich, jene bunte Arbeit am Himmel muß man nur als Beispiele gebrauchen, um jenes nämlich zu erlernen, wie wenn einer auf des Daidalos (21) oder eines andern Künstlers oder Malers vortrefflich gezeichnete und fleißig ausgearbeitete Vorzeichnungen trifft. Denn wenn einer, der sich auf Meßkunde versteht, diese sieht, so wird er wohl finden, daß sie vortrefflich gearbeitet sind, aber es doch lächerlich sei, diese im Ernst darauf anzusehen, als ob man darin das Wesen des gleichen oder doppelten oder irgendeines anderen Verhältnisses fassen könnte. – Wie sollte das nicht lächerlich sein! sagte er. – Meinst du nun nicht, sprach ich, es werde dem wahrhaft Sternkundigen ebenso ergehen, wenn er die Bewegungen der Gestirne betrachtet? Er werde zwar glauben so vortrefflich als nur immer dergleichen Werke zusammengesetzt sein können, sei gewiß von dem Bildner des Himmels dieser und was in ihm ist auch zusammengesetzt; aber das Verhältnis der Nacht zum Tage und dieser zum Monat und des Monates zum Jahr und der andern Gestirne zu diesen und unter sich, meinst du nicht er werde den für ungereimt halten, welcher behauptet, diese erfolgen immer auf die gleiche Weise, ohne je um das mindeste abzuweichen, da sie doch Körper haben und sichtbar sind, und man müsse auf jede Weise versuchen, an ihnen das Wesen zu erfassen? – Das dünkt mich nun auch, sprach er, da ich dich höre. – Also, sprach ich, um uns der Aufgaben zu bedienen, welche sie darbietet, wollen wir wie die Meßkunde so auch die Sternkunde herbeiholen, was aber am Himmel ist lassen, wenn es uns anders darum zu tun ist, wahrhaft der Sternkunde uns befleißigend das von Natur Vernünftige in unserer Seele aus Unbrauchbarem brauchbar zu machen. – Da gibst du vielmal mehr zu tun als jetzt bei der Sternenkunde geschieht. – Und ich denke wohl, sagte ich, wir werden es mit (21) Daidalos (lat. Daedalus) ist eine Figur der griechischen Mythologie um den kretischen König Minos. Dort ist er ein athenischer oder attischer Erfinder, Baumeister, Künstler und Handwerker. In Gefangenschaft schuf Daidalos aus Federn von Vögeln und dem Wachs der Kerzen Flügel für sich und seinen Sohn Ikaros und flog mit ihm davon. Ungeachtet der Warnungen seines Vaters stieg Ikaros zu hoch und kam dem Sonnenwagen zu nahe. Das Wachs schmolz, und er stürzte in das Meer, das deshalb Ikarisches Meer heißt.
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allem andern ebenso einrichten müssen, wenn wir als Gesetzgeber etwas nütze sein wollen. – Aber was hast du nun noch in Erinnerung zu bringen von hierher gehörigen Kenntnissen? – Nichts jetzt sogleich, sagte er. – Aber die Bewegung selbst, sprach ich, stellt uns nicht eine, sondern mehrere Arten dar; sie nun insgesamt mag ein Sachkundiger auszuführen wissen, die aber auch uns gleich auffallen, deren sind zwei. – Was für welche? – Es scheinen ja, sprach ich, wie für die Sternkunde die Augen gemacht sind, so für die harmonische Bewegung die Ohren gemacht, und dieses zwei verschwisterte Wissenschaften zu sein, wie die Pythagoreer (22) behaupten und wir zugeben, oder wie sonst tun? – Zugeben. – Also, sprach ich, weil das eine weitläufige Sache ist, wollen wir nur von jenen vernehmen, was sie darüber sagen, und ob noch etwas anderes zu diesem; wir aber wollen außer dem allen das unsrige wohl in acht nehmen. – Was doch? – Daß nicht unseren Zöglingen einfalle etwas hiervon unvollständig zu lernen, so daß es nicht jedesmal dahin ausgeht, worauf alles führen soll, wie wir eben von der Sternkunde sagten. Oder weißt du nicht, daß sie es mit der Harmonie ebenso machen? Wenn sie nämlich die wirklich gehörten Akkorde und Töne gegeneinander messen, mühen sie sich eben wie die Sternkundigen mit etwas ab, womit sie nicht zustande kommen. – Bei den Göttern, sagte er, und gar lächerlich halten sie bei ihren sogenannten Heranstimmungen das Ohr hin, als ob sie den Ton von seinem Nachbar ablauschen wollten, da denn einige behaupten, sie hätten noch einen Unterschied des Tones, und dies sei das kleinste Intervall, nach welchem man messen müsse, andere aber leugnen es und sagen, sie klängen nun schon ganz gleich, beide aber halten das Ohr höher als die Vernunft. – Du, sprach ich, meinst jene Guten, welche die Saiten ängstigen und quälen und auf den Wirbeln spannen (23). Damit aber die Erzählung nicht zu lang werde, will ich dir die Schläge mit dem Hammer und das Ansprechen und Versagen und die Sprödigkeit der Saiten, diese ganze Geschichte will ich dir schenken und leugne, daß diese Leute etwas von der Sache sagen, sondern vielmehr jene, von denen wir eben sagten, wir wollten sie der Harmonie wegen befragen. Denn (22)
Als Pythagoreer bezeichnet man die Angehörigen einer religiös-philosophischen Schule, die der Grieche Pythagoras um 530 v. Chr. in Unteritalien gründete und die nach seinem Tod noch einige Jahrzehnte fortbestand. (23) Bereits im alten Griechenland spielten Musiker auf mit Saiten bespannten Schallkörpern, zum Beispiel auf der Kithara oder der Lyra. Das Herstellen von Darmsaiten hat eine jahrtausendealte Tradition, die von der Herstellung von Bogensehnen herrührt.
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diese hier machen es ebenso wie jene Astronomen, nämlich sie suchen in diesen wirklich gehörten Akkorden die Zahlen, aber sie steigen nicht zu Aufgaben, um zu suchen welches harmonische Zahlen sind und welches nicht, und weshalb beides. – Das ist auch, sagte er, eine gar wunderliche Sache. – Sehr nützlich allerdings, sprach ich, für die Auffindung des Guten und Schönen, wenn man sie aber auf andere Weise betreibt, ganz unnütz. – Wahrscheinlich wohl, sagte er. – Ich meinesteils denke, fuhr ich fort, wenn die Bearbeitung der Gegenstände, die wir bis jetzt durchgegangen sind, auf deren Gemeinschaft unter sich und Verwandtschaft gerichtet ist und sie zusammengebracht werden wie sie zusammengehören, so kann diese Beschäftigung schon etwas beitragen zu dem, was wir wollen, und ist dann keine unnütze Mühe; wenn aber nicht, so ist sie unnütz. – So ahnt auch mir, sagte er, aber das ist ein gar großes Werk, o Sokrates. – Schon das Vorspiel, sprach ich, oder was meinst du? Oder wissen wir nicht, daß alles dies nur das Vorspiel ist zu der Melodie, welche eigentlich soll erlernt werden? Denn du meinst doch nicht, daß die in diesen Dingen stark sind, schon die Dialektiker sind? – Nein, beim Zeus, außer nur gar wenige von denen, die mir bekannt geworden. – Aber auch das doch nicht, daß solche, die nicht einmal vermögen, irgend Rede zu stehen oder zu fordern, irgend etwas wissen werden von dem, was man, wie wir sagen, wissen muß? – Auch das gewiß nicht, sagte er. – Also dieses, o Glaukon, ist nun wohl die Melodie oder der Satz selbst, was die Dialektik ausführt? Von dem auch, wie er nur mit dem Gedanken gefaßt wird, jenes Vermögen des Gesichts ein Abbild ist, von welchem wir sagten, daß es bestrebt sei auf die Tiere selbst zu schauen und auf die Gestirne selbst, ja zuletzt auch auf die Sonne selbst. So auch wenn einer unternimmt Rede zu geben, der zielt ohne alle Wahrnehmung nur mittels des Wortes und Gedankens auf das selbst, was jedes ist; und wenn er nicht eher abläßt, bis er, was das Gute selbst ist, mit der Erkenntnis gefaßt hat, dann ist er an dem Ziel alles Erkennbaren, wie jener dort am Ziel alles Sichtbaren. – Auf alle Weise. – Und diesen Weg nennst du den nicht den dialektischen? – Wie sonst? – Die Lösung aber von den Banden und die Umwendung von den Schatten zu den Bildern selbst und zum Licht, und das Hinaufsteigen aus dem unterirdischen Aufenthalt an den Tag und dort auf die Tiere und Pflanzen selbst zwar und auf das Licht der Sonne nur mit Unvermögen hinschauen, wohl aber auf deren Abbilder im Wasser, hier aber auf göttliche Abbilder und Schatten des Seienden nicht der Bilder Schatten, welche durch ein anderes in Vergleich mit 36 https://doi.org/10.5771/9783495861011 .
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der Sonne ebensolches Licht abgeschattet wären; das ist die Kraft, welche die gesamte Beschäftigung mit den Künsten besitzt, welche wir durchgenommen haben; und solche Anleitung gewähren sie dem Besten in der Seele zum Anschauen des Trefflichsten unter dem Seienden wie dort dem Untrüglichsten am Leibe zu der des Glänzendsten in dem körperlichen und sichtbaren Gebiet. – Ich, sprach er, nehme es so an; wiewohl es mir gar schwer scheint, es anzunehmen, dann aber auch wieder schwer, es nicht anzunehmen. – Doch, denn man muß das ja nicht diesmal nur hören, sondern noch gar oft darauf zurückkommen, laß uns setzen, dies verhielte sich, wie eben gesagt wird, und laß uns nun zu dem Satz selbst gehen und ihn ebenso durchnehmen, wie wir das Vorspiel durchgenommen haben. Sprich daher, welches ist das eigentümliche Wesen der Dialektik, in was für Arten zerfällt sie, und welches sind die Wege zu ihr; denn diese wären es nun endlich, dünkt mich, die dahin führen, wo für den Angekommenen Ruhe ist vom Wege und Ende der Wanderschaft. – Du wirst nur, sprach ich, lieber Glaukon, nicht mehr imstande sein zu folgen! Denn an meiner Bereitwilligkeit soll es nicht liegen, und du sollst nicht mehr nur ein Bild dessen, wovon wir reden, sehen, sondern die Sache selbst, so gut sie sich mir wenigstens zeigt; ob nun richtig oder nicht, das darf ich nicht behaupten, aber daß es etwas solches gibt, muß behauptet werden. Nicht wahr? – Notwendig. – Nicht auch, daß allein die Kraft der Dialektik es dem zeigen kann, welcher der erwähnten Dinge kundig ist, sonst aber es nicht möglich ist? – Auch dies, sagte er, darf man behaupten. – Und dies wenigstens, sprach ich, wird uns wohl niemand bestreiten, wenn wir sagen, daß, was jegliches selbst sei, dies keine andere Wissenschaft sucht ordentlich von allem zu finden, sondern alle anderen Künste sich entweder auf der Menschen Vorstellungen und Begierden beziehen oder auch mit Hervorbringen und Zusammensetzen oder mit Pflege des Hervorgebrachten und Zusammengesetzten zu tun haben, die übrigen aber, denen wir zugaben, daß sie sich etwas mit dem Seienden befassen, die Meßkunde und was mit ihr zusammenhängt, sehen wir wohl, wie sie zwar träumen von dem Seienden, ordentlich wachend, aber es wirklich zu erkennen nicht vermögen, solange sie, Annahmen voraussetzend, diese unbeweglich lassen, indem sie keine Rechenschaft davon geben können. Denn wovon der Anfang ist, was man nicht weiß, Mitte und Ende also aus diesem, was man nicht weiß, zusammengeflochten sind, wie soll wohl, was auf solche Weise angenommen wird, jemals eine Wissenschaft sein können? – Keine gewiß! sagte er. 37 https://doi.org/10.5771/9783495861011 .
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– Nun aber, sprach ich, geht die dialektische Methode allein auf diese Art alle Voraussetzungen aufhebend, gerade zum Anfange selbst, damit dieser fest werde, und das in Wahrheit in barbarischen Schlamm vergrabene Auge der Seele zieht sie gelinde hervor und führt es aufwärts, wobei sie als Mitdienerinnen und Mitleiterinnen die angeführten Künste gebraucht, welche wir zwar mehrmals Wissenschaften genannt haben, der Gewohnheit gemäß, die aber eines andern Namens bedürfen, der mehr besagt als Meinung, aber dunkler ist als die Wissenschaft – wir haben sie aber schon früher irgendwo Verständnis genannt; indes, denke ich, müssen die nicht über die Wörter streiten, denen eine so große Untersuchung wie uns vorliegt. – Freilich nicht! sagte er, sondern wenn eines nur das bestimmt bezeichnet für den Vortrag, was man bei sich denkt. – Es beliebt uns also, sprach ich, wie zuvor die erste Abteilung Wissenschaft zu nennen, die zweite Verständnis, die dritte Glaube, die vierte Wahrscheinlichkeit; und diese beiden zusammengenommen Meinung, jene beiden aber Erkenntnis. Und Meinung hat es mit dem Werden zu tun, Erkenntnis mit dem Sein; und wie sich Sein und Werden verhält, so Erkenntnis zur Meinung, nämlich Wissenschaft zum Glauben und Verständnis zur Wahrscheinlichkeit. Das Verhältnis dessen aber, worauf sich diese beziehen, das Vorstellbare und Erkennbare, und die zweifache Teilung jedes von beiden wollen wir lassen, o Glaukon, um nicht in noch vielmal größere Untersuchungen zu geraten als die vorigen. – Mir meinesteils, sagte er, gefällt das übrige alles, soweit ich folgen kann, gleichfalls. – Nennst du nun auch den Dialektiker, der die Erklärung des Seins und Wesens eines jeden faßt? Und wer die nicht hat, wirst du nicht von dem, inwiefern er nicht imstande ist, sich und andern Rede zu stehen, insofern auch leugnen, er habe hiervon Erkenntnis? – Wie könnte ich es wohl behaupten? – Also auch ebenso mit dem Guten, wer nicht imstande ist, die Idee des Guten, von allem andern aussondernd durch Erklärung zu bestimmen, und wer nicht, wie im Gefecht durch alle Angriffe sich durchschlagend, sie nicht nach dem Schein, sondern nach dem Sein zu verfechten suchend, durch dies alles mit einer unüberwindlichen Erklärung durchkommt, von dem wirst du auch weder, daß er das Gute selbst erkenne, behaupten wollen, wenn es sich so mit ihm verhält, noch auch irgendein anderes Gute; sondern wenn er irgendein Bild davon trifft, daß er es durch Meinung nicht durch Wissenschaft treffe, und daß er dieses Leben verträumend und verschlummernd, ehe er hier erwacht ist, in die Unterwelt kommt und vollkommen in den tiefen Schlaf ver38 https://doi.org/10.5771/9783495861011 .
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sinkt. – Beim Zeus, sagte er, gar sehr werde ich das alles sagen. – Und deine eigenen Kinder, die du jetzt in unsrer Rede erziehst und bildest, wenn du die je in der Wirklichkeit erzögest, würdest du sie doch gewiß nicht lassen, wenn sie unvernünftig wären wie Figuren, den Staat regieren und das Wichtigste von ihnen abhängig machen? – Freilich nicht. – Sondern du wirst es ihnen zum Gesetz machen, derjenigen Bildung vorzüglich nachzustreben, durch welche sie instand gesetzt werden, soviel möglich als Wissende zu fragen und zu antworten. – Dies Gesetz werde ich allerdings geben mit dir. – Scheint dir nun nicht, sprach ich, die Dialektik recht wie der Sims über allen anderen Kenntnissen zu liegen und über diese keine andere Kenntnisse mehr mit Recht aufgesetzt werden zu können, sondern es mit den Kenntnissen hier ein Ende zu haben? – Mir wohl, sagte er. – Nun ist dir also noch die Verteilung übrig, sprach ich, wem wir diese Kenntnisse mitteilen wollen und auf welche Weise? – Offenbar, sagte er. – Erinnerst du dich nun noch unserer ersten Auswahl der Herrscher, was für welche wir ausgewählt haben? – Wie sollte ich nicht! sagte er. – Übrigens nämlich meintest du, müsse man jene tapferen Naturen auswählen; denn man müsse die Festesten und Tapfersten vorziehen und nach Vermögen die Wohlgestaltesten. Außerdem aber müssen wir nun noch suchen nicht nur edle und mutige von Gesinnung, sondern auch die für diesen Unterricht günstigen Anlagen müssen sie haben. – Und welche bezeichnest du als solche? – Scharfblick, o Bester, sprach ich, müssen sie mitbringen, und nicht schwer lernen. Denn viel eher noch wird die Seele mutlos bei schwierigen Kenntnissen als bei Leibesübungen. Denn die Anstrengung ist ihr eigentümlicher, weil sie ausschließend ist und sie sie nicht mit dem Körper teilt. – Richtig, sagte er. – Und einen von gutem Gedächtnis müssen wir suchen, der auch unermüdlich ist und außerordentlich arbeitslustig. Oder wie meinst du sonst werde einer jenes Körperliche alles durcharbeiten können und noch so große Aufgaben des Lernens und Nachdenkens vollenden? Keiner gewiß, sagte er, der nicht in jedem Sinne gut geartet ist. – Der jetzige Fehler wenigstens, sprach ich, und die Geringschätzung ist der Philosophie hieraus entstanden, daß man sich nicht gehörig mit ihr abgibt; denn nicht Unechte sollten es tun, sondern Echte. – Wie meinst du das? – Zuerst, sagte ich, muß einer an der Arbeitsamkeit nicht hinken, der sich mit ihr abgeben will, daß er halb arbeitslustig ist und halb träge. Und so ist es doch, wenn einer zwar die Leibesübungen liebt und die Jagd, und wo es auf den Leib ankommt, sich gern anstrengt, aber weder lernlustig ist 39 https://doi.org/10.5771/9783495861011 .
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noch hörlustig noch forschlustig, sondern in dem allen sich ungern anstrengt. Ebenso hinkt nun auch, wer seine Arbeitslust nur auf die entgegengesetzte Seite geworfen hat. – Vollkommen richtig. – Und werden wir nicht auch in bezug auf die Wahrheit eine Seele für verstümmelt halten müssen, welche das freiwillige Falsche zwar haßt, es nicht leidend an sich selbst, und wenn andere lügen in heftigen Unwillen geratend, das Unfreiwillige aber sich leicht gefallen läßt, und wenn man sie auf der Unwissenheit ertappt, nicht unwillig wird, sondern gar lustig nach Schweineart in der Dummheit herumsudelt? – Allerdings, sagte er. – Auch was Besonnenheit anbelangt und Tapferkeit und Großmut und alle Teile der Tugend muß man nicht weniger darauf achten, wer unecht ist und wer echt. Denn wer dergleichen nicht zu unterscheiden weiß, es sei ein einzelner oder ein Staat, der hat dann, ohne es zu wissen, Hinkende und Unechte, worin er nun eben auf solche treffe, jener zu Freunden, dieser zu Anführern. – Gar sehr, sagte er, verhält es sich so. – Wir aber müssen uns vor allem der Art gewaltig hüten, so daß, wenn wir nur Geradgliedrige und Geradsinnige zu so großen Unterweisungen und Übungen zulassen und ausbilden, die Gerechtigkeit selbst uns nicht wird tadeln können und wir den Staat und die Verfassung retten werden; bringen wir aber Ungeschickte dazu, so werden wir ganz das Gegenteil bewirken, und der Philosophie noch mehr Gelächter zuziehen. – Das wäre ja schmählich, sagte er. – Freilich, sprach ich. Aber Lächerliches scheint auch mir gegenwärtig begegnet zu sein. – Was doch? – Ich vergaß, daß wir scherzten, und habe die Rede zu scharf gespannt. Denn indem ich sprach, blickte ich zugleich auf die Philosophie, und da ich sie so unwürdig geschmäht sah, scheint mir, daß ich unwillig und ereifert über die Schuldigen zu ernst gesprochen habe was ich sprach. – Nein, beim Zeus, sagte er, für mich wenigstens als Zuhörer nicht. – Wohl aber für mich, sprach ich, als Redner. Das aber laß uns nicht vergessen, daß bei unserer ersten Wahl wir Alte gewählt haben, bei der jetzigen dies aber nicht angehen wird. Denn es ist dem Solon (24) nicht zu glauben, daß alternd einer noch viel zu lernen vermag, sondern noch weniger als zu laufen; vielmehr gehören alle großen und anhaltenden Anstrengungen der Jugend. – Notwendig, sagte er. – Was nun zum Rechnen und zur Meßkunde und zu allen Vorübungen gehört, die vor der Dialektik hergehen sollen, das müssen (24) Solon (ca. 640–560 v. Chr.), athenischer Staatsmann und Reformer; zu den sieben Weisen gezählt.
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wir ihnen als Knaben vorlegen, indem wir jedoch die Form der Belehrung nicht als einen Zwang zum Lernen einrichten. – Warum nicht? – Weil, sprach ich, kein Freier irgendeine Kenntnis auf knechtische Art erlernen muß. Denn die körperlichen Anstrengungen, wenn sie auch mit Gewalt geübt werden, machen den Leib um nichts schlechter, in der Seele aber ist keine erzwungene Kenntnis bleibend. – Richtig, sagte er. – Nicht also mit Gewalt, o Bester, sprach ich, sondern spielend beschäftige die Knaben mit diesen Kenntnissen, damit du auch desto besser sehen könnest, wohin ein jeder von Natur sich neigt. – Das hat wohl Grund, sagte er. – Erinnerst du dich nun nicht, sprach ich, daß wir sagten, man müsse die Knaben auch in den Krieg zu Pferde als Zuschauer führen, und wenn es einmal sicher ist sie auch ganz nahe hinzubringen und sie Blut kosten lassen, wie man es mit den jungen Hunden macht? – Des erinnere ich mich. – In allem diesen nun, in den Anstrengungen, dem Unterricht und den Gefahren, muß man, die jedesmal am tüchtigsten hineingehen, in eine gewisse Liste eintragen. – In welchem Alter? fragte er. – Wenn sie, sprach ich, von den notwendigen Leibesübungen losgesprochen werden. Denn diese Zeit, währe sie nun zwei oder drei Jahre, kann unmöglich noch etwas anderes ausrichten; denn Müdigkeit und Schlaf sind dem Lernen feind, auch ist dies selbst nicht eine von den kleinsten Prüfungen, wie sich jeder in den Leibesübungen zeigt. – Wie sollte es nicht. – Nach dieser Zeit aber, sprach ich, von zwanzig Jahren an sollen die Vorzüglichen größere Ehre vor den andern genießen, und die den Knaben zerstreut vorgetragenen Kenntnisse müssen für sie zusammengestellt werden zu einer Übersicht der gegenseitigen Verwandtschaft der Wissenschaften und der Natur des Seienden. – Wenigstens, sprach er, wird nun das so Erlernte fest sein, wem man es auch beigebracht hat. – Und, sagte ich, die stärkste Probe, wo eine dialektische Natur ist und wo nicht. Denn wer in diese Übersicht eingeht, ist dialektisch; wer nicht, ist es nicht. – Ich stimme dir bei, sagte er. – Hierauf also, sprach ich, wirst du achten müssen, und welche unter ihnen dieses am meisten sind und beharrlich im Lernen, beharrlich auch im Kriege und in allem Vorgeschriebenen, diese wiederum, wenn sie dreißig Jahre zurückgelegt haben, aus den Auserwählten auswählen und zu noch größeren Ehren erheben, um, indem du sie durch die Dialektik prüfest, zu sehen, wer von ihnen Augen und die andern Sinne fahren lassend vermag auf das Seiende selbst und die Wahrheit loszugehen. Und hier ist nun viele Behutsamkeit nötig, o Bester. – Weshalb eigentlich? fragte er. – Merkst du denn nicht, 41 https://doi.org/10.5771/9783495861011 .
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sprach ich, das jetzige Übel mit der Dialektik, wie groß es ist? – Welches denn? – Daß sie ganz mit Gesetzwidrigkeit angefüllt ist. – Das freilich, sagte er. – Glaubst du also, sprach ich, daß denen etwas ganz Wunderbares begegnet und verzeihst ihnen nicht? – Wieso eigentlich? – Wie wenn, sprach ich, ein untergeschobenes Kind bei großem Vermögen in einem vornehmen und ausgebreiteten Geschlecht und unter vielen Schmeichlern erzogen wäre, und wenn es ein Mann geworden, erführe, es sei nicht von diesen Eltern, die dafür ausgegeben worden, die wahren aber nicht auffinden könnte, kannst du wohl ahnen, wie dieser gegen die Schmeichler und gegen die, welche ihn untergeschoben haben, gesinnt sein wird zuerst in der Zeit, wo er noch nichts von dem Unterschieben wußte, und dann wieder in der, wo er es weiß? Oder willst du meine Ahnung davon hören? – Das letztere will ich. – Ich ahne also, sprach ich, daß er Vater und Mutter und die andern geglaubten Verwandten mehr ehren wird als die Schmeichler und weniger übersehn, wenn sie etwas bedürfen, weniger auch etwas Gesetzwidriges gegen sie tun oder reden, auch weniger ihnen in großen Dingen ungehorsam sein als den Schmeichlern, in der Zeit nämlich, wo er die Wahrheit noch nicht weiß. – Natürlich. – Hat er aber das Wahre gemerkt, so ahne ich im Gegenteil, er werde an Ehrfurcht und Bemühung um jene nachlassen, den Schmeichlern aber davon zulegen und ihnen bei weitem mehr als zuvor folgen, ja indem er sich schon unverhohlen zu ihnen hält, ganz nach ihrem Willen leben, um jenen Vater aber und die übrigen angeblichen Verwandten, wenn er nicht sehr rechtschaffen ist von Natur, sich gar nichts kümmern. – Du beschreibst alles wie es geschehen wird. Aber wie bezieht sich nun dieses Bild auf diejenigen, welche sich in jenes Gebiet des Denkens begeben? – So. Es gibt doch bei uns Lehren vom Gerechten und Schönen, unter denen wir von Kindheit an erzogen worden sind wie von Eltern, ihnen gehorchend und sie ehrend. – So ist es. – Gibt es nun nicht auch andere, diesen entgegengesetzte Bestrebungen, die Lust bei sich führen und unsere Seelen zwar schmeicheln und sie anlocken, aber doch diejenigen, die auch nur einigermaßen tauglich sind nicht überreden; sondern solche ehren jene väterlichen Lehren und gehorchen denen? – Das gibt es. – Wie nun, sprach ich, wenn einem, mit dem es so steht, eine Frage kommt und ihn fragt, was das Schöne ist, und wenn er das antwortet, was er vom Gesetzgeber gehört hat, die Rede ihn dann bestreitet und durch öftere und vielfältige Widerlegungen ihn auf den Gedanken bringt, als sei dieses um nichts mehr schön als häßlich, und ebenso 42 https://doi.org/10.5771/9783495861011 .
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mit dem Gerechten und Guten und was er am meisten in Ehren gehalten hat, wie meinst du, wird er sich nach diesem gegen jene verhalten, was Ehrfurcht und Folgsamkeit betrifft? – Notwendig, sagte er, wird er sie weder mehr ebenso ehren noch ihnen ebenso gehorchen. – Wenn er nun, sprach ich, diese nicht mehr so für ehrenwert und verwandt hält wie zuvor, aber auch das Wahre nicht findet, kann er sich zu einer andern Lebensweise als jener schmeichlerischen hinneigen? – Unmöglich, sagte er. – Ein Unrechtlicher also wird er geworden zu sein scheinen aus einem Rechtlichen. – Notwendig. – Muß dies nun nicht ganz natürlich denen begegnen, die so an jene Untersuchungen geraten? Und verdienen die nicht, wie ich eben sagte, alle Nachsicht? – Und Mitleiden dazu, sagte er. – Also damit du dieses Mitleid nicht nötig habest bei den Dreißigjährigen, so muß zu diesen Untersuchungen auf die umsichtigste Weise geschritten werden. – Gar sehr, sagte er. – Ist nun nicht schon dies, sprach ich, eine sehr große Vorsicht, wenn sie sie nicht zu jung kosten dürfen? Denn ich glaube, es wird dir nicht entgangen sein, daß die Knäblein, wenn sie zuerst solche Reden kosten, damit umgehen, als wenn es ein Scherz wäre, indem sie sie immer zum Widerspruch lenken, und den nachahmend, der sie widerlegt, wieder andere widerlegen und ihre Freude daran haben, wie Hündlein alle, die ihnen nahekommen, durch die Rede zu zerren und zu rupfen. – Ganz über die Maßen, sagte er. – Wenn sie nun viele widerlegt haben und von vielen auch widerlegt worden sind, so geraten sie gar leicht dahinein, nichts mehr von dem zu glauben, was sie früher glaubten, und dadurch kommen denn sie und alles, was die Philosophie betrifft, bei den übrigen in schlechten Ruf. – Sehr wahr, sagte er. – Wer aber schon älter ist, sprach ich, wird an solcher Torheit keinen Teil nehmen wollen, sondern lieber den, der untersuchen und die Wahrheit ans Licht bringen will, nachahmen als den, der Scherz treibt und zum Scherz widerspricht, und so wird er selbst achtbarer sein und auch die Sache zu Ehren bringen statt in Unehre. – Richtig. – Und das vor diesem Gesagte ist auch alles aus Vorsicht gesagt, daß man nur sittsame und ernste Naturen soll an Untersuchungen teilnehmen lassen und nicht so wie jetzt der erste beste, der gar nicht taugt, dazu gelangen kann. – Allerdings, sagte er. – Wird es nun hinreichen, daß sie bei diesen Untersuchungen angestrengt und unablässig bleiben, ohne irgend etwas anderes zu tun, sondern indem sie sich auf die umgewendete Art wie früher mit dem Leibe doppelt soviel Jahre üben als damals? – Meinst du also sechs oder vier? fragte er. – Einerlei! sprach ich, nimm fünf. 43 https://doi.org/10.5771/9783495861011 .
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Aber nach diesem werden sie wieder in jene Höhle zurückgebracht und genötigt werden müssen, Ämter zu übernehmen im Kriegswesen und wo es sich sonst für die Jugend schickt, damit sie auch an Erfahrung nicht hinter den andern zurückbleiben, und auch hierbei muß man sie noch prüfen, ob sie auch werden aushalten, wenn sie so nach allen Seiten gezogen werden, oder ob sie abgleiten werden. – Wieviel Zeit aber, fragte er, setzest du hierzu aus? – Fünfzehn Jahre, sprach ich. Haben sie aber fünfzehn erreicht, dann muß man, die sich gut gehalten und überall vorzüglich gezeigt hatten in Geschäften und Wissenschaften, endlich zum Ziel führen und sie nötigen, das Auge der Seele aufwärts richtend in das allen Licht Bringende hineinzuschauen, und wenn sie das Gute selbst gesehen haben, dieses als Urbild gebrauchend, den Staat, ihre Mitbürger und sich selbst ihr übriges Leben hindurch in Ordnung zu halten, jeder in seiner Reihe, so daß sie die meiste Zeit der Philosophie widmen, jeder aber, wenn die Reihe ihn trifft, sich mit den öffentlichen Angelegenheiten abmühe und dem Staat zuliebe die Regierung übernehme, nicht als verrichteten sie dadurch etwas Schönes, sondern etwas Notwendiges. Und so mögen sie denn, nachdem sie andere immer wieder ebenso erzogen und dem Staat andere solche Hüter an ihrer Stelle zurückgelassen, die Inseln der Seligen bewohnen gehen. Denkmäler aber und Opfer wird ihnen der Staat, wenn auch die Pythia (25) damit einverstanden ist, öffentlich darbringen als guten Dämonen, wo nicht doch als seligen und göttlichen Menschen. – Vortrefflich, o Sokrates, sagte er, hast du uns die Herrscher wie ein Bildner dargestellt. – Und auch Herrscherinnen, sprach ich, o Glaukon. Denn glaube ja nicht, daß, was ich gesagt, ich von Männern mehr gemeint habe als von Frauen, so viele sich von tüchtiger Natur darunter finden. – Richtig, sagte er, wenn sie ja gleichen Teil an allem haben sollen mit den Männern, wie wir ausgeführt haben. – Und gibst du zu, daß, was wir von diesem Staat und seiner Verfassung gesagt haben, nicht bloß fromme Wünsche sind, sondern Schweres zwar aber doch irgendwie möglich, nur auf keine andere Weise als gesagt wurde, wenn wahrhafte Philosophen, die – einer oder mehrere – zur Obergewalt im Staat gelangt sind, mit Verachtung der jetzigen Vorzüge, weil sie diese für unedel und nichts wert halten, das Richtige und die von diesem ausgehenden Vorzüge allein hochachten, für das Allergrößte und Notwendigste (25) Pythia war der Titel der Priesterin, die im Heiligtum von Delphi den Ratsuchenden weissagte. Die pythischen Sprüche waren noch auszudeuten.
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Bildung als Umwendung der Seele (»Politeia«, nach 387 v. Chr.)
aber das Gerechte, und diesem dienend und es befördernd zur Einrichtung ihres Staates schreiten. – Wie aber? fragte er. – So daß sie alle, welche über zehn Jahre alt sind, hinausschicken auf das Land, und nur die jüngeren Kinder zu sich nehmen, um sie, abgesehen von den jetzt geltenden Sitten, die ja auch die Eltern haben, nach ihren eigenen Gebräuchen und Gesetzen zu erziehen, welche so sind, wie wir damals ausgeführt haben. (26) Und so wird am schnellsten und leichtesten der Staat und die Verfassung, die wir beschrieben, eingerichtet, selbst glücklich sein und dem Volk, unter dem er besteht, die trefflichsten Dienste leisten. – Gewiß, sagte er. Und wie es gehen könnte, wenn es jemals gehn soll, dieses, o Sokrates, scheinst du mir vortrefflich ausgeführt zu haben. – Ist also nun nicht, sprach ich, unsere Rede vollständig von diesem Staat und dem ihm ähnlichen und angemessenen Manne? Denn auch dieser steht nun ganz deutlich vor uns, wie wir sagen werden, daß er sein müsse. – Ganz deutlich, sagte er; und, was du fragst, scheint mir beendigt zu sein.
(26)
Die von Platon angedachte staatliche Kindererziehung ist wie seine gesamte Idealstaatsvorstellung vielfach als totalitär kritisiert worden.
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Giovanni Pico della Mirandola
Der Begriff »Humanismus«, zurückgehend auf das römische Wort »humanitas«, Menschlichkeit, das vor allem in der Philosophie Ciceros wirksam wird, bestimmt gewisse Studien (studia humanitatis) als nicht nur der wissenschaftlichen Erkenntnis an sich, sondern auch jener angemessenen Gesinnung dienlich, die den »homo humanus« kennzeichnet, den »menschlichen« Menschen, den Menschen, insofern er sozusagen seinen Begriff erfüllt. Zur »humanen« Haltung gehören dabei auch ein Verständnis der menschlichen Angelegenheiten inklusive ihrer Unvollkommenheiten, ein Sinn für die Gemeinsamkeiten aller Menschen sowie schließlich auch bestimmte »menschliche« Qualitäten wie Freundlichkeit, Heiterkeit, Witz und Eleganz. (1) In dieser Tradition verweist der Renaissance-Humanismus in besonderer Weise auf die gottähnliche Schöpferkraft des Menschen und sieht seine Würde und sein Glück nicht zuletzt darin, dass der Mensch in bestimmter Hinsicht das Werk seiner selbst werden kann. Der bereits einunddreißigjährig verstorbene Renaissancephilosoph Giovanni Pico della Mirandola (1463–1494), aus gräflicher oberitalienischer Familie, Studium u. a. in Padua, lebte in Florenz und versuchte, in Rom einen (dann vom Papst verbotenen) »Weltkongress der Philosophen« einzuberufen, zu dem er 900 Thesen zur Diskussion stellen wollte. In seiner im Folgenden auszugsweise wiedergegebenen Rede »De hominis dignitate« (»Über die Würde des Menschen«), die diesen internationalen Gelehrtenkongress hatte eröffnen sollen, lässt Pico als Höhepunkt in einer Ansprache Gottes an Adam die Stellung des Menschen eindrucksvoll beschreiben, der zum Tier entarten oder sich zum Göttlichen hin erheben kann. Es ist die Freiheit des Menschen, die Pico in fulminanter Weise heraus(1)
Vgl. Jörg Ruhloff: Humanismus, humanistische Bildung, in: Dietrich Benner, Jürgen Oelkers (Hrsg.): Historisches Wörterbuch der Pädagogik. Weinheim und Basel 2004, 443–454; vgl. auch den Beitrag von Ruhloff zu diesem Band.
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ber die Wrde des Menschen (1487)
stellt. Er erklärt, dass der Mensch eigenschaftslos erschaffen sei und somit seine Natur nach eigenem Willen selber bestimmen könne bzw. müsse. Sein Grundcharakter ist gleichsam kultureller Art: er liegt in der rechten Formung – also Bildung – seiner selbst. Geradezu programmatisch beginnt der folgende Text mit einer Aufrufung »arabischer Schriften«: in philosophisch-synkretistischer Weise will Pico (der zeitweilig freilich auch unter dem Einfluss des fanatischen florentinischen Bußpredigers Savonarola stand) das bekannte Wissen der Zeit zusammenfassen und übereinstimmende Wahrheiten herausstellen. Alles, was sich gelehrt zitieren lässt, trägt zu seiner Vision bei, ob griechisch-römische Gottheit oder Philosophie, ob Moses und das Christentum oder die Kabbala; auf die »geheime Theologie der Hebräer« beruft Pico sich im Folgenden ebenso wie auf die Anhänger des Pythagoras. Zu diesen, wie er jedenfalls glaubt, gemeinsam erkannten Wahrheiten aber gehört vor allem eine Vorstellung, die Pico glänzend zum Ausdruck bringt: die Anerkennung der Sonderstellung des Menschen in der Welt. »De hominis dignitate« wird zum Programmtext des sich selbst entwerfenden Subjekts in der Renaissance – wie Jakob Burckhardt bemerkt hat, »wohl eines der edelsten Vermächtnisse der Kulturepoche« – und damit einer Bildungstheorie, »die den Menschen über seine selbst-konstitutiven Potenzen zu begreifen sucht«. (2) Es ist ein »stolzes Selbstbewusstsein«, schreibt August Buck, das »den überlieferten Begriff der dignitas hominis mit einem neuen Inhalt erfüllte«: der strahlende Aufbruch des europäischen Humanismus, der sich zu Gott und zur Welt neu in Bezug setzt und unsere »Menschwerdung« als Auftrag und Aufgabe denkt, hat vor allem im Bildungsgedanken ein vielfaches Echo gefunden.
(2)
Johannes Bilstein: Giovanni Pico della Mirandola. Oratio de hominis dignitate, in: Winfried Böhm u. a. (Hrsg.): Hauptwerke der Pädagogik. Paderborn 2008, 351–353, 353; August Buck: Die Rangstellung des Menschen in der Renaissance: dignitas et miseria hominis, in: Archiv für Kulturgeschichte 42 (1960), 61–75, 69.
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Giovanni Pico della Mirandola
ber die Wrde des Menschen (1487) (3) Verehrte Väter! In arabischen Schriften habe ich folgendes gelesen. Man fragte einmal den Sarazenen Abdalas, (4) was ihm auf dieser Welt, die doch gleichsam eine Schaubühne wäre, denn am bewunderungswürdigsten vorgekommen wäre. Darauf antwortete jener, nichts scheine ihm bewunderungswürdiger zu sein als der Mensch. Dieser Meinung kann man auch noch den Ausspruch des Merkurius hinzufügen: »Ein großes Wunder, o Asklepius, ist der Mensch.« (5) Als ich diese Aussprüche einmal recht überlegte, erschienen mir die traditionell überlieferten Meinungen über die menschliche Natur demgegenüber etwas unzulänglich. So zum Beispiel die Meinung, der Mensch sei ein Bote und Vermittler zwischen den Geschöpfen; er sei ein Freund der Götter; er sei der König der niederen Sinne durch die klare Erforschung seiner Vernunft und durch das Licht seines Verstandes; er sei der Dolmetscher der Natur, er sei ein Ruhepunkt zwischen der bleibenden Ewigkeit und der fließenden Zeit, oder er sei nach Aussagen der Perser das Band, das die Welt zusammenhält, er sei sogar das Hochzeitslied der Welt, er stehe schließlich nach dem Zeugnisse Davids (6) nur wenig unter den Engeln. Das sind wahrlich alles hohe Eigenschaften, aber darin liegt nicht die Hauptsache, nämlich warum gerade der Mensch den Vorzug der höchsten Bewunderung für sich in Anspruch nehmen solle. Warum bewundern wir denn nicht mehr die Engel und die seligen Chöre des Himmels? Ich habe mich denn schließlich um die Einsicht bemüht, warum das glücklichste und aller Bewunderung würdigste Lebewesen der Mensch sei und unter welchen Bedingungen es möglich sein konnte, daß er aus der Reihe des Universums hervorschritt, beneidenswert nicht nur für die Tiere, sondern auch für die Sterne, ja sogar für die überweltlichen Intelligenzen. Geht das doch fast über den Glauben hinaus, so wunderbar ist es. Oder warum nicht? Denn auch deswegen wird der Mensch mit vollem Recht für ein großes Wunder und für ein bewunderungswürdiges Geschöpf geheißen und gehalten. Wie sich das (3)
Giovanni Pico della Mirandola: Über die Würde des Menschen. Übertragen von H. W. Rüssel. Nach: Lux et Humanitas. Eine Schriftenreihe zur Pflege geisteswissenschaftlicher Werte. Band V. 2. Aufl., Fribourg–Frankfurt a. M.–Wien o. J., 49–55. (4) Gestalt nicht nachweisbar. (5) Merkur als gr.-ägypt. Gott Hermes Trismegistos; Anspielung auf einen Dialog Asclepius des Pseudo-Apuleios. (6) Psalm 8,5 f.
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ber die Wrde des Menschen (1487)
nun aber verhält, verehrte Väter, das höret an und bringt mit geneigten Ohren und milder Gesinnung meiner Arbeit euer Wohlwollen entgegen. Bereits hatte Gott-Vater, der höchste Baumeister, dieses irdische Haus der Gottheit, das wir jetzt sehen, diesen Tempel des Erhabensten, nach den Gesetzen einer verborgenen Weisheit errichtet. Das überirdische Gefilde hatte er mit Geistern geschmückt, die ätherischen Sphären hatte er mit ewigen Seelen belebt, die materiellen und fruchtbaren Teile der unteren Welt hatte er mit einer bunten Schar von Tieren angefüllt. Aber als er dieses Werk vollendet hatte, da wünschte der Baumeister, es möge jemand da sein, der die Vernunft eines so hohen Werkes nachdenklich erwäge, seine Schönheit liebe, seine Größe bewundere. Deswegen dachte er, nachdem bereits alle Dinge fertiggestellt waren, wie es Moses (7) und der Timaeus (8) bezeugen, zuletzt an die Schöpfung des Menschen. Nun befand sich aber unter den Archetypen in Wahrheit kein einziger, nach dem er einen neuen Sprößling hätte bilden sollen. Auch unter seinen Schätzen war nichts mehr da, was er seinem neuen Sohne hätte als Erbe schenken sollen und unter den vielen Ruheplätzen des Weltkreises war kein einziger mehr vorhanden, auf dem jener Betrachter des Universums hätte Platz nehmen können. Alles war bereits voll, alles unter die höchsten mittleren und untersten Ordnungen der Wesen verteilt. Aber es wäre der väterlichen Allmacht nicht angemessen gewesen, bei der letzten Zeugung zu versagen, als hätte sie sich bereits verausgabt. Es hätte der Weisheit nicht geziemt, wenn sie aus Mangel an Rat in einer notwendigen Sache geschwankt hätte. Es wäre der milden Liebe nicht würdig gewesen, daß derjenige, der bei andern Geschöpfen die göttliche Freigebigkeit loben sollte, bei sich selbst gezwungen wäre, diese zu verdammen. Daher beschloß denn der höchste Künstler, daß derjenige, dem (7)
Vgl. 1. Mose 1,25 ff. – Mose(s) ist die Zentralfigur des Pentateuch (der fünf Bücher Mose im Alten Testament). Demnach führte Mose(s) als Gesandter Gottes das Volk der Israeliten auf einer vierzig Jahre währenden Wanderung aus der Sklaverei in Ägypten in das kanaanäische (»gelobte«) Land. Vom hebräischen Gott Jahwe erhielt er am Berg Sinai die Tafeln mit den Zehn Geboten (»Dekalog«), die den Bund zwischen Gott und den Menschen besiegeln sollten (8) Timaeus Locrus (eigentl. Timaios von Lokroi), pythagoreischer griechischer Philosoph und Gesprächspartner des Sokrates, 5. Jh. v. Chr.; Existenz ist allerdings nicht gesichert, da er lediglich in zwei Dialogen Platons (Timaios, Kritias) als literarische Figur auftritt. – Vgl. Platon, Timaios 41b ff.
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Giovanni Pico della Mirandola
etwas Eigenes nicht mehr gegeben werden konnte, das als Gemeinbesitz haben sollte, was den Einzelwesen ein Eigenbesitz gewesen war. Daher ließ sich Gott den Menschen gefallen als ein Geschöpf, das kein deutlich unterscheidbares Bild besitzt, stellte ihn in die Mitte der Welt und sprach zu ihm: »Wir haben dir keinen bestimmten Wohnsitz, noch ein eigenes Gesicht, noch irgendeine besondere Gabe verliehen, o Adam, damit du jeden beliebigen Wohnsitz, jedes beliebige Gesicht und alle Gaben, die du dir sicher wünschst, auch nach deinem Willen und nach deiner eigenen Meinung haben und besitzen mögest. Den übrigen Wesen ist ihre Natur durch die von uns vorgeschriebenen Gesetze bestimmt und wird dadurch in Schranken gehalten. Du bist durch keinerlei unüberwindliche Schranken gehemmt, sondern du sollst nach deinem eigenen freien Willen, in dessen Hand ich dein Geschick gelegt habe, sogar jene Natur dir selbst vorherbestimmen. Ich habe dich in die Mitte der Welt gesetzt, damit du von dort bequem um dich schaust, was es alles in dieser Welt gibt. Wir haben dich weder als einen Himmlischen noch als einen Irdischen, weder als einen Sterblichen noch als einen Unsterblichen geschaffen, damit du als dein eigener, vollkommen frei und ehrenhalber schaltender Bildhauer und Dichter dir selbst die Form bestimmst, in der du zu leben wünschst. Es steht dir frei, in die Unterwelt des Viehes zu entarten. Es steht dir ebenso frei, in die höhere Welt des Göttlichen dich durch den Entschluß deines eigenen Geistes zu erheben.« Müssen wir darin nicht zugleich die höchste Freigebigkeit GottVaters und das höchste Glück des Menschen bewundern? Des Menschen, dem es gegeben ist, das zu haben, was er wünscht, und das zu sein, was er will. Denn die Tiere, sobald sie geboren werden, tragen vom Mutterleib an das mit sich, was sie später besitzen werden, wie Lucilius (9) sagt. Die höchsten Geister aber sind von Anfang an oder bald darauf das gewesen, was sie in alle Ewigkeiten sein werden. In den Menschen aber hat der Vater gleich bei seiner Geburt die Samen aller Möglichkeiten und die Lebenskeime jeder Art hineingelegt. Welche er selbst davon pflegen wird, diejenigen werden heranwachsen und werden in ihm ihre Früchte bringen. Wenn er nur die des Wachsens pflegt, wird er nicht mehr denn eine Pflanze sein. Pflegt er nur die sinnlichen Keime, wird er gleich dem Tiere stumpf werden. Bei der Pflege der (9)
Gaius Lucilius (ca. 180–103 v. Chr.), römischer Dichter und einer der bedeutendsten frühen Satiriker.
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ber die Wrde des Menschen (1487)
rationalen wird er als ein himmlisches Wesen hervorgehen. Bei der Pflege der intellektualen wird er ein Engel und Gottes Sohn sein. Und wenn er mit dem Lose keines Geschöpfes zufrieden sich in den Mittelpunkt seiner Ganzheit zurückziehen wird, dann wird er zu einem Geist mit Gott gebildet werden, in der einsamen Dunkelheit des Vaters, der über alles erhaben ist, wird er auch vor allen den Vorrang haben. Wer möchte nicht dies unser Chamäleon bewundern? Oder wer möchte überhaupt irgendetwas anderes mehr bewundern? Nicht ohne Grund hat daher der Athener Asklepius gesagt, der Mensch werde auf Grund seiner ständig die Haut wechselnden und sich selbst umwandelnden Natur mit dem Geheimnis des Proteus (10) bezeichnet. Daher stammen auch jene berühmten Metamorphosen bei den Hebräern (11) und Pythagoräern. Denn auch die geheime Theologie der Hebräer verwandelt einmal den heiligen Enoch in einen Engel der Gottheit, den sie Melech Cheschakanach nennt, ein anderes Mal wieder andere in andere Namen. Die Pythagoräer (12) aber lassen verbrecherische Menschen die Gestalt von Tieren annehmen. Und wenn man dem Empedokles (13) glauben will, sogar die von Pflanzen. Auch Mohammed ist ihnen hierin gefolgt, der häufig jenen Ausspruch tat: »Wer sich vom göttlichen Gesetz getrennt hat, der wird als ein Tier hervorgehen und das mit Recht.« Denn nicht die Rinde bildet die Pflanze, sondern die dumme und nichtsfühlende Natur, und nicht das dicke Fell macht das Tier aus, sondern die unvernünftige und sinnliche Seele, und nicht der scheibenförmige Körper bildet den Himmel, sondern die richtige Vernunft, und nicht die Trennung von einem Körper ist das Wesen des Engels, sondern die geistliche Weisheit. Wenn du daher einen Menschen siehst, der ganz dem Bauche ergeben ist und gleichsam auf der Erde kriecht, so wisse, es ist ein Strauch, nicht ein Mensch, was du da siehst. Wenn du einen andern siehst, in die Phantasie verstrickt, durch eitle Gaukelbilder erblindet, durch Sinneseindrücke bezaubert und durch ihre Verlockungen gleichsam gefesselt, es ist ein Tier, kein Mensch, was du da siehst. Wenn du aber einen erblickst, der nach der (10)
Wandelbarer Mensch (nach der antiken Sagengestalt eines Meergreises, der jede beliebige Gestalt annehmen konnte). (11) Hebräer sind laut den heiligen Schriften des Judentums und des Alten Testaments die Israeliten; so werden später auch ihre Nachfahren, die Juden, bezeichnet. (12) Pythagoreer sind die Vertreter einer religiös-philosophischen Schule, die Pythagoras von Samos im 6. Jahrhunderts v. Chr. gründete. (13) Empedokles, griechischer Philosoph (Vorsokratiker, Pythagoreer) im 5. Jahrhundert v. Chr.
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Giovanni Pico della Mirandola
richtigen Art der Philosophen alles betrachtet, diesen sollst du verehren, denn er ist ein himmlisches und kein irdisches Wesen. Wenn du aber einen reinen Betrachter triffst, der nichts mehr von seinem Körper weiß, der sich ganz in das Innere des Geistes entfernt hat, dieser ist fürwahr kein irdisches noch ein himmlisches Wesen, dieser ist noch etwas Erhabeneres, nämlich ein Gott mit menschlichem Fleische umkleidet. Gibt es da noch irgendeinen, der den Menschen nicht bewundern möchte? […]
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Jan Amos Comenius
Im Vergleich zu den zeitgenössischen Begründern des Wissens wie Francis Bacon fragt Johann Amos Comenius oder Jan Amos Komensky (1592– 1670) auch und vor allem nach deren Referenzsubjekten, also nach den Menschen, zu deren höchster Bestimmung es gehört, zu wissen. Der christliche Humanismus des Comenius stellt fest: Als imago Dei ist der Mensch ebenso bildungsfähig wie bildungswürdig. So sehr er sich nur in Gott (d. h. auch: in einer individuellen Fortexistenz in einem ewigen Leben) vollenden kann, so sehr kann und soll derselbe Mensch doch auch die Welt, Gottes Schöpfung erkennen. Das Wissen – das ist für ihn selbst als Protestanten und führenden Vertreter der »Böhmischen Brüder« vor allem das der Theologie – muss verbreitet werden. So lautet die Botschaft seiner um 1629 zunächst in der tschechischen Muttersprache geschriebenen und knapp dreißig Jahre später 1657 in Amsterdam lateinisch publizierten Didactica Magna, der »Großen Didaktik«, die keine primäre Unterrichtsmethodik oder ein Lehrplan oder eine Gesamtdarstellung des möglichen oder nötigen Wissens ist. Comenius stellt in dieser Programmschrift vielmehr die Bildung in einem universalen und grundsätzlichen Verständnis als das Medium zur Verbesserung der menschlichen Verhältnisse heraus. Das Wissen muss, dies ist die grundlegende Forderung des Comenius, einen gesellschaftlichen und didaktischen Index bekommen, und er kritisiert andernorts: »Für sich singen die Metaphysiker ihr Liedchen, sich selber klatschen die Physiker Beifall, für sich führen die Astronomen ihre Tänze auf, für sich setzen die Ethiker ihre Gesetze fest, für sich erdenken die Politiker ihre Grundlagen, für sich triumphieren die Mathematiker, für sich herrschen die Theologen.« Dieser Impuls speist gleich zu Beginn des Textes die berühmte, gegen die Ständegesellschaft seiner Zeit gerichtete, aber zutiefst aktuelle demokratische Maxime »Alle alles zu lehren« – omnes omnia omnino docere. Nicht nur die Kinder der Reichen sind zu unterrichten, so heißt es im 9. Kapitel. Und mehr: Das adverbiale omnino (»gänzlich«, »auf jede Weise«) kann, wie Klaus Schaller herausgestellt hat, auch und vor allem bedeuten, über alle 53 https://doi.org/10.5771/9783495861011 .
Jan Amos Comenius
baconisch-technische Verfügbarkeit zu beliebigen Zwecken ein Wissen nach dem Maßstabe eines Ganzen zu lehren, nämlich nach dem der Menschlichkeit. (1) In unserer Gegenwart, in der – wie man jedenfalls bemerkt hat – eine eigentliche Pädagogik sich gleichsam schlafen legt, in der Hoffnung, als empirische Sozialwissenschaft nach dem Vorbild der Naturwissenschaften im Geiste Francis Bacons wieder aufzuwachen, steht der Ansatz des Comenius für einen durchaus anderen, »emendatorischen« Charakter des Bildungsdenkens, der darin besteht, gegenüber bloß äußerer bzw. quantitativer Betrachtung jene qualitative Hinsicht nicht aus den Augen zu verlieren, unsere Lebensumstände »menschlicher« zu machen (ein weiteres wichtiges Werk aus dem Schriftenkomplex des Comenius neben der »Großen Didaktik« trägt den Titel »De rerum humanarum emendatione« – »Über die Verbesserung der menschlichen Angelegenheiten«). Just im England Bacons ging ihm dies auf, und er schilderte es brieflich der Royal Society. Statt nur die Anstalten eines bloß nützlichen Wissens zu sein, sollen die Schulen zu »Stätten der Menschlichkeit« (Kapitel 10) werden. Der Text betont die Bildsamkeit des jungen Menschen (7. Kapitel) in einer metaphern- und bilderreichen Sprache (vor allem in Wendungen aus dem Bereich des Baumwuchses und der Gartenbepflanzung) und mittels Figuren aus der Bibel. Bildung wird mit starken normativen Erwartungen bestimmt als »Weg zur Besserung der menschlichen Gebrechen« und »Heilung für das verderbte Menschengeschlecht«, ja: im Sinne dieses Humanismus’ und in utopischem Vorschein seiner Zielvorstellungen ist Bildung »Menschwerdung«. René Descartes, dem er im Jahre 1542 begegnete, kritisierte den theologischen Grundgestus und den pädagogischen Optimismus des Comenius. Gegenüber der grauenvollen, die Körper wie die Seelen wie die Bildungschancen beschädigenden Verfinsterung der menschlichen Verhältnisse durch den 30jährigen Krieg, der ihn selbst in die Emigration durch halb Europa zwang, vertritt Comenius, alsbald berühmt, eine religiös gegründete und zugleich ins Metaphysische hinaufgesteigerte, aber auch von aufklärender Lichtmetaphorik getragene Menschheits- und Zukunftsvision von (wie es im Titel der großen Didaktik heißt) »Licht, Ordnung, Friede und Ruhe«. Von nicht weniger als dem Paradies geht er in der folgenden Argumentation (1)
Klaus Schaller: Comenius. Darmstadt 1973; ders.: Nachwort zum gegenwärtigen Stand der Comeniusforschung. Große Didaktik (8. Aufl. 1993), 263 ff.; ders.: Omnino, in: Karl Helmer, Norbert Meder, Käte Meyer-Drawe, Peter Vogel (Hrsg.): Spielräume der Vernunft. Jörg Ruhloff zum 60. Geburtstag. Angeregt von Wolfgang Fischer, Würzburg 2000, 322–343.
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»Alle alles zu lehren« (1657)
aus. Die Lehrwerke der Bildung, ihre Institutionen und Schulen, schließlich das Engagement didaktisch orientierter Wissenschaftler – sie alle können dieses »Friedensreich« anbahnen. Als Ireniker, der versöhnen statt spalten will, kann Comenius bei alledem zugleich als ein Vorläufer seitheriger Weltethos- und Weltfriedensbewegungen gelten: ihrer Phantasmen und Projektionen ebenso wie ihrer tiefen Berechtigung und global sich steigernden Aktualität.
»Alle alles zu lehren« (1657) (2) 1. »Didaktik« bedeutet Kunst des Lehrens. Fähige Männer haben in jüngster Zeit, voll Erbarmen mit der Sisyphus-Arbeit (3) in den Schulen, diese Kunst zu erforschen unternommen, doch mit ungleichem Mut und ungleichem Erfolg. 2. Manche haben sich mit irgendeiner Sprache befaßt und versucht, sie durch Handbücher leichter zu vermitteln. Andere waren bestrebt, irgendeine Wissenschaft (scientia) oder Kunst (ars) rascher und auf kürzerem Wege zu lehren; andere versuchten noch anderes. Fast alle aber gingen von äußeren, aus erleichterter Praxis, d. h. a posteriori gewonnenen Erfahrungen aus. 3. Wir wagen es, eine »Große Didaktik« zu versprechen: nämlich die vollständige Kunst, alle Menschen alles zu lehren; und zwar zuverlässig zu lehren, so daß der Erfolg nicht ausbleiben kann; und rasch zu lehren, ohne Beschwerde und Verdruß für Lehrer und Schüler, vielmehr zu beider größtem Vergnügen; und gründlich zu lehren, nicht oberflächlich und nur zum Schein, sondern so, daß echte Wissenschaft (litteratura), reine Sitten und innerste Frömmigkeit vermittelt werden. Schließlich wollen wir alles dieses a priori dartun, aus der eigenen und unveränderlichen Natur der Dinge, gleichsam aus dem lebendigen (2)
Johann Amos Comenius: Große Didaktik, in neuer Übersetzung. Hrsg. v. Andreas Flitner. Düsseldorf/München 1954 u. ö., 11–24; 33–35; 37 f.; 38 f.; 39 f.; 41–43; 45 f.; 47–51; 52–57; 58– 60 (es wurden Kürzungen in den Kapiteltiteln und den Kapiteln vorgenommen und nicht alle editorischen Anmerkungen des Herausgebers übernommen). (3) Sisyphos ist ein Held der griechischen Mythologie. Wegen schwerer Vergehen gegen die Götter wurde er nach seinem Tod in der Unterwelt dazu verdammt, einen Felsblock einen steilen Hang hinaufzurollen. Kurz vor Überwindung des Hangs entglitt ihm der Stein, rollte hinab, und er musste wieder von vorn beginnen. Eine Aufgabe, die trotz größter Anstrengungen so gut wie nie erledigt sein wird, nennt man deshalb auch Sisyphos-Arbeit.
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Quell, welcher nimmer versiegende Bäche speist; indem wir diese wiederum in einem Flusse sich sammeln lassen, begründen wir die eine universale Kunst, universale Schulen zu errichten. […]
Einleitung […] 1. Als Gott im Anfang aus dem Staube den Menschen geschaffen hatte, setzte er ihn in sein gen Osten gelegenes Paradies der Freude. Er sollte es nicht nur bewahren und bebauen (1. Mos. 2,15), er sollte selbst für seinen Gott ein Freudengarten sein. 2. Wie nämlich das Paradies der lieblichste Teil der Welt, so war der Mensch das feinste der Geschöpfe. Das Paradies ward gegen Sonnenaufgang angelegt – der Mensch ward erschaffen nach dem Bilde dessen, der vom Anfang an, von aller Ewigkeit her aufgegangen war. Im Paradiese ließ Gott von allen Bäumen, die über die ganze Erde hin verstreut waren, diejenigen wachsen, die am schönsten anzusehen waren und die süßeste Frucht trugen. Im Menschen sind alle irdischen Stoffe und alle Formen und ihre Abstufungen gleichsam zu einem Meisterwerk vereinigt, auf daß die ganze Kunst der göttlichen Weisheit offenbar werde. Im Paradies stand der Baum der Erkenntnis des Guten und Bösen; im Menschen liegt der Verstand zu unterscheiden, und der Wille, zu wählen, was gut und böse ist. Im Paradies stand der Baum des Lebens, aber im Menschen steht der Baum der Unsterblichkeit: die Weisheit Gottes nämlich, die ihre ewigen Wurzeln in den Menschen gesenkt hat (J. Sir. 1,14). Ein Fluß ging hervor aus jenem Garten, das Paradies zu bewässern, und teilte sich darauf in vier Arme (1. Mose 2,10); in das Herz des Menschen ergießen sich die vielfachen Gaben des Heiligen Geistes und speisen ihn. Und von seinem Leibe fließen wiederum Ströme lebendigen Wassers (Joh. 7,38); denn im Menschen und durch den Menschen breitet sich auf verschiedenen Wegen die Weisheit Gottes aus, wie in Flüssen, die sich in alle Richtungen zerteilt haben. Das bezeugt auch der Apostel, wenn er sagt, daß durch die Kirche den Gewalten und Mächten des Himmels sich die vielfältige Weisheit Gottes kundtue (Ephes. 3,10). 3. Wahrhaftig, ein jeder Mensch ist für Gott ein Paradies der Freude, wenn er dort bleibt, wohin er gestellt worden. Gleichermaßen wird auch die Kirche, die Gemeinschaft der Gott Ergebenen, in der Heiligen
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Schrift oft dem Paradiese, einem Garten oder einem Weinberg Gottes verglichen. 4. Aber wehe uns Unglücklichen! Wir haben das Paradies der leiblichen Wonnen verloren, in dem wir waren – und mit ihm das Paradies der geistigen Wonnen, das wir waren. Verstoßen sind wir in die Einöde der Erde. Zur Einöde sind wir selbst geworden, zur leeren, abscheulichen Wüste. Denn wir waren undankbar für die Fürsorge Gottes im Paradies, für seine Gaben des Leibes und der Seele. Mit Recht also wurden sie uns entzogen, wurden Leib und Seele dem Leide ausgesetzt. 5. Hören wir darüber den Propheten, der von dem stolzen und zur Strafe verdammten König von Tyrus sagt: »In den Freuden des göttlichen Paradieses warst du, warst bedeckt mit allerlei Edelsteinen: Karneol, Topas und Jaspis, Chrysolith, Onyx und Beryll, Saphir, Rubin, Smaragd und Gold. Die Pauken und Pfeifen waren am Tage, da du geschaffen wurdest, für dich bereit. Ein Cherub warst du, deshalb habe ich dich zum Schützer und Herrn aller Kreatur gesalbt und dich an die Spitze gestellt. Du warst auf dem heiligen Berge Gottes und gingst immerdar umher inmitten feuriger Steine. Und du wandeltest unsträflich vom Tage deiner Erschaffung an, bis Unrecht an dir gefunden ward. Bei der Menge deiner Geschäfte füllte sich dein Inneres mit Frevel und du versündigtest dich. Da stieß ich dich hinab vom Berge Gottes und richtete dich zugrunde. Da dein Herz sich überhoben ob deiner Schönheit, hast du deine Weisheit eingebüßt, habe ich dich zur Erde hinabgeschleudert« (Ezech. 28,13 ff.). Zu Boden geworfen und zersprengt hat er uns in seinem gerechten Zorn. Wir waren wie der Garten Eden und sind zur öden Wüstenei geworden. 6. Lob, Preis und Ehre in alle Ewigkeit unserm barmherzigen Gott. Er hat uns zwar eine zeitlang verlassen, aber nicht in ewige Einsamkeit verstoßen; denn er hat uns seine Weisheit gesandt, durch die Himmel und Erde und alle Dinge geschaffen sind, und hat sein verlassenes Paradies, das Menschengeschlecht, aufs neue mit seiner Barmherzigkeit umfangen. Die abgestorbenen, verdorrten Bäume unserer Herzen hat er zunächst mit Axt, Säge und Messer seines Gesetzes beschnitten und abgeschält, dann aber neue Reiser des himmlischen Paradieses aufgepfropft, und damit sie anwachsen und treiben konnten, sie mit seinem eigenen Blute benetzt und ohne Unterlaß mit den vielfältigen Gaben seines Heiligen Geistes wie mit Bächen lebendigen Wassers begossen; und er hat seine Arbeiter, seine geistlichen Gärtner gesandt, die sich dieses neuen Gottesgartens getreulich annehmen sollten. Denn so 57 https://doi.org/10.5771/9783495861011 .
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hat Gott zu Jesaja und damit zugleich zu anderen gesagt: Ich habe meine Worte in deinen Mund gelegt und habe dich geborgen im Schatten meiner Hände, auf daß du den Himmel ausspannst, die Erde gründest und zu Zion sprichst: Du bist mein Volk (Jes. 51,16). 7. Aufs Neue grünt also der Garten der Kirche zur Freude des göttlichen Herzens. So heißt es wiederum bei Jesaja: Der Herr hat Erbarmen mit Zion, (4) hat Erbarmen mit all ihren Trümmern, ihre Wüste macht er zum Paradies und ihre Steppe gleich dem Garten des Herrn. Freude und Wonne findet man dort, Lobpreis und Liederklang (Jes. 51,3). Und bei Salomo: Ein verschlossener Garten ist meine Schwester und Braut, ein verschlossener Garten mit versiegeltem Quell. Dein Schoß ist ein Park von Granatbäumen mit allerlei köstlichen Früchten, Cypertrauben samt Narden usw. (Hoheslied 4,12 u. 13). Darauf antwortet die Kirche als Braut: O du Gartenquell, Brunnen lebendigen Wassers, das vom Libanon strömt. Erwache Nordwind, und komme, Süd, durchwehe meinen Garten, daß seine Balsamdüfte strömen; auf daß mein Geliebter komme in seinen Garten und esse von seinen köstlichen Früchten (Ebd. 4,15 u. 16). 8. Gedeiht nun aber dieser neue Paradiesesgarten Gottes wirklich nach Wunsch? Gehen alle Keime glücklich auf? Tragen alle Bäume der jungen Pflanzung Narden und Safran, Zimmet und Myrrhen, 1 Gewürze und köstliche Früchte? Hören wir das Wort Gottes, das er zu seiner Kirche spricht: Ich habe dich gepflanzt als edle Rebe, ein Setzling ohne Fehl, wie bist du mir geraten zu einem bittern und entarteten Weinstock (Jer. 2,21)? So klagt Gott über den Niedergang auch dieses neuen Paradiesesgartens. 9. Solcher Klagen ist die Heilige Schrift voll. Und lauter Verwirrung bietet sich dem Auge derer, die es je unternommen haben, die Geschichte der Menschheit oder auch der Kirche selbst zu betrachten. Salomo, der weiseste aller Menschen, der alles Geschehen unter der Sonne und auch seine eigenen Gedanken, Worte und Taten sorgfältig prüfte, brach in Klagen aus: Siehe, alles ist nichtig und ein Haschen nach Wind. Was krumm ist, kann man nicht gerade machen, und was 1
Vgl. Hoheslied 4,14.
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Zion ist in der hebräischen Bibel vordergründig eine Turmburg an der südöstlichen Stadtgrenze von Jerusalem. Seit der Eroberung durch König David, der Überführung der Bundeslade und dem Bau des ersten Jerusalemer Tempels durch Salomo wurde Zion zum Synonym für den Wohnsitz des Gottes Israels, Jahwe.
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unzureichend ist, nicht voll (Pred. 1,14 f.). Ja, selbst die Weisheit wird zu einer Betrübnis für den Geist und bringt Verdruß und Mühsal (Pred. 1,18). 10. Wer seine Krankheit nicht kennt, der sorgt sich nicht; wer keinen Schmerz empfindet, der seufzt nicht; und wer die Gefahr nicht sieht, der schrickt nicht zurück, wenn er auch über dem Abgrund schwebt oder am steilsten Hange steht. Darum ist es nicht verwunderlich, daß der, welcher die Wirren nicht sieht, die Menschheit und Kirche verzehren, sich auch nicht um sie kümmert. Wer aber an sich und anderen zahllose Flecken auftreten sieht, wer bemerkt, wie seine und anderer Leute Wunden und Geschwüre mehr und mehr zu eitern beginnen, und wem ihr Gestank in die Nase steigt, wer sich und andere an den gefährlichsten Abgründen und Schluchten stehen, überall zwischen ausgelegten Fallstricken einhergehen, ja sogar dem ewigen Verderben zueilen und den einen oder andern schon stürzen sieht, der kann schwerlich umhin, zu erschrecken, zu erstarren vor Schreck und vor Schmerz zu vergehn. 11. Denn was befindet sich bei uns und dem Unsrigen eigentlich in Ordnung und an seinem gehörigen Platze? Nichts, garnichts. Alles stürzt ein und liegt in wildem Durcheinander. An Stelle der Verständigkeit (intelligentia), in der wir den Engeln gleich sein sollten, herrscht eine solche Dummheit, daß die Leute in den wichtigsten Dingen unwissend sind wie das liebe Vieh. An Stelle der klugen Vorsorge (prudentia), mit der wir uns unserer Bestimmung gemäß für das ewige Leben bereit machen sollten, herrscht eine solche Unbekümmertheit nicht nur in den Fragen des ewigen, sondern auch in denen des zeitlichen Lebens, daß die meisten Menschen sich den irdischen und vergänglichen Dingen und schließlich dem sicheren Tode hingeben. An Stelle der himmlischen Weisheit (sapientia), durch die es uns vergönnt war, das höchste Gut zu erkennen, zu verehren, sich an ihm zu erquikken, treten schmähliche Abkehr von jenem Gott und törichte Erbitterung gegen die heilige Allmacht dessen, in dem wir doch leben, weben und sind. 2 An Stelle der Liebe und Lauterkeit herrschen Haß unter uns und Feindschaft, Krieg und Mord. An Stelle der Gerechtigkeit herrschen Unterdrückung, Unrecht, Schimpf, Diebstahl und Räuberei. An
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Apg. 17,28.
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Stelle der Keuschheit regieren Schmutz und Unflat die Gedanken, Worte und Taten; statt Einfachheit und Wahrheitsliebe – Lug und Trug und böse Listen, statt Demut – Stolz und gegenseitige Verachtung. 12. Weh dir, unglückliches und verkehrtes Geschlecht! »Der Herr schaut vom Himmel herab auf die Menschenkinder, daß er sehe, ob ein Verständiger da sei, der nach Gott frage. Alle sind sie entartet und miteinander verdorben. Da ist keiner, der Gutes tut, nicht ein einziger« (Ps. 14). Auch die, welche sich als Führer ausgeben, ver-führen und gehen schlechte Wege; welche Träger des Lichts sein sollten, verbreiten selbst die Finsternis. Wo wirklich Gutes und Wahres sich findet, da ist es verstümmelt, gelähmt, abgetrennt, ja meist nur ein Schatten, ein blasses Abbild dessen, was es wirklich sein sollte. Wer das nicht sieht, der wisse, daß er im Dunkeln tappt. Die Verständigen jedoch kommen zu dieser Einsicht, indem sie ihre und ihrer Mitmenschen Angelegenheiten nicht durch die Brille überlieferter Meinungen, sondern im klaren Lichte der Wahrheit betrachten. 13. Doch bleibt uns ein zweifacher Trost. Zum ersten, daß Gott für seine Erwählten ein ewiges Paradies bereitet, wo die Vollkommenheit zurückkehren wird und zwar reicher und sicherer als jene erste war, die uns verloren ging. In dieses Paradies ging Christus ein, als er aus dem leiblichen Leben schied (Luk. 23,43), dorthin wurde Paulus entrückt (2. Kor. 12,4), und seine Herrlichkeit durfte Johannes schauen (Offb. 21,10). 14. Zweitens liegt darin ein Trost, dass Gott von Zeit zu Zeit das Paradies der Kirche erneuert und die Wüstenei wieder in einen Garten der Wonne verwandelt, wie die oben erwähnten göttlichen Verheißungen zeigen. Wir haben gesehen, daß das schon mehrmals feierlich geschehen ist: nach dem Sündenfall, nach der Sintflut, nach dem Einzug Israels in das Land Kanaan, unter David und Salomo, nach der Rückkehr aus Babylon und dem Wiederaufbau Jerusalems, nach der Himmelfahrt Christi und der Verkündigung des Evangeliums unter den Heiden, unter Konstantin und sonst noch. Wenn uns vielleicht auch jetzt, nach dem Schrecken so gräßlicher Kriege, nach der Verheerung so vieler Länder, der Vater der Barmherzigkeit mit gnädigeren Augen ansehen will, so sollen wir ihm dankbar entgegenkommen und selbst unserer Sache zuhilfe eilen auf den Wegen und in der Weise, die uns der allwissende, alles auf seinen Wegen lenkende Gott zeigen wird. 15. Das aber gehört zum wichtigsten, was uns die Hl. Schrift lehrt: daß es keinen wirksameren Weg zur Besserung der menschlichen Ge60 https://doi.org/10.5771/9783495861011 .
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brechen gibt als die rechte Unterweisung (institutio) der Jugend. Salomo (5) z. B., der doch alle Labyrinthe menschlichen Irrens durchgangen und der beklagt hat, daß sich die Verkehrtheiten nicht bessern, die Übel nicht mehr zählen lassen, wendet sich schließlich an die Jugend und beschwört sie, sich schon in ihren jungen Tagen ihres Schöpfers zu erinnern, ihn zu fürchten, seine Gebote zu halten. Denn das sei die ganze Aufgabe des Menschen (Pred. 12,13). Und an anderer Stelle sagt er: Gewöhne den Knaben an das, was sein Weg erheischt, so geht er auch im Alter nicht davon ab (Spr. 22,6). Daher sagt auch David: Kommt her ihr Kinder, hört mir zu, die Furcht des Herrn will ich Euch lehren (Ps. 34,12). Aber auch der himmlische David, der wahre Salomon, der ewige Gottessohn, der uns neu zu gestalten vom Himmel gesandt wurde, weist uns mit ausgestrecktem Finger auf den gleichen Weg, indem er spricht: Lasset die Kindlein zu mir kommen und wehret ihnen nicht, denn solchen gehört das Reich Gottes (Mark. 10,14). Und zu uns anderen sagt er: Wenn ihr nicht umkehrt und werdet wie die Kinder, so werdet ihr nicht in das Himmelreich kommen (Matth. 18,3). 16. Was sollen nun diese Reden? Merkt auf und hört her, was unser aller Herr und Meister verkündet. Nur die Kinder hält er für des Reiches Gottes würdig, ja er erklärt sie zu Erben dieses Reichs. Und nur die läßt er noch an diesem Erbe teilhaben, welche wie die Kinder geworden sind. O möchtet ihr doch, liebe Kinder, dieses euer himmlisches Privileg erkennen! Seht, euer ist, was unserm Geschlecht noch an Zierde und an Recht auf das himmlische Vaterland geblieben ist; euer ist Christus, euer die Heiligung des Geistes, euer die Gnade Gottes, euer das Erbe der künftigen Zeit; euer ist alles dies, euer vor allem und gewißlich, ja allein für euch bereitet oder für solche, die euch gleich werden. Wir Erwachsenen also, die wir uns allein für wirkliche Menschen halten und euch für Nachäffer, die wir uns allein für weise halten und euch für töricht, uns allein für mündig und euch für kindisch, wir werden zu euch in die Schule geschickt! Ihr seid uns zu Lehrern gegeben, euer Tun soll uns Vorbild und Beispiel sein! 17. Will einer ergründen, warum Gott die Kinder so hoch stellt und so preist, so wird er keinen andern Grund finden als den, daß die Kinder (5)
In der Bibel ist Salomo (10. Jh. v. Chr.) nach Saul und David der dritte Herrscher des vereinigten Königreichs Israel. Er baute den ersten Jerusalemer Tempel zur Verehrung des Gottes Jahwe und gilt in der Tradition als Urheber der biblischen Schriften Buch der Sprichwörter, Kohelet, Hohes Lied und Buch der Weisheit.
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in allem einfacher sind und besser befähigt, die Arznei, welche die göttliche Barmherzigkeit der traurigen menschlichen Situation darbietet, aufzunehmen. Wenngleich nämlich vom Fall Adams her die Verderbnis unser Geschlecht vollständig durchsäuert, so hat doch der zweite Adam, Christus, von neuem das Menschengeschlecht sich, dem Baume des Lebens, einverleibt; und niemand ist darum ausgeschlossen, der sich nicht selbst durch seinen Unglauben ausschließt (Mark. 16,16) – was ja bei Kindern nicht vorkommen kann. Daher werden die Kinder, die sich nicht von neuem mit Sünden und Unglauben beschmutzen, zu Universalerben des Gottesreichs erklärt, soweit sie sich diese empfangene Gottesgnade zu erhalten und sich von der Welt unbefleckt zu bewahren wissen. Drum können die Kinder auch leichter als alle andern unterrichtet werden, da sie von üblen Gewohnheiten noch nicht besessen sind. 18. Aus diesem Grunde befiehlt Christus uns Erwachsenen, umzukehren und zu werden wie die Kinder; das Üble nämlich, das wir aus verkehrter Erziehung geschöpft und aus bösen Beispielen dieser Welt gelernt haben, wieder zu verlernen und zu unserem früheren Zustand der Einfachheit, der Milde, der Demut, der Keuschheit und des Gehorsams usf. zurückzukehren. Nichts allerdings ist schwieriger, als jemanden des Gewohnten wieder zu entwöhnen; denn die Gewohnheit wird zur zweiten Natur, und Natur läßt sich mit keinem Mittel mehr austreiben. 3 Daher ist nichts schwieriger, als einen schlecht unterwiesenen Menschen wieder auf den rechten Weg zu bringen. Denn wie der Baum gewachsen ist, hoch oder niedrig, mit geraden oder verknorrten Ästen, so bleibt er auch in späteren Jahren und läßt sich nicht mehr umgestalten. Und wenn die hölzerne Felge eines Rades in ihrer Form einmal hart geworden ist, bricht sie eher, wie die Erfahrung lehrt, als daß sie sich zurückbiegen ließe. So sagt Gott auch von den Menschen, die gewohnt sind, schlecht zu handeln: Vermag wohl ein Mohr (6) seine Haut zu ändern, oder ein Panther seine Flecken? Dann freilich könnt auch ihr Gutes tun, die ihr des Bösen gewohnt seid (Jer. 13,23). 19. Daraus geht mit Notwendigkeit hervor: Wenn es für das verderbte Menschengeschlecht eine Heilung gibt, dann liegt sie vor allem in einer vorsichtigen und sorgfältigen Erziehung (educatio) der Jugend, 3
Horaz: Epist I, 10, 24: Naturam expellas furca, tamen usque recurret …
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Antiquiert für »Mensch mit dunkler Hauptfarbe«.
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genau wie zur Erneuerung eines Gartens neue Sträucher gepflanzt und die Setzlinge, damit sie wachsen und gedeihen, sorgfältig gepflegt werden müssen. Denn die Möglichkeiten sind nicht groß, alte Bäume zu verpflanzen oder fruchtbar zu machen. Ein einfacher Geist (mentes simplices), der von den nichtigen Vorstellungen und Gewohnheiten dieser Welt noch nicht befleckt und besessen ist, ist für Gottes Zwecke am geeignetsten. 20. Das zeigt Gott selbst durch den Propheten, der die allgemeine Verderbnis beklagt und sagt, niemand sei da, den er die Einsicht lehren, niemand, dem er die Offenbarung verständlich machen könne außer denen, die gerade der Milch entwöhnt und von den Brüsten genommen sind (Jes. 28,9). 21. Dasselbe hat offenbar unser Herr gleichnishaft dartun wollen, als er auf seinem Wege nach Jerusalem befahl, daß ihm eine Eselin und ihr Füllen gebracht werde, und dann nicht auf der Eselin, sondern auf dem Füllen einritt. Der Evangelist setzt noch hinzu, der Herr habe ein Füllen gefordert, auf dem noch nie ein Mensch gesessen (Luk. 19,30). Sollen wir glauben, das sei ohne Absicht geschehen und überliefert? Niemals! In allen Taten und Worten Christi, den kleinsten wie den größten, und darum in jedem Pünktchen der Hl. Schrift liegen geheime Wahrheiten zu unserer Belehrung. Deshalb ist es sicher, daß, wenn auch Christus Greise und Kinder zu sich ruft und beide gerne mit sich zum himmlischen Jerusalem führt, doch die Jüngeren, welche die Welt noch nicht unterjocht hat, eher im Stande sind, sich an das Joch Christi zu gewöhnen, als die, welche die Welt mit ihren Lasten gebrochen und verdorben hat. Deshalb ist es recht und billig, unsere Jugend Christus zuzuführen. Christus freut sich, ihnen sein sanftes Joch und sich selbst aufzuerlegen (Matth. 11,30). 22. Die Jugend sorgfältig erziehen heißt dafür sorgen, daß ihr Sinn vor der Verderbnis der Welt bewahrt bleibe und daß der Same der Tugend, der in ihr liegt, durch dauernde lautere Beispiele und Ermahnungen zu glücklichem Aufkeimen angeregt werde; ferner ihren Sinn zu durchtränken mit der wahren Erkenntnis Gottes, Kenntnis ihrer selbst und der mannigfaltigen Dinge, daß sie sich gewöhne, im Lichte Gottes das Licht zu sehen 4 und den Vater des Lichts über alles zu lieben und zu verehren. 23. Wenn das geschähe, würde sich an der Sache selbst die Wahrheit 4
Ps. 36,10.
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des Psalterwortes bewähren: Gott hat sich aus dem Munde der Unmündigen und Säuglinge sein Lob bereitet um seiner Widersacher willen, daß er seinen Feind und den Rachgierigen vernichte (Ps. 8,3). Damit ist die Vernichtung des Satans gemeint, der sich für seine Verdammung rächen will und darum unter Gottes jungen Bäumchen, unter der Jugend, mit seinen trügerischen Listen Schaden anrichtet und sie mit seinem höllischen Gift (mit Beispielen aller Gottlosigkeit und mit bösen Trieben) von der Wurzel her verseucht, so daß sie völlig verdorren und eingehen oder doch jedenfalls verkümmern und kraftund nutzlos werden. 24. Darum gibt Gott den Kindern nicht nur ihre Schutzengel mit (Math. 18,10), sondern setzt auch ihre Eltern als Erzieher ein und befiehlt ihnen, die Kinder in der Zucht und Ermahnung zum Herrn zu erziehen (Eph. 6,4), und hält alle andern ernsthaft an, die Jugend nicht durch übles Beispiel zu verführen und zu verderben, und droht denen, die es dennoch tun, mit ewigem Fluch (Math. 18,6 f.). 25. Wie aber können wir das leisten in dieser Flut irdischer Verwirrung? Zur Zeit der Erzväter war die Sache leichter: diese heiligen Männer lebten abgeschieden von der Welt; sie waren nicht nur Häupter ihrer Familien, sondern zugleich Priester, Meister und Lehrer. Ihre Kinder wurden am Umgang mit schlechten Menschen gehindert, sie selbst gaben das leuchtende Beispiel der Tugendhaftigkeit und führten die Ihren mit Zuspruch, leichter Mahnung, nötigenfalls auch einmal mit strengem Tadel auf ihrem Wege mit. Gott selbst bezeugt, daß Abraham es so gehalten habe, wenn er sagt: Ich habe ihn erkoren, daß er seinen Söhnen und seinem Hause nach ihm befehle, den Weg des Herrn zu beobachten und Gerechtigkeit und Recht zu üben (1. Mose 18,19). 26. Aber heute leben wir untereinander vermischt, die Guten mitten unter den Bösen. Und die Zahl der Bösen ist unendlich viel größer als die der Guten. Durch das böse Beispiel wird die Jugend so sehr mitgerissen, daß die Anleitungen zur Tugend, die ihr als Mittel gegen das Böse gereicht werden, garkeine oder nur geringe Wirkung haben. 27. Wie steht es aber erst, wenn diese Anleitungen zur Tugend nur ganz selten erteilt werden! Wenige Eltern nur sind überhaupt imstande, ihre Kinder etwas Rechtes zu lehren. Teils haben sie das selbst nicht gelernt, teils setzen sie es beiseite, weil ihr Sinn nach andern Dingen steht. 28. Auch unter den Lehrern gibt es nur wenige, welche der Jugend 64 https://doi.org/10.5771/9783495861011 .
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das Gute auf rechte Weise eingeben (instillare) können. Und wenn es einmal einen gibt, so holt ihn ein Seigneur fort und er muß allein dessen Kindern seine Kräfte widmen, statt daß solcher Reichtum der Öffentlichkeit zugute käme. 29. Daher wächst die übrige Jugend ohne die gehörige Fürsorge auf, wie wildwachsende Bäume, die niemand anpflanzt, bewässert, stutzt und geradezieht. Drum erobern wilde und zügellose Sitten und Gewohnheiten die Welt, die kleinen und großen Städte, alle Häuser und alle Menschen; ihre Leiber und Seelen quellen über von toller Verwirrung. Wenn heute Diogenes, Sokrates, Seneca (7) oder Salomo wieder unter uns erschienen, sie würden nichts anderes vorfinden als zu ihrer Zeit. Wenn Gott vom Himmel zu uns sprechen wollte, er würde nichts anderes sagen als damals: Sie sind alle abgefallen und untüchtig geworden in allen ihren Anschlägen (Ps. 14,3). 30. Wer immer darum – woher er auch kommt – einen Rat geben, sich irgendetwas ausdenken oder mit Flehen, Seufzen und Weinen von Gott erbitten kann, wodurch die aufwachsende Jugend so gut als möglich gefördert wird, der verschweige es nicht, sondern rate, denke und bete. »Verflucht, wer den Blinden auf den falschen Weg führt« spricht Gott (5. Mos. 27,18). Verflucht also auch, wer einen Blinden von seinem Irrwege zurückführen könnte und es nicht tut. »Wehe dem, der eins dieser Kleinsten zum Bösen verführt«, sagt Christus (Matth. 18,6). Wehe also auch dem, der das Böse beseitigen kann und es nicht tut. Gott will nicht, daß ein Esel oder ein Rind durch Feld und Wald irren oder unter ihrer Last erliegen und im Stich gelassen werden, sondern daß man ihnen zu Hilfe eile, auch wenn man nicht weiß, wessen sie sind und auch wenn sie einem Feinde gehören (2. Mos. 23,4; 5. Mos. 22,1). Sollte es dann Gott gefallen, wenn wir nicht unvernünftige Tiere, sondern die vernünftigen Geschöpfe, und zwar nicht bloß das eine oder andere, sondern die ganze Welt im Irrtum sehen und sorglos daran vorbeigehen, ohne Hand anzulegen? Nimmermehr! 31. Verflucht, wer das Werk des Herrn lässig treibt, und verflucht, wer sein Schwert vom Blute Babylons zurückhält (Jer. 48,10). Dürfen wir hoffen, unschuldig zu bleiben, wenn wir das abscheuliche Babylon unserer Verwirrungen mit ruhigem Gemüt ertragen? Es ziehe sein Schwert, wer eines am Gurte trägt oder wer weiß, wo eines verborgen
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Antike Philosophen.
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in einer Scheide steckt. Hilf mit, Babylon zu zerstören, auf daß Jahwe dich segne. 32. Betreibt dieses Werk des Herrn, ihr Obrigkeiten, Diener des höchsten Gottes. Mit dem Schwerte, mit dem euch Gott umgürtet hat, mit dem der Gerechtigkeit, vernichtet die Unordnungen, deren die Welt voll ist und mit denen sie Gott beleidigt. 33. Betreibt auch ihr dieses Werk, ihr Geistlichen, treue Diener Jesu Christi. Vernichtet das Böse mit dem zweischneidigen Schwert der Rede, das euch gegeben ist. 5 Denn ihr seid berufen, das Böse auszureißen, niederzureißen, zu verderben und zu zerstören; das Wahre auszubauen und das Gute zu pflanzen (Jer. 1,10; Ps. 101; Röm. 13,4). Ihr habt ja schon eingesehen, daß man dem Übel im Menschen nie besser begegnen kann, als im frühsten Kindesalter, daß auch die Bäume, die eine Ewigkeit überdauern sollen, am besten als junge Reiser eingepflanzt und gezogen werden; und daß Zion am besten an Babels Stelle erbaut werden kann, wenn die lebendigen Steine Gottes, die Kinder, frühzeitig gebrochen, behauen, geglättet und dem himmlischen Bau eingefügt werden. Wenn wir also wohl geordnete und blühende Kirchen, Staatsund Hauswesen wollen, so müssen wir vor allem unsere Schulen zu Ordnung und Blüte bringen, daß sie zu wahren und lebendigen Werkstätten der Menschheit, zu Pflanzstätten der Kirchen, Staaten und Hauswesen werden. Nur so und auf keinem andern Wege werden wir unser Ziel erreichen. 34. Auf welche Weise das nun angepackt und zu dem gewünschten Erfolg gebracht werden soll, wollen wir, deren Geist der Herr berufen hat, nun vor Augen führen. Wem Gott Augen gegeben hat zu sehen und Ohren zu hören und einen Verstand zu urteilen, der sehe her, höre zu und merke auf. 35. Wenn einem hier ein Licht aufleuchtet, das er bisher nicht gesehen hat, so gebe er Gott die Ehre und neide unserer neuen Zeit nicht diese neue Helligkeit. Wenn du aber in diesem Licht eine Trübung findest, sei sie noch so klein, so beseitige sie und putze sie weg oder sorge dafür, daß sie beseitigt werde. Viele Augen sehen mehr als eines. 36. So wollen wir uns gegenseitig helfen, das Werk Gottes einträchtig anzupacken. So werden wir dem Fluch über alle die, welche das Werk des Herrn vernachlässigen, entrinnen. So werden wir das kostbarste Kleinod der Welt, die Jugend, aufs beste hüten. So werden wir 5
Vgl. Offb. 2,12.
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»Alle alles zu lehren« (1657)
teilhaben am Glanze, der denen verheißen ist, welche ihre Mitmenschen zur Gerechtigkeit weisen (Dan. 12,3). Gott erbarme sich unser und lasse uns in seinem Lichte das Licht sehen. 6 Amen. […]
4. Kapitel: Die drei Stufen der Vorbereitung auf die Ewigkeit: sich selbst (und damit alles andere) erkennen, beherrschen und zu Gott hinlenken […] 1. Die letzte Bestimmung des Menschen ist also offensichtlich die ewige Seligkeit in der Gemeinschaft mit Gott. Dieser aber sind andere Bestimmungen untergeordnet, welche diesem vergänglichen Leben gelten. Das zeigt sich in den Worten Gottes, der bei der Erschaffung des Menschen sprach: Laßt uns Menschen machen nach unserm Bilde, uns ähnlich; die sollen herrschen über die Fische im Meer und die Vögel des Himmels und über alles Getier, das auf der Erde sich regt (1. Mos. 1,26). 2. Daraus geht nämlich hervor, daß der Mensch unter die anderen leiblichen Geschöpfe gestellt wurde als das Geschöpf, welches 1. Vernunft besitzen, 2. die anderen Geschöpfe beherrschen und 3. das Ebenbild und die Freude seines Schöpfers sein soll. Diese drei Bestimmungen sind so unter sich verknüpft, daß sie nicht voneinander getrennt werden dürfen; sie bilden die Grundlage dieses und des künftigen Lebens. 3. Ein vernünftiges Geschöpf sein heißt, sich der Erforschung, der Benennung und dem Durchdenken aller Dinge widmen, d. h. fähig sein, alles zu erkennen, zu benennen und zu verstehen, was es auf der Welt gibt (vgl. 1. Mos. 2,19); oder – wie Salomo bestimmt – den Bau des Weltalls und das Wirken der Elemente verstehen, Anfang, Ende und Mitte der Zeiten, den Wechsel der Sonnenwenden und den Wandel der Jahreszeiten, den Kreislauf der Jahre und die Stellung der Gestirne, die Natur der Lebewesen und die Triebe der wilden Tiere, die Macht der Geister und die Gedanken der Menschen, die Unterschiede der Pflanzen und die Kräfte der Wurzeln, alles, was es nur Verborgenes und 6
Ps. 36,10.
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Sichtbares gibt (Weish. 7,17 ff.). Dahin gehört auch die Kenntnis der Handwerke und die Kunst der Rede, damit uns nirgends im Kleinen wie im Großen etwas unbekannt bleibe (J. Sir. 5,15 bzw. 5,18). So erst wird der Mensch wahrhaftig den Titel eines vernünftigen (rationalis) Wesens behaupten können, wenn er die Gründe (rationes) von allem kennt. 4. Herr über alle Geschöpfe sein heißt, alles seiner eigentlichen Bestimmung gemäß und zugleich sich selbst zum Nutzen und Vorteil ordnen; unter den Geschöpfen überall königlich, nämlich ernst und heilig walten, indem man den einen zu verehrenden Schöpfer über sich, die Engel als seine Mitknechte neben sich, alles andre tief unter sich stehen sieht; die Würde, die uns zugestanden ist, wahren; sich keinem Geschöpfe – und auch der eigenen Fleischlichkeit nicht – preisgeben; alles frei zu seinem Dienste benutzen; und wissen, wo, wann, wie und wieweit man ein jedes Ding klug anwenden, – wo, wann, wie und wieweit man dem Körper nachgeben, – wo, wann, wie und wieweit man dem Nächsten willfahren muß; mit einem Worte: die äußeren und inneren, die eigenen und fremden Regungen und Taten klug zu lenken wissen. 5. Ebenbild Gottes sein endlich heißt, die Vollkommenheit seines Urbilds wirklich nachahmen; so wie Gott selbst sagt: Ihr sollt heilig sein, denn ich bin heilig, ich, euer Gott (3. Mos. 19,2). 6. Daraus ergeben sich die angestammten Bedürfnisse des Menschen, nämlich daß er 1. aller Dinge kundig sei, 2. die Dinge und sich selbst beherrsche, 3. sich und alles auf Gott als den Ursprung aller Dinge zurückführe. Diese drei Bedürfnisse bezeichnen wir mit allgemein bekannten Worten als 1. gelehrte Bildung (eruditio), 2. Tugend oder Sittlichkeit (mores), 3. Frömmigkeit oder Religiosität (religio). Dabei verstehen wir unter gelehrter Bildung die Kenntnis aller Dinge, Künste und Sprachen; unter Sittlichkeit nicht nur den äußeren Anstand, sondern das ganze innere und äußere Verhalten; unter Religiosität jene innere Verehrung, durch welche der Geist des Menschen mit der höchsten Gottheit sich verknüpft und vereinigt. 7. In diesen drei Bedürfnissen liegt die ganze Würde des Menschen beschlossen, sie allein sind die Grundlage des gegenwärtigen und des künftigen Lebens. Alles andere, Gesundheit, Kraft, Schönheit, Reich68 https://doi.org/10.5771/9783495861011 .
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tum, Würde, Freundschaft, Glückserfolg und langes Leben ist nichts als Zugabe und äußerliche Verschönerung des Lebens, wenn es von Gott kommt, oder aber Nichtigkeit, nutzlose Last und böses Hindernis, wenn man es sich selbst in gierigem Streben anhäuft und sich, unter Vernachlässigung jener höheren Güter, nur damit beschäftigt und darein vergräbt. […]
5. Kapitel: Der Mensch besitzt von Natur aus die Anlage zu diesen drei Dingen: zu gelehrter Bildung, zur Sittlichkeit und zur Religiositt […] 4. (I.) Offensichtlich ist jeder Mensch von Geburt aus fähig, das Wissen von den Dingen zu erwerben. Das geht erstens daraus hervor, daß er Abbild (imago) Gottes ist. Ein Abbild trägt aber, wenn es genau ist, notwendig die Züge seines Urbildes (archetypus) – sonst wäre es kein Abbild. Wenn also unter den Eigenschaften Gottes die Allwissenheit besonders hervortritt, so wird notwendig ein Abglanz davon auch im Menschen widerstrahlen. Wie könnte es auch anders sein? Es steht der Mensch inmitten der Werke Gottes mit seinem hellen Verstand, der sich einer Kugel aus Spiegelglas vergleichen läßt – einer Kugel, die in einem Gemach hängt und die Erscheinung aller Dinge ringsumher auffängt; aller Dinge, denn unser Verstand ergreift nicht nur das Naheliegende: auch das räumlich oder zeitlich Entfernte holt er sich heran, forscht nach dem Verborgenen, erschließt das Verhüllte und müht sich um die Erforschung des Unerforschlichen; so unendlich und unbegrenzbar ist er. Räumte man dem Menschen auch tausend Lebensjahre ein, in denen er immer irgendetwas hinzulernen und so eines aus dem anderen begreifen könnte, so würde er immer noch irgendwo das Dargebotene unterbringen; von solch unerschöpflicher Fassungskraft ist der Verstand des Menschen, daß er im Erkennen einem Abgrunde gleicht. Unserem Körper sind sehr enge Grenzen gesetzt, die Stimme reicht schon etwas weiter; der Blick wird nur das Himmelgewölbe eingeschränkt. Dem Verstand aber kann weder im Himmel noch irgendwo außerhalb des Himmels eine Grenze gesetzt werden. Er erhebt sich über den höchsten Himmel und steigt hinab unter den tiefsten Abgrund. Und wären sie noch tausendmal ferner, so durcheilte er sie doch 69 https://doi.org/10.5771/9783495861011 .
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mit unglaublicher Schnelligkeit. Sollten wir da bestreiten, daß er zu allem Zugang findet, alles fassen kann? […] 7. Dem Menschen ist ferner der Wissensdrang eingepflanzt und die Fähigkeit, Arbeit nicht nur geduldig auf sich zu nehmen, sondern zu begehren. 7 Das tritt schon im frühesten Kindesalter zutage und begleitet uns durchs ganze Leben. Denn wer begehrte nicht stets etwas Neues zu hören, zu sehen und zu treiben? Wer ist nicht darauf bedacht, täglich irgendwohin zu gelangen, sich mit jemandem zu unterhalten, sich nach etwas zu erkundigen oder etwas weiter zu erzählen? Die Sache verhält sich nämlich so: Augen, Ohren, Tastsinn und Verstand sind ständig auf der Suche nach Nahrung und gehen ständig aus sich heraus. Nichts ist der lebendigen Natur so unerträglich wie Müßiggang und Trägheit. Und daß selbst die Dummen die Gelehrten bewundern, ist doch wohl ein Beweis dafür, daß auch sie den Reiz dieses natürlichen Verlangens verspüren. Gern würden sie ihn teilen, wenn sie dies auch nur hoffen dürften. Weil sie jedoch ohne Hoffnung sind, seufzen sie und schauen auf zu denen, die sie über sich sehen. […] 9. Das gleiche lehren die Dinge, denen sich unser Verstand vergleichen läßt. Nimmt denn nicht die Erde, mit der die Schrift oft unser Herz vergleicht, 8 Samen jeglicher Art auf? Läßt sich nicht ein und derselbe Garten mit Gräsern, Blumen und Gewürzen aller Art bepflanzen? Jawohl, wenn es dem Gärtner nicht an Klugheit und Fleiß gebricht! Und je größer die Vielfalt, umso angenehmer ist dem Auge der Anblick, umso süßer der Nase der Duft, umso kräftiger dem Herzen die Erquickung. Aristoteles hat den Geist des Menschen einer leeren Tafel verglichen, auf welcher noch nichts geschrieben steht, auf die aber alles geschrieben werden kann. 9 Wie ein sachverständiger Schreiber auf eine leere Tafel schreiben oder ein Maler darauf malen kann, was er will, so kann der, welcher die Kunst des Lehrens beherrscht, mit Leichtigkeit dem menschlichen Geiste alles einprägen. Gelingt das nicht, so ist es nur zu gewiß, daß nicht die Tafel schuld ist, die allenfalls etwas rauh sein mag, sondern allein die Unfähigkeit des Schreibers oder Malers. Ein Unterschied besteht nur darin, daß man auf der Tafel 7 8 9
Aristoteles: Metaphysik I, Anfang (Berliner Akademieausgabe ed. Bekker 980). Z. B. Lukas 8,5. Aristoteles: Über die Seele III, 4 (Bekker 430 a).
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die Striche nur bis zum Rande führen kann. Im menschlichen Geiste kann man weiter und weiter schreiben und modellieren und wird an kein Ende kommen, da er, wie schon gesagt, ohne Grenzen ist. 10. Gut läßt sich auch unser Gehirn (cerebrum), die Werkstatt unsrer Gedanken, mit dem Wachs vergleichen, auf das ein Siegel gedrückt oder das zu kleinen Figuren geknetet wird. So wie nämlich das Wachs jede Form annimmt und sich, so wie man will, gestalten und umgestalten läßt, so nimmt auch das Gehirn die Bilder aller Dinge, welche die Welt enthält, in sich auf. Dieses Beispiel zeigt zugleich hübsch, worin unser Denken Wissen besteht: Alles, was mein Gesicht oder Gehör, meinen Geruchs-, Geschmacks- oder Tastsinn berührt, gleicht einem Petschaft, mit dessen Hilfe Abbilder der Dinge dem Gehirn eingedrückt werden; und das so deutlich, daß das Abbild auch dann noch bestehen bleibt, wenn der Gegenstand von den Augen, den Ohren, der Nase oder Hand wieder entfernt wird. Es muß erhalten bleiben, falls nicht aus Unaufmerksamkeit nur ein schwacher Eindruck zustande kam. Wenn ich z. B. irgendeinen Menschen getroffen und angeredet habe, wenn ich auf einer Reise einen Berg, einen Fluß, ein Feld, einen Wald, eine Stadt o. ä. gesehen, wenn ich einen Donner, ein Musikstück, irgendwelche Reden gehört, wenn ich aufmerksam bei einem Autor etwas gelesen habe, so prägt sich alles dieses dem Verstande ein. Uns sooft die Erinnerung darauf kommt, ist es gerade so, als ob die Sache jetzt vor Augen stände, in den Ohren klänge, geschmeckt oder berührt würde. Wenn auch das Gehirn manche Eindrücke deutlicher als andere aufnimmt, klarer vergegenwärtigt und beständiger festhält, so nimmt es doch jeden einzeln auf irgendeine Weise auf, vergegenwärtigt ihn und hält ihn fest. 11. Bringt uns das nicht wunderbar die göttliche Weisheit vor Augen, die dafür gesorgt hat, daß diese wirklich nicht große Masse des Gehirns ausreicht, jene tausend und abertausend Bilder aufzunehmen? […] 14. […] An unseren Mitmenschen lieben wir doch die Tugenden (denn auch die nicht tugendhaften bewundern die Tugenden anderer, wenn sie ihnen darin auch nicht nachfolgen, da sie sich nicht für fähig halten, ihre schlechten Gewohnheiten zu überwinden); warum liebt sie dann nicht jeder an sich selbst? Wahrlich, wir sind blind, wenn wir nicht einsehen, daß die Wurzeln aller Harmonie in uns liegen. 15. Aber auch der Mensch selbst ist nichts als Harmonie, im Hinblick sowohl auf den Körper als auch auf die Seele. Denn wie das Welt71 https://doi.org/10.5771/9783495861011 .
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all 10 selbst einem mächtigen Uhrwerk gleicht, das aus vielen Rädern und Glocken so kunstvoll zusammengesetzt ist, daß im ganzen Werk zur Harmonie und zum dauernden Fortgang alle Teile ineinander greifen: so auch der Mensch. Im Körper nämlich, der so wunderbar kunstvoll gebaut ist, ist zunächst das Herz der Motor (mobile), die Quelle des Lebens und der Handlungen, von dem die anderen Glieder Bewegung und Bewegungsmaß erhalten. Das Gewicht aber, das die Bewegungen auslöst, ist das Gehirn: mit Hilfe der Nerven zieht es wie mit Seilen die übrigen Räder (nämlich die Glieder) hin und zurück. Die Mannigfaltigkeit der inneren und äußeren Tätigkeiten besteht in eben jenem maßvollen Verhältnis der Bewegungen. 16. Analog ist in den Bewegungen der Seele der Wille das Hauptrad. Die Gewichte, die sie treiben und den Willen hier- und dorthin neigen, sind die Wünsche und Leidenschaften. Der Anker, welcher die Bewegung freigibt oder zurückhält, ist die Vernunft, die abmißt und bestimmt, welche Dinge man wo und wie weit anstreben oder fliehen muß. Die übrigen Bewegungen der Seele sind kleineren Rädern zu vergleichen, die dem Hauptrade folgen. Wenn daher den Wünschen und Leidenschaften kein zu großes Gewicht zugemessen wird und der Anker – nämlich die Vernunft – richtig öffnet und schließt, so muß sich daraus eine Harmonie und ein Einklang der Tugenden ergeben, das rechte Gleichmaß von Handeln und Leiden. 17. Der Mensch ist also wahrhaftig in sich selbst nichts andres als Harmonie. Und wie wir von einem Uhrwerk oder von einem Musikinstrument, welches aus der Hand eines erfahrenen Künstlers stammt, nicht gleich erklären, es sei nichts mehr nütze, wenn es verstimmt ist und schlecht tönt – denn es kann doch wiederhergestellt und ausgebessert werden – so muß auch vom Menschen, so sehr er durch den Sündendfall verdorben sein mag, gesagt werden, daß er durch die Kraft und Tugend Gottes mit Hilfe zuverlässiger Mittel in seiner Harmonie wiederhergestellt werden kann. 18. (III.) Daß die Wurzeln der Religiosität in der Natur des Menschen liegen, wird dadurch bewiesen, daß der Mensch Ebenbild Gottes ist. Ebenbildlichkeit schließt nämlich Ähnlichkeit ein; Ähnliches freut sich an Ähnlichem heißt ein unveränderliches Gesetz aller Dinge (J. Sir. 13,15 bzw. 19). Da der Mensch nun nicht seinesgleichen hat Maior mundus: der Mensch als Mikrokosmos ist der größeren Welt gegenübergestellt.
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außer dem, nach dessen Bilde er geschaffen ist, so gibt es folglich nichts, wonach sein Begehren mehr stünde, als die Quelle, der er selbst entsprang, wenn er sie nur einmal deutlich genug erkannt hat. 19. Das wird ja beispielhaft auch an den Heiden deutlich, die, durch kein Gotteswort unterwiesen, allein durch den geheimen Naturinstinkt eine Gottheit erkannten, verehrten und anflehten, so sehr sie sich auch irrten in der Zahl und in der Art ihrer Kulte. »Alle Menschen haben einen Begriff von Göttern und alle weisen einer göttlichen Macht die höchste Stelle zu« schreibt Aristoteles. 11 Und Seneca (8) sagt: »Die erste Verehrung der Götter besteht darin, an die Götter zu glauben; ferner ihre Majestät zu achten, ihre Güte anzuerkennen, ohne die es keine Majestät gibt; und zu wissen, daß sie es sind, die die Welt lenken, die das Weltall als ihr Eigentum regieren und das Menschengeschlecht in ihren Schutz nehmen«. 12 Wie wenig ist das noch entfernt von dem Wort des Apostels (Hebr. 11,6): Wer sich Gott nahen will, der muß glauben, daß er ist und daß er die, welche ihn mit Ernst suchen, belohnen wird. 20. Plato sagt: Gott ist das höchste Gut, nach dem alles trachtet; er steht über aller Substanz und über aller Natur. 13 Diese Wahrheit, daß nämlich Gott das höchste Gut ist, nach dem alles trachtet, bestätigt Cicero: »Die Natur ist die erste Lehrmeisterin der Frömmigkeit«. 14 Weil wir nämlich, wie Laktanz (9) schreibt, unter der Bedingung geboren werden, daß wir Gott unserem Schöpfer gerechten und schuldigen Gehorsam erzeigen, so wollen wir ihn allein kennen, ihm nur folgen. Durch dieses Band der Frömmigkeit sind wir Gott verpflichtet und verbunden. Daher leitet auch das Wort Religion sich her. 15 […]
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(8) (9)
Aristoteles: Über den Himmel I, 3 (Bekker 270 b). Epist. 95, 50 (Hense 437, 9 ff.). Plato: Timaios Kap. IV bringt diesen Satz nicht wörtlich, aber dem Sinne nach. Cicero: De natura deorum lib. I, 42, 117. Laktanz: Divinarum institutionum lib. IV, 28. Seneca (ca. 1–65 n. Chr.), römischer Philosoph. Lucius Caecilius Lactantius, Lactanz (gest. nach 317), lateinischer Kirchenschriftsteller.
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6. Kapitel: Der Mensch muß zum Menschen erst gebildet werden […] 1. Die Samen des Wissens, der Tugend und des Glaubens legt, wie wir sahen, die Natur. Wissen, Tugend und Glauben selbst aber schafft sie nicht – die werden durch Beten, durch Lernen und durch Tätigkeit erworben. Darum hat einmal jemand den Menschen nicht unzutreffend gekennzeichnet als »ein der Zucht zugängliches Lebewesen« (animal disciplinabile), da er ja ohne Zucht nicht zum Menschen werden kann. 2. Betrachten wie das Wissen (scientia rerum) näher: Ohne Anfang, ohne Fortgang, ohne Ende, in der einen, ungeteilten Schau alles zu wissen ist Gott vorbehalten. Den Menschen und den Engeln konnte das nicht zuteil werden, da ihnen Unendlichkeit und Ewigkeit, d. h. Göttlichkeit, nicht zukam. Groß genug ist schon die Auszeichnung, die Menschen und Engel in der Gabe eines scharfen Verstandes 16 empfangen haben, mit dem sie die Werke Gottes durchforschen und sich einen Schatz von Erkenntnissen zusammentragen können. Von den Engeln ist ja bekannt, daß sie durch Schauen lernen (1. Petr. 1,12; Eph. 3,10; 1. Kön. 22,19; Hiob 1,6); ihre Erkenntnis ist, wie die unsrige, auf Erfahrung gegründet. 3. Niemand glaube also, daß wirklich Mensch sein kann, wer sich nicht als Mensch zu verhalten gelernt hat, d. h. zu dem, was den Menschen ausmacht, herangebildet worden ist. […] 6. Es gibt Beispiele dafür, daß Menschen, die in ihrer Kindheit von wilden Tieren geraubt und unter ihnen aufgezogen wurden, mit ihrem Wissen ganz in der Rohheit stecken geblieben sind; sie vermochten mit der Sprache, mit den Händen und mit den Füßen nichts, was sie von den wilden Tieren unterschieden hätte, bevor sie sich nicht wieder eine zeitlang unter Menschen aufgehalten hatten. Ich gebe dafür einige Beispiele: Um das Jahr 1540 ereignete es sich in Hessen in einem mitten im Walde gelegenen Dorfe, daß ein dreijähriger Junge, auf den die Eltern nicht aufpaßten, verloren ging. Einige Jahre später bemerkten die Bauern, daß unter den Wölfen ein Lebewesen mitlief, das seiner Gestalt nach von ihnen verschieden war, zwar vierfüßig, aber dem Gesichte nach dem Menschen ähnlich. Als sich das nun herumgesprochen hatte, da ordnete der Bürgermeister des Ortes an, man solle doch ver16
Vgl. Comenius: Physicae Synopsis Kap. 11 § 11, ed. J. Reber 298 f.
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suchen, es auf irgend eine Weise lebendig zu fangen. Wirklich wurde es ergriffen und dem Bürgermeister, später dann auch dem Landgrafen von Kassel zurückgeführt. Als man es in den Hof des Fürsten brachte, riß es sich los, entfloh, verbarg sich unter eine Bank, mit gräßlichem Blick und unter abscheulichem Geheul. Der Fürst befahl, es unter anderen Menschen aufzuziehen. Das geschah, und das wilde Tier begann allmählich zahm zu werden, sich auf den Hinterbeinen aufzurichten, zweifüßig zu gehen und endlich verständig zu sprechen und ein Mensch zu werden. Und dieser Mensch berichtete nun, daß er, soviel er sich erinnern könne, von den Wölfen geraubt und aufgezogen worden und dann mit ihnen auf Beute ausgegangen sei. […] Gulartius berichtet in seinem Buch »Wunder unseres Jahrhunderts«, daß im Jahre 1563 in Frankreich einige Adlige, die auf der Jagd waren und schon zwölf Wölfe erlegt hatten, in ihren Jagdschlingen einen etwa siebenjährigen Jungen fingen, nackt, mit brauner Haut und krausem Haar. Seine Nägel glichen den Krallen eines Adlers. Statt zu sprechen konnte er nur unartikuliert brüllen. Man brachte ihn auf das Schloß und konnte ihm nur mit Mühe Fesseln anlegen, so wild gebärdete er sich. Durch eine Hungerzeit von einigen Tagen geschwächt begann er zahmer zu werden, und sieben Monate später fing er an zu sprechen. Er wurde als Schaustück in den Städten herumgeführt und brachte seinen Herren keinen kleinen Gewinn. Schließlich erkannte eine arme Frau ihn als ihren Sohn. 17 So wahr ist es, was Plato schreibt: Der Mensch sei das zahmste und göttlichste Lebewesen, wenn er nur die rechte Zucht erfahre; werde ihm aber keine zuteil oder falsche, so sei er das wildeste von allen, welche die Erde hervorbringe. 18 7. So viel über die [allgemeine] Notwendigkeit einer solchen Wartung (cultura) für alle. Auf die gleiche Forderung stoßen wir, wenn wir die einzelnen Eigenschaften und Situationen der Menschen betrachten. Die Dummen bedürfen der Zucht, um ihre Stumpfheit abzuschütteln, das wird niemand bestreiten. Aber weit mehr noch bedürfen ihrer die Gescheiten. Denn der scharfe Verstand wendet sich unnützen, absonderlichen und gefährlichen Dingen zu, wenn er nicht mit Nützlichem beschäftigt wird. Wie ein Acker die Samen von Dornen und Disteln 17 Simon Goulart: Thrésor d’histoire admirables. Paris 1600/10 und mehrfach; unter Enfans nourris parmi les loups. Comenius hat seinen Bericht, wenn auch über einen Mittelsmann, wohl aus Goulart geschöpft. 18 Plato: Gesetze VI (Kap. 12), 766 a.
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umso reichlicher aufgehen läßt, je fruchtbarer er ist, so ist auch ein kluger Verstand voller absonderlicher Gedanken, wenn er nicht mit Weisheit und Tugend besät wird. Und wenn man einer Mühle, die in Betrieb ist, kein Getreide, keinen Grundstoff für das Mehl gibt, so nutzt sie sich selbst ab, zerreibt mit Lärmen und Krachen ihre Steine nutzlos zu Staub, erleidet Schaden oder zerbricht gar in Stücke. So ergeht es auch dem lebhaften Geiste, welcher der ernsthaften Beschäftigung entbehrt: er verwickelt sich in eitle, absonderliche und ganz verderbliche Dinge und wird Ursache seines eigenen Untergangs. 8. Was sind Reiche ohne Weisheit andres als mit Kleie gemästete Schweine? Und was sind Arme ohne Verständigkeit andres als zum Lasttragen verurteile Esel? Was ist ein Schöner, der nichts gelernt hat, andres als ein federgezierter Papagei, oder, wie einmal jemand sagte, eine goldene Scheide mit einem bleiernen Dolch darin? 19 9. Daß diejenigen, welche einst anderen befehlen sollen, Könige, Fürsten, Beamte, Pfarrer und Lehrer, zuvor mit Weisheit erfüllt werden, ist gerade so nötig wie für einen Wegführer die Augen, für einen Dolmetscher die Sprache, für eine Trompete der Ton oder für ein Schwert die Schärfe. In gleicher Weise müssen aber auch die Untergebenen aufgeklärt werden, damit sie den weisen Gebietern auf kluge Art gehorchen, nicht aus Zwang und im Eselsgehorsam, sondern freiwillig und aus Liebe zur Ordnung. Denn nicht mit Geschimpfe, mit Arrest oder mit Prügeln, sondern durch die Vernunft soll das vernünftige Geschöpf geleitet werden. Wird das falsch gemacht, so liegt darin zugleich eine Kränkung Gottes, der doch auch in jenen sein Ebenbild niedergelegt hat. Unruhe und Gewalttat werden die menschlichen Beziehungen beherrschen, ja beherrschen sie schon. 10. Es zeigt sich also, daß alle, die als Menschen geboren worden sind, der Unterweisung bedürfen, eben weil sie Menschen sein sollen und nicht wilde Tiere, rohe Bestien oder unbehauene Blöcke. Daraus ergibt sich auch, daß einer um soviel mehr die anderen überragt, als er besser geübt ist als die anderen. Schließen wir also dieses Kapitel mit einem Worte aus dem Buch der Weisheit: Die Weisheit und Zucht gering achten, sind unglücklich, und eitel ist ihre Hoffnung (nämlich darauf, ihr Ziel zu erreichen), ihre Mühen nutzlos und vergeblich ihre Werke (Weish. 3,11).
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Diogenes Laertius: Leben und Meinungen berühmter Philosophen VI § 65.
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7. Kapitel: Die Bildung des Menschen kann am besten – und muß deshalb auch – im frhsten Alter vorgenommen werden […] 1. Aus dem Gesagten geht hervor, daß die Bedingungen des Menschen denen des Baumes ähnlich sind. Ein fruchttragender Baum, ein Apfel-, ein Birn-, ein Feigenbaum oder ein Weinstock kann zwar von sich aus und durch sich selbst heranwachsen, aber er bleibt wild und trägt wilde Früchte. Soll er wohlschmeckende und süße Früchte bringen, so muß er von einem kundigen Gärtner gesetzt, bewässert und beschnitten werden. So erhebt sich auch der Mensch durch sich selbst zu menschlicher Gestalt – so wie auch jedes Tier sich zu der seinen –, aber zu einem vernünftigen, weisen, tugendhaften und frommen Wesen kann er sich nicht erheben, ohne daß ihm zuvor die Reiser der Weisheit, der Tugend (honestas) und der Frömmigkeit aufgepfropft werden. Es ist nun zu zeigen, daß diese Pfropfung vorgenommen werden muß, solange die Pflanzen noch jung sind. 2. Im Hinblick auf den Menschen läßt sich dieser Satz sechsfach begründen. Erstens mit der Unsicherheit des gegenwärtigen Lebens: wir wissen, daß wir es verlassen müssen, wann aber und wohin, das wissen wir nicht. Daß aber jemand unvorbereitet hinweggerafft werden kann, ist eine große Gefahr, weil es unwiderruflich bleibt. Denn die gegenwärtige Zeit ist dem Menschen gegeben, daß er Gottes Gnade entweder finde oder auf ewig verliere. Im Mutterleibe wird der menschliche Körper so gebildet, daß der, welcher ein Glied von dort her nicht mitbringt, es sein ganzes Leben lang entbehren muß. Ebenso wird uns, die wir jetzt im Körper leben, die Seele so gebildet für die Erkenntnis Gottes und für die Gemeinschaft mit ihm, daß der, welcher solches hier nicht erlangt hat, nach seinem leiblichen Tode keine Zeit und Gelegenheit mehr dafür finden wird. Da es sich also um eine so gewichtige Sache handelt, ist die größte Hast geboten, damit niemand zuvor vom Tode ereilt werde. 3. Aber wenn auch der drohende Tod nicht zur Eile mahnte und man eines sehr langen Lebens sicher wäre, so müßte man dennoch frühzeitig mit der Bildung beginnen, weil das Leben ja nicht mit Lernen, sondern mit Handeln zugebracht werden soll. Wir sollten also so früh wie möglich zu den Handlungen des Lebens angeleitet werden, damit wir nicht, noch bevor wir zu handeln gelernt haben, abberufen werden. Denn wenn auch einer das ganze Leben mit Lernen zubringen wollte, 77 https://doi.org/10.5771/9783495861011 .
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so ist doch die Menge der Dinge unendlich, welche der Schöpfer unserm Forschungseifer anheimgegeben hat, so daß einer selbst mit dem Leben eines Nestor Nützliches genug zu tun hätte, indem er die überall ruhenden Schätze der göttlichen Weisheit ausgrübe und dadurch sich Schätze im Himmel erwürbe. Frühzeitig also müssen dem Menschen die Sinne zur Betrachtung erschlossen werden, denn vieles muß er sein ganzes Leben hindurch kennen lernen, erforschen und erstreben. 4. Es ist eine Eigenschaft alles dessen, was wächst, daß es im zarten Alter leicht gebildet und gebogen werden kann, wenn es aber hart geworden ist, den Gehorsam verweigert. Weiches Wachs läßt sich gestalten und umkneten, hartes zerbröckelt, bevor es sich formen ließe. Bäumchen lassen sich pflanzen, umsetzen, beschneiden und da- und dorthin biegen, der fertige Baum jedoch keineswegs. Wer eine Sehne aus Holzfasern drillen will, muß grüne und frische nehmen; alte, trokkene und knorrige lassen sich nicht drehen. Frische Eier werden durch Brüten bald warm und Junge schlüpfen heraus, bei alten Eiern wird man vergeblich darauf hoffen. Der Züchter sucht sich ein Pferd, der Bauer ein Rind, der Jäger einen Hund und einen Falken, der Bärenführer seinen Tanzbären und ein altes Weib eine Elster, einen Raben oder einen Papageien zur Nachahmung menschlicher Stimmen als ganz junge Tiere aus; würden sie alte nehmen, wäre ihre Mühe vergebens. 5. Alles dieses gilt offensichtlich gleichermaßen von Menschen. Sein Gehirn, das wir oben mit dem Wachs verglichen haben, da es die durch die Sinnesorgane einfallenden Bilder festhält, ist im Kindesalter noch ganz feucht und weich und zur Aufnahme aller Bilder, die ihm begegnen, fähig. Später aber wird es allmählich trockener und härter, so daß sich ihm die Dinge schwerer eindrücken und aufprägen, wie die Erfahrung lehrt. Daher sagt Cicero: »Knaben fassen geschwind unzählige Dinge auf«. 20 So können auch die Hände und die übrigen Glieder nur im Knabenalter, solange die Sehnen noch weich sind, zu künstlerischer und handwerklicher Tätigkeit geübt werden. Soll einer einen guten Schreiber, Maler, Schneider, Handwerker oder Musiker abgeben, so muß er vom frühen Alter an, solange die Vorstellungskraft (imaginatio) noch rege und die Finger noch beweglich sind, auf diese Kunst vorbereitet werden, sonst wird er nie etwas leisten. Gleicherweise muß auch die Frömmigkeit dem, in dessen Herzen sie Wurzel schlagen 20
Cicero: Cato maior de senectute C. 21 § 78.
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soll, in frühesten Jahren eingepflanzt werden. Wünschen wir, daß einer zu guten Sitten gelange, so muß er in zartem Alter ausgeglättet werden. Wenn einer im Studium der Weisheit große Fortschritte machen will, so müssen ihm in frühesten Jahren für alles die Sinne geöffnet werden, solange der Eifer noch brennend, der Geist noch behende, das Gedächtnis noch zuverlässig ist. Ein Greis, der in den Anfangsgründen steckt, ist eine verächtliche und lächerliche Erscheinung. Der Jüngling soll bereiten, der Greis es verwenden, sagt Seneca. 21 6. Damit der Mensch zur Menschlichkeit gebildet werden könne, hat Gott ihm die Jugendjahre gegeben, in denen er zu anderem ungeeignet und allein zur Bildung tauglich sein soll. Pferd, Rind, Elefant und andere wer weiß wie große Lebewesen sind nämlich im ersten oder im zweiten Jahre schon völlig ausgewachsen, der Mensch allein kaum im zwanzigsten oder dreißigsten Jahr. […]
8. Kapitel: Die Jugend muß gemeinschaftlich in Schulen gebildet werden […] 1. Nachdem wir gezeigt haben, daß die christliche Jugend, diese Paradiesespflanzung, nicht wild aufwachsen soll, sondern der Pflege (cura) bedarf, müssen wir nun sehen, wem diese obliegt. Am meisten geht sie naturgemäß die Eltern an: sie sollen denjenigen, denen sie das Leben gegeben haben, nun auch ein vernünftiges, ein ehrenhaftes, ein frommes Leben geben. […] 2. Weil jedoch bei der Zunahme der Menschen und der menschlichen Geschäfte die Eltern selten geworden, welche so gescheit und fähig sind und von ihrer Tätigkeit genügend Zeit erübrigen können, sich dem Unterricht ihrer Kinder zu widmen, war man schon vor Zeiten so wohlberaten, es so einzurichten, daß auserwählten Persönlichkeiten, die durch Verständigkeit und sittlichen Ernst hervorragen, die Kinder vieler Eltern gleichzeitig zur wissenschaftlichen Bildung anvertraut werden. Solche Bildner der Jugend nennt man Lehrer, Magister, Schulmeister oder Professoren, und die Stätten, die für solche gemeinsamen Übungen bestimmt sind: Schulen, Lehranstalten, Auditorien, Kollegien, Gymnasien, Universitäten u. ä. 21
Seneca: Epist. 36, 4 (Beltram I, 133).
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[…] 4. Es liegt im Interesse der gesamten Christenheit, daß diese heilige Gewohnheit sich nicht nur erhalte, sondern sich noch ausbreite, daß nämlich überall dort, wo Menschen geordnet zusammenleben, in jeder Stadt, jedem Flecken und jedem Dorf als gemeinschaftliche Erziehungsstätte der Jugend eine Schule errichtet werde. Denn solches fordert: 5. Erstens: Die rechte Ordnung (rerum ordo). Ein Familienvater kann sich nicht der Beschaffung von allen Dingen, welche der Haushalt benötigt, selber widmen, sondern stellt die verschiedenen Handwerker an. Gilt nicht auf unserm Gebiete das Gleiche? Für seinen Bedarf an Mehl geht jener zum Müller, fürs Fleisch zum Metzger, für Getränke zum Wirt, für Kleidung zum Schneider, für Stiefel zum Schuhmacher, für ein Gebäude, eine Pflugschar, einen Nagel o. ä. zum Zimmermann, Maurer, Schmied oder Schlosser. Da wir nun doch zur Unterweisung der Erwachsenen im Glauben Kirchen, für Rechtshändel streitender Parteien und für Volksversammlung und -information Gerichtshöfe und Rathäuser haben – warum nicht auch Schulen für die Jugend? Auch die Bauern weiden ihre Schweine und Kühe nicht ein jeder selbst, sondern halten Hirten in Lohn, die allen gleichermaßen dienen, während sie selbst sich inzwischen unabgelenkt ihren übrigen Arbeiten widmen können. Das kürzt die Arbeiten auf vortreffliche Weise ab, wenn einer nur eines tut und durch anderes nicht abgelenkt wird. So kann nämlich einer vielen und viele dem einen gute Dienste erweisen. 6. Zweitens: Der Zwang der Umstände (necessitas). Nur selten sind die Eltern selbst dazu fähig und haben die Zeit dazu, ihre Kinder zu unterrichten. Darum muß es Leute geben, die sich nur dieser Aufgabe beruflich widmen, damit so für die ganze Gemeinde gesorgt ist. 7. Und wenn es auch an Eltern nicht fehlte, die sich dem Unterricht ihrer Kinder widmen könnten, so ist es doch besser, der Jugend in größerem Kreise gemeinsamen Unterricht zu erteilen. Denn die Früchte der Arbeit und der Eifer sind größer, wenn man durch andere angeregt wird und sich an ihnen ein Beispiel nimmt. Denn es ist etwas sehr natürliches, zu tun, was die anderen tun, dorthin zu gehen, wohin die anderen gehen, Vorangehenden zu folgen und Nachfolgenden voranzugehen. Ein starkes Pferd eilt davon, sobald die Schranke sich hebt, Einigen läuft es vorbei, anderen bleibt’s im Gefolg. 22 22
Ovid: Ars amatoria III, 595 f.
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Das Kindesalter überhaupt läßt sich leichter durch Beispiele als durch Regeln führen und lenken. Ordnet man etwas an, so bleibt wenig davon haften. Zeigt man aber, wie andere es machen, so ahmen es die Kinder auch ungeheißen nach. 8. Endlich bietet uns auch die Natur überall Beispiele dafür, daß an einer Stelle ausschließlich erzeugt werden muß, was in reichem Maße entstehen soll. So bilden sich die Bäume in den Wäldern, die Halme auf den Feldern, die Fische im Wasser und die Metalle im Innern der Erde immer in größeren Mengen. Und meistens ist es so, daß ein Wald entweder Tannen oder Zedern oder Eichen in reichem Maße wachsen läßt, daß aber andere Baumarten dort nicht ebenso gedeihen. Und wenn eine Erde Gold enthält, so enthält sie nicht andere Metalle in gleicher Menge. Nochmehr aber kommt das, was wir hier sagen wollen, in unserm Körper zum Ausdruck: Ein jegliches Glied muß zwar von der aufgenommenen Nahrung etwas bekommen; doch wird nicht etwa jedem Glied sein Anteil roh geliefert und die Verarbeitung und Zubereitung selbst überlassen. Sondern es gibt spezielle Glieder, die gleichsam als Werkstätten für diese Aufgaben bestimmt sind, um die Speisen zum Nutzen des ganzen Körpers aufzunehmen, zu verarbeiten, zu verdauen und erst die so zubereitete Nahrung den übrigen Gliedern zukommen zu lassen. So bildet der Magen die Säfte, die Leber das Blut, das Herz den Geist des Lebens, das Gehirn den der Seele. Sie bereiten das zu und verteilen es ohne Schwierigkeit überallhin und erhalten auf diese Weise im ganzen Körper das Leben aufs beste. Wie also Werkstätten das Handwerk, Kirchen die Frömmigkeit, Gerichtshöfe die Gerechtigkeit bewahren und verwalten, sollten so nicht auch Schulen das Licht der Weisheit entzünden, reinhalten und vermehren und im ganzen Körper der Menschengemeinschaft ausbreiten? 9. Auf dem Gebiete der Künste schließlich beobachten wir, wo sie vernünftig gehandhabt werden, das gleiche. Ein Baumzüchter, der Wald und Gesträuch durchstreift und irgendwo einen Setzling trifft, der zur Anpflanzung tauglich ist, setzt den nicht an Ort und Stelle ein, sondern gräbt ihn aus und setzt ihn in einen Obstgarten, wo er ihn mit hundert anderen zugleich pflegt. Und wer sich um die Fischzucht für den Küchengebrauch bemüht, der legt Teiche für die Fische an und läßt sie sich dort tausendfach vermehren. Und je größer der Garten, umso besser pflegen die Bäume zu gedeihen, und je größer der Fischteich, umso zahlreicher die Fische. Wie also für die Fische solche Teiche und
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für die Bäume solche Gärten, so müssen für die Jugend Schulen angelegt werden.
9. Kapitel: Die gesamte Jugend beiderlei Geschlechts muß den Schulen anvertraut werden […] 1. Nicht nur die Kinder der Reichen und Vornehmen sollen zum Schulbesuch angehalten werden, sondern alle in gleicher Weise, Adlige und Nichtadlige, Reiche und Arme, Knaben und Mädchen aus allen Städten, Flecken, Dörfern und Gehöften. Das wird im folgenden deutlich. 2. Zunächst sind alle als Menschen Geborene zu dem Hauptzwecke geboren, Mensch zu sein, d. h. vernünftiges Geschöpf, Herr der [anderen] Geschöpfe und genaues Abbild seines Schöpfers. Darum sind alle so zu fördern und in Wissenschaft, Sittlichkeit und Religion recht einzuführen, daß sie das gegenwärtige Leben nützlich zubringen und sich auf das künftige angemessen vorbereiten können. Daß bei Gott kein Ansehen der Person gilt, hat er selbst oft kundgetan. 23 Wenn wir also zu solcher Wartung des Geistes nur einige zulassen, andere aber ausschließen, sind wir ungerecht nicht nur gegen die, welche an der gleichen Natur wie wir teilhaben, sondern gegen Gott selbst, der von allen, denen er sein Bild aufgeprägt hat, erkannt, geliebt und gepriesen sein will. Und das wird er umso inbrünstiger, je heller das Licht der Erkenntnis entzündet wird. Denn wir lieben in dem Maße, in dem wir erkennen. 24 3. Zudem wissen wir nicht, zu welchem Nutzen die göttliche Vorsehung diesen oder jenen bestimmt hat. Soviel nur ist gewiß, daß Gott zuweilen die Ärmsten, Niedrigsten und Unbekanntesten als die wichtigsten Werkzeuge seines Ruhms verwendet. Laßt es uns also der Sonne am Himmel gleichtun, welche die ganze Erde erleuchtet, durchwärmt und belebt, so daß alles, was leben, grünen, blühen und Frucht tragen kann, wirklich lebt, grünt, blüht und Frucht trägt. 4. Dem widerspricht nicht, daß manche Menschen von Natur aus träge und dumm erscheinen. Gerade das empfiehlt und fordert eine 23 24
Anlehnung an 5. Mose 1,17. Augustin: De spiritu et littera (Migne, Patr. lat. 44, 425).
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solche Wartung der Geister nur noch mehr. Denn je träger und schwächlicher einer von Natur aus ist, umso mehr bedarf er der Hilfe, um von seiner schwerfälligen Stumpfheit und Dummheit so weit wie möglich befreit zu werden. Und man findet keine so unglückliche Geistesanlage, daß sie durch Pflege nicht verbessert werden könnte. So wie ein undichtes Gefäß durch häufiges Ausscheuern wenn auch nicht wasserdicht, so doch glatter und reiner wird, so werden die Stumpfen und Dummen wenn auch nicht gerade in der Wissenschaft weit kommen, so doch in ihrem Verhalten gesitteter werden, sodaß sie den Staatsbehörden und den Dienern der Kirche zu gehorchen wissen. Die Erfahrung lehrt sogar, daß von Natur aus äußerst Schwerfällige doch eine solche wissenschaftliche Bildung erwarben, daß sie selbst Begabte überholt haben. So wahr ist also der Ausspruch des Poeten »Maßlose Arbeit siegt über alles«. 25 Mancher ist in seiner Kindheit körperlich besonders kräftig, wird dann aber krank und nimmt ab, ein andrer dagegen schleppt als Knabe einen kranken Körper umher, wird dann aber gesund und wächst kräftig empor. Ganz gleich verhält es sich mit den geistigen Anlagen: einige sind frühreif, erschöpfen sich aber rasch und stumpfen ab, während andere anfangs schwerfällig sind, sich dann aber anregen lassen und gut vorwärts kommen. Zudem möchten wir ja in unseren Gärten nicht nur Bäume haben, die früh Früchte tragen, sondern auch mittlere und späte, denn ein jedes ist zu seiner Zeit vortrefflich, wie Jesus Sirach sagt, 26 und zeigt schließlich doch, wenn auch erst spät, daß es nicht vergeblich war. Wollen wir also in dem Garten der Wissenschaft nur Geistesanlagen einer Art, nur frühreife und lebhafte zulassen? Nein, niemand, dem Gott Sinn und Verstand gegeben hat, soll ausgeschlossen werden. […]
10. Kapitel: Der Unterricht in den Schulen muß alles umfassen […] 1. Wir müssen nunmehr zeigen, daß in den Schulen alle alles gelehrt werden müssen. Das ist jedoch nicht so zu verstehen, daß wir von allen die Kenntnisse aller Wissenschaften und Künste (und gar eine 25 26
Vergil: Georg. I, 145 f. Jes. Sir. 39,40.
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genaue und tiefe Kenntnis) verlangten. Das ist weder an sich nützlich noch bei der Kürze unsres Lebens irgendjemandem überhaupt möglich. Sehen wir doch, daß jede Kunst so weit und so fein verzweigt ist – man denke nur an die Physik, die Arithmetik, die Geometrie, die Astronomie oder auch an Ackerbau, Baumzucht usw. – daß sie von jemandem auch mit besten Anlagen das ganze Leben in Anspruch nehmen kann, wenn er sie mit Theorie und Experiment ergründen will. So ist es dem Pythagoras (10) mit der Arithmetik, 27 dem Archimedes mit der Mechanik, dem Agricola mit dem Bergbau 28 und dem Longolius, – der doch nur das eine Ziel hatte, ein vollkommener Ciceronianer zu werden – mit der Rhetorik 29 ergangen. Aber über Grundlagen, Ursachen und Zwecke der wichtigsten Tatsachen und Ereignisse müssen alle belehrt werden, die nicht nur als Zuschauer, sondern auch als künftig Handelnde in die Welt eintreten. Daß ihnen in dieser Weltbehausung nichts so unbekanntes begegne, daß sie es nicht mit Bescheidenheit beurteilen und ohne mißlichen Irrtum zu dem ihm bestimmten Gebrauch klug verwenden können: dafür muß gesorgt und das muß wirklich erreicht werden. 2. Deshalb ist unbedingt und nichts andres als das zu erstreben, daß in den Schulen und hernach im ganzen Leben durch die gute Wirkung der Schulen 1. durch Wissenschaften und Künste die geistigen Anlagen gepflegt, 2. die Sprachen vervollkommnet, 3. die Sitten zu vollkommener Ehrbarkeit gebildet werden und 4. Gott aufrichtige Verehrung erwiesen wird. 3. Denn weise hat der gesprochen, welcher sagte, die Schulen seien Werkstätten der Menschlichkeit, 30 indem sie eben bewirken, daß der Wohl nicht nur seine mathematischen Bemühungen, sondern seine Ausdeutung der ganzen Welt als Harmonie und Zahl gemeint. 28 Der Mineraloge G. Agricola (1494–1555), Verf. v. d. Bergmannus sive de re metallica libri XII, Basel 1530 (krit. Ed. Berlin 1928). 29 Chr. Longolius (ca. 1488–1522), französischer Humanist, führte einen berühmten Streit mit Erasmus, ob man Ciceros Sprache genau imitieren müsse oder den Zeiten entsprechend abwandeln dürfe. L. wurde von Erasmus persifliert in dem Dialog Ciceronianus. Vgl. Allen: Erasmi Epistolae, bes. 914 u. 935. 30 In den Op. did. omnia III, 3/4 schreibt Comenius dieses Wort einem Propheten zu, ohne Genaueres anzugeben. 27
(10) Pythagoras von Samos (ca. 570–510 v. Chr.), Vorsokratiker. Man rechnet ihn sowohl zu den frühesten wichtigen Vertretern der griechischen Philosophie, Mathematik und Naturwissenschaft, manche aber sehen ihn vor allem als Verkünder religiöser Lehren.
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Mensch wirklich Mensch werde, das heißt gemäß unseren obengenannten Zielen: I. vernünftiges Geschöpf, II. Geschöpf, das die anderen Geschöpfe und sich selbst beherrscht, III. Geschöpf, das die Wonne seines Schöpfers ist. Das wird erreicht, wenn die Schulen sich bemühen, die Menschen weise an Verstand, umsichtig im Handeln und fromm im Herzen zu machen. 4. Diese drei Dinge müssen also der gesamten Jugend in allen Schulen eingepflanzt werden. Das läßt sich nachweisen, indem man es begründet 1. in den Dingen, die uns hier umgeben, 2. in uns selbst, 3. im Gottmenschen Christus, dem vollkommensten Vorbilde unsrer Vollkommenheit. 5. Die Dinge für sich, soweit sie uns angehen, können nicht anders als in drei Gruppen unterteilt werden: Einige sind Gegenstand unserer denkenden Betrachtung (speculatio), wie der Himmel und die Erde und was darinnen ist. Andere sind da zu unserer Nachahmung (imitatio), so die wunderbare und über alles sich breitende Ordnung, die der Mensch in seinen Handlungen nachbilden soll. Andere schließlich sind uns zur Erquickung (fruitio) da, wie die Gunst des Göttlichen und sein vielfacher Segen hier und in Ewigkeit. Wenn der Mensch für all dieses bereit sein soll, so muß er belehrt werden, einmal das zu erkennen, was in diesem wunderbaren Theater zur Schau vor ihm ausgebreitet liegt, zum anderen das zu tun, was ihm zu tun auferlegt wird, und schließlich das zu genießen, was der gütige Schöpfer ihm wie einem Gast in seinem Hause mit offener Hand zum Genusse darreicht. 6. Das Gleiche bemerken wir, wenn wir uns selbst betrachten, daß nämlich alle in gleicher Weise auf gelehrte Bildung, Sittlichkeit und Frömmigkeit Anspruch haben, mögen wir nun auf das Wesen unsrer Seele sehen oder auf den Zweck unsrer Erschaffung und unsrer Stellung in der Welt. 7. Die Seele setzt sich ihrem Wesen nach – in Analogie zur unerschaffenen Dreieinigkeit – aus drei Kräften zusammen: aus Verstand, Willen und Gedächtnis. Der Verstand (intellectus) unterscheidet die Dinge voneinander, bis in die kleinsten Einzelheiten hinein. Der Wille (voluntas) richtet sich auf die Wahl der Dinge, nämlich auf die Auswahl des Nützlichen und die Verwerfung des Schädlichen. Das Gedächtnis (memoria) endlich bewahrt das, womit Verstand und Wille sich je beschäftigt haben, zu künftigem Gebrauch und mahnt die Seele an ihre Abhängigkeit von Gott und an ihre Pflicht – im Hinblick darauf wird es auch Gewissen (conscientia) genannt. Diese Anlagen nun müssen, um 85 https://doi.org/10.5771/9783495861011 .
Jan Amos Comenius
ihre Aufgaben recht lösen zu können, ausgerüstet werden mit allem, was den Verstand erleuchtet, den Willen lenkt und das Gewissen weckt, damit auf diese Weise der Verstand scharf eindringt, der Wille ohne Irrtum auswählt und das Gewissen unermüdlich alles auf Gott hinwendet. Wie also diese Fähigkeiten, Verstand, Wille und Gewissen, nicht auseinander gerissen werden können, weil sie eine und dieselbe Seele bilden, so dürfen auch die drei Zierden der Seele, Bildung, Tugend und Frömmigkeit, nicht auseinander gerissen werden. […]
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Friedrich Schiller
Zwischen den Jahren 1791 und 1795 befasst sich Schiller (1759–1805) intensiv mit philosophischen, insbesondere ästhetischen, Fragen. Vorausgegangen waren diesem Studium eindringliche Geschichtsforschungen (ab 1786) sowie die Übernahme einer (unbesoldeten) Professur für Geschichte in Jena. Nach Abschluss des 1. Teils seiner Geschichte des Dreißigjährigen Krieges beginnt Schiller im Februar 1791 ein eingehendes Kant-Studium, wobei insbesondere die »Kritik der Urteilskraft« im Mittelpunkt seines Interesses steht. Im Dezember 1791 wird Schiller auf Anregung des dänischen Schriftstellers Jens Baggesen vom Erbprinzen Christian von Schleswig-Holstein-Sonderburg-Augustenburg und dessen Finanzminister Ernst Heinrich Graf von Schimmelmann eine dreijährige Pension von zusammen 3000 Talern angeboten, die ihn von drückenden Geldsorgen entlastet und die es ihm ermöglicht, seine philosophisch-ästhetischen Forschungen fortzusetzen. Im Wintersemester 1792/93 hält Schiller eine Vorlesung über Ästhetik und plant einen kunstphilosophischen Dialog »Kallias oder über das Schöne«. Im Januar/Februar 1793 unterrichtet Schiller seinen Freund Christian Gottfried Körner brieflich (in den sogenannten Kallias-Briefen) über seine kunstphilosophischen Überlegungen. Im Sommersemester 1793 setzt Schiller seine Ästhetik-Vorlesung fort, verfasst die beiden ästhetischen Abhandlungen »Über Anmut und Würde« und »Vom Erhabenen« und beginnt mit Briefen an den Prinzen von Augustenburg, den so genannten Augustenburger-Briefen, über »Die Philosophie des Schönen«. Diese Briefe, die im Februar 1794 zum größten Teil beim Brand des königlichen Schlosses Christiansborg in Kopenhagen ein Opfer der Flammen werden, sind der Keim bzw. die Urfassung der »Briefe über die ästhetische Erziehung in einer Reihe von Briefen«, mit deren Niederschrift Schiller im September 1794 beginnt. Schillers theoretisches Hauptwerk erscheint in den ersten Heften der Horen (1., 2. und 6. Stück), die er seit Januar 1795 herausgibt. Als seine letzte bedeutende ästhetische Arbeit erscheint die Abhandlung »Über naive und sentimentalische Dichtung« 1795/96 ebenfalls noch in den Horen, bevor sich Schiller wieder (im Frühjahr 1796) seinen dramatischen Plänen, d. h. dem »Wallenstein«, zuwendet. 87 https://doi.org/10.5771/9783495861011 .
Friedrich Schiller
Die Abhandlung »Über die ästhetische Erziehung des Menschen« umfasst 27 Briefe und kann grob in drei Sinnabschnitte eingeteilt werden: Die Briefe 1–9 enthalten eine Analyse und Kritik des Zeitalters, insbesondere der Entfremdungsphänomene der Moderne. Die Briefe 10–16 stellen das theoretisch-philosophische Zentrum des Textes dar. In ihnen legt Schiller eine Analyse der menschlichen Triebstruktur vor und entwickelt eine transzendentale Begründung der Schönheit. Die Briefe 17–27 gipfeln in einer Utopie des ästhetischen Staats. Die hier abgedruckten Briefe 11 bis 15 enthalten Schillers philosophische Anthropologie oder Psychologie, die für eine Philosophie der Bildung von besonderer Bedeutung ist. Schiller unterscheidet im Menschen »Person« und »Zustand«. Während die Person das ist, was bleibt, bezeichnet der Zustand das Wechselnde im Menschen. Somit kann Schiller sagen: »Nur indem er sich verändert, existiert er; nur indem er unveränderlich bleibt, existiert er.« Der vollendet gedachte Mensch wäre demnach – so Schiller – »die beharrliche Einheit, die in den Fluten der Veränderung ewig dieselbe bleibt«. Der Mensch als sinnlich-vernünftiges Wesen verfügt nach Schiller über zwei Grundtriebe: Der sinnliche Trieb, der das Endliche im Menschen bestimmt, »geht aus von dem physischen Dasein des Menschen oder von seiner sinnlichen Natur und ist beschäftigt, ihn in die Schranken der Zeit zu setzen und zur Materie zu machen«. Dieser sinnliche Trieb fällt mit dem Endlichen im Menschen zusammen, und an ihm hängt die »ganze Erscheinung der Menschheit«. Ihm gegenüber steht der Formtrieb. Er »geht aus von dem absoluten Dasein des Menschen oder von seiner vernünftigen Natur und ist bestrebt, ihn in Freiheit zu setzen, Harmonie in die Verschiedenheit seines Erscheinens zu bringen und bei allem Wechsel des Zustands seine Person zu behaupten«. Dieser Trieb dringt folglich auf die »Behauptung der Persönlichkeit«, und fällt mit dem Zeitlosen im Menschen zusammen: »Er hebt die Zeit, er hebt die Veränderung auf, er will, daß das Wirkliche notwendig und ewig, und daß das Ewige und Notwendige wirklich sei: mit andern Worten: er dringt auf Wahrheit und auf Recht.« Diese beiden Grundtriebe, der sinnliche oder Stofftrieb und der vernünftige oder Formtrieb, erschöpfen den Begriff des Menschen. Ein dritter Grundtrieb, der beide vermitteln könnte, ist nach Schiller nicht denkbar. Damit stellt sich die Frage, wie die Einheit der menschlichen Natur wiederhergestellt werden kann, die durch die schroffe Gegenüberstellung dieser beiden Triebe aufgehoben scheint. Die Tendenzen der beiden Triebe widersprechen sich zwar, allerdings 88 https://doi.org/10.5771/9783495861011 .
ber die sthetische Erziehung des Menschen (1795)
nicht in denselben Objekten, so dass sie nicht von Natur entgegengesetzt sind. Dass diese Triebe auf ihre Sphären beschränkt bleiben und nicht ihre Grenzen überschreiten, ist »Aufgabe der Kultur«, der Schiller damit zwei Funktionen zuweist: »erstlich: die Sinnlichkeit gegen die Eingriffe der Freiheit zu verwahren; zweitens: die Persönlichkeit gegen die Macht der Empfindungen sicherzustellen«. Gelingt diese Kultivierung, diese Abgrenzung und Eingrenzung der jeweiligen Triebansprüche und können sich beide Triebe ihrer Natur gemäß optimal entfalten, »wird der Mensch mit der höchsten Fülle von Dasein die höchste Selbständigkeit und Freiheit verbinden und, anstatt sich an die Welt verlieren, diese vielmehr mit der ganzen Unendlichkeit ihrer Erscheinungen in sich ziehen und der Einheit seiner Vernunft unterwerfen«. Durch diese Überlegungen gewinnt Schiller den Begriff einer Wechselwirkung zwischen den beiden Grundtrieben, »wo die Wirksamkeit des einen die Wirksamkeit des andern zugleich begründet und begrenzt, und wo jeder einzelne für sich gerade dadurch zu seiner höchsten Verkündigung gelangt, daß der andere tätig ist«. In diesem gelingenden Wechselverhältnis der Triebe scheint ein neuer Trieb auf, »der eben darum, weil die beiden andern in ihm zusammenwirken, einem jeden derselben, einzeln betrachtet, entgegengesetzt sein und mit Recht für einen neuen Trieb gelten würde«. Schiller nennt diesen Trieb den Spieltrieb, der darauf zielt, »die Zeit in der Zeit aufzuheben, Werden mit absolutem Sein, Veränderung mit Identität zu vereinbaren«. Gegenstand des Spieltriebs ist die »lebende Gestalt«, d. h. die Schönheit. Die nicht nur ästhetische, sondern auch bildungstheoretische Bedeutung des Spieltriebs wird augenfällig, wenn man mit Schiller einräumt, »daß unter allen Zuständen des Menschen gerade das Spiel und nur das Spiel es ist, was ihn vollständig macht und seine doppelte Natur auf einmal entfaltet«. (616 f.) Daraus folgt für ihn ein weiteres Postulat: »der Mensch soll mit der Schönheit nur spielen, und er soll nur mit der Schönheit spielen. Denn […] der Mensch spielt nur, wo er in voller Bedeutung des Wortes Mensch ist, und er ist nur da ganz Mensch, wo er spielt.« Durch Schönheit wird der durch seine Triebe zerrissene Mensch therapiert, d. h. zur Harmonie, zum Ausgleich geführt, denn nach Schiller gibt es keinen »andern Weg, den sinnlichen Menschen vernünftig zu machen, als daß man denselben zuvor ästhetisch macht«. (1) Die Begegnung des Men(1)
Friedrich Schiller: Über die ästhetische Erziehung des Menschen, in: Sämtliche Werke. Fünfter Band. Hrsg. von Gerhard Fricke und Herbert G. Göpfert. 6. Aufl. München 1980, Brief 23, 641; vgl. S. 643.
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Friedrich Schiller
schen mit Schönheit, die Erfahrung der Kunst ist somit nach Schiller die Bedingung der Möglichkeit seiner Selbstkultivierung: »Durch die ästhetische Kultur […] ist weiter nichts erreicht, als daß es ihm nunmehr, von Natur wegen möglich gemacht ist, aus sich selbst zu machen, was er will«. (2) Bildung zur Harmonie der menschlichen Natur verläuft somit über eine »Erziehung zum Geschmack und zur Schönheit«, denn »diese letztere hat zur Absicht das Ganze unsrer sinnlichen und geistigen Kräfte in möglichster Harmonie auszubilden.« (3) Die Bildung zu einer harmonischen Persönlichkeit wird damit zur Funktion und Aufgabe ästhetischer Erfahrung, Schillers Idee des Menschen zum Gegenentwurf seiner technokratischen Reduktion. (4)
ber die sthetische Erziehung des Menschen in einer Reihe von Briefen (1795) (5) Eilfter Brief Wenn die Abstraktion so hoch, als sie immer kann, hinaufsteigt, so gelangt sie zu zwei letzten Begriffen, bei denen sie stille stehen und ihre Grenzen bekennen muß. Sie unterscheidet in dem Menschen etwas, das bleibt, und etwas, das sich unaufhörlich verändert. Das Bleibende nennt sie seine Person, das Wechselnde seinen Zustand. Person und Zustand – das Selbst und seine Bestimmungen – die wir uns in dem notwendigen Wesen (6) als eins und dasselbe denken, sind ewig zwei in dem endlichen. Bei aller Beharrung der Person wechselt der Zustand, bei allem Wechsel des Zustands beharret die Person. Wir gehen von der Ruhe zur Tätigkeit, vom Affekt zur Gleichgültigkeit, von der Übereinstimmung zum Widerspruch, aber wir sind doch im(2)
Ebd., Brief 21, 635. Ebd., Brief 20 (Anm.), 634. (4) Walter Hinderer: Von der Idee des Menschen. Über Friedrich Schiller. Würzburg 1998; Erhard Wiersing: Über die ästhetische Erziehung des Menschen. Schillers Theorie der ästhetischen Bildung als ein Gegenentwurf zum technokratischen Verständnis von Bildung, in: Pädagogische Rundschau 60 (2006), 425–437; Käte Meyer-Drawe, Der »Weg zu dem Kopf durch das Herz«. Grundlinien von Schillers Bildungsbegriff, in: Brigitta Fuchs, Lutz Koch (Hrsg.): Schillers ästhetisch-politischer Humanismus. Würzburg 2006, 33–48. (5) Friedrich Schiller: Über die ästhetische Erziehung in einer Reihe von Briefen, in: ebd., 601–619. (6) Gott. (3)
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ber die sthetische Erziehung des Menschen (1795)
mer, und was unmittelbar aus uns folgt, bleibt. In dem absoluten Subjekt allein beharren mit der Persönlichkeit auch alle ihre Bestimmungen, weil sie aus der Persönlichkeit fließen. Alles, was die Gottheit ist, ist sie deswegen, weil sie ist; sie ist folglich alles auf ewig, weil sie ewig ist. Da in dem Menschen, als endlichem Wesen, Person und Zustand verschieden sind, so kann sich weder der Zustand auf die Person, noch die Person auf den Zustand gründen. Wäre das letztere so, so müßte die Person sich verändern; wäre das erstere, so müßte der Zustand beharren; also in jedem Fall entweder die Persönlichkeit oder die Endlichkeit aufhören. Nicht weil wir denken, wollen, empfinden, sind wir; nicht weil wir sind, denken, wollen, empfinden wir. Wir sind, weil wir sind; wir empfinden, denken und wollen, weil außer uns noch etwas anderes ist. Die Person also muß ihr eigener Grund sein, denn das Bleibende kann nicht aus der Veränderung fließen; und so hätten wir denn fürs erste die Idee des absoluten, in sich selbst gegründeten Seins, d. i. die Freiheit. Der Zustand muß einen Grund haben; er muß, da er nicht durch die Person, also nicht absolut ist, erfolgen; und so hätten wir fürs zweite die Bedingung alles abhängigen Seins oder Werdens, die Zeit. Die Zeit ist die Bedingung alles Werdens: ist ein identischer Satz, denn er sagt nichts anders als: die Folge ist die Bedingung, daß etwas erfolgt. Die Person, die sich in dem ewig beharrenden ICH und nur in diesem offenbart, kann nicht werden, nicht anfangen in der Zeit, weil vielmehr umgekehrt die Zeit in ihr anfangen, weil dem Wechsel ein Beharrliches zum Grund liegen muß. Etwas muß sich verändern, wenn Veränderung sein soll; dieses Etwas kann also nicht selbst schon Veränderung sein. Indem wir sagen, die Blume blühet und verwelkt, machen wir die Blume zum Bleibenden in dieser Verwandlung und leihen ihr gleichsam eine Person, an der sich jene beiden Zustände offenbaren. Daß der Mensch erst wird, ist kein Einwurf, denn der Mensch ist nicht bloß Person überhaupt, sondern Person, die sich in einem bestimmten Zustand befindet. Aller Zustand aber, alles bestimmte Dasein entsteht in der Zeit, und so muß also der Mensch, als Phänomen, einen Anfang nehmen, obgleich die reine Intelligenz in ihm ewig ist. Ohne die Zeit, das heißt, ohne es zu werden, würde er nie ein bestimmtes Wesen sein; seine Persönlichkeit würde zwar in der Anlage, aber nicht in der Tat existieren. Nur durch die Folge seiner Vorstellungen wird das beharrliche Ich sich selbst zur Erscheinung. 91 https://doi.org/10.5771/9783495861011 .
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Die Materie der Tätigkeit also oder die Realität, welche die höchste Intelligenz (7) aus sich selber schöpft, muß der Mensch erst empfangen, und zwar empfängt er dieselbe als etwas außer ihm Befindliches im Raume und als etwas in ihm Wechselndes in der Zeit auf dem Wege der Wahrnehmung. Diesen in ihm wechselnden Stoff begleitet sein niemals wechselndes Ich – und in allem Wechsel beständig er selbst zu bleiben, alle Wahrnehmungen zur Erfahrung, d. h. zur Einheit der Erkenntnis, und jede seiner Erscheinungsarten in der Zeit zum Gesetz für alle Zeiten zu machen, ist die Vorschrift, die durch seine vernünftige Natur ihm gegeben ist. Nur indem er sich verändert, existiert er; nur indem er unveränderlich bleibt, existiert er. Der Mensch, vorgestellt in seiner Vollendung, wäre demnach die beharrliche Einheit, die in den Fluten der Veränderung ewig dieselbe bleibt. Ob nun gleich ein unendliches Wesen, eine Gottheit, nicht werden kann, so muß man doch eine Tendenz göttlich nennen, die das eigentlichste Merkmal der Gottheit, absolute Verkündigung des Vermögens (Wirklichkeit alles Möglichen) und absolute Einheit des Erscheinens (Notwendigkeit alles Wirklichen) zu ihrer unendlichen Aufgabe hat. Die Anlage zu der Gottheit trägt der Mensch unwidersprechlich in seiner Persönlichkeit in sich; der Weg zu der Gottheit, wenn man einen Weg nennen kann, was niemals zum Ziele führt, ist ihm aufgetan in den Sinnen. Seine Persönlichkeit, für sich allein und unabhängig von allem sinnlichen Stoffe betrachtet, ist bloß die Anlage zu einer möglichen unendlichen Äußerung; und solange er nicht anschaut und nicht empfindet, ist er noch weiter nichts als Form und leeres Vermögen. Seine Sinnlichkeit, für sich allein und abgesondert von aller Selbsttätigkeit des Geistes betrachtet, vermag weiter nichts, als daß sie ihn, der ohne sie bloß Form ist, zur Materie macht, aber keineswegs, daß sie die Materie mit ihm vereinigt. Solange er bloß empfindet, bloß begehrt, und aus bloßer Begierde wirkt, ist er noch weiter nichts als Welt, wenn wir unter diesem Namen bloß den formlosen Inhalt der Zeit verstehen. Seine Sinnlichkeit ist es zwar allein, die sein Vermögen zur wirkenden Kraft macht, aber nur seine Persönlichkeit ist es, die sein Wirken zu dem seinigen macht. Um also bloß Welt zu sein, muß er der Materie Form erteilen; um nicht bloß Form zu sein, muß er der Anlage, die er in sich trägt, Wirklichkeit geben. Er verwirklichet die Form, wenn er die (7)
Gott.
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Zeit erschafft und dem Beharrlichen die Veränderung, der ewigen Einheit seines Ichs die Mannigfaltigkeit der Welt gegenüberstellt; er formt die Materie, wenn er die Zeit wieder aufhebt, Beharrlichkeit im Wechsel behauptet und die Mannigfaltigkeit der Welt der Einheit seines Ichs unterwürftig macht. Hieraus fließen nun zwei entgegengesetzte Anforderungen an den Menschen, die zwei Fundamentalgesetze der sinnlich-vernünftigen Natur. Das erste dringt auf absolute Realität: er soll alles zur Welt machen, was bloß Form ist, und alle seine Anlagen zur Erscheinung bringen: das zweite dringt auf absolute Formalität: er soll alles in sich vertilgen, was bloß Welt ist, und Übereinstimmung in alle seine Veränderungen bringen; mit andern Worten: er soll alles Innere veräußern und alles Äußere formen. Beide Aufgaben, in ihrer höchsten Erfüllung gedacht, führen zu dem Begriff der Gottheit zurück, von dem ich ausgegangen bin.
Zwölfter Brief Zur Erfüllung dieser doppelten Aufgabe, das Notwendige in uns zur Wirklichkeit zu bringen und das Wirkliche außer uns dem Gesetz der Notwendigkeit zu unterwerfen, werden wir durch zwei entgegengesetzte Kräfte gedrungen, die man, weil sie uns antreiben, ihr Objekt zu verwirklichen, ganz schicklich Triebe nennt. Der erste dieser Triebe, den ich den sinnlichen nennen will, geht aus von dem physischen Dasein des Menschen oder von seiner sinnlichen Natur und ist beschäftigt, ihn in die Schranken der Zeit zu setzen und zur Materie zu machen: nicht ihm Materie zu geben, weil dazu schon eine freie Tätigkeit der Person gehört, welche die Materie aufnimmt und von sich, dem Beharrlichen, unterscheidet. Materie aber heißt hier nichts als Veränderung oder Realität, die die Zeit erfüllt; mithin fodert dieser Trieb, daß Veränderung sei, daß die Zeit einen Inhalt habe. Dieser Zustand der bloß erfüllten Zeit heißt Empfindung, und er ist es allein, durch den sich das physische Dasein verkündigt. Da alles, was in der Zeit ist, nacheinander ist, so wird dadurch, daß etwas ist, alles andere ausgeschlossen. Indem man auf einem Instrument einen Ton greift, ist unter allen Tönen, die es möglicherweise angeben kann, nur dieser einzige wirklich; indem der Mensch das Gegenwärtige empfindet, ist die ganze unendliche Möglichkeit seiner Be93 https://doi.org/10.5771/9783495861011 .
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stimmungen auf diese einzige Art des Daseins beschränkt. Wo also dieser Trieb ausschließend wirkt, da ist notwendig die höchste Begrenzung vorhanden; der Mensch ist in diesem Zustande nichts als eine Größeneinheit, ein erfüllter Moment der Zeit – oder vielmehr er ist nicht, denn seine Persönlichkeit ist solange aufgehoben, als ihn die Empfindung beherrscht und die Zeit mit sich fortreißt 1 . Soweit der Mensch endlich ist, erstreckt sich das Gebiet dieses Triebs; und da alle Form nur an einer Materie, alles Absolute nur durch das Medium der Schranken erscheint, so ist es freilich der sinnliche Trieb, an dem zuletzt die ganze Erscheinung der Menschheit befestigt ist. Aber obgleich er allein die Anlagen der Menschheit weckt und entfaltet, so ist er es doch allein, der ihre Vollendung unmöglich macht. Mit unzerreißbaren Banden fesselt er den höher strebenden Geist an die Sinnenwelt, und von ihrer freiesten Wanderung ins Unendliche ruft er die Abstraktion in die Grenzen der Gegenwart zurücke. Der Gedanke zwar darf ihm augenblicklich entfliehen, und ein fester Wille setzt sich seinen Foderungen sieghaft entgegen; aber bald tritt die unterdrückte Natur wieder in ihre Rechte zurück, um auf die Realität des Daseins, auf einen Inhalt unsrer Erkenntnisse und auf einen Zweck unsers Handelns zu dringen. Der zweite jener Triebe, den man den Formtrieb nennen kann, geht aus von dem absoluten Dasein des Menschen oder von seiner vernünftigen Natur und ist bestrebt, ihn in Freiheit zu setzen, Harmonie in die Verschiedenheit seines Erscheinens zu bringen und bei allem Wechsel des Zustands seine Person zu behaupten. Da nun die letztere als absolute und unteilbare Einheit mit sich selbst nie im Widerspruch sein kann, da wir in alle Ewigkeit wir sind, so kann derjenige Trieb, der auf Behauptung der Persönlichkeit dringt, nie etwas anders fodern, als was er in alle Ewigkeit fodern muß; er entscheidet also für immer, wie er für Die Sprache hat für diesen Zustand der Selbstlosigkeit unter der Herrschaft der Empfindung den sehr treffenden Ausdruck: außer sich sein, das heißt, außer seinem Ich sein. Obgleich diese Redensart nur da stattfindet, wo die Empfindung zum Affekt und dieser Zustand durch seine längere Dauer mehr bemerkbar wird, so ist doch jeder außer sich, solange er nur empfindet. Von diesen Zustande zur Besonnenheit zurückkehren, nennt man ebenso richtig: in sich gehen, das heißt, in sein Ich zurückkehren, seine Person wiederherstellen. Von einem, der in Ohnmacht liegt, sagt man nicht: er ist außer sich, sondern: er ist von sich, d. h. er ist seinem Ich geraubt, da jener nur nicht in demselben ist. Daher ist derjenige, der aus einer Ohnmacht zurückkehrte, bloß bei sich, welches sehr gut mit dem Außersichsein bestehen kann.
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jetzt entscheidet, und gebietet für jetzt, was er für immer gebietet. Er umfaßt mithin die ganze Folge der Zeit, das ist soviel als: er hebt die Zeit, er hebt die Veränderung auf, er will, daß das Wirkliche notwendig und ewig, und daß das Ewige und Notwendige wirklich sei: mit andern Worten: er dringt auf Wahrheit und auf Recht. Wenn der erste nur Fälle macht, so gibt der andre Gesetze; Gesetze für jedes Urteil, wenn es Erkenntnisse, Gesetze für jeden Willen, wenn es Taten betrifft. Es sei nun, daß wir einen Gegenstand erkennen, daß wir einem Zustande unsers Subjekts objektive Gültigkeit beilegen, oder daß wir aus Erkenntnissen handeln, daß wir das Objektive zum Bestimmungsgrund unsers Zustandes machen – in beiden Fällen reißen wir diesen Zustand aus der Gerichtsbarkeit der Zeit und gestehen ihm Realität für alle Menschen und alle Zeiten, d. i. Allgemeinheit und Notwendigkeit zu. Das Gefühl kann bloß sagen: das ist wahr für dieses Subjekt und in diesem Moment, und ein anderer Moment, ein anderes Subjekt kann kommen, das die Aussage der gegenwärtigen Empfindung zurücknimmt. Aber wenn der Gedanke einmal ausspricht: das ist, so entscheidet er für immer und ewig, und die Gültigkeit seines Ausspruchs ist durch die Persönlichkeit selbst verbürgt, die allem Wechsel Trotz bietet. Die Neigung kann bloß sagen: das ist für dein Individuum und für dein jetziges Bedürfnis gut, aber dein Individuum und dein jetziges Bedürfnis wird die Veränderung mit sich fortreißen und, was du jetzt feurig begehrst, dereinst zum Gegenstand deines Abscheues machen. Wenn aber das moralische Gefühl sagt: das soll sein, so entscheidet es für immer und ewig – wenn du Wahrheit bekennst, weil sie Wahrheit ist, und Gerechtigkeit ausübst, weil sie Gerechtigkeit ist, so hast du einen einzelnen Fall zum Gesetz für alle Fälle gemacht, einen Moment in deinem Leben als Ewigkeit behandelt. Wo also der Formtrieb die Herrschaft führt und das reine Objekt in uns handelt, da ist die höchste Erweiterung des Seins, da verschwinden alle Schranken, da hat sich der Mensch aus einer Größeneinheit, auf welche der dürftige Sinn ihn beschränkte, zu einer Ideeneinheit erhoben, die das ganze Reich der Erscheinungen unter sich faßt. Wir sind bei dieser Operation nicht mehr in der Zeit, sondern die Zeit ist in uns mit ihrer ganzen nie endenden Reihe. Wir sind nicht mehr Individuen, sondern Gattung; das Urteil aller Geister ist durch das unsrige ausgesprochen, die Wahl aller Herzen ist repräsentiert durch unsre Tat.
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Dreizehnter Brief Beim ersten Anblick scheint nichts einander mehr entgegengesetzt zu sein als die Tendenzen dieser beiden Triebe, indem der eine auf Veränderung, der andre auf Unveränderlichkeit dringt. Und doch sind es diese beiden Triebe, die den Begriff der Menschheit erschöpfen, und ein dritter Grundtrieb, der beide vermitteln könnte, ist schlechterdings ein undenkbarer Begriff. Wie werden wir also die Einheit der menschlichen Natur wiederherstellen, die durch diese ursprüngliche und radikale Entgegensetzung völlig aufgehoben scheint? Wahr ist es, ihre Tendenzen widersprechen sich, aber, was wohl zu bemerken ist, nicht in denselben Objekten, und was nicht aufeinandertrifft, kann nicht gegeneinanderstoßen. Der sinnliche Trieb fodert zwar Veränderung, aber er fodert nicht, daß sie auch auf die Person und ihr Gebiet sich erstrecke: daß ein Wechsel der Grundsätze sei. Der Formtrieb dringt auf Einheit und Beharrlichkeit – aber er will nicht, daß mit der Person sich auch der Zustand fixiere, daß Identität der Empfindung sei. Sie sind einander also von Natur nicht entgegengesetzt, und wenn sie dessen ungeachtet so erscheinen, so sind sie es erst geworden durch eine freie Übertretung der Natur, indem sie sich selbst mißverstehen und ihre Sphären verwirren 2 . Über diese zu wachen und einem jeden dieser beiden Triebe seine Grenzen zu sichern, ist die Aufgabe der KulSobald man einen ursprünglichen, mithin notwendigen Antagonism beider Triebe behauptet, so ist freilich kein anderes Mittel, die Einheit im Menschen zu erhalten, als daß man den sinnlichen Trieb dem vernünftigen unbedingt unterordnet. Daraus aber kann bloß Einförmigkeit, aber keine Harmonie entstehen, und der Mensch bleibt noch ewig fort geteilt. Die Unterordnung muß allerdings sein, aber wechselseitig: denn wenngleich die Schranken nie das Absolute begründen können, also die Freiheit nie von der Zeit abhängen kann, so ist es ebenso gewiß, daß das Absolute durch sich selbst nie die Schranken begründen, daß der Zustand in der Zeit nicht von der Freiheit abhängen kann. Beide Prinzipien sind einander also zugleich subordiniert und koordiniert, d. h. sie stehen in Wechselwirkung; ohne Form keine Materie, ohne Materie keine Form. (Diesen Begriff der Wechselwirkung und die ganze Wichtigkeit desselben findet man vortrefflich auseinandergesetzt in Fichtes »Grundlage der gesamten Wissenschaftslehre«, Leipzig 1794.) Wie es mit der Person im Reich der Ideen stehe, wissen wir freilich nicht; aber daß sie, ohne Materie zu empfangen, in dem Reiche der Zeit sich nicht offenbaren könne, wissen wir gewiß; in diesem Reiche also wird die Materie nicht bloß unter der Form, sondern auch neben der Form und unabhängig von derselben etwas zu bestimmen haben. So notwendig es also ist, daß das Gefühl im Gebiet der Vernunft nichts entscheide, ebenso notwendig ist es, daß die Vernunft im Gebiet des Gefühls sich nichts zu bestimmen anmaße. Schon indem man jedem von beiden ein Gebiet zuspricht,
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tur, die also beiden eine gleiche Gerechtigkeit schuldig ist und nicht bloß den vernünftigen Trieb gegen den sinnlichen, sondern auch diesen gegen jenen zu behaupten hat. Ihr Geschäft ist also doppelt: erstlich: die Sinnlichkeit gegen die Eingriffe der Freiheit zu verwahren: zweitens: die Persönlichkeit gegen die Macht der Empfindungen sicherzustellen. Jenes erreicht sie durch Ausbildung des Gefühlsvermögens, dieses durch Ausbildung des Vernunftvermögens. Da die Welt ein Ausgedehntes in der Zeit, Veränderung ist, so wird die Vollkommenheit desjenigen Vermögens, welches den Menschen mit der Welt in Verbindung setzt, größtmöglichste Veränderlichkeit und Extensität sein müssen. Da die Person das Bestehende in der Veränderung ist, so wird die Vollkommenheit desjenigen Vermögens, welches sich dem Wechsel entgegensetzen soll, größtmöglichste Selbständigkeit und Intensität sein müssen. Je vielseitiger sich die Empfänglichkeit ausbildet, je beweglicher dieselbe ist, und je mehr Fläche sie den Erscheinungen darbietet, desto mehr Welt ergreift der Mensch, desto mehr Anlagen entwickelt er in sich; je mehr Kraft und Tiefe die Persönlichkeit, je mehr Freiheit die Vernunft gewinnt, desto mehr Welt begreift der Mensch, desto mehr Form schafft er außer sich. Seine Kultur wird also darin bestehen: erstlich: dem empfangenden Vermögen die vielfältigsten Berührungen mit der Welt zu verschaffen und auf seiten des Gefühls die Passivität auf höchste zu treiben: zweitens: dem bestimmenden Vermögen die höchste Unabhängigkeit von dem empfangenden zu erwerben und auf seiten der Vernunft die Aktivität aufs höchste zu treiben. Wo beide Eigenschaften sich vereinigen, da wird der Mensch mit der höchsten Fülle von Dasein die höchste Selbständigkeit und Freiheit verbinden und, anstatt sich an die Welt zu verlieren, diese vielmehr mit der ganzen Unendlichkeit ihrer Erscheinungen in sich ziehen und der Einheit seiner Vernunft unterwerfen. Dieses Verhältnis nun kann der Mensch umkehren und dadurch auf schließt man das andere davon aus und setzt jedem eine Grenze, die nicht anders als zum Nachteile beider überschritten werden kann. In einer Transzendentalphilosophie, wo alles darauf ankommt, die Form von dem Inhalt zu befreien und das Notwendige von allem Zufälligen rein zu erhalten, gewöhnt man sich gar leicht, das Materielle sich bloß als Hindernis zu denken und die Sinnlichkeit, weil sie gerade bei diesem Geschäft im Wege steht, in einem notwendigen Widerspruch mit der Vernunft vorzustellen. Eine solche Vorstellungsart liegt zwar auf keine Weise im Geiste des Kantischen Systems, aber im Buchstaben desselben könnte sie gar wohl liegen.
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eine zweifache Weise seine Bestimmung verfehlen. Er kann die Intensität, welche die tätige Kraft erheischt, auf die leidende legen, durch den Stofftrieb dem Formtriebe vorgreifen und das empfangende Vermögen zum bestimmenden machen. Er kann die Extensität, welche der leidenden Kraft gebührt, der tätigen zuteilen, durch den Formtrieb dem Stofftriebe vorgreifen und dem empfangenden Vermögen das bestimmende unterschieben. In dem ersten Fall wird er nie er selbst, in dem zweiten wird er nie etwas anders sein; mithin eben darum in beiden Fällen keines von beiden, folglich – Null sein 3 . Der schlimme Einfluß einer überwiegenden Sensualität auf unser Denken und Handeln fällt jedermann leicht in die Augen; nicht so leicht, ob er gleich ebenso häufig vorkommt und ebenso wichtig ist, der nachteilige Einfluß einer überwiegenden Rationalität auf unsre Erkenntnis und auf unser Betragen. Man erlaube mir daher, aus der großen Menge der hieher gehörenden Fälle nur zwei in Erinnerung zu bringen, welche den Schaden einer der Anschauung und Empfindung vorgreifenden Denk- und Willenskraft ins Licht setzen können. Eine der vornehmsten Ursachen, warum unsre Naturwissenschaften so langsame Schritte machen, ist offenbar der allgemeine und kaum bezwingbare Hang zu teleologischen Urteilen, bei denen sich, sobald sie konstitutiv gebraucht werden, das bestimmende Vermögen dem empfangenden unterschiebt. Die Natur mag unsre Organe noch so nachdrücklich und noch so vielfach berühren – alle ihre Mannigfaltigkeit ist verloren für uns, weil wir nichts in ihr suchen, als was wir in sie hineingelegt haben, weil wir ihr nicht erlauben, sich gegen uns herein zu bewegen, sondern vielmehr mit ungeduldig vorgreifender Vernunft gegen sie hinaus streben. Kommt alsdann in Jahrhunderten einer, der sich mit ruhigen, keuschen und offenen Sinnen naht und deswegen auf eine Menge von Erscheinungen stößt, die wir bei unsrer Prävention hVorurteil, vorgefasste Meinungi übersehen haben, so erstaunen wir höchlich darüber, daß so viele Augen bei so hellem Tag nichts bemerkt haben sollen. Dieses voreilige Streben nach Harmonie, ehe man die einzelnen Laute beisammen hat, die sie ausmachen sollen, diese gewalttätige Usurpation hMachtergreifung oder -ausübungi der Denkkraft in einem Gebiete, wo sie nicht unbedingt zu gebieten hat, ist der Grund der Unfruchtbarkeit so vieler denkenden Köpfe für das Beste der Wissenschaft, und es ist schwer zu sagen, ob die Sinnlichkeit, welche keine Form annimmt, oder die Vernunft, welche keinen Inhalt abwartet, der Erweiterung unserer Kenntnisse mehr geschadet haben. Ebenso schwer dürfte es zu bestimmen sein, ob unsre praktische Philanthropie mehr durch die Heftigkeit unsrer Begierden oder durch die Rigidität hHärte, Strenge, Unnachgiebigkeiti unsrer Grundsätze, mehr durch den Egoism unsrer Sinne oder durch den Egoism unsrer Vernunft gestört und erkältet wird. Um uns zu teilnehmenden, hülfreichen, tätigen Menschen zu machen, müssen sich Gefühl und Charakter miteinander vereinigen, sowie, um uns Erfahrung zu verschaffen, Offenheit des Sinnes mit Energie des Verstandes zusammentreffen muß. Wie können wir, bei noch so lobenswürdigen Maximen, billig, gütig und menschlich gegen andere sein, wenn uns das Vermögen fehlt, fremde Natur treu und wahr in uns aufzunehmen, fremde Situationen uns anzueignen, fremde Gefühle zu den unsrigen zu machen? Dieses Vermögen aber wird so-
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Wird nämlich der sinnliche Trieb bestimmend, macht der Sinn den Gesetzgeber, und unterdrückt die Welt die Person, so hört sie in demselben Verhältnisse auf, Objekt zu sein, als sie Macht wird. Sobald der Mensch nur Inhalt der Zeit ist, so ist er nicht, und er hat folglich auch keinen Inhalt. Mit seiner Persönlichkeit ist auch sein Zustand aufgehoben, weil beides Wechselbegriffe sind – weil die Veränderung ein Beharrliches und die begrenzte Realität eine unendliche fodert. Wird der Formtrieb empfangend, das heißt, kommt die Denkkraft der Empfindung zuvor und unterschiebt die Person sich der Welt, so hört sie in demselben Verhältnis auf, selbständige Kraft und Subjekt zu sein, als sie sich in den Platz des Objektes drängt, weil das Beharrliche die Veränderung, und die absolute Realität zu ihrer Verkündigung Schranken fodert. Sobald der Mensch nur Form ist, so hat er keine Form; und mit dem Zustand ist folglich auch die Person aufgehoben. Mit einem Wort: nur insofern er selbständig ist, ist Realität außer ihm, ist er empfänglich; nur insofern er empfänglich ist, ist Realität in ihm, ist er eine denkende Kraft. Beide Triebe haben also Einschränkung und, insofern sie als Enerwohl in der Erziehung, die wir empfangen, als in der, die wir selbst uns geben, in demselben Maße unterdrückt, als man die Macht der Begierden zu brechen und den Charakter durch Grundsätze zu befestigen sucht. Weil es Schwierigkeiten kostet, bei aller Regsamkeit des Gefühls seinen Grundsätzen treu zu bleiben, so ergreift man das bequemere Mittel, durch Abstumpfung der Gefühle den Charakter sicherzustellen; denn freilich ist es unendlich leichter, vor einem entwaffneten Gegner Ruhe zu haben, als einen mutigen und rüstigen Feind zu beherrschen. In dieser Operation besteht dann auch größtenteils das, was man einen Menschen formieren nennt; und zwar im besten Sinne des Wortes, wo es Bearbeitung des innern, nicht bloß des äußern Menschen bedeutet. Ein so formierter Mensch wird freilich davor gesichert sein, rohe Natur zu sein und als solche zu erscheinen; er wird aber zugleich gegen alle Empfindungen der Natur durch Grundsätze geharnischt sein, und die Menschheit von außen wird ihm ebensowenig als die Menschheit von innen beikommen können. Es ist ein sehr verderblicher Mißbrauch, der von dem Ideal der Vollkommenheit gemacht wird, wenn man es bei der Beurteilung anderer Menschen und in den Fällen, wo man für sie wirken soll, in seiner ganzen Strenge zum Grund legt. Jenes wird zur Schwärmerei, dieses zur Härte und zur Kaltsinnigkeit führen. Man macht sich freilich seine gesellschaftlichen Pflichten ungemein leicht, wenn man dem wirklichen Menschen, der unsre Hülfe auffodert, in Gedanken den Idealmenschen unterschiebt, der sich wahrscheinlich selbst helfen könnte. Strenge gegen sich selbst, mit Weichheit gegen andre verbunden, macht den wahrhaft vortrefflichen Charakter aus. Aber meistens wird der gegen andere weiche Mensch es auch gegen sich selbst, und der gegen sich selbst strenge es auch gegen andere sein; weich gegen sich und streng gegen andre ist der verächtlichste Charakter.
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gien gedacht werden, Abspannung nötig; jener, daß er sich nicht ins Gebiet der Gesetzgebung, dieser, daß er sich nicht ins Gebiet der Empfindung eindringe. Jene Abspannung des sinnlichen Triebes darf aber keineswegs die Wirkung eines physischen Unvermögens und einer Stumpfheit der Empfindungen sein, welche überall nur Verachtung verdient; sie muß eine Handlung der Freiheit, eine Tätigkeit der Person sein, die durch ihre moralische Intensität jene sinnliche mäßigt und durch Beherrschung der Eindrücke ihnen an Tiefe nimmt, um ihnen an Fläche zu geben. Der Charakter muß dem Temperament seine Grenzen bestimmen, denn nur an den Geist darf der Sinn verlieren. Jene Abspannung des Formtriebs darf ebensowenig die Wirkung eines geistigen Unvermögens und einer Schlaffheit der Denk- oder Willenskräfte sein, welche die Menschheit erniedrigen würde. Fülle der Empfindungen muß ihre rühmliche Quelle sein; die Sinnlichkeit selbst muß mit siegender Kraft ihr Gebiet behaupten und der Gewalt widerstreben, die ihr der Geist durch seine vorgreifende Tätigkeit gerne zufügen möchte. Mit einem Wort: den Stofftrieb muß die Persönlichkeit, und den Formtrieb die Empfänglichkeit oder die Natur in seinen gehörigen Schranken halten.
Vierzehnter Brief Wir sind nunmehr zu dem Begriff einer solchen Wechselwirkung zwischen beiden Trieben geführt worden, wo die Wirksamkeit des einen die Wirksamkeit des andern zugleich begründet und begrenzt, und wo jeder einzelne für sich gerade dadurch zu seiner höchsten Verkündigung gelangt, daß der andere tätig ist. Dieses Wechselverhältnis beider Triebe ist zwar bloß eine Aufgabe der Vernunft, die der Mensch nur in der Vollendung seines Daseins ganz zu lösen imstande ist. Es ist im eigentlichsten Sinne des Worts die Idee seiner Menschheit, mithin ein Unendliches, dem er sich im Laufe der Zeit immer mehr nähern kann, aber ohne es jemals zu erreichen. »Er soll nicht auf Kosten seiner Realität nach Form, und nicht auf Kosten der Form nach Realität streben; vielmehr soll er das absolute Sein durch ein bestimmtes und das bestimmte Sein durch ein unendliches suchen. Er soll sich eine Welt gegenüberstellen, weil er Person ist, und soll Person sein, weil ihm eine Welt gegenübersteht. Er soll empfinden, weil er sich bewußt ist, und soll sich bewußt sein, weil er 100 https://doi.org/10.5771/9783495861011 .
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empfindet.« – Daß er dieser Idee wirklich gemäß, folglich, in voller Bedeutung des Worts, Mensch ist, kann er nie in Erfahrung bringen, solange er nur einen dieser beiden Triebe ausschließend oder nur einen nach dem andern befriedigt; denn solange er nur empfindet, bleibt ihm seine Person oder seine absolute Existenz, und, solange er nur denkt, bleibt ihm seine Existenz in der Zeit oder sein Zustand Geheimnis. Gäbe es aber Fälle, wo er diese doppelte Erfahrung zugleich machte, wo er sich zugleich seiner Freiheit bewußt würde und sein Dasein empfände, wo er sich zugleich als Materie fühlte und als Geist kennenlernte, so hätte er in diesen Fällen, und schlechterdings nur in diesen, eine vollständige Anschauung seiner Menschheit, und der Gegenstand, der diese Anschauung ihm verschafft, würde ihm zu einem Symbol seiner ausgeführten Bestimmung, folglich (weil diese nur in der Allheit der Zeit zu erreichen ist) zu einer Darstellung des Unendlichen dienen. Vorausgesetzt, daß Fälle dieser Art in der Erfahrung vorkommen können, so würden sie einen neuen Trieb in ihm aufwecken, der eben darum, weil die beiden andern in ihm zusammenwirken, einem jeden derselben, einzeln betrachtet, entgegengesetzt sein und mit Recht für einen neuen Trieb gelten würde. Der sinnliche Trieb will, daß Veränderung sei, daß die Zeit einen Inhalt habe; der Formtrieb will, daß die Zeit aufgehoben, daß keine Veränderung sei. Derjenige Trieb also, in welchem beide verbunden wirken (es sei mir einstweilen, bis ich diese Benennung gerechtfertigt haben werde, vergönnt, ihn Spieltrieb zu nennen), der Spieltrieb also würde dahin gerichtet sein, die Zeit in der Zeit aufzuheben, Werden mit absolutem Sein, Veränderung mit Identität zu vereinbaren. Der sinnliche Trieb will bestimmt werden, er will sein Objekt empfangen; der Formtrieb will selbst bestimmen, er will sein Objekt hervorbringen: der Spieltrieb wird also bestrebt sein, so zu empfangen, wie er selbst hervorgebracht hätte, und so hervorzubringen, wie der Sinn zu empfangen trachtet. Der sinnliche Trieb schließt aus seinem Subjekt alle Selbsttätigkeit und Freiheit, der Formtrieb schließt aus dem seinigen alle Abhängigkeit, alles Leiden aus. Ausschließung der Freiheit ist aber physische, Ausschließung des Leidens ist moralische Notwendigkeit. Beide Triebe nötigen also das Gemüt, jener durch Naturgesetze, dieser durch Gesetze der Vernunft. Der Spieltrieb also, als in welchem beide verbunden wirken, wird das Gemüt zugleich moralisch und physisch nötigen; er wird also, weil er alle Zufälligkeit aufhebt, auch alle Nötigung auf101 https://doi.org/10.5771/9783495861011 .
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heben und den Menschen sowohl physisch als moralisch in Freiheit setzen. Wenn wir jemand mit Leidenschaft umfassen, der unsrer Verachtung würdig ist, so empfinden wir peinlich die Nötigung der Natur. Wenn wir gegen einen andern feindlich gesinnt sind, der uns Achtung abnötigt, so empfinden wir peinlich die Nötigung der Vernunft. Sobald er aber zugleich unsre Neigung interessiert und unsre Achtung sich erworben, so verschwindet sowohl der Zwang der Empfindung als der Zwang der Vernunft, und wir fangen an, ihn zu lieben, d. h. zugleich mit unsrer Neigung und mit unsrer Achtung zu spielen. Indem uns ferner der sinnliche Trieb physisch und der Formtrieb moralisch nötigt, so läßt jener unsre formale, dieser unsre materiale Beschaffenheit zufällig; d. h. es ist zufällig, ob unsere Glückseligkeit mit unsrer Vollkommenheit, oder ob diese mit jener übereinstimmen werde. Der Spieltrieb also, in welchem beide vereinigt wirken, wird zugleich unsre formale und unsre materiale Beschaffenheit, zugleich unsre Vollkommenheit und unsre Glückseligkeit zufällig machen; er wird also, eben weil er beide zufällig macht, und weil mit der Notwendigkeit auch die Zufälligkeit verschwindet, die Zufälligkeit in beiden wieder aufheben, mithin Form in die Materie und Realität in die Form bringen. In demselben Maße, als er den Empfindungen und Affekten ihren dynamischen Einfluß nimmt, wird er sie mit Ideen der Vernunft in Übereinstimmung bringen, und in demselben Maße, als er den Gesetzen der Vernunft ihre moralische Nötigung benimmt, wird er sie mit dem Interesse der Sinne versöhnen.
Fünfzehnter Brief Immer näher komme ich dem Ziel, dem ich Sie auf einem wenig ermunternden Pfade entgegenführe. Lassen Sie es sich gefallen, mir noch einige Schritte weiter zu folgen, so wird ein desto freierer Gesichtskreis sich auftun und eine muntere Aussicht die Mühe des Wegs vielleicht belohnen. Der Gegenstand des sinnlichen Triebes, in einem allgemeinen Begriff ausgedrückt, heißt Leben in weitester Bedeutung; ein Begriff, der alles materiale Sein und alle unmittelbare Gegenwart in den Sinnen bedeutet. Der Gegenstand des Formtriebes, in einem allgemeinen Begriff ausgedrückt, heißt Gestalt, sowohl in uneigentlicher als in eigentlicher Bedeutung; ein Begriff, der alle formalen Beschaffenheiten der 102 https://doi.org/10.5771/9783495861011 .
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Dinge und alle Beziehungen derselben auf die Denkkräfte unter sich faßt. Der Gegenstand des Spieltriebes, in einem allgemeinen Schema vorgestellt, wird also lebende Gestalt heißen können; ein Begriff, der allen ästhetischen Beschaffenheiten der Erscheinungen und mit einem Worte dem, was man in weitester Bedeutung Schönheit nennt, zur Bezeichnung dient. Durch diese Erklärung, wenn es eine wäre, wird die Schönheit weder auf das ganze Gebiet des Lebendigen ausgedehnt, noch bloß in dieses Gebiet eingeschlossen. Ein Marmorblock, obgleich er leblos ist und bleibt, kann darum nichtsdestoweniger lebende Gestalt durch den Architekt und Bildhauer werden; ein Mensch, wiewohl er lebt und Gestalt hat, ist darum noch lange keine lebende Gestalt. Dazu gehört, daß seine Gestalt Leben und sein Leben Gestalt sei. Solange wir über seine Gestalt bloß denken, ist sie leblos, bloße Abstraktion; solange wir sein Leben bloß fühlen, ist es gestaltlos, bloße Impression. Nur indem seine Form in unsrer Empfindung lebt und sein Leben in unserm Verstande sich formt, ist er lebende Gestalt, und dies wird überall der Fall sein, wo wir ihn als schön beurteilen. Dadurch aber, daß wir die Bestandteile anzugeben wissen, die in ihrer Vereinigung die Schönheit hervorbringen, ist die Genesis derselben auf keine Weise noch erklärt; denn dazu würde erfodert, daß man jene Vereinigung selbst begriffe, die uns, wie überhaupt alle Wechselwirkung zwischen dem Endlichen und Unendlichen, unerforschlich bleibt. Die Vernunft stellt aus transzendentalen Gründen die Foderung auf: es soll eine Gemeinschaft zwischen Formtrieb und Stofftrieb, d. h. ein Spieltrieb sein, weil nur die Einheit der Realität mit der Form, der Zufälligkeit mit der Notwendigkeit, des Leidens mit der Freiheit den Begriff der Menschheit vollendet. Sie muß diese Foderung aufstellen, weil sie Vernunft ist – weil sie ihrem Wesen nach auf Vollendung und auf Wegräumung aller Schranken dringt, jede ausschließende Tätigkeit des einen oder des andern Triebes aber die menschliche Natur unvollendet läßt und eine Schranke in derselben begründet. Sobald sie demnach den Ausspruch tut: es soll eine Menschheit existieren, so hat sie eben dadurch das Gesetz aufgestellt: es soll eine Schönheit sein. Die Erfahrung kann uns beantworten, ob eine Schönheit ist, und wir werden es wissen, sobald sie uns belehrt hat, ob eine Menschheit ist. Wie aber eine Schönheit sein kann, und wie eine Menschheit möglich ist, kann uns weder Vernunft noch Erfahrung lehren. Der Mensch, wissen wir, ist weder ausschließend Materie, noch ist 103 https://doi.org/10.5771/9783495861011 .
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er ausschließend Geist. Die Schönheit, als Konsummation (8) seiner Menschheit, kann also weder ausschließend bloßes Leben sein, wie von scharfsinnigen Beobachtern, die sich zu genau an die Zeugnisse der Erfahrung hielten, behauptet worden ist, und wozu der Geschmack der Zeit sie gern herabziehen möchte; noch kann sie ausschließend bloße Gestalt sein, wie von spekulativen Weltweisen, die sich zu weit von der Erfahrung entfernten, und von philosophierenden Künstlern, die sich in Erklärung derselben allzusehr durch das Bedürfnis der Kunst leiten ließen, geurteilt worden ist 4 : sie ist das gemeinschaftliche Objekt beider Triebe, das heißt, des Spieltriebs. Diesen Namen rechtfertigt der Sprachgebrauch vollkommen, der alles das, was weder subjektiv noch objektiv zufällig ist und doch weder äußerlich noch innerlich nötigt, mit dem Wort Spiel zu bezeichnen pflegt. Da sich das Gemüt bei Anschauung des Schönen in einer glücklichen Mitte zwischen dem Gesetz und Bedürfnis befindet, so ist es eben darum, weil es sich zwischen beiden teilt, dem Zwange sowohl des einen als des andern entzogen. Dem Stofftrieb wie dem Formtrieb ist es mit ihren Foderungen ernst, weil der eine sich, beim Erkennen, auf die Wirklichkeit, der andre auf die Notwendigkeit der Dinge bezieht; weil, beim Handeln, der erste auf Erhaltung des Lebens, der zweite auf Bewahrung der Würde, beide also auf Wahrheit und Vollkommenheit gerichtet sind. Aber das Leben wird gleichgültiger, sowie die Würde sich einmischt, und die Pflicht nötigt nicht mehr, sobald die Neigung zieht: ebenso nimmt das Gemüt die Wirklichkeit der Dinge, die materiale Wahrheit, freier und ruhiger auf, sobald solche der formalen Wahrheit dem Gesetz der Notwendigkeit, begegnet, und fühlt sich durch Abstraktion nicht mehr angespannt, sobald die unmittelbare Anschauung sie begleiten kann. Mit einem Zum bloßen Leben macht die Schönheit Burke hEdmund Burke (1729–1797): englischer Staatsmann, Publizist und dem Empirismus nahestehender Philosoph; Philosophical Inquiry into the Origin of Our Ideas on the Sublime and Beautiful (1756, dt. 1773)i in seinen »Philosophischen Untersuchungen über den Ursprung unsrer Begriffe vom Erhabenen und Schönen«. Zur bloßen Gestalt macht sie, soweit mir bekannt ist, jeder Anhänger des dogmatischen Systems, der über diesen Gegenstand je sein Bekenntnis ablegte: unter den Künstlern Raphael Mengs hRaffael Mengs (1728–1779): klassizistischer Maler und Kunsttheoretiker; Gedanken über die Schönheit und den Geschmack in der Malerei (1762)i in seinen Gedanken über den Geschmack in der Malerei; andrer nicht zu gedenken. So wie in allem, hat auch in diesem Stück die kritische Philosophie den Weg eröffnet, die Empirie auf Prinzipien und die Spekulation zur Erfahrung zurückzuführen.
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Summe, Gipfel.
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Wort: indem es mit Ideen in Gemeinschaft kommt, verliert alles Wirkliche seinen Ernst, weil es klein wird, und indem es mit der Empfindung zusammentrifft, legt das Notwendige den seinigen ab, weil es leicht wird. Wird aber, möchten Sie längst schon versucht gewesen sein mir entgegenzusetzen, wird nicht das Schöne dadurch, daß man es zum bloßen Spiel macht, erniedrigt und den frivolen Gegenständen (9) gleichgestellt, die von jeher im Besitz dieses Namens waren? Widerspricht es nicht dem Vernunftbegriff und der Würde der Schönheit, die doch als ein Instrument der Kultur betrachtet wird, sie auf ein bloßes Spiel einzuschränken, und widerspricht es nicht dem Erfahrungsbegriffe des Spiels, das mit Ausschließung alles Geschmackes zusammen bestehen kann, es bloß auf Schönheit einzuschränken? Aber was heißt denn ein bloßes Spiel, nachdem wir wissen, daß unter allen Zuständen des Menschen gerade das Spiel und nur das Spiel es ist, was ihn vollständig macht und seine doppelte Natur auf einmal entfaltet? Was Sie, nach Ihrer Vorstellung der Sache, Einschränkung nennen, das nenne ich, nach der meinen, die ich durch Beweise gerechtfertigt habe, Erweiterung. Ich würde also vielmehr gerade umgekehrt sagen: mit dem Angenehmen, mit dem Guten, mit dem Vollkommenen ist es dem Menschen nur ernst, aber mit der Schönheit spielt er. Freilich dürfen wir uns hier nicht an die Spiele erinnern, die in dem wirklichen Leben im Gange sind und die sich gewöhnlich nur auf sehr materielle Gegenstände richten; aber in dem wirklichen Leben würden wir auch die Schönheit vergebens suchen, von der hier die Rede ist. Die wirklich vorhandene Schönheit ist des wirklich vorhandenen Spieltriebes wert; aber durch das Ideal der Schönheit, welches die Vernunft aufstellt, ist auch ein Ideal des Spieltriebes aufgegeben, das der Mensch in allen seinen Spielen vor Augen haben soll. Man wird niemals irren, wenn man das Schönheitsideal eines Menschen auf dem nämlichen Wege sucht, auf dem er seinen Spieltrieb befriedigt. Wenn sich die griechischen Völkerschaften in den Kampfspielen zu Olympia an den unblutigen Wettkämpfen der Kraft, der Schnelligkeit, der Gelenkigkeit und an dem edleren Wechselstreit der Talente ergötzen, und wenn das römische Volk an dem Todeskampf eines erlegten Gladiators oder seines libyschen Gegners (10) sich labt, so (9) (10)
Wertlose, nichtige Gegenstände. Der Löwe.
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Friedrich Schiller
wird es uns aus diesem einzigen Zuge begreiflich, warum wir die Idealgestalten einer Venus, einer Juno, eines Apolls nicht in Rom, sondern in Griechenland aufsuchen müssen 5 . Nun spricht aber die Vernunft: das Schöne soll nicht bloßes Leben und nicht bloße Gestalt, sondern lebende Gestalt, das ist, Schönheit sein; indem sie ja dem Menschen das doppelte Gesetz der absoluten Formalität und der absoluten Realität diktiert. Mithin tut sie auch den Ausspruch: der Mensch soll mit der Schönheit nur spielen, und er soll nur mit der Schönheit spielen. Denn, um es endlich auf einmal herauszusagen, der Mensch spielt nur, wo er in voller Bedeutung des Worts Mensch ist, und er ist nur da ganz Mensch, wo er spielt. Dieser Satz, der in diesem Augenblicke vielleicht paradox erscheint, wird eine große und tiefe Bedeutung erhalten, wenn wir erst dahin gekommen sein werden, ihn auf den doppelten Ernst der Pflicht und des Schicksals anzuwenden; er wird, ich verspreche es Ihnen, das ganze Gebäude der ästhetischen Kunst und der noch schwierigern Lebenskunst tragen. Aber dieser Satz ist auch nur in der Wissenschaft unerwartet; längst schon lebte und wirkte er in der Kunst und in dem Gefühle der Griechen, ihrer vornehmsten Meister; nur daß sie in den Olympus versetzten, was auf der Erde sollte ausgeführt werden. Von der Wahrheit desselben geleitet, ließen sie sowohl den Ernst und die Arbeit, welche die Wangen der Sterblichen furchen, als die nichtige Lust, die das leere Angesicht glättet, aus der Stirne der seligen Götter verschwinden, gaben die ewig Zufriedenen von den Fesseln jedes Zweckes, jeder Pflicht, jeder Sorge frei und machten den Müßiggang und die Gleichgültigkeit zum beneideten Lose des Götterstandes: ein bloß menschlicherer Name für das freieste und erhabenste Sein. Sowohl der materielle Zwang der Naturgesetze als der geistige Zwang der Sittengesetze verlor sich in ihrem höhern Begriff von Notwendigkeit, der beide Welten zugleich umfaßte, und aus der Einheit jener beiden Notwendigkeiten ging ihnen erst die wahre FreiWenn man (um bei der neuern Welt zu bleiben) die Wettrennen in London, die Stiergefechte in Madrid, die Spectacles hDie höfischen und populären Feste im vorrevolutionären Paris oder das burleske Théatre de la foirei in dem ehemaligen Paris, die Gondelrennen in Venedig, die Tierhatzen in Wien und das frohe, schöne Leben des Corso hDie römische Promenade, Ort des römischen Karnevalsi in Rom gegeneinander hält, so kann es nicht schwer sein, den Geschmack dieser verschiedenen Völker gegeneinander zu nüancieren. Indessen zeigt sich unter den Volksspielen in diesen verschiedenen Ländern weit weniger Einförmigkeit als unter den Spielen der feinern Welt in eben diesen Ländern, welches leicht zu erklären ist.
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ber die sthetische Erziehung des Menschen (1795)
heit hervor. Beseelt von diesem Geiste, löschten sie aus den Gesichtszügen ihres Ideals zugleich mit der Neigung auch alle Spuren des Willens aus, oder besser, sie machten beide unkenntlich, weil sie beide in dem innigsten Bund zu verknüpfen wußten. Es ist weder Anmut, noch ist es Würde, was aus dem herrlichen Antlitz einer Juno Ludovisi (11) zu uns spricht; es ist keines von beiden, weil es beides zugleich ist. Indem der weibliche Gott unsre Anbetung heischt, entzündet das gottgleiche Weib unsre Liebe; aber indem wir uns der himmlischen Holdseligkeit aufgelöst hingeben, schreckt die himmlische Selbstgenügsamkeit uns zurück. In sich selbst ruhet und wohnt die ganze Gestalt, eine völlig geschlossene Schöpfung, und als wenn sie jenseit des Raumes wäre, ohne Nachgeben, ohne Widerstand; da ist keine Kraft, die mit Kräften kämpfte, keine Blöße, wo die Zeitlichkeit einbrechen könnte. Durch jenes unwiderstehlich ergriffen und angezogen, durch dieses in der Ferne gehalten, befinden wir uns zugleich in dem Zustand der höchsten Ruhe und der höchsten Bewegung, und es entsteht jene wunderbare Rührung, für welche der Verstand keinen Begriff und die Sprache keinen Namen hat.
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Kopf einer Venus, die in der Villa des Kardinals Ludovisi stand.
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Wilhelm von Humboldt
Mit dem Jahre 1819 endete das Wirken des preußischen Adligen Wilhelm von Humboldt in der Politik seines Landes, nicht zuletzt aufgrund seines Widerstandes gegen die antidemokratischen »Karlsbader Beschlüsse«. Humboldt zog sich für die letzten 15 Jahre seines Lebens (er starb 1835) in ein komfortables Privatgelehrtendasein auf den Stammsitz der Familie, ins Schlösschen von Tegel zurück, wo er fürderhin vor allem Studien gemäß seiner ungemeinen Sprachbegabung trieb, vom Altgriechischen bis zur Kawi-Sprache. Der Bruder des ähnlich prominent gewordenen Naturforschers, Amerika- und Asienreisenden Alexander von Humboldt war 1767 in Potsdam geboren worden und als Politiker auf die interessantesten und höchsten Ebenen gelangt. Er hatte in Berlin Umgang mit König und Hof, war am Bündnis der alten Monarchien gegen den aus der Revolution erwachsenen Napoleon beteiligt und verhandelte auf dem Wiener Kongress, der dessen Ende regelte – dies alles aber, ohne eigentlich ein Machtpolitiker zu sein und ohne entscheidenden Einfluss auf den Gang der Dinge zu nehmen, außer als kurzzeitiger »Kultusminister« in der preußischen Bildungspolitik u. a. in der Gründung der mittlerweile nach ihm benannten Universität und des humanistischen Gymnasiums. Ähnlich erscheint Humboldt als zutiefst philosophisch geprägt, aber nicht als Fachphilosoph, als glänzender Autor, aber nicht als Dichter, als im Höchsten begabter Philologe, aber nicht als Universitätsgelehrter. In dieser Vielseitigkeit, aber auch in einer ihr unterstellten Gipfelgloriole ästhetisch-moralischer Idealität und kulturellen Selbstgenusses hat die Gestalt Wilhelm von Humboldts eine fast beispiellose Reputation gewonnen. Wann immer die deutschen Kulturwissenschaften und das deutsche Bildungswesen repräsentiert sein wollen, dient sie bis heute als Ankerpunkt (so wie die des Bruders für die Naturforschung), derzeit etwa bei den Plänen, Berlins Schloss als ein »Humboldt-Forum« der Wissenschaft und Kultur wieder zu errichten. Viele Auseinandersetzungen um jeweilige Bildungs108 https://doi.org/10.5771/9783495861011 .
Theorie der Bildung des Menschen (1793)
systeme (wie er selbst sie in privilegierter Erziehung freilich nur höchst bedingt durchlaufen hat) werden unter »Humboldt«-Bannern ausgetragen. Ältere Darstellungen haben gar versucht, Humboldt in »klassischer Verklärung« (Clemens Menze) als Persönlichkeit dasselbe »Evangelium der Lebenstotalität« und »vollkommener Harmonie mit der Natur und der umgebenden Welt« anzudichten, das sie seinen Auffassungen von Bildung und Humanität entnahmen (Rudolf Haym 1856, Eduard Spranger 1909 und 1910, Albert Leitzmann 1919). Dabei waren Humboldts Charakter und sein Leben in manchen ihrer Züge genauso zutiefst und bis ins Kuriose allzumenschlich und zeitgebunden, wie dies bei jedem anderen auch der Fall sein mag. Die Dissonanzen dieses Lebens hat Siegfried August Kaehler (1927) offen dargestellt. (1) Stellte die Persönlichkeit dieses Mannes, wie sie sich in seinen sprachphilosophischen, geschichtstheoretischen usw. Schriften, im umfangreichen Briefwerk und in den Tagebüchern spiegelt, damit lediglich »ein widerspruchsvolles Bündel heterogener Strebungen« dar, »das historisch den Namen Wilhelm von Humboldt geführt, aber nie zu einer Einheit gefunden hat« (2) – ähnlich, wie das, was Bildung heißen kann, sich ja auch bis in das völlige Gegenteil des einmal Gemeinten verkehren lässt und in Deutschland verkehrt worden ist? Diese Frage stellt sich durchaus, hat doch derselbe Humboldt mit dem Projekt einer »Ich-Werdung« und Ausprägung unserer Individualität nichts weniger als das Wesen des Menschen verbunden. (3) Es ist Humboldts Name, der mit all seinem Gewicht wie kein anderer für die Zielvorstellung steht, dass jeder Mensch als Mensch sich selbst als Aufgabe begreifen, d. h. aus einem letzten, verantworteten Prinzip heraus zu (1)
Siegfried A. Kaehler: Wilhelm von Humboldt und der Staat. Göttingen 1927; Rudolf Haym: Wilhelm von Humboldt. Lebensbild und Charakteristik (1856). Osnabrück 1965; Eduard Spranger: Wilhelm von Humboldt und die Humanitätsidee. Berlin 1909; ders.: Humboldt und die Reform des Bildungswesens (1910). Tübingen 1960, bes. 22 ff. und 44 f.); Albert Leitzmann: Wilhelm von Humboldt. Charakteristik und Lebensbild. Halle 1919; Clemens Menze: Wilhelm von Humboldts Lehre und Bild vom Menschen. Ratingen 1965 (vgl. bes. zum »Humboldt-Bild« 9 ff. und zu den Hypostasen der Individualität bei Humboldt 105 ff.; Eberhard Kessel: Wilhelm von Humboldt. Idee und Wirklichkeit. Stuttgart 1967; vgl. demnächst dt.: Paul R. Sweet: Wilhelm von Humboldt oder Die Idee des Menschen. Paderborn 2010, und Hazel Rosenstrauch: Wahlverwandt und ebenbürtig. Caroline und Wilhelm von Humboldt. Frankfurt 2009. (2) So formuliert Tilman Borsche diese Denkmöglichkeit, vgl. ders.: Wilhelm von Humboldt. München 1990, 33. (3) Vgl. ausführlicher: Volker Steenblock: Humboldts Traum. Humanismus und Bildung, in: Jörn Rüsen, Henner Laass (Hrsg.): Interkultureller Humanismus. Schwalbach/Ts. 2009, 255–278.
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Wilhelm von Humboldt
entwickeln suchen müsse, in welchem Kohärenz und Zusammenhang aller Interessens- und Verhaltensfelder und ihrer Auftritte auf den verschiedenen Bühnen des Lebens in bestimmten Formen deutlich werden können. Diese sollen sich in letzter Instanz gleichsam als eine selbstgeschriebene »Symphonie« und nicht als ein Konglomerat bloß fremdbestimmter Einflüsse verstehen lassen. »Der wahre Zweck des Menschen«, sagt Humboldt an anderer, einschlägiger Stelle, »ist die höchste und proportionierlichste Bildung seiner Kräfte zu einem Ganzen.« (4) Diesen Grundansatz nicht bewusst für sich zu realisieren, Wissensgehalte nur als Mittel zum Zweck, z. B. für die Karriere etc. zu nehmen, so macht der Text einleitend deutlich, heißt den »wahren Zweck« der eigenen Existenz zu verfehlen. Es ist dies zugleich ein erkennbar im Geistigen und Kulturellen – nicht in der Wirtschaft – und im Diesseits – nicht in der Religion – liegender »Zweck«, und es ist nicht nur ein individuelles Ziel, sondern das einer Gesellschaft (»Was verlangt man von einer Nation, einem Zeitalter … ?«). Keine spezifische Tätigkeit wird dabei denunziert, vielmehr kann sie als nötige im Ganzen ihren sinnvollen Ort finden. Humboldts Bildungsforderung – ja: seine Feier der bewusst sich selbst ausprägenden Individualität – kann freilich nicht behaupten, so lehrt ja schon die Biographie Humboldts selbst, dass es das Widerstrebende, nicht Passende, Unintegrierbare im menschlichen Leben nicht gäbe. Er selbst spricht von der »Verschiedenheit der Köpfe« und der »Mannigfaltigkeit«, in der »sich die Welt in verschiedenen Individuen spiegelt«. Wir alle machen die Erfahrung, dass wir in unterschiedlichen Zusammenhängen auch jeweils »andere« sein mögen. Und auch in den verschiedensten weltanschaulichen wissenschaftlichen Bewegungen zweier Jahrhunderte seither ist dies aufgefallen. Im Anschluss an Sigmund Freud und seine Entdeckung des Unterbewussten etwa gilt das Ich nicht mehr als der souveräne Herr im eigenen Haus. »Wer bin ich, und wenn ja: wie viele?« war eine geradezu sprichwörtliche Formulierung in den Zeiten der sogenannten »Postmoderne«, seit hundert Jahren wie aktuell heißt es dann noch: »Eigentlich bin ich ganz anders.« Die mit der Bildung untrennbar verbundene Forderung nach Selbstfindung und Identität ist auch gegen ihr modernes Missverständnis als »Selbsttechnologie« – zu verteidigen. (5) Und schließlich geraten gegenwärtig, wie ebenfalls bereits signifikant in einschlägigen Debatten des 19. Jahr(4)
Wilhelm von Humboldts Werke. Hrsg. von Albert Leitzmann. Erster Band 1785–1795. Berlin 1903, I, 64. (5) Vgl. Käte Meyer-Drawe: »Ich ohne Gewähr«. Überlegungen zu Selbstbestimmung und Selbstentzug, in: Dirk Quadflieg (Hrsg.): Selbst und Selbstverlust. Berlin 2008, 25–34.
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Theorie der Bildung des Menschen (1793)
hunderts, (6) unsere subjektiven Vorstellungen, ein selbständig und in Willensfreiheit agierendes »Ich« zu sein, ins Schussfeld einer naturwissenschaftlich-deterministisch argumentierenden Kritik. Entsprechende Konsequenzen gipfeln in der von Thomas Metzinger vertretenen Parole eines »Niemand sein«; die kulturelle Welt wird zum Illusionstheater. Vor dem Hintergrund solcher Debatten geht es gegenwärtig in einem der intensivsten Diskussionsfelder der Philosophie, das die »Klassiker« Willensfreiheit und Leib-Seele-Problem neu aufgreift, darum, wo und wie bewusste Reflexivität und menschliche Sinnsetzung in unterstellter Freiheit aus den Kontexten von Naturzusammenhängen hervorgehen können, also die Fähigkeit zu entwickeln vermögen, aus verantworteter eigenerzeugter Weltkonstruktion heraus ihre Angelegenheiten zu bewerten, kreativ zu sein, Entscheidungen zu treffen und initiativ zu handeln. (7) Der humanistische Bildungsbegriff Humboldts legt uns nahe, eine immer qualifiziertere Arbeit an uns selbst als Lebensziel anzusehen, selbst wenn wir zugleich unsere Identitätsgewinnung als einen von Brüchen, von inneren und äußeren Einflüssen und Zufällen mit geprägten und herausgeforderten Prozess begreifen müssen. Denn kein theoretischer Determinismus, nicht einmal ein womögliches vollständiges Zugeständnis sämtlicher weltanschaulicher naturalistischer Ansprüche würde uns von der Sorge um das eigene Leben und das der Mitmenschen dispensieren, uns unsere nötige kulturelle und weltanschauliche Orientierung abnehmen, unser Handeln leiten können. Es ist, vielbemerkt, ein »Bruchstück«, fast ein Fragment, das uns als Text vorliegt, keine umfassende Ausarbeitung, kein Auszug aus einem »Werk«. Der Text stellt keine ganz einfache Lektüre dar, weil auf ein jeweiliges konkretes Leben zu beziehen ist, was Humboldt im Gestus vollendeter Formalität beschreibt. Gelingt dieser Bezug, dann kommen Grundmotive des Bildungsgedankens zum Ausdruck, wie sie geistesgeschichtlich Epoche gemacht haben. Humboldt zielt zunächst und im Grundsatz auf Allgemeinbildung statt Fachspezialisierung. Mag der Künstler, der Naturwissenschaftler, »ja oft selbst der Philosoph« (!) vor allem sein Spezialgebiet bedienen – (6)
Bereits wichtige Referenzgestalten aus der Gründungsphase der deutschen Geisteswissenschaften wie der Historiker Johann Gustav Droysen und der Philosoph Wilhelm Dilthey verstehen deren Grundansatz als Gegengründung gegen naturalistische und deterministische »Übergriffe« in das Reich der Kultur. (7) Vgl. das Spektrum der Beiträge von Julian Nida-Rümelin vs. Michael Pauen, Geert Keil, Norbert Meuter, Matthias Jung, Volker Gerhardt u. a. in Jan-Christoph Heilinger (Hrsg.): Naturgeschichte der Freiheit. (»Humanprojekt« der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften BBAW). Berlin 2007.
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Wilhelm von Humboldt
Humboldts Traum will das Ganze und das Prinzip in jedem Individuum: Er benennt es als ein Ideal, »dem Begriff der Menschheit in unserer Person, sowohl während der Zeit unseres Lebens, als auch noch über dasselbe hinaus, durch die Spuren des lebendigen Wirkens, die wir zurücklassen, einen so großen Inhalt, als möglich, zu verschaffen«. Diese Aufgabe, die zugleich ein Anrecht und eine Zielbestimmung ist, gilt unbeschadet aller sozialer Differenzierungen für jeden Menschen. (8) Dem Bildungsbegriff ist dabei erkennbar eine ebenso demokratische wie normative Idee eingeschrieben. Im Text heißt es, dass der Mensch seinen kulturellen Ordnungen (und selbst noch der Natur) »das Gepräge seines Wertes sichtbar aufdrücke(n)« müsse. Verlangt wird eine »innere Verbesserung und Veredlung«, erkennbar in einer bestimmten moralischen Qualität, im Umgang mit dem Leben in verlängerter Konsequenz sicherlich auch der Empathie. Humboldt sucht die (dreifach bestimmte: »allgemeinste«, »regeste« und »freieste«) Wechselwirkung von Ich und Welt, von Bildungssubjekt und Bildungsgehalt als Dialektik von Form und Stoff so zu bestimmen, »dass immer das erhellende Licht und die wohltuende Wärme in sein Inneres zurückstrahle«. Ein »überspannter Gedanke«? Durch die »Kräfte der Natur«, besonders durch seine menschliche »Kraft« hierzu nicht nur in die Lage versetzt, sondern gemäß »innerer Unruhe« und »innerem Drang« zu einem solchen »Streben« bestimmt, ja: sich nach ihm »verzehrend«, wird das Ich – dies ist die implizite Behauptung – sich nicht verlieren in der Welt und an ihr auch nicht scheitern oder verzweifeln. Das Ich wird sich vielmehr selbst finden. Bildung des Menschen ist der »Versuch seines Geistes, vor sich selbst verständlich […] zu werden«. Dass wir unsere Existenz auf diese Weise in den Grundformen der kulturellen Bildung als den Modi der Welterschließung selbst erfahren können und müssen, macht unser Menschsein aus. Es ist bekannt, dass für Humboldt die Gehalte der griechischen Kultur, jener Wunderepoche abendländischer Vernunftbildung, in diesem Zusammenhang entscheidend sind. Schließlich gibt es einen antinaturalistischen Schluss; Humboldt ist als Referenzfigur der weltanschaulichen Debatten des 19. Jahrhunderts wie der Gegenwart klar Partei: Er ist, in der Begrifflichkeit des ersteren, Idealist und, in heutiger Begrifflichkeit, Kulturalist par excellence. (8)
»Denn der gemeinste Tagelöhner und der am feinsten Ausgebildete muss in seinem Gemüt ursprünglich gleichgestimmt werden, wenn jener nicht unter der Menschenwürde roh und dieser nicht unter der Menschenkraft sentimental, schimärisch und verschroben werden soll.« In: Humboldt: Werke. Bd. IV. Hrsg. von Andreas Flitner u. Klaus Giel. Darmstadt 1960, 189.
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Theorie der Bildung des Menschen (1793)
Das »Ich« ist kein Naturobjekt, nichts Gegebenes, sondern es ist sich selbst aufgegeben, ist Projekt, freies Erkennen, Urteilen und Handeln gegenüber tendenziell fremdbestimmenden Präge- und Deutungsschablonen. Es braucht wenig hermeneutische Phantasie, solche Fremdbestimmungen in der Gegenwart in den fortschreitenden Zugriffen der Panökonomisierung zu erkennen, wie sie ihren Ausdruck etwa in dem mit Recht als entmenschlichend bezeichneten Begriff des »Humankapitals« finden. Indem jede neue Selbst- und Weltsicht sich als eine eigene aufbauen muss, ermöglicht sich hier sozusagen ein Blick an die Quelle der Kulturinnovation und des Kulturwandels. Nicht eine Anpassungsfähigkeit an beliebige Lagen, sondern die Bildung des verantwortlichen Subjekts, das bewerten, einschätzen und gestalten kann: Das war Humboldts Antwort auf die Krise seiner Zeit, wie sie in der Französischen Revolution zum Ausdruck kam, deren Augenzeuge er wurde, und darin liegt seine Aktualität in einer im Zeitalter der Globalisierung nicht weniger einschneidenden Zäsur, die dazu auffordert, diese Sinnperspektive der Bildung: Humboldts Traum festzuhalten, die im Eigenwert humaner Selbstkultivierung und zugleich in einer von hierher ermöglichten verantworteten Handlungsfähigkeit liegt.
Theorie der Bildung des Menschen. Bruchstck (1793) (9) [1.] Es wäre ein grosses und trefliches Werk zu liefern, wenn jemand die eigenthümlichen Fähigkeiten zu schildern unternähme, welche die verschiedenen Fächer der menschlichen Erkenntniss zu ihrer glücklichen Erweiterung voraussetzen; den ächten Geist, in dem sie einzeln bearbeitet, und die Verbindung, in die sie alle mit einander gesetzt werden müssen, um die Ausbildung der Menschheit, als ein Ganzes, zu vollenden. Der Mathematiker, der Naturforscher, der Künstler, ja oft selbst der Philosoph beginnen nicht nur jetzt gewöhnlich ihr Geschäft, ohne seine eigentliche Natur zu kennen und es in seiner Vollständigkeit zu übersehen, sondern auch nur wenige erheben sich selbst späterhin zu diesem höheren Standpunkt und dieser allgemeineren Uebersicht. In einer noch schlimmeren Lage aber befindet sich derjenige, welcher, ohne ein einzelnes jener Fächer ausschliessend zu wählen, nur aus allen (9)
Wilhelm von Humboldts Werke. Hrsg. von Albert Leitzmann, a. a. O., 282–287.
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Wilhelm von Humboldt
für seine Ausbildung Vortheil ziehen will. In der Verlegenheit der Wahl unter mehreren, und aus Mangel an Fertigkeit, irgend eins, aus den engeren Schranken desselben heraus, zu seinem eignen allgemeineren Endzweck zu benutzen, gelangt er nothwendig früher oder später dahin, sich allein dem Zufall zu überlassen und was er etwa ergreift, nur zu untergeordneten Absichten, oder bloss als ein zeitverkürzendes Spielwerk zu gebrauchen. Hierhin liegt einer der vorzüglichsten Gründe der häufigen und nicht ungerechten Klagen, dass das Wissen unnütz und die Bearbeitung des Geistes unfruchtbar bleibt, dass zwar Vieles um uns her zu Stande gebracht, aber nur wenig in uns verbessert wird, und dass man über der höheren, und nur für Wenige tauglichen wissenschaftlichen Ausbildung des Kopfes die allgemeiner und unmittelbarer nützliche der Gesinnungen vernachlässigt. Im Mittelpunkt aller besonderen Arten der Thätigkeit nemlich steht der Mensch, der ohne alle, auf irgend etwas Einzelnes gerichtete Absicht, nur die Kräfte seiner Natur stärken und erhöhen, seinem Wesen Werth und Dauer verschaffen will. Da jedoch die blosse Kraft einen Gegenstand braucht, an dem sie sich üben, und die blosse Form, der reine Gedanke, einen Stoff, in dem sie, sich darin ausprägend, fortdauern könne, so bedarf auch der Mensch einer Welt ausser sich. Daher entspringt sein Streben, den Kreis seiner Erkenntniss und seiner Wirksamkeit zu erweitern, und ohne dass er sich selbst deutlich dessen bewusst ist, liegt es ihm nicht eigentlich an dem, was er von jener erwirbt, oder vermöge dieser ausser sich hervorbringt, sondern nur an seiner innern Verbesserung und Veredlung, oder wenigstens an der Befriedigung der innern Unruhe, die ihn verzehrt. Rein und in seiner Endabsicht betrachtet, ist sein Denken immer nur ein Versuch seines Geistes, vor sich selbst selbst verständlich, sein Handeln ein Versuch seines Willens, in sich frei und unabhängig zu werden, seine ganze äussre Geschäftigkeit überhaupt aber nur ein Streben, nicht in sich müssig zu bleiben. Bloss weil beides, sein Denken und sein Handeln nicht anders, als nur vermöge eines Dritten, nur vermöge des Vorstellens und des Bearbeitens von etwas möglich ist, dessen eigentlich unterscheidendes Merkmal es ist, Nicht-Mensch, d. i. Welt zu seyn, sucht er, soviel Welt, als möglich zu ergreifen, und so eng, als er nur kann, mit sich zu verbinden. Die letzte Aufgabe unseres Daseyns: dem Begriff der Menschheit in unsrer Person, sowohl während der Zeit unsres Lebens, als auch noch über dasselbe hinaus, durch die Spuren des lebendigen Wirkens, die wir 114 https://doi.org/10.5771/9783495861011 .
Theorie der Bildung des Menschen (1793)
zurücklassen, einen so grossen Inhalt, als möglich, zu verschaffen, diese Aufgabe löst sich allein durch die Verknüpfung unsres Ichs mit der Welt zu der allgemeinsten, regesten und freiesten Wechselwirkung. Diess allein ist nun auch der eigentliche Massstab zur Beurtheilung der Bearbeitung jedes Zweiges menschlicher Erkenntniss. Denn nur diejenige Bahn kann in jedem die richtige seyn, auf welcher das Auge ein unverrücktes Fortschreiten bis zu diesem letzten Ziele zu verfolgen im Stande ist, und hier allein darf das Geheimniss gesucht werden, das, was sonst ewig todt und unnütz bleibt, zu beleben und zu befruchten. Die Verknüpfung unsres Ichs mit der Welt scheint vielleicht auf den ersten Anblick nicht nur ein unverständlicher Ausdruck, sondern auch ein überspannter Gedanke. Bei genauerer Untersuchung aber wird wenigstens der letztere Verdacht verschwinden, und es wird sich zeigen, dass, wenn man einmal das wahre Streben des menschlichen Geistes (das, worin ebensowohl sein höchster Schwung, als sein ohnmächtigster Versuch enthalten ist) aufsucht, man unmöglich bei etwas Geringerem stehen bleiben kann. Was verlangt man von einer Nation, einem Zeitalter, von dem ganzen Menschengeschlecht, wenn man ihm seine Achtung und seine Bewunderung schenken soll? Man verlangt, dass Bildung, Weisheit und Tugend so mächtig und allgemein verbreitet, als möglich, unter ihm herrschen, dass es seinen innern Werth so hoch steigern, dass der Begriff der Menschheit, wenn man ihn von ihm, als dem einzigen Beispiel, abziehen müsste, einen grossen und würdigen Gehalt gewönne. Man begnügt sich nicht einmal damit. Man fordert auch, dass der Mensch den Verfassungen, die er bildet, selbst der leblosen Natur, die ihn umgiebt, das Gepräge seines Werthes sichtbar aufdrücke, ja dass er seine Tugend und seine Kraft (so mächtig und so allwaltend sollen sie sein ganzes Wesen durchstralen) noch der Nachkommenschaft einhauche, die er erzeugt. Denn nur so ist eine Fortdauer der einmal erworbenen Vorzüge möglich, und ohne dies, ohne den beruhigenden Gedanken einer gewissen Folge in der Veredlung und Bildung, wäre das Daseyn des Menschen vergänglicher, als das Daseyn der Pflanze, die, wenn sie hinwelkt, wenigstens gewiss ist, den Keim eines ihr gleichen Geschöpfs zu hinterlassen. Beschränken sich indess auch alle diese Forderungen nur auf das innere Wesen des Menschen, so dringt ihn doch seine Natur beständig von sich aus zu den Gegenständen ausser ihm überzugehen, und hier kommt es nun darauf an, dass er in dieser Entfremdung nicht sich 115 https://doi.org/10.5771/9783495861011 .
Wilhelm von Humboldt
selbst verliere, sondern vielmehr von allem, was er ausser sich vornimmt, immer das erhellende Licht und die wohlthätige Wärme in sein Inneres zurückstrale. Zu dieser Absicht aber muss er die Masse der Gegenstände sich selbst näher bringen, diesem Stoff die Gestalt seines Geistes aufdrücken und beide einander ähnlicher machen. In ihm ist vollkommene Einheit und durchgängige Wechselwirkung, beide muss er also auch auf die Natur übertragen; in ihm sind mehrere Fähigkeiten, ihm denselben Gegenstand in verschiedenen Gestalten, bald als Begriff des Verstandes, bald als Bild der Einbildungskraft, bald als Anschauung der Sinne vor seine Betrachtung zu führen. Mit allen diesen, wie mit ebensoviel verschiedenen Werkzeugen, muss er die Natur aufzufassen versuchen, nicht sowohl um sie von allen Seiten kennen zu lernen, als vielmehr um durch diese Mannigfaltigkeit der Ansichten die eigene innewohnende Kraft zu stärken, von der sie nur anders und anders gestaltete Wirkungen sind. Gerade aber diese Einheit und Allheit bestimmt den Begriff der Welt. Allein auch ausserdem finden sich nun in eben diesem Begriff in vollkommenem Grade die Mannigfaltigkeit, mit welcher die äusseren Gegenstände unsre Sinne rühren, und das eigne selbstständige Daseyn, wodurch sie auf unsre Erziehung einwirken. Denn nur die Welt umfasst alle nur denkbare Mannigfaltigkeit und nur sie besitzt eine so unabhängige Selbstständigkeit, dass sie dem Eigensinn unsres Willens die Gesetze der Natur und die Beschlüsse des Schicksals entgegengestellt. Was also der Mensch nothwendig braucht, ist bloss ein Gegenstand, der die Wechselwirkung seiner Empfänglichkeit mit seiner Selbstthätigkeit möglich mache. Allein wenn dieser Gegenstand genügen soll, sein ganzes Wesen in seiner vollen Stärke und seiner Einheit zu beschäftigen; so muss er der Gegenstand schlechthin, die Welt seyn, oder doch (denn diess ist eigentlich allein richtig) als solcher betrachtet werden. Nur um der zerstreuenden und verwirrenden Vielheit zu entfliehen, sucht man Allheit; um sich nicht auf eine leere und unfruchtbare Weise ins Unendliche hin zu verlieren, bildet man einen, in jedem Punkt leicht übersehbaren Kreis; um an jeden Schritt, den man vorrückt, auch die Vorstellung des letzten Zwecks anzuknüpfen, sucht man das zerstreute Wissen und Handeln in ein geschlossenes, die blosse Gelehrsamkeit in eine gelehrte Bildung, das bloss unruhige Streben in eine weise Thätigkeit zu verwandeln.
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Theorie der Bildung des Menschen (1793)
2. Dies aber nun würde gerade durch ein Werk, wie das obenerwähnte auf die kräftigste Weise befördert werden. Denn bestimmt, die mannigfaltigen Arten menschlicher Thätigkeit in den Richtungen, die sie dem Geiste geben, und den Forderungen, die sie an ihn machen, zu betrachten und zu vergleichen, führte es geradezu in den Mittelpunkt, zu dem alles, was eigentlich auf uns einwirken soll, nothwendig gelangen muss. Von ihm geleitet, flüchtete sich die Betrachtung aus der Unendlichkeit der Gegenstände in den engeren Kreis unsrer Fähigkeiten und ihres mannigfaltigen Zusammenwirkens; das Bild unsrer Thätigkeit, die wir sonst nur stückweise, und in ihren äussern Erfolgen erblicken, zeigte sich uns hier, wie in einem zugleich erhellenden und versammelnden Spiegel, in unmittelbarer Beziehung auf unsre innere Bildung. Den Einfluss, den jedes Geschäft des Lebens auf diese ausüben kann, leicht und fasslich übersehend, fände vorzüglich derjenige seine Belehrung darin, dem es nur um die Erhöhung seiner Kräfte und die Veredlung seiner Persönlichkeit zu tun ist. Zugleich aber lernt der, welcher eine einzelne Arbeit verfolgt, nur da sein Geschäft in seinem ächten Geist und in einem grossen Sinne ausführen. Er will nicht mehr bloss dem Menschen Kenntnisse oder Werkzeuge zum Gebrauch zubereiten, nicht mehr nur einen einzelnen Theil seiner Bildung befördern helfen; er kennt das Ziel, das ihm gesteckt ist, er sieht ein, dass, auf die rechte Weise betrieben, sein Geschäft dem Geiste eine eigne und neue Ansicht der Welt und dadurch eine eigne und neue Stimmung seiner selbst geben, dass er von der Seite, auf der er steht, seine ganze Bildung vollenden kann; und dies ist es, wohin er strebt. Wie er aber nur für die Kraft und ihre Erhöhung arbeitet, so thut er sich auch nur Genüge, wenn er die seinige vollkommen in seinem Werke ausprägt. Nun aber wird das Ideal grösser, wenn man darin die Anstrengung, die es erreichen, als wenn man den Gegenstand ausmisst, den es darstellen soll. Ueberall hat das Genie nur die Befriedigung des innern Dranges zum Zweck, der es verzehrt, und der Bildner z. B. will nicht eigentlich das Bild eines Gottes darstellen, sondern die Fülle seiner plastischen Einbildungskraft in dieser Gestalt ausdrücken und heften. Jedes Geschäft kennt eine ihm eigenthümliche Geistesstimmung, und nur in ihr liegt der ächte Geist seiner Vollendung. Äussere Mittel es auszuführen giebt es immer mehrere, aber
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Wilhelm von Humboldt
die Wahl unter ihnen kann nur jene, nur ob sie geringere oder vollere Befriedigung findet, bestimmen. Das Verfahren unseres Geistes, besonders in seinen geheimnissvolleren Wirkungen, kann nur durch tiefes Nachdenken und anhaltende Beobachtung seiner selbst ergründet werden. Aber es ist selbst damit noch wenig geschehen, wenn man nicht zugleich auf die Verschiedenheit der Köpfe, auf die Mannigfaltigkeit der Weise Rücksicht nimmt, wie sich die Welt in verschiedenen Individuen spiegelt. Jenes Werk müsste daher zugleich auch diese Mannigfaltigkeit schildern, und dürfte unter denen, die sich in irgend einem Fache hervorgethan haben, niemanden übergehen, durch den dasselbe eine neue Gestalt, oder einen erweiterten Begriff gewonnen hätte. Diese müsste es in ihrer vollständigen Individualität, und dem ganzen Einflusse zeichnen, den ihr Zeitalter und ihr Nation auf sie ausgeübt hätte. Dadurch nun übersähe man nicht nur die mannigfaltigen Arten, wie jedes einzelne Fach bearbeitet werden kann, sondern auch die Folge, in der eine nach und nach aus der andern entspringt. Da jedoch diese Folge immer wieder durch den Einfluss des Nationalcharakters, des Zeitalters und der äussern Umstände überhaupt unterbrochen wird, so erhielte man zwei verschiedene aber immer gegenseitig auf einander einwirkende Reihen: die eine der Veränderungen, welche irgend eine Geistesthätigkeit nach und nach in ihrem Fortschreiten gewinnt, die andre derjenigen, welche der Charakter der Menschen in einzelnen Nationen und Zeiten sowohl, als im Ganzen, durch die Beschäftigungen annimmt, die er nach und nach ergreift; und in beiden zeigten sich ausserdem die Abweichungen, durch die genievolle Individuen diesen sonst ununterbrochen fortschreitenden Naturgang plötzlich stören, und ihre Nation oder ihr Zeitalter auf einmal in andre, neue Aussichten eröfnende Bahnen hinschleudern. Allein nur, indem man dies schrittweise verfolgt und am Ende im Ganzen überschaut, gelangt man dahin, sich vollkommne Rechenschaft abzulegen, wie die Bildung des Menschen durch ein regelmässiges Fortschreiten Dauer gewinnt, ohne doch in die Einförmigkeit auszuarten, mit welcher die körperliche Natur, ohne jemals etwas Neues hervorzubringen, immer nur von neuem dieselben Umwandlungen durchgeht.
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Johann Gottfried Herder
Herder (1744–1803) war ein Mann mit ebenso vielfältigen wie außerordentlichen Gaben und Wirkungen, vielzitiert ein »Bündel von Sternen« (Jean Paul), auch wenn man von ihm behauptet hat, dass es ihm nicht immer gelungen sei, sich statt von einzelnen Gefühlsantrieben »von der gesammelten Kraft seines Inneren leiten« zu lassen: ein unkonventioneller Theologe und protestantischer Kirchenmann zwischen persönlichem Unsterblichkeitsglauben und personalem Gott auf der einen und einer Tendenz zum Pantheismus auf der anderen Seite, (1) ein Philosoph (vor allem ein nachhaltig diskutierter Sprachtheoretiker und Geschichtsphilosoph sowie eine bis heute außerordentlich wichtige Referenzgestalt der philosophischen Anthropologie), ein Pädagoge und Bildungstheoretiker und schließlich nicht zuletzt ein Literaturkritiker bzw. -theoretiker/Ästhetiker. Herder stammt aus Mohrungen in Ostpreußen (heute polnisch Morag), einige Dutzend Kilometer südöstlich von Danzig und der Marienburg gelegen. Zum Studium kam er unter den Mühen großer Armut an die vom Herzog Albrecht von Brandenburg im Jahre 1544 gegründete Königsberger Universität, die sogenannte »Albertina«, an die heute in der ehemaligen Hauptstadt Ostpreußens nur noch ein Gedenkstein erinnert. Wie Kant wurde Herder, was er wurde, in oder durch Königsberg. (2) Er schrieb sich im August 1762 an der Albertina im Fach Theologie ein, zudem war er ab (1)
Horst Stephan: Herder in Bückeburg. Tübingen 1905. Vgl. Jürgen Manthey: Königsberg. Geschichte einer Weltbürgerrepublik. Wien 2005. – So vielschichtig, wie das Gedankengebäude Herders in sich selbst, so ambivalent war auch sein Verhältnis zu Kant. Einer großartigen Würdigung seines Lehrers im 79. Brief der 6. Sammlung seiner Briefe zur Beförderung der Humanität steht der tiefe Dissens des geschichtlich denkenden Herder zum »Eishimmel« eines ahistorischen Vernunftdenkens entgegen. Ohne die aufgeklärten Ansprüche der Vernunft aufzugeben, sieht er das, was sich dem Zugriff einer strikten Vernunft im Kantischen Sinne entzieht: »die Pluralität der Weltansichten und Kulturen, die Empfindsamkeit der Individuen, die Kontingenz der Geschichte«. Jens Heise: Herder zur Einführung. Hamburg 1998, 9.
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Johann Gottfried Herder
Ostern 1763 am Gymnasium Fridericianum als Lehrer angestellt, wo er von der Philosophie bis zur Mathematik ein breites Spektrum unterrichtete. Danach war Herder fünf Jahre Prediger und Lehrer an der Domschule in Riga; ähnliche Doppelfunktionen, freilich in den Rängen aufsteigend, übte er danach im Fürstentümchen Schaumburg-Lippe zu Bückeburg (auf der Kanzel der dortigen Weserrenaissance-Kirche wie in der alten Lateinschule; in dieser Zeit lernte er auch seine Frau kennen) und in Weimar aus. Nicht nur prägt ein konkretes Bildungsengagement Herder zeit seines Lebens; er entwickelt früh auch ein nachhaltiges pädagogisches Selbstverständnis, versteht sich als »Bildungsreformator«, hält Schulreden, kümmert sich um die Lehrerbildung, erwartet Nachruhm. (3) Schon vor der Bückeburger Ära, zu Zeiten etwa seines Treffens mit Goethe in Straßburg, tritt er nicht ohne Eleganz und nicht ohne Inszenierung im Gewande eines weltmännischen Geistlichen durchaus unverblümt als ein bewusster Anwalt der Kultur und in engagierter Programmatik gar als »Lehrer der Menschheit« auf. Dass er in Weimar 1776 das Amt des Generalsuperintendenten übernahm, war Goethes Vorschlag gewesen, der den bewunderten Intellektuellen der Straßburger Zeit warnte, er möge in seiner ersten Predigt doch möglichst einfach sprechen, auf dass das gemeine Volk ihn verstehe. Nach zeitgenössischen Berichten soll Herder mit klangvoller Stimme seine Hörer denn auch sehr beeindruckt haben, wenn er auf der Kanzel stand. Hinter der Kirche befindet sich bis heute das Pfarrhaus, in dem er wohnte; im alten Gymnasium nebenan – ihm unterstand das gesamte Weimarer Kirch- und Schulwesen – war Herder wie schon auf seinen vorherigen beruflichen Stationen auch selbst als Lehrer tätig. Dem »Prediger der Humanität« ging es darum, dass der Mensch wirklich »Mensch« werde; (4) vor allem auch in den »Briefen zur Beförderung der Humanität« hat Herder es als das Ziel der kulturellen Arbeit bestimmt, »uns zu humanisieren, d. i. den Unmenschen oder Halbmenschen zum Menschen zu machen«. (5) Er prägte damit das Bildungs- und (3)
Tino Markworth: Die Selbstdarstellung Herders in den ersten Bückeburger Jahren, in: Brigitte Poschmann (Hrsg.): Bückeburger Gespräche über Johann Gottfried Herder 1988: Älteste Urkunde des Menschengeschlechts. Rinteln 1989, 81–97; ders.: Unsterblichkeit und Identität beim frühen Herder. Paderborn 2005, 153. (4) Vgl. Herbert v. Hintzenstern in dem kleinen Bändchen: Herder in Weimar. Jena 1994, 9; ders.: Herder, in: Martin Greschat (Hrsg): Gestalten der Kirchengeschichte Bd. 8. Stuttgart 1983, 363–380; Michael Zaremba: Johann Gottfried Herder. Prediger der Humanität. Köln 2002. Die »Klassiker« der Herder-Edition und -Forschung sind Bernd Suphan und Rudolf Haym (Herder. 2 Bde. Berlin 1880/1885). (5) Johann Gottfried Herder: Briefe zur Beförderung der Humanität (Werke in 10 Bdn. Hrsg. von Martin Bollacher u. a.). Hrsg. von Hans Dietrich Irmscher Frankfurt a. M. 1991, 165.
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Die goldene Kette der Bildung (1784/85)
Humanitätsideal der »Weimarer Klassik« mit Wieland, Goethe und Schiller, auch Humboldt, entscheidend mit, (6) wie sie durch die Herzogin Anna Amalia begründet worden war, die in ihrer »Tafelrunde« im Wittumspalais mit den Geistesgrößen der deutschen Kulturgeschichte zu diskutieren pflegte. Freilich entwickelte sich das Verhältnis des nicht ganz einfachen Mannes zu Goethe auf Dauer nicht nur erfreulich. Nicht zuletzt Herders republikanische Neigungen und seine Begeisterung für die Französische Revolution trennten den zensurbedrohten Autor vom örtlichen Kleinabsolutismus (nach einer Predigt aus Anlass der Geburt des Thronfolgers bemerkte der deutlich konservativere Goethe, eigentlich hätte der Herzog danach zurücktreten müssen). In seinen »Ideen zur Philosophie der Geschichte der Menschheit« (1784–1791), aus denen der folgende Textauszug stammt, verweist Herder auf jenen Grundcharakter der Kultur, demzufolge wir sowohl auf neue Situationen in einer jeweiligen, immer anders strukturierten Gegenwart reagieren müssen, zugleich aber auf ein Anknüpfen an die Gehalte der Traditionen angewiesen sind. Die kulturellen Traditionen ermöglicht allererst eine Entwicklung der Bildung nicht nur im Einzelmenschen, sondern auch im Menschengeschlecht; sie sind das hauptsächliche Medium, in welchem unser menschliches »Sich-Aufarbeiten« in historischen Prozessen statthaben kann. Herder muss nicht (wie Rousseau) ein Innermenschlich-Natürliches gegen einen verderbten Gesellschaftstand ausspielen, sondern kann ein Wechselspiel von Tradition und Neuanfang als soziales Geschehen erweisen; gute Erziehung beginnt im humanen und einfühlsamen häuslichen Umgang (7) und weist dann kulturell hierüber hinaus. In einer signifikanten Steigerung der Bilder spricht Herder gar von einer »goldenen Kette der Bildung«. Die ebenso bewahrende, Altes aufgreifende wie schöpferisch verändernde Anverwandlung der kulturellen Tradition ermöglicht eine »zweite Genesis« des Menschengeschlechtes durch »Kultur und Aufklärung«, eine Selbsthumanisierung der Gesellschaft. Der Mensch, physisch vorhanden, muss sich (6)
Vgl. Wulf Köpke: Humanität in Goethes Weimar. Herder nach der Französischen Revolution, in: Volker C. Dörr, Michael Hofmann (Hrsg.): »Verteufelt human?« Zum Humanitätsideal der Weimarer Klassik. Berlin 2008, 47–68; Hubert Cancik: Die Begründung der Humanität bei Herder. Zur Antikerezeption in den »Briefen zur Beförderung der Humanität«, in: ders. und Martin Vöhler (Hrsg.): Humanismus und Antikerezeption im 18. Jahrhundert Bd. 1. Berlin 2009, 113–126. (7) Vgl. Albert Ilien: Nachdenken über Bildung. Herder in Bückeburg (1771–1776); im Netz zu finden unter www.hannover.de/data/download/bildung_arbeit/Vortrag.pdf, gesehen am 9. 3. 2010.
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Johann Gottfried Herder
in der Kultur gleichsam noch einmal erfinden, um dem Begriff, den er sich von sich selbst als vernunftbegabtes Wesen machen kann (und zu machen hat), gerecht zu werden.
Die goldene Kette der Bildung (1784/85) (8) So gern der Mensch alles aus sich heraus hervorzubringen wähnet; so sehr hanget er doch in der Entwicklung seiner Fähigkeiten von andern ab. Nicht nur Philosophen haben die menschliche Vernunft, als unabhängig von Sinnen und Organen, zu einer ihm ursprünglichen, reinen Potenz erhoben; sondern auch der sinnliche Mensch wähnet im Traum seines Lebens, er sei alles, was er ist, durch sich selbst worden. […] Schränkte ich aber […] beim Menschen, alles auf Individuen ein und leugnete die Kette ihres Zusammenhanges sowohl unter einander als mit dem Ganzen: so wäre mir abermals die Natur des Menschen und seine helle Geschichte entgegen: denn kein einzelner von uns ist durch sich selbst Mensch worden. Das ganze Gebilde der Humanität in ihm hängt durch eine geistige Genesis, die Erziehung, mit seinen Eltern, Lehrern, Freunden, mit allen Umständen im Lauf seines Lebens, also mit seinem Volk und den Vätern desselben, ja endlich mit der ganzen Kette des Geschlechts zusammen, das irgend in einem Gliede Eine seiner Seelenkräfte berührte. So werden Völker zuletzt Familien: Familien gehen zu Stammvätern hinauf: der Strom der Geschichte enget sich bis zu seinem Quell und der ganze Wohnplatz unsrer Erde verwandelt sich endlich in ein Erziehungshaus unsrer Familie […]. […] Alle Erziehung kann nur durch Nachahmung und Übung, also durch Übergang des Vorbildes ins Nachbild werden; und wie könnten wir dies besser als Überlieferung nennen? der Nachahmende aber muß Kräfte haben, das Mitgeteilte und Mitteilbare aufzunehmen und es, wie die Speise, durch die er lebt, in seine Natur zu verwandeln. Von wem er also? was und (8)
Johann Gottfried Herder: Ideen zur Philosophie der Geschichte der Menschheit (1784/85). Neuntes Buch, in: Werke in 10 Bänden. Hrsg. von Martin Bollacher u. a. Bd. 6. Hrsg. von Martin Bollacher. Frankfurt a. M. 1989, 336–345 (gekürzt). Vgl. als komplementären Textauszug und in ergänzender Kommentierung das Herder-Kapitel in: Gudrun Kühne-Bertram, Hans-Ulrich Lessing, Volker Steenblock (Hrsg.): Mensch und Kultur. Klassische Texte der Kulturphilosophie. 2. Aufl. Hannover 2009, 35–51.
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Die goldene Kette der Bildung (1784/85)
wie viel er aufnehme? wie ers sich zueigne, nutze und anwende? das kann nur durch seine, des Aufnehmenden, Kräfte bestimmt werden; mithin wird die Erziehung unsres Geschlechts in zwiefachem Sinn genetisch und organisch: genetisch durch die Mitteilung, organisch durch die Aufnahme und Anwendung des Mitgeteilten. (9) Wollen wir diese zweite Genesis des Menschen, die sein ganzes Leben durchgeht, von der Bearbeitung des Ackers Kultur oder vom Bilde des Lichts Aufklärung nennen: so stehet uns der Name frei; die Kette der Kultur und Aufklärung reicht aber sodann bis ans Ende der Erde. […] Bleibt der Mensch unter Menschen: so kann er dieser bildenden oder mißbildenden Kultur nicht entweichen: Tradition tritt zu ihm und formt seinen Kopf und bildet seine Glieder. Wie jene ist, und wie diese sich bilden lassen: so wird der Mensch, so ist er gestaltet. […] Die Philosophie der Geschichte also, die die Kette der Tradition verfolgt, ist eigentlich die wahre Menschengeschichte, ohne welche alle äußere Weltbegebenheiten nur Wolken sind oder erschreckende Mißgestalten werden. Grausenvoll ist der Anblick, in den Revolutionen (10) der Erde nur Trümmer auf Trümmern zu sehen, ewige Anfänge ohne Ende, Umwälzungen des Schicksals ohne dauernde Absicht! Die Kette der Bildung allein macht aus diesen Trümmern ein Ganzes, in welchem zwar Menschengestalten verschwinden, aber der Menschengeist unsterblich und fortwirkend lebet. Glorreiche Namen, die in der Geschichte der Kultur als Genien des Menschengeschlechts, als glänzende Sterne in der Nacht der Zeiten schimmern! Laß es sein, daß der Verfolg der Äonen manches von ihrem Gebäude zertrümmerte und vieles Gold in den Schlamm der Vergessenheit senkte; die Mühe ihres Menschenlebens war dennoch nicht vergeblich: denn was die Vorsehung von ihrem Wert retten wollte, rettete sie in andern Gestalten. Ganz und ewig kann ohnedies kein Menschendenkmal auf der Erde dauern, da es im Strom der Generationen nur von den Händen der Zeit für die Zeit errichtet war und augenblicklich der Nachwelt verderblich wird, sobald es ihr neues Bestreben unnötig macht oder aufhält. Auch die wandelbare Gestalt und die Unvollkommenheit aller menschlichen Wirkung lag also im Plan des Schöpfers. Torheit mußte erscheinen, damit die Weisheit sie überwinde: zerfallende Brechlichkeit auch der schönsten Werke war von ihrer (9)
»Genetisch« im Sinne von »Übernahme durch Tradition, Tradierung«, »organisch« im Sinne der Anverwandlung der so tradierten »Speise« zu verstehen. (10) Hier wohl auch wörtlich zu verstehen: Umdrehungen.
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Johann Gottfried Herder
Materie unzertrennlich, damit auf den Trümmern derselben eine neue bessernde oder bauende Mühe der Menschen stattfände: denn alle sind wir hier nur in einer Werkstätte der Übung. Jeder Einzelne muß davon und da es ihm sodann gleich sein kann, was die Nachwelt mit seinen Werken vornehme, so wäre es einem guten Geist sogar widrig, wenn die folgenden Geschlechter solche mit toter Stupidität anbeten und nichts eigenes unternehmen wollten. Er gönnet ihnen diese neue Mühe: denn was Er aus der Welt mitnahm, war seine gestärkte Kraft, die innere reiche Frucht seiner menschlichen Übung. Goldene Kette der Bildung also, du die die Erde umschlingt und durch alle Individuen bis zum Thron der Vorsehung reichet, seitdem ich dich ersah und in deinen schönsten Gliedern, den Vater- und Mutter- den Freundes- und Lehrer-Empfindungen verfolgte, ist mir die Geschichte nicht mehr, was sie mir sonst schien, ein Greuel der Verwüstung auf einer heiligen Erde. Tausend Schandtaten stehen da mit häßlichen Lobe verschleiert: tausend andre stehen in ihrer ganzen Häßlichkeit daneben, um allenthalben doch das sparsame wahre Verdienst wirkender Humanität auszuzeichnen, das auf unsrer Erde immer still und verborgen ging und selten die Folgen kannte, die die Vorsehung aus seinem Leben, wie den Geist aus der Masse hervorzog.
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Johann Gustav Droysen
Das Leben des Historikers und Geschichtsphilosophen Johann Gustav Droysen (1808–1886) zeigt die deutsche Bildungsreflexion des 19. Jahrhunderts eingebunden in die kulturwissenschaftlichen Errungenschaften und gesellschaftlich-politischen Umstände ihrer Zeit. Zunächst in Berlin, als Student des führenden Altphilologen August Boeckh und des Philosophen Georg Wilhelm Friedrich Hegel, als Lehrer und schließlich Hochschullehrer, stehen für ihn Altphilologie und Alte Geschichte im Vordergrund; er übersetzt Aischylos und Aristophanes und schreibt eine »Geschichte Alexanders des Großen« (1833) sowie eine zweibändige »Geschichte des Hellenismus« (1836, 1843), welch letzteren Begriff Droysen in die Geschichtsschreibung einführt. Diese Klassiker der Historiographie überwinden die normative Sicht des klassischen Zeitalters der Griechen, der alles Folgende nur als Verfallszeit gelten konnte. Das »Walten der Vorsehung« soll Orient und Okzident kulturell verschmelzen, um letztlich dem Christentum den Boden zu bereiten. Mit einem Ruf nach Kiel an die dortige Universität beginnt eine zweite, politische Phase in Droysens Leben, die ihn bis in die Frankfurter Nationalversammlung von 1848 und in ihren Verfassungsausschuss führt; zugleich mit diesen liberalen Interessen verfolgt er zeit seines Lebens eine nationale Perspektive (»Geschichte der preußischen Politik«, seit 1855). Über Jena (1851, wo die Historik-Vorlesungen begonnen werden) geht er schließlich nach Berlin zurück (1859). In diesem dritten Lebensabschnitt verfasst er u. a. die geschichtsphilosophischen und -theoretischen Vorlesungen über »Enzyklopädie und Methodologie der Geschichte«. Die abgedruckten Auszüge aus dieser »Historik« Droysens entstammen jenen Passagen des Werkes, in denen er in Anlehnung an und in impliziter Auseinandersetzung mit Hegel die Perspektive einer Menschheitsentwicklung thematisiert. Das »generelle Ich« der Menschheit soll in seinem Werden betrachtet werden; als das Endziel dieses Werdens erscheint die Freiheit, »das Sich-auf-sich-Beziehen und Sich-in-sich-Bestimmen des Gei125 https://doi.org/10.5771/9783495861011 .
Johann Gustav Droysen
stes« als »Zweckbegriff des Menschen und der Menschheit«. (1) Noch sehr viel deutlicher als bei Herder geht es um nichts weniger als um das Ganze der Kultur bei diesem Blick auf die objektive Seite der Bildung: Die vormals »divinen Qualitäten der Sinngarantie des menschlichen Lebens« wachsen »dem Menschen universalgeschichtlich selber zu«. (2) Im Gegensatz zu Hegel, bei dem das Fortschreiten der Menschheit durch das Prozedieren der sich entwickelnden Vernunft garantiert erscheinen kann, betont Droysen auch den subjektiven Deutungsrahmen unseres Fortschrittsinteresses und erweist beide Perspektiven zugleich als in sich verbunden: »Der Bildungsbegriff signalisiert diese Einheit: Er verankert das historische Denken im Kern der gedeuteten Erfahrung vom zeitlichen Wandel des Menschen und seiner Welt selber. Dieser Geist wurde nach-metaphysisch zum Sinn, und bis heute gelten Sinn und Sinnbildung primär als Inbegriff menschlicher Deutung und kaum als Qualität der gedeuteten Vergangenheit selber (obwohl sie doch in ihren Zeugnissen stets die Spuren kultureller Sinnbildungsleistungen aufweist). Wir können von Droysen lernen, dass die Subjektivität des historischen Sinns stets zurückgebunden ist in das zeitliche Geschehen der Vergangenheit. Es ist sozusagen ›objektiv‹ fundiert in den kulturellen Kontexten der Gegenwart, aus denen die historische Frage erwächst. Sinn hat sich immer schon eingeschrieben in die Realität der menschlichen Lebenswelt; er ist im Bedingungsgefüge des historischen Denkens selber wirklich – im Sinne von: wirksam«. (3) Mit Kant und Humboldt erfolgt in dieser objektiv-subjektiven Bildung eine Korrektur der Hegelschen »List der Vernunft«, die aus den gleichsam »blinden« partialen Interessen der Individuen schöpft, hin zu einem Handeln, das sich der »höheren und höchsten Ziele bewusst« sein kann. Droysen relativiert damit die Vollendung des Menschheitsprogresses auf eine theoretisch nicht vollständig vorwegzunehmende Zukunft hin. In der Tradition dessen, was bei Hegel und Humboldt »Geist« bedeutet, denkt Droysen die Anverwandlung wie Transzendierung kultureller Vorgaben im Modus bestimmter, mit normativen Sinnerwartungen konnotierter Organisationsformen der menschlichen Welt, vor allem des Staates, als »sittlicher Mächte«, aus denen heraus der Einzelne verantwortlich handelnd tätig werden soll. (4) Methodisch entspricht dem die berühmte Formel des »forschenden Verstehens«. (1)
Jörn Rüsen: Begriffene Geschichte. Genesis und Begründung der Geschichtstheorie J. G. Droysens. Paderborn 1969, 117. (2) Jörn Rüsen: Kultur macht Sinn. Orientierung zwischen Gestern und Morgen. Köln 2006, 27. (3) Ebd, 57. (4) Droysens Erwartungen an Bildung und Humanitätsentwicklung sind dabei zugleich im Zu-
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Seit dem Optimismus des 19. Jahrhunderts, in dem die Interessen des Bürgertums sich selbst bereits im Zieleinlauf der Geschichte sahen, und für den Droysen ein gutes Beispiel ist, sind freilich dem 20. Jahrhundert fürchterlichste Verwerfungen offensichtlich geworden und auch unserer Gegenwart sind die Schattenseiten der Globalisierung offensichtlich. Droysens in der weiteren geistesgeschichtlichen Entwicklung stark angegriffene Kategorie einer menschheitlichen Perspektive (»Wer Menschheit sagt, will betrügen«) fallen zu lassen, hieße aber am Ende, in den Partikularismus eines »Kampfes aller Kulturen gegen alle anderen« zurückzufallen. Der »nachmetaphysische Verlust« des idealistischen Sinnvertrauens lässt sich vielmehr trotz allem in eine Ethik übersetzen, »die den prekären Sinn der historischen Erfahrung in die Stärke einer zukunftsgerichteten kulturellen Orientierung aktuellen menschlichen Handelns und Leidens verwandelt«. (5)
Der Mensch und die Menschheit (1857) (6) Wir sagten, jeder einzelne sei ein historisches Ergebnis. Ich meine nicht nach seiner kreatürlichen Seite hin, denn diese fällt der Naturgeschichte usw. anheim. Aber von dem Moment seiner Geburt, ja seiner Empfängnis an, wirken unberechenbare historische Faktoren auf ihn ein, bewußtlos noch empfängt er die Fülle von Einwirkungen seiner Eltern, ihrer leiblichen und geistigen Disposition, landschaftlicher, klimatischer, ethnographischer Umgebungen usw. Er wird hineingeboren in die ganze historische Gegebenheit seines Volkes, seiner Sprache, seiner Religion, seines Staates usw.; und erst dadurch, daß er das so Vorgefundene, Unendliches lernend, ohne es selbst zu wissen, in sich nimmt und verinnerlicht, es so mit seinem eigensten Wesen verschmilzt, daß er sammenhang mit seiner Ablehnung naturalistischer Vorstellungen zu verstehen. 1852 hieß es in einem Brief: »Schon glaubt niemand mehr an die idealen Mächte, und die napoleonische Polytechnik (also die Lehre des Schülers der Ecole Polytechnique, Comtes) mischt sich ein in die deutsche Wissenschaft. Ad Vocem. Um gegen diese hier überhand nehmende Richtung – unsere weisesten Männer in Jena lehren bereits, daß nur Mikroskop und Waage Wissenschaft sei, daß ihre materialistische Methode die Methode überhaupt sei – anzukommen, werde ich im Sommer ›Methodologie und Enzyklopädie der historischen Wissenschaft‹ lesen«. R. Hübner (Hrsg.): Johann Gustav Droysen: Briefwechsel. Bd. 2. Berlin und Leipzig 1929, 54 f. (5) Rüsen, Kultur macht Sinn, 58 f. (6) Johann Gustav Droysen: Historik. Historisch-Kritische Ausgabe. Hrsg. von Peter Leyh. Stuttgart-Bad Cannstatt 1977. Bd. 1, 13 f., 363–372. (Überschrift eigentlich nur die des zweiten Textteils).
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Johann Gustav Droysen
damit, wie leiblich mit seinen Organen und Gliedern, unmittelbar schaltet, erst dadurch hat er ein mehr als tierisches, ein menschliches Leben. Er ist nicht durch seine Geburt schon in dem Hier und Jetzt, er ist es nur erst der Möglichkeit nach, er muß es auch in der Tat und Wahrheit werden. Er muß erst ein Mensch werden, um ein Mensch zu sein, und nur in dem Maß ist er es, als er es zu werden und immer mehr zu werden weiß. Darum sind die Kinder nicht etwa diminutive Erwachsene, sie sind nicht bloß quantitativ von den Erwachsenen unterschieden, ein Kind ist ein qualitativ anderes als der Jüngling, der Mann, der Greis. Das ist ein Fundamentalsatz für alle Erziehung und nichts Unseligeres, als wenn sie das vergißt, wie in überbildeten Verhältnissen nur zu oft geschieht. Er [der Mensch] lernt sich erst hinein oder hinauf zu diesem lebendigen Inhalt seiner Gegenwart, welche die Summe und das Ergebnis unendlicher historischer Durchlebungen ist, diese hat er innerlich zu erleben und nachzuleben, d. h. nachzulernen. Von dem ersten Wort an, das das Kind sprechen lernt, beginnt dies Erleben und Nachleben. Das ganze Werk der Bildung ist historischer Natur, ruht auf der freilich unbewußt geübten historischen Methode. Dadurch daß jeder sich in die Resultate des von seiner Familie, seinem Volk, seiner Zeit, von der Menschheit Durchlebten hineinstellt, sich in dies Niveau der gewordenen Gegenwart hinaufarbeitet, dadurch also, daß er in der Geschichte und die Geschichte in ihm ist, eben dadurch erhebt er sich über die bloß kreatürliche zu der geistigen Existenz, die den Menschen über die Monotonie der übrigen Schöpfung stellt, ihn aus dem bloßen peripherischen Dasein zu einem neuen Mittelpunkt macht. Mit gutem Grund nennen die Alten das Menschsein die humanitas, Bildung, die Bildung ist durch und durch historischer Natur; und der Inhalt der Geschichte ist die werdende humanitas, die werdende Bildung. […]
Das Ich und die sittlichen Mchte Wir haben in unseren bisherigen Erörterungen ein Resultat gewonnen, das nicht abschließend ist und sein kann. Wir haben gleichsam nur die Zellen des Bienenstocks beobachtet, ohne der Bienenarbeit zu gedenken, durch die sie entstanden, nur die Kalkschalen der Austernbank 128 https://doi.org/10.5771/9783495861011 .
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betrachtet, ohne zu beachten, daß jede dieser Myriaden Schalen doch nur das Werk des darin lebendig tätigen Wesens ist. Wir haben jede dieser Sphären als eine Entwicklungsreihe für sich betrachten müssen. Aber wir können nicht umhin, anzuerkennen, daß sie zugleich untereinander in steter Relation und Wechselwirkung stehen. Wenn nun jede sittliche Sphäre von allen anderen bedingt ist und alle bedingt, wenn sich jede menschliche Gegenwart als ein System aller dieser Bezüge darstellt, so ist es ja nur abstrakt und schematisch, wenn man je eine neue jener Reihen oder auch alle nacheinander geschichtlich für sich behandelt. Aber unter welchen Gesichtspunkten kann und soll man das bunte Spiel der Gegenseitigkeiten fassen, deren Summe jedes Mal die lebensvolle Gegenwart ist? Sollen wir uns am Ende doch entschließen müssen, zu sagen, zusammenfassen könne man diese reiche Mannigfaltigkeit nur unter dem Gesichtspunkt des Staates? Werden wir zu dem so oft von uns verworfenen Satz, daß die Geschichte doch wesentlich politische Geschichte sei, mit einem pater peccavi (7) zurückkehren müssen? Sollten wir sagen müssen, der Staat sei nicht bloß das Subjekt der Geschichte, sondern sei zugleich das Maß, nach dem zu bestimmen sei, was geschichtlich sei und was nicht? Etwa so, daß man Personen und Sachen geschichtlich zu nennen und als geschichtlich zu beachten hätte, wenn sie für die politischen Zustände Bedeutung haben? Müßte man das etwa für jeden, auch den minder entwickelten Staat gelten lassen? Auch für den der Gallas in Abessinien oder der Malaien auf Celebes? Wir haben allerdings sagen müssen, daß alles sittliche Dasein in den Gemeinsamkeiten stehe, daß erst in den Gemeinsamkeiten die sittliche Natur des Menschen erwachse und sich erfülle. Aber diese sittlichen Gemeinsamkeiten sind untereinander keineswegs in gleicher Bewegung, sie rivalisieren untereinander, sie schließen sich bis zu einem gewissen Grade aus; es kann geschehen, daß die Idee des Staates von der Kirche überholt, daß die Macht von der Formung des Güterlebens zerrüttet wird; es kann geschehen, daß die natürliche Gemeinsamkeit des Volkes durch die Macht zerrissen, daß die Familie durch den kirchlichen Fanatismus zerstört wird. Überall, sieht man, brechen da Formen durch, an denen andere sittliche Gestaltungen verkümmern, damit die sittliche Lebensbedingung der Person, ja ihre Gewissenssphäre verletzt wird. Es widerspricht der Natur der Persönlichkeit in ihrer unendlichen (7)
»Vater, ich habe gesündigt«.
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Berechtigung, so das Opfer der Mittel zu werden, gleich als ob sie Zweck wären, es widerspricht ihrer Freiheit, daß sie, die Zweck an sich ist, zum Mittel für die Bienenzellen und Austernschalen werde. Denn wie hoch immer Staat, Kirche und Volk, Recht, Eigentum, Familie, unendlich hoch über allen, mit der ganzen Macht, absolut Selbstweck zu sein, steht die Persönlichkeit mit ihrer Freiheit, ihrer Verantwortlichkeit, ihrem Gewissen. Es wird genug sein, hier diese tiefe ethische Frage angedeutet zu haben, aus der sich sofort für uns folgende Verwendung ergibt. Allerdings sind alle sittlichen Sphären lebendig in den menschlichen Persönlichkeiten, in deren flüchtigem Dasein haben sie die Fülle ihrer Aktion und ihrer Gegenseitigkeit; und die ephemere Existenz der Menschen kann dafür gelten, eben darin ihre Schadloshaltung zu haben, daß sie in sich die ganze Fülle der sittlichen Bezüge, eine ganze sittliche Welt umspannt und beherrscht; mit anderen Worten, in der ephemeren Endlichkeit unseres Seins ist eine Unendlichkeit des Ich, in der es jeden Augenblick als ein Abbild die Ewigkeit hat. Wie wichtig immer jene sittlichen Sphären sein mögen, die wir betrachtet haben, hier ergibt sich eine andere Sphäre, die in vorzüglichem Maß historisch sein muß; es kommt nur darauf an, in welcher Form diese nur ephemeren Formungen gefaßt und als Gesamtheit behandelt werden sollen. Ist denn nun in diesen ephemeren Persönlichkeiten ein Gemeinsames, wie alle Staaten die Idee der Macht, alle Kunstwerke die Idee des Schönen usw. enthalten? Wir durften sagen, in jeder Persönlichkeit sei für ihre Spanne Leben mikrokosmisch die sittliche Welt; es liegt in der Natur der menschlichen Persönlichkeit, daß sie ein Gewebe aus allen Fäden sittlicher Gestaltungen um sich her habe, wie fein oder roh es denn sei. In myriadenhafter Wiederholung bildet diese Tatsache die sich fort und fort aufschichtende Entwicklung des Menschengeschlechtes; jeder einzelne hat diese mikrokosmische Welt seiner Persönlichkeit geformt, und wie winzig und gebrechlich diese Welt sein mochte, sie blieb von ihr zurück, wie die Schalen der Infusorien, die, zusammengeschlemmt, jene großen Kreidelager bilden. Das Ich also, wie hoch entwickelt oder unentwickelt es sei, hat es zu seiner Natur, solche Gestaltung in sich und um sich her zu machen, seine Welt sich zu formen; es hat den unendlichen Trieb, Ich zu sein, d. h.[,] in Kraft seines Ichseins rings um sich her schaffend und for130 https://doi.org/10.5771/9783495861011 .
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mend[,] zu werden; dies unendliche Arbeiten, die Freiheit unendlichen Tätigseins, das ist die allen Menschen gemeinsame Idee. Darin ist jedes Ich wie jedes andere Ich; und diese Myriaden und Milliarden Menschenseelen haben darin ihren Typus, daß sie[,] in wie individueller, persönlicher Weise immer[,] wieder eben nur das allen Gemeinsame und Gleiche tun. Dies Individuellste, dies Ich ist zugleich ein ganz generelles. Wie unendlich der Abstand zwischen dem Ich irgendeines Denkers oder Künstlers und dem des rohen Negers oder des faulen Kophten, gleich und gemeinsam ist ihnen die Fähigkeit und der Trieb des Wollens, dieselbe Idee der Freiheit in freilich verschiedenartigster Stufe. Aber in dieser Idee der Freiheit haben sie ihren Typus, das Ichsein; und nur mit diesem gleichen Typus und aus ihm ist es uns möglich, zu verstehen. Auch noch so Fernes, soweit es menschlicher Art ist, verstehen wir dadurch, daß wir uns, wie wir sagen, hineindenken, d. h. ideellerweise uns in die Stelle jenes anderen Ich setzen und in der Fiktion an dessen Stelle das Gleiche tun, uns persönlich daran beteiligen; persönlich allerdings nicht in der ganzen Fülle unserer individuellsten Besonderheit, sondern in einer gewissen generellen Weise. Denn nicht unser empirisches Ich, sondern nur das, was in demselben das Wesentliche und Überdauernde, das nicht bloß Ephemere ist, ist fähig, sich so außer sich selbst zu bewegen; und es bewegt sich aus sich hinaus, erhebt sich über sich in dem Maße, als es in sich das Zufällige und Wesentliche, die Idee des Ich von der ephemeren Erscheinung zu unterscheiden lernt. Mit diesem generellen Ich also umspannen wir um soviel mehr, als wir in unserer Entwicklung bereits höher gestiegen sind; je reicher unser empirisches Ich ist, d. h. eine je größere Fülle von Durchlebungen aller sittlichen Kreise es umspannt, desto größer gefaßt wird in ihm das generelle Ich erscheinen. Dies generelle Ich ist es, in dem der Philosoph denkt, das der Gesetzgeber in sich hat, wenn er über Verbrechen und Strafen ausspricht, was allgemein gelten soll; er ist dasselbe Ich, in welchem die öffentliche Moral, das öffentliche Gewissen seinen Sitz hat, und das weit über Gewalt und Betrug erhaben ist. In diesem allgemeinen Ich denkt und forscht auch der Historiker. Und indem dies mein empirisches Ich im Forschen und Denken sich seiner Besonderheiten entkleidet, sich generalisiert, sich als das wesentlich typische und allgemeine Ich gesetzt hat, erhebt es sich zugleich über die Schranke des Hier und Jetzt hinaus, es hört auf, nur mein Ich zu sein, es ist das allgemeine Ich, der Adam, oder, wie Augustinus sagt (III. p. 271): 131 https://doi.org/10.5771/9783495861011 .
Johann Gustav Droysen
Adam et unus homo fuit et ipse totum genus humanum. Es war schon in den fernen und fernsten Vergangenheiten, es ist zugleich ebenso gewiß noch am Ende der Tage, es ist jetzt und immer als dasjenige, an dem sich die Summe der weltgeschichtlichen Entwicklungen vollzieht, als das Ich der Menschheit. Ich unterlasse es, die theologische Seite dieses Ergebnisses zu untersuchen; aber man erkennt, wie viel daran liegt, dasselbe in seiner ganzen Einfachheit und Bestimmtheit für die Geschichte in Anspruch zu nehmen. Wir haben also folgendes Ergebnis. In jeder der durchgenommenen geschichtlichen Sphären war es die Erkenntnis der endlich in der Gegenwart erreichten, relativ höchsten Entwicklung, welche uns das Durchlebte subsumieren und verstehen ließ. Aus dem erkannten Wesen des Staates, der Ehe usw. entnahmen wir, bis wie weit dann und dann diese große sittliche Gestaltung begriffen und entwickelt worden sei. Auch die Persönlichkeit ist erst in der Geschichte das geworden, was sie nun ist, sie hat sich von wer weiß wie niedrigen und keimhaften Stufen erst hindurchgelebt zu der tief erfüllten Gestaltung, mit der sie, rückwärts schauend, sich selber durchschaut. Und jenes generelle Ich hat den Horizont des so höchsterstiegenen, des relativ höchsten Standpunktes. An diesem wird zu messen sein, bis zu welcher Stufe sich dann und dann der Geist der Menschheit erhoben hatte. An diesem allgemeinen Ich, diesem Ich der Menschheit haben wir nun die Form, die geschichtliche Welt in einer neuen Reihe von Kombinationen zusammenzufassen, Kombinationen, deren Mittelpunkt eben jenes Ich, d. h. der menschliche Geist in seiner fortschreitenden Bewegung, die dem Menschen typische Form der Freiheit ist.
Was ist geschichtlich? Wir haben, und mit vollem Recht, geltend gemacht, daß die geschichtliche Welt eigentlich die sittliche Welt sei. Und wir werden ohne Bedenken sagen, daß jedes sittliche Verhältnis seiner innersten Natur nach geschichtlich, und näher, ein geschichtlich gewordenes ist, auf einem geschichtlichen Vorgange, wie klein, wie gewöhnlich, wie alltäglich er denn sein mag, ruht. Den Beteiligten ist dieser Vorgang als ein geschichtlicher gar wohl in der Erinnerung, gar wohl wert und wichtig. Und wenn schon die tausendfache Wiederholung der Ehe, der Familie, 132 https://doi.org/10.5771/9783495861011 .
Der Mensch und die Menschheit (1857)
der Dorfgemeinde usw. dem allgemeinen geschichtlichen Bewußtsein durchaus fern liegt, so sind wir nach allem, was wir bisher besprochen und erkannt haben, doch nicht berechtigt, diesen Verhältnissen abzusprechen, daß jedes von ihnen geschichtlicher Art sei. Und doch haben wir instinktiv die Gewißheit, daß diese Dinge gleichsam nur privatim einen geschichtlichen Charakter haben. Wir unterscheiden also einmal die Geschichte der Entwicklung der sittlichen Mächte, gleichsam die Geschichte der großen sittlichen Organe, sodann die spezialgeschichtliche Betrachtung der einzelnen Erscheinungen in jeder Reihe. Nur von den letzteren ist jetzt die Rede. Sind wir da nun vielleicht in der Lage, bestimmt alternativ zu sagen: Dies ist nur privatim, nur für die Nächstbeteiligten, dies dagegen für die Welt insgemein Geschichte? So gestellt, ist die Frage durchaus falsch gestellt. Ist einmal zugestanden, daß die noch so kleinen geschichtlichen Bildungen für den Kreis der Beteiligten von geschichtlichem Interesse sind, so ist damit eigentlich zugestanden, daß das Gebiet der Geschichten ohne alle Grenze ist, d. h. daß eben jedes menschliche Verhältnis in geschichtlicher Weise betrachtet und der Erinnerung wert gehalten werden kann. Es scheint mir durchaus notwendig, das ganz rückhaltlos auszusprechen, damit man sich der Illusion entschlage, als könne da noch von einem mehr oder minder, von einem Prinzip oder einer Grenze die Rede sein. Man sieht, dieses spezialhistorische Moment beruht darauf, daß jedes menschliche Verhältnis, weil es sittlicher Natur ist, seine Geschichte hat; und zwar hat es seine Geschichte, indem es diese Persönlichkeit und Persönlichkeiten angeht, ihre sittliche, d. h. geschichtliche Welt ausmacht, nicht darum, weil sich diese oder jene sittliche Idee, die Familie, der Handel usw. hier exemplifiziert findet. Also der historische Gesichtspunkt ist hier nur eben diese Besonderheit, dieser kleine Kreis von Personen; es ist ihre Geschichte und sind ihre Geschichten, um die es sich handelt. Wenn es nun eine Geschichte geben soll, die mehr als diese besondere und individuelle Bedeutung hat, so muß es eine solche sein, bei der alle Menschen, bei der der Mensch als solcher, beteiligt sind, es muß die Geschichte aller, es muß die Geschichte sein. Wir fanden, jede der sittlichen Ideen, wie wir sie nannten, hatte ihre Geschichte, d. h. ihre Entwicklung vollzog sich in einer Reihe von Gestaltungen, deren jede eine höhere Form als die frühere enthielt; es war gleichsam die weltgeschichtliche Arbeit in jeder der sittlichen Sphären, 133 https://doi.org/10.5771/9783495861011 .
Johann Gustav Droysen
deren Fortgang zu verfolgen war, und in jeder Sphäre ging uns nur solche Arbeit an, in der sich mehr als bloße Wiederholung des schon Gefundenen fand; nicht jede Ehe, jeder Staat, jede Gemeinde fiel ins Gewicht, sondern die neue und fortschreitende Form, die, wie immer veranlaßt, eintrat. Nicht die Spezialgeschichte der einzelnen Exemplifikationen hatte uns da Wert, sondern die Entwicklung der großen sittlichen Formungen. Nun bleibt uns nur übrig, auch die eigentümliche sittliche Gestaltung, die wir in jener Reihe nicht aufgeführt, in derselben Weise zu betrachten, also den Menschen als den Mittelpunkt in seiner sittlichen Welt in dem Verlauf seines weltgeschichtlichen Werdens zu verfolgen, damit das Wesen der Menschheit als ein geschichtliches Werden zu beobachten. Wenn es eine Geschichte geben soll von allgemeinem Interesse, eine Geschichte, welche mit Recht die Geschichte genannt werden kann, so ist es diejenige, in der sich jenes generelle Ich in seinem Werden zeigt. Es ist das Werden und die Geschichte des Menschengeistes nicht nach der Mannigfaltigkeit seiner sittlichen Formungen, sondern nach der Einheit der formenden Kraft, nach der Idee der Freiheit. Denn die Idee der Freiheit ist dem Menschen, was dem Staat die Idee der Macht, der Kunst die Idee des Schönen, der Körperwelt die Schwere usw. ist. Die Freiheit ist die Idee, ist der Zweckbegriff des Menschen und der Menschheit; ihr Dasein ist, diese Idee in rastlosem Fortschreiten zu erarbeiten und arbeitend zu erkennen und erkennend zu vertiefen. Nachdem einmal dieser Gesichtspunkt festgestellt ist, ergibt sich das Weitere wie von selbst. Wir wissen, daß der menschliche Geist eine emporsteigende Geschichte durchlebt hat und daß in der rastlosen Bewegung aller sittlichen Sphären dies sein Weiterschreiten bedingt war. Das Interesse also, das hier die Betrachtung leitet, ist einfach, dies Fortschreiten des menschlichen Geistes zu konstatieren und, soweit möglich, in seinen Wendungen zu verfolgen. Nur wo wir einen Beitrag für die fortschreitende Bewegung der Menschheit finden, haben wir das Interesse, zu sehen, wie sie sich da einleitete, formte, vollzog, was sie ergab; in diesem Zusammenhang und für denselben erscheint uns alles bedeutsam und der Erforschung wert. Und wieder, wo wir forschen und uns vertiefen, geschieht es in der Hoffnung, daß wir die Momente finden werden, welche zu jener allgemeinen Bewegung der Menschheit in Beziehung stehen. Ich sage damit natürlich nichts noch nie zuvor Gesagtes, vielmehr 134 https://doi.org/10.5771/9783495861011 .
Der Mensch und die Menschheit (1857)
hat man zu allen Zeiten die Empfindung gehabt, daß die Dinge nach einem gewissen größeren Zusammenhang als geschichtlich zu fassen seien, und man hat denn die Formel der Weltgeschichte, Geschichte der Menschheit, Universalgeschichte usw. dafür geltend gemacht. Worauf es mir hier ankommt, ist, daß das Subjekt für diese allgemeine Geschichte präzisiert und damit der Begriff, auf den es ankommt, fixiert werde. Denn sprechen wir von einer Geschichte der Menschheit, so ist der Begriff der Menschheit ein solcher, der erst in dieser seiner Geschichte werden will und in ihr rastlos wird und in jedem empirischen Ich wird, und zwar in dem Maße, als dasselbe nicht bloß dies empirische Ich ist. Die Idee der Menschheit ist die Ichheit, und näher, die Freiheit, d. h. das Sich-auf-sich-Beziehen und Sich-in-sich-Bestimmen des Geistes; und was zur Entfaltung und Entwicklung dieser Ichheit beiträgt, das fördert die Idee der Menschheit, das ist geschichtlich. Nach dieser Begriffsbestimmung mag es denn immerhin bei dem Wort Weltgeschichte bleiben, wennschon dasselbe wirklich nichts als den schönen großen Klang für sich hat. Ist nun das generelle Ich, d. h. der Mensch, das Subjekt dieser Geschichte, wie er zugleich ihr Objekt ist, hier zugleich der Zweck das Mittel, ihn zu verwirklichen, und das Mittel erfüllt und bewegt von dem Zweck, um dessen[t]willen und in dem die Geschichte ist, wird der Mensch in eben dieser Geschichte, die mit Goethe zu sprechen, Dich zeugte, da Du zeugtest, so ist klar, wie gerade diese Sphäre, wenn ich so sagen darf, die Geschichte der Geschichte enthalten wird. Denn hier erst wird es wahr, daß die sittliche, d. h. geschichtlich angelegte Natur des Menschen, nicht bloß, in ihr selbst beschlossen, ihre kleine sittliche Welt baut und dann hinter sich läßt, sondern daß sie zugleich in der Gemeinsamkeit des ganzen Geschlechts, den längst Toten wie den noch Ungeborenen, lebt und daß sie in dieser unendlichen Kontinuität ihres auch noch so kleinen Lebenswerkes ein Mitleben in der großen sittlichen Gemeinschaft, in der Geschichte der Menschheit hat. Freilich, Myriaden leben und sterben, ohne daß ihrer Namen gedacht wird. Aber indem sie ein noch so kleines Gebilde ihres Ich von sich zurücklassen, sind sie mit unter den zahllosen Atomen, die, aufeinander gehäuft, alpenhaft emporsteigen müssen, um endlich diejenigen zu tragen, welche die Spitze und die kühnen Konturen der Höhe bilden sollen.
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Johann Gustav Droysen
Hiemit glaube ich die Frage des Paragraphen beantwortet zu haben. Es hat sich uns die Formel ergeben, nach der sich das im eminenten Sinn Geschichtliche unterscheidet. Man sieht wohl, daß diese Formel fort und fort das Ergebnis einer tiefen und langen Durchbildung, daß sie selbst erst ein Ergebnis der Geschichte sein kann. Und wenn sie dann geschichtlich erarbeitet ist, so erscheint sie keineswegs sofort als der Standpunkt eines jeden, sondern die Masse der Menschen, ganze Völker der Gegenwart fahren fort[,] in jener anderen Weise[,] nur spezialgeschichtlich[,] zu sehen und zu denken. Wir können dieser Formel auch folgenden Ausdruck geben. Es gibt eine doppelte Weise, die menschlichen Dinge zu betrachten. Die eine geht von diesem Ich, dem empirischen Einzelnen, dessen engem oder weitem Gesichtskreis aus und betrachtet sich von da aus das Nahe und Ferne; in dieser Betrachtungsweise erscheint auch das Große und Größte klein, auch die großen sittlichen Gemeinsamkeiten, die Welt der Ideale ist nur bezogen auf diese kleine Welt des empirischen Ich, ist nur vorhanden, soweit sie diese berührt. Dem gegenüber steht die Betrachtung, in der nicht dies empirische Ich, sondern das generelle den Ausgangspunkt und den Horizont gibt; hier erscheinen die großen sittlichen Gestaltungen nicht bloß in ihren jeweiligen Exemplifikationen, sondern in der Kontinuität ihres Gewordenseins; hier sind sie in jedem Moment zu einem großen System von Zuständen, wie es je die Gegenwart zeigte, unter sich verschürzt; und durch diese immer neuen Systeme hindurch begleitet die Betrachtung die Idee der Menschheit, ihre geschichtliche Metempsychose (8). Wir würden etwas Falsches sagen, wenn wir jene Betrachtungsweise von dem jedesmaligen empirischen Anlaß aus ungeschichtlich nennen wollten; aber kleingeschichtlich ist sie; es ist die Mikrologie, welche die großen Dinge klein und die kleinen groß zu sehen das Bedürfnis hat; es ist die der Unbildung; es ist diejenige, welche es erträgt, das, was sie beschäftigt, ohne Zusammenhang mit dem Hohen und Höchsten zu fassen, es für wichtig zu halten, weil es sie beschäftigt. Wir würden unrecht tun, wenn wir jene andere Betrachtungsweise für unempirisch halten wollten, weil sie sich von dem empirischen Ich zum allgemeinen Ich erhebt. Aber diese Betrachtungsweise ist nicht die derjenigen, welche sich nur als empirisches Ich fassen, d. h. nicht die der unendlichen Mehrheit der Menschen. Wie der Philosoph fordert, (8)
Seelenwanderung.
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Der Mensch und die Menschheit (1857)
daß man, zum Denken schreitend, vorerst sich über sich selbst erheben müsse, so fordert dieser Fortschritt zu der im tieferen Sinn historischen Betrachtung jene Bildung, deren Wesen wir geschildert haben, jene Erhebung über den Standpunkt empirischer Einzelheit. Es sind zwei Betrachtungsweisen, und näher, es sind zwei völlig verschiedene Auffassungen der sittlichen Welt, ihrer Aufgabe und ihres Zusammenhangs, die sich in jenen zwei Formen aussprechen. Wohl wird man in jener empiristischen Weise eben alles Menschliche als Geschichte fassen; aber indem man keinen anderen Zusammenhang dafür hat als den empiristischen, so wird man nur Geschichten, nicht Geschichte haben. Und das zweck- und ziellose Nacheinander von Vorgängen bietet gar keinen anderen Zusammenhang, als daß es diesem Menschen, diesem Ort, diesem Land usw. begegnet ist. Ist das nun ein großer Mann, eine große Zeit, ein großer Staat, so mag es sein Interesse haben, wenn auch die Kammerdienerbetrachtung sich hören läßt; und sofort finden sich Unzählige, die da meinen, nun habe man den Goethe erst ganz, wenn man allen seinen Klatsch wisse, nun verstehe man erst den Napoleon, wenn man erfahre, wie er jeden Tag ein Frauenzimmer gebraucht habe. Es beweist das nichts, als daß auch das Große seinen Tribut an die Endlichkeit zu zahlen hat; nur[,] nicht darum hat das Große seine Wirkung.
Die Epochen der Geschichte Ich habe kaum nötig, hier ausdrücklich darauf aufmerksam zu machen, daß es in der Geschichte sowenig Epochen gibt wie auf dem Erdkörper die Linien des Äquators und der Wendekreise, daß es nur Betrachtungsformen sind, die der denkende Geist dem empirisch Vorhandenen gibt, um sie so desto gewisser zu fassen. Wir haben gesehen, wie sich die Geschichte von den Geschichten unterscheidet. Es ergab sich uns als ein Postulat der Vernunft, daß das Menschengeschlecht in stetem Fortschreiten sei; ob es empirisch bewiesen werden mag oder nicht, die Geschichte betrachtet die menschlichen Dinge eben unter diesem Gesichtspunkt ihres steten Werdens. Nicht diese oder jene sittliche Gestaltung ist der Maßstab des Fortschreitens, noch ob eine größere Zahl von Individuen jetzt besser, glücklicher, menschlicher ist als sonst, wer will leugnen, daß da Staaten sinken und deren anderswo steigen, daß da Völker verkommen, sich 137 https://doi.org/10.5771/9783495861011 .
Johann Gustav Droysen
verwandeln, daß das pulsierende Leben, der Herzschlag der Geschichte bald da, bald dort auf dem Erdrund ist. Aber wo er auch sei, es ist die Menschheit insgemein, der Mensch nach seiner Idee, was wir als rastlos Werdendes beobachten und erforschen; in dieser Idee sind die empirischen Einzelnen aller Zeiten und Völker eins, ein Ganzes, ein Ich, und ihre Arbeit eine gemeinsame. Diese Arbeit aber ist, daß Gottes Schöpfung weitergeführt werde in der Schöpfung einer neuen, der sittlichen, der geschichtlichen Welt. Zu diesem Werk der Freiheit sind alle pflichtig, und ihr geschichtliches Maß ist, wieviel sie da mithelfen und mitschaffen. Aus dem Gesichtspunkt dieser großen gemeinsamen Arbeit wird die Betrachtung deren Verlauf, deren Epochen normieren müssen; die Geschichte, wird sie sagen, gliedert sich nach den großen Momenten in der Entwicklung der Menschheit und ihrer Arbeit, gliedert sich zu großen Stadien. Die Gliederung in der Geschichte wird uns wachsen in dem Maße, als unsere Erkenntnis höher steigt; und indem wir [in] unsere[r] rastlos werdende[n] Erkenntnis nur immer höher zu steigen und weiter zu schauen uns getrieben fühlen, wird unser geschichtliches Forschen und Wissen selbst ein Abbild und Beispiel des Fortschreitens sein, das wir als den Ausgangspunkt, als ein Postulat der Vernunft setzten. In dieser Betrachtung handelt es sich überhaupt nur um die fortschreitende Bewegung in der Geschichte, gleichsam um die Strömung in den Wassern, um die Richtung des Stromes, nicht um die gerade bewegten Massen und die halb stagnierenden Uferseichten. Also nicht jedes Volk, jedes Land zählt mit, sondern nur die geschichtlich bewegten, sie zählen nur in dem Maße mir, als sie von der großen gemeinsamen Bewegung mit ergriffen waren. Diese Bewegung ist immer gewesen, solange es Menschen gegeben, die Arbeit des Menschengeschlechts hat nie gefeiert. Aber es ist bei weitem nicht zugleich damit auch das Bewußtsein gewesen, um was es sich handle. Es ist ein Werk langer und mühseligster Entwicklungen gewesen, daß in den Menschenseelen nur erst die Ahnung erwacht, es gebe jene gemeinsame Arbeit, jene Idee der Menschheit, in der der empirische Mensch selbst erst seine Wahrheit hat und findet.
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Friedrich Nietzsche
Nietzsche (1844–1900), der nach einem Studium der klassischen Philologie in Bonn und Leipzig (1864–1867) im Jahr 1869 ohne Prüfung promoviert wird und eine a. o. Professur für griechische Sprache und Literatur an der Universität Basel übernimmt, die er krankheitsbedingt 1879 wieder aufgibt, entwirft in seinen ganz und gar unzeitgemäßen Betrachtungen zur Bildung das Ideal einer aristokratischen Bildung, die als Selbstzweck verstanden wird und nicht Ausbildung sein kann und zur Berufsbefähigung führt. In diesem Zusammenhang kritisiert Nietzsche scharf die gymnasiale Erziehungswirklichkeit seiner Zeit: Anstatt die Jugendlichen mit den strengen Naturwissenschaften vertraut zu machen, wird ihnen Historie, »formale Bildung« und »Klassizität« vorgesetzt. Gegen die Bildungsimperative des neuen deutschen Reichs unter einem Kaiser Wilhelm erinnert Nietzsche daran, dass »Erziehung, Bildung selbst Zweck ist – und nicht ›das Reich‹«. Er nimmt damit Gedanken auf, die er schon in seinen zu Lebzeiten nicht veröffentlichten sechs öffentlich gehaltenen Reden »Über die Zukunft unserer Bildungs-Anstalten« (1872) entwickelt hatte. In den von uns ausgewählten Reflexionen tritt Nietzsche weniger als Kritiker der Bildungs-Philister auf, die stolz auf ihre Bildung als sicheren Besitz verweisen, der vor den Unbilden des Lebens schützen soll. Kritisiert wird in diesen Texten, die Hauptwerken der achtziger Jahre entstammen, vornehmlich die Erziehungspraxis an deutschen Gymnasien. Statt einer wissbegierigen Jugend wirkliche Erkenntnis der Dinge zu vermitteln, wird eine sogenannte »klassische Bildung« vermittelt, die Nietzsche als ein ebenso ungeschickt wie quälerisch beigebrachtes »dürftiges Wissen um Griechen und Römer und deren Sprachen« charakterisiert. Diese »Vergeudung unserer Jugend« wird von Nietzsche scharf angegriffen, der in seiner Philippika gegen die herrschende Schul-Pädagogik für eine, so könnte man sagen, problemorientierte »Didaktik von unten« plädiert: »Als man uns Mathematik und Physik auf eine gewaltsame Weise aufzwang, anstatt uns erst in die Verzweiflung der Unwissenheit zu führen und unser kleines alltägliches Leben, unsere Hantierungen 139 https://doi.org/10.5771/9783495861011 .
Friedrich Nietzsche
und alles, was sich zwischen Morgen und Abend im Hause, in der Werkstatt, am Himmel, in der Landschaft begibt, in Tausende von Problemen aufzulösen, von peinigenden, beschämenden, aufreizenden Problemen – um unsrer Begierde dann zu zeigen, daß wir ein mathematisches und mechanisches Wissen zu allernächst nötig haben, und uns dann das erste wissenschaftliche Entzücken, an der absoluten Folgerichtigkeit dieses Wissens zu lehren!« Diese Vermittlung dürftigen Wissens über die Griechen und Römer, das statt der Einübung in die »eigentlichen«, »strengen« Wissenschaften, d. h. die Naturwissenschaften, Gegenstand des gymnasialen Unterrichts ist, leistet nach Nietzsche eben gerade das nicht, was von Bildung gefordert werden muss. Ergebnis dieses Unterrichts ist »nirgends ein wirkliches Können, ein neues Vermögen«, sondern nur »ein Wissen darum, was ehemals Menschen gekonnt und vermocht haben«. Die schulische klassische Bildung vermag nach Nietzsche nicht wirklich für »alles griechische und antike Wesen« Verständnis zu wecken, da sich dieses Wesen dem modernen Empfinden entzieht. »Klassische Bildung« in der Schule – so das Fazit eines ehemaligen Hochschullehrers für klassische Philologie – erweist sich als Selbsttäuschung. Diese Bildung leistet kein wirkliches Eindringen in den Geist der Antike, kein lebendiges Erfahren und Mit-leben antiker Wirklichkeit, sondern liefert nur ein schales, blasses Abziehbild einer vergangenen, kaum mehr zugänglichen Lebensrealität. Gegen die herrschende gymnasiale Erziehungswirklichkeit, deren Ziel – so Nietzsches vehemente Kritik – »eine brutale Abrichtung [ist], um, mit möglichst geringem Zeitverlust, eine Unzahl junger Männer für den Staatsdienst nutzbar, ausnutzbar zu machen«, wendet er ein, dass »›höhere Erziehung‹ und Unzahl« einen Selbstwiderspruch darstellt, denn »jede höhere Erziehung gehört nur der Ausnahme: man muß privilegiert sein, um ein Recht auf ein so Privilegium zu haben«. Höhere Bildung kann – wie auch alle anderen schönen Dinge – »nie Gemeingut sein«. Gegen den »Demokratismus der ›allgemeinen‹, der gemein gewordnen ›Bildung‹« stellt er ein dezidiert elitäres, aristokratisches Bildungskonzept, das nicht nur aus heutiger Perspektive hochproblematisch ist, (1) und attackiert die Gymnasien, die (1)
Zugleich bleibt Nietzsche freilich hinsichtlich der »Fragen nach der (Un)Wirklichkeit und der Möglichkeit von Bildung« ein Autor von Relevanz; »da das Bildungsproblem teleologisch nicht zu lösen ist«, »treibt das Bildungsgeheimnis zu immer wieder neuen und anderen Versuchen an, sich mit der Wahrheit und Täuschung der eigenen Bildung auseinander zu setzen«. Vgl. Christiane Thompson, Gabriele Weiss: Das Bildungsgeheimnis. Herausforderung und Zumutung der Lektüre von Nietzsches Bildungsvorträgen, in: Volker Gerhardt, R. Reschke (Hrsg.): Bildung – Humanitas – Zukunft bei Nietzsche. Berlin 2005, 53–72.
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Zur Kritik der Bildung (»Morgenrte«, 1881; »Gtzen-Dmmerung«, 1889)
»allesamt auf die zweideutigste Mittelmäßigkeit eingerichtet [sind]«, sowie die »unanständige Hast«, mit der die Berufsausbildung betrieben wird.
Morgenrte. Gedanken ber die menschlichen Vorurteile (1881) (2) Die sogenannte klassische Erziehung. – Zu entdecken, daß unser Leben der Erkenntnis geweiht ist; daß wir es wegwerfen würden, nein! daß wir es weggeworfen hätten, wenn nicht diese Weihe es vor uns selber schützte; jenen Vers sich oft und mit Erschütterung vorsprechen: »Schicksal, ich folge dir! Und wollt ich nicht, ich müßt’ es doch und unter Seufzen tun!« – Und nun, bei einem Rückblick auf den Weg des Lebens, ebenfalls entdecken, daß etwas nicht wieder gut zu machen ist: die Vergeudung unserer Jugend, als unsre Erzieher jene wißbegierigen, heißen und durstigen Jahre nicht dazu verwandten, uns der Erkenntnis der Dinge entgegenzuführen, sondern der sogenannten »klassischen Bildung«! Die Vergeudung unserer Jugend, als man uns ein dürftiges Wissen um Griechen und Römer und deren Sprachen ebenso ungeschickt als quälerisch beibrachte, und zuwider dem obersten Satze aller Bildung: daß man nur dem, der Hunger darnach hat, eine Speise gebe! Als man uns Mathematik und Physik auf eine gewaltsame Weise aufzwang, anstatt uns erst in die Verzweiflung der Unwissenheit zu führen und unser kleines tägliches Leben, unsre Hantierungen und alles, was sich zwischen Morgen und Abend im Hause, in der Werkstatt, am Himmel, in der Landschaft begibt, in Tausende von Problemen aufzulösen, von peinigenden, beschämenden, aufreizenden Problemen – um unsrer Begierde dann zu zeigen, daß wir ein mathematisches und mechanisches Wissen zu allernächst nötig haben, und uns dann das erste wissenschaftliche Entzücken, an der absoluten Folgerichtigkeit dieses Wissens zu lehren! Hätte man uns auch nur die Ehrfurcht vor diesen Wissenschaften gelehrt, hätte man uns mit dem Ringen und Unterliegen und Wieder-Weiterkämpfen der Großen, von dem Martyrium, welches die (2)
Friedrich Nietzsche: Morgenröte. Gedanken über die moralischen Vorurteile. Drittes Buch, Nr. 195, in: Werke in drei Bänden. Erster Band. Hrsg. von Karl Schlechta. 7. Aufl. München 1973, 1142–1144.
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Friedrich Nietzsche
Geschichte der strengen Wissenschaft ist, auch nur einmal die Seele erzittern machen! Vielmehr blies uns der Hauch einer gewissen Geringschätzung der eigentlichen Wissenschaften an, zugunsten der Historie, der »formalen Bildung« und der »Klassizität«! Und wir ließen uns so leicht betrügen! Formale Bildung! Hätten wir nicht auf die besten Lehrer unsrer Gymnasien zeigen können, lachend und fragend: »wo ist denn da die formale Bildung? Und wenn sie fehlt, wie sollen sie dieselbe lehren?« Und Klassizität! Lernten wir etwas von dem, worin gerade die Alten ihre Jugend erzogen? Lernten wir sprechen wie sie, schreiben wie sie? Übten wir uns unablässig in der Fechtkunst des Gesprächs, in der Dialektik? Lernten wir uns schön und stolz bewegen wie sie, ringen, werfen, faustkämpfen wie sie? Lernten wir etwas von der praktischen Asketik aller griechischen Philosophen? Wurden wir in einer einzigen antiken Tugend geübt, und in der Weise, wie die Alten sie übten. Fehlte nicht überhaupt das ganze Nachdenken über Moral in unsrer Erziehung, um wieviel mehr gar die einzig mögliche Kritik desselben, jene strengen und mutigen Versuche, in dieser oder jener Moral zu leben? Erregte man in uns irgendein Gefühl, das den Alten höher galt als den Neueren? Zeigte man uns die Einteilung des Tages und des Lebens und die Ziele über dem Leben in einem antiken Geiste? Lernten wir auch nur die alten Sprachen so, wie wir die lebender Völker lernen, – nämlich zum Sprechen und zum Bequem- und Gut-Sprechen? Nirgends ein wirkliches Können, ein neues Vermögen als Ergebnis mühseliger Jahre! Sondern ein Wissen darum, was ehemals Menschen gekonnt und vermocht haben! Und was für ein Wissen! Nichts wird mir von Jahr zu Jahr deutlicher, als daß alles griechische und antike Wesen, so schlicht und weltbekannt es vor uns zu liegen scheint, sehr schwer verständlich, ja kaum zugänglich ist, und daß die übliche Leichtigkeit, mit der von den Alten geredet wird, entweder eine Leichtfertigkeit oder ein alter erblicher Dünkel der Gedankenlosigkeit ist. Die ähnlichen Worte und Begriffe täuschen uns: aber hinter ihnen liegt immer eine Empfindung versteckt, welche dem modernen Empfinden fremd, unverständlich oder peinlich sein müßte. Das sind mir Gebiete, auf denen sich Knaben tummeln dürften! Genug, wir haben es getan, als wir Knaben waren, und uns beinahe für immer dabei einen Widerwillen gegen das Altertum heimgeholt, den Widerwillen einer scheinbar allzu großen Vertraulichkeit! Denn so weit geht die stolze Einbildung unserer klassischen Erzieher, gleichsam im Besitz der Alten zu sein, daß sie diesen Dünkel noch auf die Erzogenen überfließen lassen, nebst dem 142 https://doi.org/10.5771/9783495861011 .
Zur Kritik der Bildung (»Morgenrte«, 1881; »Gtzen-Dmmerung«, 1889)
Verdachte, daß ein solcher Besitz nicht wohl selig machen könne, sondern daß er gut genug für rechtschaffne, arme, närrische alte BücherDrachen sei: »mögen diese auf ihrem Horte brüten! er wird wohl ihrer würdig sein!« – mit diesem stillen Hintergedanken vollendete sich unsere klassische Erziehung. – Dies ist nicht wieder gutzumachen – an uns! Aber denken wir nicht nur an uns!
Gtzen-Dmmerung oder Wie man mit dem Hammer philosophiert (1889) (3) Was den Deutschen abgeht 5 Dem ganzen höheren Erziehungswesen in Deutschland ist die Hauptsache abhanden gekommen: Zweck sowohl als Mittel zum Zweck. Daß Erziehung, Bildung selbst Zweck ist – und nicht »das Reich« –, daß es zu diesem Zweck der Erzieher bedarf – und nicht der Gymnasiallehrer und Universitäts-Gelehrten – man vergaß das … Erzieher tun not, die selbst erzogen sind, überlegne, vornehme Geister, in jedem Augenblick bewiesen, durch Wort und Schweigen bewiesen, reife, süß gewordene Kulturen – nicht die gelehrten Rüpel, welche Gymnasium und Universität der Jugend heute als »höhere Ammen« entgegenbringt. Die Erzieher fehlen, die Ausnahmen der Ausnahmen abgerechnet, die erste Vorbedingung der Erziehung: daher der Niedergang der deutschen Kultur. – Eine jener allerseltensten Ausnahmen ist mein verehrungswürdiger Freund Jacob Burckhardt(4) in Basel: ihm zuerst verdankt Basel seinen Vorrang von Humanität. – Was die »höheren Schulen« Deutschlands tatsächlich erreichen, das ist eine brutale Abrichtung, um, mit möglichst geringem Zeitverlust, eine Unzahl junger Männer für den Staatsdienst nutzbar, ausnutzbar zu machen. »Höhere Erziehung« und Unzahl – das widerspricht sich von vornherein. Jede höhere Erziehung gehört nur der Ausnahme: man muß privilegiert sein, um ein Recht auf ein so hohes Privilegium zu haben. Alle großen, alle schönen (3)
Friedrich Nietzsche: Götzen-Dämmerung oder Wie man mit dem Hammer philosophiert. Was den Deutschen abgeht, Nr. 5, in: Werke in drei Bänden. Zweiter Band. Hrsg. von Karl Schlechta. 7. Aufl. München 1973, 986–987. (4) Jacob Burckhardt (1818–1897): schweizerischer Kultur- und Kunsthistoriker.
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Friedrich Nietzsche
Dinge können nie Gemeingut sein: pulchrum est paucorum hominum. (5) – Was bedingt den Niedergang der deutschen Kultur? Daß »höhere Erziehung« kein Vorrecht mehr ist – der Demokratismus der »allgemeinen«, der gemein gewordnen »Bildung« … Nicht zu vergessen, daß militärische Privilegien den Zu-viel-Besuch der höheren Schulen, das heißt ihren Untergang, förmlich erzwingen. – Es steht niemandem mehr frei, im jetzigen Deutschland seinen Kindern eine vornehme Erziehung zu geben: unsre »höheren« Schulen sind allesamt auf die zweideutigste Mittelmäßigkeit eingerichtet, mit Lehrern, mit Lehrplänen, mit Lehrzielen. Und überall herrscht eine unanständige Hast, wie als ob etwas versäumt wäre, wenn der junge Mann mit 23 Jahren noch nicht »fertig« ist, noch nicht Antwort weiß auf die »Hauptfrage«: welchen Beruf? – Eine höhere Art Mensch, mit Verlaub gesagt, liebt nicht »Berufe«, genau deshalb, weil sie sich berufen weiß … Sie hat Zeit, sie nimmt sich Zeit, sie denkt gar nicht daran, »fertig« zu werden – mit dreißig Jahren ist man, im Sinne hoher Kultur, ein Anfänger, ein Kind. – Unsre überfüllten Gymnasien, unsre überhäuften, stupid gemachten Gymnasiallehrer sind ein Skandal: um diese Zustände in Schutz zu nehmen, wie es jüngst die Professoren von Heidelberg getan haben, dazu hat man vielleicht Ursachen – Gründe dafür gibt es nicht.
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Lat.: Das Schöne ist das Vorrecht (Eigentum) der Wenigen. – Von Nietzsche in Schriften und Briefen häufig angeführtes Horaz-Zitat (Sat. I, 9, 44), z. B.: Menschliches, Allzumenschliches. Zweiter Band, 118; Der Fall Wagner; Der Antichrist; Brief an Wagner (3.–5. 5. 1869); Brief an Köselitz (20. 3. 1885).
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Theodor W. Adorno
Der 1903 in Frankfurt a. M. geborene Theodor W. Adorno ist der wichtigste Exponent einer dialektischen Theorie der Gesellschaft und zusammen mit Max Horkheimer Begründer der »Kritischen Theorie« der »Frankfurter Schule«. Adorno studierte Philosophie, Musikwissenschaft und Psychologie in Frankfurt und wurde dort 1924 bei Hans Cornelius mit einer Studie über Husserl promoviert. Nach seiner Promotion studierte er 1925/26 Komposition bei Alban Berg in Wien und habilitierte sich 1931 bei Paul Tillich in Frankfurt mit einer Arbeit über Kierkegaard. Wegen seiner jüdischen Herkunft emigrierte Adorno 1934–37 nach England, ging 1938–41 nach New York und lebte von 1941–49 in Kalifornien. Nach seiner Remigration 1949 gehörte er bis 1969 als Professor der Universität Frankfurt und dem Institut für Sozialforschung an, dem er seit 1959 als Leiter vorstand. Adorno starb 1969 während eines Sommerurlaubs in der Schweiz. In zahlreichen, durch einen geschichtsphilosophischen und ideologiekritischen Impuls grundierten philosophischen, soziologischen, kultur- und literaturkritischen sowie musiktheoretischen Schriften setzt sich Adorno mit den Strukturen der modernen Gesellschaft (»Spätkapitalismus«) und deren Spiegelungen im geistigen »Überbau« auseinander. In seinem in unserem Band auszugsweise abgedruckten Aufsatz über »Theorie der Halbbildung« von 1959 analysiert Adorno die Verfallsgeschichte von Bildung mithilfe der Kategorien einer dialektischen Theorie der Gesellschaft, die sich inspiriert weiß durch die Marxsche Warenanalyse, die Psychoanalyse Freuds und die geschichtsphilosophischen Thesen Benjamins. Bildung wird unter den Bedingungen der gegenwärtigen Gesellschaft, die u. a. durch eine »Kulturindustrie« geprägt ist, unter deren Herrschaft kulturelle Erzeugnisse zur Ware werden, zu »sozialisierter Halbbildung«, die Adorno als »Allgegenwart des entfremdeten Geistes«, als eine Art »negativen objektiven Geistes« begreift. In der Halbbildung, die nicht eine Vorform von Bildung ist, sondern vielmehr auf sie folgt, ist alles darin »von den 145 https://doi.org/10.5771/9783495861011 .
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Maschen der Vergesellschaftung eingefangen«, und in ihr erhält »das alte Unwahre […] zäh sich am Leben und reproduziert sich erweitert«. Halbbildung, die sich zur »herrschenden Form gegenwärtigen Bewußtseins« entwickelt hat, klammert sich, wie Adorno schreibt, »unabdingbar an approbierte Kulturelemente«, die aber unter ihrem Bann »zum Barbarischen« hinstreben. Adorno reklamiert in seinem Aufsatz als Antithese zur Halbbildung einen starken Bildungsbegriff. Der Sinn der Bildung erschöpft sich nicht in der bloßen Vermittlung von (berufs-)verwertbaren Informationen oder von Kulturwerten, sondern er kann Adorno zufolge nicht abgetrennt werden von der »Einrichtung der menschlichen Dinge«: »Bildung, welche davon absieht, sich selbst setzt und verabsolutiert, ist schon Halbbildung geworden.« Bildung, die Adorno als die subjektive Zueignung von Kultur begreift, ist damit immer auch bezogen auf die jeweiligen gesellschaftlichen Verhältnisse, d. h. die (vernünftige) Gestaltung des realen Lebens. In der bürgerlichen Idee der Bildung, an der er in seiner Kritik der Halbbildung Maß nimmt, verortet Adorno eine Antinomie: Sie hat als ihre Bedingung Autonomie und Freiheit, verweist allerdings auf Strukturen einer Ordnung, die dem einzelnen vorgegeben ist und an der er sich allein zu bilden vermag. Halbbildung ist, wie Adorno postuliert, der »vom Fetischcharakter der Ware ergriffene Geist«; sie ist damit der der Distanz und des kritischen Potentials beraubte Geist, wie er am Schicksal der Klassiker einsichtig zu machen sucht. Unter Bedingungen kapitalistischer Warenproduktion wird nach Adorno die Gesellschaft zu einem zu einem Zwangssystem zusammengeschlossenen Ganzen, und »aus den Ideen, auf welche Bildung sich erstreckte und die ihr Leben einhauchen, ist die Energie entwichen.« Die – wie er schreibt – »frisch-fröhliche Verbreitung von Bildung unter den herrschenden Bedingungen ist unmittelbar eins mit ihrer Vernichtung.« Denn »das Verbreitete verändert durch seine Verbreitung vielfach eben jenen Sinn, den zu verbreiten man sich rühmt«. Adornos »dialektische Konzeption« weist keinen Ausweg und zeigt sich überzeugt von der »Zweideutigkeit von Fortschritt inmitten der repressiven Totalität«. Adorno plädiert in seiner skeptisch-negativen Diagnose gleichwohl nachdrücklich für einen emphatischer Begriff von Bildung und geistiger Erfahrung: »Das Halbverstandene und Halberfahrene ist nicht die Vorstufe der Bildung sondern ihr Todfeind: Bildungselemente, die ins Bewußtsein geraten, ohne in dessen Kontinuität eingeschmolzen zu werden, verwandeln sich in böse Giftstoffe, tendenziell in Aberglauben […]. Unassi146 https://doi.org/10.5771/9783495861011 .
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milierte Bildungselemente verstärken jene Verdinglichung des Bewußtseins, vor der Bildung bewahren soll.« Habbildung konserviert die »verwaltete Welt«. Wie Adorno ausführt, ist der Geist von Halbbildung »auf den Konformismus vereidigt«. Ihr sind »die Fermente der Kritik und der Opposition entzogen«, und »die Bejahung und geistige Verdoppelung dessen, was ohnehin ist, wird zu ihrem eigenen Gehalt und Rechtsausweis«. Der Halbgebildete betreibt, wie Adorno prägnant formuliert, »Selbsterhaltung ohne Selbst«: »Erfahrung, die Kontinuität des Bewußtseins, in der das Nichtgegenwärtige dauert, in der Übung und Assoziation im je Einzelnen Tradition stiften, wird ersetzt durch die punktuelle, unverbundene, auswechselbare und ephemere Informiertheit, der schon anzumerken ist, daß sie im nächsten Augenblick durch andere Informationen weggewischt wird.« Halbbildung, der Adorno neben Irrationalität auch ein destruktives Potential attestiert, ist »geistig prätentiös und barbarisch anti-intellektuell in eins«. Adornos Analyse des »gesellschaftlichen Unwesens von Halbbildung«, die angesichts jüngster Entwicklungen an Aktualität noch gewonnen hat, bestätigt die Grundthese der Kritischen Theorie, »daß isoliert nicht geändert werden kann, was von objektiven Gegebenheiten produziert und reproduziert wird«. Aber auch eine Berufung auf »Kultur in abstracto« bietet nach Adorno keine Lösung des Problems einer Überwindung von Halbbildung. Am Ende seines Aufsatzes skizziert Adorno eine, allerdings nicht sehr konkrete und nur wenig hoffnungsvolle, geschichtsphilosophische Perspektive, die sich einer dialektischen Theorie der Gesellschaft eröffnet: »Zu visieren wäre ein Zustand, der weder Kultur beschwört, ihren Rest konserviert, noch sie abschafft, sondern der selber hinaus ist über den Gegensatz von Bildung und Unbildung, von Kultur und Natur. Das aber erheischt, daß nicht nur die Verabsolutierung von Kultur gebrochen wird, sondern auch, daß ihre Auffassung als die eines Unselbständigen, als bloßer Funktion von Praxis und bloßer Anweisung auf sie, nicht hypostasiert werde, nicht zur undialektischen These gerinne.« Die Kraft zur Unabhängigkeit von der Gesellschaft, und damit die »Verheißung von Freiheit«, wächst dem Geist aus dem zu, »was einmal Bildung war«, und daher fordert Adorno, »an Bildung festzuhalten, nachdem die Gesellschaft ihr die Basis entzog«. Bildung hat aber »keine andere Möglichkeit des Überlebens als die kritische Selbstreflexion auf die Halbbildung, zu der sie notwendig wurde«.
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Theorie der Halbbildung (1959) (1) Was heute als Bildungskrise offenbar wird, ist weder bloß Gegenstand der pädagogischen Fachdisziplin, die unmittelbar damit sich zu befassen hat, noch von einer Bindestrichsoziologie – eben der der Bildung – zu bewältigen. Die allerorten bemerkbaren Symptome des Verfalls von Bildung, auch in der Schicht der Gebildeten selber, erschöpfen sich nicht in den nun bereits seit Generationen bemängelten Unzulänglichkeiten des Erziehungssystems und der Erziehungsmethoden. Isolierte pädagogische Reformen allein, wie unumgänglich auch immer, helfen nicht. Zuweilen mögen sie, im Nachlassen des geistigen Anspruchs an die zu Erziehenden, auch in argloser Unbekümmertheit gegenüber der Macht der außerpädagogischen Realität über jene, eher die Krise verstärken. Ebensowenig reichen isolierte Reflexionen und Untersuchungen über soziale Faktoren, welche die Bildung beeinflussen und beeinträchtigen, über deren gegenwärtige Funktion, über die ungezählten Aspekte ihres Verhältnisses zur Gesellschaft, an die Gewalt dessen heran, was sich vollzieht. Ihnen bleibt die Kategorie der Bildung selbst, ebenso wie jeweils wirksame, systemimmanente Teilmomente innerhalb des gesellschaftlichen Ganzen, vorgegeben; sie bewegen sich im Rahmen von Zusammenhängen, die selber erst zu durchdringen wären. Was aus Bildung wurde und nun als eine Art negativen objektiven Geistes, keineswegs bloß in Deutschland, sich sedimentiert, wäre selber aus gesellschaftlichen Bewegungsgesetzen, ja aus dem Begriff von Bildung abzuleiten. Sie ist zu sozialisierter Halbbildung geworden, der Allgegenwart des entfremdeten Geistes. Nach Genesis und Sinn geht sie nicht der Bildung voran, sondern folgt auf sie. Alles ist darin von den Maschen der Vergesellschaftung eingefangen, nichts mehr ungeformte Natur; deren Roheit aber, das alte Unwahre, erhält zäh sich am Leben und reproduziert sich erweitert. Inbegriff eines der Selbstbestimmung entäußerten Bewußtseins, klammert sie sich unabdingbar an approbierte Kulturelemente. Aber unter ihrem Bann gravitieren sie, als Verwesende, zum Barbarischen. Das ist nicht erst aus jüngsten Entwicklungen, ganz gewiß nicht mit dem Schlagwort Massengesellschaft zu erklären, das überhaupt nichts erklärt, sondern lediglich einen blinden Fleck anzeigt, an dem die Arbeit der Erkenntnis anheben müßte. Daß (1)
Theodor W. Adorno: Theorie der Halbbildung, in: Gesammelte Schriften. Band 8: Soziologische Schriften I. Hrsg. von Rolf Tiedemann. Frankfurt a. M. 1972, 93–121 (gekürzt).
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Halbbildung, aller Aufklärung und verbreiteten Information zum Trotz und mit ihrer Hilfe, zur herrschenden Form des gegenwärtigen Bewußtseins wird – eben das erheischt weiter ausgreifende Theorie. Ihr darf die Idee der Kultur nicht, nach den Gepflogenheiten der Halbbildung selber, sakrosankt sein. Denn Bildung ist nichts anderes als Kultur nach der Seite ihrer subjektiven Zueigung. Kultur aber hat Doppelcharakter. Er weist auf die Gesellschaft zurück und vermittelt zwischen dieser und der Halbbildung. Nach deutschem Sprachgebrauch gilt für Kultur, in immer schrofferem Gegensatz zur Praxis, einzig Geisteskultur. Darin spiegelt sich, daß die volle Emanzipation des Bürgertums nicht gelang oder erst zu einem Zeitpunkt, da die bürgerliche Gesellschaft nicht länger der Menschheit sich gleichsetzen konnte. Das Scheitern der revolutionären Bewegungen, die in den westlichen Ländern den Kulturbegriff als Freiheit verwirklichen wollten, hat die Ideen jener Bewegungen gleichsam auf sich selbst zurückgeworfen und den Zusammenhang zwischen ihnen und ihrer Verwirklichung nicht nur verdunkelt, sondern mit einem Tabu belegt. Kultur wurde selbstgenügsam, schließlich in der Sprache der ausgelaugten Philosophie zum »Wert«. Wohl sind ihrer Autarkie die große spekulative Metaphysik und die mit ihr bis ins Innerste verwachsene große Musik zu danken. Zugleich aber ist in solcher Vergeistigung von Kultur deren Ohnmacht virtuell bereits bestätigt, das reale Leben der Menschen blind bestehenden, blind sich bewegenden Verhältnissen überantwortet. Dagegen ist Kultur nicht indifferent. Wenn Max Frisch bemerkte, daß Menschen, die zuweilen mit Passion und Verständnis an den sogenannten Kulturgütern partizipierten, unangefochten der Mordpraxis des Nationalsozialismus sich verschreiben konnten, so ist das nicht nur ein Index fortschreitend gespaltenen Bewußtseins, sondern straft objektiv den Gehalt jener Kulturgüter, Humanität und alles, was ihr innewohnt, Lügen, wofern sie nichts sind als Kulturgüter. Ihr eigener Sinn kann nicht getrennt werden von der Einrichtung der menschlichen Dinge. Bildung, welche davon absieht, sich selbst setzt und verabsolutiert, ist schon Halbbildung geworden. […] Umgekehrt hat Kultur, wo sie als Gestaltung des realen Lebens sich verstand, einseitig das Moment der Anpassung hervorgehoben, die Menschen dazu verhalten, sich aneinander abzuschleifen. Dessen bedurfte es, um den fortdauernd prekären Zusammenhang der Vergesellschaftung zu stärken und jene Ausbrüche ins Chaotische einzudämmen, die offenbar gerade dort periodisch sich ereignen, wo eine 149 https://doi.org/10.5771/9783495861011 .
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Tradition autonomer Geisteskultur etabliert ist. Die philosophische Bildungsidee auf ihrer Höhe wollte natürliches Dasein bewahrend formen. Sie hatte beides gemeint, Bändigung der animalischen Menschen durch ihre Anpassung aneinander und Rettung des Natürlichen im Widerstand gegen den Druck der hinfälligen, von Menschen gemachten Ordnung. Die Philosophie Schillers, des Kantianers und Kantkritikers, war der prägnanteste Ausdruck der Spannung beider Momente, während in Hegels Bildungslehre, unterm Namen Entäußerung, ebenso wie beim späten Goethe das Desiderat der Anpassung inmitten des Humanismus selber triumphiert. Ist jene Spannung einmal zergangen, so wird Anpassung allherrschend, ihr Maß das je Vorfindliche. Sie verbietet, aus individueller Bestimmung übers Vorfindliche, Positive sich zu erheben. Vermöge des Drucks, den sie auf die Menschen ausübt, perpetuiert sie in diesen das Ungestalte, das sie geformt zu haben wähnt, die Aggression. Das ist, nach Freuds Einsicht, der Grund des Unbehagens in der Kultur. Die ganz angepaßte Gesellschaft ist, woran ihr Begriff geistesgeschichtlich mahnt: bloße darwinistische Naturgeschichte. Sie prämiiert das survival of the fittest. – Erstarrt das Kraftfeld, das Bildung hieß, zu fixierten Kategorien, sei es Geist oder Natur, Souveränität oder Anpassung, so gerät jede einzelne dieser isolierten Kategorien in Widerspruch zu dem von ihr Gemeinten und gibt sich her zur Ideologie, befördert die Rückbildung. Der Doppelcharakter der Kultur, dessen Balance gleichsam nur augenblicksweise glückte, entspringt im unversöhnten gesellschaftlichen Antagonismus, den Kultur heilen möchte und als bloße Kultur nicht heilen kann. In der Hypostasis des Geistes durch Kultur verklärt Reflexion die gesellschaftlich anbefohlene Trennung von körperlicher und geistiger Arbeit. Das alte Unrecht wird gerechtfertigt als objektive Superiorität des herrschenden Prinzips, während es freilich wiederum nur durch die Trennung von den Beherrschten die Möglichkeit zeitigt, der sturen Wiederholung von Herrschaftsverhältnissen ein Ende zu bereiten. Anpassung aber ist unmittelbar das Schema fortschreitender Herrschaft. Nur durch ein der Natur sich Gleichmachen, durch Selbsteinschränkung dem Daseienden gegenüber wurde das Subjekt dazu befähigt, das Daseiende zu kontrollieren. Diese Kontrolle setzt gesellschaftlich sich fort als eine über den menschlichen Trieb, schließlich über den Lebensprozeß der Gesellschaft insgesamt. Zum Preis dafür aber triumphiert Natur gerade vermöge ihrer Bändigung stets wieder über den Bändiger, der nicht umsonst ihr, einst durch Magie, schließ150 https://doi.org/10.5771/9783495861011 .
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lich durch strenge szientifische Objektivität, sich anähnelt. In dem Prozeß solcher Anähnelung, der Eliminierung des Subjekts um seiner Selbsterhaltung willen, behauptet sich das Gegenteil dessen, als was er sich weiß, das bloße unmenschliche Naturverhältnis. Schuldhaft verflochten, setzen seine Momente einander notwendig sich entgegen. Geist veraltet angesichts der fortschreitenden Naturbeherrschung und wird vom Makel der Magie ereilt, den er einmal dem Naturglauben aufprägte: er unterschiebe subjektive Illusion anstelle der Gewalt der Tatsachen. Sein eigenes Wesen, die Objektivität von Wahrheit, geht in Unwahrheit über. Anpassung aber kommt, in der nun einmal existenten, blind fortwesenden Gesellschaft, über diese nicht hinaus. Die Gestaltung der Verhältnisse stößt auf die Grenze von Macht; noch im Willen, sie menschenwürdig einzurichten, überlebt Macht als das Prinzip, welches die Versöhnung verwehrt. Dadurch wird Anpassung zurückgestaut: sie wird ebenso zum Fetisch wie der Geist: zum Vorrang der universal organisierten Mittel über jeden vernünftigen Zweck, zur Glätte begriffsloser Pseudorationalität; sie errichtet ein Glashaus, das sich als Freiheit verkennt, und solches falsche Bewußtsein amalgamiert sich dem ebenso falschen, aufgeblähten des Geistes von sich selber. Diese Dynamik ist eins mit der der Bildung. Sie ist keine Invariante; nicht nur ihrem Inhalt und ihren Institutionen nach in verschiedenen Epochen verschieden, sondern selbst als Idee nicht beliebig transponierbar. Ihre Idee emanzipierte sich mit dem Bürgertum. Sozialcharaktere des Feudalismus wie der gentilhomme (2) und der gentleman, vor allem aber die alte theologische Erudition lösten von ihrem traditionalen Dasein und ihren spezifischen Bestimmungen sich ab, verselbständigten sich gegenüber den Lebenszusammenhängen, in die sie zuvor eingebettet waren. Sie wurden reflektiert, ihrer selbst bewußt und auf den Menschen schlechthin übertragen. Ihre Verwirklichung sollte der einer bürgerlichen Gesellschaft von Freien und Gleichen entsprechen. Zugleich aber sagte sie von den Zwecken, von ihrer realen Funktion sich los, so wie es radikal etwa in Kants Ästhetik der Zweckmäßigkeit ohne Zweck gefordert ist. Bildung sollte sein, was dem freien, im eigenen Bewußtsein gründenden, aber in der Gesellschaft fortwirkenden und seine Triebe sublimierenden Individuum rein als dessen eigener Geist zukäme. Sie galt stillschweigend als Bedingung einer autonomen Gesellschaft: je heller die Einzelnen, desto erhellter das Ganze. Ihre Be(2)
Adeliger, Kavalier.
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ziehung auf eine ihr jenseitige Praxis jedoch erschien, widerspruchsvoll, als Herabwürdigung zu einem Heteronomen, zum Mittel der Wahrnehmung von Vorteilen inmitten des ungeschlichteten bellum omnium contra omnes (3). Fraglos ist in der Idee der Bildung notwendig die eines Zustands der Menschlichkeit ohne Status und Übervorteilung postuliert, und sobald sie davon etwas sich abmarkten läßt und sich in die Praxis der als gesellschaftlich nützliche Arbeit honorierten partikularen Zwecke verstrickt, frevelt sie an sich selbst. Aber sie wird nicht minder schuldig durch ihre Reinheit; diese zur Ideologie. Soweit in der Bildungsidee zweckhafte Momente mitklingen, sollten sie ihr zufolge allenfalls die Einzelnen dazu befähigen, in einer vernünftigen Gesellschaft als vernünftige, in einer freien Gesellschaft als freie sich zu bewähren, und eben das soll, nach liberalistischem Modell, dann am besten gelingen, wenn jeder für sich selber gebildet ist. Je weniger die gesellschaftlichen Verhältnisse, zumal die ökonomischen Differenzen dies Versprechen einlösen, um so strenger wird der Gedanke an die Zweckbeziehung von Bildung verpönt. Nicht darf an die Wunde gerührt werden, daß Bildung allein die vernünftige Gesellschaft nicht garantiert. Man verbeißt sich in die von Anbeginn trügende Hoffnung, jene könne von sich aus den Menschen geben, was die Realität ihnen versagt. Der Traum von Bildung, Freiheit vom Diktat der Mittel, der sturen kargen Nützlichkeit, wird verfälscht zur Apologie der Welt, die nach jenem Diktat eingerichtet ist. Im Bildungsideal, das die Kultur absolut setzt, schlägt die Fragwürdigkeit von Kultur durch. Der Fortschritt von Bildung, den das junge Bürgertum gegenüber dem Feudalismus sich zuschrieb, verlief denn auch keineswegs so geradlinig, wie jene Hoffnung suggierte. Als das Bürgertum im England des siebzehnten und im Frankreich des achtzehnten Jahrhunderts politisch die Macht ergriff, war es ökonomisch weiter entwickelt als die Feudalität, und doch wohl auch dem Bewußtsein nach. Die Qualitäten, die dann nachträglich den Namen Bildung empfingen, befähigten die aufsteigende Klasse zu ihren Aufgaben in Wirtschaft und Verwaltung. Bildung war nicht nur Zeichen der Emanzipation des Bürgertums, nicht nur das Privileg, das die Bürger vor den geringen Leuten, den Bauern, voraus hatten. Ohne Bildung hätte der Bürger, als Unternehmer, als Mittelsmann, als Beamter und wo auch immer kaum reüssiert. Anders stand es (3)
Lat.: Krieg aller gegen alle; anthropologische Grundannahme von Th. Hobbes’ Staatstheo-
rie.
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um die neue Klasse, die von der bürgerlichen Gesellschaft hervorgebracht ward, kaum daß diese sich nur recht konsolidiert hatte. Das Proletariat war, als es die sozialistischen Theorien zum Bewußtsein seiner selbst zu erwecken suchten, subjektiv keineswegs avancierter als das Bürgertum; nicht umsonst haben die Sozialisten seine geschichtliche Schlüsselposition aus seiner objektiven ökonomischen Stellung gefolgert, nicht aus seiner geistigen Beschaffenheit. Die Besitzenden verfügten über das Bildungsmonopol auch in einer Gesellschaft formal Gleicher; die Entmenschlichung durch den kapitalistischen Produktionsprozeß verweigerte den Arbeitenden alle Voraussetzungen zur Bildung, vorab Muße. Versuche zur pädagogischen Abhilfe mißrieten zur Karikatur. Alle sogenannte Volksbildung – mittlerweile ist man hellhörig genug, das Wort zu umgehen – krankte an dem Wahn, den gesellschaftlich diktierten Ausschluß des Proletariats von der Bildung durch die bloße Bildung revozieren zu können. Aber der Widerspruch zwischen Bildung und Gesellschaft resultiert nicht einfach in Unbildung alten Stils, der bäuerlichen. Eher sind die ländlichen Bezirke heute Brutstätten von Halbbildung. Dort ist, nicht zuletzt dank der Massenmedien Radio und Fernsehen, die vorbürgerliche, wesentlich an der traditionellen Religion haftende Vorstellungswelt jäh zerbrochen. Sie wird verdrängt vom Geist der Kulturindustrie; das Apriori des eigentlich bürgerlichen Bildungsbegriffs jedoch, die Autonomie, hat keine Zeit gehabt, sich zu formieren. Das Bewußtsein geht unmittelbar von einer zur anderen Heteronomie über; anstelle der Autorität der Bibel tritt die des Sportplatzes, des Fernsehens und der »Wahren Geschichten«, die auf den Anspruch des Buchstäblichen, der Tatsächlichkeit diesseits der produktiven Einbildungskraft sich stützt 1 . Das Bedrohliche darin, das sich im Reich des Hitler als weit drastischer erwies denn bloß bildungssoziologisch, ist wohl bis heute kaum recht gesehen worden. Ihm zu begegnen wäre eine dringliche Aufgabe gesellschaftlich reflektierter Kulturpolitik, wenn auch kaum die zentrale angesichts der Halbbildung. Deren Signatur bleibt zunächst bürgerlich wie die Idee der Bildung selbst. Sie trägt die Physiognomie der lower middle class. Aus ihr ist Bildung nicht einfach verschwunden, sondern schleppt sich fort vermöge der Interessen auch derer, die am Bildungsprivileg nicht teilhaben. Ein nach traditionellen Kriterien ungebildeter Vgl. Karl-Guenther Grüneisen: Landbevölkerung im Kraftfeld der Stadt, in: Gemeindestudie des Instituts für sozialwissenschaftliche Forschung. Darmstadt 1952.
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Radioreparateur oder Autoschlosser bedarf, um seinen Beruf ausüben zu können, mancher Kenntnisse und Fertigkeiten, die ohne alles mathematisch-naturwissenschaftliche Wissen nicht zu erwerben wären, dem übrigens, wie bereits Thorstein Veblen (4) beobachtete, die sogenannte Unterklasse näher ist, als der akademische Hochmut sich eingesteht. Die Phänomenologie des bürgerlichen Bewußtseins allein reicht indessen zur Erklärung des neuen Zustands nicht aus. Konträr zur Vorstellung der bürgerlichen Gesellschaft von sich selbst war das Proletariat zu Beginn des Hochkapitalismus gesellschaftlich exterritorial, Objekt der Produktionsverhältnisse, Subjekt nur als Produzent. Die frühen Proletarier waren depossedierte Kleinbürger, Handwerker und Bauern, sowieso jenseits der bürgerlichen Bildung beheimatet. Der Druck der Lebensbedingungen, die unmäßig lange Arbeitszeit, der erbärmliche Lohn in den Dezennien, die im »Kapital« (5) und in der »Lage der arbeitenden Klassen in England« (6) behandelt sind, haben sie zunächst weiter draußen gehalten. Während aber am ökonomischen Grund der Verhältnisse, dem Antagonismus wirtschaftlicher Macht und Ohnmacht, und damit an der objektiv gesetzten Grenze von Bildung nichts Entscheidendes sich änderte, wandelte die Ideologie sich um so gründlicher. Sie verschleiert die Spaltung weithin auch denen, welche die Last zu tragen haben. Sie sind während der letzten hundert Jahre vom Netz des Systems übersponnen worden. Der soziologische Terminus dafür lautet: Integration. Subjektiv, dem Bewußtsein nach, werden, wie längst in Amerika, die sozialen Grenzen immer mehr verflüssigt. Die Massen werden durch zahllose Kanäle mit Bildungsgütern beliefert. Diese helfen als neutralisierte, versteinerte die bei der Stange zu halten, für die nichts zu hoch und teuer sei. Das gelingt, indem die Gehalte von Bildung, über den Marktmechanismus, dem Bewußtsein derer angepaßt werden, die vom Bildungsprivileg ausgesperrt waren und die zu verändern erst Bildung wäre. Der Prozeß ist objektiv determiniert, nicht erst mala fide (7) veranstaltet. Denn die gesellschaftliche (4)
Thorstein Veblen (1857–1929): amerikanischer Ökonom und Soziologe; Hauptwerk: Theory oft the Leisure Class (1899). (5) Karl Marx: Das Kapital. Kritik der politischen Ökonomie. Erster Band. Buch I: Der Produktionsprozeß des Kapitals. Hamburg 1867. (6) Friedrich Engels: Die Lage der arbeitenden Klasse in England. Nach eigner Anschauung und authentischen Quellen. Leipzig 1845. (7) Lat.: In böser Absicht.
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Struktur und ihre Dynamik verhindert, daß die Kulturgüter lebendig, daß sie von den Neophyten (8) so zugeeignet werden, wie es in ihrem eigenen Begriff liegt. Daß die Millionen, die früher nichts von ihnen wußten und nun damit überflutet werden, kaum, auch psychologisch nicht darauf vorbereitet sind, ist vielleicht noch das Harmloseste. Aber die Bedinungen der materiellen Produktion selber dulden schwerlich jenen Typus von Erfahrung, auf den die traditionellen Bildungsinhalte abgestimmt waren, die vorweg kommuniziert werden. Damit geht es der Bildung selbst, trotz aller Förderung, an den Lebensnerv. Vielerorten steht sie, als unpraktische Umständlichkeit und eitle Widerspenstigkeit, dem Fortkommen bereits im Wege: wer noch weiß, was ein Gedicht ist, wird schwerlich eine gutbezahlte Stellung als Texter finden. Die unablässig weiter anwachsende Differenz zwischen gesellschaftlicher Macht und Ohnmacht verweigert den Ohnmächtigen – tendenziell bereits auch den Mächtigen – die realen Voraussetzungen zur Autonomie, die der Bildungsbegriff ideologisch konserviert. Gerade dadurch nähern die Klassen ihrem Bewußtsein nach einander sich an, wenn auch, nach jüngsten Forschungsergebnissen, kaum so sehr, wie es vor wenigen Jahren schien. Ohnehin kann von nivellierter Mittelstandsgesellschaft (9) bloß sozialpsychologisch, allenfalls mit Hinblick auf personelle Fluktuation die Rede sein, nicht objektiv-strukurell. Aber auch subjektiv erscheint beides: der Schleier der Integration zumal in Konsumkategorien, die fortdauernde Dichotomie jedoch überall dort, wo die Subjekte auf hart gesetzte Antagonismen der Interessen stoßen. Dann ist die underlying population »realistisch«; die anderen fühlen sich als Sprecher der Ideale 2. Weil die Integration Ideologie ist, bleibt sie selbst als Ideologie brüchig. All das schießt gewiß übers Ziel. Aber theoretischen Entwürfen ist es eigentümlich, daß sie mit den Forschungsbefunden nicht blank übereinstimmen; daß sie diesen gegenüber sich exponieren, zu weit vorwagen, oder, nach der Sprache der Sozialforschung, zu falschen Generalisationen neigen. Eben darum war, abgesehen von den administrativen und Vgl. Zum politischen Bewußtsein ausgewählter Gruppen der deutschen Bevölkerung. Unveröffentlichtes Manuskript im Institut für Sozialforschung. Frankfurt a. M. 1957.
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Neu Aufgenommene (in die Gemeinde oder Geheimbünde). Der Begriff »nivellierte Mittelstandsgesellschaft« wurde in den fünfziger Jahren von dem deutschen Soziologen Helmut Schelsky (1912–1984) als Gegenbegriff zum marxistischen Begriff der »Klassengesellschaft« geprägt.
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kommerziellen Bedürfnissen, die Entwicklung der empirisch-soziologischen Methoden notwendig. Ohne jenes Sich-zu-weit-Vorwagen der Spekulation jedoch, ohne das unvermeidliche Moment von Unwahrheit in der Theorie wäre diese überhaupt nicht möglich: sie beschiede sich zur bloßen Abbreviatur der Tatsachen, die sie damit unbegriffen, im eigentlichen Sinn vorwissenschaftlich ließe. Wohl wären der These vom Absterben der Bildung ebenso wie von der Sozialisierung der Halbbildung, ihrem Übergreifen auf die Massen, triftige empirische Befunde entgegenzuhalten. Das Modell von Halbbildung ist auch heute noch die Schicht der mittleren Angestellten, während ihre Mechanismen in den eigentlich unteren Schichten offenbar so wenig eindeutig nachgewiesen werden können wie nivelliertes Bewußtsein insgesamt. Gemessen am Zustand jetzt und hier ist die Behauptung von der Universalität der Halbbildung undifferenziert und übertrieben. Sie möchte aber gar nicht alle Menschen und Schichten unterschiedslos unter jenen Begriff subsumieren, sondern eine Tendenz konstruieren, die Physiognomik eines Geistes entwerfen, der auch dann die Signatur des Zeitalters bestimmt, wenn sein Geltungsbereich quantitativ und qualitativ noch so sehr einzuschränken wäre. Zahllose Arbeiter, kleine Angestellte und andere Gruppen mögen, nicht zuletzt dank dem stets noch lebendigen, wenngleich sich abschwächenden Klassenbewußtsein, noch nicht von den Kategorien der Halbbildung erfaßt sein. Aber diese sind von der Produktionsseite her so übermächtig, ihre Etablierung stimmt so sehr mit maßgebenden Interessen überein, sie prägen so sehr die allgegenwärtigen kulturellen Erscheinungsformen, daß ihnen Repräsentanz gebührt, auch wenn diese nicht als statistische zu erhärten ist. Taugt jedoch als Antithese zur sozialisierten Halbbildung kein anderer als der traditionelle Bildungsbegriff, der selber zur Kritik steht, so drückt das die Not einer Situation aus, die über kein besseres Kriterium verfügt als jenes fragwürdige, weil sie ihre Möglichkeit versäumte. Weder wird die Restitution des Vergangenen gewünscht, noch die Kritik daran im mindesten gemildert. Nichts widerfährt heute dem objektiven Geist, was nicht in ihm selbst in hochliberalen Zeiten schon gesteckt hätte oder was nicht wenigstens alte Schuld eintriebe. Aber was jetzt im Bereich von Bildung sich zuträgt, läßt nirgends anders sich ablesen als an deren wie immer auch ideologischer älterer Gestalt. Denn potentiell haben die versteinerten Verhältnisse abgeschnitten, womit der Geist über die herkömmliche Bildung hinausginge. Maß des neuen Schlechten ist einzig das Frühere. Es zeigt in dem Augen156 https://doi.org/10.5771/9783495861011 .
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blick, da es verurteilt ist, gegenüber der jüngeren Form des Bestürzenden, als Verschwindendes versöhnende Farbe. Allein um ihretwillen, keiner laudatio temporis acti (10) zuliebe, wird auf traditionelle Bildung rekurriert. Im Klima der Halbbildung überdauern die warenhaft verdinglichten Sachgehalte von Bildung auf Kosten ihres Wahrheitsgehalts und ihrer lebendigen Beziehung zu lebendigen Subjekten. Das etwa entspräche ihrer Definition. Daß heute ihr Name den gleichen antiquierten und arroganten Klang angenommen hat wie Volksbildung, bekundet nicht, daß das Phänomen verschwand, sondern daß eigentlich sein Gegenbegriff, der der Bildung selber, an dem allein es ablesbar würde, nicht mehr gegenwärtig ist. An ihm partizipieren nur noch, zu ihrem Glück oder Unglück, einzelne Individuen, die nicht ganz in den Schmelztiegel hineingeraten sind, oder professionell qualifizierte Gruppen, die sich gern selbst als Eliten feiern. Die Kulturindustrie im weitesten Umfang jedoch, all das, was der Jargon als Massenmedien bestätigend einordnet, verewigt jenen Zustand, indem sie ihn ausbeutet, eingestandenermaßen Kultur für jene, welche die Kultur von sich stieß, Integration des gleichwohl weiter Nichtintegrierten. Halbbildung ist ihr Geist, der mißlungener Identifikation. […] Die totalitäre Gestalt von Halbbildung ist nicht bloß zu erklären aus dem sozial und psychologisch Gegebenen, sondern ebenso aus dem besseren Potential: daß der in der bürgerlichen Gesellschaft einmal postulierte Bewußtseinsstand auf die Möglichkeit realer Autonomie des je eigenen Lebens vorverweist, die von dessen Einrichtung verweigert und auf die bloße Ideologie abgedrängt wird. Mißlingen aber muß jene Identifikation, weil der Einzelne von der durch die Allherrschaft des Tauschprinzips virtuell entqualifizierten Gesellschaft nichts an Formen und Strukturen empfängt, womit er, geschützt gleichsam, überhaupt sich identifizieren, woran er im wörtlichsten Verstand sich bilden könnte; während andererseits die Gewalt des Ganzen über das Individuum zu solcher Disproportion gediehen ist, daß das Individuum in sich das Entformte wiederholen muß. Was einmal selbst so gestaltet war, daß die Subjekte ihre wie immer problematische Gestalt daran gewinnen mochten, ist dahin; sie selber aber bleiben gleichwohl derart in Unfreiheit verhalten, daß ihr Miteinanderleben aus Eigenem sich erst recht nicht als wahrhaftes artikuliert. Das fatale Wort Leitbild, dem die Unmöglichkeit dessen einbeschrieben (10)
Lat.: Lobrede auf die vergangene Zeit.
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ist, was es meint, drückt das aus. Es zeugt vom Leiden unter der Absenz eines sozialen und geistigen Kosmos, der, nach Hegels Sprachgebrauch, »substantiell«, ohne Gewaltsamkeit, fürs Individuum fraglos verbindlich wäre, eines richtigen, mit den Einzelnen versöhnten Ganzen. Zugleich aber bekundet jenes Wort die Gier, das Substantielle aus Willkür – so wie schon Nietzsche seine neuen Tafeln – aufzurichten, und das sprachliche Sensorium ist bereits zu abgestumpft, um zu fühlen, daß eben der Gewaltakt, auf den das Verlangen nach Leitbildern hindrängt, genau die Substantialität Lügen straft, nach der man die Hände ausstreckt. Dieser Zug des Faschismus hat ihn überlebt. Er reicht aber in die Idee der Bildung selber zurück. Sie ist in sich antinomischen Wesens. Sie hat als ihre Bedingung Autonomie und Freiheit, verweist jedoch zugleich, bis heute, auf Strukturen einer dem je Einzelnen gegenüber vorgegebenen, in gewissem Sinn heteronomen und darum hinfälligen Ordnung, an der allein er sich zu bilden vermag. Daher gibt es in dem Augenblick, in dem es Bildung gibt, sie eigentlich schon nicht mehr. In ihrem Ursprung ist ihr Zerfall teleologisch bereits gesetzt. Die gegenwärtig in Wahrheit wirksamen Leitbilder sind das Konglomerat der ideologischen Vorstellungen, die in den Subjekten sich zwischen diese und die Realität schieben und die Realität filtern. Sie sind affektiv derart besetzt, daß sie nicht ohne weiteres von der ratio weggeräumt werden können. Halbbildung faßt sie zusammen. Unbildung, als Naivetät, bloßes Nichtwissen, gestattete ein unmittelbares Verhältnis zu den Objekten und konnte zum kritischen Bewußtsein gesteigert werden kraft ihres Potentials von Skepsis, Witz und Ironie – Eigenschaften, die im nicht ganz Domestizierten gedeihen. Der Halbbildung will das nicht glücken. Unter den gesellschaftlichen Bedingungen von Bildung war, neben anderem, wesentlich Tradition – nach Sombarts (11) und Max Webers Lehre ein Vorbürgerliches, essentiell unvereinbar mit bürgerlicher Rationalität. Der Traditionsverlust durch die Entzauberung der Welt aber terminiert in einem Stand von Bilderlosigkeit, einer Verödung des zum bloßen Mittel sich zurichtenden Geistes, die vorweg mit Bildung inkompatibel ist. Nichts verhält mehr den Geist zur leibhaften Fühlung mit Ideen. Autorität vermittelte, mehr schlecht als recht, zwischen der Tradition und den Subjekten. Wie, Freud zufolge, die Autonomie, das Prinzip des Ichs, in der Identifikation mit der Vaterfigur entspringt, während dann die an dieser ge(11)
Werner Sombart (1863–1941): deutscher Volkswirtschaftler und Soziologe.
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wonnenen Kategorien gegen die Irrationalität des familialen Verhältnisses gewandt werden, so entfaltete gesellschaftlich sich Bildung. Die Schulreformen, an deren humaner Notwendigkeit kein Zweifel ist, haben die veraltete Autorität beseitigt; damit aber auch die ohnehin schwindende Zuneigung und Verinnerlichung von Geistigem weiter geschwächt, an der Freiheit haftete. Bis heute verkümmert diese, Gegenbild des Zwanges, ohne ihn, während doch wiederum kein Zwang der Freiheit zuliebe sich empfehlen ließe. Wer, der noch ein Gymnasium besuchte, hätte nicht zuweilen unter den Schillergedichten und Horazoden gestöhnt, die er auswendig lernen mußte; wem wären nicht ältere Anverwandte auf die Nerven gefallen, die dergleichen aus ihrer Erinnerung ungebeten und unaufhaltbar rezitierten. Kaum jemand wäre wohl noch zum Memorieren zu bringen; aufs Geistlose, Mechanische daran beriefe sich bereits der Geistloseste. Aber durch solche Prozesse wird dem Geist etwas von der Nahrung entzogen, an der er sich erst bildet. Der Glaube an den Geist mag den theologischen ins Wesenlose säkularisiert haben, und wenn ihn die sogenannte junge Generation verschmäht, so zahlt sie ihm heim, was er seit je verübte. Aber wo er, seinerseits Ideologie, fehlt, dämmert eine schlimmere herauf. Der Sozialcharakter, den man mit einem selber höchst anrüchigen Wort auf deutsch geistiger Mensch nennt, stirbt aus. Der vermeintliche Realismus jedoch, der ihn beerbt, ist nicht näher zu den Sachen, sondern lediglich bereit, unter Verzicht auf toil and trouble, die geistige Existenz komfortabel einzurichten und zu schlucken, was in ihn hineingestopft wird. Weil kaum mehr ein Junge sich träumt, einmal ein großer Dichter oder Komponist zu werden, darum gibt es wahrscheinlich, übertreibend gesagt, unter den Erwachsenen keine großen ökonomischen Theoretiker, am Ende keine wahrhafte politische Spontaneität mehr. Bildung brauchte Schutz vorm Andrängen der Außenwelt, eine gewisse Schonung des Einzelsubjekts, vielleicht sogar die Lückenhaftigkeit der Vergesellschaftung. »Ich verstand die Sprache des Äthers, die Sprache der Menschen verstand ich nie«, schrieb Hölderlin; ein Jüngling, der so dächte, würde hundertfünfzig Jahre später verlacht oder seines Autismus wegen wohlwollender psychiatrischer Betreuung überantwortet. Wird aber der Unterschied zwischen der Sprache des Äthers, also der Idee einer wahren Sprache, der der Sache selbst, und der praktischen der Kommunikation nicht mehr gefühlt, so ist es um Bildung geschehen. Ganz gewiß hat die deutsche Bildung in ihrer großen Epoche nicht durchweg die Kenntnis der gleichzeitigen Philosophie 159 https://doi.org/10.5771/9783495861011 .
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eingeschlossen, die selbst in den Jahren zwischen 1790 und 1830 wenigen reserviert war. Aber jene Philosophie war doch der Bildung immanent. Nicht nur hat sie genetisch Figuren wie Humboldt und Schleiermacher zu ihren Konzeptionen des Bildungswesens veranlaßt. Sondern der Kern des spekulativen Idealismus, die Lehre vom objektiven, über die bloße psychologische Einzelperson hinausgehenden Charakter des Geistes, war zugleich das Prinzip der Bildung als das eines Geistigen, das nicht unmittelbar einem anderen dienstbar, nicht unmittelbar an seinem Zweck zu messen ist. Der unwiderrufliche Sturz der Geistesmetaphysik hat die Bildung unter sich begraben. Das ist kein Tatbestand isolierter Geistesgeschichte sondern auch ein gesellschaftlicher. Geist wird davon affiziert, daß er und seine Objektivation als Bildung überhaupt nicht mehr erwartet werden, damit einer gesellschaftlich sich ausweise. Das allbeliebte Desiderat einer Bildung, die durch Examina gewährleistet, womöglich getestet werden kann, ist bloß noch der Schatten jener Erwartung. Die sich selbst zur Norm, zur Qualifikation gewordene, kontrollierbare Bildung ist als solche so wenig mehr eine wie die zum Geschwätz des Verkäufers degenerierte Allgemeinbildung. Das Moment der Unwillkürlichkeit, wie es zuletzt in den Theorien Bergsons und dem Romanwerk Prousts glorifiziert ward, und wie es Bildung als ein von den Mechanismen gesellschaftlicher Naturbeherrschung Unterschiedenes bezeichnet, verdirbt im grellen Licht der Überprüfbarkeit. Bildung läßt sich, dem Spruch aus dem Faust entgegen, überhaupt nicht erwerben; Erwerb und schlechter Besitz wären eines. Eben dadurch aber, daß sie dem Willen sich versagt, ist sie in den Schuldzusammenhang des Privilegs verstrickt: nur der braucht sie nicht zu erwerben und nicht zu besitzen, der sie ohnehin schon besitzt. So fällt sie in die Dialektik von Freiheit und Unfreiheit. Als Erbschaft alter Unfreiheit mußte sie hinab; unmöglich aber ist sie unter bloßer subjektiver Freiheit, solange objektiv die Bedingungen der Unfreiheit fortdauern. In Amerika, dem bürgerlichen fortgeschrittensten Land, hinter dem die anderen herhinken, läßt Bilderlosigkeit des Daseins als gesellschaftliche Bedingung universaler Halbbildung kraß sich beobachten. Der religiöse Bilderschatz, der dem Daseienden die Farben des mehr als Daseienden einhauchte, ist verblaßt, die mit den religiösen Bildern zusammengewachsenen irrationalen imagines des Feudalismus fehlen überhaupt. Was an nicht selber schon synthetischer archaischer Folklore überlebte, kann dagegen nicht an. Das freigesetzte Dasein selber 160 https://doi.org/10.5771/9783495861011 .
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aber ward nicht sinnvoll; als entzaubertes blieb es prosaisch auch im negativen Verstande; das bis in die letzten Verästelungen nach dem Äquivalenzprinzip gemodelte Leben erschöpft sich in der Reproduktion seiner selbst, der Wiederholung des Getriebes, und seine Forderungen ergehen an den Einzelnen so hart und gewalttätig, daß er weder dagegen als ein sein Leben aus sich heraus Führender sich behaupten, noch sie als eins mit seiner menschlichen Bestimmung erfahren kann. Daher bedarf die trostlose Existenz, die Seele, der im Leben ihr göttlich Recht nicht ward, des Bilderersatzes durch Halbbildung. Die bis ins Chaotische gesteigerte Disparatheit von deren Elementen, der Verzicht auf volle Rationalität selbst der einzelnen membra disiecta (12) leistet der Magisierung durchs darbende Bewußtsein Vorschub3 . Aus dem wilden Westen haben die Massenmedien eine Ersatzmythologie zubereitet, die keiner mit den Fakten einer keineswegs fernen Vergangenheit konfrontiert. Die Filmstars, Schlager, Schlagertexte und Schlagertitel spenden ähnlich kalkulierten Glanz. Worte, unter denen der selber schon mythologische man on the street sich kaum mehr etwas zu denken vermag, erlangen eben darum Popularität; ein beliebter Schlager sagte von einem Mädchen »You are a rhapsody«, ohne daß es jemandem eingefallen wäre, wie wenig schmeichelhaft der Vergleich mit der Rhapsodie war, einer potpourrihaft ungeformten Kompositionsweise. Zuweilen enträtseln sich selbst die gepflegten, oftmals bestürzend schönen Erscheinungen der Frauen als Bilderschrift der Halbbildung, Gesichter wie die der Montespan (13) oder der Lady Hamilton (14), die keinen eigenen Satz mehr hervorbringen können, sondern reflexhaft plappern, was jede Situation von ihnen erwartet, um möglichst günstig abzuschneiden: Evelyn Waugh (15) hat das registriert. Halbbildung beschränkt sich längst nicht mehr bloß auf den Geist, sondern entstellt das sinnliche Leben. Sie antwortet auf die psychodynamische Frage,
Vgl. u. a. Ernst Lichtenstein im Handbuch für Sozialkunde. Berlin und München 1955, Abteilung A II, S. 1 ff.
3
(12)
Lat.: Zerstreute Teile (eines Ganzen). Françoise Athénais de Rochechouart Marquise de Montespan (1641–1707): Mätresse Ludwigs XIV., berühmt für Schönheit, Witz und Geist. (14) Lady Emma Hamilton (1765–1815): zeitweilige Mätresse des britischen Admirals Horatio Nelson, berühmt wegen ihrer Schönheit und ihrer zahlreichen Liebesbeziehungen (15) Arthur Evelyn St. John Waugh (1903–1966): britischer Schriftsteller. (13)
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wie das Subjekt es unter einer selber schließlich irrationalen Rationalität aushalten könne. Während die ursprünglich sozialen Differenzierungsmomente kassiert werden, in denen Bildung bestand – Bildung und Differenziertheit sind eigentlich dasselbe –, gedeiht an ihrer Stelle ein Surrogat. Die perennierende Statusgesellschaft saugt die Reste von Bildung auf und verwandelt sie in Embleme des Status. Das war der bürgerlichen Bildung nie fremd. Sie hat von je dazu sich erniedrigt, ihre sogenannten Träger, früher jene, die Latein konnten, vom Volk zu trennen, so wie es noch Schopenhauer in aller Naivetät aussprach. Nur konnten hinter den Mauern ihres Privilegs auch die humanen Kräfte sich regen, die, auf die Praxis zurückgewandt, einen privileglosen Zustand verhießen. Solche Dialektik der Bildung ist durch ihre gesellschaftliche Integration, dadurch also, daß sie unmittelbar in Regie genommen wird, stillgestellt. Halbbildung ist der vom Fetischcharakter der Ware ergriffene Geist. So wie der Sozialcharakter der Handlungsangestellten, des Kommis alten Stils, mittlerweile als Angestelltenkultur überwuchert – noch bei Karl Kraus (16), der die Ursprünge dieses Prozesses verfolgte, ist von der ästhetischen Diktatur des Kommis die Rede –, so haben die ehrwürdigen Profitmotive der Bildung wie Schimmelpilze die gesamte Kultur überzogen. Daß sie das von ihr Abweichende kaum mehr durchläßt, einzig dies Totalitäre ist am neuen Zustand das Neue. Mit fortschreitender Integration hat dabei Halbbildung ihrer Einfalt sich entäußert, nicht anders als die Angestelltenkultur den Kommis liquidierte. Sie umklammert auch den Geist, der es einmal war, und stutzt ihn nach ihren Bedürfnissen zurecht. Dadurch hat sie nicht nur parasitär an seinem zunächst ungeminderten Prestige teil, sondern beraubt ihn der Distanz und des kritischen Potentials, schließlich selbst des Prestiges. Modell dafür ist das Schicksal der sogenannten Klassiker. In Deutschland war in den Ausgaben von deren Werken durchs neunzehnte Jahrhundert hindurch – wie sehr auch damals schon von Verlagsinteressen gesteuert und fragwürdigen gesellschaftlichen Selektionsmechanismen unterworfen – wenigstens gesammelt, worin der Bildungskanon bestand, der freilich damit bereits zum Vorrat verkam; Schiller war der Inbegriff der auf Sentenzen abgezogenen Bildung. Selbst mit dieser dünnen Autorität ist es vorbei; der jungen Genera-
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Karl Kraus (1874–1936): österreichischer Schriftsteller.
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tion sind vermutlich selbst die Namen vieler goldener Klassiker (17) kaum mehr bekannt, denen man einmal die Unsterblichkeit voreilig bescheinigte. Aus den Ideen, auf welche Bildung sich erstreckte und die ihr Leben einhauchten, ist die Energie entwichen. Sie ziehen die Menschen weder als Erkenntnis mehr an – als solche dünken sie hinter der Wissenschaft zurückgeblieben –, noch gebieten sie ihnen als Normen. Freiheit und Humanität etwa haben innerhalb des zum Zwangssystem zusammengeschlossenen Ganzen ihre Strahlkraft verloren, weil sich ihnen gar nicht mehr nachleben läßt; auch ihre ästhetische Verbindlichkeit überdauert nicht: die geistigen Gebilde, die sie verkörpern, sind weithin als fadenscheinig, phrasenhaft, ideologisch durchschaut. Nicht bloß für die nicht mehr Gebildeten sind die Bildungsgüter zerbröckelt sondern an sich, ihrem Wahrheitsgehalt nach. Dieser ist nicht, wie der Idealismus es wollte, zeitlos invariant, sondern hat sein Leben in der geschichtlich-gesellschaftlichen Dynamik wie die Menschen und kann vergehen. Selbst der manifeste Fortschritt, die allgemeine Steigerung des Lebensstandards mit der Entfaltung der materiellen Produktivkräfte, schlägt den geistigen nicht durchaus zum Segen an. Die Disproportionen, die daraus resultieren, daß der Überbau langsamer sich umwälzt als der Unterbau, haben zum Rückschritt des Bewußtseins sich gesteigert. Halbbildung siedelt parasitär im cultural lag sich an. Daß Technik und höherer Lebensstandard ohne weiteres der Bildung dadurch zugute komme, daß alle von Kulturellem erreicht werden, ist pseudodemokratische Verkäuferideologie – »Music goes into mass production« –, und sie wird es darum nicht weniger, weil man den, der an ihr zweifelt, snobistisch schilt. Sie ist widerlegbar von der empirischen Sozialforschung. So hat in Amerika Edward Suchmann(18) in einer ingeniösen Studie dargetan, daß von zwei Vergleichsgruppen, die sogenannte ernste Musik hörten und von denen die eine diese Musik durch lebendige Aufführungen, die andere nur vom Radio her kannte, die Radiogruppe flacher und verständnisloser reagierte als die erste. Wie für die Radiogruppe die ernste Musik virtuell in Unterhaltungsmusik sich verwandelte, so frieren allgemein die geistigen Gebilde, welche die Menschen mit jener Plötzlichkeit anspringen, die Kierkegaard dem Dämonischen gleichsetzte, zu Kulturgütern ein. Ihre Rezeption gehorcht nicht im(17) (18)
Anspielung auf die »Goldene Klassiker-Bibliothek« des Verlagshauses Bong & Co. Edward A. Suchman: amerikanischer Soziologe.
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manenten Kriterien, sondern einzig dem, was der Kunde davon zu haben glaubt. Zugleich aber wächst mit dem Lebensstandard der Bildungsanspruch als Wunsch, zu einer Oberschicht gerechnet zu werden, von der man ohnehin subjektiv weniger stets sich unterscheidet. Als Antwort darauf werden immense Schichten ermutigt, Bildung zu prätendieren, die sie nicht haben. Was früher einmal dem Protzen und dem nouveau riche vorbehalten war, ist Volksgeist geworden. Ein großer Sektor der kulturindustriellen Produktion lebt davon und erzeugt selbst wiederum das halbgebildete Bedürfnis; die Romanbiographien, die über Bildungstatsachen berichten und gleichzeitig billige und nichtige Identifikationen bewirken; der Ausverkauf ganzer Wissenschaften wie der Archäologie oder Bakteriologie, der sie in grobe Reizmittel verfälscht und dem Leser einredet, er sei au courant (19). Die Dummheit, mit welcher der Kulturmarkt rechnet, wird durch diesen reproduziert und verstärkt. Frisch-fröhliche Verbreitung von Bildung unter den herrschenden Bedingungen ist unmittelbar eins mit ihrer Vernichtung. Zweifel an dem unbedingt aufklärenden Wert der Popularisierung von Bildung unter den gegenwärtigen Bedingungen setzen dem Verdacht des Reaktionären sich aus. Man könne nicht etwa der Publikation bedeutender philosophischer Texte der Vergangenheit in Taschenbüchern mit dem Hinweis darauf opponieren, daß durch deren Form und Funktion die Sache beschädigt werde; sonst mache man sich zum lächerlichen Festredner einer geschichtlich verurteilten Bildungsidee, die nur noch dazu diene, einigen Dinosauriern ihre Größe und Herrlichkeit zu bestätigen. In der Tat wäre es unsinnig, jene Texte in kleinen und kostspieligen wissenschaftlichen Auflagen sekretieren zu wollen zu einer Zeit, da der Stand der Technik und das ökonomische Interesse in Massenproduktion konvergieren. Darum soll man aber nicht aus Angst vor dem Unausweichlichen sich gegen das verblenden, was es impliziert, und vor allem: wodurch es mit dem immanenten Anspruch der Demokratisierung von Bildung selbst in Widerspruch gerät. Denn das Verbreitete verändert durch seine Verbreitung vielfach eben jenen Sinn, den zu verbreiten man sich rühmt. Nur eine geradlinige und ungebrochene Vorstellung von geistigem Fortschritt gleitet über den qualitativen Gehalt der zur Halbbildung sozialisierten Bildung unbekümmert hinweg. Ihr gegenüber täuscht die dialektische Konzeption sich nicht über die Zweideutigkeit von Fortschritt inmitten der repres(19)
Frz.: Auf dem laufenden.
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siven Totalität. Daß die Antagonismen anwachsen, besagt, daß alle partikularen Fortschritte im Bewußtsein der Freiheit auch am Fortbestand der Unfreiheit mitwirken. Licht auf die gesamte Sphäre wirft der in einer von Benjamins geschichtsphilosophischen Thesen (20) als Motto zitierte, rührend illusionäre Satz aus dem alten sozialdemokratischen Vorstellungsschatz: »Wird doch unsere Sach alle Tage klarer und das Volk alle Tage klüger.« 4 Wie es in der Kunst keine Approximationswerte gibt; wie eine halbgute Aufführung eines musikalischen Werkes seinen Gehalt keineswegs zur Hälfte realisiert, sondern eine jegliche unsinnig ist außer der voll adäquaten, so steht es wohl um geistige Erfahrung insgesamt. Das Halbverstandene und Halberfahrene ist nicht die Vorstufe der Bildung sondern ihr Todfeind: Bildungselemente, die ins Bewußtsein geraten, ohne in dessen Kontinuität eingeschmolzen zu werden, verwandeln sich in böse Giftstoffe, tendenziell in Aberglauben, selbst wenn sie an sich den Aberglauben kritisieren – so wie jener Oberküfer, der im Drang nach Höherem zur Kritik der reinen Vernunft griff, bei der Astrologie endete, offenbar weil er einzig darin das Sittengesetz in uns mit dem gestirnten Himmel über uns zu vereinen vermochte. Unassimilierte Bildungselemente verstärken jene Verdinglichung des Bewußtseins, vor der Bildung bewahren soll. […] Die Erkenntnis des gesellschaftlichen Unwesens von Halbbildung bestätigt, daß isoliert nicht geändert werden kann, was von objektiven Gegebenheiten produziert und reproduziert wird, welche die Bewußtseinssphäre zur Ohnmacht verhalten. Im widerspruchsvollen Ganzen verstrickt auch die Frage nach der Bildung in eine Antinomie. Die ungebrochene Rede von Kultur ist weltfremd und ideologisch angesichts der objektiv und über alle Grenzen der politischen Systeme hinweg sich manifestierenden Tendenzen zu ihrer Liquidation. Vollends läßt Kultur in abstracto darum nicht sich zur Norm oder zum sogenannten Wert erheben, weil Beteuerungen solchen Tenors das Verhältnis alles Kulturellen zur Herbeiführung menschenwürdigen Lebens durch seiner selbst mächtiges Selbstbewußtsein durchschneiden und zu jener Neutralisierung des Geistes beitragen, die ihrerseits Bildung zerstört. Umgekehrt aber kann auch die Theorie der Gesellschaft und eine irJosef Dietzgen: Die Religion der Sozialdemokratie, in: Walter Benjamin: Schriften I. Frankfurt a. M. 1955, 502.
4
(20)
Walter Benjamin (1892–1940): deutscher Literaturwissenschaftler, -kritiker, Philosoph und Essayist; Über den Begriff der Geschichte (1940, postum veröffentlicht).
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gend an ihr orientierte Praxis nicht mit dem Mut der Verzweiflung sich auf die Seite der stärkeren Tendenz schlagen, stoßen, was fällt, und die Liquidation der Kultur sich zu eigen machen: sonst wird sie unmittelbar mitschuldig am Rückfall in die Barbarei. Unter den Versuchungen des an sich selbst irre gewordenen Geistes ist nicht die harmloseste jene, die in der Psychologie Anna Freud die Identifikation mit dem Angreifer 5 genannt hat: willfährig das vermeintlich Unabwendbare zu unterschreiben. Gegenwärtig gedeiht weniger der kritische Intellektuelle als der, welcher die Mittel des Intellekts, oder was er damit verwechselt, zur Verdunklung benutzt. Eitel aber wäre auch die Einbildung, irgend jemand – und damit meint man immer sich selber – wäre von der Tendenz zur sozialisierten Halbbildung ausgenommen. Was mit Fug Fortschritt des Bewußtseins heißen darf, die illusionslos kritische Einsicht in das, was ist, geht mit Bildungsverlust zusammen; Nüchternheit und traditionelle Bildung sind unvereinbar. Kein Zufall, daß schon, als Marx und Engels die kritische Theorie der Gesellschaft konzipierten, jene Sphäre, auf welche der Begriff der Bildung primär zielt, Philosophie und Kunst, vergröbert und primitiviert ward. Solche Simplifizierung ist unvereinbar geworden mit der gesellschaftlichen Intention, endlich doch aus der Barbarei hinauszuführen: sie hilft unterdessen im Osten zum nackten Schrecken. Fortschreitendes Bewußtsein, das der angehorteten, zum Besitz verschandelten Kultur widersteht, ist nicht nur über, sondern immer zugleich auch unter der Bildung. Stets ist die hervortretende neue Qualität mehr und weniger als das Versinkende. Dem Fortschritt selber, der Kategorie des Neuen ist als Ferment ein Zusatz von Barbarei beigemischt: man fegt aus. Zu visieren wäre ein Zustand, der weder Kultur beschwört, ihren Rest konserviert, noch sie abschafft, sondern der selber hinaus ist über den Gegensatz von Bildung und Unbildung, von Kultur und Natur. Das aber erheischt, daß nicht nur die Verabsolutierung von Kultur gebrochen wird, sondern auch, daß ihre Auffassung als die eines Unselbständigen, als bloßer Funktion von Praxis und bloßer Anweisung auf sie, nicht hypostasiert werden, nicht zur undialektischen These gerinne. Die Einsicht, daß, was entsprang, nicht auf seinen Ursprung reduziert, nicht dem gleichgemacht werden kann, woraus es kam, bezieht sich auch auf den Geist, der so leicht dazu sich verführen läßt, sich selber Vgl. Theodor W. Adorno: Aberglaube aus zweiter Hand, in: Gesammelte Schriften Band 8. Soziologische Schriften I. Frankfurt a. M. 1972, 168.
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als Ursprung aufzuwerfen. Wohl ist ihm, wo er diesen Anspruch zur eigenen Erhöhung anmeldet, mit dem Hinweis auf seine Abhängigkeit von den realen Lebensverhältnissen und seine Untrennbarkeit von deren Gestaltung, schließlich auf seine eigene Naturwüchsigkeit zu entgegnen. Wird Geist aber blank auf jene Abhängigkeit reduziert und fügt er sich von sich aus in die Rolle des bloßen Mittels, so ist an das Umgekehrte zu erinnern. Insofern hat die Sorge um Bildung in der gegenwärtigen geschichtlichen Stunde ihr Recht. Daß der Geist von den realen Lebensverhältnissen sich trennte und ihnen gegenüber sich verselbständigte, ist nicht nur seine Unwahrheit, sondern auch seine Wahrheit; keine verbindliche Erkenntnis, kein geratenes Kunstwerk wäre durch den Hinweis auf seine soziale Genese zu widerlegen. Wenn die Menschen den Geist entwickelten, um sich am Leben zu erhalten, so sind die geistigen Gebilde, die sonst nicht existierten, doch keine Lebensmittel mehr. Die unwiderrufliche Verselbständigung des Geistes gegenüber der Gesellschaft, die Verheißung von Freiheit, ist selber so gut ein Gesellschaftliches, wie die Einheit von beidem es ist. Wird jene Verselbständigung einfach verleugnet, so wird der Geist unterdrückt und macht dem, was ist, nicht weniger die Ideologie, als wo er ideologisch Absolutheit usurpiert. Was ohne Schande, jenseits des Kulturfetischismus, kulturell heißen darf, ist einzig das, was vermöge der Integrität der eigenen geistigen Gestalt sich realisiert und nur vermittelt, durch diese Integrität hindurch, in die Gesellschaft zurückwirkt, nicht durch unmittelbare Anpassung an ihre Gebote. Die Kraft dazu aber wächst dem Geist nirgendwoher zu als aus dem, was einmal Bildung war. Tut indessen der Geist nur dann das gesellschaftlich Rechte, solange er nicht in der differenzlosen Identität mit der Gesellschaft zergeht, so ist der Anachronismus an der Zeit: an Bildung festzuhalten, nachdem die Gesellschaft ihr die Basis entzog. Sie hat aber keine andere Möglichkeit des Überlebens als die kritische Selbstreflexion auf die Halbbildung, zu der sie notwendig wurde.
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Hans-Georg Gadamer
In seinem Hauptwerk »Wahrheit und Methode« (1960) entwickelt HansGeorg Gadamer die Grundzüge einer »philosophischen Hermeneutik«. Gadamer, 1900 in Marburg geboren, studiert Philosophie, Germanistik, Geschichte und Kunstwissenschaft in Breslau, München und Marburg, promoviert 1922 bei Paul Natorp mit einer Arbeit über Platon, geht 1923 nach Freiburg und begegnet dort Heidegger, an den er sich als Schüler anschließt. Nach einem Staatsexamen in Klassischer Philologie bei Paul Friedländer (1927) habilitiert sich Gadamer 1928 bei Heidegger in Marburg mit einer Studie über Platons »Philebos«. 1937 wird Gadamer a. o. Professor in Marburg, 1939 o. Professor in Leipzig, wechselt 1947 an die Universität Frankfurt und ist von 1949–1968 Professor in Heidelberg (als Nachfolger von Karl Jaspers), wo er 2002 stirbt. Die von Gadamer ausgearbeitete philosophische Hermeneutik will im Gegensatz zur »traditionellen Hermeneutik« Schleiermachers und Diltheys nicht mehr eine Methodenlehre des Verstehens literarischer oder sonstiger Texte bieten, sondern macht das Verstehen und Auslegen von Texten im Zusammenhang der menschlichen Welterfahrung überhaupt zum Thema der Untersuchung. Seine Intention ist es, »Erfahrung von Wahrheit, die den Kontrollbereich wissenschaftlicher Methodik übersteigt, überall aufzusuchen, wo sie begegnet und auf die ihr eigene Legitimation zu befragen«, (1) um dadurch »das hermeneutische Problem in seiner vollen Tragweite sichtbar zu machen« und »in ihm eine Erfahrung von Wahrheit anzuerkennen, die […] selber eine Weise des Philosophierens ist«. (2) Gadamers Ziel ist folglich keine Kunstlehre des Verstehens, keine Methodenlehre der Geisteswissenschaften, sondern vielmehr die Entfaltung eines Begriffs
(1)
Hans-Georg Gadamer: Wahrheit und Methode. Grundzüge einer philosophischen Hermeneutik. Gesammelte Werke. Band 1: Hermeneutik I. Tübingen 1990, 1. (2) Ebd., 3.
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Bildung und berlieferung (»Wahrheit und Methode«, 1960)
von Erkenntnis und Wahrheit, »der dem Ganzen unserer hermeneutischen Erfahrung entspricht«. (3) Gadamers Projekt, »das Universum des Verstehens besser zu verstehen, als unter dem Erkenntnisbegriff der modernen Wissenschaft möglich scheint«, (4) umfasst auch den Versuch einer Bestimmung dessen, was die Geisteswissenschaften »über ihr methodisches Selbstbewußtsein in Wahrheit sind und was sie mit dem Ganzen unserer Welterfahrung verbindet«. (5) Dabei zeigt Gadamer, dass die Geisteswissenschaften nicht – wie noch Dilthey vehement behauptet hatte – durch eine erkenntnistheoretische oder methodische Selbständigkeit ausgezeichnet sind. Nicht die eigene Methode unterscheidet Geistes- von Naturwissenschaften, sondern die ganz eigenständige Art von Erfahrung, die die geschichtliche Erkenntnis konstituiert, und die nicht durch die naturwissenschaftliche Induktionslogik aufgeklärt werden kann. Wichtig für das Verständnis der Geisteswissenschaften wird für Gadamer damit weniger der Rekurs auf eine Methodik geisteswissenschaftlicher Forschung, sondern vielmehr der Begriff der Bildung. Bildung, nach Gadamer »wohl der größte Gedanke des 18. Jahrhunderts«, bezeichnet nämlich »das Element, in dem die Geisteswissenschaften des 19. Jahrhunderts leben«, die sich ihrem eigenen Selbstverständnis nach als »die wahren Sachwalter des Humanismus« verstehen. (6) Bildung ist – so kann Gadamer in seiner begriffsgeschichtlichen Analyse zeigen – ein »echter geschichtlicher Begriff«, denn für das Verständnis der Geisteswissenschaften geht es »gerade um diesen geschichtlichen Charakter der ›Aufbewahrung‹«. Und wie Gadamer mit Hinweis auf Hegels Einsicht in die Grundbewegung des Geistes deutlich machen kann, lässt sich alle theoretische Bildung, auch das verstehende Eindringen in fremde Sprachen oder Vorstellungswelten, als »bloße Fortsetzung eines Bildungsvorganges« begreifen, »der viel früher einsetzt«: »Jedes einzelne Individuum, das sich aus seinem Naturwesen ins Geistige erhebt, findet in Sprache, Sitte, Einrichtungen seines Volkes eine vorgegebene Substanz, die es, wie im Sprechenlernen, zur seinigen zu machen hat. So ist das einzelne Individuum immer schon auf dem Wege der Bildung«. Das Wesen der Bildung wird insofern mit Hilfe einer Hegelschen (3) (4) (5) (6)
Ebd. Ebd., 4. Ebd., 3. Ebd., 14.
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Hans-Georg Gadamer
Denkfigur als ein Prozess sichtbar, der in der Heimkehr zu sich selbst besteht, die allerdings eine vorausgehende Entfremdung voraussetzt. Bildung als Voraussetzung geisteswissenschaftlicher Forschung ist nach Gadamer »eine Empfänglichkeit für das Andere des Kunstwerks oder der Vergangenheit«, die nicht durch methodische Anstrengung zu erreichen ist. Die Frage der Bildung ist somit nichts, was sich auf der Ebene des Verfahrens oder Verhaltens klären ließe, sondern hat etwas mit dem »gewordenen Sein« zu tun. In der Bildung, so kann Gadamer wiederum unter Rückgriff auf Hegel formulieren, »liegt ein allgemeiner Sinn für Maß und Abstand in bezug auf sich selbst, und insofern eine Erhebung über sich selbst zur Allgemeinheit«. Um Abstand halten zu können ist »Takt« nötig, wobei sich der in den Geisteswissenschaften wirksame Takt nicht darin erschöpft, »ein Gefühl und unbewußt zu sein, sondern […] eine Erkenntnisweise und eine Seinsweise zugleich [ist].« Mit diesem Begriff des Taktes schließt sich Gadamer an Hermann von Helmholtz’ berühmte Rede »Über das Verhältniss der Naturwissenschaften zur Gesammtheit der Wissenschaft« (1862) an, in der dieser die Ausübung der geisteswissenschaftlichen Induktion an das Vorhandensein einer Art Taktgefühl geknüpft hatte. (7) Wie Gadamer festhält, schließt das, was Helmholtz Takt genannt hatte, »Bildung ein und ist eine Funktion sowohl ästhetischer wie historischer Bildung«: »Man muß für Ästhetisches wie für Historisches Sinn haben oder den Sinn gebildet haben, wenn man sich auf seinen Takt in der geisteswissenschaftlichen Arbeit soll verlassen können.« Damit kann Gadamer seine These plausibel machen, wonach der moderne Wissenschaftsbegriff und der ihm zugeordnete Methodenbegriff nicht ausreichen, die Geisteswissenschaften zu begreifen: »Was die Geisteswissenschaften zu Wissenschaften macht, läßt sich eher aus der Tradition des Bildungsbegriffes verstehen als aus der Methodenidee der modernen Wissenschaft.« »Bildung« wird noch für den greisen Gadamer des Jahres 1997 nicht auf der Bühne des Lebens aus alltäglichen Kulturvollzügen »von unten« erarbeitet, sondern schiebt sich hinter dem Rücken der Subjekte qua Sprache aus der Vergangenheit ins Jetzt wie von hinten aus den Kulissen: »Umso mehr muß man sich auf ein Wort besinnen, das ich von meinem Lehrer Heidegger noch im Ohr habe, als er gesagt hat: ›Zukunft ist Herkunft.‹ […] Denn Kultur ist etwas, um das man nicht streitet, so daß man möglichst viel Anteil an ihm für sich haben will. […] Das Wort ›Bildung‹ wagt man ja kaum (7)
Vgl. ebd., 11.
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noch auszusprechen. Aber man sollte wenigstens das Ohr dafür schärfen, daß Bildung nicht ist, was irgend ein Mensch gemacht hat, sondern das wie die Formation der Berge ist, die hier in Jena wie in Heidelberg über die Häuser der Städte hinwegblicken. ›Es‹ ist gebildet. Es hat sich gebildet, und jeder der wirklich Bildung hat, weiß nichts davon.« (8) Die Normativität von Bildung und Humanismus wurzelt bei Gadamer letztlich in ihrer Ineinssetzung mit einer ontologisch aufgeladenen Tradition. Dies führt zu mindestens dreifacher Kritik: Gadamer unterliege einem »Vorurteil für das Recht der durch Tradition ausgewiesenen Vorurteile« (Jürgen Habermas), er unterlaufe hegelianisch eine anzunehmende Offenheit der Zukunft oder zumindest die Endlichkeit unserer Perspektive auf den Kulturprozess (Wolfhart Pannenberg) und er stelle mit der Denunziation der Methode nicht nur die gar nicht erst adäquat wahrgenommenen Naturwissenschaften, sondern auch die Wissenschaftlichkeit der Geisteswissenschaften in Frage (Eric Donald Hirsch, Gunter Scholtz). (9)
Bildung und berlieferung (1960) (10) An dem Begriff der Bildung wird am deutlichsten fühlbar, was für ein tiefgreifender geistiger Wandel es ist, der uns mit dem Jahrhundert Goethes noch immer wie gleichzeitig sein, dagegen selbst schon mit dem Zeitalter des Barock wie mit einer geschichtlichen Vorzeit rechnen läßt. Entscheidende Begriffe und Worte, mit denen wir zu arbeiten pflegen, empfingen damals ihre Prägung, und wer sich nicht von der Sprache treiben lassen will, sondern um ein begründetes geschichtliches Selbstverständnis bemüht ist, sieht sich von einer Frage der Wort- und Begriffsgeschichte in die andere genötigt. Nur Ansätze zu der großen Arbeitsaufgabe, die hier der Forschung gestellt ist, können (8)
Hans-Georg Gadamer: Bildende und sprachliche Kunst am Ende des XX. Jahrhunderts, in: Zukunft ist Herkunft. Hans-Georg Gadamer und Emil Schumacher – Ehrenbürger der Universität. Jena 1997, S. 55–63. (9) Wolfhart Pannenberg: Hermeneutik und Universalgeschichte, in: Seminar: Die Hermeneutik und die Wissenschaften. Hrsg. von Hans-Georg Gadamer u. Gottfried Boehm. Frankfurt a. M. 1978, 283–319, 314 f. – Gunter Scholtz: La philosophie hermeneutique de Gadamer et les sciences humaines (Gadamers philosophische Hermeneutik und die Geisteswissenschaften), in: Guy Deniau, Jean-Claude Gens (Hrsg.): L’heritage de Hans-Georg Gadamer. Paris 2003, 181–194. (10) Hans-Georg Gadamer: Wahrheit und Methode, a. a. O., 15–24.
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im Dienste der philosophischen Fragestellung, die uns bewegt, im Folgenden versucht werden. Begriffe wie ›die Kunst‹, ›die Geschichte‹, ›das Schöpferische‹, ›Weltanschauung‹, ›Erlebnis‹, ›Genie‹, ›Außenwelt‹, ›Innerlichkeit‹, ›Ausdruck‹, ›Stil‹, ›Symbol‹, die uns selbstverständlich sind, bergen in sich eine Fülle von geschichtlichem Aufschluß. 1 Wenden wir uns dem Begriff der Bildung zu, dessen Bedeutung für die Geisteswissenschaften wir hervorgehoben haben, so sind wir in einer glücklichen Lage. Hier läßt sich aus einer vorliegenden Untersuchung2 die Geschichte des Wortes gut überschauen: sein Ursprung in der mittelalterlichen Mystik, sein Weiterleben in der Mystik des Barock, seine religiös begründete Spiritualisierung durch Klopstocks (11) ›Messias‹, die das ganze Zeitalter ergreift, und schließlich Herders grundlegende Bestimmung als ›Emporbildung zur Humanität‹. Die Bildungsreligion des 19. Jahrhunderts hat die Tiefendimension dieses Wortes in sich aufbewahrt, und unser Begriff der Bildung ist von da bestimmt. Für den uns gewohnten Inhalt des Wortes ›Bildung‹ ist die erste wichtige Feststellung, daß der ältere Begriff einer ›natürlichen Bildung‹, der die äußere Erscheinung (die Bildung der Glieder, die wohlgebildete Gestalt) und überhaupt die von der Natur erzeugte Gestalt (z. B. ›Gebirgsbildung‹) meint, damals fast völlig von dem neuen Begriffe abgelöst worden ist. Bildung gehört jetzt aufs engste mit dem Begriff der Kultur zusammen und bezeichnet zunächst die eigentümlich menschliche Weise, seine natürlichen Anlagen und Vermögen auszubilden. Zwischen Kant und Hegel vollendet sich diese durch Herder bewirkte Prägung unseres Begriffs. Kant gebraucht das Wort ›Bildung‹ in solchem Zusammenhang noch nicht. Er spricht von der ›Kultur‹ des Vermögens (oder der ›Naturanlage‹), die als solche ein Akt der Freiheit des handelnden Subjektes ist. So nennt er unter den Pflichten gegen sich selbst auch die, seine Talente nicht rosten zu lassen, ohne dabei das Wort ›Bildung‹ zu gebrauchen 3 . Hegel dagegen redet schon von SichFür die politisch-soziale Sprache ist das inzwischen in dem von Otto Brunner, Werner Conze und Reinhart Kosellek herausgegebene Lexikon Geschichtliche Grundbegriffe, für die Philosophie in J. Ritters Historischem Wörterbuch der Philosophie geleistet worden. 2 Vgl. I. Schaarschmidt: Der Bedeutungswandel der Worte Bilden und Bildung. Diss. Königsberg 1931. 3 I. Kant: Metaphysik der Sitten. Metaphysische Anfangsgründe der Tugendlehre, § 19. 1
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Friedrich Gottlieb Klopstock (1724–1803), dt. Dichter.
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bilden und Bildung, wenn er den gleichen kantischen Gedanken der Pflichten gegen sich selbst aufnimmt 4 , und Wilhelm von Humboldt vollends empfindet mit dem feinen Ohr, das ihn auszeichnet, bereits einen Bedeutungsunterschied zwischen Kultur und Bildung: »wenn wir aber in unserer Sprache Bildung sagen, so meinen wir damit etwas zugleich Höheres und mehr Innerliches, nämlich die Sinnesart, die sich aus der Erkenntnis und dem Gefühle des gesamten geistigen und sittlichen Strebens harmonisch auf die Empfindung und den Charakter ergießt« 5 . Bildung meint hier mehr als Kultur, d. h. Ausbildung von Vermögen oder Talenten. Der Aufstieg des Wortes Bildung erweckt vielmehr die alte mystische Tradition, wonach der Mensch das Bild Gottes, nach dem er geschaffen ist, in seiner Seele trägt und in sich aufzubauen hat. Das lateinische Äquivalent für Bildung ist ›formatio‹ und dem entspricht in anderen Sprachen, z. B. im Englischen (bei Shaftesbury (12)), form und formation. Auch im Deutschen liegen die entsprechenden Ableitungen des Begriffs der forma, z. B. Formierung und Formation, mit dem Worte Bildung lange in Konkurrenz. Forma wird seit dem Aristotelismus der Renaissance von seiner technischen Bedeutung ganz gelöst und rein dynamisch naturhaft interpretiert. Gleichwohl erscheint der Sieg des Wortes ›Bildung‹ über ›Form‹ nicht zufällig. Denn in ›Bildung‹ steckt ›Bild‹. Der Formbegriff bleibt hinter der geheimnisvollen Doppelseitigkeit zurück, mit der ›Bild‹ Nachbild und Vorbild zugleich umfaßt. Es entspricht nun einer häufigen Übertragung des Werdens auf das Sein, daß ›Bildung‹ (wie auch das heutige ›Formation‹) mehr das Resultat dieses Werdevorganges als den Vorgang selbst bezeichnet. Die Übertragung ist hier besonders einsichtig, weil ja das Resultat der Bildung nicht in der Weise der technischen Abzweckung hergestellt wird, sondern dem inneren Vorgang der Formierung und Bildung entwächst und deshalb in ständiger Fort- und Weiterbildung bleibt. Nicht zufällig gleicht das Wort Bildung darin dem griechischen physis. Bildung kennt, so wenig wie die Natur, außerhalb ihrer gelegene Ziele. (Man wird gegen das Wort und die Sache ›Bildungsziel‹ das Mißtrauen bewahren, das einer solchen sekundären Bildung gebührt. Bildung kann G. F. W. Hegel: Werke 1832 ff. Bd. XVIII: Philosophische Propädeutik. Erster Cursus, § 41 ff. 5 Wilhelm v. Humboldt: Gesammelte Schriften. Akademie-Ausgabe. Bd. VII, 1 S. 30. 4
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Anthony Ashley Cooper, 3. Earl of Shaftesbury (1671–1713): englischer Philosoph.
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nicht eigentlich Ziel sein, sie kann nicht als solche gewollt sein, es sei denn in der reflektierten Thematik des Erziehers.) Eben darin übersteigt der Begriff der Bildung den der bloßen Kultivierung vorgegebener Anlagen, aus dem er sich ableitet. Kultivierung einer Anlage ist Entwicklung von etwas Gegebenem, so daß die Übung und Pflege derselben ein bloßes Mittel zum Zweck ist. So ist der Unterrichtsstoff eines sprachlichen Lehrbuchs bloßes Mittel und nicht selbst Zweck. Seine Aneignung dient allein dem sprachlichen Können. In der Bildung dagegen wird das, woran und wodurch einer gebildet wird, zwar auch ganz zu eigen gemacht. Insofern geht alles, was sie aufnimmt, in ihr auf. Aber in der Bildung ist das Aufgenommene nicht wie ein Mittel, das seine Funktion verloren hat. Vielmehr ist in der erworbenen Bildung nichts verschwunden, sondern alles aufbewahrt. Bildung ist ein echter geschichtlicher Begriff, und gerade um diesen geschichtlichen Charakter der ›Aufbewahrung‹ geht es für das Verständnis der Geisteswissenschaften. So führt einen schon der erste Blick auf die Wortgeschichte von ›Bildung‹ in den Umkreis geschichtlicher Begriffe, wie sie Hegel zuerst im Bereich der ›Ersten Philosophie‹ heimisch gemacht hat. In der Tat hat Hegel, was Bildung ist, am schärfsten herausgearbeitet. Ihm folgen wir zunächst 6 . Er hat auch gesehen, daß die Philosophie »die Bedingung ihrer Existenz in der Bildung hat«, und wir fügen hinzu: mit ihr die Geisteswissenschaften. Denn das Sein des Geistes ist mit der Idee der Bildung wesenhaft verknüpft. Der Mensch ist durch den Bruch mit dem Unmittelbaren und Natürlichen gekennzeichnet, der durch die geistige, vernünftige Seite seines Wesens ihm zugemutet ist. »Nach dieser Seite ist er nicht von Natur, was er sein soll« – und deshalb bedarf er der Bildung. Was Hegel das formelle Wesen der Bildung nennt, beruht auf ihrer Allgemeinheit. Von dem Begriff einer Erhebung zur Allgemeinheit aus vermag Hegel das, was seine Zeit unter Bildung verstand, einheitlich zu begreifen. Erhebung zur Allgemeinheit ist nicht etwa auf die theoretische Bildung eingeengt und meint überhaupt nicht nur ein theoretisches Verhalten im Gegensatz zu einem praktischen, sondern deckt die Wesensbestimmung der menschlichen Vernünftigkeit im Ganzen. Es ist das allgemeiHegel: Philosophische Propädeutik, § 41–45. Vgl. inzwischen die Textsammlung von J.-E. Pleines: Bildungstheorien. Probleme und Positionen. Freiburg 1978. Dort auch Hinweise auf die weiterführenden Arbeiten von Buck, Pleines, Schaaf.
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ne Wesen der menschlichen Bildung, sich zu einem allgemeinen geistigen Wesen zu machen. Wer sich der Partikularität (13) überläßt, ist ungebildet, z. B. wer seinem blinden Zorn ohne Maß und Verhältnis nachgibt. Hegel zeigt, daß es einem solchen Menschen im Grunde an Abstraktionskraft fehlt: er kann nicht von sich selbst absehen und auf ein Allgemeines hinsehen, von dem her sich sein Besonderes nach Maß und Verhältnis bestimmte. Bildung als Erhebung zur Allgemeinheit ist also eine menschliche Aufgabe. Sie verlangt Aufopferung der Besonderheit für das Allgemeine. Aufopferung der Besonderheit heißt aber negativ: Hemmung der Begierde und damit Freiheit vom Gegenstand derselben und Freiheit für seine Gegenständlichkeit. Hier ergänzen die Deduktionen der phänomenologischen Dialektik das in der ›Propädeutik‹ Ausgeführte. In der ›Phänomenologie des Geistes‹ entwickelt Hegel die Genese eines wirklich ›an und für sich‹ freien Selbstbewußtseins und zeigt, daß es das Wesen der Arbeit ist, das Ding zu bilden, statt es zu verzehren 7 . Das arbeitende Bewußtsein findet in dem selbständigen Bestehen, das die Arbeit dem Ding gibt, sich selber als ein selbständiges Bewußtsein wieder. Die Arbeit ist gehemmte Begierde. Indem es den Gegenstand formiert, also selbstlos tätig ist und ein Allgemeines besorgt, erhebt sich das arbeitende Bewußtsein über die Unmittelbarkeit seines Daseins zur Allgemeinheit – oder, wie Hegel sich ausdrückt: indem es das Ding bildet, bildet es sich selbst. Was er meint, ist dies: indem der Mensch ein ›Können‹, eine Geschicklichkeit erwirbt, gewinnt er darin ein eigenes Selbstgefühl. Was ihm in der Selbstlosigkeit des Dienens versagt schien, sofern er sich ganz einem fremden Sinne unterwarf, wird ihm zuteil, sofern er arbeitendes Bewußtsein ist. Als solches findet er in sich einen eigenen Sinn, und es ist ganz richtig, von der Arbeit zu sagen: sie bildet. Das Selbstgefühl des arbeitenden Bewußtseins enthält alle Momente dessen, was praktische Bildung ausmacht: Abstandnahme vom Unmittelbaren der Begierde, des persönlichen Bedürfnisses und privaten Interesses und die Zumutung eines Allgemeinen. In der ›Propädeutik‹ weist Hegel dies Wesen der praktischen BilHegel: Phänomenologie des Geistes (Phil. Bibl. 114), ed. Hoffmeister, 148 ff. Vgl. u. a. meine Studie Hegels Dialektik des Selbstbewußtseins (Hegels D2, 49–64; Bd. 3 der Ges. Werke) und das Buch von L. Siep: Anerkennung als Prinzip der praktischen Philosophie: Untersuchungen zu Hegels Jenaer Philosophie des Geistes. Freiburg 1979.
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Vereinzelung.
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dung, sich ein Allgemeines zuzumuten, an einer Reihe von Beispielen nach. Dergleichen liegt in der Mäßigkeit vor, die das Unmaß der Befriedigung der Bedürfnisse und des Gebrauchs der Kräfte an einem Allgemeinen – der Rücksicht auf die Gesundheit – begrenzt. Es liegt in der Besonnenheit vor, die gegenüber dem einzelnen Zustande oder Geschäft für die Betrachtung von anderem, was auch noch notwendig sein kann, offen bleibt. Aber auch jede Berufswahl hat etwas davon. Denn jeder Beruf hat immer etwas von Schicksal, von äußerlicher Notwendigkeit und mutet zu, sich Aufgaben hinzugeben, die man sich nicht als privaten Zweck aussuchen würde. Praktische Bildung beweist sich dann darin, daß man den Beruf ganz, nach allen seinen Seiten ausfüllt. Das schließt aber ein, daß man das Fremde überwindet, das es für die Besonderheit darstellt, die man ist, und es vollkommen zu dem seinigen macht. Die Hingabe an das Allgemeine des Berufs ist also zugleich »sich zu beschränken wissen, das heißt seinen Beruf ganz zu seiner Sache machen. Dann ist er keine Schranke für ihn.« Schon an dieser Beschreibung der praktischen Bildung durch Hegel erkennt man die Grundbestimmung des geschichtlichen Geistes: sich mit sich selbst zu versöhnen, sich selbst zu erkennen im Anderssein. Sie wird vollends deutlich an der Idee der theoretischen Bildung. Denn sich theoretisch Verhalten ist als solches schon Entfremdung, nämlich die Zumutung, »sich mit einem Nicht-Unmittelbaren, einem Fremdartigen, mit etwas der Erinnerung, dem Gedächtnisse und dem Denken Angehörigen zu beschäftigen«. Theoretische Bildung führt so über das, was der Mensch unmittelbar weiß und erfährt, hinaus. Sie besteht darin, auch anderes gelten lassen zu lernen und allgemeine Gesichtspunkte zu finden, um die Sache, »das Objektive in seiner Freiheit« und ohne eigennütziges Interesse zu erfassen 8 . Eben deshalb führt aller Erwerb von Bildung über die Ausbildung theoretischer Interessen, und Hegel begründet die besondere Eignung der Welt und Sprache der Alten damit, daß diese Welt fern und fremd genug ist, um die notwendige Scheidung, die uns von uns trennt, zu bewirken. – »aber sie enthält zugleich alle Ausgangspunkte und Fäden der Rückkehr zu sich selbst, der Befreundung mit ihr und des Wiederfindens seiner selbst, aber seiner nach dem wahrhaften allgemeinen Wesen des Geistes« 9 . Man wird in diesen Worten des Gymnasialdirektors Hegel das klas8 9
Hegel XVIII, S. 62. Hegel: Nürnberger Schriften, ed. J. Hoffmeister, 312 (Rede von 1809).
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sizistische Vorurteil erkennen, daß gerade an den Alten das allgemeine Wesen des Geistes besonders leicht zu finden sei. Aber der Grundgedanke bleibt richtig. Im Fremden das Eigene zu erkennen, in ihm heimisch zu werden, ist die Grundbewegung des Geistes, dessen Sein nur Rückkehr zu sich selbst aus dem Anderssein ist. Insofern ist alle theoretische Bildung, auch die Erarbeitung fremder Sprachen und Vorstellungswelten, die bloße Fortsetzung eines Bildungsvorganges, der viel früher einsetzt. Jedes einzelne Individuum, das sich aus seinem Naturwesen ins Geistige erhebt, findet in Sprache, Sitte, Einrichtungen seines Volkes eine vorgegebene Substanz, die es, wie im Sprechenlernen, zur seinigen zu machen hat. So ist das einzelne Individuum immer schon auf dem Wege der Bildung und immer schon dabei, seine Natürlichkeit aufzuheben, sofern die Welt, in die es hineinwächst, eine in Sprache und Sitte menschlich gebildete ist. Hegel betont: In dieser seiner Welt hat sich ein Volk Dasein gegeben. Es hat aus sich herausgearbeitet und so aus sich herausgesetzt, was es an sich ist. Damit ist klar, daß nicht die Entfremdung als solche, sondern die Heimkehr zu sich, die freilich Entfremdung voraussetzt, das Wesen der Bildung ausmacht. Bildung ist dabei nicht nur als der Vorgang zu verstehen, der die geschichtliche Erhebung des Geistes ins Allgemeine vollzieht, sondern sie ist zugleich auch das Element, innerhalb dessen sich der Gebildete bewegt. Was ist das für ein Element? Hier setzen die Fragen an, die wir an Helmholtz (14) zu stellen hatten. Hegels Antwort wird uns nicht befriedigen können. Denn für Hegel vollendet sich die Bildung als die Bewegung von Entfremdung und Aneignung in einer vollständigen Bemächtigung der Substanz, in der Auflösung alles gegenständlichen Wesens, die im absoluten Wissen der Philosophie erreicht wird. Aber daß Bildung wie ein Element des Geistes ist, das zu erkennen ist nicht an Hegels Philosophie des absoluten Geistes gebunden, so wenig wie die Einsicht in die Geschichtlichkeit des Bewußtseins an seine Philosophie der Weltgeschichte gebunden ist. Es gilt gerade, sich klarzumachen, daß auch für die historischen Geisteswissenschaften, die sich von Hegel absetzen, die Idee der vollendeten Bildung ein notwendiges Ideal bleibt. Denn Bildung ist das Element, in dem sie sich bewegen. Auch was der ältere Sprachgebrauch im Bereich der körperlichen (14)
Hermann Ludwig Ferdinand von Helmholtz (1821–1894), dt. Physiker, Erkenntnis- und Wissenschaftstheoretiker.
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Erscheinung eine ›vollkommene Bildung‹ nennt, ist ja nicht so sehr die letzte Phase einer Entwicklung, als vielmehr der Zustand der Reife, der alle Entwicklung hinter sich gelassen hat und die harmonische Bewegung aller Glieder ermöglicht. Genau in diesem Sinne setzen die Geisteswissenschaften voraus, daß das wissenschaftliche Bewußtsein ein schon gebildetes ist und eben deshalb den rechten unerlernbaren und unnachahmlichen Takt besitzt, der die Urteilsbildung und die Erkenntnisweise der Geisteswissenschaften wie ein Element trägt. Was Helmholtz an der Arbeitsweise der Geisteswissenschaften beschreibt, insbesondere was er künstlerisches Gefühl und Takt nennt, setzt in der Tat dies Element der Bildung voraus, innerhalb dessen dem Geist eine besondere freie Beweglichkeit verstattet ist. So redet Helmholtz etwa von der »Bereitwilligkeit, mit der die verschiedensten Erfahrungen dem Gedächtnisse des Historikers oder Philologen zuströmen müssen« 10 . Das mag sehr äußerlich beschrieben sein, von jenem Ideal der »eisernen Arbeit des selbstbewußten Schließens« aus, unter dem der Naturforscher sich selber denkt. Der Begriff des Gedächtnisses, wie er ihn verwendet, reicht nicht aus, um zu erklären, was hier am Werke ist. In Wahrheit ist dieser Takt oder dieses Gefühl nicht richtig verstanden, wenn man darin eine hinzutretende seelische Fähigkeit denkt, die sich eines starken Gedächtnisses bedient und so zu Erkenntnissen kommt, die nicht streng einsehbar sind. Was solche Funktion des Taktes möglich macht, was zu seinem Erwerb und Besitz führt, ist nicht bloß eine psychische Ausstattung, die geisteswissenschaftlicher Erkenntnis günstig ist. Man faßt übrigens das Wesen des Gedächtnisses selbst nicht richtig, wenn man darin nichts als eine allgemeine Anlage oder Fähigkeit sieht. Behalten und Vergessen und Wiedererinnern gehören der geschichtlichen Verfassung des Menschen an und bilden selbst ein Stück seiner Geschichte und seiner Bildung. Wer sein Gedächtnis wie eine bloße Fähigkeit übt – und alle Technik des Gedächtnisses ist solche Übung – der hat es noch nicht als das, was sein Eigenstes ist. Das Gedächtnis muß gebildet werden. Denn Gedächtnis ist nicht Gedächtnis überhaupt und für alles. Man hat für manches ein Gedächtnis, für anderes nicht, und man will etwas im Gedächtnis bewahren, wie man anderes aus ihm verbannt. Es wäre Zeit, das Phänomen des Gedächtnisses aus seiner verHelmholtz: Über das Verhältnis der Naturwissenschaften zur Gesamtheit der Wissenschaften, in: Vorträge und Reden. 4. Aufl. I. Band, 167 ff., hier: 178.
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mögenspsychologischen Nivellierung zu befreien und es als einen Wesenszug des endlich-geschichtlichen Seins des Menschen zu erkennen. Dem Verhältnis von Behalten und Sich-Erinnern gehört in einer lange nicht genug beachteten Weise das Vergessen zu, das nicht nur ein Ausfall und ein Mangel, sondern, wie vor allem F. Nietzsche betont hat, eine Lebensbedingung des Geistes ist 11 . Nur durch das Vergessen erhält der Geist die Möglichkeit der totalen Erneuerung, die Fähigkeit, alles mit frischen Augen zu sehen, so daß das Altvertraute mit dem Neugesehenen zu vielschichtiger Einheit verschmilzt. ›Behalten‹ ist eben zweideutig. Es enthält als Gedächtnis (mne¯me¯) die Beziehung zur Erinnerung (anamne¯sis) 12 . Das gleiche gilt aber auch von dem Begriff ›Takt‹, den Helmholtz gebraucht. Wir verstehen unter Takt eine bestimmte Empfindlichkeit und Empfindungsfähigkeit für Situationen und das Verhalten in ihnen, für die wir kein Wissen aus allgemeinen Prinzipien besitzen. Daher gehört Unausdrücklichkeit und Unausdrückbarkeit dem Takt wesentlich zu. Man kann etwas taktvoll sagen. Aber das wird immer heißen, daß man etwas taktvoll übergeht und ungesagt läßt, und taktlos ist, das auszusprechen, was man nur übergehen kann. Übergehen heißt aber nicht: von etwas wegsehen, sondern es so im Auge haben, daß man nicht daran stößt, sondern daran vorbei kommt. Daher verhilft Takt dazu, Abstand zu halten. Er vermeidet das Anstößige, das Zunahetreten und die Verletzung der Intimsphäre der Person. Nun ist der Takt, von dem Helmholtz spricht, nicht mit diesem sittlichen und Umgangsphänomen einfach identisch. Aber es gibt hier ein wesenhaft Gemeinsames. Denn auch der in den Geisteswissenschaften wirksame Takt erschöpft sich nicht darin, ein Gefühl und unbewußt zu sein, sondern ist eine Erkenntnisweise und eine Seinsweise zugleich. Das läßt sich aus der oben durchgeführten Analyse des Begriffs der 11 F. Nietzsche: Unzeitgemäße Betrachtungen. Zweites Stück: Vom Nutzen und Nachteil der Historie für das Leben, 1. 12 Die Geschichte des Gedächtnisses ist nicht die Geschichte der Übung desselben. Die Mnemotechnik bestimmt zwar einen Teil dieser Geschichte, aber die pragmatische Perspektive, in der das Phänomen der memoria dort erscheint, bedeutet eine Verkürzung desselben. Im Zentrum der Geschichte dieses Phänomens müßte vielmehr Augustinus stehen, der die pythagoreisch-platonische Tradition, die er aufnimmt, ganz und gar verwandelt. Wir kommen noch später auf die Funktion der mne¯me¯ in der Problematik der Induktion zurück. (Vgl. in Umanesimo e Simbolismo 1985 (ed. Castelli) die Arbeiten von P. Rossi: La costruzione delli imagini nei trattati di memoria artificiale del Rinascimento, und C. Vasoli: Umanesimo e simbologia nei primi scritti lulliani e mnemotecnici del Bruno.)
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Bildung genauer sehen. Was Helmholtz Takt nennt, schließt Bildung ein und ist eine Funktion sowohl ästhetischer wie historischer Bildung. Man muß für Ästhetisches wie für Historisches Sinn haben oder den Sinn gebildet haben, wenn man sich auf seinen Takt in der geisteswissenschaftlichen Arbeit soll verlassen können. Weil solcher Sinn nicht einfach eine natürliche Ausstattung ist, reden wir mit Recht von ästhetischem oder historischem Bewußtsein und nicht eigentlich von Sinn. Wohl aber verhält sich solches Bewußtsein mit der Unmittelbarkeit der Sinne, d. h. es weiß im einzelnen Falle sicher zu scheiden und zu werten, auch ohne seine Gründe angeben zu können. So weiß, wer ästhetischen Sinn besitzt, Schönes und Häßliches, gute oder schlechte Qualität auseinanderzuhalten, und wer historischen Sinn besitzt, weiß, was für eine Zeit möglich ist und was nicht, und hat Sinn für die Andersartigkeit der Vergangenheit gegenüber der Gegenwart. Wenn all das Bildung voraussetzt, so heißt das: es ist nicht eine Frage des Verfahrens oder Verhaltens, sondern des gewordenen Seins. Genauer betrachten, gründlicher eine Überlieferung Studieren tut es nicht allein, wenn nicht eine Empfänglichkeit für das Andere des Kunstwerks oder der Vergangenheit vorbereitet ist. Eben das hatten wir, Hegel folgend, als das allgemeine Kennzeichen der Bildung hervorgehoben, sich derart für Anderes, für andere, allgemeinere Gesichtspunkte offenzuhalten. In ihr liegt ein allgemeiner Sinn für Maß und Abstand in bezug auf sich selbst, und insofern eine Erhebung über sich selbst zur Allgemeinheit. Sich selbst und seine privaten Zwecke mit Abstand ansehen, heißt ja: sie ansehen, wie die anderen sie sehen. Diese Allgemeinheit ist gewiß nicht eine Allgemeinheit des Begriffes oder des Verstandes. Es wird nicht aus Allgemeinem ein Besonderes bestimmt, es wird nichts zwingend bewiesen. Die allgemeinen Gesichtspunkte, für die sich der Gebildete offenhält, sind ihm nicht ein fester Maßstab, der gilt, sondern sind ihm nur als die Gesichtpunkte möglicher Anderer gegenwärtig. Insofern hat das gebildete Bewußtsein in der Tat mehr den Charakter eines Sinnes. Denn ein jeder Sinn, z. B. der Gesichtssinn, ist ja insofern schon allgemein, als er seine Sphäre umfaßt und sich für ein Feld offenhält und innerhalb des ihm so Geöffneten die Unterschiede erfaßt. Das gebildete Bewußtsein übertrifft nur jeden der natürlichen Sinne, als diese je auf eine bestimmte Sphäre eingeschränkt sind. Es selbst betätigt sich in allen Richtungen. Es ist ein allgemeiner Sinn. Ein allgemeiner und gemeinschaftlicher Sinn – das ist in der Tat eine Formulierung für das Wesen der Bildung, die einen weiten ge180 https://doi.org/10.5771/9783495861011 .
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schichtlichen Zusammenhang anklingen läßt. Die Besinnung auf den Begriff der Bildung, wie er den Überlegungen Helmholtzens sachlich zugrunde liegt, führt uns weit in die Geschichte dieses Begriffes zurück. Wir müssen diesem Zusammenhang ein paar Schritte folgen, wenn wir das Problem, das die Geisteswissenschaften für die Philosophie darstellen, aus der künstlichen Enge befreien wollen, in der die Methodenlehre des 19. Jahrhunderts befangen war. Der moderne Wissenschaftsbegriff und der ihm zugeordnete Methodenbegriff können nicht ausreichen. Was die Geisteswissenschaften zu Wissenschaften macht, läßt sich eher aus der Tradition des Bildungsbegriffes verstehen als aus der Methodenidee der modernen Wissenschaft. Es ist die humanistische Tradition, auf die wir zurückverwiesen werden. Sie gewinnt im Widerstand gegen die Ansprüche der modernen Wissenschaft eine neue Bedeutung. Es wäre lohnend, dem einmal gesondert nachzugehen, wie sich seit den Tagen des Humanismus die Kritik an der Wissenschaft der ›Schule‹ Gehör verschafft und wie sich diese Kritik mit den Wandlungen ihres Gegners mitwandelt. Ursprünglich waren es antike Motive, die dabei wiederauflebten. Der Enthusiasmus, mit dem die Humanisten die griechische Sprache und den Weg der eruditio (15) proklamierten, bedeutete mehr als eine antiquarische Passion. Die Wiedererweckung der klassischen Sprachen brachte zugleich eine neue Schätzung der Rhetorik. Sie hatte ihre Front gegen die ›Schule‹, d. h. gegen die scholastische Wissenschaft, und diente einem Ideal menschlicher Weisheit, das in der ›Schule‹ nicht erreicht wurde – ein Gegensatz, der in Wahrheit schon am Anfang der Philosophie steht. Platos Kritik der Sophistik, mehr noch seine eigentümlich ambivalente Haltung zu Isokrates, (16) deutet das philosophische Problem an, das hier liegt. Dem neuen Methodenbewußtsein der Naturwissenschaft des 17. Jahrhunderts gegenüber mußte dies alte Problem an kritischer Schärfe noch gewinnen. Angesichts des Ausschließlichkeitsanspruchs dieser neuen Wissenschaft stellte sich die Frage mit verstärkter Dringlichkeit, ob nicht im humanistischen Bildungsbegriff eine eigene Quelle von Wahrheit gelegen sei. In der Tat werden wir sehen, daß es das Fortleben des humanistischen Bildungsgedankens ist, aus dem die Geisteswissenschaften des (15)
Lat. für ›Unterricht, Ausbildung, Bildung‹. Isokrates (436–338 v. Chr.) war ein griech. Rhetoriker und Schriftsteller, Schüler versch. Sophisten.
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19. Jahrhunderts ihr eigentliches Leben ziehen, ohne es sich einzugestehen. Dabei ist es im Grunde eine Selbstverständlichkeit, daß nicht die Mathematik, sondern die humanistischen Studien hier bestimmend sind. Denn was könnte die neue Methodenlehre des 17. Jahrhunderts den Geisteswissenschaften schon bedeuten? Man braucht nur die betreffenden Kapitel der ›Logique de Port-Royal‹ (17) zu lesen, die die Vernunftregeln in der Anwendung auf historische Wahrheiten betreffen, um die Dürftigkeit dessen zu erkennen, was von dieser Idee der Methode aus in den Geisteswissenschaften zu leisten ist 13 . Es ist doch wahrhaft eine Trivialität, die da herauskommt, wenn es etwa heißt, man müsse, um ein Ereignis in seiner Wahrheit zu beurteilen, die Umstände (circonstances) berücksichtigen, die es begleiten. – Die Jansenisten (18) wollten mit dieser Beweisführung eine methodische Anleitung dafür geben, inwiefern die Wunder Glaubwürdigkeit besitzen. Sie suchten gegenüber einem unkontrollierten Wunderglauben den Geist der neuen Methode auszubieten und meinten, auf diese Weise die wahren Wunder biblischen Überlieferung und der kirchlichen Tradition zu legitimieren. Die neue Wissenschaft im Dienst der alten Kirche – daß dieses Verhältnis keine Dauer versprach, ist nur zu deutlich, und man kann sich vorstellen, was geschehen mußte, wenn die christlichen Voraussetzungen selber in Frage gestellt wurden. Das methodische Ideal der Naturwissenschaft mußte, wenn man es auf die Glaubwürdigkeit der historischen Zeugnisse der biblischen Überlieferung anwendete, zu ganz anderen, für das Christentum katastrophalen Ergebnissen führen. Der Weg von der Wunderkritik im Stile der Jansenisten zur historischen Bibelkritik ist nicht allzu weit. Spinoza ist dafür ein gutes Beispiel. Wir werden an späterer Stelle zeigen, daß eine konsequente Anwendung dieser Methodik als einziger Norm geisteswissenschaftlicher Wahrheit überhaupt ihrer Selbstaufhebung gleichkäme. 13
Logique de Port-Royal, 4e partie, chap. 13 ff.
(17) Die Schule von Port-Royal war ein Mittelpunkt der theologischen und philosophischen Kultur im Frankreich des 17. Jahrhunderts. Die von A. Arnauld und P. Nicole verfasste Logique de Port-Royal (1662) verknüpfte Aristotelische Schullogik mit Cartesischer Methodenlehre. (18) Auf Augustinus zurückgreifende, romfeindliche, vom niederländischen Theologen Cornelius Jansenius (Jansen) (1585–1638) begründete katholisch-theologische Richtung des 17. und 18. Jahrhunderts, vor allem in Frankreich. Ihr Zentrum war das Kloster Port-Royal bei Versailles.
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Jrg Ruhloff
Viele »Theorien und Modelle« einer allgemeinen Pädagogik bzw. Didaktik lassen traditionell einen philosophischen Anspruch erkennen. Neben der im Anschluss an Wilhelm Dilthey auftretenden geisteswissenschaftlichen Pädagogik ist in diesem Zusammenhang vor allem auf das pädagogische Erbe des Neukantianismus hinzuweisen. Jörg Ruhloff (geb. 1940), Ehrendoktor der Berliner Humboldt-Universität, vertritt in Verbundenheit mit einer »transzendental-skeptischen« Position (Wolfgang Fischer) den Ansatz einer »Bildung im problematisierenden (d. h. nicht dogmatischen) Vernunftgebrauch«. Er war von 1979–2006 Professor für Systematische und Historische Pädagogik an der Bergischen Universität Wuppertal, ist (mit Käte Meyer-Drawe, Roland Reichenbach und anderen) Mitglied der »Kommission Bildungs- und Erziehungsphilosophie« der »Deutschen Gesellschaft für Erziehungswissenschaft« und einer der Initiatoren des »Frankfurter Einspruchs«: »Das Bildungswesen ist kein Wirtschaftsbetrieb«. Im nachstehenden, für einen Workshop am Kulturwissenschaftlichen Institut Essen verfassten Beitrag entwickelt Ruhloff die besondere Bedeutung des Renaissancehumanismus, eines seiner zentralen Forschungsgebiete, (1) und der gegenüber der religiösen Tradition in dieser Epoche neu etablierten Wertschätzung des irdischen (auch leiblichen) Menschen für den Bildungsdiskurs. Der Mensch ist, so verfolgt Ruhloff diese Vorstellung weiter, vor allem ein Bildungswesen und als solches aus eigener Vernunft Schöpfer seiner selbst, d. h. weder einfach hervorgebracht von der Natur noch das bloße Geschöpf einer höheren Instanz. Dies gilt, mag auch eine solche Feier der menschlichen Schöpferkraft unsere Möglichkeiten zum Unmensch(1)
Vgl. Erhard Wiersing: Zur Wiederentdeckung des Renaissance-Humanismus in der Geschichte der Erziehung, in: Pädagogische Rundschau 45 (1991), 215–226. – Vgl. auch die Beiträge in: Zeitschrift für Didaktik der Philosophie und Ethik, Themenheft »Person und Bildung« 31 (2009).
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lichen unterschätzen. Weit entfernt davon, nur ein »Segment geschichtlichen Wissens« zu sein oder gar der von Michel Foucault inspirierten Rede von einer »humanistischen Illusion« (Alfred Schäfer) zum Opfer zu fallen, ist an diesen Humanismus und seinen zentralen Gedanken humaner Würde vielmehr so anzuknüpfen, »dass im Bildungsbegriff ein Verständnis vom Menschen als maßgeblich und nicht bloß als ein zu vermessendes Wesen festgehalten wird«. Ein Blick auf gegenwärtige, von der »Logik der Ökonomie« geprägte Entwicklungen zeigt die außerordentliche Aktualität dieser substanziellen Einsicht Allgemeiner Pädagogik, die nicht dem Vergessen anheimfallen darf. Das Ich muss immer auch als Subjekt und verantwortlicher Akteur, als »bedingend« verstanden werden, so sehr es seinerseits bedingt sein mag, es ist, mit Alfred Petzelt, »Prinzip und Tatsache«. »Eine solche Sicht«, so bemerkt Ruhloff, »ist nicht bereits dadurch widerlegt, dass sie in der Konsequenz mit unlösbaren Problemen in Berührung bringt, die eine kritisch-skeptische Haltung nahelegen«. In der Ermöglichung gelingender Selbst- und Weltbeziehung als eines eigentlich Menschlichen liegt ein philosophischer und zugleich normativer Anspruch. Es ist dies eine offen zu diskutierende Normativität. Dem steht aber, wie Ruhloff auch anderer Stelle kritisiert, (2) im »PISA«-Zeitalter eine implizite Normativität gegenüber, eine verdeckte Präskriptivität von empirischen Lernzuwachsmessungen als Legitimationsdruck an den Unterricht sozusagen im Sinne eines »heimlichen Lehrplans« der OECD, der eine Pädagogik der Ermöglichung und der Persönlichkeitsentwicklung durch den Vorrang einer Steuerung im Sinne sozio(2)
Jörg Ruhloff: »Einmaligkeit« oder Kritik einer wissenschaftspolitischen Machterschleichung, in: Pädagogische Korrespondenz 37 (2007), 5–17. – Zwar gibt es eine gewisse Tendenz zu einer »Unmöglichkeitsrede« im Anschluss an Adorno (auch dies ein philosophisches Erbe der Pädagogik), die zugleich im Anschluss an Heinz-Joachim Heydorn mit sehr besonderen Erwartungen an das, was Bildung heißen können soll, einhergeht (Vgl. Carsten Bünger, Peter Euler, Andreas Gruschka, Ludwig Pongratz (Hrsg.): Heydorn lesen! Herausforderungen kritischer Bildungstheorie. Paderborn 2009). Plausibel erscheint es, hierin ein antidogmatisches Korrektiv zu sehen. Nicht plausibel erscheint es, eine »belastende« »zugleich »erhabene, kritische, ambitionierte und in den Zielformeln quasi-religiöse Rede« über die Bildung ausgerechnet zugunsten solcher (von mancher Seite womöglich sehr handfest interpretierter) Interessen zu kritisieren, welche Käte Meyer-Drawe als Formulierung in eben dieser Kritik gefunden hat, nämlich »uns als Individuen (…) erwartbar und berechenbar zu machen«. Vgl. Heinz-Elmar Tenorth: Bildungstheorie angesichts von Basiskompetenzen, in: Zeitschrift für pädagogische Historiographie 14 (2008), 26–31. Angesichts solcher Fremddynamik und Praxisferne formuliert die Erwartung, »Bildungsforschung« werde »zu einem Instrument, sich über die Wirklichkeit des Bildungsprozesses und seine Möglichkeiten präzise zu informieren«, in keiner Weise eine Selbstverständlichkeit, sondern bestenfalls eine nachhaltige Aufgabe (Tenorth: »Bildung«, in ders. (Hrsg.): Lexikon Pädagogik. Weinheim 2007, 92–95).
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ökonomischer Funktionstüchtigkeit und neoliberalen Managementgebotes ersetzt. Eine »Erziehungswissenschaft« hülfe dann, so ließe sich argwöhnen, nur noch mit, Menschen marktfähig und -förmig zu machen. Gipfelpunkt ist dabei die Behauptung, eine empirische Unterrichtsforschung könnte Bildung in Ankreuztest und Messung reproduzieren und auf diese Weise einen zeitgemäßen Bildungsbegriff neu definieren, statt eine kognitive, soziale, emotionale Persönlichkeitswerdung und Urteilsfähigkeit auf ganzer Breite und in einem grundsätzlichen Sinne – etwa in Humboldts Sinn – zu fördern. Alle im Bildungssystem Tätigen – längst selbst auch, wie es im universitären Gestus ganz unverhohlen heißt, »Objekte der Forschung« – täten gut daran, die akademischen Projektionen der empirischen Unterrichtsforschung sehr nachdrücklich auf ihre Relevanz für ihre Praxis und ihren Wirklichkeitsbezug zu befragen. Die Bestimmungen und Normen, an denen eine solche Pädagogik sich auszurichten hat, lassen sich nun zwar nicht zeitlos-invariant als letztgültige Prinzipien festlegen. In diesem Sinne ist das Normproblem aller Bildung und Pädagogik so unlösbar wie der normative Anspruch zugleich unaufgebbar. Dies bedeutet jedoch mitnichten, »die Idee einer transzendentalen Analyse und Kritik von Dogmatismen, von ›vermeinte(m) Grundlagenwissen‹ … preiszugeben«. (3) So sehr die Ansprüche der Bildung das Ergebnis kultureller Arbeit aus jeweiligen geschichtlichen Kontexten heraus sind, so sehr »stehen sie zugleich unter Bedingungen der Beurteilung ihrer Geltung und damit der kritischen Erwägung ihrer Möglichkeit und Rechtmäßigkeit. Diese Betrachtungsart weist in eine grundsätzlich andere Richtung als in die auf den pädagogischen Effekt, den Erfolg, die Wirksamkeit gerichtete Erkenntnisanstrengung, die immer schon selbstverständlicherweise bzw. unvermeidlich mit endgültigen normativen Entschiedenheiten operiert« (4). Indem Bildung die Selbstwerdung des Menschen auf den Begriff bringt, folgt sie in letzter Instanz keinem »um zu«, sie ist kein Mittel zu einem Zweck, sondern vertritt ein Ziel. Ohne dem Menschen das Vermögen zuzusprechen, sein eigenes, selbstverantwortetes Projekt sein zu können und auch sein zu sollen, könnte eine verantwortete Pädagogik gar nicht erst einsetzen. Ihre philosophische Verankerung stößt die Pädagogik in der Konsequenz der vor(3)
Wolfgang Fischer, Jörg Ruhloff: Transzendentalkritische Erziehungswissenschaft, in: Taschenbuch der Pädagogik. Hrsg. von Helmwart Hierdeis und Theo Hug. Hohengehren 4. Aufl. 1996, 486–493, 492. (4) Vgl. Jörg Ruhloff: Bemerkungen zur Vernunftkritik in der Pädagogik, in: Vierteljahresschrift für wissenschaftliche Pädagogik 78 (2002), 444–454, 445 im Anschluss an Marian Heitger.
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benannten Betrachtung durchaus nicht in eine überholte metaphysische Dogmatik zurück, bewahrt sie aber vor einer Ignoranz und Gleichgültigkeit gegenüber Sinnfragen. Insofern passt auf die Position von Jörg Ruhloff sehr schön, was Marian Heitger in der Festschrift zu seinem 60. Geburtstag sagt: (5) »Ohne philosophische Reflexion kann das Denken nicht über die sogenannte Tatsächlichkeit hinausgreifen«, andernfalls nämlich würde gelten, »daß die Pädagogik ohne Orientierung hilflos allen mächtigen gesellschaftlichen Kräften ausgeliefert ist, sei das die politische Herrschaft, die wirtschaftliche Macht, die Macht der Medien oder was auch immer. Sie selbst wird und macht die ihr Anvertrauten zur ›Puppe des Zeitgeistes‹«.
Die Tradition humanistischer Bildung seit der Renaissance und die gegenwrtige Neudefinition von »Bildung« (2009) 1. Der Humanismus der Renaissance und das Interesse an Philosophie und Philosophieunterricht gehören nicht selbstverständlich und gleichsam natürlicherweise zusammen. Einer der herausragenden Humanismusforscher des vergangenen Jahrhunderts, Paul Oskar Kristeller, ging sogar so weit zu behaupten, dass die Philosophie für den italienischen Renaissance-Humanismus – und der ist ja der unbestrittene Ursprung des neuzeitlichen Humanismus – geradezu gleichgültig war. Die italienischen Humanisten, so stellte er fest, waren weder gute noch schlechte Philosophen, sondern überhaupt keine Philosophen. 1 Ein solches Urteil lässt sich jedoch nur aufrechterhalten, wenn man einen engen Begriff von Philosophie im Sinne der Spätscholastik voraussetzt. Immerhin gehörte zu den Lehraufgaben der professionellen Humanisten, der Lehrer bzw. Professoren der studia humanitatis seit dem 14. Jahrhundert, auch Moralphilosophie, ergänzt um Geschichte als das Feld der Beispiele rechten und unrechten Handelns. Im Vordergrund der die menschlichen Dinge betreffenden Studien standen allerdings die alten Sprachen und speziell Grammatik, Rhetorik und Poetik, und nur, Siehe Manfred Hinz: Humanismus. I. Renaissance, in: Der Neue Pauly. Bd. 14. Stuttgart und Weimar 2000, Sp. 548.
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Marian Heitger: Vom Nutzen und Nachteil der Philosophie für die Pädagogik, in: Karl Helmer, Norbert Meder, Käte Meyer-Drawe, Peter Vogel (Hrsg.): Spielräume der Vernunft. Jörg Ruhloff zum 60. Geburtstag. Angeregt von Wolfgang Fischer. Würzburg 2000, 94–105, 95.
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insoweit man bereit ist, die Philologie in den Begriff von Philosophie einzuschließen, entsteht daraus kein Problem. Auch die Bildungsbewegung des so genannten Neuhumanismus im 18. und frühen 19. Jahrhunderts setzte sich nicht in erster Linie für eine nach Schulregeln fachkundig betriebene Philosophie ein. Im Fächerspektrum des neuhumanistisch reformierten preußischen Gymnasiums fehlt die Philosophie, während sie an den »großen Gelehrtenschulen« des 18. Jahrhunderts vertreten war, und zwar nicht nur in einer historischen Ausrichtung, sondern in lebendiger Verbindung mit den Bestrebungen der damaligen Universitätsphilosophie. 2 Ein Schulunterricht in Philosophie von ähnlicher »Offenheit« und unmittelbarer Sachorientierung wurde erst wieder mit der Oberstufenreform von 1972 möglich, die grundsätzlich alle wissenschaftlichen Disziplinen als Schulfächer freigab. 3 Wilhelm von Humboldt sprach in seinen Schulplänen zwar auch von einem philosophischen Unterricht neben dem mathematischen und dem historischen.4 Das »rein« Philosophische sollte jedoch nur im Sprachunterricht bzw. in der Bemühung um die »Form der Sprache« und nicht in einem Fach Philosophie hervortreten; denn »alles, was den Menschen zunächst und zuerst angeht, selbst das, worauf Schönheit und Kunst beruht, kommt nur in die Seele durch das Studium der Sprache, aus der Quelle aller Gedanken und Empfindungen« 5 . Trotz dieser Vorbehalte kann dem Humanismus insgesamt ein philosophischer Grundzug zugeschrieben werden. Was in beiden Fällen, im Renaissancehumanismus und im Neuhumanismus, zunächst wie ein Vorbehalt gegen Philosophie erscheint, kann auch als eine Erweiterung ihres Begriffs oder als die Erinnerung an eine Aufgabe verstanden werden, die in der mittelalterlichen Fach- und Schulphilosophie aus dem Blick geraten war. Die angebliche Abkehr von der »Sachphilosophie« zugunsten von Dichtung und Rhetorik, die nach dem Urteil einiVgl. Ingrid Stiegler: Philosophie und Pädagogik. Der Weg der Philosophie zum gymnasialen Unterrichtsfach. Duisburg o. J. (1984). 3 Ingrid Stiegler: Philosophiedidaktik von ca. 1800 bis 1972. Findung, Konsolidierung und Modifikation ihrer »pädagogisierten« Identität, in: Handbuch des Philosophieunterrichts. Hrsg. von Wulf D. Rehfus u. Horst Becker. Düsseldorf 1986, S. 20–37, hier: 24 f. 4 So im Litauischen Schulplan. 5 Wilhelm von Humboldt in einem Brief an Caroline, zit. n. Clemens Menze: Die Bildungsreform Wilhelm von Humboldts. Hannover 1975, 252 f. 2
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ger deutscher Philosophiehistoriker einem Petrarca (1304–1374), dem Stifter des neuzeitlichen Humanismus, die »Aufnahme in den Olymp« ihrer Philosophiegeschichtsschreibung verwehrt, die Hinwendung zum Latein Ciceros und die neue Lektüre der antiken Philosophen, – das alles war seinerseits Kritik an der sprachanalytischen Universitätsphilosophie der, wie Petrarca sagt, »englischen Barbaren«, die »vor lauter Vokabeln […] die Sachen« vergessen zu haben schienen. 6 Das literarische Werk der Florentiner Kanzler und Gelehrten aus der ersten Hälfte des 15. Jahrhunderts, der kurzen Epoche eines entschieden auf die Verteidigung der Republik bezogenen »Bürgerhumanismus« (Hans Baron), kann sich mit der »innerfachlichen Präzision« von »zeitgenössischen Logikern nicht messen«, so stellt Kurt Flasch fest. »Aber«, so fährt er fort, »es gibt für Philosophen andere Maßstäbe, z. B. die Erschließung neuer Erfahrungsbereiche, die Klarheit in der Formulierung einer geschichtlichen Situation und die Konzeption neuer Wertvorstellungen.« 7 Dazu gehört auch der argumentative Einsatz für die auf die menschlichen Dinge (im Unterschied zu den göttlichen) bezogenen Studien. Vielleicht darf man Kants Unterscheidung von Schulbegriff und Weltbegriff der Philosophie bemühen und den Humanismus als eine um die wesentlichen Zwecke des Menschen bemühte Bildungsbewegung dem Weltbegriff von Philosophie zuordnen. 2. Die neuen humanistischen Studien der Renaissance zielen jedenfalls programmatisch darauf ab, den Menschen zu vervollkommnen und zu »schmücken«, also schöner zu machen (Leonardo Bruni). Grundsätzlich wird von diesem Programm niemand, auch nicht das weibliche Geschlecht, ausgeschlossen. Eines der frühesten humanistischen Studienprogramme, niedergeschrieben um 1425, wendet sich an eine junge Frau. 8 Erasmus von Rotterdam (1466–1536), der berühmteste der frühneuzeitlichen Humanisten, bewegt sich auf der gleichen Linie, wenn er in seinen als Schullektüre Jahrhunderte lang weit verbreiteten »Colloquia Familiaria« einen ungebildeten Abt von einer gebildeten Frau mit Witz und Schlagfertigkeit in die Enge treiben lässt. In einem Petrarca zit n. Kurt Flasch: Das philosophische Denken im Mittelalter. 2. revidierte u. erw. Aufl. Stuttgart 2000, 554. 7 Flasch, Das philosophische Denken, a. a. O., 576. 8 Leonardo Brunis Brief an Baptista Malatesta; eine eindringliche Interpretation bei Jochen Riemen: Die Suche nach dem Glück als Bildungsaufgabe. Essen 1991, 91 ff. 6
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anderen Zusammenhang erklärt Erasmus Erziehung und Bildung ganz generell zu dem, was das Menschsein und die Menschlichkeit wesentlich ausmacht: »Bäume wachsen vielleicht von selbst, wenn sie auch steril sind oder gewöhnliche Früchte tragen: Pferde werden geboren, wenn auch unbrauchbare – aber Menschen […] werden nicht geboren, sondern gebildet.« Andernfalls werden sie wilder und schädlicher als Tiere. »Wer also nicht« von frühester Kindheit an dafür sorgt, seine Kinder mit »den vortrefflichsten Kenntnissen auszurüsten, der ist selbst kein Mensch«. 9 Schärfer kann schwerlich zum Ausdruck gebracht werden, dass Bildung und Erziehung nicht bloß irgendwie noch zum Menschsein hinzukommen können, sondern dass sie dem Begriff des Menschen konstitutiv zukommen. 10 Auch für Erasmus sind Erziehung und Bildung nicht auf die Philosophie hin finalisiert. In der Stoßrichtung des frühneuzeitlichen Humanismus sind sie aber auch nicht mehr ungebrochen auf Religion und Theologie ausgerichtet. Mit einiger Ironie bemerkt Erasmus zu dieser Alternative: »Philosophia plus quam homines, Theologia reddit divos« 11 , die Philosophie macht Übermenschen, die Theologie Heilige. Realistischerweise anzustreben ist weder das eine noch das andere. Menschliche Bildung soll einen Weg dazwischen suchen. Dazu erschien Erasmus’ die Verbindung der heiligen Schriften mit den bonae litterae, der Literatur der (heidnischen) Antike, geeignet. Die Rehabilitation der Antike im Renaissancehumanismus erfolgte im Zuge einer Neubewertung des Erdenlebens der Menschen. Gegen den alttestamentlichen Pessimismus und gegen kirchliche Lehrmeinungen vom Elend des irdischen Lebens, das in der Hauptsache zugunsten eines nachirdisch besseren Lebens durch gestanden werden müsse, setzt sich im Humanismus die Grundüberzeugung durch, dass die Menschen auch zum Genuss bereits ihres diesseitigen Lebens berechtigt sind. Das irdische Leben ist schon für sich genommen vor allem Erasmus zit. n. Theodor Ballauff: Pädagogik. Eine Geschichte der Bildung und Erziehung. Bd. I. Freiburg/München 1969, 593 f. 10 Dass der frühe Humanismus tatsächlich vielfach noch soziale Differenzierungen wie selbstverständlich zu akzeptieren scheint, braucht nicht zu übersehen werden. In dieser Beziehung führt erst die nachdrückliche und ins einzelne ausgeführte Universalisierung des Erziehungs- und Bildungsanspruchs durch Comenius (1592–1670) entschlossen weiter. 11 Erasmus: Querela pacis. Die Klage des Friedens. Ausgewählte Schriften in acht Bänden. Hrsg. von Werner Welzig. 5. Bd. Darmstadt 1968, 372. 9
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darum lebenswert, weil der Mensch als Ebenbild Gottes dazu begabt, freigestellt und aufgerufen ist, die Erde nach seinen Vorstellungen zu gestalten. Die Begabung zur Weltgestaltung, insbesondere auch zur Verschönerung durch die Künste, und nicht allein der Glaube, zum ewigen Leben erlöst zu sein, wird um die Mitte des 15. Jahrhunderts als das hervorstechende Zeichen der Menschenwürde herausgestellt. 12 Bereits der nackte menschliche Leib, der im Mittelalter weithin als hässlich galt, wird nun in bildender Kunst und Literatur als ein Beweis der menschlichen Würde gefeiert. Mehr noch sei zu bewundern, was der so schöne und wohlgestaltete Mensch dank seines Ingeniums aus der anfänglichen rohen Schöpfung gemacht habe. Er hat die Welt gewissermaßen erst lebenswert gemacht und zu seinem Nutzen viel prächtiger und feiner eingerichtet als sie anfangs war. Auf die menschliche Wirkmacht gehen die Häuser und die Städte, die Bilder und Skulpturen, die Sprachen und die Schriften, die Wissenschaften, die Zähmung der Tiere, die Veredlung und Nutzbarmachung der Pflanzen, die Ordnung der menschlichen Verhältnisse zurück. Die Begeisterung für die Welt gestaltende Mächtigkeit des Menschen reicht in der Schrift Manettis (von 1452), auf die ich mich hier beziehe, bis an die Schwelle, die menschlichen Kulturleistungen beinahe als ein Äquivalent für die Erlösung durch den Kreuzestod einzuschätzen. Manetti gestattet sich die Fiktion, dass Christus sogar dann vom Himmel zur Erde herabgestiegen wäre, wenn die ersten Menschen überhaupt nicht gesündigt hätten und somit gar kein Erlösungsbedarf bestanden hätte. Jesus wäre, so schreibt er, »auf jeden Fall zur Erde gekommen«, und zwar »um den Menschen durch seine demütige Annahme der menschlichen Gestalt […] zu ehren und zu verherrlichen« 13 . Der Höhepunkt der neuen Wertschätzung des Menschen wird in der zweiten Hälfte des 15. Jahrhunderts mit der Formel vom Menschen als dem kleineren Gott erreicht. Nikolaus von Kues (1401–1464) hatte dieses Konzept in strenger philosophisch-theologischer Begründung ausgearbeitet. Giovanni Pico della Mirandola (1463–1494) hat es in eine einprägsame Schöpfungserzählung gekleidet. 14 Sie stellt heraus, Vgl. Gianozzo Manetti: Über die Würde und Erhabenheit des Menschen (1452). Hrsg. von August Buck. Hamburg 1990, 3. Buch. 13 Manetti, a. a. O., 96 f. 14 G. Pico della Mirandola: Über die Würde des Menschen. Lateinisch-Deutsch. Hrsg. von August Buck. Hamburg 1990. 12
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dass die einzigartige Auszeichnung und Würde des Menschen darauf beruht, dass Gott ihn auf keinerlei definitive Eigenschaften und Merkmale festgelegt hat, nicht einmal auf Sterblichkeit oder Unsterblichkeit. Stattdessen habe er den Menschen als einen freien Bildner und Urheber (plastes und fictor) geschaffen, der an allem, was es auf der Welt gibt, teilhaben könne. Insbesondere sei der Mensch frei, sich selber zu der Gestalt zu bilden, die er lieber möchte, wobei ihm als Modelle zur Selbstverwirklichung die gesamte Skala von den niedrigsten Wesen bis zu den göttlichen offen stehe. So sehr im Renaissance-Humanismus die weltschöpferische und selbstbildnerische humane Kraft gefeiert wird, so bleibt doch auch die Kehrseite dieser Freisetzung des Menschen als das Wesen der Bildung im Hintergrund präsent. Wenn die Würde des Menschen darin besteht, dass die konkrete Gestalt seiner selbst und seiner Lebenswelt auf seine eigenen Leistungen zurückzuführen ist, dann gilt das nicht nur für die guten, angenehmen und bewunderungswerten Ergebnisse. Er muss sich auch die Übel und das Böse zuschreiben. Er muss auch wahrnehmen, dass der »Mensch dem Menschen die Pest ist«, wie es in einer Satire von Leon Battista Alberti (1404–1472) heißt. Er kann »Krankheiten und Leiden« nicht Göttern oder dem Schicksal anlasten, sondern muss sie seiner eigenen »Gier und Gefräßigkeit und der Maßlosigkeit«, muss insgesamt ein ruinöses, welt- und selbst zerstörerisches Leben einem Mangel an Lernen bzw. dem Umstand zuschreiben, »nicht gelernt« zu haben, mit sich selber auszukommen, wie Alberti schreibt. 15 Die Konsequenz, dem Menschen auch alle Übel und Bösartigkeiten ohne Entlastung durch göttliche Entschuldung zuerkennen zu müssen, bzw. ein Zurückschrecken vor dieser Konsequenz spielte möglicherweise dabei mit, dass die säkulare Tendenz des Renaissancehumanismus im reformatorischen und gegenreformatorischen Bildungswesen des 16. und 17. Jahrhunderts wieder zurück genommen wurde. Jedenfalls wurden die humanistischen Studien in der Folgezeit »Mittel zum Zweck« der »religiösen Erziehung« 16 und der Ausbildung für Ämter in einer bis weit in die Aufklärungsepoche hinein kirchlich 15 Leon Battistia Alberti: Momus oder Vom Fürsten. Momus seu principe. LateinischDeutsche Ausgabe. Übersetzt, kommentiert und eingeleitet von Michaela Boenke. München 1993, 211 ff. 16 August Buck: Humanismus. Seine europäische Entwicklung in Dokumenten und Darstellungen. Freiburg/München 1987, 289.
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kontrollierten oder mit kontrollierten, in ihrem Regierungs- und Autoritätsapparat und in ihren Wissenschaften auf das nun wieder hergestellte klassische Latein gestützten Gesellschaft. 17 Für Pico della Mirandola gipfelte die freie Selbstkultivierung des Menschen in einem kontemplativen Philosophieren, das keinem weiter übergeordneten Zweck als dem der Wahrheitserkenntnis folgt und eben dadurch bildet. Bei der Verbindung von Philosophieren mit Freiheit stand dem unglaublich belesenen jungen Mann sicherlich die Passage der Metaphysik der Aristoteles von Augen (I, 982 b), in der Freiheit als das Dasein um seiner selbst und nicht um jemandes anderen willen umschrieben wird und diese Selbstzweckhaftigkeit auch für die Sache der Philosophie geltend gemacht wird. Pico stellte die philosophierende Selbstkultivierung ausdrücklich als etwas Eigenes neben den religiösen Kultus, wenngleich für ihn das eine das andere durchaus nicht ausschloss. Das »Außerordentliche am Menschen« erblickte er darin, dass der Mensch »nicht« in die »wohlgeordnete Schöpfung integriert« ist, sondern in Distanz zu ihr versetzt ist. 18 Luther verwarf die Vorstellung vom Menschen als einem Mitschöpfer und ersetzte sie durch die eines dienenden Mitarbeiters. 19 Auch andere Gründe beginnen den frühneuzeitlichen Humanismus zu schwächen. Bedeutende Dichtungen werden in den Nationalsprachen geschrieben, deren Herausbildung die Humanisten bei aller Liebe zur Antike zugleich gefördert hatten. Mit dem wachsenden Erfolg der neuzeitlichen Mathematik und der Naturwissenschaften – diese wurden übrigens zumindest im Florentiner Humanismus keineswegs als Gegensätze zu den humanistischen Studien empfunden – schwindet zudem die Autorität der antiken Literatur als allgemeine Wissensquelle. Descartes bekundet zu Beginn seines »Discours de la Méthode« nur noch verhaltenen Respekt gegenüber dem humanistischen Gelehrtenschulprogramm. Er berichtet, dass er diese Art wissenschaftlicher Studien aufgab, sobald »das Alter« es ihm »erlaubte, [sich] der AbhängigZur humanistischen Erneuerung des Lateinischen s. Wilfried Stroh: Latein ist tot, es lebe Latein! Kleine Geschichte einer großen Sprache. 5. Aufl. 2008. 18 Jochen Riemen: Die Suche, a. a. O., 65. 19 Theodor Ballauff u. Klaus Schaller: Pädagogik. Eine Geschichte der Bildung und Erziehung. Bd. II. Freiburg/München 1970, 20. Vgl. auch J. Ruhloff: Vom Gottesknecht zum Selbstliebhaber. Ausblicke auf Individualität, Subjektivität und Autonomie in Interpretationen des Menschen in Renaissance und Aufklärung, in: Bildung und Erziehung 46 (1993), 167–182. 17
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keit von [seinen] Lehrern zu entziehen«. Fortan wollte er kein anderes Wissen suchen als das, was er in sich selber und im mathematisch gelesenen Buch der Welt mit evidenten Beweisgründen finden könnte. 20 Beredsamkeit und Poesie erschienen ihm eher als Gaben denn als Früchte eines Studiums. 21 Damit waren sie als wissenschaftliche Aufgaben deklassiert. Mit dem Siegeszug des cartesischen Wissenschaftsideals geht der Niedergang des rhetorischen Studienmodells einher. 22 Zu Beginn des 17. Jahrhunderts kommt ein Vergleich (von Alessandro Tassoni, 1565–1635) der Alten mit den Modernen »zu dem Ergebnis, dass die Modernen fast überall die Alten übertreffen. Sie haben nicht nur die Künste und Wissenschaften der Alten neu belebt und vervollkommnet«, sondern auch damals Unbekanntes hinzu erfunden »wie den Buchdruck und die Papierherstellung« 23 . Mit der wachsenden Fortschrittsbetonung und Fortschrittsgewissheit der Aufklärungsepoche sinkt die humanistische Bildung und Gelehrsamkeit auf die Bedeutung einer »Vorstufe für die aufklärerische Philosophie«. 24 3. Eine bildungstheoretisch bedeutsame Wendung in dieser Entwicklung geht auf Rousseaus Kulturkritik und seine Bestimmung von Menschlichkeit im »Emile« zurück. Seine Kulturkritik lenkt die Aufmerksamkeit gleichsam hinter die Kontroverse zurück, ob nun die aus dem Altertum gespeiste Bildung und Gelehrtheit den Vorzug verdiene oder die neuzeitlich möglich gewordene. Keinerlei Gelehrtheit garantiert bereits von sich her Menschlichkeit, ebenso wenig wie das die Ausrichtung der Erziehung auf irgendeinen Beruf leisten kann. Maßgeblich für die Bildung ist die »natürliche Ordnung, in der die Menschen alle gleich sind«. 25 Humanität als Gleichheit, Freiheit und Brüderlichkeit wird nicht mehr primär vom Durchgang durch eine bestimmte Gruppe von Wissensdisziplinen abhängig gesehen. Zwar spielen Inhal20 Vgl. Discours, 1. Teil, Zif. 14. René Descartes: Philosophische Schriften in einem Band. Mit einer Einführung von Rainer Specht und »Descartes Wahrheitsbegriff« von Ernst Cassirer. Hamburg 1996. 21 Descartes, Discours, a. a. O., Zif. 9. 22 Vgl. Karl Helmer: Topik und Kritik. Über den philosophischen Unterricht nach Giambatista Vico, in: ders.: Ars rhetorica. Beiträge zur Kunst der Argumentation. Hrsg. von Gaby Herchert, Sacha Löwenstein, Elisabeth Gutjahr, Andreas Dörpingshaus. Würzburg 2006, 63–74. 23 Buck, Humanismus, a. a. O., 297. 24 Buck: Humanismus, a. a. O., 301. 25 Jean-Jacques Rousseau: Emile oder Über die Erziehung. Stuttgart 1963, 116.
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te der alten Humanitätsstudien, Sprachen, Geschichte, praktische Philosophie, in Emiles Jugenderziehung eine Rolle. Für die Bildung entscheidend ist jedoch, dass sie nicht etwa die Reflexion auf das Selbstsein und die Entstehung eines unabhängigen, vernünftigen Urteils der Individuen verhindern. Bezeichnend dafür ist Rousseaus Kritik an den zeitgenössischen Geschichtsstudien: Fälschlicherweise halte man die jungen Leute dazu an, sich nachahmend in die historischen Persönlichkeiten, die sie vor Augen haben, zu verwandeln. Damit, so meint er, entmutige man sie, sich auf ihr eigenes Dasein zu besinnen und lasse sie bedauern, bloß sie selber zu sein. Käme das bei seinem Emile vor und dies sogar, wenn er lieber Sokrates sein möchte, »dann wäre alles umsonst gewesen«; denn »wer anfängt, sich sich selbst zu entfremden, der wird sich selbst bald gänzlich vergessen«. 26 Humanität und humane Bildung sind damit von einem zwingend dazu gehörenden, besonderen curricularen Programm abgekoppelt. Das bedeutet zwar nicht, dass die Fächer der alten humanistischen Studien und die Beziehung auf das Wissen der griechischen und römischen Antike verworfen werden. Das Verhältnis zu ihnen wird aber von autoritativen Bindungen frei und von Vernunftgründen abhängig gemacht. Genau genommen war das bereits im frühneuzeitlichen Humanismus enthalten. Bereits 1405 schrieb einer der humanistischen Protagonisten gelegentlich, man solle die unberechtigte Verehrung des hochberühmten Altertums aufgeben und nur auf das »Wissen« achten. 27 Davon unberührt bleibt auch im Gefolge Rousseaus die Hochwertung des Menschen im Sinne der Würdeliteratur der Renaissance. Man kann es wie eine Fortschreibung von Picos Anthropologie lesen, wenn in Anknüpfung an Rousseau Kant seiner Pädagogik den Leitgedanken vorgibt, dass »die Vorsehung« die »Anlagen zum Guten« »nicht schon fertig« in den Menschen gelegt habe, sondern wollte, dass er in der Gattungsentwicklung alles »aus sich selber« durch allmähliche Vernunftentfaltung und Kultivierung der Erziehung »herausbringen soll« 28 . Darum auch müsse die Pädagogik zu einer Wissenschaft werden. Anders könne keine Kontinuität in den Prozess der VervollkommRousseau: Emile, a. a. O., 503. Coluccio Salutati (1331–1406), vgl. Jörg Ruhloff (Hrsg.): Renaissance-Humanismus. Zugänge zur Bildungstheorie der frühen Neuzeit. Essen 1989, 19 f. 28 Immanuel Kant: Über Pädagogik, in: Werke in zehn Bänden. Hrsg. von Wilhelm Weischedel. Bd. 10. Darmstadt 1964, 702. 26 27
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nung der Menschengattung kommen, und die nächste Genreration reiße ein, was die vorhergehende aufgebaut habe. Jetzt bedarf es zur Legitimation der freien Kultivierung des Menschen und zu seiner moralischen Selbstgesetzgebung nicht mehr der Absicherung durch einen göttlichen Schöpfer. Achtenswerte Religion beruht nach Kant auf der »Erkenntnis der Pflicht« und nicht umgekehrt die Pflichteinsicht auf Religion. Für den Neuhumanismus Wilhelm von Humboldts war das wesentliche Hindernis einer vernünftigen Erziehungs- und Bildungskultur die primäre Ausrichtung der vorherrschenden philanthropischen Reformpädagogik an sozialständischen Brauchbarkeitsanforderungen, die ausdrücklich auch den Verzicht auf individuelle Bildungsmöglichkeiten rechtfertigten. Die von Humboldt vorgesehene Einheitsschule zielte auf die Bildung des »Menschen überhaupt«. Sie sollte vor und unabhängig von beruflichen Abzweckungen für eine ursprüngliche Gleichstimmung der Gemüter sorgen und alle Individuen durch proportionierliche Entfaltung ihrer Kräfte vor menschenunwürdiger Rohheit ebenso wie vor verschrobener Weltfremdheit bewahren. Das Erlernen der alten Sprachen, die auf der Stufe der Schulbildung die Philosophie vertreten, spielte dabei eine ausgezeichnete Rolle, weil an ihnen das Verständnis für »Form« und »Bau« von Sprache am ehesten hervortreten könne. Durch die Form der Sprache wiederum erscheint und gliedert sich dem Menschen die Welt, und mit wachsendem Sprachverständnis erweitert Bildung sowohl die Weltsicht als auch das Selbstverständnis und die Handlungsmöglichkeiten. 29 Im Durchdringen bis zur konstitutiven Sprachform wird zudem das bildungstheoretische Postulat »vollständiger Einsicht der Gründe« erfüllt, während es für die – im übrigen unverzichtbare – Berufsbildung oft nötig ist, auch unverstandene Fertigkeiten nachzuahmen, die nur durch ihren offensichtlichen Nutzen legitimiert sind. 30 Humboldts Andeutung eines bildenden Sprachunterrichts, der die transzendentale, Welt erschließende Bedeutung von Sprache akzentuierte, fand im neu entstehenden Philologenstand keine entschiedene Vertiefung und keine breite Verankerung. Der ungeheure zeitliche Vgl. Clemens Menze: Wilhelm von Humboldts Reform, a.a,O., 252 ff. Vgl. Wilhelm von Humboldt: Unmaßgebliche Gedanken über den Plan zur Einrichtung des Litthauischen Stadtschulwesens. Gesammelte Schriften. Hrsg. von der Königl. Preuss. Akad. Bd. 13. Nachdruck Berlin 1968, 276 ff. 29 30
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Aufwand für das Erlernen von Latein und Griechisch im preußischen Gymnasium des 19. Jahrhunderts war bereits »aus ökonomisch-gesellschaftlichen Gründen nach Einsetzen der Industrialisierung« als obligatorische Schulaufgabe für alle Heranwachsenden »unhaltbar« 31 . Zudem widersprach die vom deutschen Neuhumanismus mitgeführte Idealisierung der alten Griechen als Muster von Menschentum der Selbstdeutung des Menschen als geschichtliches Wesen, die derselbe Humanismus gegen den einseitigen Rationalismus begründet hatte. Paul Natorp, seinerseits ein hervorragender Kenner und Bewunderer von Sprache und Kultur des griechischen Altertums, zieht 1901 gewissermaßen einen Schlussstrich, indem er feststellt, dass von »ewigen Mustern« auch mit Beziehung auf die klassische griechische Kunst nicht gesprochen werden sollte. 32 Und wenn von »Harmonie« noch die Rede sein dürfe, dann berechtigterweise nur im Sinn einer »gebrochene[n …] Einheit« oder einer »Konsonanz«, in der »die Dissonanz«, aus der eine »vertiefte Bedeutung« entspringe, »wirksam bleibt«. 33 Der Sache nach trifft sich dieses zurückhaltend formulierte Urteil mit der ätzenden und breitenwirksameren Kritik, die vorher schon Friedrich Nietzsche an der unangemessenen Historisierung und der verfehlten Philologisierung der deutschen Gymnasialbildung im 19. Jahrhundert geübt hatte. An dieser geschichtlichen Schwelle breche ich die grobe historische Skizze ab. 34 Gegen einen bildungstheoretischen Humanismus, der die exklusive Bindung von Humanität an Sprache und Kultur der klassischen Antike feiert, braucht man sich heute nicht mehr zu verwahren. Auf der anderen Seite dürfte die Forderung kaum auf Widerstand stoßen, dass ein Wissen um die Herkunft der Neuzeit aus der europäischen Antike heute zu einem gebildeten Selbstverständnis gehören sollte. In eins damit gehört auch der frühneuzeitliche Humanismus Herwig Blankertz: Bildung im Zeitalter der großen Industrie. Hannover 1969, 100. Paul Natorp: Was uns die Griechen sind [1901], in: ders.: Philosophie und Pädagogik. Untersuchungen auf ihrem Grenzgebiet. Marburg 1909, 327–355, hier: 342. 33 Natorp, a. a. O., 335 f. 34 Zur weiteren Entwicklung und zur Humanismuskritik im 20. Jahrhundert vgl. in gedrängter Form meinen Artikel Humanismus, humanistische Bildung, in: Dietrich Benner, Jürgen Oelkers (Hrsg.): Historisches Wörterbuch der Pädagogik. Weinheim u. Basel 2004, u. s. die einschlägigen Beiträge in: Erhard Wiersing (Hrsg.): Humanismus und Menschenbildung. Zur Geschichte, Gegenwart und Zukunft der bildenden Begegnung der Europäer mit der Kultur der Griechen und Römer. Essen 2001. 31 32
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zum Verständnis des Bedingungszusammenhangs wichtiger kultureller Sinnausrichtungen der modernen Weltkultur. Die pädagogische Gegenwartsbedeutung des Humanismus erschiene mir jedoch unterbestimmt, wenn ihm nur die Bedeutung eines Segments geschichtlichen Wissens und historischer Urteilsfähigkeit zuerkannt würde. Mit der Verbindung von Bildung und Menschenwürde hat der Renaissance-Humanismus eine Dimensionierung der pädagogischen Problemstellung eröffnet, die in ihrer Legitimität bis heute unwiderlegt, aber auch unerledigt ist. Diese Problemstellung hat viele Facetten. Ich gehe nur auf eine ein wenig näher ein, um von ihr her die Fragwürdigkeit der gegenwärtigen ›Neudefinition‹ von Bildung zu beleuchten. 4. An den bildungstheoretischen Würdegedanken der Renaissance könnte heute in dem Sinne angeknüpft werden, dass im Bildungsbegriff ein Verständnis vom Menschen als maßgeblich und nicht bloß als ein zu vermessendes Wesen festgehalten wird. Im Würdegedanken ist enthalten, Menschen bzw. dem Denken der Menschen eine bedingende Funktion und Bedeutung zuzuerkennen und sie als solche anzuerkennen, und zwar gerade auch im pädagogisch angeleiteten Kultivierungsprozess, der andernfalls leicht in eine umfassende Konditionierung umschlägt. Mag das Menschsein auch in vieler Hinsicht bedingt sein, seine Würde anzuerkennen, könnte für die Bildungsdynamik und ihre erzieherischen, unterrichtlichen und institutionellen Ermöglichungen besagen, dass die unabhängige Mitwirkung jedes einzelnen an der kulturellen Sinnbildung folgenreich vorausgesetzt, im Blick gehalten und angesprochen wird. Dieses Menschenverständnis braucht nicht im Sinne des Rekurses auf ein kommunikativ und interaktiv unvermitteltes Subjekt als äußersten Bezugspunkt pädagogischer Aktivitäten gedeutet zu werden. Der Würdegedanke schließt nicht aus, die humane Subjektivitätsstruktur als ambivalent und nur bedingt bedingend zu verstehen, aber er schließt sie eben als stets auch bedingend ein. So spricht beispielsweise die der Anthropologie des Cusaners ebenso wie Kants Transzendentalphilosophie verbundene pädagogische Theorie Alfred Petzelts, die noch in unsere Gegenwart hineinreicht, vom Ich als »Prinzip und Tatsache« 35 . Sie schließt damit insbesondere aus, Menschen in der gleichen Weise als Objekte der Vermessung an35 Alfred Petzelt: Grundzüge Systematischer Pädagogik. Freiburg i. B., 3. Aufl. 1964. Zur kritischen Bedeutung dieses Ansatzes im gegenwärtigen Bildungsdiskurs vgl. Jörg
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zusetzen wie Naturgegenstände. Die Reduktion von humanen Sinnzusammenhängen auf Sachverhaltskomplexe und bedingungs-determinierte Geschehnisse wird für den pädagogischen Umgang und für die pädagogische Forschung als grundsätzlich verfehlt erachtet, unter anderem darum, weil sie die Einmaligkeit sinngeleiteter Vollzüge übergeht. In seiner Prinzipienfunktion ist das Ich auch nicht nur als SinnNehmer in einen kulturelle Sinnhorizont eingeschlossen bzw. einzuschließen, sondern stets zugleich als Sinn-Geber als eine Quelle bzw. als ein eigener Ort der Beurteilung und Entscheidung von Gültigkeits- oder Wahrheitsansprüchen und nicht gleichsam nur als deren Transporteur anzusehen. Der bildungstheoretisch ausgelegte Würdegedanke verbietet der Pädagogik mit einem Wort Rousseaus, andere zum »Menschen des Menschen« zu machen. Eben dies, die Machbarkeit des Menschen, scheint jedoch das anthropologische Vorzeichen zu sein, das definiert, als was Bildung in der Gegenwart vor allem erscheint. Ein Modus, wie Menschen zu Menschen der Menschen werden können, ist der Vorrang der Steuerung beim Lernen, Erziehen und Lehren im Unterschied zum Vorrang der Ermöglichung, Begünstigung und Korrektur von Eigenbewegungen und Richtungsänderungen im Lernen bzw. im Bildungsprozess. 36 Man kann auch von einer Umdeutung des Bildungsbegriffs zu einem verdummenden »polizeilichen Kontrollinstrument« sprechen. 37 Steuerung ist eine der maßgeblichen Kategorien, die den gegenwärtigen Gebrauch von ›Bildung‹ im Kontext des aktuellen Umbaus unserer Schulen und Universitäten durchdringen. Das Bildungswesen wird reorganisiert vor allem im Sinne der Implantation neuer Steuerungsinstrumente. Und diese Steuerungsbedeutung von Bildung schlägt über die Kanalisierung von Lehr- und Unterrichtspraktiken und Unterrichtsorganisation durch auf die Lern- und Bildungsvollzüge der EinRuhloff: »Einmaligkeit« oder Kritik einer wissenschaftspolitischen Machterschleichung, in: Pädagogische Korrespondenz 37 (2007/2008), 5–17. 36 Zum Folgenden vgl. Lutz Koch: Eine neue Bildungstheorie? Qualitätsentwicklung, Neues Steuerungsmodell, Evaluation und Standards, in: Ursula Frost (Hrsg.): Unternehmen Bildung. Die Frankfurter Einsprüche und kontroverse Positionen zur aktuellen Bildungsform. Paderborn 2006 (= Sonderheft Vierteljahrsschrift für wissenschaftliche Pädagogik), 126–139. Vgl. auch: Jörg Ruhloff: Standardisierung der Lehrerbildung. Bildung als Steuerung, in: Walter Eykmann u. Winfried Böhm (Hrsg.): Die Person als Maß von Politik und Pädagogik. Würzburg 2006, 75–87. 37 So kürzlich Andreas Dörpinghaus: Bildung. Plädoyer wieder die Verdummung, in: Forschung und Lehre. Supplement 9/2009, 3.
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zelnen. Das geschieht unter dem Titel von Qualitätsentwicklung und Qualitätsmanagement, die den Bildungsprozeß in Sicherungs- und Kontrollapparate einschließen. Dahin gehören Evaluation und Akkreditierung von Schulen und Studiengängen. Dazu gehört die Einführung von Kompetenzstandards zur Normierung des Outputs von Lernund Ausbildungswegen. Mit dieser Normierung verbunden ist die Transformation von erwarteten, als relevant erachteten Bildungseffekten in ein testfähiges, von den Messmethoden empirischer Bildungsforschung erfassbares Format. Bildungsinhalte, pädagogische Tätigkeiten und Lernvollzüge werden insofern relativiert nach Maßgaben einer besonderen methodischen Rationalität der Datenerhebung und -verarbeitung. Der Prinzipienaspekt von Subjektivität würde demgegenüber verlangen, Lernende im Bildungsprozess stets zugleich als ›messende‹ und niemals bloß als zu vermessende zu respektieren, wenigstens nicht die Freisetzung zum Ermessen-Dürfen vom vorgängigen Vermessen-Werden abhängig zu machen. Die Dominanz der Steuerung entspringt hauptsächlich der Neuordnung von Lernen und Bildung nach betriebswirtschaftlichen Gesichtspunkten. Von daher wird Bildung geplant, gesteuert, limitiert und formatiert. Die Ergebnisse der Messung formatierten Lernens und Lehrens bestimmen den Marktwert von Schulen, Universitäten und anderen Bildungsinstitutionen sowie ihrer Nutzer im nationalen und internationalen Konkurrenzkampf. Sie regulieren auch den Zufluss von ökonomischen Ressourcen. Die ökonomische Effizienz, das günstigste Verhältnis zwischen Aufwand und Ertrag, wird zum beherrschenden Strukturierungsprinzip für das öffentliche Bildungswesen. Der »Rückfluss« der Investitionen ins »Humankapital« wird zum zentralen Kriterium von Bildungsqualität. Das aber bedeutet in der Konsequenz »Verdummung« 38 . Für die inhaltliche Auslegung von Lernen und Bildung begünstigt es eine Tendenz zur Favorisierung von Themen oder thematischen Bedeutungsakzentuierungen, die im Sinne der Erzielung eines höheren persönlichen Marktpreises verhaltensrelevant sind. Philosophie und Philosophieunterricht geraten dadurch nicht schon gänzlich ins Abseits, wohl aber unter einen spezifischen Legitimierungsdruck in Richtung auf pragmatische Effekte, die dem Verständnis für Fragestellungen und der Einsicht in sachthematische 38 Zur bildungstheoretisch-systematischen Argumentation im einzelnen s. den oben erwähnten Beitrag von Andreas Dörpinghaus.
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Probleme vorgelagert werden oder die so in das Lernen und Lehren eingemischt werden, dass eine unabhängige Sachorientierung untergraben wird. ›Problemlösung‹ wird heute nahezu ohne jeden Einspruch als der selbstverständlich letzt maßgebliche und allgemeinverbindliche Bezugspunkt von Lernen und Bildung erachtet. Bildung bekommt von daher die Grundbedeutung einer Entsorgungspraxis. Bedeutende humane Entwicklungen wie die des Humanismus der Renaissance gehen aber von Problemstellungen aus und erweisen ihre Fruchtbarkeit darin, dass sie weiterhin zu denken geben, anstatt mit einem abzuarbeitenden Pensum erledigt werden zu können. Während mit dem bildungstheoretischen Würdegedanken die Verweisung an eine den Verständnis- Horizont unabsehbar erweiternde Dynamik verbunden war, geht die Fixierung auf vermessungs- und verwaltungstaugliche Problemlösungen mit einer Verengungsdynamik einher. Jeder bildungstheoretische Reduktionismus fällt jedoch hinter den in der pädagogischen Tradition erreichten Gedanken zurück, dass Bildung auf das problematische ›Ganze‹ (Comenius), auf ›die Welt‹ (Wilhelm von Humboldt) und die Stellung des Menschen im Ganzen bezogen ist. Eine solche Sicht ist nicht bereits dadurch widerlegt, dass sie in der Konsequenz mit unlösbaren Problemen in Berührung bringt, die eine kritisch-skeptische Haltung nahe legen. Es ist ein wesentlicher Unterschied, ob die Einschränkung von Bildungsthemen in Schulen aus einer einführenden und eröffnenden oder aus einer ausführenden und abschließenden oder, was auf dasselbe hinausläuft, nur ›Anschluss‹ gewährleistenden Funktion begründet ist. Im ersten Fall eines eröffnenden Verständnisses von institutionalisierter Bildung werden die Bildungsprogramme über sich hinaus weisen und Platz lassen für Lernvollzüge und für die Aussicht auf Fragen, die von keinem Programm erledigt werden können. Im zweiten Fall wird Bildung identifiziert mit der Kumulation von Leistungsnachweisen und Zertifikaten. Es kommt darauf an, welche Idee leitend ist. Wenn man für die Neudefinition von Bildung in der Gegenwart von einer über die jeweils begrenzenden Lernthemen und Lernabschnitte hinausweisenden ›Idee‹ überhaupt sprechen darf, dann wohl am ehesten von der, Markttauglichkeit durch Anschlussfähigkeit bis ins hohe Alter zu erhalten und in mess-geeigneten Formaten auszuweisen. Die Koppelung von Lernen und Bildung an die Bedingung der Erfassbarkeit durch Messtechnologien impliziert in letzter Konsequenz den Ausschluss von metaphysischen Problemen aus dem Bildungsbegriff. Gleichzeitig wird der Sachverhalt unkenntlich 200 https://doi.org/10.5771/9783495861011 .
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gemacht, dass ein solcher Ausschluss seinerseits auf einer dogmatischmetaphysischen Position beruht – anthropologisch etwa so zu umschreiben, dass der Mensch angesetzt ist als Mängelwesen mit Verhaltensausstattungsbedarf für wechselnde Überlebenserfordernisse, die sich aus sozialen Systemzwängen ergeben. In formaler Hinsicht unterwirft eine von Steuerungs- und Effizienzimperativen dominierte Pädagogik das Lernen dem besonderen Zeitregime der Beschleunigung. Das Zeitregime der Beschleunigung erzeugt die Ausrichtung auf einen Vorrang der Zukunft, der sich niederschlägt in einer »Permanenz der Erwartungshaltung«. Man ist sich ständig selbst vorweg, was bereits Rousseau mit der Stoa als ein bildungstheoretisches Verhängnis erachtete. Ineins damit löst sich die Erwartung »von der Erfahrung«. Nur »indem sich der Mensch nicht auf die Welt einlässt, können Prozesse zunehmend beschleunigt werden«. 39 Je schneller ein Ziel erreicht werden soll, desto mehr Haltestationen, Sinndifferenzierungen und Bedeutungsrelationen müssen ausgelassen oder können nur noch überflogen werden. Insofern Bedeutungsunterschiede erlernt worden sind und mit einiger Berechtigung als vorläufig invariant angesetzt werden, wäre das Überfliegen auch legitim. Zumindest einiges von dem, was wir gelernt haben, geht in ein Können ein, das wir nicht bei jedem neuen Schritt noch einmal aus seinen konstituierenden Elementen aufbauen müssen. Es ist jedoch widersinnig, Bildungsinstitutionen vom Gelernt-Haben her zu definieren, also aus dem Gesichtspunkt der vollendeten Vergangenheit ihrer Aufgabe. Genau das, der Vorgriff auf Ertrag und Kosten, gehört aber zur Logik von Ökonomie, nach deren Maßgaben das Bildungssystem in der Gegenwart rationalisiert wird. 40 Wenn Lernen im strengen Sinne Erfahrung »ist« und nicht nur unter anderem mit Erfahrungen einhergeht 41 , bedeutet der Beschleunigungszwang geradezu die Verunmöglichung von Lernen. In einer gewissen Hinsicht weisen auch die Postulate, das ›Lernen zu lernen‹ und lebenslang zu lernen, in dieselbe Richtung der Vernichtung von Lernen; denn sie vergleichgültigen gegenständliche Sinn-Differenzierungen zugunsten einer mehr oder 39 Andreas Dörpinghaus: Bildungszeiten. Über Bildungs- und Zeitpraktiken in der Wissensgesellschaft, in: Hans-Rüdiger Müller, Wassilios Stravoravdis (Hrsg.): Bildung im Horizont der Wissensgesellschaft. Wiesbaden 2007, 35–47, hier: 39 ff. 40 Vgl. Jörg Ruhloff: Schulsystem und betriebswirtschaftliche Logik: ein Wiederspruch?, in: topologik Nr. 3, Cosenza 2008 (Pellegrini), 115–127. 41 Käte Meyer Drawe: Diskurse des Lernens. München 2008, 214.
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weniger leeren Reflexivität und der Verschiebung von Problemen auf Metaebenen zunehmender Formalität, so dass kaum noch nachvollziehbar ist, wozu Lernen gut sein könnte. Gegen das Beschleunigungsregime der gegenwärtig sich vordrängenden Deutung von Bildung ist geltend gemacht worden, dass Bildungsvorgänge »Verzögerung« verlangen. Die Anleitung von Bildungsprozessen verlangt geradezu eine systematische Dehnung der Zeitspanne zwischen Impuls und Reaktion, so dass mehr und anderes in das Aufmerksamkeitsfeld treten kann, als dem ersten Blick auffällt und wichtig erscheint. Momente der Verzögerung sind Erinnerung und spontanes Gespräch, das Ausloten von Empfindungen und das Infragestellen von Bedeutungen, die Erprobung der Tragweite von Einfällen und Einstellungen, die Prüfung von Argumenten, Haltungen, Wahrheitsansprüchen und Handlungsweisen, in einem gewissen Umfang auch das Ausschreiten von Irrwegen. Damit einher geht eine Einschränkung der Planbarkeit von pädagogischen Vorgängen. Das wiederum lässt sich mit der Vorherrschaft einer Steuerungs- und Kontrollrationalität nicht vereinbaren. Das Steuern muss aussetzen, wo Lernende und Lehrende zu einem Ermessen freigesetzt werden, das ein Moment ungenormter Subjektivität prinzipiell voraussetzt und tatsächlich enthält. Lernen und Lehren statt dessen zum Zweck besserer Kontrollierbarkeit in das Geschirr von Kompetenzmodellen einzuspannen 42 , bedeutet die Missachtung derjenigen Deutung von Humanität, die mit der Verbindung von Bildung und Menschenwürde im Renaissance-Humanismus auf den Weg gebracht worden ist.
Zur Kritik des Kompetenzbegriffs vgl. Klaus Schaller: Zauberformel »Kompetenz«, in: Vierteljahrsschrift für wissenschaftliche Pädagogik 85 (2009), 389–412.
42
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Peter Bieri
Geboren 1944 in Bern, war Bieri als Schüler von Dieter Henrich und Ernst Tugendhat nach Lehrtätigkeiten in Heidelberg und Marburg von 1993–2007 Professor für Philosophie an der Freien Universität Berlin; 2007 Lichtenberg-Medaille der Universität Göttingen, in diesem Jahr auch Rückzug aus dem akademischen Beruf, verbunden mit, wie zu lesen ist, deutlicher Kritik an dem gegenwärtig dominierenden Drittmittelbetrieb und Wissenschaftsmanagement als »Diktatur der Geschäftigkeit«, die »mit der authentischen Motivation eines Wissenschaftlers gar nichts zu tun« habe. Bieris philosophisches Hauptwerk »Das Handwerk der Freiheit« geht bei weitem über Positionen hinaus, in denen das vieldiskutierte Problem der Willensfreiheit als Vermögen vorgestellt wird, zwischen Handlungsalternativen zu entscheiden, oder im Sinne einer schlichten Dichotomisierung von »frei« und »unfrei« behandelt wird. Freiheit erscheint vielmehr als etwas Graduelles oder besser Prozesshaftes, das mittels eines anzueignenden »Handwerks« (1) der Reflexion über unsere Wünsche und Ziele entwickelt werden kann, ja: errungen werden muss. Sie wird behandelt als Aufgabe einer nötigen Arbeit an sich selbst, letztlich als Bildung. Bieri kritisiert in diesem Zusammenhang sehr anschaulich eine Behauptung, welche deterministische »Weltbilder« oft begleitet, nämlich den Anspruch, dass die Neurowissenschaften das Phänomen »Bewusstsein« erklärt hätten bzw. dass eine Erforschung neuronaler Vorgänge an sich schon Aussagen über Willensentscheidungen und über die Welt der Kultur erlaube. Wer so argumentiert, sitzt einem Kategorienfehler auf ähnlich dem, der ein Bild von Rembrandt zerlegen wollte, um herauszufinden, was es darstellt: »Wie beim Gemälde, so auch beim Menschen. Es gibt eine physiologische Geschichte über den Menschen, zu der auch die Geschichte über das neurobiologische Geschehen gehört. Daneben gibt es eine psychologische Ge(1)
Peter Bieri: Das Handwerk der Freiheit. Über die Entdeckung des eigenen Willens. München-Wien 2001.
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Peter Bieri
schichte, in der er als eine Person beschrieben wird. Aus dieser Perspektive wird ihm vieles zugeschrieben, das in der ersten Geschichte nicht Thema sein kann, weil diese Geschichte dafür gar nicht die begrifflichen Mittel hat: Wille, Überlegungen, Entscheidungen. Nehmen wir an, jemand zerlegte einen Menschen (natürlich nur im Tomografen), um herauszufinden, was er will, überlegt und entscheidet. Wäre er nicht auch verrückt – im selben Sinne wie beim Gemälde?« (2) Unter dem Pseudonym »Pascal Mercier« veröffentlichte Peter Bieri neben seinem philosophischen Werk vier Romane, von denen insbesondere »Nachtzug nach Lissabon« (2004) ein von Kritikern hoch gelobter und von Lesern außerordentlich geschätzter »Bewusstseinskrimi« »mit Tiefgang« und in Millionenauflage wurde, übersetzt in 15 Sprachen. Ein pflichtbewusster Gymnasiallehrer für Latein, Griechisch und Hebräisch gerät hier in eine Reihe von Begebenheiten, die in ihm eine nachhaltige Wandlung auslösen: er hilft einer unbekannten Portugiesin, die auf ihn den Eindruck macht, sie wolle sich das Leben nehmen, und er stößt alsbald danach auf das Buch eines geheimnisvollen Autors namens Amadou de Prado, auf dessen Spuren er die bisherigen Gleise seines Lebens verlässt und den Nachtzug nach Lissabon besteigt: Metapher, wie man gesagt hat, einer Lebensreise, die ein jeder anzutreten hat. In seiner Festrede an der Pädagogischen Hochschule Bern vom 4. November 2005, die im Folgenden wiedergegeben wird, ruft Bieri in fulminanter Weise das große Spektrum der Erwartungen und Ansprüche auf, die in der abendländischen Tradition mit dem Bildungsbegriff verbunden sind. Er schärft diese Tradition in der eindrucksvollen Form scheinbar lakonischer, dabei aber mit höchstem – »leidenschaftlichem« – Anspruch vorgetragener thesenartiger Feststellungen zugleich in einer besonderen Weise neu an: Bildung bedeutet Orientierung und (historische) Aufklärung; der Gebildete kann sein Selbstverständnis »vertiefen und fortspinnen« und weiß dabei zugleich um die »brüchige Vielfalt«, wie sie in seinem Inneren immer auch besteht. »Der Gebildete, können wir nun sagen, ist einer, der über seine seelische Gestalt selbst bestimmt, indem er sich nicht an das einmal aufgebaute Selbstbild klammert, sondern einen stetigen Prozeß erneuter Selbstbewertung zuläßt und die damit verbundene Unsicherheit aushält, das Ganze im Bewußtsein der Kontingenz. Dadurch wird er im emphatischen Sinne ein Subjekt«. (2)
Peter Bieri: Was macht Bewusstsein zu einem Rätsel?, in: Spektrum der Wissenschaft, Okt. 1992, 58–56; ders.: Unser Wille ist frei, in: Der Spiegel 2 (2005), 124–125.
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Zugleich verbindet sich mit der Bildung bei Bieri die Vision einer Differenzierung und Sensibilisierung, die vom Wissen in eine emotionale, ästhetische und moralische Dimension führen soll: (3) »Der Leser von Literatur lernt […], wie man über das Denken, Wollen und Fühlen von Menschen sprechen kann. Er lernt, dass man derselben Sache gegenüber anders empfinden kann, als er es gewohnt ist. Andere Liebe, anderer Hass. Er lernt neue Wörter und neue Metaphern für seelisches Geschehen. Er kann, weil sein begriffliches Repertoire größer geworden ist, nuancierter über sein Erleben reden, und das wiederum ermöglicht ihm, differenzierter zu empfinden. Das hat zur Folge, dass auch seine Beziehungen zu den anderen differenzierter und reicher werden. Das gilt vor allem für die Fähigkeit, die wir Einfühlungsvermögen nennen. Sie ist ein Gradmesser für Bildung: Je gebildeter jemand ist, desto besser kann er sich ausmalen, wie es wäre, in der Lage anderer zu sein, und dadurch vermag er, ihr Leid zu erkennen. Bildung macht präzise soziale Phantasie möglich, und in dieser Form ist Bildung tatsächlich ein Bollwerk gegen Grausamkeit«. Nicht anders als in der gesamten Bildungstradition liegt am Ende hierin auch die Bestimmung wahren menschlichen Glücks und ebenfalls nicht anders als von Platon bis Humboldt wird diese Perspektive eines wirklich Humanen abgegrenzt gegen ihre technizistische Verkürzung: »Niemand, der die Dichte solcher Augenblicke kennt, wird Bildung mit Ausbildung verwechseln und davon faseln, daß es bei Bildung darum gehe, uns »fit für die Zukunft« zu machen«. Wie bei Humboldt (und anders als etwa bei Robert Spaemann) (4) gibt es auch keinen erkennbaren Religionsvorbehalt im Bildungsbegriff.
Wie wre es, gebildet zu sein? (2005) Bildung ist etwas, das Menschen mit sich und für sich machen: Man bildet sich. Ausbilden können uns andere, bilden kann sich jeder nur selbst. Das ist nicht Wortklauberei, kein spitzfindiges Geplänkel eines Rabulisten. Sich zu bilden ist tatsächlich etwas ganz anderes als aus(3)
Zu einer konkreten Vermittlung in Prozesse philosophischer Bildung vgl. Martina Dege: Leidenschaftliche Selbstbildung, in: Zeitschrift für Didaktik der Philosophie und Ethik, Ausgabe »Person und Bildung« 31 (2009), 260–266. (4) Robert Spaemann: Was ist ein gebildeter Mensch?, in: ders.: Grenzen. Zur ethischen Dimension des Handelns. Stuttgart 2001, 513–516.
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gebildet zu werden. Eine Ausbildung durchlaufen wir mit dem Ziel, etwas zu können. Wenn wir uns dagegen bilden, arbeiten wir daran, etwas zu werden – wir streben danach, auf eine bestimmte Art und Weise in der Welt zu sein. Diese Art und Weise, der Welt und uns selbst zu begegnen, ist mein Thema.
Bildung als Weltorientierung Bildung beginnt mit Neugierde. Man töte in jemandem die Neugierde ab, und man stiehlt ihm die Chance, sich zu bilden. Neugierde ist der unersättliche Wunsch zu erfahren, was es in der Welt alles gibt. Sie kann in ganz verschiedene Richtungen gehen: hinauf zu den Gestirnen und hinunter zu den Atomen und Quanten; hinaus zu der Vielfalt der natürlichen Arten und hinein in die phantastische Komplexität eines menschlichen Organismus; zurück in die Geschichte von Weltall, Erde und menschlicher Gesellschaft, und nach vorn zu der Frage, wie es mit unserem Planeten, unseren Lebensformen und Selbstbildern weitergehen könnte. Stets geht es um zweierlei: zu wissen, was der Fall ist, und zu verstehen, warum es der Fall ist. Die Menge von dem, was es zu wissen und zu verstehen gibt, ist gigantisch, und sie wächst mit jedem Tag. Sich zu bilden kann nicht heißen, außer Atem hinter allem herzulaufen. Die Lösung ist, sich eine grobe Landkarte des Wissbaren und Verstehbaren zurechtzulegen und zu lernen, wie man über die einzelnen Provinzen mehr lernen könnte. Bildung ist also ein doppeltes Lernen: Man lernt die Welt kennen, und man lernt das Lernen kennen. Dabei entstehen zwei Dinge, die gleichermaßen wichtig sind. Das eine ist ein Sinn für die Proportionen. Man braucht, um gebildet zu sein, nicht die genaue Anzahl der Sprachen zu kennen, die es auf der Erde gibt. Aber man sollte wissen, daß es eher 4000 sind als 40. China ist das bevölkerungsreichste, aber bei weitem nicht das größte Land. Es gibt nicht Hunderte von chemischen Elementen. Die Lichtgeschwindigkeit ist weder zehn noch eine Million Kilometer pro Sekunde. Das Universum ist nicht Millionen, sondern Milliarden von Jahren alt ist. Das Mittelalter begann nicht mit Jesu Geburt und die Neuzeit nicht vor hundert Jahren. – Zu diesem Sinn für Proportionen gehört auch, daß man die Bedeutung von Menschen, Leistungen und Ereignissen richtig gewichten kann. Louis Pasteur war für die Menschheit wichtiger als 206 https://doi.org/10.5771/9783495861011 .
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Pelé, die Erfindung des Buchdrucks, der Glühbirne und des Computers folgenreicher als diejenige des Regenschirms, des Rasierapparats und des Lippenstifts. Das zweite, was im Zuge der Weltorientierung entsteht, ist ein Sinn für Genauigkeit: ein Verständnis davon, was es heißt, etwas genau zu kennen und zu verstehen: ein Gestein, ein Gedicht, eine Krankheit, eine Symphonie, ein Rechtssystem, eine politische Bewegung, ein Spiel. Es gibt niemanden, der mehr als nur einen winzigen Ausschnitt der Welt genau kennt. Doch das verlangt die Idee der Bildung auch nicht. Aber der Gebildete ist einer, der eine Vorstellung davon hat, was Genauigkeit ist, und daß sie in verschiedenen Provinzen des Wissen ganz Unterschiedliches bedeutet.
Bildung als Aufklrung Der Gebildete ist also derjenige, der sich in der Welt zu orientieren weiß. Was ist diese Orientierung wert? »Wissen ist Macht.« Was die Idee der Bildung anlangt, kann das nicht heißen: mit seinem Wissen über andere zu herrschen. Die Macht des Wissens liegt woanders: Sie verhindert, daß man Opfer ist. Wer in der Welt Bescheid weiß, kann weniger leicht hinters Licht geführt werden und kann sich wehren, wenn andere ihn zum Spielball ihrer Interessen machen wollen, in Politik oder Werbung etwa. Orientierung in der Welt ist nicht die einzige Orientierung, auf die es ankommt. Gebildet zu sein heißt auch, sich bei der Frage auszukennen, worin Wissen und Verstehen bestehen, wie weit sie reichen und was ihre Grenzen sind. Es heißt, sich die Frage vorzulegen: Was weiß und verstehe ich wirklich, und was von den Dingen, die ich und die anderen glauben, steht auf wackligen Füßen? Es heißt, einen Kassensturz des Wissens und Verstehens zu machen. Dazu gehören Fragen wie diese: Was für Belege habe ich für meine Überzeugungen? Sind sie verläßlich? Und belegen sie wirklich, was sie zu belegen scheinen? Wie verläßlich sind die Prinzipien, mit denen man von den Belegen zu den Behauptungen kommt, die über sie hinausgehen? Was sind gültige Schlüsse und was Fehlschlüsse? Was sind gute Argumente, und was ist trügerische Sophisterei? Das Wissen, das es hier zu erlangen gibt, ist Wissen zweiter Ordnung. Es unterscheidet den naiven vom gebildeten
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Wissenschaftler, den ernstzunehmenden vom einfältigen Journalisten, der noch nie etwas von Quellenkritik gehört hat. Wissen zweiter Ordnung bewahrt uns davor, das Opfer von Aberglauben zu werden. Wann macht ein Ereignis ein anderes wahrscheinlich? Was ist ein Gesetz im Unterschied zu einer zufälligen Korrelation? Was unterschiedet eine echte Erklärung von einer Scheinerklärung? Das müssen wir wissen, wenn wir ein Risiko abschätzen und uns ein Urteil über all die Vorhersagen bilden wollen, mit denen wir bombardiert werden. Jemand, der in diesen Dingen wach ist, wird skeptische Distanz wahren nicht nur gegenüber esoterischer Literatur, sondern auch gegenüber wirtschaftlichen Prognosen, Wahlkampfargumenten, psychotherapeutischen Versprechungen und dreisten Anmaßungen der Gehirnforschung. Und er wird gereizt, wenn er hört, wie andere Wissenschaftsformeln nur nachplappern. Der in diesem Sinne Gebildete weiß zwischen bloß rhetorischen Fassaden und richtigen Gedanken zu unterscheiden. Er kann das, weil ihm zwei Fragen zur zweiten Natur geworden sind: »Was genau heißt das?« und: »Woher wissen wir, daß es so ist?« Das immer wieder zu fragen, macht resistent gegenüber rhetorischem Drill, Gehirnwäsche und Sektenzugehörigkeit, und es schärft die Wahrnehmung gegenüber blinden Gewohnheiten des Denkens und Redens, gegenüber modischen Trends und jeder Form von Mitläufertum. Man kann nicht mehr geblufft und überrumpelt werden, Schwätzer, Gurus und anmaßende Journalisten haben keine Chance. Das ist ein hohes Gut, und sein Name ist: gedankliche Unbestechlichkeit.
Bildung als historisches Bewußtsein Das aufgeklärte Bewußtsein des Gebildeten ist nicht nur kritisches Bewußtsein und skeptische Wachsamkeit. Es ist auch geprägt von historischer Neugierde: Wie ist es dazu gekommen, daß wir so denken, fühlen, reden und leben? Und auf dem Grund dieser Neugierde liegt der Gedanke: Es hätte alles auch anders kommen können, es liegt in unserer Kultur keine metaphysische Zwangsläufigkeit und keine Überlegenheit, die Grund wäre, auf andere hinabzusehen. Das aufgeklärte Bewußtsein ist also auch ein Bewußtsein der historischen Zufälligkeit. Es drückt sich aus in der Fähigkeit, die eigene Kultur aus einer gewissen Distanz heraus zu betrachten und ihr gegenüber eine ironische und 208 https://doi.org/10.5771/9783495861011 .
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spielerische Einstellung einzunehmen. Das heißt nicht: die eigene Lebensform nicht ernst zu nehmen, sich nicht zu ihr zu bekennen und sie zu verteidigen. Es heißt nur, von dem naiven und arroganten Gedanken abzurücken, die eigene Lebensform sei die überlegene, einem angeblichen Wesen des Menschen angemessener als jede andere. Solche Anmaßung, die zur Essenz eines jeden Imperialismus und einer jeden Missionierung gehört, ist ein untrügliches Zeichen von Unbildung. Das historische Bewußtsein führt zu dem Bedürfnis, sich die Kultur, in die man zufällig hineingewachsen ist, noch einmal neu anzueignen und die Selbstbilder, die sie für uns bereithält, daraufhin zu überprüfen, ob sie wirklich zu einem passen. Das hat viel mit einem Nachdenken über Sprache zu tun. Die Geschichte von uns als Teilnehmer an einer bestimmten Kultur zu beleuchten, heißt vor allem, sich die Geschichte unserer Wörter zu vergegenwärtigen, denn wir sind sprechende Tiere, und nichts trägt mehr zu unserer kulturellen Identität bei als die Wörter, mit denen wir unser Verhältnis zur Natur, zu den anderen Menschen und zu uns selbst gestalten. Menschliche Lebensformen werden durch Sprachen geprägt, in denen sich Weltanschauungen zu Wort melden. Wie wir die Welt sehen, zeigt sich in den zentralen Kategorien, um die herum eine Sprache gruppiert ist. Wie sind diese Kategorien entstanden, wie haben sie sich gewandelt, was ist verlorengegangen, was dazugekommen? Schnell fallen einem Kategorien ein wie »Geist«, »Seele«, »Bewußtsein« und »Vernunft« – also diejenigen Wörter, die dazu dienen, das Besondere am Menschen, seine besondere Dignität, zu bezeichnen. Der historische Wandel ist hier dramatisch und hat gedankliche Unsicherheit hinterlassen, die zu kennen zur Bildung gehört. Ähnliches gilt für die Ideen von Gut und Böse, Schuld und Sühne, Achtung und Würde, Freiheit und Gerechtigkeit. Die Wortgeschichten zeigen, wieviel Unterschiedliches, Diffuses und Fragmentarisches sich unter der glatten Oberfläche verbirgt. Wörter wie »Grausamkeit« und »Leiden«, »Glück« und »Gelassenheit« sind Beispiele dafür, wie sich in wenigen Wörtern kulturelle Selbstbilder kristallisieren. In der Sprache der Gefühle kommt zum Ausdruck, wie die Teilnehmer an einer Kultur sich sehen. Lebensformen und ihre Bewertungen kommen oft in prägenden Metaphern zum Ausdruck, und man ist in einer Kultur erst richtig angekommen, wenn man die Sprache der Zärtlichkeit beherrscht, die Schimpfwörter und Obszönitäten, und wenn man weiß, was es für sprachliche Tabus gibt. Eine Kultur zu verstehen heißt, sich mit den Vorstellungen von 209 https://doi.org/10.5771/9783495861011 .
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moralischer Integrität auszukennen, die dort herrscht. Wir wachsen mit bestimmten moralischen Geboten und Verboten auf, wir atmen sie ein mit der Luft des Elternhauses, der Straße, der Filme und Bücher, die uns erschüttern und prägen – in dem Alter also, in dem sich die innere Zensur ausbildet –, sie machen unsere moralische Identität aus und bestimmen unsere moralischen Empfindungen wie Entrüstung, Groll, Schuld und moralische Eitelkeit. Zuerst, das gehört zur Ernsthaftigkeit der Moral, setzen wir diese Dinge absolut, wir lernen sie nicht als eine Möglichkeit unter anderen. Der Bildungsprozeß besteht darin, zur Kenntnis zu nehmen, daß man in anderen Teilen der Erde, in anderen Gesellschaften und Lebensformen, über Gut und Böse anders denkt und empfindet; daß auch unsere moralische Identität kontingent ist, ein historischer Zufall; daß sich etwa die Vorstellungen von Sünde und Demut außerhalb der monotheistischen Religionen so nicht finden lassen; daß Rache und Vergeltung nicht überall als verwerflich gelten; daß man über Leiden, Tod und Glück auch ganz anders denken kann; und daß man anderswo mit den physischen und moralischen Übeln in der Welt auch ohne den Gedanken fertig wird, daß sie nicht das letzte Wort sind und daß dereinst noch einmal abgerechnet wird. Für den Gläubigen kann Bildung Erschütterung bedeuten. Zu erfahren, daß Milliarden von Menschen offenbar nicht den richtigen Glauben haben und also einer schlimmen Zukunft entgegensehen – das muß ein Schock sein. Und entsprechend schwer ist die Anerkennung des Offensichtlichen: daß es geographischer und gesellschaftlicher Zufall ist, was ich glaube, welcher Liturgie ich folge – und eben auch, wie meine Moral aussieht. Denn es gehört zum Inhalt religiösen Glaubens, daß er nicht auf einer historischen Zufälligkeit beruhen darf. Das drohte den Glauben zu entwerten, Religion erschiene plötzlich als Spielball kultureller Zufälligkeit. Bildung ist deshalb subversiv und gefährlich, was Weltanschauung und Ideologie angeht, denn sie bringt das Bewußtsein der Kontingenz und also Relativität einer jeden Lebensform zu Bewußtsein. Totalitäre Ideologien, auch die Kirche, versuchen, diesen Aspekt der Bildung systematisch zu ersticken, daher die Bücherund Reiseverbote, im Islam steht auf Apostasie die Todesstrafe. Bildung löst totalitäre Metaphysik auf und versteht Religion als Ausdruck einer Lebensform, die, obgleich wir sie als historisch kontingent erkennen, die Form ist, die wir unserem Leben geben wollen. Religion, so der Gedanke, hat nicht mit metaphysischer Wahrheit zu tun, sondern mit Identitätsbildung, mit der Frage, wie wir leben wollen. Die Kenntnis 210 https://doi.org/10.5771/9783495861011 .
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der Alternativen nimmt ihr nur scheinbar ihren Wert; der Wert kann sogar als größer erlebt werden, weil wir es jetzt nicht mehr mit einem unverfügbaren Schicksal, sondern mit einer freien Wahl zu tun haben. Man könnte sagen: Nur wer die historische Zufälligkeit seiner kulturellen und moralischen Identität kennt und anerkennt, ist richtig erwachsen geworden. Man hat die Verantwortung für das eigene Leben noch nicht vollständig übernommen, solange man sich von einer fremden Instanz vorschreiben läßt, wie man zu denken hat über Liebe und Tod, Moral und Glück. Das Bewußtsein historischer Zufälligkeit schließt noch viele andere Dinge ein: Einmal ein Wissen um unterschiedliche Staatsformen und Rechtssysteme, aber auch Dinge wie: Vorstellungen von Intimität; was Anlaß zu Scham ist: das Verhältnis zum Körper; Formen der Höflichkeit und Würde; wie man feiert und sich anzieht; das Verhältnis zu Drogen; Formen der Ausgelassenheit und Zärtlichkeit; wann man weint und lacht; Ausprägungen von Humor; Ausdruck von Trauer; Beerdingungsrituale; was beleidigend ist; wie man ißt; was man verachtet; wie sich Mann und Frau nähern; Formen des Flirts. Auch hier heißt gebildet sein: Wissen um die Vielfalt, Respekt vor dem Fremden, Zurücknahme von anfänglicher Überheblichkeit. Wenn ich in diesem Sinne gebildet bin, habe ich eine bestimmte Art von Neugierde: wissen zu wollen, wie es gewesen wäre, in einer anderen Sprache, Gegend und Zeit, auch in einem anderen Klima aufzuwachsen. Wie es wäre, in einem anderen Beruf, einer anderen sozialen Schicht zu Hause zu sein. Ich habe das Bedürfnis zu reisen, wach zu reisen. Meine inneren Grenzen zu erweitern, zunächst Abstoßendes zu verstehen und annehmbar zu finden. Bildung macht süchtig nach Dokumentarfilmen. Bisher habe ich Bildung als Weltorientierung, Aufklärung und historisches Bewußtsein definiert. Jetzt füge ich eine Definition hinzu, die mir die liebste ist: Der Gebildete ist einer, der ein möglichst breites und tiefes Verständnis der vielen Möglichkeiten hat, ein menschliches Leben zu leben.
Bildung als Artikuliertheit Der Gebildete ist ein Leser. Doch es reicht nicht, ein Bücherwurm und Vielwisser, ein wandelndes Lexikon zu sein. Es gibt – so paradox es 211 https://doi.org/10.5771/9783495861011 .
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klingt – den ungebildeten Gelehrten. Der Unterschied: Der Gebildete weiß Bücher so zu lesen, daß sie ihn verändern. »Schützt Humanismus denn vor gar nichts?«, fragte Alfred Andersch mit Blick auf Heinrich Himmler, der aus einer Familie des humanistisch gebildeten Bürgertums stammte. Die Antwort ist: Er schützt nur denjenigen, der die humanistischen Schriften nicht bloß konsumiert, sondern sich auf sie einläßt; denjenigen, der nach dem Lesen ein anderer ist als vorher. Das ist ein untrügliches Kennzeichen von Bildung: daß einer Wissen nicht als bloße Ansammlung von Information, als vergnüglichen Zeitvertreib oder gesellschaftliches Dekor betrachtet, sondern als etwas, das innere Veränderung und Erweiterung bedeuten kann, die handlungswirksam wird. Das gilt nicht nur, wenn es um moralisch bedeutsame Dinge geht. Der Gebildete wird auch durch Poesie ein anderer. Das unterscheidet ihn vom Bildungsbürger und Bildungsspießer. Der Leser von Sachbüchern hat einen Chor von Stimmen im Kopf, wenn er nach dem richtigen Urteil in einer Sache sucht. Er ist nicht mehr allein. Und es geschieht etwas mit ihm, wenn er Voltaire, Freud, Bultmann oder Darwin liest. Er sieht die Welt danach anders, kann anders, differenzierter darüber reden und mehr Zusammenhänge erkennen. Der Leser von Literatur lernt noch etwas anderes: wie man über das Denken, Wollen und Fühlen von Menschen sprechen kann. Er lernt die Sprache der Seele. Er lernt, daß man derselben Sache gegenüber anders empfinden kann, als er es gewohnt ist. Andere Liebe, anderer Haß. Er lernt neue Wörter und neue Metaphern für seelisches Geschehen. Er kann, weil sein Wortschatz, sein begriffliches Repertoire, größer geworden ist, nun nuancierter über sein Erleben reden, und das wiederum ermöglicht ihm, differenzierter zu empfinden. Jetzt haben wir eine weitere Definition von Bildung: Der Gebildete ist einer, der besser und interessanter über die Welt und sich selbst zu reden versteht als diejenigen, die immer nur die Wortfetzen und Gedankensplitter wiederholen, die ihnen vor langer Zeit einmal zugestoßen sind. Seine Fähigkeit, sich besser artikulieren zu können, erlaubt ihm, sein Selbstverständnis immer weiter zu vertiefen und fortzuspinnen, wissend, daß das nie aufhört, weil die Idee des Endpunkts verfehlt wäre, denn es gibt kein Ankommen bei einer Essenz des Selbst.
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Bildung als Selbsterkenntnis Es kennzeichnet Personen, daß sie sich, was ihre Meinungen, Wünsche und Emotionen anlangt, zum Problem werden und sich um sich selbst kümmern können. Bildung ist etwas, das an diese Fähigkeit anknüpft. Es mag einer noch so gut ausgebildet sein und eine noch so große Orientierung haben, so daß er in der Welt erfolgreich navigieren kann – wenn er sich nicht auf diese Weise gegenüberzutreten und an sich zu arbeiten weiß, verfügt er nicht über Bildung in einem vollen, reichen Sinn des Ausdrucks. Eine Möglichkeit ist, daß es sich dabei um Bildung als Selbsterkenntnis handelt: Statt daß ich nur bestimmte Dinge glaube, wünsche und fühle, und mich davon einfach vorantreiben lasse, kann ich mich fragen, woher sie kommen: welchen kausalen Ursprung sie haben und auf welchen Gründen sie beruhen. Im Falle des Denkens und Meinens entsteht dadurch Wissen zweiter Ordnung, von dem schon früher die Rede war. Doch nun werde ich auch reflektierter, was meinen Willen und meine Emotionen betrifft: Wie bin ich zu diesem Willen und diesen Gefühlen gekommen? Was hat sie angeschoben, und wie gut sind sie begründet? Es geht darum, sich in seinem Denken, Fühlen und Wollen zu verstehen, statt diese Dinge nur geschehen zu lassen. Es geht um die Interpretation meiner Vergangenheit und das Durchleuchten meiner Entwürfe für die Zukunft, kurz: um das Schaffen und Fortschreiben von Selbstbildern. Und der Gebildete ist auch darin reflektiert, daß er nach der Verlässlichkeit und den Grenzen solcher Einsichten fragt: Woher weiß ich, daß ein Selbstbild kein Trugbild ist? Von welcher Art sind die Hindernisse beim Erlangen von Selbsterkenntnis? Gibt es einen privilegierten Zugang zu sich selbst, oder erwirbt man Kenntnis von sich selbst wie man Kenntnis von anderen und dem Rest der Welt erwirbt? Und auch diese Frage beschäftigt den Gebildeten: Inwiefern handelt es sich bei Selbsterkenntnis um ein Entdecken und inwiefern um ein Schaffen oder Erfinden? Der Gebildete – so lautet meine nächste Definition – ist einer, der über sich Bescheid weiß und Bescheid weiß, in welchem Sinne es schwierig ist, dieses Wissen zu erwerben. Er ist einer, dessen Selbstbild reflektiert ist und mit skeptischer Wachheit in der Schwebe gehalten werden kann. Einer, der um seine innere Vielfalt weiß und der zu unterscheiden versteht zwischen der Identität, die er aufbaut, um seinen sozialen Rollen zu genügen, und der brüchigen inneren Vielfalt, die 213 https://doi.org/10.5771/9783495861011 .
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den Gedanken Lügen straft, wir hätten eine eindeutige, kompakte Identität. Einer, der ein spielerisches Verhältnis zu der Unabgeschlossenheit und Flüchtigkeit von Selbstbildern hat, und sie als eine Form der Freiheit sehen kann.
Bildung als Selbstbestimmung In dem Prozeß, in dem jemand sich bildet, geht es nicht nur darum, das Wissen und Verstehen über sich selbst zu vergrößern und zu vertiefen. Es geht auch darum, sich in seinem Denken, Fühlen und Wollen zu bewerten, sich mit einem Teil zu identifizieren und sich vom Rest zu distanzieren. Darin besteht das Schaffen einer seelischen Identität mit ihrer besonderen inneren Schwerkraft. Oder mit einer anderen Metapher: So meißeln wir eine seelische Skulptur für uns selbst. Ich kann mit der Welt meines Wollens, meiner Gedanken und Gefühle aus verschiedenen Gründen unzufrieden sein: weil es an Übersicht und innerer Stimmigkeit fehlt; weil ich mir draußen ständig Beulen hole; weil ich mir darin fremd vorkomme. Dann brauche ich im weitesten Sinne des Worts eine éducation sentimentale, diejenige Art von Bildung also, die man einst mit gutem Grund Herzensbildung nannte: Gestützt auf wachsende Einsicht in die Logik und Dynamik meines seelischen Lebens, lerne ich, daß Gedanken, Wünsche und Gefühle kein unabwendbares Schicksal sind, sondern etwas, das man bearbeiten und verändern kann, in Grenzen zwar, aber doch weitergehend, als ich gedacht hatte. Es ist in diesem Lernprozeß, daß ich erfahre, was es heißt, nicht nur in meinem Tun, sondern auch in meinem Wollen und Erleben selbstbestimmt zu sein. Diese Selbstbestimmung kann nicht darin bestehen, daß ich mich in einer inneren Festung verbarrikadiere, um jeder Beeinflussung durch andere, die das Gift der Fremdbestimmung enthalten könnte, zu entfliehen. Was ich lerne, ist etwas anderes: zu unterscheiden zwischen einer Beeinflussung, die mich von mir selbst entfremdet, und einer anderen, die mich freier macht, indem sie mich näher an mich selbst heranführt. Jede Form von Psychotherapie, die über bloße Konditionierung und Dekonditionierung hinausgeht, trägt zu dieser Art von innerer Bildung bei. Selbstbestimmung in diesem Sinne geschieht nicht von einem inneren Hochsitz herunter, es gibt keine Vogelperspektive auf das seelische Geschehen, aus der heraus ich darüber Regie führen könnte, wie ich 214 https://doi.org/10.5771/9783495861011 .
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denke, was ich fühle und will. Ich – das ist nichts anderes als dieses seelische Geschehen selbst. Und deshalb kann, daß ich über mich selbst bestimme, nur dieses heißen: Es findet ein unaufhörliches Knüpfen, Auflösen und Neuknüpfen des Netzes aus seelischen Episoden, Zuständen und Dispositionen statt, das ich bin, ein Entwerfen, Verwerfen und Umbauen meines Selbstbilds, an dem ich messe, was mir innerlich zustößt. Der Gebildete, können wir nun sagen, ist einer, der über seine seelische Gestalt selbst bestimmt, indem er sich nicht an das einmal aufgebaute Selbstbild klammert, sondern einen stetigen Prozeß erneuter Selbstbewertung zuläßt und die damit verbundene Unsicherheit aushält, das Ganze im Bewußtsein der Kontingenz. Dadurch wird er im emphatischen Sinne ein Subjekt.
Bildung als moralische Sensibilitt Éducation sentimentale, Herzensbildung, kann noch etwas anderes bedeuten: Entwicklung von moralischer Sensibilität. Aus der Einsicht in die Kontingenz der eigenen kulturellen Identität entsteht Toleranz – nicht nur ein förmliches Dulden des Fremden, das man sich mühsam abringen muß, sondern echter und selbstverständlicher Respekt vor anderen Arten zu leben. Nicht, daß das immer leicht wäre. Es ist besonders dann schwierig, wenn das Fremde die moralischen Erwartungen verletzt, die zur eigenen Identität gehören. Was machen wir mit Grausamkeit, die uns in Rage versetzt, anderswo aber akzeptierter Bestandteil des Lebens ist? Gebildet zu sein heißt nicht, über unverrückbare Prinzipien zu verfügen, die uns hier den Weg weisen. Bildung ist die schwer zu erlernende Kunst, die Balance zu halten zwischen dem Anerkennen des Fremden und dem Bestehen auf der eigenen moralischen Vision. Es gilt, diese Spannung auszuhalten, und Bildung verlangt hier Furchtlosigkeit. Wir hatten gesehen: Je artikulierter jemand ist, je besser er die Sprache des Erlebens beherrscht, desto differenzierter empfindet er. Das hat zur Folge, daß auch seine Beziehungen zu den anderen differenzierter und reicher werden. Das gilt vor allem für die Fähigkeit, die wir Einfühlungsvermögen nennen. Man kann sie auch soziale Phantasie nennen, und sie ist ein Gradmesser für Bildung: Je gebildeter jemand ist, desto besser ist er darin sich auszumalen, wie es wäre, in der Lage anderer zu sein. Bildung macht präzise Phantasie möglich. Sie ist es, 215 https://doi.org/10.5771/9783495861011 .
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die verschleierte Formen der Unterdrückung sichtbar macht und Licht wirft auf Grausamkeiten, die man begangen hat, ohne es zu merken. In dieser Form ist Bildung tatsächlich ein Bollwerk gegen Grausamkeit. Um zu tun, was Himmler tat, muß man an unvorstellbarer Phantasielosigkeit leiden, an moralischem Autismus. Doch Bildung im Sinne seelischer Artikuliertheit macht auch Dinge möglich, die nicht mit Moral zu tun haben: subtile Formen des Neinsagens und der Abgrenzung, Ironie, vorher unbekannte Formen der Intimität. Auch um all diese Dinge geht es, wenn von Herzensbildung die Rede ist.
Bildung als poetische Erfahrung Ausbildung ist stets an einem Nutzen orientiert: Man erwirbt ein Know-how, um etwas machen, etwas erreichen zu können, sei es Geld, Macht oder Anerkennung. Mit Bildung ist es anders: Zwar bringt sie auch Fähigkeiten mit sich, und einige von ihnen sind auch nützlich. Aber das ist nicht das Entscheidende. Die Bildung, von der hier die Rede gewesen ist, ist ein zweckfreier Wert, ein Wert in sich, wie die Liebe. Es wäre falsch zu sagen, sie sei ein Mittel, um glücklich zu sein, denn Glück kann man nicht planvoll ansteuern. Und es ist natürlich auch nicht so, daß es ohne Bildung kein Glück gibt; das zu behaupten wäre ein Anmaßung gegenüber denjenigen, für die Bildung unerreichbar bleibt. Aber es gibt Erfahrungen des Glücks, die aufs engste mit Facetten der Bildung verknüpft sind, wie ich sie besprochen habe: die Freude, an der Welt etwas besser zu verstehen und sich nun besser orientieren zu können; die befreiende Erfahrung, einen Aberglauben abschütteln zu können; das Glück beim Lesen eines Buchs, das einen historischen Korridor öffnet; die Faszination durch einen Film, der zeigt, wie ganz anders es anderswo ist, ein menschliches Leben zu führen; die beglükkende Erfahrung, eine neue Sprache für das eigene Erleben zu lernen; die freudige Überraschung, wenn man sich mit einemmal in einem wichtige Aspekt seines Lebens besser versteht als bisher; die Erlösung, wenn es einem gelingt, eingefahrene Geleise des Erlebens zu verlassen und sich in der inneren Gestalt zu verändern, so daß man mehr den Eindruck hat, selbst über sein Leben zu bestimmen; die überraschende Erfahrung, daß sich mit dem Anwachsen der sozialen Phantasie und der moralischen Sensibilität der eigene innere Radius vergrößert. 216 https://doi.org/10.5771/9783495861011 .
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Und Bildung schließt noch eine andere Dimension von Glück auf: die gesteigerte Erfahrung von Gegenwart beim Lesen von Poesie, beim Betrachten von Gemälden, beim Hören von Musik. Die Leuchtkraft von Worten, Bildern und Melodien erschließt sich nur demjenigen ganz, der ihren Ort in dem vielschichtigen Gewebe aus menschlicher Aktivität kennt, die wir Kultur nennen. Und auch hier könnte kein Unterschied größer sein als derjenige zwischen dem eitlen Kunstsammler und Konzertgänger auf der einen Seite und demjenigen, der die Erhabenheit von Kunst zu erleben weiß. Der eine ein Bildungsbürger, der andere ein Gebildeter. Niemand, der die Dichte solcher Augenblicke kennt, wird Bildung mit Ausbildung verwechseln und davon faseln, daß es bei Bildung darum gehe, uns »fit für die Zukunft« zu machen.
Leidenschaftliche Bildung Der Gebildete ist an seinen heftigen Reaktionen auf alles zu erkennen, das Bildung verhindert. Die Reaktionen sind heftig, denn es geht um alles: um Orientierung, Aufklärung und Selbsterkenntnis, um Phantasie, Selbstbestimmung und innere Freiheit, um moralische Sensibilität, Kunst und Glück. So sehr Toleranz sonst zur Bildung gehört: Gegenüber absichtlich errichteten Hindernissen und zynischer Vernachlässigung kann es keine Nachsicht geben und keine Gelassenheit. Boulevardblätter, die aus purer Profitgier so ungefähr alles zerstören, wovon ich gesprochen habe, können nur den heftigsten Ekel hervorrufen. Überhaupt ist der Gebildete einer, der vor bestimmten Dingen Ekel empfindet: vor der Verlogenheit von Werbung und Wahlkampf; vor Phrasen, Klischees und allen Formen der Unaufrichtigkeit; vor den Euphemismen und der zynischen Informationspolitik des Militärs; vor allen Formen der Wichtigtuerei und des Mitläufertums, wie man sie auch in den Zeitungen des Bürgertums findet, die sich für den Ort der Bildung halten. Der Gebildete sieht jede Kleinigkeit als Beispiel für ein großes Übel, will keine Beschwichtigungen hören, und seine Heftigkeit steigert sich bei jedem Versuch der Verharmlosung. Ein wahrhaft Gebildeter scheut sich auch nicht vor Donquichotterien und davor, für lächerlich gehalten zu werden. Denn wie gesagt: Es geht um alles.
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Quellennachweise
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Quellennachweise
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