"Selbstkritik" und Schuldbekenntnis: Kommunikation und Herrschaft unter Stalin (1917-1953) 9783486707243, 9783486579710

Unter Stalin wurden Menschen genötigt, sich selbst zu beschuldigen. Diese Praxis ging nicht auf vorrevolutionäre Traditi

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German Pages 405 [412] Year 2008

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"Selbstkritik" und Schuldbekenntnis: Kommunikation und Herrschaft unter Stalin (1917-1953)
 9783486707243, 9783486579710

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Erren • „Selbstkritik" und Schuldbekenntnis

Μ. 150 Jahre Wissen für die Zukunft

Oldenbourg Verlag

Ordnungssysteme Studien zur Ideengeschichte der Neuzeit

Jl· Herausgegeben von Dietrich Beyrau, Anselm Doering-Manteuffel und Lutz Raphael Band 19 R. Oldenbourg Verlag München 2008

Lorenz Erren

„Selbstkritik" und Schuldbekenntnis Kommunikation und Herrschaft unter Stalin (1917-1953)

R. Oldenbourg Verlag München 2008

Gedruckt mit Unterstützung der Otto Wolff-Stiftung

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über abrufbar.

© 2008 Oldenbourg Wissenschaftsverlag GmbH, München Rosenheimer Straße 145, D-81671 München Internet: oldenbourg.de Das Werk einschließlich aller Abbildungen ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlages unzulässig und strafbar. Dies gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Bearbeitung in elektronischen Systemen. Umschlaggestaltung: Dieter Vollendorf Umschlagbild: Roman Clemens: Spiel aus Form, Farbe, Licht und Ton (1929) © Theaterwissenschaftliche Sammlung, Universität zu Köln Gedruckt auf säurefreiem, alterungsbeständigem Papier (chlorfrei gebleicht). Druck: Memminger MedienCentrum, Memmingen Bindung: Buchbinderei Klotz, Jettingen-Scheppach ISBN 978-3-486-57971-0

Inhalt Vorwort

9

Einführung 1. Das stalinistische Schuldbekenntnis als Rätsel 2. Zum Forschungsstand: Eine Literaturübersicht 3. Zur Fragestellung und Vorgehensweise

11 11 13 23

I. Der bolschewistische Abstimmungskörper als kollektive Geisel Einleitung 1. Von der Revolution bis zum vierzehnten Parteitag: Konfliktlösung durch Kampfabstimmung 2. Vom vierzehnten zum fünfzehnten Parteitag: Auf dem Weg in die Kapitulation 3. „Vollständige Entwaffnung": Der fünfzehnte Parteitag (Dezember 1927) 4. Die neue Kultur der Fehlereingeständnisse und die Kapitulation der „Rechtsabweichler" Schlußfolgerung

33 33

II. „Kritik und Selbstkritik": Ursprung und Wirkung eines neuen Schlagworts Einleitung 1. „Selbstkritik" als soziale Norm 2. Die Geburt der „Selbstkritik" aus dem Geist der Wandzeitung 3. Praktiken und Funktionen der Selbstkritik Schlußfolgerung: Die Öffentlichkeit als Falle III. Die Gleichschaltung des Geisteslebens: „Selbstkritik" als Fehlereingeständnis Einleitung 1. Die Loyalitätsforderung der politischen Diktatur als Rahmenbedingung 2. Die Intellektuellen: Ein eigener Weg zur ritualisierten, bereuenden „Selbstkritik"? 3. Stalin mischt sich ein Schlußfolgerung

35 47 59 73 90

93 93 94 100 114 131

135 135 136 141 159 175

6

Inhalt

IV. Reue und Selbstkritik in der sowjetischen Öffentlichkeit 1931-1953.. Einleitung 1. Schuldbekenntnisse politischer Entscheidungsträger 2. Die loyale Sowjetbevölkerung wird zur Rede gestellt. Szenen aus dem Alltag 3. Die Parteibasis 4. Literaten und Wissenschaftler Schlußfolgerung

179 179 186 229 267 298 324

V. Schuldbekenntnisse im Gefängnis und vor Gericht Einleitung 1. Der gewöhnliche Strafprozeß als „Schauprozeß" 2. Schauprozesse, die sich gegen eine feindliche Willensbildung richteten Schlußfolgerung

327 327 328 333 366

Sozialistische Öffentlichkeit und Stalins Panoptikum

373

Anhang Abkürzungsverzeichnis Bibliographie und Quellennachweise

385 385 387

Personenregister

401

Meinen Eltern

Vorwort Die vorliegende Arbeit wurde im Oktober 2003 von der Philosophischen Fakultät der Eberhard Karls Universität Tübingen als Dissertation angenommen. Das Manuskript, das hier, leicht gekürzt und redigiert, veröffentlicht wird, wurde im Sommer 2004 abgeschlossen, seither erschienene Literatur nicht mehr eingearbeitet. An dieser Stelle möchte ich mich beim DAAD und der DfG bedanken, die meine Arbeit durch Stipendien im Rahmen des Alexander-Herzen-Programms und des Graduiertenkollegs „Kulturelles Bewußtstein und sozialer Wandel in der russischen und sowjetischen Gesellschaft des 20. Jahrhunderts" ermöglicht haben, ebenso bei der Otto-Wolff-Stiftung (Köln) für einen großzügigen Druckkostenzuschuß. Wichtiger noch als die materielle Absicherung war die freundliche Unterstützung, die ich von vielen Seiten erhalten habe. Besonders bedanken möchte ich mich bei Dietmar Wulff und Sergej Allenov für ihr Engagement für den wissenschaftlichen Nachwuchs, bei Jurij Orlickij für den Hinweis auf das Tagebuch Tverdins, bei Karl Eimermacher und Ursula Justus fur das Wissenschaftsmanagment, bei Ingo Grabowsky, Alexander Günther, Sandra Überschär und Alexander Brakel für ihre Gastfreundschaft und die gute Stimmung, bei Michael John für die Musik, bei Karl Schlögel, Martin Schulze-Wessel, Joachim von Puttkamer, Jörg Baberowski und Felix Ingold für die Einladung zu diversen Kolloquien, desgleichen bei Dietmar Neutatz, dessen „Metro-Buch" ich in dieser Arbeit gerne ausführlicher berücksichtigt hätte. Meinem Betreuer Dietrich Beyrau danke ich fur seine knappen, stets hilfreichen Hinweise, für seine Großzügigkeit und seinen trockenen Humor. Ein Gewinn waren zahlreiche sich ergebende Kontakte in Bochum, Berlin und Tübingen. Für ihr Interesse, ihre Zuhörerschaft und ihre Kritik danke ich den genannten Kollegen und ebenso Malte Rolf, Gabor Rittersporn, Jan Plamper, Stefan Karsch, Malte Griesse, Ingrid Schierle, Johannes Grützmacher, Marc Elie, Sandra Dahlke, Klaus Gestwa, Gristoph Gumb, Jochen Hellbeck, Jörg Ganzenmüller, Christoph Witzenrath, Susanne Schattenberg, Igor Narskij, Stefan Melle, Anke Hennig, Heike Winkel, Ludmila Thomas, Jörg Baberowski, Gero Fedtke, Martin Beißwenger, Bertholf Unfried, Konstantin Zimbaev, Thomas Bohn, David Feest und vielen anderen. Mein besonderer Dank gilt indessen Nancy Ans, ohne deren Geistesgegenwart diese Arbeit vielleicht nicht entstanden wäre.

Markgräflerland, den 2. April 2007

Einführung

1. Das stalinistische Schuldbekenntnis als Rätsel Unter Stalin wurden Menschen dazu gezwungen, sich öffentlich selbst zu beschuldigen. Jeder, der sich für die Sowjetunion oder andere Gesellschaften sowjetischen Typs interessiert, weiß von diesem Phänomen. Die Bücher Wolfgang Leonhards, Milan Kunderas oder Arthur Koestlers vermitteln einen anschaulichen Eindruck von der beklemmende Atmosphäre der Parteiversammlungen und der Schauprozesse, in deren Verlauf sich die Anwesenden selbst erniedrigten und beschuldigten. Auch in wissenschaftlichen Forschungsarbeiten werden Schuldbekenntnisse häufig erwähnt, da sie in unterschiedlichsten Zusammenhängen auftauchten. Sowohl bei der Ausgrenzung von Oppositionellen, bei der Durchführung von „Säuberungen", bei der Gleichschaltung der Wissenschaften wie auch bei der Disziplinierung der Arbeitsbevölkerung kam es regelmäßig zu Schuldbekenntnissen. Doch obwohl die Schuldbekenntnisse schon allein aufgrund ihres dramatischen Charakters das Interesse insbesondere der westlichen Beobachter erregten, existiert - abgesehen von zahlreichen Arbeiten über die Schauprozesse - bis heute keine wissenschaftliche Monographie, die zuverlässige Auskunft über die Herkunft, das Selbstverständnis, die Verbreitung und die Wirkung dieser Praxis geben könnte. Die vorliegende Arbeit will versuchen, diese Lücke zumindest für die Verhältnisse in der Sowjetunion bis 1953 zu schließen. Ein wichtiger Grund für das Schweigen der Sowjetologen und Historiker liegt darin, daß die sowjetischen Partei- und Staatsideologen die öffentlichen Schuldbekenntnisse nicht als eine Besonderheit der von ihnen geschaffenen Gesellschaftsordnung anerkannten. Da niemals eine kohärente Doktrin zu dieser Praxis artikuliert wurde, tat sich die westliche Forschung schwer damit, einen sinnvollen Ansatzpunkt zu finden. Die „Große Sowjetenzyklopädie", die Werke Lenins und das Parteiprogramm geben über Schuldbekenntnisse ebenso wenig Auskunft wie das „Handbuch des Parteiarbeiters". Nicht einmal die vorhandenen normativen Texte zum Stichwort „Kritik und Selbstkritik" {kritika i samokritika) sagen irgend etwas über Schuldbekenntnisse aus. Dafür immerhin gibt es einen ebenso offensichtlichen wie leicht zu übersehenden Grund: Tatsächlich bezeichnete der Begriff „Selbstkritik" in der offiziellen Sprache ursprünglich eben gerade nicht das individuelle Schuldbekenntnis, sondern die legitime und konstruktive Kritik an öffentlichen Mißständen. Ein wichtiges Anliegen der Arbeit wird darin liegen, das komplizierte Spannungs-

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Einführung

Verhältnis zwischen der Theorie der „Selbstkritik" und der Praxis der Schuldbekenntnisse aufzuklären.1 Für das Schuldbekenntnis selbst hatte die sowjetische Propagandasprache keinen Begriff; sie konnte oder wollte nichts über seine politischen Ursachen, seinen ideologischen Sinn oder seine soziale Funktion mitteilen. Es war erst der von außen kommende Betrachter, der das sowjetische Schuldbekenntnis zu einem sinnvollen Thema einer theoretischen Untersuchung erklärt hat. Diesem erscheint das Phänomen infolgedessen zunächst als ein Rätsel, wenn nicht sogar als ein „kannibalisches Ritual aus dunkler, versunkener Welt" (Berthold Unfried).2 In dieser Situation des Mangels an gesichertem Wissen besteht erhöhte Gefahr, daß die Wahrnehmungshaltung des Forschers von Vorurteilen, unreflektierten Überlieferungen und vagen Erwartungen dominiert wird, von denen er selbst nicht genau sagen kann, wie er zu ihnen gelangt ist. Daher scheint es mir sinnvoll, rückblickend diejenigen Vermutungen und Assoziationen aufzulisten, die mir und vielen Gesprächspartnern zu Beginn meiner Forschungstätigkeit besonders plausibel zu sein schienen: - Haben die Schuldbekenntnisse religiöse Wurzeln im Christentum? - Ist die masochistische Selbstgeißelung eine russische Volkstradition? - G e h e n Schuldbekenntnisse auf die hegelsche und marxistische Dialektik zurück? - Entstanden sie vor 1917 als Ritual russischer revolutionärer Sekten? -Entstanden sie im Zusammenhang mit den Notwendigkeiten der Konspiration? - Verstand sich die Selbstkritik als Erziehungsmittel, um den „Neuen Menschen" hervorzubringen? - Sollte mit ihrer Hilfe das Privatleben der Bürger abgeschafft werden? - Sollte das Individuum seine Schuld bekennen, um sich dem Kollektiv unterzuordnen? - Sollten Schuldbekenntnisse eine stalinistische Kader-Persönlichkeit konstruieren? - Sollten sie die (alte) Persönlichkeit zerstören? - Handelte es sich bei ihnen um eine spezifische Parteiangelegenheit? - Waren sie ein Ritual, das gesellschaftlichen Sinn stiften sollte? - Welche Personen mußten Schuldbekenntnisse ablegen und wie oft? 1 Der Begriff „Selbstkritik" wird im weiteren stets in Anführungszeichen gesetzt, wenn er im Sinne des sowjetischen Schlagworts samokritika gebraucht wird. 2 „Dem glücklichen entsublimierten Bewußtsein moderner Menschen ist die öffentliche Selbstkritik ein kannibalisches Ritual, staunend betrachtetes Relikt einer dunklen, versunkenen Welt". Berthold Unfried: Rituale von Konfession und Selbstkritik: Bilder vom stalinistischen Kader, in: Jahrbuch für Historische Kommunismusforschung 2 (1994), S. 148-164, hierS. 164.

2. Zum Forschungsstand: Eine Literaturübersicht

13

- Waren Schuldbekenntnisse immer erzwungen? Waren sie vorher abgesprochen? - Verlangte die Parteidisziplin von den Mitgliedern nicht sowieso die völlige Selbstaufgabe? - Kann man das Schuldbekenntnis als Foucault'schen Diskurs betrachten? Die meisten der aufgezählten Fragen erwiesen sich als sinnvoll und wichtig, und auf manche wird diese Arbeit noch mehrfach zurückkommen. Dennoch stellte sich heraus, daß sie dem Untersuchungsgegenstand - der „Selbstkritik" und den stalinistischen Schuldbekenntnissen - im Ganzen nicht gerecht werden. Charakteristischerweise implizieren mehrere der Fragen die Annahme, daß das Einfordern und Ablegen individueller Selbstverurteilungen überhaupt eine sinnstiftende Handlung gewesen ist, die kritische Situationen strukturierte und dabei genau identifizierten Zwecken diente, über welche die Beteiligten auch genau Bescheid wußten. Aber war dem wirklich so? Schon bei der Literaturübersicht erhärtet sich der Verdacht, daß sich diese Frage nicht einfach bejahen läßt.

2. Zum Forschungsstand: Eine Literaturübersicht Auch wenn bislang keine umfassende Monographie über die Praxis der „Selbstkritik" und Schuldbekenntnisse zur Zeit Stalins existiert, so befaßten sich westliche Forscher doch immer wieder mit dem Thema. Die einzelnen Autoren wählten dabei unterschiedliche theoretische Ansätze, bearbeiteten verschiedene Untersuchungsfelder und gelangten auch zu gegensätzlichen Ergebnissen. Der Überblick über einzelnen Arbeiten gleicht einer tour d 'horizon zu den verschiedenen Formen von Schuldbekenntnissen und führt zugleich das Nichtvorhandensein eines kohärenten Forschungsstands vor Augen. Wegen der überschaubaren Anzahl der bisherigen Arbeiten scheint es vertretbar, sie einfach in chronologischer Reihenfolge vorzustellen, ohne sie nach den verschiedenen Forschungsansätzen zu sortieren. Der allgemeine Wandel in den bevorzugten Fragen und Methoden wird gleichwohl sichtbar werden. Erst in den letzten fünf Jahren wurden Schuldbekenntnisse zum Gegenstand einer theoretischen Kontroverse, in deren Verlauf nicht zuletzt das Fehlen gemeinsamer Untersuchungskriterien und die Lückenhaftigkeit der empirischen Grundlagen zutage trat. Indessen soll gerade die Unvollständigkeit und Widersprüchlichkeit der Aussagen erahnen lassen, welche Fragen eine allgemeine monographische Untersuchung nicht außer acht lassen darf. Wie viele Autoren nach ihnen versuchten Nathan Leites und Elsa Bernaut, die falschen Geständnisse der Angeklagten in den drei großen Moskauer Schauprozessen psychologisch zu erklären. In ihrer Studie „The Ritual of Liquidation" gehen sie davon aus, daß die Bolschewiki eine besondere Menta-

14

Einführung

lität aufwiesen, die ihnen - unabhängig von Folterungen oder sonstigen äußeren Zwängen - dieses Verhalten nahelegte. Abgesehen von ihrer grundsätzlichen Bereitschaft zur Selbstaufopferung hätten die Berufsrevolutionäre an sich selbst den überhöhten Anspruch gestellt, auf der Grundlage einer marxistischen Analyse der politisch-historischen Situation richtige Vorhersagen zu treffen und erfolgreiche Handlungsvorschläge abzuleiten. Im quälenden Bewußtsein, vor dieser Aufgabe im entscheidenden Moment versagt zu haben, hätten sich oppositionelle Parteiführer wie Bucharin oder Zinov'ev tatsächlich vor der Partei schuldig gefühlt und daher auch die Strafe auf sich genommen. Diese und viele andere interessante Thesen stützen die Autoren mit einer beeindruckenden Fülle von Zitaten aus den Prozeßprotokollen sowie aus den Werken Lenins, Stalins und anderer Bolschewiki. Mentalitätshistoriker werden in dieser Untersuchung nach wie vor wertvolle Anregungen finden. Allerdings interessieren sich die Autoren weder für die Schuldbekenntnisse im sowjetischen Alltag, noch schenken sie dem Verhalten nichtbolschewistischer Angeklagter in vorangegangenen Schauprozessen Beachtung. Robert Daniels' Standardwerk „Das Gewissen der Revolution" ist ein typisches Beispiel einer klassisch erzählenden Politik- und Ereignisgeschichte, das hier nur stellvertretend für viele andere Darstellungen der innerparteilichen Auseinandersetzungen genannt werden soll.3 Der Titel seiner Arbeit bezeichnet die liquidierte Opposition insgesamt und nicht etwa das „revolutionäre Gewissen" individueller Akteure. Daniels hatte keineswegs die Absicht, eine Kulturgeschichte revolutionärer Schuld- und Reuebekenntnisse zu schreiben. Trotz oder gerade wegen seines mangelnden Interesses beschreibt er die Entstehungsursachen und den politischen Sinn oppositioneller Reueerklärungen vorurteilslos und zuverlässig. Insbesondere geht aus seiner Erzählung klar hervor, daß diese Bekenntnisse aus den innerparteilichen Abstimmungsmechanismen hervorgegangen sind. Manche der jüngeren Autoren haben diesen Zusammenhang übersehen. Wer sich in den letzten dreißig Jahren im Lesesaal einer historischen Fakultät über Schuldbekenntnisse der Stalinzeit informieren wollte, stieß dabei wohl zuerst auf Paul Hollanders Artikel „Kritik und Selbstkritik" in der vergleichenden Enzyklopädie „Sowjetsystem und demokratische Gesellschaft".4 Da dieser Text für lange Zeit die einzige leicht auffindbare Informationsquelle darstellte, verdient er trotz seiner Kürze Beachtung.

3

Robert Vincent Daniels: Das Gewissen der Revolution. Kommunistische Opposition in Sowjetrußland, Köln 1962. 4 Paul Hollander. Kritik und Selbstkritik, in: Klaus Dieter Kernig (Hrsg.): Sowjetsystem und demokratische Oesellschaft. Eine vergleichende Enzyklopädie, Freiburg 1969, Band 3, Sp. 1123-1134.

2. Zum Forschungsstand: Eine Literaturübersicht

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Im Gegensatz zu den Nachschlagewerken aus der Sowjetunion oder der DDR antwortet Hollander auf die Fragen, die westliche Leser üblicherweise am meisten interessieren. Als „Selbstkritik" bezeichnet er das Schuldbekenntnis, mit welchem die Sowjetbürger angeblich die an ihnen geübte „Kritik" zu beantworten hatten. Die kulturellen Ursprünge der Schuldbekenntnisse verortet Hollander in der traditionellen russischen Mentalität. „Gepaart mit einer Neigung zu Schuldgefühlen" waren die „öffentliche Bloßstellung und die Selbstbezichtigung" ein alter Mechanismus der Sozialkontrolle unter russischen Bauern. Diese Tradition macht auch die falschen Geständnisse in den Schauprozessen verständlich.5 Radikale Intelligenzler schwärmten im neunzehnten Jahrhundert von der erlösenden Selbstaufgabe des Einzelnen in der Gemeinschaft; die Bolschewiki schließlich haben diese Traditionen „rationalisiert und hinsichtlich ihrer organisatorischen Wirksamkeit ausgenützt".6 Hollander äußert die Vermutung, daß die „konspirativen Umstände" der frühen Parteiarbeit schon lange vor der Revolution zu einer „Institutionalisierung der Selbstkritik" geführt haben. Schließlich, so seine Annahme, war die „ständige Überprüfung der politischen Linie" für illegale Gruppen ein „viel dringenderes Gebot" als für legale. Für die spätere Sowjetgesellschaft unterscheidet Hollander zwei Hauptformen: „Kritik und Selbstkritik von Einzelpersonen in der Gruppe" und die Kritik der Massenmedien an institutionellen Funktionsstörungen. Die Selbstkritik in der Gruppe war demnach ein „totalitärer Kontrollmechanismus par excellence", um Konformität zu erzwingen und die individuelle Persönlichkeit zu bekämpfen. Sie sollte den Anspruch des Kollektivs auf „uneingeschränkte Selbstentlarvung" jedes Einzelnen gegen dessen „persönliche Gefühle, Stolz, Eitelkeit" und sein „Bewußtsein der Würde" durchsetzen.7 Hollander hält dieses Verfahren für ein wirksames „Mittel zur Änderung ... des Charakters", das erfolgreich „Schuldgefühle, Unruhe und Besorgnis" auslöste.8 Die öffentliche, in den Massenmedien geübte Kritik an Mißständen und institutionellen Funktionsstörungen hingegen war ein „verkümmertes Gegenstück zur politischen Opposition" und der freien westlichen Presse. Da sich die Kritik nie gegen die politische Linie und die Spitzenfunktionäre richten durfte, konnte sie nur begrenzte Wirkung entfalten. Die sowjetischen Führer waren zwar „durchaus gewillt, aus ihren Fehlern zu lernen", doch fehlten hierfür die gesellschaftlichen Voraussetzungen.

5 6 7 8

Hollander: Hollander. Hollander. Hollander.

Kritik und Selbstkritik, Kritik und Selbstkritik, Kritik und Selbstkritik, Kritik und Selbstkritik,

Sp. Sp. Sp. Sp.

1124. 1125. 1127. 1127f.

16

Einführung

Entsprechend dem Konzept der „vergleichenden Enzyklopädie" sucht Hollander für das Phänomen der persönlichen Schuldbekenntnisse nach westlichen Analogien. Immerhin fand er einige Gemeinsamkeiten mit der katholischen Beichte und „gewissen Formen der Psychotherapie". Diese waren zwar keine politischen Institutionen, verfolgten aber ebenfalls das Ziel, „den Menschen demütig zu machen, seinen Stolz zu brechen und ihn zu bedingungsloser Offenheit zu bringen".9 Alle drei Einrichtungen glaubten sowohl an die Fehlbarkeit als auch an die Besserungsfähigkeit des Menschen. Manche Thesen kann Hollander jedoch nicht stichhaltig belegen. Über die Geschichte der Institutionalisierung von Schuldbekenntnissen äußert er lediglich vage Vermutungen. Das Fehlen einer sowjetischen Theorie von Schuld und Reue wird von ihm weder festgestellt noch reflektiert. Auf der Grundlage der Erinnerungen von Wolfgang Leonhard und Joseph Novak gelangt er zu dem Schluß, daß die Selbstkritik von Anfang an eine Methode gewesen sei, die individuellen Persönlichkeiten zu kontrollieren, zu brechen und im Sinne der Partei umzuformen.10 Klaus-Georg Riegel versucht in seiner Studie über „Konfessionsrituale im Marxismus-Leninismus", die Selbstverurteilungen oppositioneller Bolschewiki „kultursoziologisch" zu deuten." Hollanders Vermutung, daß diese Praxis schon unter den konspirativen Bedingungen der Illegalität als ein esoterisches Ritual der Eingeweihten entstanden sei, wird von Riegel fortgeführt und ausgestaltet. Riegel betrachtet die Bolschewiki als eine religiöse Sekte, deren oberstes Ziel darin bestand, ihre Glaubensidentität zu erhalten. Konfessionsrituale spielten für die Mitglieder dieser charismatischen und dogmatischen Gemeinschaft eine ähnliche Rolle wie die feierliche Widerrufserklärung des Häretikers und die christliche Beichte in der Kirche. Es ging weniger um den offensiven Versuch, perfekte „Neue Menschen" zu formen, als um das defensive Bedürfnis, die „wahre Lehre" vor häretischen Irrtümern zu beschützen. Riegel bezeichnet die Schuldbekenntnisse als Ritual, da es sich um eine „regelmäßig geübte und sinnhaft strukturierte Praxis" handelte, die von den Beteiligten als „Reinigungs- und Läuterungsprozeß" aufgefaßt wurde.12 Wie der Apostel Petrus verfügte Lenin am Anfang als unfehlbarer „Beichtvater" über die „Binde- und Lösegewalt". Nicht die Grausamkeit Stalins, sondern der Wegfall dieser unfehlbaren Instanz war dafür verantwortlich, daß nach Lenins Tod die blutige „Inquisition" begann. Der „Ur-Schauprozeß" fand schon im Jahre 1924 statt, als Zinov'ev und Kamenev den Konkurrenten Trockij dazu aufforderten, seine Irrtümer zu bekennen und ihnen abzuschwören. 9

Hollander: Kritik und Selbstkritik, Sp. 1133. Vgl. Wolfgang Leonhard: Die Revolution entläßt ihre Kinder, Köln 1955. Joseph Novak hatte sich in den fünfziger Jahren längere Zeit in der Sowjetunion aufgehalten. Joseph Novak: The future is ours, Comrade. Conversation with the Russians, New York 1960. 11 Klaus-Georg Riegel: Konfessionsrituale im Marxismus-Leninismus, Graz 1985. 12 Riegel: Konfessionsrituale im Marxismus-Leninismus, S. 44. 10

2. Zum Forschungsstand: Eine Literaturübersicht

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Die Tribunale der dreißiger Jahre reproduzierten dann lediglich die „kulturelle Vorstellungswelt" der alten Revolutionäre: „Entscheidend ist, daß die durch diese konspirativen Bedingungen der Illegalität geprägte Identität der Bolschewiki sich auch nach der Machtergreifung erhalten hat und sich sogar zur orientalischen Despotie' fortentwickeln konnte".13

Das Schlußkapitel enthält einen Exkurs über Rituale von Anklage und Selbstbeschuldigung, die um 1930 in der chinesischen Parteigruppe der Moskauer Sun Yat-sen Universität praktiziert wurden. Wie Riegel weiter ausführt, entwickelte sich in der chinesischen Partei eine ganz andere Form von Selbstkritik, die das konfuzianische Wertesystem reproduzierte und die Vervollkommnung der Individuen anstrebte. Riegels Studie liegt eine klare und in sich plausible Ausgangshypothese zugrunde. Es handelt sich jedoch mehr um einen spekulativen Essay als um eine empirische Forschungsarbeit. Beispielsweise versucht der Autor gar nicht erst, die Gültigkeit seines Konstrukts von der quasireligiösen „revolutionären Sekte" auch konkret anhand der frühen leninistischen Kerngruppe nachzuweisen. Das benutzte Quellenmaterial beschränkt sich im wesentlichen auf Parteitagsprotokolle und die Stenogramme der Schauprozesse. Michael David-Fox hält es für aussichtsreich, den sowjetischen Marxismus nicht nur als eine Philosophie oder ein Ideensystem aufzufassen, sondern auch als eine „politisch-kulturelle Sprache." In „Revolution of the Mind" beschreibt er, wie eine neue politische Kultur in den Eliteeinrichtungen der Parteibildung Einzug hielt, zu der auch „Säuberungen" und die „Selbstkritik" gehörten.14 Im Verlauf der zwanziger Jahre bildeten sich dort bestimmte Traditionen, Techniken und Institutionen heraus, die sich am Ende der Neuen Ökonomischen Politik (NEP) schließlich im Habitus der Akteure, in ihrem alltäglichen Denken und Handeln verselbständigten.15 Spätestens 1921 wurde laut David-Fox an den Bildungseinrichtungen die kollektive Selbstkontrolle institutionalisiert, die sich auch auf das Privatleben der Studenten erstreckte. Die moralische Kritik am Lebenswandel konnte in den Vorwurf der politischen Abweichung übergehen. 1924 wurde eine öffentliche „Säuberung" durchgeführt, die sich insbesondere gegen die Anhänger Lev Trockijs richtete, und 1928 folgte die Kampagne von „Kritik und Selbstkritik." Das wichtigste Moment dieser Veranstaltungen war die Ermutigung, Kommilitonen und Funktionsträger öffentlich zu kritisieren. Die Studenten 13

Riegel·. Konfessionsrituale im Marxismus-Leninismus, S. 83. Michael David-Fox: Revolution of the Mind: Higher Learning among the Bolsheviks, 1918-1929, Ithaca 1997. Mit dem gleichen Thema befaßte sich auch Lutz-Dieter Behrendt: Die Institute der Roten Professur: Kaderschmieden der sowjetischen Parteintelligenz (1921-1938), in: Jahrbücher für Geschichte Osteuropas 45 (1997), Nr. 4, S. 597-621. Vgl. auch L. A. Kozlova: Institut krasnoj professury (1921-1938 gody). Istoriograficeskij ocerk, in: Sociologiceskij zumal, 1994, Nr. 1, S. 96-112. 15 Vgl. David-Fox: Revolution of the Mind, S. 254-256 und S. 271. 14

18

Einführung

erlernten den Habitus des Parteifunktionärs, indem sie sich virtuose Kenntnis über die Spielregeln, Praktiken und Sprechweisen aneigneten, die sie in ihrer späteren Parteikarriere gebrauchen konnten. Interessanterweise sagt David-Fox - der die entsprechenden Archivbestände gründlich ausgewertet hat - so gut wie nichts darüber aus, ob die kritisierten Individuen während dieser Sitzungen auch Schuldbekenntnisse ablegten. Vielleicht war dies gar nicht der Fall? Noch eindeutiger als David-Fox vertritt Kojevnikov in seinem Artikel „Rituals of Stalinist Culture at Work" die Meinung, daß die „Spielregeln" der politischen Kultur wichtiger waren als genuin weltanschauliche Überzeugungen.16 Die ideologischen Kampagnen in der Nachkriegszeit stellten allenfalls vordergründig einen Versuch dar, die Wissenschaft den Dogmen des MarxismusLeninismus zu unterwerfen. Tatsächlich handelte es sich um ein komplexes „Spiel" mit vielen Teilnehmern, die bei ihren akademischen Meinungs- und Einflußkämpfen die Regeln und Rituale der innerparteilichen Auseinandersetzungen übernahmen. Dazu gehörte auch die Kritik an Autoritäten und das mehr oder weniger virtuose Schuldbekenntnis. John Arch Getty interpretiert in seinem Artikel „Samokritika Rituals in the Stalinist Central Committee" die Selbstkritik wiederum als ein Unterwerfungsritual.17 Im Gegensatz zu Hollander oder Riegel führt Getty die Schuldbekenntnisse nicht auf eine Tradition der leninistischen Kerngruppe zurück. Erst nach der Revolution begann die Moskauer Staats- und Parteiführung, von nachrangigen Funktionären und Oppositionellen Schuldbekenntnisse einzufordern. In den dreißiger Jahren schließlich gingen Stalin und die Parteielite dazu über, das Gleiche sogar von Mitgliedern des Zentralkomitees zu verlangen. Für das Kollektiv der Nomenklatura erfüllte dieser Vorgang überwiegend die Funktion eines esoterischen Rituals. Es ging nicht wirklich um die formale Schuld des Angegriffenen oder um seine charakterliche Umformung, sondern um die symbolische Demonstration „monolithischer" Geschlossenheit. Die Parteielite erzwang von einzelnen ihrer Mitglieder demütige, vorbehaltlose Schuldbekenntnisse, um sich selbst ihres bedingungslosen Zusammenhalts und der unangefochtenen Gültigkeit ihrer Weltsicht zu vergewissern. Die Bereitschaft, auch eine fiktive Schuld einzugestehen, war laut Getty in den dreißiger Jahren Teil der „Parteidisziplin".18 Wer seine Schuld bestritt, stellte sich außerhalb der Partei. Nur durch die vollständige Unterwerfung konnte das Opfer glaubhaft machen, daß es seine innere Zugehörigkeit zur Par16 Alexej Kojevnikov. Rituals of Stalinist Culture at Work: Science and the Game of Intraparty Democracy, in: The Russian Review 57 (1998), S. 25-52. 17 John A. Getty: Samokritika Rituals in the Stalinist Central Committee, 1933-1938, in: The Russian Review 58 (1999), S. 49-70. Vgl. auch John A. Getty, Oleg V. Naumov: The Road to Terror. Stalin and the Self-Destruction of the Bolsheviks, 1932-1939, New Haven 1999. 18 Vgl. Getty: Samokritika Rituals, S. 59-60.

2. Zum Forschungsstand: Eine Literaturübersicht

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tei noch nicht aufgegeben hatte. Nichtsdestoweniger versuchten die Beschuldigten in fast allen von Getty erwähnten Fällen, sich selbst zu verteidigen. Der Autor erklärt dies damit, daß sie entweder „nicht wußten" oder „nicht verstehen wollten", was das Kollektiv der Nomenklatura von ihnen verlangte. Getty entwickelt seine Interpretation anhand der nicht veröffentlichen Stenogramme der Plenarsitzungen des Zentralkomitees in den Jahren von 1933 bis 1938. Oleg Kharkhordin unternimmt in seiner Arbeit „The Collective and the Individual in Russia" den Versuch, die Subjektkonzeption und die „genealogische Methode" Michel Foucaults auf die russisch-sowjetische Geschichte anzuwenden.19 Dabei geht er davon aus, daß in Rußland die Geschichte der Diskurse vom Individuum und vom Kollektiv gleichzeitig untersucht werden müssen. Und so stellt er traditionell russische und moderne sowjetische Techniken der Sozialkontrolle vergleichend nebeneinander und macht dabei etwa auf strukturelle Ähnlichkeiten zwischen der kommunistischen Parteikontrollkommission und der russisch-orthodoxen Kirchenjustiz aufmerksam. Ausfuhrlich geht Kharkhordin auf die zweitausendjährige Geschichte des christlichen Beichtens, Büßens und Bereuens ein: Während die römisch-katholische Kirche sich im Mittelalter auf die individuelle Ohrenbeichte festlegte, blieben in Byzanz und in Rußland öffentliche Bußrituale vorherrschend. Auch für die sowjetische Periode blieb der konfessionelle Unterschied entscheidend: Als die Bolschewiki begannen, die Gewissen der einzelnen Menschen zu überprüfen, griffen sie auf die „kulturellen Ressourcen" des orthodoxen Christentums zurück. „Anstatt jedes Individuum mit einem inneren forum conscientiae auszustatten, unterwarfen die russischen Kommunisten jedes Individuum einem äußeren forum judiciale, einem Parteitribunal, das Gewissensfragen erörterte."20

Nicht die intime Erforschung der verborgenen Wünsche, sondern der äußere Blick auf die sichtbaren Taten konstituierte demnach das Gewissen des Sowjetmenschen. Im Alltag trat an die Stelle des Parteitribunals das allgegenwärtige panoptische Kollektiv, in welchem der Autor die zentrale Institution der sowjetischen Gesellschaft erblickt. Ausgerechnet anhand dieser vergleichenden Analyse religiöser Praktiken gelangte Kharkhordin zu der verblüffenden Annahme, daß individuelle Schuldbekenntnisse in der sowjetischen Praxis unerheblich gewesen sein müssen: „In der Regel kam es in sowjetischen Partei- und Kollektiwersammlungen nicht zu diesem Typ von individuellen Geständnissen... Natürlich verlangte man von den Menschen häufig, vor den Parteiversammlungen Selbstberichte vorzutragen, doch niemand erwartete, daß sie sich selbst belasten sollten. Die irreführende Sicht, die russischen Kommunisten das

19

Oleg Kharkhordin·. The Collective and the Individual in Russia. Α Study of Practices, Berkeley 1999. 20 Kharkhordin: The Collective and the Individual, S. 61.

20

Einführung

Beichten individueller Fehler zuschreibt, könnte ihren Ursprung in der unkritischen Übertragung von Vorbildern aus der chinesischen Kulturrevolution haben - oder in den Selbstkritik-Sitzungen gewisser europäischer Kommunistischer Parteien und in der Komintern, die westlichen Vorstellungen (des selbst-expressiven Beichtens) entsprachen."21

Und so finden weder trotzkistische Reueerklärungen noch die falschen Geständnisse in den Schauprozessen, noch die alltäglichen Schuldbekenntnisse der Parteimitglieder in Kharkhordins Arbeit irgendwelche Beachtung. Allerdings weist der Autor als erster und völlig zu Recht darauf hin, daß der Ausdruck „Kritik und Selbstkritik" (kritika i samokritikä) im sowjetischen Sprachgebrauch nicht die Praxis individueller Schuldbekenntnisse bezeichnete.22 Julie Cassidays Monographie „The Enemy on Trial" konzentriert sich auf die Wechselbeziehungen von Tribunal und Theater in der Sowjetunion der zwanziger und dreißiger Jahre.23 Das agitatorische Gerichtsdrama (agitsud) der zwanziger Jahre kodifizierte den Topos vom rituellem Geständnis, der Reue und der Bitte um die soziale Reintegration, der später das „Rückgrat" des stalinistischen Schauprozesses darstellte.24 Dabei kam es jedoch zu einer wesentlichen Verschiebung. Während das erzieherische Agitationsstück grundsätzlich davon ausging, daß der irregeleitete Proletarier aufgrund seiner aufrichtigen Reuebezeugung in die sowjetische Gesellschaft reintegriert werden konnte, blieben entsprechende Bitten der Angeklagten in den realen Schauprozessen unerfüllt. Cassiday vermutet, daß ihr Auftreten vor Gericht gleichwohl von ihrer früheren Theater- und Filmrezeption beeinflußt war. Die Analyse einer Vielzahl von Theaterstücken, Filmen und realen Prozessen ergänzt Cassiday um Informationen über deren Entstehung und ihre Rezeption durch die Zeitgenossen. Wie Oleg Kharkhordin geht auch Igal Halfin davon aus, daß die „kommunistische Zivilisation" christliche Praktiken ererbte. Er mißt den individuellen Selbstäußerungen allerdings ungleich höhere Bedeutung bei. In seinem Artikel „Looking into Oppositionist's Souls: Inquisition Communist Style" vergleicht er die Bolschewiki mit einer „Bruderschaft von Auserwählten", die daraufbrannte, ihren Angehörigen in die „Seele" zu blicken.25 Nach der Revolution eingeführte Praktiken wie die Säuberungen, die Kameradschaftsgerichte und „Selbstkritik"-Kampagnen waren eine institutionalisierte „Seelen-Hermeneutik". Die Geschichten, die die Genossen über sich selbst erzählten, stellten in den Augen der Parteirichter eine Art „Seelen-Baro-

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Kharkhordin: The Collective and the Individual, S. 145. Kharkhordin: The Collective and the Individual, S. 142-143. 23 Julie Anne Cassiday: The Enemy on Trial. Early Soviet Courts on Stage and Screens, Illinois 2000. 24 Cassiday: The Enemy on Trial, S. 193. 25 Igal Halfin: Looking into the Oppositionist's Souls: Inquisition Communist Style, in: The Russian Review 60 (2001), S. 316-339. 22

2. Zum Forschungsstand: Eine Literaturübersicht

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meter" dar.26 Halfin widerspricht energisch der weit verbreiteten Ansicht, daß die Kommunisten individuelle Handlungen lediglich nach dem Kriterium ihrer „objektiven" historischen Nützlichkeit beurteilt hätten; vielmehr waren sie geradezu davon „besessen", sich auch über die intimen subjektiven Wünsche und Absichten der Mitglieder Klarheit zu verschaffen. Die Auseinandersetzung mit den trotzkistischen Oppositionellen deutet Halfin in ähnlicher Weise wie Riegel. Die „meisten Parteimitglieder" handelten im „eschatologischen Glauben", daß nur die Partei „den einzigen Pfad zur Erlösung" finden konnte und daß ideologische Abweichler dementsprechend als konterrevolutionäre „Häretiker" bekämpft werden mußten.27 Doch betrachtet Halfin die Einwirkung auf die Oppositionellen nicht als ein starres Konfessionsritual, sondern als ernstgemeinten Versuch, die Wahrheit der „Seele" zu ermitteln und die „gutgläubig Irrenden" von den verstockten Häretikern zu trennen. Im Gegensatz zu Getty hält Halfin nicht den rituellen Akt der Unterwerfung für entscheidend, sondern daß die Gemeinschaft den Prüfling für aufrichtig hielt. Der Autor entwickelt seine Argumentation anhand von Sitzungsstenogrammen der Tomsker Parteiorganisation aus den zwanziger Jahren. Brigitte Studers und Berthold Unfrieds 2001 erschienene Monographie über den „stalinistischen Parteikader" der Komintern stellt nach den Studien Kharkhordins und Halfins einen weiteren Versuch dar, das „stalinistische Subjekt" mit Hilfe Foucault'scher Begriffe und Methoden zu erfassen.28 Autobiographien, Selbstberichte, Parteisäuberungen, der sozialistische Wettbewerb und vor allem die Selbstkritik-Sitzungen waren „Techniken des Selbst", mit deren Hilfe der Kader die Reste seiner alten, „individualistisch-kleinbürgerlichen" Person abstreifen sollte, um sich als „glatter Edelmensch" neu zu konstituieren. Die Selbstkritiksitzung war ein „Prozeß gegen die alte Persönlichkeit".29 Insbesondere die westeuropäischen Kommunisten mußten bald zur Kenntnis nehmen, daß die Neugier der Parteigruppe keine Privatsphäre respektierte. Sie sahen sich unter Druck gesetzt, ihr westlich geprägtes „egozentrisches" Selbstbild durch eine russisch-stalinistische „soziozentrische" Wahrnehmung ihrer eigenen Person zu ersetzen.30 26

Halfin: Looking into the Oppositionist's Souls, S. 316-317. Vgl. Halfin: Looking into the Oppositionist's Souls, S. 319 und S. 324. 28 Brigitte Studer, Berthold Unfried: Der stalinistische Parteikader. Identitätsstiftende Praktiken und Diskurs in der Sowjetunion der dreißiger Jahre, Köln 2001. Beide Autoren hatten sich schon zuvor mit dem Thema beschäftigt: Berthold Unfried·. Rituale von Konfession und Selbstkritik; Brigitte Studer, Berthold Unfried: „Das Private ist öffentlich". Mittel und Formen stalinistischer Identitätsbildung, in: Historische Anthropologie 7 (1999), Nr. 1, S. 83-108. 29 Studer: „Das Private ist öffentlich", S. 96. 30 Studer: „Das Private ist öffentlich", S. 88-90. Wie schon Hollander glauben auch Studer und Unfried an die nationale Tradition: „Und was als ideologische Konzeption der Bolschewik! erscheint, dürfte im Grunde ein langfristiges Charakteristikum der russischen 27

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Einführung

Die Autoren betonen, daß die Selbstkritik, soweit sie neue Identitäten generierte, auch einen kreativen Charakter hatte; gleichwohl beurteilen sie den Erfolg des großangelegten „Menschenumformungsprojekts" recht skeptisch. Doch die Selbstkritik half nicht nur bei der Schaffung des „Neuen Menschen", sondern war auch zugleich eine Vorstufe des Terrors; sie diente gleichzeitig als Erziehungs- und Vernichtungsinstrument.31 Ursprünglich ging Unfried sogar davon aus, daß Erziehung und Terror eine Art Kontinuum darstellten. Wie ein Trichter half die Selbstkritik den Individuen, den äußeren Terror in innere Disziplin zu transformieren; umgekehrt hatte die Irrationalität der Verhaftungen „ihre Logik in der inneren Funktionsweise der Parteimaschinerie". Das „Theater der Säuberungssitzungen" mündete direkt in das „Theater des Schuldbekenntnisses und Geständnisses im Schauprozeß".32 Später milderte Unfried diese Auffassung ab. Der Terror erschien ihm nun vielmehr als ein „Ausdruck des Scheiterns des Anspruchs, ... die Menschen zu erziehen, zu reformieren", denn als „Endpunkt einer der Selbstkritik innewohnenden Logik".33 Alle Untersuchungen von Studer und Unfried beschränken sich auf das Milieu der westlichen Kommunisten, die sich in den dreißiger Jahren in Moskau aufhielten. Die Monographie von 2001 basiert auf der gründlichen Auswertung eines umfangreichen Korpus von Archivdokumenten. Zunächst frappiert die Uneinigkeit der Forscher darüber, ob es in der sowjetischen Gesellschaft individuelle Schuldbekenntnisse überhaupt gab und inwiefern sie wichtig waren. Während Unfried, Riegel, Getty und Halfin ihnen große Bedeutung zuweisen, zweifelt Kharkhordin sogar an ihrer Existenz. Ebenso unklar blieb die Herkunft dieser Praxis. Weder die Spekulation über ethnologisch-religiöse Ursprünge noch die empirischen Forschungen von David-Fox, Studer und Unfried brachten Erkenntnisse über die konkreten Umstände ihrer ersten Institutionalisierung zutage. Politikgeschichtliche Erzählungen wie etwa die Darstellung von Daniels, die hierzu die meisten Auskünfte geben kann, wurden in diesem Zusammenhang nur unzureichend rezipiert. Auch auf der Ebene der historischen Begrifflichkeit dauert die Verwirrung an. Aus der Tatsache, daß in sowjetischen normativen Texten über „Kritik und Selbstkritik" niemals von Schuldbekenntnissen die Rede war, wollten westliGeschichte darstellen, Ausdruck der traditionalen sozialen Beziehungen in der russischen Gesellschaft, etwa der kollektivistischen Traditionen der russischen bäuerlichen Kultur." Ebenda, S. 90. 31 Vgl. Unfried·. Rituale von Konfession und Selbstkritik, S. 149. 32 Unfried'. Rituale von Konfession und Selbstkritik, S. 154 und S. 155. Vgl. ebenda: „Selbstkritik und Geständnis waren fixe Regieelemente in der Zellenversammlung, im Betriebskollektiv, im Schauprozeß unablässig aufgeführten Lehrstück von der ,Entlarvung', der Selbstkritik und der Konversion bzw. der Liquidierung des auf,Irrwege' geratenen Parteimitglieds." 33 Studer. Der stalinistische Parteikader, S. 190.

3. Zur Fragestellung und Vorgehensweise

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che Forscher siebzig Jahre lang keine Schlußfolgerungen ziehen. Irrtümlicherweise werden die Begriffe „Selbstkritik" und „Schuldbekenntnis" sowohl in der deutschsprachigen wie auch in der angelsächsischen Literatur immer noch häufig als Synonyme gebraucht. Weitgehender Konsens herrscht lediglich darüber, daß der Vorgang stets in eine Rahmensituation eingeordnet werden muß, in der die Akteure sich zunächst gegenseitig kritisierten und beschuldigten. Bei der genaueren Betrachtung dieser Konstellation setzen sich die verschiedenen Autoren jedoch wiederum ganz unterschiedliche Schwerpunkte. Dabei kommt es nicht so sehr auf die Terminologie an. Wenn Studer und Uniried Hollanders „totalitäres Kontrollinstrument par excellence" von 1969 im Jahre 2001 als „identitätsstiftenden Diskurs" bezeichnen, so meinen sie deswegen nicht zwangsläufig etwas völlig anderes. Die eigentliche Uneinigkeit herrscht über die „harten" Fragen, die nach verifizierbaren Antworten verlangen: Welche Rolle spielten die Machtverhältnisse? Welche Akteure übten tatsächlich wirksame Kontrolle aus, welche inneren und äußern Zwecke verfolgten sie dabei, und wie erklärten sie sich selbst ihr Verhalten? Setzte sich die Gruppe selbst unter Druck, oder wurde sie erst von höheren Instanzen dazu gezwungen? Wollte sie in erster Linie die Offenbarung der allein seligmachenden Kirche vor Häretikern schützen (Riegel und Halfin), die Individuen zu „neuen" Kollektivmenschen formen (Hollander, Unfried) oder die „Spielregeln" instrumentalisieren (Kojevnikov)? Wie gingen die Zeitgenossen damit um, wenn jemand erkennbar zu Unrecht beschuldigt wurde? War vielleicht das Schauspiel des „Rituals" sein eigener, sinnstiftender Zweck (Getty)? Diese Streitfragen münden schließlich in die von Igal Halfin und Jochen Hellbeck angeregte Debatte über das „stalinistischen Subjekt" ein. Wie erlebte der einzelne Sowjetbürger sein eigenes Verhalten? Verstellte er sich, wenn er seine Kollegen oder sich selbst beschuldigte, heuchelte er, instrumentalisierte er zynisch die Propagandasprache? Oder war er als „Subjekt" erst selbst durch den „herrschenden Diskurs" konstruiert worden und verfügte infolgedessen gar nicht über die Möglichkeit zum abweichenden Denken, Sprechen und Verhalten?

3. Zur Fragestellung und Vorgehensweise Wie bereits angedeutet, soll diese Arbeit den Platz bestimmen, den das individuelle Schuldbekenntnis zur Stalinzeit in der Ideologie, der politischen Kultur und im gesellschaftlichen Alltag der Sowjetunion eingenommen hat. Gerade die Heterogenität der vorhandenen Literatur läßt es als sinnvoll erscheinen, an dieser sehr allgemeinen Themenbeschreibung festzuhalten. Es soll nach über-

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Einführung

greifenden Kriterien gesucht werden, die geeignet sein könnten, die gröbsten Widersprüche aufzuklären und die verschiedenen Sichtweisen zueinander in Beziehung zu setzen. Da nicht vergessen wurde, daß der rote Faden, der durch diese Untersuchung fuhren soll, zunächst nur einem - im Grunde willkürlich definierten - Interesse für Schuldbekenntnisse folgt, besteht Klarheit darüber, daß die untersuchten Phänomene nicht zwangsläufig miteinander verbunden gewesen sein müssen. Schon die Literaturauswertung erhärtet den Verdacht, daß Schuldbekenntnisse nicht unbedingt selbst das sinnstiftende Moment der Situation gewesen sein müssen, in der sie abgelegt wurden. Möglicherweise waren sie nur eine von vielen Redeweisen, in denen die Untertanen, die Obrigkeit und das Regime miteinander kommunizierten. Es wird also nötig sein, den Blickwinkel so lange zu erweitem, bis der grössere Kontext, der wirksame Zusammenhang und der diskursive Rahmen sichtbar werden, innerhalb dessen das Schuldbekenntnis von den Beteiligten erst als sinnvolle Handlungen wahrgenommen wurde. Die Aufgabe besteht zunächst darin, diesen Bezugsrahmen zu identifizieren und richtig zu deuten. Dafür kann es mitunter nötig sein, die Aufmerksamkeit auf Vorgänge und Praktiken zu richten, die mit Schuldbekenntnissen auf den ersten Blick nur wenig zu tun hatten. Umgekehrt besteht die Aussicht, daß die größeren, schon oft beschriebenen Zusammenhänge der stalinschen Herrschaftskommunikation besser verständlich werden, wenn man speziell danach fragt, weshalb Schuldbekenntnisse in ihr eine so sichtbare Rolle spielten. Zunächst soll der großen Verwirrung zunächst mit einigen grundsätzlichen theoretischen Überlegungen über Kommunikation begegnet werden, die Niklas Luhmann formulierte. Da Luhmann seine Schlußfolgerungen auf alle denkbaren „sozialen Systeme" bezog, müssen sie, wenn sie richtig sind, auch für die „Selbstkritik" und die Schuldbekenntnisse im entstehenden Stalinismus gültige Erklärungsmuster bieten.34 Nach Luhmann ist die „Ausdifferenzierung von Kommunikationsprozessen" eine Voraussetzung zur Ausdifferenzierung sozialer Systeme.35 Doch ist in jegliche Kommunikation die „Differenz von Information und Mitteilung mit eingebaut": Man sagt etwas und teilt dadurch, daß man es sagt, und durch die Art, wie man es sagt, immer noch etwas anderes mit. Dieser Unterschied liegt nicht in der Intention der Beteiligten begründet. Tatsächliche Mitteilungsabsichten des Sprechers können überhört oder mißverstanden, eingebildete ihm unterstellt werden. In ihrer Fortsetzung „prozessiert" die Kommunikation gegen diese Differenz, ohne sie je aufheben zu können.36 Kommunikation kann 34

Niklas Luhmann·. Soziale Systeme. Grundriß einer allgemeinen Theorie, Frankfurt 1987. Vgl. insbesondere die Kapitel „Kommunikation und Handlung" (S. 191-241) und „Doppelte Kontingenz" (S. 148-191). 35 Luhmann: Soziale Systeme, S. 210. 36 Luhmann·. Soziale Systeme, S. 209.

3. Zur Fragestellung und Vorgehens weise

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nach Luhmann also auch nicht einfach als Handlung begriffen werden; sie läßt sich nicht direkt beobachten, sondern nur erschließen.37 Auf die Frage, woraus soziale Systeme bestehen, gibt Luhmann folgende „Doppelantwort: aus Kommunikation und deren Zurechnung als Handlung".38 Luhmann versucht, den Prozeß der Ausgestaltung von Kommunikationsund Handlungssystemen anhand des von Talcott Parsons entdeckten Problems der „doppelten Kontingenz" zu erklären. Warum kann soziales Handeln überhaupt zustande kommen, so fragte Parsons 1951, wenn jeder sein Handeln von der Reaktion der jeweils anderen abhängig macht, von der er noch nichts weiß?39 Luhmann ist nicht mit Parsons Antwort einverstanden, wonach die fällige Verhaltensabstimmung immer einen bereits vorhandenen kulturellen Werte- und Zeichencode voraussetzt, weil diese „Verschiebung der Problemstellung in die Vergangenheit" die Entstehung und Funktion dieses Codes unerklärt läßt.40 Vielmehr glaubt Luhmann, daß die notwendige gemeinsame Werteordnung sich auch spontan im ablaufenden Kommunikationsprozeß herauskristallisieren kann: „Alter bestimmt in einer noch unklaren Situation sein Verhalten versuchsweise zuerst. Er beginnt mit einem freundlichen Blick, einer Geste, einem Geschenk - und wartet ab, ob und wie Ego die vorgeschlagene Situationsdefinition aufnimmt. Jeder darauf folgende Schritt ist dann im Lichte dieses Anfangs eine Handlung mit kontingenzreduzierendem, bestimmenden Effekt - sei es nun positiv oder negativ."41

In der Situation doppelter Kontingenz werden „Zufälle angesaugt", und aus ihnen moduliert sich ein neues Bezugssystem. „Gäbe es keinen Wertekonsens, würde man ihn erfinden", sagt Luhmann. Mitteilungen sind dann Selbstfestlegungen, ihr Austausch fuhrt zur Entstehung neuer sozialer Ordnungen, „etsi non daretur Deus". Diese Wiedergabe von Luhmanns abstrakter Argumentation soll zum konkreten Gedanken überleiten, daß die stalinistischen Schuldbekenntnisse nicht zwangsläufig auf einen präexistenten russischen, christlichen, intelligenzlerischen oder bolschewistischen kulturellen Code zurückgeführt werden müssen. Vielmehr soll die Frage zugelassen werden, ob es nicht auch das postrevolutionäre Vakuum an gemeinsamen Werten und politischer Legitimation (die plötzliche Zunahme an Kontingenz) gewesen sein könnte, in der sich dieses „Kommunikations- und Handlungssystem" und die dazu gehörige Werteordnung präzedenzlos beziehungsweise „selbstreferentiell" herausbildeten. Dies schließt keineswegs aus, daß umhertreibende Bruchstücke aus dem zerstörten

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Vgl. Luhmann: Soziale Systeme, S. 225-226. Luhmann: Soziale Systeme, S. 240. 39 Das Problem war bereits 1951 von Talcott Parsons und Edward Shils beschrieben worden. Vgl. Luhmann·. Soziale Systeme, S. 148-149. 40 Luhmann: Soziale Systeme, S. 149-150. 41 Luhmann: Soziale Systeme, S. 150-151. 38

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Einführung

Gebäude früherer Ordnungen nicht zufällig „angesaugt" und in das neue System mit eingebaut wurden. Auffallend häufig brachten die Autoren, die sich mit stalinistischen Schuldbekenntnissen befaßten, zum Vergleich die christlichen Praktiken des Beichtens, Büßens und Bereuens ins Spiel und konzentrierten dabei einen großen Teil ihrer Aufmerksamkeit auf etwaige Unterschiede zwischen der orthodoxen, der katholischen und der pietistischen Praxis. Um die Voreingenommenheit dieses Blickwinkels zu verdeutlichen, soll an dieser Stelle ausdrücklich dargestellt werden, daß profane Methoden der Gewissensprüfung in europäischen Gesellschaften seit jeher eine wichtige Rolle spielten. Jede Macht ist in gewissem Maße darauf angewiesen, das Bewußtsein, den Willen, und das Gewissen anderer Menschen zu kontrollieren. Immer schon versuchten die Mächtigen, die Einbindung des fremden Willens durch ein kodifiziertes System performativer Akte moralisch zu bekräftigen. Wenn etwa Kriegsparteien den Frieden anstreben, dann befinden sie sich in einer extremen Situation „doppelter Kontingenz". Was will der Feind wirklich? Kann man Waffenstillstands- und Abrüstungsvereinbarungen trauen? Nicht nur der ausgehandelte Kompromißfriede, sondern auch die bedingungslose Unterwerfung muß durch Kommunikation vermittelt werden. Manchmal hatte die Kapitulation den Charakter des Überlaufens: Der Verlierer schwor dem Sieger die Treue und kämpfte von da an auf dessen Seite. Das mittelalterliche Lehnswesen geht teilweise auf ein Geflecht derartiger Treueversprechungen zurück. Ohne feierliche Bekenntnisse gibt es auch heute weder Krieg noch Frieden. Religiöse Beteuerungsformeln hält man inzwischen für überflüssig, doch auf den performativen Akt des Fahnen- oder Amtseids als solchen will der moderne Staat nicht verzichten. Er hält sich für berechtigt und befähigt, die Verfassungstreue seiner Beamten, ja das Gewissen von Kriegsdienstverweigern zu überprüfen. Angeblich können kompetente Experten echte Gewissensnöte von vorgeschobenen unterscheiden. Nach Revolutionen und anderen politischen Umbrüchen des zwanzigsten Jahrhunderts wurden die Vertreter des untergegangenen Regimes häufig besonders intensiv zur Rede gestellt. Ihre Vergangenheit wurde durchleuchtet, man fragte sie nach früheren Motiven und ihrer gegenwärtigen Einstellung. Entnazifizierungs-Spruchkammern, Warheitskommissionen und Stasi-Ehrenausschüsse regulierten die Möglichkeit ihrer Rückkehr ins soziale und berufliche Leben. Sogar in stabilen demokratischen Wohlstandsgesellschaften kann es zu derartigen Praktiken kommen, wie McCarthys Ausschüsse zur Erforschung „unamerikanischer Umtriebe" beweisen. Auch wenn dies nicht ausdrücklich in der Geschäftsordnung festgeschrieben sein sollte, so erwarten die Richter bei solcher Gelegenheit von ihren Prüflingen doch mehr oder weniger selbstverständlich eine demütige Haltung, die Anerkennung der Niederlage, bereitwillige Auskunftsbereitschaft, die Einsicht in ihre Fehler, einen aufrichtigen Gesinnungswandel und ehrliche Reue. Solche Kommissionen artikulieren ein

3. Zur Fragestellung und Vorgehensweise

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allgemeines gesellschaftliches Bedürfnis, die als moralisch kompromittierte Gruppe von Angesicht zu Angesicht zur Rede zu stellen. Im demokratischen Alltag fühlen sich auch die mündigen Bürger berechtigt, ihre Politiker zur Rede zu stellen. Fast jede Pressekonferenz zeigt etwas davon. Wenn Fehlleistungen allzu offensichtlich sind, kommt es zu Fehlereingeständnissen oder auch zu Rücktritten. Willy Brandt distanzierte sich von seiner Diagnose, die Wiedervereinigung sei die „Lebenslüge der zweiten deutschen Republik"; Helmut Kohl gab zu, sich über die finanziellen Kosten derselben Wiedervereinigung „geirrt" zu haben; Bill Clinton gab zu, Haschisch konsumiert und seine Frau betrogen zu haben; Joseph Fischer bedauerte, daß er sich 25 Jahre zuvor mit Polizisten geprügelt hatte; die Liste ließe sich fortsetzen. Wer solche Episoden für lächerlich hält, sollte nicht übersehen, daß zumindest in einem Teil der politischen Öffentlichkeit durchaus ernsthaft darüber diskutiert wurde, ob diese Selbstauskünfte als „ehrlich" und „aufrichtig" angesehen werden durften oder nur als „Heuchelei". Selbstverständlich spielt auch im Strafprozeß das Geständnis und die Reuebereitschaft eine große Rolle. Die Justiz in westlichen Ländern beurteilt nicht nur die Tat, sondern auch immer das Gewissen des Täters.42 Schon während der Ermittlungen kann es sehr wohl vom „reuigen" Auftreten der Beschuldigten abhängen, ob ein Verfahren gegen Geldbuße eingestellt wird oder nicht. Die Frage nach den Motiven, der Schuld und der Schuldfähigkeit ist ein zentraler Verhandlungsgegenstand. Auch hier hat die Haltung des Angeklagten auf das Urteil, die Haftbedingungen und die Sozialprognose große Auswirkungen. Auf politisch motivierte Gewalttäter übt die Justiz Druck aus, damit sie ihren extremen Zielen, mindestens aber der Gewalt explizit abschwören. Doch die Zivilgesellschaft stellt sich auch selbst gerne zur Rede. Wer in einem ständisch-autoritär geprägten Umfeld die „Ehre" von Respektspersonen beleidigt, muß sich „in aller Form" entschuldigen. Nichtstaatliche Ehrentribunale behandelten solche Fragen früher mit größtem Ernst und manchmal forderten sie ein Duell. Die Praxis des Zur-Rede-Stellens und die daran gekoppelte Übung des Sich-entschuldigen-Müssens waren und sind ein selbstverständlicher Teil der Kindererziehung, sowohl im privaten Umfeld wie auch in der Schule. „Ich

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Vgl. etwa folgende Unterscheidung: „Das Ziel meines Vergleichs der kommunistischen hermeneutischen Gerichte mit der Inquisition ... besteht darin, hervorzuheben, daß die kommunistischen Parteigerichte Tribunale des Gewissens waren und keine Kriminalgerichte im strengen Sinn..." (Halfin: Looking into the Oppositionist's Souls, S. 317.) Aber gibt es überhaupt „Kriminalgerichte im strengen Sinn", gab es sie jemals? Zur Zeit der Inquisition vielleicht, meint Michel Foucault, aber heute nicht mehr: „Seitdem vor 150 oder 200 Jahren Europa seine neuen Strafsysteme geschaffen hat, sind die Richter Schritt für Schritt... darangegangen, über etwas anderes als die Verbrechen zu richten: über die ,Seele' der Verbrecher." (Michel Foucault: Überwachen und Strafen. Die Geburt des Gefängnisses, Frankfurt am Main 1994, S. 28.)

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Einfuhrung

darf den Unterricht nicht stören". Sätze wie diesen schrieben (und schreiben vermutlich immer noch) Schulkinder millionenfach in ihre Strafarbeiten. Die Forderung nach Schuldbekenntnissen, nach Fehlereinsicht und nach Unterwerfungshandlungen kann also in allen möglichen Situationen auftauchen, ob diese nun harmlos sind oder gefährlich, ernst oder trivial. Man muß den Blick nicht auf eine bestimmte dieser Situationen konzentrieren, um zu sehen, daß praktisch alle gesellschaftlichen Akteure - und nicht nur der katholische Priester im Beichtstuhl - ein Bedürfnis verspüren, das Verhalten und das Gewissen der Mitmenschen zu kontrollieren. Kommunikative Akte wie Treuegelöbnisse, eidesstattliche Erklärungen, autobiographische Auskünfte und Schuldbekenntnisse sind Selbstfestlegungen, die die Kontingenz reduzieren sollen. Wird der kommunikative Akt öffentlich abgelegt, dann dient er weniger der Übermittlung neuer Informationen als der impliziten Reproduktion oder der Demontage, der Legitimation oder der Diskreditierung von bestehenden oder angestrebten Verhältnissen. Die Beteiligten nehmen bestimmte Haltungen ein, die sich sowohl auf den aktuellen Konfliktgegenstand wie auch auf langfristig wirksame soziale Autoritäts-, Rang- und Machtverhältnisse beziehen. Man beansprucht, bekräftigt, beschädigt sein Recht oder verzichtet darauf, im jeweiligen Umfeld einen bestimmten Status einzunehmen. Wenn peinlich berührte Zeitgenossen solche Kommunikation als „Theater" oder als „Ritual" denunzieren, so kann man dies auch als Versuch verstehen, gegen die unangenehme Differenz zwischen Information und Mitteilung zu „prozessieren". Dann werden die Spielregeln wiederum selbst zum Gegenstand der Auseinandersetzung. Wie man sehen wird, galt dies alles auch für die Verhältnisse in der Sowjetunion. Unter den beschriebenen Umständen scheint es naheliegend, zuerst der Frage nachzugehen, wann genau die sowjetischen Praktiken des Zur-RedeStellens und des Sich-entschuldigen-Müssens auftauchten und warum sie sich so erfolgreich einbürgerten beziehungsweise „institutionalisierten". Die ungeschriebenen, aber verbindlichen Regeln des stalinistischen Kommunikationssystems entwickelten sich entlang einer Kette von Präzedenzfällen, die aufgefunden, geordnet und interpretiert werden müssen. Die Ausdifferenzierung des neuen Handlungssystems wird nur vor dem Hintergrund der politischen Ereignisse und Machtverhältnisse verständlich. Dies vorausgesetzt, versprechen konventionelle Methoden wie die Chronologie, die Faktologie und die Begriffsgeschichte einen besonders schnellen Erkenntnisgewinn. Darüber hinaus soll aber auch stets danach gefragt werden, welchen Sinn die Beteiligten ihrem Verhalten implizit und explizit beimaßen und ob ihr Deutungsangebot sozial erfolgreich war oder nicht. Obwohl in dieser Arbeit auch mitunter Begriffe und Bilder aus dem Foucault'schen „Werkzeugkasten" benutzt werden, wie etwa der „Diskurs" oder das „Panoptikum", soll hier keineswegs ein Foucault'scher Ansatz gewählt

3. Zur Fragestellung und Vorgehensweise

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werden. Insbesondere wird das Problem der Subjektivität nicht im Mittelpunkt stehen. Es geht nicht um Identitätsstiftungen oder Subjektkonstruktionen, sondern um die Rekonstruktion der Situation. Die Frage, ob das Subjekt mit dem Diskurs existentiell verschmolz oder diesen „zynisch" manipulierte, würde hier vermutlich ohnehin in eine Sackgasse führen. Da es im Stalinismus offensichtlich nicht einen, sondern eine Vielzahl von Diskursen gab, aus denen sich durchaus widersprechende Imperative ableiten ließen, muß man den Akteuren auch keineswegs „Zynismus" unterstellen, wenn sie die offizielle Sprache in ihrem Sinne instrumentalisierten. In der konkreten Situation blieb ihnen kaum etwas anderes übrig. Auch wer dem kommunistischen Weltgeist vorauseilend gehorsam sein will, muß schließlich die Richtung kennen, in die vorausgeeilt werden soll. Hier wird unterstellt, daß es nicht der Foucault'sche „Diskurs" war, der das „Subjekt" erzeugte, sondern daß es vielmehr die bereits vorhandenen Subjekte gewesen sind, die in der ständig gegebenen Situation „doppelter Kontingenz" neue Diskurse, beziehungsweise Kommunikationsund Handlungssysteme, hervorbrachten. Im weiteren soll der Begriff „Diskurs" in etwa das bezeichnen, was man mit Luhmann „Kommunikations- und Handlungssystem" nennen könnte. Der Raum, in dem die Akteure des sowjetischen Systems miteinander kommunizierten, soll im folgenden als „Öffentlichkeit" bezeichnet werden, unabhängig davon, ob diese Öffentlichkeit immer für jedermann zugänglich war oder nicht.43 Damit soll die „offizielle Öffentlichkeit" der Sitzungen, Versammlungen und der legalen Presse gemeint sein, nicht aber die „private" oder „nichtoffizielle" Öffentlichkeit der Familienfeiern, der Küchengespräche, der Schwarzmärkte, der Warteschlangen oder der Eisenbahnwaggons. Es wird davon ausgegangen, daß diese offizielle sowjetische Öffentlichkeit hierarchisch strukturiert war und sich entlang der Milieugrenzen zusätzlich in verschiedene Teilöffentlichkeiten gliederte. In der vorliegenden Arbeit werden die verschiedenen Milieus der politischen Elite, der Intellektuellen, der Parteibasis und der städtischen Arbeitsbevölkerung nähere Beachtung finden. Wichtiger noch scheint die Unterteilung nach dem Sinn und Zweck, den die Kommunikation in allen Milieus erfüllen sollte. Es scheint sinnvoll, pragmatisch vier Funktionen zu unterschieden, die auch in der nicht-sowjetischen Gesellschaft identifiziert werden können: Die Befriedung der politischen Situation, die Verbesserung der öffentlichen Angelegenheiten, der geistige Erkenntnisfortschritt und die Erziehung der Bevölkerung. Man kann davon ausgehen, daß grundsätzlich auch die Mehrzahl der sowjetischen Bürger an

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Der Begriff „Öffentlichkeit" spielt in Luhmanns „Sozialen Systemen" keine Rolle, wohl aber in der sowjetischen Propagandasprache (obscestvennost'). Im zweiten Kapitel wird das Selbstverständnis der sowjetischen „Öffentlichkeit" genauer dargestellt. Der Begriff wird im weiteren stets in einfache Anführungszeichen gesetzt, wenn er im sowjetischen Sinn gebraucht wird.

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Einfuhrung

der Verwirklichung derartiger Ziele interessiert war. Konflikte entstanden im Zusammenhang mit ihrer konkreten Auslegung und Realisierung. Das erste Kapitel wird den innerparteilichen, ursprünglich demokratischen Abstimmungskörper als das Modell einer spezifischen Öffentlichkeit vorstellen, in welcher die Bolschewiki ihren politischen Willen bildeten und behaupteten. Schuldbekenntnisse waren hier ursprünglich „Kapitulationen" einer überstimmten Minderheit, die ihr Votum nachträglich revidieren wollte. Die stalinsche Kerngruppe erzwang dieses Verfahren, um politische Stabilität zu produzieren. Das zweite Kapitel wird den Diskurs von „Kritik und Selbstkritik" rekonstruieren, der ursprünglich nicht nach Schuldbekenntnissen verlangte. Die „Selbstkritik" war vielmehr als eine Art „kritische Öffentlichkeit" gedacht, in der sich aber kein konkurrierender politischer Wille bilden durfte. Die loyalen Sowjetbürger sollten mit ihrer konstruktiven Kritik an Mißständen lediglich zur Verbesserung der öffentlichen Angelegenheiten beitragen. Später trug dieses Schlagwort allerdings erheblich dazu bei, die Praxis der Schuldbekenntnisse zu verbreiten. Das dritte Kapitel wird erzählen, wie und warum sich um 1930 unter den parteinahen Intellektuellen die Praxis des „Abschwörens" von ideologischen Positionen verbreitete und welche Rolle die innerparteilichen Vorbilder, die „Selbstkritik" und das Eingreifen Stalins dabei spielten. Im vierten Kapitel soll anhand von vier verschiedenen Milieus dargestellt werden, wie die ineinander verschränkten Praktiken von „Selbstkritik" und Kapitulation im Alltag der Stalinzeit funktionierten: Beschrieben werden die Verhältnisse innerhalb der politischen Elite, bei der Betreuung von Arbeitern und Jugendlichen, an der Parteibasis und unter den Intellektuellen. Wie zu sehen sein wird, war die Öffentlichkeit letztlich in all diesen Milieus zweigeteilt: In einer Akklamationssphäre erneuerte und behauptete sich der politische Wille eifersüchtig gegen jegliche Anfechtung, während die „pädagogische" Sphäre weiterhin der konstruktiven Kritik und der „kameradschaftlichen Selbstkritik" zur Verfügung stand. Bestrebungen zur ideologischen Gleichschaltung und zur Disziplinierung einzelner Personen wurden recht bald in den „Selbstkritik"Diskurs integriert. Die Obrigkeit und die zur Rede gestellten Untertanen entwickelten schließlich eine Sprache, die fast die gesamte Herrschaftsausübung zur „Erziehungspraxis" euphemisierte. Stalin war der „Vater und Lehrer", und die Sowjetbürger waren seine Kinder. Unter der Herrschaft der Bolschewiki differenzierte sich ein Kommunikationssystem aus, das die Untertanen entweder dämonisierte oder infantilisierte. Mündige Bürger waren darin nicht vorgesehen. Das fünfte und letzte Kapitel beschreibt die Bedeutung von Kapitulationen, Geständnissen und Besserungsversprechen im Strafprozeß, insbesondere dem politischen Schauprozeß. Im ganzen sollen diese fünf Kapitel eine Art Landkarte darstellen, die es ermöglicht, einzelne Vorfälle von „Selbstkritik" besser als bisher in den gro-

3. Zur Fragestellung und Vorgehensweise

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ßen Zusammenhang der sowjetischen Realität einzuordnen. Dabei müssen die Vorgänge, die sich innerhalb und in der Nähe der Parteiführung abspielten, besonders intensiv betrachtet werden. Der Versuch, auch die Verhältnisse im Alltag der Mehrheitsgesellschaft zu beleuchten, konnte aufgrund der gänzlich anderen Quellensituation im gegebenen Bearbeitungszeitraum leider nur im Ansatz verwirklicht werden. Künftige Arbeiten könnten hier - auch mit anspruchsvolleren Fragestellungen - noch wertvolle Erkenntnisse gewinnen. Grundsätzlich hätte eine ähnliche Arbeit wie diese schon vor der ArchivÖffnung geschrieben werden können. Wesentliche Zusammenhänge ließen sich anhand längst publizierter Quellen (Zeitungen, Zeitschriften, normative Dokumente, Erinnerungsliteratur etc.) nachvollziehen. Dennoch haben es die Quellenpublikationen der letzten fünfzehn Jahre sehr erleichtert, bestimmte Annahmen zu verifizieren und weiterzuführen. Dies gilt insbesondere für die Stenogramme der Plenarsitzungen des Zentralkomitees, für die interne Korrespondenz führender Bolschewiki und für die Dokumente über das Verhältnis zwischen der Parteiführung und der Intelligenz. Von meinen eigenen Archivrecherchen in Voronez und Moskau erhoffte ich mir ein besseres Verständnis der Situation an der gesellschaftlichen Basis. Dies erwies sich schwieriger als angenommen, da Sitzungen und Versammlungen in den Grundorganisationen von Partei und Komsomol selten stenographiert und noch seltener aufbewahrt wurden. Eine gewisse Ausnahme stellen allenfalls die höheren Bildungseinrichtungen dar. Eine Überrepräsentation des bildungsnahen Milieus ließ sich daher nicht vermeiden. Über Vorgänge in den Arbeitsbrigaden, Kolchosen, Schulklassen und Jugendgruppen erfahren wir zumeist nur indirekt aus Memoiren, Tagebüchern und Funktionärsberichten. Tagebücher sind seltene Glücksfälle, während Erinnerungen und Funktionärsberichte bekanntlich geschönt und selektiert werden. Dennoch wurden alle diese Quellen benutzt, insbesondere wenn sie sich an einen sowjetischen Adressaten wenden, der die prinzipielle Glaubwürdigkeit der Aussagen einschätzen konnte.

I. Der bolschewistische Abstirmnungskörper als kollektive Geisel Einleitung Die Herkunft der sozialen Praktiken der Bolschewiki, die man heute als „stalinistische Schuldbekenntnisse" oder als „Konfessionsrituale" bezeichnen könnte, lag niemals tief im Verborgenen. Die Ausführungen des folgenden Kapitels erheben auch nicht den Anspruch, neue Tatsachen aufzudecken, sondern wollen nur erklären, wo innerhalb einer altbekannten Ereigniskette die Kontinuitätslinie des Diskurses verläuft. Aus Gewaltexzessen von Revolution und Bürgerkrieg hervorgegangen, litt die junge Sowjetherrschaft unter einem Legitimationsdefizit, weshalb sie auf akklamierende Bekenntnisakte der Beherrschten besonderen Wert legte. Nicht von den Angehörigen der eigenen Partei, sondern vom besiegten politischen Gegner forderten die Bolschewiki nach der Revolution die ersten Loyalitätsbekenntnisse: So verlangte etwa der neue Rat der Volkskommissare 1917 von den Petrograder Ministerialbeamten die schriftliche Erklärung ihrer „völligen Unterordnung" unter die neue Herrschaft.1 Die Unterwerfung der Besiegten ist eine kommunikative Handlung, die die Wiederaufnahme der gegenseitigen Verständigung ermöglichen soll. Zukunftsweisender im Sinne der Diskursentwicklung war allerdings die Kapitulation der konkurrierenden revolutionären Parteien, die ihr Projekt für gescheitert erklärten, sich auflösten und den Mitgliedern rieten, sich den Bolschewiki anzuschließen. Innerhalb der bolschewistischen Partei entstanden die Praktiken von Loyalitäts- und Schuldbekenntnissen nicht unmittelbar aus dem Kapitulationsverhalten von Bürgerkriegsverlierern, sondern infolge des Funktionswandels der Entscheidungsmechanismen in den zentralen Abstimmungskörpem. Obwohl russische Kommunisten demokratischen Prinzipien niemals besonderen Respekt entgegenbrachten, blieben sie - in Ermangelung anderer Legitimierungsprozeduren - in der Praxis auf das Verfahren der Mehrheitsabstimmung angewiesen. In der Sozialdemokratischen Partei, auch bei den Bolschewiki, blieben Fraktionsbildungen und Kampfabstimmungen bis zum zehnten Parteitag 1921 eine normale Erscheinung des politischen Alltags. Die Entscheidungen für den Oktoberumsturz, für die Unterzeichnung des Brester Friedens und zur Lösung der Gewerkschaftsfrage konnten auch innerhalb der herrschenden Partei nur gegen größte Widerstände durchgesetzt werden. Die Zugehörigkeit des einzelnen Bolschewisten zu einer bestimmten Fraktion bzw. einer „Plattform" setzte das ursprüngliche Funktionieren demokratischer Mechanismen 1

Richard Pipes: The Russian Revolution, New York 1990, S. 529.

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I. Der bolschewistische Abstimmungskörper als kollektive Geisel

voraus, in welchen die jeweilige Gruppe die Mehrheit zu erhalten hoffte. Es verstand sich von selbst, daß die Parteiführung sich auf eine Stimmenmehrheit in den wichtigsten Parteigremien stützen mußte. Dieses Prinzip wurde niemals außer Kraft gesetzt und sorgte in der Chruscev-Ära plötzlich wieder für spannende Momente. Bis zur Auflösung der Sowjetunion blieb der zentrale Abstimmungskörper der politische Ort, an welchem die jeweiligen Stimmführer der Partei ihre Machtansprüche gegen etwaige Konkurrenten öffentlich behaupten und ihre Fähigkeit beweisen mußten, den reibungslosen Ablauf der Akklamationsprozedur zu garantieren. In der Frühzeit der bolschewistischen Diktatur galt in den zentralen Parteigremien neben dem einfachen Mehrheitsprinzip auch die ungeschriebene Regel, daß die persönliche Autorität der prominentesten Revolutionsführer im Konfliktfall respektiert werden mußte. Das Verhalten der Mitglieder des Zentralkomitees (und später des Politbüros) war lange Zeit von der Angst beherrscht, es könne zwischen den wichtigsten Revolutionären zu einem radikalen Bruch und damit zu einer Parteispaltung kommen. Da im inneren Zirkel alle instinktiv danach strebten, niemanden vor den Kopf zu stoßen, konnte umgekehrt jeder von ihnen die anderen mit Rücktrittsdrohungen politisch unter Druck setzen. Solange die Gruppe sich nicht zutraute, die Revolution gegebenenfalls auch ohne Vladimir Lenin zum Sieg zu führen, besaß dieser faktisch ein Vetorecht; da aber auch Lenin weder Trockij noch Bucharin als Mitstreiter ganz verlieren wollte, mußte auch er sich hin und wieder auf Zugeständnisse einlassen. Dennoch kam es sehr häufig zu Kampfabstimmungen, nach denen sich jedoch alle bemühten, wieder möglichst rasch zur normalen Zusammenarbeit zurückzukehren. Lenin, der in den wichtigen Abstimmungen stets die Mehrheit errang, akzeptierte das Vorhandensein von Abstimmungsgegnern und zeigte nur selten das Bestreben, diese nach der Abstimmung aus den Führungsgremien zu verdrängen. Die politische Praxis dieser Jahre gestand den Mitgliedern der unterliegenden Minderheitsfraktion eine Art Immunität zu: Die Mehrheit verzichtete darauf, sich an ihren zeitweiligen Opponenten nachträglich zu rächen. Erst das auf dem zehnten Parteitag (1921) eingeführte Fraktionsverbot führte langfristig zur Aufhebung des Immunitätsprinzips und schuf die Bedingungen für die Kultur der politischen Schuldbekenntnisse. In diesem Zusammenhang scheint es besonders aufschlußreich, mit Elias Canetti daran zu erinnern, daß auch das moderne britische Unterhaus in seinem Wesen die „psychologische Struktur der kämpfenden Heere" benutzt, die einstmals „im Bürgerkrieg wirklich ... vorhanden" waren.2 Canetti zufolge setzen die demokratischen Parteien auch im Frieden diesen Kampf fort, wobei sie allerdings „auf Tote verzichten". Der zivile Friede im Parlament und in der Gesellschaft besteht allerdings nur solange, wie alle Beteiligten das 2

Elias Canetti: Masse und Macht, Frankfurt am Main 1990. Vgl. den Abschnitt: Das Wesen des parlamentarischen Systems, S. 220-222.

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Mehrheitsprinzip und die Immunität der Deputierten respektieren. Wird deren Unverletzlichkeit in Frage gestellt, beginnt der Bürgerkrieg wieder von vorn: „Das parlamentarische System ... zerbröckelt, sobald jemand darin sitzt, der es sich erlaubt, mit dem Tode irgendwelcher Mitglieder der Körperschaft zu rechnen. Nichts ist gefährlicher, als unter diesen Lebenden Tote zu sehen. Ein Krieg ist ein Krieg, weil er Tote in die Entscheidung mit einbezieht. Ein Parlament ist nur ein Parlament, solange es Tote ausschließt."

Die politischen Auseinandersetzungen im Zentralkomitee der zwanziger Jahre hingegen können weder mit demokratischen Parlamentsdebatten noch mit einem blutigen Bürgerkrieg verwechselt werden, sondern beschreiben den Übergang vom einen Zustand in den anderen. Die Aufhebung des ungeschriebenen Immunitätsprinzips wurde nicht auf einen Schlag wirksam, sondern führte nur ganz allmählich zur Wiederkehr physischer Gewaltmaßnahmen. Nachdem Stalin verdeutlicht hatte, daß er es sich durchaus gestatten würde, unter opponierenden Mitgliedern des Zentralkomitees, wenn auch keine Toten, so doch Ausgestoßene, Verhaftete und Verbannte „zu sehen", verwandelte sich erst die opponierende Minderheit des Gremiums in eine kollektive Geisel der stalinistischen Mehrheit und schließlich der Abstimmungskörper als Ganzes in eine Geisel seines Stimmführers. Schuld- und Reuebekenntnisse erlangten in dieser Zeit ihre Bedeutung als ein individueller Ausweg für diejenigen, die vorübergehend opponiert hatten und dabei in der Minderheit geblieben waren. Durch ihre demonstrative „Kapitulation" und Unterwerfung hofften sie, eine weitere Zuspitzung des Konflikts zu vermeiden und der Rache der Mehrheit zu entgehen. Die Praxis entstand als ein Nebenprodukt des Wandlungsprozesses, den das Zentralkomitee in den zwanziger Jahren vollzog: Von einem Abstimmungskörper zu einer stets unisono akklamierenden, kollektiven Geisel. Im folgenden Kapitel solleq die einzelnen Etappen dieses Prozesses ausführlich beschrieben werden.

1. Von der Revolution bis zum vierzehnten Parteitag: Konfliktlösung durch Kampfabstimmung Nachdem die Bolschewiki ihre Alleinherrschaft gesichert hatten, liquidierten sie nacheinander konkurrierende revolutionäre Parteien wie die Menschewisten, die Anarchisten und die Sozialrevolutionäre. Das Bemühen der neuen Machthaber, die Vertreter der Gegenseite in die Inszenierung ihrer eigenen Niederlage propagandistisch miteinzubeziehen, nahm in seiner äußeren Form schon 1918 das Schauspiel vorweg, das sich einige Jahre später im Inneren der bolschewistischen Partei abspielen würde.3 3

Vgl. zum folgenden Abschnitt insbesondere die Überblicksdarstellung von D. B. Pavlov: Bolsevistskaja diktatura protiv socialistov i anarchistov. 1917 - seredina 1950-ch godov,

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I. Der bolschewistische Abstimmungskörper als kollektive Geisel

Die Bolschewiki betrachteten die genannten Parteien während der Revolution und des Bürgerkrieges als potentielle Verbündete wie auch als prinzipielle Gegner. Als viele linke Sozialrevolutionäre im Lauf des Jahres 1918 erwogen, einzeln oder in Gruppen zu den siegreichen Bolschewiki überzutreten, begegneten jene den Überläufern zwar sehr mißtrauisch, versuchten den Vorgang aber propagandistisch optimal auszunutzen. Wer in die RKP(b) eintreten oder in einem lokalen Sowjet mit ihr auch nur konstruktiv zusammenarbeiten wollte, wurde üblicherweise genötigt, sich von der Politik seiner bisherigen Partei öffentlich zu „distanzieren" und die Gründe für den Gesinnungswechsel ausfuhrlich zu erläutern.4 Das galt bisweilen auch für diejenigen, die, wie der Sozialrevolutionär und spätere Harvard-Professor Pitirim Sorokin,5 der RKP(b) nicht beitreten, sondern lediglich ihrer weiteren Verfolgung entgehen wollten. Sorokin war im Sommer 1918 vor der Tscheka in eine abgelegene Waldregion geflüchtet, von wo aus er im November 1918 die Bolschewiki brieflich seiner Loyalität versicherte. An das regionale kommunistische Parteibüro und die Presse wandte er sich mit demütigen Fehlereingeständnissen:6 „Inzwischen sind in mir schon längst Zweifel an meiner alten politischen Position aufgekommen. ... Im ... Kampf des Sozialismus mit dem Kapitalismus kann ich - ein Sohn eines Proletariers und einer Bäuerin - nicht im Lager der Imperialisten sein, sondern in den Reihen des werktätigen Volks. Und da gibt es einen Ausweg: Man muß seine politischen Fehler offen zugeben und sich von der alten Plattform lossagen, weil diese unter dem Druck der Ereignisse ins Lager der Kapitalisten führt. ... Mit diesem Ziel habe ich 1) mich öffentlich von meinem Titel als Mitglied der Konstituierenden Versammlung losgesagt; 2) bin ich aus der Partei der Sozialrevolutionäre ausgetreten; 3) begebe ich mich zur Außerordentlichen Kommission [d.i. die Tscheka, L. E.]."

Sorokin verhehlte allerdings nicht, daß er diese Erklärung vor allem darum ablegte, weil er Repressionen entgehen und wieder zu einer legalen Existenz zurückkehren wollte. Offenbar wußten die Bolschewiki den propagandistischen Nutzen seines Auftretens zu würdigen, denn bald darauf konnte Sorokin seine Lehrtätigkeit in Petrograd wieder aufnehmen. Es handelte sich bei dieser Episode keineswegs um einen Einzelfall; in den folgenden Jahren verhafteten Moskau 1999, und die orthodoxe sowjetische Darstellung: Bor'ba kommunisticeskoj partii protiv neproletarskich partij, grupp i tecenij (posleoktjabr'skij period). Istoriograficeskie ocerki, Leningrad 1982. 4 Zu den Verhältnissen in Voronez vgl. Perepiska s frakciej RKP(b) Gubispolkoma, G u b t K , gubernskim komitetom partii levych eserov ο kontr-revoljucionnoj dejatel'nosti levych eserov... 1.6.1918-18.12.1918.CDNIVOf. Ι,ορ. 1,d. 13,1. 13;Protokolysobranijalevych eserov g. Voroneza, spisok byvSych levych eserov, zajavlenija ο svoem vstuplenii ν RKP(b). 6.10.1918-15.10.1919. Ebenda, f. 1, op. 1, d. 12,1. 3-4. 5 Pitirim Aleksandrovii Sorokin (1889-1968) war ein prominenter Akteur der Konstituierenden Versammlung und wurde in Petrograd Professor, ehe er 1922 in die USA emigrierte. Als Soziologe fand Sorokin internationale Beachtung. 6 Pis'mo privat-docenta Petrogradskogo universiteta P. Sorokina ν Severo-Dvinskoe bjuro partii kommunistov, in: Belyj sever. 1918-1920 gg.: Memuary i dokumenty. Archangelsk, 1993. Vyp. 1,S. 349-350.

1. Von der Revolution bis zum vierzehnten Parteitag

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die Behörden nicht-bolschewistische Sozialisten manchmal mit dem einzigen Ziel, diese zu ähnlichen Distanzierungs- und Reueerklärungen zu nötigen, die anschließend in der Presse veröffentlicht wurden.7 Im März 1923 organisierte die GPU mit Zustimmung des Politbüros in Moskau sogar eigens einen Kongreß der „ehemaligen einfachen aktiven Mitglieder der Peripherie der rechten Sozialrevolutionäre" und darüber hinaus zahlreiche Konferenzen in der Provinz, in deren Resolutionen die eigene Partei verurteilt und die Mitglieder zum Beitritt in die RKP(b) aufgefordert wurden.8 Freilich waren längst nicht alle ehemaligen Sozialrevolutionäre bereit, sich an einem solchen Schauspiel zu beteiligen. Pläne für entsprechende Auflösungsparteitage der Menschewisten wurden fallengelassen, nachdem zu wenige ihrer prominenten Vertreter zur Teilnahme bewegt werden konnten.9 Sobald die Zeit derartiger Kampagnen 1924 abgelaufen war, wurde ehemaligen Mitgliedern sozialistischer Parteien der Eintritt in die RKP(b) empfindlich erschwert.10 Offensichtlich verfolgten die Bolschewiki mit dieser Politik weniger das Ziel, ihren Mitgliederbestand um herausragende Revolutionäre anderer Parteien zu bereichern oder alte Mitstreiter auf den einzig richtigen Weg in die proletarische Zukunft zurückzuführen, sondern strebten vor allem nach der Legitimation ihrer Alleinherrschaft. Für die Bolschewiki waren die vier Jahre von der Februarrevolution bis zum zehnten Parteitag 1921 eine Zeit ununterbrochen heftiger innerparteilicher Auseinandersetzungen. In dramatischen Schlüsselmomenten bei der Machtergreifung (1917), dem Brester Frieden (1918) oder bei der Neuorganisation der Gewerkschaften (1921) konnte Vladimir Lenin seine Linie nur mit viel Energie gegen den hartnäckigen Widerstand prominenter Parteifreunde durchsetzen. Bis zum zehnten Parteitag stand das demokratische Prinzip der Mehrheitsentscheidungen weder theoretisch noch praktisch jemals in Frage. Die Partei der „Berufsrevolutionäre" war zwar bekannt für ihre strenge „Disziplin", doch in der Praxis wurde die Bedeutung dieses Begriffs um 1917 recht großzügig ausgelegt." Innerparteiliche Opposition galt nicht als „Häresie" oder Verrat, und es gab auch kein Tabu, die Politik Lenins zu kritisieren beziehungsweise auf ihre Korrektur hinzuarbeiten. Der Aufruf, die „Einheit und Geschlossenheit" der Partei zu wahren, erzielte seine beachtliche Wirkung nicht mit Strafandrohungen, sondern als Appell an das Verantwor-

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Vgl. Pavlov: Bol'Sevistskaja diktatura, S. 74-75. Pavlov. Bol'äevistskaja diktatura, S. 87. 9 Pavlov. Bol'äevistskaja diktatura, S. 86-89. 10 Pavlov·. Bol'äevistskaja diktatura, S. 89. 11 Vgl. die Einschätzung von Manfred Hildenneier: „Disziplin und Unterordnung hatten sich unter der straffen Führung Lenins stärker ausgebildet als in der übrigen antizaristischen Fronde. Andererseits sollte diese Disposition nicht überbewertet werden. In der freien Luft der Februardemokratie gewann die Partei mehr Normalität als jemals zuvor." Manfred Hildermeier. Die Russische Revolution, 1905-1921, Frankfurt am Main 1989, S. 247. 8

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tungsgefühl der Kommunisten im politischen Überlebenskampf. Neben dem Verfahren der Mehrheitsentscheidungen blieb dabei ein anderes Prinzip wirksam: Der Respekt vor der revolutionären Autorität auch der unterliegenden Abstimmungsgegner, auf deren Einbindung die jeweils stärkere Parteimehrheit nicht verzichten wollte. In der personalisierten Auseinandersetzung zwischen Lenin, Zinov'ev, Trockij und Bucharin war die Drohung mit Rücktritt und Verweigerung in vielen Fällen ein beinahe so starkes Druckmittel wie die Organisation starker Abstimmungsgruppen. Niemand wollte riskieren, daß Lenin seinen Posten verließ, aber auch Lenin konnte auf die Mitarbeit Trockij s nicht verzichten. Obwohl die Auseinandersetzung von gegenseitiger Schmähkritik bis hin zu Ausschlußdrohungen begleitet sein mochte, stießen unterlegenen Opponenten nach der Entscheidung auf keine großen Schwierigkeiten, sich wieder in die Mehrheit einzugliedern. Ihrer politischen Glaubwürdigkeit zuliebe hielten sie es zwar mitunter für angebracht, ihren Gesinnungswandel mehr oder minder selbstkritisch zu begründen, aber es gibt keinen Grund, hierin eine bolschewistische Besonderheit zu erblicken. Der besseren Anschaulichkeit wegen scheint es sinnvoll, einige wohlbekannte Episoden als Beispiel anzuführen, wie die Bolschewiki in dieser Zeit innere Konflikte bereinigten. Bekanntlich waren für die Mitglieder des Petrograder Zentralkomitees Lenins revolutionäre April-Thesen eine große Überraschung. Nach anfänglicher Verblüffung ließen sie sich aber allmählich von seiner Strategie überzeugen. Unter ihnen war auch Stalin, der bis dahin als Herausgeber der „Pravda" gearbeitet hatte. Lenin verurteilte explizit die gemäßigte Haltung dieser Zeitung und sagte, es sei „Zeit, den Fehler zuzugeben". Stalin akzeptierte die Kritik und brachte die „Pravda" in der Folge auf die viel radikalere Linie Lenins, ohne allerdings irgendein formelles Schuldbekenntnis abzulegen.12 Weder Lenin noch sonst jemand kam auf die Idee, von den unzähligen bolschewistischen und nicht-bolschewistischen Revolutionären, die sich in diesen Wochen von den April-Thesen überzeugen ließen, demütige Schuldbekenntnisse einzusammeln. Recht widersprüchlich war einige Monate später der Umgang mit Grigorij Zinov'ev und Lev Kamenev, die sich dem Oktoberumsturz entgegenstellt hatten. Da sie sogar so weit gegangen waren, die vertraulichen Umsturzpläne im voraus öffentlich zu kritisieren, forderte Lenin den sofortigen Parteiausschluß der beiden „Streikbrecher", wofür er im Zentralkomitee allerdings keine Mehrheit fand.13 Kurz darauf verließen beide tatsächlich das Führungsgremium der Partei - allerdings nicht, weil sie ausgeschlossen worden wären, sondern von sich aus, um gegen die Alleinregierung der Bolschewiki zu protestieren. Als Zinov'ev es sich kurz darauf wieder anders überlegte, wurden ihm keine Steine in den Weg gelegt. Er begründete seine Rückkehr interessanterweise nicht 12 13

Vgl. Isaac Deutscher. Stalin. Eine politische Biographie, Berlin 1989, S. 190-193. Daniels: Das Gewissen der Revolution, S. 84.

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mit einem Fehlereingeständnis, sondern mit seiner Entschlossenheit, parteinotwendige Fehler zu begehen: „Es i s t . . . unsere Pflicht, die Partei vor Fehlern zu warnen. Aber wir bleiben bei der Partei, wir machen lieber Fehler zusammen mit den Millionen von Arbeitern und Soldaten und sterben mit ihnen, als daß wir ... beiseite treten."14

Im folgenden Jahr leisteten die „linken Kommunisten" unter Führung Bucharins erbitterten Widerstand gegen die Unterzeichnung des Brester Friedensvertrags. Längere Zeit schien es, als würden sie auch eine Spaltung der Partei in Kauf nehmen. Lev Trockij nahm mit seiner Losung „weder Krieg noch Frieden" eine Mittelposition ein. Erst als sich auf dem siebten Parteitag (März 1918) herausstellte, daß die Opposition weder Lenin umstimmen noch eine eigene Mehrheit organisieren konnte, entschloß sie sich zum Rückzug. Trockij war weit davon entfernt, „Selbstkritik zu üben" - vielmehr rechnete er es sich als Verdienst an, daß seine Gruppe auf der entscheidenden Abstimmung sich der Stimme enthalten und so „ihr Ego geopfert" habe, „um die Einheit der Partei zu retten". Lenin hatte sich einmal mehr durchgesetzt, kam aber genausowenig auf die Idee, von seinen Gegnern Schuldbekenntnisse zu verlangen. Im Gegenteil, er sorgte dafür, daß die Führer der „linken Kommunisten" teilweise gegen deren Protest - vom Parteitag erneut in diejenigen Ämter gewählt wurden, von denen sie zuvor zurückgetreten waren.15 Die Verlierer sollten nicht stigmatisiert oder gedemütigt, sondern möglichst schnell reintegriert werden.16 Im Verlauf der „Gewerkschaftsdebatte" 1920/21 versuchten verschiedene Gruppen angestrengt, die Mehrheit der Parteimitglieder in der Provinz und den Hauptstädten von ihrem Programm zu überzeugen. Dabei kam es zu einem regelrechten, offen und kontrovers geführten innerparteilichen Wahlkampf mit allen Begleiterscheinungen. Daniels spricht von diesen Monaten als der „großen Zeit der Parteidemokratie".17 Verschiedene Gruppen der „Arbeiteropposition" beharrten darauf, daß das Proletariat auch unter der „Diktatur des Proletariats" das Recht haben müsse, seine Interessen denjenigen der Zentralgewalt entgegenzustellen. Trockij und Bucharin strebten statt dessen eine totale Verstaatlichung der Gewerkschaften an. Schließlich gelang es Lenin, auf dem zehnten Parteitag (März 1921) eine überwältigende Mehrheit (336 gegen 68 Stimmen) für seine mittlere Position zu organisieren. Trockij und Bucharin 14

Daniels·. Das Gewissen der Revolution, S. 90. Daniels: Das Gewissen der Revolution, S. 103. 16 Dies hinderte Bucharin nicht daran, sich später zu seiner Meinungsänderung zu bekennen. Am 8. Oktober 1918 erklärte er auf dem Plenum des Moskauer Sowjets: „Ich war seinerzeit gegen den Brester Frieden, aber niemals habe ich die Sprengung des Friedens verteidigt, wie die ,linken' Sozialrevolutionäre. Jetzt muß ich offen und ehrlich bekennen, daß wir Gegner des Brester Friedens unrecht hatten - recht hatte Lenin". Zitiert nach: A. J. Wyschinski: Gerichtsreden, Berlin 1951, S. 649-650. 17 Daniels: Das Gewissen der Revolution, S. 144-147. 15

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I. Der bolschewistische Abstimmungskörper als kollektive Geisel

behielten dennoch ihre Parteiämter, während zwei Führer der unterlegenen „Arbeiteropposition" sogar neu ins Zentralkomitee gewählt wurden.18 Auf dem zehnten Parteitag stimmte bekanntlich eine überwältigende Mehrheit für die Einführung des Fraktionsverbots. Erst diese neuen Regeln ermöglichten schließlich die Durchsetzung der straffen Organisationsdisziplin, wie sie Lenin schon seit 1902 für seine „Partei von Berufsrevolutionären" propagiert hatte. Daß am Prinzip der demokratischen Mehrheitsentscheidung aber weiterhin festgehalten wurde, war in den Augen der beteiligten Zeitgenossen offenbar eine reine Selbstverständlichkeit, die keiner näheren Begründung bedurfte. Auch die späteren Parteihistoriker scheinen diesem einfachen Umstand nicht immer die Beachtung geschenkt zu haben, die er eigentlich verdient hätte, sondern beschränkten sich darauf, auf die Widersprüchlichkeit der neuen Organisationsprinzipien hinzuweisen: Einerseits behielten die Mitglieder der Partei, des Zentralkomitees und anderer Gremien ihr volles Stimmrecht und durften schon im Vorfeld von Parteitagen über die anstehenden Streitfragen debattieren, andererseits durften sie dabei aber keine stabile „Gruppe" oder „Fraktion" bilden, die auf ein bestimmtes Abstimmungsergebnis hinarbeitete. Von da an hatte also nur noch der zentrale Parteiapparat die Möglichkeit, auf legalem Wege Mehrheiten zu organisieren. Dieses „Fraktionsverbot" untergrub in der Folge das bis dahin faktisch wirksame Prinzip der Immunität der Stimmberechtigten. Bald diente es der stalinistischen Mehrheit als Vorwand, sich an den unterlegenen Minderheiten nachträglich zu rächen. In der Sprache Canettis ausgedrückt, begann Stalin tatsächlich, unter den Deputierten „Tote zu sehen", weswegen sich die Parteiparlamente folgerichtig wieder in ein Schlachtfeld zurückverwandelten: Die Minderheit wurde von der Mehrheit aufgerieben, die ihrerseits nicht mehr war als eine kollektive Geisel ihrer Wortführer. Tatsächlich schuf erst dieses als „demokratischer Zentralismus" bezeichnete Paradox den Rahmendiskurs für diejenigen kommunikativen Handlungen, die heute bisweilen als „bolschewistische Konfessionsrituale" bezeichnet werden. Da das Fraktionsverbot in der Partei schrittweise von unten nach oben durchgesetzt wurde, scheint es sinnvoll, auch die folgende Darstellung mit der Parteibasis zu beginnen. Die Beschlüsse des zehnten Parteitags alleine reichten keineswegs aus, um die innerparteiliche Opposition mundtot zu machen. Obwohl der zehnte Parteitag etwa einige Ansichten der „Arbeiteropposition" für unvereinbar mit der Parteimitgliedschaft erklärt hatte und ihre aktiven Verteidiger mit dem Parteiausschluß bedrohte," fuhren manche ihrer Führer fort, das Zentralkomitee öffentlich zu kritisieren. In der Folge erhielten sie wiederholt Parteirügen und Verwarnungen. Schon kurz nach seiner Wahl ins Zentralkomitee wurde 18

Daniels: Das Gewissen der Revolution, S. 184. KPSS ν rezoljucijach i reäenijach s'ezdov, konferencij i plenumov CK. 8-e izdanie, Moskau 1970, Tom. 2, S. 218-220. 19

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A. Sljapnikov dafür getadelt, daß er auf dem Gewerkschaftskongreß anderen Oppositionellen nicht so entgegengetreten war, wie man es von einem Mitglied der Parteispitze hätte erwarten können. Auf dem CK-Plenum im August beantragte Lenin daher persönlich Sljapnikovs Parteiausschluß, doch verfehlte dieser Antrag die nötige Zweidrittelmehrheit um eine Stimme.20 Auf dem elften Parteitag (April 1922) wurde eine Untersuchungskommission eingerichtet, die Beweise für die fortgesetzte „illegale Fraktionstätigkeit" der Arbeiteropposition zutage forderte. Der Parteitag Schloß allerdings nur eine einzige Person wegen Fraktionstätigkeit aus, den unbedeutenden Genossen Mitin aus dem Donbass, einen erst unlängst übergetretenen Menschewiken. Im Fall der prominenten Führer Sljapnikov, Medvedev und Kollontai begnügte man sich mit der strengen Ermahnung, sie sollten ihr Verhalten künftig ändern. Lazar Kaganovic, der der Untersuchungskommission angehörte, bemerkte dazu in seinen Memoiren: „Es war nötig, ... den besten aus der Gruppe, ... unter denen sich ehrliche Arbeiterrevolutionäre befanden, die Möglichkeit zu geben, sich davon zu überzeugen, in welches parteifeindliche, ... antiproletarische menschewistische Lager sie durch die Position ihrer Führer gezogen werden. Andererseits mußte man eben diesen Führen die Gelegenheit geben, sich vollständig zu entlarven, ihre Karten vollständig aufzudecken oder ihre Position zu ändern."21

Hinter der vorgeschobenen Langmut verbarg sich also die zukunftsweisende Strategie, Oppositionsführer diskreditierend einzubinden, anstatt sie voreilig zu Märtyrern zu machen. Noch war niemand auf die Idee gekommen, Schuldbekenntnisse zu verlangen oder abzulegen, aber der Moment war nicht mehr fern. Noch aggressiver als Sljapnikov und Kollontai verhielt sich der oppositionelle Arbeiter Gabriel Mjasnikov, der nicht weniger als die Wiedereinführung völliger Pressefreiheit verlangte. Im August 1921 verbot ihm eine aus Stalin, Michajlov und Sol'c bestehende Kommission, weiterhin seine Thesen zu verbreiten. Im Dezember 1921 wurde er aus der Partei ausgeschlossen und im Frühjahr 1922 in Perm' von der GPU verhaftet. 22 Die dortige Parteikontrollkommission zögerte nicht, auch die Anhänger Mjasnikovs aus der Partei auszuschließen. Von diesen baten bald darauf mindestens zwei bei der CKK in Moskau um ihre Wiederaufnahme. Da es sich um eines der ältesten Dokumente handelt, in dem Oppositionelle um ihrer Parteizugehörigkeit willen

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KPSS ν rezoljucijach, T. 2, S. 368-369, sowie Daniels·. Das Gewissen der Revolution, S. 195. 21 Lazar Moiseeviö Kaganovic: Pamjatnye zapiski raboöego, kommunista-boFäevika, profsojuznogo, partijnogo i sovetsko-gosudarstvennogo rabotnika, Moskau 1997, S. 317. 22 Im Gefängnis wurde er offenbar mißhandelt. Ein Wachsoldat ließ sich dazu hinreißen, auf ihn zu schießen. Molotov entschuldigte den Vorfall gegenüber der Komintern mit dem Hinweis, daß Mjasnikov sich gegenüber dem Gefängnispersonal „beleidigend" aufgeführt habe. Vgl. RGASPI f. 82, op. 1, d. 175,1. 6-12.

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ein „offizielles" Schuldbekenntnis ablegten, soll es etwas ausführlicher zitiert werden: „Nach Anhörung der persönlichen Erklärung von I. N. Stranev und Μ. P. Kopysov bestätigt die CKK die Richtigkeit der Entscheidung der Permer KK über ihren Parteiausschluß, doch in Anbetracht ihrer proletarischen Herkunft, ihrer langjährigen Parteimitgliedschaft und der Anerkennung ihrer Fehler erhebt die CKK keine Einwände gegen die Wiederaufnahme Stranevs und Kopysovs, ... sofern die Permer KK es für möglich hält, das Wesen ihres Falls zu überprüfen. Im Fall ihrer Wiederaufnahme empfiehlt die CKK sie aus dem Permer Gouvernement abzuberufen. A. Sol'c, Sekretär der CKK."23

Anscheinend spielte die Reuebereitschaft hier noch keine so wichtige Rolle wie die richtige soziale Herkunft und die langjährige Parteimitgliedschaft. Vermutlich war die Initiative des Fehlerbekennens auch von den Arbeitern selbst ausgegangen, denn in den CKK-Dokumenten der folgenden Zeit finden sich nur sehr sporadisch Hinweise auf derartige Bekenntnisse.24 Doch die Parteiführung hatte inzwischen erkannt, daß die Praxis der individuellen Schuldbekenntnisse wirksam gegen die Opposition eingesetzt werden konnte. Nachdem 1923 viele weitere Angehörige der Arbeiteropposition ausgeschlossen worden waren, erklärte Stalin im Juni 1924 öffentlich, daß die Parteiführung sich gegenüber rückkehrwilligen Oppositionellen „äußerst kameradschaftlich" verhalten und Maßnahmen treffen müsse, „um solchen Genossen den Übergang zum Grundkern der Partei" zu erleichtern.25 Wie der Generalsekretär in einem Brief an Dem'jan Bednyj bestätigte, waren diese „Amnestietöne" Teil einer Spaltungsstrategie: Es komme vor allem darauf an, die „Generäle ohne Armeen zu lassen". Die meisten einfachen Oppositionellen würden ihre Führer gerne fallenlassen, doch stehe dem die „die Grobheit und Überheblichkeit einiger Anhänger des CK" entgegen, „die den einfachen Oppositionellen mit Nadelstichen zusetzen und dadurch ihren Übertritt auf unsere Seite hemmen."26 Tatsächlich wurden in den Monaten nach dieser Rede einige Oppositionelle wieder in die Partei aufgenommen. Doch nach dem Wortlaut der CKK-Protokolle zu schließen, spielten das allgemeine Wohlverhalten und günstige Beurteilungen durch die Parteigruppe im bürokratischen Ablauf immer noch eine wichtigere Rolle als explizite Schuld- oder Reuebekenntnisse. Manchmal wurden derartige Bekenntnisse gar nicht,27 manchmal erst an letzter Stelle erwähnt: 23

Vypiski iz protokolov zas. CKK(b). 4.4.1922-16.4.1923. Vypiska iz protokola Nr. 39 zasedanija CKK RKP ot 22 ijunja 1922 goda. RGASPI f. 613, op. 1, d. 10a, 1. 57. 24 Vgl. RGASPI f. 613, op. 1, dd. 1, 6a, 10a. 15, 28, 29. 25 Über die Ergebnisse des XIII. Parteitags der KPR(b). Referat im Rahmen eines Lehrgangs für Sekretäre der Rayonkomitees beim CK der KPR(b). 17. Juni 1924. Zitiert nach: J. W. Stalin·. Werke, 13 Bände, Berlin 1950-1955, hier Band 6, S. 228 (= Pravda, 19. und 20.6.1924). 26 Brief Stalins an Dem'jan Bednyj vom 15. Juli 1924. Vgl. Stalin: Werke, Band 6, S. 245. 27 Vgl. Protokoly ... zasedanija plenumov PK CKK(b) 2.7. - 31.12.1924. RGASPI f. 613, op. 1, d. 28,11. 29, 47.

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„Das Plenum des Parteikomitees der Kontrollkommission ... hat entschieden: In Anbetracht der Tatsache, daß Genösse I. M. Kocnov Proletarier ist und in der Zeit, da er sich außerhalb der Partei befand, bemüht war, sein fehlerhaftes ... Verhältnis zur Partei von 1923 zu korrigieren, daß er in dieser Zeit mit der Partei nicht gebrochen hat, in Anbetracht der Beurteilung der Zelle der Kommunisten des Fabrikkomitees ... und der Erklärung des Genossen Kocnovs über seine vollständige Reue (zajavlenie ο polnom svoem raskajanii)... Genossen Kocnov I. M. wieder in die Reihen der RKP(b) aufzunehmen."28

1924 wurden an den Hochschulen Säuberungen (cistki) durchgeführt, die sich unmittelbar gegen Trockijs Sympathisanten richteten. Viele Studenten wurden aus der Partei ausgeschlossen oder von der Hochschule verwiesen, doch scheinen Reue- oder Kapitulationserklärungen damals noch kaum eine Rolle gespielt zu haben.29 Zu einer routinemäßig geübten Praxis wurden Schuldbekenntnisse offenbar erst im Herbst 1926 im Zuge der Bekämpfung der „vereinigten Opposition". In den Monaten davor wurden zwar zahlreiche Leningrader Funktionäre von der CKK gemaßregelt, doch es gibt keinen unmittelbaren Hinweis darauf, daß man von ihnen systematisch förmliche Reueerklärungen verlangt hätte. Ihre Strafe bestand zumeist darin, daß sie „zur weiteren Verfugung dem CK überstellt" wurden.30 Um so größere diskursgeschichtliche Bedeutung wird man daher der Behandlung von achtzehn uzbekischen Parteifunktionären beimessen dürfen, die im Herbst 1925 aus Protest gegen die „regelwidrigen Zustände" in ihrer Parteiorganisation von ihren Ämtern zurücktraten.31 In ihrer gemeinsam unterschriebenen Erklärung an das CK äußerten sie die Bereitschaft, ihre „Motive genauer zu erläutern, wenn das nötig sein sollte".32 Allem Anschein nach war den mittelasiatischen Kommunisten dabei überhaupt nicht bewußt, daß ihr Vorgehen von der Parteizentrale als schwerer Verstoß gegen das Fraktionsverbot aufgefaßt werden mußte, welcher ihren sofortigen Parteiausschluß nach sich ziehen könnte. Es fallt indes nicht schwer zu verstehen, weshalb die CKK sich statt dessen mit ihrer „Reue" begnügte: Die Partei litt nach wie vor unter einem Mangel an Mitgliedern asiatischer Herkunft, und die Beteiligten waren sich über die Tragweite ihres Tuns nicht im klaren gewesen. Und so wurde beispielsweise Genösse Chodzibaev „angesichts seiner deutlich sichtbaren Reue" lediglich verwarnt, während Rachmet-Rafik, der uzbekische Volkskommissar für Innere Angelegenheiten, wegen seiner Uneinsichtigkeit

28

Protokol zasedanija plenuma PK CKK RKP(b), 4.3.1925. RGASPI f. 613, op. 1, d. 29,1. 99. Vgl. auch 1. 133,157. 29 Die Säuberungen an den Hochschulen wurden von Michael David-Fox (Revolution of the Mind) und Igal Halfin (Form Darkness to Light) besonders intensiv untersucht, doch keiner von beiden Autoren erwähnt Schuldbekenntnisse. 30 Vgl. Protokoly Nr. 1-29 zasedanija prezidiuma i sekretariata CKK. 2.1.-29.3.1926. RGASPI f. 613, op. 1, d. 44. 31 Vgl. dazu RGASPI f. 613, op. 1, d. 44,1. 28, 115-116; d. 50,1. 1-5; d. 53,1. 102. 32 Vgl. RGASPI f. 613, op. 1, d. 50,1. 5.

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I. Der bolschewistische Abstimmungskörper als kollektive Geisel

aus der Partei ausgeschlossen wurde.33 Einige Wochen später wurde diese Entscheidung jedoch revidiert, da Rachmet-Rafik „inzwischen seinen Fehler eingesehen hatte". Man sah seine Schuldfähigkeit auch dadurch gemildert, daß er sich bislang weder mit der „Parteilinie" richtig vertraut gemacht hatte, noch mit den besonderen „Verantwortlichkeiten von Parteimitgliedern, die für verantwortungsvolle Führungsaufgaben herangezogen" wurden. Immerhin erteilte man ihm ein einjähriges Verbot, wichtige Parteiämter zu bekleiden.34 Etwa von 1926 an stößt man in den CKK-Akten sporadisch auf Fälle, in denen die Strafen aufgrund „reinherziger Einsicht in die eigenen Fehler" auch bei gewöhnlichen Delikten abgemildert wurden, die in keinerlei Zusammenhang mit irgendeiner Gruppen- und Fraktionstätigkeit standen.35 Im Herbst 1923 kritisierte Trockij die Parteiführung erneut in aller Öffentlichkeit. Auf zahlreichen Parteiversammlungen versuchten er und seine Anhänger, für ihre oppositionellen Resolutionen Mehrheiten zu finden. Das organisierte Vorgehen der Trotzkisten widersprach einer strengen Auslegung des Fraktionsverbots ebensosehr wie die unlängst beendeten Aktivitäten der Arbeiteropposition. Dennoch begnügte sich die Parteiführung damit, diese Disziplinverletzung lautstark anzuprangern, ohne sich aber wie im Falle Mjasnikovs mit der Anwendung äußerer Druckmittel zu beeilen. Die relative Zurückhaltung war nicht zuletzt der Prominenz der oppositionellen Wortführer geschuldet, die man schwerlich ohne politischen Schaden ausschließen oder verhaften lassen konnte.36 Statt dessen konzentrierte die Stalin-Gruppe ihre Kräfte erfolgreich darauf, bei den Delegiertenwahlen in den Parteiversammlungen überall linientreue Kandidaten durchzusetzen - beinahe so, als hielte sie die Existenz konkurrierender Fraktionen immer noch für völlig normal. Im Januar 1924 verurteilte die so gewählte dreizehnte Parteikonferenz den „Trotzkismus" als eine „kleinbürgerliche Abweichung", die konsequent bekämpft werden müsse. Die boshafte Identifizierung der Opposition mit einer fremden Gesellschaftsschicht war ein zukunftsweisendes Mittel, die zahlenmäßige Abstimmungsmehrheit in ideologische Deutungsmacht umzuwandeln und ihre Wirkung somit zu perpetuieren. Unter dem Eindruck ihrer Niederlage stellte die Opposition nach der Konferenz ihre Tätigkeit ein. Auf dem dreizehnten Parteitag im Mai forderte Zinov'ev von den Oppositionellen ein

33

Protokol zasedanija plenuma partkollegii CKK VKP(b) ot 5.1.1926 g. RGASPI f. 613, op. 1, d. 44,1. 28. 34 Protokol Nr. 2 zasedanija plenuma PK CKK VKP(b) ot 29.1.1926. RGASPI f. 613, op. 1, d. 44,1. 115. 35 Vgl. z.B. den Fall Ivan Sarkis'bekovs, des sowjetischen Konsuls in Persien. RGASPI f. 613, op. 1, d. 44,1. 17. 36 Wie es das paradoxe Fraktionsverbot wollte, war nur die Fraktionstätigkeit der Trotzkisten illegal, nicht aber die oppositionelle Stimmabgabe der einzelnen Parteimitglieder. Nichtsdestoweniger wurde vielen russischen Kommunisten ihr Abstimmungsverhalten von 1923 vierzehn Jahre später zum tödlichen Verhängnis.

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formelles Schuldbekenntnis, erhielt aber von Trockij nur folgende berühmt gewordene Loyalitätsbeteuerung: „Ich habe schon gesagt, daß nichts leichter ist, als vor der Partei zu erklären: Diese ganze Kritik, alle Erklärungen, Warnungen und Proteste seien ein einziger Irrtum gewesen. Ich aber, Genossen, kann dies nicht sagen, weil ich dies nicht denke. Im Recht kann man nur zusammen mit der Partei... sein, denn andere Wege zur Verwirklichung der richtigen Auffassung hat die Geschichte nicht geschaffen... Es kann aber bei der Partei keine Beschlüsse geben, und wären sie auch unrichtig und ungerecht, die unsere grenzenlose Hingebung gegenüber der Partei... erschüttern könnten. Und wenn die Partei einen Beschluß faßt, den der eine oder andere von uns für einen ungerechten Beschluß hält, so sagt er: Ob gerecht oder ungerecht, aber es ist meine Partei, und ich trage die Folgen bis zum Ende."37

Mit Blick auf die späteren Geständnisse in den großen Schauprozessen neigten manche Betrachter dazu, dieses Bekenntnis als Ausdruck einer Sakralisierung der Partei aufzufassen, der bedingungslose Selbstaufopferungsbereitschaft entgegengebracht wurde. Dennoch sollte die Gültigkeit einer solchen Ethik nicht überschätzt werden. Denn Trockij verstand es zwar, seinen Aussagen maximale dramatische Wirkung zu verleihen, hatte aber im Augenblick nur das Ziel, die Mehrheit zu beschwichtigen: Anstatt kleinlich auf Schuldbekenntnissen zu bestehen, sollte sie sich mit der pauschalen Beteuerung seiner grundsätzlichen Parteitreue begnügen. Schon im Herbst des gleichen Jahres brachte Trockij seine Kollegen erneut in Wallung. Unter dem Titel „Die Lehren des Oktober" verfaßte er eine Broschüre über die Geschichte der Oktoberrevolution, in welcher er allzu schmerzhaft an Zinov'evs und Kamenevs Zaudern am Vorabend der Revolution erinnerte und zugleich allzu offensichtlich den Anspruch auf das politische Erbe Lenins erhob. Trockijs Gegner im Politbüro nahmen die Herausforderung an und begannen ihrerseits, an die lange Geschichte der Meinungsverschiedenheiten zwischen Trockij und Lenin zu erinnern. Zinov'ev führte die gegenwärtige Unbotmäßigkeit Trockijs auf seine früheren politischen Irrtümer zurück und forderte ihn auf, sich von diesen loszusagen: „Genösse Trockij muß ein für allemal darauf verzichten, unsere Partei vor angeblichen Fehlern zu .retten'. Er muß seine eigenen politischen Fehler, die zu einem großen Teil den Überresten seiner politischen Ideologie aus der Zeit von 1903 bis 1917 entspringen, wo Genösse Trockij ein offener Gegner des Bolschewismus war, begreifen und bekennen."38

Trockij zeigte sich davon überrascht, daß die aktuelle Auseinandersetzung solcherart ideologisch historisiert werden konnte. Von der Vorstellung, er hätte sich von längst vergessenen Standpunkten distanzieren müssen, war er regelrecht verblüfft. Gegenüber dem Januar-Plenum des CK beteuerte er, daß es ihm 37

RKP(b): Trinadcatyj s'ezdRKP(b), stenografiieskij otcet, Moskau 1924, S. 166-167. Grigorij Zinov'ev: Bol'sevizm ili Trockizm? Zitiert nach: Ulf Wolter (Hrsg.): Die Linke Opposition in der Sowjetunion. Texte von 1923 bis 1928. 5 Bände, Berlin 1975. Hier Band 2: Texte von 1924 bis 1925, S. 368. 38

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„in den letzten acht Jahren niemals in den Sinn gekommen wäre, irgendeine Frage vom Standpunkt des .Trotzkismus' her zu betrachten, den ich politisch längst für beerdigt hielt und halte. ... Niemand hat mir in all den Jahren jemals gesagt, daß diese oder jene meiner Gedanken oder Vorschläge eine besondere ,trotzkistische' Strömung darstellten."39

Immerhin erklärte er sich bereit, sein Amt als Vorsitzender des Revolutionären Militärrates niederzulegen und statt dessen auf Geheiß des CK ,jede beliebige Funktion" wahrzunehmen. Obwohl das Plenum sich damit unzufrieden zeigte, daß Trockij „mit keiner Silbe seine Fehler eingestand", beschränkte es sich darauf, ihm eine „allerkategorischste Verwarnung" zu erteilen und ihn, wie angekündigt, von seinem militärischen Führungsamt zu befreien.40 Dem Vorschlag, ihn aus dem Politbüro auszuschließen, hatte Stalin schon im Vorfeld eine Absage erteilt. Äußerlich war der Streit damit beigelegt, ehe er im Zusammenhang mit der „Eastman-Affare" wieder aufflammte. Max Eastman, ein amerikanischer Journalist und Bewunderer Trockij s, veröffentlichte im Frühjahr in England das Buch „Since Lenin Died", in welchem er das zurückgehaltene „Testament" Vladimir Lenins und andere Einzelheiten erwähnte, die Stalins Parteiführung in einem schlechten Licht zeigten.41 Da Eastman sich in seiner Darstellung unter anderem auf Gespräche mit Trockij berufen konnte, verlangte die Parteiführung von letzterem ein öffentliches Dementi. Auf Stalins Betreiben faßte das Politbüro einen Beschluß, der Trockij dazu aufforderte, sich in acht genau beschriebenen Punkten von Eastmans Darstellung zu distanzieren. Da Trockij zu diesem Zeitpunkt keine Auseinandersetzung wünschte, kam er dieser Forderung auch widerstrebend nach.42 Er war nun in die peinliche Situation geraten, der Parteidisziplin zuliebe Tatsachen für Lügen erklären zu müssen, die nicht nur zu seinen Gunsten gesprochen hätten, sondern darüber hinaus auch vielen bekannt waren. Um das Prestige der sowjetischen Revolution im Ausland zu verteidigen, mußte er seine Unterstützer und damit auch sich selbst desavouieren. Obwohl Trockij hier noch keine „Schuld" bekennen mußte, kann sein Einlenken als ein Vorläufererscheinung der späteren oppositionellen Reueerklärungen aufgefaßt werden. Diese richteten sich allerdings nicht so sehr gegen „sündige" Individuen als vielmehr gegen die moralische Selbstbehauptung politischer Gruppierungen. Ähnliches galt allerdings auch im umgekehrten Fall, als die neuentstandene „Leningrader" Opposition um Zinov'ev und Kamenev versuchte, aus Bucharins kulakenfreundlicher Parole „Bereichert euch!" politisches Kapital zu 35

L. D. Trockij - Plenumu CK RKP(b). 15 janvaqa 1925, in: Pravda, 20.1.1925. Zitiert nach: Ju. G. Murin·. Vokrug stat'i L. D. Trockogo „Uroki Oktjabija". (Oktjabr' 1924 g aprel' 1925 g.), in: Izvestija CK KPSS. 1991, Nr. 8, S. 179-196, hier S. 183-185. 40 Resolution zur Haltung des Genossen Trotzki, angenommen in der gemeinsamen Sitzung des CK und des CKK. Vgl. Wolter. Die linke Opposition, S. 480-489, Zitat S. 489. 41 Max Eastman·. Since Lenin Died, London 1925. Zur Affäre vgl. Oleg Chlevnjuk (Hrsg.): Pis'mal. V. StalinaV. M. Molotovu. 1925-1936, Moskau 1995, S. 13^47. 42 Po povodu knigi Istmena „Posle smerti Lenina", in: Bol'sevik, 1925, Nr. 16, S. 67-70.

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schlagen. Die stalinistische Mehrheitsgruppe wollte mit dieser Losung keinesfalls identifiziert werden, konnte aber auf Bucharin nicht verzichten. Da der politische Skandal sich kaum totschweigen ließ, sah man sich gezwungen, die Angriffsfläche zu verkleinern. Auf der Parteikonferenz im April 1925 legte man Bucharin daher nahe, sich in der Presse von seinem „mißverständlichen" Aufruf zu distanzieren, was er dann - in recht zurückhaltender Form - schließlich auch tat.43 Nichtsdestoweniger wurde Bucharin auf dem vierzehnten Parteitag im Dezember von der Opposition erneut scharf angegriffen. Wichtiger als seine persönliche Überzeugung blieb dabei die Frage, ob sein unvorsichtiger Ausruf nicht doch die tatsächliche Haltung der gesamten Parteiführung widerspiegelte. Sein Verbündeter Stalin bestritt dies natürlich. Stalins (zur gleichen Zeit in einem anderen Zusammenhang aufgestellte) Behauptung, derzufolge das „offene Bekennen eigener Fehler das beste Mittel" sei, um „eine offene Diskussion zu vermeiden und die Meinungsverschiedenheiten im inneren Verfahren zu beseitigen", konnte von den Delegierten als Appell verstanden werden, sich mit Bucharins Fehlereingeständnis endlich zufrieden zu geben und die Diskussion zu beenden.44

2. Vom vierzehnten zum fünfzehnten Parteitag: Auf dem Weg in die Kapitulation Mit den wachsenden Machtansprüchen der Parteiführung trat die Widersprüchlichkeit des Fraktionsverbots immer deutlicher zutage. Alle Versuche, das Recht der Mitglieder auf kritische Meinungsäußerung und politische Willensbildung auch unter den Bedingungen des „demokratischen Zentralismus" zu erhalten, erwiesen sich als illusionär. Die Beteiligten sprachen von ihrem Konflikt immer häufiger in diplomatischen und militärischen Metaphern. Wie sich herausstellte, konnte dieser „politische Krieg" (Daniels) nicht mehr mit einfachen Mehrheitsentscheidungen beendet werden, sondern nur mit einer „bedingungslosen Kapitulation". Die Parteiführung mußte sich zum letzten Mal auf dem vierzehnten Parteitag (Dezember 1925) mit einer zahlenmäßig nennenswerten Gruppe von Oppositionellen in einem wichtigen Abstimmungsgremium auseinandersetzen. Auch dazu wäre es wohl nicht gekommen, hätte sich die linke Opposition nicht auf Zinov'evs Leningrader Hausmacht stützen können. Zinov'ev trat als Korreferent auf, kritisierte die bauernfreundliche Politik Stalins und weigerte sich, seinen konkurrierenden Abstimmungsentwurf zurückzuziehen. Die Op43

Vgl. Nikolai Ivanovic Bucharin: Cezarizm pod maskoj revoljucii. Niznij Novgorod, 1925. Vgl. auch seine Wortmeldung auf dem vierzehnte Parteitag, in: Wolter: Die linke Opposition, Band 3, S. 352-355. 44 Stalin: Werke, Band 7, S. 331.

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I. Der bolschewistische Abstimmungskörper als kollektive Geisel

positionellen hielten sich dabei zugute, ihr Auftreten zeitlich eingegrenzt und somit der Parteidisziplin entsprochen zu haben: „Also, Genossen, wir treten hier ... auf, weil wir eine unrichtige Linie der Partei sehen. Wir treten auf dem Parteitag auf, weil wir nicht früher auftreten konnten und weil dieser die einzige Tribüne ist, von der aus wir der Partei sagen können, was wir wollen."45

Nachdem Kamenev seine Meinung so lange zurückgehalten hatte, wollte er sich nun nicht schon wieder unter dem Hinweis auf die „Disziplin" mundtot machen lassen: „Wir sind auf einem Parteitag inmitten eines Meinungskampfes, der Augenblick ist sehr schwierig, Beschlüsse wurden noch nicht gefaßt, wenn man also jetzt über Disziplin schreit, so bedeutet das, daß man versucht, jenen Genossen, mit denen man nicht einverstanden ist, den Mund zu stopfen."46

Zumindest innerhalb des kurzen Zeitraums zwischen Diskussionseröffhung und Beschlußfassung mußten nach Meinung der Oppositionellen Meinungsfreiheit und Demokratie noch erlaubt sein. Obwohl sie genau wußten, daß sie auf dem Parteitag in der Minderheit bleiben würden, versuchten sie, durch ihr Stimmrecht Druck auszuüben. Da die Parteiführung ihnen inhaltlich nicht entgegenkam, machten sie ihre Drohung wahr und votierten gegen die stalinistische Vorlage. Erwartungsgemäß unterlagen sie mit 65 gegen 559 Stimmen. Das Minderheitenvotum erhielt in Zinov'evs Rede auch den Anstrich einer Rücktrittsdrohung, wie sie vor 1921 ein beliebtes Druckmittel gewesen war: „Genossen, wir kennen uns nicht seit gestern, sondern seit Jahrzehnten. Wenn Sie zur Ansicht gelangt sind, daß wir in einen liquidatorischen Pessimismus verfallen sind, daß wir ,Defaitisten' sind, daß wir ,Axelrodisten' sind, dann müssen Sie gerade heraus sagen, daß solche Leute keinen Platz im Generalstab der Partei haben können. ... Wenn Sie aber glauben, daß wir... mit Ihnen zusammen führen können und müssen,... dann können wir diesen Stempel ... nicht auf uns kleben lassen. Wir wollen nicht weniger als Sie die Einheit und Geschlossenheit der Partei.. ,"47

Die Rücktrittsdrohung war wiederum ein durchschaubares Spiel mit der Angst vor der Parteispaltung. Tatsächlich waren Zinov'ev und Kamenev zu prominent, als daß man sie ohne politischen Schaden hätte kurzerhand ausschließen können. Die stalinistische Mehrheit propagierte jedoch ein ganz anderes Szenario zur Beilegung des Konflikts. Aus ihrer Sicht war die Kampfabstimmung als solche bereits ein Ärgernis. Um sie zu vermeiden, hatte Stalin der Opposition schon zwei Tage vor dem Parteitag einen „Versöhnungsvorschlag" gemacht, den Zinov'ev jedoch als „Kapitulation" ablehnte. Tatsächlich wäre folgendes Schuldbekenntnis die Voraussetzung für die „Versöhnung" geworden:

45 46 47

Wolter. Die linke Opposition, Band 3, S. 359. Wolter. Die linke Opposition, Band 3, S. 357. Wolter. Die linke Opposition, Band 3, S. 410-411 und S. 416-417.

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„Die unterzeichneten Mitglieder des CK glauben, daß eine Reihe führender Genossen der Leningrader Organisation die Vorbereitung zum Parteitag im Gegensatz zur Linie des CK der Partei und gegen die Anhänger dieser Linie in Leningrad betrieben hat. Die unterzeichneten Mitglieder ... glauben, daß das CK verpflichtet ist, allen und jeglichen Tendenzen entgegenzutreten, die sich gegen die Parteilinie richten und die Partei desorganisieren."48

Diese verklausulierten Sätze bedeuteten im Kern nichts anderes, als daß die Minderheit schon lange vor der Abstimmung zur Unterwerfung unter den Willen der mutmaßlichen Mehrheit verpflichtet war. Während nach Kamenevs Auffassung noch zumindest für die Zeit von der Eröffnung der Diskussion bis zum Parteitagsbeschluß demokratische Spielregeln gelten mußten, existierte nach jener Lesart die Demokratie allenfalls noch während der imaginären Abstimmungssekunde. Als die Opposition auf ihrem Standpunkt beharrte, deuteten Stalin und Bucharin bereits die Möglichkeit an, die Parteieinheit notfalls auch ohne Zinov'ev und Kamenev wiederherzustellen. Nicht von ungefähr legten sie dabei aber großen Wert darauf, es mit deren Ausschluß nicht eilig zu haben. Stalin erklärte, er halte nichts von der „gefährlichen und ansteckenden" „Politik des Absägens": „heute hat man den einen abgesägt, morgen kommt der andere, übermorgen ein dritter dran, und wer bleibt dann in der Partei?"49 Nach dem Parteitag hoffte Bucharin auf eine „freiwillige" Unterordnung der Oppositionellen, da anderenfalls „organisatorische Maßnahmen" nicht ausgeschlossen werden könnten. Er forderte sie sogar dazu auf, „in allen Punkten ihre Fehler zu bekennen" und zu „bereuen".50 Bucharins Vorstoß kann sehr unterschiedlich interpretiert werden: Einerseits hält man es überall für ganz natürlich, daß Regierungsvertreter von ihren Ämtern zurücktreten, sobald sie mit den Richtlinien der Politik nicht mehr einverstanden sind, doch andererseits war das Zentralkomitee weniger eine Regierung als ein Abstimmungskörper, der die kommunistische Zukunft als Ganzes zu verkörpern beanspruchte - und so gesehen war der Ruf nach Fehlereingeständnissen auch ein verhängnisvoller Versuch, die Immunität der Stimmberechtigten moralisch zu untergraben. Unmittelbar nach dem Parteitag begann die stalinistische Gleichschaltung der Leningrader Parteiorganisation. Die Parteiführung stützte sich dabei äußerlich nach wie vor auf das demokratische Abstimmungsprinzip. Unter Umgehung von Zinov'evs Gebietsparteileitung wandten sich Stalins Vertreter direkt an die Grundorganisationen und führten dort - von unten nach oben per Abstimmung die angestrebten inhaltlichen und personellen Veränderungen herbei. Das CK verfaßte zu diesem Zweck einen Brief an „alle Mitglieder der Leningrader Organisation", in welchem der Gebietsparteileitung nicht zuletzt vorgeworfen wurde, den Willen der Leningrader Parteibasis auf dem Parteitag 48

Stalin: Werke, Band 7, S. 338. Stalin: Werke, Band 7, S. 330. 50 Wolter: Die linke Opposition, Band 3, S. 517. Zugleich gestand er ihnen aber auch das Recht zu, den nächsten Parteitag abzuwarten und dort erneut „um ihre Position zu kämpfen". Vgl. ebenda, S. 462.

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nicht richtig vertreten zu haben. Schließlich habe die Leningrader Parteikonferenz dem Zentralkomitee ihr Vertrauen ausgesprochen, die dort gewählte Delegation auf dem Parteitag aber nicht.51 Nach offizieller Lesart sollte mit der Abwahl der oppositionellen Gebietsparteileitung also nicht nur die Parteieinheit, sondern auch die innerparteiliche Demokratie wiederhergestellt werden. In der Praxis mußten die Stalinisten dabei allerdings auf massive Einschüchterungen und Manipulationen zurückgreifen. Da es selbst prominenten Genossen wie Molotov, Kalinin und Vorosilov beispielsweise nicht gelang, in der überfüllten und emotional aufgeheizten Versammlung des Betriebs „Krasnyj treugol'nik" eine eindeutige Mehrheit herbeizuführen, gingen sie rasch zu Drohungen über. Wie der örtliche Versammlungsleiter Kostrickij berichtet, drohte Kalinin ihm wegen seiner Renitenz unmittelbar mit Parteiausschluß. Er verhöhnte die weiblichen Mitglieder, deren Votum wegen ihrer „Schwachsinnigkeit" ohnehin nicht berücksichtigt werden müsse und bezeichnete die Komsomol'cen als „Rotzbengel". Vorosilov kündigte ihnen an, er wolle sie „zerpulvern" und fügte hinzu: „Ich hole euch in die Rote Armee und dort reden wir weiter". Als Kostrickij nach einer unklaren Abstimmung auf der Notwendigkeit bestand, diese nach dem besonders zuverlässigen Verfahren des „Hammelsprungs" zu wiederholen, wurde er von Molotov angebrüllt: „Abschaum, Saboteur, Konterrevolutionär, ich werde dich zerpulvern, ich hol dich vor die CKK, ich kenne dich!" Molotov ließ keinen Zweifel daran, daß er auch ohne die Zustimmung des Versammlungsführers in der Presse die Annahme der Resolution bekanntgeben werde.52 Die wüsten Drohungen, mit welchen die CK-Mitglieder die Parteibasis überschütteten, können auch als Appell an die Versammlung verstanden werden, endlich ihren Geiselstatus zu verinnerlichen. Wer sich dem stärkeren Lager entgegenstellte, würde dessen Rache zum Opfer fallen. In diesen Wochen war die Parteiführung noch damit beschäftigt, die Oppositionellen en masse zum Überlaufen zu bewegen. Die Mehrheiten wechselten, aber der individuelle Frontwechsel wurde dabei noch nicht in die Form eines „Fehlereingeständnisses" gepreßt. Eine Reihe von fuhrenden Zinov'ev-Anhängern wurde gemaßregelt, aber nicht einmal ihnen scheint die CKK zu diesem Zeitpunkt formliche „Schuldbekenntnisse" abverlangt zu haben.53 Allerdings stellten 51

KPSS ν rezoljucijach, T. 3, S. 261-263. Vgl. Materialy Leningradskogo GubkomaVKP(b) ob oppozicii i vnutripartiinoj polozenii. 1. 1-2. Bericht des Genossen I. Kostrickij über die Parteiversammlung im Betrieb „Krasnyj treugol'nik" (15.1.1926). Der Bericht wurde von Kostrickij am 18. Januar verfaßt, vervielfältigt und offenbar an viele Empfanger im Leningrader Gebiet verschickt. RGASPI f. 17, Op. 85s, d. 65, 1. 11-13. Vgl. auch die offizielle sowjetische Darstellung dieser Versammlung: V. M. Ivanov. Iz istorii bor'by partii protiv „levogo" opportunizma. Leningradskaja partijnaja organizacija ν bor'be protiv trockistsko-zinov'evskoj oppozicii ν 1925-27 gg., Leningrad 1965, S. 183-184. 53 In folgenden CKK-Akten finden sich jedenfalls keine Schuldbekenntnisse: Protokoly Nr. 1-29 zasedanija prezidiuma i sekretariata CKK. 2.1.-29.3.1926. RGASPI f. 613, op. 1, 52

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sich einige von ihnen in den folgenden Wochen demonstrativ auf die Seite des Zentralkomitees und verurteilten die Opposition, der sie bis dahin angehört hatten.54 Nachdem Zinov'ev seine Leningrader Hausmacht verloren hatte, bildete er im Frühjahr 1926 gemeinsam mit Kamenev, Trockij und der Gruppe Sapronovs die „vereinigte" Opposition, die in den folgenden anderthalb Jahren den „politischen Krieg" gegen die Stalin-Gruppe wieder aufnahm.55 Doch trotz aller Anstrengungen gelang es den drei Mitgliedern des Politbüros nicht, in den Wochen vor der fünfzehnten Parteikonferenz an der Basis die notwendige Unterstützung zu mobilisieren. Der stalinistische Parteiapparat zeigte sich der Aufgabe vollauf gewachsen, den Oppositionellen bei jedem ihrer Auftritte erdrückende Abstimmungsniederlagen zuzufügen. Gleichzeitig sammelte die Kontrollkommission intensiv Material über die „illegale Fraktionstätigkeit" der Oppositionellen. Eine Versammlung, die der Oppositionelle Lasevic im Sommer konspirativ in der Natur abgehalten hatte, wurde von der Propaganda als Beweis dargestellt, daß die Oppositionellen bereits in den illegalen „Untergrund" abgetaucht seien. Im Zusammenhang mit diesem Vorfall wurde Zinov'ev aus dem Politbüro entfernt und manche seiner Mitstreiter bereits aus der Partei ausgeschlossen. Unter dem Druck der Ereignisse erklärten die oppositionellen Führer am 4. Oktober 1926 gegenüber der Stalin-Gruppe ihre Bereitschaft, wieder zu einer „normalen, die Einheit der Partei nicht bedrohenden" Form der Auseinandersetzung zurückzukehren und sich , jedem beliebigen Parteibeschluß zu unterwerfen", der es erlaube, die „Lehren der letzten zehn Monate" zu diskutieren.56 Schon vor dem vierzehnten Parteitag hatte es Versuche gegeben, zwischen beiden Lagern eine Verständigung auf der Grundlage einer gemeinsamen Erklärung herzustellen, welche die Oppositionellen aber empört als „Kapitulation" zurückgewiesen hatten. Doch diesmal führten die Verhandlungen zu einem anderen Ergebnis. Als Antwort auf das Friedensangebot erarbeiteten Bucharin, Rykov und Tomskij einen Entwurf für ein Kompromißpapier, das am 7. Oktober im Politbüro diskutiert wurde.57 Darin wurde der Gedanke verworfen, daß das CK und d. 44. Auch der sowjetische Parteihistoriker Ivanov konzentriert sich ganz auf die Beschreibung der Abstimmungskämpfe und Maßregelungen: Ivanov: Iz istorii bor'by partii protiv „levogo opportunizma", S. 155-201. 54 Ivanov: Iz istorii bor'by partii protiv „levogo opportunizma", S. 212-214. Nur eine Auswertung der Bestände des St. Petersburger Parteiarchivs könnte klären, in welchem Umfang das geschah. 55 Der Ausdruck stammt von Robert Daniels. Vgl. Daniels: Das Gewissen der Revolution, 5. 248. 56 Vgl. Zajavlenie tt. Trockogo, Kameneva, Zinov'eva ... ν politbjuro. 4.10.1926. RGASPI f. 82, op. 2, d. 185,1. 98-100. 57 Vgl. Pis'mo Bucharina, Rykova i Tomskogo ν politbjuro ot 6.10.1926. RGASPI f. 85, op. 2, d. 185, 1. 132-138. Zu den Verhandlungen vgl. auch Jurij G. Fel'stinskij (Hrsg.):

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I. Der bolschewistische Abstimmungskörper als kollektive Geisel

die Opposition zwei „gleichberechtigte Partner" seien, die „Verhandlungen" führen oder „Vereinbarungen" treffen könnten. Die Frage einer „friedlichen Zusammenarbeit" könne erst dann erörtert werden, wenn die Oppositionsführer sich bereit erklärten, eine Reihe von Bedingungen zu erfüllen; unter anderem sollten sie sich „allen Parteibeschlüssen unterordnen", die „Fraktionstätigkeit einstellen", keine oppositionellen Redner mehr in die Parteigruppen schicken und sich nebenbei von den Standpunkten Ossovskijs, Karl Korschs und Ruth Fischers distanzieren. Im Gegenzug sollte der Opposition die Möglichkeit eingeräumt werden, „in einer bestimmten Form die Ansichten zu verteidigen, die sich von denen der Gesamtpartei unterscheiden". Im Nachhinein scheinen an diesem Entwurf mehrere Dinge bemerkenswert: Die Idee der „Parteidisziplin" ließ hier noch Raum für ideologische Meinungsverschiedenheiten und man verlangte von der Opposition kein Schuld- oder Reuebekenntnis, sondern nur ein Unterlassungsversprechen. Offensichtlich bezog sich der Text nicht so sehr auf einen moralischen oder weltanschaulichen, sondern eher auf eine Art diplomatischen Vorgang. Die Oppositionellen wurden nicht als sündige Individuen angesprochen, sondern als Wortführer einer immer noch existierenden politischen Kraft. Bald darauf wurden die Formulierungen von der Mehrheit des Politbüros jedoch beträchtlich erweitert und verschärft. Die Opposition sollte nun auch ausdrücklich zugeben, daß ihre Fraktionstätigkeit „unzulässig" und „schädlich" gewesen sei.58 Offensichtlich bestand Stalin auf diesem Fehlereingeständnis, um die Norm der Parteidisziplin im öffentlichen Bewußtsein zu festigen.59 Er teilte den Oppositionellen im Politbüro mit, daß eine Wiederaufnahme von Vladimir Smirnov und anderer bereits ausgeschlossener Genossen nur dann in Frage komme, wenn diese ihre „Fehler einsähen".60 Nach einigen Tagen hatten sich die oppositionellen Führer mit der StalinGruppe auf einen Text geeinigt, der am 16. Oktober von Trockij, Zinov'ev, Kamenev, Pjatakov, Sokol'nikov und Evdokimov unterschrieben und tags darauf in der Pravda veröffentlicht wurde. Da diese Erklärung zweifellos einen Einschnitt in der Geschichte offizieller Schuldbekenntnisse darstellt, lohnt sich eine genauere Betrachtung. Die Erklärung begann mit dem Bekenntnis der Unterzeichneten, daß ihre Ansichten sich seit dem vierzehnten Parteitag von denjenigen „der Mehrheit des Zentralkomitees" entfernt hätten. Gewichtig ergänzten sie: „Auf der Grundlage dieser [abweichenden, L. E.] Ansichten Archiv Trockogo: kommunisticeskaja oppozicija ν SSSR. 1923-1927. T. 2, Moskau 1990, S. 108-111. 58 Vgl. die Punkte Nr. 2 und 3 in der überarbeiteten Fassung. Izvescenie CK VKP(b) ο vnutripartijnoj polozenii. Vsem organizacijam VKP(b), in: Pravda, 17.10.1926. 59 Vgl. die Mitschrift aus der Politbürositzung vom 11. Oktober 1926: Über die Maßnahmen zur Milderung des innerparteilichen Kampfes, in: Stalin: Werke, Band 8, S. 189. Stalin äußerte seine Argumente in Form von rhetorischen Fragen. 60 Vgl. Stalin·. Werke, Band 8, S. 191. Vladimir M. Smirnov gehörte zu den „demokratischen Zentralisten", einem Zweig der „Arbeiteropposition", der sich 1926 mit Trockijs „vereinigter Opposition" zusammengeschlossen hatte.

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stehen wir auch noch jetzt". Allerdings war ihnen nicht gestattet worden, die Inhalte dieser Ansichten nun zu wiederholen. Statt dessen gingen sie sofort dazu über, ihre Anerkennung des Fraktionsverbots zu beteuern, welches sie künftig auch „in der Tat durchzusetzen" versprachen. Es folgte das von Stalin geforderte Schuldbekenntnis: „Zugleich halten wir es für unsere Pflicht, offen vor der Partei einzugestehen, daß wir und unsere Anhänger im Kampf um unsere Ansichten in einer Reihe von Fällen nach dem vierzehnten Parteitag Schritte unternommen haben, die eine Verletzung der Parteidisziplin darstellten und über den von der Partei gesteckten Rahmen der geistigen innerparteilichen Auseinandersetzung hinausgingen und auf den Weg der Fraktionstätigkeit führten."

Zweifellos hatte Stalin überzeugende Argumente: Die Oppositionellen hatten die Regeln der Parteidisziplin tatsächlich verletzt. 1921 hatten sie der Einführung und 1922 der strengen Anwendung des Fraktionsverbots gegen Mjasnikov und Sljapnikov größtenteils zugestimmt. Sie hatten keinen Grund, das Verbot in ihrem eigenen Falle nicht anzuerkennen. So gesehen war die Forderung nach diesem Schuldbekenntnis lediglich eine Technik, um die Kluft zwischen Norm und Wirklichkeit zu überbrücken. Die Gültigkeit der Regel mußte hier auf diese vergleichsweise zurückhaltende, vorsichtige Weise bekräftigt werden, da Stalin die allzu prominenten Wortführer Trockij und Zinov'ev nicht genauso rücksichtslos aus der Partei werfen konnte wie seinerzeit die Arbeiteropposition. Noch 1926 verdankte Trockij seinen bemerkenswerten Handlungsspielraum nicht zuletzt seiner „Person", oder genauer, der ihm persönlich zugeschriebenen Fähigkeit, im Zweifelsfall auch eine Parteispaltung herbeiführen zu können. Doch wenn er aus diesem Drohpotential politisches Kapital schlagen wollte, mußte er früher oder später mit dem Fraktionsverbot in Konflikt geraten. Stalins politische Leistung bestand darin, daß er es verstand, diese Entwicklung vorherzusehen und als diskreditierendes Schauspiel zu inszenieren. Nun nötigte er die Oppositionellen dazu, im Prolog dieses Dramas noch einmal feierlich die Norm zu bekräftigen, deren Mißachtung sie anschließend überführt werden sollten: „...Wir teilen mit, daß wir fraktionelle Methoden zur Verteidigung unserer Ansichten entschieden ablehnen angesichts der Gefahr, welche diese Methoden für die Parteieinheit darstellen, und rufen dazu auch alle unsere Anhänger auf, die unsere Ansichten teilen. Wir rufen zur unverzüglichen Auflösung aller fraktionellen Gruppierungen auf, die sich auf der Basis der Ansichten der ,Opposition' gebildet haben."

Noch wenige Jahre zuvor war die implizite Drohung mit der Parteispaltung ein selbstverständlich gebrauchtes Druckmittel gewesen. Manche Genossen erinnerten sich daran, daß die Bolschewiki als Partei strenggenommen erst infolge einer Parteispaltung entstanden waren. Nun aber zeigten sich die Oppositionellen bereit, auf alle derartigen historischen Analogien zu verzichten: „Es war nicht richtig, auf dem vierzehnten Parteitag an den Stockholmer Parteitag zu erinnern, weil diese Anspielung, obwohl Ν. I. Krupskaja das keinesfalls beabsichtigte, im Sinne

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einer Spalterperspektive oder einer Spaltungsdrohung verstanden werden konnte. Eine solche Perspektive weisen wir einmütig als schädlich zurück.

Dieses Urteil ist bemerkenswert, da es ausschließlich vom Zweck her begründet wird. Der Vergleich Krupskajas war nicht etwa deswegen falsch, weil historische Argumente gegen ihn angeführt werden könnten, sondern weil er zu falschen Rückschlüssen auf die aktuellen Intentionen der Opposition verleiten konnte. Es handelte sich also auch hierbei weniger um ein Schuldbekenntnis als um eine Loyalitätsbeteuerung. Einen ähnlichen Zweck verfolgte die Aneinanderreihung von Distanzierungserklärungen, auf denen Stalin bestanden hatte. Die Opposition zählte auf, wer weder im In- noch im Ausland für sie als Verbündeter in Frage kam: Korsch, Souvarine, Fischer, Maslov, Urbahns und Weber (in der Komintern) ebensowenig wie Ossovskij, Medvedev und Slapnikov in der Sowjetunion. Dieser Punkt war für die Opposition insofern heikel, als sie von manchen der genannten Ausländer bis dahin propagandistisch unterstützt worden war. Schließlich erklärten die Oppositionellen auch, wie sie sich unter diesen Bedingungen die Fortsetzung ihres Engagements vorstellten: „Jeder von uns verpflichtet sich, seine Ansichten nur in denjenigen Formen zu vertreten, die von der Parteisatzung und den Beschlüssen der Parteitage und des Zentralkomitees vorgesehen sind, in der Überzeugung, daß das Richtige an diesen Ansichten von der Partei im Zuge ihrer weiteren Arbeit aufgenommen werden wird."

Die Unterzeichneten gingen sogar so weit, ihre „politische Verantwortung" für den Parteiausschluß einiger ihrer Anhänger einzuräumen. Im Einklang mit Stalins Forderung rieten sie den Betroffenen dazu, auch individuell gegenüber der Kontrollkommission ihre „Fehler einzugestehen", um die Wiederaufnahme zu erreichen. Versprechen konnten sie allerdings nichts: „Wir drücken unsere feste Hoffnung aus, daß die faktische Beendigung des Fraktionskampfes durch die Opposition den ausgeschlossenen Genossen die Möglichkeit eröffnet, in die Partei zurückzukehren, nachdem sie ihre Fehler im Zusammenhang mit der Verletzung der Parteidisziplin und den Interessen der Parteieinheit eingestanden haben..."

Insgesamt handelte es sich bei diesem Dokument also weder um ein Schuldnoch um ein Glaubensbekenntnis, sondern eher um eine Art notariell hinterlegter vertraglicher Versicherung, daß man die niemals explizit in Frage gestellten, aber mitunter mißachteten Normen des zehnten Parteitages künftig respektieren wollte. Die Unterzeichner vertraten dabei die Auffassung, daß das Fraktionsverbot die Propagierung abweichender Meinungen nicht grundsätzlich ausschloß. Ein Widerruf ihrer Ansichten kam für sie jedenfalls noch nicht in Frage. Offenbar hofften sie darauf, daß sie mit ihrer Erklärung die indirekte Anerkennung dieser parteirechtlichen Auffassung durch die Parteiführung erreichen könnten. Diese Hoffnung schien auch insofern berechtigt zu sein, als schon das bloße Zustandekommen dieser Vereinbarung ihrem Inhalt streng genommen zuwiderlief: In dem Moment, als die Unterzeichner ihre Fraktions-

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tätigkeit als illegitim verurteilten, wurde ihre Gruppe faktisch als politischer Verhandlungspartner akzeptiert. Wie aber aus Stalins Verhalten hervorgeht, bemerkte er diesen Widerspruch sehr wohl, wußte aber, daß nicht von Dauer sein würde. Wenn die „Erklärung" eine Art „Geschäftsgrundlage" für die folgende fünfzehnmonatige Auseinandersetzung darstellte, so wurde sie von den streitenden Parteien von Anfang an unterschiedlich interpretiert. Nach der Pressemitteilung des Zentralkomitees erfüllte die oppositionelle Erklärung lediglich dasjenige „Minimum, welches nötig ist, um die Einheit der Partei zu gewährleisten". Wie der Generalsekretär auf der kurz darauf stattfindenden fünfzehnten Parteikonferenz ausführte, hatte sich das CK mit dem Vorschlag der Opposition „gerne einverstanden" erklärt, „auch wenn es wußte, daß der Vorschlag ... nicht ganz aufrichtig war".61 Angeblich warteten die Oppositionellen nur auf „bessere Zeiten", in denen sie „den Kampf wieder aufnehmen wollten." Er deutete bereits an, daß die „sozialdemokratische Abweichung" bei der Opposition langfristig zu ihrem Parteiausschluß führen könne. Hinter dem Beharren auf Sondermeinungen vermutete er nur einen Vorwand, um bei nächster Gelegenheit erneut konkurrierende Mehrheiten zu bilden: „Die Partei kann und wird nicht länger dulden, daß Sie jedesmal, wenn Sie in der Minderheit bleiben, auf die Straße laufen, eine Krise in der Partei ankündigen und Unruhe ... stiften.... [Sie] wird nicht dulden, daß Sie, die Sie schon keine Hoffnung mehr haben, die Mehrheit in unserer Partei zu bekommen, allerlei unzufriedene Elemente auflesen und um sich sammeln, die Ihnen als Material für eine neue Partei dienen sollen... (Beifall)."62

Stalin erinnerte zugleich daran, daß es „noch nicht zu spät" sei, „sich von dieser Abweichung loszusagen": „Entweder Sie zeigen sich Manns genug und bringen es fertig, sich offen und ehrlich von Ihren prinzipiellen Fehlern loszusagen, oder Sie tun das nicht, und dann geschieht Ihnen recht, wenn die Partei Ihre Position als Position der sozialdemokratischen Abweichung qualifiziert".63

Stalin stellte klar, daß auch die „formale" Unterordnung der Opposition auf Dauer keinen Schutzraum bieten würde, in welchem sie ihre inhaltliche Selbstbehauptung aufrechterhalten konnte. Er zeigte sich entschlossen, seine Abstimmungsmehrheit in ideologische Deutungsmacht umzuwandeln, andere Meinungen als parteifeindlich zu definieren und ihre Vertreter irgendwann aus der Partei auszuschließen. 61

Über die sozialdemokratische Abweichung in unserer Partei. Referat auf der XV. Unionskonferenz der KPdSU(b), 1. November 1926, in: Stalin: Werke, S. 209-265, Zitat S. 213. 62 Stalin·. Werke, Band 8, S. 313-314. 63 Schlußwort zu dem Referat „Über die sozialdemokratischen Abweichungen in unserer Partei". 3. November 1926, in: Stalin: Werke, Band 8, S. 266-318, Zitat S. 313. Vgl. auch folgendes Zitat aus dem Referat: „Zur Erzielung der vollen Einheit muß noch ... erreicht werden, daß sich der Oppositionsblock von seinen prinzipiellen Fehlern lossagt, damit die Partei und der Leninismus vor Angriffen und Revisionsversuchen bewahrt bleiben". Stalin: Werke, Band 8, S. 262 und S. 264.

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Wie sich schon bald herausstellte, hatten sich Trockij und Zinov'ev mit ihrer „Kapitulationsurkunde" in den Augen ihrer eigenen Unterstützer diskreditiert. In den folgenden Wochen fiel es der Obrigkeit besonders leicht, der Opposition ihre Sympathisanten abspenstig zu machen. Die „Izvestija" berichtete schadenfroh über die Demoralisierung der Parteibasis in der Flugzeugfabrik „Aviapribor": „Die .Erklärung' der Oppositionsführer hat alle Parteimitglieder in Staunen versetzt. Aber besonders unerwartet kam sie für diejenigen 27 Genossen, die in unserer Parteizelle mit der Opposition gestimmt haben. ... Die ... ,Erklärung' hat sie sofort getroffen, hat ihnen gezeigt, was sich hinter linkem Getue verbarg. Man kann sagen, daß alle, mit Ausnahme von zwei bis drei Leuten, die die Fraktionsmaschine in Gang setzten, sich ... nach der Erklärung' von der Opposition losgesagt haben. ... Auf der Versammlung [am 21.10., L. E.] haben sich alle, die sich von unseren zeitweiligen Oppositionellen zu Wort meldeten, von der Fraktionstätigkeit der Opposition distanziert. Und es gab keinen einzigen, der die Ansichten der Opposition verteidigt... hätte. Das erklärt sich daraus, daß am 1. Oktober viele Genossen nicht für die Plattform der Opposition, sondern nur für den einen oder anderen Punkt gestimmt haben."64

Ähnlich wie schon 1924 versuchte die Parteiführung, gegenüber den einfachen Parteimitgliedern „Amnestietöne" anzuschlagen, um die oppositionelle Bewegung horizontal zu spalten. Emel'jan Jaroslavskij und Stalin erwähnten auf der Parteikonferenz das Beispiel des Arbeiters Andreev, der zur „Partei" zurückgekehrt war, sobald er gemerkt hatte, daß die Opposition auf eine Verschlechterung der wirtschaftlichen Lage spekulierte.65 Auf der Konferenz der ukrainischen Parteiorganisation versuchte Lazar Kaganovic mit einer moralisierenden Sprache „ehrliche" und „unehrliche", „gutwillige" und „böswillige" Oppositionelle gegeneinander auszuspielen. Die Einstellung gegenüber der „Fraktionstätigkeit" wurde dabei zum Indikator, um den leicht verzeihlichen ideologischen „Irrtum" von der sehr viel ernster zu nehmenden politischen Willensbildung zu unterscheiden: Man habe die Hoffnung auf die „besten Elemente" noch nicht aufgegeben, „in denen immer noch ein bolschewistisches Herz schlägt", die der Fraktionsarbeit „aufrichtig, nicht mit Worten, sondern mit Taten" entsagen und an der Schaffung einer „entsprechenden Atmosphäre" mitwirken wollten. Diejenigen aber, die auch künftig ihre „fraktionellen Zähne zeigen" wollten, könnten in der Partei keinen Platz mehr haben.66 Auch Nikolaj Uglanov in Moskau riet zur väterlichen Differenzierung: Den Genossen, die sich „im guten Glauben geirrt" hatten, sollte man „kameradschaftlich helfen", über ihre „unverständliche" Fragen Klarheit zu gewinnen, und ihnen dabei „ihre Fehler geduldig erläutern".67

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V jaöejke zavoda „Aviapribor", in: Izvestija, 23.10.1926, S. 3. Vgl. Stalin: Werke, Band 8, S. 218-219. 66 Ocerednye zadaci partraboty, in: Izvestija, 23.10.1926, S. 3. 67 Ο vnutripartijnom polozenii. Iz doklada t. Uglanova 19.10. Na VIII. plenume MK sovmestno s aktivom moskovskoj organizacii, in: Izvestija, 22.10.1926, S. 3. 65

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Hinter dieser recht patriarchal wirkenden Differenzierungsrhetorik wurde auch die stalinistische Neudefinition der Parteimitgliedschaft sichtbar. Die Kontrollkommissionen verwandten auf Jahre hinaus einen beträchtlichen Teil ihrer Arbeit darauf, „schwankende" und „oppositionelle" Parteimitglieder einzeln zu betreuen, sei es, um sie zu ihrer mutmaßlichen „Fraktionstätigkeit" peinlich zu befragen, sei es, um sie zur „Kapitulation" und zum Widerruf zu bewegen. An der Basis hatte die Parteiobrigkeit wenig Mühe, sich mit ihren ausgreifenden Loyalitätsansprüchen durchzusetzen. Wer irgendwann für die Opposition Partei ergriffen hatte, fand bald keine Ruhe mehr. Im Frühjahr 1927 sammelte die Opposition im ganzen Land Unterschriften für ihre berühmte „Erklärung der 83" und andere Dokumente. Viele Unterzeichner waren schnell bereit, ihr Votum zu widerrufen, sobald sie merkten, mit welch verbissenem Nachdruck die Obrigkeit das von ihnen verlangte. Da die Schuldigen ihre Rücknahmeerklärungen selbst formulieren sollten, geben diese auch darüber Auskunft, wie sie den Vorgang auffaßten.68 Beliebt war die Ausrede, man habe dem Drängen einer anderen Person nachgegeben und das Papier unterschrieben, ohne seine Bedeutung erfaßt zu haben. Die Unterzeichner betonten manchmal ihre Unbildung und ihre Zurückgebliebenheit gegenüber dem Oppositionellen, der sie bewußt getäuscht habe: „Ich selbst habe den Brief nicht gelesen, aber man hat mir aus ihm und auch aus dem unveröffentlichten Testament Lenins vorgelesen. Und weil ich weiß, daß Lenin für jeden Arbeiter ... das Größte und Teuerste ist, wurde ich dadurch in die Irre geführt."69

Ein Genösse Truscenko behauptete dagegen schlicht, im Moment der Unterzeichnung „nicht ganz nüchtern" gewesen zu sein.70 Nicht alle erklärten ausführlich, warum sie ihre Meinimg inzwischen geändert hatten; immerhin verweist der Unterzeichner Sarkisov auf den politisch gebildeten Parteigenossen Sultanov, der ihm die Parteilinie „in allen Einzelheiten erläutern" konnte, angefangen von der chinesischen Frage bis zum englisch-russischen Komitee.71 Safarov hielt es im Nachhinein für ungehörig, daß er das Zentralkomitee vor einer, so wörtlich, „Niederträchtigkeit" hatte warnen wollen.72 Sehr häufig war die Beteuerung, man sei „nicht oppositionell" und sei es „auch nie gewesen". Wie Bereznjak hatten die Unterzeichner nicht begriffen, daß sie sich schon allein durch ihre Unterschrift in Oppositionelle verwandelt hatten.73 Die Erklärung eines Genossen Paneev ist dagegen aufgrund ihrer strikt legalistischen Argumentation bemerkenswert. Paneev sprach nicht als Untertan, sondern wie 68

Solche Erklärungen befinden sich beispielsweise in: Zajavlenija clenov partii ο snjatii svoich podpisej s oppozicionnoj platformy 83-ich i spiski snjavsich podpisi. RGASPI f. 17, op. 71, d. 14,1. 1-12. 69 RGASPI f. 17, op. 71, d. 14,1. 5. 70 RGASPI f. 17, op. 71, d. 14,1. 3. 71 RGASPI f. 17, op. 71, d. 14,1.2. 72 RGASPI f. 17, op. 71, d. 14,1. 1. 75 RGASPI f. 17, op. 71, d. 14,1. 5.

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ein Advokat, der seine Rechte kennt. Er bekannte sich zwar zum Prinzip des Fraktionsverbots und der „strengen Parteidisziplin", gab aber keineswegs zu, diese verletzt zu haben: „Wenn meine vorliegende Erklärung sich vom Inhalt der von mir unterschriebenen kollektiven Erklärung widersprechen sollte, dann fühle ich mich von der kollektiven Erklärung entbunden."74

Paneev formulierte damit einen verklausulierten Protest gegen die stalinistische Interpretation des Fraktionsverbots. Auch in den Augen anderer Unterzeichner handelte es sich bei diesem Vorgang zunächst um die quasi-notarielle Rücknahme (manche sagten „Annullierung") einer rechtsverbindlichen Unterschrift und nicht etwa um ein quasi-religiöses Bußritual. Sie sprachen nicht von ihrer „Schuld" sondern nur von ihrem „Fehler", zeigten dabei aber schon deutliche Bereitschaft, sich in den Habitus des demütigen Untertanen zu fügen. Bereznjak beispielsweise bat „die Zelle, das Rayonkomitee und die ganze Partei um Verzeihung".75 Etwa seit Herbst 1926 wurden individuelle Widerrufserklärungen und Schuldbekenntnisse in den Ausschluß- und Wiederaufnahmeverfahren obligatorisch. Schon 1922 waren besserungswillige Abweichler manchmal wieder in die Partei aufgenommen worden, wobei Schuldbekenntnisse aber noch nicht die wichtigste Rolle gespielt hatten. Noch drei Wochen vor Trockijs und Zinov'evs Teilkapitulation galten Widerrufserklärungen nicht als zwangsläufige Voraussetzung für eine Strafmilderung: Obwohl beispielsweise der Moskauer Techniker Balasov der Teilnahme an einer „illegalen Fraktionsversammlung" überführt werden konnte, sah die Moskauer Kontrollkommission von einem Parteiausschluß ab, da sie Balasov die Fähigkeit zubilligte, „seine politische Linie künftig zu korrigieren" und die „Schädlichkeit der Fraktionstätigkeit zu begreifen" sowie angesichts der Tatsache, daß er bis vor kurzem Fabrikarbeit verrichtet hatte.76 Doch nachdem Zinov'ev und Trockij ihre Friedenserklärung abgegeben hatten und Stalin auf der Notwendigkeit von Fehlereingeständnissen bestanden hatte, wurde die Bedeutung von expliziten Schuldbekenntnissen im öffentlichen Bewußtsein deutlich aufgewertet. Auch die alten „Arbeiteroppositionellen" Medvedev und Sljapnikov, die sich vor Jahren nach Baku zurückgezogen hatten, wurden nun dazu genötigt, eine umfangreiche „Erklärung" abzugeben, in der sie sich von vielen verschiedenen Behauptungen lossagten und einige „fraktionellen" Handlungen verurteilten.77 Im Fall Vladimir Smirnovs und anderer Oppositioneller ließ sich die Parteiführung auf einen ähnlichen Kompromiß ein wie mit der „vereinigten Op74

RGASPI f. 17, op. 71, d. 14,1. 6. RGASPI f. 17, op. 71, d. 14,1. 5. 76 Izvestija, 3.10.1926, S. 3. 77 Vgl. den Wortlaut der Erklärung in: Izvestija 31.10.1926, S. 1. Zur Behandlung der Angelegenheit im Parteiapparat vgl. RGASPI f. 613, op. 1, d. 47,1. 80-91. 75

3. „Vollständige Entwaffnung": Der fünfzehnte Parteitag (Dezember 1927)

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position" insgesamt. Obwohl Smirnov ankündigte, er werde seine Ansichten auch weiterhin vertreten, wurde er am 26. November wieder aufgenommen, nachdem er lediglich seine „Fraktionstätigkeit" verurteilt hatte.78 Von der neuen Politik profitierten aber auch unbekannte Personen. So hielt die Kontrollkommission im Dezember 1926 endlich den Moment für gekommen, einige 1923 ausgeschlossene Oppositionelle wieder aufzunehmen, von denen manche schon 1924 „ihre Fehler vor der Partei offen einbekannt" hatten und nunmehr bekräftigten, auch zum gegenwärtigen Zeitpunkt „keinerlei Meinungsverschiedenheiten mit der Partei" zu haben.79 Allmählich verstärkte sich der Ausschlußdruck auf die trotzkistischen Oppositionellen an der Basis. Bis zum fünfzehnten Parteitag wurden knapp tausend Oppositionelle ausgeschlossen, und etwa ebensoviele sagten sich im gleichen Zeitraum nach offiziellen Angaben „von der Opposition los"80 - doch dabei hatte man möglicherweise auch viele Personen mitgezählt, die nur irgendwann eine oppositionelle Stimmabgabe „zurückgenommen" hatten. Nach den CKK-Akten zu schließen, gab es nur wenige prominente Trotzkisten, die ausgeschlossen und schon vor dem fünfzehnten Parteitag aufgrund eines Reuebekenntnisses wieder aufgenommen worden waren.81

3. „Vollständige Entwaffnung": Der fünfzehnte Parteitag (Dezember 1927) Bis zum fünfzehnten Parteitag wurde der Konflikt immer noch auf dem zivilen Schauplatz innerparteilicher Kampfabstimmungen ausgetragen, doch in der Sprache der Zeitgenossen häuften sich die Anspielungen auf einen Bürgerkrieg. Diese waren nicht immer metaphorisch gemeint: Michail Larin sah die Parteiführung vor der Alternative, die Oppositionellen entweder auszuschließen oder „die Frage mit Maschinengewehren in den Straßen zu entscheiden".82 In Stalins Diktion klang die Analogie zur militärischen Auseinandersetzung nicht ganz so drastisch. Im Spätherbst 1926 erklärte er vor der Komintern, die 78 Vgl. RGASPI f. 613, op. l , d . 47,1.150. Der Resolutionstext wurde von Ordzonikidze und Janson ausgearbeitet, die Entscheidung von Stalin persönlich bestätigt. Laut Ordzodnikidzes Ausführungen auf dem fünfzehnten Parteitag wurden fast 90 Prozent der vor dem 16.10.1926 Ausgeschlossenen wieder aufgenommen. Vgl. VKP(b): Pjatnadcatyj s'ezd. Dekabr' 1927 goda. Stenograficeskij otcet, Moskau 1961, S. 434. 79 RGASPI f. 613, op. 1, d. 47,1. 140. 80 Die „Pravda" sprach von 702 Rückkehrern (Tri cetverti oppozicionerov vozvratilis' pod znamja Lenina, in: Pravda, 22.1.1928, S. 5), andere Quellen von über tausend. Vgl. Vadim Rogovin: Vlast' i oppozicija, Moskau 1993, S. 27. 81 Vgl. Protokoly sekretarskich zasedanii Partkollegii CKK. 5.1.1927-26.11.1927. RGASPI f. 613, op. 1, d. 76. 82 Vgl. Daniels: Das Gewissen der Revolution, S. 329. Daniels zitiert Boris Souvarine: Stalin: A Critical Survey of Bolshevism, London 1939, S. 439.

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Opposition habe den „Rückzug" antreten müssen, da sie „ohne eigene politische Armee" dastehe. Ihr „ideologisches Banner" habe sie allerdings noch nicht weggeworfen, sondern lediglich „eingerollt".83 Eine weitere Loyalitätsbeteuerung vom Sommer 1927 bezeichnete Stalin als „Waffenstillstand mit Vorbehalten", da die Oppositionellen ihre Ideologie als „Reservewaffe" in der Hand behielten.84 Mitte November 1927 wurden Trockij und Zinov'ev aus der Partei ausgeschlossen, nachdem sie zum Jahrestag der Oktoberrevolution eine kleine erfolglose Gegendemonstration organisiert hatten. Bei den - zum letzten Mal vor einem Parteitag stattfindenden - Kampfabstimmungen an der Parteibasis erhielt die Führung für ihre Kandidaten und ihr Programm über 700.000 Stimmen, die Opposition lediglich vier- bis sechstausend, also weniger als ein Prozent.85 Kein einziger oppositioneller Kandidat wurde zum stimmberechtigten Delegierten gewählt. Um den bevorstehenden Schlag abzumildern, bereiteten 121 Oppositionelle eine weitere Loyalitätserklärung vor, die derjenigen vom September 1926 nachempfunden war.86 Diesmal bestand Stalin aber auf einer vollständigen, bedingungslosen Kapitulation und erklärte oppositionelle Ansichten generell für unvereinbar mit der Parteizugehörigkeit: „Wir stellen nur eine Bedingung: Die Opposition muß sich völlig entwaffnen, sowohl in geistiger wie ideologischer Hinsicht. (Zwischenrufe: ,Richtig!' Anhaltender Beifall.) Sie muß sich von ihren antibolschewistischen Ansichten offen und ehrlich lossagen, vor aller Welt. (Zwischenrufe:,Richtig!' Anhaltender Beifall.) Sie muß die Fehler, die sie begangen hat und die sich in ein Verbrechen gegen die Partei verwandelt haben, vor aller Welt brandmarken. Sie muß uns ihre Zellen übergeben, damit die Partei die Möglichkeit hat, diese unverzüglich aufzulösen. (Zwischenrufe: ,Richtig!' Anhaltender Beifall.) Entweder tun sie das oder sie verlassen die Partei. Und wenn sie nicht gehen, dann schmeißen wir sie raus. (Zwischenrufe: .Richtig!' Anhaltender Beifall.) So, Genossen, steht es um die Opposition."87

Fast die gleichen Formulierungen fanden Eingang in eine entsprechende Resolution, die am 18. Dezember verabschiedet wurde. Darüber hinaus wurden das Zentralkomitee und die Kontrollkommission beauftragt, auf die „einfachen Mitglieder" der Opposition „alle Maßnahmen der geistigen Einwirkung" anzuwenden und die Partei gleichzeitig von „offensichtlich unverbesserlichen 83

VII. Erweitertes Plenum des EKKI. 22.11.-16.12.1926. Noch einmal über die sozialdemokratische Abweichung in unserer Partei. Referat vom 7.12.1926, in: Stalin: Werke, Band 9, S. 3-132, Zitate vgl. S. 50-53. 84 Vereinigtes Plenum des CK und des CKK vom 29.7.-9.8.1927. Zu der „Erklärung" der Opposition vom 8. August 1927. Rede vom 9.8.1927. Stalin·. Werke, Band 10, S. 75-80. 85 Die genaue Anzahl ist schwer zu bestimmen. Stalin nannte auf dem Parteitag die Zahl von 4.000 Stimmen (Werke, Band 10, S. 291), während Daniels von 6.000 Stimmen spricht; möglicherweise hat er die Stimmenthaltungen mitgerechnet. (Das Gewissen der Revolution, S. 368.) 86 VKP(b): Pjatnadcatyj s'ezd, S. 1596-1598. 87 VKP(b): Pjatnadcatyj s'ezd. S. 90. Vgl. auch: Der XV. Parteitag der KPdSU(b). 2.-19.12.1927. Politischer Rechenschaftsbericht des Zentralkomitees. 3. Dezember, in: Stalin: Werke, Band 10, S. 233-307, Zitat S. 304-305.

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Elementen" zu säubern. 98 Oppositionelle wurden unmittelbar ausgeschlossen.88 Der Parteitag erlebte eine kurze Debatte über die Frage, ob die Mehrheit nach der Parteitradition das Recht hatte, von der Minderheit den Widerruf ihrer Ansichten zu verlangen. Lev Kamenev bestritt dies: „... wenn wir all dem [Verzicht auf Fraktionsarbeit, L. E.] einen Widerruf unserer Ansichten anfügen würden, dann wäre das unserer Meinung nach nicht bolschewistisch. Eine solche Forderung ... wurde in unserer Partei niemals gestellt."89

Ein „bolschewistisches Ritual" des Widerrufene oder Abschwörens war dem alten Mitstreiter Lenins also völlig unbekannt. Auch aus den scharfen Antworten der Stalinisten geht indirekt hervor, daß eine solche Tradition bis dahin nicht existiert hatte. Zwar konnten Rykov und Stalin zu Recht darauf verweisen, daß schon seit dem zehnten Parteitag die Propagierung bestimmter Ansichten als unvereinbar mit der Parteizugehörigkeit gegolten hatte und einige ihrer Vertreter tatsächlich ausgeschlossen worden waren;90 doch eine Praxis des , Abschwörens" hatte es damals noch nicht gegeben. Für die Stalinisten spielte dieser Unterschied offenbar keine besondere Rolle, denn in ihrer Argumentation war die Forderung nach Widerrufen vorerst nur eine Funktion des etablierten Parteidiskurses, dem zufolge die Mehrheit die Aufnahme- und Ausschlußbedingungen einseitig festlegen konnte. Kamenev dagegen insistierte darauf, daß eine qualitative Veränderung stattgefunden hatte und formulierte moralische Vorbehalte gegen das neue Ritual des Abschwörens. Er wies auf die zwangsläufige Unglaubwürdigkeit erzwungener Glaubensbekenntnisse hin: „Wenn wir uns von Ansichten lossagen würden, die wir vor ein oder zwei Wochen noch verteidigt haben, dann wäre das Heuchelei, ihr würdet uns nicht glauben. ... Diese Heuchelei würde den innersten Kern dieser Angelegenheit, den ersten Anfang, den Grundstein unseres Waffenstillstands mit Fäulnis infizieren. Das braucht niemand. ... Sagen Sie, Genossen, welchen Sinn es hat, von uns Widerrufe zu fordern?"

Doch in der Argumentation der Parteitagsmehrheit war eine solche Forderung keine StrafVerschärfung, sondern vielmehr ein Ausdruck von Langmut und Milde. Sergo Ordzonikidze lobte die Geduld der Kontrollkommission, die sich manchmal sogar mehrere Tage lang Zeit nehme, „einen Genossen zum Verbleib in der Partei zu überreden": „Ich und Genösse Sol'c haben mit Vladimir Smimov eine ganze Woche verbracht (Zwischenruf: Zuviel der Ehre!), bis er sich von seiner unmöglichen Erklärung lossagte ... und uns somit die Möglichkeit gab,... ihn in der Partei zu behalten."9'

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Zum Wortlaut der Resolution vgl. VKP(b): Pjatnadcatyj s'ezd, S. 1468-1470. Zur Rede Kamenevs vgl. VKP(b): Pjatnadcatyj s'ezd, S. 279-285, Zitat S. 281. 90 Rykov erwähnte den Anarcho-Syndikalismus, Stalin den Ausschluß Mjasnikovs. Vgl. VKP(b): Pjatnadcatyj s'ezd, S. 286 und S. 413^114. 91 VKP(b): Pjatnadcatyj s'ezd, S. 433-434. 89

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Hinter Kamenevs Einwänden vermutete Ordzonikidze lediglich das Gefühl verletzter Eitelkeit. Das „Prestige der Partei" sei aber wichtiger als das „Prestige der Opposition". Dabei ging es dem Vorsitzenden der Kontrollkommission nicht um das Problem der moralischen Aufrichtigkeit, sondern nur um die Machtfrage: Wer mußte vor wem „auf die Knie fallen", die Partei vor der Opposition oder umgekehrt?92 Noch während der Parteitag andauerte, spaltete sich die Opposition darüber, ob sie sich nun von ihren Ansichten lossagen sollte oder nicht. Schon am 19. Dezember, einen Tag nach der Annahme der Resolution, wandten sich Zinov'ev, Evdokimov und zwanzig ihrer prominenteren Anhänger mit einer weiteren „Erklärung" an das Präsidium, in der es hieß: „Wir gehen auf die Forderung ... nach geistiger und organisatorischer Entwaffnung ... ein. Wir verpflichten uns, die Ansichten und Entscheidungen der Partei, ihrer Parteitage, ihrer Konferenzen und ihres Zentralkomitees zu verteidigen. Wir ... verurteilen - in Übereinstimmung mit dem Parteitagsbeschluß - Ansichten als antileninistisch, die die Möglichkeit der siegreichen Errichtung des Sozialismus in der UdSSR, den sozialistischen Charakter unserer Revolution, den sozialistischen Charakter unserer Staatsindustrie, die sozialistischen Wege der Entwicklung des Dorfes unter den Bedingungen der proletarischen Diktatur und der Politik des Bündnisses des Proletariats mit der Hauptmasse der Bauernschaft auf der Grundlage des sozialistischen Aufbaus verneinen oder die proletarische Diktatur in der UdSSR in Abrede stellen (.Thermidor'). ... Wir bitten, uns in die Partei wieder aufzunehmen und uns die Möglichkeit zu geben, uns an ihrer praktischen und alltäglichen Arbeit zu beteiligen."'3

Darüber hinaus verurteilten sie auch die praktische Fraktionstätigkeit der vergangenen Monate (die Gegendemonstration am 7. November, die Einrichtung einer illegalen Druckerei etc.). Der Einschub „in Übereinstimmung mit dem Parteitagsbeschluß" enthielt einen letzten Hauch von Protest, da er juristisch verklausuliert an das Moment der Nötigung erinnerte. Die Unterzeichner betonten hier gerade nicht ihre „Aufrichtigkeit", sondern kennzeichneten den erniedrigenden Bekenntnisakt als Teil einer bürokratisch festgelegten Prozedur, für deren Regeln sie keine Verantwortung trugen. Der Parteitag beantwortete diese Kapitulation mit einer weiteren Demütigung, indem er beschloß, sie gar nicht zur Kenntnis zu nehmen, da die Frage der Opposition schon mit deren Parteiausschluß „erschöpfend behandelt" worden sei. Die Kontrollkommission wurde beauftragt, die Gesuche frühestens nach sechs Monaten zu behandeln, und zwar einzeln. Voraussetzung für die Wiederaufnahme sollte neben einer individuellen Widerrufserklärung auch das Wohlverhalten in diesen sechs Monaten sein.94 Die Ausgestoßenen sollten keine Chance haben, sich innerhalb der Partei als Gruppe zu erhalten. Der größere Teil der prominenten Oppositionellen lehnte es hingegen ab, zu „widerrufen" oder um Gnade zu bitten. Ivar Smilga verlas noch unmittelbar 92 93 94

VKP(b): Pjatnadcatyj s'ezd, S. 438. VKP(b): Pjatnadcatyj s'ezd, S. 1417-1418. Po zajavleniju oppozicii ot 19 dekabrja. VKP(b): Pjatnadcatyj s'ezd, S. 1418 und S. 1470.

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vor der Abstimmung eine ziemlich herausfordernde Erklärung, deren Unterzeichner auf ihren „bolschewistischen, leninistischen" Ansichten beharrten, von denen sie sich „nicht lossagen konnten", weil „der Lauf der Ereignisse ihre Richtigkeit bestätigt".95 Auch für Trockij kam ein Widerruf nicht in Frage. In einem unveröffentlichten Kommentar drückte er seine Verachtung aus, die er für das „Kapitulantentum" Zinov'evs und Kamenevs empfand: „Das Verhalten Zinov'evs und Kamenevs ist ein völlig unerhörter Vorfall in der Geschichte der revolutionären Bewegung, vielleicht sogar in der Geschichte des politischen Kampfes überhaupt."96

Lev Trockij, der dreieinhalb Jahre zuvor noch versprochen hatte, sich gegebenenfalls auch den ungerechtesten Parteibeschlüssen zu unterwerfen, zweifelte nun daran, daß man der Partei einen Dienst erwies, wenn man die Parteieinheit „formal" als „oberstes Kriterium" respektierte: „Das ist die gnadenloseste Verurteilung der Partei, die man sich nur vorstellen kann. Tatsächlich dient ein solches Verhalten nicht der Beibehaltung der Parteieinheit, sondern ihrer Demoralisierung."

Trockij s Protest richtete sich indirekt gegen die stalinistische Praxis, alle innerparteilichen Abstimmungskörper in kollektive Geiseln zu verwandeln. Er ärgerte sich über die Parteibasis, die sich widerspruchslos in ihr Geiseldasein gefugt hatte, und ebenso über Zinov'ev und Kamenev, deren Kapitulation nunmehr allen „doppelzüngigen und karrieristischen Elementen" eine Art „ideologischer Rechtfertigung" verschaffe: „Sich von seinen Ansichten lossagen heißt... die breite Schicht des verkommenen Parteispießertums zu rechtfertigen, die mit der Opposition sympathisiert, aber mit der Mehrheit abstimmt."

Implizit argumentierte Trockij etwa folgendermaßen: Da Stalin die Praxis der innerparteilichen Kampfabstimmungen faktisch kriminalisiert und den Minderheiten die Immunität entzogen hatte, waren diese auch nicht mehr zum unbedingten Gehorsam gegenüber allen Parteibeschlüssen verpflichtet. Die „bedingungslose Kapitulation" der Minderheit bedeutete aus Trockij s Sicht also eine diskursgeschichtliche Zäsur, da sie das Prinzip ihrer Geiselnahme legitimierte. Mit ihren Ansichten gab die Minderheit auch alle Ansprüche auf Immunität preis. In den Wochen nach dem Parteitag wurden im ganzen Land Tausende von Oppositionellen an der Parteibasis ausgeschlossen. Die Zentrale verlangte von den Regionalorganisationen genaue Auskunft über das Schicksal jedes

95 VKP(b): Pjatnadcatyj s'ezd, S. 1398-1400, Zitat S. 1399. Zu den Unterzeichnern gehörten neben Ivar Smilga auch Nikolaj Muralov, Christian Rakovskij und Karl Radek. 96 Lev Trockij: Na novom etape, in: Ju. G. Fel'stinskij (Hrsg.): Archiv Trockogo, Tom 1, Char'kov 1999, S. 353-374, Zitate S. 369-370.

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einzelnen Oppositionellen.97 Von den Kontrollkommissionen wurden sie gemaßregelt, gezählt, ausgefragt und zum „Widerruf gedrängt. Nach offiziellen Angaben hatte man bis zum 1. Februar 1928 wegen Oppositionstätigkeit 5.755 Mitglieder „zur Verantwortung gezogen", von diesen 3.258 ausgeschlossen. Im Grunde kam dieser Schritt einer Parteispaltung gleich, auch wenn die Ausgegrenzten nun, anders als vor 1917, keine legale Möglichkeit mehr hatten, sich in einer neuen Partei zusammenzufinden. Die Betreuung der Ausgeschlossenen diente daher zunächst dem Ziel, eventuellen illegalen Parteigründungsversuchen den Boden zu entziehen. Tatsächlich konnten schon im gleichen Zeitraum 3.381 Personen dazu bewogen werden, sich mit einer expliziten Erklärung von der Opposition loszusagen.98 Im Januar führte die „Pravda" eine eigene Rubrik über prominente Oppositionelle, die sich zu einem solchen Schritt entschlossen hatten. Einen Monat nach dem Parteitag waren angeblich drei Viertel der Oppositionellen schon wieder, wie es hieß, „unter das Banner der Partei Lenins zurückgekehrt".99 Die übliche Kriegsmetapher erhielt nun einen euphemistischen Beiklang: Sie täuschte darüber hinweg, daß die Rückkehr unter das „Banner Lenins" noch lange nicht die Wiederaufnahme in die Partei garantierte. Tatsächlich war es erst diese Rückholungskampagne zum Jahreswechsel 1927/28, die der Parteibasis und der staunenden Sowjetgesellschaft das Einsammeln von Widerrufs-, Distanzierungs- und Schuldbekenntnissen als Standardprozedur zur Beilegung politischer Konflikte vorstellte. Wie beschrieben, ging dieser „Diskurs" unmittelbar aus den vorangegangenen Kampfabstimmungen hervor: Die viertausend Neinstimmen und 2.600 Enthaltungen der Wahlkampagne wurden nachträglich doch noch in Jastimmen umgewandelt. Doch der Kampf um die Parteinahme des einzelnen Menschen gewinnt notwendigerweise einen anderen Charakter als der Kampf um die Abstimmungsmehrheit einer großen Versammlung. Sobald die Stimmbürger sich ihrer Immunität vollständig beraubt sahen, erfuhr ihre Kommunikation mit der Führung bald eine autoritäre oder gar pseudo-religiöse Neudefinition. Was ursprünglich nur Wahlwerbung für die CK-Resolution gewesen war, gewann in der Situation des Einzelgesprächs mit einer übermächtigen und maßlos eifersüchtigen Obrigkeit schnell den Charakter eines Polizeiverhörs, einer „Nachhilfestunde" oder gar einer „Beichtsitzung". Man muß allerdings nicht so weit gehen wie Igal Halfin, der diese Dialoge als „kommunistische Seelenhermeneutik" bezeichnete und sie sogar mit den Verfahrensweisen der katholischen Inquisition verglich.100 Den unterwerfungsbereiten Stimmbürgern wur97

Die Informationsabteilung des CK schickte ein entsprechendes Zirkular schon am 30.12.1927 an die Gebietsorganisationen (vgl. C D N I V O f. 1, op. 1, d. 2084,1. 1), die CKK folgte am 20.1.1928 (CDNI VO f. 10, op. 1, d. 334,1. 5). 98 Vgl. Nikakich kompromissov, in: Pravda, 8.6.1928, S. 3. 99 Vgl. Pravda z.B. vom 1., vom 3. und vom 5. Januar 1928. 100 Igal Halfin·. From Darkness to Light: Student Communist Autobiography During NEP, in: Jahrbücher fur Geschichte Osteuropas 45 (1997), Heft 2, S. 210-236.

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de der unmündige Habitus des Untertanen, des Schülers oder des blindfromm Gläubigen aufgenötigt, der hartnäckige Oppositionelle dagegen für „konterrevolutionär" erklärt und außerhalb des Rechts gestellt. Die Möglichkeit politischer Willenskonflikte innerhalb der Partei wurde gegenüber den einfachen Mitgliedern nunmehr verneint; wenn es sich bei Meinungsverschiedenheiten nicht nur um „ideologische Mißverständnisse und Unklarheiten" handelte, dann spiegelten sie „feindliche Einflüsse" wider. Das Parteivolk sollte über die Politik des Regimes nicht mehr wie über eine Reihe mehr oder weniger erfolgreicher Projekte und Maßnahmen sprechen, sondern mußte sie als alternativlose Anwendung einer dogmatisch unanfechtbaren Lehre betrachten. Die einzelnen Mitglieder wurden von vollwertigen Stimmbürgern zu unwissenden „Schülern" degradiert, deren „guter Wille" nun die wesentliche Voraussetzung für ihre Parteizugehörigkeit darstellte. Die Parteisprache bezeichnete diesen neu konzipierten Untertanenhabitus als einen „echten Bolschewiken". Der „echte Bolschewik" war von einem unerschütterlichen Glauben an die Unfehlbarkeit der stalinistischen Parteiführung durchdrungen, verhielt sich der Obrigkeit gegenüber stets „aufrichtig" und auskunftsbereit bis zur Selbstverleugnung, gestand seine Fehler gegebenenfalls „offen und direkt ein" und war jederzeit bereit, „für die Partei" sein Leben zu opfern, ebenso dasjenige seiner Eltern, seiner Kinder, seines Ehepartners sowie das Leben aller Freunde und Bekannten. Daß auch die „aufrichtigen" Kapitulanten ihre Zukunft für immer verspielt hatten, war im Januar 1928 indessen noch nicht abzusehen. Noch war die Grundhaltung der Parteiführung gegenüber der Opposition kontrollierend und differenzierend, die Möglichkeit einer „Besserung" blieb ausdrücklich miteingeschlossen. Im Februar informierte die Voronezer Parteileitung das Zentralkomitee über die 24 Oppositionellen, die sich im Gouvernement aufhielten; von diesen waren seit Frühjahr 1927 sechzehn ausgeschlossen worden, zehn hatten sich losgesagt.101 Drei Ausgeschlossene waren schon wieder aufgenommen worden, zwei von der zentralen, einer von der regionalen Kontrollkommission.102 Die Liste gab tabellarisch Auskunft über das Parteialter, die soziale Lage und über die berufliche Situation vor und nach dem Ausschluß. Zusätzliche Angaben der örtlichen Parteikomitees zum Charakter- und Verhaltensprofil waren recht knapp gehalten und zeigten die Tendenz, die getroffenen Entscheidungen gegenüber der Zentrale im Sinne der Differenzierungsstrategie plausibel zu machen. 101 Vgl. Spisok oppozicionerov nachodjascichsja ν dannoe vremja ν voronezskoj gubernii (kak iskljuöennych iz partii, tak i vosstanovlennych. Po dannym UK i RK). Das Dokument wurde nach dem 20. Februar 1928 erstellt. CDNIVO f. 1, op. 1, d. 2094,1. 14-21. Wie aus anderen Dokumenten hervorgeht, enthielt die Liste allerdings einige Ungenauigkeiten. 102 Bis Ende November 1928 erhielten mindestens weitere fünf Voronezer Oppositionelle von der CKK ihr Parteibuch zurück. Vgl. Vypiski iz protokolov CKK, 1928. CDNI VO f. 9, op. 1, d. 14,11. 8,20, 24, 39,46, 66.

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So beschrieb man Iosif Flior, der früher in Leningrad fiir Zinov'ev gearbeitet hatte, als „geistigen Organisator der Oppositionellen", der die Standpunkte der Opposition „scharf formulierte" und darauf bestand, daß ihre Plattform in der Presse veröffentlicht und in den Zellen diskutiert wurde. Nach seinem Parteiausschluß hatte Flior auch seine Stellung im Propagandaapparat verloren und arbeitete seitdem in der Eisenbahnverwaltung. Im Umfeld der dortigen Parteizelle sollte er sich nun bis zu seiner eventuellen Wiederaufnahme „bewähren", nachdem er die Parteitagsresolutionen „vollauf anerkannt" hatte.103 Diese Entscheidung entsprach der Parteistrategie, die aktivsten Oppositionellen vor allen Dingen von ihren Anhängern zu isolieren und ihnen Gelegenheit zu geben, ihre Loyalität zu beweisen. Ähnlich verfuhr man mit dem leitenden Handelsangestellten Bonju Ivanov, den man dazu ermutigt hatte, auch nach seinem Ausschluß an offenen Parteiversammlungen teilzunehmen und sich in der MOPR zu engagieren.104 Ein Genösse Aleksandr Tichomirov hatte sich schon im August 1927 von seinen Ansichten losgesagt und war im November wieder aufgenommen worden; seitdem hatte er alle oppositionellen Verbindungen abgebrochen und erfüllte, angeblich unter dem „nötigen Einfluß der kommunistischen Umgebung", seine Parteipflichten sehr „sorgfältig und gewissenhaft".105 Beim Genossen Adamov, der ebenfalls schon wieder aufgenommen worden waren, bemängelte das Parteikomitee seitdem allerdings eine gewisse „Zurückhaltung" und „Verschlossenheit".106 Genossen, die politisch besonders ungebildet wirkten oder vermutlich nur aus Zufall ins oppositionelle Lager geraten waren, wurden sichtlich milder behandelt und häufig gar nicht erst aus der Partei ausgeschlossen. So hatte sich Genossin Cechovic unfähig gezeigt, die „Linie der Opposition" kohärent zu erläutern. Puzanov und Suklov, zwei Studenten der Arbeiterfakultät, waren einzelnen Oppositionellen „hinterhergelaufen", hatten sich aber rasch von der „Richtigkeit der Linie des CK" überzeugt, nachdem sie das Stenogramm des letzten CK-Plenums gelesen hatten. Kurios wirkt die Charakteristik des Bauern Anton Tokarevs, der zwar Propagandist, aber politisch ungebildet war und „sich in den einfachsten Fragen zur Agrarpolitik verhedderte". Man nahm ihn offenbar nicht ernst genug, um von ihm auch nur eine explizite Widerrufserklärung zu verlangen.107 Es gab aber auch Gegenbeispiele: Der ebenfalls nicht sehr gebildete Efim Dudnik wurde ausgeschlossen, nachdem alle Einwirkungsversuche gescheitert waren und das Parteikomitee die „Hoffnung" aufgegeben

103

CDNIVO f. 9, op. 1, d. 14,1. 15. CDNI VO f. 9, op. 1, d. 14,1. 16-17. 105 CDNI VO f. 9, op. 1, d. 14,1. 20-21. 106 CDNI VO f. 9, op. 1, d. 14,1. 18. 107 Vgl. CDNI VO f. 9, op. 1, d. 14, 1. 19. Im Dokument heißt es wörtlich: „In seinen oppositionellen Ansichten [ist Tokarev] nicht standfest genug (v svoich oppozicionnych ubezdenijach ne dostatocno tverd)." 104

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hatte, Dudnik zu „korrigieren".108 Die Charakteristik des „politisch gut entwickelten" Kavallariekommandeurs Daniii Moksanov fällt durch ihren ausgesprochen apologetischen Grundton auf. Sie beginnt mit einem Hinweis auf seine Mitwirkung an der Getreidebeschaffung im Dorf, um dann vorausschickend zu verallgemeinern: „Sein großer Fehler ist die Wankelmütigkeit seiner politischen Meinung". Schon 1923 habe er die trotzkistische Opposition „für kurze Zeit" unterstützt, sich aber bald von dieser wieder losgesagt und als Politoffizier vorbildlich gearbeitet. Erst im Oktober 1927 sei er plötzlich erneut für die Opposition eingetreten; doch nachdem man ihn zehn Tage lang „hartnäckig bearbeitet" und ihm die „Schädlichkeit und Unrichtigkeit" der oppositionellen Ansichten erläutert habe, habe er schließlich seinen „entschiedenen Widerruf' (iotkaz) und seine „völlige Übereinstimmung" mit der Linie des CK erklärt. Trotz seiner Labilität dürfe man den erst danach ausgeschlossenen Moksanov gewiß nicht als „parteifremd" betrachten; bei richtiger Behandlung würde er ein „guter Funktionär" sein und sich „als Parteimitglied festigen".109 Die Prozedur der Wiederaufnahme „kapitulierender" linker Oppositioneller durch die CKK zog sich noch bis etwa 1931 hin.110 Die Parteifunktionäre werden kaum geahnt haben, daß sie mit der Erstellung derartiger Listen und Dokumente bürokratische Vorarbeit für die späteren Massenverhaftungen und -erschießungen leisteten. Entgegen ihrem eigenen Anspruch - aber auch im Widerspruch zu derjenigen Historiographie, die die Reuebekenntnisse auf die Mentalität russischer Revolutionäre zurückführen möchte - stießen obrigkeitliche Vorstellungen von der „Aufrichtigkeit" des „wahren Bolschewiken" auch an der Basis vor allem bei denjenigen Mitgliedern auf Widerspruch, die sich schon lange vor 1917 in der Partei und der Arbeiterbewegung engagiert hatten. Jüngere Mitglieder hingegen, die erst kurz zuvor in die Partei eingetreten waren und mit marxistischer Theorie nur wenig vertraut waren, zeigten sich gegenüber den Unterwerfungsansprüchen der neuen Herrschaft weitaus nachgiebiger. Auch in den aus dieser Zeit erhaltenen Verhörstenogrammen der Voronezer Kontrollkommission wird dieser Unterschied deutlich sichtbar. Der 1885 geborene und 1905 in die Partei eingetretene Dreher Nil Morozov versuchte im Sommer 1928, in Voronzez eine Zelle der illegalen „Arbeiterkommunistischen Unionsparteien" (Rabocie kommunisticeskie partii sojuza, RKPS) zu gründen, die sich am Programm G. Mjasnikovs orientierte.111 Als 108

CDNIVO f. 9, op. 1, d. 14,1. 21. CDNI VO f. 9, op. 1, d. 14,1. 19. Die zentrale Kontrollkommission kam zu einer ähnlichen Ansicht und bestätigte kurz darauf Moksanovs Wiederaufnahme. Vgl. CDNI VO f. 9, op. 1, d. 1,1. 8. 110 Vgl. Protokoly sekretarskich zasedanii PK CKK VKP(b), 2.1.1928 bis 29.12.1932. Der Aktenordner 260 (1932) enthält kaum noch derartige Fälle. RGASPI f. 613, op. 1, dd. 138, 139, 140, 258, 260. 111 Stenogramma pokazanija clenov Mjasnikovskoj antipartijnoj gruppy Morozova, Baranova i drugich ο ich podryvnoj ... dejatel'nosti. 11.1.1929. CDNI VO f. 9, op. 1, d. 81. 109

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die Gruppe im Januar 1929 von der GPU ausgehoben wurde, hatte sie etwa ein halbes Dutzend aktiver Mitglieder. Eine Reihe von weiteren VKP(b)-Mitgliedern hatte sich der Zusammenarbeit zwar verweigert, Morozovs Anwerbeversuche aber auch nicht umgehend den Kontrollbehörden gemeldet. Nachdem die Gruppe aufgeflogen war, wurden sowohl die Beteiligten als auch die passiven Mitwisser nacheinander von der GPU und der Kontrollkommission zum Verhör geladen, wo die Ermittler an ihr „proletarisches" und „bolschewistisches" Gewissen appellierten. Der Vorsitzende Genösse Ivanov nannte die Tatsache „sehr traurig", daß „eines der ältesten Mitglieder unserer Voronezer Parteiorganisation" sich dem „parteifeindlichen" Untergrund angeschlossen habe, ehe er sich an Morozov selbst wandte: „Sie ... sind ein altes Parteimitglied und wissen, daß Sie vor der Kontrollkommission in allem aufrichtig sein müssen".112 Mit der gleichen Phrase wandte man sich auch an den aktiven Mitwisser Baranov, der der Partei schon fünfundzwanzig Jahre angehörte und seit seinem achten Lebensjahr gearbeitet hatte. Als er sein Wissen nicht bereitwillig preisgeben wollte, ermähnte ihn Ivanov: „In Ihnen spürt man den Arbeiter nicht. ... Spricht man denn so mit der Kontrollkommission, ... ein Arbeiter muß mindestens dreimal so aufrichtig sein ... Der Arbeiter in Ihnen muß sich zu Wort melden.. .""3

Der „Arbeiter in Baranov" blieb jedoch unauffindbar, und Ivanov mußte schließlich resümieren: „Im vorliegenden Fall sind Sie kein Arbeiter, kein Bolschewik, sondern ein Konterrevolutionär."114 Auf erfahrene Parteimitglieder wie Morozov wirkten solche Versuche, moralische Definitionsmacht auszuüben, ziemlich plump und blieben wirkungslos. Er beteuerte den Kommissionsmitgliedern, daß er „niemals ein Provokateur gewesen" sei, es auch „niemals sein werde" und daher keine Namen nennen würde.115 Schließlich ergab sich folgender Wortwechsel: „Haben wir kein Recht zu fragen? - Doch, Genossen,... aber ich habe das Recht, euch nichts zu sagen. - Erkennst du die Kontrollkommission als Parteiorgan an? - Warum seid ihr nicht von uns gewählt worden, wer hat euch gewählt? - Haben wir uns denn selbst ernannt? - Hört doch auf, Genossen, ich weiß doch selbst, wie das läuft und ihr auch."116

So wie die Kontrollkommission versuchte, Morozov die Arbeiteridentität abzusprechen, erkannte er die „proletarische" Identität und die demokratische

112 113 114 115 116

CDNIVO CDNI VO CDNI VO CDNI VO CDNI VO

f. f. f. f. f.

9, 9, 9, 9, 9,

op. op. op. op. op.

1, d. 1, d. 1, d. 1, d. 1, d.

81,1. 81,1. 81,1. 81,1. 81,1.

1. Der gleiche Appell wurde wiederholt. Vgl. ebenda, 1. 3. 20. 24. 3. 7.

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Legitimation des Regimes nicht an.117 Ähnlich wie Trockij verweigerte er der Parteiobrigkeit seine Loyalität, sobald er bestimmte Voraussetzungen nicht mehr als erfüllt ansah. Selbstverständlich endete die Befragung mit seinem Parteiausschluß.118 Der Mitwisser Metel'skij hingegen verzichtete auf ideologische Diskussionen mit der Kommission und behauptete sogar, die Absichten Morozovs mißbilligt zu haben. Auf die Frage, weshalb er ihn dann nicht verraten hätte, sagte aber auch er: „Ich sage, daß ich nie ein Denunziant gewesen bin. Ich bin 74 Jahre alt, bin durch Feuer, Wasser und Kupferrohre gegangen, aber ein Denunziant war ich nie. Der Schuft geht von allein zugrunde. - Wie das, Sie kennen die Regeln unserer Partei? ... Das ist keine Denunziation (donos), sondern die Pflicht jedes Parteimitglieds, die Parteieinheit und die Sowjetmacht zu beschützen. - Ich beschütze alles, wie es ist. Ich gehöre ganz der Partei und der Sowjetmacht. Aber es ist eine Niedrigkeit, wie kann man nur Denunziant sein? Er geht von allein zugrunde. Ich bin nicht einverstanden mit ihm, ich trenne mich von ihm, und das ist alles. - Aber das ist unvereinbar mit Ihrem Verbleib in der Partei. - Wie Sie wollen. - So spricht jedenfalls kein Mensch, der der Partei angehört ... Sie wollen also nichts sagen? -Versteht sich."" 9

Metel'skij begründete seine Aussageverweigerung nicht mit politischer Kritik am Regime, sondern mit dem Recht auf eine geschützte Privatsphäre.120 Seine Verpflichtungen gegenüber der Partei sah er durch die Verpflichtungen eingeschränkt, die er gegenüber seinen Mitmenschen erfüllen mußte. Auch er wurde kurzerhand ausgeschlossen. Die beiden jüngeren Mitwisser Beljakov und Fedorov, die der Partei erst 1924 bzw. 1926 beigetreten waren, zeigten sich hingegen auf Anhieb auskunftsbereit und rechtfertigten ihr früheres Schweigen damit, daß Morozov gedroht habe, Verräter zu erschießen.121 Da sie darüber hinaus ihre „reinherzige Reue" (cistoserdecnoe raskajanie) bekundeten, kamen sie beide mit einer strengen Parteirüge davon.122 Ein weiterer Mitwisser namens Vasil'ev wurde erst ausgeschlossen, aber bald wieder aufgenommen, nachdem er eine lange, demütige Reueerklärung verfaßt hatte. Da Vasil'evs Bereitschaft, den „bolschewistischen" Untertanenhabitus anzunehmen, einen besonders scharfen

117

CDNIVO f. 9, op. 1, d. 81,1. 14. CDNI VO f. 9, op. 1, d. 81,1. 17. 119 CDNI VO f. 9, op. 1, d. 81,1. 31. 120 In Metel'skijs Wohnung hatte man allerdings auch Flugblätter und Zubehör der Untergrunddruckerei gefunden. Vgl. CDNI VO f. 9, op. 1, d. 81,1. 32. 121 Vgl. CDNI VO f. 9, op. 1, d. 81,1. 25-26 (Verhör Beljakovs) und 1. 27-30 (Verhör Fedorovs). 122 CDNI VO f. 9, op. 1, d. 81,1. 66. 118

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Kontrast gegenüber dem Auftreten Morozovs darstellt, soll aus seinem handschriftlichen Brief etwas ausführlicher zitiert werden: „Ich erkenne mich vor der Partei schuldig, daß Morozov mich für seine Gruppe warb und ich dies der Partei nicht rechtzeitig mitgeteilt habe. Seine Agitation drückte sich darin aus, daß er etwas aus ,Lenin' zitierte und sagte, daß die Bürokratie sich breitgemacht hat und man sie bekämpfen muß ... Genossen, ich arbeite seit 1908 in der Fabrik, war zwei Jahre in der Roten Armee, war mehrmals Delegierter auf Konferenzen, war Arbeiterbevollmächtigter der Abteilung, arbeitete im Fabrikkomitee, war Mitglied des Stadtsowjets und Mitglied des Gouvernements-Exekutivkomitees, jetzt arbeite ich als Arbeiterdeputierter in der ... Konfliktkommission ... [Ich bin] ein junges Parteimitglied seit 1928, politisch wenig gebildet, ich werde künftig lernen, politisch gebildet zu sein, ich bin spät in die Partei eingetreten, weil ich noch religiös war, allmählich habe ich mich ... davon überzeugt, daß es Gott nicht gibt. Alls ich mit diesem Vorurteil brach, trat ich in die Partei ein, ich habe zwei Söhne ... [Den einen] habe ich 1923, in der Kirche getauft, den anderen von 1927 habe ich nicht in der Kirche getauft. ... Genossen, vielleicht habe ich Euch diesen Brief umsonst geschrieben, aber ich habe meine ganze Seele hineingelegt. Genossen, ich bereue ( k a j u s ' ) und bekenne mich schuldig, daß ich über Morozov der Partei nicht alles mitgeteilt habe, ich halte sein Tun fur antisowjetisch, habe seine Ansichten nicht geteilt und teile sie nicht und bitte Euch, mich in die Partei wieder aufzunehmen und mir die Möglichkeit zu geben, zu arbeiten und ehrlich zu leben." 123

Im Gegensatz zu Morozov und anderen, die - gestützt auf die Autorität ihrer persönlichen revolutionären Erfahrung - die Definitionsmacht der Kontrollkommission frontal in Frage stellten, hatte sich Vasil'ev der Obrigkeit auf Gnade und Ungnade ausgeliefert. Im Angesicht der Mächtigen nahm er eine Demutshaltung ein und präsentierte sich als ideologisch ahnungslos und kulturell zurückgeblieben. Wie sich herausstellte, war eine religiöse Vergangenheit besser als eine revolutionäre Biographie dazu geeignet, die Herrschaft milde zu stimmen. Das Unterwerfungsbedürfnis, das er als Christ seinem Gott entgegengebracht hatte, schien Vasil'ev nun auf die Partei-Kontrollkommission des Gebiets Voronez projizieren zu wollen. Ob es sich bei diesem Verhalten um eine authentisch empfundene Haltung oder nur um eine bauernschlaue Selbstinszenierung handelte; Vasil'ev entsprach jedenfalls dem stalinistischen Leitbild vom „wahren Bolschewiken" viel besser als Nil Morozov, der fünfundzwanzig Jahre für die Partei gekämpft hatte. Die prominenteren Oppositionellen wurden nach ihrem Parteiausschluß in die Verbannung geschickt, behielten aber die Möglichkeit zur Korrespondenz. Schon bald gerieten sie in eine Diskussion über die Frage, ob es nicht besser war, vor dem Hintergrund des Richtungswechsels in der stalinistischen Politik die Rückkehr in die Partei anzustreben. Victor Serge zufolge entschieden sich viele Oppositionelle zur Kapitulation, „da man ja, wie sie sagten, trotzdem unser Programm anwendete, und auch weil die Republik in Gefahr war, und endlich, weil es besser war, sich zu unterwerfen und Fabriken zu

123 Materialy ob antipartijnoj dejatel'nosti Gugnaeva, Sljafera, Vasil'eva ... i ob obvinenii ich ν ucastii ν mjasnikovskoj oppozicii. Janvar'-fevral' 1929. C D N I V O f. 9, op. 1, d. 82.

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bauen, als die großen Grundsätze in der erzwungenen Untätigkeit der Gefangenschaft zu verteidigen."124

Als wortmächtiger Verfechter dieser Haltung entpuppte sich 1929 Karl Radek, der die ausgeschlossene Parteilinke dazu aufforderte, die neue Politik des stalinschen „Zentrums" gegen den Widerstand der Parteirechten zu verteidigen. Wie viele Oppositionelle ging er davon aus, daß alte Revolutionäre selbst in der Verbannung noch über politisches Gewicht verfügten, das sie wirksam in die eine oder andere Waagschale werfen konnten.125 Die Parteiführung wies derartige Angebote zwar schroff zurück, ergriff aber gerne die Gelegenheit, die Oppositionellen gegeneinander auszuspielen, zu demoralisieren und zu spalten. CKK-Sekretär Emel'jan Jaroslavskij, dessen Aufgabe es war, den Briefverkehr der Ausgeschlossenen zu überwachen und mit ihnen die Bedingungen ihrer Rückkehr auszuhandeln, propagierte intern eine einfühlsame und nachsichtige Vorgehensweise.126 Er sah sein Ziel in der Zerschlagung der trotzkistischen Opposition als einer Bewegung, begegnete den verbannten Individuen aber ohne Ressentiment. Im Juni 1929 offenbarte er Ordzonikidze seine Unzufriedenheit mit Stalins und Molotovs Linie, die an Radek und Preobrazenskij überzogene Forderungen gestellt und deren sofortige Rückkehr somit unnötigerweise verzögert hätten. Da die Partei in der Zeit von 1925-27 tatsächlich „nicht wenige Fehler gemacht" habe, solle sie von Radek auch nicht verlangen, die Politik dieser Jahre nachträglich als „allzeit richtig" anzuerkennen.127 Jaroslavskij zeigte sich auch bereit, die Eitelkeit derjenigen zu berücksichtigen, die keine „Prinzipien" mehr verteidigten, sondern nur noch ihr „Gesicht wahren" wollten.128 Schließlich dürfte man darauf hoffen, daß die Kapitulation prominenter Oppositioneller wie Radek oder Ivan Smirnov auch zur Rückkehr vieler ihrer Anhänger führen würde, unter denen sich nach Jaroslavskijs Worten „wertvolles Material"129 und „bei weitem nicht die schlechtesten Revolutionäre" befanden.130

124

Victor Serge: Beruf: Revolutionär, Frankfurt am Main 1967, S. 282-283. Zur Haltung Radeks vgl. Ju. Fel'stinskij: Razgrom levoj oppozicii ν SSSR. Pis'ma ssyl'nych bol'sevikov (1928), in: Minuvsee. Istoriceskij almanach, Moskau 1992, T. 7, S. 245-313. Vgl. auch Izvestija CK KPSS, 1991, Nr. 6, S. 74-76. 126 Vgl. seinen Briefverkehr mit seinem Vorgesetzten Sergo Ordzonikidze, in: Oleg Chlevnjuk (Hrsg.): Sovetskoe rukovodstvo. Perepiska 1928-1941, Moskau 1999, S. 80-82 und S. 95-97. Weitere Briefe befinden sich in: RGASPI f. 85, op. 27, dd. 256, 262, 271. 127 Brief an G. K. Ordzonikidze vom 29. Juni 1929. Vgl. Chlevnjuk: Sovetskoe rukovodstvo, S. 81. 128 Brief an G. K. Ordzonikidze. 2. August 1929. RGASPI f. 85, op. 27, d. 262, 1. 1. Vgl. auch den Brief vom 8. Oktober 1928, in dem Jaroslavskij vorschlug, Ν. I. Muralov gegebenenfalls auch ohne Kapitulationserklärung eine Arbeit in der Landwirtschaftsverwaltung zu beschaffen, da man ihn anders nicht umstimmen könne. (Ebenda, d. 256,1. 1.) 129 Vgl. Brief an Ordzonikidze vom 2. August 1929. RGASPI f. 85, op. 27, d. 262,1. 1. 130 Brief an Ordzonikidze vom 19. August 1929, in: Chlevnjuk·. Sovetskoe rukovodstvo, S. 81. 125

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Iosif Stalin, der fünf Jahre zuvor eine ähnliche Haltung vertreten hatte, zeigte sich nun aber weitaus weniger amnestiefreudig. In einem Brief an Molotov äußerte er sich ungehalten über die „Weichheit" und das unangebrachte „Vertrauen" Jaroslavskijs gegenüber den Trotzkisten. Er sah in der Rückkehr der „dreisten Konterrevolutionäre" Smirnov, Vaganjan und Mrackovskij weniger eine Chance als eine Gefahr.131 Tatsächlich hatte Smirnov zunächst versucht, sein Fehlereingeständnis mit Kritik an Stalins Politik und oppositionellen Forderungen zu verknüpfen. Erst nach mehrmaliger Überarbeitung der Formulierungen wurde seine „Erklärung" schließlich vom Politbüro doch noch als „ausreichend" anerkannt,132 ehe er nach der üblichen Halbjahresfrist wieder in die Partei aufgenommen wurde. Es kann nicht überraschen, daß die verbleibenden Oppositionellen heftig gegen das „Kapitulantentum" ihrer Mitstreiter polemisierten. Im Mai 1928 bezeichnete Radek die Unterwerfung Zinov'evs und Pjatakovs noch als „ Dostoevskij-Verhalten" (dostoevscina): „Trotz ihrer Überzeugungen bereuen sie. Mit Lügen kann man der Arbeiterklasse nicht helfen".133 Im Oktober 1928 war auch Ivan Smirnov noch der gleichen Ansicht: „Es gibt einen Weg zurück in die Partei - den Weg Zinov'evs, Pjatakovs und Safarovs ein niederträchtiger Weg, weil er auf Betrug ... gründet. ... Ich habe diesen Weg so bezeichnet:,Man kann das Leben bewahren um den Preis des Lebenssinns'. Wer diesen Weg mit den Parteiinteressen rechtfertigt, betrügt sich im günstigsten Falle einfach selbst."134

Die kräftigsten Formulierungen fand Lev Trockij, der sich seit Jahresbeginn 1929 im Exil befand. Im Frühsommer 1929 warnte er die Linken vor einer Kapitulation, die nicht nur zu einem sofortigen Rechtsruck der Stalinisten fuhren, sondern die Opposition auch zur „Zinov'evschen Kümmerexistenz verurteilen" würde, ein Schicksal, „wie es schmachvoller auf der Welt nicht vorkommt".135 Dem inzwischen reuebereiten Radek prophezeite er eine düstere Zukunft: „Mit seiner Kapitulation verabschiedet sich Radek einfach von den Lebendigen. Er fällt dann unter die von Zinov'ev angeführte Kategorie der halb aufgehängten, halb begnadigten. Diese Leute fürchten sich, laut zu sprechen, ihre Meinung zu haben ... Man erlaubt ihnen nicht einmal, die herrschende Fraktion laut zu unterstützen."136 131 Vgl. Brief an Molotov vom 9. September 1929, in: Chlevnjuk: Pis'ma Stahna Molotovu, S. 162. 132 Vgl. Chlevnjuk·. Sovetskoe rukovodstvo, S. 97. Zu den verschiedenen Textvarianten vgl. Izvestija CK KPSS, 1991, Nr. 6, S. 74-76. 133 Brief an Preobrazenskij vom 10. Mai 1928, in: Fel'stinskij: Razgrom levoj oppozicii, S. 276. 134 Brief an Karl Radek, Anfang Oktober 1928, in: Fel'stinskij: Razgrom levoj oppozicii, S. 301. 135 Iz Pis'ma L. D. Trockogo k russkomu tovariäcu. Konstantinopol', 22 Maja 1929 g., in: Bjulleten' oppozicii. 1929, Nr. 1-2, S. 8-10, Zitat S. 9. 136 Vyderzka, vyderzka, vyderzka! (14.6.1929), in: Bjulleten' oppozicii, 1929, Nr. 1-2, S. 14-15.

4. Die neue Kultur der Fehlereingeständnisse

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Innerhalb der Sowjetunion wurde Christian Rakovskij bald zum Symbol des standhaften Trotzkisten. Er ermahnte die Oppositionellen dazu, den „Ideen" und „ideologischen Aufgaben der Partei" treu zu bleiben, anstatt das „Parteibuch zu fetischisieren". Der Reuezwang diskreditierte in seinen Augen sowohl die Partei wie auch die Rückkehrer: „Wenn die Parteiführung, gleich der katholischen Kirche, die den Atheisten auf dem Sterbebett die Rückkehr zum ... Katholizismus abnötigt, von den Oppositionellen die Anerkennung angeblicher Fehler oder die Lossagung von ihren leninistischen Ansichten abpreßt, und dadurch jegliches Recht auf Selbstachtung verliert, dann verdient auch der Oppositionelle, der über Nacht seine Überzeugungen ändert, lediglich Verachtung. Diese Praxis fördert eine lärmende, leichtsinnige, skeptische Einstellung gegenüber dem Leninismus ... Die Söedrinschen Typen leben ewig."137

Trotz ihrer entgegengesetzten Positionen argumentierten die zitierten Revolutionäre Jaroslavskij, Stalin, Radek und Trockij in einem gemeinsamen Diskursrahmen. Die linken Oppositionellen hatten ihre „revolutionäre" Autorität auch in der Verbannung noch nicht vollständig verloren. Das fortbestehende Gefühl ihrer nicht aufhebbaren Zugehörigkeit zur Kaste der revolutionären Kader verleitete sie zu dem Glauben, sie könnten immer noch politischen Druck ausüben, ließ Jaroslavskij hoffen, sie für die Partei zurückzugewinnen, und war für Stalin Anlaß, sich immer noch vor ihnen zu fürchten. Vor diesem Hintergrund betrachteten die Beteiligten Reue- und Kapitulationserklärungen unter dem Gesichtspunkt der politischen Nützlichkeit (oder Sinnlosigkeit) als eine Parteinahme, als einen Wechsel von einem Lager in ein anderes. Die sich unwillkürlich einstellenden Assoziationen mit religiösen Glaubensbekenntnissen, Konfessions-, Büß- oder Reueritualen waren den Zeitgenossen hingegen recht peinlich und allenfalls geeignet, Zweifel an der moralischen Vertretbarkeit dieser traditionslosen Praxis zu erwecken. Auch die Parteiführung beeilte sich nicht, dem Gestus des Abschwörens eine positive Bedeutung zu geben und sie ließ keinen Zweifel daran, daß sie sich über reumütig rückkehrende Trotzkisten bei ihr niemals „mehr freuen" werde als über hundert allzeit linientreue Genossen. Stalin schien nichts dagegen zu haben, daß die Rückkehrer in beiden Lagern an politischer Glaubwürdigkeit und persönlicher Würde einbüßten.

4. Die neue Kultur der Fehlereingeständnisse und die Kapitulation der „Rechtsabweichler" Noch während die linken Oppositionellen sich über den Sinn und die Voraussetzungen einer eventuellen Rückkehr in die Partei stritten, traten in der 137 Ch. G. Rakovskij ο kapituljacii i kapituljantach, in: Bjulleten' oppozicii, 1929, Nr. 7, S. 4-7, Zitat S. 5.

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I. Der bolschewistische Abstimmungskörper als kollektive Geisel

verbleibenden Führungsgruppe die Gegensätze zwischen Stalin und den „Rechtsabweichlern" offen zutage. Die knapp zweijährige Auseinandersetzung endete erst im November 1929, als Bucharin, Rykov und Tomskij mit einem klaren Fehlereingeständnis sich in ihre politische Niederlage fügten. Diskursgeschichtlich gesehen handelte es sich eher um eine Fortentwicklung als um eine Wiederholung der Kampfmethoden. Die Rechtsabweichler versuchten angestrengt, diejenigen Normen zu beachten, die sie selbst gemeinsam mit Stalin im vorangegangenen Konflikt etabliert hatten. So verzichteten sie auf eine „offene" Oppositionstätigkeit, auf Kampfabstimmungen, auf die Rekrutierung von Anhängern und vermieden alle Handlungen, die als Konstituierung einer „Fraktion" hätten angesehen werden können. Aufgrund ihrer Integration in die Machtstrukturen und der fast zwangsläufigen Popularität ihres gemäßigten Programms glaubten sie sich auch nicht im gleichen Maße wie die Trotzkisten auf die Unterstützung einer proletarischen Parteibasis angewiesen. Da sie also zum Zeitpunkt ihrer Niederlage keine Fraktion aufzulösen und keine oppositionellen Wahlkampfaufrufe zurückzunehmen hatten, mußte auch die Forderung nach Fehlereingeständnissen in ihrem Falle neu begründet werden. Schon zur gleichen Zeit waren Bemühungen Stalins sichtbar geworden, den Akt des Fehlereingeständnisses bei manchen Gelegenheiten aus dem Kontext der verpönten politischen Kampfabstimmung herauslösen und es als eine gesichtswahrende, „bolschewistische" Form der Konfliktbereinigung zu propagieren. Auf die spätere Verschmelzung des gesichtswahrenden Fehlereingeständnisses mit dem Schlagwort der „Selbstkritik" (samokritika) werden wir noch im zweiten Kapitel zurückkommen.138 Im folgenden soll zunächst Stalins persönliche Unterscheidung von zwei „Fehlerkategorien" vorgestellt werden, deren Wirksamkeit für die weitere Geschichte der Schuldbekenntnisse kaum überschätzt werden kann. Vor diesem Hintergrund soll dann versucht werden, die Fehlereingeständnisse der „Rechtsabweichler" Bucharin, Rykov und Tomskij wie des „linken Überspitzers" Karl Bauman in ihren jeweiligen Kontext einzuordnen. In der bisherigen Darstellung wurde auf Stalins persönliche Ansichten nur selten Bezug genommen. Zweifellos entstand die Kultur des politischen Fehlereingeständnisses nicht infolge der Laune einer einzelnen Person, sondern bewährte sich als Hebel zur Durchsetzung des strengen Fraktionsverbots. Doch da mit dem Beginn von Stalins Alleinherrschaft seine Vorlieben, seine Entscheidungen und seine Texte an normgebender Autorität gewannen, scheint es sinnvoll, auch auf seine persönlichen Vorstellungen über das Wesen von „Fehlern" und Meinungsverschiedenheiten genauer einzugehen. Besonders charakteristisch für Stalins politisches Handeln war die 1926 formulierte Unterscheidung von zwei verschiedenen Fehlerkategorien: 138 Später wurden solche Fehlereingeständnisse häufig auch als Teil von „Kritik und Selbstkritik" (kritika i samokritika) aufgefaßt. Vgl. dazu die folgenden Kapitel.

4. Die neue Kultur der Fehlereingeständnisse

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„Die Opposition sprach hier von gewissen Fehlern einzelner Mitglieder des CK. Einzelne Fehler sind gewiß vorgekommen. Wir haben keine absolut fehlerfreien' Menschen. Solche Menschen gibt es überhaupt nicht. Es gibt aber verschiedene Fehler. Es gibt Fehler, auf denen ihre Urheber nicht beharren und aus denen keine Plattformen, Strömungen, Fraktionen erwachsen. Solche Fehler werden schnell vergessen. Es gibt aber auch Fehler anderer Art, Fehler, auf denen ihre Urheber beharren und aus denen Fraktionen, Plattformen und der Kampf innerhalb der Partei erwachsen. Solche Fehler kann man nicht schnell vergessen. Zwischen diesen beiden Kategorien von Fehlern muß man streng unterscheiden."'39

Das ausschlaggebende Kriterium lag für Stalin also in der politischen Willensbildung. Wichtiger als die Ursachen, das Wesen oder der ideologische Gehalt der „fehlerhaften" Sondermeinung war die Frage, ob ihre „Urheber" wegen ihr auch einen Konflikt in Kauf nehmen würden. Verwerflich wurde ein Fehler dadurch, daß man auf ihm beharrte, anstatt sich rechtzeitig korrigieren zu lassen. Auch er selbst und Lenin hatten Fehler begangen; da sie diese aber rasch eingesehen und überwunden hatten, konnte man sie auch „schnell wieder vergessen". Die obige Formulierung entstand zwar als polemisches Argument gegen die Trotzkisten, doch das Unterscheidungsprinzip existierte in Stalins politischem Denken auch unabhängig von diesem Konflikt.140 Es lag auf der Hand, daß im Sinne dieser Logik vor allem die schwerwiegenderen Fehler, aus denen „Plattformen, Fraktionen und Kämpfe" hervorgegangen waren, mit expliziten Bekenntnissen eingestanden werden mußten. In den vorangegangenen Abschnitten war fast ausschließlich von diesem Zusammenhang die Rede gewesen. Um so wichtiger scheint an dieser Stelle der Hinweis, daß Stalin auch von loyalen Urhebern einfacher „Irrtümer" immer häufiger explizite Fehlereingeständnisse verlangte, die dadurch ihre gutwillige Einsicht und ihr aufrichtiges „Nichtbeharren" sichtbar unter Beweis stellen sollten. Ein solcher Fall wurde bereits erwähnt: Schon vor dem vierzehnten Parteitag hatte Bucharin seine Parole „Bereichert euch!" zurücknehmen müssen, um die Parteiführung in der Öffentlichkeit nicht allzu kulakenfreundlich aussehen zu lassen. Stalin hatte damals Bucharin aber zugleich gegen die Angriffe der Opposition verteidigt und keinen Zweifel daran gelassen, daß man Bucharins Lapsus so schnell wie möglich vergessen sollte.141 In derselben Rede hatte Stalin (in einem anderen, aber ähnlich gelagerten Zusammenhang) auch behauptet, daß das „offene Bekennen eigener Fehler das beste Mittel"

139 Noch einmal über die sozialdemokratische Abweichung in unserer Partei. Schlußwort zum Referat auf dem siebten erweiterten Plenum des EKKI. (13.12.1926). Stalin: Werke, Band 9, S. 3-132, Zitat S. 66. 140 Es spricht manches dafür, daß Stalin diese Argumentation nicht nur rhetorisch gebrauchte, sondern auch tatsächlich so dachte. Schon im April 1920 hatte er anläßlich einer Feier zu Lenins 50. Geburtstag lobend auf dessen „Mut" hingewiesen, gegebenenfalls auch seine Fehler zuzugeben. Vgl. Stalin·. Werke, Band 4, S. 280-281. 141 Vgl. Stalin: Werke, Band 7, S. 332-333.

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sei, eine „offene Diskussion zu vermeiden" und die „Meinungsverschiedenheiten im inneren Verfahren beizulegen."142 Doch wenn die Überwindung von Meinungsverschiedenheiten in harmlosen und zugespitzten Fällen eine äußerlich recht ähnliche Form des Fehlereingeständnisses annehmen konnte, so heißt dies keineswegs, daß die Bolschewiki das Gefühl für diesen Unterschied, den Stalin für wesentlich hielt, verloren hätten. Die Logik der stalinistischen Fehlereingeständnisse blieb manchen späteren Betrachtern bisweilen unverständlich, da sie den Fehler-Diskurs zu undifferenziert aus dem Wahrheitsanspruch der Ideologie heraus begreifen wollten, ohne das Moment des vorideologischen Willenskonfliktes hinreichend wahrzunehmen. Dabei diente die Forderung nach Fehlereingeständnissen nicht zuletzt dazu, den ideologischen Meinungsstreit aus dem Raum der politischen Entscheidungsfindung zu verdrängen: Der Gehorsam gegenüber der Zentralinstanz wurde als Tugend nun höher bewertet als die bis dahin für wesentlich gehaltene Fähigkeit des Revolutionärs, aus der marxistischen Theorie praktische Handlungsanweisungen abzuleiten und den Abstimmungsgremien entsprechende Vorschläge zu unterbreiten. Die Fehlerdifferenzierung nach dem Kriterium der Unterordnungsbereitschaft vergrößerte auch Stalins Deutungsmacht. Da er selbstherrlich entscheiden konnte, von welchem Zeitpunkt an er den Vertreter einer abweichenden Meinung als Oppositionellen ansehen wollte, wurde das formal fortbestehende Recht der Parteimitglieder auf freie Meinungsäußerung durch die praktisch wirksame Forderung nach vorauseilendem Gehorsam konterkariert. Obwohl die „Rechtsabweichler" im Gegensatz zu den Trotzkisten auf Fraktionsbildung und Abstimmungskämpfe verzichteten, blieb auch ihnen diese Erfahrung nicht erspart. Lange Zeit behielt die Auseinandersetzung zwischen Stalinisten und Rechtsabweichlern den Charakter eines Schattenboxens. Da es Stalin tatsächlich selbst war, der von der bisherigen Linie abwich, konnte es den Rechten nicht schwer fallen, ihre „abweichende" Meinung im Einklang mit den aktuellen Parteitagsbeschlüssen zu formulieren. Die Einwände gegen Stalins neue Linie ergaben sich dabei so offensichtlich aus der wirtschaftlichen und sozialen Situation, daß die hochgestellen Bedenkenträger auch keine „fraktionellen" Methoden anwenden mußten, um sich ihrer Gemeinsamkeit zu vergewissern. Doch bis zum Frühjahr 1929 dementierten beide Seiten in der Öffentlichkeit weiterhin hartnäckig, daß an der Parteispitze überhaupt ernsthafte Meinungsverschiedenheiten aufgetreten wären. Einen wichtigen Teilsieg erzielte Stalin im Herbst 1928 mit der Ablösung Nikolaj Uglanovs, der versucht hatte, die Moskauer Gebietsparteileitung vorsichtig auf den rechten Kurs Bucharins und Rykovs einzustimmen. Im September 1928 hatte das regionale Parteikomitee (MK) unter Uglanovs Vorsitz den kritischen Thesen der Parteiführung (insbesondere der Warnung vor der „rech142

Stalin: Werke, Band 7, S. 331.

4. Die neue Kultur der Fehlereingeständnisse

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ten Gefahr") mit verdächtiger Zurückhaltung zugestimmt. In dieser Situation wirkte sei provozierend zweideutig. Stalin reagierte schnell und entschlossen. Uglanov wurde ins Zentralkomitee einbestellt, wo Molotov ihm erklärte, welche Passagen nachträglich in sein Referat eingefügt werden mußten, bevor es in der „Pravda" veröffentlicht werden konnte. Gegenüber der Öffentlichkeit ließ die Parteiführung durchblicken, daß sie Uglanov die Rückendeckung entzogen hatte. Sie ermutigte die Funktionärsbasis dazu, ihn öffentlich zu kritisieren und die Wiederherstellung programmatischer Eindeutigkeit einzufordern. Als am 18. Oktober das nächste Regionalplenum zusammentrat, wußten die Teilnehmer bereits, daß ihr Parteikomitee sich in den Augen des Politbüros schwer diskreditiert hatte und um das politische Überleben kämpfte. Uglanov und andere Komiteemitglieder versuchten in dieser Situation, sich mit mehr oder weniger demütigen Fehlereingeständnissen und Schuldbekenntnissen aus der Affare zu ziehen. Dieses Verhalten hochrangiger Funktionäre, die im Gegensatz zu den kapitulierenden Trotzkisten weder als „oppositionell" bezeichnet wurden noch vom Parteiausschluß bedroht waren, entsprach damals noch keinen etablierten Parteinormen und bedarf einer Erklärung. Zunächst scheint ein Vergleich mit der Situation Zinov'evs aufschlußreich, der Anfang 1926 nach einer Serie hitziger Kampfabstimmungen seine Leningrader Hausmacht eingebüßt hatte. Es lag auf der Hand, daß auch Uglanov im Falle einer offenen Auseinandersetzung nur unterliegen konnte. Wäre er aber vor allem darauf bedacht gewesen, sein „Gesicht zu wahren", dann hätte er demonstrativ seinen Rücktritt anbieten können. Allerdings hätte er dann konsequenterweise auch seine politischen Differenzen gegenüber Stalin artikulieren müssen. Vermutlich war es aber genau das, was Uglanov weder der Gesamtpartei noch seinen rechten Gesinnungsgenossen zumuten wollte. Und so mochte ein begrenztes Fehlereingeständnis als geeignetes Mittel erscheinen, den geordneten Rückzug anzutreten, die Meinungsverschiedenheit herunterzuspielen und dabei nach außen hin Einigkeit zu demonstrieren. Als Hauptredner des Plenums kam er jedenfalls nicht darum herum, seine Maßregelung durch die Parteispitze zu erwähnen und zu diesem Vorfall Stellung zu beziehen. Und so trat Uglanov nicht als kapitulierender Oppositioneller auf, sondern als loyaler Funktionär, der einige Anweisungen nicht ganz richtig befolgt hatte und dafür öffentlich „geradestehen" wollte. Gleichzeitig bemühte er sich aber, als „Herr im Haus" seine lautgewordenen Gegner in die Schranken zu weisen. Er begann seine Rede mit dem Hinweis auf die Unstimmigkeiten und Verwirrungen der vergangenen Wochen, für die sein Parteikomitee ebenso die Verantwortung trage wie die unzulässigen Methoden seiner Kritiker: „Die Fehler, die auf dem fünften Plenum des MK gemacht wurden und für die ich als Referent die Verantwortung trage, bestehen darin: ... Ich sprach überhaupt nicht von einer

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anderen Form der rechten Abweichung, von der auf dem Juliplenum des CK und dem letzten Komintern-Kongreß die Rede gewesen war. Das war natürlich ein Fehler meinerseits."143

Diesen Fehler habe er inzwischen unter Anleitung Molotovs wirksam beseitigt. Uglanov verlas alle Textstellen seines Referats, die nachträglich eingefügt wurden, und fugte hinzu: „Ich war mit ihnen [den Korrekturen] voll und ganz einverstanden. Warum...? Weil [diese] meinem ideologischen Gewissen (idejnaja sovest') in keiner Weise widersprachen ... Es versteht sich von selbst, daß ich, wenn ich irgendwelche Zweifel und Einwände gehegt hätte, mich mit diesen Korrekturen niemals abgefunden und sie nicht beherzigt hätte, es sei denn, man hätte mir einen ... Parteibefehl erteilt."144

So gesehen erschien die Episode lediglich als ein unglückliches Mißverständnis. Uglanov tat so, als hätte er sich Stalins Linie niemals entgegenstellen wollen, sondern diese einfach nur zu nachlässig paraphrasiert. Mit der praktischen Unterordnung und einem Fehlereingeständnis mußte sich die Situation daher auch wieder bereinigen lassen. „Wir müssen ... offen sagen, daß Fehler in allen Parteiorganisationen vorkommen können ... und unsere Aufgabe darin besteht, die vorgefallenen Fehler rechtzeitig zu korrigieren.. ,"145

Mit einer bekannten Maxime Stalins antwortete Uglanov präventiv auf die im Räume schwebende Forderung nach seiner Ablösung. Leute, die das „ganze Ausmaß der Probleme" nicht begreifen wollten, vor denen die Partei stehe, hielten die „Ablösung der Leitungskader" immer für das einfachste Mittel. Er wolle sein Amt zwar zur Verfügung stellen, wenn die 150.000 Moskauer Parteimitglieder dies verlangten, doch sei es besser, die Fehler gemeinsam zu korrigieren. Kaum waren diese Worte gefallen, betraten Stalin und Molotov den Saal, so daß Uglanov seine Rede wegen der Beifallsbekundungen kurz unterbrechen mußte. Nichtsdestoweniger ging er bald dazu über, die untergeordneten Parteifunktionäre zu tadeln, die mit ihrer Kritik von unten das Vertrauensverhältnis innerhalb der Moskauer Organisation beschädigt hätten. Er erklärte, wie er sich eine Wiederherstellung eines gesunden Arbeitsklimas vorstellte: „In jedem Kampf, in seiner Zuspitzung, ... treten bestimmte Eigenschaften zutage, ... manchmal verbietet es die Eitelkeit (samoljubie), die einfachsten ... Fehler einzusehen, die man völlig offen ... einsehen kann, aber... nicht einsehen will.... Daher halte ich es fur notwendig, daß diejenigen Genossen, die den Kampf gegen uns begonnen haben und eine Reihe gröbster Fehler begangen und schädliche Methoden ... angewandt haben, daß sie, wenn sie die Partei schätzen, um der schnellen Rückkehr zu einer ernsten Arbeit und der Beruhigung des Parteivolks willen, anerkennen müssen, daß sich bei ihnen etwas angehäuft hat." 143 VKP(b): Sestoj ob'edinennyj plenum MK i MKK VKP(b). 18-19 oktjabrja 1928. MK VKP(b) - 1928, S. 9. Uglanov spricht hier von einer „anderen Form der rechten Abweichung", weil er bis dahin versucht hatte, die Verurteilung der,/echten Abweichung" auf die trotzkistische Opposition umzumünzen. 144 VKP(b): Sestoj ob'edinennyj plenum MK i MKK VKP(b), S. 11. 145 VKP(b): Sestoj ob'edinennyj plenum MK i MKK VKP(b), S. 15.

4. Die neue Kultur der Fehlereingeständnisse

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Er beendete seine Rede damit, daß er diesen Gedanken zu einer regelrechten „bolschewistischen" Ethik des Nachgebens und Fehlereingestehens ausbaute: „Deswegen besteht der Anspruch an jeden Bolschewiken darin, daß er fähig ist, diese oder jene Fehler rechtzeitig einzusehen,... rechtzeitig zu korrigieren,... alles zu tun, damit diejenige Zuspitzung des Kampfes, die wegen dieser Fehler eingetreten ist, wieder geglättet werden kann.. ."146

Offenbar hoffte Uglanov, ein Fehlereingeständnis seiner aufsässigen Untergebenen könnte seinen eigenen Autoritätsverlust kompensieren. Wechselseitige Entschuldigungen würden das harmonische Klima wiederherstellen. In Anwesenheit Stalins und Molotovs entschlossen sich mehrere Redner, Uglanovs Auftreten zu kritisieren. Der „rote Professor" Strel'cov begründete, warum das Referat Uglanov „unzureichend" war: Dieser habe es versäumt, sein Fehlereingeständnis um eine politische Analyse der Fehlerursachen zu ergänzen.147 Statt dessen habe Uglanov ein „idyllisches Bild" gemalt, etwa nach dem Motto: „Wir haben irgendwelche Fehler gemacht, aber haben sie selbst korrigiert, was wollt ihr noch?" Auf diese Weise könne man aber nicht darüber hinwegtäuschen, daß die Moskauer Parteiorganisation es versäumt hatte, sich mit der nötigen Eindeutigkeit auf die Position des Zentralkomitees zu stellen. „Einzelne Führer" seien sogar so weit gegangen, das Parteivolk in brisanten Fragen bewußt zu „desorientieren".148 Ein Genösse Laz'jan, der selbst dem Moskauer Komitee angehörte, Schloß sich dieser Meinung bereitwillig an, nachdem er seine Mitverantwortung eingestanden hatte.149 Er und seine Kollegen hätten sich außerstande gezeigt, die Fehler rechtzeitig zu korrigieren, da in der Regionalorganisation nicht die dafür nötige „kameradschaftliche Atmosphäre" geherrscht habe. Nun aber habe Uglanov den inakzeptablen Versuch unternommen, das ganze Problem „in drei Sätzen" abzuhandeln: Von seinem Fehlereingeständnis sei Uglanov direkt zu den Fehlern seiner Kritiker übergegangen, um diesen ebenfalls ein Fehlereingeständnis abfordern zu können. Genösse Pen'kov, der lange mit Uglanov eng zusammengearbeitet hatte, legte hingegen ein ausführliches Schuldbekenntnis ab, das er selbst in eine recht anspruchsvolle Ethik des Fehlereingestehens einbettete. Er behauptete, daß die einzelnen Parteimitglieder sich gegenüber dem Problem der persönlichen Meinung künftig anders verhalten müßten als bisher: „Gewöhnlich denkt man so: Man muß mit Parteibeschlüssen nicht unbedingt einverstanden sein, aber man muß sie durchführen. Das stimmt nicht ganz, und ich habe mich davon persönlich überzeugt. ... Wie richtig man die Beschlüsse auch erfüllen mag, wie sehr man auch versuchen mag, sie zu erfüllen - solange es bei dir bestimmte Schattierungen der Meinung gibt, müssen sie auch in der praktischen Arbeit zutage treten. Deswegen denke ich,

146 147 148 149

VKP(b): VKP(b): VKP(b): VKP(b):

Sestoj Sestoj Sestoj Sestoj

ob'edinennyj ob'edinennyj ob'edinennyj ob'edinennyj

plenum plenum plenum plenum

MK MK MK MK

i MKK VKP(b), i MKK VKP(b), i MKK VKP(b), i MKK VKP(b),

S. S. S. S.

19. 23. 24. 24.

80

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daß man zu dem, was man bisher über die Durchführung von Beschlüssen zu sagen pflegte, noch hinzufügen muß, daß auch das falsche Denken schädlich ist.. ."' 50

Anschließend zählte er akkurat alle Punkte auf, in denen er seine rechtsabweichlerischen Ansichten im Sinne der stalinistischen Linie korrigiert hatte. Damit setzte er einen anderen Maßstab als Uglanov, denn er legte nun nicht nur als Funktionsträger über seine Amtstätigkeit Rechenschaft ab, sondern auch als Individuum über seine persönliche Überzeugungen. Pen'kov behauptete, daß nicht äußerer Druck, sondern ehrliche Einsicht ihn zu seinem Fehlereingeständnis motiviert hätte und daß er seine persönliche Würde darum nicht in Frage gestellt sehe: „In einem zwei Tage langen Kampf wurde ich ... unter Druck gesetzt. Ich habe diesem Druck standgehalten. Die Genossen sagten mir,... du bist ein starker, fester Mensch, du hast nicht nachgegeben... Ja, ich habe standgehalten, ich weiß mich zu schlagen, weiß aber auch meine Fehler einzusehen. (Applaus)". 151

Er schien sich sogar darauf vorzubereiten, daß diese Praxis künftig als Erziehungsinstrument dazu dienen könnte, den Kadern ihre Führungstauglichkeit zu erhalten: „Natürlich, Fehler gibt es bei allen. Ich denke, man muß keine Angst haben, Fehler zuzugeben... Ich denke, daß deijenige, ... der in der jetzigen Lage, wo man mit aller Klarheit die prinzipielle Parteilinie propagieren muß, seine Fehler in wesentlichen politischen Fragen nicht einsehen will,... die Partei nicht führen kann. (Applaus)."

Dennoch war er damit einverstanden, daß fehlgegangene Genossen vorübergehend zurückgestuft werden müßten, ehe sie ihre Irrtümer „vollständig überwunden" hätten: „Ich denke, daß das Leitungskollektiv der Rogozsker Organisation recht hatte, mich von meiner Arbeit abzuberufen. Fehler muß man korrigieren, indem man die Atmosphäre ändert, man muß [den Betreffenden, L. E.] eine kleinere Arbeit zuweisen, damit sie ihre Fehler dort endgültig überwinden können... Ich denke daher, daß man es auch in unserer weiteren Arbeit so machen muß." 152

Bald darauf ergriff Molotov das Wort, der viel Beschwichtigendes zu sagen hatte. Das Moskauer Komitee habe die Parteilinie im wesentlichen richtig durchgeführt, lediglich „einzelne Mitglieder und das September-Plenum insgesamt" hätten sich „einige Fehler" erlaubt. Er veraeinte sogar ausdrücklich, daß das Zentralkomitee beabsichtigte, den „leitenden Kern" des Moskauer Komitees abzulösen. Niemand zweifle daran, daß die Moskauer Organisation ihre Fehler einsehen und die Partelinie anschließend noch besser durchführen würde.153 Ähnlich äußerte sich auch Stalin, der Uglanov mit keinem Wort

150 151 152 153

VKP(b): VKP(b): VKP(b): VKP(b):

Sestoj Sestoj Sestoj Sestoj

ob'edinennyj ob'edinennyj ob'edinennyj ob'edinennyj

plenum plenum plenum plenum

MK MK MK MK

i MKK i MKK i MKK i MKK

VKP(b), VKP(b), VKP(b), VKP(b),

S. S. S. S.

44. 45. 44. 51-52.

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erwähnte, aber dafür Pen'kov lobte, der seine Fehler „direkt und offen eingestanden" habe.154 Nachdem eine beträchtliche Anzahl Moskauer Funktionäre neben formalen Fehlern auch inhaltliche Irrtümer eingestanden hatte, konnte auch Uglanov einen solchen Schritt kaum länger vermeiden. In seinem Schlußwort gab er zu, nach dem fünfzehnten Parteitag von „Zweifeln und Schwankungen" befallen worden zu sein, die sich auf die gesamte Führung der Moskauer Organisation übertragen hätten; dieses Eingeständnis verknüpfte er mit einem Rücktrittsangebot.155 Die Ursachen für diese Schwankungen seien ein Resultat der „bei uns herrschenden Unklarheit über die wirtschaftliche Lage und der Schwierigkeiten, die vor uns stehen". Diese Begründung konnte wiederum auch als Seitenhieb auf den abrupten Kurswechsel Stalins in der Bauernfrage verstanden werden. Ansonsten warnte Uglanov davor, die Schuldigen zu stigmatisieren: „Kritisiert unsere Fehler, aber, sobald ein Mensch seine Fehler eingesehen hat, dann müßt ihr die Bezeichnung Opportunist' in der Zukunft wieder von ihm nehmen. ... Sobald der Fehler eingesehen wurde, dann müßt ihr euch morgen mit diesem Genossen wieder auf gleicher Augenhöhe bewegen. ... Wenn das innerparteiliche Leben sich nicht normal entfaltet, dann wird niemand große Verantwortung übernehmen.. ."I56

Wie viele Redner es später in ähnlichen Situationen zu tun pflegten, gab Uglanov der demütigen Hoffnung Ausdruck, daß die Partei aus der Episode „lernen" könne.157 In den großen Unterschieden zwischen dem Reueverhaltens Uglanovs und demjenigen der Trotzkisten spiegelten sich unter anderem die weitreichenden Folgen der Aufhebung der Immunität des Abstimmungskörpers wider. Rechtsabweichlerisch gestimmte Funktionäre wie Uglanov waren in die Zwickmühle geraten: Sie hatten lange vor der Auseinandersetzung die Auffassung Stalins akzeptiert, daß die Herbeiführung von Kampfabstimmungen mit der verbotenen Fraktionstätigkeit gleichzusetzen wäre, und trauten sich daher nicht, ihre Vorbehalte gegen den Politikwechsel offensiv zu artikulieren. Mit ihrem allzu durchschaubaren Versuch, den offenen Widerspruch durch eine schleichende Verweigerungshaltung zu ersetzen, waren Uglanov und seine Mitarbeiter in eine Glaubwürdigkeitsfalle geraten. Anders als die Trotzkisten hatten sie allerdings kein „oppositionelles" Votum zurückzunehmen, sondern nur ein zweideutiges Verhalten, das „Schwankungen" und „Mißverständnisse" zum Ausdruck gebracht hatte. Das Votum wurde zurückgenommen, lange bevor die Abstimmung hatte stattfinden können. Der „Fehler" war zwar schon kein „zufälliger Irrtum" mehr, hatte aber auch noch kein ausgeprägtes „Fraktionsverhalten" hervorgebracht. Anders als die Trotzkisten „kapitulierten"

154 155 156 157

VKP(b): VKP(b): VKP(b): VKP(b):

Sestoj Sestoj Sestoj Sestoj

ob'edinennyj ob'edinennyj ob'edinennyj ob'edinennyj

plenum plenum plenum plenum

MK MK MK MK

i i i i

MKK MKK MKK MKK

VKP(b), VKP(b), VKP(b), VKP(b),

S. S. S. S.

112. 120-121. 121-122. 124.

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die „Rechten" nicht erst während eines Parteiausschlußverfahrens, sondern schon viel früher. Der Verzicht auf die bürokratische Prozedur erleichterte es, dem Vorgang moralischen Sinn zu verleihen. Im Gegensatz zu den linken Oppositionellen, die das Kapitulationsverhalten zunächst sogar als einen „Verrat am Bolschewismus" denunziert hatten, erklärten reuige Rechtsabweichler es nun zu einer „bolschewistischen" Tugend. Auch die Amtsauffassung der Funktionsträger wandelte sich: Während Uglanovs Auftreten sich noch stark am Bild des klassischen Beamten orientierte, der unabhängig von seiner persönlichen Meinung klare Befehle gewissenhaft befolgt, präsentierte Pen'kov bereits eine Ethik des totalitären Subjekts, das sich zur selbsttätig vorauseilenden Verinnerlichung der Herrschaftsräson moralisch verpflichtet fühlte. Nichtsdestoweniger argwöhnten die betroffenen Zeitgenossen, daß auch dieses Verhalten sie vor einer langfristigen Stigmatisierung möglicherweise nicht schützen würde - aber sie hatten die Hoffnung noch nicht aufgegeben. Uglanovs Fehlereingeständnis kam früh genug, um ihn vor Vorwürfen der Fraktionstätigkeit zu bewahren. Das Politbüro führte zwar bald nach dem Oktober-Plenum 1928 seine Ablösung herbei, achtete dabei aber auf die feinen Unterschiede: Uglanov verlor seinen Posten offiziell nicht aufgrund eines Politbürobeschlusses, der Disziplinverletzungen bestrafte, sondern weil die „Moskauer Parteibasis" ihn politisch nicht mehr für geeignet hielt und daher „auf seine Wiederwahl verzichtete".158 Die Leitfiguren der Rechten, Bucharin, Rykov, Tomskij setzten mit einigen Kollegen (darunter auch Uglanov) ihren vorsichtigen Meinungskampf fort, bis sie sich im November 1929 endgültig davon überzeugt hatten, daß sie Stalins Mehrheit weder erschüttern noch beeinflussen konnten. Um den Streit zu beenden, verfaßten die drei rechten Politbüromitglieder eine gemeinsame Erklärung, die Rykov der Plenarversammlung des Zentralkomitees am 12. November verlas.159 Die weitschweifige Positionsbestimmung drückte das Bemühen aus, Anschluß an die herrschende Parteilinie zu finden, ohne sich von den eigenen Stellungnahmen der vergangenen Monate definitiv distanzieren zu müssen. Die Anstrengung der Unterzeichner, ihr politisches Gesicht zu wahren, verlieh dem Dokument den Charakter eines diplomatischen Kommuniques. Im Kern handelte es sich um ein Bekenntnis zur bedrohten Stimmgemeinschaft mit der stalinistischen Mehrheitsfraktion, das die Fiktion propagierte, daß die Rechten sich völlig freiwillig, aufgrund einer veränderten wirtschaftlichen Rahmensituation, zu diesem Schritt entschieden hätten und daher künftig auf gleichberechtigter Grundlage wieder mit den Stalinisten zusammenarbeiten könnten. Offenbar orientierten sich die Verfasser an

158 Vgl. Stalins Rede vor dem Zentralkomitee (19.11.1928) „Über die Industrialisierung des Landes", in: Stalin·. Werke, Band 11, S. 218-258, insbesondere S. 254-256. 159 Zum Wortlaut vgl. Α. N. Jakovlev (Red.): Kak lomali NEP, T. 5. Plenum CK VKP(b) 10-17 nojabija 1929 goda, Moskau 2000, S. 158-165.

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der Vorstellung, daß auch gravierende Meinungsverschiedenheiten „schnell wieder vergessen" werden konnten, wenn sie rechtzeitig beigelegt wurden. Als Rykov an der Textstelle angelangt war, an der er mitteilte, daß es jetzt keine „Meinungsverschiedenheiten" mehr gebe, wurde er prompt von Stalin unterbrochen: „Wie war das, Genösse Rykov? Das war nicht zu hören, wiederholen Sie." Und Rykov las den Satz noch einmal vor: „Wir denken, daß die Meinungsverschiedenheiten zwischen uns und der Mehrheit des CK dabei sind, sich aufzulösen."160 Weiter verlas Rykov den Protest der Unterzeichner gegen die unfaire Polemik der Stalinisten in den zurückliegenden Monaten und Schloß mit dem Aufruf, den Streit einfach zu vergessen und wieder zur gemeinsamen Arbeit zurückzukehren: „Wir halten es ... für unsere Pflicht, ungeachtet unwürdiger Ausfälle gegen uns, auf alle erdenklichen polemischen Erwiderungen zu verzichten und erneut unsere Bereitschaft mitzuteilen, auf der Grundlage aller Parteibeschlüsse mit aller Energie für die Lösung der schweren Aufgaben zu kämpfen, vor denen unsere Partei steht."161

Die drei Politbüromitglieder orientierten sich mit dieser Haltung an den Umgangsformen früherer Jahre, als man es noch für eine normale Erscheinung gehalten hatte, daß Mitglieder der obersten Parteigremien sich gegen die Politik der aktuellen Mehrheitsfraktion wenden und aus diesem oder jenem Grund ihre Meinung ändern konnten. Nun aber stießen sie auf die erbitterte Haltung der stalinistischen Mehrheit, die auf ihrem Recht bestand, sich nach ihrem Sieg an der Minderheit zu rächen. Auch wenn es dank der Zurückhaltung der Rechten gar nicht mehr zu einer eigentlichen Kampfabstimmung gekommen war, so hatten sie sich doch vieler Äußerungen und Handlungen schuldig gemacht, die als Drohung verstanden werden mußten, vom Stimmrecht gegebenenfalls Gebrauch zu machen. Es handelte sich jedenfalls nicht um eine folgenlose „Meinungsverschiedenheit", sondern um einen politischen „Kampf, bei dem es folglich Gewinner und Verlierer geben mußte. Da die Rechten diesen Umstand nicht erwähnt hatten, erhoben fast alle Redner gegen sie in mehr oder weniger aggressiver Form den Vorwurf der „Heuchelei". Unmittelbar nach Rykov trat Ordzonikidze auf, der den Unterzeichnern vorwarf, nicht „direkt und ehrlich" gesagt zu haben, „wer recht behalten hat und wer unrecht".162 Es gab viele weitere Gründe, mit der Erklärung unzufrieden zu sein: Kujbysev zufolge hätte eine solche Erklärung viel früher kommen müssen, doch inzwischen hätten die Rechten den „historischen Moment" verpaßt.163 Sol'c erkannte schon allein darin, daß die Rechten mit einem gemeinsamen Papier auftraten, anstatt die Gründe ihres Einlenkens einzeln zu erläutern, die Absicht, den Fraktionskampf

160 161 162 163

Jakovlev·. Jakovlev: Jakovlev: Jakovlev:

Kak Kak Kak Kak

lomali lomali lomali lomali

NEP. NEP. NEP. NEP.

T. T. T. T.

5, 5, 5, 5,

S. S. S. S.

161. 164-165. 165. 270.

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fortzusetzen.164 Auch Stalin behauptete, das Dokument sei nur ein „Rückzug", der einen „erneuten Angriff' auf das Zentralkomitee ermöglichen solle.165 Jaroslavskij, der als Sekretär der Kontrollkommission zu diesem Zeitpunkt schon viel Erfahrung mit oppositionellen Fehlereingeständnissen gesammelt hatte, zählte mit der Gründlichkeit eines Sachbearbeiters alle politischen Äußerungen auf, die die Rechten nun in aller Form explizit zurücknehmen müßten, da sie durch die vorliegende Erklärung noch nicht „annulliert" worden wären und daher „in Kraft" geblieben wären.166 Damit übertrug er das juristische Prinzip, dem zufolge unbefristete Gesetze, Verordnungen und Verträge bis zu ihrer Wiederaufhebung „rechtswirksam" bleiben, kurioserweise auf die persönlichen Meinungsäußerungen einzelner Parteimitglieder. So wie viele Trotzkisten 1927 ihre Neinstimmen nachträglich in Jastimmen umgewandelt hatten, sollten jetzt die Rechten ihre früheren kritischen Einwände notariell „außer Kraft setzen". Viele andere Redner richteten an die Rechten „Entwaffnungs"-Forderungen, die sich an der antitrotzkistischen Resolution des fünfzehnten Parteitags orientierten, doch im Gegensatz zu damals der „Kapitulation" nun aber auch einen positiven Sinn beimaßen. Die Bereitschaft zum „mutigen, offenen Eingeständnis der eigenen Fehler" wurde als eine „bolschewistische" Tugend ausgegeben. Man stellte den in Ungnade gefallenen Genossen sogar eine Rückkehr zur gleichberechtigten Zusammenarbeit in Aussicht, wenn sie sich nur zu einem solchen „ehrlichen" Schuldbekenntnis durchringen könnten. Der kurz zuvor zum Volkskommissar für Bildung ernannte Andrej Bubnov erklärte den Rechten am eigenen Beispiel, wie sich gute Bolschewiki an ihrer Stelle hätten verhalten sollen: „Erlauben Sie mir, ... an den Vorfall zu erinnern, als ich 1923 die Erklärung der 46 unterschrieben hatte und als ich, nachdem ich ... erkannt hatte, daß ich mich zutiefst geirrt hatte, keine lange Erklärung verfaßte, sondern einen kurzen Artikel für ... die ,Pravda' schrieb, woraufhin am selben Tag niemand anders als Genösse Stalin mich anrief und ... verstand, daß ich allen Streit mit dem Zentralkomitee ... begraben hatte."167

Tatsächlich war Bubnov damals für sein frühzeitiges Überlaufen von Trockij zu Stalin mit einem einflußreichen Posten belohnt worden; dieses Verhalten deutete er nun, sechs Jahre später, als vorbildliches Fehlereingeständnis im Sinne einer neuerfundenen „bolschewistischen" Tradition. Da Versöhnungsversprechen gegenüber trotzkistischen und rechtsabweichlerischen Oppositionellen später aber niemals eingehalten wurde, soll hier ausführlich dokumentiert werden, wie Stalins Anhänger sich im November 1929 ein vollständiges „bolschewistischen Fehlereingeständnis" vorstellten:

164 165 166 167

Jakovlev: Jakovlev: Jakovlev·. Jakovlev:

Kak Kak Kak Kak

lomali lomali lomali lomali

NEP. NEP. NEP. NEP.

T. T. T. T.

5, 5, 5, 5,

S. S. S. S.

240. 259. 205-207. 170.

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Ordzonikidze: „Wenn ihr ... ehrlich, edelmütig, bolschewistisch ... auftreten wollt,... dann müßt ihr direkt sagen: ,Wir sind gezwungen, zum Glück für die Partei und das Land, mitzuteilen, daß das ganze System unserer Weltanschauung, alle Vorschläge, die wir eingebracht haben ... sich als falsch herausgestellt haben; wir entwaffnen uns und sagen: Es wird nicht mehr vorkommen.' Das wäre eine Erklärung ... gewesen, die jeder der Anwesenden mit Freude aufgenommen hätte."168 Sulimov: „Wir hatten das Recht zu erwarten, daß die Opposition zu uns kommt, um ehrlich, aufrichtig, im Interesse der Parteieinheit ihre rechtsabweichleriche Bewaffnung niederzulegen und uns zu sagen: ,Ja, wir haben uns in diesen und jenen Fragen geirrt, wir geben unseren Fehler zu und geben auch zu, daß als Folge unserer Fehler eine Reihe anderer ... Genossen ... uns nachgelaufen sind,... daß wir für die rechten Elemente in unserem Land zu einer Art Fahne geworden sind. Daß wir das gesehen und nicht in entsprechender Weise reagiert haben.' So hätten sie zu uns sprechen müssen."169 Molotov: „Wenn ihr,... erklärt, daß ,die Meinungsverschiedenheiten sich auflösen', warum iürchtet ihr euch dann, aus dieser Erklärung die allerelementarsten Folgerungen zu ziehen? Dann müßt ihr eure Reden vor dem April-Plenum zurücknehmen, und nicht nur diese Reden. Dann müßt ihr eure liberalen Erklärungen und ungeschickten Dokumente durchstreichen. Bei so einer ehrlichen Anerkennung eurer Fehler könnt ihr in der Partei nicht schlechter arbeiten als viele von uns.... Und dann werden die Meinungsverschiedenheiten wirklich verschwinden, und wir werden alle auf gleicher Position arbeiten."170 Stalin: „Entweder sagen sich die Genossen ... von ihrem durch und durch heuchlerischen Dokument los und erkennen ihre Fehler offen und ehrlich an, wie sich das für Bolschewiki gehört, und dann wird die Partei diesen doch nicht ganz so schweren Schritt von ihrer Seite begrüßen. Oder sie werden an ihrem Dokument auch weiterhin festhalten, und dann wird die Partei gezwungen sein, sie, salopp gesagt, windelweich zu prügeln (namjat' im boka). Und wirklich, warum konnten die Genossen Bucharin, Rykov und Tomskij nicht direkt und offen sagen: ,Ja, wir haben uns geirrt, die Partei hat recht behalten, ... setzten wir einen Punkt dahinter und arbeiten als Freunde für den Sieg des Sozialismus?' Ich denke, sie hätten das sagen können, wenn sie gewollt hätten".171 D i e Rhetorik der Stalinisten war v o n religiösen Vorbildern offenbar nicht unbeeinflußt geblieben. Schon bei vielen anderen Gelegenheiten hatte Stalin versucht, die politischen Meinungsverschiedenheiten pathetisch zu überhöhen. Seine oftmals widersprüchlichen Vorgaben, die Gesamtheit seiner Propagandakampagnen und dilettantischen Regierungsmaßnahmen erschien dann als ultimative kanonische Auslegung der heiligen Schrift, während hartnäckige Bedenkenträger in die Rolle von „Ungläubigen", „Abweichlern" und Häretikern gedrängt wurden. Bevor die Exkommunikation der Rechten aufgehoben werden durfte - so könnte man die Assoziation fortfuhren - mußten sie w i e Ketzer ihren Irrtümern feierlich abschwören. Darum schienen Redner w i e Ordzonikidze so übertriebenen Wert darauf zu legen, daß die Stalinisten i m Streit „recht behalten" und die Bedenkenträger sich „geirrt" hatten. D o c h obwohl die stalinistische Rhetorik stets das Gegenteil suggerierte, entstammte diese überhöhte Auffassung von innerparteilicher Wahrheitsfindung keiner

168 169 170 171

Jakovlev. Jakovlev: Jakovlev. Jakovlev:

Kak Kak Kak Kak

lomali NEP. T. 5, lomali NEP. T. 5, lomali NEP. T. 5, lomali NEP. T. 5,

S. 165. S. 212. S. 226. S. 263.

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„bolschewistischen" oder „leninistischen" Tradition, sondern war zu dieser Zeit gerade erst erfunden worden. Noch zu Beginn der zwanziger Jahre hätte man die Situation ganz anders beurteilt. Da die Rechten in den entscheidenden Streitfragen (über die Abschaffung der NEP und die Bauernpolitik) ihren Standpunkt ebensogut aus den Schriften Lenins und den gültigen Parteidokumenten herleiten konnten wie die Fraktion Stalins, und da sie außerdem weder die gemeinsamen Parteibeschlüsse noch die Parteidisziplin in irgendeiner ernsthaften Form verletzt hatten, wäre man damals ohne weitere „Reue"-Forderungen wieder zur normalen Zusammenarbeit übergegangen. Die Rechten hatten zwar gelegentlich die Möglichkeit angedeutet, in den zentralen Gremien eine alternative Abstimmungsmehrheit ohne Stalin zu bilden, aber auch das widersprach ja nicht dem Wortlaut der Parteistatuten. Doch seit dem zehnten Parteitag hatten sich die Maßstäbe erheblich zugunsten einer Einpersonendiktatur verschoben. Völlig unabhängig von aller marxistischen Ideologie und allen parteirechtlichen Prinzipien war es nun tatsächlich der Versuch einer nichtstalinistischen Willensbildung als solcher, der bei den Siegern ein Rache- und Strafbedürfnis hervorrief. Mit ihren Reueforderungen verfolgte die Stalinfraktion erklärtermaßen das Ziel, ein Wiederaufleben des Konflikts ein für allemal zu unterbinden, was im Sinne der früheren Parteiauffassung ebenfalls eine Anmaßung darstellte. Denn auch nach bolschewistischem Verständnis konnte niemand den Anspruch erheben, die Frage nach der besten politischen Strategie „endgültig" gelöst zu haben. Das Angebot Molotovs, nach einem „vollständigen Fehlereingeständnis" zu einer gleichberechtigten Zusammenarbeit mit den Rechten zurückzukehren, war insofern heuchlerisch, als er so tat, daß die Beilegung des „Glaubensstreits" für ihn das Wichtigste sei. Wie sich bald herausstellte, benutzten er und Stalin die demütigsten Reuebekenntnisse der rechten Oppositionellen aber konsequent dazu, ihnen einen „gleichberechtigten" Status weiterhin vorzuenthalten. Anders als nach dem fünfzehnten Parteitag verlangte der Resolutionstext nun zwar keine „vollständige Entwaffnung", tadelte Bucharin, Rykov, Tomskij und Ugarov aber dafür, daß sie in ihrer „heuchlerischen Erklärung" die „Fehlerhaftigkeit ihrer Ansichten nicht eingesehen" hatten, und drohte ihnen „organisatorische Maßnahmen" an, falls sie ihren „Kampf gegen die Linie der Komintern und das Zentralkomitee „fortsetzen" würden. Bucharin wurde aus dem Politbüro entfernt.172 Die Namen der Rechten Uglanov und Kulikov waren aus dem Resolutionstext gestrichen worden, nachdem diese beiden un-

172 Ο Gruppe t. Bucharina. Utverzdeno plenumom CK VKP(b). 17 nojabqa 1929 goda, in: Jakovlev. Kak lomali NEP. T. 5, S. 543.

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mittelbar vor der Abstimmung eine Erklärung verlesen hatten, in der sie ihre Irrtümer zugaben.173 Kurz darauf folgten auch die anderen. Am 26. November veröffentlichte die „Pravda" eine Erklärung von Tomskij, Bucharin und Rykov, in der diese zugaben, in den vergangenen anderthalb Jahren mehrfach „Meinungsverschiedenheiten" gehabt zu haben, und es nun „für ihre Pflicht hielten" mitzuteilen, „daß in diesem Streit die Partei und ihr Zentralkomitee recht behalten" hatten. Ausdrücklich nannten sie ihre eigenen Ansichten „fehlerhaft", bevor sie einmal mehr ihre Loyalität gegenüber der Generallinie beteuerten. Selbstverständlich hatten die Unterzeichner den Wortlaut dieser Erklärung mit dem Politbüro abgestimmt, doch werden sie dabei geahnt haben, daß von einer Rückkehr zu einer „normalen Zusammenarbeit" keine Rede sein konnte. Trotzdem benötigten sie noch einige Zeit, um sich ihrer neuen Rolle im Lager der „halb aufgehängten, halb begnadigten" zurechtzufinden, dem sie nun ebenfalls angehörten. Als Bucharin kurz darauf eine unbedeutende Rede veröffentlichen wollte, die er vor einer Ingenieursversammlung gehalten hatte, mußte Kujbysev ihm geduldig erklären, weshalb das Manuskript ohne Veränderungen nicht gedruckt werden konnte:174 „Das Wichtigste ist, daß der Artikel im Stil verfaßt ist ,als wäre nichts gewesen'. ... Und was ist mit Deinem Eingeständnis Deiner früheren Fehler? ... Du sprichst von der ,rechten Gefahr im Land', ... und Du sagst nichts über die rechte Abweichung in der Partei."

Kujbysev sagte ganz offen, daß für Rekonziliierte andere Regeln galten als für allzeit loyale Parteimitglieder: „... All das, was man einem Bucharin verziehen hätte, der die gleichen Ansichten vertritt wie die Partei, wird man einem Bucharin nicht verzeihen, der in seinem Artikel sagen will alles war wie es ist, und es ist wie es war. Vorübergehend war ich zum Schweigen gezwungen, aber jetzt trete ich genauso auf wie früher: Und warum wurde ich überhaupt auseinandergenommen? So geht das nicht, Nikolaj Ivanovic! Dieses Verhalten dient nicht Deiner Versöhnung mit der Partei!"

Vielleicht ahnte zu diesem Zeitpunkt aber noch nicht einmal Kujbysev, daß die prominenten „Rechtsabweichler" von nun an bis zu ihrem Lebensende dazu genötigt werden würden, sich wieder und wieder von ihren Ansichten zu distanzieren und zur Parteilinie Stalins zu bekennen. Wenn die politischen Fehler der Rechten also, wie sich herausstellte, so schwerwiegend waren, daß man sie keinesfalls „schnell wieder vergessen"

173 Der Schlüsselsatz lautete: „Das vergangene Wirtschaftsjahr und die Ergebnisse der Getreidebeschaffung haben gezeigt, daß wir uns geirrt haben, und wir halten es für nötig, dies der Partei mitzuteilen." Vgl. Jakovlev: Kak lomali NEP. T. 5, S. 535. 174 Kujbysev war damals Volkskommissar für Schwerindustrie und damit auch für die entsprechende Fachpresse verantwortlich. Die Rede erschien dennoch kurz darauf in der „Pravda". Vgl. V. V. Kujbysev - Ν. I. Bucharinu. 6 dekabrja 1929 g., in: Chlevnjuk: Sovetskoe rukovodstvo, S. 105-106.

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konnte, dann galt dies nicht im gleichen Maße für die „linken Überspitzungen" des Moskauer Parteichefs Karl Janovic Bauman. Bauman gehörte zu denjenigen Parteifunktionären, die sich im Winter 1929/30 anschickten, die Aufforderung zur „Liquidierung des Kulakentums als Klasse" und zur flächendeckenden Kollektivierung mit besonderem Eifer in die Tat umzusetzen.175 Doch im Frühjahr 1930 begann Stalin plötzlich, vor den Folgen der überstürzten Kollektivierung zu warnen und rief faktisch zum Abbruch der Kampagne auf.176 Der Vorwurf, einige „vor Erfolgen von Schwindel befallene" Funktionäre hätten eigenmächtig Zwangsmaßnahmen angewandt, anstatt die Bauern geduldig von den Vorteilen der Kollektivwirtschaften zu überzeugen, war nicht zuletzt auf Karl Bauman und andere „linke Überspitzer" gemünzt. Dieser bekannte sich zwar auf dem Moskauer Regionalplenum im März zu Stalins Richtungswechsel und räumte auch ein, daß die Moskauer Organisation „Fehler" gemacht habe, doch geschah dies nach Meinung Stalins nicht mit der nötigen Eindeutigkeit. Bauman wurde vom Politbüro intern unter Druck gesetzt, bis er sich am 18. April bereit fand, seinen Rücktritt anzubieten und in einer formellen Erklärung seine „Fehler" zuzugeben: „Angesichts der Tatsache, daß ... das Moskauer Komitee einen falschen und der CK-Direktive vom 6. Januar widersprechenden Kurs auf die vollständige Kollektivierung in diesem Frühjahr einschlug, wofür ich als erster Sekretär die Hauptverantwortung trage ... [und angesichts der Tatsache, daß] diese ... Fehler von mir durch die Unklarheit und Unrichtigkeit einer Reihe von Sätzen in meinem Schlußwort auf dem letzten MK-Plenum vertieft wurden, was die Vertuschung von ... Fehlern begünstigte ... bitte ich das CK VKP(b), mich von meiner Arbeit im Moskauer Komitee ... zu befreien."

Das Zentralkomitee kam Baumans „Bitte" nach und löste ihn als Moskauer Parteichef ab, ernannte ihn aber gleichzeitig zum CK-Sekretär.177 Mit politischer Rücksichtnahme auf sich selbst behandelte Stalin die Affäre intern entschlossen, aber nach außen hin zurückhaltend. Es gab keine Pressekampagne gegen Baumans Person, das Rücktrittsgesuch wurde nicht veröffentlicht und die Umstände seiner Absetzung streng vertraulich behandelt. Auf dem nächsten MK-Plenum, das vier Tage nach Baumans Ablösung (am 22. April) stattfand, erklärte Molotov immerhin den wichtigsten Moskauer Parteifunktionären sehr ausführlich, was Bauman genau falsch gemacht habe und wie es mit der Parteiorganisation nun weitergehen würde.178 175

Zur folgenden Episode vgl. Catherine Merridale: Moscow Politics and the Rise of Stalin. The Communist Party in the Capital. 1925-1932, Basingstoke 1990, S. 68-79. 176 Vgl. den Artikel „Vor Erfolgen von Schwindel befallen" (= Pravda, 2.3.1930) und Stalins Rede an die Kollektivbauern (= Pravda, 3.4.1930), in: Stalin: Werke, Band 12, S. 168-175 und S. 177-200. 177 Zum Wortlaut von Baumans Erklärung und der CK-Entscheidung vgl. RGASPI f. 17, op. 20, d. 210,1. 15-16. 178 Das Stenogramm wurde als Broschüre gedruckt: VKP(b): Cetvertyj ob'edinennyj plenum MK i MKK VKP(b). 22 aprelja 1930 goda. Im weiteren wird das Exemplar zitiert, welches sich im Zentralen Parteiarchiv befindet: RGASPI f. 17, op. 20, d. 210,1. 14-61.

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Zunächst verlas er die von Stalin unterschriebene CK-Entscheidung, derzufolge Bauman, „verpflichtet gewesen wäre", sich „an die Spitze derjenigen Genossen" zu stellen, die einen „bedingungslosen Kampf mit der Verfälschung der Parteilinie" geführt hätten; statt dessen habe dieser es aber vorgezogen, seine Fehler „zu beschönigen", und habe sich gegenüber den „Überspitzern" zu „versöhnlerisch" verhalten. Seine Fehlereingeständnisse blieben zweideutig und widersprüchlich und waren daher nicht geeignet, die „richtige Linie" wiederherzustellen:179 „In der Frage zum Kollektivierungstempo sagt Genösse Bauman einerseits: ,Wir haben einen Fehler gemacht, als wir ... noch beinahe in diesem Frühjahr die Kollektivierung des Gebiets zu Ende führen wollten', doch fügt er etwas hinzu, was dem Beginn des Satzes direkt widersprach und das Fehlereingeständnis verwischte: ,Aber wir sprechen zu Recht davon, daß wir in zwei bis drei Jahren im wesentlichen die ... Kollektivierung des Gebietes erreichen.'... Tatsächlich kann man ein solches Fehlereingeständnis nicht als eine wirkliche Einsicht in die Fehler auffassen. ... Das hat nichts mit dem zu tun, was wir als Leninsches Verhältnis gegenüber den eigenen Fehlern auffassen, einer wirklichen Korrektur dieser Fehler, einer richtigen Erziehung der Parteikader".

Dennoch räumte Molotov in seinem Schlußwort ein, daß Bauman zwar die „linken Überspitzungen" begünstigt habe, selbst aber kein „linker Überspitzer" sei und auch keine „besondere Linie" innerhalb der Partei vertreten habe. Hätte Bauman aber auf seinen Fehlern beharrt, so Molotov weiter, hätte man dieses Verhalten als die Verteidigung einer „anderen, besonderen Linie" betrachten müssen. Nun aber, nach Baumans ausfuhrlichem Schuldbekenntnis, sollten die Genossen davon ausgehen, daß Bauman ehrlich bereit war, seine „Fehler einzusehen und zu korrigieren". Aus diesem Grund sei er auch zum CK-Sekretär ernannt worden. Nichtsdestoweniger müßten seine Bekenntnisse in der Praxis anhand von „Tatsachen", und „Handlungen" überprüft werden.180 Im Unterschied zu Bucharin schien Bauman sich also nach Stalins Meinung gerade noch rechtzeitig von seinen Irrtümern und Fehlern losgesagt zu haben, bevor aus diesen „Plattformen, Strömungen und Fraktionen" hätten erwachsen können. Die Rhetorik Molotovs und die offizielle Erläuterung des Vorgangs erinnerte in vielem an Uglanovs Demontage anderthalb Jahre zuvor, doch gab es einen wesentlichen Unterschied. Die Parteiführung schien anzuerkennen, daß Bauman tatsächlich nie beabsichtigt hatte, auf Stalins Parteiführung politischen Druck auszuüben. Daher fiel es nun allen Beteiligten wesentlich leichter, dem Fehlereingeständnis einen positiven Sinn zuzuschreiben: Demnach handelte es sich nun weniger um die „Kapitulation" einer fraktionellen Gruppierung, sondern vielmehr um einen Lernprozeß, den einzelne Individuen besonders schmerzhaft durchlaufen mußten, damit die Gesamtpartei anhand ihres Negativbeispiels die gleichen Fehler vermeiden konnte. Mit einem Le-

179 180

RGASPI f. 17, op. 20, d. 210,1. 16. RGASPI f. 17, op. 20, d. 210,1. 49.

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ninzitat versuchte Molotov, den Gedanken des „pädagogischen" Fehlereingestehens auf eine fiktive „bolschewistische Tradition" zurückzuführen: ,Alle revolutionären Parteien, die bisher zugrunde gingen, ... fürchteten sich davor, über ihre Schwächen zu sprechen. Aber wir werden nicht zugrunde gehen, weil wir uns [davor] nicht fürchten, sondern lernen, die Schwäche zu überwinden."

Damit löste er Baumans Fehlereingeständnis deutlich aus dem Kontext der innerparteilichen Richtungskämpfe heraus und stellte es in den Zusammenhang einer kameradschaftlichen „Fehleranalyse", bei der alle Beteiligten letztlich dasselbe Ziel verfolgen. Die Pflicht, Fehler „offen einzugestehen", war im vorliegenden Fall allerdings in Widerspruch zum traditionellen Autoritätsdenken geraten. Bauman selbst hatte den Paradigmenwechsel inzwischen offenbar so gut begriffen, daß er schon selbst dazu beitragen konnte, seinen bisherigen Untergebenen den neuen „Diskurs" vorzuführen. Geschickt erklärte er seinen zeitweiligen Widerstand nicht als oppositionelle politische Haltung, sondern als Ausdruck einer veralteten Amtsauffassung: „Meine Fehler im Schlußwort [des März-Plenums, L. E.] erkläre ich teilweise damit, daß ich zu sehr vom Wunsch ergriffen war, das Moskauer Komitee zu rechtfertigen... Natürlich ist das eine falsche Auffassung von der Autorität des Parteikomitees... Nur wenn man Fehler entschlossen aufdeckt... und sie einer harten Kritik unterwirft,... nur auf der Grundlage bolschwistischer Selbstkritik,... kann man dem Parteikomitee echte Autorität verschaffen."

Angeblich war dieses Mißverständnis schuld daran, daß er es nicht vermocht hatte, sich gegenüber seinen Fehlern auf Anhieb kompromißlos „leninistisch" zu verhalten. Mit der Bezugnahme auf das Schlagwort der „bolschewistischen Selbstkritik" unterstrich Bauman ein weiteres Mal, daß sein Fehlereingeständnis nicht mit der „Kapitulation" der Trotzkisten verglichen werden durfte. Doch die Implikationen des „Kritik-und-Selbstkritik"-Diskurses werden erst das Thema des folgenden Kapitels sein.

Schlußfolgerung Die meisten der in diesem Kapitel untersuchten „bolschewistischen" Schuldbekenntnisse bezogen sich auf einen Kontext der innerparteilichen Willens- und Lagerbildung. Für viele Revolutionäre implizierte politische Willensbildung per se eine Bereitschaft zur Gewaltanwendung. Die Bolschewiki verfügten über keine Tradition der politischen Kultur, die es ihnen ermöglicht hätte, die Sphäre der zivilen, gewaltlosen Stellungnahme gegen diejenige des militanten, bewaffneten Kampfes wirksam abzudichten. Die zu Lenins Zeiten geübte Praxis, herausragende Revolutionäre mit faktischer Immunität auszustatten, wurde weder von diesen noch von jenen jemals zum konstituierenden Prinzip des Parteiaufbaus erklärt. Stalin stieß daher auf wenig Widerstand, als er das Gewohnheitsrecht der Unantastbarkeit innerparteilicher Opponenten außer

Schlußfolgerung

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Kraft setzte. Nicht die Geltung parteirechtlicher Prinzipien, sondern sein revolutionärer Nimbus schützte Lev Trockij vor Parteiausschluß und Verhaftung. Der bislang geschützte Raum der gewaltfreien internen Willensfindung wurde allmählich für Gewaltmaßnahmen geöffnet. Das Zentralkomitee und andere innerparteiliche Abstimmungsgremien wurden dadurch zur kollektiven Geisel degradiert und verkörperten nurmehr idealtypisch denjenigen totalitären „Diskurs", der die Beteiligten auf ihre Rolle als Täter und Opfer gleichermaßen vorbereitete. Als Angehörige der Mehrheitsfraktion befürworteten Rykov und Bucharin im Kampf gegen die trotzkistische Minderheit den Einsatz von Zwangsmitteln. Sobald sie selbst in die Minderheit geraten waren, genügte die Androhung dieser Mittel, um sie zu eiligen Widerrufserklärungen zu veranlassen. Auch wenn die Genossen sich mit ihrem Schuldbekenntnis für Verletzungen des Fraktionsverbots entschuldigten oder sich von „Irrtümern" lossagten, bezog sich diese Handlung nur vordergründig auf disziplinarische und ideologische Dogmen, tatsächlich aber vielmehr auf die Rahmensituation der Geiselnahme - denn wer im Zentralkomitee die Mehrheit befehligte, verfügte auch über das Definitionsmonopol in allen Fragen der Ideologie und der Disziplin. Darüber hinaus wurden manchmal Schuldbekenntnisse auch mit der verständlichen Absicht abgelegt, den Akt des Frontwechsels glaubwürdig zu begründen und die Zweifel an der persönlichen Integrität auszuräumen, die dieser Schritt in beiden Lagern hervorrufen mochte. Die „bolschewistische Tradition" der Schuldbekenntnisse, die nicht älter war als der Prozeß der Geiselnahme, wurde zu diesem Zeitpunkt neu erfunden. Möglicherweise bedarf dieses Phänomen darüber hinaus auch keiner weiteren kulturellen Erklärung, denn in statu nascendi lassen sich ähnliche Verhältnisse auch im Alltag echter demokratischer Entscheidungsmechanismen beobachten. Zwar genießen deutsche Bundestagsabgeordnete als Staatsbürger volle Immunität, stehen aber als Mitglieder ihrer Partei bekanntlich intern unter „Fraktionszwang". Auch ganz ohne polizeiliche Druckmittel gelingt es den Stimmfuhrern bundesdeutscher Parteien erfahrungsgemäß, ihre Fraktion zum einstimmigen Votum zu bewegen - selbst dann, wenn manche Abgeordnete eine ganz andere Entscheidung bevorzugt hätten. Und auch in der bundesdeutschen Politik ist es bereits vereinzelt vorgekommen, daß Parteien und Koalitionsregierungen interne Konflikte mit öffentlichen Fehlereingeständnissen zu bereinigen versuchten. Die ungleich stärkere Verbreitung dieser Praxis im stalinistischen Sowjetrußland erklärt sich vermutlich nicht durch eine typisch russische Neigung zur Selbsterniedrigung, sondern durch die unterschiedlichen Rahmenbedingungen. Im Gegensatz zu westlichen Abgeordneten, die sich gegenüber ihrer Parteiführung allenfalls in einem relativen Abhängigkeitsverhältnis befinden, waren die Bolschewiki letztlich auch im physischen Sinne Gefangene ihres Herrn. Sobald der Prozeß der Geiselnahme abgeschlossen war, lassen sich zwei Entwicklungen im Umgang mit politischen Schuldbekenntnissen erkennen.

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I. Der bolschewistische Abstimmungskörper als kollektive Geisel

Nachdem sie bis dahin vorrangig auf das äußere Stimmverhalten Wert gelegt hatte, begann die Obrigkeit nun, sich als Gesinnungspolizei verstärkt fur das „Innere" der abtrünnigen Untertanen zu interessieren. In der Einzelbetreuung erhielten die Schuldbekenntnisse mitunter einen Sinn, der über die bloße nachträgliche Änderung der Stimmabgabe weit hinausging. Sie drückten dann auch Gefühle „reuiger" Unterwerfung aus und produzierten ein neues, absolut verstandenes Herrschaftsverhältnis. Doch obwohl die freudige, gläubige Akzeptanz des Untertanendaseins in der Parteisprache zur „bolschewistischen" Tugend erklärt wurde, kann dieses ebenfalls nicht auf eine Parteitradition zurückgeführt werden. Auch blieb das Interesse für die „Seele" der Beherrschten in der Praxis recht oberflächlich: Diese hatte ihre Treue und Opferbereitschaft jedenfalls der etablierten Obrigkeit entgegenzubringen, keinesfalls aber einer selbständigen Sicht auf den Marxismus oder den Interessen einer realen Arbeiterklasse. Die Beschreibung der anderen Entwicklung führte bereits über dieses Kapitel hinaus. Diese bestand darin, daß die Fehlereingeständnisse sich - nicht zuletzt unter Einfluß der 1928 beginnenden „Selbstkritik"-Kampagne - aus dem Rahmendiskurs des unruhigen Abstimmungskörpers herauslösten und in denjenigen der feststehenden Befehlspyramide einfügten. Als Karl Bauman 1930 „ehrlich, mutig" und gerade noch rechtzeitig seine Schuld bekannte, präsentierte er sich bereits in der Rolle des loyalen Befehlsempfangers, nicht mehr in deqenigen des stimmberechtigten Politikers. Sein „positives" Fehlereingeständnis war keine Kapitulation mehr, weil er als Stimmbürger längst kapituliert hatte. Jemandem wie ihm konnte es gar nicht mehr einfallen, sich noch 1930 gegen die etablierte Parteiführung aufzulehnen. Die Niederlage der Rechtsabweichler und die Episode um Bauman fielen in eine Übergangsphase, in der dieser Bedeutungswandel von Fehlereingeständnissen sich noch nicht vollständig herauskristallisiert hatte. Daß die Vorgänge um Bauman 1930 später viel milder interpretiert werden würden als diejenigen um Uglanov 1928, war für die Zeitgenossen noch nicht mit Gewißheit vorherzusehen.

II. „Kritik und Selbstkritik": Ursprung und Wirkung eines neuen Schlagworts Einleitung Neben dem Zwang zur Einstimmigkeit war die Aufforderung zur konstruktiven „Selbstkritik" die wichtigste Ursache für die Entstehung der stalinistischen Kultur des Fehlerbekennens. Die 1928 lancierte Losung „Kritik und Selbstkritik" (kritika i samokritikä) trug wesentlich dazu bei, daß auch nach der Zerschlagung aller Oppositionsgruppen und der Ächtung abweichender Meinungen in der Partei und anderen sowjetischen Organisationen die sowjetische Versammlungsöffentlichkeit nicht nur institutionell erhalten blieb, sondern auch weiterhin faktisch als eine Sphäre zur Austragung von Konflikten zur Verfügung stand. Der Ort und Charakter der „Selbstkritik" definierte sich dabei zunächst nicht zuletzt durch die kategorische Abgrenzung vom gleichgeschalteten Abstimmungskörper. Sie setzte den Glauben an die Möglichkeit voraus, einen gesellschaftlichen Kommunikationsraum für Ratschläge, Klagen und Bemerkungen öffnen, die oppositionelle politische Willensbildung zugleich aber verhindern zu können. Nachdem das Regime am Ort der politischen Willensbildung seine Forderung nach einstimmiger Zustimmung zur Generallinie durchgesetzt hatte, verurteilte es nun die Neigung der Parteifunktionäre, jegliche Kritik aus der Öffentlichkeit überhaupt zu verbannen und durch rituelle „Papierbeschlußfasserei" (bumaznostdeklarativnost") und akklamatorische „Halleluja-Gesänge" (allilujscina) zu ersetzen. Die sowjetische Öffentlichkeit sollte so in zwei Sphären unterteilt werden: In die gefährliche, tabuisierte des Abstimmungskörpers, der bei der Verabschiedung politischer Richtlinien eifersüchtig nach Einstimmigkeit strebte, und in die Sphäre der toleranten „Selbstkritik", in der jedermann konstruktive Kritik an der praktischen Durchführung der beschlossenen Maßnahmen artikulieren durfte. Die kritische Kontroverse sollte also nicht abgeschafft, sondern nur eingeschränkt und von einem Ort an den anderen verlegt werden. Noch während das Regime damit befaßt war, Trotzkisten und Rechtsabweichler aus dem eigentlichen Entscheidungsraum gewaltsam hinauszudrängen, ermutigte es bereits die ängstliche Menge der einfachen Parteimitglieder und der parteilosen Arbeiter dazu, das Forum der „selbstkritischen" Öffentlichkeit zu betreten. Die „Selbstkritik" wurde dabei anfänglich aber genausowenig mit Schuldbekenntnissen assoziiert wie der bolschewistische Abstimmungskörper.1

1 Vgl. dazu auch Kharkhordin: The Collective and the Individual in Russia, S. 142-163, vor allem S. 145.

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„Kritik und Selbstkritik": Ursprung u. Wirkung eines neuen Schlagworts

Bevor versucht werden kann, dieses Rätsel aufzuklären und die „Selbstkritik" als eine praktisch wirksame Macht-, Ausgrenzungs- und Disziplinierungstechnik - also als Foucault'schen „Diskurs" - zu beschreiben, soll der erratische, sich häufig widersprechende „Selbstkritik"-Gedanke erst als Diskurs im herkömmlichen Sinn möglichst vollständig nachgezeichnet werden.2 Man könnte diesen Diskurs gleich vorwegnehmend als eine idealistische Verhaltensethik deuten. Vor dieser Folie soll nach konkreten Akteuren gefragt und in Propagandatexten nach versteckten Realitätsbezügen gesucht werden. Erst danach wird die Geschichte der Erfindung und der Verbreitung der „Selbstkritik"-Kampagne nacherzählt. Anschließend soll eine Katalogisierung der gesellschaftlichen Erscheinungsformen versucht werden, die durch die „Selbstkritik"-Propaganda tatsächlich erzeugt wurden - zu diesen gehörten unter anderem auch individuelle Schuldbekenntnisse.

1. „Selbstkritik" als soziale Norm Als abstrakte Idealvorstellung beschrieb die „Selbstkritik"-Propaganda das normative Modell einer neu zu erschließenden Kommunikationssphäre, in welcher die loyalen Bürger ihre Konflikte untereinander und mit den Vertretern des Regimes so austragen sollten, daß gleichzeitig auch die Autorität der Sowjetmacht und der Parteilinie gestärkt würden.3 Im Sinne dieser selbstlosen Partizipation sowjetischer Bürger interessierte sich die „Selbstkritik" zunächst nicht für die Charaktere, Glaubensüberzeugungen und Seelenzustände

2

Diskurs, lateinisch discursus, Hin- und Herlaufen, französisch discours, Rede; englisch, discourse, Rede, Predigt; heißt als Fremdwort im Deutschen soviel wie „methodisch aufgebaute Abhandlung über ein Thema; Gedankenaustausch, Unterhaltung; heftiger Wortstreit, Wortwechsel; die von einem Sprachteilhaber auf der Basis seiner sprachlichen Kompetenz tatsächlich realisierten sprachlichen Äußerungen" (Duden, Das Fremdwörterbuch, Mannheim 1990). 3 Die folgende Zusammenfassung stützt sich im wesentlichen auf folgende Originaltexte: Josef Stalin: Politischer Rechenschaftsbericht des Zentralkomitees vor dem fünfzehnten Parteitag, 3. Dezember 1927 (Werke, Band 10, S. 235-307); Über die Arbeiten des vereinigten April-Plenums des CK und der CKK. Referat in der Versammlung des Aktivs der Moskauer Organisation der VKP(b), 13. April 1928 (Werke, Band 11, S. 26-35); Rede auf dem achten Kongreß des Komsomol, 16. Mai 1928 (Werke, Band 11, S. 63-66); Brief an die Mitglieder des Zirkels zu Fragen des Parteiaufbaus bei der Kommunistischen Akademie. (Band 11, S. 87-90); Gegen die Vulgarisierung der Losung der Selbstkritik (Werke, Band 11, S. 113-122). Ferner: G. Alichanov: Samokritika i vnutripartijnaja demokratija, Leningrad 1928; V. E. Cifrinovic: Za samokritiku, Moskau 1928; Gricmanov: Ο samokritike i aktivizacii partijnoj organizacii Krasnoj Armii, Charkov 1928; Sergej B. Ingulov: Samokritika i praktika ee provedenija, Moskau 1928; S. B. Ingulov. Samokritika ν dejstvii, Moskau 1930; Dmitrij Z. Lebed'\ Proletarskaja demokratija i samokritika, Moskau 1928; C. Lejtejzen: Ο samokritike, Moskau 1928; S. Saturskij: Bol'se samokritiki, Moskau 1928; N. Slepnev: Samokritika ν komsomole. 2-e izdanie, Leningrad 1929.

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von Individuen, sondern für die öffentlichen Angelegenheiten. Es ging um die intensivierte Selbstwahrnehmung der Gesellschaft, deren loyale Mitglieder die Probleme der sowjetische Wirklichkeit aufmerksam betrachten und untereinander das lösungsorientierte Gespräch suchen sollten. Es wurde unterstellt, daß zwischen den präsumtiven Teilnehmern dieser Öffentlichkeit objektive, antagonistische Klassengegensätze im marxistischen Sinn nicht mehr existierten und daher - „maskierte Schädlinge" stets ausgenommen grundsätzlich alle am gleichen Strang zogen. Da aber, wie man annahm, auch innerhalb der sozialistischen Willensgemeinschaft ein kapitalistisch ererbtes Bewußtseinsgefalle fortbestand, wollte man die Träger des fortgeschrittenen, proletarischen Bewußtseins dazu ermutigen, mit ihrer Kritik auf kulturell rückständige, bäuerlich, kleinbürgerlich oder kapitalistisch geprägte Mitmenschen erzieherisch einzuwirken. Kritik an bestehenden Mißständen sollte sich dabei nicht auf die Durchsetzung von spezifischen Arbeiterinteressen beschränken, sondern auf den allgemeinen Fortschritt hinwirken. Im Kampf gegen den „Bürokratismus" war die „Selbstkritik" ein Teil der von Sheila Fitzpatrik beschriebenen „Kulturrevolution".4 Die Propaganda gab zu, daß die Auseinandersetzung mit einer autoritätsgebietenden, mental rückständigen und teilweise sogar von „maskierten Feinden" durchsetzten Obrigkeit in der Praxis gefährlich werden konnte, appellierte aber an den selbstlosen Idealismus und die Zivilcourage der loyalen Sowjetbürger und Kommunisten. Anstatt jedem Druck auszuweichen, sollten sie darauf vertrauen, daß die gute Sache zu ihrem Recht finden werde. Idealerweise konnte man sich den Ablauf der „schöpferischen Selbstkritik" also etwa folgendermaßen vorstellen: Die loyale Bevölkerung, insbesondere Arbeiter und Parteimitglieder, üben in Betriebs- und Parteiversammlungen offen Kritik an konkreten Mißständen und am konkreten Mißverhalten bestimmter Funktionäre, welche daraufhin keinesfalls beleidigt, sondern sachlich und konstruktiv reagieren. Gemeinsam mit den Kritikern erarbeiten sie einen konkreten Maßnahmenkatalog zur Beseitigung dieser Mißstände und sorgen für die praktische Durchführung. Da die Durchführung der Selbstkritik zugleich aber auch eine wirksame Methode zur Entlarvung aller unverbesserlichen Bürokraten oder „maskierten Feinde" und deren Entfernung aus dem Apparat sein sollte, würden auch alle „Mißstände" und „krankhaften Erscheinungen" aus der sozialistischen Gesellschaft nach und nach verschwinden. Gerade weil die „Selbstkritik" in der vorgestellten idealen Form niemals zu einer verbreiteten gesellschaftlichen Praxis werden konnte, leistete der mit ihr verbundene moralische Anspruch einen wesentlichen Beitrag zur Etablierung eines panoptischen Systems der Selbstüberwachung im „Stalinismus". 4

Vgl. hierzu Nikolaj Bucharin: Kul'turnye zadaci i bor'ba s bjurokratizmom, in: Revoljucija i kul'tura, 1927, Nr. 2, S. 5-12. Zitiert nach: Nikolaj Bucharin: Problemy teorii i praktiki socializma, Moskau 1989, S. 181-188.

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„Kritik und Selbstkritik": Ursprung u. Wirkung eines neuen Schlagworts

Stalinistisch daran war nicht die Aufforderung zur Zivilcourage, sondern die Forderung nach etwas Unerfüllbarem. Das Regime hatte sich geschickt die Möglichkeit geschaffen, sämtliche vorhandenen und angeblichen Mißstände mit der „Abwesenheit von Selbstkritik" im jeweiligen Umfeld zu erklären und damit jede Verantwortung auf die unmittelbar Beteiligten abzuwälzen. Der eigentlich wirksame samokritika-Diskurs bestand somit im Widerspruch, den er erzeugte: Weder konnte der Zeitgenosse dem moralischen Ideal der selbstlosen „Selbstkritik" in der Praxis vollauf entsprechen, noch konnte er in jedem Fall wissen, wie er die Aufforderung zur „Kritik" im konkreten Einzelfall mit den verbindlichen Postulaten der Ideologie in Einklang bringen sollte. In diesem Dilemma verdient die Frage nach dem Akteur der „Selbstkritik" besondere Beachtung. Die Propaganda vermied es bezeichnenderweise, diese Rolle einer bestimmten Gruppe zuzuweisen.5 Wer als Protagonist der „Selbstkritik" auftreten wollte, wußte zwar, daß er von seiner Umgebung mehr Kritik, Kontrolle und Konkurrenz einfordern durfte, mußte diese abstrakten Forderungen aber auch an die konkrete Situation anpassen. Wer konnte sich schon ein sicheres Urteil darüber zutrauen, welcher Zustand als „Mißstand" und welcher Funktionsträger als „Schädling" denunziert werden mußte? In der Praxis verflachte der hehre Anspruch rasch zu einem rhetorischen Imperativ, der von den unterschiedlichen Akteuren situationsbedingt zu unterschiedlichen Zwekken instrumentalisiert werden konnte. Von Anfang an litt die „Selbstkritik" am notorischen Zielkonflikt zwischen prophylaktischer Kontrolle und wütender Eskalation. Funktionäre etwa konnten den Imperativ dazu benutzen, die Verhältnisse in ihrem Verantwortungsbereich genauer zu durchleuchten, während ehrgeizige Aktivisten häufig versuchten, mit einer scharfen „Kritik von unten" die Absetzung mutmaßlicher „Bürokraten", „Opportunisten" oder „Schädlinge" zu erreichen. Zunächst mußten die Akteure allerdings die Sprache der „Selbstkritik" richtig beherrschen. Doch da vor 1928 kaum ein Sowjetbürger von der „Selbstkritik" gehört hatte, litt der sowjetische Sprachraum anfangs unter einem steilen Gefälle an Sprachkompetenz. Weil die „Selbstkritik"-Sprache als komplexer Diskurs vielen Begriffen und Wendungen zusätzliche, weit über 1937 hinaus wirksame Konnotationen verlieh, soll sie hier etwas genauer betrachtet werden. Wie bereits hervorgehoben, bezog sich das Wort „Selbstkritik" anfangs nicht auf das Verhältnis des Einzelnen zum Kollektiv. Die Begriffe „Kritik" und 5

Auch in der fiktiven Welt des Romans konnte die Schriftstellerin Marietta Saginjan dieses Problem nicht überzeugend lösen. In „Das Wasserkraftwerk" ist es die positve Hauptfigur, die im Betrieb die „Selbstkritik" verbreitet. Allerdings ähnelt sie weder einem Arbeiter noch einem Funktionär, sondern mehr einem wandernden Heiligen, der aus dem Ungewissen plötzlich auftaucht und seine Weisheit vorübergehend selbstlos in den Dienst der armenischen Wasser- und Stromversorgung stellt. Marietta Schaginjan: Das Wasserkraftwerk, Berlin 1952.

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„Selbstkritik" sollten tatsächlich völlig synonym verwendet werden.6 Die Vorsilbe „selbst" bezog sich nicht auf das kritisierende Individuum, sondern auf die gesamte loyale Sowjetgesellschaft. Sie unterschied lediglich die nützliche „Selbstkritik" von der schädlichen Fremd-Kritik der konterrevolutionären Klassenfeinde. Der neue Begriff,,Selbstkritik" setzte sich auch erst allmählich gegen konkurrierende Begriffe wie „Kritik", „gesellschaftliche Kritik" {obscestvennoj α kritika),7 „gegenseitige Kritik" (vzaimnaja kritikaf und „Kritik von unten" {kritika snizu)9 durch, ohne sie vollständig zu verdrängen. Die „Selbstkritik" unterschied sich von diesen Begriffen nicht zuletzt dadurch, daß sie zur „Losung" erhoben wurde. Der Gestus der „Selbstkritik" lag in der Aufhebung bestehender Grenzen. Der Rangunterschied zwischen Parteimitgliedern und Parteilosen wurde für bedeutungslos erklärt, die Legitimation etablierter Hierarchien scheinbar in Frage gestellt. Die „Selbstkritik" sollte „proletarisch" sein. Sie erfaßte die breiten Massen (massovaja samokritika) und wurde dadurch selbst immer „breiter" (sirocajsaja samokritika). Im Kampf mit dem Bürokratismus war sie „schonungslos" (besposcadnaja), im Kampf mit den eigenen Fehlern war sie „kameradschaftlich" (tovarisceskaja), „mutig" (muzestvennaja) und „ehrlich" (icestnaja). Wenn sie nach Verbesserungen strebte, war sie „sachlich" (delovaja) und „schöpferisch" (tvorceskaja). Leider war sie nicht immer „lebendig" (zivaja), sondern manchmal auch nur eine „Papierformalität" (bumaznaja samokritika). Die „Selbstkritik" umrankte sich mit Metaphern, die ihren dynamischen, ungebundenen Charakter unterstrichen: Wie eine „Welle" oder ein „Feuer" war die „Selbstkritik" immer dabei, sich in alle Richtungen auszudehnen.10 Sie war aber auch eine „Waffe" (oruzie samokritiki). Die Mißstände wurden von ihrem „Artilleriefeuer" „unter Beschüß genommen" (pod obstrel kritiki, pod ognem obscestvennoj kritiki). Kaganovic sprach auch vom „Knüppel der Selbstkritik" (palka samokritiki), mit welchem die Partei auf die Mißstände 6

Allerdings mußte schon Ingulov in seinem Referat auf der CK-Beratung daraufhinweisen, daß jegliche „Kritik in unserer sowjetischen Presse zugleich auch Selbstkritik" war und daß in diesem Sinne eine „Unterteilung der kritischen Enthüllungsarbeit (razoblacatel'nokriticeskoj raboty) in Kritik und Selbstkritik nicht ganz richtig" sein konnte. Daß „Kritik" und „Selbstkritik" völlig synonym gebraucht werden sollten, begriffen also viele schon damals nicht. Vgl. Ol'chovyj: ZadaCi agitacii propagandy i kul'tumogo stroitel'stva. Materialy agitpropsoveScanija pri CK VKP(b). Maj-Ijun' 1928 g., Moskau 1928, S. 208. 7 Wie bereits erwähnt, führte die Torgovo-promyslennaja gazeta zu Jahresbeginn 1928 die Rubrik „Unter dem Feuer der gesellschaftlichen Kritik" (pod ogon' obscestvennoj kritiki) ein. 8 Vgl. z.B. den Bericht über das Plenum des VSNCh im März 1928. Torgovo-promyslennaja gazeta, 4.3.1928, S. 3. 9 Vgl. Stalins Rede vom 16. Mai vor den Komsomol-Funktionären (Pravda, 17.5.1928) oder die oben erwähnte Notiz, die er am 14. Mai für sich selbst anfertigte (RGASPI f. 558, op. 11, d. 27,1. 3): Dort war sogar von „Kontrolle von unten" (kontrol'snizu) die Rede gewesen. 10 Jakovlev. Kak lomali NEP, Tom 1, S. 232.

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„Kritik und Selbstkritik": Ursprung u. Wirkung eines neuen Schlagworts

„einschlagen" sollte." Kirov nannte die „Selbstkritik" eine „Lampe" (fonar' samokritiki), die helfen sollte, die Mißstände besser zu erkennen.12 Wie Stalin den CK-Mitgliedern auf dem April-Plenum erklärte, funktionierte die „Selbstkritik" als „Ventil" (klapan samokritiki), das den unzufriedenen Massen erlauben sollte, Dampf abzulassen.13 Aus einsichtigen Gründen wurde diese Metapher von der Propaganda nur selten aufgegriffen. Die „Selbstkritik" dehnte sich in die Breite, aber sie wirkte in der Höhendimension „von unten nach oben" und von „oben nach unten". Die Selbstverständlichkeit, mit der die Propagandasprache stets die Herrschaft einer „Leitung" über die „Massen" voraussetzte, lief ihrem vorgeblichen Anliegen dabei jedoch zuwider. Die besonders spannende Frage nach dem Subjekt der „Selbstkritik" blieb auch auf sprachlicher Ebene weitgehend unbeantwortet. Zwar hatte die Propaganda keine Schwierigkeiten, die „Mißstände" und ihre Verursacher als das „Objekt der Selbstkritik" (ob 'ekt samokritiki) zu bestimmen. Um zu sagen, wer mit der „Selbstkritik" was tun sollte, griff die Parteisprache auf die inflationär gebrauchten Verben „organisieren" (organizovat' samokritiku) und „durchführen" (provodit'samokritiku) zurück.14 Ironischerweise war es oft sogar die „Losung", die „durchgeführt" wurde (provodit'lozung samokritiki).'5 Diese transitiven Verben, die die „Selbstkritik" unnachgiebig als Objekt in den Akkusativ verbannten und ein weiteres Mal nach dem handelnden Subjekt fragten, welches denn nun die „Selbstkritik durchführen" sollte, dementierten die Vorstellungen, daß die „Selbstkritik" etwas anderes war als ein Maßnahmenpaket oder daß sie sich ganz spontan „von selbst" oder gar „von unten nach oben" entfalten könnte. Paradoxerweise liefen die Resolutionen des Zentralkomitees und die Stellungnahmen Stalins also darauf hinaus, daß die zentrale Parteiführung die mittlere Parteibürokratie dazu aufforderte, die „proletarischen Massen" dazu zu veranlassen, genau diejenigen „Mißstände" zu kritisieren, an denen eben dieselbe mittlere Parteibürokratie nicht ganz unschuldig sein konnte. Waren Subjekt und Objekt der „Selbstkritik" also nicht letztlich identisch? Um von diesem Verdacht abzulenken, wurden von den drei beteiligten Gruppen (der Parteiführung, mittleren Bürokratie und den „Massen") meistens nur zwei explizit genannt, die „proletarische Basis" und die „Partei". Wenn die mittlere Bürokratie von Staat, Partei und Gewerkschaft als Subjekt der „Selbstkritik" genannt wurde, dann immer nur im negativen 11

Izvestija, 1.11.1929, S. 3. Kirov. Izbrannye stat'i i reci, Moskau 1944, S. 97. 13 Jakovlev'. Kak lomali NEP. Τ. 1, S. 232. 14 Die Begriffe „Selbstkritik üben" und „sich der Selbstkritik unterwerfen" (zanimat'sja samokritikoj/podvergat'sja samokritike) kamen in den offiziellen Texten so gut wie nicht vor und erlangten erst in den dreißiger Jahren einige Verbreitung, insbesondere unter den Ausländern der Komintern. 15 Jakovlev: Kak lomali NEP, Tom 1, S. 405. 12

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Sinne, als eine Kraft, die - im Gegensatz zu „der Partei" insgesamt - die „Selbstkritik" am liebsten „unterdrücken" oder „ersticken" möchte. Daß die aktive Mitwirkung der mittleren Parteibürokratie aber eine Voraussetzung für die erfolgreiche „Durchführung der Selbstkritik" sein mußte, verstand sich nichtsdestoweniger von selbst. Alle maßgeblichen Parteibeschlüsse richteten sich wie auch Stalins Reden unmittelbar an die Masse der Parteifunktionäre. Stalin sprach in der ersten Person seine Parteifunktionäre in der zweiten Person an, als er ihnen erklärte, weshalb die Kritik der „Masse" (die abwesende dritte Person) nicht immer „zu 100 Prozent richtig" sein müsse. „Wenn ihr von ihnen [den Proletariern, L. E.] eine zu 100 Prozent richtige Kritik verlangt, dann vernichtet ihr damit die Möglichkeit jeglicher Kritik von unten, die Möglichkeit jeglicher .Selbstkritik'. Deshalb denke ich, daß man auch eine nur zu fünf bis zehn Prozent richtige Kritik begrüßen, sie aufmerksam anhören und ihren gesunden Kern respektieren muß."16

Stalin setzte als selbstverständlich voraus, daß zwischen seinen Zuhörern (den Mitgliedern des Moskauer Parteiaktivs) und den „proletarischen Massen" ein hierarchisches Verhältnis bestand, das ersteren das Recht und die Kompetenz einräumte, in den Äußerungen der letzteren bis auf die Prozentzahl genau das „Richtige" vom Unrichtigen zu unterscheiden und festzustellen, worin der „gesunde Kern" in der Kritik lag. Er scheute sich auch nicht, vor diesem Publikum die Arbeiter zu infantilisieren: „Ihr müßt wissen, daß die Arbeiter sich manchmal davor fürchten, die Wahrheit über unsere Fehler zu sagen. Sie fürchten sich nicht nur, daß man ihnen dafür einen Verweis erteilen, sondern auch davor, daß man sie für ihre unvollkommene Kritik ,auslachen* könnte."

Wie unmündige Kinder waren die Arbeiter zur Artikulation ihrer eigenen Interessen nicht fähig und blieben deswegen auf das „elterliche Verständnis" der Obrigkeit angewiesen. Solche Bemerkungen konnten als stilles Versprechen aufgefaßt werden, daß sich an den Machtverhältnissen auch durch die „Selbstkritik" nichts Wesentliches ändern würde.17

16

Jakovlev: Kak lomali NEP. Τ. 1, S. 303-304. " Der Parteitheoretiker Slepkov ergänzte diese Äußerung Stalins mit eindeutigeren Hinweisen an die Funktionäre, wie sie mit der Arbeiterkritik verfahren sollten. Er sprach dabei in der ersten Person Plural, sozusagen als Funktionär zu anderen Funktionären: „Es versteht sich von selbst, daß unsere Einwirkung (vozdejstvie) auf den Charakter der Kritik nicht ausgeschlossen ist, auf die Ausarbeitung (oformlenie) einer richtigen, uns nützlichen Kritik. Bei der Durchführung der Selbstkritik müssen die Parteiorganisationen vor allem mit der nötigen Eindeutigkeit herausstellen, welche Selbstkritik' wir nicht brauchen und schädlich ist." Ο lozunge samokritiki, in: Bol'sevik, 1928, Nr. 10, S. 5 [Hervorhebung L. E.]. Der Artikel erschien ohne Namensnennung. Als Molotov sich kurz darauf im Namen der Parteiführung von ihm distanzierte, enthüllte er zugleich, daß Slepkov der Autor war. Vgl. VKP(b): Cetvertyj plenum MK VKP(b). 29 ijunija-2 ijulja 1928, S. 98-100. Vgl. auch Stalins Rede an die Komsomolzen vom 16. Mai 1928, in: Stalin: Werke, Band 11, S. 87-90.

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2. Die Geburt der „Selbstkritik" aus dem Geist der Wandzeitung Das Schlagwort „Selbstkritik" war 1928 für die sowjetischen Zeitgenossen tatsächlich noch völlig neu. Im Zusammenhang mit der anstehenden Kampagne gebrauchte es Stalin zum ersten Mal im Dezember 1927 auf dem fünfzehnten Parteitag. Allerdings knüpfte die „Selbstkritik" an die Tradition anderer sowjetischer Einrichtungen und bolschewistischer Denkweisen an, die im folgenden Abschnitt kurz vorgestellt und von erfundenen Traditionen abgrenzt werden sollen. Entgegen einer verbreiteten Auffassung entwickelte sich die „Selbstkritik" nicht aus einem traditionellen Parteiritual, sondern aus den praktischen Formen des Kontroll- und Beschwerdewesens, wie sie sich im sowjetischen Betriebsleben herausgebildet hatten. Neben der mitunter kritischen Berichterstattung von Journalisten und Arbeiter- und Bauernkorrespondenten in Tages- und Wandzeitungen gehörten dazu beispielsweise die großen Betriebsversammlungen und die Tätigkeit der „Arbeiter-Kontrollkommissionen". Wie diese Einrichtungen zielte auch die spätere „Selbstkritik"-Kampagne zunächst darauf ab, das Protestpotential der grundsätzlich loyalen, aber oftmals unzufriedenen Bevölkerung in den kontrollierbaren Kommunikationsraum zu reintegrieren. Im zentralen Parteiapparat wie auch bei Parteiaktivisten im Umfeld der Gewerkschaften, der Arbeiter-und-Bauern-Inspektion (NK RKI) und der Presse, die mit der Situation an der Basis vertraut waren, äußerte sich seit 1927 eine verstärkte Bereitschaft, der „berechtigten Kritik" von Werktätigen an „bürokratischen Mißständen" ein Ventil zu öffnen. Das CKK-Plenum im Februar 1927 forderte die Presse auf, der Arbeiterkritik an Mißständen Aufmerksamkeit zu schenken, und der Gewerkschaftskongreß erklärte im März seine Absicht, die „Kritik von unten" gegen den „Bürokratismus" zu fördern.18 Im April forderte das Zentralkomitee eine verstärkte Zusammenarbeit der Arbeiter-und-Bauern-Inspektion mit der Presse (die verstärkt über die Mißstände berichten sollte, welche die Inspektion regelmäßig aufdeckte), und im Mai erteilte die Regierung der Inspektion sogar das Recht, staatlichen Organen Weisungen zu erteilen.19 Sergo Ordzonikidze, damals Chef der Arbeiter-und-Bauern-Inspektion, ließ sich im Herbst 1927 von Journalisten und Parteipropagandisten Vorschläge unterbreiten, wie die Kontrollinstanzen besser mit der Presse zusammenarbeiten könnten.20 Der Redakteur T. S. Kostrov wies ihn darauf hin, daß Journalisten starkem Druck ausgesetzt seien und daher auf kritische Berichterstattung ger18

Vgl. Ingulov. Partija i pecat', Moskau 1927, S. 158. Viktor P. Portnov, Dmitrij V. Jakusev. Rabkrin i bor'ba s bjurokratizmom, Moskau 1989, S. 27. 20 Vgl. Zapiska Kostrova i predlozenija gazety „Komsomol'skoj pravdy" po voprosu ob uöastii ν bor'be s bjurokratizmom, napravlennye Sergo Ordzonikidze. Nojabr' 1927. RGASPI f. 85, op. 27, d. 286. Vgl. auch den Brief V. G. Fejgins an Ordzonikidze vom Ok19

2. Die Geburt der „Selbstkritik" aus dem Geist der Wandzeitung

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ne verzichteten.21 Er bemängelte, daß Redakteure zwar häufig wegen der Verbreitung ungenauer Informationen, aber niemals wegen ihrer „Unfähigkeit, mit dem Bürokratismus zu kämpfen", zur Verantwortung gezogen würden. Schließlich erlaubte sich Kostrov sogar noch folgende Bemerkung, obwohl sie „mit der Presse nichts zu tun" hatte: „Das Problem des Kampfes mit dem Bürokratismus ist letzten Endes das Problem der Entfaltung der sowjetischen Demokratie. Hier gibt es bei uns zwei schwache Glieder: Den Sowjet mit seinen Abteilungen und die Arbeiterdemokratie in der Fabrik."

Kostrov bemängelte, daß die Gewerkschaftskomitees in der letzten Zeit gegenüber der Betriebsleitung so stark an Einfluß verloren hätten, daß die Arbeiter es vorzögen, sich mit ihren Problemen lieber gleich an letztere zu wenden. Im Herbst 1927 scheint unter Propagandaverantwortlichen und im Umfeld Ordzonikidzes die Meinung weit verbreitet gewesen zu sein, daß die Kontrollorgane, die Presse und die Gewerkschaft alle unter dem Begriff „Bürokratismus" zusammengefaßten Mißstände massenwirksam bekämpfen und dabei die Arbeiter in irgendeiner Form miteinbeziehen sollten. Besonders deutlich kommt die Kontinuität dieser Ansätze mit der späteren „Selbstkritik"-Kampagne in der Publizistik des Journalisten Sergej Ingulov zum Ausdruck. In seinem 1927 verfaßten Buch „Partija i pecat'" 22 stellte er bereits die komplette Argumentationslinie vor, die wenige Monate später - nicht zuletzt von ihm selbst - landesweit zur Erläuterung der „Selbstkritik" verbreitet wurde. Zukunftsweisend daran war sein Entwurf einer kritischen Presseberichterstattung, die sich nicht im Sinne der liberalen Pressefreiheit als „unabhängig", sondern als Impulsgeber einer komplexen „proletarischen Öffentlichkeit" verstehen sollte: „Besonders viel Verantwortung trägt die Presse im Kampf gegen den Bürokratismus und für die Rationalisierung des Staatsapparates und im Kampf für die Wirtschaft. Die Direktiven ... fordern von ihr die entschiedendste Aufdeckung von Mißwirtschaft, Verschwendungssucht, und anderer Vergehen verantwortlicher Persönlichkeiten ,unabhängig von ihrem Rang' ... Im Kampf gegen verschiedene Übel im gesellschaftlichen Organismus ist das beste Mittel vor allem die Öffentlichkeit (obscestvennost") - die Massenkontrolle, die Transparenz (glasnost"), breite Kritik und Selbstkritik (kritika i samokritika). Die proletarisch-bäuerliche Öffentlichkeit ist unter diesen Bedingungen die nötige Basis für die staatliche Kontrolle. Dadurch erklärt sich das Streben der Parteikontrollkommissionen und der Organe der Arbeiter-und-Bauern-Inspektion, eine engste Verbindung mit der Presse und insbesondere mit den Arbeiter-und-Bauern-Korrespondenten herzustellen."23

Als Ingulov hier von „Kritik und Selbstkritik" sprach, konnte er noch nicht ahnen, daß dieser Begriff wenige Monate später die Parteiöffentlichkeit als

tober 1927, in: Oleg Chlevnjuk(Red.): Bol'äevistskoe rukovodstvo. Perepiska. 1912-1927, Moskau 1996, S. 354-357. 21 RGASPI f. 85, op. 27, d. 286,1. 3 ^ . 22 Das Vorwort trägt die Unterschrift Ingulovs mit der Datumsangabe 24. Oktober 1927. 23 Ingulov, Partija i pecat', S. 158.

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S c h l a g w o r t beherrschen würde. Z u k u n f t s w e i s e n d w a r auch I n g u l o v s g e s e l l schaftspolitische A u f f a s s u n g v o n der Öffentlichkeit als e i n e m „Mittel", also e i n e m frei handhabbaren p o l i t i s c h e n Instrument. I h m z u f o l g e konnte die Presse W e s e n t l i c h e s dazu beitragen, d i e s e s Instrument i m Sinne des R e g i m e s z u gebrauchen: „.. .unter den jetzigen Bedingungen, wo die Aktivität der Massen (aktivnost' mass) begann, über alle Kanäle der sowjetischen Öffentlichkeit zu fließen, ist es wichtig, diese Aktivität in die Richtung der wesentlichen Bestrebungen der Partei zu lenken: Die Festigung der Diktatur des Proletariats, die Festigung der proletarischen Staatlichkeit, die Herstellung einer vernünftigen Wirtschaftsführung, die Gesundung der staatlichen und gesellschaftlichen Strukturen." 24 Vermutlich e n t s c h l o ß sich Stalin i m Herbst 1927, die in d e n Agitations- u n d Presseabteilungen d e s Zentralkomitees gärenden „Selbstkritik"-Ideen aufzugreifen, sobald er die linke Opposition aus der Partei a u s g e s c h l o s s e n haben würde. D i e s m a g i h m u m s o naheliegender erschienen sein, als er selbst s c h o n e i n i g e Jahre zuvor ähnliche G e d a n k e n geäußert hatte. S e i n e e i g e n e Leistung könnte darin bestanden haben, daß er sich die „Selbstkritik"-Kampagne i m G e g e n s a t z z u I n g u l o v nicht nur als e i n e Presseaufgabe, sondern als g e s a m t g e s e l l s c h a f t l i c h e s Projekt vorstellte. In der ö f f e n t l i c h e n Wahrnehmung wurd e die „Selbstkritik" allerdings n o c h lange mit kritischer Berichterstattung in Wand- und L o k a l z e i t u n g e n assoziiert. In der politischen Publizistik Stalins hatte der B e g r i f f „Selbstkritik" s c h o n u m 1 9 2 4 erste Konturen a n g e n o m m e n . In seiner Broschüre „Über die Grundlagen d e s L e n i n i s m u s " b e z e i c h n e t e er damit die n o t w e n d i g e Kritik Lenins an der europäischen Sozialdemokratie und der Z w e i t e n Sozialistischen Interna-

24

Ingulov. Partija i pecat', S. 159. Es spricht manches dafür, daß der 1893 geborene Sergej Borisovii Ingulov Erfinder der „Selbstkritik"-Kampagne war. Er arbeitete seit Anfang der zwanziger Jahre im zentralen Parteiapparat, wo er sich mit Fragen der Propaganda und der Pressearbeit befaßte. Schon 1923 war er ins Blickfeld Stalins geraten, der damals einige Ansichten Ingulovs allerdings ausdrücklich rügte. Vgl. Stalin·. Werke, Band 5, S. 246-249 und S. 250-245. Als das CK im Frühjahr 1928 eine Art Kolloquium zu Fragen der Agitation und Propaganda veranstaltete, hielt Ingulov ein Referat „über die Aufgaben der Presse in Verbindung mit der Losung der Selbstkritik". Dabei wiederholte er die wesentlichen Thesen seines Buches „Partija i pecat'". Im gleichen Jahr avancierte er vom Leiter des Pressebüros der CK-Abteilung fur Agitation und Propaganda zu ihrem stellvertretenden Leiter. Innerhalb kurzer Zeit erschienen von ihm zwei Bücher speziell über die „Selbstkritik". 1935 wurde er Leiter der Zensurbehörde Glavlit, ehe er 1938 verhaftet und erschossen wurde. Über Ingulovs Biographie gibt es darüber hinaus kaum gesicherte Erkenntnisse. Vgl. BSE, Moskau 1937, Tom 28, S. 64; Abdurakhman Avtorkhanov: Stalin and the Soviet Communist Party. A Study in Technology of Power, London 1959, S. 186-189; Τ. M. Gorjaeva (Red.): Istorija sovetskoj politiceskoj cenzury. Dokumenty i kommentarii, Moskau 1997, S. 66-67, 72-75, 82, 308, 518. Arien V. Bljum: Sovetskaja cenzura ν epochu total'nogo terrora 1929-1953, Sankt-Petersburg 2000, S. 1 9 , 4 7 ^ 8 , 58, 253.

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tionalen. 25 „Selbstkritik" in diesem Sinn war zunächst ein Protest g e g e n den faulen Kompromiß und die falsche Harmonie: „Statt die Partei anhand ihrer eigenen Fehler zu erziehen und sie eine richtige revolutionäre Taktik zu lehren, wurden brennende Fragen geflissentlich umgangen, vertuscht und verkleistert. Um den Schein zu wahren, war man natürlich nicht abgeneigt, über heikle Fragen auch mal zu reden, aber nur, um die Sache mit irgendeiner ,Kautschuk'-Resolution abzutun."26 Realistischerweise sollten die „proletarischen Parteien" anerkennen, daß ihr regelmäßig politische Fehler unterliefen. Lenin habe schon 1904 daraufhingewiesen, daß die Partei sich nicht durch die Befürchtung einschüchtern lassen solle, der politische Gegner könnte die „Selbstkritik" ausnützen. 27 D o c h nicht nur der politische Kurs des revolutionären Weltproletariats, sondern auch die sowjetische Herrschaftspraxis bedurfte der kontinuierlichen Korrektur. Stalin betrachtete die „Selbstkritik" nicht als innerparteiliche Angelegenheit, die Außenstehende nichts anging. In der Landwirtschaftspolitik war sie vielmehr ein Mittel, die Verbindung der Sowjetmacht mit der Bevölkerung aufrechtzuerhalten und gewaltsamen Aufständen entgegenzuwirken: „Wie sich zeigt, gibt es Kommunisten, die die Kritik furchten und die Mängel unserer Arbeit nicht aufdecken wollen. Das ist gefährlich, Genossen... Die Furcht vor Selbstkritik oder vor der Kritik durch Parteilose ist jetzt die gefährlichste Krankheit. Denn eins von beiden: Entweder kritisieren wir uns selbst und lassen die Parteilosen unsere Arbeit kritisieren - dann werden wir hoffen können, daß unsere Arbeit auf dem Lande voranschreitet; oder wir lassen eine solche Kritik nicht zu - und dann werden wir von den Ereignissen kritisiert, Ereignissen von der Art der Aufstände in Kronstadt, in Tambov, in Georgien.... Daher dürfen wir Kritik nicht fürchten, weder von Seiten der Parteimitglieder und erst recht nicht von Seiten der Parteilosen."28 Wenn die „Selbstkritik" eine alte Parteitradition sein sollte, dann mußte auch erklärt werden, warum so viele Genossen bislang noch nie etwas v o n ihr gehört hatten. D i e Parteizeitschrift „Bol'sevik" versuchte dies mit dem Hinw e i s auf die Schwierigkeiten der politischen Lage, auf die Auseinanderset-

25 Im April 1924 hielt Stalin an der Kommunistischen Sverdlov-Universität eine Reihe von Vorlesungen „Über die Grundlagen des Leninismus", die zuerst in der „Pravda" und kurz darauf als Broschüre veröffentlicht wurden. Vgl. Stalin: Werke, Band 6, S. 62-166. 26 Stalin: Werke, Band 6, S. 72. Vgl. auch die folgenden Passagen bis S. 77. 27 Stalin zitierte aus Lenins „Ein Schritt vor, zwei Schritte zurück": „Sie feixen und sind schadenfroh über unsere Streitigkeiten... Die russischen Sozialdemokraten haben bereits genügend im Kugelregen der Schlachten gestanden, um sich durch diese Nadelstiche nicht beirren zu lassen, um dessen ungeachtet ihre Arbeit - Selbstkritik und rücksichtslose Enthüllung der eigenen Mängel - fortzusetzen, die durch das Wachstum der Arbeiterbewegung unbedingt und unvermeidlich ihre Überwindung finden werden." Stalin: Werke, Band 6, S. 78 bzw. Lenin: Socinenija. 4-e izdanie, T. 7, S. 190. 28 Über die Aufgaben der Partei auf dem Lande. Rede auf dem Plenum des CK der RKP(b). 26. Oktober 1924, in: Stalin: Werke, Band 6, S. 280-286, Zitat S. 286. Vgl. auch die Stalins Rede in der Beratung der Dorfzellensekretäre beim Zentralkomitee am 22. Oktober 1924, in der Stalin sich ähnlich äußerte. Ebenda, S. 270-279.

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zung mit anderen politischen Kräften und auf die Opposition, die das schon immer existierende „grundlegende Prinzip der innerparteilichen Demokratie" bislang daran gehindert hätten, sich frei zu entfalten: „Es muß ... die Tatsache festgehalten werden, daß im Kampf mit der Opposition, im Kampf mit dem zersetzenden Pessimismus und der menschewistischen .Prognose' der neuen Renegaten die Partei gezwungen war, sich diesen zersetzenden Tendenzen fest entgegenzustellen und unsere positiven Ergebnisse herauszustellen. Nachdem sie mit der Opposition Schluß gemacht hat, muß die Partei ihre Aufmerksamkeit auf die inneren Mißstände ... richten." 29

Wurde zu Stalins Lebzeiten der Sinn der „Selbstkritik" etwa zu gleichen Teilen mit Lenin- und Stalinzitaten bewiesen, so verschwieg man später die keineswegs geheimen Umstände und den Zeitpunkt ihrer Erfindung so konsequent, daß sich auch im Westen der Irrtum durchsetzen konnte, die „Selbstkritik" habe seit Anbeginn untrennbar zum „.Wesen des Bolschewismus" gehört. Allerdings waren auch die Sachregister in den parteioffiziellen Ausgaben der kanonisierten Parteitexte nicht geeignet, die Geschichtsklitterung durchschaubar zu machen. Unter dem Stichwort „Kritik und Selbstkritik" vermerkten sie zahlreiche Stellen in den Werken von Marx und Lenin, an denen aber tatsächlich nicht von „Selbstkritik", sondern nur von innerparteilicher „Kritik" die Rede war und deren Sinn sich auf althergebrachte und von niemandem je bestrittene Gemeinplätze beschränkte: Daß Selbsterkenntnis der erste Schritt zur Besserung sei, daß niemand vor Irrtümern gefeit sei, daß man aus seinen Fehlern lernen müsse, daß vorhandene Mißstände innerhalb der Partei mutig kritisiert werden müßten und dergleichen mehr. Die offizielle Parteihistorie erkannte in diesem rhetorischen Argument rückwirkend ein „dialektisches Prinzip", das die revolutionäre Theorie und Praxis der Arbeiterbewegung seit jeher durchdrungen habe.30 Die zudem übliche Verwechslung der „Selbstkritik" mit den Reuebekenntnissen der Oppositionellen trug zur Verwirrung bei, die vielerorts bis heute andauert. Schon allein der Nachdruck, mit dem die 29

Bol'sevik, 1928, Nr. 10, S. 5-6. Vgl. auch die Ausführungen Stalins während und nach dem April-Plenum: „Die Losung der Selbstkritik hat nach dem fünfzehnten Parteitag eine besonders starke Verbreitung erhalten. Warum? Weil nach dem fünfzehnten Parteitag, auf dem die Opposition liquidiert wurde, in der Partei eine neue Situation entstanden ist... Wir ... brauchen die Selbstkritik - nicht jene gehässige und im Grunde genommen konterrevolutionäre Kritik, die die Opposition übte, sondern eine ehrliche und offene Kritik, eine bolschewistische Selbstkritik. Vgl. Jakovlev: Kak lomali NEP. Tom 1, S. 232 und S. 402, bzw. Stalin: Werke, Band 11, S. 26-27. 30 Beispielhaft kommt diese Tendenz in einer DDR-Dissertation aus dem Jahre 1988 zum Ausdruck: „Die Kritik und Selbstkritik als Prinzip und Norm des innerparteilichen Lebens wurde von Lenin im Zusammenhang mit der Ausarbeitung der Lehre von der Partei neuen Typs zu Beginn des 20. Jahrhunderts entwickelt. Dabei konnte er sich auf die von Marx und Engels ausgearbeiteten Grundlagen einer Theorie der Partei stützen." Uwe Krüger: Marxistisch-leninistische Kritik im Entwicklungsprozeß von Theorie und Praxis der sozialistischen Revolution (Studie zum Wesen, der Funktion und den Prinzipien der ideologischen SK der marxistisch-leninistischen Partei), Dissertation (Karl-Marx-Universität, Sektion marxistisch-leninistische Philosophie) Leipzig 1988, S. 56.

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Parteipropaganda der Öffentlichkeit anderthalb Jahre lang erklärte, daß die „Selbstkritik" „nichts N e u e s " und auch nicht als „eine weitere Kampagne" anzusehen sei, bestätigt nur, daß die Sowjetbürger die „Selbstkritik" v o m ersten Moment an als eine Kampagne erlebten, von deren Bedeutung sie zunächst keinen klaren Begriff hatten. 31 Ein Propagandist beklagte sich noch 1929 darüber, daß sich „heute kaum ein häufiger wiederholtes Wort als Selbstkritik finden läßt", doch leider „die meisten, die über die Selbstkritik sprechen, nicht wissen, worin ihr eigentlicher Sinn liegt." 32 D i e „bolschewistische Tradition" wurde etwa im selben Moment erfunden w i e die Kampagne insgesamt. A u f dem fünfzehnten Parteitag berief sich Stalin sogar auf Marx, der bereits eine Besonderheit der proletarischen Revolution darin erkannt habe, daß sie sich selbst kritisiere und dadurch an Stärke gewinne. 3 3 Kurz darauf stellte er in seiner Rede „Gegen die Vulgarisierung der Selbstkritik" eine Reihe von Leninzitaten zusammen, die in der Propaganda v o n da an jahrzehntelang regelmäßig wiederkehrten. 34 Zu diesen gehörten neben der bereits im vorangegangenen Abschnitt zitierten Textstelle von 1904 auch einige Bemerkungen aus nachrevolutionärer Zeit. 1920 hatte Lenin etwa zu den „Kinderkrankheiten" bemerkt: „Das Verhalten einer politischen Partei zu ihren Fehlern ist eines der wichtigsten und sichersten Kriterien fur den Ernst einer Partei und fur die tatsächliche Erfüllung ihrer Pflichten gegenüber ihrer Klasse und den werktätigen Massen. Einen Fehler offen zugeben, seine Ursachen aufdecken, die Umstände, die ihn hervorgerufen haben, analysieren, die Mittel zur Behebung des Fehlers sorgfältig prüfen - das ist das Merkmal einer ernsten 31

„Die Selbstkritik ist keine neue Losung für die Partei. Sie ist eines der grundlegenden Prinzipien der innerparteilichen und proletarischen Demokratie. Die Kommunistische Partei, die seit einem Jahrzehnt das revolutionäre Proletariat seit einem Jahrzehnt anführt, erzog letzteres im Geiste der Kritik eigener Fehler, der zutage getretenen Mißstände und der Aufdeckung der Unzulänglichkeiten in der Arbeit proletarischer Organisationen." Ο lozunge samokritiki, in: Bol'sevik, 1928, Nr. 10, S. 3. Vgl. auch Stalins Rede „Gegen die Vulgarisierung der Losung der Selbstkritik", in: Stalin: Werke, Band 11, S. 113. 32 Slepnev: Samokritika ν komsomole, S. 5. Vgl. auch die Wortmeldung des Moskauer Kommunisten Fruntov auf dem MK-Plenum im September 1928: „Einige Genossen haben hier gesagt, daß es die Selbstkritik schon in den ,Zwei Schritten' von Lenin gab, und ich glaube, auch bei Marx (Zwischenruf: ,Marx sprach von Selbstkritik, das ist eine Tatsache'). Die Entwicklung und Durchführung dieser Losung in der Wirklichkeit begann bei uns aber dennoch als Kampagne. Erst seit dem 3. Juni beginnt die Entfaltung der Erörterung dieses Beschlusses des fünfzehnten Parteitags. Bis dahin wurden die Parteitagsbeschlüsse an den entsprechenden Ort gelegt und man hat sie sich eine gewisse Zeit angesehen, hat aber die Selbstkritik darin irgendwie nicht gefunden. Dann wurde die Selbstkritik so ein Wort, das vielen bekannt ist, obwohl einige Arbeiter... erst eine unklare Vorstellung haben, was damit insgesamt gemeint ist..." VKP(b): Pjatyj ob'edinennyj plenum MK i MKK VKP(b). 11-12 sentjabija 1928, Moskau 1928, S. 124. 33 Politischer Rechenschaftsbericht des Zentralkomitees vor dem fünfzehnten Parteitag, in: Stalin: Werke, Band 10, S. 286. Stalin bezog sich auf die Schrift „Der achtzehnte Brumaire des Louis Bonaparte". 34 Vgl. auch Stalins Artikel „Gegen die Vulgarisierung der Losung der Selbstkritik", in: Stalin·. Werke, Band 11, S. 113-122.

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Partei, das heißt Erfüllung der Pflichten, das heißt Erziehung und Schulung der Klasse und dann auch der Masse."35 D i e s e Bemerkung galt den deutschen linken Kommunisten, die nach Lenins Meinung dieser Aufgabe nicht gerecht geworden waren. Im Schlußwort zum elften Parteitag 1922 hatte Lenin aber auch seine eigene Partei vor verderblicher Überheblichkeit gewarnt: „Alle revolutionären Parteien, die bisher zugrunde gegangen sind, gingen daran zugrunde, daß sie überheblich wurden und nicht zu sehen vermochten, worin ihre Kraft bestand, daß sie fürchteten, von ihren Schwächen zu sprechen. Wir aber werden nicht zugrunde gehen, weil wir nicht fürchten, von unseren Schwächen zu sprechen, und lernen werden, die Schwächen zu überwinden."36 Dieser Ausspruch, der tatsächlich den ungefähren Sinn der „Selbstkritik"-Losung vorwegnahm, erlangte seine größte Bedeutung erst im Zusammenhang mit den individuellen Schuldbekenntnissen. Während Lenins Forderung sich hier eindeutig an die Gesamtpartei richtete, wurde der „bolschewistische Mut", v o n den eigenen „Schwächen zu reden", später gerne auch den einzelnen Parteimitgliedern abgefordert. Wir k o m m e n darauf zurück. U m die vielen Schattierungen und Metamorphosen des „Selbstkritik"Diskurses besser zu verstehen, sollen hier kurz einige Ausführungen Stalins festgehalten werden, die sich schon bald zu rhetorischen Klischees und Schlagwörtern verdichteten und auf Jahre hinaus den Grundton bestimmten. A l s Stalin dem fünfzehnten Parteitag den Sinn und Z w e c k der „Selbstkritik" erklärte, begann er seine Ausführungen bezeichnenderweise nicht mit grundsätzlichen Argumenten, sondern mit einem praktischen Beispiel. „Bei uns werden nicht nur in der Provinz, sondern auch im Zentrum, Probleme oft auf eine sozusagen familiäre oder private Weise (v semejnom porjadke, domasnim obrazom) entschieden. Ivan Ivanovic, Mitglied der Führungsgruppe irgendeiner Organisation, hat, sagen wir mal, einen schweren Fehler begangen und dadurch Schaden angerichtet. Aber Ivan Federovic will ihn nicht kritisieren, seinen Fehler aufzeigen, den Fehler korrigieren. Er will nicht, weil er ,sich keine Feinde machen will'. Man hat einen Fehler gemacht, Schaden angerichtet - das ist alles! Wer von uns begeht keine Fehler? Heute verschone ich ihn, ... morgen wird er mich ... verschonen. ... Bleiben wir gesittet und anständig. Frieden und Wohlwollen. Der begangene Fehler schadet unserer großen Sache? Macht nichts, dann wursteln wir uns eben irgendwie durch. Das, Genossen, ist die übliche Denkweise unserer verantwortlichen Mitarbeiter... Liegt es denn nicht auf der Hand, daß wir, wenn wir auf eine ehrliche und direkte Selbstkritik (cestnaja iprjamaja samokritika) verzichten, auf eine

35

Stalin: Werke, Band 11, S. 115, bzw. Lenin: Socinenija. 4-e izdanie, Τ 31, S. 39. Stalin: Werke, Band 11, S. 115, bzw. Lenin: Socinenija. 4-e izdanie, T. 33, S. 278. Die beiden letztgenannten Zitate trugen, nachdem sie sich vom Textzusammenhang erst einmal verselbständigt hatten, erheblich dazu bei, die Verhaltenskultur der individuellen Schuldbekenntnisse zu begründen; auch unbedeutende Einzelpersonen wurden später mit der Forderung nach furchtlosen Fehleranalysen und offenen Fehlereingeständnissen konfrontiert, die Lenin hier ganz offensichtlich nur an die politischen Führer der europäischen Arbeiterparteien gerichtet hatte. Im Frühjahr 1928 war diese Entwicklung allerdings noch nicht vorherzusehen. 36

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ehrliche und offene Korrektur unserer Fehler verzichten, wir uns den Weg in die Zukunft versperren...?"37

„Selbstkritik" bedeutete also gegenseitige Kontrolle, meinte aber nicht nur die Bekämpfung von Filz und Vetternwirtschaft. Stalin drückte die Befürchtung aus, viele in der Partei könnten aufgrund der Erfolge „überheblich werden". Im engen Zusammenhang mit der Notwendigkeit der „Selbstkritik" sprach Stalin auch von der unerwünschten Tendenz, innerhalb der Partei die „Methode des Überzeugens" durch die „Methode des Administrierens" zu ersetzen. Dies berge die Gefahr, daß die Parteiorganisationen ihre Selbsttätigkeit (,samodejatel'nost") aufgeben und zu „leeren Verwaltungseinrichtungen" (pustye kanceljarskie ucrezdenija) verkommen könnten. Dieser ungünstigen Entwicklung müsse die Partei entgegentreten, indem sie die „Aktivität der Parteimassen steigere" und sie bei der Entscheidung wichtiger Fragen „miteinbeziehe". So müsse die „innerparteiliche Demokratie" systematisch großgezogen (sistematiceski nasazdat') werden. Die Schlagworte der „Selbstkritik", der „innerparteilichen Demokratie" und des „Kampfes gegen den Bürokratismus" bildeten einen festen Dreiklang, der von da an in allen Variationen das Thema der „Selbstkritik" jahrzehntelang dominierte.38 Die genaue Betrachtung von Stalins Formulierungen soll nicht darüber hinwegtäuschen, daß dieses Thema insgesamt auf dem Parteitag vorerst keine herausragende Rolle spielte. Die Aufmerksamkeit der Teilnehmer konzentrierte sich auf die letzte Auseinandersetzung mit den linken Oppositionellen und deren endgültigen Ausschluß. Der Parteitag verabschiedete allerdings eine Resolution „über die Arbeit der CKK-RKI", welche später oft als „Resolution über die Selbstkritik" bezeichnet wurde.39 Doch interessanterweise tauchte der Begriff „Selbstkritik" in diesem Dokument noch überhaupt nicht auf. Die vielen dort beschlossenen Maßnahmen und Formulierungen machen dafür sehr gut deutlich, in welchen gesellschaftlichen Kontext die „Selbstkritik" 1928 eingeordnet wurde: Die „Einbeziehung der breiten Masse von Arbeitern und Werktätigen zur Verbesserung des Sowjetapparates und zum Kampf mit dem Bürokratismus", die „Belebung und Festigung der Sowjets", die „Verbilligung und Vereinfachung des Apparats in Verwaltung, Handel, Kooperativen und der Wirtschaft", die Bekämpfung des „Amtsschimmels" (volokita) und der „Verschwendungssucht", das strenge Vorgehen gegen alle Angestellten des Staatsapparats (sowohl Parteimitglieder wie Parteilose), die sich gegenüber dem Besucher „nachlässig" (prenebrezitel'no), „herrisch" (barski) oder „herablassend" (vysokomerno) verhielten. Alle Parteiorganisationen sollten auf die

37

Stalin·. Werke, Band 10, S. 285-186. Oleg Kharkhordin hat beschrieben, wie das Zusammenwirken dieser Losungen 1937 die Durchführung der Terrorpolitik begünstigte. Siehe hierzu das vierte Kapitel. 39 Ο rabote CKK-RKI, in: Pjatnadcatyj XV s'ezd VKP(b). Stenograficeskij otcet. Tom 2, Moskau 1962, S. 1435-1438. 38

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Bewegung der Arbeiter-und-Bauern-Korrespondenten zurückgreifen, um „bürokratische Auswüchse" (bjurokraticeskie izvrascenijä) zu bekämpfen. Die „Enthüllungsarbeit der Presse" (razoblacitel'naja rabota pecati) solle nach dem Prinzip der „völligen Aufdeckung der wunden Punkte" des Staatsapparates und einer „gnadenlosen Kritik" (besposcadnaja kritikä) „ohne Ansehen der Person" („ne vziraja na lica") vonstatten gehen. In der Resolution wurde auch festgehalten, daß der Versuch der Staatsangestellten (Parteimitglieder und Parteilose), den antibürokratischen Maßnahmen der Partei ihre Routinementalität (rutinerstvo), ihre Verknöcherung (kosnost') und ihre beamtenmäßige Selbstgenügsamkeit (cinovnic'e samodovol'stvo) entgegenzustellen, häufig auf den Druck feindlicher Klassen zurückzufuhren sei. Der „Kritik von unten" wurde somit auch die Funktion zuerkannt, „feindliche Elemente zu entlarven", denen es gelungen war, im Partei- und Verwaltungsapparat einen Posten zu erhalten. Die „Selbstkritik" diente sowohl der Erkennung struktureller, personenunabhängiger Mißstände wie auch der Identifikation von Schuldigen; schon hier äußerte sich der Zielkonflikt zwischen Kontrolle und Eskalation. Die Presse berichtete in den folgenden Wochen über die ersten Anstrengungen verschiedener sowjetischer Kollektive, „Selbstkritik" zu praktizieren. In diesen Artikeln erschien die „Selbstkritik" als eine Art harmloser, konkret konstruktiver Fehlerdiskussion: Eine Gruppe von „Rationalisierern" in Leningrad versprach, die Probleme zu bekämpfen, die die Rationalisierung der Volkswirtschaft verhinderten;40 das Parteiaktiv eines Moskauer Stadtteils kündigte an, über seine Fehler zu sprechen, wovon es sich eine „erfolgreichere" Parteiarbeit erhoffte;41 und sogar das Plenum des Obersten Volkswirtschaftsrat der RSFSR veranstaltete eine Aussprache über die „Notwendigkeit der Selbstkritik", bei der auch Valerijan Kujbysev auf viele Mißstände in den Wirtschaftsbetrieben zu sprechen kam.42 Neben diesen ersten praktischen Versuchen, der Aufforderung zur „Selbstkritik" nachzukommen, nahm auch die Zusammenarbeit der Kontrollinstanzen mit der Presse konkrete Formen an. Im Januar 1928 begann die Torgovo-promyslennaja gazeta, die Zeitung des Obersten Volkswirtschaftsrats (VSNCh), mit einer Artikelserie unter dem Motto: „Der Industriebau unter dem Feuer der gesellschaftlichen Kritik". In langen Reportagen wurde darin über alle Formen der Verschwendung und der Mißwirtschaft berichtet, unter denen das sowjetische Wirtschaftsleben zu leiden hätte. Im März folgte die „Pravda", wo das NK RKI regelmäßig auf einer eigenen Seite, dem „listok RKI" unter der Überschrift „Unter die Kontrolle der Massen" über alle möglichen Fälle von Korruption und Mißwirtschaft berichtete. Der bis dahin vorwiegend 40 41 42

Vgl. Pravda, 5.1.1928. Pravda, 7.2.1928. Torgovo-promyälennaja gazeta, 2. und 4.3.1928.

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sachliche, problemorientierte Grundton der „gesellschaftlichen" Kritik erhielt seine denunziatorische Note mit dem Bekanntwerden der „Sachty-Affäre".43 Die Berichterstattung über die „Sachty-Affäre" rückte die vom Geheimdienst erfundenen, sensationellen Tatbestände der Spionage und Verschwörung in engen Zusammenhang mit den realen, alltäglichen Unsitten der sowjetischen Betriebsleiter und lokalen Parteiführer. Die Verschwörer hätten angeblich die Arbeiter willkürlich schlecht behandelt und ihre materielle Versorgung sabotiert, um unter ihnen antisowjetische Stimmungen zu schüren.44 Diese Verknüpfung des allgegenwärtigen Übels mit dem staatsfeindlichen Kapitalverbrechen diente auch dazu, die Öffentlichkeit, insbesondere die verantwortlichen Parteifunktionäre, vor den schlimmen Folgen zu warnen, die die „Abwesenheit von Selbstkritik" haben würde. Doch erst das im April stattfindende gemeinsame Plenum von CK und CKK prägte das Wort „Selbstkritik" zu einem Schlagwort, zu einem Schlüsselbegriff im Vokabular der Parteisprache.45 Schon vor dem Plenum hatte die sowjetische Presse begonnen, in nie dagewesenem Umfang über Fälle von Korruption und Machtmißbrauch zu berichten, die sich in einer ganzen Reihe von Provinzstädten zugetragen hatten. Anders als in der „Sachty-Affäre" wurden diese Vorkommnisse nicht auf eine internationale Verschwörung zurückgeführt, sondern lediglich auf den ursprünglich bourgeoisen „Bürokratismus", der im Staats- und Beamtenapparat überlebt und wegen der „Abwesenheit von Selbstkritik" auch schon auf Parteifunktionäre abgefärbt habe. Die Vorwürfe, die gegen die lokalen Autoritäten dabei regelmäßig erhoben wurden, klangen ebenso trivial wie glaubhaft: Amtsmißbrauch, Vörteilsnahme, Unterschlagung, sexuelle Belästigung, alkoholische Exzesse und die „Unterdrückung der Demokratie" in der Partei, der Gewerkschaftsbewegung und den Sowjets. Bucharin erwähnte schon in einer Rede nach dem April-Plenum die Affäre von Rjazan', 46 die Affare von Artemov (einzelne Parteifunktionäre vergewaltigten Frauen und leisteten sich Alkoholexzesse), die von Soci (ehemalige Bürgerkriegsteilnehmer erzwangen 43

Zur Sachty-Affäre vgl. z.B. Kendall Ε. Bailes: Technology and Society under Lenin and Stalin. Origins of the Soviet Technical Intelligentsia, 1917-1941, Princeton 1978; S. A. Kislicyn: „Sachtinskoe delo". Nacalo stalinskich repressij protiv naucno-techniceskoj intelligencii ν SSSR, Rostov-na-Donu 1993; Cassiday. The Enemy on Trial. 44 Vgl. den Leitartikel in der „Pravda" vom 10.03.1928. Vgl. auch Kislicyn: „Sachtinskoe delo", S. 24-25. 45 Das läßt sich an der Resolution ablesen, die vom wenige Tage zuvor stattgefundenen Plenum der Zentralen Kontrollkommission angenommen wurde. Dort wurde einmal mehr ein Katalog von Forderungen aufgestellt, wie sie schon in der Resolution „über die Arbeit des CKK-RKI" auf dem fünfzehnten Parteitag beschlossen worden waren. (Wie damals tauchte auch hier das Wort „Selbstkritik" im Text noch nicht auf. Vgl. Spravoönik, 7-e izdanie. Cast I-aja, 1930, S. 576-578.) Das Plenum der CKK fand am 2. und 3. April, das gemeinsame Plenum des CK und des CKK vom 6. bis zum 11. April 1928 statt. 46 Jakovlev: Kak lomali NEP. Von der Rjazan'er Affäre hatte schon Molotov auf dem fünfzehnten Parteitag gesprochen: Demzufolge hatte das Parteikomitee von Rjazsk bei Rjazan' eine Räuberbande vor der Strafverfolgung geschützt.

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Geschlechtsverkehr mit Komsomolzinnen) und von Vöronez, wo sich, mit Unterstützung von Parteifunktionären, eine illegale „Aktiengesellschaft" zur Veruntreuung von Staatseigentum gebildet hatte.47 Manche solcher Affaren erhielten eine eigene Bezeichnung, wie etwa die „Dagestaner Eiterbeule" (dagestanskij gnojnik. Veruntreuung von zwei Millionen Rubel in einem Weingut), die „Eiterbeule von Manycsk", (Alkoholexzesse, Veruntreuung und Vetternwirtschaft in Manycsk in Kalmykien), die „Eiterbeule von Plescensk", und die „Affäre von Kuvsinsk" (sexuelle und alkoholische Auschweifungen der Obrigkeit von Kuvsink bei Niznij Tagil im Ural).48 Abgesehen von Sachty war die Bedeutendste dieser Affären das „Smolensker Geschwür" {smolenskij naryv), die auch am besten dokumentiert ist.49 Wie anderswo ging es auch hier um Vetternwirtschaft der Funktionäre und einige Fabrikmeister, die ihre Machtposition dazu ausnutzten, Mitarbeiterinnen zum Beischlaf zu nötigen. Die Kontrollkommission beschloß, viele Smolensker Funktionäre abzusetzen, aus der Partei auszuschließen und gegen manche von ihnen ein Strafverfahren einzuleiten.50 Es war vielleicht kein Zufall, daß dieser Beschluß erst mit zehn Tagen Verspätung am 18. Mai in der „Pravda" veröffentlicht wurde, am selben Tag, an dem in Moskau der Prozeß zur „Sachty-Affare" eröffnet wurde. Die Affare von Smolensk war gut dazu geeignet, die Öffentlichkeit daran zu erinnern, daß nicht nur ausländische oder „bürgerliche" Ingenieure, sondern auch langjährige Parteimitglieder und hochgestellte Funktionäre auf ihr Wohlverhalten achten mußten, wenn sie sich nicht auf der Anklagebank wiederfinden wollten. Anfang Juni fand in Moskau beim Zentralkomitee eine Beratung zu Fragen der Agitation und Propaganda statt, die nicht zuletzt als eine Art Fortbildungsseminar für Journalisten zum Thema der „Selbstkritik" gedacht war.51 Die besondere Bedeutung der Veranstaltung ergab sich aus der Vorreiterrolle, die der Presse bei der „Verbreitung der Selbstkritik" zugefallen war. Sergej Ingulov hielt vor Vertretern der zentralen und lokalen Presse, der Kontrollbehörde CKK-RKI und der Justiz ein Referat über „die Aufgaben der Presse in Ver-

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Ν. I. Bucharin: Die Lehren der Getreidebeschaffung, der Sachty-Affare und die Aufgaben der Partei nach den Ergebnissen des April-Plenums des CK und des CKK. Rede vor der Versammlung des Parteiaktivs der Leningrader Organisation vom 13. April 1928. Erstmals veröffentlicht in der „Pravda" vom 19. April, hier zitiert nach: Jakovlev·. Kak lomali NEP, Τ. 1, S. 437. 48 Vgl. Evgenij Kodin: „Smolenskij naryv", Smolensk 1995, S. 15-16. 49 Merle Fainsod: Smolensk under Soviet Rule. Harvard 1959, S. 48-60. 50 Rezoljucija prezidiuma CKK VKP(b) ot 9 maja 1928 goda. Ο polozenii ν smolenskoj organizacii. Zit. nach: Kodin: „Smolenskij naryv", S. 90-93. 51 Die offizielle Bezeichnung der Veranstaltung lautete „Vsesojuznoe sovesCanie po voprosam agitacii, propagandy i kultur'nogo stroitel'stva". Zu den Beschlüssen vgl. Spravoinik partijnogo rabotnika, Izdanie 7e, Moskau 1930, cast' I-aja, S. 410-425.

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bindung mit der Losung der Selbstkritik".52 Wie schon in seinem kurz zuvor erschienenen Buch „Revoljucija i pecat'" forderte er die Journalisten auf, mutig über alle Mißstände zu berichten, die ihnen bekannt wären, und auf die Hierarchien keine Rücksicht zu nehmen. Sie sollten daran denken, daß eine Zeitungskritik, die niemandem weh tun dürfe, wirkungslos bleiben müsse.53 Nicht einmal der Parteiapparat dürfe von der Kritik ausgespart bleiben.54 Die anschließende Diskussion konzentrierte sich auf die Fragen, mit wem die Zeitung ihre Berichterstattung abstimmen müsse und wer letztlich für sie im Zweifelsfall verantwortlich sei. Der Chef der Agitprop-Abteilung des CK, Krinickij, deutete an, daß eine sorgfältig recherchierte, sachlich zutreffende Berichterstattung auf die Rückendeckung seiner Abteilung zählen könne. Seine Ausführung war allerdings umständlich verklausuliert und konnte keineswegs als Freibrief verstanden werden.55 Schon vor dem Beginn des Sachty-Prozesses hatte das Politbüro entschieden, sich über die Parteiorganisation und die Zeitung direkt an die arbeitenden Massen zu wenden und sie zur „Kritik von unten" aufzurufen. Der entsprechende Tagesordnungspunkt trug die Überschrift „Über die Betriebsversammlungen und die Organisation der Kontrolle von unten".56 Der Aufruf erschien am 3. Juni 1928 in der „Pravda" mit der Überschrift „An alle Parteimitglieder, an alle Arbeiter".57 Er blieb für lange Zeit der wichtigste normative Text zur „Selbstkritik", seine Publikation wurde weithin als Einschnitt empfunden und diente in der parteiinternen Kommunikation als wichtigster Bezugspunkt. Alle Parteiorganisationen und -zellen waren gehalten, die Botschaft „durchzuarbeiten" und später zu berichten, ob, wie und mit welchen Ergebnissen die „Selbstkritik durchgeführt" wurde. Da die absolute

52

Vgl. den wörtlichen Referattext in: Ol'chovyj: Zadaci agitacii, propagandy i kul'turnogo strojtel'stva, S. 208ff. Einen zusammenfassenden Bericht über das Referat und die Wortmeldungen der Zuhörer brachte die Torgovo-promyslennaja gazeta am 6. Juni 1928, S. 2. 53 Ol'chovyj•. Zadaci agitacii propagandy i kul'turnogo stroitel'stva, S. 214. 54 Ol'chovyj·. Zadaci agitacii propagandy i kul'turnogo stroitel'stva, S. 224. 55 „Der verantwortliche Redakteur muß die Arbeit so machen, daß er davon überzeugt sein kann, daß keinerlei Fehler gemacht werden. Wenn er davon überzeugt ist, dann ist er auch wirklich fur die Arbeit der Zeitung auf dem Gebiet der Selbstkritik verantwortlich. Wir im Apparat des Agitprop werden eine überaus aktive Linie verfolgen. Wenn jemand versuchen wird, den Redakteur zu ,schlagen', dann werden wir alle Maßnahmen zur konsequenten Durchführung der Parteilinie auf dem Gebiet der Selbstkritik ergreifen". Torgovopromyslennaja gazeta, 6. Juni 1928, S. 2. 56 Vgl. das Protokoll der Politbürositzung vom 17. Mai 1928, Punkt 32. Politbjuro CK, Povestki dnja, Τ. 1, S. 614. Stalin notierte sich dazu den Beschluß: ,,a) Die aus Kosior, Tomskij, Ordzonikidze, Uglanov und Bucharin bestehende Kommission wird beauftragt, praktische Maßnahmen zur Organisation der Kritik von unten, der Belebung der Betriebsversammlungen, der Kontrollkommissionen und der Parteiorganisationen vorzuschlagen, b) Die selbe Kommission wird beauftragt, ein Projekt des Aufrufs (obrascenie) vorzulegen." RGASPI f. 558, op. 11, d. 27,1. 3-4. 57 Vgl. Pravda, 3.6.1928, hier zitiert nach Bol'sevik, 1928, Nr. 11, S. 3-7.

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„Kritik und Selbstkritik": Ursprung u. Wirkung eines neuen Schlagworts

Mehrheit der Sowjetbürger und Parteimitglieder das Phänomen der „Selbstkritik" erst durch diesen Text genauer kennenlernte, scheint eine eingehendere Betrachtung gerechtfertigt. Zunächst fällt ins Auge, daß das Zentralkomitee sich demonstrativ nicht an die Parteiorganisationen oder ihre Funktionsträger, sondern an die „Arbeiterklasse" wandte, wobei schon in der Anrede der Unterschied zwischen Parteimitgliedern und Parteilosen heruntergespielt wurde. Die „Arbeiterklasse" könne auf ihre heroische Aufbauleistung, die sie, wie es hieß, „gemeinsam mit breitesten Bauernmassen unter gewaltigen Schwierigkeiten" vollbracht habe, stolz sein. Bezeichnenderweise fehlte an dieser Stelle der sonst übliche Hinweis, daß dies „unter der Führung der Partei" erreicht worden war. Die Arbeiterklasse handelte scheinbar selbständig: „Die Arbeiterklasse industrialisiert das ganze Land, errichtet neue Fabriken und Elektrostationen, legt neue Gruben und Bergwerke an und führt die neue Technik ein. Sie erneuert die Industrie."

Erst weiter unten fand auch die Partei bescheidene Erwähnung: „Die Arbeiterklasse und ihre Partei richten alle ihre Anstrengungen darauf, aus einem armen und unwissenden Land ein reiches und kultiviertes sozialistisches Land ... zu machen." Die Partei erschien hier mehr als Anhängsel der Arbeiterklasse und nicht als die befehlende Führungsinstanz. Leider stellten sich dem Aufbau die bekannten Klassenfeinde entgegen, der internationale Kapitalismus, die Kulaken, und „eine bestimmte Schicht" von Ingenieuren. Doch nicht von deren „Schädlingstätigkeit" sollte nun die Rede sein: „Aber die Arbeiterklasse trifft jetzt nicht nur auf diese Feinde. Sie trifft auf ihrem Weg auf den übelsten Bürokratismus ihres (svoego) Staatsapparates, auf dessen ... Trägheit und den irritierenden Amtsschimmel. Diese sind ein ... Überbleibsel des alten Beamtentums, aber auch eine Folge der Rückständigkeit und Kulturlosigkeit der Massen [selbst], die zu Leitungsaufgaben nicht befähigt sind, da sie bislang in die ... Verwaltung des Staates und der staatlichen Wirtschaft noch kaum einbezogen wurden. Sie trifft auf ihrem Weg die zerfallenen Glieder (razlozivsiesja zven 'ja) des Apparates, seine verrosteten und verfaulten Teile."

All diese mit drastischen Metaphern beschriebenen Übel entstammten zwar der zaristisch-kapitalistischen Beamtentradition, herrschten aber auch in der Gewerkschaft und sogar in der Partei. Der Unterschied war allenfalls graduell. Die Arbeiterklasse trat hier als das kollektive, heroische Subjekt auf, die Partei dagegen nur als eine höchst unvollkommene, „ihr nahestehende Organisation". „In den ihr am nächsten stehenden Organisationen, der Gewerkschaft und der Partei, stößt sie [die Arbeiterklasse] manchmal auf Fäulnis, beamtenmäßige Degeneration (cinovniceskoe pererozdenie), Disziplinlosigkeit (raspuscennost"), Alkoholismus und böswillige Unaufmerksamkeit (zlostnoe nevnimanie) gegenüber den Bedürfnissen der Masse, hochnäsige Liebedienerei (cvanlivoe ugodnicestvo) und Speichelleckerei (podchalimstvo) ,nach oben' (k, vercham'), Unhöflichkeit, Verknöcherung, Konservativismus und Routinementalität (rutinu)."

2. Die Geburt der „Selbstkritik" aus dem Geist der Wandzeitung

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Nach dieser eindeutigen Diagnose folgte nun die schlagwortartige, grobe Beschreibung der notwendigen Politik. Dazu gehörten die „kühnste, entschiedenste Einbeziehung der Massen (vovlecenie mass) in den sozialistischen Aufbau", die „Überprüfung und Kontrolle, des ganzen Apparates, seine Säuberung (ociscenie) von ungeeigneten Elementen (negodnye älementy) durch diese Massen", die „strenge Selbstkritik" (zestokaja samokritika) als ein „Hebel" zur „Korrektur" (ispravlenie) des Apparates, der „wirkliche, nicht nur auf dem Papier stattfindende Kampf mit dem Bürokratismus" und der „Kampf gegen alle Feinde, angefangen vom Kulaken und ,Schädling' bis hin zu den moralisch verwahrlosten Elementen (elementy razlozenija) in unseren eigenen Reihen". Zusammenfassend postulierte das Zentralkomitee: „Die Losung der Selbstkritik ,ohne Ansehen der Person', der Kritik von oben nach unten (sverchu donizü) und von unten nach oben (snizu doverchu), ist eine zentrale Losung des Tages".

Das Zentralkomitee nahm für sich in Anspruch, schon „ziemlich viel" für die „Organisation dieser Selbstkritik" (organizacija samokritiki) getan zu haben. Doch die wichtigste, bislang unerfüllte Aufgabe bestände darin, „eine mächtige Gegenwelle schöpferischer Selbstkritik von unten loszutreten" (podnjat' vstrecnuju volnu tvorceskoj samokritiki snizu). Um den „Massen" die Möglichkeit zu geben, wirksame Kontrolle auszuüben, müßte die „Demokratie" in Partei und Gewerkschaft „konsequent durchgeführt" werden. Ansonsten würde die Losung der Selbstkritik zu einer Papierformalität (bumaznaja otpiska) verflachen, die die „Losung in den Augen der Massen" nur kompromittieren würde. Die politische Führung gab hier zu, daß in der alltäglichen Praxis ihrer Machtausübung eine gewaltige Kluft zwischen Anspruch und Wirklichkeit existierte. Die „Selbstkritik" sollte helfen, diese Kluft aufzuzeigen und zu überwinden. Anschließend an diese allgemeine Willensbekundung listete der Text für die Partei, die Gewerkschaft und den Verwaltungsapparat der Sowjets jeweils einen Reihe von Maßnahmen auf, die an die Resolutionen anknüpften, die schon auf dem fünfzehnten Parteitag und dem CKK-Plenum im April beschlossen worden waren. Doch viel ausdrücklicher als dort wurde nun auch der Parteiapparat in die Pflicht genommen. Manche Formulierungen klangen geradezu aufrührerisch. Der erste Punkt verlangte, daß die „Freiheit innerparteilicher Kritik" gewährleistet sein müsse und daß „selbständige Gedanken" und kritische Bemerkungen nicht von vornherein als „Abweichung" („uklon") oder „Skandalmacherei" („buzoterstvo") abgetan werden dürften. Außerdem müsse das Prinzip der Wählbarkeit aller Funktionsträger strikt eingehalten werden. Im Falle eines Vergehens dürften Kommunisten nicht milder bestraft werden als Parteilose. Die Partei dürfe auf keinen Fall die „proletarische Öffentlichkeit" (proletarskaja obscestvennost') durch das „administrative Kommandieren" (administrativnoe komandovanie) ersetzen.

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„Kritik und Selbstkritik": Ursprung u. Wirkung eines neuen Schlagworts

Die letzte Warnung kann als ein Schlüsselsatz dieses Aufrufs wie der „Selbstkritik" insgesamt aufgefaßt werden. Die „proletarische Öffentlichkeit" war der gesellschaftliche Raum, welcher der „Kritik von unten" bzw. der „Selbstkritik" zur Verfügung stehen sollte. Dieser Gedanke - wie die JuniBotschaft insgesamt - knüpfte an die bereits erwähnten Vorschläge Sergej Ingulovs aus dem Jahr 1927 an, der schon damals die „proletarisch-bäuerliche Öffentlichkeit" und die „Selbstkritik" gemeinsam als das „beste Mittel im Kampf gegen verschiedene Übel im gesellschaftlichen Organismus" bezeichnet hatte.58

3. Praktiken und Funktionen der Selbstkritik Im folgenden Abschnitt werden die frühen Versuche vorgestellt, die Idee der „Selbstkritik" zu realisieren. Diese traf auf vielfältigen Widerstand, wurde entstellt und begünstigte schließlich auch die Entstehung der Kultur von Schuldbekenntnissen. Diese vielfältigen Erscheinungsformen entstanden etwa gleichzeitig im Zeitraum von 1928 bis 1930 und können nicht in eine chronologische Reihenfolge gesetzt werden. Die frühen Erfahrungen wurden auch von sowjetischen Ideologen und Politikern reflektiert, deren besonderes Augenmerk sich zumeist auf die Möglickeiten zur Instrumentalisierung der „Selbstkritik" in der hierarchischen Pyramide zwischen dem Regime, den Funktionären und der Bevölkerung richtete. Zur gleichen Zeit, als man die breite Öffentlichkeit mit Berichten über Korruption, Spionage und Hochverrat fütterte und in gehässiger Weise gegen Ingenieure und „Bürokraten" aufhetzte, versuchte das Regime, die Funktionärselite zu beruhigen. Ihr gegenüber erklärte es den Sinn der Kampagne mit der dringenden Notwendigkeit, die unzufriedene Arbeiterbevölkerung stärker in den kontrollierbaren Kommunikationsraum hineinzulocken und dort einen kontinuierlichen Dialog herzustellen. Stalin versicherte auf dem nichtöffentlichen April-Plenum den CK-Mitgliedern ausdrücklich, es gehe bei der Selbstkritik nicht darum, „Schuldige zu suchen".59 Doch in seiner öffentlichen Rede ans Parteivolk rückte er wieder das Ziel in den Vordergrund, „Schädlinge" und Klassenfeinde zu „entlarven".60 Gegenüber seinen „Bürokraten" gab das Regime offen zu, daß es bei der „Kritik von unten" zu Überspitzungen kommen werde, rechtfertigte diese Erscheinung aber mit der Notwendigkeit, die Arbeiter endlich aus der Reserve zu locken. Die Berechtigung oder Verwertbarkeit der Arbeiterkritik war zunächst also völlig nebensächlich, es ging vielmehr darum, daß sie überhaupt ausgesprochen werden sollte. Die laute 58 59 60

Ingulov: Partija i pecat', S. 158. Vgl. auch oben. Jakovlev: Kak lomali NEP, Τ. 1, S. 233. Jakovlev: Kak lomali NEP, Τ. 1, S. 412-416.

3. Praktiken und Funktionen der Selbstkritik

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Skandalmacherei sollte dabei als Werbetrommel dienen. Stalin erklärte den CK-Mitgliedern auf dem April-Plenum: „.. .die führenden Gruppen unserer Partei haben sich zu hoch erhoben, ihre Autorität wächst ins Maßlose, und sie wurden für die breiten Volksmassen beinahe unerreichbar (nedosjagaemymi). ... Die Tatsache, daß die Massen beginnen, zu diesen Führern von unten nach oben mit zusammengekniffenen Augen aufzusehen (smotret' snizu werch, zazmuriv glaza) und sich zuwenig entschließen, sie zu kritisieren - dieser Umstand birgt die höchste Gefahr der Loslösung der Masse von ihren Führern... Und damit das nicht passiert, ... muß man den sowjetischen Menschen die Möglichkeit geben, über ihre Führer ,herzuziehen' {,kryf' svoich vozdej)..

Was Stalin nicht offen sagte, seinen Zuhörern aber gewiß verständlich war, war, daß die Erlaubnis einer legalen „Massenkritik von unten" auch der prophylaktischen Entschärfung gefahrlicher Massenproteste diente. Bevor zuviel Unzufriedenheit zur Explosion fuhren würde, mußte man eben das „Ventil der Selbstkritik" öffnen. Die Schicht der „Bürokraten" sollte sich daher - entgegen ihren Gewohnheiten - um eine Art Dialog mit den Arbeitern bemühen und ihnen aufmerksames Gehör schenken. Kritiker dürften keinesfalls als „Skandalmacher" oder „Abweichler" gebrandmarkt werden.62 Diese Warnungen waren auch nötig. In späteren Berichten über erste Erfahrungen mit der „Selbstkritik" fehlt es nicht an drastischen Beispielen für die Versuche von Amtsinhabern, die „Kritik von unten" zu unterdrücken: Ein Gebietssekretär drohte einem kritischen Arbeiterkorrespondenten mit Parteiausschluß wegen „oppositioneller" Propaganda;63 ein Rayonsekretär forderte eine Genossin auf, sich „lieber um ihre eigenen Fehler zu kümmern";64 ein Fabrikdirektor qualifizierte kritische Äußerungen einer Arbeiterin als „konterrevolutionär", woraufhin diese vor Schreck starb, usw.65 In Voronez glaubte ein Rayonsekretär sogar, sich auf Stalin beziehen zu dürfen: „Ich zeige euch die Demokratie, schmeiße euch aus der Partei, nehme euch das Parteibuch weg. Stalin ist grob, Stalin hat keine Selbstbeherrschung, ich mache es wie Stalin."66 Die meisten Arbeiter behielten ihre Meinung für sich, da sie sich vor Entlassung oder sonstigen Nachteilen fürchteten.67 Arbeiter des Voronezer Eisenbahndepots empfanden die Aufforderung zur „Kritik" sogar als plumpe

61

Ein Wortspiel: „kryt'", zu deutsch „losschimpfen", erinnert an „kritikovat'", kritisieren. Jakovlev. Kak lomali NEP, Τ. 1, S. 232. 62 Vgl. Jakovlev. Kak lomali NEP, Τ. 1, S. 232-235 und die CK-Botschaft vom 3. Juni 1928. 63 RGASPI f. 17, op. 32, d. 141,1. 5. 64 RGASPI f. 17, op. 32, d. 141,1. 17. 65 Ingulov: Samokritika i praktika ee provedenija, 1928, S. 8-9. 66 CDNIVO f. 9, op. 1, d. 57,1. 117. 67 (Vgl. CDNI VO f. 9, op. 1, d. 17,1. 1, 33, 315f, 319, Stichproben anhand ausgewählter Berichte). Zur Angst der Arbeiter, für ihre Kritik bestraft zu werden, vgl. auch Slepnev: Samokritika ν komsomole, S. 19 und Alichanov. Samokritika i vnutripartijnaja demokratija, S. 119-120.

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„Kritik und Selbstkritik": Ursprung u. Wirkung eines neuen Schlagworts

Provokation: „Selbstkritik ist eine Falle für die Dummen; nicht jeder drängt sich danach, stempeln zu gehen."68 Solche Ängste spiegelten sich auch in Witzen und Verballhornungen wider.69 Manche Arbeiter gaben zu, daß sie auch andere Gründe hätten, nicht vorlaut zu sein. Wegen ihrer häufigen Disziplinverletzungen (Alkoholismus, Absentismus, kleine Materialdiebstähle etc.) fühlten sie sich auf die Milde und Nachsicht der Fabrikobrigkeit angewiesen.70 Manche Beobachter sprachen in diesem Zusammenhang sogar von der „Unterdrückung der Selbstkritik durch die Massen".71 Unter solchen Umständen galt es bereits als Fortschritt, wenn Arbeiter und einfache Zellenmitglieder überhaupt etwas sagten. Die bloße Anzahl der abgehaltenen Partei- und Betriebsversammlungen, ihre Dauer, die Zahl ihrer Teilnehmer und der Wortmeldungen wurde in Berichten und Protokollen zu einem beliebten Gradmesser für die erfolgreiche „Einbindung der Massen".72 Zunächst mußte aber auch das betriebliche Leitungspersonal dazu überredet werden, an offenen Betriebsversammlungen teilzunehmen und deren Beschlüsse überhaupt zur Kenntnis zu nehmen. Realistischerweise führte die Propaganda das mentale Hindernis, Kritik von unten zu akzeptieren, nicht immer auf verborgene „Schädlingsabsichten" oder persönliche Eitelkeiten zurück, sondern auch auf den vorherrschenden Autoritätsund Ehrbegriff. Dieser verbot es Amtsträgern kategorisch, Fehler zuzugeben und damit die „Ehre" ihrer Institution zu beflecken.73 Ein Parteisekretär der Zentralen Kommunalbank erklärte beispielsweise mit folgenden Argumenten, weshalb er eine voreilig entlassene Angestellte nicht wieder einstellen könne: „Was soll ich über die Angestellte sagen. Sie ist nur ein unbedeutender Mensch. Das Problem ist fur sich genommen eine Kleinigkeit, aber es untergräbt die Autorität der Leiter ..., die vom Zentralkomitee der Partei ... ernannt wurden. Das können wir nicht zulassen."74

Diese Haltung spiegelte das korporatistische Selbstverständnis einer Beamtenschicht wider, die ihren Eliteanspruch aus der Bereitschaft herleitete, den Monarchen gegen jede politische Opposition, im Zweifelsfall aber auch gegen die Bevölkerung zu verteidigen. Zumindest in ihrem idealistischen Anspruch zielte die „Selbstkritik" darauf ab, diese Willkür für alle sichtbar zu desavou68

CDNIVO f. 2, op. 1, d. 136,1. 4f. Im Leningrader Betrieb „Baltijskij zavod" sprachen die Arbeiter von der „samokrutika", mit der Erklärung: „Segodnja skazes', a zavtra tebe nakrutjat chvost", was etwa soviel heißt wie: „Heute machst du den Mund auf, und morgen erteilen sie dir eine Abreibung". Vgl. Spravki Infromacionnogo otdela CK VKP(b) ob ... RGASPI f. 17, op. 32, d. 141,1. 14. 70 CDNI VO f. 9, op. 1, d. 17,1. 319. 71 Chvostizm i razvertyvanie samokritiki, in: Partijnoe stroitel'stvo, März 1930, S. 39—43. Hier S. 39. 72 Ingulov kritisierte diese Tendenz. Vgl. Ingulov. Samokritika i praktika ee provedenija, S. 44-45. 73 Vgl. Ingulov: Samokritika ν dejstvii, S. 59-63. 74 Der Gewerkschaftler Podosenov erzählte diese Episode auf dem MK-Plenum im September 1928. Vgl. VKP(b): Pjatyj ob'edinennyj plenum MK i MKK VKP(b). 11-12 sentjabija 1928, S. 115. 69

3. Praktiken und Funktionen der Selbstkritik

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ieren und die Regeln der proletarischen Demokratie wieder ins Recht zu setzen. Den Arbeitern sollte möglichst rasch die Erfahrung vermittelt werden, daß ihre Kritik etwas verbessern konnte. Der Fabrikleitung wurde ausdrücklich nahegelegt, die „Selbstkritik" nicht nur als lästige Störung zu betrachten, sondern sie statt dessen „von oben" auch als Hebel für die Durchsetzung der Arbeitsdisziplin einzusetzen.75 Wo die Idee, über alle Angelegenheiten und Probleme offen zu sprechen, auf den zähen Widerwillen der gesamten Belegschaft stieß, konnte eine von außen oder von oben kommende Provokation das kollektive Schweigen brechen. Auf lokaler Ebene war es häufig die Presse, die den Stein ins Rollen brachte, wie etwa im Herbst 1928 in der Staatsuniversität Vöronez (VGU). Dort hatte eine große Versammlung zum Thema der „Selbstkritik" stattgefunden, ohne daß sich jemand getraut hätte, die wirklich heiklen Fragen anzusprechen. Erst nachdem die Zeitung „Molodoj kommunar'" zwei Wochen später über einen Universitätsskandal berichtet hatte, belebte sich die „sozialistische Öffentlichkeit". Die Vorwürfe der Zeitung wurden anschließend in Partei- und Komsomolversammlungen an zwei Abenden stundenlang diskutiert, wobei sich viele Genossen der Kritik offenbar anschlossen.76 Die sporadische Beschädigung ausgesuchter lokaler Autoritäten wurde bei diesem Vorgehen ausdrücklich in Kauf genommen, da sie die „Einbeziehung der Massen" erheblich beschleunigte. Nachdem beispielsweise die Wandzeitung einer großen Moskauer Fabrik bewiesen hatte, daß sie es sich leisten konnte, einen gefürchteten Abteilungsleiter zu kritisieren, wurde sie von den Arbeitern mit Hinweisen über weitere Mißstände im Betrieb „buchstäblich überschwemmt"77. Doch wie Ingulov Ende 1929 selbstkritisch einräumte, war es der Arbeiterkritik auch zwei Jahre nach dem fünfzehnten Parteitag noch nicht gelungen, sich als spontane Massenbewegung gegen die bürokratische Obrigkeit zu etablieren.78 Nicht nur das Zentralkomitee spaltete sich an der Entscheidung zur beschleunigten Industrialisierung und zur neuen Landwirtschaftspolitik, auch die Masse der Staats-, Wirtschafts- und Parteifunktionäre zeigte sich stark verunsichert. In dieser Situation eröffneten sich für ehrgeizige Parteiaktivisten neue Möglichkeiten, die lokale Obrigkeit öffentlich unter Druck zu setzen. Die „Selbstkritik" konnte dann gezielt gegen den Konservativismus der Betriebsleiter und Parteifunktionäre eingesetzt werden, die der Politik des „gro75

Vgl. Ingulov. Samokritika i praktika ee provedenija, S. 69. Protokoll Nr. 20 Zasedanija clenov bjuro kollegija VKP(b) ot 11.4.1929. Ergebnis der Kommission zur Überprüfung der Realisierung der Parteibeschlüsse zur Kritik und Selbstkritik in der Universitätsorganisation vom 1.6.1928 bis zum 1.4.1929. CDNI VO f. 412, op. 1, d. 48,1. 93. 77 GARF 7952, op. 3, d. 216,1. 87. (Ja. Michajlov, Cech pecati. Bericht über die Wandzeitung im Großbetrieb „Serp i Molot" 1921 bis 1934). 78 Vgl. Ingulov: Samokritika ν dejstvii, S. 6 und S. 23. 76

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„Kritik und Selbstkritik": Ursprung u. Wirkung eines neuen Schlagworts

ßen Umbruchs" eher skeptisch gegenüberstanden. Die Propaganda ergänzte schon vorhandene Zerrbilder vom öffentlichkeitsscheuen, papierseligen und korrupten „Bürokraten" um das aktualisierte Klischee vom „rechten Opportunisten in der Praxis". Der „opportunistische" Funktionär widersprach der Parteilinie zwar niemals offen, versuchte sie aber in der Praxis zu verwässern oder zu unterlaufen. Wer glaubte, den Sinn des Kurswechsels verstanden zu haben und die neuen Spielregeln der politischen Kommunikation zu beherrschen, konnte nun versuchen, sich durch Kritik an „opportunistischen" Bürokraten zu profilieren. Insbesondere aufwärtsstrebende Komsomolaktivisten scheinen sich auf diese Weise hervorgetan zu haben. Typisch in diesem Sinne verlief ein von David Shearer beschriebener Machtkampf zwischen dem KomsomolIngenieur A. Gorbunkov und der Betriebsleitung der Moskauer Motorenfabrik „Krasnyj proletary".79 Gorbunkov vereinte Begeisterung für die neuen Technologien mit der Unzufriedenheit über seine niedrige Stellung in der betrieblichen Hierarchie. In Absprache mit dem Parteikomitee kritisierte Gorbunkov 1929 auf einer Ingenieursversammlung die Einkaufspolitik des Betriebs, der angeblich nicht das neueste, sondern veraltetes Gerät aus Deutschland importieren wollte: Er zögerte nicht, die Meinungsverschiedenheit politisch zu interpretieren: Die Betriebsleitung und die bisher tonangebenden Ingenieure seien elitär und antisowjetisch gesinnt und ihr Verhalten müsse als Sabotage betrachtet werden. Damit verstieß Gorbunkov provokant gegen die bis dahin im Betrieb respektierte Regel, daß Autoritätspersonen interne Meinungsverschiedenheiten nicht öffentlich austragen sollten, um die Belegschaft nicht zu verunsichern. Gorbunkov verteidigte sich gegen derartige Vorwürfe mit dem Hinweis auf sein Recht und seine Pflicht zur „Selbstkritik". Auch konservativ gesinnte Funktionäre sollten begreifen, daß sie sich für ihre Entscheidungen in der Partei- und Betriebsöffentlichkeit rechtfertigen mußten. Der betriebliche Konflikt war von Anfang an Teil einer größeren Auseinandersetzung. Gorbunkovs Sabotagevorwürfe wurden bald von der besonders klassenkämpferischen „Komsomol'skaja pravda" aufgegriffen, während sich die Betriebsleitung noch einige Zeit auf den Rückhalt des VSNCh stützen konnte. Die Untersuchung der Vorwürfe durch die Arbeiter-und-Bauerninspektion und die GPU führten 1930 aber schließlich zum Sieg Gorbunkovs und zur Verhaftung seiner Gegner. Nicht nur aufstrebende Aktivisten, sondern auch die etablierten Funktionäre wurden aufgefordert, sich in ihrem Verwaltungsalltag der „Selbstkritik" zu bedienen. Sie sollten keine Gelegenheit auslassen, die klassenbewußte Gerechtigkeit der Sowjetmacht den Massen sichtbar vor Augen zu führen. Anstatt 79

Α. I. Gorbunkov and the Krasnyj Proletarii Factory, in: David R. Shearer: Industry, State, and Society in Stalin's Russia, 1926-1934, Ithaca 1996, S. 146-155. Shearer stützt sich auf Materialien, die für Maksim Gor'kijs Projekt der „Geschichte der Fabriken und Werke" zusammengestellt wurden: GARF f. 7952, op. 3, d. 94. Vgl. zu dieser Episode auch Merridale: Moscow Politics and the Rise of Stalin, S. 199-200.

3. Praktiken und Funktionen der Selbstkritik

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etwa Entlassungen ungeliebter Funktionäre einfach per Dekret anzuordnen, war es besser, diese in großen Versammlungen von der „proletarischen Öffentlichkeit" akklamatorisch bestätigen zu lassen. Die „Selbstkritik" wurde dann zu einem Erziehungs- und Legitimationstheater, das die nötige Stimmung erzeugte, um populäre wie unpopuläre Entscheidungen verständlich zu machen und im öffentlichen Bewußtsein die Gültigkeit bestimmter Verhaltensnormen zu verankern. Schon bei den Affaren von Sachty über Smolensk bis Baku hatte das Regime eine Reihe derartiger Exempel statuiert. Anstatt wie früher untragbar gewordene Funktionäre diskret auszuwechseln, inszenierte man ihre Ablösung auf der Bühne einer landesweiten Pressekampagne. Regionale und lokale Parteiorganisationen sollten sich nun dazu aufgefordert fühlen, in ihrem Verantwortungsbereich ebenfalls Mißstände aufzudecken und die „Massen" dabei möglichst spektakulär einzubeziehen. Im Idealfall wurde der „Bürokratismus" dann einem doppelten Druck ausgesetzt, die Kritik kam dann gleichzeitig „von oben" und „von unten".80 Doch solange die „Selbstkritik" erst „unzulänglich verbreitet" war, konnte das nicht gelingen. Als die ukrainische Gewerkschaftsleitung im Herbst 1928 - angeblich aufgrund „krankhafter Erscheinungen", tatsächlich aber unter dem Druck Moskaus - über 90 lokale Gewerkschaftskomitees plötzlich auflöste und neu wählen ließ, tadelte die zentrale Presse dieses Vorgehen als Unterlassungssünde: „... Es genügt zu sagen, daß die Auflösung ... von oben vollzogen wurde, während unter den Bedingungen der entfalteten Selbstkritik diese Organisationen von unten aufgelöst worden wären." 81

Wenn die „Izvestija" nicht vorhatte, die Massen künftig selbst über die Ernennung ihrer Funktionäre entscheiden zu lassen, konnte der Fehler der Gewerkschaftsleitung nur darin bestanden haben, daß sie es vermieden hatte, ein großes Spektakel zu veranstalten. Sie hätte die Arbeiter dazu veranlassen müssen, die fraglichen Funktionäre erst von unten her zu kritisieren, um diese dann anschließend unter dem aufgebauten „Druck der Masse" mit dramatischer Geste aus dem Amt zu jagen. Diese Gelegenheit hatte man versäumt - wenn nicht aus Leichtfertigkeit, dann mit der Absicht, die Betroffenen und die ukrainische Gewerkschaft vor zusätzlicher Stigmatisierung zu bewahren. In gewisser 80

Vgl. auch folgendes Zitat Stalins: „Man spricht von der Kritik von oben, von der Kritik durch die Arbeiter-und-Bauern-Kommission, durch das Zentralkomitee unserer Partei usw. Das alles ist natürlich gut. Aber das reicht jetzt bei weitem n i c h t . . . Das wichtigste besteht jetzt darin, eine breiteste Welle der Kritik von unten gegen den Bürokratismus überhaupt zu erheben, gegen die Fehler in unserer Arbeit - das vor allem. Nur wenn wir einen doppelten Druck organisieren, sowohl von oben wie von unten, nur wenn wir den Schwerpunkt auf die Kritik von unten verlegen, kann man mit einem erfolgreichen Kampf und einer erfolgreichen Ausmerzung des Bürokratismus rechnen." Rede auf dem VIII. Komsomol-Tag, v o m 16. Mai 1928. Zitiert nach: Stalin: Werke, Band 11, S. 6 5 - 6 6 . 81

Izvestija, 6.12.1928, S. 3.

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Weise stellte die Berichterstattung der „Izvestija" ein Gegenbeispiel dar, wie man es besser machen konnte: Schließlich diente ihre Kritik an den ukrainischen Gewerkschaften nicht zuletzt dazu, die breitere Öffentlichkeit auf die Entmachtung des „rechtsabweichlerischen" Gewerkschaftsführers Michail Tomskij vorzubereiten. Der Zielkonflikt der „Selbstkritik" mündete in die Frage, wie man sich gegenüber den Individuen verhalten sollte, die für „Mißstände" verantwortlich gemacht werden konnten. Übereinstimmend mit den Normen einer streng autoritären Gesellschaft wurde allgemein angenommen, daß eine mit offizieller Billigung lautgewordene Kritik an Funktionsträgern deren Autorität beschädigte und daher zwangsläufig ihre Ablösung, Versetzung oder Zurückstufung zur Folge haben müsse.82 Frühe Parteibeschlüsse zur „Selbstkritik" wie die Juni-Botschaft konzentrierten ihre Aufmerksamkeit ganz auf die Mißstände und nahmen die zu entfernenden „Schädlinge" und „ungeeigneten Elemente" nicht als besserungsfähige Individuen wahr. Doch schon bald dämpfte die Propaganda ihren aufrührerischen Tonfall und ergänzte die „Selbstkritik" nachträglich um den Gedanken der Individualerziehung. Ende Juni erklärte Stalin den Presseverantwortlichen, daß ihre „Kritik" die Wirtschaftsleiter „verbessern" und „festigen" müsse, nicht aber in ein sensationsgieriges „Kesseltreiben" (travlja) gegen sie ausarten dürfe.83 Auch Ingulov erinnerte die Presse daran, daß die „Selbstkritik" nicht das Ziel aus den Augen verlieren dürfe, die Effizienz von Wirtschaft und Verwaltung zu steigern: „Wo scheinbar ,ohne Ansehen der Person' kritisiert wird, konzentriert man sich zu sehr auf die Person und zuwenig auf die Institution. ... Wir müssen ... zu den Ursachen der Erscheinungen vordringen, diese selbst beseitigen und nicht nur die Schuldigen."84

Die Empfehlung, abschreckende Exempel zu statuieren, konnte Parteiorganisationen leicht zur Unsitte verleiten, einzelne Personen spektakulär davonzujagen, um anschließend genauso ineffizient weiterzuarbeiten wie bisher. Kaganovic erklärte den Moskauer Jungkommunisten sehr anschaulich, wie man die Selbstkritik nicht betreiben sollte: „Wißt ihr, es ist leicht, eine Sensation zu veranstalten. Man kann auftreten und sagen: ,Ivanov ist ein Dieb!' Aber dann sieht man hin, und er ist keineswegs ein Dieb... Wißt ihr, was das für eine Selbstkritik ist? Das heißt, ein Sieb in die Hand zu nehmen und einen Krug Wasser in die andere und ins Sieb zu gießen; das Wasser fließt weg, und nichts zum Teufel bleibt übrig. Das ist eine Selbstkritik ohne Früchte. Wir brauchen eine Selbstkritik, die geeignet ist, die Fehler zu korrigieren, die Partei zu stärken.. ,"85

82

Vgl., wie Stalin auf dem April-Plenum 1928 die Stimmung beschrieben hatte: „Selbstkritik heißt, daß sie jemanden absetzen wollen..." (siehe oben). 83 Gegen die Vulgarisierung der Losung der Selbstkritik, in: Stalin: Werke, Band 11, S. 113122 (=Pravda, 26.06.1928). 84 Ol'chovyj: Zadaöi agitacii propagandy i kul'turnogo stroitel'stva, S. 211. 85 Vgl. die Rede Kaganovics auf der ersten Moskauer Gebietskonferenz des Komsomol. Izvestija, 1.11.1929, S. 3.

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Was also war zu tun? Kaganovic sah in der richtigen Dosierung verbaler „Prügel" das geeignete Mittel, die häufig dysfunktional eskalierende „Selbstkritik" in ein kontrollierendes Erziehungsmittel zu verwandeln: „Wir müssen einen solchen Umgang mit den Menschen erarbeiten. Wenn dieser Mensch Fehler hat, 50 Prozent Fehler, aber der Mensch noch ganz ist, noch geändert werden kann, dann hat es keinen Sinn, ihn zu verprügeln, zu Tode zu prügeln: Kritisiere ihn, hau ihn gehörig auf die Nase (scelkni ego kak sleduet ν nos), aber damit es durch die Nase in den Kopf gelangt, damit er begreift und sich korrigiert. (Applaus)."86

Auch Ordzonikidze glaubte an die Möglichkeit, die Bürokraten durch schmerzhaftes, aber dosiertes Anprangern nachhaltig bessern zu können: „Die Komsomolzen von Rostov ... haben eine herrliche Methode gefunden, den Bürokratismus zu bekämpfen. Sie nahmen ein paar Leute, schickten sie ins Exekutivkomitee des Gebiets, kletterten dort in der ganzen Einrichtung herum, und am zweiten Tag gingen sie an die Öffentlichkeit: So empfängt man die Besucher an diesem Ort, jene Angelegenheit wird von dem und dem ausgebremst und so weiter. Die Fotografien dieser Personen veröffentlichte man in der Zeitung. Niemanden verschonten sie - weder die Großen noch die Kleinen. ... Ich denke, daß diese Genossen kein zweites Mal in die Zeitung kommen wollen und sich bessern werden."87

Die empfindliche, aber nicht eskalierende Beschämung sollte nach Ordzonikidzes Vorstellung weitere Strafmaßnahmen nicht vorbereiten, sondern überflüssig machen. Gleichwohl offenbart die Unbedarftheit der empfohlenen Holzhammerpädagogik das Desinteresse und die Hilflosigkeit, mit der die „Selbstkritik"-Propaganda den einzelnen Menschen gegenüberstand. Der Blick richtete sich streng von außen auf das Objekt der Einwirkung - den auszubessernden Menschen - in ungeduldiger Erwartung des Resultats. Im Blick auf die spätere Entwicklung fällt auf, daß weder Kaganovic noch Ordzonikidze hier die Möglichkeit erwähnten, erzieherische Schuldbekenntnisse einzufordern. Zur Zeit des „großen Umbruchs" und des ersten Fünfjahrplans erhielten die Beziehungen zwischen der Betriebsleitung und den Arbeitnehmern eine neue Qualität. Die Kampagnen zur Steigerung der Arbeitsdisziplin und -Produktivität (das Vorschlagswesen, der Kampf um die Senkung der Selbstkosten, der sozialistische Wettbewerb, die leistungsabhängige Lohndifferenzierung und das systematische Bloßstellen von „Faulenzern" in der Wandzeitung etc.) wurden sämtlich als Erscheinungsformen der „Selbstkritik" im Sinne einer kollektiven „Selbsterziehung" der Arbeiterklasse aufgefaßt.88 Praktisch kam dies einer Aufforderung an die Betriebsleitung gleich, die Arbeiter gegeneinander auszuspielen. Ingulov hatte den Fabrikdirektoren schon 1928 nahegelegt, die Kritik der Arbeiter „von unten" mit Kritik „von oben" zu beantworten und 86

Izvestija, 1.11.1929. Vgl. die Rede Ordzonikidzes auf dem achten Gewerkschaftstag. Izvestija, 21.12.1928, S. 2-3. 88 So bereits in der Juni-Botschaft: Bol'sevik, 1928, Nr. 11, S. 7. 87

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gegebenenfalls mangelhafte Arbeitsleistungen zur Sprache zu bringen. Als die Fabrikhallen sich in den folgenden Jahren mit unlängst vom Dorf eingetroffenen Arbeiter füllten, erlangten die Methoden des öffentlichen Inszenierens von Belohnungen und Bestrafungen eine zusätzliche Bedeutung. Mehr als die ältere Arbeiterschicht neigten die Zuwanderer zum Alkoholismus, zum Absentismus und dazu, den „sozialistischen Wettbewerb" zu boykottieren. Im propagandistischen Idealfall war es nicht die Betriebsleitung, sondern die „bewußtere" Arbeiterschaft, die als erste die Notwendigkeit begriff, daß zur Aufrechterhaltung der Arbeitsdisziplin die neuen Erziehungsmethoden angewandt werden mußten.89 Die Zeitschrift „Partijnoe stroitel'stvo" hielt es dabei für ratsam, „die Aufmerksamkeit der Masse" auf die „konkreten Träger des Übels" zu richten - etwa durch den Aushang von Namen oder Photos der „Blaumacher", der „Faulenzer" und „Disziplinverletzer" am Schwarzen Brett. In einem Moskauer Elektrowerk setzten die leistungswilligen Arbeiter eine Versammlung an und beschlossen dort, „die boshaften Blaumacher aus der Fabrik zu jagen, damit auch den anderen die Lust vergeht."90 Die neuen „selbstkritischen" Methoden der Disziplinierung und Leistungssteigerung durchdrangen bald die gesamte sowjetische Öffentlichkeit. Betriebsversammlungen und Wandzeitungen existierten zwar schon vorher, doch erst seit dem Fünfjahrplan bildeten sie zusammen ein öffentlich sichtbares, flächendeckendes System der gegenseitigen Überwachung. Als die beiden deutschen Bergassessoren Dr. Haack und Dr. Knepper im Frühjahr 1931 auf ihrer Reise durch die sowjetischen Industriegebiete einer sowjetischen Wandzeitung begegneten, notierten sie befremdet in ihrem Reisetagebuch: „Hier fanden sich ... große Tafeln, auf denen an der Seite untereinander Blitz, Flugzeug, Auto, Pferd, Mensch, Schildkröte und Schnecke abgebildet waren. ... Die einen arbeiten wie der Blitz, die anderen arbeiten wie eine Schnecke. Ob bei dieser Art von Kritik die Grenze zum Lächerlichen überschritten ist, läßt sich bei der Mentalität des russischen Volkes nicht genau sagen. Jedenfalls muß bezweifelt werden, ob sie wirksam ist. ... Daneben sahen wir auch Tafeln, wo man in Wort und Bild sich auf anonymen Plakaten... denunzierte. So war z.B. der uns bekannte Betriebsleiter X dargestellt, wie er mit dem Kulaken Y Wodka trinkt... Jedenfalls hat diese Methode zum Ziel, die Arbeiterschaft ... für jede Arbeitsleistung gefügig zu machen."91

Anders als 1928 diente die Wandzeitung hier weniger als Sprachrohr der „Kritik von unten nach oben", sondern vor allem als Erziehungsmittel der Betriebsleitung. Westliche Sozialhistoriker identifizierten diese neuen Kommunikationsformen zwischen der Obrigkeit und den Untertanen zwar so gut wie nie als Erscheinungsformen der „Selbstkritik", erkannten aber deren Bedeutung für die 89

Chvostizm i razvertyvanie samokritiki, in: Partijnoe stroitel'stvo, 1930, Nr. 6, S. 39-44. Partijnoe stroitel'stvo, 1930, Nr. 6, S. 42. 91 Eisen, Kohle und Öl in Sowjet-Rußland. Reise-Tageberichte, S. 19-20, in: Mannesmannarchiv, PR 3 73 06. 90

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Entwicklung der Sowjetgesellschaft. Ähnlich wie die deutschen Bergassessoren sah Donald Filtzer in den Wandzeitungen zuerst eine „raffinierte Form der Demütigung", die die Arbeiter „lächerlich" machte und auf diese Weise dazu beitrug, die proletarische Tradition der kollektiven Interessenvertretung auszurotten.92 Nach Meinung von Stephen Kotkin hingegen beruhte die „sowjetische Zivilisation" insgesamt auf der geschickten Ausübung herrscherlicher Definitionsmacht in der „sozialistischen Öffentlichkeit": Am Schwarzen Brett, beim sozialistischen Wettbewerb und in Betriebsversammlungen wurden den Untertanen positive und negative Identitäten wie „Stoßarbeiter" oder „Faulenzer" zugewiesen.93 Jeder war somit gezwungen, sich selbst im Alltag nach den Maßstäben des regimekonformen Deutungsrasters zu beurteilen. Bei diesem „Identifikationsspiel" zählte laut Kotkin nicht der Glaube an die propagierten Inhalte, sondern die Akzeptanz der Spielregeln oder die Kompetenz, sich „auf bolschewistisch" zu artikulieren.94 Nichtsdestoweniger erklärt Kotkin mit seinem kommunikationstheoretischen Ansatz auch die Durchsetzung der offiziellen Werte im Privatleben.95 Auch für Oleg Kharkhordin beruhte die öffentliche Ordnung der Sowjetunion letztlich auf den Mechanismen gegenseitiger Überwachung im Kollektiv.96 Allerdings gelangten die Sozialhistoriker nur selten zur Verallgemeinerung, daß die vorgestellten Erziehungsmethoden die Arbeitsbevölkerung als ganze infantilisierten. Die Ermahnung, daß die Kritik auf die „Korrektur" der Betroffenen, nicht aber auf deren sofortige Entlassung hinwirken solle, mochte die Verantwortlichen dazu veranlaßt haben, sich manchmal ganz unreflektiert entsprechend dem Szenario des agitsud zu verhalten, das die „ehrliche Reue" des Schuldigen mit seiner Reintegration in die Sowjetgesellschaft belohnte.97 Seit 1929 wurden von parteilosen Sowjetbürgern wie auch von einfachen Parteimitgliedern während der verschiedenen „Säuberungen" (cistki) immer häufiger Schuldbekenntnisse verlangt. Wie die Kandidatenvorstellungen bei Wahlkampagnen wurden auch die Säuberungen im Partei- und Sowjetapparat 1929/30 mit der „Selbstkritik" assoziiert.98 In ihrem Verlauf blieb der Ziel92

Vgl. Donald Filtzer. Soviet Workers and Stalinist Industrialisation. The Formation of Modern Soviet Production Relations, 1928-1941, London 1986, S. 86-90. 93 Kotkin: Magnetic Mountain. Stalinism as a Civilization, Berkeley 1995, Kapitel „Speaking Bolshevik", S. 199-220. 94 Kotkin: Magnetic Mountain, S. 215 und S. 220. 95 Bekanntheit erlangte in diesem Zusammenhang der „Brief an Marfa". Vgl. Kotkin: Magnetic Mountain, S. 218-219. 96 Im vierten Kapitel wird Kharkhordins Theorie eingehender vorgestellt werden. 97 Zum sowjetischen Gerichtsdrama (agitsud) vgl. Cassiday. The Enemy on Trial. 98 Schon in der Juni-Botschaft war die Forderung nach einer „Säuberung" (ociscenie) des Apparats von „ungeeigneten Elementen") laut geworden (siehe oben). Später brachte man die samokritika auch mit der institutionalsierten cistka in Verbindung. Vgl. u.a. Samokritika i vnutripartijnaja demokratija, in: Partijnoe stroitel'stvo, 1930, Nr. 12, S. 26; die gemein-

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konflikt zwischen kontrollierender Fehlersuche, eskalierender Treibjagd und moralisierendem Erziehungstheater häufig sichtbar. Wie bei der „Selbstkritik" überhaupt ging es auch hier nicht zuletzt darum, in gewachsenen Milieus die traditionellen Loyalitätsverhältnisse und Umgangsformen aufzubrechen und diese durch die Regeln der panoptischen „sozialistischen Öffentlichkeit" zu ersetzen. Sogar die Säuberungskommissionen der Arbeiter-und-BauernInspektion, die noch am ehesten in der Lage gewesen wären, das berufliche Verhalten von Betriebs- und Verwaltungsangestellten kompetent zu beurteilen, zeigten sich an objektiven Sachverhalten mitunter völlig desinteressiert. Das galt sogar dann, wenn, wie 1929/30 im Moskauer Betrieb Masinoob'edinenie, der Vorwurf der Mißwirtschaft untersucht werden sollte." David Shearer zufolge erinnerte die dortige „Säuberung" weniger an eine Gerichtsverhandlung als an ein „politisches Moralstück".100 Die Kommission fahndete gerne nach politischen Vergehen in der Vergangenheit der Beschuldigten, interessierte sich aber kaum für deren Entlastungsargumente. Statt dessen ging es ihr vor allem darum, den Vorgeladenen unnachgiebig die Rolle eines bereits überführten Missetäter aufzuzwingen, der kein Recht mehr hatte, anders als überaus demütig aufzutreten. Die Beschuldigten wurden aufgefordert, das Ausmaß und den Charakter ihrer Schuld zu erläutern, anstatt sich zu verteidigen. Jedoch scheinen sich die Angestellten von Masinoob'edinenie gegen diese Zumutungen 1929/30 immer noch hartnäckig gesträubt zu haben.101 Doch der in solchem Dialog erkennbare Paternalismus der sowjetischen Obrigkeit legte den Untertanen nahe, den Ausweg gegebenenfalls in der demonstrativen Reuebezeugung zu suchen. Wie die aus der Partei ausgeschlossenen Trotzkisten hatten schließlich auch die „gesäuberten" Studenten oder Sowjetangestellten die Möglichkeit, gegen diese Maßnahme Berufung einzulegen. Und wer sich weder auf eine lupenreine proletarische Herkunft noch auf politische Verdienste berufen konnte und eine Widerlegung der Vorwürfe für aussichtslos hielt, griff seither verstärkt auf Schuldbekenntnisse und Besserungsversprechen zurück.102 Der Rückgriff an den Topos von „Reue und Vergebung" war eher eine spontane Reaktion der Zeitgenossen auf äußeren Druck und vom Regime keineswegs planmäßig angesteuert worden. Sergej Ingulov, der profilierteste Propagandist der „Selbstkritik", ärgerte sich sogar same CK-CKK-Resolution vom 23. April 1933, in: Ε. M. Jaroslavskij: Za bol'sevistskuju proverku i öistku ijadov partii, Moskau 1933. Zu den Säuberungen im Sowjetapparat und an den Hochschulen vgl. Merridale: Moscow Politics and the Rise of Stalin, S. 190-217; Peter Konecny: Builders and Deserters. Students, State and Community in Leningrad, 1917-41, Montreal 1999, S. 125-141; Shearer. Indystry, State and Society in Stalin's Russia, S. 196203. 99 Vgl. Rabkrin's Purge, in: Shearer. Industry, State and Society in Stalin's Russia, S. 196— 203. Shearer stützte sich auf folgendes Archivmaterial: RGAE, f. 5716, op. 2, d. 2 und 24. 100 Shearer: Industry, State and Society in Stalin's Russia, S. 199. 101 Vgl. Shearer. Industry, State and Society in Stalin's Russia, S. 200. 102 Vgl. auch Konecny. Builders and Deserters, S. 122-123.

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über die voreilige Bereitschaft vieler Funktionäre, auf Vorwürfe von „oben" oder „unten" mit Schuldeingeständnissen zu antworten, und sprach Ende 1929 von einer „neuen Unsitte": „Man muß noch bemerken, daß die Vorurteile, die an bestimmten Orten die Entfaltung der Selbstkritik begleiten, mancherorts eine neue Art von eigentümlichen ,Halleluja-Singens' (allilujscina) hervorbrachten: die Bereitschaft, voreilig Fehler einzugestehen - nicht nur begangene, nicht nur tatsächliche, sondern sogar ... nicht begangene, ... nur eingebildete. Da ... eine Voreingenommenheit gegenüber Rechtfertigungen besteht,... gibt es Genossen, die es vorziehen, sogar diese nicht gemachten Fehler ,zu gestehen', nur um sich nicht dem Vorwurf auszusetzen, sie ,beharrten auf den Fehlem'. ... Solche Selbstaufopferungen sind vielleicht in Romanen angebracht, welche die originellen Züge der russischen Intelligenzler idealisieren, aber sind kaum ein nützlicher Beitrag unseres bolschewistischen Inventars.'"03

Er führte diese Erscheinung auf das Bestreben der „Bürokraten" zurück, die immer nach dem Weg des geringsten Widerstands suchten und die „Selbstkritik" daher in ein leerlaufendes Ritual verwandeln wollten: „Man kann unter sowjetischen Bürokraten ... auch folgende Erscheinung beobachten: Sie sind schon bereit, die alte Form des bürokratischen, rechtfertigenden Antwortschreibens durch eine neue zu ersetzen - den Reuebrief, wobei sie offensichtlich annehmen, daß sie nach der Methode einer Ostrovskij-Figur am bequemsten leben werden:,Sündigen und Bereuen, Sündigen und Bereuen'. Gegen diesen neuen Typ des ,Halleluja-Singens' muß man ernsthaft kämpfen..."

In diesen Formulierungen wird hinter dem Parteipropagandisten auch ein Mensch mit individuellen Motivationen sichtbar. Der revolutionäre Ideologe Ingulov begegnete den moralischen Schuldbekenntnissen mit großem Widerwillen, in dem sich antireligiöse Gefühle und die Verachtung der „irrationalen" russischen Seele mit dem Verdacht vermengten, der Beschuldigte wolle mit einem „heuchlerischen, komödiantischen" Auftritt hysterisches Mitleid erregen und seiner Strafe entgehen. Für ihn hingegen zählten keine verbalen Bekenntnisse, sondern nur die praktische Bereitschaft, etwas zu ändern. Er propagierte ein anderes Szenario, das ebenfalls die Bereitschaft der Schuldigen voraussetzte, Fehler zuzugeben. Funktionäre, die „von unten" kritisiert wurden, sollten die Nerven behalten, mit den Kritikern das ausfuhrliche Gespräch über alle Probleme suchen und sich nicht davor scheuen, gegebenenfalls auch Fehler einzuräumen. Als positives Beispiel nannte er den sibirischen Rajkom-Sekretär Anan'in, der in der Zeitung „Sovetskaja Sibir'" heftig angegriffen worden war. In seinem Antwortbrief an die Zeitung schilderte Anan'in seine Reaktion auf die Kritik: Er hatte ein lokales Plenum einberufen, in dem über den kritischen Zeitungsartikel stundenlang debattiert worden war. Die Parteimitglieder hatten sich „mit bolschewistischer Offenheit" über die Fehler Anan'ins und anderer Genossen ausgesprochen, wobei sich herausgestellt hatte, daß nicht alle Vorwürfe aufrecht erhalten werden konnten. Zwar hatte Anan'in die wichtigsten Fehler zugeben müssen, glaubte aber dennoch, von 103

Ingulov. Samokritika ν dejstvii, Moskau 1930, S. 121-122.

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sich behaupten zu können, daß die „Autorität der Partei" und damit auch seine eigene „Autorität nicht gelitten" habe. Die ganze Parteiorganisation sei gestärkt aus dem Plenum hervorgegangen.104 Das „ehrliche, bolschewistische" Fehlereingeständnis war also als Teil eines individuellen und kollektiven Lernprozesses aufzufassen. Kein Unschuldiger sollte sich zu Schuldbekenntnissen verpflichtet fühlen und kein Schuldiger sollte glauben, sich alleine durch ein Reuebekenntnis rehabilitieren zu können. Die „Selbstkritik" wurde auch als Aufforderung zur Neugestaltung des Kommunikationsraums in den politischen Abstimmungsgremien interpretiert. Die Sitzungen des Zentralkomitees sollten künftig weder zu polarisierender Polemik noch zum redundanten „Halleluja-Gesang", sondern zur vertraulichen, sachlichen, problemorientierten, kontroversen und doch einvernehmlichen Diskussion genutzt werden. Stalin beteuerte auf dem April-Plenum 1928, daß die neue Losung sich keineswegs gegen bestimmte Personen innerhalb der Nomenklatura richten sollte: „Einige Genossen denken folgendermaßen: Wenn man die Selbstkritik entfacht, dann heißt das, daß man irgendjemanden absetzen wollen. (Gelächter).... Aber wenn ihr meine persönliche Meinung hören wollt, dann bin ich dafür, daß kein einziger Wirtschaftsleiter wegen der Sachty-Affäre entlassen werden soll. Man sucht hier Schuldige. Da gibt es nichts zu suchen, Genossen. Wenn ihr so wollt, dann sind wir alle hier die Schuldigen. (Stimmen: ,Richtig!'). Angefangen mit den zentralen Einrichtungen von Staat und Partei bis zu den Organisationen an der Basis. Es geht darum, die Fehler in unserer Arbeit aufzudecken und sie mit vereinten Kräften zu beseitigen. Und dafür brauchen wir die Selbstkritik, eine ehrliche Kritik der Fehler unserer Arbeit und den Willen, diese Fehler zu beheben."105

„Selbstkritik" in diesem Sinn bedeutete offenbar eine völlig unverfängliche, konstruktive Aussprache über vorhandene Probleme, die durch einen kontroversen Verlauf nur an Tiefe und Gehalt gewinnen konnte. Die Anredeform „wir alle" war geeignet, das Plenum als einen großen Familienrat erscheinen zu lassen, dessen Teilnehmer sich gegenseitig vertrauensvoll respektierten und auf annähernd gleicher Ebene nützliche Gedanken austauschen konnten. Sowohl die Parteiführung wie auch die „Rechtsabweichler" versuchten bald, ihre sichtbar werdende Auseinandersetzung verharmlosend als „Selbstkritik" im Sinn einer konfliktlosen Meinungsverschiedenheit zu deuten. Schon auf dem April-Plenum nutzte Stalin die Gelegenheit, dem Zentralkomitee zu schmeicheln, indem er die aufreibenden Debatten der vorangegangenen Tage rückwirkend zum Musterbeispiel vorbildlicher „Selbstkritik" erklärte.106 Die104

Ingulov. Samokritika i praktika ee provedenija, S. 33-35. Jakovlev: Kak lomali NEP, Τ. 1, S. 233. 106 „Die erste Frage - das ist die Frage nach dem Charakter unserer Debatten. Sie sehen, daß die Debatte zu den Punkten der Tagesordnung, sowohl zur Frage der Getreidebeschaffung wie auch zur Frage der Sachty-Affare im Zeichen strenger Selbstkritik steht. Die Kritik unserer eigenen Fehler, die Selbstkritik der Organisationen von Partei, der Sowjets und der Wirtschaft - das ist der Grundton unserer Debatte." Jakovlev. Kak lomali NEP, Τ. 1, S. 232. 105

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se Bemerkung konnte sich nur darauf beziehen, daß die Redner, vor allem in der politisch heiklen Frage der Getreidebeschaffung, ihre tatsächliche Meinung geäußert hatten und es zu einer regelrechten Kontroverse gekommen war, bei der die Anhänger Stalins sich nicht recht hatten durchsetzen können. Wenn Stalin nun euphemistisch von „Selbstkritik" sprach, dann wohl mit der Absicht, die Brisanz der Situation zu überspielen, indem er sogar bei dieser Frage das Vorhandensein gegensätzlicher Positionen kurzerhand zur wünschenswerten Normalität erklärte. Nachdem er jahrelang um die einstimmige Zustimmung zu seiner Politik gekämpft hatte, kam diese Wendung ziemlich überraschend. Sollte die Äußerung abweichender politischer Meinungen nun also doch erlaubt sein, wenn sie sich als eine Form von „Selbstkritik" ausgab? Die Rechtsabweichler versuchten in den folgenden Monaten jedenfalls, dieses Argument für sich in Anspruch zu nehmen. Auf der Septembersitzung des Moskauer Parteikomitees trat Martyn Ljadov der Behauptung entgegen, es gäbe im Zentralkomitee „Abweichungen" (uklony): im „Es stände übel um unsere Partei, wenn es in unseren Plenen keinen Streit geben würde, ... wenn in jeder Frage völlige Eintracht bestünde, wenn wir uns untereinander nicht prügeln würden. Nicht das ist es, was Abweichungen ausmacht".108

Entscheidend blieb für Ljadov, daß das Plenum seine Resolution schließlich einstimmig verabschiedet hatte. Vor der Abstimmung aber müsse es Streitereien geben, da sich das Zentralkomitee ja sonst in einen „Stempelautomaten" verwandeln würde, der „alle Entscheidungen des Politbüros automatisch bestätigt." Der Daseinszweck des Zentralkomitees bestehe aber eben darin, das Spektrum der unterschiedlichen Meinungen sichtbar werden zu lassen.109 Molotov konnte sich mit dieser Ansicht allerdings nicht anfreunden. Er betonte, daß „Betrachtungen über den Nutzen von Prügeleien" an der Parteispitze „mit dem Bolschewismus nichts gemeinsam" hätten: „Man darf die Durchführung der Losung der Selbstkritik keineswegs im Sinne der Zulässigkeit von Schwankungen und Unklarheiten hinsichtlich der Durchführung der Parteilinie ... auslegen."110

Die Auseinandersetzung zwischen Stalinisten und Rechten wurde hier auch zu einer Debatte über die Streitkultur. Trotz der klaren Worte Molotovs hielten die Rechten noch ein volles Jahr an der Auffassung fest, daß ihre Einwände gegen Stalins Politik so lange als legitime „Selbstkritik" zu gelten hätten,

107 Martyn Nikolaevic Ljadov (eigtl. Mandelstam), 1872-1947, von 1923 bis 1929 Rektor der Kommunistischen Sverdlov-Universität und von 1927-1930 Mitglied des Moskauer Parteikomitees, stand politisch Uglanov nahe. Vgl. Zalesskij: Imperija Stahna, S. 289 und David-For. Revolution of the Mind, S. 129-131. 108 VKP(b): Pjatyj ob'edinennyj plenum MK i MKK VKP(b) 11-12 sentjabija 1928, Moskau 1928, S. 119. 109 VKP(b): Pjatyj ob'edinennyj plenum MK i MKK VKP(b), S. 199. 110 VKP(b): Pjatyj ob'edinennyj plenum MK i MKK VKP(b) S. 144.

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„Kritik und Selbstkritik": Ursprung u. Wirkung eines neuen Schlagworts

wie sie im Zentralkomitee keine oppositionelle Stimmgemeinschaft bildeten. Das schließliche Scheitern dieser Position im November-Plenum 1929 wurde schon im ersten Kapitel ausführlich beschrieben. In ihrem demütigen Reuebekenntnis mußten sie nachträglich zugeben, eben doch nicht nur konstruktive Kritik geübt, sondern sich einer politischen „Abweichung" schuldig gemacht zu haben. Mehr Erfolg hatte Stalin mit seinen Versuchen, die „Selbstkritik"-Losung politisch gegen die Rechten auszunutzen. Sie erlaubte es ihm, in Moskau im Oktober 1928 eine Kampagne der „innerparteilichen Demokratie" gegen Uglanov und Tomskij zu entfachen, ohne schon zu diesem Zeitpunkt das ganze Ausmaß der politischen Meinungsverschiedenheiten offenlegen zu müssen. So wurde die angebliche „Unterdrückung der Selbstkritik" in Uglanovs Moskauer Parteiorganisation und in den von Tomskij geleiteten Gewerkschaften 1928 groß herausgestellt.111 Obwohl die Propaganda stets zur schrankenlosen Kritik „ohne Ansehen der Person" aufrief, mußte jede lokale Kampagne sich ins politisch erwünschte Stimmungsbild einfügen, wenn sie für die Akteure nicht zum Bumerang werden sollte. Als beispielsweise die „Pravda" im September 1929 auf Initiative Emel'jan Jaroslavskijs begann, nach etabliertem Muster kampagnenartig über Erscheinungen des „moralischen Zerfalls" in der Leningrader Parteiorganisation und die dortige „Unterdrückung der Selbstkritik" zu berichten, zog sie sich den Unmut Stalins zu.112 In zwei Briefen an Molotov drückte der Generalsekretär mit drastischen Worten sein Unverständnis über die politische Instinktlosigkeit des „Selbstkritik-Sportlers" (sportsmen ot samokritiki) Jaroslavskij aus, der die „glückliche Fähigkeit" besitze, „nicht weiter zu sehen als bis zur Nasenspitze". Was mochte diesen nur veranlaßt haben, das Prestige des linientreuen Gebietssekretärs Sergej Kirov zu beschädigen? „Die [Genossen in der Redaktion der ,Pravda', L. E.] haben vergessen, daß die Leningrader Organisation nicht die Organisation von Soci, Astrachan oder Baku ist. Die haben vergessen, daß ein Schlag gegen die Leitung der Leningrader Organisation, eine zuverlässige Stütze des CK, aber auch ein Schlag ins Herz des CK ist.. ."" 3

Sobald es seine engere Umgebung betraf, verteidigte also auch Stalin die „Ehre seiner Uniform" - allen anderslautenden Imperativen der samokritika-Propaganda zum Trotz. Für Molotov und Ordzonikidze war der Vorfall offenbar Anlaß genug, in der Frage der „Selbstkritik" einen Kurswechsel in Erwägung zu ziehen, dem sich Stalin aber entgegenstellte. Nach seiner Meinung genügte es, „Ton und Geist der Selbstkritik in diesen Zeitungen" zu ändern, damit alles wieder „gut laufen" würde. Ironischerweise durfte er hinterher zur Kennt'" Zur Kritik an den Gewerkschaften vgl. die Presseberichterstattung im Vorfeld des achten Gewerkschaftstags, z.B. in der Izvestija am 18.11.1928 und am 6.12.1928. 112 Vgl. Chlevnjuk·. Pis'ma Stalina Molotovu, S. 160-162 und S. 164-165. 113 Chlevnjuk·. Pis'ma Stalina Molotovu, S. 165.

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nis nehmen, daß Jaroslavskijs Übereifer sogar sein Gutes gehabt habe: Entgegen seinen Erwartungen hatte die Autorität der Leningrader Parteiführung unter der „selbstkritischen" Aufdeckung einiger Mißstände nicht nur nicht gelitten, sondern war - genau wie es die Propaganda stets versprach - tatsächlich gewachsen!114 Molotov und die Parteipresse feierten die Regiepanne dementsprechend als lebendigen „Beweis" dafür, daß „die Partei sogar ihre allerbesten Organisationen kritisiert, wenn sie den einen oder anderen Fehler begehen".115 Als Kaganovic seinen CK-Kollegen auf dem April-Plenum 1928 freimütig und „selbstkritisch" von einer wirtschaftlichen Fehlentscheidung der ukrainischen Parteiführung berichtete, der er damals angehörte, wurde er prompt von Vorosilov unterbrochen: „Voroäilov: Und warum habt ihr ... [diese Entscheidung, L. E.] dann unterstützt? Kaganoviö: Das sind ja unsere Fehler in der Wirtschaftsführung, die wir korrigieren müssen. Voroäilov: Hör auf dich zu geißeln (samobicevaniem ne zanimajsja). Kaganovic: Und du störe nicht die Selbstkritik (a ty ne mescaj samokritike). Am schädlichsten wäre Eigenlob oder Verschweigen, Verdrängen. Ich spreche davon nicht deswegen, weil ich mich geißeln will - es ist lächerlich für einen Bolschewiken, in der Rolle des sich geißelnden Büßers (samobicyjuscijsja) aufzutreten und das Haupt mit Asche zu bestreuen (posypat' glavu peplom), darum geht es nicht. Die Sache ist die, daß wir alle unsere Fehler aufdecken müssen, um sie zu korrigieren und künftig solche Überraschungen wie die Sachty-Affäre auszuschließen."116

Die allzusehr mit dem verachteten Christentum assoziierten Haltungen der „Buße", der „Reue" und der „Selbstgeißelung" galten 1928 noch als unvereinbar mit der Haltung einer bolschewistischen Führungspersönlichkeit. Das Sprechen über eigene Fehler konnte sich hier nur als rationale Erkenntnismethode rechtfertigten. Doch die suggestive Eindringlichkeit des Schlagworts „Selbstkritik" und Lenins oft zitierte Aufforderung an die Bolschewiki, sie sollten „den Mut haben, ihre Fehler zu erkennen", begünstigte auch in der Parteielite das Entstehen einer Kultur der individuellen Schuldbekenntnisse. Von Provinzfunktionären, die im Zentralkomitee Bericht erstatteten, scheint Stalin intern schon während der zwanziger Jahre regelmäßig beflissene Fehlereingeständnisse erhalten zu haben, ohne ihnen besondere Bedeutung beizumessen.117 114

Chlevnjuh Pis'ma Stahna Molotovu, S. 172. Vgl. Samokritika i vnutripartijnaja demokratija, in: Partijnoe stroitel'stvo, 1930, Nr. 12 (14), S. 22. Auch Molotov äußerte sich in diesem Sinn auf einer Moskauer Parteikonferenz. VKP(b): Pervaja Moskovskaja oblastnaja konferencija VKP(b). Sentjabr' 1929 g. Vyp.l. 1.6 Jakovlev: Kak lomali NEP, Tom 1, S. 212. 117 „Wir bestellen gewöhnlich die Sekretäre der Bezirks- und Gebietskomitees zum Vortrag ins CK und überprüfen die Ausführung der Direktiven des CK. Die Sekretäre halten ihren Vortrag und erkennen an, daß es in ihrer Arbeit Unzulänglichkeiten gibt. Das CK tadelt sie und faßt einen Beschluß nach der Schablone und erteilt die Anweisung: Die Arbeit erweitern und vertiefen, das und das hervorheben, diesem und jenem ernsthafte Aufmerksamkeit schenken usw. (Gelächter). Die Sekretäre fahren mit diesen Beschlüssen zurück in die Pro1.5

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„Kritik und Selbstkritik": Ursprung u. Wirkung eines neuen Schlagworts

Die bereits hinlänglich beschriebene Bauman-Affare lieferte 1930 schließlich den Präzedenzfall, der die neue Norm etablierte. Anknüpfend an Stalins Rhetorik gelang es dem Moskauer Parteichef, das Regionalplenum davon zu überzeugen, daß sein Schuldbekenntnis nicht mehr als fraktionelle „Kapitulation", sondern als gehörige „bolschewistische" Reaktion auf die erzieherische „Selbstkritik von oben" aufgefaßt werden mußte. Nach Stalins Artikel „Vor Erfolgen vom Schwindel befallen" und insbesondere nach seiner „Antwort an die Genossen Kollektivbauern" sahen sich außer dem Moskauer Parteikomitee auch Dutzende anderer regionaler und lokaler Parteiorganisationen veranlaßt, sich in aller Form der von Stalin kritisierten Fehler zu bezichtigen und Besserung zu versprechen. Schließlich hatte der Generalsekretär unter anderem erklärt, die „größte Schwierigkeit" bestehe nun in der „Angst" vieler Parteifunktionäre, ihre „Fehler zuzugeben", in ihrer „Angst vor Selbstkritik" und dem „mangelnden Wunsch, die Fehler schnell und entschlossen gutzumachen".118 Diese oft zitierte Forderung Lenins richtete Stalin inzwischen wie selbstverständlich an die Individuen. Vorerst wurden die nun überall fälligen Schuldbekenntnisse aber nur selten als persönliche Reue geäußert, sondern meistens in Form von Parteiresolutionen abgelegt.119 Wie das von Karl Bauman geleitete Moskauer Komitee hatten manche Parteiorganisationen große Schwierigkeiten, auf Anhieb den erwünschten demütigen Ton anzuschlagen. Ein „selbstkritischer" Beschluß des Bezirkskomitees von Orechovo-Zuevo mußte neu formuliert werden, nachdem die erste Variante von der „Pravda" als „nicht ausreichend" getadelt worden war.120 Erst in den dreißiger Jahren verfestigte sich die „Selbstkritik" schließlich zu einer Art höfischem Verhaltenskodex, der Funktionsträgern vorschrieb, auf resoluten Tadel von oben mit vorbehaltlosen persönlichen Schuldbekenntnissen zu antworten.

Schlußfolgerung: Die Öffentlichkeit als Falle Im Ganzen meinte „Selbstkritik" nicht nur die Summe der hier vorgestellten konkreten Erscheinungsformen, sondern die kritische Haltung, die der sowjetische Mensch sich selbst und seinen Kollegen gegenüber einnehmen sollte. Einrichtungen wie die Parteisäuberung, die Neuwahlen sowjetischer Funktionsträger, der sozialistische Wettbewerb, die offene Betriebsversammlung und die Wandzeitung bildeten zusammen einen parteidominierten öffentlivinz. Dann bestellen wir sie wieder ein, und dann kommt wieder das gleiche von wegen Vertiefung und Erweiterung usw. usw. ..." Jakovlev: Kak lomali NEP, Τ. 1, S. 240. 118 Stalin: Werke, Band 12, S. 187: Rede an die Genossen Kollektivbauern (= Pravda, 3.4.1930). 119 Auffällig ist die Häufung der Schuldbekenntnisse zentralasiatischer und kaukasischer Parteiorganisationen. Vgl. die Ausgaben der „Pravda" vom April 1930. 120 Vgl. Pravda, 7.4.1930, S. 4; 10.4.1930, S. 4.

Schlußfolgerung: Die Öffentlichkeit als Falle

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chen Raum, der immer mehr sowjetischen Bürgern ein bestimmtes Kommunikationsverhalten aufzwang. Als Diskurs im Foucault'schen Sinn verwandelte die „Selbstkritik" den öffentlichen Raum in eine panoptische Kontrollzone, in welcher sich die Teilnehmer je nach Charakter und Geschick für ihren weiteren beruflichen und politischen Auf- oder Abstieg bewähren oder disqualifizieren konnten. Nicht nur Parteimitglieder, sondern alle Beschäftigten staatlicher Einrichtungen und Betriebe, auch die Kolchosbauern und Schulkinder wurden schließlich mit der Aufforderung konfrontiert, sich an der „Selbstkritik" zu beteiligen. Fernhalten konnte sich schließlich nur, wer keinem sowjetischen Kollektiv angehörte und ein Leben am Rand der Gesellschaft führte: Rentner, Witwen, Bettler, Kriminelle, Strafgefangene, Priester, Verbannte etc.121 Doch während die dörfliche Gesellschaft, einschließlich der Parteizelle, nur am Rande mit der „Selbstkritik" in Berührung kam, mußten sich Zeitgenossen, die von der Partei oder dem Staat festes Einkommen, Wohnung und Karriere erhofften, in den dreißiger Jahren innerhalb des Diskursraums von „Kritik und Selbstkritik" aktiv zurechtfinden. Diese Kunst fiel in der Praxis weitgehend mit der Fähigkeit zusammen, sich in der bolschewistischen Parteisprache auszudrücken und ihre Schlüsselbegriffe richtig an den jeweiligen Kontext anzupassen. Das galt prinzipiell für alle Funktionsträger, für Schriftsteller und Architekten ebenso wie für Ärzte, Offiziere, Facharbeiter und Ingenieure, egal ob sie Parteimitglied waren oder nicht. Das Regime erhoffte sich von der Einrichtung eines solchen, nach dem Prinzip des vorauseilenden Gehorsams funktionierenden gesellschaftlichen Raumes, in welchem der Wille des Regimes unmittelbar auf die Gesamtgesellschaft einwirken konnte (parallel zu den öffentlichkeitsfreien, bürokratisch konstruierten Apparaten, die klar formulierte Befehle benötigen), offenbar eine effizientere Ausübung von Herrschaft. Als unbürokratische Form der Machtausübimg sollte die „Selbstkritik" die „Loslösung" des Herrschaftsapparates „von den Massen" auf Dauer verhindern.122 Ahnlich wie der Abstimmungs121 In den dreißiger Jahren gab es einige Versuche, die „sozialistische Öffentlichkeit" auch in den Zwangsarbeitslagern einzuführen, die aber bald wieder fallen gelassen wurden. Vgl. Belomorsko-Baltijskij Kanal imeni Stahna. Istorija strojtel'stva 1931-1934 gg. Moskau 1998 [Nachdruck der Ausgabe von 1934]; Andrej Vysinski (Hrsg.): Ot tjurmi k vospitatel'nym uCrezdenijam, Moskau 1934. Um 1950 konnte der Häftling Solzenicyn frohlocken: „Zehn Jahre ohne Versammlungen! Die reinste Bergluft. ... Und du brauchst nicht ins Wahllokal zu pilgern... Man verlangt von dir keine sozialistischen Verpflichtungen. Keine Kritik der eigenen Fehler. Keine Artikel für die Wandzeitung. Kein Interview mit dem Lokalreporter". Alexander Solschenizyn: Der Archipel Gulag. Folgeband. Arbeit und Ausrottung, Seele und Stacheldraht, Bern 1974, S. 585-586. 122 Die „Verbindung mit den Massen" nahm in Stalins Denken zweifellos eine zentrale Rolle ein: „Ich denke, die Bolschewiki erinnern uns an den Heros der griechischen Mythologie, Antäus. Ebenso wie Antäus sind sie dadurch stark, daß sie die Verbindung mit ihrer Mutter, mit dem Volke, aufrecht erhalten, ... und haben [daher] alle Aussicht, unbesiegbar zu bleiben." Geschichte der Kommunistischen Partei der Sowjetunion (Bolschewiki). Kurzer Lehrgang, Berlin 1946, S. 439.

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„Kritik und Selbstkritik": Ursprung u. Wirkung eines neuen Schlagworts

körper wurde der samokritika-Raum Schauplatz einer typisch stalinistischen Umstülpung des Diskurses: Eine ursprünglich zur Partizipation einladende Kommunikationsform verwandelte sich in eine Technik panoptischer Sozialkontrolle. Daraus darf jedoch nicht geschlossen werden, daß diese Kontrolle immer nur im Sinne der zentralen Staatsführung ausgeübt worden wäre. Allzu leicht ließ sich die „Selbstkritik" fur Gruppeninteressen instrumentalisieren. Sowohl der politische Bekenntniszwang wie auch die Aufforderung zur „Selbstkritik" begünstigte die Etablierung einer neuen Praxis von Schuldbekenntnissen. Die Identifizierung und Behandlung der Schuldigen funktionierte dabei allerdings unterschiedlich. Der Oppositionelle im Abstimmungskörper hatte sich stets selbst als solcher zu erkennen gegeben, indem er dem herrschenden Mehrheitswillen seinen eigenen Willen entgegenstellte. Um den Konflikt zu bereinigen, mußte er „kapitulieren", das heißt seine Willensbekundung in aller Form wieder zurücknehmen. Die samokritika hingegen richtete sich gegen diejenigen, die sowieso nicht die Möglichkeit, den Willen oder den Mut gehabt hätten, öffentlich gegen die Parteilinie zu kämpfen. Zum „Bürokraten", „Opportunisten", zum „verfaulten Element" wurde man nicht durch Selbstpositionierung, sondern aufgrund einer Identitätszuschreibimg von außen. Bevor die Feinde und „ungeeigneten Elemente" aus dem öffentlichen Leben eliminiert werden konnten, mußten sie anhand ihrer sozialen Herkunft, ihres Persönlichkeits- und Verhaltensprofils erst einmal als solche „entlarvt" werden. Dieser Mechanismus kannte mehr Schattierungen als der Abstimmungskörper, er identifizierte nicht nur Negativpersonen, sondern auch besserungsfähige Erziehungsobjekte. Fehlereingeständnisse erwartete die „Selbstkritik" üblicherweise nur von solchen Kritisierten, die nicht als „Feinde" zu gelten hatten und denen eine zweite Chance eingeräumt werden durfte. Im elitären Umfeld politischer Entscheidungsträger wurde die von Stalin schon einige Jahre zuvor eingeforderte Pflicht loyaler Mitstreiter, vom Regime gerügte Fehler rechtzeitig „einzusehen", bevor sich „schädliche Plattformen und Fraktionen" bilden konnten, nun in der Sprache des Erziehungsdiskurses der „Selbstkritik von oben" neu formuliert. Diese Entwicklung verdient um so mehr Beachtung, als die „Selbstkritik" ursprünglich weder nach Schuldbekenntnissen verlangt hatte noch eine Methode der Individualerziehung sein sollte. Erst nachträglich wurde der Gedanke um einen pädagogischen Anspruch erweitert, der der stalinistischen Kaderpolitik einen optimistischeren Anstrich verleihen sollte. Die notorische Grobheit und Ignoranz gegenüber den beherrschten Individuen wurde dann hinter der Staffrage eines dramatischen Erziehungstheaters unsichtbar, das dem Regime in schwierigen Situationen nicht zuletzt zur Gesichtswahrung diente. Die Maßregelung Baumans etwa illustrierte dann nicht das Vorhandensein interner Streitigkeiten oder das Scheitern der ersten Kollektivierungskampagne, sondern die Wirksamkeit der höheren Kadererziehung, die sich im ehrlichen, offenen,

Schlußfolgerung: Die Öffentlichkeit als Falle

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aufrichtigen Fehlereingeständnis des zu Erziehenden manifestierte. Der pädagogische Anspruch wurde umgekehrt von den Beherrschten dazu instrumentalisiert, sich aus der Gefahrenzone des eliminatorischen Abstimmungskörpers in die Sphäre der scheinbar versöhnlichen, integrierenden samokritika-Öffentlichkeit zu flüchten. Im vierten Kapitel wird davon ausgiebig die Rede sein.

III. Die Gleichschaltung des Geisteslebens: „Selbstkritik" als Fehlereingeständnis Einleitung Wie schon in den ersten beiden Kapiteln beschrieben wurde, integrierte sich seit 1930 die Praxis der Schulbekenntnisse zunehmend in den Diskurs der „Selbstkritik". Für diese neue Praxis war die Verbindung der ultimativen Forderung nach einem „offiziellen", formalen Regeln entsprechenden Fehlereingeständnis mit den konstruktiven, erzieherischen Elementen des samokritikaDiskurses kennzeichnend. Für die Parteielite stellte der Umgang mit Karl Bauman im April 1930 den Präzedenzfall dar. Das folgende Kapitel versucht, diesen komplizierten Vorgang am Beispiel von zwei Gruppen regimenaher Intellektueller zu verfolgen: den Literaten im Umfeld der RAPP und den Akademikern an den Hochshuieinrichtungen der Partei. Obwohl „Selbstkritik" und „Reue" auch anderswo zu einem einheitlichen Phänomen verschmolzen, so erscheint es dennoch sinnvoll, das Milieu der Parteiintelligenz als Objekt für eine genauere Untersuchung auszuwählen. Die Intelligenz der Hauptstädte Moskau und Leningrad befand sich an der Schnittstelle zwischen dem politischen Zentrum und einer breiteren Öffentlichkeit.1 Im Gegensatz zum politischen Führungszirkel, der spätestens seit 1928 danach strebte, innere Streitigkeiten nicht mehr nach außen zu tragen, war das geistige Leben noch 1930/31 ein Schauplatz unzähliger öffentlich ausgetragener Debatten und Kämpfe um Einfluß. Das Schlagwort „Selbstkritik" etwa wurde mit neuen Phrasen kombiniert und erhielt dadurch mitunter einen anderen Sinn. Die propagandistischen Klischees der proletarischen „Arbeiterkritik von unten" gegen den „Bürokratismus" lieferten die szenische Vorlage fur die „Entlarvung" akademischer Autoritäten durch ihren aufstrebenden Nachwuchs. Die Intelligenz übernahm im Lauf dieser Auseinandersetzungen aber auch Elemente aus der Diskussionsund Streitkultur der innerparteilichen Machtkämpfe und modifizierte sie gleichzeitig. Möglicherweise trug die umfangreiche Berichterstattung der sowjetischen Presse über die Lage an der „ideologischen Front" stärker als die Vorgänge im Zentralkomitee dazu bei, die Spielregeln dieser Streitkultur in der Gesellschaft zu verbreiten.

1

Die persönliche Nähe der Schriftsteller dieser Zeit zu den Politikern war ein Merkmal dieser Jahrzehnte. Selbst der eher regimeskeptische und politikferne Lyriker Osip Mandelstam kannte Bucharin persönlich. Vgl. z.B. Sheila Fitzpatrick: Intelligentsia and Power. ClientPatron Relations in Stalin's Russia, in: Manfred Hildermeier (Hrsg.): Stalinismus vor dem Zweiten Weltkrieg. Neue Wege der Forschung, München 1998, S. 35-54.

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III. Die Gleichschaltung des Geisteslebens

Auf die Vorreiterrolle der Absolventen höherer Parteischulen bei der Durchsetzung einer neuen politischen Streitkultur hat bereits Michael DavidFox hingewiesen.2 Auch in diesem Kapitel spielt dieser Personenkreis eine große Rolle. Hier soll insbesondere danach gefragt werden, inwieweit die Herausbildung der neuen Selbstkritik-Prozedur auch als autochthone Kulturleistung der Parteigesellschaft betrachtet werden kann, oder ob sie nicht doch als direkte Begleiterscheinung der Errichtung von Stalins Alleinherrschaft erklärt werden muß. Die Dreiteilung des Kapitels entspricht dieser Fragestellung: Im ersten Teil wird Stalin kurz in seiner Rolle als Herrscher und oberster politischer Zensor vorgestellt. Im zweiten Teil geht es um die Verbreitung „selbstkritischer" Schuldbekenntnisse unter den Intellektuellen ohne die sichtbare Beteiligung Stalins. Der dritte Teil schließlich behandelt die demonstrative Einmischung Stalins in die Wissenschafts- und Kulturpolitik und die Konsequenzen für die Praxis der Schuldbekenntnisse. Obwohl nicht die Absicht besteht, ein weiteres Mal die Geschichte der stalinistischen Kulturpolitik zu schreiben, kann auf Einführungen nicht verzichtet werden. Der soziale Sinn von Fehlereingeständnissen wurde immer nur im Kontext verständlich. Es handelte sich um Performanzen, um sprachliche Handlungen, die als Texte überliefert sind. Nicht nur die inhaltliche Aussage solcher Texte, sondern auch die Wortwahl, die konnotierten Vorstellungen und der Tonfall sind von Bedeutung. Daher wurden in die Darstellung mitunter auch längere Quellenzitate eingefügt.

1. Die Loyalitätsforderung der politischen Diktatur als Rahmenbedingung In der Sowjetunion herrschte eine politische Diktatur, die grundsätzlich von allen Untertanen Loyalität einforderte, um so mehr von Schriftstellern und Akademikern. Der bloße Anspruch der kommunistischen Partei auf das Machtmonopol ließ es in manchen Situationen als völlig natürlich und naheliegend erscheinen, von Untergebenen und Untertanen explizite Loyalitätsbeteuerungen oder Fehlereingeständnisse zu verlangen. Die herrschende Zensurpolitik erlegte denjenigen, die sie ausübten, eine erhöhte Verantwortlichkeit auf für alles, was gedruckt wurde. Da jeder veröffentlichte Text auch die öffentlich wahrgenommene Vorstellung vom Erlaubten ein wenig modifizierte, war die Beziehung der Literatur zu ihren Wächtern keine einseitige. Schon allein der Umstand einer Publikation konnte Gerüchte über eventuell bevorstehende Änderungen der politischen Linie nähren. Es scheint, als sei Stalin die allgemeine Fixiertheit auf seine Meinung mitunter

2

David-Fox: Revolution of the Mind.

1. Die Loyalitätsforderung der politischen Diktatur

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ausgesprochen lästig gefallen. So lehnte er es einmal schroff ab, der RAPP seine Meinung über eine Äußerung Lebedev-Poljanskijs mitzuteilen: „Man darf nicht vom Zentralkomitee verlangen, daß es auf alles, was es auf dieser Welt gibt,,reagiert'". 3 Als Stalin sich einige Zeit dem Auffuhrungsverbot für Bulgakov entgegenstellte, rief dies unter parteinahen Schriftstellern erhebliche Irritationen hervor, die er mühsam wieder glätten mußte.4 Die Not der Mächtigen, mit allem, was im von ihnen kontrollierten Bereich geschieht, identifiziert zu werden und daher Stellung beziehen zu müssen, lastete nicht nur auf dem Politbüro, dem Zentralkomitee und seinen Unterabteilungen, sondern auch auf jedem Funktionär einer literarischen Organisation, auf jedem Zeitschriftenredakteur und jedem Organisator einer Veranstaltung. Daher gab es zu jedem Text, zu jedem Autor, jeder Zeitschrift und jeder Theorie auch einen normativen Metatext, der sein Verhältnis zur politischen Situation, zu den herrschenden Normen beschrieb. Sie legten fest, was erwünscht und was verboten war. Die Wörter „Weggefährte", „Verbündeter" oder „proletarischer Schriftsteller" waren Kurzbeschreibungen ihrer Situation.5 In den zwanziger Jahren gerieten viele Schriftsteller ins Gesichtsfeld des Politbüros. Beherzte Autoren, die auf Schwierigkeiten stießen, wandten sich bisweilen mit der hoffnungsvollen Bitte um die Druckgenehmigung unmittelbar an den Generalsekretär oder baten ihn unverbindlich um seine „persönliche Meinung". Andererseits geschah es wiederholt, daß Texte, welche die Zensur passiert hatten, den Zorn Stalins hervorriefen. In diesen Fällen waren die schuldigen Autoren, Redakteure und Zensoren häufig dazu bereit, „Reue" zu zeigen, sofern ihnen eine entprechende Aussage nicht unmittelbar vorgeschrieben wurde. Leicht nachvollziehbar ist die Wut Stalins über Pil'njaks „Erzählung über den unausgelöschten Mond", welche auf Anregung Aleksandr Voronskijs, 3

Pis'mo I. V. Stahna pisateljam-kommunistam iz RAPPa. 28 fevralja 1929 g., in: Jakovlev: Vlast' i chudozestvennaja intelligencija, S. 109-112, Zitat S. 112. 4 Pis'mo ob'edinenija „Proletarskij Teatr" I. V. Stalinu, Moskva, dekabr 1928 g., in: Jakovlev. Vlast' i chudozestvennaja intelligencija, S. 86-88 und Pis'mo I. V. Stahna dramaturgu V. N. Bill'-Belocerkovskomu, 1 fevralja 1929 g., ebenda, S. 100-101. 5 Die sowjetische Literaturpolitik unterschied ganz offiziell zwischen „proletarischen" Schriftstellern (wie Leopol'd Averbach, Aleksandr Fadeev oder Dem'jan Bednyj) und den „Weggefährten", die zwar bürgerlicher Herkunft waren, sich aber auf die Seite der Sowjetmacht gestellt hatten (wie Boris Pasternak oder Aleksej Tolstoj). Das Verhältnis der Partei zu dieser zweiten Gruppe war die wichtigste literaturpolitische Frage der zwanziger Jahre. Nach der vorherrschenden Ansicht mußten manche Schriftsteller trotz ihres künstlerischen Unvermögens gedruckt werden, da sie die Hoffnung auf die bald erblühende proletarische Literatur darstellten, die zum Aussterben bestimmten „bürgerlichen" Autoren aber deswegen, weil die Qualität ihrer Produktion bislang unerreicht war und weil ein spätes Bekenntnis zum Sozialismus aus ihrer Feder besonderes Gewicht gehabt hätte. Vgl. Karl Eimermacher. Die sowjetische Literaturpolitik 1917-1932. Von der Vielfalt zur Bolschewisierung der Literatur. Analyse und Dokumentation, Bochum 1994. Im weiteren werden diese Begriffe im Sinne der sowjetischen Unterscheidung gebraucht.

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III. Die Gleichschaltung des Geisteslebens

dem die Erzählung gewidmet war, in der Zeitschrift „Novyj mir" veröffentlicht wurde.6 Die Handlung war eine klare Anspielung auf die dubiosen Umstände, unter welchen der Volkskommissar Frunze auf dem Operationstisch vom vorzeitigen Tod ereilt worden war. War an seinem Ableben die Krankheit schuld oder nicht doch viel eher die Staaträson? Begreiflicherweise ließ Stalin sich auch durch die unschuldigen Hinweise des Autors nicht besänftigen, die Erzählung sei „in keiner Weise als Bericht über den Tod des Verteidigungsvolkskommissars" anzusehen, und der Leser solle „nicht nach realen Fakten und lebenden Personen" suchen. Am 13. Mai faßte das Politbüro einen Beschluß, der die Erzählung „konterrevolutionär" und „verleumderisch" nannte und anordnete, die Druckexemplare von „Novyj mir" aus dem Verkehr zu ziehen. Den Redaktionsmitgliedern Lunacarskij, Skvorcov-Stepanov und insbesondere dem verantwortlichen Redaktionsmitglied Polonskij wurden förmliche Verweise erteilt. Voronskij wurde „nahegelegt", die Widmung Pil'njaks „mit einer entsprechenden, mit dem Sekretariat des Zentralkomitees abzustimmenden Begründung" abzulehnen. Der Autor Pil'njak wurde von der weiteren Mitarbeit an den Zeitschriften „Krasnaja nov'", „Novyj mir" und „Zvezda" ausgeschlossen. Das Redaktionskollegium schließlich erhielt die Anweisung, „gemeinsam mit dem Brief Voronskijs seine Erklärung zu veröffentlichen, daß es, genau wie Voronskij, den Druck dieser Erzählung für einen klaren und groben Fehler hält".7 Der Aufforderung zur Einsicht in den Fehler sollte hier, in voller Übereinstimmung mit der dienstlichen Hierarchie, als Befehl verstanden werden, da die Redaktionen sämtlicher Literaturzeitschriften vom Zentralkomitee ernannt wurden und ihm gegenüber weisungsgebunden waren. Was Voronskij betrifft, so war er zwar nicht Redakteur von „Novyj mir", aber von „Krasnaja nov'", und befand sich in der gleichen Situation des Weisungsempfangers. Da er - als Literaturfunktionär und Parteimitglied - die Publikation der Erzählung gefördert hatte, gehörte er ebenfalls zu den Schuldigen. Pil'njak selbst, der weder der Partei noch einer Redaktion angehörte, wurde vom Politbüro nicht in gleicher Weise als voll verantwortliches Subjekt angesehen. Man verlangte von ihm keine Fehlereingeständnisse, sondern beschnitt einfach seine Handlungsmöglichkeiten. Dennoch reagierte er Ende November auf das Veröffentlichungsverbot mit einem Entschuldigungsbrief an Skvorcov-Stepanov, den verantwortlichen Redakteur der Tageszeitung „Izvestija", welche die Erzählung ebenfalls gedruckt hatte. Dieser Brief, in welchem Pil'njak seine Erzählung eine „Taktlosigkeit" 6

Vgl. Novyj mir, 1926, Nr. 5. Aleksandr Voronskij (1884-1937), bedeutender marxistischer Literaturkritiker der zwanziger und dreißiger Jahre, galt als Hauptfigur der Literatengruppe „Pereval". 7 Postanovlenie politbjuro CK VKP(b) ο povesti Β. A. Pil'njaka „Povest' nepogasennoj luny", in: D. L. Babicenko (Red.): „Scast'e literatury". Gosudarstvo i pisateli. 1925-1938 gg. Dokumenty, Moskau 1997, S. 66-67.

1. Die Loyalitätsforderung der politischen Diktatur

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nannte, wurde in „Novyj mir" veröffentlicht.8 Pil'njak unterschied eine „formale" und eine „wesentliche" Ebene der Angelegenheit. „Formal" fühlte sich Pil'njak insoweit unverantwortlich, als prominente Parteimitglieder der Veröffentlichung zugestimmt hätten - wie hätte er als parteiloser Schriftsteller da die Brisanz seiner Erzählung erkennen können? Für „wesentlich" hielt er seinen guten Willen, seine Loyalität, an der niemand zweifeln dürfe. „All die Jahre der Revolution und bis auf den heutigen Tag fühlte und fühle ich mich als ein ehrlicher Mensch und Bürger meiner Republik - und als ein Mensch, der ... eine der Revolution dienliche Arbeit verrichtet." Seine Loyalität demonstrierte er auch durch den Umgang mit dem Publikationsverbot in den genannten Zeitschriften: „Es ist mir verwehrt, in unseren höchst bedeutsamen Publikationen zu veröffentlichen aber ich kann meine Texte anderen Verlagen anbieten: ich für meinen Teil verstehe das so, als ob ich überhaupt nicht publizieren soll, denn ich will keinesfalls als schlitzohrig gelten, ich will mich jener Macht fügen, die mir zu publizieren untersagt." 9

Das Politbüro nahm dieses freiwillig und überzeugend vorgetragene Loyalitätsversprechen wohlwollend zur Kenntnis und beschloß am 24. Januar 1927, ihm wieder die Mitarbeit an den drei genannten Zeitschriften zu gestatten.10 Der Schriftsteller Artem Veselyj war hingegen nicht bereit, sich von seiner Erzählung „Die nackte Wahrheit" zu distanzieren, nachdem diese vom Zentralkomitee als „einseitig und tendenziös" kritisiert worden war und II'ja Vardin ihm in einem Gedicht sogar mit Erschießung gedroht hatte." Besonders deutlich fiel die Zurechtweisung der sibirischen Literaturgruppe „Nastojascee" aus, die ihre im primitiven Stil der RAPP gehaltenen Angriffe auch auf Maksim Gor'kij ausgedehnt hatte und ihn einen „Beschützer" der „reaktionären sowjetischen Pilnjakerei" nannte.12 Das Zentralkomitee rea8

Novyj mir, 1927, Nr. 1. ' Brief Pil'njaks an Skvorcov-Stepanov vom 21.11.1926, in: Dagmar Kassek (Hrsg.): Boris Pil'njak. „... ehrlich sein mit mir und Rußland". Briefe und Dokumente. Herausgegeben und aus dem Russischen übersetzt von Dagmar Kassek, Frankfurt am Main 1994, S. 141-144. 10 Auch wenn der Brief vermutlich in der Redaktion der „Izvestija" unter der Anleitung Skvorcov-Stepanovs und Rykovs zustandegekommen sein sollte (vgl. Kassek: „... ehrlich sein mit mir und Rußland", S. 111; Schentalinski: Das auferstandene Wort, S. 287), ist kaum ersichtlich, welcher direkte Zwang auf Pil'njak zu diesem Zeitpunkt ausgeübt worden sein könnte. Das Publikationsverbot kann den Erfolgsautor, der seine Bücher in Auflagen von mehreren Hunderttausend verkaufte, finanziell so hart nicht getroffen haben. Zum Text vgl. Postanovlenie politbjuro CK VKP(b) ο Β. A. Pil'njake. Vlast' i chudozestvennaja intelligencija, S. 69. " Vgl. Zajara Veselaja (Hrsg.): „Rossija, krov'ju umytaja" Artema Veselogo. Po materaialam licnogo archiva pisatelja, in: Novyj mir, 1988, Nr. 5, S. 135-165, insbesondere S. 160-161. Zum Verbot der Erzählung vgl. Postanovlenie Sekretariata CK VKP(b) ο nakazanii redkollegii zumala „Molodaja gvardija" za publikaciju rasskaza A. Veselogo „Bosaja pravda", 8 maja 1929 g., in: Jakovlev\ Vlast' i chudozestvennaja intelligencija, S. 112. 12 Vgl. z.B. Ν. N. Primockina: Pisatel' i vlast'. Maksim Gor'kij ν literaturnom dvizenii 20-ch godov. 2-e izdanie, Moskau 1998, S. 116-120.

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III. Die Gleichschaltung des Geisteslebens

gierte am 15. Dezember 1929 mit einem Dekret, in dem die Parteizelle des sibirischen „Proletkul't" für die „hooliganistischen Ausfälle gegen Gor'kij" gerügt, die Redaktion der Zeitschrift „Nastojascee" verwarnt, der leitende Redakteur abgesetzt und das Sibirische Gebietskomitee der Partei dazu aufgefordert wurde, die „linken Auswüchse" in den Literaturorganisationen „zu korrigieren".13 Bald darauf reagierten die gerügten Organisationen mit einer Reihe von Schuldbekenntnissen.14 Stalins Tätigkeit als oberster literarischer Zensor läßt sich für den Zeitraum bis etwa 1931 recht einfach beschreiben. Er griff ein, sobald er befürchtete, die Fehlentscheidungen seiner Untergebenen könnten politischen Schaden verursachen. Die Verbotskriterien Stalins entsprachen ziemlich genau denjenigen der politischen Zensur: Gerüchte über unnatürliche Todesursachen führender Politiker, Hetze „von unten" gegen den zum Aushängeschild erkorenen Maksim Gor'kij, verschlüsselte Kritik an der verheerenden Zwangskollektivierung und so weiter. Die Bestrafung erfolgte in der konventionellen Befehlshierarchie, in welcher der Autor nur das letzte und ohnmächtigste Glied darstellte. Die „reuigen" Mitteilungen der Zeitungsredaktionen wurden nicht als ein moralischer Vorgang aufgefaßt, sondern als eine notwendige Informationsmaßnahme: Das Publikum sollte keinen falschen Eindruck von den gültigen Richtlinien der Politik erhalten. Völlig unabhängig von diesem Zusammenhang begriffen einige Autoren, daß eine persönliche „Reueerklärung" ihnen die Chance bot, sich bei Stalin in ein günstiges Licht zu setzen. Boris Pil'njak etwa bat Stalin im Januar 1931 um die Erlaubnis zu einer Auslandsreise und beteuerte zugleich, wie sehr er sich um die „Wiedergutmachung seiner Fehler" bemüht habe. Anknüpfend an die von Stalin gerne gebrauchte Formel, „nicht mit Worten, sondern mit Taten", verstand er es, ganz bescheiden die Erwartung zu wecken, er selbst könnte vielleicht zum Schöpfer politisch nützlicher Werke werden, wenn man ihm günstige Bedingungen verschaffte. „Ich fuhr nach Mittelasien und druckte in der ,Izvestija' ... Skizzen über Tadjikistan, - das letzte, was ich veröffentlichte, in Verbindung mit dem Prozeß gegen die Schädlinge, lege ich diesem Brief bei und bitte zumindest das durchzulesen, was mit rotem Bleistift unterstrichen ist. Den Inhalt dieser Texte hielt ich für die Wiedergutmachung meiner schriftstellerischen Fehler - mit diesen Texten wollte ich das Mißtrauen zerstören, das meinem Namen seit der Pressekampagne gegen das ,Rote Dorf entgegengebracht wird."15

Derartige Briefe an den politischen Herrscher waren um 1930 noch nicht die Regel und dürfen als Teil einer individuell gewählten Strategie betrachtet wer13

Postanovlenie politbjuro CK VKP(b) „O vystuplenijach casti sibirskich literatorov i literaturnych organizacij protiv Maksima Gor'kogo". 15 dekabija 1929 g., in: Jakovlev: Vlast' i chudozestvennaja intelligencija, S. 123-124. 14 Literaturnaja gazeta, 30.12.1929, S. 1; 6.1.1930; 27.1.1930. 15 Pis'mo B. A. Pil'njaka I. V. Stalinu, in: Jakovlev: Vlast' i chudozestvennaja intelligencija, S. 139-141.

2. Die Intellektuellen

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den. Pil'njaks Brief markierte einen Schritt in die moralische Selbstverleugnung, zu dem Bulgakov, Platonov oder Zamjatin, die sich in einer vergleichbaren Situation befanden, noch nicht bereit waren. Das Eingeständnis eigener „Fehler" hatte dabei jedoch weniger Gewicht als die signalisierte Bereitschaft, ausgerechnet einen künstlich inszenierten Schauprozeß zum Anlaß zu wählen, um die eigene Loyalität zu demonstrieren. Der Diktator antwortete schnell, ausgesprochen freundlich und in der Sache positiv. Er vermied es, sich bei seiner Entscheidung auf den Inhalt des Briefs zu beziehen, und tat so, als folgte er ganz neutral dem Ratschlag der Überwachungsorgane, die ihre Bedenken gegen seine Ausreise aufgegeben hätten.16 Sollte Stalin persönliche Genugtuung über die Anbiederung und das Fehlereingeständnis Pil'njaks empfunden haben, so war es ihm offenbar peinlich, das zuzugeben.

2. Die Intellektuellen: Ein eigener Weg zur ritualisierten, bereuenden „Selbstkritik"? Die spezifischen Formen der politischen Streitkultur, die sich bis 1931 im Milieu der Parteiintelligenz herausgebildet hatten, können nicht einfach als Folgeerscheinung einer zentral gesteuerten Politik angesehen werden. Schon Ende der zwanziger Jahre hatten die prominenten Akteure an der „ideologischen Front" zwar Grund zur Annahme, daß sie sich innerhalb von Stalins Gesichtsfeld befanden, konnten aber nicht leicht herausfinden, wie intensiv ihr Verhalten von der politischen Führung wahrgenommen und bis zu welchem Grad es gebilligt wurde. Das Politibüro trat vor 1931 nur selten öffentlich als Zensor auf und mischte sich nur indirekt in das intellektuelle Leben ein. Zwar versuchten Stalin und die Propagandaabteilungen des Zentralkomitees regelmäßig, einigen ausgewählten „proletarischen" Intellektuellen Instruktionen zu erteilen, doch geschah dies zumeist hinter den Kulissen.17 Die jungen Protagonisten der „proletarischen Literatur", die am allerwenigsten von der Richtigkeit der Parteibeschlüsse überzeugt werden mußten, waren mit dieser Situation unzufrieden. Da sie nicht warten wollten, bis die Partei endlich die Beschlüsse faßte, welche durchzusetzen sie schon jetzt be-

16 Pis'mo I. V. Stahna B. A. Pil'njaku, in: Jakovlev: Vlast' i chudozestvennaja intellegencija, S. 141. 17 Da die Bestände der zuständigen Abteilung für Agitation und Propaganda im zentralen Parteiarchiv größtenteils verschollen sind, bleibt der Umfang der Einwirkung des Zentralkomitees bis heute weitgehend im Dunkeln. Verbürgt sind allerdings einzelne Episoden, die vermuten lassen, daß sich auch Stalin selbst schon vor 1932 regelmäßig in den Literaturbetrieb einmischte. Nicht zuletzt die Schuldbekenntnisse der RAPP-Funktionäre nach der Auflösung ihrer Organisation (im April 1932) deuten daraufhin. Siehe unten.

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III. Die Gleichschaltung des Geisteslebens

reit waren, hatten sie sich in der Mitte der zwanziger Jahre zum „Voraustrupp der Partei" erklärt:18 „Wir haben [im Jahre 1926, L. E.] die Rolle des Aufklärungstrupps der Partei (partijtiaja razvedka) übernommen. ... Das heißt, daß ... wir diese oder jene Fragen aufwerfen, auf welche die Partei noch keine bestimmte Antwort hat, und die Partei später, sobald sie sich an die Entscheidung dieser Frage macht, entweder unsere Arbeit gutheißen wird, oder, wenn wir einen Fehler gemacht haben, sie uns auffordern wird, ihn zu berichtigen. Diese Formulierung richtete sich gegen die Haltung, daß... man uns nahelegt zu warten, bis die Partei zu dieser oder jener literarischen Frage Stellung bezieht, um diese Entscheidung dann anschließend durchzuführen."19

Auf dieses Selbstbild spielte der sowjetische Literaturhistoriker Stepan Sesukov an, als er für die um 1930 tonangebenden RAPP-Literaturfunktionäre die Bezeichnung der „blindwütigen Eiferer" (neistovye revniteli) prägte.20 In ihrem blindwütigen Eifer ordneten sie die rationale Argumentation zunehmend ihrem Machtstreben unter. Virtuos beherrschten sie eine vulgärmarxistische Rhetorik, die danach strebte, gegnerische Meinungen als „klassenfeindlich" zu brandmarken. Ähnliches galt auch für die gleichaltrigen Nachwuchskader der höheren Parteibildungseinrichtungen, denen Michael David-Fox eine besondere Rolle bei der Ausprägung der sowjetischen politischen Kultur beimißt.21 Tatsächlich waren es die jungen Eiferer, die den Begriff der „Selbstkritik" öffentlichkeitswirksam mit der Praxis der Fehlereingeständnisse verschmolzen und daraus eine neue soziale Praxis modellierten. Anschließend trieben sie die Verbreitung dieser von ihnen geprägten Selbstkritik-Performanz im eigenen Umfeld aggressiv und selbsttätig voran. Da sie dort aber bei weitem nicht über die gleiche Machtposition verfügten wie Stalin innerhalb des Zentralkomitees, hatten sie es viel schwerer, die Forderung nach Fehlereingeständnissen auch wirksam durchzusetzen. Die Frage, weshalb ihnen dies manchmal gelang und manchmal nicht, erlaubt auch Rückschlüsse auf die Mentalität der Beteiligten. Im ersten der vier Teile dieses Abschnitts werden die rhetorischen Mittel der Denunziation und der Selbstverteidigung vorgestellt. Im zweiten wird be18 „Wenn eine Gruppe von Parteimitgliedern auf einem Gebiet arbeitet, auf dem die Partei insgesamt sich gerade erst zu orientieren beginnt, auf das vorzudringen die Parteiführung sich gerade erst anschickt, dann können diejenigen Parteimitglieder, die sich mit den spezifischen Fragen dieses Gebiets auskennen und eine Meinung dazu haben, nicht die ganze Partei zur Annahme dessen nötigen, was ihnen im Moment sogar eine sichere Erkenntnis zu sein scheint. Sie dürfen sich nur als einen Aufklärungstrupp (razvedka) der Partei betrachten, der vorausgeschickt wurde, um Informationen zu erhalten." Vgl. Stepan IvanoviC Sesukov: Neistovye revnitely: Iz istorii literaturnoj bor'by 20-ch godov. 2-e izdanie, Moskau 1984, S. 120 (= Leopol'd Averbach: Za proletarskuju literaturu, Moskau 1926, S. 6). 19 Jurij Libedinskij: Za cto boij 'jatsja napostovcy, in: Κ tvoröeskim raznoglasijam ν RAPPe, Leningrad 1930, S. 12. 20 Stepan Ivanoviß Sesukov. Neistovye revniteli. Iz istorii literaturnoj bor'by 20-ch godov, Moskau 1970. 21 Vgl. Behrendt·. Die Institute der Roten Professur.

2. Die Intellektuellen

143

schrieben, wie die Reueforderungen innerhalb der RAPP zunächst nur mit der formalen Organisationsdisziplin begründet wurden. Es folgt eine Schilderung der folgenschweren Verschmelzung der „Selbstkritik" mit dem „Fehlereingeständnis", bevor schließlich anhand von Textbeispielen illustriert wird, welch widersprüchliche Vorstellungen sowjetische Intellektuelle im Jahr 1930 von der „Selbstkritik" und den Reuebekenntnissen hatten. Unabhängig von allen offiziellen Schuldbekenntnissen und vom Schlagwort der „Selbstkritik" beherrschten die Kategorien falsch/richtig in den zwanziger und dreißiger Jahren den politischen und intellektuellen Diskurs mit einer heute kaum vorstellbaren Selbstverständlichkeit. Nicht nur glaubte man an die grundsätzliche Möglichkeit, in allen Fragen zwischen „richtig" und „falsch" klar zu unterscheiden, sondern man erblickte auch ganz konkret im Zentralkomitee der Partei diejenige Instanz, deren Behauptungen und Verlautbarungen ohne Einschränkung als „richtig" angesehen werden konnten. In der öffentlichen Debatte wurde die Wiedergabe der Behauptungen des Zentralkomitees und seines Generalsekretärs zum unwiderlegbaren Argument, gegen das andere Argumente nicht bestehen konnten. Jedes Urteil der politischen Instanzen, das verbindlich festlegte, was „richtig" war und was „falsch", hinterließ notwendigerweise eine Anzahl von Personen, die von da an damit leben mußten, zuvor die „falsche" Meinung vertreten zu haben. Die offizielle Verurteilung von Theorien vereinfachte die Identifizierung von „Fehlern" im Lebenslauf von potentiellen Konkurrenten. Die allgemeine Fixierung auf die „richtigen" Urteile der Partei brachte es schon in den zwanziger Jahren mit sich, daß der Hinweis auf Fehler anderer zur wirksamsten Waffe im Profilierungswettlauf der verschiedenen Gruppen wurde. Es entwickelte sich eine Art Fehlerbuchhaltung, die meistens gegenseitig geführt wurde. Die eifernden Parteiintellektuellen versuchten manchmal, der rechtzeitigen Parteinahme fur die „richtige" Theorie im geistigen Leben ungefähr diejenige Bedeutung zu verschaffen, die Stalin der rechtzeitigen Parteinahme für das „richtige" Lager im politischen Konflikt zuerkannt hatte. Den unglücklichen Vertretern verurteilter Theorien versuchten sie dementsprechend das Stigma des „Oppositionellen" aufzubrennen. Noch stärker als die bolschewistischen Parteiführer neigten die marxistischen Intellektuellen in ihren Polemiken dazu, das „Wesen" jeder Theorie von der sozialen Herkunft ihres Urhebers her zu begreifen. Daher unterstellten sie den Vertretern anderer Ansichten reflexartig, ihr ererbtes „bürgerliches" oder „kleinbürgerliches Bewußtsein" „noch nicht hinreichend überwunden" zu haben. Fast noch konsequenter als die stalinistische Machtgruppe zogen sie zu solchen Zwecken auch ein paranoides Verständnis „leninscher Dialektik" heran, dem zufolge alles mit allem verbunden war und isolierte, zufallige Fehler folglich nicht existieren konnten. Trieb man diese Denkweise auf die Spitze, konnte man von jedem „Fehler" eine Ursachenkette gewissermaßen bis ins Hauptquartier des Klassenfeindes zurückverfolgen. Die Verurteilung einzelner Behauptungen konnte

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III. Die Gleichschaltung des Geisteslebens

dann leicht zu einer Verurteilung eines Gedankengebäudes und schließlich zur Diskreditierung der Person erweitert werden. Die „blindwütigen Eiferer" ergriffen auch gerne die Gelegenheit, ihren jeweiligen Gegnern die persönliche Freundschaft oder enge Zusammenarbeit mit Personen vorzuwerfen, die in der öffentlichen Kritik standen. Maksim Gor'kij wurde etwa kritisiert, weil er sich für Pil'njak einsetzte. Die „Pravda" verurteilte Ende 1929 die Theorien von Pereverzev und Grossman-Roscin.22 Gleich darauf kritisierte Ivan Bespalov die RAPP, weil sie sich nicht von Grossman-Roscin distanzierte. Das Distanzierungsversäumnis gehörte zu den häufigsten Vorwürfen, die Intellektuelle um 1930 gegeneinander erhoben. Der RAPP-Funktionär Kirson kritisierte in diesem Sinne die Schüler Pereverzevs: „Das Wichtigste ist gerade - diese Fehler auszumachen, sie aufzudecken, sie nicht zu vertuschen und sich als Apostel hinzustellen, denen es unbequem und unangenehm ist, sich von ihrem Lehrer loszusagen. Tatsächlich, die Genossen Bespalov und Zonin entdeckten die Fehler Pereverzevs, bevor der Hahn einmal krähen konnte, aber sie fanden nicht genügend bolschewistischen Mut, um die politischen Wurzeln dieser Fehler aufzudecken und darüber klar und vernünftig Mitteilung zu machen. Ihre Zunge löste sich nicht, um anzuerkennen, daß diese Fehler menschewistischen Charakter tragen."23

Die Parteigesellschaft verfugte also über ein rhetorisches Instrumentarium, das im Einklang mit den sanktionierten Verhaltensnormen dazu eingesetzt werden konnte, die Last der Anschuldigungen beliebig zu vergrößern. Die diskursive Logik der marxistischen Bewußtseinslehre („das Sein bestimmt das Bewußtsein") wurde zur „Culpabilisierungsmaschine" (Unfried) ausgebaut und fand sich später in der argumentativen Logik der NKVD-Anklageschriften und der Dramaturgie der Schauprozesse wieder. Dennoch wäre es ein gefährlicher Irrtum, diese Culpabilisierungs-Rhetorik als eine vollständige Widerspiegelung des politischen Bewußtseins der J u n gen Eiferer"zu betrachten. Die Sprache der Gruppenkämpfe verfügte über ebensoviele rhetorische Mittel zur Entschuldigung, zur Abwiegelung und zur Eingrenzung der Vorwürfe. Die RAPP war regelmäßig bereit, „einzelne Fehler einzelner Genossen" zuzugeben, beharrte aber stets auf der „grundsätzlichen Richtigkeit" der eigenen Position. Das Eingestehen begrenzter Fehler wurde von Beginn an als ein Teil der künftigen Verteidigungsstrategie aufgefaßt. Der RAPP-Schriftsteller Zelinskij, der sich bis 1931 von mehreren „Fehlern" losgesagt hatte, beschwerte sich daher über die fortgesetzten Angriffe des Genossen Sinajskij:

22

Für die Konsolidierung der kommunistischen Kräfte in der proletarischen Literatur, in: Eimermacher. Die sowjetische Literaturpolitik 1917-1932, S. 686-690 (= Pravda, 4.12.1929). 23 Protiv mechanistiöeskogo literaturovedenija. Diskussija ο koncepcii V. F. Pereverzeva, Moskau 1930, S. 107.

2. Die Intellektuellen

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„Sinajskij bringt mich zur Schlußfolgerung: Es war sinnlos, einen selbstkritischen Artikel zu schreiben; niemand interessiert sich ernsthaft für Selbstkritik, man wird so oder so bei dir nach den kleinsten Versprechern suchen ... aber über die Erfolge schweigt man."24

Die Literaten warfen sich nicht nur gegenseitig ihre „Fehler" vor, sondern sie wehrten sich ebenso häufig gegen die sogenannte „unkameradschaftliche, verleumderische Hetze", gegen das „Kesseltreiben" (travlja). Auch die „Pravda", die erklärtermaßen das Ziel verfolgte, die „proletarische Literatur zu konsolidieren", bemühte sich regelmäßig, der polemischen Auseinandersetzung die Schärfe zu nehmen. Das Zentralorgan brachte der Öffentlichkeit zwar häufig die „Fehler der RAPP" in Erinnerung, verdeutlichte aber stets im gleichen Moment, daß die Kritik an dieser wichtigsten Literaturorganisation nicht beliebig ausgedehnt werden durfte. Erst als die RAPP 1932 aufgelöst wurde, begründete die „Pravda" diesen Beschluß unter anderem mit deren mangelnder Bereitschaft zur „Selbstkritik".25 Anstatt das „Wesen der Fehler aufzudecken", habe sich die Zeitschrift „Na literaturnom postu" nur mit einer „Auflistung umfänglicher Fehlerkataloge" beschäftigt und unzulässigerweise versucht, theoretische Fehler mit Arbeitsüberlastung zu erklären. Der Artikel illustrierte mit einem konkreten Beispiel die Unsitte der „Langsambremsung": „Die Losung ,für die Plechanovsche Orthodoxie' hat eine lange, aber äußerst lehrreiche Geschichte. Erste Etappe: Uneingeschränkte Verteidigung der Losung ,Für die Plechanovsche Orthodoxie'. Zweite Etappe: Die Losung ist fehlerhaft, war aber richtig im Kampf gegen Pereverzev. Dritte Etappe: Die Losung ist fehlerhaft; die Genossen, die sie jedoch verteidigten, gehen an Plechanov vom Standpunkt Lenins heran. Vierte Etappe: Plechanovsche Fehler gibt es nicht mehr, ,1m Prinzip schrieb man die Leninsche Konzeption Plechanov zu.' Genauso verhielt es sich auch mit der Losung der ,Demjanisierung'.. ."2δ

Derartige Verhaltensweisen waren nicht nur für die RAPP, sondern für die parteinahen Schriftsteller und Literaturfunktionäre insgesamt typisch. Die RAPP wie auch ihre Widersacher beherrschten die rhetorischen Techniken von Angriff und Verteidigung gleichermaßen. Alle befleißigten sich einer „doppelten Buchführung", was den Umgang mit Fehlern anbelangte.27 Die Zeitgenossen beherrschten die vulgärmarxistischen Elemente der Entlarvungsrhetorik. Sie waren aber ebensogut in der Lage, die Ungerechtigkeit dieser Rhetorik nachzuweisen. Die literarische Öffentlichkeit der zwanziger Jahre war weitgehend durch die Schriftstellervereinigungen geprägt. Diese Gruppierungen genossen einen fast offiziellen Status und begriffen sich als eine politische Willensgemein24

K. Zelinskij: Kak ne nado kritikovat', in: Na litetaturnom postu, 1931, Nr. 10, S. 34. Für eine Leninsche Literaturkritik. (Übersicht über die Nr. 1-36 der Zeitschrift „Na literaturnom postu"), in: Eimermacher: Die sowjetische Literaturpolitik 1917-1932 (1994), S. 819-828 (= Pravda, 14.5.1932). Dieser Artikel wurde von einer „Brigade des Instituts der Roten Professorenschaft für Literatur und Sprache" unterzeichnet. 26 Eimermacher: Die sowjetische Literaturpolitik 1917-1932 (1994), S. 824-827. 27 Der Begriff der „doppelten Buchführung" wurde im Artikel verwendet. 25

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III. Die Gleichschaltung des Geisteslebens

schaft. Die Organisationsformen der „linken" Verbände waren recht genau der Kommunistischen Partei und den Massenorganisationen (wie Komsomol, Gewerkschaft etc.) nachgebildet. Wie die Partei hatten sie eine Satzung, die den Status der Mitglieder mit ihren Rechten und Pflichten definierte, ein „Programm", ein „Sekretariat" oder einen „Zentralrat", die verbindliche Beschlüsse faßten und die Konferenzen (oder „Plena") vorbereiteten, auf denen dann Grundsatzreferate gehalten, Diskussionen ausgetragen und richtungweisende Resolutionen verabschiedet wurden. Massenorganisationen wie die Assoziation proletarischer Schriftsteller (APP bzw. RAPP, VAPP, VOAPP), die „Kuznica" oder der Verband der Bauernschriftsteller verfügten über ein ausgedehntes Netz von Unterorganisationen in den Provinzen, von denen auch jede wiederum ihr Sekretariat und ihre Regionalkonferenz besaß. Die strukturelle Parteiähnlichkeit und programmatische Parteifixiertheit der „proletarischen" Schriftstellerorganisationen beeinflußte auch den Stil, in dem Konflikte zwischen der Leitung und einzelnen Mitgliedern entschieden wurden. Die Politik des Zentralkomitees, das oppositionelle Parteimitglieder vor die Wahl stellte, entweder öffentlich zu „kapitulieren" oder ausgeschlossen zu werden, wurde von der RAPP-Leitung bereits im Frühjahr 1927 übernommen und auf eigene Mitglieder angewandt. Nach einer Reihe von Auseinandersetzung mit dem „linken" Flügel der Assoziation listete der Sekretär Kirson im Frühjahr 1927 die Streitfragen auf, welche die „Linken" im Sinne der neuen VAPP-Leitung bejahen mußten, um in der Organisation verbleiben zu dürfen: „1. Erkennen die ,Linken' die Losung ,Lernen, Schaffen, Selbstkritik!' an?28 2. Halten die .Linken' die VAPP fur eine breite Organisation der proletarischen Bewegung? 3. Schließen sie sich unserer Politik gegenüber Voronskij und dem .Pereval' an? 4. Verzichten sie auf den Fraktionskampf?"29

Auch die Parteipraxis der „Säuberung" wurde von „proletarischen" Literaturorganisationen übernommen. Sowohl die RAPP wie die Kuznica führten mehrere „Säuberungen" durch.30 Nach einem putschartigen Machtwechsel in der Kuznica 1930 (der schließlich zur Spaltung führte) verlangte die neue Führung von allen Mitgliedern eindeutige „Loyalitätsbekentnisse".31 In einer Atmosphäre der ständigen Intrigen und Gruppenkämpfe wurden Loyalitäts- und Distanzierungserklärungen zu einem alltäglichen und selbstverständlichen Orientierungsmittel. Wie nahtlos die Forderung nach „offizi28

RAPP formulierte schon 1926 erstmals eine Losung „Lernen, Schaffen, Selbstkritik!" (Uceba, tvorcestvo, samokritika!). 29 Vgl. Sesukov: Neistovye revnitely, S. 274. 30 Vgl. G. Kratz: Die Geschichte der „Kuznica" (1920-1932). Materialien zur Geschichte der sowjetischen Schriftstellerorganisationen, Gießen 1979, S. 219 und S. 248. 31 Vgl. Kratz: Die Geschichte der „Kuznica", S. 287-288.

2. Die Intellektuellen

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eilen" Fehlereingeständnissen aus den Spielregeln der Organisationsdisziplin abgeleitet werden konnte, läßt sich sehr anschaulich anhand der folgenden Episode belegen. 1928 bildete sich im Umfeld der Kommunistischen Akademie, dem Institut der Roten Professur (IKP) und der literaturkritischen Zeitschrift „Pecat' i revoljucija" eine Gruppierung junger Akademiker, die im wesentlichen aus Schülern von Valerijan Pereverzev bestand. Dessen literaturwissenschaftliche Theorie war „etwa 1928 zur dominierenden Schule" geworden, galt aber schon 1930 als vollständig diskreditiert.32 Da nicht Pereverzev selbst, sondern der junge Ivan Bespalov als Führungsfigur der Gruppierung auftrat, sprach man auch von den „ Bespalov-Leuten".33 Die um 1900 geborenen Bespalov-Leute gehörten derselben Generation an wie die Führung der RAPP. Als typische „Ikapisten" identifizierten sie sich auch im gleichen Maß mit der Ideologie der herrschenden Partei. Dennoch - oder gerade deswegen - führten sie 1929 eine heftige polemische Auseinandersetzung mit der RAPP. Die „Pravda" beendete den Streit mit dem bereits erwähnten Artikel vom 4. Dezember 1929, der unter anderem Pereverzevs Theorie als „nicht marxistisch" verurteilte. Auch die RAPP wurde zwar einiger Fehler beschuldigt, zugleich aber als „proletarische Hauptorganisation" bezeichnet, „auf deren Basis sich alle kommunistischen Kräfte" der proletarischen Literatur stützen sollten. Diese Stellungnahme, die der RAPP eine Art Mandat zur Neuorganisation der „proletarischen" Literatur erteilte, lieferte den Bespalov-Leute den Anlaß, einen Antrag auf den Eintritt in diese besonders zukunftsträchtige Organisation zu stellen.34 Anhand des Verlaufs der Verhandlungen über die Aufnahmebedingungen wird nachvollziehbar, wie die junge Parteiintelligenz sich den richtigen Umgang mit Fehlereingeständnissen vorstellte. Die Bespalov-Leute schienen zunächst nicht davon auszugehen, daß ein ausdrücklich formuliertes Fehlereingeständnis überhaupt notwendig war. In ihrem ersten Aufhahmeantrag glaubten sie sogar noch selbstbewußt, an allen Ansichten festhalten und der RAPP sogar Bedingungen stellen zu können: „Es ... versteht sich von selbst, daß wir auch innerhalb der RAPP an denjenigen Ansichten konsequent festhalten werden, die uns von der Forderung nach marxistisch-leninistischer Orthodoxie im Bereich der politischen Fragen ... diktiert werden. ... Es steht fest, daß

32

Der zeitweilige Erfolg der Theorie erklärt sich vermutlich aus der Hoffnung einiger Zeitgenossen, sie könnte sich als politisch brauchbar erweisen. Zur Theorie von Pereverzev vgl. Karl Eimermacher (Hrsg.): Dokumente zur sowjetischen Literaturpolitik 1917-1932. Mit einer Analyse von Karl Eimermacher, Stuttgart 1972, S. 398, Anm. 203 und Sesukov: Neistovye revnitely, S. 261 und Evgenij Dobrenko: Formovka sovetskogo pisatelja. Social'nye i esteticeskie istoki sovetskoj literaturnoj kul'tury, Sankt-Petersburg 1999, S. 104-105. 33 Bespalov nutzte seine Stellung als Redakteur an der Zeitschrift „Pecat' i revoljucija", um fur die Theorie zu werben. 34 Den Antrag stellten sie tatsächlich schon einige Wochen vor der Veröffentlichung des Artikels. Man kann annehmen, daß sie von der Entscheidung im voraus erfahren hatten.

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III. Die Gleichschaltung des Geisteslebens

die ... Möglichkeit für uns, innerhalb der RAPP an unseren Positionen ... festzuhalten, eine Bedingung für unseren Eintritt in die RAPP ... darstellt."35

Die Parteifraktion des RAPP-Sekretariats begrüßte in einem Antwortschreiben die Absicht, der RAPP beitreten zu wollen, wies die Erklärung aber in dieser Form zurück.36 Aus ihrem Selbstverständnis als einer „Organisation mit prinzipiellen Grundlagen, einer literaturpolitischen Plattform und einer Satzung" entwikkelte sie die Forderung, daß die Beitrittswilligen unzweideutig ihre Ansichten darlegen müßten. Aus dieser - zunächst ganz neutral gehaltenen - Fragestellung leitete sie dann indirekt die Forderung nach einem Fehlereingeständnis ab. Die RAPP monierte, daß die Erklärung der Bespalov-Leute weder eine Mitteilung darüber enthalte, „welches die gemeinsamen Ansichten seien, auf deren Grundlage sich die Genossen zum gemeinsamen Auftreten" zusammengefunden hätten, noch darüber Auskunft gebe, wie sich die Unterzeichner zu der Politik der RAPP der vorangegangenen Monate verhalten wollten.37 Dieser Einwand enthielt nur ganz versteckt eine Forderung nach Reue. Natürlich konnte nur derjenige mit einer Aufnahme in die RAPP rechnen, der auch bereit war, sich zu allen aktuellen Resolutionen der RAPP zu bekennen, auch zu denen, welche sich gegen Pereverzev oder gegen die Zeitschrift „Revoljucija i pecat'" richteten. Bespalov und Nusinov empfanden es als Zumutung, sich einer so strengen, regelhaften, „offiziellen" Aufnahmeprozedur unterwerfen zu müssen. Sie antworteten ironisch, daß ihre Ansichten doch aus den Artikeln in „Pecat' i revoljucija" bekannt seien und daß die RAPP nicht jede Kritik an einzelnen Fehlern ihrer Leitung als „Hetze" begreifen solle.38 Sie schlugen vor, anstelle der „diplomatischen Korrespondenz" ein „kameradschaftliches Treffen" zu vereinbaren, um die Einzelheiten der Aufnahme zu besprechen.39 In diesem Notenaustausch wiederholte sich eine Auseinandersetzung um die Streitkultur, wie es in ähnlicher Form wenige Wochen zuvor im Zentralkomitee stattgefunden hatte. Konnten prominente Vertreter der proletarischen Intelligenz „einfach so" ihre Meinung, ihre „Linie" und ihre Organisation wechseln, oder bedurfte es dafür nicht einer formellen, öffentlichen Prozedur? Wo die RAPP-Leitung bemüht war, die Aufnahme der ehemaligen Gegner mit dem Pathos eines offiziellen, formlichen, feierlichen Vorgangs aufzuladen und dadurch den Moment des Triumphes zu verewigen, versuchten die Bespalov-Anhänger, die Angelegenheit herunterzuspielen. 35

Protiv men'sevizma ν literaturovedenii. Sbornik statej, Moskau 1931, S. 176. 36 Protiv men'sevizma ν literaturovedenii, 37 Protiv men'sevizma ν literaturovedenii, 38 Protiv men'sevizma ν literaturovedenii, 39 Protiv men'Sevizma ν literaturovedenii,

Ο teorijach professora Pereverzeva i ego skoly. S. S. S. S.

177. 178. 178-179. 180.

2. Die Intellektuellen

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In einer Ansprache an die Kandidaten erklärte der Sekretär der RAPP, Leopol'd Averbach, ausführlich, welche öffentlichen Erklärungen er von ihnen erwartete und warum. Zunächst setzte er seinen Gästen auseinander, daß er in der Stellungnahme der Partei zugunsten der RAPP nicht nur einen Sieg, sondern auch eine Gefahr sah. Die Anerkennung als „Hauptorganisation" der proletarischen Literatur habe dazu geführt, daß nun jeder der RAPP beitreten wolle, darunter auch Gegner der derzeitigen RAPP-Führung, von denen zu befürchten sei, sie wollten die RAPP unterwandern. Insbesondere den BespalovLeuten könnten solche Absichten unterstellt werden, da sie noch bis vor kurzem versucht hätten, die RAPP zu „zerschlagen". Daraus leitete Averbach das Recht ab, von den Neumitgliedern Loyalitätsbeweise zu verlangen, wie etwa die aktive Beteiligung am publizistischen Kampf gegen die Gruppe „Pereval", aus dem sich die Bespalov-Leute bis dahin herausgehalten hatten. Auch von der Konkurrenzgruppe „Kuznica" müßten sich die Kandidaten zweifelsfrei distanzieren. „Wir sind sehr froh, daß ihr uns beitretet, aber seid so gut (bud'te dobry) und gebt uns eine Erklärung ab, wie ihr euch zur Gruppe ,Kuznica' verhaltet. Seid nicht beleidigt (ne obizajtes'), daß wir solche Forderungen stellen, aber für unsere Organisation ist das nötig. Wenn wir vor ihr Rechenschaft ablegen, dann werden sie uns zwangsläufig danach fragen, ob wir euch solche Fragen gestellt haben."40

Averbach gab sich alle Mühe, diese Forderungen mit dem berechtigten korporativen Eigeninteresse der RAPP-Führung zu begründen, und verwahrte sich gegen den Verdacht, er wolle gegen die Kandidaten ein „Kesseltreiben" veranstalten oder sie zur „Reue" zwingen: „Das wäre einer Organisation wie der RAPP unwürdig."41 Am schmerzhaftesten für die Gäste war die Forderung, sie sollten die Theorie ihres Lehrers Pereverzev als „menschewistisch" denunzieren. Averbach erklärte, daß eine baldige Distanzierung in ihrem ureigensten Interesse liege. Offensichtlich hielt er es für selbstverständlich, daß für alle anwesenden Mitglieder der kommunistischen Partei das persönliche Fortkommen wichtiger war als persönliche Freundschaft oder wissenschaftliche, künstlerische oder literaturpolitische Überzeugungen: „Im weiteren sind zwei ... Verhaltenslinien Pereverzevs möglich. Die erste: Er wird eine Reihe seiner Fehler einsehen. In welche Lage geratet ihr dann? In die Lage von Parteimitgliedern, die einen Menschen geschützt haben, der eine Reihe von Fehlern selbst eingestanden hat als einer Folge der Kritik von einer Reihe anderer Parteimitglieder, ... die mit Professor Pereverzev nicht so eng zusammengearbeitet haben wie ihr. Das ist keine fröhliche Situation. Die zweite: Pereverzev wird weder seine methodologischen, noch seine politischen Fehler einsehen. Dann müßt ihr euch von ihm lossagen, und dann werdet ihr selbst das Scheitern eurer Verhaltenslinie demonstrieren, werdet ihr selbst sie scharf kritisieren."42

40 41 42

Protiv men'Sevizma ν literaturovedenii, S. 192. Protiv men'sevizma ν literaturovedenii, S. 191. Protiv men'sevizma ν literaturovedenii, S. 189.

150

III. Die Gleichschaltung des Geisteslebens

Wie aus dieser kurzen Denkhilfe hervorgeht, betrachtete Averbach das Fehlereingeständnis als eine taktische Form der Schadensbegrenzung, bei der es vor allem auf den richtigen Zeitpunkt ankam. Schließlich einigte man sich auf eine Erklärung, die eine Reihe von Distanzierungen enthielt. Die BespalovLeute verurteilten einen Schlüsseltext Pereverzevs als „menschewistisch" und bezeichneten es als einen „Fehler", daß ihre Zeitschrift „pecat' i revoljucija" Pereverzev bislang nicht kritisiert habe.43 Außerdem distanzierten sie sich von der Kuznica, von der LEF, vom Literaturkritiker Gorbacev und versprachen, innerhalb der RAPP auf „Blockbildung und Fraktionstätigkeit" zu verzichten. Diese Erklärung schuf die Grundlage für die individuelle Aufnahme der Kandidaten in die RAPP, die offenbar kurz darauf erfolgte. Diskursgeschichtlich repräsentieren die Verhandlungen der RAPP mit den Pereverzev-Schülem einen wichtigen Zwischenschritt. Die Forderung nach Fehlereingeständnissen wurde ausschließlich aus der Organisationsräson entwickelt. Die Neumitglieder verpflichteten sich zur Loyalität gegenüber der RAPP; die Distanzierung von der eigenen Vergangenheit war nur ein Teilaspekt der Erklärung, mit der sie sich für die Zukunft auf die literaturpolitische Linie der RAPP festlegten. Die Beteiligten nannten diesen Vorgang weder „Reue" noch „Selbstkritik". Niemand wurde dazu genötigt, irgendwelche „fremden Klasseneinflüsse aufzudecken", die seinem Irrtum zugrunde liegen könnten. Wie jedoch die weiteren Ereignisse zeigten, hielt sie das alles nicht davon ab, genau das zu tun, woran Averbach sie hatte hindern wollen. Schon im Mai 1930 schlossen sich Bespalov und andere mit der „Kuznica" und der „linken Opposition" zum „Litfiront" zusammen und kritisierten nun gemeinsam die künstlerische Plattform und die organisatorische Praxis der RAPP-Leitung, die ein „Monopol" ausübe.44 Folgt man der Darstellung Sesukovs, dann gelang es dem „Litfiront", dessen Angriffe sogar auf den Seiten der „Pravda" erschienen, die RAPP-Führung um Averbach ernsthaft in die Defensive zu drängen. Die jeweilige „Führungsgruppe" in den intellektuellen Organisationen, so parteifixiert sie sich auch geben mochte, konnte auf ihre Mitglieder niemals denselben erfolgssicheren Druck ausüben wie das Sekretariat des Zentralkomitees innerhalb der Partei. Schließlich besaß keine Organisation ein Monopol, und in der Praxis spielten Freundschafts- und Patronagebeziehungen oft eine wichtigere Rolle als der formale Status einer Mitgliedschaft.45 Für die staatsbürgerliche Existenz der Betroffenen war ein Ausschluß aus einer Literaturorganisation weitaus weniger verheerend als ein Parteiausschluß.

43

Protiv men'sevizma ν literaturovedenii, S. 180-182. Die Rede ist vom „Vorwort in seinem Buch über Dostoevskij". 44 Vgl. Sesukov. Neistovye revnitely, S. 286-290. 45 Wie bereits angedeutet, ließen sich proletarische wie nicht-proletarische Schriftsteller gerne von einflußreichen Parteimitgliedern protegieren. Vgl. dazu Fitzpatrick: Intelligentsia and Power. Client-Patron Relations in Stalin's Russia, S. 35-54.

2. Die Intellektuellen

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Die Praktiken der „Reueerklärung", des „Bekenntnisrituals" und des „feierlichen Abschwörens" hatten offenbar auch unter eifernden, sich in ihrer Linientreue allzeit überbietenden Kommunisten keine besondere „kulturelle Wirkungskraft", wenn die angestrebte Wirkung nicht zugleich von zwingenderen Hebeln der Disziplinierung unterstützt wurde. Auch dann nicht, wenn sie, wie der 1900 geborene Bespalov, der Jungen Generation von Ikapisten" angehörten, die, wie Lutz-Dieter Behrendt feststellte, das „Ikapistische Ethos", insbesondere das „Parteiritual" des „Durcharbeitens" (prorabotat") in der politischen Kultur der Partei besonders aktiv verbreiteten.46 Im zweiten Kapitel wurde sehr ausfuhrlich dargestellt, was die zentrale Parteipropaganda von 1928 bis 1930 unter „Selbstkritik" verstand. Unter den Intellektuellen verbreitete sich allerdings schon in diesem Zeitraum ein modifizierter Sprachgebrauch, der die „Selbstkritik" viel stärker in die Nähe der individuellen Fehlereinsicht rückte. Auf diese Nuance der Begriffsgeschichte soll hier genauer eingegangen werden. Die VAPP-Leitung lancierte schon im Frühjahr 1926, zwei Jahre vor der landesweiten „Selbstkritik"-Kampagne, eine Losung namens „Lernen, Schaffen, Selbstkritik".47 Sie forderte die Schriftsteller dazu auf, sich stärker um ihre künstlerische Weiterentwicklung zu bemühen. In den Leitartikeln der Zeitschrift „Na literaturnom postu" tauchte diese Losung bis 1928 aber nur selten auf. Der spätere Gebrauch des Begriffs „Selbstkritik" im Literaturbetrieb ging - wie in der sowjetischen Öffentlichkeit insgesamt - auf die gleiche Losung zurück, die das Zentralkomitee der Partei im Frühjahr 1928 lanciert hatte, um „Bürokratie" und „Mißstände" zu bekämpfen.48 Man kann jedoch keineswegs davon sprechen, daß die Partei 1928 versucht hätte, ihre Kampagne der „Kritik von unten nach oben" zur Bekämpfung von „Mißständen" auch auf die literarischen Organisationen auszudehnen. Statt dessen verschwamm der Begriff „Selbstkritik" im wortlastigen Beziehungsgeflecht der Intellektuellen, in der Dauerintrige ihrer polemischen Auseinandersetzungen bald mit der Forderung nach der reuigen „Einsicht in die Fehler". Das früheste mir bekannte Dokument, in welchem der Begriff „Selbstkritik" zweifelsfrei im Sinne von „Fehlereingeständnis" gebraucht wird, datiert vom 12. August 1929. Es ist allerdings nicht ausgeschlossen, daß noch ältere Dokumente existieren. Die „Literaturnaja gazeta", das „Organ der Föderation der sowjetischen Schriftstellerorganisationen" (FOSP), veröffentlichte an diesem Tag auf der Titelseite den redaktionellen Artikel „Über die ,Literaturnaja gazeta'", mit dem Untertitel: „Im Sinne der Selbstkritik" 46

Vgl. Behrendt·. Die Institute der Roten Professur, S. 620-621. Vgl. auch David-Fox: Revolution of the Mind, S. 174-175. 47 Die VAPP war die Vorläuferorganisation der VOAPP und der späteren RAPP. 48 Vgl. den internen Sprachgebrauch der RAPP-Führung im Brief Fadeevs an Stavskij vom 16. Juli 1928, in: Aleksandr Aleksandrovic Fadeev: Sobranie Socinenii ν semi tomach. Τ. 7. Izbrannye pis'ma, Moskau 1971, S. 35-37.

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III. Die Gleichschaltung des Geisteslebens

(v porjadke samokritiki) - eine Wendling, die in den Texten der SelbstkritikPropaganda nicht vorkam. Es folgte ein typisches Fehlerbekenntnis. Die Redaktion berichtete einleitend davon, daß die „Literatumaja gazeta" wegen ihrer zu unpolitischen Haltung, ihrer zu wenig auf Klassenkampf orientierten Linie von den Zeitungen „Na literaturnom postu", „Molodaja gvardija" und der „Komsomol'skaja pravda" kritisiert worden sei, und fügte hinzu: „Man muß mit aller bolschewistischen Gnadenlosigkeit und Offenheit sagen, daß die Beschuldigungen, welche gegen die ,Literaturnaja gazeta' erhoben wurden, zum größten Bedauern, gerechtfertigt sind; die aufgezeigten Fehler wurden wirklich gemacht; die aufgezählten Mißstände waren ein Teil ihres Wesens (organiceski ej svojstvenno). ... Im Auftrag des Büros der Redaktion der ,Literaturnaja gazeta', Boris Volin."49

Diese Mitteilung erfolgte vermutlich auf Parteibefehl und sollte die Hetzkampagne gegen Boris Pil'njak einleiten, die kurz darauf einsetzte. Es war derselbe Parteifunktionär Volin, der in den folgenden Wochen - auf den Seiten der „Literaturnaja gazeta" - die richtungsweisenden Artikel schrieb.50 In folgenden Nummern der „Litertaturnaja gazeta" wird der Begriff der „Selbstkritik" wieder einfach im Sinn von (gegenseitiger) „Kritik" gebraucht: In einem Artikel „Wie die Selbstkritik nicht sein darf' vom 10. Oktober wehrte sich die FOSP-Leitung gegen die ihrer Meinung nach ungerechte Kritik von Seiten Leont'evs und Zigas.51 Auch in Parteidokumenten und in der übrigen Presse bestand die ursprüngliche Bedeutung fort: Der Pravda-Artikel vom 4. Dezember 1929 hielt die „mutige kommunistische Selbstkritik" für das positive Gegenstück zum nutzlosen „Gruppenkampf, der in erheblichem Maße auf der Aufblähung vorhandener Meinungsverschiedenheiten basiert".52 Doch mehrten sich die Anzeichen, daß der Gebrauch des Begriffs „Selbstkritik" im Sinne von „Fehler- oder Schuldbekenntnis" etwa seit dem Jahreswechsel 1929/30 regelmäßig auftrat, ohne die andere Bedeutung zu verdrängen. Als die sibirische Gruppierung „Nastojascee", wie bereits erwähnt, wegen ihrer Attacken auf Gor'kij vom Zentralkomitee bestraft wurde, empörte sich die „Literaturnaja gazeta" über das Verhalten der sibirischen Genossen:

49

Literatumaja gazeta, 1929, Nr. 17 (12.8.1929), S. 1. Boris Volin (1886-1957) gehörte seit 1905 der Partei an. Nach der Revolution bekleidete er viele verschiedene Funktionen im Parteiapparat, wo er vor allem für die Pressepolitik verantwortlich war. Seine Tätigkeit in der „Literaturnaja gazeta" war für ihn wohl mehr eine Nebentätigkeit. 51 Literaturnaja gazeta, 10.10.1929, S. 2. Auch der redaktionelle Artikel vom 9. Dezember „Für eine bolschewistische Selbstkritik" beklagt den „Bürgerkrieg", die „Händeleien" (skloki), die „Fraktionskriege" innerhalb der proletarischen Literatur und fordert im Gegensatz dazu eine sachliche, kameradschaftliche gegenseitige Kritik (tovarisceskaja samokritikd). 52 Für eine Konsolidierung der kommunistischen Kräfte in der proletarischen Literatur, in: Eimermacher: Die sowjetische Kulturpolitik 1917-1932, S. 690 (= Pravda, 4.12.1929). 50

2. Die Intellektuellen

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„Man spielt Selbstkritik (igra ν samokritiku). Da die letzte Nummer der Zeitschrift ,Nastojaäcee' ... die Partei- und Sowjetöffentlichkeit Sibiriens empört hat, entschied sich die Gruppe ,Nastojascee', einige ihrer Fehler zu berichtigen. Und das ist die Art, in der ,Nastojascee' Selbstkritik übt (zanimajetsja samokritikoj): Anstatt ihre ultralinken Fehler anzuerkennen, schreibt die Redaktion der Zeitschrift.. ,"53

Die Sibirier selbst gebrauchten in ihrer späteren, hinreichend demütigen „Resolution der Generalversammlung der Funktionäre und Schüler des Novosibirsker Proletkults" vom 30. Dezember beide Formulierungen, wenn auch nicht völlig synonym: „Nach Erörterung des Beschlusses des Zentralkomitees der VKP(b) und des Büros des Sibirischen Krajkomitees der VKP(b) über die Unzulässigkeit der Auftritte einiger Organisationen, darunter auch des Novosibirsker Proletkultes, in der Angelegenheit M. Gor'kijs, meinen wir, daß: 1. Wir mit unserer Resolution zu Genossen Gor'kij einen großen politischen Fehler begangen haben.... 3. Wir nur auf der Grundlage einer breiten Kritik und Selbstkritik all unserer Arbeit, unter der unermüdlichen Kontrolle der proletarischen Öffentlichkeit, bei sorgfältiger Einsicht in die ganze Tiefe des von uns begangenen Fehlers, ihn wiedergutmachen und den Ansatz und die Praxis unserer Arbeit berichtigen können, um sie in völlige Übereinstimmung mit der literaturpolitischen Linie der VKP(b) zu bringen."54

Die „Selbstkritik" wurde in dieser Formulierung als ein geistiger Prozeß der inneren Einkehr und der Gewissenserforschung erkennbar, der das bloße Sündenbekenntnis begleiten mußte, wenn es „ehrlich" und nicht „doppelzünglerisch" sein soll. Es handelte sich um die gleiche Entwicklung, die schon im Zusammenhang mit der „Fehlerbuchhaltung" erwähnt wurde: Die Aufzählung des Fehlerkatalogs genügt nicht mehr. Die Annäherung der Begriffe „Fehlereinsicht" und „Selbstkritik" modifizierte also auch die Auffassung des Vorgangs. Die glaubwürdige Inszenierung der „Einsicht in den Fehler" erforderte - neben dem förmlichen Bekenntnis nun auch einen inneren Gesinnungswandel, der längere Zeit benötigte. Zum Jahreswechsel 1929/30 begann die große Welle der „Gleichschaltungen" in der Literatur, als viele Schriftsteller ihren Wunsch erklärten, der RAPP beizutreten. Auf der Moskauer Regionalkonferenz im Februar 1930 gebrauchte die RAPP bereits einen „Selbstkritik"-Begriff und verfugte über rhetorische Klischees, die sowohl das Fehlerbekenntnis wie auch die „innere Umkehr" einschlossen - häufig in Form einer verhüllten Drohung an die Neumitglieder. Die „Literaturnaja gazeta" beschrieb, wie Genösse Ermilov auf einem Kongreß erfolgreich für die Aufnahme der Konstruktivisten Lugovkskij und Bagrickij plädierte: 53

Literaturnaja gazeta, 1929, Nr. 37 (30.12.1929), S. 1. Dieses Zitat ist ein Beleg für eine autochthon russische Genese der Verbalform „Selbstkritik üben", die in den dreißiger Jahren unter den deutschen Komintern-Angehörigen besonders gerne gebraucht wurde. Die Russen jedoch zogen es weiterhin zumeist vor, „ihre Fehler einzusehen". 54 Literaturnaja gazeta, 1930, Nr. 4 (27.1.1930), S. 1.

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III. Die Gleichschaltung des Geisteslebens

„Bei ihrem Eintritt in die RAPP verzichten sie auf das metaphysische Problem ihres früheren Programms, die Frage des Gegensatzes zwischen dem Einzelnen und dem Kollektiv. ... Dieser Verzicht ist die Garantie dafür, daß sie sich den Namen eines proletarischen Schriftsteller erarbeiten können. Das Präsidium schlug vor, sie in die Reihen der RAPP aufzunehmen, ihnen bei der Überwindung der Fehler zu helfen und zugleich von ihnen eine entschiedene Selbstkritik' zu fordern..." 55

Damit war offenbar kein weiteres öffentliches Bekenntnis gemeint, denn die beiden wurden unmittelbar im Anschluß aufgenommen. Im Vordergrund stand hier neben dem Bekenntnisakt, der „Lossagung" von den Irrtümern aus dem Munde der Bekehrten ihre innere Bereitschaft, die Fehler tatsächlich zu „überwinden". Bei dieser langen und schwierigen „entschiedenen Selbstkritik" brauchten sie die „Hilfe" der Genossen. Vorerst, solange sie die Ehrlichkeit ihres inneren Gesinnungswandels nicht unter Beweis gestellt hatten, konnten sie noch keineswegs als „proletarische" Schriftsteller gelten. Für sie, wie für Majakovskij, der ebenfalls der RAPP beigetreten war, galt: „Es versteht sich von selbst, daß der Eintritt dieser Genossen in die RAPP keineswegs bedeutet, daß sie proletarische Schriftsteller geworden sind. Ihnen steht noch eine komplizierte und mühsame Arbeit an sich selbst (rabota nad soboj) bevor, um proletarische Schriftsteller werden zu können, und [die Gruppe] ,Na postu', der bolschewistische Kern der proletarischen Literatur muß ihnen dabei jegliche kameradschaftliche Hilfe erweisen."56

Die freundliche Aufforderung, den Genossen zu „helfen", war bald fester Bestandteil dieser selbstgerechten Rhetorik. Der hohe moralische Anspruch steht in auffälligem Kontrast zur Argumentation, mit der Averbach noch zwei Monate zuvor die Bespalov-Leute zum Fehlereingeständnis überreden konnte: „Distanziert euch von Pereverzev, bevor er sich von euch distanziert". Urteilt man nach der Sprache der Zeitschrift „Na literaturnom postu", dann hatte sich der neue, moralisch aufgewertete „Selbstkritik"-Begriff schon um 1931 innerhalb der RAPP fest etabliert. Auch im akademischen Milieu näherten sich 1930 die Vorstellungen der „Selbstkritik" und des Fehlereingestehens einander an. Doch anders als der RAPP-Führung gelang es den Akademikern nicht, die neue, pädagogisch aufgewertete Forderung in der Praxis auch durchzusetzen. Das ist insofern erstaunlich, als die Kommunistische Akademie in den Jahren 1929 und 1930 mehrere „Diskussionen" veranstaltete, die ein ideales Podium für die Etablierung des neuen Abschwör-Rituals hätte darstellen können. Diese Diskussionen erhoben den Anspruch, eine Methode der akademischen Wahrheitsfindung darzustellen, waren aber nicht ergebnisoffen angelegt. Der Hauptvortragende bereitete in seinem einleitenden Referat die wesentlichen Aussagen der zu verabschiedenden Resolution vor. Auf die Angriffe, die er in seinem Referat gegen die jeweilige Theorie und ihre Vertreter richtete, folgten 55

Pervaja oblastnaja konferencija MAPP, in: Literaturnaja gazeta, 1930, Nr. 6 (10.2.1930). V nastuplenie po vsemu frontu. (Osnovnye itogi 1-j oblastnoj konferencii MAPP), in: Na literaturnom postu, 1930, Nr. 4, S. 4. 56

2. Die Intellektuellen

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die Angriffe der Kollegen im gleichen Ton, die dann in der Resolution zusammengefaßt wurden. Bei dieser Form des „Durcharbeitens" (prorabotka) blieben aber dennoch wesentliche Regeln des akademischen Diskurses bestehen. Die angegriffene Gegenseite hatte ausgiebig Gelegenheit, ihren Standpunkt zu formulieren. Auf der Ebene der rationalen Argumentation versuchten die Angreifer, die Aussagen der Endresolution vorzubereiten, doch auf der psychologischen Kommunikationsebene strebten sie vor allem danach, ihr Opfer zur „Einsicht in seine Fehler" und damit zum öffentlichen Verzicht auf seinen Autoritätsanspruch zu bewegen. Solange sie aber zugleich die wichtige Spielregel beachten mußten, an der akademischen Fiktion festzuhalten, die den Vorrang des besseren Arguments forderte, konnten sie diese Forderung nicht explizit formulieren. Wie sich im Laufe des Jahres 1930 herausstellte, war das akademische Ritual der „Diskussion" (diskussija) nicht geeignet, dieses Ziel der Angreifer durchzusetzen. Denn obwohl die angegriffenen Autoritäten wissen mußten, daß sie einer „offiziellen" Verurteilung nicht entgehen konnten, nutzten sie ihr Rederecht, um die Argumentation der Angreifer zu widerlegen, und waren, von kleinen Zugeständnissen abgesehen, nicht bereit, sich von ihren bisherigen Ansichten zu distanzieren. Marxistische Akademiker, von denen manche auf eine lange Parteivergangenheit zurückblicken konnten, fühlten sich keineswegs verpflichtet, in einer solchen Situation „Selbstkritik zu üben". Pereverzev beispielsweise verteidigte sich weitschweifig und warf seinen Kritikern eine falsche Zitierweise vor. Abram Deborin verspottete seine Angreifer, die ihm „Formalismus" vorwarfen: „Ich sage, daß Genösse Miljutin nicht weiß, was Formalismus ist, denn er versteht unter Formalismus jede beliebige logische Analyse."57 Die Vertreter des „Pereval", einer Vereinigung von Literaturkritikern, wehrten sich nicht nur gegen unbegründete Vorwürfe, sondern hielten schon allein den Versuch, sie zu einem „Fehlereingeständnis" zu bewegen, fur unanständig:58 „Genösse Gel'fand und die Gruppe, die er vertritt, und die RAPP-Leute und andere unserer Gegner bestehen darauf: Wir sollten unsere Fehler einsehen. Es ist eine interessante Frage, ob hier wirklich von Fehlern die Rede ist, oder davon, daß wir unsere ganze Linie aufgeben sollen. Genösse Grossman-Rosöin wurde des Bergsonismus beschuldigt.59 Und jetzt wirft er sich in die Pose des höchsten Anklägers des ,Pereval' und will, daß auch der ,Pereval' sich selbst verleugnen soll. Das hat Grossman-Roscin nötig, um sich davon zu überzeugen, daß die Selbstverleugnung eine ganz normale Erscheinung ist."60

57

Vestnik kommunisticeskoj akademii, Nr. 40-41, S. 37. Zur Vereinigung „Pereval" vgl. Galina A. Belaja: Don-Kichoty 20-ch godov. „Pereval" i sud'ba ego idej, Moskau 1989 und Efim Abramovic Dinerstejn: Α. K. Voronskij. V poiskach zivoj vody, Moskau 2001. 59 Der Begriff leitet sich ab von der Lehre des französischen Philsophen Henri Bergson (1859-1941). 60 Protiv burzuaznogo liberalizma ν chudozestvennom literature. Diskussija ο „perevale", Moskau 1931, S. 56-57. 58

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III. Die Gleichschaltung des Geisteslebens

Gorbov verteidigte nicht nur sich selbst, sondern formulierte einen prinzipiellen Protest gegen die Nötigung zur Selbstverleugnung. Die Ankläger handelten offensichtlich aus unredlichen Motiven ungeklärter psychologischer Natur. „Der ,Pereval' ruft bei seinen Gegnern die höchste Gereiztheit hervor, eben dadurch, daß der ,Pereval' - keine vergangene Erscheinung ist, sondern eine bestehende, die sich treu bleibt, weil er sich kategorisch weigert, seine prinzipielle schöpferische Linie zu revidieren, weil er fest auf seinen schöpferischen Positionen steht, obwohl er mit größter Dankbarkeit alle Hinweise auf tatsächlich literarische Fehler zur Kenntnis nimmt. Wir unterscheiden ganz klar die Hinweise auf unsere literarischen Fehler von jenem Druck, der die Verleugnung unserer literarischen Linie zum Ziel hat."61

Das eifersüchtige Bedürfnis der Ankläger, den beschuldigten Genossen um jeden Preis zur „Reue" zu veranlassen, war zweifellos das psychologisch dominierende Moment dieser Veranstaltung. Sie durften sich allerdings nicht offen dazu bekennen, da es keine ankerkannte Norm gab, die derartige Bestrebungen gerechtfertigt hätte. Ihre Forderung, die „Pereval"-Gruppe solle „ihre Fehler einsehen", begründeten sie daher ausschließlich mit der inhaltlichen „Richtigkeit" ihrer Anklagepunkte und warfen den „Pereval"-Leuten vor, sie verletzten die Regeln einer fairen Argumentation.62 Auch der Verlauf der Diskussionsveranstaltung gegen Deborin läßt darauf schließen, daß das uneingestandene Bedürfnis der Veranstalter, den Angegriffenen in eine demütige, reuige Haltung zu drängen, sehr groß gewesen sein muß. Da sich aber niemand von den Parteiphilosophen für fähig hielt, Deborin ideologische Fehler nachzuweisen, stieß schließlich der hochrangige Parteifunktionär Emel'jan Jaroslavskij zur Veranstaltung, um die erwünschte Wende herbeizuführen. Er vermied von vornherein eine philosophische Diskussion und wählte einen Kunstgriff, um den selbstbewußten Akademiker endlich in die Defensive zu zwingen. Jaroslavskij erinnerte an die „falsche, unzulässige philosophische Bewertung", die Deborin im Jahre 1908 dem Bolschewismus gegeben habe, und äußerte sich empört darüber, daß er sich bis heute noch nicht von ihr öffentlich distanziert habe.63 Deborin war von dieser Forderung überrascht, denn er war bislang nicht auf die Idee gekommen, daß er verpflichtet sein könnte, sich formell von Ansichten zu distanzieren, die er schon seit fünfzehn Jahren nicht mehr vertrat. Er sagte nur: „Damals war ich doch Menschewist"64, woraufhin Jaroslavskij ihn belehrte: „Nicht darum geht es, sondern darum, daß Sie danach diesen Artikel nicht als falsch bezeichnet haben, ... daß Sie nirgendwo gesagt haben: Ich habe zu meiner Zeit einen philosophischen Artikel geschrieben, in dem ich den Bolschewismus als idealistische Theorie charakterisiert habe. Ich denke, daß ich mich damit gründlich geirrt habe, daß das überhaupt

61 62 63 64

Protiv burzuaznogo liberalizma ν chudozestvennom literature, S. 56-57. Protiv burzuaznogo liberalizma ν chudozestvennom literaturovedenii, S. 61. Raznoglasija na filosofskom fronte, Moskau 1931, S. 141. Raznoglasija na filosofskom fronte, S. 142.

2. Die Intellektuellen

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nicht richtig ist, ich habe damals aus politischen Motiven absichtlich Lenin mit Bogdanov vermengt. Gibt es bei Ihnen irgendwo eine solche Schlußfolgerung?"65

Abgesehen von der politischen Notwendigkeit, die Autorität Deborins vor dem Publikum der anwesenden Parteiphilosophen demonstrativ zu beschädigen, erinnert dieser Tadel auch an den Kampf um die politische Kultur, wie er zwischen den Bespalov-Leuten und der RAPP sichtbar geworden war. Konnte Deborin „einfach so" von den Menschewiki zu den Bolschewiki wechseln, oder bedurfte es dafür einer umständlichen, feierlichen Prozedur? Fünfzehn Jahre zuvor hatte sich diese Frage überhaupt nicht gestellt. Nun aber, im Jahre 1930, rügte Jaroslavskij als Vertreter der Parteikontrollkommission nachträglich das Fehlen der formellen, öffentlichen Distanzierung, die 1917 niemand von Deborin verlangt hatte. Gleichzeitig deutete Jaroslavskij die Situation an der „philosophischen Front" auch mit Hilfe der Stereotypen, wie sie aus der „Selbstkritik-Kampagne" von 1928 bekannt waren. Deborin wurde dabei die Rolle des „Bürokraten", dem akademischen Nachwuchs diejenige der „Proletarier" zugeordnet, die „von unten" berechtigte „Kritik üben" wollten. Wie ein selbstherrlicher Funktionär habe Deborin versucht, in seinem Umfeld jede „Kritik" zu unterdrücken. Während in der Diskussion um Deborin beide Bedeutungen des „Selbstkritik"-Begriffs nebeneinander gebraucht wurden, prallten sie in der Diskussion mit dem „Pereval" frontal aufeinander. Die Angreifer warfen dem „Pereval" eine „Unfähigkeit zur Selbstkritik" vor, doch die Genossin Poljakova wies dies entschieden zurück.66 Der Pereval veranstalte häufig intensive Gruppengespräche, bei dem die Literaturkritiker den Autor auf Schwächen in seinem Werk hinwiesen und versuchten, erzieherisch auf ihn einzuwirken.67 Diese „Selbstkritik" unterschied sich der Idee nach wenig von einem klassischen Seminar, bei dem Meinungen ausgetauscht, aber niemand „entlarvt" und niemand zur Kapitulation oder zum öffentlichen Eingeständnis seiner Fehler genötigt wird. Diese Auffassung rief die Empörung Gel'fands hervor, der sich schon im April 1930 unter „Selbstkritik" nichts anderes vorstellen konnte, als ein öffentliches, demütigendes Fehlereingeständnis. Wer zur Selbstverleugnung nicht bereit war, durfte auch nicht für sich in Anspruch nehmen, „Selbstkritik" zu praktizieren: „Von der Poljakova hörten wir, wie die Perevalgruppe, die ... jeden Millimeter ihrer Positionen verteidigt, in der Tiefe ihrer Privatwohnungen, hinter geschlossenen Vorhängen Selbstkritik übte. Eine erstaunliche Sache! Hier wollen sie keine Selbstkritik üben! ... Das ist eine rein häusliche, rein intime ... Form der Selbstkritik. ... Aber hier auf der Bühne

65 66 67

Raznoglasija na filosofskom fronte, S. 14. Vgl. Literaturnaja gazeta, 1930, Nr. 16(21.4.1930). Protiv burzuaznogo liberalizma ν chudozestvennoj literature, S. 44.

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III. Die Gleichschaltung des Geisteslebens

verbreiten sie in der Pose von Luther und Awakum ... ,höchste' Wahrheiten, von denen sie kein Millimikron zurückweichen wollen."68

Für Gel'fand war „Selbstkritik" gleichbedeutend mit der öffentlich inszenierten Brechung des Widerstands, der sich der Parteilinie noch irgendwo entgegenstellen mochte. Er interpretierte die Erzählung Poljakovs daher fälschlicherweise so, als hätte sie sagen wollen, daß die Gruppe „Pereval" ebenfalls die Parteilinie durchsetzen würde, nur eben außerhalb der Öffentlichkeit. Paradoxerweise kam die „bürgerlich-liberale" Poljakova der ursprünglichen Bedeutung des Schlagwortes, wie sie aus den Parteidokumenten des Jahres 1928 und aus den Büchern Ingulovs bekannt ist, viel näher. Gel'fand, der hier als „blindwütiger Eiferer" auftrat, gebrauchte das Wort dagegen in einem Sinn, der den aktuellen Bedürfnissen der Kulturpolitik besser entsprach. Die Stenogramme der Diskussionen geben die mündliche Rede der Zeitgenossen wieder und belegen ihre höchst widersprüchliche und uneinheitliche Auffassung von „Selbstkritik". Demgegenüber muß fest gehalten werden, daß die kämpferische Parteipresse auch im Milieu der Komakademija den Schablonen des Jahres 1928 verhaftet blieb. Die Zeitschrift „Teoreticeskij front" wurde 1931 eigens zu dem Zweck gegründet, die gerade vom Zentralkomitee beschlossene Umgestaltung der Akademie propagandistisch zu begleiten.69 Im Sinne der Tradition der Arbeiterund-Bauern-Korrespondentenbewegung hielt die Zeitung sich selbst für einen Ausdruck lebendiger „Kritik und Selbstkritik". Im Mittelpunkt stand dabei schon nicht mehr die Einsicht Deborins und anderer in ihre Fehler, sondern die Mobilisierung des ganzen Personals, vor allem der jungen Mitarbeiter und Doktoranden. Die „Verbreitung der Selbstkritik" wurde zum Titelthema der dritten Ausgabe, die am 17. März, also zwei Tage nach der Resolution des Zentralkomitees erschien. „Selbstkritik" fungierte dabei als Sammelüberschrift zu Themen wie der „Kampf gegen opportunistisches Arbeitstempo", die „Organisation von Stoßbrigaden", die „Mobilisierung der leichten Kavallerie zur Überprüfung des sozialistischen Wettbewerbs" und auch die „Entlarvung" der Träger oppositioneller Ansichten. „Selbstkritik" bedeutete aber auch die Durchsetzung der banalen Arbeitsdisziplin. In einer kurzen Notiz nannte die Zeitung Namen von Aspiranten, die ohne Erlaubnis weggefahren bzw. Kurse geschwänzt hatten, und kommentierte: „An den Schandpfahl (pozornyj Stoib) mit allen Faulenzern (lodyri), Schwänzern (progul'siki) und denjenigen, die die Arbeitsdisziplin verletzen!" Die Parteimitglieder sollten die Arbeit ihres Instituts, ihrer Organisation und ihrer Parteizelle, aber auch ihre eigene Arbeit einer fortwährenden kritischen Prüfung unterziehen, um „Fehler" rechtzeitig

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Protiv burzuaznogo liberalizma ν chudozestvennom literature, S. 86. Teoreticeskij front, organpartkoma VKP(b) i ob'edinennogo mestkoma Kommunisticeskoj Akademii. 1931 erschienen 14 Nummern. 69

3. Stalin mischt sich ein

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aufzudecken.70 Die Losung der „Selbstkritik" diente den Protagonisten der angestrebten Neuorganisation dazu, eine besonders zugespitzte, aufgepeitschte Atmosphäre zu erzeugen, in welcher die Doktoranden und einfachen Mitarbeiter besonders effektiv zu einer Hetzmasse geformt werden konnten. Sie sollten „von unten" dazu beitragen, die akademische Öffentlichkeit in eine nischenlose Kontrollzone zu verwandeln, in der sich alle gegenseitig kontrollierten. Wenn von einem Wissenschaftler die Fähigkeit verlangt wurde, „Theorie und Praxis zu verbinden", so bedeutete dies konkret, daß er wissen mußte, wie er an seinem Frontabschnitt eine anstehende Entlarvungskampagne zu inszenieren hatte. Er mußte in der Lage sein, den von ihm dominierten Bereich der Parteiöffentlichkeit in eine Sphäre zu verwandeln, in der jedes einzelne Parteimitglied sich in wirksamer Weise dazu aufgefordert fühlen mußte, „von sich aus" die erwünschten Bekenntnisleistungen zu erbringen. Dazu gehörte die „Entlarvung" anderer ebenso wie die eventuelle „Einsicht" in eigene „Fehler".

3. Stalin mischt sich ein Die demonstrative Einmischung Stalins in das Kultur- und Geistesleben schuf Klarheit über die Machtverhältnisse an der „ideologischen Front" und markierte zugleich einen Epochenwechsel. Die verworrenen, leidenschaftlichen Grabenkämpfe hörten allmählich auf, nachdem die Parteinahme der politischen Führung unter den Intellektuellen eine übersichtliche Hierarchie hergestellt hatte. Im vorangegangenen Abschnitt wurde beschrieben, wie sich unter den Intellektuellen die Kommunikationsformen der „Selbstkritik" und des „Fehlereingestehens" herausbildeten. Wie sie sich während der politischen Kampagne zur Gleichschaltung der geistigen Öffentlichkeit flächendeckend durchsetzten und verfestigten, soll in diesem Abschnitt anhand von zwei Beispielen gezeigt werden: Stalins Brief an die „Proletarskaja revoljucija" und die Auflösung der RAPP. Beide Fälle entwickelten sich sehr unterschiedlich: Im Milieu der Geisteswissenschaften verhalf Stalin den linken „Eiferern" zum Durchbruch, doch in der Literaturpolitik desavouierte er die radikale RAPPFührung um Averbach. Die anschließend eingesammelten Fehlereingeständnisse der Akademiker ähnelten äußerlich mehr den „Kapitulationserklärungen" der Oppositionellen, diejenigen der entmachteten RAPP-Funktionäre paßten mehr ins Bild der „kameradschaftlichen Selbstkritik". Die durchschlagende Wirkung, die Stalin mit seinen Stellungnahmen erzielte, könnte leicht darüber hinwegtäuschen, daß er möglicherweise eine 70

Za bol'sevistskoe izucenie istorii partii. Ree' tov. Kaganovica, proisnesennaja 1. dekabija na torzestvennom zasedanii, posvjascennom 10-j godovscine IKP, in: Teoreticeskij front, 1931, Nr. 14, S. 1.

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III. Die Gleichschaltung des Geisteslebens

andere Vorgehensweise bevorzugt hätte. Denn seine Einmischung beendete die eingespielte Aufgabenverteilung, bei der die „blindwütigen Eiferer" als weitgehend unabhängiger „Voraustrupp" die Öffentlichkeit dominierten, ohne daß die politische Führung genötigt war, dafür die Verantwortung zu übernehmen. Es spricht manches dafür, daß der Diktator nur ungern auf die Vorteile dieser Arbeitsteilung verzichtete. Besonders aussagekräftig ist das informelle Gespräch, das Stalin am 9. Dezember 1930 mit jungen Philosophen des „Instituts der Roten Professur" führte, um sie für die bevorstehende „Entlarvung" von Abram Deborin zu instruieren.71 In den Fragen und Antworten zeichnete sich ein leichter Interessenkonflikt ab: Die Jungphilosophen wollten gewissermaßen eine Garantie der Rückendeckung erhalten, während Stalin ihnen nur Hilfe zur Selbsthilfe leisten wollte. Insbesondere erwartete er von ihnen die Fähigkeit, mit starken Argumenten die Lehre Deborins als „formalistisch, idealistisch" und „menschewistisch" zu entlarven. Stalin stellte sich - ganz im Sinne des Voraustrupp-Gedankens - das Verhalten seiner Getreuen so vor, daß sie stets in seinem Sinne, aber dennoch aus eigener Kraft und auf eigene Verantwortung handeln sollten. Die Nachwuchsphilosophen zeigten im weiteren aber nur wenig Bereitschaft, an der philosophischen Front weiter vorauszueilen als unbedingt nötig. Sie gaben sich keine Blöße und hielten sich so eng wie möglich an Stalins mündliche Formulierungen, die sie sich während des Gesprächs notiert hatten. Deborins Theorie denunzierten sie daher als „menschewisierenden Idealismus" (mensevistvujuscij idealizm), obwohl Stalin sie ausdrücklich dazu aufgefordert hatte, „selbst eine Formulierung zu finden".72 Vor diesem Hintergrund kann man die Entscheidung Stalins, sich persönlich in die Angelegenheiten der Kultur einzumischen, sogar als Ausdruck der Resignation begreifen. Da die „Vorhut" der proletarischen Intelligenz eben doch nicht fähig war, ihre Aufgaben richtig zu erfüllen, mußte die Parteiführung nachträglich korrigierend eingreifen. Die politische Kampagne, die Stalin mit seinem Brief an die historische Zeitschrift „Proletarskaja revoljucija" einleitete, veranlaßte Hunderte von Intellektuellen, ihre bisherigen Ansichten mit einer „offiziellen" Erklärung zu widerrufen. Der Brief Stalins und einige öffentliche Auftritte von Kaganovic und Postysev illustrierten die Kanonisierung derjenigen Auffassung von selbstkritischer Reue, die sich seit etwa 1930 in der loyalen Sowjetgesellschaft verbreitet hatte; konstruktive, erzieherischen Phrasen aus dem „Selbstkritik"-Diskurs 71

Über dieses Gespräch existiert eine inoffizielle Mitschrift, die der Teilnehmer Mitin anfertigte. Anders als in einem Stenogramm wird die Rede Stalins teils wörtlich, teils zusammenfassend wiedergegeben. In manchen Fällen hielt Mitin es für richtig, auch den Gesichtsausdruck Stalins festzuhalten. Vgl. Zapis' besedy bjuro jacejki IKP filosofii i estestvennoznanija s I. V. Stalinym ο polozenii na filosofskom fronte. RGASPI f. 17, op. 120, d. 24. 72 RGASPI f. 17, op. 120, d. 24,1. 3.

3. Stalin mischt sich ein

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wurden mit Elementen der formalen Kapitulation so verknüpft, daß die Zeitgenossen hoffen durften, mit einer entsprechenden Erklärung die Chance auf Rehabilitierung zu erhalten. Stalin folgte dabei allerdings weniger dem prätentiösen Modell der RAPP, die ihre Schützlinge angeblich von bürgerlichen Bewußtseinsüberresten hatte befreien wollen, sondern dem mehr hierarchiefixierten Beispiel, das er mit seiner Behandlung Karl Baumans anderthalb Jahre zuvor selbst gegeben hatte. Dies bedeutete eine Reduktion des moralischen Anspruchs. Denn die Hoffnung, daß abweichende Intellektuelle allein mit den besseren marxistischen Argumenten auf dem Weg der freundlichen Umerziehung oder durch „Kritik von unten" zur „Einsicht in ihre Fehler" bewegt werden könnten, wurde damit aufgegeben. Es war nun deutlich geworden, daß die politische Macht ihre Auffassungen nicht wirksam durchsetzen konnte, wenn sie dabei nicht selbst öffentlich in Erscheinung trat. Wer aber erst vom Politibüro dazu aufgefordert werden mußte, sich von seinen Fehlern „loszusagen", hatte wenig Mühe, diese Handlung nicht als eine demütige Selbstverleugnung, sondern nur als Ausdruck des gegenüber dem legitimen Herrscher schuldigen Gehorsams erscheinen zu lassen. Der Brief, den Stalin an die Zeitschrift „Proletarskaja Revoljucija" (dem Organ des Lenin-Instituts am CK) schrieb, löste eine Kampagne aus, die unter den Schlagworten des Kampfes „gegen die trotzkistische Schmuggelware" und „gegen den faulen Liberalismus" geführt wurde.73 Obwohl der Brief, der am 28. Oktober 1931 veröffentlicht wurde, sich in erster Linie gegen die Parteihistoriker richtete, sahen sich die Vertreter aller Geisteswissenschaften bald gezwungen, ihre eigene Arbeit in bisher nicht dagewesener Schärfe in Frage zu stellen. Für die weitere Entwicklung der Reueerklärungen bedeutete Stalins Brief einen tiefen Einschnitt, denn er führte schließlich auch außerhalb der Parteielite zur Institutionalisierung der „selbstkritischen" Schuldbekenntnisse. Der unmittelbare Anlaß für Stalins Brief war ein Artikel A. Sluckijs, der ein Jahr zuvor in der gleichen Zeitschrift erschienen war.74 Sluckij hatte darin das Verhältnis Lenins zur deutschen Sozialdemokratie untersucht und war zum Schluß gekommen, daß Lenin sich gegenüber dem „Zentrismus" und „Opportunismus" nicht immer mit derjenigen absoluten Ablehnung verhalten habe, die ihm später zugeschrieben wurde. Stalin forderte dazu auf, allen Versuchen parteifeindlicher Historiker, „trotzkistische Schmuggelware einzuschleusen", eine „Abfuhr zu erteilen." Die Aufforderung zur fortgesetzten „Entlarvung" allen trotzkistischen oder vermeintlich trotzkistischen Gedankenguts war im 73

Über einige Fragen der Geschichte des Bolschewismus. Brief an die Redaktion der Zeitschrift „Proletarskaja revoljuzija", in: Stalin: Werke, Band 13, S. 76-91 (= Proletarskaja revoljucija, 1931, Nr. 6 [113], S. 3-1).. 74 A. Sluckij: Bol'seviki ο germanskoj social-demokratii ν period ee predvoennogo krizisa, in: Proletarskaja Revoljucija, 1930, Nr. 6. Der Artikel wurde dort von der Redaktion „zur Diskussion" gestellt.

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III. Die Gleichschaltung des Geisteslebens

Herbst 1931 allerdings keine Neuheit mehr. Seine eigentliche Bedeutung für die Geschichte der Widerrufserklärungen erhielt der Brief erst durch die folgenden, zugleich letzten Sätze: „Dies ist umso notwendiger, da sogar einige unserer Historiker - ich spreche von Historikern ohne Anführungszeichen, über bolschewistische Historiker unserer Partei - nicht frei sind von Fehlern, die Wasser auf die Mühle der Sluckijs und Volosevics lenken. Leider stellt hier auch Genösse Jaroslavskij keine Ausnahme dar, dessen Bücher über die Parteigeschichte, ungeachtet ihrer Vorzüge, eine Reihe von Fehlern prinzipiellen und historischen Charakters enthalten."75

Damit hatte Stalin nach der Bauman-Affare einen weiteren Präzedenzfall geschaffen, auf den die Parteigesellschaft schon lange gewartet hatte. Nicht nur Oppositionelle, sondern auch ehrliche Bolschewisten konnten also Fehler begehen, sogar ernste „prinzipielle" Fehler. Wer sich unter dem fortwährenden Druck der „Selbstkritik" von allen Seiten schließlich dazu bereit fand, seine Fehler einzugestehen, konnte dies von da an tun, ohne das Gefühl haben zu müssen, mit den verfemten Oppositionellen auf die gleiche Stufe gestellt zu werden. Emel'jan Jaroslavskij eignete sich in dieser Hinsicht besonders gut als Musterbeispiel. Als tonangebender Funktionär der Zentralen Kontrollkommission hatte er besondere Kompetenz in Fragen der Oppositionsbekämpfung und der Parteimoral erworben. Wenn sogar er, der selbst jahrelang mit dem Einsammeln von Kapitulationen beschäftigt war, schwerwiegende, aber verzeihliche Fehler begehen konnte, dann alle anderen Proletarier erst recht. Es versteht sich von selbst, daß die Redaktion der Zeitschrift „Proletarskaja revoljucija" keine andere Wahl hatte, als sich der Meinung Stalins voll und ganz anzuschließen, doch außer ihr war nun auch die restliche Zunft der marxistischen Historiker genötigt, zu Stalins Brief „Stellung zu nehmen". Der Brief wurde unter anderem am 30. Oktober am Institut für Parteigeschichte des IKP, am 2. November in der Gesellschaft der marxistischen Historiker, am 11. November noch einmal in der Parteigruppe dieser Gesellschaft wie noch auf vielen anderen Versammlungen erörtert, wobei es überall zu Reueerklärungen gekommen sein dürfte.76 Auch an den Provinzuniversitäten wurden entsprechende Versammlungen abgehalten, wenn auch mit leichter Verzögerung.77 Die Parteizelle des historischen Instituts des IKP hielt in ihrer Resolution fest: 75

Proletarskaja Revoljucija, 1931, Nr. 6, S. 12. Zu den Angaben vgl. Alatorceva: Sovetskaja istoriograficeskaja periodika, S. 214 und Barber. Soviet Historians in Crisis, S. 132. Im Parteiarchiv liegen die Protokolle der Sitzungen, die sich „der Erörterung und dem Studium des Briefes I. V. Stalins ... widmeten" in einem eigenen Aktenordner. RGASPI f. 72 (Zeitschrift „Proletarskaja Revoljucija), op. 2, dd. 105-113. Im selben Bestand liegen viele Reuebriefe. Vgl. Findbuch RGASPI f. 72, op. 2: Briefe an die Redaktion der Zeitschrift „Proletarskaja Revoljucija" mit der Anerkennung von Fehlern, mit Ergänzungen, Erklärungen und Berichtigungen zu Artikeln, mit Gegendarstellungen zu Tatsachen ... und zu anderen Fragen, dd. 114-161. 77 In Voronez war dies am 29. Dezember der Fall. Vgl. CDNIVO f. 412, op. 1, d. 53,1. 22. 76

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„Die ... Versammlung fordert... die Mitglieder ihrer Parteiorganisation, die in ihren mündlichen oder literarischen Äußerungen [Mirosevskij, Ryklin, Ross, Rimskij, Lukin, Piontovskij, Gorin, Vanag] Fehler gemacht haben, dazu auf, auf der nächsten Zellenversammlung mit einer ausführlichen Kritik ihrer eigenen Fehler (razvernutaja kritika svoich sobstvennych osibok) aufzutreten, ihren Charakter aufzudecken und sie politisch zu bewerten."78

Am 10. Dezember erschien in der „Pravda" eine ausführliche Erklärung Jaroslavskijs, der eine lange Liste von „miteinander verbundenen" Fehlern „prinzipiellen und historischen Charakters" zusammengestellt hatte und sich nun an die große Öffentlichkeit wandte mit der Bitte, ihm beim Auffinden weiterer Fehler behilflich zu sein.79 Daraufhin beschloß das Präsidium der CKK, den „Brief Jaroslavskijs als ausreichend anzuerkennen", und drückte seine Überzeugung aus, „daß Genösse Jaroslavskij die von ihm begangenen Fehler wiedergutmachen und einen entschiedenen Kampf gegen die Verfälscher der Geschichte unserer Partei führen wird".80 Doch der Brief Stalins und der „Kampf gegen den faulen Liberalismus" erschütterte nicht nur die Parteigeschichtier, sondern verhalf auch den anderen, schon seit 1930 laufenden Entlarvungskampagnen an der „theoretischen Front" zum endgültigen Durchbruch. Am 30. November hielt das Präsidium der Komakademija eine Sitzung ab, auf der der „Verlauf der Erörterung von Stalins Brief in den Instituten" diskutiert wurde.81 Die Gruppen der jungen Nachwuchswissenschaftler, die sich vielerorts gebildet hatten, um ihre Professoren zu entlarven, entfalteten zusätzliche Aktivität. Die Art und Weise, in der der Bucharinfreund und Deborinschüler Sapoznikov, der 1931 Rektor der Universität Voronez war und zugleich den Lehrstuhl für Philosophie bekleidete, dort im November von seiner Parteiversammlung „durchgearbeitet" wurde, erinnert stark an die Kampagne, die ein Jahr zuvor gegen seinen Lehrer geführt worden war.82 Am 16. Dezember veröffentlichte Abram Deborin endlich die Reueerklärung, die von ihm schon seit über einem Jahr erwartet wurde: Er erklärte sich mit den Bewertungen der CK-Resolution vom 25. Januar „vollauf einverstanden" und akzeptierte auch den Vorwurf des „menschewisierenden Idealismus".83 Auch seine Schüler Sten und Karev wurden nun nachdrücklich zu einer „ausführlichen Selbstkritik" genötigt, anderenfalls hatten sie ihren Par78

Teoreticeskij front, 1931, Nr. 14 (Dezember), S. 3. Pravda, 10.12.1931, S. 4. 80 Pravda, 20.12.1931, S. 4. 81 Ο chode obsuzdenija pis'ma Stahna po institutam Komakademii (Referirovannaja stenogramma), in: VKA, 1932, Nr. 1-2, S. 40-67, vgl. hier S. 40f. 82 Vgl. C D N I V O f. 412, op. 1, d. 53,1. 63fF. Auf die Behandlung Sapoznikovs werden wir im vierten Kapitel noch zurückkommen. 83 Pravda, 16.12.1931. Zu Jahresbeginn hatte Deborin sogar einen Selbstmordversuch unternommen. Vgl. Ja. G. Rokitjanskij: Nesostojavseejsa samoubijstvo, in: Vestnik rossijskoj akademii nauk 63 (1993), Nr. 5, S. 4 5 8 ^ 6 2 . 79

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teiausschluß zu gewärtigen.84 Eine Erklärung, die Karev bereits abgegeben hatte, war vom Zellenbüro der Akademie der Wissenschaften als ausreichend angesehen worden. Doch die allgemeine Versammlung der Philosophen am IKP konnte sich damit nicht abfinden, da Karev in ihr „doppelzünglerisch seinen Kampf gegen die Partei an der Seite des Trotzkismus verschwiegen" hatte. Sie hielt die Entscheidung der Parteizelle der Konkurrenzinstitution „für einen groben politischen Fehler". Ein weiterer Beschluß der Parteizelle der Philosophen kündigte die „baldige Überprüfung" der „wissenschaftlichen Angestellten des Instituts" an und sprach sich unter anderem dafür aus, dem freien Mitarbeiter und „menschewistlerischen Idealisten Sadarzev, der in keiner Weise seine Fehler anerkannt hatte", zu kündigen und vom Genossen Luppol ein „entschiedenes Eingeständnis seiner Fehler in der Presse" zu verlangen.85 Zu Jahresbeginn 1932 nahmen auch junge Kämpfer an der „linguistischen Front" Stalins Brief zum Anlaß, den Kampf gegen die „faschistische indogermanische Schule" und andere „antimarxistische Lehren" zu verschärfen.86 Das „Durcharbeiten", die „Selbstkritik" und das „ausführliche Fehlerbekenntnis" fielen in ihrer Resolution in eine einzige totalitäre Praxis zusammen: „Das Direktorat wird beauftragt, ... eine Durcharbeitung (prorabotka) der Fehler der wissenschaftlichen Mitarbeiter des Instituts zu organisieren, ... bei diesen Durcharbeitungen die Entfaltung der Selbstkritik zu gewährleisten, dabei gegen [ihre] Unterdrückung (zazim) und Übertreibungen (peregiby) zu kämpfen und die Durcharbeitung auf ein hohes politischgeistig-prinzipielles Niveau zu heben und zu erreichen, daß die Mitarbeiter des Instituts sich nicht auf ein bloßes Eingeständnis ihrer Fehler beschränken, sondern diese im Prozeß der weiteren Forschungsarbeit überwinden.. ."87

Peinlicherweise war der jungen Gruppe „Jazykovednyj front", die sich das „großes Verdienst" zugute hielt, die „linguistische Diskussion an der Komakademija" initiiert zu haben, ein Malheur unterlaufen. Sie hatte es bereits fertiggebracht, selbst „Fehler" zu begehen, und mußte daher lästigerweise auch schon ein eigenes Fehlerkonto verwalten: „Einige Mitglieder der Gruppe begingen Fehler prinzipiell-theoretischen und politischen Charakters, die teilweise von einzelnen Genossen (Danilov, Gus, Lomtev, Loja) bereits eingestanden wurden, doch ohne eine hinreichend ausführliche Kritik."

Dennoch hielt die Versammlung die Fortexistenz der Gruppe „Jazykovednyj front" 84

Teoretiöeskij front 1932 Nr. 1 (15), S. 3. TeoretiCeskij front 1932 Nr. 1 (15), S. 3. 86 Rezoljucija ob'edinennogo sobranija partijno-komsomol'skoj organizacii nauönoissledovatel'skogo instituta inostrannych jazykov (NlJaZ), ο pis'me t. Stahna ν zurnale „Proletarskaja Revoljucija". 1932. RGALI, f. 1698, op. 1, d. 971,1. Iff. Zu den Auseinandersetzungen in der Linguistik vgl. Yuri Slezkine: N. Ia. Marr and the National Origins of Soviet Ethnogenetics, in: Slavic Review 56 (1996) Η. 4, S. 826-862. 87 RGALI, f. 1698, op. 1, d. 971,1. Iff. 85

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„für zweckmäßig angesichts der andauernden reaktionären Ausfälle der Vertreter der alten bürgerlichen Wissenschaft (der indoeuropäischen Schule von Perm') und angesichts dessen, daß die Jafstidologen sich hartnäckig weigerten, ihre politischen und methodologischen Positionen aufzugeben ... in der gegenwärtigen Etappe, ungeachtet einer Reihe ernster politischer und methodologischer Fehler einiger ihrer Mitglieder".

Die Versammlung drückte zugleich ihr Unbehagen darüber aus, daß das Rajkom bislang versäumt habe, die Gruppe anzuleiten. Die Parteiversammlung kämpfte mit dem prinzipiellen Widerspruch des „Voraustrupp"-Gedankens, der inzwischen als „Selbstkritik von unten" realisiert wurde. Denn wo eine Gruppe von Parteimitgliedern versuchte, ausnahmsweise tatsächlich „spontan von unten" im Sinne der „Parteilinie" aktiv zu werden, da mußten „Fehler" in Kauf genommen werden. Folgt man der Darstellung John Barbers, dann nahm die Manie der Fehlersuche zum Jahreswechsel 1931/32 solch verheerende Ausmaße an, daß schließlich das Zentralkomitee beschwichtigend eingreifen mußte, um die aufgepeitschte Lage bis zum Sommer 1932 wieder zu beruhigen.88 Unabhängig von dieser kurzfristigen Wirkung sanktionierte die politische Führung damit zugleich eine verbindliche Auffassung, wie die Parteigruppen mit den „Fehlern" ihrer Mitglieder umzugehen hatten. Ihre Stellungnahme, die zugleich eine herangereifte „Fehlerlehre" etablierte, bediente zweifellos ein akutes Bedürfnis der Gesamtpartei, wurde aber langfristig zu einer wichtigen Voraussetzung für die gesellschaftliche Verankerung des sogenannten „Selbstkritik-Rituals" der dreißiger Jahre. In Anknüpfung an Stalins Unterscheidung von „Fehlern und Fehlern" legte Postysev in seiner Rede vom 11. Januar besonderes Gewicht auf die Notwendigkeit, zwischen „oppositionellen Parteifeinden" und „ehrlichen Bolschewisten", zwischen einem „System von Ansichten" und „zufalligen Fehlern" zu unterscheiden:89 „Dieser Brief [Stalins] verpflichtet uns zu großer Wachsamkeit. Nicht alle Parteiorganisationen lösen diese Aufgabe richtig. ... Man muß einzelne Fehler eines Menschen von einer systematischen Ansicht unterscheiden können. Natürlich gibt es in den Reihen unserer Partei getarnte Trotzkisten, aber es ist die eine Sache, Trotzkisten zu entlarven ... und sie aus der Partei zu jagen, aber eine andere Sache ist der Fehler dieses oder jenes Genossen, den man auch kritisieren, aber kameradschaftlich kritisieren muß, damit er ihn ausbessern kann. Man muß ihm helfen, den Fehler wiedergutzumachen und dabei gleichzeitig die anderen warnen. Es ist nicht richtig, einen solchen Genossen als Abweichler einzustufen."90

Doch hatten die durchschnittlichen Parteifunktionäre offenbar eine zu schlichte Auffassung von ihrer Funktion und strebten reflexartig immer danach, kom88

Barber. Historians in Crisis, S. 135f. Stalins Dichotomie von gravierenden Fehlern und solchen, die man „schnell wieder vergessen" konnte, wurde bereits im ersten Kapitel vorgestellt. 90 Teoretiöeskij front, 1932 Nr. 2 (16), Januar 1932. Laut John Barber, der das gleiche Zitat mit einer anderen Quelle belegt, hielt Posty§ev die Rede vor einer Parteiversammlung im Moskauer Bezirk Krasnaja presnja. Vgl. Barber. Historians in Crisis, S. 135f. 89

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promittierte Genossen „rauszuschmeißen", anstatt ihnen durch ihre „Erziehung" und „kameradschaftliche Kritik" zu „helfen": „Es gibt in der Zelle manchmal solche Genossen, die geschlafen haben und sich dann auf einmal hervortun wollen. Denn das Rausschmeißen aus der Partei ist immer das einfachste. ,Wir haben ihn rausgeschmissen, so, jetzt können wir uns wieder schlafen legen, der Feind ist weg.' Das heißt aber, sich der Verantwortung zu entziehen." D o c h manche Parteiorganisationen waren bereits „ideologisch gewachsen" und wußten, w i e man mit solchen Genossen richtig umzugehen hatte. Kaganovic erteilte den Delegierten der Parteikonferenz eines Moskauer Stadtbezirks ein großes Lob für ihr „bolschewistisches Gespür" ( c u t ' e ) : „... Ich habe gehört, daß auf eurer Konferenz die Delegierten durch ihr Gefühl, ihr bolschewistisches proletarisches Gefühl, im Auftreten eines alten, guten Bolschewisten, den wir alle sehr schätzen, der aber einen Fehler begangen hat, witterten (ucuali), daß er nicht ganz direkt, nicht mit aller Schärfe, die Bolschewisten zueigen ist, über seinen Fehler sprach, nicht... die ungeschminkte Wahrheit sagte, wie ein alter Bolschewist das tun muß. Die Bolschewisten des [Stadtbezirks] Zamoskvorec'e haben das gespürt und gesagt, du, Genösse, hast unrecht. Hier muß man ... so an die Sache herangehen: Wenn ich vor meiner geliebten Partei (rodnaja partija), vor meiner Arbeiterklasse gefehlt habe, dann muß ich herkommen (pridti) und direkt sagen, ich habe gefehlt, gemeinsam mit euch werde ich diese Fehler wiedergutmachen. (Applaus)."91 Was die Delegierten v o m Genossen erwartet hatten, war vermutlich eine Erklärung von der Art, w i e sie von der RAPP-Führung schon z w e i Jahre zuvor als „ausgedehnte, umfassende Selbstkritik" bezeichnet worden war. Anschließend formulierte Kaganovic eine Art Lehrsatz über den Zusammenhang zwischen der „kameradschaftlichen Hilfe" für den Genossen, seine Bereitschaft zum „Fehlereingeständnis" und seiner Verschonung: „Wenn Menschen einen Fehler begingen und dieser Fehler ... nicht mit dem Kampf um die Generallinie verbunden ist, sondern wenn dieser ... Fehler, ein Buch oder ein Auftritt, ein episodenhafter, zufalliger Fehler ist, wie das oft bei vielen Bolschewisten vorkommt, die etwas nicht ganz richtig (ne tak) sagen oder formulieren, dann besteht unsere Aufgabe darin, diese Menschen zu berichtigen, zu korrigieren, und zwar nicht durch Geschrei (okrikom), sondern durch Erklärung (raz 'jasneniem), an ihr Bewußtsein zu appellieren und sie zu zwingen, diesen Fehler bewußt einzusehen, und nicht, den leichtesten Ausweg zu wählen: Ihn aus der Partei auszuschließen. Ihn auszuschließen - das ist der leichteste Weg, abgestimmt und ausgeschlossen (progolosovali i iskljucili)."92 Bisher war selten in dieser Deutlichkeit öffentlich zugegeben worden, daß „viele Bolschewisten" Fehler begingen und das auch noch „oft". Ebenso wichtig war die ausdrücklich eingeräumte Möglichkeit, daß „Fehler" nicht immer mit dem „Kampf g e g e n die Parteilinie" zusammenhängen mußten. Bezeichnenderweise war es inzwischen nötig geworden, die von Stalin schon fünf Jahre zuvor eingeführte Unterscheidung zwischen „harmlosen" und „ernsthaften" 91

Vystuplenie t. Kaganovica na zamoskvoreckoj rajonnoj partiinoj konferencii. 17.1.1932 goda. RGASPI f. 83, op. 3, d. 144,1. 196. Vermutlich sprach Kaganovic von Jaroslavskij. RGASPI f. 83, op. 3, d. 144,1. 197.

92

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Fehlern unter umgekehrtem Vorzeichen zu reaktivieren: Damals hatte Stalin die Gefährlichkeit des Trotzkismus hervorgehoben, während Kaganovic nunmehr auf die relative Harmlosigkeit der ideologischen Irrtümer Jaroslavskijs hinweisen wollte. Wenn die Parteiführung die Nötigung zum Fehlereingeständnis als Erziehungsmethode propagierte, dann schuf sie damit eine Möglichkeit, vor sich selbst und der Öffentlichkeit den Nichtausschluß von Mitgliedern zu begründen, die zwar nachweislich einen „Fehler" begangen hatten, deren Verbleib in der Partei aber dennoch als wünschenswert erschien. Die Nötigung zum „Fehlereingestehen", das systematische Einsammeln von „Reueerklärungen" wurden ausdrücklich aus dem gefährlichen Kontext der innerparteilichen Auseinandersetzungen herausgelöst, was die Bereitschaft der Parteimitglieder, entsprechende Erklärungen abzugeben, sicherlich vergrößerte. Anders als noch wenige Jahre zuvor wurden „Fehlereingeständnisse" nun nicht mehr unmittelbar als Oppositionsbekämpfung aufgefaßt: „Sobald wir es mit Trotzkisten zu tun haben, mit solchen Leuten, die ihre Fraktion haben, die aktiv gegen die Partei, gegen das Zentralkomitee kämpfen, mit denen führen wir ein ganz anderes Gespräch, mit denen muß man gar nicht erst reden."93

Wenn aber die kollektiv ausgeführte Nötigung zur „Reueerklärung" die grundsätzliche Zugehörigkeit der Beschuldigten zur loyalen Parteigesellschaft und damit auch das Angebot der Verzeihung implizierte, dann ließ sich diese Praxis nicht länger von der „kameradschaftlichen Kritik" im Sinne der „Selbstkritik" unterscheiden. Doch im Gegensatz zu Ingulovs Anleitung zur „Selbstkritik" erteilte Kaganovic der Parteigesellschaft eindeutig und ausdrücklich das Mandat, von den Genossen, bei denen „Fehler" festgestellt worden waren, auch umfassende Fehlereingeständnisse zu verlangen. Dieses Fehlereingeständnis galt dann als äußerlich sichtbares Zeichen ihrer „Einsicht" und befreite die Partei von der harten Pflicht, den Genossen aus der Partei auszuschließen. Die Nötigung zur Reueerklärung hatte sich in der Zeit von 1929 bis 1932 von ihrem Ursprungsort verselbständigt: Von der Bekämpfung der trotzkistischen Opposition war sie über das chaotische Kampfgewirr an der „ideologischen Front" schließlich im Herz der Parteigesellschaft angekommen, wo sie in manchen Augenblicken so selbstverständlich mit dem Diskurs der „Selbstkritik" verschmolz, als hätte sie niemals unabhängig von ihm existiert. Die Ausführungen Kaganovics besiegelten dabei nur eine Entwicklung, die sich in den vorangegangenen zweieinhalb Jahren angebahnt hatte. Die Kampagne gegen den „faulen Liberalismus" und die „trotzkistische Schmuggelware" zog eine Art Schlußstrich unter eine unüberschaubare Anzahl ideologischer Auseinandersetzungen. Der junge Dichter Malachov verfaßte 1932 die Broschüre „Gegen Trotzkismus und Menschewismus in der Literaturwissenschaft", die eine Generalabrechnung mit der sowjetmarxisti-

93

RGASPI f. 83, op. 3, d. 144,1. 198.

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sehen Literaturtheorie insgesamt darstellte.94 Wer immer sich an den Debatten und Polemiken beteiligt hatte, konnte nun Bilanz ziehen und nachzählen, in wievielen Fällen er sich geirrt oder recht behalten hatte. Aber nicht nur die Parteinahme für die falsche Theorie, sondern auch eine verspätete oder zu milde Verurteilung des Schädlichen mußte im Rückblick als ein ernster Fehler betrachtet werden.93 Malachov selbst wollte mit gutem Beispiel vorangehen und gestand „im Rahmen der Selbstkritik" auch seine eigenen Fehler: „... Diese meine theoretischen Fehler, Fehler einer offensichtlich rechtsopportunistischen Natur, verbinden sich mit denjenigen Fehlern auf unmittelbar politischem Gebiet, die von mir im Vorwort zum Sammelband .Schriftsteller über die Arbeit' begangen wurden. All das offenbart einen offensichtlichen Einfluß bürgerlicher Ideologie auf meine früheren Arbeiten, Einflüsse, ohne deren Überwindung ein konsequenter Kampf für die Parteilinie in der Literatur nicht denkbar ist."96

Bald beschäftigte sich eine eigentümliche Buchhaltung mit der riesigen Anzahl von Fehlern, die die Biographien der Parteimitglieder befleckten. Die akribische Registrierung aller vergangenen „Fehler" und des Grads ihrer „Korrektur" erinnert stark an die Methoden, mit welchen die Zentrale Kontrollkommission seit den zwanziger Jahren versucht hatte, die Erblast der ehemaligen linken Opposition zu kontrollieren. Der Umgang mit intellektuellen „Fehlereingeständnissen" knüpfte an den Umgang mit den „Kapitulationserklärungen" an, die man 1928 flächendeckend von den linken Oppositionellen eingesammelt hatte. Die Charakteristiken in den Partei-Personalakten enthielten in den dreißiger Jahren Angaben zu allen „Fehlern" der Genossen wie auch dazu, inwieweit sie sich inzwischen von ihnen losgesagt hatten. In den Personalakten der Universität Voronez aus dem Jahr 1933 heißt es etwa über den Doktoranden Alpatov: „Als wissenschaftlicher Mitarbeiter in der Pädagogik an der VGU beging er eine Reihe politischer Fehler, die im wesentlichen erstens auf die Verteidigung der Projekt-Methode und zweitens auf die Verteidigung der Ansichten Professor Sul'gins zur Unterordnung der Lernarbeit unter die gesellschaftliche Arbeit der Schüler hinauslaufen. Diese beiden Standpunkte führten zur Theorie des , Absterbens der Schule', d.h. zur linken Abweichung in der Pädagogik. Seine Fehler hat Genösse Alpatov anerkannt und hat sie mehrmals öffentlich kritisiert. Zum jetzigen Zeitpunkt kämpft er aktiv für die Generallinie."97

Interessanterweise gab es in der Parteigruppe der Universität noch 1933 Mitarbeiter, die ihre Fehler offenbar immer noch nicht eingestanden hatten: „Genösse Lobanov ist ein fähiger Mitarbeiter, doch ist er als Parteimitglied nicht ausreichend standfest, so konnte er beispielsweise den menschewisierend-idealistischen Charakter ... des methodologischen Seminars von Professor Sapoznikov nicht nur nicht aufzeigen, sondern er organisierte sogar eine Gruppe, die die opportunistischen Fehler Sapoznikovs

94 95 96 97

S. Malachov: Protiv trockizma i men'äevizma ν literaturovedenii, Moskau 1932. Malachov. Protiv trockizma i men'sevizma ν literaturovedenii, S. 55. Malachov. Protiv trockizma i men'sevizma ν literaturovedenii, S. 56. CDNIVO f. 412, op. 1, d. 66,1. 21.

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prinzipienlos verteidigte. Die Prinzipienlosigkeit tritt bei Genossen Lobanov auch in Kleinigkeiten ... zutage: Ein System von Kniffen, um vor dem Leiter das Zuspätkommen ... zu verbergen."98 Bessere Karten hatte Professor Dernov, der folgendermaßen charakterisiert wurde: „Geboren 1891, absolvierte die Petersburger Universität 1914. In seiner Arbeit erwies er sich als standfester ... Genösse, der die Generallinie durchzuführen und gegen alle Abweichungen von ihr zu kämpfen versteht. Auf den Versammlungen ... trat er mit der Entlarvung von Abweichungen ... einzelner Genossen auf, entlarvte ein klassenfremdes Element (Wortmeldung auf der Parteiversammlung zur Entlarvung von Oppositionellen...) ... Im Kampf um die Generallinie der Partei besitzt er die Fähigkeit, die parteilose Masse hinter sich zu bringen und sie politisch anzuführen. Er kennt sich bestens mit opportunistischer Arbeit für die Parteilinie aus und versteht es, Mißstände aufzudecken, sie auf politischer Ebene zu heben (podnimat 'ich na politiceskuju vysotu) und ihnen eine entschiedene Abfuhr zu erteilen."99 D i e Mitwirkung an der „Entlarvung" anderer galt als ein Verdienst, das in den Unterlagen genau so systematisch festgehalten werden mußte w i e die „Fehler". D o c h die meisten Personalbeurteilungen der VGU-Mitarbeiter enthielten keine solch ausführlichen Informationen. Häufig hieß es kurz: „verteidigt aktiv die Generallinie", oder: „beteiligt sich an der Selbstkritik". Ein Dekret des Zentralkomitees kündigte am 23. April 1932 völlig überraschend an, daß die RAPP, w i e überhaupt alle künstlerischen Vereinigungen, aufgelöst werden sollte. Kurz darauf sahen sich die Mitglieder der RAPP-Führung vor die Forderung gestellt, eine gemeinsame Erklärung verschiedener Literaturorganisationen zu unterzeichnen, in der die Auflösung der R A P P ausdrücklich begrüßt wurde. 100 Der verschollene Originaltext dieses Dokuments enthielt Passagen, die v o n der Führung der aufgelösten R A P P als nicht hinnehmbare Demütigung empfunden wurden. A m 10. Mai schrieb Fadeev an Kaganovic: „... Durch das Unterschreiben dieses Textes muß ich, gemeinsam mit anderen Genossen, eingestehen, daß ich mindestens acht Jahre meines reifen Parteilebens nicht damit verbracht habe, für den Sozialismus an der Kulturfront zu kämpfen, nicht damit, für die Partei und ihr Zentralkomitee und gegen den Klassenfeind zu kämpfen, sondern nur verschwendet habe für Klüngeleien und Gruppenkämpfe, in der ich mich - gemeinsam mit einigen anderen Genossen, die mit mir Schulter an Schulter kämpften - vor aller Öffentlichkeit an den Pranger stellen muß zum Gelächter aller Feinde der proletarischen Literatur."101

98

CDNIVO f. 412, op. 1, d. 66,1. 54. CDNI VO f. 412, op. 1, d. 66,1. 57. 100 Vgl. Α. K. Romanovskij: Partijnoe rukovodstvo literaturoj ν period podgotovki k pervomu s'ezdu sovetskich pisatelej, in: A. S. Mjasnikov, Α. V. Prjamkov (Hrsg.): Ο politike partii voblasti literatury i iskusstva, Moskau 1958, S. 100-101 und Babicenko'. Scast'e literatury, Anmerkung 1 zu Dokument Nr. 45 (S. 135). 101 Babicenko·. Söast'e literatury, S. 134. 99

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Der langjährige Bolschewist und RAPP-Funktionär Fadeev hielt es keineswegs für natürlich, gegen seine Überzeugung Fehler offen einzugestehen oder eine „ausgedehnte Selbstkritik" zu üben, nur weil irgendjemand dies von ihm verlangte. Ganz im Gegenteil, Fadeevs Wortwahl „Pranger" verrät sogar so etwas wie eine grundsätzliche Ablehnung dieser Reuepraxis. In seinem eigenen Fall glaubte er jedenfalls nicht an die läuternde Wirkung eines solchen Reuebekenntnisses, sondern ekelte sich vor dem „Gelächter" einer versammelten „Öffentlichkeit", das ihm selbst gelten würde. Die Empörung Fadeevs beweist, daß er im Reuezwang nicht immer eine sinnvolle bolschewistische Erziehungsmethode sah, sondern nur die Inszenierung der bestehenden Hackordnung. Der eigentliche Anlaß für Fadeevs Brief ist daher die Frage, ob die Erklärung tatsächlich vom Politbüro verlangt wurde oder nur von den anderen Literaturorganisationen.102 Wenn Fadeev auf einem offiziellen Beschluß des Zentralkomitees bestand, dann brachte er damit seine innere Distanz von dem Inhalt des Dokumentes zum Ausdruck. Fadeev wollte in der Öffentlichkeit definitiv nicht den Eindruck erwecken, er habe die ihm vorgeworfenen Fehler „ehrlich eingesehen" - statt dessen wollte er zu verstehen geben, daß er das Dokument nur auf Befehl unterschrieb, um die „Parteidisziplin" nicht zu verletzen. Da nicht nur Fadeev, sondern auch seine Kollegen Averbach, Kirson und Makar'ev ähnliche Briefe schrieben, setzten Stalin und Kaganovic am 11. Mai die Bildung einer Kommission, bestehend aus Stalin, Kaganovic, Steckij und Gronskij, auf die Tagesordnung der nächsten Politbürositzung, die sich mit dem Problem befassen sollte.103 Doch schon am selben Tag unterzeichneten die Schriftsteller eine Erklärung, in der sie ihre Briefe demütig „bedingungslos verurteilten" und sie wieder zurücknahmen.104 Nach diesem Erfolg wurde die Aufgabe der Kommission als erfüllt angesehen.105 Die proletarischen Schriftsteller sahen in aller Form ein, daß es ein „Fehler" gewesen war, daß sie die vergangenen „Fehler" nicht hatten einsehen wollen. Doch darf diese ostentative Unterordnung unter die Parteientscheidung nicht darüber hinwegtäuschen, daß sie ihr Ziel erreicht hatten: Stalin verzichtete tatsächlich auf die Unterzeichnung einer öffentlichen Erklärung.106 Offenbar war es ihnen gelungen, ihn davon zu überzeugen, daß ihre öffentliche Diskreditierung auch der Partei keinen Nutzen bringen würde. Eigentlich hatten nicht sie, sondern hatte Stalin seinen Fehler eingesehen. Die „Rücknahme der Erklärungen" erscheint vor diesem Hintergrund als eine recht inhaltsleere Loyalitätsbeteuerung gegenüber dem legitimen Herrscher. 102

Babicenko: Scast'je literatury, S. 135. Babicenko: Scast'e literatury, S. 135f. 104 Romanovskij: Partijnoe rukovodstvo literaturoj ν period podgotovki k pervomu s'ezdu sovetskich pisatelej, S. 101. 105 Babicenko: Scast'e literatury, S. 135. 106 Vgl. Babicenko: Scast'je literatury, S. 136. 103

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Wie die Parteiführung ihr Verhältnis zur aufgelösten RAPP in der Öffentlichkeit dargestellt sehen wollte, wurde im Herbst auf dem „ersten Plenum des Organisationskomitees" des neugegründeten Schriftstellerverbands deutlich.107 Diese Veranstaltung, deren Stenogramm bald darauf als Buch erschien, sollte die ewigen Streitereien der verfeindeten Gruppen beenden. Das Ziel des Verbands war nicht mehr die Zusammenfassung der „proletarischen", sondern aller „sowjetischen" Schriftsteller. Viele von ihnen waren in den vorangegangenen Jahren von der RAPP auf die übelste Weise attackiert worden. Nun hatte sich aber herausgestellt, daß die politische Macht, im Gegensatz zur RAPP, gar nicht beabsichtigte, die „nicht-proletarischen Mitläufer" vom literarischen Leben auszuschließen. Das Plenum bedeutete also ein spannendes Aufeinandertreffen der ehemaligen RAPP-Funktionäre mit ihren versammelten Opfern. Der Parteifunktionär Ivan Gronskij, der von Stalin mit der Neuorganisation der sowjetischen Literaturpolitik betraut worden war, ging davon aus, daß er, um das Vertrauen der parteilosen Autoren zu gewinnen, unbedingt ein öffentliches Fehlereingeständnis der „Na postu"-Gruppe erreichen mußte, die sich so anmaßend gebärdet hatte. Sie sollte zugeben, das „Gruppenunwesen" zu weit getrieben zu haben. Dennoch durfte er der Kritik an der RAPP aus politischen Gründen keinen freien Lauf lassen. Und so sprach er in der einleitenden Rede zwar von den Fehlern der ehemaligen RAPP, markierte aber auch gleich zu Beginn die Grenzen einer solchen Fehlerdebatte. Trotz „einzelner Fehler" habe die RAPP die Literatur „im wesentlichen richtig angeleitet".108 Der „wesentliche und hauptsächliche Fehler" der RAPP habe in ihrer Unfähigkeit gelegen, ein normales Verhältnis zu denjenigen Schriftstellern herzustellen, „die sich auf die Seite der Sowjetmacht gestellt" hätten. Ganz im Sinne des ursprünglichen „Selbstkritik"-Gedankens präsentierte Gronskij das Plenum als einen öffentlichen Austragungsort „kameradschaftlicher" Kritik. Die Eindringlichkeit seiner Rhetorik spricht dafür, daß es der Parteiführung nicht leichtfiel, ihre Vertreter auf dem Gebiet der Literatur halb zu diskreditieren und gleichzeitig an ihnen festzuhalten. Die primitive Streitkultur der vorangegangenen Jahre, die binäre Einteilung in „richtig" und „falsch" und die Obsession, jede abweichende Theorie auf einen „fremden Klassengehalt" zurückzuführen, schufen schlechte Voraussetzungen für differenzierte Bewertungen. Abgesehen davon hatten viele der Anwesenden mit der RAPP persönliche Rechnungen zu begleichen. Gronskij erklärte vorsorglich: „Die alten Schriftsteller dachten, die Liquidierung der RAPP würde zwangsläufig auch die politische Ermordung der RAPP-Funktionäre bedeuten und forderten von uns Blut.... diese Organisation beging Fehler, und für diese Fehler werden wir sie prügeln, aber wir werden sie kameradschaftlich, bolschewistisch schlagen, als unsere Leute, als Leute unserer Klasse, 107 Sovetskaja literatura na novom etape. Stenogramma pervogo plenuma orgkomiteta sojuza sovetskich pisatelej (29. oktjabija-3 nojabrja 1932), Moskau 1933. Vgl. auch die kommentierende Wiedergabe in: Primockina: Pisatel' i vlast', S. 129-141. 108 Sovetskaja literatura na novom etape, S. 7.

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III. Die Gleichschaltung des Geisteslebens

und schlagen werden wir sie, um sie zu korrigieren und sie zur Arbeit zu zwingen, um sie an unsere Seite zu stellen und mit ihnen geschlossen in den Kampf für den Sozialismus zu ziehen. Und wenn jemand versuchen wird, sie anders zu schlagen, dann lassen wir das nicht zu. Dann stehen wir auf wie ein Mann für die ehemaligen RAPP-Funktionäre und lassen sie nicht im Stich."109

„Kritik" bezeichnete einen bestimmten Modus „kameradschaftlichen Prügelns" unter strenger Aufsicht eines Schiedsrichters, der bei einer Eskalation sofort einschreiten würde. Der Erfolg dieser Form der Bearbeitung hatte sich laut Gronskij bereits eingestellt: „Diese Politik nämlich führte auch dazu, daß die ehemaligen Führer der RAPP selbst anfingen, auf Versammlungen aufzutreten, manche sogleich, andere nach einer Woche oder einem Monat und von selbst anfingen, die Fehler der ehemaligen RAPP aufzudecken..."

Diese Bemerkung bezog sich auf Fadeev, der sich inzwischen in der „Literaturnaja gazeta" bereits mehrmals von den „Fehlern der RAPP" distanziert hatte. Der beste Ausweg für alle Beteiligten, daran ließ Gronskij keinen Zweifel, bestand darin, daß die Betroffenen endlich nicht nur begriffen, was sie falsch gemacht hatten, sondern dies auch allen anderen öffentlich mitteilten. Es blieb dem Korreferenten Subockij vorbehalten, ein offenes Reuebekenntnis der RAPP-Führung zu fordern: „Aber die wesentliche Voraussetzung einer breiteren Beteiligung der leitenden Kader der ehemaligen RAPP an der Selbstkritik muß darin bestehen, daß, gemeinsam mit den großen Fehlern, ... von denen es in unserer Arbeit einen ganzen Haufen gibt, die Genossen nicht vergessen, auch die Fehler zu kritisieren, ... die von ihnen selber begangen wurden. ... Es wäre besser, wenn sich an dieser großen und notwendigen Arbeit auch diejenigen Genossen beteiligen würden, die diese Fehler begingen. Es ist höchste Zeit dafür!""0

Subockij schien der Meinung zu sein, daß man es den parteilosen Autoren schuldig war, nun auch einmal die RAPP selbst ein klein wenig am Pranger zappeln zu lassen. Bemerkenswert ist die Abstufung der Forderungen: Die Fehler der RAPP mußten in jedem Fall ausführlich kritisiert werden, und „besser wäre es", wenn sie sich daran „auch" selbst beteiligen würden. Die „Selbstkritik" an den Mißständen und Fehlern schloß nach Meinung Subokkijs im Herbst 1932 offenbar immer noch nicht automatisch auch irgend jemandes Einsicht in die eigenen, persönlichen Fehler mit ein. Und wie reagierten die „gestürzten Tyrannen" auf diese Zumutung? Leopol'd Averbach verfolgte in seiner Rede die Strategie, ziemlich genau diejenigen Vorwürfe an die eigene Adresse zu wiederholen, die zuvor Gronskij in seinem Referat aufgezählt hatte. Der Leser des Stenogramms hat den Eindruck, in etwa das gleiche Referat nochmal zu lesen, nur eben in der ersten statt in der

109 110

Sovetskaja literatura na novom etape, S. 8. Sovetskaja literatura na novom etape, S. 45.

3. Stalin mischt sich ein

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dritten Person Plural.111 Dennoch betonte Averbach, daß er nach wie vor stolz sei auf die Leistungen der RAPP: „Wenn über die Beurteilung der ehemaligen RAPP gesprochen wurde, dann muß man auch sagen, daß sie, abgesehen von allen Fehlern in den Beziehungen zur parteilosen Intelligenz, die es bei uns gegeben hat, ungeachtet des Gruppenunwesens, einer Reihe von Fehlern in theoretischen und schöpferischen Fragen, eine Organisation war, deren Funktionäre in der Literatur keine anderen Ziele verfolgten als diejenigen, welche von den Interessen der Partei diktiert wurden. Das war eine ruhmreiche Organisation, die mehr als eine Hundertschaft junger proletarischer Schriftsteller erzogen hat, und ich bin stolz darauf, daß ich seinerzeit Mitglied der RAPP gewesen bin. (Applaus).""2

Mit soviel demonstrativem Selbstbewußtsein strapazierte Averbach allerdings auch schon wieder die Geduld vieler Anwesender. Während seiner Rede kam es sogar zu einem kleinen Eklat, der später aus dem Stenogramm gestrichen wurde.113 Als er RAPP-kritische Artikel in der „Literaturnaja gazeta" eine „direkte Unverschämtheit" nannte, ermahnte ihn Gronskij, er möge selbst „nicht unverschämt" werden, was mit langanhaltendem Beifall quittiert wurde. Die folgenden Redebeiträge richteten sich schon nicht mehr pauschal gegen die „Fehler der RAPP", sondern auch ganz konkret gegen Averbach. Andere prominente RAPP-Funktionäre nutzen die Gelegenheit, sich ihrerseits von Averbach zu distanzieren. Als der turkmenische Schriftsteller Cariev auftrat und Averbach vorhielt, man habe von ihm keine „solche", sondern eine „selbstkritische", „bolschewistische" Rede erwartet, in der er „seine Fehler wie ein Bolschewik" hätte „anerkennen" müssen, wurde er dabei sogar von Averbachs langjährigen Kollegen Cumandrin und Libedinskij durch zustimmende Zwischenrufe unterstützt.114 Fadeev dagegen erhielt schon vor seiner Rede „langdauernden Applaus", der vermutlich seinen RAPP-kritischen Artikeln in der „Literaturnaja gazeta" galt.115 Die Spaltung der RAPP-Funktionäre führte interessanterweise zur verstärkten Forderung nach persönlicher, individueller Selbstkritik. Solange die RAPP bzw. die „Na-postu"-Gruppe ein einheitlicher, monolithischer Block zu sein schien, galt bereits die Kritik des RAPP-Sekretärs Fadeev an den Fehlern der RAPP als „Selbstkritik". Die nun aber zutage getretene Spaltung löste den Verdacht aus, Fadeev, Cumandrin und Libedinskij wollten sich nicht „selbst" kritisieren, sondern ihre gemeinsam begangenen Fehler auf Averbach „ganz allein" abwälzen. Die Individualisierung der „selbstkritischen" Schuldbekenntnisse wurde daher gerade von denjenigen Anwesenden gefordert, die immer noch zu Averbach hielten und besonders unter Druck geraten waren. Vgl. Averbachs Rede (S. 116-122) mit der Passage aus dem Referat Gronskijs, S. 6-9. Sovetskaja literatura na novom etape, S. 118. 1,3 Vgl. Dokladnaja zapiska zamestitelja zevedujuäiego kul'tpropotdelom CK VKP(b) Ν. N. Rabiceva sekretaijam CK VKP(b) „O chode plenuma orgkomiteta pisatelej". 1 nojabrja 1932 g., in: Jakovlev: Vlast' i chudozestvennaja intelligencija, S. 186-187. 114 Sovetskaja literatura na novom etape, S. 124. 115 Sovetskaja literatura na novom etape, S. 124. 112

174

III. Die Gleichschaltung des Geisteslebens

Mate-Zalka drückte seinen Ärger darüber aus, daß Fadeev in der Presse seine, Mate-Zalkas, Werke kritisiert hatte, anstatt seine eigenen, obwohl die ja nicht besser seien. 116 Der Dramatiker Afinogenov, ein Freund Averbachs, Schloß sich in seinem Brief an Gor'kij der Meinung Bachmet'evs an, welcher auf den Plenum erklärt hatte: „Mir scheint, daß die Na-postu-Schriftsteller Fadeev und Libedinskij, die hier aufgetreten sind, sich ganz anders hätten benehmen müssen, als sie es getan haben. Sie hätten nicht vor allem über die Fehler anderer Genossen, deijenigen Averbachs und Kirsons, sprechen sollen, sondern von ihren eigenen Fehlern..."" 7 Tatsächlich b e z o g Fadeev seine Kritik aber grundsätzlich auf die ehemalige RAPP-Führung insgesamt, sich selbst ausdrücklich eingeschlossen, und unternahm überhaupt gar keine Versuche, das persönliche Verhalten der einzelnen K o l l e g e n individuell zu betrachten. 118 Der Vorwurf, er w o l l e „alles auf Averbach abwälzen", war in seinem Fall ganz offenkundig unbegründet. Tatsächlich handelte es sich nur u m den allzu menschlichen Abwehrreflex gegenüber jeder Kritik, die der etablierten Hackordnung zuwiderlief. In seiner Zusammenfassung konnte Gronskij deutlich zwischen geläuterten und halsstarrigen RAPP-Vertretern unterscheiden: „Genösse Cumandrin hat wie ein Bolschewik, ein Arbeiter, eine Kehrtwende vollzogen, er hat alle Brücken hinter sich verbrannt. ... Er hat vollständig mit dem Gruppenunwesen Schluß gemacht. Die Wortmeldungen der Genossen Libedinskij, Fadeev und Ermilov hatten den selben Inhalt." 1 " Cumandrin war in seiner Rede deutlich über die Formulierungen hinausgegangen, die ihm bereits umständlich vorgekaut worden waren, und hatte die RAPP als „Magnitostroj des Gruppenunwesens" verhöhnt. 120 Averbach und Kirson waren dagegen nach Meinung Gronskij s nicht weit genug gegangen: „Diese Genossen haben die Fehler der RAPP und ihre eigenen Fehler nicht vollständig aufgedeckt. Vieles haben sie gesagt, aber keineswegs alles. Ich würde nicht sagen, daß die Erklärungen, welche diese Genossen hier im Plenum abgegeben haben, nicht zufriedenstellend seien. Aber das Plenum hatte mehr von ihnen erwartet, das Plenum weiß, daß Leute, die nicht vollständig mit dem Gruppenunwesen gebrochen haben, die ihre Fehler nicht vollständig aufgedeckt haben, sich die Möglichkeit des Manövrierens vorbehalten.. ,"121

116

Sovetskaja literatura na novom etape, S. 234. Sovetskaja literatura na novom etape, S. 191. Sovetskaja literatura na novom etape, S. 124-129. 119 Sovetskaja literatura na novom etape, S. 257. 120 Cumandrin hatte in seiner Wortmeldung im Plenum nämlich gleich zu Beginn mitgeteilt, daß er von nichts anderem reden wolle als ausschließlich über das „Gruppenunwesen". Er beschränkte sich auch nicht auf die Wiederholung fremder Vorwürfe, sondern zog die Vergangenheit der RAPP sogar ins Lächerliche: „Es sind nicht wenige gute Schriftsteller aufgetaucht, aber nicht immer Dank unserer Arbeit, sondern nicht selten sogar trotz unserer Arbeit (Gelächter im Saal, Lärm)". Sovetskaja literatura na novom etape, S. 87. Hervorhebung im Original. 121 Sovetskaja literatura na novom etape, S. 257. 1,7

118

Schlußfolgerung

175

Die Partei konnte also, wenn es sein mußte, auch differenziert, im diplomatischen Modus der doppelten Verneinung kritisieren. Wichtiger als das vollkommene Bekenntnis war aber die Überwindung des Gruppenunwesens „in der Zukunft". Gronskijs Haltung gegenüber den ehemaligen RAPP-Funktionären ähnelt deijenigen, die Averbach selbst knapp drei Jahre zuvor gegenüber den Pereverzev-Anhängern eingenommen hatte. Als wesentlicher Unterschied muß allerdings festgehalten werden, daß die Partei im Falle der RAPP-Führung darauf verzichtete, von ihnen eine schriftliche „offizielle Erklärung" zu erhalten, in der sie „ihre Fehler eingestanden". Die Redebeiträge der versammelten Schriftsteller wirken allesamt sehr ungezwungen und authentisch. Die Anwesenden hatten die Möglichkeit, zu sagen, was sie wirklich dachten, und hielten sich daher auch gegenseitig für ihr öffentliches Auftreten verantwortlich. Vor diesem Hintergrund gelang es Gronskij und Fadeev, den Umschwung in der sowjetischen Literaturpolitik glaubwürdig als einen Vorgang angewandter „Kritik und Selbstkritik" zu inszenieren. Und so ergab sich die paradoxe Situation, daß gerade die „nicht-proletarischen" Schriftsteller die „Selbstkritik" sehr positiv erlebten und Schuldbekenntnisse einforderten, während die erprobten „bolschewistischen Kämpfer" die „Selbstkritik" ihres Gefährten Fadeev geradezu für einen Verrat hielten.

Schlußfolgerung Zweifellos stand die Zuspitzung und Radikalisierung an den verschiedenen ideologischen „Fronten" in engem Zusammenhang mit den Geschehnissen innerhalb der Partei. Die dominierenden Akteure versuchten, nicht nur die Inhalte, sondern auch die entstehenden Spielregeln der politischen Kultur auf das intellektuelle Leben zu übertragen und dabei zugleich ihre Gruppeninteressen zu befordern. In der Praxis war dies weitaus schwieriger, als es zunächst scheinen mochte. Zwar verfügten die „blindwütigen Eiferer" über beträchtliche Handlungsspielräume, mußten aber dennoch stets um die Rückendeckung der Parteiführung wie auch um die Zustimmung der eigenen Mitgliederschaft bangen. So gerne sich etwa die RAPP-Führung als literaturpolitisches Zentralkomitee präsentierte, so weit war sie tatsächlich von einer entsprechenden Stellung entfernt. Stalin hatte die Parteielite nicht zuletzt mit ihrer Angst vor sich selbst diszipliniert. Vielen schien es einleuchtend, daß nur die strenge Durchsetzung des Fraktionsverbotes die Partei vor einer Spaltung, vor Machtverlust oder Bürgerkrieg bewahren konnte. In der Geisteswelt hingegen ließen sich Minderheiten schon darum nicht so leicht disziplinieren, weil sie ihr eigenes Auftreten nicht im gleichen Maße als politische Gefahr begreifen konnten. Viele Teilnehmer an den „Diskussionen" der Kommunistischen Akademie hielten

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III. Die Gleichschaltung des Geisteslebens

es noch 1930 und später für eine normale Angelegenheit, daß verschiedene Gruppen unterschiedliche Ansichten vertraten. Dabei konnten sie sich sogar auf die Losung der „Selbstkritik" berufen. Dennoch war die Bedeutung der RAPP in den Augen der Zeitgenossen um 1930 so groß, daß einige Schriftsteller um ihrer Mitgliedschaft willen bereit waren, Schuldbekenntnisse abzulegen. Zwei sehr unterschiedliche Begründungen wurden herangezogen, um dieses Vorgehen zu rechtfertigen. Einerseits machte die RAPP-Führung ihr korporatistisches Eigeninteresse nach ideologischer Geschlossenheit und innerem Zusammenhalt der Mitgliedschaft geltend; andererseits ging es darum, die Neumitglieder von bürgerlichen Bewußtseinsüberresten zu befreien und zu „echten Proletariern" umzuerziehen. Während im ersten Fall die Unterordnung unter die Linie der RAPP als eine freie Willensentscheidung aufgefaßt wurde, die das Subjekt aus sich selbst heraus treffen konnte, war die Umwandlung der Persönlichkeit ein langdauernder, quälender Prozeß, der ohne die „Hilfe des Kollektivs" erfolglos bleiben mußte. Da sich die RAPP-Führung allerdings keinen Proletarier vorstellen konnte, der ihre Politik ablehnen würde, liefen beide Vorstellungen letztlich wieder in eine einzige zusammen. Die Vorgänge zum Jahreswechsel 1929/30 geben ein typisches Beispiel, wie die innerparteiliche Praxis des Schuldbekennens von einer ehrgeizigen Gruppe eigenmächtig interpretiert, zusätzlich mit Sinn angefüllt und zur Selbstdarstellung genutzt wurde. Dabei verstanden manche Akteure unter „proletarischer Diktatur" etwas ganz anderes als die Parteiführung. Das Schlagwort „Selbstkritik" etwa wurde von Intellektuellen besonders früh im Sinne von „Fehlereingeständnis" uminterpretiert. Dabei mag es eine Rolle gespielt haben, daß der basisdemokratische Impetus der „Selbstkritik"Kampagne auf die Situation der Intellektuellen überhaupt nicht paßte. Denn die sowjetischen Akademiker und Literaten mußten nicht erst durch die Parteiführung dazu aufgefordert werden, sich gegenseitig „mutig zu kritisieren" und in den Arbeiten der Kollegen „Fehler" und „Mißstände" aufzudecken. Für sie erfüllte schon das Selbstbild vom „Voraustrupp" (razvedka) eine ähnliche Funktion wie später die Aufforderung zur „Selbstkritik von unten". Allerdings wollte letztere die Machtposition der „selbstzufriedenen Bürokraten" bereits erschüttern, als die Intellektuellen sich noch gar keine entsprechende Machtposition erkämpft hatten. Es erscheint somit nachvollziehbar, daß die „blindwütigen Eiferer" die Bedeutung dieser Losung gerne ins Gegenteil verkehrten: Die RAPP-Führung übersetzte die „Selbstkritik" schon im Februar 1930 in eine bedingungslose Unterwerfung aller (ehemaligen) Widersacher und überhörte zugleich die Aufforderung, „kameradschaftliche Selbstkritik" an der RAPP-Führung zuzulassen. Doch da die Herbeiführung von Mehrheitsentscheidungen innerhalb der Geisteswelt nicht mit einer Machtentfaltung verbunden war, scheiterte die RAPP-Führung schließlich trotz ihrer zeitweiligen Erfolge. Auch mit der For-

Schlußfolgerung

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derung nach Schuldbekenntnissen gelang es ihr nicht, Opposition und Konkurrenz nachhaltig zu unterbinden. Nicht alle Mittel des innerparteilichen Machtkampfes ließen sich ohne weiteres in den Profilierungs- und Einflußkämpfen der Machtlosen verwenden. Im größeren gesellschaftlichen Zusammenhang führten letztlich alle Wege zu Stalin. Nicht zwangsläufig zu ihm als einer Person aus Fleisch und Blut, sondern zu ihm als oberster Entscheidungsinstanz. Solange über Stalins konkrete Meinung wenig bekannt war, blieb diejenige Meinung ausschlaggebend, von der die Zeitgenossen erwarten durften, daß Stalin sie vertreten würde. Es war die Hoffnung auf die herrscherliche Gunst und Gnade, welche die marxistischen und nichtmarxistischen Intellektuellen dazu veranlaßte, zu bekennen, zu gestehen und zu bereuen. Erst Stalins persönliches Eingreifen führte dazu, daß sich im Milieu der parteinahen Intelligenz bis 1932 eine neue Form der öffentlichen Reuepraxis durchsetzte, welche die konstruktiv-erzieherischen Grundsätze des samokritika-Gedarkens mit den formalen Elementen der Loyalitätserklärungen und Fehlereingeständnissen verband. Anders als viele „blindwütige Eiferer" maß Stalin der Theoriebildung marxistischer Intellektueller insgesamt zu wenig Bedeutung bei, um in ihr einen Versuch politischer Willensbildung zu erkennen. Solange sich die Theorien nicht unmittelbar gegen die Parteilinie richteten, subsumierte er all ihre Irrtümer unter die Kategorie der harmlosen, verzeihlichen Fehler. Auch was die Klassenherkunft der Schriftsteller anbelangte, verhielt sich Stalin weitaus großzügiger als viele der radikalen Aktivsten. Es scheint nicht besonders schwierig zu sein, für das Verhalten der Beteiligten jeweils eine schlüssige Erklärung zu finden. Der natürliche Widerstand der Akademiker gegen die Zumutung, die eigene Position zu „widerrufen", läßt sich ebenso gut nachvollziehen, wie ihre plötzliche Bereitschaft, nach Stalins Machtwort schließlich doch noch eine entsprechende „Erklärung" einzureichen. Im Frühjahr 1932 konnte die Forderung nach „Fehlereingeständnissen" den Betroffenen wie ein pragmatischer Ausweg aus der verfahrenen Konfliktsituation erscheinen: Ein glaubwürdig formulierter Verzicht auf die eigene Position schuf möglicherweise die Grundlage für die Fortsetzung der beruflichen Karriere. Um so schwieriger gestaltet sich der Versuch, die Herausbildung dieser Reuepraxis plausibel in den größeren politischen und ideologischen Zusammenhang einzuordnen. Welche Bedeutung hatten die Reueerklärungen für die kollektive Identität der Bolschewiki? Unter kommunistischen Intellektuellen herrschte offenbar eine beträchtliche Unsicherheit über die Regeln ihrer eigenen politischen Kultur. Das Phänomen der „Konfessionsrituale" kann auch im Intellektuellenmilieu nicht mit einer „bolschewistischen Tradition" erklärt werden. Als sie zur „Einsicht in ihre Fehler" beziehungsweise zur „Lossagung von ihren Irrtümern" angehalten wurden, reagierten sie spontan fast immer mit schroffer Zurückweisung. Eine erhöhte Bereitschaft marxistischer oder bolschewi-

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III. Die Gleichschaltung des Geisteslebens

stischer Intellektueller zur demütigen Selbstverleugnung läßt sich in keiner Weise erkennen. Besonders hartnäckig wehrten sich die Vertreter der älteren Generation, langjährige Parteimitglieder und Personen, die seit jeher mit der Revolution sympathisiert hatten. Als die RAPP 1932 aufgelöst wurde, stellte sich heraus, daß auch die , jungen Eiferer" sich gegen die Selbstverleugnung sträubten, solange sie konnten. Unter sowjetmarxistischen Intellektuellen der frühen dreißiger Jahre herrschte die konventionelle Auffassung vor, daß Selbstverleugnung einem Verrat an sich selbst wie an (ehemaligen) Mitstreitern gleichkam. Von Maksim Gor'kij wird behauptet, daß er die persönlichen Beziehungen zu Fadeev abkühlen ließ, weil er ihm die Distanzierung von der RAPP nicht verziehen haben soll.122 Wer sich aber - unter äußerem Druck - dennoch verleugnete, strebte danach, dieses Verhalten vor sich und anderen zu rechtfertigen. Dabei lassen sich zwei gegensätzliche Tendenzen beobachten. Zum einen versuchten die Betroffenen, die „Erklärung" als einen Akt des Gehorsams zu interpretieren und somit einen inneren Abstand herzustellen. Der Verzicht auf die eigenen Ansichten wurde zu einer formellen Prozedur, einer notwendigen Formalität. Je höher der Rang der Instanz war, welche die Erklärung einforderte, desto schwächer wurde der innere Rechtfertigungszwang. Gehorsam gegenüber dem Monarchen ist schließlich keine Feigheit, sondern eine Tugend, der sich auch stolze Aristokraten nicht schämen müssen. Averbach handelte etwa in diesem Sinn, als er sich im Herbst 1932 demonstrativ genau im vorgeschriebenen Maß von seinen Fehlern distanzierte. Diese selbstbewußte Haltung war allerdings gefahrlich, da die Umgebung sich gereizt fühlen konnte, den Druck zu erhöhen. Die andere Strategie bestand in dem Versuch, die Unterwerfung als echten Gesinnungswandel darzustellen und möglicherweise auch zu verinnerlichen. Manche Vorwürfe, denen einzelne Parteimitglieder ausgesetzt waren, erschienen auch einer breiteren Öffentlichkeit als berechtigt. Wer sich „besserte", konnte in solchen Fällen auf gesellschaftliche Unterstützung hoffen. Es ist nicht ausgeschlossen, daß Fadeev aus Überzeugung handelte, als er sich 1932 von der RAPP distanzierte.

122

Vgl. Primockina: PisateP i vlast'.

IV. Reue und Selbstkritik in der sowjetischen Öffentlichkeit 1931-1953 Einleitung Bisher wurde die Bedeutung der Begriffe und Diskurse im Detail untersucht. Für den Zeitraum nach 1931 scheint es allerdings sinnvoller, „Selbstkritik" und Schuldbekenntnisse nur noch als Teil eines komplexen Mechanismus anzusehen, der einen konstitutiven Teil stalinistischer Öffentlichkeit bildete. Zwei Formen von Schuldbekenntnissen sind aufgetreten: Nachholende Abstimmungsvoten zur Wiederherstellung der Einstimmigkeit (wie etwa die Kapitulationen der Trotzkisten) und Schuldbekenntnisse als Reaktion auf einen autoritären Tadel von oben (wie etwa Emel'jan Jaroslavskijs Einsicht in seine Fehler). Der Druck, solche Bekenntnisse abzulegen, wurde jeweils durch zwei verschiedene Imperative ausgeübt: einerseits durch das Verlangen nach „monolithischer" Geschlossenheit und durch das Fraktionsverbot (die Mehrheit zwingt die Minderheit dazu, ihre Position aufzugeben), andererseits durch die Forderung der ranghöheren Instanzen nach dem Gehorsam der Untergebenen. Die neuen Kommunikationsformen wurden durch zwei entsprechende Forderungen bestimmt: einerseits durch die Nötigung zur aktiven Positionierung in den (nur zu diesem Zweck beibehaltenen) politischen Abstimmungsgremien, andererseits durch die alle Grenzen überschreitende Aufforderung zur gegenseitigen „kameradschaftlichen Selbstkritik" und Kontrolle. Die Öffentlichkeit wurde zu einer Kontroll- und Bewährungszone, die sich ähnlich auswirkte wie das panoptische Gefängnis, das seit Michel Foucaults Essay „Überwachen und Strafen" als Metapher neuzeitlicher Herrschaftsmethoden gilt. Repressive Strafandrohungen und positive Identitätsangebote nötigten die Untertanen dazu, die Befolgung formaler Befehle um den vorauseilenden Gehorsam zu ergänzen. Das Regime hoffte seine Machtchancen (im Sinne Max Webers) zu vergrößern. Die Untertanen sollten auch solche Befehle befolgen, die das Regime (aufgrund seines Informationsdefizits) in der konkreten Situation zu erteilen nicht in der Lage war, von denen der Untertan aber annehmen konnte, daß das Regime sie ihm erteilt hätte, wenn es allwissend wäre. Die Konstruktion dieser Öffentlichkeit bewirkte, daß vordergründig das „Kollektiv" gegen ein „Individuum", tatsächlich aber alle Untertanen wechselseitig gegeneinander ausgespielt wurden. Die stalinistische Öffentlichkeit wurde gewissermaßen zum Leviathan, der dafür sorgte, daß die Untertanen des absoluten Staates - im Widerspruch zu Thomas Hobbes'Annahme - sich auch weiterhin gegenseitig als „Wölfe" betrachten mußten. Das zentrale Anliegen des folgenden Kapitels ist es, nachzuweisen, daß die stalinistische Öffentlichkeit einen Doppelcharakter besaß: Einerseits war sie

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IV. Reue und Selbstkritik in der sowjetischen Öffentlichkeit 1931-1953

ein zur Geisel gemachter politischer Abstimmungskörper, andererseits eine pädagogische Anstalt. Der eine Modus ging nicht nahtlos in den anderen über, es handelte sich um zwei Bewußtseinszustände, die voneinander so scharf getrennt waren wie sie nahe beieinanderlagen, vergleichbar fast mit den multiplen Identitäten eines Schizophreniekranken. Das loyale Subjekt wurde sowohl als politischer Kämpfer betrachtet, dessen mutige Parteinahme für das Schicksal der Revolution entscheidend sein konnte, wie auch als Zögling, der in fortwährender Unmündigkeit gehalten werden mußte. Der kleine Abstimmungskörper beteiligt sich auch in den dreißiger Jahren an der politischen Willensbildung, am ewig fortgeführten Kampf mit dem realen oder nur imaginierten Feind. Er übt allumfassenden Bekenntniszwang aus, Verweigerer werden isoliert, in die „Kapitulation" getrieben, gegebenenfalls zu Feinden erklärt und getötet. Der Erziehung zugeführt werden diejenigen, die bereits für die richtige Seite Partei ergriffen haben und denen man Loyalität unterstellen kann. Das Herrschaftsverhältnis zwischen Regime und Untertanen gibt sich als ein „Erziehungsverhältnis" und bedient sich dabei gerne der Sprache der „kameradschaftlichen Selbstkritik". Die Obrigkeit organisiert das Kollektiv, um auf einzelne Personen erzieherischen Druck auszuüben (ähnlich wie Makarenko in seiner Kinderkolonie, die Oleg Kharkhordin als Modell der Sowjetgesellschaft auffaßt). Dabei geht es dann sowohl um deren Besserung wie auch um einen ritualisierten Akt der Unterwerfung. Die gedankliche Trennung beider Öffentlichkeiten zeigt sich am deutlichsten in ihrer gegensätzlichen Auffassung von Mündigkeit, vom Erwachsensein des Subjekts. Während das pädagogische Kollektiv ausländische Revolutionäre in unmündige Internatszöglinge zurückverwandeln wollte, erkannte der politische Abstimmungskörper sogar im unfreiwillig „abweichlerischen" Provinzgymnasiasten plötzlich einen mächtigen, gefahrlichen Feind, der die politische Stabilität gefährdete. In der Praxis hing die Wahl des Kommunikationsmodus nicht nur vom Verhalten des Untertanen ab, sondern auch von der aktuellen politischen und psychologischen Situation. Zur Zeit des Terrors erkannte das Regime Anzeichen „feindlicher" Opposition auch in solchen Handlungen, die es in ruhigen Momenten lediglich als Erziehungsdefizit aufgefaßt hätte. Um eine bessere Orientierung über die diskursgeschichtlichen Feinheiten zu ermöglichen, scheint es sinnvoll, dem Kapitel noch in der Einleitung einen kurzen begriffsgeschichtlichen Exkurs über Bedeutungsverschiebungen des Begriffs „Selbstkritik" (kritika i samokritika) voranzustellen. Die Untersuchung erstreckt sich dann auf die vier recht unterschiedlichen gesellschaftlichen Milieus der politischen Entscheidungsträger, der einfachen Untertanen, der Parteibasis und schließlich der prominenten Schriftsteller und Wissenschaftler. Die kontrastierende Reihenfolge wurde bewußt gewählt, um die jeweiligen Gemeinsamkeiten und Unterschiede besser sichtbar werden zu

Einleitung

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lassen. Die erste und die dritte Gruppe bestand vollständig, die zweite und vierte Gruppe nur teilweise aus Parteimitgliedern. Angehörige der ersten und der vierten Gruppe befanden sich innerhalb der Sichtweite des Politbüros, die Untertanen der zweiten und dritten Gruppe normalerweise nicht. Der Abschnitt über die Parteispitze soll dann zu einer Auseinandersetzung mit Arch Gettys Konzeption vom „Entschuldigungsritual" (apology ritual), der Abschnitt über die Untertanen zur Diskussion von Oleg Kharkhordins Theorie vom sowjetischen Kollektiv (kollektiv) genutzt werden. Ansonsten ist die Vorgehensweise in allen vier Abschnitten ähnlich: Es werden Situationen vorgestellt, die zu Schuldbekenntnissen führten. Es folgt eine Erzählung: Wie wurde um das Schuldbekenntnis gerungen, wie rangen die Parteien dabei miteinander um die richtige Interpretation diese Vorgangs? In manchen Fällen soll gezeigt werden, unter welchen Voraussetzungen sich Schuldbekenntnisse ritualisierten, wie die Ritualisierung von den Beteiligten wahrgenommen wurde, was sie sich davon erhofften oder was sie befürchteten. Zudem ist das Dilemma des obrigkeitlichen Erziehungsanspruchs zu beschreiben: Nicht selten schwankte die stalinistische Öffentlichkeit in der Frage, ob es besser war, den Übeltäter „kameradschaftlich umzuerziehen" oder ob man ein abschreckendes Exempel statuieren sollte. Um die offizielle Auffassung des Begriff „Selbstkritik" von divergierenden Auffassungen wie auch von der gesellschaftlichen Praxis besser abgrenzen zu können, werden nur Texte berücksichtigt, die schon den Zeitgenossen zugänglich waren und von ihnen als Ausdruck der offiziell gültigen Ansicht gelesen werden konnten.1 1931 hatte die erste Kampagne ihren Höhepunkt überschritten; in den folgenden Jahren tauchte die Losung „Selbstkritik" wesentlich seltener auf. Allmählich wurde sie in die älteren, längst etablierten Diskurse integriert. Das Zentralkomitee nannte die Parteisäuberung 1933 „einen Ausdruck bolschewitischer Selbstkritik", die in einer „kameradschaftlichen Atmosphäre" stattfin-

1 Bol'Saja sovetskaja enciklopedija (BSE), 1950; Georg Brunner: Das Parteistatut der KPdSU 1903-1961. Herausgegeben vom Bundesinstitut zur Erforschung des Marxismus-Leninismus (Institut für Sowjetologie), Köln 1965; G. V. Derjagina: Bor'ba KPSS za razvertyvanie kritiki i samokritiki ν nauke, literature, iskusstve ν postvoennyj period. Avtoreferat dissertacii istoriceskich nauk, Leningrad 1954; Geschichte der Kommunistischen Partei der Sowjetunion (Bolschewiki). Kurzer Lehrgang; Κ itogam plenuma CK VKP(b). Sbornik stat'ej „Pravdy" 6 - 1 6 Marta 1937 g., Leningrad 1937; Sergej Mironovic Kirov: Izbrannye stat'i i reci, 1918-1934, Moskau 1944; Kratkij filosofskij slovar' (KFS), Moskau 1952; Malaja sovetskaja enciklopedija (MSE), 1930 und 1941; Ivan Semenoviö Mamontov: Kritika i samokritika: sil'nejäee oruzie bol'sevizma, Moskau 1950; P. Pospelov·. Bol'Sevistskaja samokritika - osnova partijnogo dejstvija, Moskau 1937; Stalin. Schlußwort im Plenum CK VKP(b), in: Pravda, 1.4.1937; Ν. Ρ Vasi'leva, M. G. Zuravkova: Kritika i samokritika ν sovetskom obäöestve. Sbornik statej, Moskau 1955; Za bol'äevistskij stil' partijnogo rukovodstva. Sbornik peredovych „Pravda" (Za janvar' i fevral' 1937 goda), Vologda 1937.

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IV. Reue und Selbstkritik in der sowjetischen Öffentlichkeit 1931-1953

den sollte.2 Das Parteistatut von 1934 erwähnte im Abschnitt „Innerparteiliche Demokratie und Parteidisziplin" erstmals auch die „Selbstkritik".3 In engem Zusammenhang mit den Massenverhaftungen fand von 1936 bis 1938 die zweite große „Selbstkritik"-Kampagne statt. Das Schlagwort wurde in dieser Zeit vor allem mit „Wachsamkeit" assoziiert, zugleich aber auch mit der „innerparteilichen Demokratie" im Sinne einer genauen Einhaltung vorgeschriebener Wahlprozeduren. Stalin interpretierte in seiner Rede im Februar-März-Plenum 19374 die „Selbstkritik" als Methode, die Kader zu „kontrollieren", zu „erziehen" und mit Hilfe der „Massen" die Wahrheit über sie zu erfahren. Im 1938 herausgegebenen „Kurzen Lehrgang" wurde der Fähigkeit der Partei zur „Selbstkritik" entscheidende Bedeutung für ihr weiteres Schicksal beigemessen.5 1939 erwähnte das Parteistatut erstmals ausdrücklich das Recht aller Mitglieder, Jeden beliebigen Parteifunktionär zu kritisieren" und bei Parteiwahlen einzelne Kandidaten abzulehnen.6 Während des Weltkrieges war nur wenig von „Selbstkritik" die Rede. Doch ab 1946 wurde das Schlagwort wieder zu einem zentralen Begriff des öffentlichen Lebens. Die als „Zdanovscina" bekannt gewordene Kampagne gegen mißliebige Schriftsteller, Künstler, Wissenschaftler und „Kosmopoliten" begriff sich als angewandte „Selbstkritik". Das „Prinzip der Selbstkritik" wurde erst in diesen Jahren vollständig in das Lehrgebäude der marxistisch-leninistischen Philosophie integriert. Aber auch die Tagespresse forderte regelmäßig, die „Selbstkritik" als Kontroll- und Erziehungsmittel in der täglichen Parteiarbeit einzusetzen. Das Parteistatut von 1952 bezeichnete die Kritik an Mängeln nicht mehr als Recht, sondern sogar als Pflicht der Mitglieder. In den Jahren nach Stalins Tod nutzten seine überlebenden Mitstreiter das Schlagwort „Selbstkritik" dazu, vorsichtig eine Abkehr von seiner Politik einzuleiten.7 Die „Selbstkritik" selbst unterlag der Selbstkritik: Die „Große Sowjetenzyklopädie" (1950) wie auch das „Kurze philosophische Wörterbuch" (1952) zitierten fast ausschließlich Stalin, doch schon bald nach seinem Tod trat dieser in seiner Bedeutung

2

Vgl. Postanovlenie CK i CKK VKP(b) „O cistke partii" (vom 23. April 1933), in: Emel'jan Michailovid Jaroslavskij: Za bolScevsistskuju proverku i iistku partii, Moskau 1933, S. 42-43. 3 Brunner. Das Parteistatut der KPdSU 1903-1961, S. 156. 4 Das Plenum war zwar nicht öffentlich, aber Stalins Schlußwort wurde am 1. April 1937 in der „Pravda" veröffentlicht. 5 Geschichte der Kommunistischen Partei der Sowjetunion (Bolschewiki). Kurzer Lehrgang. Vgl. insbesondere die „Schlußfolgerungen", S. 437. 6 Brunner: Das Parteistatut der KPdSU 1903-1961, S. 159 und S. 161. Zdanov erklärte dem Parteitag, daß diese Bestimmungen „selbstverständlich" auch schon zuvor gegolten hätten. Vgl. A. Shdanov: Abänderungen am Statut der KPdSU (B). Bericht auf dem XVIII. Parteitag der KPdSU am 19. März 1939, Berlin 1950, S. 18. 7 Vgl. die Beschlüsse der CK-Plena, die in den Jahren 1953, 1954 und 1955 abgehalten wurden. KPSS ν rezoljucijach i resenijach, Izd. 8-e, T. 6, S. 484-516.

Einleitung

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als „Theoretiker der Selbstkritik" deutlich hinter Marx, Engels und Lenin zurück. Wichtige Kernaussagen des „Selbstkritik"-Diskurses blieben über den gesamten Zeitraum von 1928 an bis über Stalins Tod hinaus unverändert gültig. Der dennoch stattfindende Bedeutungswandel vollzog sich gewissermaßen als Akzentverschiebung, als Veränderung der Konnotation. Der „Selbstkritik"Gedanke wurde mit neuen Begriffen assoziiert, die ihn in den Kontext einer anderen gesellschaftlichen und kommunikativen Situation stellten. Daß Ingulov 1938 als „Volksfeind" erschossen worden war und seine Bücher verboten waren, mag den Wandel des Begriffs und des Verständnisses von „Selbstkritik" erleichtert haben.8 Wenn die Idee der „Selbstkritik" 1927/28 aus dem praktischen Enthüllungsjournalismus der Arbeiterkorrespondenten, der Wandzeitungen und der Kontrollorgane heraus entwickelt worden war, so wurde sie nach dem zweiten Weltkrieg, insbesondere nach der Zdanov-Rede vom Juni 1947, von Akademikern verbreitet.9 Zeitschriften wie „Voprosy filosofii", „Bol'sevik", oder „Vestnik akademii nauk" veröffentlichten Beiträge über die „Selbstkritik";10 das Institut für Philosophie der Akademie der Wissenschaften gab zum gleichen Thema Broschüren für ein breites Leserpublikum heraus." Das „Kleine philosophische Wörterbuch" von 1952 bezeichnete die „Kritik und Selbstkritik" nicht mehr als Losung, sondern als „dialektische Gesetzmäßigkeit", als „Bewegungskraft" ( d v i z u s c a j a sila) der sozialistischen Gesellschaft, in der es keine Klassengegensätze mehr gab.12 Nach Stalins Tod wurde die Geschichte der Arbeiterbewegung komplett in die Tradition der „Selbstkritik" integriert.13 Sämtliche Fortschritte, die das Proletariat unter der Führung der kommunistischen Partei jemals erreicht hatte, wurden nunmehr im Rückblick als Ergebnis erfolgreicher „Selbstkritik" betrachtet. Das galt nicht nur für den politischen Kampf, der in der Partei seit Marx und Engels mit „Abweichlern", „Opportunisten", „Versöhnlern"

8

Vgl. Gorjaeva: Istorija sovetskoj politiöeskoj cenzury, S. 72-75, S. 82, S. 517-518. Es wurde bereits erwähnt, daß die Philosophie und andere Wissenschaften zur gleichen Zeit zum bevorzugten Schauplatz der zugespitzen „Kritik und Selbstkritik" wurden. Andrej Zdanov trat bei der Philosophie-Diskussion im Juni 1947 als Schiedsrichter auf und legte den Philosophen nahe, das Thema der „Selbstkritik" theoretisch zu behandeln. Vgl. Diskussija po knige G. F. Aleksandrova „Istorija zapadnoevropejskoj filosofii". 16-25 ijunija 1947 goda. Stenograficeskij otcet, in: Voprosy filosofii, 1947, Nr. 1, S. 5-501, insbesondere S. 266-272. 10 Vgl. Kojevnikov: Rituals of Stalinist Culture at Work. Anmerkungen 1, S. 32-35. 11 Vasil'ev: Kritika i samokritika ν sovetskom obäöestve. Sbornik stat'ej, Moskau 1955. 12 Vgl. Kratkij filosofskij slovar'. Stichwort Kritika i samokritika, S. 211-214. Vgl. auch BSE, 2-e izdanie, Band 5 (1950), Stichwort „Bol'Sevistskaja kritika i samokritika". 13 Vgl. I. Sarikov: Ob'ektivnye osnovy i charakternye certy kritiki i samokritiki kak dvizusöej sily sovetskogo obSCestva, S. 36, in: Vasil'ev: Kritika ν sovetskom obsöestve, S. 35-65. 9

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und O p p o s i t i o n e l l e n geführt wurde, sondern auch für j e g l i c h e A n s t r e n g u n g zur Steigerung der wirtschaftlichen Produktion und g e n a u s o für sämtliche M a ß r e g e l u n g e n u n d Ratschläge, die Marx, E n g e l s , Lenin, Stalin oder das Z e n tralkomitee der Partei j e m a l s e i n e m Schriftsteller oder Künstler erteilt hatten. 1 4 D i e „Selbstkritik" fiel n a c h offizieller A u s l e g u n g also w e i t g e h e n d mit d e m a l l g e m e i n e n Menschheitsfortschritt z u s a m m e n , in w e l c h e r F o r m sich dieser auch i m m e r v o l l z o g . Tatsächlich hatte Stalin d i e „Selbstkritik" s c h o n 1 9 2 7 abstrakt als eine F o r m des „ K a m p f e s z w i s c h e n A l t e m und N e u e m " bezeichnet. D o c h damals b e g r i f f m a n die „Selbstkritik" vor a l l e m als „Kritik v o n unten", als K a m p f g e g e n korrupte „Bürokraten", g e g e n Korruption, Willkür und Amtsmißbrauch. I n z w i s c h e n w a r v o n derartigen Mißständen seltener die R e d e , während m a n statt d e s s e n die erzieherische Kraft der „Selbstkritik" hervorhob. 1 5 R e g e l m ä ß i g zitierte m a n aus Stalins R e d e v o m Februar-März-Plenum 1937, in w e l c h e r er die „Selbstkritik" als M e t h o d e der Kadererziehung beschrieben hatte. Stalin nannte damals rückblickend seinen Artikel „Vor E r f o l g e n v o n S c h w i n d e l befallen" ( v o m Frühjahr 1 9 3 0 ) eine erfolgreiche E r z i e h u n g s m a ß n a h m e : .Jetzt haben wir einige zehntausend hervorragende Kader ... in der Kolchosleitung.... Aber diese Kader hätten wir jetzt nicht, wenn die Partei damals nicht ihre [eigenen] (svoich) Fehler erkannt und sie nicht rechtzeitig korrigiert hätte."' 6

14 Vgl. M. Belov, B. Berestnev: Kritika i samokritika - moguöaja sila ν zizni i dejatel'nosti kommunistiieskoj partii sovetskogo sojuza, in: Vasil 'ev. Kritika i samokritika ν sovetskom obäcestve, S. 69-72. Vgl. I. Cangli: Sozialistiöeskoe sorevnovanie - vyrazenie delovoj revoljucionnoj samokritiki mass, in: ebenda, S. 97-127. Vgl. auch P. Trofimov: Rol' kritiki i samokritiki ν razvitii sovetskoj literatury i iskusstva, in: ebenda, S. 202-239. Das „Kratkij filosofskij slovar'" nennt auch Stalins Rede über die „Sechs Bedingungen" vom 23. Juni 1931 als Beispiel einer wirtschaftlich erfolgreichen „Selbstkritik". " Noch im Artikel der „Kleinen Sowjetenzyklopädie" von 1930 kam das Wort „Erziehung" überhaupt nicht vor. Vgl. MSE, 1930, Bd. 7, S. 603. Vgl. auch folgende Definitionen der Selbstkritik: „Methode des Kampfes mit Verfälschungen der Parteilinie, mit dem Bürokratismus, mit Elementen der Zersetzung und mit dem Amtsmißbrauch, auf dem Wege der strengen und offenen gesellschaftlichen Massenkritik ungerechtfertigter oder gar krimineller Handlungen sowohl von einzelnen Personen, so hoch sie auch gestellt sein mögen (,ohne Ansehen der Person') wie auch von Organisationen und Institutionen von Staat und Partei." (MSE, 1930, Stichwort „Samokritika", erster Satz, Band 7, S. 604). - „Grundlegende Methode der Aufdeckung und Überwindung von Fehlern und Unzulänglichkeiten in der Tätigkeit marxistischer Parteien und anderer Organisationen von Werktätigen. In der sowjetischen Gesellschaft erlangte die Kritik und Selbstkritik den Charakter einer neuen dialektischen Gesetzmäßigkeit und wurde zu einer der wichtigsten Bewegungskräfte der Entwicklung der sowjetischen Gesellschaft" (KFS, 1952, Stichwort „Kritika i samokritika", die beiden ersten Sätze, S. 211). Doch auch noch 1950 ging es manchmal um die öffentliche Bekämpfung von Mißständen, wie etwa bei der Absetzung des Moskauer Parteichefs Georgij Popov. Vgl. Jelena Subkowa: Kaderpolitik und Säuberungen in der KPdSU (1945-1953), in: Hermann Weber, Ulrich Mählert: Terror, Paderborn 1998, S. 215-216 und S. 252-254. 16 Stalin. Schlußwort im Plenum des CK VKP(b), in: Pravda, 1.4.1937.

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Der Sinn von Maßregelungen lag aber nicht nur in der erzieherischen Korrektur des Kaders, sondern auch darin, ihn für die Partei zu erhalten. Andrej Zdanov ermahnte auf dem achtzehnten Parteitag dazu, fehlgegangene Mitglieder nicht sofort auszuschließen, sondern ihnen erst eine mildere Strafe zu erteilen und somit eine Chance zur Besserung zu geben.17 Seit Mitte der dreißiger Jahre gewann „Selbstkritik" im Sinn von „Erziehung" an Bedeutung, da das Parteileben an der Basis sich insgesamt der typischen Schulsituation annäherte. Nach einer Pause im Krieg verordnete die Direktive des Zentralkomitees vom 26. Juli 1946 allen Mitgliedern, die „in den letzten Jahren neu eingetreten" waren, ein intensives Studium des „Kurzen Lehrgangs der KPdSU" und anderer Parteidokumente.18 Die „Waffe der Selbstkritik" richtete sich in diesen Jahren vor allem gegen die Trägheit der Parteigruppen, die diesen Beschluß nicht mit dem gebotenen Eifer durchführten.19 Die zu bekämpfenden „Mißstände" wurden gerne mit der Lern- und Arbeitsfaulheit rückständiger Individuen identifiziert.20 Die „Selbstkritik" verdichtete sich mitunter zur Gewissenserforschung. Die Sowjetenzyklopädie verlangte vom sowjetischen Menschen, jeden Tag die „Bilanz seiner Arbeit zu ziehen", sich „streng zu kontrollieren", seine Arbeit zu „analysieren", „seine Fehler ... mutig zu kritisieren", „sich zu überlegen, wie er bessere Arbeitsresultate erreichen kann", und ansonsten „ununterbrochen an seiner Vervollkommnung zu arbeiten".21 Eine umfangreiche Literatur erzählte den Zeitgenossen vom Vorbild einer Reihe von Stachanowisten, die sich selbst in diesem Sinne erfolgreich zu besonders produktiv arbeitenden Menschen erzogen hatten.22 Nichtsdestoweniger assoziierte man die „Selbstkritik" auch weiterhin mit der kollektiv organisierten Sowjetöffentlichkeit, den Betriebsversammlungen, den Wahlkampagnen, akademischen Diskussionen und der Presseberichterstattung. Bis 1953 kam der „Selbstkritik"-Diskurs weitgehend ohne den Begriff des Kollektivs aus.23 Nach Stalins Tod änderte sich das rasch. Autoren des erwähn17

Shdanov: Abänderungen am Statut der KPdSU (B), S. 35-36. Postanovlenie CK VKP(b). Ο roste partii i ο merach po usileniju partijno-organizacionnoj i partijno-politiCeskoj raboty s vnov' vstupivsimi ν VKP(b). 16.07.1946, in: KPSS ν rezoljucijach, Izd-e 8-e, Tom 6, S. 154-161. Der Anmerkung des Herausgebers zufolge waren etwa zwei Drittel der Parteimitglieder erst in den letzten Jahren eingetreten. Vgl. S. 154. " Vgl. die Berichterstattung in der Tageszeitung „Sovetskoe slovo" von 1947 bis 1950. Organ der Sowjetischen Militärverwaltung in Deutschland. 20 Die Direktive vom 26.07.1946 empfahl den Parteiarbeitern, mit lernbedürftigen Mitgliedern intensive Einzelgespräche zu führen. 21 BSE, 1950, Stichwort „Bol'Sevistskaja kritika i samokritika", S. 517. Die Große Sowjetenzyklopädie schrieb diese Ansicht Stalin zu, ohne sie mit einem Zitat zu belegen. 22 Vgl. z.B.: Uns hat Stalin erzogen. Sowjetische Stalinpreisträger erzählen aus ihrem Leben, Berlin 1951. (Sowjetischer Originaltitel: V. Ponomarev. Nas vyrastil Stalin, Moskau 1951.) 23 Im „Kurzen philosophischen Wörterbuch" fehlen die Stichworte „Meinung" (vzgljad, mnenie), ebenso „Kollektiv" (kollektiv); auch in den Artikeln zur „Kommunistischen Erzie18

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ten Sammelbandes „Kritik und Selbstkritik in der sowjetischen Gesellschaft" nannten die „Selbstkritik" ein „Erziehungsmittel des sozialistischen Kollektivismus", das dazu dienen sollte, eine „Atmosphäre gesellschaftlicher Unduldsamkeit gegenüber (vokrug) konkreten Trägern ... kapitalistischer Überbleibsel" zu schaffen.24 Die „Selbstkritik" wurde nun auch als „Ausdrucksform der sowjetischen öffentlichen Meinung, der neuen kommunistischen Moral der sowjetischen Menschen" definiert.25 Wie aber sollte der sowjetische Mensch der Nachkriegszeit auf Kritik reagieren? Auch zwanzig Jahre, nachdem Stalin Jaroslavskij zur öffentlichen „Einsicht in seine Fehler" gezwungen hatte, fand sich in den wichtigsten normativen Texten zur „Selbstkritik" immer noch keine unmittelbare Aufforderung zur „Reue" im Sinne eines öffentlichen, rituellen Bekenntnisses. Sowjetische Menschen sollten sich gegenüber ihrer Arbeit „selbstkritisch verhalten", aus ihren Fehlern lernen, die „Ursachen der Fehler analysieren" und sich „korrigieren" (ispravit'sja) - aber niemand wurde dazu aufgefordert, „Selbstkritik zu üben" ( z a t i i m a t ' s j a samokritikoj), mit „Selbstkritik aufzutreten" ( v y s t u p i t ' s samokritikoj) oder gar zu „bereuen" ( k a j a t ' s j a ) . Aus anderen Texten, die weniger Autorität beanspruchen konnten, aber weitaus mehr Leser erreichten, ging allerdings recht deutlich hervor, daß die Partei von fehlgegangenen Genossen die Äußerung öffentlicher Reue erwartete. Im folgenden Kapitel wird davon ausgiebig die Rede sein.

1. Schuldbekenntnisse politischer Entscheidungsträger Nach der Niederlage der Rechtsabweichler im November 1929 war es im Milieu des Zentralkomitees zu einer eigentümlichen Verschränkung der ultimativen Forderung nach einem „offiziellen", formalen Regeln entsprechenden Fehlereingeständnis mit den konstruktiven, erzieherischen Elementen des sa/no&rifc'faz-Diskurses gekommen.26 Um 1930 mochten die Zeitgenossen für einen Moment den Eindruck gewonnen haben, daß die Parteiführung die „Kapitulation" besiegter Fraktionäre und die „proletarische, bolschewistische" Bereitschaft, die „eigenen Fehler zu korrigieren", inzwischen als einen einzihung der Werktätigen" (kommunisticeskoe vospitanie trudjascichsja) und zur „Selbstkritik" taucht das Wort „kollektiv" nicht auf. Die Erfüllung der Erziehungsaufgabe wird statt dessen vom „sowjetischen Staat" erwartet. Vgl. KFS, 1952, S. 199-201. Vgl. auch den Artikel „Bol'sevistskaja kritika i samokritika" in der großen Sowjetenzyklopädie (2-e izdanie, 1950), in der diese Begriffe ebenfalls kaum vorkommen. 24 S. Titarenko: Dvizuäcie sily razvitija sovetskogo socialistiCeskogo obscestva, in: Vasil 'ev\ Kritika i samokritika ν sovetskom obscestve, S. 5-34, hier S. 27 und S. 30. 25 I. Sarikov: Ob'ektivnye osnovy i charakternye certy kritiki i samokritiki kak dvizuscej sily sovetskogo obscestva, in: Vasil 'ev: Kritika i samokritika ν sovetskom obScestve, S. 3 5 65, hier S. 51. 26 Vgl. das erste Kapitel.

1. Schuldbekenntnisse politischer Entscheidungsträger

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gen Vorgang auffaßte. Erst im Nachhinein liegt es viel näher, Stalins Rückgriff auf die versöhnlicheren Töne der samokritika-Sprache als Teil eines subtilen Manövers zu interpretieren. Denn im gleichen Maß, in dem die Parteipropaganda die Stigmatisierung der ehemaligen Rechts- und Linksabweichler fortsetzte, verschwanden auch die samokritika-Motive aus der endlosen Kette von Loyalitätsbeteuerungen, Vorwürfen und erneuten Schuldbekenntnissen. Es kann in diesem Kapitel nicht erörtert werden, wann und warum Stalin sich dazu entschied, die alten Oppositionellen auszurotten, und inwieweit er selbst an Verschwörungen glaubte. Jedenfalls diente in den dreißiger Jahren der Rückgriff auf die Terminologie der Selbstkritik mehr und mehr dazu, die Zugehörigkeit zur loyalen Sowjetbevölkerung zu unterstreichen, von der die Oppositionellen ausgeschlossen waren. Deutlicher als in irgendeinem anderen sowjetischen Milieu lassen sich innerhalb der Parteielite zwei Personengruppen unterschiedlichen Erscheinungsformen von Schuldbekenntnissen zuordnen. Zu der einen Gruppe gehörten Genossen wie Bauman und Jaroslavskij, zu der anderen Gruppe die Masse der ehemaligen Arbeiteroppositionellen, Trotzkisten, Zinov'evisten und der Rechtsabweichler. Die Angehörigen dieser zweiten Gruppe konnten ihre zunehmende Stigmatisierung nicht aufhalten, auch nicht durch die demütigsten Reuebekenntnisse und Selbstkasteiungen. Die Trennlinie zu den verfemten Oppositionellen blieb bis zu den Großen Säuberungen sehr gut sichtbar. Wenn sie fur einen Moment zu verwischen drohte, dann insistierten die „nicht-oppositionellen" Genossen vehement auf dem Unterschied. Als die Parteizeitschrift „Bol'sevik" 1932 Jaroslavskij in einem Atemzug mit dem Oppositionellen Sljapnikov nannte und ein Moskauer Parteikomitee ihm plötzlich verbot, vor Moskauer Komsomolzen einen Vortrag zu halten, beschwerte er sich bei Kaganovic: „Was werden [die Komsomolzen] denken? Offensichtlich, daß Jaroslavskij ein Oppositioneller ist, ein Verbrechen begangen hat, die Parteilinie nicht teilt, daß die Partei ihm nicht vertraut."27

Jaroslavskij berief sich auf die bisher gültige Klassifizierung, der zufolge die Kluft zwischen politisch „zufallig" fehlgegangenen und oppositionellen Parteimitgliedern tiefer war als die Kluft zwischen Oppositionellen und Verbrechern. Für stalinistische Parteifunktionäre wie Jaroslavskij war die linientreue Vergangenheit zum wichtigsten Identitätsmerkmal geworden. Im folgenden Teilkapitel werden also das Reueverhalten der Oppositionellen und die Fehlereinsicht der Funktionäre getrennt voneinander beschrieben, wobei Grenzfalle und Überschneidungen genauer erörtert werden sollen. Anna Larina, die Witwe Bucharins, bezeichnet in ihren Erinnerungen den sechzehnten Parteitag als einzigartig. Nach ihrer Zählung zog man das erste

27

Chlevnjuk: Sovetskoe rukovodstvo, S. 189-190. Der Brief datiert vom 16. August 1932.

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Mal in der Parteigeschichte gegen eine „Truppe zu Felde, die schon kapituliert hatte". „Und es begann der ,Kindermord'. Reue und Selbstbezichtigung, Selbstbezichtigung und Reue wurden verlangt. Tomskij bemerkte, daß er nach alledem nur noch das Büßergewand anziehen und in die Wüste Gobi zum Fasten pilgern könne und daß ,Reue' ein religiöser und kein bolschewistischer Terminus sei."28

Nach Larinas Auffassung war die Partei nicht berechtigt, nach der Kapitulation noch weitere Kapitulationen zu verlangen. Ein derartiges Verlangen mußte in die pseudo-religiöse Irrationalität und schließlich zum „Kindermord" führen; eine Formulierung, die an Pierre Vergniauds geflügelten Kommentar zu Dantons Tod und zugleich an den grausamen Mörder Herodes erinnert. „Wir haben längst kapituliert, was wollt ihr denn noch?" In den acht Jahren bis zu ihrer Ermordung wurden die Oppositionellen nicht müde, diese Frage ihren künftigen Mördern immer wieder zu stellen. Die Parteiführung behauptete stets, daß sie trotz allem noch nicht genug getan hätten, um die Zweifel an ihrer „Aufrichtigkeit" zu überwinden. Betrachter einer späteren Epoche erkennen leicht, daß Bucharin, Rykov, Zinov'ev und ihre Gefährten keine Chance hatten, Stalin von ihrer Aufrichtigkeit zu überzeugen. Vermutlich kam auch Larina erst rückblickend zum Schluß, daß die verhängnisvolle Weichenstellung zum „Kindermord" schon im Sommer 1930 stattgefunden haben mußte. Wie man sehen wird, spricht Einiges für diese Ansicht. In den folgenden Jahren entfernten sich die Reueforderungen immer weiter von ihrem ursprünglichen Zusammenhang. Es ging nicht mehr darum, eine aktuelle Konfliktsituation zu bereinigen, sondern um die Stigmatisierung dieser Personengruppe. Die Vorwürfe galten bald nicht mehr bestimmten Handlungen, sondern der gesamten Biographie. Das falsche Abstimmungsvotum verwandelte sich nachträglich in eine „ontologische" Schuld, in eine nicht wiedergutzumachende Erbsünde, welche die Persönlichkeit insgesamt diskreditierte. Die Oppositionellen selbst begründeten die Notwendigkeit der Schuldbekenntnisse weiterhin mit der Staatsräson. Plausibel scheint Isaac Deutschers Vermutung, daß sich insbesondere die Rechten nach wie vor für das Schicksal der Revolution mitverantwortlich fühlten.29 Wenn sie mit Schuldbekenntnissen auftraten, dann betonten sie ihre rationalen Motive, zogen religiöse Vorbilder ins Lächerliche und appellierten an den Anstand ihrer ehemaligen Kollegen. Sie versuchten, gegen den Bedeutungswandel der Prozedur anzukämpfen. Die Unterscheidung zwischen der unangenehmen, aber politisch notwendigen Handlung einerseits und dem „unwürdigen" Bereuen andererseits machte 28

Anna Bucharina (Larina): Nun bin ich schon weit über zwanzig: Erinnerungen, Göttingen 1989, S. 104. 29 Vgl. Isaac Deutscher. Stalin. Eine politische Biographie, Frankfurt am Main 1989, S. 450-453.

1. Schuldbekenntnisse politischer Entscheidungsträger

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der alte Bolschewik Tomskij auf dem Parteitag jedenfalls zu seiner Argumentationsachse. Er begann seinen Redebeitrag mit der Erklärung, daß er nicht vorhabe, sich zu rechtfertigen oder der Verantwortung auszuweichen, verband dies aber mit dem Hinweis, daß es „für einen „Bolschewiken unwürdig sei, zu bereuen", denn „selbst der Begriff ,Reue' (pokajanie)" sei schließlich „nicht unser Begriff, sondern ein kirchlicher Begriff'. 30 Nach dem vorangegangenen Kampf habe die Partei, so Tomskij weiter, dennoch das Recht, von der unterlegenen Seite ein klares Eingeständnis der Niederlage zu erhalten. Sie müsse mit Sicherheit wissen, ob der Kampf nun beendet sei oder nicht.31 Tomskij verwandte einige Redezeit darauf, die vorangegangene Auseinandersetzung vom Standpunkt des Fraktionsverbots her zu charakterisieren. Zwar habe die Opposition versucht, das Verbot zu respektieren und den „Rahmen der Loyalität" nicht zu verlassen. Doch der politische Kampf habe seine eigene Logik. „Das Wesen ... jeglichen innerparteilichen Kampfes besteht darin, die Mehrheit der Partei auf seine Seite zu ziehen. Anders kann es nicht sein".32 Im Unterschied zu den Trotzkisten hätten die Rechten zwar keine Fraktion „im gewöhnlichen, formalen Sinn" gebildet, doch komme es darauf letztlich nicht an. Denn unabhängig vom „guten Willen" der Beteiligten mußte jeder Kampf früher oder später zur Fraktionsbildung führen. Nur die rechtzeitige Kapitulation der Abweichler habe diese Entwicklung aufhalten können.33 In diesem Sinne zeigte er Verständnis für die Forderung, daß die Oppositionellen sich nach ihrer Kapitulation weiterhin konsequent loyal verhalten müßten. Denn das „geistige Gepäck" der rechten Abweichung könnte immer noch „rechte Stimmungen" nähren oder gar von parteifeindlichen Kräften „ausgenutzt" werden. Die Notwendigkeit öffentlicher Fehlereingeständnisse entwickelte Tomskij also sehr stringent aus den Zusammenhängen des politischen Willensbildungsprozesses. In deutlicher Abgrenzung dazu formulierte er große Vorbehalte gegenüber den Ritualisierungstendenzen: „Bei einigen Genossen gibt es jetzt solche Stimmungen: Bereue, bereue, bereue ohne Ende und tue nichts außer Bereuen... (Gelächter). Aber erlaubt uns auch zu arbeiten... (Gelächter)".34

Die wahre Fehlereinsicht ließe sich nicht durch solche Auftritte ersetzen: „Es ist nicht so einfach, daß man am 18. als Oppositioneller zu Bett geht und am 19. als Rechtgläubiger (ortodoksom) wieder aufwacht und sich alles aufgeklärt hat:, Väterchen, ich habe geirrt, wie viele Fehler habe ich gemacht!' ... ,Komm gleich her und sag es mir wie ein Bolschewik (po-bolsevistski)'. So was gibt es nicht in Wirklichkeit.. ."3S

30 31 32 33 34 35

VKP(b): VKP(b): VKP(b): VKP(b): VKP(b): VKP(b):

XVI XVI XVI XVI XVI XVI

s'ezd, s'ezd, s'ezd, s'ezd. s'ezd, s'ezd,

Moskau 1930. Stenograficeskij otcet, Moskau 1935, S. 259. S. 260. S. 261. S. 264. S. 270. S. 266.

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IV. Reue und Selbstkritik in der sowjetischen Öffentlichkeit 1931-1953

Die Partei leite daraus das Recht ab, die Aufrichtigkeit solcher Reuebekenntnisse in Zweifel zu ziehen. Lenins Ratschlag, niemandem aufs Wort zu glauben, werde von manchen Genossen dabei zu „grob" interpretiert: „Warum soll man dann überhaupt noch reden? (Gelächter)" Er nutzte die Versprechung des linientreuen Andrej Andreev, daß es angeblich „nicht auf die Reue" ankäme, sondern darauf, „die Brücken hinter sich abzubrennen", zu einem rhetorischen Effekt: „Tomskij: Ich frage Genossen Andreev: Nun, gibt es bei mir nach dieser meiner Rede noch irgendwelche Brücken zum Rückzug oder nicht? Andreev: Nein, nein. Tomskij: Andreev hat die Amnestie ausgesprochen, er sagt nein (Gelächter)."36

Soweit man die Stimmung aus den Notizen im Parteitagstenogramm erschließen kann, gelang es Tomskij tatsächlich, die Mehrheit auf seine Seite zu ziehen. Mit seiner Unterscheidung der politisch notwendigen Kapitulation des verantwortungsbewußten „alten Bolschewiken" einerseits und der „unwürdigen Reue" andererseits konnte er die Delegierten offensichtlich überzeugen. Vermutlich ließ sich auch Andreev von dieser Stimmung mitreißen, wenn er Tomskij die erlösende Antwort gab. Und so wurde auch die von Anna Larina erwähnte Bemerkung mit freundlicher Heiterkeit quittiert: „Was braucht es jetzt noch? Danach kann ich nur noch die Mönchskutte überziehen und in die Wüste Gobi ziehen, um dort zu büßen und mich dabei von , Heuschrecken und wildem Honig' ernähren (Gelächter)."

Doch Tomksij erlangte die „Amnestie" nur für einen halben Tag. Am nächsten Morgen begann mit dem Auftritt Sergej Kirovs der Reigen der Redner, die die Aufrichtigkeit Tomskij s und Rykovs wieder in Zweifel zogen. Kirovs Meinung nach war Tomskij zu „fröhlich" aufgetreten und hatte nicht deutlich genug auf den Unterschied zwischen der Parteilinie und der Linie der Rechtsabweichler hingewiesen. Tomskij habe zwar versucht, als „reifer Staatsmann" aufzutreten, sei aber „auf das Wichtigste" überhaupt nicht eingegangen, nämlich darauf, daß die Rechten statt der Parteilinie ein „Kulakenprogramm" propagiert hätten. Fünf Jahre früher hätte schon eine Erklärung wie die vom November 1929 ausgereicht, um die Situation zu bereinigen. In der veränderten Situation des Jahres 1930 hätte die Parteiführung sogar die Möglichkeit gehabt, Tomskijs und Rykovs Schuldbekenntnis in der Sprache des samokritika-Gedankens als „mutige, ehrliche, proletarische, bolschewistische Einsicht in die eigenen Fehler" einzustufen. Aber Kirov nannte Tomskijs Schuldbekenntnis statt dessen ein „weitschweifiges Gerede", eine „lange Erzählung", die angeblich vom „Geist des politischen Spießbürgertums durchdrungen" war.

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VKP(b): XVI s'ezd, S. 267.

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Der Kampf um die Isolierung der Rechtsabweichler, so scharf und so beleidigend er bis dahin auch geführt wurde, hatte sich nach den etablierten Regeln der Streitkultur immer noch mit übergeordneten politischen Zielen rechtfertigen lassen. Doch nachdem Tomskij und Rykov tatsächlich die „Brücken hinter sich abgebrannt" hatten, wäre es an der Zeit gewesen, das Trommelfeuer einzustellen. Die Stimmfiihrer der stalinistischen Mehrheit entschieden sich statt dessen, die Polemik fortzusetzen. Mit Anna Larina kann man den sechzehnten Parteitag daher als den Moment betrachten, an dem die gemeinschaftliche Hetzjagd auf stigmatisierte Gruppenmitglieder zu einem eigenständigen Bestandteil der stalinistischen Streitkultur wurde. Die Schwierigkeiten der heutigen Historiker, dieses „Ritual" in den Normenkanon der kommunistischen Partei einzuordnen und eine zutreffende Bezeichnung zu finden, geht auch auf die Tatsache zurück, daß die Bolschewiki selbst keine politisch angemessenen Begriffe prägten, um von dieser Angewohnheit zu sprechen. Es existierten nur halboffizielle Benennungen wie „Reue" (pokajanie), „Treibjagd", „Kesseltreiben" (travlja) und das schon in anderem Zusammenhang erwähnte „Durcharbeiten" (prorabotat % die alle bezeichnenderweise eine Verurteilung dieser Praxis zum Ausdruck bringen. Der manchmal ins Sadistische übergehende Charakter dieser Treibjagden blieb tabuisiert, was die Beteiligten zur Unaufrichtigkeit zwang. Natürlich, so beteuerte Andreev, erwartete er von Tomskij „keine Reue". Angeblich ging es der Partei „nicht darum". Auf dem CK-Plenum im Dezember 1930 erklärte der Delegierte Goloscekin immerhin, daß nicht weniger als Besessenheit verlangt wurde: „Rykov fragte, ob man ,die alten Fragen wieder ansprechen soll'. Warum eigentlich nicht?.. Genösse Rykov hätte selbst diese Frage ansprechen müssen, ,gegen sich selbst', ... und hätte gegen den ganzen Komplex der rechtsoppositionellen Ansichten polemisieren müssen. Und zwar früher, [schon] in der Zeit zwischen dem sechzehnten Parteitag und diesem Plenum. Und nicht nur hier, sondern auch auf großen Partei- und Arbeiterversammlungen, und nicht in dieser Form, die er hier präsentierte ,ich habe gefehlt, habe bereut, und wer an Vergangenem rührt, soll ein Auge verlieren' - sondern in der Form der allerbesessensten (samogo besennogo) Attacke, der allerbesessensten Prügel gegen seine frühere Position, gegen die rechte Abweichung und gegen alle rechten Abweichler."37

Solche Forderungen steigerten sich wie von selbst ins Endlose. In den folgenden Jahren bis zu ihrer Verhaftung riß die Kette der Reueerklärungen, die man von Rechts- und Linksoppositionellen verlangte, nie wieder ab. Es war vor allem die peinliche Erfahrung des unvermeidlich wiederkehrenden Schauspiels, die Zeitgenossen und Historiker dazu verleitete, bei der Beschreibung des „Bußrituals" auf christliche Metaphern zurückzugreifen. Es sollte nicht übersehen werden, daß die religiösen Assoziationen der Bolschewki dabei immer auch ihre Verachtung gegenüber der christlichen Religion widerspiegelten. Sie benutzten religiöse Metaphern als rhetorisches Mittel, um sich von 37

Iz stenograficeskogo otceta zasedanija ob'edinennogo plenuma CK i CKK VKP(b). 17-21 dekabija 1930 g. Zitiert nach: Chlevnjuk: Stalinskoe politbjuro ν 30-e gody, S. 108.

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der Situation emotional zu distanzieren. Entweder wollten sie sich, wie Tomskij, gegen die Nötigung zur „besessenen" Selbsterniedrigung wehren, oder sie wollten, als Vertreter der linientreuen Mehrheit, das Reueverhalten als Heuchelei denunzieren: Die verächtliche Haltung gegenüber der Religion übertrug sich dann auf die Oppositionellen. Die Liste der zu bereuenden Missetaten wurde immer länger. Einerseits mußten die Ketten von Irrtümern und Fehlern immer weiter in die Vergangenheit zurückverfolgt werden, andererseits entdeckten die linientreuen Stalinisten auch im jüngsten Verhalten der Oppositionellen immer wieder Verstöße gegen die Parteidisziplin. Auch der innere Zusammenhang zwischen den frühesten, den größten und den jüngsten Fehlern wurde immer mehr betont, bis schließlich die ganze politische Biographie nur noch als eine einzige Aneinanderreihung von Irrtümern erschien. Doch trotz der Ritualisierungstendenz behielten die Reueerklärungen viel von ihrer politischen Bedeutung. Das Katastrophenjahr 1932/33 übertraf die schlimmsten Warnungen der Rechtsabweichler: Die Zwangskollektivierung führte zu einer Hungersnot mit mehreren Millionen Toten. Die Industrialisierungserfolge blieben dagegen weit hinter den Erwartungen zurück. Daher mußten die Reueerzählungen manchmal aktualisiert werden, um den veränderten Legitimationsbedürfnissen Stalins besser Rechnung zu tragen. Der sowjetischen Bevölkerung, aber auch dem Ausland, wurde vermittelt, daß niemand beabsichtigte, Schwierigkeiten politisch auszunutzen. In dieser Situation mußten die ehemaligen Oppositionsführer befürchten, schon allein durch ihre Bekanntheit zum Kristallisationspunkt neuer regimekritischer Bewegungen zu werden. Bucharin schränkte seine persönlichen Kontakte weitgehend ein, um seinen Verfolgern keinen Anlaß zu geben, ihm Fraktionstätigkeit vorzuwerfen. Er hatte Grund zur Vorsicht, denn viele seiner engen Bekannten aus dem Milieu der Parteintelligenz waren bekannt für ihre stalinkritische Grundhaltung. Aus privaten Gesprächen ehemaliger BucharinAnhänger konstruierten die Ermittlungsbehörden 1932 den Tatbestand einer feindlichen Verschwörung und verurteilten (zwischen Oktober 1932 und April 1933) 38 Personen zu mehtjährigen Haftstrafen. Wegen angeblicher Mitwisserschaft wurden Zinov'ev und Kamenev erneut aus der Partei ausgeschlossen und nach Kustanaj bzw. Minusinsk verbannt. Bucharin, Rykov und Tomskij blieben zwar unbehelligt, gerieten durch solche Vorfalle trotzdem unter Druck. Im November 1932 wurden mit Ejsmont und Tolmacev zwei hochrangige Funktionäre verhaftet, weil sie im privaten Kreis angeblich die Möglichkeit der Ablösung Stalins debattiert hatten. Auch der alte Parteikämpfer Aleksandr Smirnov, CK-Mitglied seit 1912, hatte mit den beiden engen Kontakt gehabt und stand im Verdacht, sich an diesen Überlegungen beteiligt zu haben. Als Landwirtschaftsexperte hatte Smirnov stets den Rechtsabweichlern nahegestanden und war aus diesem Grund schon 1930 als RSFSR-Volkskommissar

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für Landwirtschaft abgelöst worden. Das gemeinsame CK-CKK-Plenum vom Januar 1933 befaßte sich intensiv mit dem Vorfall.38 Smirnov selbst mußte zu diesen Vorwürfen Stellung nehmen und bestritt ausdrücklich, die Ablösung Stalins erwogen zu haben. Er stimmte allerdings der aktuellen Sichtweise zu, daß derartige Gespräche auch dann als „politische Handlungen" angesehen werden müßten, wenn sie im Privatbereich geführt wurden. Da „hinter dem Rücken der Partei" niemand politisch aktiv werden durfte, mußten solche Gespräche entschieden verurteilt werden.39 Gegen Bucharin, Rykov und Tomskij wurde zwar nicht der Verdacht erhoben, an Ejsmonts und Tolmacevs „Verschwörung" beteiligt gewesen zu sein. Dennoch erwartete man von ihnen, ein weiteres Mal alles zu verurteilen, was Parteimitglieder wie Tolmacev dazu veranlaßt haben mochte, an Stalins Unfehlbarkeit zu zweifeln. Bucharin legte dementsprechend besonderes Gewicht auf den Vorwurf gegen sich selbst, daß sein oppositionelles Auftreten in der Vergangenheit objektiv dazu geeignet war, in der Partei Zwietracht zu stiften und den Klassenfeind zum Widerstand zu ermutigen.40 Rykov und Tomskij beschränkten sich hingegen darauf, ihre Nichtbeteiligung an den Vorfallen zu unterstreichen. Weil aus ihrer Rede nicht genügend Engagement für die aktuelle politische Linie herauszuhören war, gerieten sie daraufhin heftig in die Kritik. Tomskij, ein alter Vertrauter von Smirnov, versuchte sogar, die Bedeutung der Affäre insgesamt herunterzuspielen, was vom Plenum als Provokation aufgefaßt wurde.41 Daher wurden Tomskij und Rykov in der Resolution dazu aufgefordert, „in Angelegenheiten des Kampfes mit parteifeindlichen Elementen ihr Verhalten von Grund auf zu ändern" 42 Im Mai 1933 waren Zinov'ev und Kamenev wieder an der Reihe mit Schuldbekenntnissen. Aus der Verbannung in Tobolsk bzw. Kustanaj schrieben sie an Stalin persönlich Reuebriefe, die Ende Mai in der „Pravda" veröffentlicht wurden. Nach Ablauf der sechsmonatigen Bewährungsfrist wurden sie im November wieder in die Partei aufgenommen.43 Auch die Reuebereitschaft der Rechtsabweichler wurde 1933 erneut getestet. Die in diesem Jahr durchgeführte „Generalsäuberung" der Partei bot 38

Das gemeinsame Plenum des CK und CKK fand vom 7. bis zum 12. Januar 1933 statt. Das Stenogramm befindet sich im Parteiarchiv (RGASPI f. 17. op. 2, d. 511) und wurde bisher nicht veröffentlicht. Längere Textauszüge finden sich allerdings in: Getty: The Road to Terror, S. 74-102; zu den Hintergründen der Affäre vgl. auch Ν. V. Tepcov: Tajnyj agent Iosifa Stahna. Dokumental'naja istorija ο donosach i donoscike, in: Neizvestnaja Rossija. XX vek, Moskau 1992, S. 56-128. 39 Getty: The Road to Terror, S. 76-77. 40 Getty: The Road to Terror, S. 96. 41 Getty: The Road to Terror, S. 95. 42 Ob antipartijnoj gruppirovke Ejsmonta, Tolmaöeva, Smirnova A. P. i dr. Vgl. KPSS ν rezoljucijach, Izd. 8-e, T. 5, S. 90. 43 Trockij spottete im Exil über die erneute Kapitulation seiner Kollegen: „Stalin sammelt tote Seelen, da ihm die lebenden fehlen". Lev Trockij: Zinov'ev i Kamenev, in: Bjulleten' oppozicii, Nr. 35 (Juli 1933), S. 23-24.

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einen bequemen Anlaß. Mitglieder des Zentralkomitees waren von dieser Prozedur eigentlich ausgenommen, doch für Bucharin, Rykov und Tomskij machte man eine Ausnahme von der Ausnahme.44 Im Falle Rykovs und Tomskijs berief man sich auf die Resolution des Plenums: Man wollte überprüfen, ob sie inzwischen „ihr Verhalten von Grund auf geändert" hatten. Bei Bucharin genügte der Hinweis auf seine Vergangenheit. Alle drei wurden im Sommer und Herbst im Parteikollektiv ihrer jeweiligen Arbeitsstelle „gesäubert". Bucharin leitete 1933 ein wissenschaftliches Institut im Volkskommissariat für Schwerindustrie, das sich mit der praktischen Anwendung technischer Neuerungen befaßte. Rykov war inzwischen Volkskommissar für das Fernmeldewesen, und Tomskij arbeitete als Leiter des Staatsverlags OGIZ. Da niemand glauben konnte, daß die dort tätige Säuberungskommission unabhängig über den Parteistatus dieser Persönlichkeiten entscheiden könnte, war die „Säuberung" eine unverhohlene Farce. Man wollte die Rechten ein weiteres Mal Spießruten laufen lassen, delikaterweise unmittelbar vor den Augen ihrer Untergebenen. In persönlichen Briefen an Ordzonikidze brachte Bucharin seine Enttäuschung darüber zum Ausdruck, daß man ihn trotz seines loyalen Verhaltens ein weiteres Mal demütigen wollte. War es sinnvoll, sein Verhältnis zu den Untergebenen mutwillig zu zerstören? „Die Angestellten meines Apparates werden ihre Wachsamkeit mir gegenüber beweisen müssen, sie werden mich bespritzen und das als ihre Parteipflicht betrachten. Danach wird meine Arbeit so kompliziert werden, daß ich etwas anderes machen muß."45

In einem weiteren Brief beklagte er sich: „Im Mausoleum habe ich mit Koba lange gesprochen, doch zu diesem Thema sagte er kein Wort, ... aber es ist mir unangenehm, die ganze Zeit von mir zu reden und zu betteln, so versteht doch, daß der Mensch irgendeine persönliche Würde haben muß, auch wenn man auf ihn gespuckt hat. Alle quälen mich mit dem, was vor fünf oder sechs Jahren war. Warum muß man jetzt mit all dem nochmal von vorn anfangen?"46

Am Tag seiner Säuberung erklärte Bucharin allerdings sein völliges Einverständnis mit dieser Maßnahme, die aufgrund „einer ganzen Reihe schwerster Fehler", die er in der letzten Zeit begangen habe, auch gerechtfertigt sei. Er referierte der Parteiversammlung sein ganzes Leben und ging dabei ausführ44

Die Dokumente der „Säuberung" von Bucharin, Rykov und Tomskij wurden schon in der Schlußphase der Perestrojka veröffentlicht: Pis'ma Ν. I. Bucharina, in: Voprosy Istorii KPSS, 1988, Nr. 11, S. 42-50; Byla Ii otkrovennoj ispoved'? Materialy partijnoj cistki Ν. I. Bucharina ν 1933 g., in: Voprosy Istorii KPSS, 1991, Nr. 1, S. 82-96 und Nr. 3, S. 40-63; „Ja by chotel, ctoby... na opyte moich osibok tovarisii nauöilis'". Materialy partijnoj Cistki Α. I. Rykova ν 1933 g., in: Voprosy istorii KPSS, 1991, Nr. 6, S. 80-91 und Nr. 7, S. 88-98; „Pust' kazdij otvecaet za sebja". Materialy partijnoj cistki M. P. Tomskogo ν 1933 g., in: Voprosy istorii KPSS 1992, Nr. 5/6, S. 107-115 und Nr. 7/8, S. 101-119 sowie in: Kentavr 1992, Nr. 9/10, S. 101-117. 45 Brief an Ordzonikidze. Pis'ma Ν. I. Bucharina. Voprosy istorii KPSS, 1988, Nr. 11, S. 47-48. 46 Pis'ma Ν. I. Bucharina. Voprosy istorii KPSS, 1988, Nr. 11, S. 48.

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lieh auf seine „Fehler" ein. Die Darstellung seiner weltanschaulichen Irrtümer geriet ihm zu einen Vortrag über marxistische Philosophie und Geistesgeschichte, wovon die Bildung manches Anwesenden nicht wenig profitiert haben mag. Seine Rede machte einen gut vorbereiteten und sehr routinierten Eindruck. Bucharin wußte offenbar, was man von ihm erwartete, und zeigte sich bereit, diese Erwartungen zu erfüllen. Dazu gehörte auch eine ausdrückliche Distanzierung von seinen intellektuellen Zöglingen, die einige Monate zuvor verhaftet und verurteilt worden waren. Die Sitzung verlief weitgehend reibungslos, denn die Mehrheit der Anwesenden empfand gegenüber dem ehemaligen Politbüromitglied offenbar erheblichen Respekt. Da auch die Vertreter der Säuberungskommission sich auf höfliche Stichwortfragen beschränkten, fühlte sich niemand berechtigt, zur befürchteten „Treibjagd" zu blasen. Als Bucharin merkte, daß er die Prüfung bestanden hatte, wollte er der Kommission doch noch schnell seine Unzufriedenheit mitteilen. „Das einzige, was ich für mich selbst wünschen würde, für mich als Parteimitglied - daß die Zeit schneller vergehen möge, in der ich in gewissem Maße ein Ausgestoßener (izgoj) bin. Daß ich mit voller Kraft arbeiten kann..."

Der Vorsitzende Bulatov reagierte sofort auf diesen verkappten Protest und fragte frontal: „Wer ist schuld daran, wer versetzt Sie in die Lage eines Ausgestoßenen?"

Und schon mußte Bucharin wieder klein beigeben. Das Tabu verbot ihm zu sagen, wer schuld daran war, und so erwähnte er nur ein anonymes Beispiel für die ständigen Demütigungen: Man kündigte in der Zeitung seinen Auftritt im Radio an und sagte ihn dann plötzlich wieder ab. Das konnte er sich aber nur mit der „Trägheit des Apparates" erklären.47 Da Rykov und Tomskij vom Januar-Plenum eine Rüge erhalten hatten, verliefen ihre Säuberungen weniger glatt. Man verlangte von ihnen den Nachweis, daß sie sich seitdem gebessert hatten. Soweit das Stenogramm erkennen läßt, begegnete die anwesende Masse der einfachen Parteimitglieder ihnen mit Sympathie. Rykov erhielt schon Applaus, als er die Tribüne betrat. Im Abschlußbericht an die höheren Instanzen beklagte sich der Kommissionsvorsitzende Vasil'ev über die Unterstützung, die Rykov während seiner Säuberung vom Publikum erfuhr. Kritisch nachfragende Genossen seien unterbrochen worden, während Rykov für jede Pointe lautes Gelächter geerntet habe.48 Dennoch bemühte sich Rykov nachzuweisen, daß er sich seit Januar „gebessert" hatte. Er zählte auf, wie oft er seit dem Plenum mit Schuldbekenntnissen aufgetreten war:

47

„Byla Ii otkrovennoj ispoved'?", in: Voprosy istorii KPSS, 1991, Nr. 3, S. 58. Informacija predsedatelja komissii po cistke clenov VKP jaöejki Narkomsvjazi Β. A. Vasil'eva ν Moskovskuju oblastnuju komissiju po cistke ο chode cistki tov. Rykova. Vgl. „Ja by chotel, ctoby...", in: Voprosy istorii KPSS, 1991, Nr. 6, S. 92-95. 48

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„Zwei [meiner] Stellungnahmen wurden in der ,Pravda' veröffentlicht, einige in der ,Krestjanskaja gazeta', einige wurden in der allukrainischen Presse veröffentlicht. Drei Stellungnahmen wurden in unseren [hauseigenen, L. E.] Zeitschriften veröffentlicht. Ich habe eine politische Rede gehalten, die in der Ukraine und in Voronez im Radio übertragen wurde. Auch in den Lenin-Werken habe ich eine politische Rede gehalten und dann gab es noch eine ganze Reihe weiterer politischer Wortmeldungen."49

An anderer Stelle leistete sich Rykov ein wenig Renitenz. Er weigerte sich, zwischen seinen Fehlern aus dem Jahre 1911 und dem Jahr 1928 eine logische Verkettung herzustellen und anzuerkennen, daß die späteren Fehler aus den früheren hervorgegangen waren.50 Rykov passierte die „Säuberung" zwar ohne formale Rüge, aber die Prüfungsbeauftragten waren mit seiner Haltung dennoch nicht zufrieden. Angeblich hatte er seine „rechtsopportunistischen Fehler noch nicht im nötigen Maß überwunden"." Michail Tomskij gab noch mehr Anlaß zum Ärger. Wie schon vor dem Januar-Plenum weigerte er sich, dem „dummen Gerede" des Genossen Smirnov besondere Bedeutung beizumessen und es in der gebotenen Form zu verurteilen.52 Daß er seit Januar nur innerhalb seines Betriebs mit politischer Kritik an seinen eigenen Fehlern aufgetreten sei, begründete er damit, daß man es ihm nicht leicht genug gemacht habe, vor größerem Publikum zu sprechen. Die Kommission kam daher zum Schluß, daß sich an seiner „passiven" Haltung seit dem Januar-Plenum nichts Wesentliches geändert habe. Sie bestätigte ihn daher nur als einfaches Parteimitglied und verlangte seinen Ausschluß aus dem Zentralkomitee.53 Die Wiederaufnahme Zinov'evs und Kamenevs diente ebenso wie die umständliche „Säuberung" der drei Rechtsabweichler dazu, ihren nächsten großen Reue-Auftritt vorzubereiten. Auf dem siebzehnten Parteitag (Januar/Februar 1934) traten die prominentesten Oppositionellen, Bucharin, Kamenev, Lominadze, Preobrazenskij, Radek, Rykov, Tomskij und Zinov'ev, ein weiteres Mal mit umfassenden Fehlereingeständnissen auf.54 Die politische Symbolik der oppositionellen Fehlereingeständnisse hatte sich seit dem vorangegangenen Parteitag merklich verändert. Daß Stalin den längst entmachteten Oppositionellen überhaupt die Möglichkeit einräumte, vor dem ranghöchsten Parteigremium zu sprechen, 49

„Ja by chotel, ötoby...", in: Voprosy istorij KPSS, 1991, Nr. 7, S. 89. „Ja by chotel, itoby...", in: Voprosy istorii KPSS, 1991, Nr. 7, S. 91-92. 51 „Ja by chotel, ötoby...", in: Voprosy istorii KPSS, 1991, Nr. 7, S. 97. 52 „Pust' kazdyj otveiaet za sebja", in: Voprosy istorii KPSS, 1992, Nr. 7/8, S. 113. 53 „Pust' kazdyj otvecaet za sebja", in: Voprosy istorii KPSS, Kentavr, 1992, 9/10, S. 114-115. 54 Nebenbei sei bemerkt, daß keiner der Oppositionellen seine Fehlereingeständnisse als „Selbstkritik" bezeichnete. Kirov sprach zwar kurz über die „Selbstkritik", meinte damit aber nicht Bucharins Fehlereingeständnis, sondern Stalins „selbstkritischen" Hinweis auf das Fortbestehen einiger Probleme mit der Tierzucht. 50

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konnte inzwischen sogar als freundliche Geste an die einstigen Rivalen interpretiert werden.55 Ihre Wortmeldungen wurden nur vereinzelt von höhnischen Zwischenrufen unterbrochen und manchmal sogar mit Applaus quittiert. Doch da die einstigen Warnungen der „Rechtsabweichler" sich in beklemmendem Maße bewahrheitet hatten, behielt die Anerkennung der angeblich „überwältigenden Erfolge" aus ihrem Mund immer noch einiges politisches Gewicht. Mit Blick auf die manchmal vertretene Ansicht, daß politische Schuldbekenntnisse als authentischer Versuch einer individuellen „Umerziehung" betrachtet werden sollten, sei darauf hingewiesen, daß die Betroffenen auch 1934 ihrer individuellen Konversionsgeschichte und etwaigen persönlichen Motiven für die Fehler kaum Bedeutung beimaßen. Weder die Stalinisten noch die Oppositionellen selbst kamen auf die Idee, die Missetaten auf eine falsche Klassenherkunft, eine falsche Erziehung oder die Minderwertigkeit ihres Charakters zurückzuführen. Preobrazenskij sagte wörtlich: „Genossen, weshalb ich zur trotzkistischen Opposition stieß, ist Teil meiner persönlichen Biographie, diese Frage ist nicht interessant - aber die Frage, welche Rolle die trotzkistische Opposition in unserer Revolution spielte, hat große Bedeutung."56

Objektive Zusammenhänge waren wichtiger als subjektive Entscheidungen. Wie schon Tomskij 1930 erinnerte Lominadze daran, daß die Doppelzüngigkeit (dvurusnicestvo) kein persönlicher Charakterzug sei, sondern eine Gesetzmäßigkeit des oppositionellen Verhaltens. Die Oppositionellen neigten dazu, die Geschichte ihrer Verfehlungen auf einige genau identifizierbare ideologische Irrtümer zurückzuführen, deren Ursprünge unerklärt blieben. Tomskij sprach etwa davon, die Bedeutung des Klassenkampfes unterschätzt zu haben, und Kamenev erinnerte an seine Skepsis gegenüber dem „Sozialismus in einem Land". Zinov'ev reflektierte von allen am stärksten die verhängnisvolle Verkettung seiner Sünden: „Genossen, meine mangelnde Offenherzigkeit gegenüber der Partei ging aus meiner Fraktionstätigkeit hervor, die Fraktionstätigkeit aus einer falschen politischen Orientierung und diese letztere wiederum aus deijenigen Kette theoretischer und politischer Fehler, von der ich bereits ... gesprochen habe."57 55

Vgl. folgende Bewertungen: „Der ,Parteitag der Sieger' ... legte ein Ausmaß von Rücksicht gegenüber der besiegten Opposition an den Tag, das bislang noch für keinen Parteitag charakteristisch gewesen war. Man gestattete einer Anzahl prominenter Oppositioneller ... ohne die übliche Begleitung von höhnischen Zwischenrufen aufzutreten und zu sprechen. Jeder von ihnen gestand seine Fehler ein und bewahrte dabei doch eine gewisse Würde." Leonard Schapiro: Die Geschichte der Kommunistischen Partei der Sowjetunion, Frankfurt am Main 1962, S. 421. „Tatsächlich, viele ehemalige Oppositionelle zeigten auf dem Parteitag im wesentlichen Reue und durchsetzen ihre Reden mit geschmacklosen Komplimenten an Stalins Adresse. Doch schon allein die Tatsache, daß sie ans Rednerpult traten, ließ eine neue Politik der Versöhnung ... erkennen..." Oleg Chlevtijuk: Politbjuro. Mechanizmy politiöeskoj vlasti ν 30-e gody, Moskau 1996, S. 102. 56 VKP(b): XVII s'ezd VKP(b). Stenografiöeskij otöet, Moskau 1934, S. 236. 57 VKP(b): XVII s'ezd VKP(b), S. 492^97.

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Bucharin beschränkte sich hingegen auf eine katalogartige Aufzählung seiner Irrtümer und Verfehlungen, ehe er dazu überging, vor der faschistischen Gefahr zu warnen, die Europa bedrohte.58 Tiefere persönliche Gründe für die Rückkehr in den Schoß der Partei blieben weitgehend unerwähnt. Nur Karl Radek erwähnte ein „Aha-Erlebnis" aus seiner Verbannungszeit, das ihn auf den rechten Weg zurückgeführt hatte: Die Solidaritätsbekundungen offensichtlicher Parteifeinde für die trotzkistische Opposition hätten ihn davon überzeugt, daß diese tatsächlich zum Instrument des Klassenfeinds geworden war.59 Noch bezichtigte sich niemand der Spionage, der Sabotage, des Terrors oder sonstiger strafrechtlicher Verbrechen. Wenn die Oppositionellen von ihrer „Schuld" und von Verfehlungen sprachen, dann bezeichneten sie damit bestimmte Handlungen, die in Raum und Zeit tatsächlich stattgefunden hatten. Der Akt der Selbstverleugnung bestand noch nicht im „Geständnis" erfundener Verbrechen, sondern nur in der unterwürfigen Übernahme der stalinistischen Bewertungsmaßstäbe. Letztere waren zwar sehr streng und einseitig, aber innerhalb der bolschewistischen Parteitradition einigermaßen nachvollziehbar. Dennoch beeinträchtigte die Nötigung zu Schuldbekenntnissen das psychologische Klima in den obersten Parteigremien. Schon allein die Tatsache, daß auf dem Parteitag 1934 genau dieselben Personen auftraten, die schon 1930 oder früher kapituliert hatten und seitdem ununterbrochen mit Schuldbekenntnissen aufgetreten waren, konnte ihr Stigma nur erneuern. Die Kluft zwischen vollwertigen Parteimitgliedern und den verfemten Oppositionellen schloß sich nicht, sondern sie vertiefte sich. Daß „oppositionelle" Fehler viel schlimmer waren als „ernste politische Fehler", ließ sich beispielsweise daran ablesen, daß Karl Bauman und Emel'jan Jaroslavskij auf dem Parteitag auftreten durften, ohne irgendwelche Schuldbekenntnisse ablegen zu müssen. Der Parteitag erinnerte auch daran, daß öffentliche Äußerungen ehemaliger Trotzkisten oder „Rechtsabweichler" überhaupt fast nur noch in Form von Schuldbekenntnissen denkbar waren. Religiöse Metaphern wurden nun häufiger gebraucht, wobei die Grenzen zwischen Ernst und Ironie allmählich verschwammen. In der Diktion des liturgischen Schuldbekenntnisses (mea culpa, mea maxima culpa) sprach Zinov'ev davon, daß er „durch meine Schuld, und nur durch meine Schuld" in die unbequeme Lage gekommen sei, ausschließlich von seiner Schuld reden zu müssen. Lominadze sprach von seiner „allergrößten Sünde" (velicajsij grech) und von der persönlichen Erfahrung, daß die Überwindung der oppositionellen Haltung (preodolenie oppozicionnosti) einen „schweren, quälenden Prozeß" darstelle. Pjatakov spielte auf die Transsubstantiationslehre an, als er Trockijs Industrieprogramm als „Fleisch vom Fleisch, Blut vom

58 59

VKP(b): XVII s'ezd VKP(b), S. 118-120. VKP(b): XVII s'ezd VKP(b), S. 627-629.

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Blut" einer konterrevolutionären Theorie bezeichnete.60 Kamenev hoffte sogar auf die Wiederauferstehung nach dem Tode: „Ich will ... mitteilen, daß ich denjenigen Kamenev, der von 1925 bis 1933 gegen die Partei... gekämpft hat, für einen politischen Leichnam halte, daß ich, wenn Sie den biblischen Ausdruck verzeihen, vorwärts gehen will, ohne meine alte Haut hinter mir herzuschleifen (Gelächter)".61

Der Gebrauch religiöser Termini belebte das Verhältnis zwischen Redner und Publikum. Als Radek von sich und anderen „Sündern" (sogresniki) sprach, wurde er von Kaganovic korrigiert: „Meine Mittäter im Kampf mit der Partei!" Doch Radek fuhr ungerührt im Bibelton fort: „... meine Mittäter in der Sünde schrien in jener Zeit (v onye vremena): ,Gegen das Regime!'"62 In solchen Kurzdialogen läßt sich der Versuch erkennen, die unerbittliche Forderung nach immer weiteren Schuldbekenntnissen ironisch zu verfremden. Preobrazenskij, der als Sohn eines orthodoxen Priesters im Gegensatz zu Tomskij, Zinov'ev, Kamenev und Radek tatsächlich der christlichen Kulturtradition entstammte, bediente sich hingegen einer strikt säkularen Logik, um die Mechanik des stalinistischen Abstimmungskörpers zu karikieren. Er empfahl den stimmberechtigten Delegierten, den Ratschlag des einfachen Arbeiterdelegierten zu befolgen, der auch in ihm unverständlichen Fragen grundsätzlich immer für Lenin stimmte, „weil man so nichts falsch machen" könne: „Um so mehr jetzt, Genossen, da ich mich in allem auskenne, alles begreife, all meine Fehler hinreichend verstanden habe, wiederhole ich ... diese Worte des Arbeiters und sage: ,Stimme immer für den Genossen Stalin - da wirst du nichts falsch machen'".

Der Doppelsinn scheint verstanden worden zu sein, denn Preobrazenskij erhielt für diesen Schlußsatz seines Beitrages keinen Applaus. Anders als in ihren ursprünglichen Kapitulationserklärungen verbanden die Oppositionellen ihre Besserungsversprechen nun auch mit Reflexionen über ihre persönliche Zukunft. Tomskij wollte „bei jeder Arbeit", die die Partei ihm zuwies, „ehrlich, bolschewistisch" die Parteilinie durchführen, soweit es seine „Kräfte und Fähigkeiten" erlaubten. Auch Zinov'ev hoffte auf die Gelegenheit, in der „praktischen Arbeit" seine „Schuld zumindest ein klein wenig" wiedergutzumachen. Trotz der fortgeschrittenen Ritualisierung verloren derartige Auftritte keineswegs ihren demütigenden Charakter. Vor diesem Publikum erzielten auch absichtliche Übertreibungen nicht die angestrebte ironische Wirkung, sondern kehrten sich letztlich gegen die Oppositionellen selbst. Möglicherweise war das auch so beabsichtigt.63 Auffallend war die Weigerung der Parteiführung, 60

VKP(b): XVII s'ezd VKP(b). VKP(b): XVII s'ezd VKP(b), S. 516-522. 62 VKP(b): XVII s'ezd VKP(b), S. 627-629. 63 Diese These vertritt u.a. der sowjetische Parteihistoriker Emel'janov. Vgl. Jurij Vasil'evic Emel'janov. Zametki ο Bucharine. Revoljucija. Istorija. Licnost', Moskau 1989, S. 25-27. 61

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sich zu ihrer Miturheberschaft an den Reueerklärungen zu bekennen. Vielmehr war es Lominadze, der Verständnis dafür äußerte, daß die Partei „diese Erklärungen" nicht liebt und nicht schätzt", weil sie angeblich nur die Arbeit, den Kampf für die Generallinie honorierte. Kirov hingegen machte sich über Bucharin lustig, der sich zwar bemüht habe, nach den vorgeschriebenen „Noten zu singen", aber dennoch den richtigen Tonfall verfehlt habe.64 Für die Würdelosigkeit ihrer Performanz waren nur die Oppositionellen selbst verantwortlich. Es blieb freilich dem 1938 erschienenen „Kurzen Lehrgang der VKP(b)" vorbehalten, die Schuldbekenntnisse als „brechreizerregende Selbstgeißelung" (tosnotvornoe samobicevanie) zu bewerten.65 Die zehn Monate bis zum Mord an Kirov im Dezember 1934 verliefen für die Oppositionellen ruhiger als das Jahr 1933, obwohl die Forderungen nach Schuldbekenntnissen nicht verstummten. Karrierebewußte Parteimitglieder schienen sich geradezu einen Sport daraus zu machen, die stigmatisierten Opfer öffentlich vorzuführen. In bestimmten Momenten, etwa vor Bucharins Auftritt auf dem ersten Schriftstellerkongreß, mußte die Parteiführung eingreifen, damit die Lage nicht eskalierte. Eine kommunistische Dichtergruppe um Bezymenskij hatte sich schon darauf vorbereitet, Bucharin „durchzuarbeiten", wobei sie seine „gewöhnlichen Verstöße gegen die Dialektik ausnutzen" und sie mit seinen „früheren Fehlern" verbinden wollte. CK-Sekretär Zdanov verbot ihnen das, da er keinen Eklat wünschte. Sie sollten sich bei ihrer Kritik auf Bucharins „Aussagen über Poesie" beschränken und insbesondere auf „politische Verallgemeinerungen" verzichten.66 Im Herbst 1936 beschuldigte man Bucharin und Rykov erstmals, einer terroristischen Organisation angehört zu haben. Rykov und Bucharin bestritten die Vorwürfe, und das Plenum verzichtete schließlich auf eine Entscheidung.67 Wenige Monate später, vor dem Februar-März-Plenum 1937, wiederholte Ezov seine Anschuldigungen, gegen die sich Bucharin und Rykov hartnäckig wehrten. Obwohl sie mit teilweise zwingenden Argumenten verschiedene Behauptungen des NKVD widerlegen konnten, fand sich kein linientreuer Funktionär, der für sie Partei ergriffen hätte. Natürlich verlangte die Versammlung auch diesmal von Bucharin und Rykov keine „kameradschaftliche Selbstkritik", sondern eine weitere politische Kapitulation. Zum ersten Mal seit 1929 erschien diese Forderung auch nachvollziehbar, wenn man der Version Ezovs glaubte, derzufolge die beiden ihre politische Oppositionstätigkeit niemals aufgegeben, sondern im 64

VKP(b): XVII s'ezd VKP(b), S. 253. Istorija vsesojuznoj kommunistiöeskoj partii (Bol'sevikov), Moskau 1945, S. 310. 66 Pis'mo A. A. Zdanova - 1 . V. Stalinu. 28.8.1934. Vgl. Jakovlev: Vlast' i chudozestvennaja intelligencija, S. 230. 67 Vgl. dazu: Fragmenty stenogrammy dekabrskogo plenuma CK VKP(b) 1936 goda, in: Voprosy Istorii, 1995, Nr. 1, S. 3-22. Ju. G. Murin (Hrsg.): Stenogramma odnych stavok ν CK VKP(b). Dekabr' 1936 goda, in: Voprosy Istorii, 2002, Nr. 3, S. 3-31, Nr. 4, S. 3-12. 65

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terroristischen Untergrund fortgesetzt hätten. Ihre Weigerung, diese Version des NKVD zu akzeptieren, wurde vom Plenum als „Fortsetzung des Kampfes" aufgefaßt, als eine Weigerung, sich „vollständig zu entwaffnen".68 Die Kapitulationsforderungen unterschieden sich von den früheren dadurch, daß der Vorwurf der politischen Konspiration mit terroristischen Gruppen frei erfunden war. Anders als 1929 gab es 1937 keine rechte Opposition mehr, die kapitulieren konnte. Für Bucharin und andere Oppositionelle war dieser Unterschied überaus wichtig. Sie waren bereit, sich von ihren politischen Ansichten zu distanzieren, nicht aber, fiktive Verbrechen zu „gestehen". Man kann daher der Behauptung Arch Gettys keineswegs zustimmen, daß Bucharin in den zwanziger Jahren von den Trotzkisten angeblich genau das verlangt hätte, was er 1937 selbst zu tun nicht bereit war.69 Es war das normalste denkbare Verhalten, wenn er sich gegen falsche Terrorismusvorwürfe verteidigte. Niemand konnte davon überrascht sein. Die letzte, endgültige „Treibjagd" auf den renitenten Bucharin war für Stalin eine gute Gelegenheit, die Verantwortung für dessen bevorstehende Ermordung auf die gesamte Parteielite zu verteilen. Am Abend des 27. Februar wurden Bucharin und Rykov einstimmig aus der Partei ausgeschlossen und zur weiteren Untersuchung dem NKVD übergeben. Daß Bucharin und Rykov, die „Virtuosen der Reue", schließlich vom gleichen Schicksal eingeholt wurden wie vor ihnen Zinov'ev und Kamenev, bestätigte nur den alten Leitsatz Stalins, daß die verschiedenen oppositionellen Abweichungen allesamt gleich verwerflich waren. Mit dem Ausschluß der Oppositionellen aus der Partei war die Geschichte ihrer Schuldbekenntnisse noch nicht ganz zu Ende. Sie wurde in der Untersuchungshaft und vor Gericht fortgesetzt. Das folgende Kapitel wird sich damit befassen. Die stalinistische Propaganda definierte die Oppositionellen trotz ihrer unterschiedlichen Ansichten zu einer einheitlichen Gruppe. So willkürlich die Verhaftungspolitik auch gewesen sein mag, die Kategorie des „alten Oppositionellen" blieb durchaus nachvollziehbar: Sie umschloß all diejenigen, die irgendwann seit 1922 offen gegen die Stalin-Gruppe aufgetreten waren. Die Anzahl derartiger Gruppen war gering. So gut wie alle ihrer prominenten Mitglieder wurden im Zuge der „großen Säuberungen" ermordet, wie auch immer sie sich in der Zwischenzeit verhalten haben mochten. 68

Vgl. Materialy fevral'sko-martovskogo plenuma CK VKP(b) 1937 goda, in: Voprosy istorii, 1992, Nr. 6, S. 3. 69 „Schließlich war dies die Standardforderung, die Bucharin noch in den zwanziger Jahren den Trotzkisten gestellt hatte, und wenn er sich nun mit einer legalistischen Argumentation gegen sie wehrte, so mußte er dadurch in den Augen seiner Genossen selbstgerecht und heuchlerisch aussehen. Er entschied sich, genau das zu tun, und stellte das Ritual in Frage." Getty·. The Road to Terror, S. 366. Und: „Nach den Regeln der Tradition, die auf die Zeiten Lenins zurückgingen, machte sich Bucharin unter seinen Genossen unmöglich und begab sich in die Kategorie der,Feinde', die Verräter, Konterrevolutionäre und Faschisten umfaßte." Ebenda, S. 323.

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Schon allein aufgrund dieser einfachen Tatsache erscheint es verfehlt, in den Wortwechsel zwischen Bucharin und seinen Verfolgern allzuviel Bedeutung hineinzuinterpretieren. Die Frage, was Bucharin „hätte tun sollen", um den kollektiven Inquisitor zufrieden zu stellen, ist falsch gestellt. Es ist völlig offensichtlich, daß er in dieser Situation nichts mehr zu seinen Gunsten tun konnte. Auch die Tatsache, daß es mehrere Vorschläge gab, was mit Bucharin zu tun sei (Erschießung, zehn Jahre Gefängnis, Übergabe an den NKWD), ist unerheblich. Viel wichtiger ist die Frage, was sich Stalin, das Politbüro und das Zentralkomitee grundsätzlich von dieser Auffuhrung versprachen. Arch Gettys These, daß es sich um ein „Ritual" handelte, in dem die Nomenklatura ihre „monolithische Geschlossenheit" zelebrierte, erscheint überaus plausibel, solange man nicht wie Getty davon ausgeht, daß Bucharin durch seine Gegenwehr das Ritual „zerstörte" und erst dadurch die Wut der Versammlung auf sich zog. Eher traf das genaue Gegenteil zu: Gerade weil Bucharin sich so hartnäckig wehrte, konnte die Masse der Linientreuen ihren Zusammenhalt, ihre „bolschewistischen" Identität und ihre Stalintreue unter Beweis stellen. Die „Wut" der Anwesenden war nicht Folge eines Zwischenfalls, sondern Teil der Performanz. Die zeitübliche Metapher des „Kesseltreibens" (travlja) darf hier fur bare Münze genommen werden. Wäre der Fuchs nicht davongelaufen, hätte sich die jagende Elite auf andere Weise ihrer sozialen Identität versichern müssen. Bei diesen „Treibjagden" gegen die ehemaligen Wortführer der Opposition handelte es sich um sinnstiftende Vorgänge sui generis, die nicht nach den etablierten Maßstäben irgendeiner „Parteidisziplin" beurteilt werden können. Die aus der Logik des innerparteilichen Abstimmungskörpers hervorgegangene Methode der Konfliktbereinigung hatte sich zu einer elitären Form der Lynchjustiz verselbständigt.70 Nach der physischen Ausrottung der alten Oppositionellen kam es in der Partei erheblich seltener zu Schuldbekenntnissen, die als „Kapitulation" aufgefaßt werden müssen. Einen Sonderfall stellten die Verhältnisse in der Komintern dar. In allen Schwesterparteien hatte es zahlreiche „Oppositionen" und „Abweichungen" gegeben, die sich nicht ohne weiteres den Trotzkisten oder Rechtsabweichlern zuordnen ließen. Das Fraktionsverbot war im Ausland erst später und nicht überall mit der gleichen Unerbittlichkeit durchgesetzt worden. Unter den in Moskau anwesenden Angehörigen der Komintern gab es prozentual deutlich mehr ehemalige Abweichler und Oppositionelle als zur jeweils gleichen Zeit in der VKP(b). Andererseits hatten die meisten von ihnen nicht unmittelbar gegen Stalins Parteiführung gekämpfit und waren daher

70

Es gibt archaische Vorbilder für dieses Vorgehen, auf die hier nicht weiter eingegangen werden soll. Vgl. etwa Dürkheims Ausführungen über die „Mechanische Solidarität" und die Natur der Strafe. Emile Dürkheim: Über die Teilung der sozialen Arbeit, Frankfurt am Main 1977, S. 111-151.

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auch nicht in der gleichen Weise belastet. Die diskursive Zweiteilung in „oppositionelle" Verfehlungen gegen die politische Willensbildung und „zufällige" ideologische Fehler wurde im Milieu der deutschen oder österreichischen Kommunisten offensichtlich nicht mit der gleichen Konsequenz nachvollzogen. Manchen von ihnen scheint der Unterschied zwischen der oppositionellen Kapitulation und kameradschaftlich-selbstkritischen Schuldbekenntnissen sogar grundsätzlich verborgen geblieben zu sein.71 Die Ausländer litten unter Verfolgungen gewiß nicht weniger als ihre sowjetischen Kollegen, doch war die abweichlerische Vergangenheit hier offenbar nur ein Negativmerkmal neben anderen. Dennoch war die Praxis der oppositionellen Kapitulation keine vorübergehende Zeiterscheinung, sondern eine funktionale Notwendigkeit des demokratischen Zentralismus. Auch nach Stalins Tod wurden die in der Führungsgruppe ausgebrochenen Konflikte auf diese Weise beigelegt. Vor dem Juni-Plenum 1957 mußten sich Kaganovic, Malenkov und Molotov für ihren Versuch rechtfertigen, im Präsidium des Zentralkomitees heimlich eine Mehrheit gegen Nikita Chruscev zustande zu bringen. Das Vorhaben hatte gerade noch rechtzeitig durchkreuzt werden können. Eine große Mehrheit des Abstimmungskörpers versammelte sich hinter Chruscev und warf den Verschwörern vor, die Parteilinie bekämpft und das Fraktionsverbot mißachtet zu haben. Als diese sahen, daß ihre Lage aussichtslos war, gaben sie mündlich und schriftlich individuelle Erklärungen ab, die wieder an älteste Vorbilder der zwanziger Jahre anknüpften.72 Wie Trockij 1926 bekannten sie sich zur Parteilinie und verurteilten ihr satzungswidriges „Gruppenverhalten", beharrten aber gleichzeitig darauf, daß ihre „Kritik an einigen Unzulänglichkeiten (nedostatki)" teilweise berechtigt gewesen sei.73 Ähnlich wie die Rechtsabweichler 1928 formulierten sie diesen Anspruch nunmehr in der kanonisierten Sprache der „Kritik und Selbstkritik". Nach den strengen stalinistischen Kriterien konnten die Erklärungen der Putschisten, insbesondere diejenige Molotovs, kaum als „vollständige Entwaffnung" anerkannt werden. Doch hielt sich die Mehrheit diesmal nicht lange damit auf, die „Doppelzüngigkeit" der Besiegten zu monieren, sondern Schloß sie kurzerhand aus dem Zentralkomitee aus. Die Mitverschwörer Nikolaj Bulgarin, Michail Pervuchin und Aleksandr Saburov, die rechtzeitig übergelaufen waren, behielten hingegen ihren Platz in diesem Gremium.

" Dies geht indirekt aus den Veröffentlichungen Unfriede und Studers hervor. 72 Vgl. Α. N. Jakovlev (Hrsg.): Molotov, Malenkov, Kaganovic, 1957. Stenogramma ijunskogo plenuma CK KPSS i drugie dokumenty, Moskau 1998. Die mündlichen Schuldbekenntnisse wurden am 28. Juni (S. 395^106), die schriftlichen am 29. Juni (S. 583-585) abgegeben. Zum Wortlaut der Resolution und des Rundbriefs an die Parteiorganisationen vgl. S. 563-580. 73 Vgl. Jakovlev: Molotov, Malenkov, Kaganovic, S. 395,400, 404.

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Zwischen den kollektiven Erklärungen der Trotzkisten und den individuellen Schuldbekenntnissen Kaganoviös, Malenkovs und Molotovs gab es noch weitere auffallige Unterschiede. Die Erklärungen bezogen sich nun nicht mehr nur auf den gescheiterten Versuch einer politischen Willensbildung, sondern ganz explizit auch auf das moralische Treue- und Gnadenverhältnis ihrer Person gegenüber der Parteiführung. Sie enthielten inständig vorgetragene Beteuerungen, nur in bester Absicht gehandelt zu haben, Versprechungen tätiger Wiedergutmachung, sentimentale Reminiszenzen an die revolutionäre Vergangenheit und schließlich die Bitte um Verschonung. Kaganovic schwor, „den letzten Fehler seines Lebens" begangen zu haben, ganz gleich, wie lange dieses noch dauern werde. „Ich werde mein ganzes Leben, mit all meinem Verstand, meiner Seele und meinem Leib für unsere Partei ... und ihre Linie kämpfen, für das Aufblühen unserer Heimat und den Sieg des Kommunismus in unserem Land."74

Malenkov bat um eine konkrete Aufgabe, bei der er „seine Kräfte für den Aufbau des Kommunismus" einsetzen könnte.75 Die Fixierung auf das Schicksal der eigenen Person und die recht dramatisch wirkende Unterwerfungsrhetorik bedeutet nicht, daß die tags zuvor noch recht herausfordernd aufgetretenen Rekonziliierten tatsächlich Gefahr für ihr Leib und Leben befürchtet hätten. Vielmehr handelte es sich um feststehende Wendungen, die man in den dreißiger Jahren zuerst von ehemaligen Oppositionellen wie Radek oder Zinov'ev, später aber auch von allen anderen linientreuen Funktionären gehört hatte, die bei Stalin endgültig oder auch nur vorübergehend in Ungnade gefallen waren. Davon wird im folgenden Teilabschnitt ausführlicher die Rede sein. Als autoritärer Staatslenker hielt Stalin Fehlereingeständnisse Untergebener für eine naheliegende Form, Mißverständnisse, Unklarheiten und Meinungsunterschiede auszuräumen. Das Verhältnis des Alleinherrschers zu seinen Mitarbeitern erhielt einen pädagogischen Anstrich: Der strenge, aber gerechte Lehrer (oder pater familias) examiniert, lobt und bestraft seine Schüler, die sich daraufhin einsichtig und besserungswillig zeigen müssen. Vermutlich sah die Parteielite keinen besonderen Widerspruch darin, daß dieser Vorgang sich ab etwa 1930 der samokritika-Sprache bediente, die doch eigentlich dazu erfunden worden war, Hierarchien zu erschüttern. Aber auch imperative Formeln wie die „bedingungslose Unterordnung unter die Generallinie" sagen noch wenig darüber aus, wie Hierarchien im Alltag konkret funktionieren. Die Parteifunktionäre verhielten sich zwar streng loyal, erwarteten in der Praxis aber auch selbst eine gewisse Loyalität der höheren Instanzen ihnen gegenüber. Wenn sie ihren Fehler zugaben, dann handelte es sich eher um Demutsgesten als um Rituale ekstatischer Selbstaufopferung. Sie bekräftigten eine Ordnung, in der auch 74 75

Jakovlev: Molotov, Malenkov, Kaganovic, S. 397. Jakovlev. Molotov, Malenkov, KaganoviC, S. 585.

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sie selbst weiterhin einen Platz haben würden. Das Politbüro entsprach dieser Auffassung dadurch, daß es sich manchmal mit einem internen Fehlereingeständnis zufrieden gab, ohne darüber in der Tagespresse zu berichten. Schon einige Monate vor der Maßregelung Baumans hatte es einen derartigen Fall gegeben. Einige Mitglieder der Leningrader Parteiführung erinnerten im Herbst 1929 die Parteizentrale in einem vertraulichen Schreiben daran, daß ihr Chef Sergej Kirov vor der Revolution für liberale bürgerliche Zeitungen regierungstreue Artikel geschrieben hatte.76 Obwohl Stalin die Angelegenheit als schädliches Manöver betrachtete, befaßten sich im Dezember das Politbüro und das CKK-Präsidium zwei Tage lang mit den Vorwürfen. Die Tatsachen konnten nicht bestritten werden, doch verteidigte der Generalsekretär Kirov mit dem Hinweis, daß dieser „seinen Fehler eingesehen habe". Im Beschluß wurde die Mitteilung als „grob verleumderisch" zurückgewiesen, da ihre Verfasser lediglich ihre Gruppeninteressen verfolgt hätten. In diesem Fall sollte das Fehlereingeständnis den Beschuldigten vor Angriffen schützen, die nicht von Stalin kamen, sondern von außerhalb. Kirov distanzierte sich von seiner Vergangenheit, um die Angriffsfläche der Stalingruppe zu verkleinern. Das Prinzip der gegenseitigen Loyalität funktionierte auch im Falle des kasachischen Parteichefs Filipp Goloscekin, der im Januar 1933 durch Levon Mirzojan abgelöst wurde. In einer geheimen Entscheidung begründete das Politbüro diesen Schritt mit Goloscekins „linken Überspitzungen" in der Landwirtschaftspolitik, die zu einer verheerenden Hungersnot geführt hätten. Der Öffentlichkeit erklärte man hingegen, Goloscekin sei „auf eigenen Wunsch" abgelöst worden.77 Als Mirzojan 1933 eine regionale „Selbstkritik"Kampagne organisierte, in deren Verlauf Goloscekin der kasachischen Parteiöffentlichkeit als „Schädling" und alleiniger Sündenbock präsentiert wurde, da beschwerte er sich heftig in Briefen an Stalin und Kaganovic.78 Er war zwar bereit, gegenüber dem Politbüro seine Fehler einzugestehen, und erklärte sich auch damit einverstanden, daß die in Kasachstan herrschenden Mißstände zum Gegenstand einer öffentlichen „Selbstkritik" werden durften, protestierte aber dagegen, daß er nun vom dortigen Krajkom „rücksichtslos durchgearbeitet" und „wild verleumdet" wurde.79 Im Brief an Stalin vom 4. August zählte Goloscekin noch einmal die lange Liste seiner Fehler auf. Der Viehbestand war unter seiner Führung dramatisch zurückgegangen, und es war ihm nicht gelungen, die „linken Überspitzungen" wirksam zu unterbinden. Nichtsdesto-

76

Zu dieser Episode vgl. Chlevnjuk·. Stalin i Ordzonikidze. Konflikty ν politbjuro ν 30-e gody, Moskau 1993, S. 19-21; Ders:. Pis'ma Stahna Molotovu, S. 174-176; Μ. V. Rosljakov: Ubijstvo Kirova. Politiceskie i ugolovnye prestuplenija ν 1930-ch godach, Leningrad 1991, S. 106-110. 77 Vgl. Chlevnjuk: Sovetskoe rukovodstvo, S. 245-249, 258-259 und S. 204-225. 78 Chlevnjuk·. Sovetskoe rukovodstvo, S. 245-249 und S. 258-259. 79 Chlevnjuk·. Sovetskoe rukovodstvo, S. 245-249.

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weniger erwartete er von der Parteiführung, ihn mit einer Ehrenerklärung vor „Verleumdungen" in Schutz zu nehmen: „Die eingetretene Lage zwingt mich, das CK darum zu bitten, sein gewichtiges Wort zur Beurteilung meiner siebeneinhalbjährigen Arbeit und in Bezug auf die rücksichtslos-falsche und ... schädliche Kritik an der alten Führung und mir persönlich auszusprechen.. ."80

Anhand veröffentlichter Quellen ist schwer zu ermitteln, wie das Politbüro auf diese Bitte reagierte. Jedenfalls scheint die lokale Kampagne gegen Goloscekin diesem in Moskau nur begrenzt geschadet zu haben. Er wurde 1934 zwar nicht wieder ins Zentralkomitee gewählt, behielt aber bis zu seiner Verhaftung 1939 einen ehrenvollen Posten in der Unionsregierung. In manchen Fällen gelang es der stalinistischen Führungsgruppe tatsächlich, die Balance zu halten und hochgestellte Politiker öffentlich zu kritisieren, ohne sie zu diskreditieren. Das Politbüromitglied Andrej Andreev beispielsweise wurde auf dem siebzehnten Parteitag von Stalin und Vorosilov getadelt, weil er als Volkskommissar für das Verkehrswesen an der Aufgabe gescheitert war, den Eisenbahnbetrieb effizient neu zu organisieren. Daraufhin sah er sich genötigt, den Delegierten die Mißstände und Versäumnisse in der Eisenbahnverwaltung genauer zu schildern und auch seine persönliche Mitverantwortung zuzugeben. Die Debatte über das Eisenbahnwesen entsprach in etwa dem, was schon auf dem April-Plenum 1928 als „konstruktive, kameradschaftliche Selbstkritik" bezeichnet worden war. Auch Andreev selbst wollte seine selbstkritische Rede in diesem Sinne verstanden wissen: „Die Arbeit des Eisenbahnverkehrs wurde ... sehr scharf kritisiert, aber es kommt nicht in Frage, auf diese Kritik beleidigt zu reagieren. Das käme nur verfaulten Bürokraten in den Sinn. ... Diese Kritik war notwendig, richtig, weil der Verkehr schlecht funktioniert... Die harte Kritik von Mißständen im Eisenbahntransport und die breiteste Selbstkritik in der Verwaltung ... ist eine notwendige ... Bedingung der ... Verbesserung ihrer Arbeit."81

Diese Behandlung konnte zwar als empfindliche Zurücksetzung aufgefaßt werden, hatte aber wenig Ähnlichkeit mit einer „Treibjagd" oder einer „Zivilhinrichtung". Ob Andreevs Arbeit als erfolgreich bezeichnet werden durfte oder nicht, war eine Ermessensfrage. Einerseits wurde aufgrund des steigenden Transportbedarfs der schlechte Zustand des Eisenbahnsystems immer sichtbarer, doch andererseits wurde implizit zugegeben, daß Andreevs Aufgabe tatsächlich überaus schwierig war. Niemand zog seine Loyalität in Zweifel. Seine Rede wurde nicht von gehässigen Zwischenrufen unterbrochen, und am Ende erhielt er sogar Applaus. Es dauerte noch ein volles Jahr, ehe Stalin sich endgültig entschloß, Andreev als Eisenbahn-Volkskommissar durch Kaganovic zu ersetzen. Aber auch bei dieser Gelegenheit verzichtete die Parteiführung darauf, ihn öffentlich zu diskreditieren.

80 81

Chlevnjuk: Sovetskoe rukovodstvo, S. 249. VKP(b): XVII s'ezd VKP(b).

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Nach dem Mord an Kirov geriet das fragile, asymmetrische Loyalitätsverhältnis zwischen Stalin und seinen linientreuen Funktionären allmählich aus den Fugen. Die Veränderungen im politischen Klima blieben nicht ohne Folgen für die Bedeutung der Schuldbekenntnisse und der „Selbstkritik". Durch die immer häufigeren Verhaftungen angeblicher Terroristen und Volksfeinde (zunächst auf niedriger Hierarchieebene) gerieten auch solche Funktionäre unter Verdacht, die niemals einer Opposition angehört hatten. Die erste Treibjagd auf eine zweifelsfrei nicht-oppositionelle Person erlebte die Parteielite auf dem Plenum des Zentralkomitees im Juni 1935. Anlaß für die Auseinandersetzung war die sogenannte „Kreml-Affäre".82 Etwa zur gleichen Zeit, als Zinov'ev und Kamenev für ihre „geistige Urheberschaft" am Kirov-Mord zu fünf Jahren Gefängnis verurteilt wurden, konstruierte der NKVD in Moskau eine „konterrevolutionäre Verschwörung" mit der Absicht, ihnen auch eine aktive Beteiligung nachweisen zu können. Man verhaftete über hundert Mitarbeiter der Kreml-Objektverwaltung, unter denen sich auch einige Verwandte Kamenevs befanden. Angeblich hatten sie eine Verschwörung gebildet und beabsichtigten, mehrere Parteiführer zu ermorden. Im Juli wurden 30 Personen in dieser Angelegenheit strafrechtlich verurteilt, darunter auch Lev Kamenev zu zehn Jahren Gefängnis.83 Das war der eine Teil der Geschichte, der die ehemaligen Oppositionellen kriminalisierte; der andere Teil spielte sich innerhalb der linientreuen Parteielite ab, die nun ebenfalls unter Druck geriet. Avel Enukidze war als Sekretär des zentralen sowjetischen Exekutivkomitees für die Objektverwaltung des Kremls und damit auch für Sicherheitsfragen verantwortlich. Nach der Aufdeckung der „Verschwörung" wurde er am 3. März vom Politbüro „auf eigenen Wunsch" aus dieser Funktion abgelöst und zum Vorsitzenden des Exekutivkomitees der Transkaukasischen Sowjetrepublik ernannt. Nach weiteren Ermittlungen kam das von Nikolaj Ezov informierte Politbüro am 21. März zu einer weitaus kritischeren Beurteilung der Rolle Enukidzes. Da dessen „Mangel an Wachsamkeit" die persönliche Sicherheit Stalins gefährdet habe, müsse auf dem nächsten Plenum sogar über seinen Verbleib im Zentralkomitee debattiert werden. Immerhin Schloß das Politbüro die Möglichkeit explizit aus, daß Enukidze vom Komplott gegen Stalin gewußt haben könnte.84 Enukidze reagierte mit einem Brief an das Politbüro, in dem er seine Absetzung

82

Zu den Hintergründen der Kreml-Affäre vgl. Ο tak nazyvaemom „kremlevskom dele". Spravka Prokuratury SSSR i KGB SSSR, in: Izvestija CK KPSS, 1989, Nr. 7, S. 86-93; Jurij NikolaeviC Zukov: Tajny „Kremlevskogo dela" 1935 goda i sud'ba Avelja Enukidze, in: Voprosy istorii, 2000, Nr. 9, S. 83-113; Getty: The Road to Terror. 83 Zukov: Tajny „Kremlevskogo dela" 1935 goda, S. 105. 84 Zukov: Tajny „Kremlevskogo dela" 1935 goda, S. 91, Chlevnjuk: Sovetskoe rukovodstvo, S. 305-306.

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für richtig erklärte.85 Doch die Parteiführung gab sich mit dieser Demutsgeste nicht mehr zufrieden, sondern statuirte vor dem Juni-Plenum ein sichtbares Exempel. Nikolaj Ezov erhob als Referent schwere Vorwürfe gegen Enukidze, der im Bereich des Kremls „fremden und feindlichen Elementen" Stellungen verschafft habe. Ezov stellte dies in einen Zusammenhang mit Enudkidzes sexuellen Ausschweifungen, seinen früheren Sympathien für die Menschewiki und seiner Angewohnheit, alte Revolutionäre finanziell zu unterstützen, die bei der Sowjetmacht in Ungnade gefallen waren. Er verlangte daher, Enukidze aus dem Zentralkomitee auszuschließen.86 Enukidze hatte wochenlang Zeit gehabt, sich auf diesen Moment vorzubereiten. Er verteidigte sich mit stichhaltigen Argumenten, die an den gesunden Menschenverstand appellierten, ohne aber die Ermittlungsergebnisse des NKVD als solche in Frage zu stellen.87 Er versuchte den Vorwurf „mangelnder Wachsamkeit" durch den Hinweis zu relativieren, daß Mitarbeiter der KremlVerwaltung vor ihrer Einstellung ausnahmslos vom NKVD überprüft und als zuverlässig eingestuft worden waren.88 Ansonsten hatte er akzeptiert, daß mit seinem Fall ein Exempel statuiert werden mußte, und erklärte sogar seine Bereitschaft, die staatsnotwendigen Konsequenzen zu tragen: „Mir gegenüber muß man genau diejenigen Maßnahme ergreifen, die im weiteren für jeden Kommunisten, der diesen oder jenen Posten bekleidet, als Lektion dienen kann, um die Wachsamkeit wirklich zu erhöhen und die Arbeit unserer Partei und der sowjetischen Behörden so einzurichten, daß wir ruhig und effektiv arbeiten können." 89

Enukidzes Verteidigung erinnert an die Haltung des klassischen Beamten, Offiziers oder Ministers, der aus politischen Gründen zwar sein Amt zur Verfügung stellt, sich aber gegen Angriffe auf seine amtliche Integrität und persönliche Würde verteidigt. Seine Rede signalisierte dem Plenum, daß er nicht beabsichtigte, das Vorhandensein „konterrevolutionärer Verschwörungen" in Frage zu stellen, aber dennoch mit Respekt behandelt werden wollte. Das Auditorium ließ sich von Enukidzes Argumenten nicht überzeugen. Nach einhelliger Meinung der folgenden Redner hätte er sich in der Frage der Wachsamkeit nicht auf das NKVD verlassen dürfen, sondern als Mitglied des Zentralkomitees seine politische Mitverantwortung erkennen müssen. Kabakov nannte Enukidze einen „Liberalen". Auch Kaganovic und Ezov waren der 85

2ukov: Tajny „Kremlevskogo dela" 1935 goda, S. 91. Intern zeigte sich Enukidze durchaus bereit, seine Fehler zuzugeben. In einem Brief an Jaroslavskij und Kaganovic vom 22. März sprach er davon, daß das Politbüro die Beschuldigungen gegen ihn „gerechtfertigt" hätte. Vgl. Chlevnjuk: Sovetskoe rukovodstvo, S. 305-306. 86 Vgl. Zukov. Tajny „Kremlevskogo dela" 1935 goda, S. 98-102 und Getty: The Road to Terror, S. 161-162 und S. 168-171. 87 Zur Rede Enukidzes vgl. 2ukov: Tajny „Kremlevskogo dela" 1935 goda, S. 101-102 und Getty: The Road to Terror, S. 167-168. 88 Getty: The Road to Terror, S. 168. 89 iukov: Tajny „Kremlevskogo dela" 1935 goda, S. 102 und Getty: The Road to Terror, S. 171.

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Meinung, daß Enukidze durch sein Verhalten vor und während des Plenums „mit der Partei gebrochen" habe. Daß er es überhaupt wagte, sich noch zu verteidigen, wurde von den Stimmführern als Provokation aufgefaßt. Kaganovic erklärte: „Genösse Enukidze, wenn deine Bereitschaft aufrichtig ist, die Strafe zu akzeptieren, daß auch andere ihre Lehren daraus ziehen können, dann hättest du deine Lage ehrlicher analysieren müssen, dann hättest du uns schildern müssen, wie die Feinde sich in den Apparat eingeschlichen haben, wie du die nutzlosen Schurken beschützt hast. Statt dessen hast du diese Sache schnell abgehakt und hast versucht zu beweisen, daß gar nichts Besonderes passiert ist."90

Das Plenum votierte nicht nur einstimmig für seinen Ausschluß aus dem CK, sondern - in spontaner Abweichung von der Beschlußvorlage - darüber hinaus sogar mehrheitlich für seinen Ausschluß aus der Partei. Der Vorschlag, ihn sofort verhaften zu lassen, wurde aber nur von einer Minderheit unterstützt.91 Wie muß dieser Vorgang nun diskursgeschichtlich eingeordnet werden? Warum wiederholte sich hier nicht das etablierte Szenario der pädagogischen „Selbstkritik von oben", bei der das demütige Schuldbekenntnis mit der Möglichkeit zur Reintegration belohnt wurde? Welches Verhalten hatten die Parteiführung, die Plenarversammlung und Enukidze voneinander erwartet und inwiefern waren diese Erwartungen mißachtet oder enttäuscht worden? Für die Parteiführung stand offenkundig das Ziel im Vordergrund, die Nomenklatura auf neue Verhaltensmaßregeln der „Wachsamkeit" zu verpflichten. Da Enukidze trotz der Sicherheitsrelevanz seines Aufgabenbereiches die staatliche Isolierungs- und Stigmatisierungspolitik gegenüber „feindlichen" Elementen im persönlichen Wirkungsbereich großzügig unterlaufen hatte, war er der ideale Kandidat, um ein wirksames Exempel zu statuieren. Zugleich funktionierte die Veranstaltung aber auch als eine subtile Provokation. Mit geringem Risiko konnte getestet werden, ob die Parteielite bereit war, die Ermittlungsergebnisse Ezovs als Tatsachen zu akzeptieren und die stalinsche Politik der „Terrorismusbekämpfung" mitzutragen. Bei der Interpretation des Vorgangs sollte man sich vor Augen halten, daß die Parteiführung vor allem das zweite Ziel gerade dann besonders gut erreichen konnte, wenn Enukidze kein Schuldbekenntnis ablegte. Aus Kaganovics Empörung über dessen Selbstverteidigung muß daher keineswegs gefolgert werden, daß der Parteiführung ein anderes Verhalten Enukidzes lieber gewesen wäre. Denn auffalligerweise scheint das Politbüro - das über die renitente Haltung Enukidzes zweifellos informiert war - keinen Versuch unternommen zu haben, im Vorfeld auf ihn einzuwirken und den Inhalt des Redebeitrags

90

Zit. n. Getty·. The Road to Terror, S. 174. " Getty: The Road to Terror, S. 176; 2ukov. Tajny „Kremlevskogo dela" 1935 goda, S. 104.

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rechtzeitig mit ihm abzusprechen.92 Möglicherweise wollte Stalin, der stets dazu aufrief, Worten zu mißtrauen und nur Taten Glauben zu schenken, im Plenum nicht nur politisch korrekte Reden hören, sondern einen unmittelbaren, authentischen Eindruck davon erhalten, wie die Beteiligten auf Enukidzes Renitenz reagieren würden. Schließlich war das Zentralkomitee der Ort, wo sich früher wiederholt eine Opposition gegen die herrschende Linie gebildet hatte, und es war nicht rundheraus auszuschließen, daß die ausufernde Verhaftungspolitik hier auf Widerstand treffen würde.93 Enukidze sorgte nun mit seiner Selbstverteidigung für ziemlich genau die Dosis an Widersetzlichkeit, die geeignet war, den Abstimmungskörper auf seine Zuverlässigkeit zu überprüfen. Insofern bedeutete die Veranstaltung aus Stalins Sicht einen vollen Erfolg: An der Sollbruchstelle zeigten sich keine Risse, und nicht einmal Enukidze selbst stellte die Postulate der Terrorismusbekämpfung in Frage. Wenn Stalin also ein heimliches Interesse haben konnte, daß die Situation eine Eigendynamik entwickelte, so galt dies nicht für Enukidze. Woher rührte dessen Weigerung, die Rolle des reuigen Sünders zu spielen? Mißverstand er einfach die Situation, oder nahm er bewußt wütende Reaktionen in Kauf? Für ihn könnte der Umstand maßgeblich gewesen sein, daß die Parteiführung darauf verzichtet hatte, im Vorfeld ein vertrauliches Arrangement mit ihm zu treffen. Sein Auftreten unterschied sich jedenfalls kaum von dem eines durchschnittlichen Parteifunktionärs, der sich den ungerechten Anschuldigungen seiner intriganten Kollegen ausgesetzt sah. Auf allen Hierarchieebenen der Partei hielt man es für normal, daß Mitglieder sich gegen Maßregelungen wehrten, Vorwürfe mit Gegenvorwürfen beantworteten und sogar nach dem Ausschluß hartnäckig um die Wiederaufnahme kämpften. Häufig war eine Strategie erfolgreich, wie sie Enukidze nun zu verfolgen schien: Begrenzte Fehlereingeständnisse und kategorische Loyalitätsbeteuerungen wurden mit Verteidigungsargumenten verbunden, um die höheren Instanzen von der eigenen Rechtschaffenheit zu überzeugen. Durch die Wahl dieses Registers unterstrich Enukidze provozierenderweise, daß er das Referat Ezovs vorerst nur als Plädoyer eines Gleichrangigen, nicht aber als endgültiges Urteil einer ihm übergeordneten Instanz ansehen wollte. Er tat einfach so, als habe er immer noch Hoffnung, Stalin oder das Plenum umstimmen zu können. Unter den gegebenen Umständen konnte diese Haltung allerdings leicht als Herausforderung aufgefaßt werden. Andererseits wäre er aber möglicherweise auch dann ein Risiko eingegangen, wenn er ohne Rücksprache mit der Parteiführung auf 92

Vgl. den Brief Enukidzes an Vorosilov und Ordzonikidze. Enukidze erwähnt darin einen anderen Brief an das Politbüro, in dem er seinen Standpunkt darlegt. Chlevnjut. Sovetskoe rukovodstvo, S. 305-306. 93 In der Historiographie herrschte sogar jahrzehntelang die Meinung vor, daß in der Parteifuhrung der dreißiger Jahre den Terror-Befürwortern um Ezov, Kaganovic und Molotov ein Lager der „Gemäßigten" um Kirov, Chruäcev und Ordzonikidze gegenübergestanden habe. Vgl. Chlevnjuk: Politbjuro, S. 6-8. Inzwischen wird diese Ansicht kaum noch vertreten.

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jede Selbstverteidigung verzichtet und ein demütiges Schuldbekenntnis abgelegt hätte. „Bußrituale" waren schließlich verpönt, und er hätte sich dann den Vorwurf zuziehen können, ein „manövrierender Heuchler" zu sein. Und so gab er der Versuchung nach, das Argument der Terroristenjagd gegen dessen Urheber zu wenden: Wenn man davon ausging, daß es im Kreml vor Terroristen wimmelte und er den Eindruck hatte, daß das NKVD daran mitschuldig war, dann durfte er diese Tatsache vor der Partei nicht verheimlichen. Enukidze betonte dabei, daß die Sicherheit der Staatsfuhrung ihm wichtiger war als sein persönliches Schicksal. Wenn er sich selbst verteidigte, dann nur aus selbstlosen Gründen.94 Man kann wohl ausschließen, daß Enukidze sein Auftreten für illoyal oder für eine grobe Verletzung der etablierten Parteinormen hielt. Seine Nichtbereitschaft zur kategorischen Selbstverurteilung erklärt sich vermutlich aus dem Eindruck, daß die Parteiführung von sich aus das gegenseitige Loyalitätsverhältnis aufgekündigt hatte. Auf sich allein gestellt, entschied er sich lieber zur Selbstverteidigung. Wie sich bald herausstellen sollte, war diese Reaktion keineswegs untypisch für Parteifunktionäre, die unversehens in Ungnade gefallen waren. Schließlich bleibt noch die Frage, wie man das Verhalten der übrigen Plenumsteilnehmer beurteilen soll. Anstatt sich auf eine Diskussion über die Realität der Terrorgefahr und die Berechtigung von Ezovs Vorwürfen einzulassen, behandelte die Versammlung Enukidze sogar noch strenger, als das Politbüro gefordert hatte. Arch Getty zufolge wurde Enukidze für seine Weigerung bestraft, den Regeln des „Entschuldigungsrituals" zu genügen. Die Nomenklatura handelte demnach nicht im vorauseilenden Gehorsam oder aus „Angst vor Stalin", sondern kämpfte um ihr kollektives Recht, selbstherrlich die Wirklichkeit zu definieren. Damit wollte sie sich angeblich vor einer Parteispaltung schützen und symbolisch ihr „korporatives Eigeninteresse" behaupten.95 Angesichts der Tatsache, daß die von Getty behauptete kollektive Angst der Nomenkltura vor einer Parteispaltung und die individuelle Angst der Anwesenden, in einen Widerspruch zur Parteiführung zu geraten, sich in der Praxis ohnehin auf ein und dasselbe Szenario beziehen mußten, wirkt diese Begründung ziemlich spekulativ. Der Umstand, daß die Beschlußvorlage noch verschärft wurde, hatte für sich genommen auch nicht viel zu sagen; Berija und Kosior etwa forderten den Parteiausschluß Enukidzes schon, bevor dieser überhaupt das Wort ergriffen hatte.96 Nach den bisherigen Erkenntnissen liegt es nahe, dieses Stimmverhalten als einen Reflex des zur Geisel gemachten Abstimmungskörpers zu erklären. Oder anders ausgedrückt: Selbst wenn einzel-

94

Vgl. Getty·. The Road to Terror, S. 168. Vgl. Getty: Samokritika Rituals, S. 65-66. Vgl. auch Ders:. The Road to Terror, S. 10 und S. 323. 96 Vgl. Zukov: Tajny „Kremlevskogo dela" 1935 goda, S. 100-101. 95

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ne Plenumsteilnehmer die Lügen Ezovs restlos durchschaut und innerlich mit Enukidze gefühlt hätten, hätten sie ausreichend Grund gehabt, sich lieber nicht öffentlich für ihn einzusetzen. Denn aus einer Debatte über die Berechtigung von Enukidzes Gegenargumenten hätte sich schnell ein gefahrlicher Streit über die Widersprüche der ausufernden „Terrorbekämpfung" insgesamt entzünden können. Schließlich hatte sich die Parteielite noch einige Jahre zuvor in der Diskussion über die Gewaltmaßnahmen bei der Getreidebeschaffung in Befürworter und Gegner der stalinschen Politik gespalten. Inzwischen aber hatten die übriggebliebenen Mitglieder des zentralen Abstimmungskörpers, denen das Schicksal der Trotzkisten und Rechtsabweichler auch im vorliegenden Fall wieder deutlich vor Augen geführt worden war, ihren Geiselstatus hinreichend verinnerlicht und verhielten sich konform. Die Bestrafung des linientreuen Enukidzes für seine „mangelnde Wachsamkeit" erfolgte hier also in erheblicher Abweichung vom etablierten Szenario der erzieherischen „Selbstkritik von oben". Die Parteiführung hatte dem Missetäter zwar die Möglichkeit gegeben, als „reuiger Sünder" und nützliches Negativbeispiel in einem politischen Erziehungsdrama aufzutreten, ihn aber nicht zwingend auf diese Rolle festgelegt. Da Enukidze nicht bereit war, das Urteil des Berichterstatters Ezov als verbindlichen Parteibeschluß anzusehen, fiel die Aufgabe, für Klarheit zu sorgen, an den Abstimmungskörper zurück. Dies war insofern ungewöhnlich, als Enukidze kein Oppositioneller war und in der Auseinandersetzung noch nicht über die Generallinie, sondern scheinbar nur über die gebotene Amtsauffassung verantwortlicher Funktionäre diskutiert wurde.97 Doch hatte der tragische Chor der Nomenklatura auch den unausgesprochenen Sinn des Konflikts gut genug verstanden, um sich einstimmig auf die Seite der Anklage zu stellen. Für Stalin brachte der Verlauf des Plenums eine zusätzliche Vergewisserung, daß das Zentralkomitee ihm keinen Widerstand entgegensetzen würde. Bis zum Februar 1937 waren schon einige Verhaftungswellen des „großen Terrors" über das ganze Land hinweggerollt. Unzählige sowjetische Funktionsträger befanden sich in Haft und machten unter Druck kompromittierende Aussagen. Zwei von drei Moskauer „Bolschewikenprozessen" waren schon gelaufen, Zinov'ev, Kamenev, Pjatakov und Serebijakov und viele andere waren nicht mehr unter den Lebenden. Der Staat hatte sie, unter lautem Beifall der organisierten Sowjetgesellschaft, nach einem Schauprozeß getötet. Im Verhältnis zu seinen Mitgliedern machte das Februar-März-Plenum 1937

97

Sogar Kaganovic räumte ein, daß Enukidze sich zwar „als Kommunist diskreditiert" habe, aber trotzdem nicht als Oppositioneller anzusehen sei: Im Gegensatz zu Kamenev konnte er „seinem Charakter nach natürlich nicht mit Terroristen sympathisieren, die den besten Leuten der Partei nach dem Leben trachten". Vgl. Zukov: Tajny „Kremlevskogo dela" 1935 goda, S. 102-103.

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zwei gegensätzliche Tendenzen sichtbar.98 Einerseits verlor die Unterscheidung zwischen alten Oppositionellen und allzeit Linientreuen ihre Geltung. Das Verhalten in der Vergangenheit reichte nicht mehr aus, um einschätzen zu können, wer das Vertrauen der Parteiführung genoß und wer damit rechnen mußte, „durchgearbeitet" oder gar verhaftet zu werden. Wie Postysev erklärte, mußte man ehemaligen Oppositionellen zwar „überaus wachsam" begegnen, aber zugleich daran denken, daß „der Feind sich auch mit Vorbedacht sauber halten kann."99 Vordergründig knüpfte die Propaganda weitgehend an das leicht variierte Konzept von 1928 an. Stalin, Molotov und andere Redner verglichen die Situation explizit mit deijenigen zur Zeit der Sachty-Affäre. Schon damals hatte ein Schauprozeß der Öffentlichkeit die Gefahr der „kapitalistischen Umklammerung" vor Augen geführt und inländische „Spione und Schädlinge" präsentiert. An die Stelle der „bürgerlichen Ingenieure" waren nun aber die ehemaligen Oppositionellen gerückt. Die „Entlarvung eingedrungener Schädlinge" diskreditierte das Verhalten auch der loyalen Sowjetbevölkerung, vor allem natürlich der Parteifunktionäre. Wie schon 1928 vermißte man auch 1937 wieder überall die „Selbstkritik", die „Wachsamkeit" und die „innerparteiliche Demokratie". Die Versäumnisse in diesen Bereichen hatten das Unglück angeblich erst ermöglicht. Nun ging es also darum, zumindest nachträglich die „Lektionen der Schädlingstätigkeit" {uroki vreditel 'stva) zu verinnerlichen und für die entsprechende „politische Erziehung" der Parteimitglieder zu sorgen. Stalin machte das Plenum zu einer fast zweiwöchigen pädagogischen Veranstaltung, bei der das dramatische Tribunal über Rykov und Bucharin von trockenen Nachhilfestunden abgelöst wurde. Der Generalsekretär zeigte sich sehr enttäuscht darüber, daß die Belehrung überhaupt nötig war. Er bestand darauf, daß die Parteifunktionäre bereits genügend „Signale" erhalten hatten, um von alleine zu den richtigen Schlußfolgerungen gelangen zu können.100 Stalin und die anderen Referenten, die auf dem Plenum als Vertreter der gültigen Sichtweise auftraten, benutzten immer das gleiche primitive Mittel, um verschiedene Parteifunktionäre in Erklärungsnot zu versetzen: Sie zitierten die Aussagen verhafteter Personen, die im Verantwortungsbereich des jeweiligen CK-Mitglieds gearbeitet hatten und sich inzwischen selbst des Verrats und der „Schädlingstätigkeit" bezichtigten. Den anwesenden Genossen blieb daraufhin nichts anderes übrig, als ihren „Fehler einzugestehen" und zuzugeben, nicht wachsam genug gewesen zu sein. Auch ohne genaue Kenntnis der Hintergrundintrigen mußte jeder Plenumsteilnehmer davon ausgehen, daß 98

Die Februar-März-Sitzung ist bisher das einzige CK-Plenum der dreißiger Jahre, das vollständig veröffentlicht wurde. Vgl. Materialy fevral'sko-martovskogo plenuma CK VKP(b) 1937 goda, in: Voprosy istorii, 1992, Nr. 2-12; 1993, Nr. 2, 5-10; 1994, Nr. 1, 2, 6, 8, 10, 12; 1995, Nr. 1-12. " Materialy fevral'sko-martovskogo plenuma, in: Voprosy istorii 1995, Nr. 6, S. 4. 100 Materialy fevral'sko-martovskogo plenuma, in: Voprosy istorii, 1995, Nr. 3, S. 4.

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Stalin die Situation vollständig beherrschte und in der Lage sein würde, auch in unvorhergesehenen Momenten souverän zu reagieren. Bis auf die ehemaligen Oppositionellen schien jeder einzelne zu hoffen, glimpflich davonzukommen, wenn er die Behauptungen des NKVD widerspruchslos als Tatsachen akzeptierte und ein begrenztes, aber „aufrichtiges" Schuldbekenntnis ablegte. Stalin, Ezov, Molotov und Kaganovic trieben solcherart die verstörten Funktionäre tagelang vor sich her. Mit Ausnahme der ehemaligen Oppositionellen Rykov und Bucharin wurde aber noch niemand direkt beschuldigt, ein „Schädling" zu sein. Auch die Tagesordnung des Plenums entsprach einer didaktischen Logik. Von fünf Tagesordnungspunkten hatten vier unmittelbar mit den „Schädlingen in der Partei" zu tun. Mit den angeblichen Verschwörern Bucharin und Rykov wurde gleich zu Beginn abgerechnet. Die dramatisch inszenierte Verstoßung der ehemaligen Parteiführer sollte eine bedrohliche Atmosphäre erzeugen und die linientreue Versammlungsmehrheit so zu erhöhter Lernbereitschaft motivieren. Der folgende Teil der Veranstaltung behandelte die pädagogischen Themen: Zdanov hielt ein Referat über die Durchführung der bevorstehenden Sowjetwahlen, Molotov, Kaganovic und Ezov sprachen nacheinander über die „Lehren der Schädlingstätigkeit" in der Schwerindustrie, im Transportwesen und im NKVD, und schließlich folgte Stalins Vortrag über „Politische Erziehung der Parteikader und Maßnahmen im Kampf gegen Trotzkisten und andere Doppelzüngler in den Parteiorganisationen". Die Schuldbekenntnisse der linientreuen Funktionäre im pädagogischen Teil des Plenums wurden allerdings als ein Teil der großen Fehlerdiskussion und auch der kameradschaftlichen „Kritik und Selbstkritik" aufgefaßt. Die einzelnen Redner sprachen als verantwortliche Funktionäre von Institutionen und Organisationen, nicht aber als Vertreter einer realen oder fiktiven, ehemaligen oder noch bestehenden politischen Gruppierung. Molotov, Stalin, Kaganovic und andere Redner stellten das Plenum explizit in die Tradition der ersten samokritika-Kampagne. Molotov zitierte Stalins Worte vom April 1928, als dieser auf dem CK-Plenum erklärt hatte: „Es geht nicht darum, Schuldige zu suchen, Genossen, wenn ihr so wollt, dann sind wir alle hier die Angeklagten, angefangen von den zentralen Parteieinrichtungen bis zu den Organisationen an der Basis".101

Stalin erinnerte in seinem Schlußwort sowohl an die Sachty-Affare als auch an die erste Kollektivierungskampagne vom Frühjahr 1930. Damals habe sich das „Zentralkomitee" gezwungen gesehen, die übereifrigen Parteifunktionäre rechtzeitig auf ihre Fehler hinzuweisen. Auch heute gehe es darum, die „Kader

101

Materialy fevral'sko-martovskogo plenuma, in: Voprosy istorii, 1993, Nr. 8, S. 14.

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anhand ihrer eigenen Fehler zu erziehen". Schon einmal hätte sich die „Selbstkritik von oben" als eine erfolgreiche Erziehungsmethode herausgestellt: „Das Zentralkomitee hat diese Fehler angegriffen. Die Kader verstanden es, die Sache zum Guten zu wenden, und so haben wir unsere Kader erzogen. Wenn wir diese Fehler nicht aufgedeckt hätten, wenn das Zentralkomitee davor zurückgeschreckt wäre, manche Kader zu verwirren, Enttäuschung hervorzurufen, ... dann hätten wir die ganze Sache verdorben und unsere Kader demoralisiert. ... Jetzt haben wir keine schlechten Leiter in der Kolchosbewegung, eben weil wir ihre Fehler vollständig aufgedeckt haben, sie gezwungen haben, die Fehler einzusehen und einen neuen Weg einzuschlagen."102

Solche Parallelen waren durchaus geeignet, die Situation zu verharmlosen. Die nun wegen „mangelnder Wachsamkeit" kritisierten Parteikader konnten daraus die Hoffnung ableiten, daß ihnen auch diesmal kein ernsthaftes Ungemach drohte, solange sie glaubhaft machen konnten, daß sie „ihre Fehler eingesehen" hatten und bereit waren, aus ihnen „zu lernen". Die Parteiführung verhielt sich auch nicht konsequent, wenn es darum ging, aus den angeblichen Versäumnissen personelle Schlußfolgerungen zu ziehen. Der Fall in die Ungnade schien nicht immer von „nachweisbaren" Unterlassungssünden bei der „Schädlingsbekämpfung" abzuhängen, sondern auch von wichtigeren, aber undurchsichtigen Gesichtspunkten. Genrich Jagoda beispielsweise, der schon in den vorangegangenen Monaten empfindlich zurückgestuft worden war, geriet nach Ezovs Referat über die „Schädlingstätigkeit" im NKVD enorm unter Druck. Er mußte mit einem Schuldbekenntnis auftreten und wurde von seinen ehemaligen Mitarbeitern nachhaltig „durchgearbeitet". Aber Andrej Andreev, der von 1931-35 als Eisenbahn-Volkskommissar glücklos geblieben war, erlebte nach Kaganovics Referat keinen Augenblick der Verlegenheit. Obwohl Kaganovic auf die Amtszeit seines Vorgängers Andreev ausführlich einging, erwähnten weder er noch sonst irgendein Redner auf dem Plenum dessen Namen im Zusammenhang mit „Fehlern" und „Versäumnissen". Andreev selbst saß zu diesem Zeitpunkt für alle gut sichtbar auf dem Podium und leitete die Versammlung. Die Anwesenden begriffen, daß Andreev bei Stalin nicht in Ungnade gefallen war, und wagten daher nicht, ihn anzugreifen. In der Schwere der Schuldbekenntnisse gab es große Unterschiede. Fast alle Redner räumten in irgendeiner Weise Fehler ein. Molotov sprach allerdings nicht für sich selbst, sondern für die Parteielite insgesamt, als er mit Stalins Worten erklärte, daß „wir [selbst] schuld daran sind", daß die „Schädlingstätigkeit" solche Ausmaße annehmen konnte. Ezov kritisierte weniger die eigene Tätigkeit als vielmehr die seines Vorgängers Jagoda. Es war Ironie dabei, als er das Referat mit der Bemerkung schloß, er habe nun über die „Unzulänglichkeiten meiner (moej raboty) Arbeit" gesprochen.

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Materialy fevral'sko-martovskogo plenuma, in: Voprosy istorii, 1995, Nr. 11-12, S. 15-

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Laut Kaganovic gehörte aber zur „Selbstkritik" auch das persönliche Schuldbekenntnis. Er ging „mit gutem Beispiel" voran und schilderte ausführlich eine Reihe persönlicher Fehler. Sein Auftritt hatte sehr große Bedeutung, da er einfachen Funktionären als Schablone für ihre eigenen Schuldbekenntnisse diente und das asymmetrische Loyalitätsverhältnis bestätigte: „Ich halte es für nötig, auf eine Reihe von Personen vom Standpunkt meiner persönlichen Fehler im Personalwesen einzugehen, weil es lehrreich sein wird, da jeder sagt, daß Kaganovic jahrelang im Zentralkomitee arbeitete, die Leute auf die Posten verteilte, daß er große Erfahrung hat, und wie konnte es da soweit kommen? Ich versuche, keine allgemeine Charakteristik zu geben, sondern gehe einzeln auf die Personen ein. Ich sage jeweils ... worin der spezifische Fehler lag. Ich denke, daß die Selbstkritik darin bestehen muß, daß jeder seine konkreten Fehler aufdeckt und dadurch den Schatz der Selbstkritik bereichert."103

Das bedeutete nicht, daß man das eigene Verhalten ungünstiger darstellen sollte, als es war. Wenn Kaganovics Rede das Musterbeispiel sein sollte, wie man als linientreuer Genösse „richtig" über seine Fehler zu sprechen hatte, dann war sie zugleich auch eine Anleitung, in welchem Rahmen man sich selbst verteidigen durfte. Beispielsweise schilderte er ausführlich eine Episode, wie er seinen inzwischen als „Schädling" entlarvten Mitarbeiter Rnjazev schon Anfang 1936 überprüfen ließ und schließlich wegen Unfähigkeit von seinem Posten entfernte. „Worin bestand hier der Fehler? In folgendem... Ich habe das Material durchgesehen und behaupte, daß es ausreichte, um schon damals den Schädling in ihm zu entdecken... Wir haben ihn abgesetzt - das war, so sagt ihr, gut, und ich will keineswegs heuchlerisch abstreiten, daß das gut war; schlecht war aber, daß wir unfähig waren festzustellen, wo die Tölpelei aufhört und die Schädlingstätigkeit beginnt, und das ist am schwierigsten.. ,"104

Kaganovic erwähnte anschließend noch acht weitere „Schädlinge" in leitender Position, die er nicht rechtzeitig erkannt hatte. Manchmal hatte ihm sein Glaube an die „Pädagogik" einen Streich gespielt, wie etwa im Falle seines ehemaligen Stellvertreters Lifsic: „Als stellvertretender Minister maskierte er sich sehr geschickt. Ich werde hier nicht erzählen, wie ich ihn oft in der Anwesenheit mehrerer Personen argwöhnisch ansah. Da frage ich ihn: ,Was laufen Sie so unglücklich herum, was ist mit Ihnen? Sie sind ein Anarchist, es gibt bei Ihnen trotzkistische Überbleibsel, Sie sind ein Demagoge...' All das war pädagogisch gemeint. Wenn ich diese meine Bemerkungen so darstellen wollte, als hätte ich ihm nicht vertraut, dann wäre das nicht richtig. Im Grunde habe ich ihm vertraut, und das war im Sinne der endgültigen Ausmerzung der Überbleibsel gemeint.. ."105

Ähnlich wie Kaganovic referierte auch Vorosilov über ehemalige Mitarbeiter, die er nicht rechtzeitig als Feinde erkannt hatte.106 Nicht allen Volkskommissaren gelang es so gut wie Kaganovic, ihre Fehlerberichte mit rechtfertigen103 104 105 106

Materialy Materialy Materialy Materialy

fevral'sko-martovskogo fevral'sko-martovskogo fevral'sko-martovskogo fevral'sko-martovskogo

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in: Voprosy in: Voprosy in: Voprosy in: Voprosy

istorii 1993, Nr. 9, S. 23. istorii, 1993, Nr. 9, S. 23. istorii, 1933, Nr. 9, S. 26. istorii, 1994, Nr. 6, S. 3-17.

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den Einzelheiten anzureichern. Allerdings waren die meisten auch in einer viel unbequemeren Lage als Kaganovic, der bei Stalin keineswegs in Ungnade gefallen zu sein schien. Wenn das Plenum eine „Lehrveranstaltung" war, dann gehörte Kaganovic gemeinsam mit Molotov, Stalin und Ezov zweifellos zu den „Lehrern", die das Recht hatten, die übrigen Redner wie Schüler im Examen zu behandeln. Sie unterbrachen häufig mit Zwischenfragen, nannten aufdringlich Stichworte und erlaubten sich, die einzelnen Auftritte mit pauschalen Bewertungen abzuqualifizieren. Doch ein gewisses Maß an apologetischer Doppelsinnigkeit war bei allen festzustellen. Einerseits mußte an der Fiktion der „rationalen Fehleranalyse" festgehalten werden, doch andererseits bestand im Auditorium ein psychologisches Bedürfnis, persönliche Schuldbekenntnisse zu hören. Sinnvolle Erklärungen erhielten in den Ohren der Zuhörer schnell einen Beiklang von anstößiger „Rechtfertigung", während allzu theatralische Schuldbekenntnisse den Verdacht der Heuchelei auf sich zogen. Anders als Andreev oder Kaganovic war beispielsweise der kurz zuvor als NKVD-Chef abgelöste Genrich Jagoda tatsächlich in Ungnade gefallen. Der Vörwurf „mangelnder Wachsamkeit" mußte einen Staatsschützer besonders empfindlich treffen. In seinem Schuldbekenntnis ging Jagoda auch viel weiter als Kaganovic, schon die ersten Sätze klangen sehr kategorisch: „Genossen, ich halte die Analyse der Ursachen, die Genösse Ezov in seinem Vortrag für das gewaltige, schmähliche Scheitern der Arbeit der Organe der Staatssicherheit ausgebreitet hat, mit all ihren Bewertungen für richtig und fühle mich verpflichtet zu sagen, daß genau ich der Schuldige an dieser Lage bin, die Genösse Ezov im NKVD vorgefunden hat. Da ich etwa achtzehn Jahre lang im NKVD leitende Aufgaben erfüllt habe, verstehe ich mit besonderer Schärfe, wie richtig und genau die Fehler in der Arbeit der Staatssicherheitsorgane aufgedeckt wurden."107

Er räumte ein, daß der NKVD schon 1931 genügend Informationen erhalten hatte, um die „faschistischen Banden" zu entlarven. Da Stalin schon damals in seinem Brief an die Zeitschrift „Proletarskaja revoljucija" den Trotzkismus als Ideologie der „internationalen Konterrevolution" bezeichnet hatte, hätte man die Trotzkisten auch schon damals als Verschwörer dingfest machen können, so lautete Jagodas selbstkritische Schlußfolgerung. Bevor er anschließend dazu überging, auf die Mitverantwortung seiner Untergebenen hinzuweisen, erklärte er vorsorglich: „Ich werde auf einige Ursachen eingehen, nicht um mich zu rechtfertigen, sondern damit alle Tschekisten daraus eine solche Lehre ziehen können, die eine Wiederholung der gemachten Fehler verhindert, solange die Tscheka besteht."108

Dann kritisierte er ausgiebig die Tätigkeit seiner ehemaligen Untergebenen und stellte sich selbst als einen schwachen Volkskommissar hin, der die „Zügel 107 108

Materialy fevral'sko-martovskogo plenuma, in: Voprosy istorii, 1995, Nr. 1, S. 3. Materialy fevral'sko-martovskogo plenuma, in: Voprosy istorii, 1995, Nr. 1, S. 4.

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nicht in der Hand gehalten" und es nicht verstanden habe, die „Durchführung von Maßnahmen zu kontrollieren".109 Er beteuerte, den leitenden Mitarbeiter Molcanov, der kurz zuvor als Feind entlarvt worden war, gar nicht recht gekannt zu haben. Auch diese zweifelhafte Behauptung erhielt ihren Doppelsinn erst durch die gefährliche Situation. Für einen Geheimdienstchef war soviel Ignoranz zwar überaus peinlich, für einen potentiellen Verdächtigen aber ein Entlastungsargument. Und solange niemand den Verdacht offen ausgesprochen hatte, konnte Jagoda dem Vorwurf entgehen, er wolle sich verteidigen, indem er seine faktische Selbstverteidigung als Selbstanklage hinstellte. „Jagoda: Ich bin jetzt davon überzeugt, daß Molcanov ein Verräter ist. Wie er verbunden war, mit wem er verbunden war - das müssen die Ermittlungen herausfinden. Mir fällt es schwer, darüber zu sprechen, weil ich seine Verbindungen überhaupt nicht kannte. Ich wußte nicht einmal, daß er enge Verbindungen mit Furer hatte. Skiijatov: Das ist ja gerade das Schlechte, daß du nichts wußtest. Jagoda: Das ist ganz schlecht, daß ich das nicht wußte. Eben deswegen rede ich ja auch davon, wenn das gut wäre, würde ich nicht davon reden."110

Nach seiner Rede wurde Jagoda von den folgenden Rednern „durchgearbeitet". Besonders taten sich die ehemaligen Kollegen vom NKVD hervor. Sie waren keineswegs damit einverstanden, daß Jagoda seine „Verantwortung" auf ihre Schultern abwälzen wollte. Balickij warf Jagoda vor, seine „politischen Fehler" zuwenig erwähnt zu haben, und wurde dabei von Molotov unterstützt.111 Aber da die Debatte nicht nur den Fehlern Jagodas, sondern den Versäumnissen des NKVD ingesamt gelten sollte, mußten auch die Kollegen allesamt sich selbst kritisieren. Sogar Ezov sah sich nach Jagodas Rede genötigt, in seinem Schlußwort auf persönliche „Fehler" einzugehen, die er in seinem Referat verschwiegen hatte.112 Die Parteiführung hielt sich mit scharfer Kritik an Jagodas Auftritt weitgehend zurück. Der vereinzelte Vorschlag des Genossen Zukov, Jagoda sofort verhaften zu lassen, fand keine Unterstützung."3 Die genaue Betrachtung der „Schuldbekenntnisse" darf aber nicht darüber hinwegtäuschen, daß die einfachen CK-Mitglieder in dieser Situation nicht nur vor dem Problem standen, eine politisch korrekte Rede zu formulieren und dabei ihre Selbstachtung zu wahren. Als der Volkskommissar für Rüstungsindustrie, Moisej Ruchimovic, seinen verhafteten Kollegen Pjatakov allzu vehement als „Schurken, Verräter, Übeltäter und Oberbanditen" beschimpfte, rief Stalin beispielsweise dazwischen: „Was kämpfst du denn jetzt mit ihm, wo der Kampf vorbei ist!"114 Wie so häufig erweckte auch hier die übertriebene Wiederholung der aktuellen Lo109 110 111 112 113 114

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fevral'sko-martovskogo plenuma, in: Voprosy istorii, 1995, Nr. 1, S. 7-8. fevral'sko-martovskogo plenuma, in: Voprosy istorii, 1995, Nr. 1, S. 6. fevral'sko-martovskogo plenuma, in: Voprosy istorii, 1995, Nr. 1, S. 21. fevral'sko-martovskogo plenuma, in: Voprosy istorii, 1995, Nr. 2, S. 16. fevral'sko-martovskogo plenuma, in: Voprosy istorii, 1995, Nr. 2, S. 21. fevral'sko-martovskogo plenuma, in: Voprosy istorii, 1994, Nr. 2, S. 6.

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sungen nur Mißtrauen. Sollten die starken Worte nicht davon ablenken, daß Ruchimovic sich der Jagd auf „Schädlinge" zuvor stets widersetzt hatte?115 Mehrere Funktionäre versuchten hartnäckig, die laufende samokritika strikt als eine rationale Fehlersuche aufzufassen, und konzentrierten sich auf die realen Ursachen der drängenden Probleme. Sie waren zwar zu persönlichen Schuldbekenntnissen bereit, wollten aber die gefahrlichen Zuspitzungen der Schädlingsparanoia weiträumig umschiffen. Der bedeutendste Vertreter dieser Haltung war Sergo Ordzonikidze, der kurz vor dem Plenum durch einen Revolverschuß ums Leben gekommen war.116 Auf dem Plenum nahmen viele ehemalige Mitarbeiter Ordzonikidzes immer noch eine ähnliche Haltung ein. Ezov tadelte sie darum scharf für diesen Ressort-Egoismus (vedomstvennosty. „Keiner ... hat versucht darzulegen, was er konkret vorschlägt, um die Lehren zu berücksichtigen, die man aus der Schädlingstätigkeit, der Spionage, der Diversion all dieser ... jüngst entlarvten Schurken ziehen muß."117

Dies stimmte nicht; fast alle Redner hatten praktische Vorschläge gemacht, wie sie ihre Arbeit verbessern und so den Spielraum fur potentielle „Schädlingsarbeit" einschränken könnten. Sie hatten nur zu wenig Eifer gezeigt, sich bei der „Entlarvung" weiterer „Schädlinge" zu engagieren. Ezov verhehlte nicht seinen Haß auf die Volkskommissariate, die ihre Mitarbeiter immer gegen das NKVD verteidigen wollten: „Die Motive sind ganz unterschiedlich, aber das wichtigste Motiv ist folgendes: Was werde ich denn jetzt machen, den Plan muß ich erfüllen, das ist mein leitender Ingenieur oder Abteilungsleiter, was werde ich machen? Ich antworte gewöhnlich: ,Sag danke, du Lump, daß wir diesen Menschen holen, sag danke, daß wir den Schädling holen.""18

Aber nicht nur die Industriefunktionäre verfolgten diese Strategie, sondern beispielsweise auch der ziemlich unbedeutende Volkskommissar für die Sowchosen, Moisej Iosifovic Kalmanovic. Da während seines Auftritts die Frontlinie zwischen der entlarvungswütigen Parteiführung und manchen widerspenstigen Funktionären besonders gut sichtbar wurde, soll der Dialog hier etwas ausführlicher zitiert werden. Zunächst sprach Kalmanovic nur von den Problemen, Fehlern und Versäumnissen seines ministeriellen Alltags: „Genösse Antipov hat richtig daraufhingewiesen, daß unsere Schuld in den Versäumnissen mit den Organisationsplänen liegt. Wir haben uns um andere Fragen gekümmert anstatt um das Wesentliche - die Organisationspläne."119

115

Materialy fevraFsko-martovskogo plenuma, in: Voprosy istorii, 1994, Nr. 2, S. 9. Wie Oleg Chlevnjuk aufgezeigt hat, stand der Tod Ordzonikidzes im Zusammenhang mit dessen Unzufriedenheit über die Politik der Massenverhaftungen. Vgl. Chlevnjuk: Stalin i Ordzonikidze, S. 95-117. 117 Materialy fevral'sko-martovskogo plenuma, in: Voprosy istorii, 1994, Nr. 2, S. 19-20. 118 Materialy fevral'sko-martovskogo plenuma, in: Voprosy istorii,1994, Nr. 2, S. 21. 119 Materialy fevral'sko-martovskogo plenuma, in: Voprosy istorii, 1994, Nr. 6, S. 21. 116

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Die Mitglieder von Stalins Machtgruppe wurden ungeduldig. Wann würde Kalmanovic endlich anfangen, von den trotzkistischen Schädlingen zu sprechen? Es kam zu einem regelrechten Tauziehen. „Kalmanovic: In den Getreidesowchosen haben wir viel überflüssige Technik. ... Sie können zum Beispiel mit einem Mechaniker für den Mähdrescher auskommen anstatt mit zweien... Die Direktoren der besten Sowchosen kümmern sich schon darum. Skiijatov: Darum geht es nicht, sondern darum, daß du die Kader nicht kennst. Kalmanovic: Ich komme noch darauf. Skirjatov: Wenn du deine Kader kennen würdest, dann gäbe es so etwas nicht. Kalmanovic: Das weiß ich. Skiijatov: Du kennst sie nicht und hast ein schlechtes Verhältnis zu ihnen. Kalmanovic: Ich komme noch darauf. Jetzt rede ich von etwas anderem, davon, daß wir viele Möglichkeiten haben, unsere Finanzlage zu verbessern. Cubar': Und die Schädlingstätigkeit? Kalmanovic: Es wäre falsch, wenn ich sagen würde, daß die Tatsache, daß die Sowchosen noch schlecht arbeiten, nur das Resultat von Schädlingstätigkeit wäre. Zweifellos, die Schädlinge haben unsere schlechte Arbeit ausgenutzt ... aber auch wir haben noch nicht alles genügend durchdacht, um unsere Arbeit richtig zu organisieren... Ich denke, daß ich keinen Fehler mache, wenn ich jetzt über die großen Mißstände rede, die es bei uns gab und die wir beachten müssen. Molotov: Sie vergessen das Wichtigste. Kaganoviö: Sagen Sie schon, daß bei Ihnen in der Bijsker Getreidesowchose jahrelang ein großer Schädling saß. Kalmanovic: Kudijasov. Kaganovic: Warum haben Sie ihn nicht bemerkt, die Sowchose arbeitete sehr schlecht, warum haben sie ihn nicht entlarvt? Hier geht es nicht um die Frage Ihrer Tätigkeit, um die Unzulänglichkeiten dieser Tätigkeit, sondern um das Schädlingswesen, das es bei Ihnen gegeben hat, Sie führen keinen einzige Tatsache an und bringen sich in eine schwierige Situation." ... Kalmanovic: Genösse Ezov hat in seiner Rede gefragt, warum niemand auftritt und über das Programm zur Liquidierung der Folgen der Schädlingsarbeit spricht. Damit habe ich angefangen. Stimme: Stimmt nicht. Kaganoviö: Da treiben Sie ein geschicktes Spiel. Genösse Ezov sprach über das Schädlingswesen. Kalmanovic: Ich sagte, daß ich am Ende noch auf meine schlechte Arbeit mit den Kadern eingehen werde. Kaganovic: Warum am Ende? Das ist die Hauptsache. Kalmanovic: Habe ich wenigstens einen Schädling entlarvt? Keinen einzigen. (Verhaltenes Gelächter). Skirjatov: Weil du von nichts gewußt hast. Kalmanovic: Weil ich nicht angenommen habe, daß das Schädlingsarbeit sein kann. Ich dachte, das wäre schlechte Arbeit. Darin besteht meine Schuld, das ist mein Fehler. Da saß Kudijaäov, hat die Bijsker Sowchose zugrunde gerichtet, er ist der alte Direktor. Wir haben ihn abgelöst, aber auf eine andere Sowchose versetzt. Das ist unser Fehler, wir haben uns mit ihm nicht so auseinandergesetzt, wie es sich gehört hätte."120

In Übereinstimmung mit Gettys Ritualtheorie müßte man den Auftritt Kalmanovics als ein mißglücktes „Entschuldigungsritual" auffassen, das der Red120

Materialy fevral'sko-martovskogo plenuma, in: Voprosy istorii, 1994, Nr. 6, S. 22-23.

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ner durch seine Begriffstutzigkeit verpatzt hatte. Eine solche Deutung wäre in diesem Fall aber kaum aufrechtzuerhalten. Niemand konnte dumm genug sein, um am achten Tag dieses Plenums nicht verstanden zu haben, was Stalin, Molotov und Kaganovic besonders gerne gehört hätten. Es ging aber weniger um die Regeln eines „Rituals", sondern um die gefahrlichen Konsequenzen der ausufernden Schädlingsparanoia. Soweit dies aus dem Stenogramm hervorgeht, kamen die unzufriedenen Zwischenrufe fast ausschließlich aus dem inneren Führungszirkel, während es im Saal eher still blieb. Wenn Kalmanovic die Aufforderung zur „Fehlersuche" in eine Verteidigungsstrategie umzuwandeln versuchte, dann dachte er möglicherweise nicht nur an sein eigenes Schicksal, sondern auch an das seiner Mitarbeiter.121 Daß er sich mit diesem Auftritt nicht die Gunst Ezovs, Stalins und Kaganovics einhandelte, muß er gewußt haben. Vergleicht man den Verlauf des Februar-März-Plenums 1937 mit den Debatten des April-Plenums 1928, so erkennt man leicht die gewachsene Rolle von Schuldbekenntnissen. Damals hatte Kaganovic bei seinen Kollegen noch ironische Reaktionen ausgelöst, als er in selbstkritischem Ton von seiner eigenen Tätigkeit sprach. Inzwischen sahen sich fast alle Teilnehmer genötigt, sich in den defensiven Habitus des „schlechten Schülers im Examen" zurückzuziehen. In peinlichen Dialogen, die an Prüfungsgespräche erinnerten, reproduzierte sich ein eindeutiges Autoritätsverhältnis zwischen „Herrn und Knecht". Dennoch kam es nicht zu einem Wettlauf der Selbstbeschuldigungen. Die Beteiligten loteten vielmehr aus, wie weit sie gehen mußten und wie weit nicht. Gelegenheiten zur impliziten Selbstverteidigung wurden nicht ausgelassen. Man gab genau so viel zu, wie man zugeben mußte, um die Postulate der herrschenden Schädlingslehre nicht in Frage zu stellen. Alle Schuldbekenntnisse bezogen sich immer noch auf eine loyale, pädagogische Beziehung zur Parteiführung und hatten kaum Ähnlichkeit mit der „Kapitulation" von Oppositionellen. Von allen linientreuen Funktionären, die jemals einem „Kesseltreiben" zum Opfer fielen, bekleidete Pavel Petrovic Postysev den höchsten Rang. Beim Januar-Plenum 1938 wurde das Zentralkomitee zum vorerst letzten Mal Arena eines solchen Schauspiels.122 Postysev war schon im Jahr zuvor bei Stalin in Ungnade gefallen, weil er sich als Mitglied der ukrainischen Parteiführung zu selbstherrlich verhalten hatte. Wie viele andere mußte er sich auf dem Februar-März-Plenum 1937 wegen „mangelnder Wachsamkeit" selbst kriti-

121 Beispielsweise widersprach er Kaganoviös Ansicht, daß sich unter den Mechanikern der Reperaturwerkstätten viele gefährliche „Sozialrevolutionäre, Menschewiken und Trotzkisten" befänden. Materialy fevral'sko-martovskogo plenuma, in: Voprosy Istorii, 1994, Nr. 6, S. 23. 122 Zu diesem Vorfall vgl. Chlevnjub. Politbjuro, S. 217-233; Ders.: Stalinskoe Politbjuro ν 30-e gody, S. 159-167; Getty: The Road to Terror, S. 499-512.

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sieren.123 Anschließend war er aus der ukrainischen Parteileitung abberufen und zum Leiter der Kujbysever Parteiorganisation ernannt worden, was einer empfindlichen Degradierung gleichkam. Seinen Status als Politbürokandidat hatte er allerdings behalten. Im August 1937 war Stalins Emissär Andreev auf seiner Inspektionsreise nach Kujbysev gekommen und hatte bemängelt, daß bislang zu wenig Feinde entlarvt worden seien.124 Anschließend hatte Postysev eine fieberhafte Entlarvungskampagne eingeleitet, in deren Verlauf zahllose Mitglieder ausgeschlossen und über dreißig lokale Parteikomitees (rajkomy) komplett aufgelöst worden waren. Doch im Januar 1938 entschloß sich die zentrale Parteiführung plötzlich dazu, die außer Kontrolle geratene Suche nach Feinden innerhalb der Partei abzubremsen. Sie warf den Regionalorganisationen vor, viele „ehrliche" Kommunisten zu Unrecht ausgeschlossen zu haben.125 Schon der Politbürobeschluß vom 9. Januar ließ erkennen, daß Postysev das Negativbeispiel abgeben würde, das den Sinn des Politikwechsels verständlich machen sollte. Die Auflösung der Rayonkomitees wurde darin als „politisch schädlich" und „provokatorisch" bezeichnet und Postysev als Gebietsparteisekretär abgesetzt.126 Doch war dieses Urteil für die Parteiführung offenbar kein Hindernis, Postysev gleich darauf zum Vorsitzenden der Kommission für Sowjetkontrolle zu designieren. Es gibt Hinweise darauf, daß Postysev am 12. Januar ein vertrauliches Gespräch mit Stalin führte, der sich anerkennend über seine Leistungen geäußert haben soll.127 Vielleicht legte Postysev deswegen auf dem Plenum am 14. Januar kein besonders demütiges Schuldbekenntnis ab. Er gestand zwar freimütig ein, daß seine Parteiorganisation beim Ausschließen von Parteimitgliedern „maßlos mißtrauisch" gewesen sei, hielt sein Vorgehen bei der Auflösung von 34 lokalen Komitees aber nicht für außergewöhnlich.128 Als ihn die Zwischenrufer unterbrachen, begann er sogar, sich zu verteidigen. Er verstand anscheinend gar nicht, was sie von ihm wollten.

123

Materialy fevral'sko-martovskogo plenuma, in: Voprosy istorii, 1995, Nr. 6, S. 3 - 8 und Nr. 9, S. 3-28. m Vgl. Chlevnjuk: Sovetskoe rukovodstvo, S. 366-367. 125 Wie Arch Getty dargestellt hat, sollten die entsprechenden Beschlüsse des Plenums aber nicht die Verhaftungswelle als solche beenden, sondern lediglich die vom Zusammenbruch bedrohte mittlere Parteihierarchie stabilisieren. Vgl. Getty: The Road to Terror, S. 4 9 3 498. 126 Chlevnjuk: Politbjuro, S. 225; Oers.: Stalinskoe Politbjuro ν 30-e gody, S. 167; Getty: The Road to Terror, S. 501-502. 127 Diese Darstellung von Postysevs Sohn (L. Postysev: Iz uchodjascego proslogo. Fakel. Istoriko-revoljucionnyj almanach, Moskau 1989, S. 203) hält Chlevnjuk fiir glaubwürdig. Vgl. Chlevnjuk: Politbjuro, S. 223. Die Designation Postysevs zum Leiter der Kontrollkommission läßt sich mit Archivdokumenten belegen. Vgl. ebenda und Ders.: Stalinskoe politbjuro ν 30-e gody, S. 166. 128 Chlevnjuk: Stalinskoe politbjuro ν 30-e gody, S. 159.

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„ Postysev: Die Führung dort, sowohl in den Sowjets wie in der Partei, war eine feindliche, angefangen von der Gebietsleitung bis zu den Rayons. Mikojan: Alle? Postyäev: Die Rayonleitung. Was ist daran verwunderlich? ... Nehmen wir etwa die Vorsitzenden der Rayonexekutivkomitees - alles Feinde. 66 Vorsitzende von Rayonexekutivkomitees - alles Feinde... Bulganin: Es kommt also heraus, daß es keinen einzigen ehrlichen Menschen gab. Postysev: Ich rede von dem Kopf der Leitung. Im Leitungsapparat gab es unter den Sekretären der Rayonkomitees, den Vorsitzenden der Rayonexekutivkomitees fast keinen einzigen ehrlichen Menschen. Was wundert Ihr euch denn so?"129

Postysev rechtfertigte seine Rechtfertigung mit „Aufrichtigkeit": „Ob schlecht oder gut, ich spreche aufrichtig und denke aufrichtig."130 In Postysevs Rede spiegelte sich die Verfolgungshysterie des Jahres 1937 in vollem Ausmaß wider. Die Rollenverteilung des Dialogs erhöht den Eindruck der Groteske. Die Parteiführung und das Kollektiv des Zentralkomitees tat nun so, als sei nur Postysev dem Verfolgungswahn zum Opfer gefallen. Wie Arch Getty treffend formulierte, „propagierte Postysev einen Text aus dem Jahre 1937, der nun aber veraltet war."131 Die folgenden Redner unterzogen seinen Auftritt einer vernichtenden Kritik. Stalin behauptete in einem Zwischenruf, die Auflösung der Rayonkomitees komme einer „Erschießung der Parteiorganisation" gleich.132 Nikolaj Ignatov hatte als Parteisekretär in Kujbysev mit Postysev zusammengearbeitet und machte seinen Chef nun lächerlich. Vor dem Besuch Andreevs hätte es „überhaupt keinen Kampf mit den Feinden" gegeben, danach habe Postysev begonnen, sie hysterisch „mit der Lupe" zu suchen und überall „faschistische Hakenkreuze" zu sehen.133 Der aussagekräftigste Redebeitrag kam von Lazar Kaganovic. Er charakterisierte Postysev als einen Funktionär, der sich als unfähig erwiesen hatte, rechtzeitig auf zentrale Anweisungen richtig zu reagieren. Schon als Parteisekretär von Kiev, wie auch später, sei er nicht in der Lage gewesen, „den Feind vom Freund" zu unterscheiden, und panisch von einem Extrem ins andere gefallen. Während alle „ehrlichen Bolschewiken" im zurückliegenden Jahr der Schädlingsjagd „mehr gelernt hatten, als sonst in einem Jahrzehnt", hätte Postysev überhaupt nichts begriffen.134 Über den Menschen Postysev kam Kaganovic zu einem bemerkenswert widersprüchlichen Urteil. Als politischer Führer habe Postysev „bankrott gemacht". Das Zentralkomitee könne ihn nach einer solchen Rede nicht mehr, wie vorgesehen, zum Vorsitzenden der Kommission für Sowjetkontrolle ernennen. Den-

129 130 131 132 133 134

Chlevnjuk: Stalinskoe politbjuro ν Chlevnjuk·. Stalinskoe politbjuro ν Getty. The Road to Terror, S. 503. Chlevnjuk: Stalinskoe politbjuro ν Chlevnjuk'. Stalinskoe politbjuro ν Chlevnjuk: Stalinskoe politbjuro ν

30-e gody, S. 161. 30-e gody, S. 162. 30-e gody, S. 164. 30-e gody, S. 164. 30-e gody, S. 165.

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noch schien Kaganovic immer noch für möglich zu halten, daß Postysev sich „bessern" könne: „Wenn Genösse Postysev ... sich aufrichtig und ehrlich umwandeln kann, seine Eigenliebe überwindet und wie ein Bolschewik jede beliebige Arbeit ausführen wird, - dann kann er sich als Funktionär der Partei erhalten."135

Doch zugleich behauptete Kaganovic, Postysev von einer neuen Seite erkannt zu haben. Dessen Rede sei „zutiefst unaufrichtig" (sugubo neiskrenne) gewesen.136 Kaganovic fand eine bemerkenswert unlogische Erklärung dafür, weshalb ein unlängst gemaßregelter Funktionär so selbstbewußt auftreten konnte: „Das Politbüro verurteilt... die gröbsten Verzerrungen der Parteilinie, löst dich als Sekretär des Gebietskomitees ab, und du trittst hier in aller Ruhe auf, als ob nichts geschehen wäre... Entweder bist du ein so willensstarker Mensch, der nicht von dieser Welt stammt, der denkt: Mich kann das nicht berühren, ich gehe daran vorbei. Aber das ist Unfug. Wir kennen dich gut. Wir wissen, wie du auf jede Kleinigkeit reagierst, die dich betrifft. ... Woran liegt es also? Offenbar daran, daß du ein Spiel treibst (chitris'), und das ist das Neue, das ich an Postysev hier, auf diesem CK-Plenum entdeckt habe."137

Es bleibt rätselhaft, an was für ein „Spiel" Kaganovic dachte. Wenn Postysev mit theatralischer „Reue" aufgetreten wäre, dann hätte man ihm schließlich genausogut vorwerfen können, er sei „unaufrichtig", „manövriere" oder „treibe sein Spiel". Vielleicht war Kaganovic vom Selbstbewußtsein Postysevs wirklich so überrascht, daß ihm kein anderer Vorwurf einfiel. Möglicherweise handelte es sich aber auch um eine frontale Replik auf Postysevs Beteuerung, in seiner Selbstverteidigung zumindest „aufrichtig" zu sein. Vielleicht mußte die bolschewistische Tugend der „Aufrichtigkeit" einem angehenden Feind unbedingt aberkannt werden, notfalls auch ohne Plausibilität. Wie auch immer, jedenfalls war nun der Verdacht laut geworden, daß sich hinter Postysevs politisch schädlicher Hexenjagd mehr verbergen könnte als nur „Tolpatschigkeit". Im Verlauf der Sitzung verlor Postysev schließlich die Nerven. Er bettelte das Präsidium an, ihm außerhalb der Reihe das Wort zu erteilen, mußte aber bis zum Schluß warten. Erst dann hatte er endlich die Gelegenheit, das Plenum für seinen „parteifeindlichen Auftritt um Verzeihung zu bitten" und seine Loyalität gegenüber der Partei zu beteuern.138 Dramatische Unterwerfungsgesten dieser Art waren auf Parteiversammlungen eigentlich unüblich. Anschließend beschloß das Plenum auf Stalins Vorschlag, Postysev seinen Status als Politbürokandidat abzuerkennen, ihn aber im Zentralkomitee zu belassen.139 Gemessen an der Situation erscheint diese Bestrafung bemerkenswert milde. 135 136 137 138 139

Chlevnjuk: Chlevnjuk: Chlevnjuk·. Chlevnjuk: Chlevnjuk:

Stalinskoe Stalinskoe Stalinskoe Stalinskoe Stalinskoe

politbjuro politbjuro politbjuro politbjuro politbjuro

ν ν ν ν ν

30-e 30-e 30-e 30-e 30-e

gody, gody, gody, gody, gody,

S. S. S. S. S.

166. 165. 166. 166-167. 167.

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Doch schon einen Monat später wurde er - wegen derselben Angelegenheit von der Kommission für Parteikontrolle aus der Partei ausgeschlossen und verhaftet.140 Wie soll man diesen Vorgang nun in die Geschichte der politischen Kultur einordnen? Offensichtlich sollte das Plenum nach dem Modell der „Selbstkritik von oben" die Öffentlichkeit auf ein Ende der exzessiven Parteisäuberung vorbereiten. Ähnlich wie acht Jahre zuvor im Artikel „Vor Erfolgen vom Schwindel befallen" wurden auch nun wieder die ausfuhrenden Parteifunktionäre als Sündenböcke präsentiert, die die politische Führung (und nun auch das NKVD) von der Verantwortung entlasten sollten. Eine eventuelle Reue und Besserung Postysevs hätte auch hier als Teil des Lernprozesses aufgefaßt werden können, den ein großer Teil der Gesamtpartei durchlaufen mußte. Insbesondere Kaganovics Stellungnahme suggeriert, daß ein reuiger Postysev eigentlich reintegriert werden sollte, sich aber durch seine Unfähigkeit, diese Rolle glaubwürdig auszufüllen, endgültig diskreditierte. Unter den gegenwärtigen Historikern ist Arch Getty von dieser Annahme fest überzeugt.141 Doch gerade die Plausibilität dieser Erklärung gibt Anlaß, nach den Ursachen für Postysevs Unfähigkeit zu fragen. So vermittelt die Behandlung des Missetäters in der Woche vor dem Plenum nicht den Eindruck, daß die Parteiführung auf den reibungslosen Ablauf eines moralischen Schauspiels von „Reue und Versöhnung" besonderen Wert gelegt hätte. Zur besagten Politbürositzung vom 9. Januar wurde Postysev nicht hinzugezogen, und auch im persönlichen Gespräch scheint Stalin ihm keine klaren Hinweise gegeben zu haben, wie er auftreten sollte.142 Dem Beschuldigten wurde selbst überlassen, wie er mit dem Vorwurf umging, „politisch schädlich" und „provokatorisch" gehandelt zu haben. Stalin hatte ganz offensichtlich nichts dagegen, daß die Situation ihre Eigendynamik behielt und zum Schauspiel einer gewaltträchtigen „Entlarvung" eskalieren konnte. Schließlich barg diese inquisitorische Versuchsanordnung - bei der das gegenseitige Loyalitätsverhältnis zu Postysev aufgehoben war - für den Diktator keinerlei Risiko. Wenn Postysev sich selbst schwer beschuldigte, dann konnte ihm die Verantwortung für die exzessiven Massenverhaftungen um so leichter angelastet werden; wenn er sich aber sträubte, dann ergab sich einmal mehr die Möglichkeit, die in Freiheit verbliebenen Mitglieder des Zentralkomitees auf ihn zu hetzen, auf die neue Linie festzulegen und für alle denkbaren Gewaltmaßnahmen gegen Postysev mitverantwortlich zu machen. Auch Stalins Obsession, daß jeder politische

140

Getty·. The Road to Terror, S. 514-517. Vgl. Getty: The Road to Terror, S. 498-513. Chlevnjuk neigt dagegen zur Ansicht, daß Stalin Postysev mehr oder weniger absichtlich ins Messer laufen ließ. Vgl. Chlevnjuk: Politbüro, S. 216-229. 142 Zur Teilnehmerliste der Sitzung vgl. Chlevnjuk: Stalinskoe politbjuro ν 30-e gody, S. 249. 141

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Kurswechsel gegen irgend jemandes „Opposition" durchgesetzt werden mußte, konnte so wieder einmal unter Beweis gestellt werden. Daß der Abstimmungskörper auf Postysevs Rede mit so heftiger Ablehnung reagierte, ist hingegen kaum weiter verwunderlich. Schließlich hatten die Stimmfiihrer des „Kesseltreibens" kurz zuvor mehrheitlich an der Politbürositzung teilgenommen und möglicherweise schon dort zu einer gemeinsamen Position gefunden. Vielleicht hätten die Kollegen Postysev milder behandelt, wenn er sein Fehlverhalten entschiedener verurteilt hätte. Immerhin dominierten in Kaganovics Anklagerede noch die „erzieherischen" Momente des samokritika-Gedankens.143 Andererseits waren die Ankläger Postysevs, die zu diesem Zeitpunkt guten Grund hatten, sich selbst vor einer Verhaftung zu furchten, möglicherweise froh darüber, im gegebenen Moment ihre Verläßlichkeit unter Beweis stellen zu können. Die Konzentration kollektiver Aggressivität auf einen auszustoßenden „Genossen" erinnert stark an die Abrechnung mit den ehemaligen Oppositionellen. Dennoch war es nicht der Abstimmungskörper, der hier über seine Zukunft irgendeine wirksame Entscheidung fällte. Die zu erwartenden Gewaltmaßnahmen wurden durch die Angriffe der Kollegen lediglich psychologisch vorbereitet und vorauseilend gerechtfertigt. Es ist also sehr fraglich, ob man das renitente Verhalten Enukidzes und Postysevs vom Standpunkt der „bolschewistischen Parteidisziplin" her tatsächlich so eindeutig bewerten kann, wie Arch Getty es tut, der die Bereitschaft, notfalls auch erfundene Beschuldigungen auf sich zu nehmen, für eine absolute Verpflichtung hält, „selbst wenn es den Tod bedeutete". Die Bolschewiki beteuerten zwar gerne ihre Bereitschaft „für die Partei ihr Leben hinzugeben", wollten dann aber auch als Helden sterben. Auch die unzähligen Briefe, die in Ungnade gefallene Funktionäre an die Parteispitze schrieben, lassen nur den Schluß zu, daß sie für ihre „bedingungslose Ergebenheit" eben doch eine Gegenleistung erwarteten - nämlich dasjenige Quantum an gegenseitiger Loyalität, das ihnen zumindest die Existenz garantieren würde. Der stellvertretende Volkskommissar für Schwerindustrie Zavenjagin schrieb etwa eine Woche nach seiner Absetzung im März 1938 an Molotov: „Ich bitte Sie, mir wenigstens ... das allerminimalste Vertrauen zu schenken, und schwöre Ihnen, daß Sie unter keinen Umständen betrogen sein werden."144 In Nikolaj Ezovs Brief an Stalin heißt es: „Ich gebe mein bolschewistisches Wort ... mich an jeder beliebigen Aufgabe zu bewähren ... und das Vertrauen des Zentralkomitees zu rechtfertigen".145 Solche Briefe enthielten gewöhnlich auch ein mehr oder weniger ausführliches Fehlerbekenntnis, dessen Bedeutung man aber nicht

143

Vgl. Chlevnjuk·. Stalinskoe politbjuro ν 30-e gody, S. 165-166. Chlevnjuk. Sovetskoe rukovodstvo, S. 392. 145 V Politbjuro CK VKP(b) tov. Stalinu. 23.11.1938, in: Chlevnjuk: Stalinskoe politbjuro ν 30-e gody, S. 168-171. 144

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verabsolutieren sollte. Es spricht wenig dafür, daß Stalin sich nicht stärker von anderen Kriterien beeinflussen ließ, wenn er über das Schicksal der Absender entschied. Nikolaj Ezov, der seine Fehler auf anderthalb Schreibmaschinenseiten katalogisierte, konnte der Verhaftung und Erschießung jedenfalls nicht entgehen, während Avramij Zavenjagin, der nach seiner Entlassung beteuerte, „vor der Partei ein reines Gewissen zu haben", bald darauf zum Leiter des Nickelkombinats im Polarkreis ernannt wurde. Auch in den folgenden fünfzehn Jahren erwartete Stalin von getadelten Funktionären intern regelmäßig demütige Schuldbekenntnisse. Der Vorgang verlor die Schärfe, die ihn während der Terrorphase gekennzeichnet hatte, und gewann wieder mehr Ähnlichkeit mit einer autoritären Erziehungsmethode. Die gerügten Funktionsträger waren zwar fast immer zu Schuldbekenntnissen bereit, nutzten aber auch weiterhin, so gut sie konnten, den schmalen Spielraum für implizite Selbstverteidigung. Im Juli 1940 etwa mußten sich die Justizfunktionäre Nikolaj Ryckov und Michail Pankrat'ev vor dem Plenum des Zentralkomitees verantworten. Ihnen wurde die mangelhafte Durchführung des Gesetzes vom 26. Juni des gleichen Jahres zur Last gelegt, von dem noch die Rede sein wird.146 Beide legten ein Schuldbekenntnis ab und machten zugleich mildernde Umstände geltend. Ryckov gab zwar zu, eine beanstandete Verordnung ohne Billigung des SNK herausgegeben zu haben, verwies aber darauf, daß die Regierung ihn zuvor zum selbständigen Handeln ermutigt habe. Der Unionsstaatsanwalt Pankrat'ev hielt sich hingegen zugute, seine Vorgehensweise zwischendurch korrigiert zu haben, wenn auch nicht in ausreichendem Maße.147 Beide wurden vom Plenum gerügt und Pankrat'ev sogar seines Postens enthoben; dennoch konnten sie ihre Karriere später erfolgreich fortsetzen.148 Diesmal verfolgte die politische Führung offenbar tatsächlich vorrangig das Ziel, ein dringendes gesellschaftliches Problem zu lösen. Stalin verlangte erzieherische Schuldbekenntnisse aber nicht nur von subalternen Funktionären wie Ryckov und Pankrat'ev, sondern auch von seinen ranghöchsten Mitarbeitern. Molotov soll sogar einmal in Tränen ausgebrochen sein, als Stalin ihn im Herbst 1945 für eine zu laxe Kontrolle der westlichen Korrespondenten rügte. Später beteuerte er Stalin brieflich seine Absicht, des-

146 Vgl. Piter Solomon: Sovetskaja justicija pri Staline, Moskau 1998, S. 299-301; Α. N. Jakovlev (Red.): 1941 god, Dokument Nr. 74. Pankrat'ev und Ryökin waren keine Mitglieder des Zentralkomitees. 147 Vgl. Solomon: Sovetskaja justicija pri Staline, S. 300. MS Vgl. V. I. Ivkin: Gosudarstvennaja vlast' SSSR. Vyssie organy vlasti i upravlenija i ich rukovoditeli. 1923-1991. Istoriko-biograficeskij spravocnik, Moskau 1999, S. 459-460 und S. 506-507.

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sen Vertrauen „durch Taten wieder zu erlangen."149 Als Mikojan einmal für die Probleme der Nahrungsmittelversorgung getadelt wurde, schrieb er an Stalin: „Niemand ... versteht es so wie Sie, Fragen so auf den Punkt zu bringen. ... Ich werde all meine Kraft aufbieten, um aus Ihrer scharfen Kritik Lehren zu ziehen, damit mir diese in meiner weiteren Arbeit unter Ihrer väterlichen Führung (pod vasim otcovskim rukovodstvom) nützlich sein werden."150

Yoram Gorlizki nennt solche Gesten eine „Demonstration familiärer Pietät gegenüber dem Vater und Hausherrn" und schlägt in diesem Zusammenhang vor, den spätstalinistischen Herrschaftsapparat als „neopatrimonial" zu bezeichnen.151 Tatsächlich hatte sich die Praxis der loyalen Schuldbekenntnisse seit den Präzedenzfällen Baumans und Jaroslavskijs deutlich verändert: Sie war beinahe alltäglich geworden, wurde meistens diskret abgehandelt und bezog sich häufig auf das ganz persönliche, ja sentimentale Gnadenverhältnis gegenüber dem Vater und Lehrer. Wenn prominente Parteimitglieder in den zwanziger Jahren Schuldbekenntnisse ablegten, dann handelte es sich meistens um oppositionelle Kapitulationen. In den dreißiger Jahren verdichtete sich diese Praxis mehr und und mehr zu einem Ritual, das Stalins ehemalige Konkurrenten persönlich entwürdigen sollte. Unabhängig von Stalins ursprünglichen Intentionen leistete es einen wichtigen Beitrag dazu, die Parteigesellschafit psychologisch auf die Ausrottung der Oppositionellen vorzubereiten. Nachdem diese abgeschlossen war, verschwand es bis zu Stalins Tod weitgehend aus den Versammlungen der Parteispitze. Am Ende von Stalins Herrschaft kam es fast nur noch zu solchen Fehlereingeständnissen, die sich auf die ausführende Funktionärstätigkeit bezogen. Von Stalin zur Rede gestellt, bekannten die Amtsträger ihre Fehler und beteuerten ihre Loyalität. Häufig wurden sie daraufhin in die Gemeinschaft reintegriert und konnten ihre Karriere an anderer Stelle fortsetzen. Während der Terrorphase ließen sich beide Arten von Schuldbekenntnissen allerdings nicht immer so gut unterscheiden wie noch während des FebruarMärz-Plenums 1937. Die Fälle Enukidze (1935) und Postysev (1938) wurden hier besonders intensiv diskutiert, da sie nicht eindeutig zugeordnet werden konnten. Trotz ihrer Linientreue und ihrer grundsätzlichen Bereitschaft zur Reue wurden diese beiden Funktionäre nicht reintegriert, sondern - ähnlich wie die Oppositionellen seit 1927 - per Abstimmungsvotum demonstrativ ausgegrenzt. So unterschiedlich diese Episoden auch interpretiert werden können, so machen sie doch sehr gut deutlich, daß es nicht dem Abstimmungskörper,

149 Yoram Gorlizki·. Ordinary Stalinism: The Council of Ministers and the Soviet Neopatrimonial State, 1946-53, in: The Journal of Modern History 74 (2002), Nr. 4, S. 699-736, hier S. 719. 150 Gorlizki: Ordinary Stalinism, S. 719. 151 Gorlizki: Ordinary Stalinism, S. 718 und S. 699-705.

2. Die loyale Sowjetbevölkerung wird zur Rede gestellt

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sondern nur dem Patriarchen zukam, die Begnadigung auszusprechen. Wenn Stalin, Kaganovic oder Molotov aber die falschen Stichworte fallen ließen, eskalierte die Situation zu einer „Treibjagd".

2. Die loyale Sowjetbevölkerung wird zur Rede gestellt Szenen aus dem Alltag Die allermeisten Sowjetbürger befanden sich als Individuen außerhalb der Sichtweite des Politbüros. Weder gehörten sie zum Parteimilieu, noch verbreiteten sie ideologisch heikle Theorien oder beteiligten sich gar an oppositionellen Gruppierungen. Von den einfachen Menschen in ihrem Verantwortungsbereich verlangte die lokale Obrigkeit im wesentlichen zwei Dinge: die engagierte Teilnahme an den Ritualen der politischen Akklamation und eine hinreichende Lern- und Arbeitsleistung. Um ihrer Forderung Nachdruck zu verleihen, gebrauchte sie gegenüber ihren Untertanen ähnliche Mittel wie die Parteiführung gegenüber Oppositionellen, Funktionären oder Intellektuellen. Sie schuf eine lokale „sozialistische Öffentlichkeit", in der jeder einzelne Bürger damit rechnen mußte, vor den Augen aller über seine politische Haltung, sein Benehmen und seine Arbeitsleistungen Rechenschaft ablegen zu müssen. Manchmal wurden dabei auch explizite Schuldbekenntnisse eingefordert oder abgelegt, häufig aber auch nicht. Sie waren gewiß nicht das sinnstiftende Zentrum des vermachteten Kommunikationsfeldes zwischen Herrschaft und Untertan, das vielmehr als ein komplexes Ganzes betrachtet werden muß. Die Untersuchung wird sich daher im folgenden Abschnitt nicht auf Schuldbekenntnisse beschränken, sondern die wirksamen Praktiken des Zur-Rede-Stellens im Rahmen der „sozialistischen Öffentlichkeit" insgesamt betrachten. Im Mittelpunkt wird die obrigkeitliche Betreuung der Arbeiterschaft und der Jugend stehen, also zweier gesellschaftlicher Gruppen, die vom Regime als ideologische und politische Stützpfeiler angesehen wurden.152 Häufig wird das Dreiecksverhältnis zwischen der Moskauer Zentralmacht, der lokalen Obrigkeit und den einfachen Sowjetbürgern sichtbar werden. Doch soll sich das Hauptaugenmerk nicht auf die Vorgänge innerhalb der Komsomol- oder Gewerkschaftsapparate, sondern auf das direkte Aufeinandertreffen der Obrigkeit mit der Bevölkerung richten.

152 Der Begriff „Jugendbetreuung" bezieht sich hier nicht nur auf die Mitglieder des Komsomol, sondern auf alle Kinder und Jugendlichen, für die eine sowjetische Institution sich zuständig fühlte, ob Schule, Betrieb oder der Komsomol. Im Sinne des Komsomolstatuts zählen hier aber zu den Jugendlichen auch junge Erwachsene, die vom Alter her Komsomolzen hätten sein können.

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Der Versuch Oleg Kharkhordins, das Kommunikationsfeld mit dem Konzept des panoptischen kollektiv zu beschreiben, bietet sich zunächst als theoretischer Bezugspunkt an.153 Mit kollektiv bezeichnet Kharkhordin ein spezifisches soziales Verhältnis von Sowjetbürgern, die sich gegenseitig überwachten und im Sinn der höheren, auf die Errichtung des Kommunismus gerichteten Moral aufeinander einwirkten. In der pädagogischen Theorie und Praxis Anton Makarenkos erkennt Kharkhordin das idealtypische Modell des kollektiv. Makarenko hatte in den zwanziger Jahren ein Vorbild geschaffen, wie in einer losen, zufalligen Gruppe von Kindern und Jugendlichen das Gefühl der gegenseitigen Verantwortung gestärkt und so ein gefestigtes Kollektiv geformt werden konnte, in dem dieser Mechanismus schließlich selbsttätig funktionierte. Die Erziehung von Kollektiv und Individuum erfolgte dabei gleichzeitig.154 Das System der wechselseitigen Verantwortung, das sich in gegenseitigen Beurteilungen, Identitätsbestimmungen, Ermahnungen und gegebenenfalls auch Bestrafungen manifestierte, war ein Generator sowohl kollektiver wie individueller Identität. Gerade darin erkennt Kharkhordin die Übereinstimmung des von Makarenko eingeführten erzieherischen Kollektivs mit den sowjetischen Techniken der Herrschaftsausübung.155 Allerdings weist Kharkhordin auch darauf hin, daß sich das sowjetische kollektiv weitgehend unabhängig von Makarenkos Einfluß in einem erratischen Prozeß von „Versuch und Irrtum, Sätzen und Sprüngen" entwickelt hat.156 Obwohl sein Modell, das die gesamte in Kollektiven organisierte Sowjetgesellschaft in direkte Beziehung zu einem Projekt der Kinder- und Jugenderziehung setzt, dies nahe gelegt hätte, reflektiert Kharkhordin kaum die Kategorien der Mündigkeit und des Erwachsenseins. Doch offenkundig mußten Makarenkos Techniken der Jugenderziehung einen strukturellen Sinnwandel erfahren, sobald sie auf Erwachsene angewandt wurden, die nach allgemeiner Auffassung die gesellschaftliche Reife bereits erreicht hatten. Im folgenden 153

Da Kharkhordin das russische Wort kollektiv in seiner englischen Originalausgabe als Schlüsselbegriff einführte, soll diese Schreibweise hier übernommen werden, um sein Konstrukt zu bezeichnen. 154 Vgl. Kharkhordin·. The Collective and the Individual, S. 104 und S. 203. 155 „Makarenkos Techniken zur Objektivierung eines Individuums durch den Gruppendruck entsprechen der allgemeinen Form der Sowjetmacht. Er betonte das Wesentliche: Wer ein kollektiv formt, formt zugleich ein bestimmtes Individuum, ... kollektiv und licnost' sind zwei Seiten der gleichen Medaille." Kharkhordin·. The Collective and the Individual, S. 212. Vgl. auch die Passagen S. 90-91, 113-115, 128-129, 174-175 und S. 208-212. Wie bereits in der Einleitung erwähnt, leugnet Kharkhordin die Bedeutung von individuellen Schuldbekenntnissen im sowjetischen kollektiv und behauptet, daß vielmehr die gegenseitige Beschuldigung (oblicenie) die „zentrale Praxis der Selbstkritik" gewesen sei. Doch da auch das Makarenko'scher kollektiv von den Beschuldigten irgendeine positive Reaktion erwartete, wäre wohl treffender zu formulieren, daß es den Disziplinverletzer „zur Rede stellte". Richtig ist, daß häufig keine expliziten Schuldbekenntnisse eingefordert wurden. 156

Kharkhordin·. The Collective and the Individual, S. 211.

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Teilkapitel soll versucht werden, den pädagogischen Anspruch der sowjetischen Öffentlichkeit aus diesem Blickwinkel zu hinterfragen. Um das Gespräch zwischen dem Regime, der Obrigkeit und der Bevölkerung im Einzelfall richtig bewerten zu können, scheint es sinnvoll, prinzipiell zwischen zwei Ebenen dieser Beziehung zu unterscheiden: Die Ebene politischer Akklamation einerseits und die Ebene pädagogischer Disziplinierung andererseits. Schließlich wurde nicht nur von Parteimitgliedern, sondern von allen als loyal eingestuften Sowjetbürgern eine aktive Teilnahme an der politischen Willensbildung erwartet. Im Kampf mit den übriggebliebenen Befürwortern der alten Ordnung, in der Auseinandersetzung mit den innerparteilichen Abweichungen wie auch bei episodischen Konflikten an der Basis verlangte das Regime die Unterstützung aller. Demonstrationen, Wahlen, Abstimmungen und viele andere politische Veranstaltungen gaben jedem einzelnen Bürger Gelegenheit zu zeigen, auf wessen Seite er stand. Alle Arbeitskollektive, Studentengruppen und Schulklassen bildeten neben ihrer eigentlichen Bestimmung zugleich einen demokratischen Abstimmungskörper, in dem - unabhängig von der formalen Zuständigkeit - sowohl über die eigenen Angelegenheiten als auch über Fragen der großen Politik gesprochen und abgestimmt werden konnte. Im Gegensatz zur Partei arbeiteten derartige Versammlungen ohne feste Satzung und kannten kein formelles Fraktionsverbot, doch in politischen Angelegenheiten war es praktisch unmöglich, gegen die vorgegebene Linie zu opponieren. Das Prinzip des „freiwilligen" Bekenntniszwangs galt aber nicht nur bei öffentlichen Abstimmungen. Prinzipiell sollten die Sowjetbürger immer und überall, auch im Arbeitsalltag oder im Privatleben, ja sogar in der Körpersprache ihre Parteinahme verdeutlichen.157 Auf dieser politischen Beziehungsebene führte das eifersüchtige Bestreben des Regimes, von jedem einzelnen Untertanen jederzeit demonstrativ unterstützt zu werden, zu einer impliziten Statusaufwertung der einzelnen Menschen. Die Meinung von Arbeitern und Angestellten, insbesondere von Frauen und Jugendlichen, erhielt damit eine symbolisch viel höhere Bedeutung als in einer traditionellen, patriarchalischen Gesellschaft. Sogar der einsamste und schwächste Untertan wurde wie ein mächtiger, gefährlicher Feind bekämpft, sobald er das Tabu brach und das Bild der politischen Einmütigkeit in Frage stellte. In solchen Situationen wurden selbst Schulkinder fast so unnachgiebig zur „Kapitulation" gezwungen wie einstmals die Trotzkisten.

157 Zur Zeit der Massen Verhaftungen erkannte Nadezda Mandelstam sogar im beharrlichen Lächeln der sowjetischen Angestellten ein Loyalitätsbekenntnis: „Alle gingen ihrer Arbeit nach, alle lächelten, ... Fehlte das Lächeln, so bedeutete das Angst oder Unzufriedenheit, und solche Gefühlsregungen wollte keiner zugeben: Wenn jemand Angst hat, dann hat das seine Gründe - er hat ein schlechtes Gewissen..." Nadeschda Mandelstam: Das Jahrhundert der Wölfe. Eine Autobiographie, Frankfurt am Main 1971, S. 351.

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Auf einer anderen, mehr zukunftsorientierten Ebene abstrahierte das Regime von den ererbten politischen Kämpfen und betrachtete die Untertanen als Erziehungsobjekte, die auf dem Weg in die kommunistische Zukunft diszipliniert und kultiviert werden mußten. Der erzieherische Anspruch gehörte zwar von Anfang an zum Selbstverständnis des sowjetischen Staates, aber erst Ende der zwanziger Jahre war es gelungen, die Arbeitermassen auch wirksam in das stalinistische Erziehungsverhältnis mit einzubinden (im zweiten Kapitel wurde dieser Vorgang im Zusammenhang mit der „Selbstkritik von oben" beschrieben). Doch abgesehen davon, daß die Betriebspolitik nach dem Prinzip der gegenseitigen Kontrolle funktionierte, hatte sie nur sehr entfernte Ähnlichkeit mit der Kommune Makarenkos. Obwohl das Regime sich dessen wohl kaum bewußt war, wiederholten die Methoden des „sozialistischen Wettbewerbs", der Leistungstabellen, der Selbstverpflichtungen und der Wandzeitungen statt dessen altbekannte Mittel der Kindererziehung, wie sie sich etwa in Katharina Rutschkys Quellensammlung zur „Schwarzen Pädagogik" dokumentiert finden.158 Dieser polemische Begriff aus der zweiten Hälfte des zwanzigsten Jahrhundert wollte eine Erziehung denunzieren, die Kinder nicht zu mündigen Persönlichkeiten reifen läßt, sondern zu dressierten Untertanen heranzüchten will und die ihren pädagogischen Anspruch gerne als Vorwand zur narzißtischen Machtausübung mißbraucht. Die Pädagogisierung gesellschaftlicher Machtverhältnisse zwischen Erwachsenen bedeutete im stalinistischen Alltag tendenziell die Infantilisierung der Untertanen. Da „Erziehung" im stalinistischen Verständnis fast immer eine quasi-patriarchale Unterordnung des Erziehungsobjekts unter den Erzieher voraussetzte, erfuhren der erwachsene Sowjetbürger, auch der Familienvater, das Parteimitglied oder sogar der Volkskommissar eine Einbuße an Mündigkeit. Während einer Parteisäuberung mußten sich auch Respektspersonen „wie Schulkinder" behandeln lassen. Und weil Pädagogen seit jeher Kinder dazu aufforderten, sich gegebenenfalls „zu entschuldigen" oder „sich zu bessern", kann es kaum überraschen, daß auch die sowjetische Obrigkeit Schülern und Arbeitern mitunter Ähnliches abverlangte. Für die Zeitgenossen bot die aufgenötigte Infantilisierung sogar einen gewissen Schutz. Je erziehungsbedürftiger ein Sowjetbürger zu sein schien, um so weniger neigte die Obrigkeit dazu, sein Fehlverhalten auf einen bösen Willen zurückzufuhren. 158 Katharina Rutschky (Hrsg.): Schwarze Pädagogik: Quellen zur Naturgeschichte der bürgerlichen Erziehung, Berlin 1997. Vgl. darin insbesondere: v. Rochov: Aufforderung zur Unterwerfung, S. 4-6; Weisse: Der erzieherische Wert einer Hinrichtung, S. 6-9; Campe: Einkreisung eines fehlerhaften Kindes, S. 183-184; Weisse: Das Tagebuch als Erziehungsmittel, S. 185-188; Sailen Der Kodex der Kinderbildung enthält nur zwei Gebote, S. 189191; Feder: Die Bücher des Fleißes, der Ehre und der Schande, S. 531-532; Schreber: Die Rügentafel, S. 532. Vgl. auch Helga Glantschnig: Liebe als Dressur. Kindererziehung der Aufklärung, Frankfurt am Main 1987.

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Der Bekenntniszwang in der politischen Kampfsituation und der obrigkeitliche Erziehungsanspruch im beruflichen und schulischen Alltag waren also gewissermaßen die beiden Dimensionen des Kommunikationsfeldes zwischen der Obrigkeit und den Untertanen. Um zu gewährleisten, daß die Untertanen sich wirksam kontrollierten und bewährten, ermahnte das Regime die lokale Obrigkeit immerzu, die „Verbindung mit den Massen" aufrechtzuerhalten und allen Personen im erweiterten Zuständigkeitsbereich intensive „Aufmerksamkeit" zu schenken. Die Tugend der „einfühlsamen Aufmerksamkeit" (cutkoe vnimanie) für die Persönlichkeit und die Arbeitsleistung der Untertanen, für ihre Gefühle und Neigungen, unterschied einen guten Partei-, Komsomol- oder Gewerkschaftsfunktionär vom „verknöcherten Bürokraten". Die Aufmerksamkeit begriff sich zunächst als eine Form der elterlichen Sorge, zugleich aber auch als prophylaktische Variante der politischen „Wachsamkeit". Diese „sozialistische Öffentlichkeit" vereinte die Traditionen des alten marxistischen Kollektivideals, die Funktionsweise des bolschewistischen Abstimmungskörpers und die relativ neuen Gedanken der „Selbstkritik" und der „proletarischen Demokratie".159 In der folgenden Untersuchung des Jugend- und des Arbeitnehmermilieus soll daher pragmatisch zwischen drei verschiedenen Erscheinungsweisen der sozialistischen „Öffentlichkeit" an der Basis unterschieden werden: Zuerst wird die Auseinandersetzung beschrieben, die sich aus der episodischen Mißachtung des politischen Bekenntniszwangs ergeben konnte und nach dem Vorbild des Abstimmungskörpers als Scherbengericht beigelegt wurde, dann soll gezeigt werden, welche Rolle die konstruktive samokritika als „Selbstkritik von unten" spielen konnte, ehe zum Schluß die erzieherische Einwirkung des obrigkeitsgelenkten „Kollektivs" auf den Disziplinverletzer dargestellt wird. Das Regime erwartete auch von Kindern, Jugendlichen und Heranwachsenden eine Mitwirkung an der politischen Willensbildung. In Schulen, Universitäten, Betrieben und Kasernen organisierte der Komsomol neben internen Sitzungen auch öffentliche Versammlungen, an denen grundsätzlich alle Jugendlichen teilnehmen sollten. In den Abstimmungskörpern mußten ideologische Opposition und Rebellionsbereitschaft sichtbar werden. Wer nach dem Kirov-Mord an die revolutionären Verdienste Trockijs oder Zinov'evs oder gar an die Vorteile der Zarenherrschaft erinnerte, wurde kurzerhand aus dem Komsomol ausgeschlossen, ohne daß man ihn lange darum gebeten hätte, die Äußerung zurückzunehmen.160 Das gleiche galt für die 159 Bucharin hoffte 1927 darauf, daß die entstehende sowjetische Öffentlichkeit (sovetskaja obscestvennost) schließlich den Kommunen-Staat (gosudarstvo-kommuna) hervorbringen würde, der von Köchinnen regiert werden kann. Vgl. Bucharin: Kul'turnye zadaCi i bor'ba s bjurokratizmom, in: Revoljucija i kul'tura, 1927, Nr. 2, S. 5-12. 160 Die höheren Parteiinstanzen forcierten eine solche Haltung. Als etwa der Komsomolze Rumjancev im Dezember 1934 die im Zusammenhang mit dem Kirov-Mord ergriffenen außerordentlichen Maßnahmen kritisierte, erhielt er von seiner Komsomolgruppe am Mos-

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Kameraden, die solche Äußerungen nicht sofort denunzierten oder sich nicht eindeutig genug von ihren „entlarvten" Eltern distanzierten. Die Appellationskomission der Moskauer Komsomolzentrale bestätigte solche Ausschlüsse routinemäßig, ohne den Betroffenen noch Gelegenheit zu nachholender „Reue" zu lassen.161 Solche Fälle waren sehr zahlreich und sind gut dokumentiert, unterschieden sich aber nicht wesentlich von analogen Verhältnissen in anderen Bereichen der organisierten Sowjetgesellschaft. Interessanter ist das Verhalten von Lehrern und Komsomolsekretären, die auch völlig arglos gemeinte Äußerungen von Kindern und Jugendlichen plötzlich als Ausdruck einer politischen „Opposition" auffaßten. Dann wurde die Schulklasse ganz unvorhergesehen zu einem Abstimmungskörper und die linientreue Mehrheit formierte sich unter der Leitung des Gruppenleiters zum entschlossenen Kampf gegen den Widersacher, bis dieser „bereute". Der Philologe Aleksandr Zovtis erinnert sich etwa daran, wie er sich als Schulkind über den bevorstehenden Besuch des damals als Held verehrten Polarfliegers Sirsov freute. Voller Begeisterung rief er aus: „Wunderbar! Geben sie bei uns ein Gastspiel (gastrolirujut)?" Diese Wortwahl erinnerte aber zu sehr an eine triviale Theatervorstellung, was im Februar 1938 dem politischen Sinn der offiziellen Flugbegeisterung nicht gerecht wurde. Der junge Aleksandr wußte nicht, wie ihm geschah: „Für das hingeworfene Wörtchen .Gastspiel' wollte man mich von den Pionieren ausschließen, wobei diese Operation nach allen Regeln der Kunst durchgeführt wurde - mit Aussprachen und Erörterungen auf Versammlungen, wo ehrliche Reue verlangt war und unsere noch unreifen Aktivisten flammende patriotische Reden hielten... Ich wurde trotz allem nicht... ausgeschlossen. Meine Lehrer hatten genug Mut und gesunden Menschenverstand (damals brauchte man das in solchen Fällen), um meine .politisch schädliche' Äußerung irgendwie unter den Teppich zu kehren."'62

Die „Regeln der Kunst" sahen in diesem Fall vor, daß die Pionierobrigkeit sich nicht beeilte, selbst eine Strafe auszusprechen, sondern auch die Mitschüler dazu heranzog, eine empörte gesellschaftliche Öffentlichkeit und einen Abstimmungskörper zu formen. Das Exempel wurde statuiert, offizielle Werte wurden befestigt, und die Strafe erhielt eine gesellschaftliche Legitimation. Interessanterweise erwähnt Zovtis zwar das Verlangen nach „ehrlicher Reue", führt seine Verschonung aber nicht auf die Unterwerfungshandlung, sondern kauer Historisch-philologischen Institut lediglich einen „strengen Verweis". Das übergeordnete Komsomol-Komitee tadelte daraufhin die Gruppe für diesen „Liberalismus", setzte den Gruppenleiter ab, Schloß Rumjancev aus und erteilte zwei Kameraden einen Verweis, die sich gegenüber Rumjancev zu „liberal" verhalten hatten. RGASPI-CChDMO, f. 1, op. 23, d. 1106,1. 14. Informacii, spravki ... ob antisovetskich vystuplenijach ν VUZach, technikumov i skolach. 161 Vgl. RGASPI-CChDMO, f. 1, op. 23, dd. 1118 und 1178. Protokoly zasedanii komissii po priemu i iskljucenii iz VLKSM, appeljacionnoj komissii. 1936 god. 162 Aleksandr iovtis: Nepridumannye anekdoty. Iz sovetskogo proslogo, Moskau 1995, S. 39-40.

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nur auf die Weisheit seiner Lehrer zurück. Nicht immer hatten diese deutlich mehr gesunden Menschenverstand als das übergeordnete Parteikomitee. Manchmal waren es gerade die Erzieher der untersten Hierarchieebene, die den Kindern eine so grotesk übertriebene Ehrfurcht vor den Attributen der Macht abverlangten, daß die höhergestellten Instanzen beschwichtigend eingreifen mußten. Auf einer internen Sitzung des Voronezer Parteikomitees erzählte ein Funktionär 1936 folgenden Fall: „In der siebten Schule arbeitete die Pionierleiterin die Beschlüsse des Komsomol-Zentralkomitees durch. Da wird gesagt, daß jede Pioniereinheit zehn Mitglieder haben müsse. Ein Mädchen meldete sich zu Wort und sagte: ,Wenn in einer Einheit zehn Personen sind und vier oder fünf davonlaufen (das sagte sie aus Erfahrung) dann können ja gar keine Übungen mehr stattfinden'. Die Pionierleiterin sagte: ,Das heißt, du bist mit dem Beschluß des Zentralkomitees nicht einverstanden. Leg das Halstuch ab.'163 Das Mädchen zog das Halstuch aus, dann begriff sie, was das zu bedeuten hatte, und forderte das Halstuch zurück. Man sagte ihr, du bekommst das Halstuch nicht zurück, das geht durch alle Instanzen. ... Es vergehen drei Tage, man versammelt sich, den Fall zu besprechen, man nennt ihn: ,Einen Ausfall gegen die Entscheidung des Zentralkomitees.' ... Da ist schon ein hauptamtlicher Pionierleiter dabei, der für Geld arbeitet. Anderthalb Stunden lang bedrängt man dieses Mädchen. Sie versuchte wegzulaufen, aber man hielt sie fest. Man brachte sie soweit, daß sie anfing zu schreien, wegrannte und in Ohnmacht fiel. Der Schularzt kam, brachte sie wieder zu Bewußtsein und man gab ihr das Halstuch zurück. Damit war die Sache nicht vorbei. Man beschloß, ihr wegen ihrer , Ausfälligkeit gegen die Entscheidung des Zentralkomitees' eine strenge Rüge mit Verwarnung zu erteilen.. ,"164

Die höheren Instanzen distanzierten sich zwar von dem Vorfall, aber die Pionierleiterin hatte dieses Procedere nicht selbst erfunden. Die Mechanismen der stalinistischen Herrschaft werden dort besonders gut sichtbar, wo sie sich verselbständigten. In diesem Fall offenbart sich der Unterschied zwischen der politischen und der pädagogischen Dimension besonders deutlich in der Auffassung von Mündigkeit. Dieselbe Obrigkeit, die sonst stets dazu neigte, erwachsene Menschen zu infantilisieren, behandelte Schulkinder plötzlich wie voll verantwortliche Erwachsene, sobald man aus ihren Äußerungen Protest gegen politische Entscheidungen herauslesen konnte. Auf einmal waren sie potentiell gefährliche Gegner, deren „Opposition" man entschlossen bekämpfen mußte. Der elementare Zusammenhang von öffentlicher Willensbildung, dem kleinen Abstimmungskörper und der Nötigung zu individuellen Fehlereingeständnissen zeigte sich auch in der Reaktion auf den Selbstmord von Jugendlichen. Der Suizid war aus Sicht von Staat und Partei ein besonders empfindliches Ärgernis, da er nicht nur die Stimmung jugendlicher Zukunftseuphorie trübte, sondern auch zum Kristallisationspunkt einer kollektiven Unzufriedenheit

163

Das Halstuch der Pioniere war das symbolische Äquivalent des Parteibuchs. RGASPI-CChDMO f. 1, op. 23, d. 1171. Spravki, zapiski otdela, komitetov komsomola ο boleznennych javlenijach, politiceskich osibkach ν dejatel'nosti nekotorych komsomol'skich organizacii. 1936,1. 124. 164

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werden konnte.165 Das umfangreiche Material, das die Moskauer Komsomolzentrale zusammentrug, dient den Historikern heute als wichtige sozialgeschichtliche Quelle zur stalinistischen Jugendpolitik. Sobald das System und die „Obrigkeit" sich durch Selbstmord moralisch unter Druck gesetzt fühlten, versuchten sie diesen mit den Mitteln der obscestvennost' abzufedern. Üblicherweise kam es zu einer allgemeinen Aussprache über die möglichen Ursachen, die sogar zur samokritika-typischen Aufdeckung von „Mißständen" fuhren konnte. Wenn der Suizid als politische Protesthandlung aufgefaßt wurde, dann bestand der Komsomol kategorisch darauf, daß die Mitschülerinnen und Mitschüler die Tat moralisch verurteilen sollten. Über seinen Tod hinaus war der Selbstmörder ein gefahrlicher Feind, den man isolieren und bekämpfen mußte. So etwa Anna Podsypanina, eine erfolgreiche Studentin des Moskauer Luftfahrt-Technikums GVF, die aus dem Komsomol ausgeschlossen worden war, weil sie angeblich ihre bürgerliche Klassenherkunft verschwiegen hatte. Am 15. März 1935 warf sie sich vor einen Zug und kam ums Leben. In ihrem Abschiedsbrief protestierte sie leidenschaftlich gegen ihren Ausschluß und appellierte an das Gerechtigkeitsgefühl der Nachwelt.166 In ihrem tragischen Monolog stellte sie das Recht der Obrigkeit in Frage, die Klassenidentität der Menschen willkürlich zu definieren. Da unzählige sowjetische Menschen sich in einer ähnlichen Situation befanden wie Podsypanina, hätte ihr Protest - unterstrichen durch den Selbstmord - möglicherweise Nachahmungstäter und -täterinnen finden können. Auch wenn nicht mehr als ein halbes Dutzend Eingeweihter den Abschiedsbrief zu Gesicht bekam, so ist dennoch anzunehmen, daß die Kameradinnen und Kameraden ihre Motive kannten. Die Komsomolleitung des Instituts nahm die Herausforderung der toten Podsypanina jedenfalls „mutig" an und brachte die Kameraden dazu, folgende Resolution zu verabschieden: „Die allgemeine Komsomolversammlung verurteilt den Selbstmord Podsypaninas entschieden als einen gegen den Komsomol gerichteten Ausfall des Klassenfeindes... Als Antwort auf den Ausfall Podsypaninas schließt die Versammlung die Reihen des Komsomols noch fester um unsere Partei beim Aufbau einer klassenlosen sozialistischen Gesellschaft."167

165 Zum Verhältnis des Regimes zum jugendlichen Selbstmord vgl. Monika Wellmann : Integrationsprobleme und Ausgrenzungserfahrungen: Abschiedsbriefe junger Selbstmörder aus Moskau (1920er Jahre); Vera Spiertz: Geheime Berichte über den Freitod junger Rotarmisten (1923-1927) und andere Beiträge in: Corinna Kuhr-Korolev, Stefan Plaggenborg;, Monika Wellmann (Hrsg.): Sowjetjugend 1917-1941: Generation zwischen Revolution und Resignation, Essen 2001. 166 „Was kann es für ein Leben geben, wenn das Komsomolkollektiv und die Fliegerei darin keinen Platz mehr haben. Gestern habe ich kaum noch am Unterricht teilgenommen - ich sah nur aus dem Fenster auf das ... gleitende Segelflugzeug, auf die Flugzeuge, auf die Fallschirmspringer." RGASPI-CChDMO f. 1, op. 23, d. 1106. Informacii, spravki, ob antisovetskich vystuplenijach ν VUZach, technikumach i skolach, 1. 25-26. 167 RGASPI-CChDMO f. 1, op. 23, d. 1106,1. 29.

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Wenn Jugendliche ihren Selbstmordversuch überlebten, mußten sie sich häufig selbst von dieser Handlung distanzieren; so auch drei Studentinnen des Landwirtschafts-Technikums Tatiscevo. Ihr Vergiftungsversuch war kein politischer Protest, sondern entsprang nur Zweifeln am Sinn des Lebens. Der Komsomol reagierte zwar recht versöhnlich, identifizierte aber auch diese „melancholische Grundhaltung" als „schädliche Ansicht", von der die Studentinnen sich skurrilerweise in der gleichen Weise „lossagen" (otmezevat'sja) sollten wie einst die Trotzkisten vom Trotzkismus.168 Obwohl die „sozialistische Öffentlichkeit" immer und überall vom „Prinzip der Selbstkritik" bestimmt sein sollte, wurde das Schlagwort samokritika in bestimmten Momenten gezielt als Aufforderung zur „Kritik von unten" reaktiviert. Schon während der ersten Selbstkritik-Kampagne 1928 spielte der Komsomol eine herausragende Rolle. Das respektlos „kritische" Auftreten der „leichten Kavallerie" gegenüber sowjetischen Funktionsträgern wurde zur typischen Erscheinung dieser Zeit.169 Schon im dritten Kapitel wurde beschrieben, wie sich aufstrebende Studenten Anfang der dreißiger Jahre mit ideologischer „Kritik von unten" an ihren Professoren profilierten.170 Der „revolutionäre" Elan flaute wieder ab, aber auch später übten Jugendliche Kritik an Lehrern, Dozenten, Funktionären und Wohnheimverwaltern. Die höheren Parteiinstanzen nutzten manchmal spektakuläre Vorfälle, um an ausgewählten Orten Exempel zu statuieren. Dann wurden Mißstände aufgedeckt, Funktionäre gemaßregelt und die Basis zur „Kritik von unten" aufgefordert. War Selbstmord der Anlaß, widmete die Komsomolzentrale dem Fall besondere Aufmerksamkeit und sammelte Material, das von Historikern heute intensiv ausgewertet wird. Nach dem Tod der jungen Arbeiterin Loskutova brachte die Untersuchung etwa zutage, daß sie einer frauenfeindlichen Hetzkampagne zum Opfer gefallen war und daß 1934 in den Wohnbaracken der Magnitogorsker Großbaustelle skandalöse Zustände herrschten.171 Mehr Glück hatte der Komsomolze Korsunov, der seinen Selbstmordversuch überlebte und von der anschließenden Untersuchung noch profitieren konnte.172 Korsunov arbeitete in einer Kalugaer Fabrik und versuchte dort seit langem, auf dem Weg der „Selbstkritik von unten" gegen die Mißachtung der Arbeiterrechte anzukämpfen. Da die Gewerkschaft und die Fabrikleitung nicht reagierten, versuchte 168 Spravki, zapiski otdela, komitetov komosomola ο boleznennychjavlenijach, politiCeskich osibkach ν dejatel'nosti nekotorych komsomol'skich organizacii (1936). RGASPI-CChDM O f . 1, op. 23, d. 1171,1. 25. 169 Zur „leichten Kavallerie" vgl. Anatolyj Anatol'evic Slezin: „Legkaja kavalerija" komsomola ν sisteme politiceskogo kontrolja, in: Voprosy Istorii, 2001, Nr. 11-12, S. 131-136. 170 Vgl. dazu auch Konecny: Builders and Deserters, S. 115-120. 171 RGASPI-CChDMO f. 1, op. 23, d. 1072. Politiceskie spravki organov OGPU, NKVD, komitetov komsomola, pis'ma grazdan i drugie dokumenty ο dejatel'nosti antisovetskich organizacii, ο chuliganstve sredi molodezi i po drugim negativnym javlenijam ν molodeznem dvizenii. 1934 goda, 1. 30-36. Der Fall ereignete sich im April 1934. 172 RGASPI-CChDMO f. 1, op. 23, d. 1072,1. 55-59.

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er schließlich eigenmächtig, die Arbeiter zu einer Versammlung einzuberufen und einen kollektiven Protestbrief aufzusetzen. Der Parteiorganisator Rodionov konnte dieses Vorgehen nicht akzeptieren und zitierte Korsunov auf die Komsomolversammlung, wo er einstimmig ausgeschlossen und der Fabrikleitung nahegelegt wurde, ihn zu entlassen. Am nächsten Tag versuchte er sich umzubringen. Daraufhin wurde sein Fall plötzlich ganz anders bewertet. Die Betriebsparteileitung kam nun zum Schluß, daß Rodionov und der Komsomolsektretär Zukov auf der Versammlung den Ausschluß Korsunovs zwar zu Recht herbeigeführt hätten, aber dabei aber viel zu „formal" vorgegangen seien. Weder hätten sie nach Ursachen für das „ungesunde" Verhalten Korsunovs geforscht, noch seine privaten Lebensverhältnisse berücksichtigt oder ihm eine Chance gelassen, „seine politischen Fehler zu korrigieren".173 Eine externe Kommission, der eine Instruktorin des Zentralkomitees angehörte, kam wenige Tage später zu einem ähnlichen Ergebnis. Sie hielt Korsunov darüber hinaus zugute, daß seine ständigen Klagen vollauf berechtigt gewesen seien, und forderte die Fabrikparteileitung dazu auf, eine Reihe von Funktionsträgern zur Rechenschaft zu ziehen.174 Die Obrigkeit wußte hier selbst nicht, wie sie der individuellen Normverletzung begegnen sollte. Mußte die Komsomol-Öffentlichkeit Korsunov als Parteifeind davonjagen (wie Zellensektretär Rodionov glaubte), oder war es nicht besser, ihm mit einfühlender Aufmerksamkeit zu begegnen und ihn nachdem er seine Fehler eingesehen hatte - zu reintegrieren (wie es die Betriebsparteileitung für richtig hielt)? Auch ohne skandalösen Anlaß wurden fast alle Oberschulen nach dem Februar-März-Plenum 1937 zum Schauplatz der „Selbstkritik von unten". Die Moskauer Achtklässlerin Nina Kosterina, die fest an den Kommunismus glaubte, brachte dieses Schauspiel nicht mit der angelaufenen Welle der Massenverhaftungen in Verbindung. Am 17. April notierte sie arglos in ihrem Tagebuch: „Gestern fand von acht Uhr abends bis zwei Uhr nachts eine Komsomolversammlung statt. Thema: Kritik und Selbstkritik. Der Direktor referierte über Stalins Rede. Dann begann der kritische Teil. Am meisten wurde der Direktor kritisiert und zwar mit Recht. Er ist ein Rindvieh und kein Direktor. Ich trat ebenfalls auf und nahm ihn hart ins Gebet. Sagte ihm alles, was sich an Ärger angestaut hat: warum die Disziplin so schlecht sei, was er versäumt habe usw.: - es war ganz toll. Natürlich bekam auch ich meinen Teil ab: Daß ich nicht mehr so gut lerne, daß ich die politischen Schulungskurse schwänze usw. Das stimmt. In der letzten Zeit tue ich nichts mehr."175

Die Auffassung der selbstbewußten Komsomolzin spiegelt den Idealismus des ursprünglichen „Selbstkritik"-Gedankens wider. Es kam ihr nicht in den Sinn, daß die Kritiker des Direktors neben der Steigerung der Disziplin auch we173 174 175

RGASPI-CChDMO f. 1, op. 23, d. 1072,1. 73. RGASPI-CChDMO f. 1, op. 23, d. 1072,1. 59. Das Tagebuch der Nina Kosterina, München 1973, S. 27.

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niger selbstlose Ziele verfolgt haben könnten.176 Kritisiert zu werden war für sie keine besonders schlimme Erfahrung, solange die Kritik berechtigt war. Typischerweise spielte es in Kosterinas Augen überhaupt keine Rolle, ob die kritisierten Personen ihre „Fehler eingestehen" mußten oder nicht. Einen etwas besseren Einblick in die Hintergründe solcher „Selbstkritik"Sitzungen geben die Tagebuchaufzeichnungen des nicht weniger überzeugten Zehntklässlers Jurij Tverdin aus Kujbysev.177 Er beschreibt eine Sitzung des Parteikomitees vom 15. Februar 1939, an der neben der Direktorin noch der Direktor der städtischen Abteilung für Volksbildung und Vertreter des städtischen Komsomolkomitees teilnahmen. Die Rolle des Anklägers übernahm der Mitschüler Bdil', der sich offenbar gut vorbereitet hatte und der Direktorin eine „Masse politischer Fehler" vorwarf. Die Direktorin fiel mehrmals in Ohnmacht. Auch Tverdin sagt nichts darüber, ob sie ihre Fehler eingestand. Vermutlich war das aber nicht der Fall, denn man faßte vorerst nur den Beschluß, eine Versammlung aller zehnten Klassen einzuberufen. Dort gelang es der Direktorin, Unterstützung zu mobilisieren und den Spieß sogar ein wenig umzudrehen. Nun war Bdil' an der Reihe, in Ohnmacht zu fallen: „Die Versammlung nahm den Weg des geringsten Widerstands. Kataeva, eine Abgeordnete des Obersten Sowjets der UdSSR, versuchte die Schüler mit der Direktorin zu versöhnen. Man beschloß, alles zu vergessen. Alio warf Bdil' Trotzkismus vor. Da dieser sah, daß er die eingebrockte Suppe nicht allein auslöffeln konnte, benutzte er diesen Vorfall, um Alio öffentlich zu schlagen und daraufhin in Ohnmacht zu fallen."

Doch „Kritik von unten" richtete sich nicht nur gegen Lehrer, sondern auch gegen Komsomolfunktionäre, die dann manchmal sogar ihre „Besserung" oder „Selbstkorrektur" glaubhaft machen mußten. Genossin Klejstrup, Sekretärin eines Moskauer Rayonkomitees, erzählte ihren Kollegen im Januar 1938, wie sorgfaltig sie einmal von oben die „Kritik von unten" moderiert hatte.178 Angeblich begann alles damit, daß einige Schüler sich beim Rajkom über die Komsomolorganisatorin Krysevic beschwerten. Sie baten dort um die Erlaubnis, „von unten" kritisieren zu dürfen. Klejstrup begab sich in die Schule und veranstaltete dort zunächst im kleinen Kreis eine Aussprache der streitenden Parteien, wo der Konflikt im wesentlichen geschlichtet werden konnte. Erst anschließend wurde die „Kritik von unten" für alle auf einer großen Komsomolversammlung inszeniert. Genossin Krysevic mußte über ihre eigene Tätigkeit Bericht erstatten und sich noch einmal allen Angriffen aussetzen. Wie Klejstrup weiter erzählte, habe die Krysevic auf die Kritik „richtig reagiert" und ihr Verhältnis zu den Komsomolzen habe sich seitdem erheblich verbes-

176

Der Direktor blieb von der Verhaftung vermutlich verschont. Im November 1937 war er immer noch Direktor. Vgl. Das Tagebuch der Nina Kosterina, S. 35. 177 Tagebuch von Jurij Tverdin (1920-1942). Es befindet sich in Privatbesitz. 178 Vgl. Stenogramma zasedanija plenuma moskovskogo gorodskogo komiteta ο rabote komsorgach CK ν äkolach. 17 janvaqa 1937. CAODM f. 635, op. 1, d. 180,1. 26.

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sert.179 Ob die „richtige Reaktion" auch ein demütiges Fehlereingeständnis mit einschloß, geht auch aus dieser Schilderung nicht hervor. Wie die Beispiele illustrieren, begriffen die höheren Instanzen die „Kritik von unten" als eine Möglichkeit, konkrete Konflikte kontrolliert zur Sprache zu bringen und zu schlichten. Der Vorgang orientierte sich auch in der Schule an der alltäglichen Herrschaftspraxis in der Erwachsenengesellschaft. Die kritisierten Funktionäre wurden gemaßregelt oder man gab ihnen eine Chance, „sich zu korrigieren" (ispravit'sja). Manchmal gelang es ihnen auch, sich wirksam zu verteidigen. In der Praxis kam es dabei auch häufig zu Schuldbekenntnissen, denen die Zeitgenossen aber offenbar keine zentrale Bedeutung beimaßen. Die Durchsetzung der „sozialistischen Disziplin" war im Alltag die wichtigste sozialpädagogische Aufgabe des Komsomol. Hier überlagerten sich alte Leitbilder vom proletarischen Kollektiv mit der panoptisch konzipierten stalinistischen „Öffentlichkeit". Die Komsomolobrigkeit verstand die Parteilosung der „Selbstkritik" 1928 als Aufforderung, die noch lose Masse der Jugendlichen, der Erzieher und der Funktionäre im jeweiligen Umfeld zu einer „sozialistischen Öffentlichkeit" zu formen, die alles und jeden erfaßte. Als eine Parteikommission der Universität Voronez im Mai 1929 die ersten Erfahrungen mit der „Selbstkritik" bilanzierte, freute sie sich über die gewachsenen Möglichkeiten der Sozialkontrolle.180 Die Studenten nahmen nun angeblich mehr Anteil an der Erörterung akademischer Fragen, man hatte die Vergabe von Wohnheimplätzen neu geregelt, einige Fälle von „Bürokratismus" aufgedeckt, und insgesamt hatten sich die Beziehungen zwischen der Partei, dem Komsomol und der „studentischen Masse" verbessert. Es war gelungen, den „am ehesten annehmbaren" Teil der nichtkommunistischen Professoren und Dozenten auf die Seite der Partei zu ziehen. In den Wohnheimen hatten Versammlungen stattgefunden, wobei „ungesunde Erscheinungen" in puncto Sexualmoral ebenso erörtert wurden wie das Problem der sinnvollen Freizeitbeschäftigung. Die Kommission räumte zugleich „selbstkritisch" ein, daß die Parteiobrigkeit den verschiedenen Personengruppen immer noch viel zu wenig Beachtung schenkte. Unter parteilosen Studenten und technischen Angestellten sei die „Selbstkritik" noch wenig verbreitet, das „Parteilosenaktiv", und die „linken" Professoren seien in die gesellschaftliche Arbeit kaum einbezogen worden, das studentische Alltagsleben werde nicht untersucht, die Erfahrungen mit den „neuen Formen der Massenarbeit" würden nicht ausgewertet und es herrsche in der VGU allgemein eine „niedrige Arbeitsdisziplin".

179

CAODM f. 635, op. 1, d. 180,1. 26. C D N I V O f. 412, op. 1, d. 48,1. 93. Zakljuöenie komissii po proverke realizacii resenij partii po kritike i samokritike ν universitetskich organizacijach s 1-go ijunja 1928 g. po 1-oe aprelja 1919 g. 180

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Einige Jahre später hatte die Obrigkeit ihren Zugriff auf die akademische Öffentlichkeit erheblich verbessert. Das Tagebuch Vasilij Il'ic Kataevs gibt einen anschaulichen Einblick, wie die „sozialistische Öffentlichkeit" im Alltag des Studienjahres 1933/34 funktionierte.181 Kataev war Studienanfänger am AKV, einer pädagogischen Hochschule in Moskau. Das System der gegenseitigen Überwachung sollte hier grundsätzlich die Leistungssteigerung sicherstellen, diente aber zugleich der Aufrechterhaltung der politischen „Wachsamkeit". Kataev hielt beide Sphären streng auseinander. Wie viele seiner Kommilitonen kam er aus einfachen Verhältnissen der Provinz und hatte große Probleme, mit dem Lerntempo Schritt zu halten. Als er und andere Studenten einzelne Lehrveranstaltungen versäumten, reagierte die Institutsobrigkeit mit einer zweigleisigen Strategie: Man gab den Diszplinverletzern zwar zu verstehen, daß man ihr Verhalten als politische Protesthaltung ansehen könnte, vertraute aber vorerst auf die erzieherische Einwirkung der „studentischen Öffentlichkeit". „Um vier Uhr gab es eine Komsomolversammlung. Das Referat handelte ... vom siebzehnten Parteitag. ... Die Genossen sprachen über vieles, vor allem aber über mich. Averin sprach streng, wie es sich für einen Parteiorganisator gehört. Man tadelte mich, ... weil ich die Beschlüsse des Parteitages verletzte, als ich eine Stunde versäumte."182

Kataev kolportiert diesen Vorwurf ohne besondere Ironie. Auch in seinem geheimen Tagebuch formulierte er seine Verteidigungsposition ganz im Einklang mit der offiziell sanktionierten „Selbstkritik"-Rhetorik, als er dem Parteiorganisator anlastete, die Komsomolzen strenger zu beurteilen als die Parteimitglieder: „Nach meiner Meinung mußte er auch uns kritisieren, aber mehr noch sich selbst als Parteiorganisator, der die Lernanstrengungen der Parteimitglieder nicht ... verbessern konnte und kann."

Leider hielt Kataev im Tagebuch nicht fest, ob auch er auf dieser Versammlung zu Wort kam oder gar „Reue" an den Tag legen mußte. Gegenüber dem Zimmergenossen jedenfalls gab er zu, die Rüge zu Recht erhalten zu haben. Er meinte allerdings, daß man über den Vorfall nicht so viel hätte reden müssen. Am Tag darauf fand er sich in der Institutszeitung wieder, wo ihm zwei Seiten gewidmet waren. Er registrierte mit Erleichterung, daß neben ihm auch andere Studenten kritisiert wurden, bemängelte aber, daß die „Chefs" nicht erwähnt wurden. Bald darauf kam die Disziplinverletzung erneut auf einer Versammlung zur Sprache.183 Der Parteiorganisator Averin stellte das Fernbleiben der Studenten Sevcenkos und Kolikovs dabei in einen Zusammenhang mit ihren Klagen über die unzureichende Ernährung am Institut. Diese Wendung war 181 Das Tagebuch befindet sich im Komsomol-Archiv. RGASPI-CChDMO f. 1, op. 23, d. 1088,1. 88-104. 182 RGASPI-CChDMO f. 1, op. 23, d. 1088,1. 89. 183 RGASPI-CChDMO f. 1, op. 23, d. 1088,1. 90.

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heikel, weil ihre Disziplinverletzung somit als politischer Protest interpretiert werden konnte. Der Student Mendel'son versuchte diesen Vorwurf auch auf Kataev auszudehnen: „Das Schwänzen von Kataev muß man tiefgründiger betrachten als einen Streik." Doch waren diese Vorwürfe offenbar nicht allzu ernst gemeint, denn Sevcenko und Kolikov kamen mit Verwarnungen davon.184 Kataev konnte bald erleichtert notieren: „Nach und nach glättet sich alles. Man treibt mich nicht mehr durch die Versammlungen, obwohl ich in der letzten Ausgabe [der Institutszeitung, L. E.] an zwei Stellen glänze." 185

Manchmal zeigten die im Tagebuch auftretenden Personen auch Anzeichen von „Reue" oder kritischer Selbstbeurteilung. Kataev begriff dieses Verhalten als Teil einer Verteidigungsstrategie. Das zerknirschte Verhalten des Kommilitonen Komnovyj, der aus purer Zerstreutheit die Geschichtsstunde versäumt hatte, beschrieb er aus großer emotionaler Distanz:186 „Als in der Gruppe über sein Fernbleiben gesprochen wurde, begann er sogar zu weinen (das hätte ich keinesfalls erwartet). ... Er versuchte zu zeigen, daß eine Rüge für ihn eine sehr schwere Bestrafung ist. ,Das war doch kein absichtliches Versäumnis. Ich bin Propagandist und man weiß, wie ich ... arbeite, ich habe keine strenge Strafe verdient' - stammelte er. Aber dieses Gestammel war wie ein Wassertropfen ins ... prasselnde Feuer."

Als im März fünf Studenten von der Hochschule relegiert wurden, weil sie den Leistungsanforderungen über längere Zeit hinweg nicht entsprochen hatten, zeigte sich Kataev darüber zwar bedrückt, hielt die Entscheidung aber für nachvollziehbar. In den kurzen Charakteristiken, die er über seine unglücklichen Kameraden verfaßte, übernahm er den Blickwinkel der Institutsleitung. Die vielen „selbstkritischen" Bekenntnisse und Besserungsversprechen des Kommilitonen Sereda kommentierte er rückblickend: „Diesem kann ich keine gute Charakteristik geben... Er erhielt ein ,Ungenügend' nach dem anderen und sprach dabei vor der Gruppe über seine Fehler, derentwegen er die schlechten Noten erhielt und über seine Vorstellungen, wie er diese Fehler überwinden wollte, um keine ungenügenden Zensuren mehr zu erhalten. Dennoch kam er aus dem ,Ungenügend' nicht heraus und darum wurde er auch relegiert." 187

Auch auf die kollektiven selbstkritischen Bekenntnisse und Besserungsversprechen reagierte Kataev bald nur noch mit hilfloser, ja selbstkritischer Ironie:

184 An anderer Stelle deutet Kataev an, daß er unter akuten Geldnöten litt und aus irgendeinem Grund ausgerechnet die Zeit der Unterrichtsstunde nutzen mußte, um sich billig Nahrungsmittel zu verschaffen. Vgl. RGASPI-CChDMO f. 1, op. 23, d. 1088,1. 94. Die genauen Hintergründe dieser Geschichte bleiben unklar, aber vermutlich reichten sie aus, um auch die Parteiobrigkeit milder zu stimmen. 185 RGASPI-CChDMO f. 1, op. 23, d. 1088,1. 94. 186 RGASPI-CChDMO f. 1, op. 23, d. 1088,1. 101. 187 RGASPI-CChDMO f. 1, op. 23, d. 1088,1. 91.

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„Heute [21. April 1934] war wieder eine Gruppenversammlung wegen der Vorbereitung auf den ersten Mai. Man sprach viel und nicht schlecht. Wir wollen die ungenügenden Zensuren loswerden (wie das nur gesagt wird!), die Arbeitsnorm nicht senken, sondern steigern und eine Reihe weiterer guter Vorschläge. Aber das gilt nur auf den Versammlungen. Auf den Versammlungen sind wir schon seit Herbst dabei, die ungenügenden Zensuren loszuwerden. Die Verwaltung hilft uns auch dabei, mit Zurückstufungen in die Vorbereitungsklasse und mit Relegationen. Aber die ungenügenden Bewertungen verschwinden nicht. ... Ja, eine langweilige Geschichte. Auch mich macht sie kein bißchen fröhlicher."188

Obwohl Kataev mit seinem Studium nicht glücklich war, sich in Moskau nicht wohlfühlte und am liebsten eine Erwerbsarbeit aufgenommen hätte, hielt er es für ganz normal, daß die Obrigkeit von den Studenten Disziplin und Lerneifer erwartete und Druck ausübte, um diese Forderungen durchzusetzen. Doch er hatte kein Verständnis dafür, daß der erzieherische Druck manchmal in paranoides Mißtrauen umschlug. Wie aus vielen Passagen hervorgeht, wäre Kataev sehr gerne mit dem studentischen Kollektiv verwachsen, aber die kollektive Kontrollsucht zwang ihn schließlich zu deijenigen Absonderung, die von Totalitarismustheoretikern als „Atomisierung" bezeichnet wurde. Kataev führte sein geheimes Tagebuch mit der erklärten Absicht, sich innerlich gegen die willkürliche Zuweisung einer falschen „Identität" zu wehren.189 Er hatte sich den Verdacht der Obrigkeit zugezogen, weil - aus welchem Grund auch immer - in der Verwaltung seine Kaderakte fehlte. „Ich geriet bei den Kameraden, Komsomolorganisatoren, dem Zellenbüro und der Insitutsleitung unter Verdacht. Ich spürte das, schenkte dem aber wenig Aufmerksamkeit und benahm mich ungezwungen. Als ich aber kein Geld hatte, mir eine Essensration zu kaufen und gezwungen war, für eine Stunde den Unterricht zu verlassen, was als Versäumnis gilt, spitzte sich das Verhältnis mir gegenüber zu... Das gab unseren heldenmütigen Leitern den letzten Rest. ... Man erinnerte sich an, oder besser, man erfand meine Worte, die mich als finsteren Menschen charakterisieren... Sie sagten, ich kämpfte nicht... um die Steigerung der Qualitätsnormen in der Gruppe..."

Kataev schien keinen Moment lang zu erwägen, ob die „öffentliche Meinung" mit ihrer Beurteilung Recht haben könnte. Statt dessen kam er zum Schluß, daß er der allgemeinen Wachsamkeitshysterie seine individuelle Wachsamkeit entgegenhalten müsse. „All das zwang mich, wachsamer zu sein, vor allem verstand ich, daß man die meisten seiner Meinungen weitgehend für sich behalten muß und daß man sowieso nicht offen sein darf. Das vor allem zwang mich, Tagebuch zu führen."

Kataev mußte die bittere Erfahrung verarbeiten, daß er seinen Kameraden nicht trauen durfte, denn im Zweifelsfall standen sie auf der Seite der Obrigkeit. Er mußte sogar die Existenz des Tagebuchs geheimhalten, denn das Schreiben außerhalb der Lernzeiten erregte Verdacht. Als der von Kataev als beschränkt und eigenbrötlerisch beschriebene Kamerad Komkov ihn einmal 188 189

RGASPI-CChDMO f. 1, op. 23, d. 1088,1. 105. RGASPI-CChDMO f. 1, op. 23, d. 1088,1. 94.

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dabei antraf, fragte er zielsicher: „Du befaßt dich da doch wohl nicht mit irgendeiner Konterrevolution?"190 Kataev behauptete, er schreibe einen Brief nach Hause, und kommentierte voller Resignation: „Das heißt, sogar das fast tägliche Schreiben erregt bei Beobachtern Mißtrauen. Jetzt komme ich wohl nicht mehr darum herum, nach Hause zu schreiben, aber das Tagebuch muß ich weiter verstecken."191

Daß ihm aus seinem Tagebuch ernsthafte Schwierigkeiten erwachsen könnten, glaubte er allerdings immer noch nicht: „Ich fühle, daß alle meine Handlungen unter Verdacht stehen. Sollen sie mich doch verdächtigen, es kann nur Lächerliches dabei herauskommen."

Tatsächlich blieb das Tagebuch vorerst unentdeckt und auch sonst ging das Studienjahr glimpflich zu Ende. Die Verwaltung klärte das Problem mit Kataevs fehlender Personalakte, gab ihm endlich einen Komsomolausweis, zahlte das Stipendium, und Kataev bestand die Prüfungen. Über die Gründe, weshalb sein Tagebuch sich heute im Zentralen Komsomolarchiv befindet, können wir nur spekulieren.192 Nach dem Kirovmord wurde auch die Schule von der allgemeinen Hexenjagd erfaßt. Die Komsomolzentrale forderte zur Suche nach „feindlichen Organisationen" auf, die sich angeblich das Ziel gesetzt hätten, überall im Land die „Disziplin zu untergraben". Auch unter Schülern kam es zu Verhaftungen. Jurij Tverdin hielt im November 1938 einen solchen Fall in seinem Tagebuch fest. Er urteilte dabei ganz nach den offiziellen Maßstäben und glaubte offenbar tatsächlich an eine Verschwörung. „Bei uns in der Schule gibt es einen gewissen Zirov. Bisher glänzte er durch Rowdytum (chuliganstvo) und Trunkenheit. Vorgestern hörten wir im Komitee unsere Jugendleiterin, die irgendwie sein Vertrauen gewinnen konnte und da erzählte er ihr die Geschichte seines Existierens. Ich sage nicht Leben, ... weil wir heute unter dem Wort,Leben' etwas Helles und Klares, Nützliches und Sinnvolles verstehen. Wie sich herausstellte, gehört er zu irgendeiner Organisation. In der Schule hat er einen Untergrundvorgesetzten, mit dessen Hilfe er die Glieder der Organisation sprengt und die Disziplin in der Klasse untergräbt. Nina - unsere Jugendleiterin - hat den Fall dem NKVD übergeben. Ja, eine ernste Angelegenheit."

Dennoch handelte es sich bei dieser Erscheinung um einen Ausläufer der Terrorwelle und nicht um einen genuin pädagogischen Versuch der Disziplinierung. Zu einem solchen hätte auch kein Anlaß bestanden. Verglichen mit der Industrie und der Landwirtschaft arbeitete das sowjetische Bildungswesen einigermaßen erfolgreich. Es gibt auch keinen Grund zu bezweifeln, daß die meisten Schüler und Studenten wie Kataev, Kosterina und Tverdin grundsätz190

RGASPI-CChDMO f. 1, op. 23, d. 1088,1. 97. RGASPI-CChDMO f. 1, op. 23, d. 1088,1. 98. 1,2 Die anderen Dokumente im Aktenordner stehen mit dem Tagebuch in keinem Zusammenhang. 191

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lieh ein positives Verhältnis zur Schule und zum Lernen hatten. Sollte der Terror tatsächlich das Ziel verfolgt haben, die Disziplin und die Lernleistung zu steigern, dann erreichte er eher den gegenteiligen Effekt. Die „Säuberungs"und Verhaftungswelle traf ja vor allem Lehrer und Jugendfunktionäre. Selbst wenn diese nicht verhaftet wurden, blieb ihnen entsprechend weniger Zeit und Energie für die erzieherische Alltagsarbeit. Die Welle der „Kritik von unten", die der Schulbetrieb Ende der dreißiger Jahre erlebte, trug vermutlich ebenfalls nicht zur Festigung der Disziplin bei. In den folgenden Jahren, nach dem Abebben der großen „Schädlingssuche", kam es zu einer allmählichen Neuorientierung der Jugendpolitik. Neben den veränderten Zeitumständen könnte dabei auch die im November 1938 vollzogene Ablösung des obersten Komsomolsekretärs Aleksandr Kosarev durch Nikolaj Michajlov eine Rolle gespielt haben. Faulheit und Disziplinlosigkeit wurden als Übel entdämonisiert, die erzieherischen Anstrengungen zu ihrer Überwindung gleichzeitig intensiviert. Es galt nun die Annahme, daß der Komsomol und die Schulverwaltung über alle Möglichkeiten verfügten, um das Wohlverhalten und den Lernerfolg der Jugendlichen zu gewährleisten. Mißerfolge wurden nicht mehr „feindlichen Verschwörern", sondern, ganz im Sinne der „Selbstkritik", nur noch dem Versagen der Erzieher angelastet. Die Komsomolzentrale propagierte die „Herstellung einer öffentlichen Meinung" geradezu als pädagogisches Allheilmittel. Lehrer und Jugendleiter sollten im jeweiligen Kollektiv Versammlungen durchführen, über alle Probleme sprechen und die vorbildlichen Jugendlichen dazu bringen, moralischen Druck auf ihre faulen Kameraden auszuüben. An der Besserungsfähigkeit der letzteren zu zweifeln war nun ausgesprochen verpönt.193 Bei dieser Akzentverschiebung machte sich auch der gewachsene Einfluß Anton Makarenkos bemerkbar. Wenn die Pädagogen der späten Stalinzeit die Jugendlichen erzieherisch gegeneinander ausspielten, dann orientierten sie sich in der Regel am optimistischen Vorbild des „pädagogischen Poems" und nicht mehr am erbarmungslosen Scherbengericht der stalinistischen Parteigremien. Die Erzieher an der Basis erhielten häufig den Vorwurf, über „negative Erscheinungen" hinwegzusehen anstatt sie zum Thema einer kollektiven Aussprache zu machen. Wie etwa der erste Sekretär des Zentralkomitees des Komsomol, Nikolaj Michajlov den Jugendfunktionären einschärfte, war es notwendig, auf allen Versammlungen mit Jugendlichen „Fragen ... ungesunder Erscheinungen" zu erörtern, wobei diese Versammlungen eine „hohe 193 Der Direktor der Moskauer Schule Nr. 182 formulierte diesen Gedanken mit einigem Pathos: „Man muß von der festen ... Überzeugung ausgehen, daß jedes Kind ... und jeder Jugendliche ... das Lernziel erreichen kann und muß. Wenn ein Schüler zurückbleibt, dann muß man die Gründe zuerst in den Unzulänglichkeiten unserer eigenen pädagogischen Arbeit suchen. ... Diese Überzeugung erhöht in uns das Verantwortungsgefühl ffir die Ergebnisse der Waffe der Selbstkritik, ohne die eine wahre Vervollkommnung der pädagogischen Kunst unmöglich ist." CMAM f. 644, op. 1, d. 27,1. 60.

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Schule kameradschaftlicher, dem Komsomol gemäßer Einwirkung auf den Menschen" sein sollten.194 Diesem Anspruch wurde die Aussprache natürlich nicht immer gerecht. 1942 ärgerte sich ein unbekannter Funktionär über die Oberflächlichkeit der Pionierleiter: „Einige Stäbe befassen sich nur damit, die zurückbleibenden und disziplinlosen Pioniere in ihre Sitzung zu zitieren. In ein, zwei Stunden gelingt es diesen Stäben, eine ganze Kette von Pionieren,abzuhandeln' und von ihnen eine Sündenbeichte (pokajanie ν svoich postupkach) zu erhalten. Man kann sich leicht vorstellen, daß eine derartige Behandlung von Fragen schädlich ist und das echte Streben der Pionierorganisation, das Verantwortungsgefühl der Pioniere ... zu erhöhen, aushöhlt."195

Anderswo scheint die empfohlene Methode aber zu den erwünschten Ergebnissen geführt zu haben, wie etwa in der Moskauer Schule Nr. 182 im Schuljahr 1943/44. Viele Schüler waren kurz zuvor aus der Evakuierung zurückgekehrt und die Disziplin war dementsprechend schlecht. Die Lehrerin Sandalovskaja erzählte im Lehrerkollegium, wie sie in der siebten Klasse die Ordnung wiederhergestellt hatte.196 Es sei gelungen, ein „Kollektiv" aus sechs Jungen zu formen, die den Klassenrat (sovet klassa) bildeten, mit den hartnäckigen Störern (dezorganizatory) Gespräche führten und „Besserung verlangten". Außerdem gaben sie eine Wandzeitung heraus und achteten darauf, daß alle Pioniere ihre Halstücher trugen. Auch andere Lehrerinnen konnten von ähnlichen Fortschritten berichten. Einige Jahre später erzielte dieselbe Schule einen Besserungserfolg, der sogar zum Gegenstand einer Radiosendung wurde:197 Der Sprecher erzählte von einer zehnten Klasse, in der einige Schüler schlechte Mathematiknoten erhielten und sogar die Klassenarbeiten versäumten. Schließlich erkannten ihre lerneifrigen Kameraden, daß sie etwas tun mußten, und baten den Klassenlehrer um Hilfe: „Sagen Sie uns, was wir tun sollen. Wir schämen uns einfach für unsere Kameraden". Der Lehrer wußte, daß sein Einfluß begrenzt war und daß es vor allem auf die Mitschüler ankam: „Auch ich habe darüber nachgedacht... Und morgen wird es bei mir ein ernsthaftes Gespräch geben. Aber das ist das Wenigste. Es ist nötig, daß nicht nur ich, sondern auch ihr selbst mit diesen Jungs Klartext (nacistotu) redet."

194 Stenogramma sovescanija ν CK VLKSM - ο sostojanii i merach usilenija raboty komsomol'skich organizacii po idejno-politiceskomu vospitaniju studenceskoj molodezi. 28 avgusta 1948 g, in: RGASPI-CChDMO f. 1, op. 5, d. 370, 1. 155. Michajlov erwähnte auch, daß diese Formulierung die Zustimmung von Kuznecov, Popov und anderen Sekretären des Parteizentralkomitees erhalten habe. 195 Spravki, predlozenija... ο vypolnenii postanovlenii CK VLKSM ot 15 sentebija 1942 goda „O krupnych nedostatkach ν rabote pionerskoj organizacii i merach po ispravleniju etich nedostatkov, in: RGASPI-CChDMO f. 1, op. 7, d. 9.1. 75. 196 Protokol Nr. 3 pedagogiceskogo soveta skoly Nr. 182 kominternovskogo rajona ot 26 nojabija 1943 goda, in: CMAM f. 644, op. 1, d. 2,1. 11. 197 Radio-peredaöa dlja skol'nikov. (20. April 1950, 14 Uhr 45), in: CMAM f. 644, op. 1, d. 27,1. 6-7.

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Am folgenden Tag wurden die Verweigerer zur Komsomolversammlung zitiert, auf der sie ihr Verhalten „erklären" sollten. Schließlich wurde alles gut: „Dieser Tag blieb vielen im Gedächtnis. Im Leben der Klasse wurde er zu einem Wendepunkt. Seitdem begannen die Komsomolzen, das Lernen und die Disziplin jedes Kameraden streng zu kontrollieren. Wem das Lernen schwerfiel, dem halfen sie."

Diese Erzählung ist auch insofern typisch, als sie nichts darüber aussagt, ob die korrigierten Kameraden an jenem denkwürdigen Tag genötigt wurden, „Reue" zu zeigen oder ihre Fehler explizit einzugestehen. Für den Autor der Radiosendung spielte das überhaupt keine Rolle; es kam nur darauf an, daß sie ihr Verhalten langfristig änderten. Der Komsomol ermutigte allerdings die Schüler, ihre positive Entwicklungsgeschichte anderen mitzuteilen.198 Nicht nur Schüler und Studenten, sondern auch die jugendlichen Arbeiter waren Objekte der erzieherischen Einwirkung. Wenn Komsomolfunktionäre Besserungsgeschichten aus dem Fabrikmilieu erzählten, dann konzentrierten sie sich stärker auf die korrigierten Individuen, so auch im Fall des Jungarbeiters Kaskin, der 1941 „mit einer negativen Charakteristik" in den Eisenbahnbetrieb VRP-1 gekommen war. „Wegen Disziplinlosigkeit, Streit mit dem Meister und ... Arbeitsversäumnissen wurde er aus dem Komsomol ausgeschlossen. Im VRP-1 ... machte Kaskin so weiter. Vom ersten Tag an gab es endlose Klagen des Brigadeführers. Für eigenmächtiges Fernbleiben wurde er verurteilt. Lange kümmerte sich der Sekretär, Genösse Petrov, um Kaskin. Das kameradschaftliche Gespräch fand im Kino statt. So entstand eine Freundschaft... Er begann, schöngeistige Literatur zu lesen. Jetzt ist Kaskin ein Meister seines Fachs... Er erfüllt die Norm regelmäßig zu 150 bis 200 Prozent. Er erhielt... eine Prämie ... und beantragte die Aufnahme in den Komsomol."" 9

In der Nachkriegszeit schenkte der Komsomol auch den Verhältnissen in den Arbeiterwohnheimen und dem Privatleben mehr Beachtung. Die Komsomolorganisation des Rostover Betriebs Azovstal 'stroj stellte im Sommer 1953 eine lange Liste von Jungarbeitern zusammen, die vom Kollektiv auf den rechten Lebensweg zurückgeführt werden konnten.200 Unter diesen neigte der Komsomolze Bykovskij lange Zeit dazu, mit seinem Geld „falsch umzugehen", bis die Erzieherin Karlova und das Aktiv der Wohnheimselbstverwaltung ihm „erklärten, wie man das Geld richtig ausgibt". In der Folge hörte er auf, sich zu betrinken, und wurde statt dessen „zu einem der besten Aktivisten des Wohn198 Vgl. Stenogramma aktiva moskovskoj organizacii VLKSM ot 23 oktjabija 1951 goda, in: CAODM f. 635, op. 12, d. 38,1. 41. 199 Moskovskij gorodskoj komitet VLKSM. Otdel rabocej molodezi. Stenogramma sovescanija molodych zeleznodoroznikov Moskovskogo uzla i spravka ο vypolnenii samoobjazaterstv. 8 oktobqa 1943 goda, in: CAODM f. 635, op. 6, d. 2,1. 75. 200 Spravki otdela, informacii, otcety obkomov, ... ο rabote komsomol'skich organizacii po vypolneniju postanovlenija CK VLKSM ot 21 aprelja 1953 goda „O mnogoßislennych faktach nevnimatel'nogo bjurokraticeskogo otnosenija komsomol'skich organizacii k rabote sredi molodych rabocich, prozivajuscich ν obscezitijach, in: RGASPI-CChDMO, f. 1, op. 8, d. 676,1. 148 bis 151.

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heims".201 Das „Ehrenwort" spielte in solch optimistischen Erzählungen einer charakterlichen Gesundung eine größere Rolle als das Schuldbekenntnis. Gerne wurde hervorgehoben, daß nicht die Vorgesetzten, sondern nur das Kollektiv eine Besserung herbeiführen konnte. Der Arbeiter Kucebo etwa betrank sich häufig, nahm am gesellschaftlichen Leben keinen Anteil und verhielt sich den Vorgesetzten gegenüber ungehörig. Er versprach dem Komsomolsekretär Besserung, hielt sich aber nicht daran. Als er wieder einmal betrunken zur Arbeit gekommen war, wurde die Komsomolgruppe aktiv: „Am nächsten Tag entschied sich die Komsomolorganisation, das Verhalten Kucebos auf der Brigadenversammlung zu besprechen, der er selbst angehörte. Nachdem seine Arbeitskollegen ihn streng kritisiert hatten, gab er vor dem Angesicht seiner Kameraden das feste Wort (tverdoe slovo), sein Verhalten ... am Arbeitsplatz wie im Privatleben (v bytu) zu ändern. Die Komsomolorganisation kontrollierte das Verhalten Kucebos streng, seine Kameraden erinnerten ihn jedesmal an das von ihm gegebene Wort, sobald auch nur leise Anzeichen von Grobheit sichtbar wurden, und Genösse Kucebo hielt Wort."202

Inzwischen hatte er sich angeblich zu „einem der besten Stachanowisten" gewandelt, erfüllte die Norm „zu über 200 Prozent", hatte geheiratet und schon eine Neubauwohnung erhalten. An manchen Orten beherrschte der Komsomol die Situation so sehr, daß es zu ernsthaften Regelverstößen gar nicht mehr kommen konnte. Ein umfangreiches Freizeit- und Beschäftigungsprogramm machte es der jugendlichen Besatzung des Binnenschiffs „Bagration" unmöglich, auf falsche Gedanken zu kommen. Die Matrosen trieben Sport, erhielten eine politische und technische Schulung und sprachen über die Bücher von Stalinpreisträgern.203 Ebenso vorbildlich waren die Verhältnisse auf dem Schiff „Molotov": „Die Politikschule arbeitet regelmäßig, alle Komsomolzen haben eine Funktion, die Versammlungen werden regelmäßig durchgeführt. Der Sekretär... Nenazivin zieht jeden jungen Matrosen geschickt zu ihrer Vorbereitung heran. Auf den Versammlungen werden aktuelle Fragen besprochen, die die Jugend bewegen. Die Komsomolzen kämpfen unnachgiebig um die Festigung der Disziplin und kritisieren jeden kleinsten Verstoß ... scharf in der Wandzeitung und auf den Versammlungen."204

Aber neben der Besserungserzählung existierte auch das negative Gegenstück, die ebenso litaneiartig wirkende Kritik an Organisationen, die die Herstellung einer solchen „Öffentlichkeit" versäumten und Regelverstöße tolerierten. Angeblich war diese Nachlässigkeit dafür verantwortlich, daß die Moskauer Jugendlichen allein im ersten Halbjahr 1952 zwölftausend Arbeitstage unent-

201

RGASPI-CChDMO, f. 1, op. 8, d. 676,1. 150. RGASPI-CChDMO, f. 1, op. 8, d. 676,1. 149. 203 Spravki... ο rabote komsomol'skich organizacii morskogo i recnogo flota po vypolneniju postanovlenija CK VLKSM ot 17 janvarja 1951 g. „O krupnych nedostatkach..." RGASPI-CChDMO, f. 1, op. 8, d. 583,1. 155. 204 RGASPI-CChDMO, f. 1, op. 8, d. 583,1. 161. 202

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schuldigt versäumten.205 In einer Moskauer Elektrolampenfabrik wurden von 640 Jugendlichen (darunter 170 Komsomolzen), die die Disziplin verletzt hatten, nur 23 vor das Kameradschaftsgericht zitiert, unter denen sich wiederum kein einziger Komsomolze befand.206 Offenbar sah die Komsomolorganisation der Fabrik ihre Aufgabe darin, die Mitglieder vor der Bestrafung zu schützen anstatt sie zu erziehen. Die Wirksamkeit der „sozialistische Öffentlichkeit" als Maßnahme stieß immer wieder an ihre Grenzen. Ein Genösse Pesljak beklagte sich im Jahre 1948: „Die Überprüfung durch das Komsomol-Zentralkomitee brachte zutage, daß es in vielen Komsomolorganisationen keine Kritik und Selbstkritik gibt. In einem bestimmten Teil der studentischen Jugend existiert eine falsche Auffassung von Freundschaft und Kameradschaft, wenn das unwürdige Betragen einiger Studenten nicht nur nicht entlarvt, sondern sogar unter den Teppich gekehrt wird."207

Die Solidarität der Jugendlichen, die sich spontan gegen die Herrschaft der Disziplin verbündeten, konnte auch durch die Mechanismen der „sozialistischen Öffentlichkeit" nie vollständig aufgebrochen werden.208 Anfang der fünfziger Jahre registrierten die Funktionäre eifersüchtig das Aufkommen einer neuen jugendlichen Subkultur, die stark von westlichen Einflüssen wie dem Jazz geprägt war und von den Zeitgenossen als „Stil" (stil') bezeichnet wurde.209 Schlimmer als die Herausforderung der offiziellen Norm durch einzelne Stutzer war die Bewunderung, die sie damit in ihrem Umfeld hervorriefen. Der Moskauer Funktionär Bubnecov ärgerte sich im Frühjahr 1952 über das Verhalten seiner Jugendlichen: „Anstatt diesem Liedeijan eine Abfuhr zu erteilen, sein Verhalten streng zu verurteilen, begannen die Komsomolgruppen sich zu begeistern und mehr noch, als er im MarxismusLeninismus-Seminar nichts über ... die Losungen der Partei zur Bauernfrage ... sagen konnte, begann die ganze Gruppe, ihm die Antwort zuzuflüstern.. ,"210

Aber auch gegenüber traditionell russischen Formen lasterhafter Freizeitgestaltung verhielten sich die Jugendlichen nach Meinung Bubnecovs zu nach-

205

Protokol sobranija komsomol 'skogo aktiva Moskovsoj gorodskoj organizacii VLKSM „o zadacach komsomol'cev i molodezi po dal'nejsemu ukrepleniju trudovoj i proizvodstvennoj discipliny. S materialami. 28.8.1952, in: CAODM f. 635, op. 13, d. 20,1. 6-7. 206 CAODM f. 635, op. 13, d. 20,1. 10-11. 207 Stenogramma sovescanija ν CK VLKSM - ο sostojanii i merach usilenija raboty komsomol'skich organizacij po idejno-politiöeskomu vospitaniju studenCeskoj molodezi. 28 avgusta 1948 goda, in: RGASPI-CChDMO, f. 1, op. 5, d. 370,1. 14. 208 Vgl. auch Kharkhordin: The Collective and the Individual, S. 107. 209 Vgl. Björn Fritsch: Die „Stiljagi" - der erste Versuch einen alternativen Gegensatz zur sozialistischen Jugendnorm zu bilden, in: Peter Becker, Ingo Grabowsky, Christian Schönegger-Zanoni (Hrsg.): Körperzeichen Zeichenkörper. Zu einer Physiologie der russischen und sowjetischen Kultur des 20. Jahrhunderts, Bochum 2002, S. 117-127. 210 Doklad na rajonnom sobranii komsomol'skogo aktiva vuzov i technikumov „O rabote komsomol'skich organizacii vuzov i technikumov po idejno-politiceskomu vospitaniju studenöeskoj molodezi. 18 marta 1952 g, in: CAODM f. 667, op. 2, d. 55,1. 24.

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sichtig. Er verstand nicht, weshalb auf Komsomolversammlungen immer ein „ungesundes", weil tolerierendes Gelächter zu hören war, wenn Besäufnisse, Prügeleien und „ähnliche amoralische Erscheinungen" besprochen werden sollten.211 Vergleichsweise skurril wirkt der vergebliche Kampf des Komsomol gegen die kleinen Schummeleien wie Spickzettel, Abschreibenlassen, Vorsagen und so weiter. Die offizielle Ideologie machte Schülern und Studenten einen moralischen Vorwurf daraus, wenn sie die Schummelei ihrer Kameraden tolerierten, anstatt sie zu verpetzen beziehungsweise im Gruppengespräch zu verurteilen.212 Das obrigkeitliche Verlangen nach restloser „Aufrichtigkeit" der Untertanen fand hier ihre kuriose Entsprechung im Klassenraum. Auch in den dreißiger Jahren kam es häufig vor, daß Arbeiter einzeln oder als Gruppe spontan ihren Unmut über unpopuläre Maßnahmen wie Lohnsenkungen oder Normerhöhungen äußerten. Die Fabrikobrigkeit hatte verschiedene Möglichkeiten, auf solche Vorkommnisse zu reagieren: Sie konnte Proteste beispielsweise als „politische Opposition" interpretieren, als „antisowjetische Propaganda" verurteilen und die Schuldigen der Polizei übergeben. Die offizielle Propaganda warnte allerdings schon seit der ersten samokritika-Kampagae recht nachdrücklich davor, übereilt zu dieser „formalen, bürokratischen" Maßnahme zu greifen. Statt dessen wurde den Betriebsleitungen nahegelegt, die Unzufriedenheit der Arbeiter immer auch „selbstkritisch" als eine Folge ihrer eigenen schlechten Erziehungsarbeit zu begreifen und zu versuchen, die internen Möglichkeiten der Konfliktlösung auszuschöpfen. Anstatt sich in Strafmaßnahmen zu flüchten, war die lokale Obrigkeit gehalten, die „Verbindung mit den Massen" zu stärken und die „proletarische Öffentlichkeit" zu mobilisieren, um die Arbeiter von der Notwendigkeit unpopulärer Maßnahmen zu überzeugen. Die schärfsten Kritiker sollten unbedingt erst isoliert werden, bevor man sie bestrafte. Ein einziges Beispiel soll genügen, um darzustellen, wie die innerbetriebliche „Öffentlichkeit" zum Abstimmungskörper geformt wurde und solcherart zur Durchsetzung der unpopulären Regierungspolitik unter den Arbeitern beitrug. Die internen Berichte der Gewerkschaft über die Kampagne zur „freiwilligen" Zeichnung der Staatsanleihe im Frühjahr 1933 vermitteln dazu einen sehr anschaulichen Eindruck.213 Damals wurden die (zum großen Teil unterernährten) sowjetischen Arbeiter und Angestellten in Betriebsversammlungen wieder einmal dazu aufgefordert, dem Staat „freiwillig" eine Summe etwa in Höhe eines Monatslohns als Darlehen zur Verfügung zu stellen. Die 211

CAODM f. 667, op. 2, d. 55,1. 26. Vgl. CAODM f. 667, op. 2, d. 55,1. 14 oder CMAM f. 644, op. 1, d. 27,1. 1-5. Materialy pionerskoj druziny skoly 1950/51,1. 1-5. 213 Informacionnye svodki, pis'ma, obzory, politinformacii VCSPS, soprofov ο sostojanii raboty proforganizacii na predprijatijach i sovchozach, ο nastroenijach otdel'nych rabocych, ο vylazkach klassovych vragov. 1933 g. Vgl. GARF f. 5451, op. 43, d. 28. 212

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genaue Höhe sollten sie dabei selbst festlegen. Faktisch war die Zeichnung der Anleihe erzwungen, doch durfte dies nicht ausgesprochen werden. Der Diskurs der „Freiwilligkeit" verlieh der Maßnahme den Charakter eines politischen Plebiszits für die Ziele des Regimes. Die abstimmende Arbeitsbevölkerung wurde dabei in analoger Weise zur Geisel genommen wie vor ihr die Mitglieder des Zentralkomitees der kommunistischen Partei. Die meisten Arbeiter empfanden es als ausgesprochen demütigend, die erzwungene Anleihe als „freiwillig" bezeichnen zu müssen, respektierten aber das Tabu.214 Einige Lohnempfänger ließen sich jedoch regelmäßig durch das mit dem Anspruch der „Freiwilligkeit" verbundene Immunitätsversprechen provozieren und verweigerten sich der Forderung. Daraufhin fühlten sich die Partei, die Gewerkschaft und die „Öffentlichkeit" ihrerseits herausgefordert, mit dem Verweigerer „kameradschaftliche Gespräche" zu führen und seine Motive zu erforschen. Die Verweigerung als solche galt noch nicht als „antisowjetischer Ausfall", aber das intensive Gespräch forderte häufig eine „antisowjetische" Haltung zutage, die dann entsprechend geahndet werden konnte. Die höheren Instanzen ließen sich über den Gang der Dinge akribisch Bericht erstatten und erhielten so auch einen Überblick über die Wirksamkeit der Parteiarbeit in den einzelnen Betrieben. Im Leningrader Bankensystem beispielweise war die Situation recht erfreulich: Von 7.900 Angestellten weigerten sich gerade einmal acht Personen, die Anleihe zu zeichnen. Die meisten erklärten ihre Weigerung mit ihrer „schlechten materiellen Lage" und zwei gaben an, „einfach nicht zu wollen". Einer stellte sich bei näherer Überprüfung allerdings als Sohn eines ehemaligen Polizeigendarmen heraus, woraufhin seine Kollegen ihm den „Boykott" erklärten und alle nicht-dienstlichen Beziehungen zu ihm abbrachen.215 Wer Gründe hatte, die Durchleuchtung seiner „sozialen Herkunft" zu fürchten, konnte es sich kaum leisten, das Prinzip der „Freiwilligkeit" zu strapazieren.216 Wenn Arbeiter nur eine kleine Summe zeichneten und das überzeugend mit einer ganz persönlichen, akuten finanziellen Notlage begründen konnten, so wurde das noch am ehesten akzeptiert - allerdings mußten sie darauf achten, den richtigen Tonfall zu finden. Die „sozialistische Öffentlichkeit" reagierte sehr empfindlich auf Bemerkungen, die als politische Kritik an der Ernährungslage aufgefaßt werden konnten. Als etwa ein Arbeiter öffentlich ausrief, er zeichne schon seit sechs Jahren sämtliche Anleihen und er wolle nun „wenigstens ein einziges Mal zu Mittag essen", da erteilte ihm der „fortschrittliche

2,4

GARF f. 5451, op. 43, d. 28,1. 202, 199. GARF f. 5451, op. 43, d. 28,1. 209. 216 Der prominente ehemalige Trotzkist Ivar Smilga, der 1933 im RSFSR-Volkskommissariat für Finanzen arbeitete, zeichnete die Anleihe mit 133 Prozent seines Monatsgehalts und hoffte wohl, auch auf diese Weise seine Loyalität zu demonstrieren. GARF f. 5451, op. 43, d. 28,1. 209. 215

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Teil der Arbeiter" eine „scharfe Abiuhr". 217 Als Provokation wurde auch das spöttische Angebot des Arbeiters Kuranovskij aus Dubno aufgefaßt, der „wie ein Bettler" seine Uhr stiften wollte, anstatt die Anleihe zu zeichnen.218 Zu einem regelrechten Skandal kam es dagegen in einer Reutover Fabrik, wo die Verweigerung den Charakter eines kollektiven Protestes erhielt. Nur knapp die Hälfte der Arbeiter unterzeichnete die Anleihe. Daß die Gruppe der Verweigerer vom Brigadier, Parteimitglied und prämierten Stoßarbeiter Korovin angeführt wurde, war aus der Sicht der Obrigkeit besonders ärgerlich. Gewerkschaftsfunktionäre aus dem Moskauer Gebietszentrum kamen angereist und halfen der lokalen Parteiführung, die „sozialistische Öffentlichkeit" zu einer Kampfgemeinschaft gegen Korovin zu formieren. Auf einer Versammlung mit zweihundert Teilnehmern appellierte der Zellensekretär Suvalov an die Emotionen der Arbeiter und beklagte sich über den Kommunisten Korovin, dem die Partei „immer vertraut" und dem sie „Autorität verschafft" habe. Sie habe ihn nun zwar ausgeschlossen, aber in der Fabrik, so Suvalov, sei es die Angelegenheit der Arbeiter, sich mit Korovin auseinanderzusetzen. Mit diesen Worten „legte er das Porträt des ehemaligen Bestarbeiters Korovin auf den Tisch, das anschließend von den anwesenden Arbeitern (die die Anleihe gezeichnet hatten) zerfetzt wurde."219 Die Arbeiter aus Korovins Brigade begriffen daraufhin, daß die Parteiobrigkeit eher bereit war, eine „Autorität" zu opfern als sich mit ihrer Verweigerung abzufinden, und erklärten sich ebenfalls zur Zeichnung bereit. Endlich kapitulierte auch Korovin selbst, „gestand seinen Fehler ein" und zeichnete die Anleihe in Rekordhöhe: „Als Korovin sah, daß ... die Brigade insgesamt und jeder einzelne sich für die Zeichnung ausgesprochen hatte und daß er isoliert war, trat er heraus und sagte: Tragt für mich 400 Rubel ein (er verdient 250 Rubel monatlich). Danach unterschrieb auch die übrige Brigade vollständig..." 220

Wo der Interessenkonflikt zwischen Arbeitern und Obrigkeit so eindeutig war wie bei dieser Zwangsanleihe, da erlangte die „sozialistische Öffentlichkeit" eine gewisse Ähnlichkeit mit den politischen Abstimmungsgremien zur Zeit der innerparteilichen Auseinandersetzungen. Widerstandsnester wurden kartographiert und ausgehoben, die Rädelsführer wurden isoliert und systematisch 217 GARF f. 5451, op. 43, d. 28,1. 208. Der Vorfall ereignete sich in einer Schuhfabrik im Nordkaukasus. 2,8 GARF f. 5451, op. 43, d. 28,1. 202. Manche Arbeiter weigerten sich allerdings nur aus taktischen Gründen, um so die Aufmerksamkeit der „Öffentlichkeit" in einer ganz bestimmten Angelegenheit zu erhalten. Der Arbeiter Federov wollte etwa das Fabrikkomitee dazu zwingen, endlich auf seine vor Monaten eingereichte Beschwerde zu antworten. Dieses Vorgehen wurde in diesem Fall sogar akzeptiert und der Vorsitzende des Fabrikkomitees kurz darauf wegen Ignoranz gegenüber den Beschwerden der Arbeiter abgelöst. Vgl. ebenda, 1. 205. 219 GARF f. 5451, op. 43, d. 28,1. 206. Dieser Vorfall fand allerdings die Mißbilligung der Gewerkschaftszentrale. 220 GARF f. 5451, op. 43, d. 28,1. 206.

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zur „Einsicht in ihre Fehler" gezwungen, bis schließlich überall die völlige Einstimmigkeit herrschte. Unterschwellig regierte hier wie dort hilflose Fassungslosigkeit über die Kluft zwischen der zur Schau getragenen Begeisterung und dem verborgenen Widerwillen. Auch nach dem Abflauen der Massenkampagne gegen „bürgerliche" Ingenieure, „rechtsabweichlerische" Fabrikdirektoren und korrupte „Bürokraten" wünschte sich die Parteizentrale, daß die sowjetischen Bürger „von unten nach oben" Kritik äußern sollten, wenn auch in einer zivileren Form als zuvor. Anstatt die „bürgerlichen Ingenieure" einer kollektiven Treibjagd auszusetzen, sollten Angestellte und Arbeiterkorrespondenten ihre Aufmerksamkeit auf objektive Mißstände konzentrieren und diese gemeinsam mit der Obrigkeit praktisch bekämpfen. Die „Selbstkritik" nahm etwa diejenigen Formen an, wie sie Tomskij und Bucharin 1928 propagiert hatten; man sollte - im Zuge der „Kulturrevolution" - den rückständigen Arbeitern beibringen, wie sie ihre berechtigte Kritik vernünftig „von unten" artikulieren konnten.221 Wie bereits im zweiten Kapitel beschrieben, verlor die Berichterstattung der Arbeiterkorrespondenten und Wandzeitungen an Schärfe und wurde immer mehr zu einem „Erziehungsinstrument" der Betriebsleitung.222 Niemand beklagte sich mehr über das Ausbleiben einer spontanen „Welle der Arbeiterkritik von unten"; es war durchaus nicht gegen den Willen der Obrigkeit, wenn nicht kontrollierbare Kritiker statt dessen wieder zu den wenig aussichtsreichen Möglichkeiten der nichtöffentlichen Beschwerde zurückkehrten.223 In der Betriebsöffentlichkeit legten nun die Gewerkschaft, die Kontrollbehörde Rabkrin und andere Einrichtungen die Themen der „Selbstkritik" fest und versuchten daraufhin, die „proletarischen Massen mit einzubeziehen". Klaus Mehnert, der 1934 Magnitogorsk besuchte, schilderte dem deutschen Zeitungsleser, wie kollektive „Selbstkritik" im Idealfall funktionierte: „Im Saal sitzen 150 Udarniki einer Werksabteilung... Ein Ingenieur und ein Meister haben Referate gehalten, wie die Arbeit noch weiter verbessert werden könnte. Jetzt ist Diskussion, zahlreiche Arbeiter melden sich zu Wort. Alles, was sie zu sagen haben, ist schärfste Selbstkritik, Kritik vor allem an der völlig ungenügenden Qualifikation, der bäuerlichen Arbeitermasse und an der schlechten Organisation. ... Kein einziger verliert ein Wort über

221

Zu Tomskij vgl. Jakovlev: Kak lomali NEP, Τ. 1, S. 261. Diese Entwicklung wird gut in den Erinnerungen Ja. Michailovs deutlich, der jahrelang Redakteur der Betriebszeitung „Martenovka" (im Moskauer Großbetrieb „Serp i Molot") war. Vgl. GARF f. 7952, op. 3, d. 216,1. 81-113. Michailov bedauerte, daß die Zeitung seit den zwanziger Jahren stark an Massenresonanz und „Schärfe" eingebüßt habe. S. 87. 223 Das waren vor allem Briefe an die Parteikomitees, an das Beschwerdebüro, an die Arbeiter-und-Bauem-Inspektion, an Zeitungen und Zeitschriften, an den Geheimdienst und an viele weitere Adressaten bis hin zu Stalin persönlich. Vgl. u.a. Shiela Fitzpatrick·. Signals from Below: Soviet Letters of Denunciation of the 1930s, in: Dies., Robert Cellately (Hrsg.): Accusatory Practices. Denunciation in Modern European History, 1789-1989, Chicago 1997. Vgl. auch: Oleg Chlevnjuk (Red.) u.a.: Pis'ma vo vlast'. 1928-1939: Zajavlenija, zaloby, donosy, pis'ma ν gosudarstvennye struktury i sovetskim vozdjam, Moskau 2002. 222

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die schlechten Lebensverhältnisse. Das ganze Interesse, die gesamte Diskussion der Leute dreht sich ausschließlich um den Arbeitsprozeß und die Möglichkeit, ihn zu verbessern."224

In dieser Passage spiegelt sich auch die für Mehnert typische Faszination vom „Heroismus" der Russen wider. Da es ein erklärtes Ziel der Obrigkeit war, die Arbeiter zu „kultivieren", bedeutete es in diesen Jahren keine Tabuverletzung, die Lebensumstände im konkreten Fall für unbefriedigend zu halten. Die sowjetische Propaganda erkannte sehr wohl den Zusammenhang zwischen alltäglicher Hygiene und Arbeitsproduktivität und befaßte sich auch mit Problemen, deren Überwindung im Interesse aller Beteiligten liegen mußte. Dazu gehörten so verschiedene Dinge wie die hohe Verletzungsgefahr in der Industrie, fehlende Kindereinrichtungen, der Dreck auf den Straßen oder die unzureichende Versorgung der Arbeiter mit Gemüsebeeten. Wo die „Selbstkritik" in Sozialpädagogik überging, kam sie manchmal nicht mehr von unten oder von oben, sondern gewissermaßen von der Seite. „Proletarische" Kontrollgruppen wie die „leichte Kavallerie" oder gewerkschaftlich organisierte Gruppen der „Basis-Massenkontrolle" sollten die „Kultur" und das „fortschrittliche" Bewußtsein in „rückständigen" Milieus (vor allem den Kolchosen) verbreiten. Den gleichen Effekt erhoffte man sich von den langfristig angelegten „Patenschaften" (sefstva) zwischen verschiedenen „Kollektiven". Die Wirksamkeit solcher Einrichtungen hing in der Praxis stark vom Idealismus und dem Engagement einzelner Personen ab. Als etwa die Betriebsärztin Astaf'eva versuchte, die hohe Verletzungsquote in der abgelegenen Nadezdinsker Metallfabrik zu senken, stieß sie anfänglich bei Arbeitern, der Betriebsleitung und sogar den örtlichen Parteifunktionären auf Gleichgültigkeit und Widerstand.225 Nur durch ihre hartnäckige Einmischung in den Arbeitsablauf und die Mobilisierung der gesamten Betriebsöffentlichkeit gelang es ihr, ein Sicherheitsbewußtsein zu entwickeln und die Belegschaft zur Einhaltung von Vorschriften zu bewegen. Die Betriebsleitung fühlte sich anfangs durch die Einmischungen Astaf'evas in ihrer Autorität bedroht, während die Arbeiter den Gesundheitsdiskurs nur als Aufforderung mißverstanden, sich bei ihr über die mangelnde Ernährung, die schlechte Bezahlung und vieles andere zu beschweren.226 Astaf'eva ließ allerdings keinen Zweifel daran, daß sie ihr eigentliches Ziel in der Produktivitätssteigerung erblickte, und sie machte nebenbei aus der Gesundheitspolitik eine Technik der Sozialkontrolle: Sie legte eine Gesundheitskartei sämtlicher Arbeiter an, fand heraus, daß Fabrikmeister manchmal aus Gefälligkeit Arbei224

Klaus Mehnerf. Das zweite Volk meines Lebens. Berichte aus der Sowjetunion 1925— 1983, Stuttgart 1986, S. 154. Der Band enthält eine Sammlung von Artikeln, die Mehnert als Korrespondent für deutsche Tageszeitungen verfaßte. 225 Vgl. Τ. M. Astaf'eva·. Opyt raboty zdravpunkta nadezdinskogo zavoda, in: V. I. Velickina (Hrsg.): Zdravpunkty Urala ν bor'be za snizenie zabolevaemosti rabocich. Opyt raboty zravpunktov zavodov, premirovannych na vsejrossiiskom konkurse zdravpunktov 1931-32 gg., Moskau 1933, S. 8-24. 226 Vgl. Astaf'eva·. Opyt raboty zdravpunkta nadezdinskogo zavoda, S. 10.

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ter krankschrieben, und schickte die „leichte Kavallerie" los, um Simulanten zu entlarven.227 Aus der Sicht des Regimes waren Aktivistinnen wie Astaf'eva besonders wertvoll, die es verstanden, gegenüber den lokalen Verflechtungen unabhängig zu bleiben und mit unbestechlicher Kritik im Sinne des „höheren" Bewußtseins auf alle Seiten gleichmäßig Druck auszuüben. Im Unterschied zu ihr konnten die gewöhnlichen sowjetischen Arbeiter normalerweise nicht auf den Rückhalt höherer Parteiinstanzen zählen. Um dieses Problem ein wenig zu mildern, unterhielt die Gewerkschaftszentrale in den dreißiger Jahren ein Netzwerk sogenannter „freiwilliger Signalisten" (dobrovol'cysignalisty), deren Aufgabe darin bestand, über die Mißstände in ihrem Betrieb zu berichten.228 Die Einrichtung dieses Instituts verdeutlichte auch den Bedeutungsverlust der Arbeiterkorrespondenten. Da den öffentlichen Wand- und Betriebszeitungen immer weniger Spielraum blieb, die spontane Arbeiterkritik wiederzugeben, mußte die Zentralbehörde nun einen anderen Weg finden, um Informationen über Mißstände zu erhalten. Die „Signalisten" berichteten über den Stand der lokalen Durchführung zentraler Beschlüsse und erhielten daraufhin Anweisungen, wie sie sich an ihrer Arbeitsstelle verhalten sollten. Signalist und Arbeiterkorrespondent waren in der Praxis häufig identisch. Abgesichert durch den direkten Draht nach Moskau, konnten sie in dieser Doppelfunktion auf die Obrigkeit spürbaren Druck ausüben. Andererseits hatte die Gewerkschaftszentrale kein Interesse an innerbetrieblichen Machtkämpfen und wies ihre Signalisten gegebenenfalls in die Schranken. So etwa den Korrespondenten Kogan aus Baku. Dieser hatte sich allzu hitzig darüber beschwert, daß die Druckerei „Dritte Internationale" seine Ermahnungen in puncto Arbeitsschutz und Alltagskultur völlig ignoriert habe. Kurz darauf ergriff der Betrieb eine Reihe großzügiger Maßnahmen und bestrafte im selben Moment Kogan für seine „ungehörige" Kritik. Der Moskauer Gewerkschaftsfunktionär Petergerenko ermutigte daraufhin Kogan, „seinen Fehler einzugestehen" und zuzugeben, daß er der lokalen Obrigkeit Unrecht getan hatte - gleichzeitig verabredete er mit den Kollegen aus Baku, daß Kogan danach seine bisherige Stellung im Betrieb zurückerhalten müsse. Kogan war schließlich auch zu einem „Fehlereingeständnis" bereit, rechnete sich aber weiterhin das Verdienst an, die Verbesserungen mit seiner Hartnäkkigkeit erst erzwungen zu haben.229 Die öffentliche „Selbstkritik von unten" war in ruhigen Zeiten vor allem dort erfolgreich, wo qualifizierte Einzelpersonen wie die Ärztin Astaf'eva oder der Drucker Kogan auf den Rückhalt höherer Instanzen zählen konnten. 227

Astaf'eva: Opyt raboty zdravpunkta nadezdinskogo zavoda, S. 12-14. Vgl. z.B. GARF f. 5451, op. 18, d. 73. VCSPS, Orgotdel. Perepiska instruktorov VCSPS s dobrovol'cami-signalistami ο rabote na mestach. 229 Vgl. GARF f. 5451, op. 18, d. 73,1. 86-90. Die Episode ereignete sich im August und September 1934. 228

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Dann war es für die Vorgesetzten nicht so leicht, die Vorwürfe zu unterdrükken, sie mußten aber auch weniger Angst davor haben, die Kritik könnte in querulantische Streitereien, Machtkämpfe oder in eine blinde Hetzjagd auf „Spezialisten" und „Bürokraten" ausarten. Die Stachanov-Bewegung führte in den Jahren 1935 bis 1938 schließlich zu einem neuen Höhepunkt der massenhaften „Selbstkritik von unten", die nach dem Februar-März-Plenum 1937 mit der allgemeinen „Schädlingssuche" verschmolz.230 Mit dem Angebot, die Übererfüllung der Arbeitsnorm materiell und ideell großzügig zu honorieren, provozierte das Regime einen Interessenkonflikt zwischen Arbeitern und Vorgesetzten, dessen Frontlinien plötzlich ganz anders verliefen als bisher. Da die neuen Spielregeln vor allem die kurzfristige individuelle Arbeitsleistung, nicht aber das langfristige Betriebsergebnis honorierten, kam es vielerorts zur ungewohnten Situation, daß einzelne Arbeiter pro Arbeitstag so viel wie möglich leisten wollten und dabei ausgerechnet von der Betriebsleistung gebremst wurden. Die Direktoren befürchteten nicht nur einen vorzeitigen Verschleiß der Maschinen und die Vergrößerung der Unfallgefahr, sondern hatten aufgrund der schleppenden Materialversorgung von individuellen Rekordleistungen oft auch gar keinen Nutzen. Stalins Rede auf der ersten Allunionsversammlung der Stachanowisten im November 1935 verlieh diesen aber enorme Autorität und wirksamen Schutz vor Kritik. Kaganovic forderte sie zusätzlich dazu auf, „Unfallverursacher, Liedeijane und Verletzer der Arbeitsdiziplin zu entlarven" und „wachsam zu sein."231 Das kurz darauf stattfindende Plenum des Zentralkomitees verlangte sogar, „den noch vorhandenen Widerstand gegen die Stachanow-Bewegung zu brechen", und wies die Partei- und Gewerkschaftsorganisationen an, „klassenfeindliche Elemente bei ihrem Versuch der Diskreditierung der Stachanowisten zu entlarven sowie die breite Masse der Arbeiter um die Stachanov-Bewegung zu scharen."232 Danach waren die Stachanowisten in der Lage, sich innerhalb der Betriebe gegen Ingenieure und Direktoren in Fragen des Produktionsablaufs durchzusetzen. Im Frühjahr 1936 führte der Sekretär des Donezker Gebietskomitees, Sarkisov, bereits eine lokale Kampage, die den Widerstand gegen stachanowistische Methoden mit Sabotage und „Schädlingstätigkeit" gleichsetzte.233 Zu diesem Zeitpunkt gab es im Politbü230

Zur Stachanov-Bewegung vgl. insbesondere Lewis H. Siegelbaum: Stakhanovism and the Politics of Productivity in the USSR, 1935-1941, Cambridge 1988 und Robert Maier: Die Stachanov-Bewegung 1935-1938. Der Stachanovismus als tragendes und verschärfendes Moment der sowjetischen Gesellschaft, Stuttgart 1990. 231 Rede Lazar Kaganovics auf der Allunionsversammlung der Stachanovisten, in:Legkaja Industrija, 17. November 1935. Zitiert nach Maier. Die Stachanov-Bewegung, S. 89. 232 Rezoljucija plenuma CK VKP(b) 25 dekabrja 1935 g., in: Resenija partii i pravitel'stva po chozjajstvennym voprosam, T. 2, Moskau 1967, S. 560f. Zitiert nach: Maier: Die Stachanov-Bewegung, S. 97. Zur Bedeutung der Allunions-Konferenz und des CK-Plenums vgl. ebenda, S. 86-98. 233 Vgl. Siegelbaum: Stakhanovism and the Politics of Productivity, S. 118-119.

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ro allerdings noch Widerstände gegen die Eskalation des Konflikts. Postysev warnte Anfang Juni in der „Pravda" die Stachanovisten vor „politischem Rowdytum" gegen die Betriebsleiter und rief sie dazu auf, konservative Angestellte zu überzeugen anstatt sie der Sabotage zu beschuldigen.234 Ende Juni veranstaltete Sergo Ordzonikidze im Volkskommissariat für Schwerindustrie eine Konferenz, bei der sowohl Industrieleiter wie Stachanowisten zu Wort kamen. Arbeiter wie Busygin aus den Molotov-Autowerken kritisierten die Verantwortlichen für ihre Lethargie und Passivität.235 Ordzonikidze war selbst einer der Gründungsväter der Stachanov-Bewegung und versuchte die Gegensätze zu schlichten. Bis zum Februar-März-Plenum 1937 gelang es ihm, die Industrieleiter einigermaßen vor Sabotagevorwürfen und Hetzkampagnen zu beschützen.236 In der zugespitzten Atmosphäre der folgenden Monate, als die Presse über die Schauprozesse in Novosibirsk (November 1936) und Moskau (August 1936 und Januar 1937) berichtete, wurde das allerdings immer schwieriger. Robert Maier zufolge waren die Stachanowisten in besonderem Maße für die Botschaft der Anklageschriften empfänglich, die sich „wie eine Auflistung ihrer eigenen Vorwürfe" gegen die Obrigkeit lasen.237 Der Direktor der Dnepropetrovsker Metallfabrik Birman beklagte sich in dieser Zeit etwa bei Ordzonikidze, daß die Parteilosung der „Entfaltung von Kritik und Selbstkritik" vielfach als Aufforderung mißverstanden werde, „sich gegenseitig mit Dreck zu übergießen, vor allem aber eine bestimmte Kategorie von leitenden Angestellten".238 Es wäre jedoch irreführend anzunehmen, daß die Kritik der Stachanowisten immer und ausschließlich die Form einer politischen Hetzjagd angenommen hätte. Viele Arbeiter wußten ihre Statusaufwertung auch in gemäßigter Form zu nutzen. Der Augenzeuge John Scott berichtet, wie Magnitogorsker Arbeiter in Produktionsversammlungen Vorschläge unterbreiteten, den Direktor kritisierten und sich über die schlechten Lebensbedingungen beklagten.239 Maier nennt in seiner Monographie zahlreiche Beispiele, wie Stachanowisten sich 1936 immer mehr die Rolle der Aufpasser und Erzieher aneigneten, die - ganz im Sinne des wiederbelebten Schlagworts „Selbstkritik" - sowohl die Arbeit ihrer Kollegen wie auch der Betriebsleitung überwachten. Sie nannten dem Direktor Namen von „Pfuschern", „faulen und unfähigen Meistern", schrieben in der Presse „kritische" Artikel und brachten innerbetriebliche Gesetzes234

Siegelbaum : Stakhanovism and the Politics of Productivity, S. 119-120. Vgl. Siegelbaum·. Stakhanovism and the Politics of Productivity, S. 131. 236 Vgl. Siegelbaum·. Stakhanovism and the Politics of Productivity, S. 135-144 und Chlevnjuk: Stalin i Ordzonikidze. 237 Vgl. Maier: Die Stachanov-Bewegung, S. 424 und S. 37iM03. 238 Der Brief ist im Original nicht erhalten, wurde aber von Molotov auf dem Februar-MärzPlenum zitiert. Vgl. Voprosy Istorii, 1993, Nr. 8, S. 2-26. Hier zitiert nach Chlevnjuk: Stalin i Ordzonikidze, S. 113. 239 John Scott: Behind the Urals. An American Worker in Russia's City of Steel, London 1943, S. 130. 235

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Übertretungen zur Anzeige.240 Mancherorts benutzten die Stachanowisten ihre Autorität, um den Beschwerden aller Arbeiter bei der Betriebsleitung Gehör zu verschaffen und willkürliche Benachteiligungen zu unterbinden.241 Doch nachdem Ordzonikidze verstorben war und das Februar-März-Plenum 1937 die ganze Sowjetgesellschaft zur Suche nach „Schädlingen" aufgerufen hatte, waren die Schranken für die politische Denunziation aufgehoben. Die Stachanowisten fühlten sich offenbar in besonderem Maße berufen, sich an der „Entlarvung" von „Schädlingen" zu beteiligen, während sie selbst von Verhaftungen weitestgehend verschont blieben.242 Neben den erpreßten Aussagen bereits verhafteter Personen wurde die „Arbeiterkritik" unbehelligter Stachanowisten somit zu einer weiteren Quelle von „Belastungsmaterial" gegen die „entlarvten Schädlinge". Nach dem Ende der Massenverhaftungen, im Herbst 1938, kehrte die sowjetische Propaganda wieder zu der Annahme zurück, daß Produktionsausfälle und Havarien nicht auf „Schädlingstätigkeit", sondern nur auf Mißmanagement und schlechte Arbeitsdiziplin zurückzuführen seien.243 Die Stachanov-Bewegung lebte noch jahrelang weiter und wurde nach dem Krieg auch in die sozialistischen Satellitenstaaten exportiert. Doch durch die drakonische Gesetzgebung der Jahre 1938 bis 1940 (siehe unten) wurden die sowjetischen Arbeitnehmer von der Betriebsleitung in einem solchen Maße abhängig, daß es zu einer vergleichbaren Welle der „Kritik von unten" nicht mehr kommen konnte. Bis zum Ende der NEP galt die Entlassungsdrohung in sowjetischen Betrieben als wichtigster Disziplinierungsfaktor, der unter den Bedingungen der dreißiger Jahre jedoch viel von seiner Wirksamkeit einbüßte. Da zudem viele der neurekrutierten Arbeiter vom Dorf kamen und noch kein Verständnis für den industriellen Arbeitsrhythmus hatten, standen die Großbetriebe vor einem ernsthaften Erziehungsproblem. Zwar hatten sich die Methoden der erzieherischen „Selbstkritik" in der Massenarbeit schon Ende der zwanziger Jahre flächendeckend durchgesetzt, und es gab wohl kaum einen Betrieb, der sich den Kampagnen des „sozialistischen Wettbewerbs" oder der „Stoßarbeiterbewegung" hätte verweigern können. Unbestritten herrschte der Grundsatz, daß die innerbetriebliche Obrigkeit bei der Verurteilung von Disziplinverletzern stets die Arbeiteröffentlichkeit aktiv „mit einbeziehen" sollte, anstatt sich bloß auf die „bürokratische" Kommandogewalt zu verlassen. Doch in der Frage, wie man die einzelnen Personen im Betrieb disziplinieren sollte, blieb die Haltung des Regimes und der Propaganda stets doppelbödig. Nicht immer schöpfte die Obrigkeit alle Möglichkeiten aus, um den 240

Vgl. Maier. Die Stachanov-Bewegung, S. 233-234 und Siegelbaum: Stakhanovism and the Politics of Productivity, S. 136. 241 Vgl. Maier: Die Stachanov-Bewegung, S. 234-236. 242 Siegelbaum: Stakhanovism and the Politics of Productivity, S. 255 und Maier: Die Stachanov-Bewegung, S. 394. 243 Siegelbaum: Stakhanovism and the Politics of Productivity, S. 259-260.

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aufgefallenen Arbeiter zu erziehen; manchmal griff sie spektakuläre Disziplinverletzungen bereitwillig auf, um ein Exempel zu statuieren. Dann gab es kein „kameradschaftliches Gespräch", sondern ein Scherbengericht, das allenfalls auf die Erziehung der Zuschauer abzielte. Der Redakteur der Fabrikzeitung „Martenovka" gab zu, daß es eigentlich nur ein „unbedeutendes Ereignis" war, als der Schlosser Fasonki Borovik Anfang 1933 aus Wut über den Nichterhalt des gewünschten Zimmers dem Sekretär sein Parteibuch auf den Schreibtisch warf.244 Doch die Zeitung verstand es, die Bedeutung dieses Vorfalls, wie es im offiziellen Sprachgebrauch hieß, „auf ein prinzipielles Niveau zu heben" (podnjat'naprincipial'nuju vysoty), indem sie ausführlich über Boroviks Verhalten und die anschließende Versammlung berichtete. Dort wurde er als Egoist angeprangert, der unverschämte Ansprüche stellte, anstatt sich an der Parteikampagne für die Industrieanleihe zu beteiligen. Redakteur Michajlov war stolz darauf, daß aufgrund dieser Zeitungsartikel der Name Boroviks in der Fabrik zum Synonym für Egoist wurde.245 Wer offenes Protestverhalten an den Tag legte, wurde eher zur Negativperson gestempelt als der unauffällige Disziplinverletzer. „Zurückgebliebene" Arbeiter, die erst kurz zuvor vom Dorf in die Fabrik gekommen waren, konnten mit einer gewissen „erzieherischen" Milde rechnen. Im Konfliktfall versuchten sich die Arbeiter daher häufig als unbedarfte „Tölpel vom Land" hinzustellen, die für Regelverstöße oder Tabuverletzungen nicht voll verantwortlich gemacht werden konnten. Häufig war sich die Betriebsobrigkeit uneinig und manchmal wurden Entscheidungen auch wieder rückgängig gemacht. So etwa im Fall der beiden Arbeiter Galko und Naumenko. Sie hatten angeblich auf einer Versammlung den Kollegen Frolov verteidigt, der die Werkmeisterin Arochina verprügelt hatte.246 Die allgemeine Abteilungsversammlung hatte daraufhin beschlossen, daß Galko und Naumenko entlassen werden müßten. Das Fabrikskomitee berief jedoch ein „erweitertes Plenum" ein, wo die Angelegenheit nochmals besprochen wurde. Auch hier begründeten mehrere Redner, weshalb sie die Entlassung für notwendig hielten. Einer wies darauf hin, daß beide ihre Äußerungen „erst zurücknahmen, nachdem ein Vertreter des Parteikomitees aufgetreten war", und ein anderer deutete ihr Verhalten politisch als Ausdruck klassenfeindlicher Gesinnung. Die beiden seien bekannt dafür, daß sie die Arbeiter ihrer Abteilung „moralisch zersetzen" wollten. Doch die Identifikation mit dem Feind blieb diesmal wirkungslos, den Ausschlag gaben 244

GARF f. 7952, op. 3, d. 216,1. 9. „Martenovka" war eine Fabrikzeitung im Moskauer Großbetrieb „Serp i molot". 245 GARF f. 7952, op. 3, d. 216,1. 97. 244 Vgl. GARF f. 7952, op. 3, d. 560,1. 13-14. Der Fall ereignete sich im November 1931 in der Fabrik „Moskabel'". Leider geht aus dem Dokument nicht eindeutig hervor, ob die beiden die Tat wirklich verteidigen wollten oder ihre Rede nur von manchen so interpretiert wurde. Dem Gang der Dinge nach zu schließen war eher letzteres der Fall.

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statt dessen die Verfechter der „pädagogischen" Vorgehensweise: Entlassungen seien „immer der leichteste Ausweg", die Aufgabe bestehe aber darin, die „Menschen umzuerziehen" und „dem Arbeiter das Falsche an seinen Ansichten zu erläutern". Das Plenum begnügte sich nicht damit, die Entlassungen rückgängig zu machen, sondern bezeichnete sie sogar darüber hinaus als „Unterdrückung der Selbstkritik" durch das Abteilungskomitee. Schließlich hätten Galko und Naumenko als Gewerkschaftsmitglieder das „Recht gehabt, in der Betriebsarbeit die Selbstkritik zu entfalten".247 Ob das Kharkhordin'sche kollektiv der Betriebsöffentlichkeit sich zu einem Scherbengericht formierte oder mit ernsten Ermahnungen begnügte, hing also auch von Zufälligkeiten und persönlichen Beziehungen ab, die sich anhand der Archivmaterialien nicht rekonstruieren lassen. In ruhigen Zeiten galt es als Zeichen eines guten Partei- oder Gewerkschaftsfunktionärs, wenn er seine Leute gut kannte und somit in der Lage war, angemessen zu reagieren. Auf einer Versammlung des Moskauer Kirov-Rayons, wo die Parteiorganisatoren 1934 ihre Erfahrungen aus dem Fabrikalltag austauschten, erklärte etwa ein Genösse Terechov, wie er die Arbeitsdisziplin verbessert hatte:248 Zunächst hatte er sich bemüht, alle 80 parteilosen Arbeiter seiner Abteilung persönlich kennenzulernen, und befragte sie nach ihrer Vorgeschichte. Einige von ihnen zog er für die Redaktionsarbeit der Wandzeitung heran. Auf Verspätungen reagierte er erst mit individuellen Gesprächen; doch als er sah, daß diese „nicht ernst genommen" wurden, ging er dazu über, solche Vorfälle in der Gruppe zu besprechen. Auch die Produktion von Ausschuß wurde auf der Abteilungsversammlung besprochen, wo man die Schuldigen gehörig „durcharbeitete" und ihnen gegebenenfalls den Status des „Stoßarbeiters" und andere Vergünstigungen entzog.249 Terechovs Methode bestand also darin, die richtige Zusammensetzung aus moralischem Gruppendruck und administrativer Maßregelung zu finden. Es gibt hinreichend Belege dafür, daß diese Art der Arbeitserziehung nicht erfolglos war und von den Arbeitern auch verinnerlicht wurde. Erinnert sei hier lediglich an den von Kotkin zitierten „Brief an Marfa".250 Die Unentschiedenheit im Umgang mit individuellen Regelverletzern spiegelt sich auch in der Geschichte der „Kameradschaftsgerichte" (tovarisceskie sudy) wider. Wie Peter Solomon dargestellt hat, ging ihre Einführung 1928 auf 247

GARF f. 7952, op. 3, d. 560,1. 14. Stenogramma partijnogo sovesöanija gruppartorgov, cechpartorgov, sekretaija partorganizacii po voprosu obmena opytom partijno-massovoj raboty. 3.7.1934 goda. CAODM f. 67, op. 1, d. 1179. 249 CAODM f. 67, op. 1, d. 1179,1. 4-7. 250 In diesem Brief gab Anna Kovaleva, die Frau des vorbildlichen Lokomotivführers Aleksandr Kovaleva, ihrer Bekannten Marfa Gudzia, der Frau des schlechtesten Magnitogorsker Lokomotivführers, Jakov Gudzia, Ratschläge, wie sie auf ihren Mann erzieherisch einwirken sollte, um zu Ansehen und Wohlstand zu gelangen. Vgl. Kotkin: Magnetic Mountaion, S. 218-219.

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2. Die loyale Sowjetbevölkerung wird zur Rede gestellt

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eine Initiative des Justizministeriums zurück, das auf diese Weise die ordentlichen Volksgerichte von der Masse der Bagatellfälle entlasten wollte.251 Aber standen die „Kameradschaftsgerichte" nicht auch fur ein Modell der Sozialdisziplinierung, wo der moralische Druck des „Kollektivs" und die „ehrliche Reue" an die Stelle obrigkeitlicher Strafmaßnahmen treten sollten? Waren sie nicht nicht mehr spielerische Gerichtsdramen (agitsudy), bei denen die ritualisierte Beichte und Reue mit der sozialen Reintegration belohnt wurde?252 So unbestreitbar diese Tendenz existierte, so sehr fürchtete sich die sowjetische Propaganda vor den Mißverständnissen, die daraus entstehen könnten. Die Schriftstellerin Marietta Saginjan machte sich schon im 1931 erschienen Produktionsroman „Das Wasserkraftwerk" über entsprechende Klischees lustig: „Gemütlich ... blickte [der deutsche Schriftsteller, L. E.] mit Augen, die nichts erkannten, auf die Bühne und lächelte gerührt: , Alles ist sehr schön, sehr schön. Merkwürdig,... diese hohe Barmherzigkeit des Sowjetgerichts. Bei uns zu Hause gibt es in solchen Fällen ... einen rein formalen Standpunkt. Nicht wahr, der Dieb ist ein ,Bedniak', ein Dorfarmer...? Natürlich, er schämt sich und wird freigelassen. Oh, schön, schön, menschlich abgemacht!'"253

Saginjan legte diese Worte einem gutmütigen westlichen Intellektuellen in den Mund, der als weltfremder Schwächling unfähig war, die notwendige Härte des sozialistischen Aufbaus zu begreifen. Die Richterin Arusiak, eine positive Heldin des Romans, ließ sich vom „proletarischen" Auftreten des Bauarbeiters Sukjasianz jedenfalls nicht beeindrucken und verurteilte ihn wegen Diebstahls zu einer sechsmonatigen Gefängnisstrafe. Doch es gab Fälle, in denen die Realität dem Szenario des agitsud und der naiven Auffassung des deutschen Schriftstellers recht nahe kam. Im November 1930 berichtete die Fabrikzeitung „Martenovka" über ein sogenanntes „Revolutionstribunal" im Großbetrieb „Serp i molot", wo sechs Arbeiter wegen Trunkenheit am Arbeitsplatz, Absentismus, versuchten Diebstahls und in einem Fall sogar wegen „antisowjetischen Auftretens" vorgeladen wurden.254 Doch da die Sünder „reinherzig ihre Schuld eingestanden", begnügte sich das „Tribunal" damit, alle mit einer „strengen Verwarnung" davonkommen zu lassen.

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Zu den „Kameradschaftsgerichten" vgl. Peter H. Solomon: Criminalization and Decriminalization in Soviet Criminal Policy, 1917-1941, in: Law and Society Review 16 (1981-82), Nr. 1, S. 9-44; Piter Solomon: Sovetskaja justicija pri Staline, Moskau 1998. 252 Vgl. Cassiday: The Enemy on Trial. 253 Marietta Schaginjan: Das Wasserkraftwerk, Berlin 1952, S. 156. Sagninjan beschrieb allerdings kein Kameradschaftsgericht, sondern ein gewöhnliches Volksgericht (narodnyj sud), das auch Gefängnisstrafen verhängen durfte. 254 Gosudarstvennoe izdatel'stvo. Istorija fabrik i zavodov. Zavod Serp i molot. Vypiski, perepecatka statej iz gazety „Martenovka" za 1926-31 gg. GARF f. 7952, op. 3, d. 253, 1. 75. Revolutionstribunale waren am Ende des Bürgerkrieges abgeschafft worden; die Bezeichnung war hier nur ein Scherz.

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Manche Funktionäre waren davon überzeugt, daß die öffentliche Beschämung vor den eigenen Arbeitskollegen wirksamer war als strenge Strafmaßnahmen. Auf der zum Jahreswechsel 1933/34 stattfindenden „Ersten Allunionsversammlung der Produktions-Kameradschaftgerichte" (proizvodstvenno-tovarisceskie sudy) erzählten sich die Redner von „Faulpelzen" und „unverbesserlichen Blaumachern", die auf die öffentliche Bestrafung nicht nur mit Schuldbekenntnissen reagierten, sondern sich tatsächlich „besserten", zu Stoßarbeitern wurden, Prämien erhielten und in die Partei eintraten.255 Das Kameradschaftgericht wurde mitunter zum Ort einer dramatischen Katharsis: „Ein ... Maschinist, Genösse Kozlov, war Stoßarbeiter, doch er leistete sich ein Arbeitsversäumnis, für das er sich vor dem Kameradschaftgericht zu verantworten hatte. Am Anfang erklärte er dem Richter ruhig, was ihn dazu veranlaßt hatte, doch als der Vorsitzende ihn dazu aufforderte, das Gesicht den Genossen zuzuwenden und alles noch einmal zu erzählen, da erklärte er, es wäre, besser zur Erschießung an die Wand gestellt zu werden, als vor die Masse. Danach wurde er zum allerbesten Stoßarbeiter."256

In Kurgan brach ein Arbeiter, der fünf Pfund Heizöl gestohlen hatte, angeblich in Tränen aus, als er erfuhr, daß der Fall vor dem Kameradschaftgericht verhandelt werden sollte. Er wandte sich an den Richter mit der Bitte, vor ein ordentliches Gericht gestellt zu werden, wohl wissend, daß man ihn dort härter bestrafen würde.257 Doch nicht alle Verantwortlichen hatten einen so optimistischen Eindruck von der erzieherischen Wirkung. Manche zeigten sich frustriert darüber, daß die Kameradschaftgerichte sich mit „kirchlichen Bußritualen" (cerkovnye pokajanija) abgeben müßten, während das Volksgericht ernsthaftere Maßnahmen ergreifen konnte.258 Insbesondere die sowjetische Regierung erkannte in Kameradschaftsgerichten und Gruppenversammlungen kein geeignetes Mittel, um die Arbeitsdiziplin zu gewährleisten. Ein Gesetz vom 15. November 1932 setzte statt dessen auf repressive Maßnahmen. Demzufolge waren Betriebsleiter nicht nur berechtigt, sondern sogar verpflichtet, Arbeiter bei wiederholtem Fernbleiben zu entlassen, ihnen die Lebensmittelkarten zu entziehen und gegebenenfalls aus der Firmenwohnung zu expedieren. Im Unterlassungsfall waren die Direktoren selbst von Strafen bedroht.259 Es war ein offenes Geheimnis, daß die Direktoren dieses Gesetz in der Praxis unterliefen, etwa indem sie die Arbeiter formal entließen und am folgenden Tag wieder einstellten. Doch dieses halblegale Vorgehen taugte nicht für das Erziehungstheater der „sozialistischen Öffentlichkeit". In den „Kameradschaftsgerichten" erblickten die Direktoren eher ein Manipulationsinstrument und strebten danach, Urteile 255

So beispielsweise der Genösse Makarov aus der Moskauer Fabrik „Borec". Vgl. GARF f. 5451, op. 18, d. 254,1. 29. 256 GARF f. 5451, op. 18, d. 232,1. 70. 257 GARF f. 5451, op. 18, d. 254,1. 32. 258 Vgl. GARF f. 5451, op. 18, d. 254,1. 16. 259 Vgl. Solomon: Sovetskajajusticija pri Staline, S. 292-296.

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im voraus mit den Richtern abzusprechen; sei es, um unpopuläre Entlassungen öffentlich zu legitimieren, sei es, um einen Vorwand zur Wiedereinstellung entlassener Arbeiter zu schaffen.260 Aber schon vor der Einfuhrung des Dekrets hatten die Fabrikdirektoren von den Möglichkeiten der Gerichte nur wenig Gebrauch gemacht. Peter Solomon zitiert eine Quelle, der zufolge die Kameradschaftsgerichte im Leningrader Großbetrieb „Krasnyj putilovec" 1932 nur 250 Fälle behandelten, während die Betriebsleitung im selben Zeitraum über elftausend Strafen verhängte.261 Zwar zählte die Statistik zu Jahresbeginn 1933 in der UdSSR über zwanzigtausend Kameradschaftgerichte, doch bestanden die meisten von ihnen nur auf dem Papier.262 Peter Solomon hält das Projekt der Kameradschaftgerichte in den sowjetischen Betrieben insgesamt fur gescheitert. Einzelne Gerichte hätten begrenzten Erfolg gehabt, wenn sie von überdurchschnittlich engagierten Berufsrichtern aktiv unterstützt wurden. Doch in der zweiten Hälfte der dreißiger Jahre habe das Justizministerium sein Interesse an den Laiengerichten verloren. Sie hätten ihre Bedeutung fast vollständig eingebüßt, ehe sie in der Chruscev-Epoche wiederbelebt worden seien.263 Die Stachanowismus-Bewegung, die „Selbstkritik von unten" und die Massenverhaftungen führten im Betriebsalltag zu einer deutlichen Verschlechterung der Arbeitsdisziplin. Der Versuch, sie wiederherzustellen, hatte weniger „pädagogischen" als repressiven Charakter. Ein Gesetz vom Dezember 1938 verschärfte die Strafen gegen „Faulenzer und Bummelanten", und am 26. Juni 1940 erließ der Staat sogar ein Dekret, das Arbeitsversäumnisse mit Gefängnisstrafen und substanziellen Lohnkürzungen belegte.264 Die „sozialistische Öffentlichkeit" sollte sich weiterhin am Kampf gegen den Absentismus moralisch beteiligen, aber nun auf eine ganz andere Weise als bei Kameradschaftsgerichten oder Betriebsversammlungen. Eine regelrechte Propagandakampagne sollte gewährleisten, daß die Verantwortlichen dieses Gesetz auch in seiner ganzen Härte durchsetzten. In krassem Unterschied zu den Spielregeln der Kameradschaftsgerichte durften positive Begutachtungen nun ebensowenig eine mildernde Rolle spielen wie die „reinherzige Einsicht in den Fehler".265 Es ging nicht mehr um Erziehung, sondern nur noch um Abschreckung. Die Justizverwaltung verlegte den Ort der Gerichtsverhandlung in die Betriebe, um den Arbeitern die Wirkung des neuen Gesetzes zu

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Vgl. Solomon: Criminalization and Decriminalization, S. 33; GARF f. 5451, op. 18, d. 254,1. 20-21. 261 Solomon: Criminalization and Decriminalization, S. 33. 262 GARF f. 5451, op. 18, d. 232,1. 70. 263 Solomon: Criminalization and Decriminalization, S. 33-37. 264 Zu diesem Gesetz vgl. Solomon: Sovetskajajusticijapri Staline, S. 291-313; Chlevnjuk: 26 Ijunja 1940 goda: Illjuzii i real'nosti administrirovanija, in: Kommunist, 1989, Nr. 9, S. 86-96. 265 Vgl. Solomon: Sovetskajajusticijapri Staline, S. 302.

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demonstrieren. Wäre es nach den Vorstellungen des Regimes gegangen, dann hätte die Betriebsöffentlichkeit sich zu einer hetzenden Masse formiert, die leidenschaftlich die härtestmögliche Bestrafung ihrer Arbeitskollegen forderte. Ein Korrespondent der „Pravda" vermißte diese Haltung allerdings in der Parteiorganisation einer Leningrader Fabrik: „Man Schloß Kolcov [wegen Absentismus] aus der Partei aus, tat das aber ohne Schande, ohne Haß, ... man umgab ihn nicht mit Verachtung."266 Statt dessen herrschte angesichts der drakonischen Strafen ein Klima schlecht verhohlener Solidarität. Das gleiche proletarische Publikum, dessen strenger Blick in der Mitte der dreißiger Jahre angeblich ausgereicht hatte, undisziplinierte Arbeiter in Tränen ausbrechen zu lassen, sympathisierte nun mit den Angeklagten. Als der Staatsanwalt wegen erstmaligen Zuspätkommens einer bis dahin unbescholtenen Arbeiterin der Autofabrik Gor'kij von und ungeachtet ihrer Reue sechs Monate Zwangsarbeit forderte, brachen die Anwesenden in lautes Protestgeschrei aus. In Jaroslavl' begleiteten die Zuschauer eine zu drei Monaten verurteilte Textilarbeiterin aus Solidarität sogar bis zum Gefängnistor.267 Parallel zur Betriebsleitung und der Justiz wachte in den vierziger und fünfziger Jahren die „sozialistische Öffentlichkeit" weiterhin über das Wohlverhalten der einzelnen Beschäftigten. Leichte Verfehlungen, die nicht unter das Dekret vom 26. Juni fielen, konnten nach wie vor besprochen und „erzieherisch" geahndet werden. Aber auch hier kam die gewachsene Abhängigkeit der Arbeiter von ihren Vorgesetzten zur Geltung. Im Vergleich zu den dreißiger Jahren verliefen solche Erziehungsschauspiele etwas vorhersehbarer und zeigten einen stärker paternalistischen Charakter. In den Nachkriegsjahren unterhielt beispielsweise die Gewerkschaft „öffentliche Inspektoren" (obscestvennye inspektory), die die Einhaltung von Vorschriften überprüfen sollten. Diese benutzten die Möglichkeiten der „sozialistischen Öffentlichkeit" nicht zuletzt dazu, um ihre eigene Autorität zu untermauern. 1949 erlebte eine Moskauer Stahlgießerei einen großen Skandal, als der Werkmeister Borzov die Aufforderung des öffentlichen Inspektors Bezgin, den Arbeitsplatz aufzuräumen, mit einer Beleidigung beantwortete. Zunächst befaßte sich eine außerordentlichen Sitzung des Abteilungskomitees mit diesem Vorfall, auf der Borzov seinen Fehler eingestand und eine strenge Verwarnung erhielt. Anschließend wurde das Vorkommnis auch in den Brigaden mit den Arbeitern intensiv besprochen. Seitdem, so hieß es im Bericht, arbeitete Borzov „im Kontakt mit dem öffentlichen Inspektor", kam dessen Aufforderungen „bedingungslos" nach und hielt seinen Arbeitsplatz allzeit in guter Ordnung.268

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Chlevnjuk: 26 ijunija 1940 goda, S. 90. Solomon: Sovetskajajusticija pri Staline, S. 298. 268 Vgl. CMAM f. 521, op. 1, d. 250,1. 79. Protokoly otCetno-vybornoj profsojuznoj konferencii kollektiva zavoda. Ot 28 janvaija 1950 goda. 267

2. Die loyale Sowjetbevölkerung wird zur Rede gestellt

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Im Vergleich mit den oben zitierten Besserungserzählungen des Komsomol wirkt diese Schilderung viel stärker auf die Hierarchie fixiert. Vergleicht man die Schuldbekenntnisse von Arbeitern und Jugendlichen mit denjenigen von hochgestellten Parteifunktionären, so läßt sich doch eine gewisse Analogie feststellen: Obwohl parteilose Untertanen nur selten der politischen „Fraktionstätigkeit" verdächtigt wurden, spielte es auch hier eine Rolle, ob die Verfehlung als Parteinahme für den Feind aufgefaßt werden konnte oder lediglich ein triviales Erziehungsdefizit offenbarte. Wo der regimefeindliche Protest nicht zu härteren Sanktionen führte, da mußte er in einem expliziten Bekenntnisakt zurückgenommen werden. Im Falle von harmloser Disziplinlosigkeit aber kam es auf die Form der Entschuldigung weniger an; es genügte, der pädagogischen „Öffentlichkeit" den Besserungswillen glaubhaft zu vermitteln. Daneben sollte die Forderung nach einer förmlichen Entschuldigung im Betriebsalltag den Arbeitern verdeutlichen, wo die Grenze des Erlaubten verlief. Zumindest in den zwei letztgenannten Fällen waren die Zeitgenossen wohl kaum der Meinung, daß sie mit ihrem Verhalten ein „bolschewistisches Parteiritual" wiederholten. Die Entschuldigung und das Besserungsversprechen waren für die Untertanen einer autoritär geprägten Gesellschaft vermutlich eine ganz naheliegende Form, Konflikte mit der Obrigkeit zu bereinigen. Einige Quellenbeispiele im vorangegangen Abschnitt zur Jugendbetreuung sind zweifellos geeignet, eine Analogie zwischen dem Makarenko'sehen Kollektivideal und den Methoden der spätstalinistischen Sozialpädagogik nachzuweisen. Da Makarenko nur mit Kindern, Jugendlichen und Heranwachsenden arbeitete, erscheint dieser Befund aber auch nicht weiter verwunderlich. Aus anderen Beispielen hingegen wurde deutlich, daß die Funktionsweise dieses Kollektivs nicht ohne weiteres als Abbild und Keimzelle des sowjetischen Herrschaftssystems angesehen werden darf.269 Für die Beteiligten machte es einen großen Unterschied, ob sie sich mit den im Kollektiv durchzusetzenden Werten identifizieren konnten oder nicht. Wie anhand von Vasilij Kataevs Tagebuch gezeigt werden konnte, war das keineswegs bei allen „offiziellen" Werten im gleichen Maße der Fall.270 In der Geschichte der stalinistischen Sozialdisziplinierung bedeutete die Zeit um 1940 eine diskursgeschichtliche Wasserscheide. Während die Komsomolorganisation ihre Jugendbetreuung von da an verstärkt nach dem Modell der „einfühlsamen Aufmerksamkeit" ausrichtete, wurden die Arbeiter und Angestellten mit dem drakonischen Gesetz vom 26. Juni 1940 konfrontiert. Hier erteilte das stalinistische Regime den Ansätzen der Kollektivpädagogik also eine schroffe Absage. Eine Gemeinsamkeit beider Entwicklungen bestand al-

269

Vgl. Kharkhordin·. The Collective and the Individual, S. 110-117. Auch die überzeugte Jungkommunistin Nina Kosterina hatte schon vor der Verhaftung ihres eigenen Vaters große innere Zweifel, ob es richtig war, die Kinder verhafteter Eltern aus dem Komsomol auszuschließen. Vgl. Das Tagebuch der Nina Kosterina, S. 32-33. 270

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lenfalls darin, daß in ihnen die Verschwörungsfurcht der Terrorphase nicht mehr sichtbar wurde.271 Offensichtlich verwechselte das stalinistische Regime weder die Kinder- mit der Erwachsenenpädagogik, noch die politische „Schädlingssuche" mit den Methoden der alltäglichen Sozialdisziplinierung. Anders als für Makarenkos erzieherische Praxis spielte fur Stalin weder die Idee noch der Begriff „Kollektiv" irgendeine Rolle.272 Die vom Komsomol favorisierte Kollektivpädagogik spiegelte nur einen von vielen Aspekten der stalinistischen Auffassung von „Öffentlichkeit" und auch nur eine von mehreren Strategien der Sozialdisziplinierung wider. Das wurde nicht nur in solchen Maßnahmen wie dem Gesetz vom 26. Juni 1940 deutlich, sondern auch etwa im Propagandaband mit dem programmatischen Titel „Uns hat Stalin erzogen".273 Er enthält eine Sammlung von Geschichten, in welchen Stachanowisten und Stalinpreisträger die Geschichte ihres Erfolgs erzählen. Die Ausbildung eines willenstarken, lernfähigen und leistungsorientierten Charakters erscheint dabei fast immer als das Ergebnis einer individuellen Selbsterziehung, die von Stalin, der „Heimat" und der Partei inspiriert wurde. Wenn eine erzieherische Intervention nötig wurde, dann erfolgte sie meistens nicht durch das Kollektiv, sondern nach dem patriarchalen Muster der „liebevollen Bestrafung" durch eine ranghörere Autoritätsperson: „Petrowitsch wäscht dir so den Kopf, daß es raucht, aber dann spricht er dir auch gleich wieder Mut zu: ,Das kommt bei jedem mal vor.' Ich gewann ihn lieb wie einen Vater."274

In Stalins Technik der „Öffentlichkeit" ging es zuerst um die machterhaltende Mehrheitsbildung und erst in zweiter Linie um die erzieherische Einwirkung. Bis Ende der dreißiger Jahre betrachtete Stalin jede gesellschaftliche Teilöffentlichkeit, jede Schulklasse und jede Arbeitsbrigade als ein politisches Forum, wo der Kampf zwischen Regimebefurwortern und -gegnern immer wieder von neuem ausgetragen werden mußte. Makarenkos Kolonie hingegen war eine fest umrissene, individuelle, unverwechselbare Gruppe von Menschen, während in der stalinistischen „Öffentlichkeit" auf klare Abgrenzungen kein Wert gelegt wurde. Der Pädagoge Makarenko verherrlichte das Kollektiv als eine emotional geschlossene, selbstbewußt auftretende Gruppe,

271

Anders als bei den Justizmorden der Terrorphase berücksichtigte die Justiz bei der Durchsetzung dieses destruktiven Gesetzes elementare Grundsätze der Rechtstaatlichkeit. Sie ging von einem genau definierten Tatbestand aus, es wurde vor einem ordentlichen Gericht öffentlich verhandelt und die Staatsanwaltschaft erpreßte keine Geständnisse. Für denjenigen, der durch dieses Gesetz seine Existenzgrundlage verlor, war das natürlich nur ein schwacher Trost. 272 Stalin gebrauchte diesen Terminus fast nur im Sinne von „Kollektivwirtschaft". In der fünfzigbändigen Sowjetenzyklopädie von 1953 hatte der Artikel über das Kollektiv einen Umfang von fünf Zeilen. 273 Uns hat Stalin erzogen. Sowjetische Stalinpreisträger erzählen aus ihrem Leben, Berlin 1951. 274 Vgl. Uns hat Stalin erzogen, S. 299.

3. Die Parteibasis

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während Stalin bekanntlich gegen jede solidarische „Gruppierung" ein krankhaftes Mißtrauen hegte. Die von Kharkhordin erwähnte Unterscheidung sowjetischer Pädagogen zwischen „richtigen" und „falschen" Kollektiven (als falsches Kollektiv galt etwa die Jugendbande) hatte bei Stalin keine Entsprechung, da es für ihn - abgesehen vom Makrokollektiv der loyalen Sowjetbevölkerung insgesamt - überhaupt nur „falsche" Kollektive gab. Makarenko betrachtete den Ausschluß aus der Gemeinschaft als eine letzte Maßnahme, die erst dann legitim war, wenn alle anderen Versuche der positiven Einwirkung gescheitert waren.275 In krassem Gegensatz dazu benötigte der stalinistische Abstimmungskörper nur ein Stichwort der Machthaber, um sich in eine bissige Jagdmeute zurückzuverwandeln. Dann wurde auf die Beschuldigten kein „erzieherischer Druck" ausgeübt, sondern sie wurden kurzerhand zu Negativpersonen erklärt und aus der Gemeinschaft ausgestoßen - und sei es nur, um ein Exempel zu statuieren. Vielleicht kann man den Befund in folgender Faustregel zusammenfassen: Je stärker die „offiziellen Werte" mit allgemeinen Moralvorstellungen übereinstimmten und je stärker sich die Untertanen mit ihnen innerlich identifizierten, desto besser konnten sie nach dem Vorbild der Makarenko'sehen Kollektivpädagogik durchgesetzt werden. Doch sobald es darum ging, arbeiterfeindliche Maßnahmen oder eine irrationale Verhaftungspolitik durchzusetzen, konnte die mehrheitliche Zustimmung nur nach dem Modell des widerwillig akklamierenden Abstimmungskörpers organisiert werden.276

3. Die Parteibasis Das Verhältnis von „Selbstkritik" und „Kapitulation", von Erziehung und politischer Willensbildung war an der Parteibasis komplizierter als bei Jugendgruppen oder Arbeitskollektiven. Zwar gab es viele Gemeinsamkeiten: Wie die Jugendgruppe erfüllte auch die einfache Parteizelle eine Doppelfunktion als akklamierender Abstimmungskörper und als Erziehungsinstanz. Der Status des einzelnen Mitglieds hing aber auch hier stark vom Kontext ab, in dem sein Verhalten eine Rolle spielen sollte: Einerseits war er ein politischer Kämpfer, 275

Vgl. z.B. Kharkhordin·. The Collective and the Individual, S. 113. Ein Musterbeispiel für die gegensätzliche Interpretierbarkeit „sowjetischer" Werte in der Jugenderziehung bietet die Selbstwahrnehmung Frida Abramovna Vigdorovas, die als Schülerin Makarenkos später selbst Kindereinrichtungen leitete. In ihrem Klassiker „Der Weg ins Leben" berichtet sie von vielen Fällen, in denen ihre eigene, an Makarenko orientierte Auffassung mit der sturen Amtsauffassung stalinistischer Bürokraten kollidierte. Frida A. Vigdorova: Doroga ν zizn', Moskau 1954. In den sechziger Jahren unterstützte Vigdorova regimekritische Außenseiter wie Iosif Brodskij. Nichtsdestoweniger wurden ihre Bücher noch in den siebziger Jahren in hoher Auflage gedruckt. Vgl. auch V. A. Vigdorova: Kem vy emu prichodites'?, Moskau 1969. 276

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IV. Reue und Selbstkritik in der sowjetischen Öffentlichkeit 1931-1953

dessen mutige Parteinahme für das Schicksal der Revolution ausschlaggebend sein konnte - andererseits war er ein unmündiges Erziehungsobjekt, das lebenslang erzogen und bevormundet werden mußte. Es galt das Prinzip, daß Oppositionelle „kapitulieren" mußten und die Verurteilung ihrer alten Ansichten regelmäßig erneuern sollten. In dieser Hinsicht waren die Dinge in der Partei noch eindeutiger geregelt als in jedem anderen Milieu. Die Herstellung der politischen Einstimmigkeit kann aber auch an der Parteibasis klar vom Bemühen unterschieden werden, den Mitgliedern Sekundärtugenden beizubringen: Sie sollten sich vorbildlich verhalten, die Obrigkeit niemals belügen, fleißig arbeiten, kein Geld unterschlagen, ihre Stellung nicht mißbrauchen, nicht übermäßig Alkohol konsumieren, sie sollten ihren Ehepartner weder schlagen noch betrügen und gegebenenfalls für uneheliche Kinder Unterhalt zahlen, um die Partei nicht zu diskreditieren. Sie sollten sich ideologisch fortbilden, die Zeitung und künstlerisch wertvolle Literatur lesen, Industrieanleihen zeichnen, am sozialistischen Wettbewerb teilnehmen und ihr Parteibuch nicht in der Straßenbahn verlieren. Keines dieser Delikte wurde mit „feindlicher" Willensbildung gleichgesetzt. Fast alle dieser Forderungen erscheinen auch von einem nichtstalinistischen Standpunkt aus einigermaßen nachvollziehbar, und keine von ihnen war unmöglich zu erfüllen. Im Parteialltag der Stalinzeit - zumal bei „Säuberungen" - boten sie dennoch Anlaß genug, um Schuldbekenntnisse und Besserungsversprechen abzulegen. Nichtsdestoweniger befanden sich die Parteimitglieder in einer anderen Situation als Schüler oder Schichtarbeiter. Sie sollten die Politik des Regimes nicht nur in den Versammlungen akklamatorisch unterstützen, sondern auch im Alltag entschlossen gegen alle Widerstände durchsetzen. Da es in den dreißiger Jahren keine Opposition mehr gab, verlor das konforme Abstimmungsverhalten an identitätsstiftender Bedeutung; statt dessen verbreitete sich die Ansicht, daß die politische Loyalität auch im alltäglichen Handeln deutlich werden müsse. Es gab keine Privatsphäre, die von der kritischen Überprüfung ausgespart worden wäre. Die Loyalität hatte sich in persönlichen Beziehungen, in der Wahl des Ehepartners, ja sogar in der Körpersprache zu äußern, ebenso in der Art, wie man redete, sich kleidete, seine Freizeit verbrachte und damit auf derjenigen Verhaltensebene, die normalerweise der erzieherischen Einwirkung unterliegt. Die loyale Haltung der Parteimitglieder galt als Voraussetzung, nicht als Ziel der „Erziehung". Manchmal mußte man ihnen allerdings beibringen, wie sie auf die Illoyalität anderer „richtig" zu reagieren hatten. Schließlich wurde das Prinzip der gegenseitigen Verantwortung auf die Parteigruppen viel stärker angewandt als auf Schulklassen oder Arbeitskollektive. Die Erziehung und der politische Kampf lassen sich an der Oberfläche daher oft nicht mehr auseinanderhalten: Die Bereitschaft zur Selbstvervollkommnimg galt als ein Teil der politischen Willensbildung, die Kunst des richtigen Parteiergreifens in den politischen Versammlungen zugleich aber auch als Erziehungsgegenstand. Insbesondere zur Zeit der Massenverhafitun-

3. Die Parteibasis

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gen verlor selbst die Parteiobrigkeit das Gefühl dafür, wann sie das Verhalten der einfachen Mitglieder als Folge eines Erziehungdefizits und wann sie es als Ausdruck politischer Illoyalität auffassen sollte. Das Paradox gipfelte im Vorhaben Stalins, den Parteimitgliedern die Fähigkeit anzuerziehen, maskierte „Feinde in den eigenen Reihen" aufzuspüren. Spätestens hier verlor die Idee der Erziehung ihren Realitätsbezug. Da niemand vorher wissen konnte, wer sich in den Augen Stalins und der dazu bevollmächtigten Instanzen in naher Zukunft als Feind herausstellen würde und wer nicht, kann von Erziehung nicht mehr die Rede sein. Oleg Kharkhordin hat treffend beschrieben, wie das erzieherische kollektiv, die cistka und die samokritika in den Parteiversammlungen der Terrorphase schließlich mit tödlichen Folgen zusammenwirkten: „Ohne ... das kollektiv als Einheit von Selbstkritik und Säuberung festzulegen, hätte die Partei sich ... in einer eher rücksichtsvollen Weise kritisieren können, indem eine Zelle die andere für generelle Mißstände ... kritisiert. ... Ohne die Funktion der Selbst-Säuberung hätte das kollektiv sich kritisieren und das Blutvergießen immer noch vermeiden können; es hätte die Chance gehabt, die Schuldigen nicht auszuschließen, und somit hätte es weniger stigmatisierte Sündenböcke gegeben, die zur ... Vernichtung bereit standen. Ohne Selbstkritik hätte das kollektiv in einer weniger chaotischen Weise reagieren können, ... und die Säuberung wäre abgelaufen wie vor 1933; die Leiter hätten auf Befehl der Geheimpolizei die schuldige Parteibasis aussortiert."277

Die Funktionsweise des kollektiv zur Zeit des Terrors sieht Kharkhordin im Apparat des „Sensomotorischen Integrators" abgebildet, einer gruppenpsychologischen Versuchsanordnung, bei der einzelne Gruppenmitglieder nach einem bestimmten Prinzip für kollektives Fehlverhalten bestraft werden.278 Kharkhordin schenkt Schuldbekenntnissen weiter keine Beachtung, da diese in seinem Modell keine Rolle spielen. Brigitte Studer und Berthold Unfiled hingegen messen dem Moment der expliziten Schuldbekenntnisse für das „Projekt der stalinistischen Menschenformierung" zentrale Bedeutung bei.279 Die Selbstthematisierung anhand von Fehlerdiskussionen war demnach sowohl Mittel wie Ziel der Kaderpädagogik. Schuldbekenntisse waren zuerst eine Art „Gerichtsprozeß gegen die alte Persönlichkeit", verflachten in der Praxis jedoch schnell zu einem „Ritual, das die Ergebenheit der Partei gegenüber demonstrieren sollte".280 Demgegenüber, daß während der Terrorphase die Bedeutung pädagogischer Schuldbekenntnisse verselbständigte. Es war dann oft nicht mehr die Obrigkeit, die den Genossen kleinlich Entschuldigungen abverlangte, sondern es waren die Schutzbefohlenen selbst, die die Implikationen des pädagogischen Dis277

Kharkhordin·. The Collective and the Individual, S. 162-163. Vgl. Kharkhordin: The Collective and the Individual, S. 126-128 und S. 163, Abbildung S. 230. 275 Vgl. Unfried: Rituale von Konfession und Selbstkritik; Studer, Unfried: „Das Private ist öffentlich" und zuletzt Dies. : Der stalinistische Parteikader. 280 Studer. Der stalinistische Parteikader, S. 162 und S. 190. 278

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IV. Reue und Selbstkritik in der sowjetischen Öffentlichkeit 1931-1953

kurses zur Selbstverteidigung ausnutzen. Sie spekulierten weniger auf die Wirksamkeit des Konzepts von Reue, Mitleid und Vergebung, wenn sie ihr beanstandetes Verhalten als Folge eines Erziehungsdefiztis hinstellten, sondern versuchten ihre Richter bei der Wahl des Sinnzusammenhangs zu beeinflussen, in den der Vorgang eingeordnet werden mußte. Sie bezogen sich auf die immer noch wirksame gedankliche Trennung zwischen dem verzeihlichen „Fehler" und der unverzeihlichen Beteiligung an einer „feindlichen" Willensbildung. Schon als niemand mehr wußte, wie man das eine vom anderen zuverlässig unterscheiden konnte, klammerten sie sich an das Prinzip, daß „einfache", „isolierte" oder „zufallige" Fehler sich wiedergutmachen ließen. Fast alle gaben zu, „nicht wachsam genug" gewesen zu sein, aber kaum jemand beschuldigte sich, bewußt den Feind begünstigt zu haben.281 Der Erziehungsdiskurs wurde zur Zuflucht all deijenigen, die befürchten mußten, der Illoyalität beschuldigt zu werden. Da Schuldbekenntnisse in den Parteiversammlungen der dreißiger Jahre also so gut wie nie als Widerrufserklärung eines politischen Willens, sondern fast immer in den Kontext eines Erziehungsverhältnisses eingeordnet werden wollten, wird im folgenden Teilkapitel vor allem nach der Realität dieses Verhältnisses und nach den Inhalten, den Zielen und dem institutionellen Rahmen dieser Erziehung gefragt werden. Zunächst soll eine Charakterisierung des bürokratischen und ideologischen Herrschaftsverhältnisses versucht werden, in dessen Rahmen „pädagogische" Besserungsversprechungen einen Sinn erhielten. Es folgt schließlich eine kommentierte Auswahl von Schuldbekenntnissen aus dem Parteialltag. Dabei scheint es sinnvoll, die Textbeispiele in zwei Gruppen zu unterteilen: Zuerst die übersichtlichen Fälle, wo allgemein bekannte und leicht nachvollziehbare Regeln verletzt worden waren, dann die komplizierteren, gefahrlicheren Fälle, in denen es um die widersprüchlichen Imperative der „Schädlingssuche" ging. Die seit 1919 periodisch durchgeführten „Säuberungen" des Mitgliederbestands definierten schon in den zwanziger Jahren exemplarisch das Verhältnis der Parteiobrigkeit zum Parteivolk. Je höher der Rang eines Parteimitglieds, um so geringer war die Wahrscheinlichkeit, der Auslese zum Opfer zu fallen.282 Mitglieder des Zentralkomitees waren von dieser Prozedur ganz ausgenommen. Die cistka traf also vor allem jene machtlosen Parteimitglieder, die in die 281

An die „Kapitulationserklärungen" der Oppositionellen, die dem Trotzkismus abgeschworen hatten, erinnerte in dieser Situation allenfalls der Umstand, daß sich die Parteimitglieder von „entlarvten" Familienmitgliedern, Ehepartnern, Freunden und Kollegen in der gleichen Weise lossagen mußten wie die Trotzkisten von Trockij. Solche Distanzierungen waren gewissermaßen die familienspezifische Entsprechung der „Fraktionsauflösung". Auf dieses beklemmende Detail der Terrorpolitik soll an dieser Stelle allerdings nicht weiter eingegangen werden. 282 Zur Funktion und Wirkung der cistka in den zwanziger und dreißiger Jahren vgl. John Arch Getty : Origins of the Great Purges. The Soviet Communist Party Reconsidered, 1933— 1938, Cambridge 1985.

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innerparteilichen Auseinandersetzungen der zwanziger Jahre kaum involviert waren. Sie war weniger ein Schauplatz der Auseinandersetzung zwischen verschiedenen Lagern als ein Versuch der Parteiobrigkeit, die Basis zu kontrollieren. Bei der Frage, ob in der Parteierziehung die Praxis der individuellen Selbstthematisierung wichtiger war als die der kollektiven Fremdidentifizierung oder umgekehrt, sollte nicht vergessen werden, daß Kontrollmechanismen wie Autobiographien und Überprüfungen des Mitgliederbestands zu Beginn der zwanziger Jahre noch nicht im späteren Maße als Erziehungsmittel betrachtet wurden. Auch heute muß man nichts Ungewöhnliches darin sehen, daß eine herrschende Organisation wie die Kommunistische Partei von eintrittswilligen Personen umfangreiche Auskünfte und politische Loyalitätsbekenntnisse verlangte. Damals wie heute stellte die Obrigkeit in fast allen Ländern an ihre Entscheidimgsträger vergleichbare Forderungen. Bevor man den „Neuen Menschen" heranziehen konnte, mußte man erst den bürokratischen Überblick wiedergewinnen. Neben ideologischen Gründen boten das sprunghafte Mitgliederwachstum, die enorme geographische Mobilität vieler Parteikader und die Privilegierung der Kommunisten in einem Zustand allgemeiner Rechtsunsicherheit genug Anlaß, sich für deren politische und moralische Qualitäten zu interessieren. Im Sinne der Bürokratie ersetzten die flächendeckenden „Überprüfungen" und „Säuberungen" (cistki) von 1919 bis 1935 eine wiederholte Aufnahmeprozedur. Wie vor ihrem Parteieintritt mußten die Mitglieder nun auf alle Fragen zur Person antworten, die für die Partei in irgendeiner Weise interessant sein konnten. Arch Getty zufolge hatte die Parteizentrale bis in die Mitte der dreißiger Jahre sogar große Probleme, eine Kartei zu erstellen, die zuverlässig Auskunft darüber gab, wer überhaupt Mitglied war und wer nicht.283 Emel'jan Jaroslavskij, der auf den Parteikonferenzen regelmäßig über den Verlauf der „Säuberungen" referierte, konzentrierte sich dabei - genau wie die meisten Historiker - auf die Statistik der Parteiausschlüsse, auf die Prozentsätze der Ausschlußgründe, den Anteil von Arbeitern und Angestellten und so weiter. Aber kaum jemand interessierte sich dafür, ob diejenigen Parteimitglieder, die die „Säuberung" überstanden hatten, im Laufe der Befragung irgendwelche „Schuldbekenntnisse" abgelegt hatten oder nicht. Doch einmal vorhanden, konnten diese Kontrollmechanismen auch als Erziehungsinstrumente gehandhabt werden, die die moralische Verinnerlichung offizieller Normen beschleunigten. Obwohl sich die Befragungen bei einer Parteisäuberung manchmal auf einen bestimmten kritischen Punkt konzentrierten, ging es dabei weniger um die Erhärtung einer konkreten Schuld als um den „weichen" Eindruck vom Persönlichkeitsprofil und der politischen Eignung des Betreffenden insgesamt. 283

Vgl. Getty·. The Origins of the Great Purges, S. 10-57.

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IV. Reue und Selbstkritik in der sowjetischen Öffentlichkeit 1931-1953

Die Tendenz, bürokratische Prozeduren der Mitgliederverwaltung moralisch aufzuladen, zeigte sich auch im von Kharkhordin beschriebenen Streben der stalinistischen Herrschaft nach dem „individuellen Zugang" zu jedem einzelnen Parteigenossen.284 Einerseits erschien es ganz natürlich, daß im Lauf der Zeit die soziale Herkunft gegenüber dem individuellen Verhalten an Bedeutung verlieren mußte, doch andererseits rückten damit Geschehnisse in den Vordergrund, die der Betreffende selbst zu verantworten hatte: Das Verhör erhielt eine moralische Dimension. Vor diesem Hintergrund ist es kaum überraschend, daß Parteimitglieder, die bei offenkundigen Regelverstößen ertappt wurden, den Ausweg in der öffentlichen Entschuldigung suchten. Nichtsdestoweniger muß unterstrichen werden, daß das immer strenger ausgelegte Aufrichtigkeitsgebot niemals zu einer eigenständigen Theorie über die Pflicht zur Selbstanklage, zur Reue oder zur Buße ausgebaut wurde. Es galt als völlig normal, daß beschuldigte Personen sich gegen unberechtigte Vorwürfe hartnäckig verteidigten und gegen ihren Parteiausschluß Berufung einlegten. In den Säuberungsprotokollen der zwanziger Jahre stößt man sehr selten auf reuige Schuldbekenntnisse, aber um so häufiger auf ausgedehnte Rechtfertigungsversuche.285 Emel'jan Jaroslavskij erklärte 1925, daß schon allein die Erfahrung des Parteiausschlusses fur manche Genossen ein heilsamer Schock sei, der sie nach ihrer Wiederaufnahme in „gute Parteimitglieder" verwandeln könne. Über die erzieherischen Wirkung von Schuld- oder Reuebekenntnissen sagte er bezeichnenderweise nichts.286 Dennoch waren spätestens Ende der zwanziger Jahre manche Funktionäre der Auffassung, daß ein Kommunist bereit sein müsse, auch freiwillig vor der Parteigruppe ausfuhrlich über berufliche wie privaten Verfehlungen zu sprechen - und daß das „reinherzige" Schuldbekenntnis sich auf die Festlegung der Strafe mildernd auswirken müsse. Der CKK-Funktionär Komissarov schilderte 1929 seinen Versuch, diese Auffassung bei der „Säuberung" im Apparat des Voronezer Gebietskomitees durchzusetzen.287 Pikanterweise 284

Vgl. Kharkhordin: The Collective and the Individual, S. 164-229. Igal Halfin untersuchte die Säuberungen an den Hochschulen in der Mitte der zwanziger Jahre recht akribisch, ohne Selbstbeschuldigungen zu erwähnen. Vgl. Igal Halfin: From Darkness to Light. Class, Consciousness, and Salvation in Revolutionary Russia, Pittsburgh 1999, S. 283-336. Das gleiche gilt fur Nicolas Werth, der im Smolensker Archiv die Protokolle der öistka von 1929 durchforstete. Nicolas Werth: Etre communiste en U.R.S.S. sous Staline, Paris 1981, S. 220-226. Im Parteiarchiv Voronez fand ich ebenfalls kaum Hinweise auf Schuldbekenntnisse bei der Säuberung von 1929. Auch Jaroslavskij, der als CKK-Sekretär vor den Parteigremien über den Verlauf der Säuberungen berichtete, erwähnte bei dieser Gelegenheit keine Schuldbekenntnisse. 286 Emel'jan Jaroslavskij·. Iz otceta CKK RKP(b) XIV s'ezdu partii (maj 1924-dekabr' 1925) Charakteristika privleöennych k partotvetstvennosti vsemi KK, in: Α. A. Gusejnov, Μ. V. Iskrova, R. V. Petropavlovskij (Red.): Partijnaja etika. Dokumenty i materialy diskussii 20-ch godov, Moskau 1989, S. 4 2 7 ^ 4 3 , Zitat S. 440. 287 Vortrag des Genossen Komissarov über die Ergebnisse der Überprüfung und Säuberung der Mitglieder des Gebietskomitees, der Gebietskontrollkommission, der Revisionskom285

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sollten sich die Spitzenfunktionäre jeweils vor einer ihnen zugeteilten Arbeiterparteizelle rechtfertigen, so auch der Funktionär Ν. I. Murygin, der im Zuge der Getreidebeschaffungskampagne aufs Land gefahren war. Mehrere Frauen hatten sich im Vorfeld der „Säuberung" über ihn beschwert, weil er ihnen die Heirat versprochen, sie aber statt dessen nur mit Geschlechtskrankheiten infiziert hatte. Komissarov berichtete: „Man muß dieser Sache eine gewisse öffentliche Bedeutung beimessen, und deshalb habe ich mit Genossen Murygin verabredet, daß er darüber in der Zelle sprechen sollte, ohne zu beschönigen... In der Zelle sagte Murygin gar nichts. Wir verstanden, daß er diese Tatsache verschweigen wollte und deswegen mußte ich ihm einige Fragen stellen, um ihn zur Offenheit zu zwingen. Ich machte einige Andeutungen, stellte einige vorsichtige Fragen, aber er entwand sich immer. Ich mußte daher direkt ansprechen, was in Tambov passierte und dann begann er zu reden.

Murygin erhielt schließlich einen Verweis und durfte drei Jahre lang kein Parteiamt bekleiden. Komissarovs Vorwurf galt hier weniger dem Vergehen selbst als der Widerspenstigkeit Murygins, keine öffentliche „Beichte" abzulegen. Offenbar beabsichtigte er ursprünglich nicht, Murygin aus seiner Funktion zu entfernen oder ein Kesseltreiben gegen ihn zu veranstalten. Murygin gehörte zu den 102 obersten Funktionären im Gebiet Voronez, von denen kein einziger ausgeschlossen wurde und nur sieben eine Rüge erhielten.288 Das peinliche Bußritual sollte strengere Maßregelungen in diesem Fall nicht begründen, sondern ersetzen. Komissarov schien darauf zu hoffen, daß die Beschämung des Funktionärs vor den Arbeitern, die Entblößung seiner Privatsphäre und die Nötigung, selbst zu seinem Verhalten Stellung zu nehmen, eine wirksame Erziehungsmethode darstellten. Es bleibt allerdings unklar, inwieweit hier tatsächlich die Vorstellung wirksam war, daß ein leitender Funktionär durch eine solchen Beichte „geläutert" werden und danach in seinem Umfeld weiterhin erfolgreich arbeiten könnte. Zielte Komissarov wirklich auf eine radikale Neudefinition der traditionellen Begriffe von „Würde" und „Autorität", strebte er nach einer kommunistischen Gesellschaft, in der die „Neuen Menschen", ähnlich wie die benediktinischen Mönche, sich untereinander freimütig ihre peinlichsten Sünden bekennen und trotzdem weiterhin gegenseitig respektieren würden? Viele Bolschewiki wie Sergej Ingulov hegten gegenüber demütigen Schuldbekenntnissen immer den Verdacht der Heuchelei.289 Weithin betrachtete man jegliches Sprechen über eigene oder fremde Fehler entweder als Ausdruck eines Machtverhältnisses oder als Versuch, an Machtverhältnissen zu rütteln. Nichtsdestoweniger verbreitete sich der aus dem agitsud bekannte Topos von „Reue und Vergebung" allmählich auch innerhalb der Partei. Zwar sagte die mission und der Mitglieder der Überprüfungskommission. 19. Juni 1929. CDNI VO f. 2, op. 1, d. 522,1.4-5. 288 Vgl. CDNI VO f. 2, op. 1, d. 522,1. 1. 289 Vgl. das zweite Kapitel.

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offizielle Instruktion über die Parteisäuberung von 1933 nichts über Schuldbekenntnisse, forderte aber, daß die Befragung in einer „kameradschaftlichen Atmosphäre" stattfinden und der Überwindung von „Mißständen" dienen müsse, keinesfalls aber eine „ A b r e c h n u n g " darstellen, dürfe.290 Zumindest im Umfeld hauptamtlicher Parteifunktionäre scheint der Verlauf der „Säuberung" diesem Ideal recht nahe gekommen zu sein. Das Parteikomitee der Komintern beispielsweise überprüfte 1933 insgesamt 457 Kommunisten verschiedener Länder, von denen nicht mehr als neun aus der Partei ausgeschlossen wurden.291 Doch auch in diesem so schonend behandelten Milieu wurden die privaten Verfehlungen in einer Weise ausgeforscht, die für die Betroffenen sehr unangenehm und peinlich gewesen sein muß.292 Ähnliche Verhältnisse herrschten offenbar in der Parteigruppe der Angestellten des zentralen Parteiapparats. Auch dort gab es wenig Parteiausschlüsse, aber dafür einige Zurückstufungen in den Kandidaten- oder Sympathisantenstatus aus Gründen wie politischer Unbildung, Alkoholismus oder der Weigerung, für die Unterhaltskosten unehelicher Kinder aufzukommen.293 Diese Verbindung von öffentlicher Beschämung und milder Behandlung erzeugte ein günstiges Klima für Schuldbekenntnisse und Besserungsversprechen. Elena Bonner, die als Kind aus Neugierde die so glimpflich verlaufene „Säuberung" in der Komintern beobachtete, fühlte sich stark an das Rollenverhalten in ihrer Schulklasse erinnert: „Man sah, daß der Befragte nervös war, und manche sprachen sehr undeutlich. Sie gebrauchten ... viele Worte wie irgendwie' und ,verstehst du', räusperten sich - sie ähnelten Schülern, die ihre Lektion nicht gelernt hatten. ... Es stellte sich heraus, daß manche ihre Frauen schlugen und viel Wodka tranken. ... Manchmal sagte der, der gesäubert wurde, daß er künftig nicht mehr schlagen und trinken würde. Auch in dienstlichen und parteilichen Angelegenheiten sagten viele, daß ,das nicht mehr vorkommen werde' und daß ,sie alles verstanden' hätten. Das ähnelte einem Gespräch mit dem Lehrer: Der Lehrer sitzt, du stehst, er tadelt dich, die anderen Schüler lächeln abschätzig, und du sagst, ,hab ich verstanden', ,kommt nicht mehr vor', ,natürlich, das habe ich schlecht gemacht', aber das sagst du nicht überzeugt, sondern damit du schneller ... rauskommst in den Saal, wo die anderen Kinder ... die große Pause verbringen. Nur waren diese Leute aufgeregter als du vor dem Lehrer. Einige waren sogar kurz davor, in Tränen auszubrechen. Sie anzusehen war unangenehm."294

290

Vgl. den Text des Dekrets vom 23. April 1933: Ο cistke partii. Postanovlenie CK i CKK VKP(b), in: Jaroslavskij: Za bol'sevistskuju proverku i cistku, S. 44. 291 Vgl. Studer. Der stalinistische Parteikader, S. 104. 292 Vgl. Studer: Der stalinistische Parteikader, S. 98-105. Die Säuberung von 1933 hat Studer und Unfried nach eigenen Angaben das „umfangreichste und für einen alltagsgeschichtlichen Blick interessanteste Material geliefert". Ebenda. 293 Vgl. Otcety, doklady, zapiski, protokoly sobranija otdelov CK ... ο provedenii cistki i proverki kommunistov partjacejki pri Sekretariate CK VKP(b) za 1933 god. RGASPI f. 17, op. 3, d. 29 1. 161. 294 Elena Bonner. Docki - materi, Moskau 1994, S. 134-135.

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Vor der Hölle des voreiligen Parteiausschlusses kam hier das Fegefeuer der öffentlichen Beschämung. Die Einwirkung auf den Prüfling entspricht wohl in etwa dem, was Kharkhordin als kameradschaftliche Ermahnung (admonition) bezeichnet. Allerdings mußte man den Mahnern zu verstehen geben, daß man die Ermahnung beherzigt hatte. Nach Bonners Erinnerungen scheint die Körpersprache dabei eine wichtigere Rolle gespielt zu haben als explizite Bekenntnisformeln. Der Gestus des innerparteilichen „Bereuens" läßlicher Verfehlungen hatte seine Vorbilder dem äußeren Anschein nach also weniger im christlichen Mönchsleben als in den klassischen Methoden weltlicher Erziehungsanstalten. Die Machtverhältnisse zwischen der Parteiobrigkeit und ihren Schutzbefohlenen kleideten sich hier in das Gewand eines Erziehungsverhältnisses, das auch erwachsenen Parteimitgliedern die Rolle des unmündigen, erziehungsbedürftigen Internatsschülers zuwies. Im Unterschied zur Internatsschule oder einer Kadettenanstalt entließ die Partei ihre Schüler niemals in die volle Mündigkeit, sondern enthielt ihnen zeitlebens das Recht vor, mit dem Selbstbewußtsein des vollwertigen Stimmbürgers aufzutreten. Auch in den dreißiger Jahren betrachtete die Parteiöffentlichkeit Schuldbekenntnisse nicht als einen zwangsläufigen Bestandteil kontroverser Personaldiskussionen. Manche Parteisekretäre hielten ihre erzieherischen Ermahnungen für so wirksam, daß sie keine explizite Besserungsversprechen einforderten. Die Parteileitung der Voronezer Universität stellte im Januar 1933 beispielsweise fest, daß die Parteizelle der Zoologen keine ausreichenden Gründe gehabt hatte, die Kandidatin Zil'cova auszuschließen.295 Angeblich hatte sie sich „von der Gruppe abgesondert", sich im Vorjahr ungünstig über die Staatsanleihe geäußert, Parteimitglieder als „Faulenzer" bezeichnet und wollte nicht sagen, weshalb sie 1920 aus der Partei ausgetreten war. Diese Vorwürfe stellten sich als falsch oder übertrieben heraus. Tatsächlich leitete Zil'cova einen Fotozirkel, hatte die Staatsanleihe gezeichnet und ihr Parteiaustritt von 1920 ging auf banale Gründe zurück. Der tonangebende Genösse Podvolockij behauptete, daß sowohl Zil'ceva wie auch ihr Zellensekretär „eine Masse von Fehlern" gemacht hätten. Anschließend beschloß das Parteikollegium, den Ausschluß Zil'cevas rückgängig zu machen, sie aber dennoch dazu zu ermahnen, „ihre Fehler zu korrigieren und ihr Verhalten gegenüber den Genossen zu ändern". Obwohl hier beide Seiten in erzieherischer Weise ermahnt wurden, scheint man von Zil'ceva und ihrem Zellensekretär ein explizites Schuldbekenntnis entweder nicht verlangt oder es nicht für nötig gehalten zu haben, es im Protokoll festzuhalten. Anders war die Ausgangslage im Fall des Druckereiangestellten Anikeev, der im August 1937 an einem Armeemanöver teilnahm, wo man ihm Parteibuch und Portemonnaie gestohlen

295

Vgl. Protokol Nr. 11 zasedanii bjuro kollegii VGU, 25.1.1933. CDNI VO f. 412, op. 1, d. 58,1. 77.

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IV. Reue und Selbstkritik in der sowjetischen Öffentlichkeit 1931-1953

hatte.296 Die Parteigruppe zeigte kein Verlangen, ihn auszuschließen, wollte aber herausstellen, wie ernst sie diese Angelegenheit nahm. Anikeev mußte die Geschichte in allen Einzelheiten akribisch schildern und nannte mehrere angesehene Parteimitglieder als Zeugen, die den Diebstahl bestätigen konnten. Ein Genösse Goncarov meinte, daß Anikeev zwar den Parteiausschluß verdient habe, daß man sich aber angesichts seiner guten Arbeitsleistungen und seiner politischen Linientreue mit einem Verweis begnügen sollte. Andere Zellenmitglieder äußerten sich ähnlich, bis man sich entschloß, ihm einen strengen Verweis zu erteilen und das Rayonkomitee um die Ausgabe eines neuen Parteibuchs zu ersuchen. Das Protokoll sagt auch hier nichts darüber aus, ob Anikeev „seinen Fehler einsah" oder „Reue" zeigte. Auch wenn Parteisekretäre nur nach einem bequemen Vorwand suchten, um unliebsame Mitglieder aus der Zelle auszuschließen, waren sie nicht an langen Fehlerdiskussionen und Schuldbekenntnissen interessiert. Ein gutes Beispiel dafür ist eine Sitzung des Parteikomitees der Voronezer Landwirtschaftshochschule vom November 1935.297 Der Parteiorganisator Ljapin verlangte dort den Ausschluß des Dozenten Polosuchin, der sich an der Parteiarbeit in keiner Weise beteiligte und darüber hinaus die Beitragszahlung vernachlässigte. Der unmittelbare Anlaß für den Ausschlußantrag waren vermutlich die bürokratischen Schwierigkeiten, die der Parteizelle daraus entstanden waren, daß Polosuchin es drei Jahre lang versäumt hatte, seinen 1932 vollzogenen Parteieintritt in aller Form registrieren zu lassen. Obwohl diese Vorwürfe nicht besonders dramatisch klangen, verurteilte Polosuchin sich selbst mit eindeutigen Worten. Er hatte der Rede Lj apins „fast nichts hinzuzufügen" und sah „keine Möglichkeit, sich zu verteidigen". Die Lehrtätigkeit hätte ihn zwar sehr in Anspruch genommen, aber sein „Vergehen" müsse dennoch bestraft werden. Er bat das Parteikomitee lediglich darum, dabei die „nützliche Arbeit" zu berücksichtigen, die er geleistet habe. Doch auch mit dieser hinreichend demütigen Reueerklärung konnte er seinen Ausschluß nicht verhindern. Die Parteileitung wollte das passive Mitglied loswerden und legte keinen Wert mehr auf dessen Schuldbekenntnisse und Besserungsversprechen. (Im Appellationsverfahren hatten Mitglieder wie Polosuchin allerdings reelle Chancen, nach einer „reinherzigen Reueerklärung" wieder aufgenommen zu werden.)298 Als wenig später die landesweite Kampagne zur „Auswechslung der Parteidokumente" anrollte, legten manche Voronezer Parteifunktionäre mehr Wert 296

Zasedanija partijnogo komiteta tipografii „Kommuna". 1937 god. Ο kraze partbileta u tovarisca Anikeeva vo vremja perebyvanija ego ν lageqach 55 polka. Vgl. CDNIVO f. 241, op. 1, d. 74,1. 6. 297 Vypiska iz protokola zasedanija partkoma VKP(b) VSChl ot 28 nojabija 1935 goda. CDNI VO f. 413, op. 1, d. 155,1. 39. 298 Vgl. die Entscheidungen Emel'jan Jaroslavskijs. Protokoly Nr. 1-13 zasedanii Sekretariate CKK VKP(b) po cistke ot 21 maja - 13. dekabija 1933 g., u.a., in: RGASPI f. 613, op.2, d. 66,11. 198,253,257.

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auf die Stellungnahme potentieller Ausschlußkandidaten. Um der Moskauer Zentrale zu beweisen, daß der Parteibuchaustausch nicht als „bürokratische" Maßnahme durchgeführt, sondern erziehungswirksam mit der „breiten Entfaltung von Kritik und Selbstkritik" verknüpft wurde, stellte die regionale Kommission für Parteikontrolle eine Liste von Wortmeldungen „einfacher" (rjadovye) Mitglieder zusammen.299 Die meisten Äußerungen enthielten die üblichen „selbstkritischen" Beschwerden über Kollegen und Vorgesetzte, daneben gab es aber auch Fehlereingeständnisse und Besserungsversprechen. Die Weberin Rybina erklärte etwa, daß das Zentralkomitee Recht daran tat, passive Mitglieder auszuschließen, und fugte hinzu: „Ich weiß, daß man auch mich ausschließen kann, weil ich schlecht lerne und wenig begreife, aber mit der Hilfe des Parteiorganisators versuche ich, meine politische Bildung zu verbessern."300

Der Sowchosarbeiter Podgorenskij tadelte sich: „Vor dem Beschluß des Zentralkomitees ... fand ich kaum Zeit zur Arbeit, spielte aber stundenlang Billard; jetzt habe ich aber begriffen, daß jeder Kommunist unbedingt... gebildet sein muß, und deswegen mache ich mich jetzt vor allem ans Lernen."

Auf einer anderen Sowchose war es sogar der Direktor, der sich nach der Lektüre der CK-Resolution die Frage stellte, ob er wohl neue Parteidokumente erhalten könnte: „Obwohl ich sechzehn Jahre in der Partei war, bin ich unzureichend gebildet und antworte: ,ich kann es nicht', hoffe aber, daß das Rayonkomitee meinen Wunsch honoriert, an mir zu arbeiten, ich habe Schlußfolgerungen daraus gezogen - ich werde lernen, ich werde an mich selbst mehr Forderungen stellen."

In solchen banalen Zusammenhängen wirkt das Reueverhalten sehr aufgesetzt und schülerhaft, aber auch in gefährlicheren Situationen konnten Parteimitglieder auf diese Weise manchmal den Schaden begrenzen, wie etwa der Voronezer Eisenbahnangestellte Tkacev. Am 5. August 1937 schlug das Parteikomitee der großen Versammlung vor, Tkacev auszuschließen, weil er angeblich den Ort seiner Arbeit unerlaubt verlassen und seine Frau verprügelt hatte.301 Wie aus dem Sitzungsstenogramm hervorgeht, lebte Tkacev in zerrütteten Ehe- und Familienverhältnissen und kämpfte um das Erziehungsrecht des gemeinsamen Kindes. Auch der unerlaubte Wechsel seines Aufenthaltsorts stand offenbar mit diesem Streit in Zusammenhang, der schon mehrmals zuvor Gegenstand von Parteisitzungen gewesen war. Tkacev, Parteimitglied seit 1926 mit bislang weißer Weste, verfolgte die übliche Doppelstrategie von 295

V CK VKP(b). ORPO - tov. Malenkovu. Informacionnaja svodka Nr. 1. Ob obmene partijnych dokumentov ν partorganizacii Voroneskoj oblasti. Fevijal' 1936 goda. Vgl. CDNI V O f . 9, op. 1, d. 572,1. Iff. 300 CDNI VO f. 9, op. 1, d. 572,1. 12. 301 Protokol Nr. 5 Obscego zakrytogo partsobranija Upravlenija Jugo-vostoönoj zeleznoj dorogi. 5 avgusta 1937 goda. CDNI VO f. 573, op. 1, d. 20,1. 107-111.

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IV. Reue und Selbstkritik in der sowjetischen Öffentlichkeit 1931-1953

Erläuterung und Selbstanklage. Er beschrieb der (überwiegend männlichen) Versammlung den Ehestreit aus seiner Sicht, zeichnete ein sehr ungünstiges Bild von seiner Frau und bestritt auch, sie geprügelt zu haben. Er bereute aber, die Arbeitsdisziplin verletzt zu haben, und versprach: „Ich werde egal wohin fahren zum Arbeiten, nur schließt mich nicht aus".302 Die Parteimitglieder waren alle sehr unzufrieden mit Tkacev, betrachteten den Fall aber durchweg als eine Erziehungsangelegenheit. Manche wollten ihm noch einmal eine Chance geben, andere ihn sofort ausschließen: „Nikolaev: Die Parteiversammlung muß Tkacev helfen, seine Fehler zu korrigieren... In seinen seinen häuslichen ... Umständen hat er sich verheddert wie die Spinne im Netz. Er liebt sein Kind sehr, aber seine Frau kümmert sich um nichts. Tkacev konnte seine Frau nicht auf den rechten Weg bringen... Pachomov:... Wir betrachten das Problem schon zum dritten Mal.... Er mißbraucht unsere Entscheidungen. Altuchov: ... Tkacev ist ein durch und durch verlogener Mensch,... nutzt den Umstand aus, daß seine Frau nicht hier ist. Ich denke, Tkacev ist ein verkommenes Element, man muß Tkacev aus der Partei ausschließen. Sisko:... Er hat viele Fehler. Die Parteiversammlung muß ihm helfen... Dem Parteikomitee ist das bekannt, ... man muß ihn mit einer kleineren Aufgabe erziehen. Warum geben Sie nicht zu, daß Sie trinken, warum geben Sie der allgemeinen Versammlung nicht ihr Wort, daß Sie nicht mehr trinken werden. Ich schlage Tkacev vor, seine Fehler zu bewerten und ihm einen strengen Verweis ... zu erteilen. Ladnjuk: Er ist ein großer Faulpelz... Ich bin einverstanden, daß er für die Partei kein verlorener Mensch ist. ... Ich unterstütze den Vorschlag von Genossen Sisko."

Was Tkacev anschließend in seinem Schlußwort sagte, wurde vom Stenogramm nicht wörtlich festgehalten. Doch offenbar hatte er Siskos Wink mit dem Zaunpfahl verstanden und legte ein demütiges Schuldbekenntnis ab. Die Versammlung begnügte sich tatsächlich damit, Tkacev eine „strenge Rüge mit Verwarnung" auszusprechen, da dieser „seine Fehler eingesehen" und sein „Wort gegeben" hatte, sich zu korrigieren. Zu einer Zeit, als auch die Eisenbahnverwaltung Voronez von der Ausschluß- und Verhaftungswelle erfaßt wurde,303 wäre es leicht gewesen, Tkacevs Disziplinlosigkeit als „Schädlingstätigkeit" zu interpretieren - doch statt dessen baute man ihm die goldene Brücke der „Erziehung". Sogar wenn sich seine Gegner durchgesetzt hätten, wäre er wohl nur als moralisch „verkommenes Element", nicht aber als „Volksfeind" ausgeschlossen worden, was damals einen sehr großen Unterschied ausmachte. Noch milder verfuhr die Parteiversammlung in derselben Sitzung mit dem Propagandisten Korcin, der, offenbar aus Nachlässigkeit, im ideologischen Schulungszirkel einen „politische Fehler" verbreitet hatte. Der Vorfall lag schon mehrere Monate zurück, und seitdem hatte Korcin sich bemüht, den Fehler auszubessern:

302 303

CDNIVO f. 573, op. 1, d. 20,1. 110. Vgl. CDNI VO f. 573, op. 1, dd. 20 und 21.

3. Die Parteibasis

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„Ich habe einen überaus groben politischen Fehler begangen. ... Man besprach die Frage beim Parteikomitee, ich verstand, daß man so nicht weiterleben kann, ich kümmerte mich um eine ernsthafte politische Erziehung...11304

Und seine Bemühungen hatten Erfolg. Der Vorgesetzte Vilenstovic nahm ihn in Schutz: „Es gibt keinen Grund, eine Strafe zu verhängen, er hat nur etwas durcheinandergebracht... Er hat seine Lektion verstanden. Er arbeitet genügend an sich selbst. Man muß ihn ermahnen, daß sich das in der Praxis nicht wiederholt."

Die Resolution begnügte sich mit der Feststellung des Fehlers und der Ermahnung, Korcin sollte die Werke Lenins und Stalins künftig intensiver studieren.305 Die immer konsequenter eingeforderte Pflicht zur politischen Fortbildung versetzte die einfachen Parteimitglieder in die Situation von Schülern, die ihre Hausaufgaben nicht gemacht hatten. Nach dem Krieg wurde das Parteileben noch stärker verschult.306 „Sovetskoe slovo", die Tageszeitung der sowjetischen Militärverwaltung in Deutschland, berichtete 1948 darüber, wie die angebliche Vernachlässigung des „geistigen Niveaus" manchmal sogar zum Anlaß für die „Selbstkritik von unten" wurde. Der Funktionär Kalinin wurde heftig kritisiert, weil er die Parteibildung nicht straff genug organisiert hatte. Er mußte seine Fehler eingestehen: „Ich erkenne die Richtigkeit der Kritik an meine Adresse an ... Tatsächlich habe ich einen großen Fehler begangen und erkenne meine Schuld voll und ganz an. Ich habe für mich ernsthafte Schlußfolgerungen gezogen. Das ist für mich eine große Lehre, eine große Schule der Erziehung. Ich werde alles Nötige tun, um meine Fehler in der praktischen Arbeit zu korrigieren und sie im weiteren nicht mehr zuzulassen."307

Die Parteigruppe und der Zeitungskorrespondent unterstellten Kalinin Besserungsfahigkeit und hofften auf die erzieherische Wirkung seines demütigen Bekenntnisses: „Die ehrliche, direkte Wortmeldung des Kommunisten Kalinin mit der Anerkennung der eigenen Fehler wurde von der Versammlung mit großer Genugtuung aufgenommen und diente als gute Lektion für die richtige Erziehung aller Mitglieder der Parteiorganisation."

Nichtsdestoweniger erteilte die Versammlung Genossen Kalinin eine Rüge und wählte Genossen Suchin, der als stärkster Kritiker aufgetreten war, zu seinem Nachfolger als Parteisekretär.308

304

CDNIVO f. 573, op. 1, d. 20,1. 111. CDNI VO f. 573, op. 1, d. 20,1. 107. 306 Die Postanovlenie vom 26. Juli 1946 wurde zu einem häufigen Anlaß für „Selbstkritik". Zum Wortlaut vgl. KPSS ν rezoljucijach, T. 6, S. 154-161. 307 Velikaja sila kritik i samokritiki. Poucitel'nye itogi odnogo sobranija, in: Sovetskoe slovo, 24.1.1948. 308 Sovetskoe slovo, 24.1.1948. 305

280

IV. Reue und Selbstkritik in der sowjetischen Öffentlichkeit 1931-1953

Ausgeschlossene Mitglieder konnten manchmal mit einem „reinherzigen Schuldbekenntnis" ihre Wiederaufnahme erreichen. Am Ende dieses Abschnitts soll ein solches Appellationsgesuch etwas ausfuhrlicher zitiert werden. Roman Iozefovic, ehemaliger Bürgerkriegsteilnehmer und Parteimitglied seit 1930, war 1945 als Ingenieur ins besetzte Deutschland abkommandiert worden, um die deutsche Technik zu begutachten.309 In Berlin war er bei einer deutschen Witwe einquartiert worden, mit der er gemeinsam die Oper, das Kino und eine Industrieausstellung besuchte. Damit hatte er nach geltenden Maßstäben das Gebot der „politischen Wachsamkeit" verletzt. Iozefovic erhielt von seinem Parteikomitee zunächst eine Rüge, bevor das Moskauer Stadtkomitee sich entschied, ihn ganz auszuschließen. Nun wandte er sich mit seinem Gesuch an den CK-Sekretär Kuznecov. Reuebekundungen, Hinweise auf Verdienste und Seitenhiebe auf seinen Denunzianten hielten sich darin die Waage: „Ich beging einen politischen Fehler, als ich die Ernsthaftigkeit meines Vergehens unterschätzte, was mir sehr leid tut... Die Information stammte vom parteilosen Genossen Goberman, den ich in Deutschland mehr als einmal dazu ermähnt hatte, den Handel mit „allem möglichen Plunder" aufzugeben... In der Partei bin ich seit 1930 (... ich erhielt niemals irgendwelche Rügen, war Propagandist, organisierte Zirkel und Seminare ... (siehe meine Beurteilung durch die Partei-Grundorganisation ...)),... 1935 wurde ich mit dem Orden des Roten Banners der Arbeit ausgezeichnet... All das ... gibt mir das Recht darum zu bitten, die Entscheidung des Moskauer Stadtparteikomitees zu überprüfen, während ich meinen politischen Fehler ... einsehe, der der einzige in meinem ganzen Leben und außerdem zufallig war. Für die Partei bin ich kein verlorenes Mitglied, wenn ich in ihren Reihen belassen werde, dann werde ich meinen Fehler schnell korrigieren, um das Vertrauen der Partei mit meiner ehrlichen Arbeit zu rechtfertigen."

Ob Iozefovic seine Wiederaufnahme erreichte, geht aus der Akte leider nicht hervor. Der Duktus dieses Briefs erinnert an Vorbilder des absolutistischen Hofstaats: Der in Ungnade gefallene Beamte bittet den Souverän untertänig um Verzeihung und bringt dabei deutlich die sentimentale Anhänglichkeit des alten Dieners gegenüber dem gnädigen Herrn zum Ausdruck. Die in diesem Abschnitt zitierten Schuldbekenntnisse von Parteimitgliedern ergaben sich allesamt aus einem autoritären Subordinationsverhältais, das sich gerne pädagogisch einkleidete. Die Betroffenen kannten die Gültigkeit der Regeln, deren Verletzung ihnen vorgeworfen wurde, und sahen keine andere Möglichkeit mehr, den Schaden zu begrenzen. Wegen ihrer Vorhersehbarkeit könnte man diese Prozedur auch als „Ritual" bezeichnen. Auf das oben zitierte Schuldbekenntnis des Parteisekretärs Kalinin beispielsweise ist Arch Gettys Definition vom samokritika ritual zweifellos anwendbar: Als er eingesehen hatte, daß sein Fall verloren war, begann er, den master discourse seiner Kritiker zu wiederholen. Aber nicht immer war die Situation so über-

m Clenu Orgbjuro CK VKP(b) tovarisöu Kuznecovu V. V. Zajavlenie Romana Jakovlevica Juzefovida. 10.8.1946 goda. GARF f. 5451, op. 43, d. 541,1. 376.

3. Die Parteibasis

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sichtlich. Sobald sich das irrationale Karussell der Suche nach Abweichlern und „Schädlingen" in Gang setzte, wurde alles viel komplizierter. Beim Aufeinandertreffen des politischen Kapitulationsverhaltens, des samokritika-Gedankens und des untertänigen Schuldbekenntnisses wurde schon zu Beginn der dreißiger Jahren eine Verschiebung im Selbstverständnis derjenigen sichtbar, die Schuldbekenntnisse ablegten: Anders als die Trotzkisten, die zumindest einen Augenblick lang mit vollem Bewußtsein gegen die Generallinie opponiert hatten, beteuerten die Kommunisten der dreißiger Jahre, niemals wissentlich andere Ziele verfolgt zu haben als Stalin, das Zentralkomitee und die Partei. Wer genötigt war, Fehler, ideologische Irrtümer und Wachsamkeitsversäumnisse einzuräumen, versuchte stets, diese als Resultat menschlicher Schwächen, schlechter Einflüsse und allgemeiner Erziehungsdefizite hinzustellen. Diese Strategie führte in der Praxis zu einem weiteren Brückenschlag zwischen politischen Fehlereingeständnissen und der samokritika: Denn gewöhnliche Mißstände sollten mit „Kritik und Selbstkritik" ursprünglich zwar bekämpft, aber nicht unbedingt bereut werden; das politische Oppositionsverhalten aber wurde nun nicht mehr bereut, sondern hartnäckig in Abrede gestellt. In der offiziellen Vorstellung waren der „Mangel an Wachsamkeit" und das im jeweiligen Milieu herrschende Defizit an Öffentlichkeit, Demokratie und „Selbstkritik" untrennbar miteinander verbunden und wurden bald zu einem der wichtigsten Kritikpunkte. Die Funktionsträger mußten im Lauf der Debatte logischerweise zugeben, an diesen öffentlichen Zuständen mitschuldig zu sein. Im Kontext der „großen Säuberungen" waren Schuldbekenntnisse oft Teil einer individuellen Strategie der Selbstverkleinerung. Daher wäre es ganz falsch, davon auszugehen, daß von diesen Schuldbekenntnissen eine gerade diskursgeschichtliche Linie zu den Geständnissen im NKVD-Verhör geführt hätte. Ein sehr frühes Beispiel für diese Verschränkung von samokritika und „Kapitulation" bietet die Auseinandersetzung um den jungen Philosophen P. F. Sapoznikov, dessen Schicksal schon im dritten Kapitel kurz erwähnt wurde. Als Anhänger Deborins und Bucharins wurde Sapoznikov seit 1928 mehrfach angegriffen und mußte sich 1929 von der „rechten Abweichung" distanzieren.310 Im November 1931 fungierte Sapoznikov als Rektor der Voronezer Universität, an der er auf einer geschlossenen Parteiversammlung erneut attackiert wurde. 3 " Dort gerieten die Grenzen zwischen „Selbstkritik" und „Reue" ins Schwimmen: Obwohl, ganz im Sinne der samokritika, die angebliche Vernachlässigung der beruflichen Pflichten durch den Rektor und Lehrstuhlinhaber Sapoznikov der äußere Anlaß der Veranstaltung war, forderten ihn die Teilnehmer in ihren Wortmeldungen bald dazu auf, sich ein weiteres 310

Vgl. den wütenden Brief Bucharins an Stalin vom August 1928, in: Chlevnjuk: Sovetskoe rukovodstvo, S. 38-40; zu Sapoznikovs Kapitulation vgl. Izvestija, 21.11.1929, S. 3. 311 Vgl. das dritte Kapitel.

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IV. Reue und Selbstkritik in der sowjetischen Öffentlichkeit 1931-1953

Mal von seinen „ deborinistischen Irrtümern" öffentlich in der Presse zu distanzieren. Sie äußerten dabei den Verdacht, er habe sich bislang in seinem Inneren nicht wirklich von ihnen losgesagt. Der Korreferent verwendete den damals verbreiteten Begriff vom „rechten Opportunismus in der Praxis", der die schlechte praktische Arbeit gewissermaßen auf die ideologische Abweichung zurückführte: „Der Lehrstuhl hatte keinen Arbeitsplan. Gesellschaftliche Arbeit wurde nicht geleistet. Wissenschaftliche Forschungsarbeit wurde nicht organisiert. Sie wurde deshalb nicht organisiert, weil Genösse Sapoznikov die Arbeit einzelner Genossen bremste. Nicht alle Versäumnisse, die es in der Arbeit des Lehrstuhls gab, kann man mit der Überlastung von Genösse Sapoznikov erklären. Diese Fehler haben politischen Charakter. Das ist rechter Opportunismus in der Praxis. Genösse Sapoznikov hat als Deborinist aus Tradition deborinistische Ideen in die Arbeit des Lehrstuhls übertragen. ... Die Schuld am Scheitern der Arbeit liegt nicht nur bei Genösse Sapoznikov, sondern auch beim Büro des Parteikollektivs fehlte der kritische Blick auf die Arbeit von Genösse Sapoznikov".312

In dieser Äußerung lassen sich die beiden Vorstellungskomplexe noch recht gut auseinanderhalten. Die miserable Arbeitsorganisation ist Gegenstand der samokritika, die Forderung nach Reue bezog sich dagegen immer noch auf die weltanschaulichen Irrtümer. Daß auch das Parteibüro als mitschuldig erkannt wurde, entsprach ebenfalls der ursprünglichen Bedeutung von samokritika, denn die Kritik galt damit der Organisation insgesamt und konnte zu einem sachlicheren Blick auf die Vorwürfe führen: „An allen Fehlern sind auch die Parteiorganisationen schuld, weil die Frage nicht vom Parteikollektiv selbst, sondern von Parteimitgliedern aufgeworfen wurde. Die Schuld des Genossen Sapoznikov wird durch das unentschlossene Handeln des Parteikollektivs vertieft. Diese Frage muß man auf Partei- und Komsomolversammlungen besprechen... Genösse Sapoznikov muß man unbedingt entlasten."313

Dieser Gedanke wurde in der Diskussion mehrmals aufgegriffen. Das Parteikomitee sah aber wenig Anlaß zur Selbstkritik. Statt dessen bestand es auf einer weiteren deutlichen Kapitulationserklärung des ehemaligen Bucharinfreunds und Deborinanhängers: „Sapoznikov beging eine Reihe größter politischer Fehler und muß sie korrigieren. Genösse Sapoznikov muß man arbeiten lassen und bei der praktischen Arbeit überprüfen. Anhand einer Reihe von Auftritten, Artikeln und der praktischen Arbeit ist zu sehen, daß Genösse Sapoznikov die Linie der Partei vertritt und die Linie der Rechten verurteilte. Es ist nötig, den Genossen Sapoznikov zu veipflichten, dem rechten Opportunismus, dem Deborinismus und dem menschewisierenden Idealismus einen noch entschiedeneren Kampf zu erklären."314

Diese Nötigung zur wiederholten Reue hat mit dem Diskurs der „Selbstkritik" wenig zu tun. Die Diskursverschiebung kommt auch sehr charakteristisch

312 313 314

CDNIVO f. 412, op. 1, d. 53,1. 63. CDNI VO f. 412, op. 1, d. 53,1. 64. CDNI VO f. 412, op. 1, d. 53,1. 65.

3. Die Parteibasis

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in Sapoznikovs Reaktion zum Ausdruck: Er gab zwar zu, seine beruflichen Pflichten infolge seiner Überlastung vernachlässigt zu haben. Den Vorwurf des „Doppelzünglertums" wies er hingegen entschieden zurück. Er bestand darauf, daß er einen ehrlichen Gesinnungswandel vollzogen und immer nur die Parteilinie vertreten habe.315 Sapoznikov bereute also paradoxerweise genau diejenigen Fehler und „Mißstände", die durch die samokritika bekämpft, aber nicht unbedingt „bereut" werden sollten. Auf die Forderungen aber, er solle sich von seinen alten deborinistischen beziehungsweise „rechtsabweichlerischen" Ansichten ein weiteres Mal lossagen, konnte er nur mit dem hilflosen Hinweis antworten, dies schon oftmals getan zu haben. Während die „Selbstkritik" an den Mißständen zu einer Reueerklärung Sapoznikovs führte, trat in der Forderung nach seiner soundsovielten „Kapitulation" über ein zurückliegendes Loyalitätsdelikt schon die auf Vernichtung abzielende Tendenz hervor. Wenn sich die beiden Elemente von „Selbstkritik" und „Kapitulation" im Fall Sapoznikovs noch ganz gut auseinanderhalten lassen, so liegt dies nicht zuletzt daran, daß auch die „Deborinschule" mit der „rechten Abweichung" und mit Bucharin persönlich identifiziert wurde. Manche Kollegen schienen gut begriffen zu haben, daß Sapoznikov dadurch so tief in Ungnade gefallen war, daß es gar nicht mehr darum ging, ihn zu „korrigieren", sondern nur noch darum, seine berufliche Position vollständig zu zerstören. Der Vorwurf, er habe seine ehemaligen Ansichten noch nicht eindeutig genug verurteilt, war dabei nur ein bequemer Vorwand, der sich beliebig wiederholen ließ. Die Behandlung des ehemaligen Rechtsabweichlers Sapoznikovs ähnelt darin deqenigen seiner politischen Vorbilder Bucharin oder Rykov zur gleichen Zeit.316 Wenn es darum ging, politische oder ideologische Fehler aus der Welt zu schaffen, dann hatten die „zurückgebliebenen" Parteimitglieder bessere Chancen als die „politisch Gebildeten". Als etwa der Voronezer Aspirant Ivannikov 1933 in seinem Referat über den subjektiven Idealismus vergaß, auf den politischen Aspekt des Themas einzugehen, gelang es ihm, die Verantwortung auf andere abzuwälzen: „Ich halte mich für schuldig, einen Fehler begangen zu haben, habe ihn aber zufallig begangen, nicht mit Absicht, ich war nicht in der Sprechstunde; der Fehler wird dadurch vertieft, daß das Seminar diese Fragen insgesamt nicht ausfuhrlich behandelte."

Andere schlossen sich dieser Meinung an. Das Komitee hielt dieses Fehlereingeständnis für „ausreichend" und kam zum Schluß, daß der philosophische Lehrstuhl insgesamt in ideologischer Hinsicht nicht „wachsam" genug sei. Ins-

315

CDNIVO f. 412, op. 1, d. 53,1. 65. Zwar ist die Entscheidung der Parteigruppe im Archiv nicht vorhanden, doch Sapoznikov wurde noch im selben Jahr an die Landwirtschaftshochschule Saratov versetzt und 1937 hingerichtet. Vgl. Chlevnjuh. Sovetskoe Rukovodstvo. Perepiska, S. 483. 316

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IV. Reue und Selbstkritik in der sowjetischen Öffentlichkeit 1931-1953

besondere den Dozenten Scerbakov treffe eine schwere Verantwortung, weil er im Seminar nicht sofort auf den politischen Fehler hingewiesen habe.317 Ein typisches Beispiel dafür, wie die Parteibasis in den dreißiger Jahren die „Kritik und Selbstkritik weit verbreitete", liefert das Stenogramm einer allgemeinen Partei- und Komsomolversammlung der Voronezer Landwirtschaftshochschule von 1935.318 Ihr vergleichsweise harmloser Verlauf ähnelt den späteren Hexenjagden nur insofern, als auch hier einem Parteimitglied vorgeworfen wurde, Regeln verletzt zu haben, von deren Geltung es keine Kenntnis haben konnte. Der formale Anlaß für die Veranstaltung war nicht das Fehlverhalten des Dozenten Gubarev, sondern Stalins Rede vor den Absolventen der Militärakademie. Stalin hatte die Partei dort einmal nicht zur „Wachsamkeit" aufgerufen, sondern vielmehr dazu, die „Kader" gut zu behandeln, die „alles entscheiden" sollten.319 In der Diskussion nach dem Referat hielt der Genösse Isakov eine offenbar gut vorbereitete Anklagerede gegen Gubarev, der die Studenten angeblich „grob" behandelte. Isakov zufolge hatte er einer kranken Studentin das Stipendium gestrichen und sie darüber hinaus bei ihrem Arbeitgeber unnötig angeschwärzt. Gubarev, der von den Vorwürfen offenbar überrascht wurde, war aber nicht bereit, die Rolle des Sündenbocks zu spielen. Er wies daraufhin, daß es die übliche Praxis sei, bei der Stipendienvergabe die erfolgreichen Studenten zu bevorzugen. Er erinnerte daran, daß Isakov ebenfalls dem Gewerkschaftskomitee angehörte, das für die Studentenbetreuung zuständig war. „Ich sehe meinen Fehler natürlich ein, muß aber trotzdem sagen, daß Genösse Isakov und die Komsomolorganisation mir hätten helfen müssen. Wenn sie gekommen und mir meinen Fehler aufgezeigt hätten, dann hätte ich ihn schnell behoben".

Die Situation löste sich auf, als jemand Gubarev vorwarf, noch nichts zur Rede Stalins gesagt zu haben. Gubarev ergriff dankbar die Gelegenheit und lobte Stalins Rede so emphatisch, daß die anderen ihm zunächst einmal applaudieren und danach seine Stalin-Panegyrik fortsetzen mußten. Ob Gubarev später gemaßregelt wurde, geht aus dem Stenogramm nicht hervor. Trotz ihrer Harmlosigkeit hatte diese Auseinandersetzung formale Ähnlichkeit mit den 1937 stattfindenden „Selbstkritik"-Sitzungen: Eine Stalinrede definierte eine Änderung der Spielregeln, und eifrige Parteimitglieder versuchten sofort, ihre Durchsetzung mit der Statuierung eines Exempels zu verknüpfen. Der attakkierte Genösse wehrte sich aber dagegen, daß sein Verhalten plötzlich nach bis dahin unbekannten Maßstäben beurteilt wurde. Wie fast alle Sowjetbürger in vergleichbarer Situation versuchte Gubarev, einen Teil der Verantwortung auf 317

Vgl. Protokol sobranij i zasedanii bjuro jacejki VKP(b) ... ot 25 janvaija 1933 goda. CDNIVO f. 412, op. 1, d. 61,1. 155-156. 318 Obäie-Institutskoe partijno-komsomoFskoe sobranie. 15-ogo maja 1935. CDNI VO f. 413, op. 1, d. 155,1. 67-69. 319 Rede im Kremlpalast vor den Absolventen der Militärakademie. Vgl. Pravda, 6.5.1935.

3. Die Parteibasis

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die Schultern seiner Ankläger abzuwälzen.320 Dieses rhetorische Grundmuster entsprach vollauf dem samokritika-Gedanken und wurde keineswegs als eine „Verletzung der Parteidiszplin" aufgefaßt. Ein schwaches Zugeständnis an die Kultur der Schuldgeständnisse findet sich hier nur in den selbstkritischen Halbsätzen, die Gubarev typischerweise seinen Verteidigungsargumenten voranstellte: „Natürlich habe ich Fehler gemacht, aber ... meine Lage als stellvertretender Dekan war auch sehr schwierig". Nach dem Mord an Kirov (Dezember 1934) wurde die „mangelnde Wachsamkeit" zum dominierenden Thema der Schuldbekenntnisse. Wenn Parteimitglieder plötzlich „als trotzkistische Doppelzüngler" oder als „Parteifeinde" entlarvt wurden, dann implizierte das nach offizieller Ansicht, daß deren Freunde, Kollegen und Parteigenossen sich der „mangelnden Wachsamkeit" schuldig gemacht haben mußten - denn diese waren schließlich nicht selbst in der Lage gewesen, den Feind von sich aus zu „entlarven". Wer sich nicht traute, das Vorhandensein von Volksfeinden zu bestreiten, oder sich gar für die „entlarvten" Personen öffentlich einsetzte, mußte dieser Logik wohl oder übel folgen. Die Verurteilung Zinov'evs zu zehn Jahren Haft (16.1.1935) und der Brief des Zentralkomitees an alle Organisationen (18.1.1935) wurde von den Parteigruppen als Aufforderung verstanden, frühere Anhänger Zivov'evs, Kamenevs und Trockijs umgehend auszuschließen. Nicht nur für die Spitzen der ehemaligen Oppisition, sondern auch für deren Basis bedeutete der Mord an Kirov eine grundlegende Veränderung ihrer Situation. Keiner von ihnen konnte 1934 Parteimitglied sein, ohne seine ehemaligen Irrtümer kategorisch verurteilt zu haben; doch von diesem Moment an zählten Loyalitätsbeteuerungen nicht mehr viel. Die linientreuen Bolschewiken, die bis dahin ehemalige Oppositionelle in ihrer Mitte geduldet hatten, reagierten freilich noch nicht mit dissonanter Selbstkasteiung wegen „mangelnder Wachsamkeit", sondern mit dem Unisono der klaren Parteinahme: Die ehrlichen Kommunisten schlossen sich fest zusammen gegen den heimtückischen Gegner. Als das Parteikomitee der Voronezer Universität am 19. Januar 1935 eine offene Partei- und Komsomolversammlung einberief, präsentierte es dem Publikum den Genossen Rajkov als „entlarvten Feind", dessen Parteiausschluß schon am Vortag vom Rayonkomitee bestätigt worden war.321 Die Parteileitung hatte vermutlich klare Gründe gehabt, sich bei der Wahl des Opfers ausgerechnet für Rajkov zu entscheiden: Er hatte in der Vergangenheit eine Parteirüge wegen oppositioneller Tätigkeit erhalten, war erst vor wenigen Monaten nach Voronez gekommen und hatte seitdem mehrmals lästige Kritik geübt, anstatt seine früheren 320

Sein Verhalten ähnelt darin auch demjenigen Avel Enukidzes, der fast genau zur gleichen Zeit im Zentralkomitee attackiert wurde. Vgl. obigen Abschnitt über die politischen Entscheidungsträger. 321 Protokol obsöego otkrytogo partijno-komsomol'skogo sobranija VGU ot 19 janvaija 1935 g. CDNIVO f. 412, op. 1, d. 63,1. 29.

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IV. Reue und Selbstkritik in der sowjetischen Öffentlichkeit 1931-1953

Fehler lautstark zu verurteilen. Nun traten der Reihe nach die Redner auf, die Rajkov scharf verurteilten und seinen Ausschluß billigten. Der Vorwurf der oppositionellen Betätigung wurde dabei regelmäßig mit anderen Vorwürfen kombiniert: „Rajkov trat oft gegen diesen oder jenen Vorschlag auf. Er weigerte sich, die Beschlüsse des siebzehnten Parteitages mit den wissenschaftlichen Angestellten durchzuarbeiten." - „Rajkov ist ein Doppelzüngler. Er verteidigte seine Meinung bis zuletzt. In der VGU führte er den Kampf mit den Methoden der Verleumdung, der Untergrabung von Autorität und so weiter." - „ Rajkov führte einen Kampf mit der Führung, nicht mit den Mißständen, sondern mit dem Dekanat." - „Er nannte sich .Professor', obwohl nicht bekannt ist, ob er eine Arbeit verteidigte..."

Manche Teilnehmer kritisierten auch ein wenig sich selbst, weil sie ihn nicht rechtzeitig „entlarvt" hatten: „Wir müssen noch wachsamer sein, müssen den Feind erkennen können, der versucht, von innen heraus zersetzend zu wirken" - „Meine Schuld besteht darin, daß ich bis jetzt keinen Trotzkisten entdecken konnte, ... obwohl Rajkov mit mir über seine Rüge wegen Beteiligung an der ... Opposition gesprochen hat." - „Unsere Schuld besteht darin, daß wir nicht wachsam sind".

Erstaunlicherweise brachten in dieser Atmosphäre zwei Versammlungsteilnehmer den Mut auf, Rajkov ausdrücklich zu verteidigen. Grinbljum, der Rajkov von Moskau her kannte, behauptete, daß dieser dort gegen die Opposition gekämpft habe. Erst in der allerletzten Zeit sei es bei ihm zu „linken Überspitzungen" gekommen. „ Rajkov kann ... der Partei noch nützlich sein, und ich bin überzeugt, daß er wieder aufgenommen werden wird". Grinbljum und Rabinovic, die Rajkov verteidigten, zogen sich damit die Wut der Versammlung zu. Mehrere Redner erhielten Applaus, als sie den Ausschluß dieser beiden forderten. Man nannte ihre Äußerung „falsch", „unaufrichtig" und „doppelzünglerisch" und verdächtigte sie, die „Meinung Rajkovs" zu teilen. Daß Rajkov sehr wohl ein Oppositioneller war, ging nach Meinung des Genossen Zirov schon daraus hervor, daß er „gegen die Leitung des Komsomol gekämpft" und sich damit einer typisch „oppositionellen Kampfmethode" bedient habe. Die Versammlung Schloß mit der „einmütigen" Annahme der vorbereiteten Resolution, in der das Moskauer Gerichtsurteil gebilligt und Rajkov aus der Partei ausgeschlossen wurde.322 Arch Getty und andere Sozialhistoriker haben in den letzten zwanzig Jahren recht überzeugend herausgearbeitet, daß der Verlauf der „großen Säuberungen" auch einen strukturellen Interessenkonflikt zwischen der Parteizentrale und den regionalen Machthabern widerspiegelte. Die Massenverhaftungen und die demagogische Aufforderung zur „Selbstkritik von unten" verfolgten demnach den Zweck, die Hausmachtstrukturen in der Provinz aufzubrechen. 322

Wie die Ereignisse der folgenden beiden Jahre zeigten, wurden zu Jahresbeginn 1935 längst nicht alle ehemaligen Oppositionellen aus der Partei ausgeschlossen. Fast das gleiche Szenario läßt sich im Sommer 1936 wieder beobachten.

3. Die Parteibasis

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Und tatsächlich wurde es für die lokalen Parteileitungen immer schwieriger, die Konsequenzen der „Schädlingssuche" unter Kontrolle zu halten. Im soeben zitierten Beispiel hatte die Universitätsparteileitung es noch verstanden, die nötige „Entlarvung" eines „Parteifeinds" elegant mit ihren eigenen Interessen zu verbinden: Nach ihrer Darstellung hatte sich Rajkov nicht zuletzt durch seine Kritik an lokalen Autoritäten wie dem Dekanat als „Parteifeind" herausgestellt. Es galt der Grundsatz: „Wer gegen die Obrigkeit auftritt, der ist oppositionell." Durch die Wiederbelebung der Schlagworte der „innerparteilichen Demokratie" und der „Selbstkritik" in den folgenden Jahren wurde diese Haltung aber zunehmend konterkariert. Der „Mangel an Wachsamkeit" wurde, ähnlich wie 1928 die Affären von Sachty und Smolensk, auf die „Abwesenheit von Selbstkritik" zurückgeführt. Dahinter stand das stalinistische Postulat, daß die proletarische Parteibasis in der Lage sein müsse, „trotzkistische Schädlinge" auch anhand ihres alltäglichen Verhaltens zu erkennen - und nicht nur mit einem Blick in deren Personalakte, die über vergangene Abweichungen Auskunft gab. Da Stalin niemals zuzugeben bereit war, daß die Oppositionellen schon allein wegen ihrer Vergangenheit ausgerottet werden mußten, erfüllte die „Kritik von unten" an verbliebenen Oppositionellen eine wichtige legitimierende Funktion. Freilich gab es im Alltag nur wenig Gelegenheit, Funktionsträger zu „kritisieren" - und so stellte sich immer, wenn „Schädlinge entlarvt" wurden, heraus, daß die zuständigen Funktionäre zuvor die „Selbstkritik unterdrückt" und die „Massen" daran gehindert hatten, den „Feind rechtzeitig zu entlarven". Um so überzeugender mußte das dann nachgeholt werden. Die zuständigen Autoritäten sahen sich dann häufig genötigt, wegen ihrer Versäumnisse Schuldbekenntnisse abzulegen. Schon lange vor dem Februar-März-Plenum 1937 bildete sich dieses Szenario von „Kritik und Selbstkritik"-Sitzungen heraus. Bis dahin waren es noch die Gebietsparteileitungen, die bei der Diskreditierung lokaler Parteigrößen häufig die Regie führten. Vermutlich handelten sie dabei nach einem ähnlichen Prinzip wie 1935 die Universitätsleitung: Noch fühlten sie sich als Herren der Lage und hofften, die Auswirkungen eingrenzen zu können. Nachdem das Zentralkomitee in seinem Brief vom 29. Juli 1936 alle Parteiorganisationen ein weiteres Mal dazu aufgefordert hatte, die „Feinde" in erster Linie unter den alten Oppositionellen zu suchen, wurde im Kalacaevsker Rayon der alte Trotzkist Ivanov „entlarvt". Das Voronezer Gebietsparteikomitee bediente sich daraufhin des Szenarios der „Selbstkritik", um die Parteileitung der Sowchose „durchzuarbeiten", wo Ivanov bis dahin gearbeitet hatte. Dabei kam es nun auch zu sehr weitreichenden Schuldbekenntnissen. Am 11. September fuhr der Instrukteur Tokarev aufs Dorf und hielt den Mitgliedern des Parteikomitees der Sowchose eine Strafpredigt.323 Er nötigte sie dazu, einen 323 vgl. Perepiska po delam clenov VKP(b) partorganizacii obkoma. 9.6.1936-23.10.1936. Protokol zasedanija partkoma Kalacaevskogo Zernosovchoza ot 11.9.1936 goda. CDNIVO

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IV. Reue und Selbstkritik in der sowjetischen Öffentlichkeit 1931-1953

Beschluß zu fassen, in dem sie sich selbst mehrerer Fehler beschuldigten: Sie hatten den ehemaligen Trotzkisten Ivanov nicht rechtzeitig „entlarvt" und sich somit mangelnder „Wachsamkeit" schuldig gemacht. Ferner hatten sie es versäumt, nach seiner „Entlarvung" eine „breite Arbeiterdiskussion" zu veranstalten und ihn dort „vollständig zu entlarven". Das Wachsamkeitsdefizit war zugleich ein Defizit an „demokratischer" Öffentlichkeit. Die Gebietsparteileitung verzichtete darauf, das Komitee sofort abzusetzen; Tokarev verlangte statt dessen, das Komitee solle auf einer großen Parteiversammlung über seine eigenen Fehler berichten. Nachdem der mächtige Instrukteur im kleinen Kreis die Verhältnisse geklärt hatte, fand am folgenden Tag die große „Selbstkritik"Versammlung statt, an der alle Parteimitglieder und Kandidaten teilnahmen.324 Sekretär Marinov machte keinerlei Versuch, sich offen zu verteidigen, und wiederholte alle Vorwürfe an die eigene Adresse. In aller Demut erwähnte er nebenbei eine Reihe von Einzelheiten, die ihn faktisch entlasteten: Tatsächlich wußten auch das Rayon- und das Gebietskomitee schon längst, daß Ivanov ein alter Trotzkist war, hatten darin aber bis zum August 1936 kein besonderes Problem gesehen. Da Ivanov zu beteuern pflegte, sich vom Trotzkismus losgesagt zu haben, hatte ihm das Rayonkomitee sogar noch im Mai neue Parteidokumente ausgehändigt. Trotzdem erkannte Marinov nunmehr einen „groben Fehler" darin, daß er es versäumt hatte, auch die Parteiorganisation der Sowchose über Ivanovs Vergangenheit zu informieren und auf einer Parteiversammlung zu besprechen. Damit zollte er indirekt dem Postulat der stalinistischen „Demokratie" Tribut, demzufolge die einfachen Parteimitglieder besser als das Gebietsparteikomitee wissen mußten, ob Ivanov ein „Schädling" war oder nicht. Dieser Selbstvorwurf war aber schon deswegen realitätsfern, weil Personalentscheidungen auf den Sowchosen grundsätzlich nicht demokratisch getroffen wurden. Die Durchführung einer solchen Versammlung hätte vom Parteivolk nur als Wunsch verstanden werden können, Ivanov abzustrafen oder loszuwerden. Marinov hatte ihn jedoch als fähigen Mitarbeiter geschätzt und versucht, sich in dieser heiklen Frage informell bei den höheren Instanzen abzusichern. Hätte Stalin nicht im Sommer 1936 eine neue Phase der „Schädlingssuche" eingeleitet, dann wäre diese Rechnung vermutlich auch aufgegangen. Nach dem Brief des Zentralkomitees und Zinov'evs Hinrichtung traute sich das Gebietskomitee aber nicht mehr, ehemalige Oppositionelle zu dulden und wollte auch ihre zeitweiligen Beschützer nicht ungeschoren lassen. Marinov und sein Kollege Sejn schienen diese politische Rahmensituation begriffen zu haben, denn sie verzichteten darauf, ihr Verteidigungspotential voll auszunutzen, und gaben zu, viele „Fehler" gemacht zu haben. Sejn erklärte wörtlich: f . 4 7 4 , o p . 1, d. 7., 1. 86. 324 Protokol obsiesovchoznogo zakrytogo partsobranija clenov i kandidatov VKP(b) Kalaiaevskogo zernosovchoza. 12.9.1936 goda. CDNIVO f. 474, op. 1, d. 7,1. 88-95.

3. Die Parteibasis

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„Die Schuld liegt vor allem beim Parteikomitee und besonders bei mir als Sekretär... Wir haben die Aufklärungsarbeit über den Trotzkismus und besonders über Ivanov sehr schlecht geführt... Das hat mich stark mitgenommen. Das ist für mich eine große Lehre. Angesichts dieses Fehlers ... kann ich nicht weiter Sekretär des Parteikomitees bleiben und bitte darum, mich [von diesem Amt] zu befreien. Ich werde energisch in der Redaktion [der Wandzeitung] arbeiten und auf diese Weise meinen Fehler wiedergutmachen."

Es ist immerhin denkbar, daß der Instrukteur Tokarev mit ihnen am Tag zuvor eine Abmachung getroffen hatte. Trotz seines Fehlereingeständnisses zeigte Marinov immer noch hinlängliches Selbstbewußtsein. Als einige Redner in der Diskussion begannen, nicht nur den „entlarvten" Ivanov, sondern auch ihn als Trotzkisten zu beschuldigen, da wußte er sich prompt zu wehren. Er warf der Versammlung vor, die ganze Leitung „unterschiedslos den Trotzkisten zuzuschlagen, anstatt gesunde Kritik zu üben", und konnte seinen Tadel untermauern, indem er ausgiebig Parteibeschlüsse aus der „Pravda" zitierte, in denen vor „Überspitzungen" gewarnt wurde. Auch der Genösse Zuravlev stellte sich auf die Seite Marinovs: „Es ist schlecht, daß ... Genossen ... gegen die Leitung insgesamt rebellieren wollen, indem sie der politischen Abteilung und dem Parteikomitee Trotzkismus vorwerfen, über ihre [eigenen Fehler] schweigen, alles auf Marinov schieben... Man muß ein Gefühl für Parteiverantworung ... haben, sonst erhält man keine gesunde Kritik, sondern persönlichen Unmut."

Die Sitzung ging mehr oder weniger glimpflich zu Ende. Die Versammlung nahm davon Abstand, Marinov und §ejn strenger zu verurteilen, als diese sich selbst kritisiert hatten. Sejn wurde entsprechend seiner Bitte aus dem Parteikomitee entfernt, weil er die „Klassenwachsamkeit eingeschläfert" hatte. Zu Marinov fällte man überhaupt keine Entscheidung, sondern reichte den Fall an das Gebietskomitee weiter. Keiner von beiden wurde aus der Partei ausgeschlossen oder gar als „trotzkistischer Schädling" eingestuft. Die Situation konnte also noch halbwegs stabilisiert werden, forderte allerdings schon Rücktritte unter dem Leitungspersonal. Der Verzicht Marinovs und Sejns auf eine Selbstverteidigung und ihre vergleichsweise weiche Landung rückten den Vorgang in die Nähe des von Arch Getty beschriebenen „Entschuldigungsrituals": Sie „schluckten ihre Medizin" und hofften darauf, daß der Fall ähnlich behandelt werden würde wie eine unpolitische Disziplinverletzung - freilich ist nichts darüber bekannt, ob sie die „großen Säuberungen" überlebten. Der September 1936 war wohl in allen Parteigruppen ein Augenblick der intensiven „Schädlingssuche", die sich nicht überall so gut eingrenzen ließ wie auf der Kalacaevsker Sowchose.325 Im Voronezer Landwirtschaftsinstitut 325

Über die Folgen des CK-Briefes vgl. auch: David L. Hoffmann: The Great Terror on the local level: Purges in Moscow Factories, 1936-38, in: J. Arch Getty, Roberta T. Manning (Hrsg.): Stalinist Terror. New Perspectives, Cambridge 1993, S. 163-167.

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IV. Reue und Selbstkritik in der sowjetischen Öffentlichkeit 1931-1953

kam es nach der „Entlarvung" des ehemaligen Oppositionellen Spilevs zu einer Reihe von Parteiausschlüssen.326 Wer sich bei solchen Sitzungen fur die Auszuschließenden einsetzte, mußte damit rechnen, im Handumdrehen selbst ausgeschlossen zu werden. Die Betroffenen versuchten häufig, ihr oppositionelles Abstimmungsverhalten als „Erziehungsdefizit" hinzustellen. Der Rybinsker Komsomolze Chanan Lev hatte zwar nicht gegen den Ausschluß Gordinskijs gestimmt, aber in einem privaten Gespräch nach der Sitzung an das Engagement des Ausgeschlossenen im Sportbetrieb erinnert. Er gab zu, mit dieser Äußerung einen „politischen Fehler" begangen zu haben, hoffte aber trotzdem, im Komsomol verbleiben zu können. Denn dieser sei schließlich eine „erziehende Organisation".327 Zum Jahresbeginn 1937 beschäftigten neben dem zweiten Großen Schauprozeß auch die Kampagnen gegen Postysev und Seboldaev die Aufmerksamkeit der Parteikader.328 Auf unmittelbaren Druck des Politbüros mußten die Regionalfursten Kievs beziehungsweise der Azov-Schwarzmeerregion zugeben, die „Wachsamkeit" in ihrem Verantwortungsbereich sträflich vernachlässigt zu haben.329 Beide wurden aus ihren Ämtern entfernt und in der Hierarchie empfindlich zurückgestuft. Ihr Fall war in etwa der Prototyp dessen, was sich nach dem Februar-März-Plenum 1937 flächendeckend in allen Regionalorganisationen der Partei abspielen sollte. Die bald darauf stattfindenden Regionalplenen wurden sukzessive zu der Bühne, auf der der Hierarchiewechsel als großes Straftheater inszeniert wurde. Nach und nach begannen die Plenumsteilnehmer, sich gegenseitig zu beschuldigen, zu „entlarven", nicht wiederzuwählen und aus der Partei auszuschließen. Dieser Mechanismus der kollektiven Selbstzerstörung setzte sich nicht von alleine in Gang - nötig war die Hebelwirkung der Anwesenheit von Emissären aus dem Zentrum, des erstmals durchgesetzten Prinzips der geheimen Wahl und der ständig neu eintreffenden Nachrichten über die kompromittierenden Aussagen verhafteter Personen.330 Das Dilemma der Akteure beschrieb Stephen Kotkin am Beispiel der Regionalzeitung „Magnitogorskij Rabocij": „Die Zeitung war als Organ des Stadtkomitees verständlicherweise nicht gewillt, sich ... und den Rest des Stadtkomitees selbst zu zerstören. Aber diese Selbstzerstörung war unvermeidlich geworden. Wenn die Unterdrückung von , Selbstkritik' die wichtigste Stütze der Feinde war, dann hätte die Verhinderung von .Selbstkritik' bedeutet, sich selbst als 326

CDNIVO f. 413, op. 1, d. 180. Delo dvurusnika Spileva i materialy na lie, svjazannych s etim delam 11.8.1936-23.9.1936.1. 1-12 und 1. 78-84. 327 Nichtsdestoweniger wurde er ausgeschlossen. RGASPI-CChDMO, f. l , o p . 23, d. 1189, 1. 71-75. 328 Vgl. Getty: The Road to Terror, S. 331-355. 329 Vgl. das ausfuhrliche Schuldbekenntnis Seboldaevs vom 6. Januar 1937 vor dem Regionalplenum, in: Getty: The Road to Terror, S. 341-344. 330 Vgl. dazu regionale Publikationen, z.B.: V. A. Mitin, V. A. Radiscevskaja, Τ. V. Titova (Hrsg.): Repressiv ν archangel'ske. 1937-1938. Dokumenty i materialy. ArchangePsk 1999.

3. Die Parteibasis

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Helfershelfer zu entlarven. Die einzige Wahl war, , Selbstkritik' zu praktizieren und sich dabei auch selbst zu belasten."33'

Es ist leicht denkbar, daß die Selbstvernichtung der regionalen Eliten an der Parteibasis mitunter große Genugtuung und Schadenfreude auslöste. Die meisten Parteimitglieder erlebten die Ereignisse zunächst als aufgeregte Zuschauer und Zeitungsleser. Für manche von ihnen mochte nun der Moment gekommen sein, alte Rechnungen zu begleichen und Denunziationen zu piazieren. Sheila Fitzpatrick beschrieb die Säuberungen des Jahres 1937 mit dem russischen Topos von den „Mäusen, die die Katze beerdigen".332 Aber auch wenn die einfachen Parteimitglieder manchmal Gelegenheit erhielten, auf großen Versammlungen ungeliebte Führer aus dem Amt zu jagen, so mußte jeder einzelne von ihnen doch weiterhin befürchten, in der Parteigruppe selbst kritisiert und ausgeschlossen zu werden. Auf diesen Sitzungen bedienten sich die Teilnehmer auch 1937 grundsätzlich der gleichen Strategie wie in den Jahren davor: Schuldbekenntnisse kamen vor, waren aber keineswegs der sinnstiftende Bestandteil des Vorgangs. In den von Nicolas Werth zusammengestellten Fällen zogen die Beschuldigten es stets vor, sich gegen Vorwürfe zu verteidigen.333 Sie gaben zu, daß es ein „Fehler" war, der Partei falsche autobiographische Angaben gemacht zu haben, erinnerten aber sonst lieber an ihre Verdienste. In einem Fall konnte ein Parteimitglied sogar mit Hilfe von Stalinzitaten seine ideologische Unschuld beweisen.334 Dennoch erschien den Betroffenen die demütige Selbstverkleinerung manchmal als letzte Chance. Die Voronezer Verwaltung der Südöstlichen Eisenbahn (JuVZD) geriet schon Ende 1936 unter Druck, nachdem der leitende Angestellte Aron Arnol'dov als „trotzkistischer Schädling" verhaftet worden war.335 Die Tageszeitung „Kommuna" berichtete zu Jahresbeginn 1937 über Parteiversammlungen, deren Teilnehmer heftig darüber stritten, wer von ihnen für die „mangelnde Wachsamkeit" die Hauptverantwortung trug. Nichtsdestoweniger vermochte das Parteikomitee seine Wiederwahl durchzusetzen.336 Der Verfasser des Zeitungsartikels betrachtete diesen Umstand als einen Skandal und verteilte Zensuren an die Redner: Er lobte die 331

Kotkin: Magnetic Mountain, S. 326. Damit bezog sie sich allerdings auf die provinziellen Schauprozesse, wo willkürliche, selbstherrliche Funktionäre öffentlich abgeurteilt wurden. Sheila Fitzpatrick: How the Mice Buried the Cat: Scenes from the Great Purges of 1937 in the Russian Provinces, in: The Russian Review 52 (1993), July, S. 299-320. 333 Vgl. Werth: Etre communiste sous Staline, S. 247-261. 334 Werth: Etre communiste sous Staline, S. 255-258. 335 Arnol'dov, Aron Markovic (1894-1937), gehörte von 1915 bis 1917 in Petrograd der Partei der „Sozialdemokratischen Internationalisten" an, ehe er im November 1917 zu den Bolschewiki wechselte (vgl. CDNI VO P-6955,1. 418). Angeblich hatte er 1923 öffentlich Trockij unterstützt (vgl. Kommuna, 20.3.1937, S. 1). 336 Samokritika na tormozach. Ser'eznye osibki partorganizacii upravlenija jugo-vostoenoj dorogi, in: Kommuna, 3.2.1937, S. 3. 332

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IV. Reue und Selbstkritik in der sowjetischen Öffentlichkeit 1931-1953

Kritiker der Parteileitung, während er diejenigen, die die Vorwürfe heruntergespielt hatten, als „Unterdrücker der Selbstkritik" tadelte. Zweifellos hatte die Redaktion die Zeichen der Zeit besser erkannt als die Eisenbahnverwaltung. Wenige Wochen später wurde der bisherige Leiter der politischen Abteilung der JuV2ö, Filov, durch die Gebietsparteileitung von seinem Posten entfernt.337 Bald kam es auch zu Verhaftungen. Die Parteigruppen beeilten sich, diese nachträglich durch ein einstimmiges Votum zu legitimieren. Wer Zweifel oder Unbehagen erkennen ließ, brachte den Abstimmungskörper gegen sich auf. Als etwa der leitende Angestellte Zitkov, ein enger Mitarbeiter Arnol'dovs, verhaftet worden war, beharrte sein Kollege Ivanov darauf, daß er „nicht wußte", ob Zitkov wirklich ein Volksfeind war. Dem Parteikomitee genügte das, um Ivanov sofort aus der Partei auszuschließen. Erst anschließend sollte die große Mitgliederversammlung prüfen, ob man sich nicht auch mit einem strengen Tadel begnügen konnte. Dem Beschuldigten gab man Gelegenheit, noch einmal vor der großen Mitgliederversammlung zu seinem Verhalten Stellung zu nehmen.338 Ivanov brachte kurz sein Bedauern darüber zum Ausdruck, daß seine „Hartnäckigkeit" ihn verdorben habe. Ansonsten verwies er auf seine schriftliche Erklärung, in der er sich mit dem Beschluß des Parteikomitees einverstanden erklärt hatte.339 Die Angriffe der folgenden Redner konzentrierten sich auf zwei Punkte: Sie verdächtigten Ivanov mangelnder „Aufrichtigkeit" und erinnerten an seine überdurchschnittliche politische Bildung. Da er nicht sofort und unmißverständlich für das NKVD und gegen seinen Kollegen Partei ergriffen hatte, war er in den Ruch der „Doppelzüngigkeit" geraten. „Markelov: Nicht auf eine Frage hat er eine direkte Antwort gegeben. Auf die Frage, ob Zitkov ein Volksfeind sei, antwortet er ,Ich weiß nicht'. Ivanov ist ein Wirrkopf, ein Doppelzüngler, man darf ihn nicht in der Partei lassen. Butov: Früher kannte ich ihn 25 Jahre lang als ehrlichen Kommunisten, aber jetzt sagt er: ,Ich habe eine Erklärung eingereicht'. Das ist unaufrichtig, du mußt richtig vor der Versammlung sprechen. Motjuäin: Einerseits erkennt er die Entscheidung des Parteikomitees als richtig an, andererseits [spricht er von] seinen Seelenzuständen... Man muß seinem Ausschluß zustimmen. Kondratenko: ... ich habe Zweifel, ob er seine Erklärung selbst geschrieben hat... Redienko: Ivanov hat die Erklärung aus Not geschrieben und windet sich... Paäkevic: Als ich ihm erklärte, daß Zitkov wegen Schädlingstätigkeit verhaftet wurde, da berief er sich erneut darauf, daß er das nicht wisse. Die Erklärung Ivanovs ist doppelzünglerisch und nicht aufrichtig." 337

Vgl. XIII Plenum Voronezskogo obkoma VKP(b), in: Kommuna, 20.3.1937, S. 1. Zu den Neuwahlen in der Parteiorganisation vgl. CDNIVO f. 573, op. 1, d. 20,1. 206-222,249ff. 338 Protokol Nr. 3 obscego otfietno-vybomogo zakrytogo partsobranija partorganizacii Upravlenija JuV^D ot 15 ijunja 1937 goda, in: CDNI VO f. 573, op. 1, d. 20,1. 139. Ivanov war am 31. Mai ausgeschlossen worden. 339 Der Wortlaut der Erklärung war nicht zu ermitteln.

3. Die Parteibasis

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Es ist nicht schwer zu erkennen, daß „Aufrichtigkeit" hier eine Chiffre für die eindeutige Selbstfestlegung darstellte. Wichtiger als die Frage, was Ivanov glaubte oder was in den Tiefen seiner Seele vorgehen mochte, war sein sichtbares Stimmverhalten, seine wirksame Parteinahme im kämpfenden Abstimmungskörper. Im Zweifelsfall hatte er die Verhaftung und Tötung seines Kollegen zu billigen, anstatt nach Schuldbeweisen zu fragen oder gedrechselte Erklärungen zu formulieren. Das mutige Verhalten Ivanovs, das traditionellen sittlichen Normen entsprach, galt seinen Kritikern als Ausdruck einer charakterlichen Minderwertigkeit. Sie zeigten moralische Empörung darüber, daß Ivanov aus dem Habitus des „gefestigten Bolschewiken" ausbrechen wollte. Da er schon 1917 der Partei beigetreten war und in leitender Stellung arbeitete, konnte er für sich auch nicht den Bonus des ahnungslosen Neumitglieds in Anspruch nehmen: „Kondratenko: Ivanov ist theoretisch und politisch beschlagen, will aber einfache Fragen nicht verstehen. Motjusin: Nach meiner Meinung ist Ivanov gebildet, aber seine Erklärung ist doppelzünglerisch geschrieben. Avdeev: Ivanov arbeitete mit 2itkov zusammen und wußte genau, daß Zitkov vom NKVD nicht einfach aufgrund eines Irrtums verhaftet wurde. Als Kommunisten müssen wir wissen, in was für einer Zeit Zitkov verhaftet wurde, aber wir spielen das Kindermädchen."

Nur ein Genösse Aleksimov bekannte sich zu der Ansicht, daß Ivanovs Fehler trotz allem als Erziehungsdefizit angesehen werden müsse: „Er ist Parteimitglied seit 1917, man muß ihn nicht aus der Partei ausschließen. Man muß berücksichtigen, daß er die Frage nicht vollauf begriffen hat und nicht weiß, was er da zusammenspinnt. Ich schlage vor, ihm einen strengen Tadel mit Verwarnung und Eintrag in die Personalakte zu erteilen."

Auch Ivanov selbst wiederholte in seinem Schlußwort diesen Appell: „Man korrigiert mich, aber ich blieb widerspenstig, konnte es einfach nicht, wie es scheint, begreifen. Die Erklärung habe ich aufrichtig geschrieben und denke, daß ihr sie berücksichtigen und die Strafe mildern werdet."

Und tatsächlich behielten in der folgenden Kampfabstimmung die Befürworter der pädagogischen Variante die Oberhand: 53 Anwesende stimmten für Ivanovs Ausschluß, 55 für einen strengen Tadel. Angesichts der Tatsache, daß elf von zwölf Rednern seinen Parteiausschluß gefordert hatten, war dieses Ergebnis durchaus bemerkenswert. Was war geschehen? Ein altes Parteimitglied hatte, wie es scheinen konnte, einen Moment lang Sympathie für den Feind bekundet und Zweifel an der Unfehlbarkeit des NKVD geäußert. Erst unter dem massivem Druck der Mehrheit konnte es dazu gebracht werden, sich von seiner Position zu distanzieren. Aus der Sicht des offiziellen Diskurses gab es zwei mögliche Erklärungen für Ivanovs Verhalten: Entweder war er selbst ein maskierter Volksfeind und hatte sich aus diesem Grund für 2itkov eingesetzt. Seine Erklärung war nur ein heuchleri-

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IV. Reue und Selbstkritik in der sowjetischen Öffentlichkeit 1931-1953

sches Manöver, um die Schädlingsarbeit fortsetzen zu können. In diesem Fall mußte man ihn nicht nur aus der Partei ausschließen, sondern auch sofort dem NKVD übergeben. Nach der anderen Version war er ein zwar ehrlicher, aber naiver Zeitgenosse, den nur der „idiotische Leichtsinn" daran gehindert hatte, im alten Kollegen rechtzeitig den Feind zu erkennen.340 So gesehen konnte Ivanovs schriftliche Erklärung auch aufrichtig gemeint sein. Dann mußte man versuchen, ihn der Partei zu erhalten. Das eigentlich Bemerkenswerte der Versammlung lag darin, daß das Parteikomitee es hier tatsächlich der Mehrheit überließ, welche Sichtweise sie sich zu eigen machen wollte. Tatarinov, der tonangebende Sekretär, hielt sich demonstrativ zurück. Schließlich kam es so weit, daß die Entscheidung des Komitees (der Ausschluß Ivanovs) revidiert wurde. Dennoch wäre es ein großes Mißverständnis, im Sitzungsverlauf einen Mißerfolg des Parteikomitees zu erblicken. Es ging in diesem Augenblick gar nicht um die Verurteilung Ivanovs, sondern um die wirksame Durchsetzung und Bekräftigung einer Norm. Im Sinne der legitimationsheischenden Losungen der „Selbstkritik", der „innerparteilichen Demokratie" und der „Verbindung mit den Massen" war es nur wünschenswert, daß die Situation eine gewisse Eigendynamik behielt. Indirekt legten sich alle Sitzungsteilnehmer darauf fest, daß die Verhaftungspolitik des NKVD nicht in Frage gestellt werden durfte. Als wirksames Negativbeispiel erlangte Ivanovs Schuldbekenntnis im Moment der beginnenden Massenverhaftungen erhebliche Bedeutung. Da sich nun niemand mehr auf seine Arglosigkeit berufen konnte, war es sehr unwahrscheinlich geworden, daß Ivanovs Fehlverhalten Nachahmer finden würde. Wenn das Parteikomitee unter Tatarinov in den folgenden Monaten weitere Mitglieder verwarnte oder ausschloß, hatte es keine Mühe, seine Entscheidungen anschließend von der Mitgliedervollversammlung bestätigen zu lassen. Ging es dabei um den Vorwurf der „Schädlingstätigkeit" oder der „Verbindung mit dem Feind", dann fanden eventuelle Schuldbekenntnisse der Auszuschließenden kaum noch Beachtung. Selbst dort, wo das Protokoll darauf hinweist, daß der Beschuldigte ein Schlußwort formulierte, wird dieses nur selten im Wortlaut wiedergegeben. Wo seine Stellungnahme aber dennoch stenographiert wurde, verrät sie regelmäßig mehr Selbstbehauptungswillen als Reue. Der leitende Angestellte Paskevic mochte zwar einräumen, den Plan nicht immer hundertprozentig erfüllt oder die „feindlichen Kader" nicht immer entschlossen genug bekämpft zu haben, kam letztlich aber doch zu einem eindeutigen Resümee: „Ich stand immer hinter der Parteilinie und führte sie durch und bemühe mich zu beweisen, daß die gegen mich erhobenen Vorwür340

Die „idiotische Krankheit des Leichtsinns" (idiotskaja bolezn' bespecnosti) war ein Schlagwort dieser Monate und bezeichnete das Gegenteil der tugendhaften „Wachsamkeit".

3. Die Parteibasis

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fe nicht gerechtfertigt sind."341 Ähnlich klang auch die Rede des beschuldigten Sokolov: „Worüber haben wir in der Wohnung von Cernov [einem .entlarvten Volksfeind', L. E.] gesprochen? Ich sagte schon,... daß man mich zweieinhalb Monate überprüft und keinerlei Verbindungen mit Volksfeinden gefunden hat. Unzulänglichkeiten gibt es in meiner Arbeit natürlich sehr viele, aber die Behauptung, daß ich die Arbeit des Komsomol ... zugrunde gerichtet hätte, ist falsch.. ,"342

Diese Rhetorik unterschied sich kaum von derjenigen der nicht unmittelbar betroffenen Kollegen und Vorgesetzten, die sich in solchen Fällen ebenfalls prophylaktisch selbst kritisierten: „Ich beging einen politischen Fehler, weil ich Mere nicht entlarvte... Mere muß ausgeschlossen werden".343 Oder: „In erster Linie bin ich schuldig, weil ich, als Partorganisatorin, ... die Fehler Balasovs nicht rechtzeitig korrigierte."344 Von der Aura einer stillschweigenden Abmachung, die ein vollständiges und „reinherziges Eingeständnis" mit einer teilweisen Begnadigung honoriert hätte, war nichts mehr zu spüren. Es dominierte die Anklage durch die Gruppenmitglieder, das Votum des kleinen Abstimmungskörpers. Diese Versammlungen hatten dazu auch wenig Ähnlichkeit mit einem NKVD-Verhör: Die Parteisekretäre verwandten keine besondere Energie darauf, von den „entlarvten Volksfeinden" strafrechtlich relevante Geständnisse zu erhalten. Daß Selbstvorwürfe offiziell niemals als Teil eines „Rituals" oder einer Parteinorm angesehen wurden, konnte sich in manchen seltenen Fällen fur das Opfer auch vorteilhaft auswirken - wie etwa nach dem Januar-Plenum des Zentralkomitees 1938. Dieses Plenum stellte fest, daß viele Kommunisten zu Unrecht aus der Partei ausgeschlossen worden waren. Für Nikolaj Nikolaevic Konakov, einen Dozenten und ehemaligen Professor der biologischen Fakultät der Universität Voronez, brachte diese abrupte politische Kehrtwendung die Rettung. Konakov war im Jahr 1937 vielen Vorwürfen ausgesetzt gewesen. Im Oktober hatte ein Genösse Sverdlov auf der allgemeinen Parteiversammlung der Universität ein Referat über die politischen, pädagogischen und methodischen Fehler des Genossen Konakovs gehalten und letzteren zu einer weitgehenden Reueerklärung genötigt.345 Nun aber, nach dem Januar-Plenum 1938, schienen den Kollegen nicht mehr alle Vorwürfe gegen Konakov in gleichem Maße stichhaltig zu sein wie zuvor. Eine eigens gebildete, hochrangig besetzte Kommission befaßte sich mit dem Fall erneut und kam zu dem Ergebnis, daß die im Herbst von Sverdlov vorgebrachten Beschuldigungen gegen Konakov 341

CDNIVO f. 573, op. 1, d. 20,1. 39. CDNI VO f. 573, op. 1, d. 20,1. 84. 343 CDNI VO f. 573, op. 1, d. 20,1. 75. 344 CDNI VO f. 573, op. 1, d. 20,1. 78. 345 Das Stenogramm dieser ersten Sitzung, deren dramatischer Höhepunkt offenbar tatsächlich die „Selbstkritik" des Genossen Konakov war, konnte im Voronezer Parteiarchiv nicht aufgefunden werden. 342

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IV. Reue und Selbstkritik in der sowjetischen Öffentlichkeit 1931-1953

die Parteiorganisation in die Irre gefuhrt hätten. Auf der „erweiterten Sitzung des Ortsparteikomitees" der Universität vom 16. Februar 1938 wurde der Fall ausgiebig diskutiert.346 Die Äußerungen der anwesenden Zeitgenossen, insbesondere zum Thema der „Reueerklärung", sprechen so sehr für sich selbst, daß sie nur knapper Kommentare bedürfen. Genösse Sverdlov wurde von der neuen Entwicklung offenbar überrascht, denn er war nach eigenen Worten auf eine Stellungnahme nicht vorbereitet.347 Auf den Vorwurf, zu Unrecht ein „Kesseltreiben" gegen Konakov eingeleitet zu haben, reagierte er mit Unverständnis: Hatte denn Konakov seine Fehler nicht selbst eingesehen? „Ich bin geneigt, einige Anschuldigungen, die gegen Nikolaj Nikolaevic vorgebracht wurden, zu überprüfen, aber die Überprüfung geht so vor sich, daß Konakov, Ruckij, Sverdlov, das Ortskomitee und die allgemeine Versammlung, welche die bewußte Entscheidung traf, beschuldigt, einseitig zu sein, und dabei im Kern dem widerspricht, was er selbst auf der allgemeinen Versammlung sagte. Im Stenogramm der allgemeinen Versammlung gibt es mehrere Stellen, an denen Konakov seine Fehler selbst eingesteht und sagt, er strebe ihre Überwindung an."348

Die Tatsache, daß Konakov seine Fehler selbst eingestanden hatte, diente seinem ehemaligen Ankläger Sverdlov als Beweisargument für die Richtigkeit seiner damaligen Vorwürfe. Schließlich aber hielt Konakov ihm entgegen: „Sie terrorisierten mich und zwangen mich zum Eingeständnis, aber jetzt widerrufe ich."349 Warum also hatte Konakov seine Schuld eingestanden? In Betracht gezogen wurden folgende Möglichkeiten: Entweder war Konakov sich tatsächlich einer Schuld bewußt gewesen, wie Sverdlov und Jakovenko meinten, oder er hatte dem psychologischen Druck nachgegeben, wie der Vorsitzende meinte, oder er hatte versucht, auf diese Weise einer drohenden Verhaftung zu entgehen, wie er selbst andeutete. Keiner der Beteiligten schien davon auszugehen, daß Konakov seine Schuld im Sinne eines „Rituals" oder der „Parteidisziplin" eingestanden haben könnte. Wenn es eine innerparteiliche Norm gab, die von den Beschuldigten in bestimmten Momenten ein „Schuldbekenntnis" unabhängig von der tatsächlichen „Schuld" verlangte, dann war die Existenz dieser Norm offensichtlich ein Tabu, das nicht erwähnt werden durfte. Das Phänomen konnte von den Genossen nur als häßlicher Einzelfall dargestellt werden. Verstand es sich nicht scheinbar von selbst, daß niemand grundlos beschuldigt werden durfte? „Vorsitzender: Es gibt ein offizielles Dokument, das von Genossen Sverdlov unterzeichnet ist. In ihm finden sich tödliche Formulierungen. Sie haben dafür nicht alles vorhandene Material herangezogen.

346 347 348 349

CDNIVO CDNI VO CDNI VO CDNI VO

f. 412, f. 412, f. 412, f. 412,

op. op. op. op.

1, d. 1, d. 1, d. 1, d.

89. 89,1. 14. 89,1. 19. 89,1. 19.

3. Die Parteibasis

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Sverdlov: Ich denke, daß es in meinen Schlußfolgerungen eine politische Zuspitzung gab, die ... in Verbindung mit der politischen Atmosphäre schärfer war als jetzt bei der Neubewertung der Angelegenheit. Tichonov: Auf einer Fabrik versuchten einige Angestellte, auf dem Weg der .politischen Zuspitzung' die Verhaftung eines Kollegen zu erreichen, aber bei der Überprüfung der Angelegenheit wurde er freigelassen, aber diejenigen, die die .politische Zuspitzung' betrieben hatten - die wurden verhaftet. Sverdlov: Ich denke, daß Ihre Analogie hier völlig fehl am Platz ist."350

Genau wie Konakov fühlte sich also auch Sverdlov gewissermaßen als Opfer der „politischen Atmosphäre", die von ihm nun einmal eine „politische Zuspitzung" verlangt hatte. Demnach war nicht er selbst für das Vorgefallene verantwortlich, sondern die Erzeuger dieser „politischen Atmosphäre". Als über die Formulierung der Resolution diskutiert wurde, sagte der Vorsitzende: „Es gibt den Vorschlag, darauf hinzuweisen, daß der ehemalige Vorsitzende des Ortskomitees, Genösse Sverdlov, sich in dieser Angelegenheit nicht gewissenhaft verhielt und in seinen Schlußfolgerungen zum Fall Konakov voreingenommen war. Diesen Punkt müssen wir mit hineinbringen, da wir die Unrichtigkeit der Beschuldigungen konstatieren. Partei und Regierung fordern in dieser Angelegenheit die Benennung der Schuldigen."351

Diese Bemerkung rückt die ganze Veranstaltung in ein weniger freundliches Licht. Nach dem Januar-Plenum mußten offenbar Schuldige für unbegründete „Überspitzungen" gefunden werden, und irgendwer war möglicherweise zu der Meinung gelangt, daß der Fall Konakov dazu geeignet wäre, noch einmal überprüft zu werden. Daß Konakov - aus welchem Grund auch immer - noch nicht verhaftet worden war, war dabei von großem Vorteil. Aus dem „Fall Konakov" wurde somit der „Fall Sverdlov", und die Parteigruppe der Universität konnte bald berichten, zumindest einen Schuldigen für die ungerechtfertigte Verfolgung von Kommunisten gefunden zu haben. Übrigens verteidigte Genösse Sverdlov sich auf dieser Versammlung ziemlich hartnäckig gegen alle Vorwürfe und legte keinerlei Schuldbekenntnisse ab. Obwohl individuelle Schuldbekenntnisse weder als „Selbstkritik" bezeichnet noch von der Parteidisziplin jemals um ihrer selbst willen verlangt wurden, spielten sie im Alltag der Parteibasis dennoch eine große Rolle. Sie galten als naheliegende Reaktion für alle, die sich außerstande sahen, sich gegen Vorwürfe und Kritik „von oben" wirksam zu verteidigen. Auch das einfach Parteimitglied hoffte darauf, sein Verhältnis zur Obrigkeit mit Fehlereingeständnissen und Besserungsversprechungen zu bereinigen, damit es dann als Gnaden- und Erziehungsverhältnis erschien. Im Zusammenhang mit der „Schädlingssuche" erwiesen sich derartige Fehlereingeständnisse allerdings als wirkungslos. Auch wenn die Fähigkeit der kompetenten Feinderkennung in der Terrorphase zum Erziehungsgegenstand erklärt wurde, so begriff sich die Entlarvung der Feinde selbst nicht als ein 350 351

CDNIVO f. 412, op. 1, d. 89,1. 28. CDNI VO f. 412, op. 1, d. 89,1. 34.

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IV. Reue und Selbstkritik in der sowjetischen Öffentlichkeit 1931-1953

Erziehungsprojekt. Als Träger eines „feindlichen" politischen Willens waren die Opfer keiner erzieherischen Anstrengung mehr wert. Die anschließende „vollständige Entlarvung" des „Feinds" und das Ausschlußvotum gehörten schon zu einem ganz anderen „Ritual". In diesem Moment wurde die Parteigruppe wieder zu jenem militanten Abstimmungskörper, der 1926/27 die Trotzkisten besiegt hatte. Auf die Stellungnahme des „Entlarvten" kam es dann schon nicht mehr an. Wichtiger war, daß die Angehörigen der Gruppe mit ihrem einstimmigen Votum die Verantwortung für die Verhaftung, gegebenenfalls auch für die Ermordung des Opfers übernahmen.

4. Literaten und Wissenschaftler Der beschriebene Doppelcharakter der stalinistischen Herrschaft wurde auch im Umgang mit Künstlern und Wissenschaftlern deutlich: Einerseits spielten sie eine wichtige Rolle im politischen Kampf, andererseits waren sie unmündige „Erziehungsobjekte". Wie in anderen gesellschaftlichen Milieus erhielt auch hier die Idee der „Erziehung" ihre Bedeutung erst dadurch, daß sie die harmlose Variante der potentiell gefahrlichen Herrschaftsausübung darstellte. Im folgenden Abschnitt soll die Rolle der Schuldbekenntnisse innerhalb dieser zum „Erziehungsverhältnis" erklärten Gnadenbeziehung untersucht werden. Wie alle anderen sowjetischen Organisationen erlebte auch der Schriftstellerverband in der zweiten Hälfte der dreißiger Jahre dramatische Momente der „breit entfalteten Selbstkritik". Unter diesem Schlagwort organisierten Literaturfunktionäre wie Vladimir Stavskij und Aleksandr Scerbakov im März 1936 die Kampagne gegen den „Formalismus" und ab August des selben Jahres die Jagd auf „trotzkistische Schädlinge", die für viele ihrer Kollegen tödlich endete.352 Umgekehrt nahmen auch unzufriedene Schriftsteller ihr Recht auf „Selbstkritik" in Anspruch, um sich gegen den unbeliebten Stavskij zu wehren. Charakteristischerweise paßten die Kritiker ihr Vorgehen den aktuellen Rahmenbedingungen an: Nachdem der Literaturkritiker Rozkov im Herbst 1937 erfolglos versucht hatte, Stavskij als „Völksfeind" zu denunzieren,353 fand eine Gruppe prominenter Autoren im folgenden Jahr bei der Parteiführung schließlich mit einer zivileren Kritik an „Mißständen" Gehör.354 Diese Formen öffentlicher „Selbstkritik" funktionierten im Schriftstellerverband 352

Auch die von Reinhard Müller dokumentierte Parteiversammlung deutscher Exilschriftsteller war formal eine Veranstaltung des Schriftstellerverbands. Vgl. Reinhard Müller (Hrsg.): Die Säuberung, Moskau 1936. Protokoll einer geschlossenen Parteiversammlung, Reinbek 1991. 353 Vgl. Babicenko: „Scast'e literatury", S. 234-237. 354 Aleksej Tolstoj, Aleksandr Fadeev, Valentin Kataev und andere veröffentlichten am 26. Januar 1938 in der „Pravda" einen Artikel über „Die Mißstände in der Arbeit des Schriftstellerverbands". Vgl. dazu auch D. L. Babicenko (Red.): Pisateli i cenzory. Sovetskaja lite-

4. Literaten und Wissenschaftler

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aber nicht wesentlich anders als in irgendeiner anderen sowjetischen Organisation. Weitaus interessanter ist die „Selbstkritik von oben" als eine Form der Individualpädagogik. Schließlich gehörten die prominenteren Künstler und Schriftsteller trotz ihrer Machtlosigkeit zu demjenigen Personenkreis, dessen „Erziehung" direkt vom Politbüro überwacht wurde. Ihnen gegenüber rückte Stalin manchmal sogar in die Rolle des Lektors oder Filmkritikers und stellte sich selbst damit die Aufgabe, dieser „Erziehung" auch anspruchsvollere Inhalte geben zu müssen. Manchmal zeigte der Apparat sich unsicher, wie im konkreten Fall verfahren werden mußte: Durfte man dem zu „erziehenden" Schriftsteller oder Künstler Loyalität unterstellen, oder war es nicht besser, ihn ganz loszuwerden? Und sollte man den Schwerpunkt auf die Inszenierung seiner individuellen Besserung legen oder nicht doch lieber ein abschreckendes Exempel statuieren? Die Leitung des Schriftstellerverbands behielt im einen wie im anderen Fall den Auftrag, die Imperative dieser „Erziehung" an die übrigen Autoren weiterzuvermitteln. Die Forderung nach individuellen Schuldbekenntnissen diente auch im Schriftstellermilieu manchmal der Aufgabe, das äußere Bild der politischen Konformität aufrechtzuerhalten. Der deutsche Schriftsteller Johannes R. Becher verfaßte im sowjetischen Exil etwa ein Stalin-Epos unter dem Titel „Hymne auf einen Namen".355 Wie viele seiner sowjetischen Kollegen hoffte er mit panegyrischen „Gesängen" nachträglich seine loyale Stimme lyrisch zu Gehör zu bringen, die er politisch abzugeben im entscheidenden Moment der Abstimmung versäumt hatte. Als im Schriftstellerverband 1936 eine Verdammungsresolution gegen die Angeklagten des ersten Schauprozesses verabschiedet werden sollte, hatten er und Hans Günther aufgrund eines angeblichen Mißverständnisses die Versammlung vorzeitig verlassen. Becher distanzierte sich schriftlich von diesem „schweren politischen Fehler", den er eine „Schande" nannte, bestritt aber, aus Protest gehandelt zu haben.356 Aber auch von parteilosen Mitgliedern sowjetischer Künstlerverbände wurden derartige Schuldbekenntnisse verlangt, wenn sie mit ihrem Verhalten das Unisono der politischen Parteinahme störten. Gut dokumentiert ist eine Episode mit Marietta Saginjan, die im Februar 1936 mit einer eklatanten Normverletzung für einen kleinen Skandal sorgte. Ihre sozialistische Überzeugung stand nie in Zweifel, und für das Erscheinen ihres Produktionsromans „Das Wasserkraftwerk" hatte sich 1931 sogar Stalin persönlich eingesetzt.357 Völlig ratura 1940-ch godov pod politiceskim kontrolem CK, Moskau 1994, S. 14, und verschiedene Dokumente in: Ders. : „Literatumyj front", S. 27-33 und S. 35-38. 355 Müller: Die Säuberung, S. 157-159. 356 Vgl. Müller. Die Säuberung, S. 157-159 und S. 95-97. Darüber hinaus versuchte Becher diese „Schande" wiedergutzumachen, indem er für die westeuropäische Presse propagandistische Artikel über den Schauprozeß verfaßte und versuchte, Andre Gide „für den Prozeß zu interessieren". 357 Jakovlev. Vlast' i chudozestvennaja intelligencija, S. 147.

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überraschend erklärte sie am 20. Februar 1936 dem Präsidium des Schriftstellerverbands und den Politbüromitgliedern Andreev und Ordzonikidze ihren Wunsch, aus dem Schriftstellerverband auszutreten.358 Nach eigenen Worten war sie zur Überzeugung gekommen, daß der Verband eine „nutzlose" Organisation war, die die Schriftsteller vom Leben im Lande allmählich entfernen würde. Auch die Empörung über die Pressekampagne gegen Dmitrij Sostakovic scheint bei Saginjans Beschluß eine Rolle gespielt zu haben. An Ordzonikidze richtete sie die originelle Bitte, künftig einen Status als unbezahlte Angestellte im Volkskommissariat für Schwerindustrie zu erhalten, wo sie für einen neuen Produktionsroman recherchieren wollte.359 Doch die sowjetische Obrigkeit bewertete dieses eigenwillige Verhalten als politischen Protest, der keinesfalls hingenommen werden durfte. Wie der Partei- und Literaturfunktionär Aleksandr Scerbakov seinem Kollegen Maksim Gor'kij mitteilte, entschied man sich, auf Saginjan demonstrativ „kräftig einzuschlagen", um die übrigen Verbandsmitglieder prophylaktisch einzuschüchtern.360 Das Präsidium des Schriftstellerverbands nannte die Austrittserklärung einen „zutiefst gesellschaftsfeindlichen Akt", der „sich im Widerspruch zu den elementarsten Normen" befinde, „die an das Mitglied jedes beliebigen sowjetischen Kollektivs gerichtet" würden, und führte die Haltung Saginjans auf ihre Eitelkeit und Selbstüberschätzung zurück.361 Solcherart gemaßregelt, begann die Schriftstellerin „nicht sofort, aber allmählich" ihren „politischen Fehler" einzusehen, was vom Präsidium immerhin wohlwollend „zur Kenntnis genommen" wurde. In der folgenden Zeit spielte Saginjan die Rolle der reuigen Büßerin. Sie bedankte sich schriftlich bei Ordzonikidze, dessen Brief „sie gerettet" und ihr „geholfen habe, ihre Schuld ehrlich einzusehen". Wenn ihr etwas „die Last eines nach Verdienst entehrten Menschen" erleichterte, dann die Hoffnung, anderen als lehrreiches Negativbeispiel dienen zu können.362 Sie bat den Volkskommissar, Stalin auszurichten, daß sie „ihre Schuld ihm gegenüber wiedergutmachen" wolle, und „um Zeit, sich zu korrigieren". Um ihre Beteuerungen nicht unglaubwürdig erscheinen zu lassen, weigerte

358

Vgl. Babicenko: „Literatumyj front", S. 14-15 und Ders.: „Siast'e literatury", S. 211213. 359 Sie erhielt nach eigener Aussage genug Tantiemen, um auf ein Gehalt verzichten zu können. Vgl. Babicenko: „Scast'e literatury", S. 211-212. 360 Babicenko: „Literatumyj front", S. 14. 361 Resolution der Sitzung des Präsidiums vom 27. Februar 1936, an der außer Saginjan auch Pavlenko, Pil'njak, Pogodin, Kirson, Gorbunov, Visnevskij, Stavskij, Rejzen und Subockij teilnahmen. Vgl. Babicenko: „Literatumyj front", S. 15 und Ders.: „Scast'e literatury", S. 213. Auch Ordzonikidze schrieb am selben Tag seinen Antwortbrief, worin er die Schriftstellerin daran erinnerte, daß der von ihr als „nutzlos" bezeichnete Verband „vom Zentralkomitee der Partei" organisiert worden war. Daher sei ihr Schritt „ein politischer Fehler", der sich „gegen die Sowjetmacht richte" und daher „so schnell wie möglich korrigiert" werden müsse. Ebenda, S. 212. 362 Brief an Ordzonikidze, 3.3.1936. Vgl. Babicenko: „Scast'e literatury", S. 212-213.

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sich Saginjan anscheinend sogar, die Mitleidsbezeugungen von Freunden und Bekannten zu akzeptieren.363 Die Formulierungen der Resolution entstammten unmittelbar der Parteischablone, wobei lediglich der Begriff „parteifeindlich" durch „gesellschaftsfeindlich" ersetzt wurde. Die Grenze zwischen loyalen Parteilosen und „gefestigten Bolschewiken" spielte für den Sinn dieser Kommunikationsform offenbar keine besondere Rolle. Vielleicht war es gerade Saginjans aufrichtiger Glaube an den Sozialismus gewesen, der sie dazu verleitet hatte, ihre eigene Situation so gründlich zu mißdeuten. Nun mußte sie um so schmerzhafter erlernen, daß die Parteiobrigkeit den Schriftstellerverband schon immer aus ganz anderen Gründen für „nützlich" gehalten hatte als sie selbst. Man könnte auch eine gewisse Ironie darin sehen, daß Saginjan, im Unterschied zu vielen anderen, ihr Schuldbekenntnis nicht mit dem Ziel ablegte, ihre Mitgliedschaft in einem sowjetischen Kollektiv zu wahren, sondern aus Reue über ihre anmaßende Unterstellung, diese Mitgliedschaft nach eigenem Gutdünken aufkündigen zu dürfen. Wie man an Saginjans Korrespondenz mit Ordzonikidze ersehen kann, bezog sich ihr Reueverhalten ohnehin nicht auf einen formalen Mitgliedsstatus, sondern auf ein amorph personifiziertes Gnadenverhältnis. Und tatsächlich konnte der Konflikt auf diese Weise geglättet werden.364 Wenn prominente Künstler und Schriftsteller für die Unzulänglichkeiten ihrer Werke getadelt wurden, dann versuchten sie sich manchmal in Briefen an Stalin und andere Parteiführer zu verteidigen. Doch sobald sie sich davon überzeugt hatten, daß die Kritik auch vom Politbüro gebilligt wurde, zeigten sie schließlich doch Bereitschaft, ihre Fehler oder gar ihre „Schuld" einzugestehen und Besserung zu versprechen. Da seine Oper „Lady MacBeth von Mcensk" 1936 schon zwei Jahre mit großem Erfolg gespielt worden war, fiel es Dmitrij Sostakovic nicht schwer zu begreifen, daß die vernichtende Kritik des „Pravda"-Artikels „Chaos statt Musik" nur von ganz oben bestellt worden sein konnte.365 Nach einer Woche entschloß sich der Komponist, den Kulturfunktionär Piaton Kerzencev aufzusuchen.366 Wie Kerzencev an Stalin berichtete, erklärte Sostakovic auf Nachfragen, „den größten Teil" der Kritik verstanden zu haben, auch wenn 363

Stavskij führte das auf ihre „Klugheit" zurück. Vgl. Babicenko: Söast'je literatury, S. 212-213. Vgl. auch ihre Wortmeldung bei der kurz darauf stattfindenden FormalismusDiskussion (siehe unten). 364 Das Verhältnis ließ sich reparieren. Saginjan brachte sich mit ihren Initiativen zwar auch später manchmal in Schwierigkeiten, verlor aber niemals ihren Status als Klassikerin des „sozialistischen Realismus". 1939 erhielt sie einen Orden des „Roten Banners der Arbeit" und 1942 trat sie in die Partei ein. 365 Sumbur vmesto muzyki, in: Pravda, 28.1.1928. Zu den Hintergründen vgl. Leonid Maksimenkov: Sumbur vmesto muzyki. Stalinskaja kul'turnaja revoljucija 1936-1938, Moskau 1997. 366 Der Wortlaut des folgenden Gesprächs wird zitiert nach: Dokladnaja zapiska predsedatelja komiteta po delam iskusstv pri SNK SSSR P. M. Kerzenceva I. V. Stalinu i V. M. Molotovu

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ihm noch nicht „alles" klargeworden sei. Diese Einschränkung war hier kein Ausdruck von Renitenz, sondern im Gegenteil geeignet, den Gesinnungswandel möglichst glaubwürdig aussehen zu lassen. Sostakovic fragte weiter, ob „es nötig wäre, irgendeinen Brief zu schreiben". Natürlich mußte Kerzencev, der im Theaterbereich Stalins Gnadenbudget verwaltete, das am besten wissen. Vielleicht hätte er bei der Formulierung sogar Hilfestellung geben können. Doch war nach Meinung Kerzencevs die formale Seite nicht so wichtig wie der Erziehungsprozeß als solcher. Dem devoten Vorschlag Sostakovics begegnete er daher sogar mit einer gewissen Reserve. Ein Brief mit einer „Neubewertung seiner künstlerischen Vergangenheit und mit einigen neuen Selbstverpflichtungen" müsse jedenfalls Ausdruck eines echten Bewußtseinswandels sein, dürfe vom Absender aber keinesfalls als „formales Entschuldigungsschreiben" aufgefaßt werden. Zu seinem Glück war Sostakovic in den Augen der Macht also kein gefährlicher Oppositioneller, sondern nur ein mißgeleiteter Zögling. Am „allerwichtigsten" war daher, daß er „sich änderte", von „formalistischen Fehlern verabschiedete" und eine Kunst schuf, die den „breiten Massen verständlich" sein würde. Auf Kerzencevs Vorschlag erklärte Sostakovic sich einverstanden, durch die Dörfer Rußlands, der Ukraine und Georgiens zu fahren, dort Volksmelodien zu sammeln und diese zu orchestrieren. Wie im Erziehungskontext üblich, hatten das optimistische Besserungsversprechen und die Selbstverpflichtung mehr Gewicht als die ritualisierte Selbstverdammung. Ein formeller Brief scheint von Sostakovic später auch nicht verlangt worden zu sein, vermutlich weil seine Besserungsbereitschaft schon im mündlichen Gespräch hinreichend zum Ausdruck gekommen war.367 Seine Versprechungen löste er jedenfalls ein, wenn auch nicht mit der Orchestrierung russischer und georgischer Volkslieder, sondern mit seiner Filmmusik und der berühmten fünften Symphonie.368 Weniger Glück hatte der Schriftsteller Aleksandr Avdeenko, dessen Drehbuch zum Film „Das Gesetz des Lebens" 1940 die Wut Stalins erregte.369 Sein vorübergehender Fall in Ungnade verdient besonderes Interesse, da das in-

o besede s D. D. Sostakoviöem. 7 fevralja 1936 g., in: Jakovlev: Vlast' i chudozestvennaja intelligencija, S. 289-290. 367 Maksimenkov erwähnt keinen solchen Brief. 368 Ygi Maksimenkov: Sumbur vmesto muzyki, S. 110-112. Der sowjetische Kritiker Martynov nannte die fünfte Symphonie einen „Beweis für den vollen Sieg des Komponisten über die formalistische Vergangenheit", während der westliche Kritiker Alfred Beaujean sie als einen „offiziellen Kniefall" interpretierte. Zitiert nach Günter Wolter: Dmitri Schostakowitsch - eine sowjetische Tragödie: Rezeptionsgeschichte, Frankfurt am Main 1991, S. 57-61. 369 Im Unterschied zur heutigen Filmkritik betrachtete Stalin nicht den Regisseur, sondern den Drehbuchautor als eigentlichen Schöpfer des Kinofilms.

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nere Erleben Avdeenkos370 hier ebenso gut dokumentiert ist wie die Haltung Stalins. Avdeenko traf der Vorwurf der „Pravda", sein Film „verleumde die sowjetische Jugend", völlig unvorbereitet.371 Wie im höchstwahrscheinlich auf direkte Bestellung Stalins verfaßten Artikel behauptet wurde, zeigte der Film nur vordergründig das verderbliche Wirken und die öffentliche Entlarvung des als Komsomolsekretär getarnten Feinds. Tatsächlich sympathisiere der Szenarist nicht mit dem als blaß und hilflos gezeichneten „positiven Helden" Paromov, sondern mit der starken Persönlichkeit des Schurken Ognerubov.372 Der Auslöser für die Kritik war also weder Protestverhalten (wie bei Saginjan), noch ein falsches soziales Profil, sondern (ähnlich wie bei Sostakovic) die Schädlichkeit seiner künstlerischen Produktion. Aber anders als im Falle des Komponisten herrschte große Unsicherheit darüber, ob Avdeenko nicht doch als gefährlicher Feind anzusehen war. Da der Film die „Feindentlarvung" zum Thema hatte, ließen sich politische und künstlerische Kriterien besonders schwer auseinanderhalten. Ohne es zu wollen, hatte er bei den obersten Kritikern einen Nerv getroffen und paranoide Reaktionen ausgelöst. Die „Pravda" unternahm keinen Versuch, die politischen „Fehler" des Films auf eine „falsche" Kunstauffassung des Szenaristen zurückzuführen, sondern unterstellte dem ehemaligen Minenarbeiter und kommunistischen Erfolgsautor bereits eine politisch „feindliche" Haltung. Ebenso wie der junge Arbeiterschriftsteller 1940 räsonniert auch der Jahrzehnte später zurückblickende Avdeenko darüber, welches Reueverhalten Stalin von ihm in diesem Augenblick erwartet hatte. Manchmal vermutet er, einfach den richtigen Moment versäumt zu haben: „Ich wußte ... damals nicht, daß [ich] unverzüglich und bedingungslos ... mich schuldig erklären, mir selbst gegenüber so mitleidlos wie möglich öffentliche Reue zeigen, von ganzem Herzen für die harte Kritik danken und schwören mußte, mit meinem ganzen Leben, all meinen Werken und Gedanken die schwere Schuld wiedergutzumachen. Ich wußte der Zeit nicht ihren Tribut zu zollen."373

Wie aber soll man das auffassen? Avdeenko hatte in den dreißiger Jahren von Politikern wie Kabakov, Jagoda und Mechlis persönlich Aufträge entgegengenommen, war von Gor'kij und Makarenko gelobt worden, hatte als Parteimitglied die „großen Säuberungen" überlebt und schrieb 1940 Drehbücher für

370 Vgl. die Darstellung von Babicenko: Pisateli i cenzory, S. 22-31 sowie die Quellen: Nepravlenaja stennogramma vystuplenija I. V. Stahna na sovescanii ν CK VKP(b) ο kinofil'me „Zakon zizni" po scenariju A. O. Avdeenko. 9 sentjabija 1940, in: Jakovlev: Vlast' i chudozestvennaja intelligencija, S. 450-455, und die Erinnerungen von Aleksandr Avdeenko: Otlucenie, in: Znamja, 1989, Nr. 4, S. 78-133. 371 Vgl. Fal'sivyj fil'm. Ο kinokartine „Zakon zizni" studii „Mosfil'm". Pravda, 16.8.1940. Zitiert nach Avdeenko: Otlucenie, S. 94-95. 372 Avdeenko: Otluienie, S. 95. 373 Avdeenko: Otlucenie, S. 98.

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Filme, in denen die „Entlarvung maskierter Volksfeinde" gerechtfertigt werden sollte. Bei der ihm unbekannt gebliebenen Regel kann es sich demnach nicht um eine allgemein bekannte Regel, sondern nur um einen „höfischen" Verhaltenskodex gehandelt haben, in den er unzureichend eingeweiht war. Und so erklärt er sein Versäumnis mit plumpem Unschuldsbewußtsein und der naiven Hoffnung auf Stalins Gerechtigkeit. Bei der schließlich stattfindenden Besprechung im Zentralkomitee, an der neben einigen Politbüromitgliedern und Schriftstellern auch Stalin persönlich teilnahm, hatte in ihm bereits der Fatalismus die Oberhand gewonnen. ,Alles, was ich gesagt hätte, hätte niemanden überzeugt. Die aufrichtigsten Worte wären nicht gehört worden. Mein Schicksal war entschieden, bevor das Tribunal begann.. ,"374

Der standhafte Verzicht auf Reuegesten erscheint in Avdeenkos psychologisch dichter Erzählung nicht als bewußt gewählte, konsequente Haltung, sondern eher als ein Zufallsprodukt seiner Hilflosigkeit. Vielleicht hätte er seine „Schuld" eingestanden, wenn er den Sinn der Vorwürfe besser begriffen hätte. Aber es ging tatsächlich kaum um den Film, sondern darum, ob er ein Feind war. Zdanov, der die Rolle des Anklägers spielte, hatte eine Reihe kompromittierender Fakten zusammengetragen. Er zitierte aus einem Artikel, den Avdeenko als Zeitungskorrespondent über die unlängst okkupierte Bukowina geschrieben hatte. Zdanov las nur diejenigen Passagen des Artikels vor, die geeignet waren, ihn als einen Freund der kapitalistischen Ordnung hinzustellen.375 Als Avdeenko selbst zu Wort kam, begann er, sich zu verteidigen, wurde aber bald unterbrochen. Schließlich begann sogar Stalin persönlich, Avdeenko zu beschimpfen. Unter anderem warf er ihm vor, seine Schuld nicht rechtzeitig eingestanden zu haben: „Das Komitee für Kinematographie, das Studio ,Mosfil'm', die Regisseure,... die Zeitungen ,Κίηο' und ,Izvestija' haben den ,Pravda'-Artikel bereits als richtig anerkannt und haben bereut, nur Avdeenko schweigt. ... Warum sind Sie ... nicht am gleichen Tag zum CK, ... zu mir gekommen?"376

Weiter nannte Stalin Avdeenko einen „unaufrichtigen" Menschen „mit Maske", ein „feindliches Anhängsel" und einen „schlechten Schriftsteller", der „die Sowjetmacht nicht liebe". Andreev warf beflissen ein, daß Avdeenko seinerzeit vom „verfluchten Volksfeind Kabakov" gefordert worden war. Die Wucht der Anklagen verfehlte ihre Wirkung nicht. Dem Arbeiterkommunisten fiel ein, daß er im okkupierten Tschernowitz tatsächlich den Verlockungen der kapitalistischen Ordnung erlegen war: „Plötzlich begann ich mich mit den Augen Stalins zu betrachten... Warum hatte ich mir dort... diesen Anzug gekauft? ... Ich freute mich, als ich die Qualitätsware kaufte, und jetzt hasse ich sie! Ich hasse den Anzug, hasse die Krawatte, die Regisseur Stolper trägt - ein 374 375 376

Avdeenko: OtluCenie, S. 103. Avdeenko: Otlucenie, S. 102. Avdeenko: OtluCenie, S. 116. Vgl. auch S. 104.

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Geschenk von mir. Was ist los mit Stolper?... Legt er die Krawatte ab? Ja! Er ... versteckt sie in der Tasche. Vielleicht muß ich das auch tun? Den Schlips kann man verstecken, aber was mache ich mit dem Anzug, dem Hemd? Was mache ich mit mir selbst? Wo verstecke ich mich?""1

Doch schon wenige Augenblicke später kehrte das Bewußtsein zurück, daß die Anschuldigungen ungerecht waren. Anstatt der Rede Stalins weiter zu folgen, betrachtete er die Situation aus der Distanz. „Warum vernachlässigt er die wichtigsten Staatsangelegenheiten, nur um mich stundenlang zu tadeln? Bin ich denn in seinen Augen eine Gefahr für den Staat, größer als die faschistischen Armeen...?"

Von Avdeenko wurde keine weitere Wortmeldung verlangt. Doch auch ohne von ihm ein Reuebekenntnis erhalten zu haben, begann Stalin, seine eigenen Schlußfolgerungen wieder in Frage zu stellen. Plötzlich nannte er Avdeenko einen „Genossen", über den er sich „möglicherweise täusche", da man dem Menschen schließlich „nicht in die Seele blicken" könne.378 Anders als bei Sitzungen normalerweise üblich, endete die Beratung ohne irgendeinen formalen Beschluß. Nacheinander verließen Stalin und die anderen Spitzenfunktionäre den Raum, und nach einiger Zeit folgten ihnen auch die ratlosen Schriftstellerkollegen. Avdeenko wurde bald darauf aus der Partei und dem Schriftstellerverband ausgeschlossen und erst 1945 wieder aufgenommen. Doch zu seiner eigenen Verwunderung wurde er nicht verhaftet. Die Affäre war einer der Fälle, in denen Stalin sich nicht entscheiden konnte, ob der Untertan als Erziehungsobjekt oder als verkappter Feind behandelt werden mußte. Der Stein des Anstoßes war Avdeenkos Unfähigkeit gewesen, den „maskierten Feind" im Film so darzustellen, wie Stalin ihn gerne gesehen hätte. Anders als der vernünftige Valentin Kataev erkannte der Diktator die Ursache nicht einfach darin, daß Avdeenko zu, jung und unerfahren" war, um den Fallstricken dieses gefahrlichen Themas auszuweichen.379 Avdeenko wäre jedenfalls bereit gewesen, sich „erziehen" zu lassen: „Es war gut möglich, daß der Roman ,Der Staat bin ich', das Drehbuch zum .Gesetz des Lebens' ... schlecht geschrieben waren. Das hätte man auch so sagen müssen, und die Kritik hätte ihr Ziel erreicht. Aber warum schrieb man dem Autor schlechte Charaktereigenschaften zu? Wo war die Logik? ... Wo die Gerechtigkeit?"380

Irgendwie hatte Stalin in Avdeenko Opposition und Renitenz gewittert. Doch anstatt den Autor konsequenterweise verhaften zu lassen, hielt er ihm eine stundenlange Strafpredigt, die wiederum keine erzieherischen Ermahnungen, sondern nur inquisitorische Anschuldigungen enthielt. Avdeenko versuchte sogar noch nachträglich, seine loyale Erziehungsbereitschaft zu beweisen. 377 378 379 380

Avdeenko·. Otlucenie, S. 105. Avdeenko·. OtluCenie, S. 107. Vgl. Babicenko: Literatory i cenzory, S. 27. Avdeenko·. Otluienie, S. 111.

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Wie so viele andere schrieb er an Stalin einen Brief, in dem er viele „Fehler" zugab, ohne sich freilich als „maskierten Feind" zu bezeichnen.381 Auch in einem letzten Gespräch mit den Literaturfunktionären Fadeev und Polikarpov wehrte er sich gegen die Unterstellung, einem „feindlichen Einfluß" unterlegen zu sein.382 Das entsprach dem Verhalten von unzähligen von Sowjetfunktionären, die drei Jahre zuvor in eine ähnliche Situation geraten waren und in ähnlicher Weise ihre Loyalität beteuert hatten. Darüber hinaus hatte Avdeenko für seine Standhaftigkeit aber möglicherweise auch einen Grund, den er in seinen Erinnerungen nicht erwähnt. Denn der loyale Avdeenko, der im wahren Leben die höfische Etikette des Bereuens nicht virtuos beherrschte, hatte nach Meinung der „Pravda" auch als Schriftsteller dabei versagt, das Reueverhalten des „entlarvten Feindes" Ogneburov im Film richtig zu schildern: „Selbst Ogneburov ... behält, wenn man dem Filmautor glaubt, Stolz, Würde und sogar Edelmut. Diese Pose ist von Grund auf verlogen... Wenn man sie [Leute wie Ogneburov] entlarvt, dann kriechen sie ächzend auf den Knien und betteln um Gnade, weil es für sie schrecklich ist, mit sich alleine zu bleiben."383

Es wäre nur begreiflich gewesen, wenn Avdeenko bewußt vermieden haben sollte, diesem Feindbild der „Pravda" allzu auffällig zu entsprechen. Bei der Kampagne gegen Michail Zoscenko und Anna Achmatova stand wiederum der Wunsch im Vordergrund, ein öffentlichkeitswirksames Exempel zu statuieren. Weder gab es (wie bei Sostakovic) einen sichtbaren Versuch der individuellen „Umerziehung", noch zeigte die Parteiführung ein paranoid übersteigertes Interesse an ihrer Person. Es ging auch nicht darum, öffentliche Schuldbekenntnisse zu erhalten. Wie aus der Korrespondenz Zoscenkos hervorgeht, wäre er bereit gewesen, sich erziehen zu lassen und seine „Fehler" einzugestehen, aber seine Adressaten zeigten sich daran nicht interessiert. Als der Enwurf seiner Erzählung „Vor Sonnenaufgang" 1943 kritisiert wurde, wandte sich der Schriftsteller direkt an Stalin mit der Bitte, seine Meinung zu äußern: „Alle Hinweise ... werde ich mit Dankbarkeit berücksichtigen."384 Allerdings scheint dieser Brief nicht bis zu Stalins Schreibtisch gelangt zu sein. Als die Erzählung in der Presse und im Schriftstellerverband immer schärfer kritisiert wurde, versuchte Zoscenko es im Januar 1944 mit einem Brief an den Funktionär Scerbakov.385 Darin zeigte er schon deutliche Bereitschaft, seine „Fehler zuzugeben", hoffte aber immer noch darauf, daß die Erzählung in überarbeiteter Form gedruckt werden könnte. Er beteuerte seine Loyalität und seinen Besserungswillen: „Ich arbeite seit 23 Jahren in der Literatur... 381

Vgl .Avdeenko: Otlucenie, S. 116. Vgl. Avdeenko: Otlucenie, S. 116-117. 383 Vgl. Avdeenko: Otlucenie, S. 95. 384 Vgl. den Brief: Μ. M. Zoscenko - I. V. Stalinu. 26 nojabqa 1943 g., in: Babicenko: „Literaturnyj front", S. 82-83. 385 Vgl. den Brief: Μ. M. Zoscenko - A. S. Scerbakovu. 8 janvaija 1944 g., in: Babicenko: „Literaturnyj Front", S. 105-106. 382

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Ich gebe mir Mühe, daß meine Arbeit dem Volk auch weiterhin brauchbar und nützlich sein möge. Ich werde meine Schuld wiedergutmachen..." Um jeden Zweifel an seiner Lernbereitschaft auszuräumen, fugte er im Postskriptum hinzu: „Wenn eine detailliertere Erklärung meiner Fehler nötig sein sollte..., dann werde ich sie abgeben. Hier befürchtete ich, Sie mit einer umfangreichen Erklärung zu sehr in Anspruch zu nehmen."

Aber die Obrigkeit war an einer solchen Erklärung gar nicht interessiert. Statt dessen erteilte sie dem Lyriker Tichonov (einem ehemaligen Freund Zoscenkos) den Auftrag, für die Parteizeitschrift „Bol'sevik" eine weitere Kritik gegen Zoscenko zu verfassen.386 In den Augen Andrej Zdanovs war Zoscenko offenbar nur ein geeignetes Negativbeispiel. Stellvertretend für andere sollte man den Schriftsteller öffentlich „so zerpflücken, daß von ihm kein feuchter Fleck übrigbleibt".387 Als drei Jahre später Zoscenko schon wieder zum Opfer einer Treibjagd gemacht wurde, hatte er immer noch nicht die Hoffnung aufgegeben, mit den Machthabern in einen „erzieherischen" Dialog eintreten zu können. In einem Brief an Stalin vom 27. August 1946 verteidigte er seine Lebensleistung, erinnerte an seine früheren Auszeichnungen und beteuerte seine Loyalität.388 Sechs Wochen später versuchte er es mit einem Brief an Zdanov, in dem er zwar seine Lernbereitschaft demonstrierte, zugleich aber auf die Unzulänglichkeit der Pädagogik hinwies: „Mir fällt es sehr schwer,... zu bestimmen, worin genau meine Fehler bestehen. ... Ich muß ehrlich sagen, daß ich bis zum Beschluß des CK nicht ganz verstanden habe, was von der Literatur verlangt wird. Ich würde gerne einen neuen Zugang zur Literatur finden.. ,"389

Daran knüpfte er die Bitte, zumindest das „schweigende Einverständnis" der Politik zu erhalten, weiterhin literarisch arbeiten zu dürfen. Illusionen machte er sich indes nicht: „Ich verstehe die ganze Wucht der Katastrophe. Ich stelle mir keine Möglichkeit vor, meinen Namen zu rehabilitieren. Und nicht dafür will ich arbeiten. Ich kann und will nicht im Lager der Reaktion sein. ... Ich fühle mich als sowjetischer Schriftsteller, wie sehr man mich auch schmäht."

386

Vgl. Babicenko: Pisateli i cenzory, S. 80. Vgl. Α. I. Machanov - A. A. Zdanovu, 11 janvarja 1944 g., in: Babicenko: „Literaturnyj front", S. 106-107, Anmerkung 2. 388 Vgl. Μ. M. Zoscenko - I. V. Stalinu, 27. avgusta 1946 g., in: Babicenko: „Literaturnyj front", S. 230-232. 389 Μ. M. Zosöenko - Α. A. Zdanovu, 10 oktjabija 1946 g., S. 252-253. Gemeint ist der Beschluß des Orgbjuro vom 14. August 1946. Vgl. Postanovlenie Orgbjuro CK VKP(b) po voprosu „O zumalach „Zvezda" i „Leningrad" 14 avgusta, in: Babicenko: „Literaturnyj front", S. 221-225. 387

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Ähnlich wie den 1937 in Ungnade gefallenen Parteifunktionären blieb auch dem zur Unperson erklärten Zoscenko schließlich nichts anderes mehr übrig, als Gnadengesuche zu schreiben. Er wurde zwar nicht verhaftet, blieb aber nach den Worten Kaverins .jahrelang als Exempel an den ... Schandpfahl gekettet", wo man ihn „öffentlich bespuckte".390 Auch wenn die Schriftsteller sich im Moment der Ungnade danach sehnten, in ein strenges, aber die Existenz garantierendes Erziehungsverhältnis aufgenommen zu werden, so empfanden sie die alltäglichen Formen ihrer obrigkeitlichen Betreuung und Maßregelung nichtsdestoweniger als eine Zumutung. Noch Mitte der dreißiger Jahre äußerten manche von ihnen prinzipiellen Protest gegen die erzieherische Nötigung zu Fehlereingeständnissen. Dieser Widerwille zeigte sich begreiflicherweise vor allem dann, wenn die Reueforderung nicht von der politischen Führung, sondern „nur" von Kollegen und Literaturfunktionären erhoben wurde. Als der Schriftstellerverband im März 1936 eine mehrtägige Versammlung organisierte, die eigentlich dazu dienen sollte, die Sowjetliteratur gegen den „Formalismus" in Stellung zu bringen, nutzten Boris Pasternak, Boris Pil'njak, Vasilij Grossman und andere die Gelegenheit, auf die Unzulänglichkeit der offiziellen Litarturkritik hinzuweisen.391 Pasternak machte sich über die Anweisungen, die den Schriftstellern erteilt wurden, regelrecht lustig. Bei seiner Kritik an „den Presseartikeln" ließ er provozierenderweise offen, ob er auch die (mutmaßlich von Stalin selbst verfaßten) „Pravda"-Artikel gegen Sostakovic in sein Urteil miteinbezog oder nicht. Nachdem er zu Beginn viel zustimmendes Gelächter erhalten hatte, breitete sich im Saal allmählich eine gewisse Ängstlichkeit aus. Dennoch reagierte die Versammlung keineswegs so, wie man es von einem stalinistischen Abstimmungskörper in solchen Augenblicken eigentlich hätte erwarten können. Anstatt über Pasternak herzufallen, ließen viele Diskussionsteilnehmer recht gut durchblicken, daß er ihnen aus der Seele gesprochen hatte. Geradezu unzufrieden äußerten sie sich darüber, daß er - nach einem längeren Gespräch im Büro des Funktionärs Angarov - noch einmal auftrat, um die Partei zu loben und sich von den schärfsten Formulierungen zu distanzieren. Dabei blieb er allerdings recht zweideutig: „Ich wiederhole, ... daß mir meine letzte Wortmeldung, ihre Verworrenheit, leid tut. Mit dieser Verworrenheit habe ich mir zweifellos geschadet, aber ich denke, daß das sowohl mir, wie auch uns allen Nutzen bringen wird. Wir müssen irgendwie anders reden, und vielleicht wird es uns gelingen".352

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Zitiert nach Babicenko: Pisateli i cenzory, S. 140. Vgl. Grigorij Fajman: Ljudi i polozenija. Κ sestidesjatiletiju diskussii ο formalizme ν isskustve, in: Nezavisimaja gazeta. 14.3.1996, S. 5 und 27.3.1996, S. 5. 3,2 Fajman'. Ljudi i polozenija. 391

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Eine Gegenposition zu Pasternak formulierte die kurz zuvor gemaßregelte Saginjan, die der Partei ausdrücklich das Recht einräumte, Schriftsteller streng zu tadeln und zu bestrafen. „Diese Genossen sagen: ,Uns Schriftsteller darf man nicht schlagen, und wenn doch, dann nur so sanft wie möglich.' Ich bin ein Mensch, den man geschlagen hat, und will euch reinherzig sagen, daß diese Behauptung ein verderblicher Standpunkt ... ist. Ihr wißt, daß ich einen groben Fehler begangen habe ... und daß man mich dafür kräftig geschlagen hat. Aber wenn ihr fragt, was mir half, wieder aufzustehen, dann muß ich sagen, daß es gerade die Gnadenlosigkeit, die Schärfe ... der Kritik war, ihre Direktheit, die mir geholfen hat."

Angeblich hatte sie eine positive Erfahrung gemacht, denn im Moment ihrer Bestrafung habe sie überhaupt das erste Mal gespürt, daß sie einem Kollektiv angehörte. Doch manche ihrer Schriftstellerkollegen verhehlten nicht ihre Befremdung über diesen Reuestolz. Boris Pil'njak, der 1930 als einer der ersten Schriftsteller überhaupt gegenüber Stalin seine „Fehler bereut" hatte, formulierte nun mit ätzendem Sarkasmus: „Pasternak hat heute richtig gesagt, daß es bei uns keinen Formalismus gibt. Nur solche Idioten wie Korabel'niko ν können ernsthaft davon reden. Aber Pasternak quält man wie die exspirierende Pythia... Heute hat er sich hysterisch über die Partei ausgelassen, aber allen war klar, daß wir als denkende Menschen nicht einmal an Kleinigkeiten zweifeln dürfen: Sofort peitscht man uns und zwingt uns zur Reue. Saginjan ist aufgetreten wie eine nasse Henne, man schämte sich für sie... Einzugestehen, daß sie das ... Kollektiv zum ersten Mal spürte, als man sie auspeitschte - das war ja fast wie eine Gogol'sche Unteroffizierswitwe."

Auch Vasilij Grossman war peinlich berührt: „Pasternak zeigte Reue wie ein Schulbub (mal ciska). Und das ist verständlich. Bei uns hat man den Streit über die Kunst einfach in eine weitere Kampagne verwandelt."

Der Kritiker A. Leznev baute diesen Gedanken weiter aus: „Wir gehen dem völligen Stillstand entgegen - man beachte, daß niemand über irgend etwas streitet; entweder bereut man oder man belagert sich gegenseitig. Wo bleibt der prinzipielle Streit, die Ideen?"

Zweifellos taugte die Methode des Reuezwangs, die sich in den innerparteilichen Abstimmungskörpern herausgebildet hatte, besser zur Herstellung von Einstimmigkeit als zur Anregung einer gehaltvollen Debatte. Wie man sieht, waren sich auch die sowjetischen Schriftsteller dieser Tatsache schmerzhaft bewußt. Es ist vielleicht kein Zufall, daß der schärfste Protest gegen die Unsitte des Bereuens (wie schon 1930) von ehemaligen Angehörigen des Pereval formuliert wurde.393 Der Kritiker Ivan Kataev wagte zur gleichen Zeit auf einer anderen Versammlung die Prophezeiung, daß in der Geschichte des russischen gesellschaftlichen Denkens „die reuigen Reden, die derzeit von den Meistern

393

Vgl. das dritte Kapitel, S. 155-159.

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der Kunst gehalten werden, eine der schmachvollsten Erscheinungen" bleiben würden.394 Interessanterweise scheint sich an dieser widerwilligen Grundhaltung auch nach den „großen Säuberungen" nur wenig geändert zu haben. Die Darstellung Denis Babicenkos vermittelt den Eindruck, daß die Schriftsteller es in den vierziger Jahren grundsätzlich als Aufgabe der Partei ansahen, die Werke der Kollegen zu belobigen oder zu verbieten, sich selbst damit aber eher zurückhielten.395 Erst wenn die Partei ein Werk verurteilt hatte, organisierte auch der Schriftstellerverband die Versammlungen, auf denen der Autor „kameradschaftlich durchgearbeitet" werden sollte. Auf diesen scheint der Autor aber nicht immer so scharf und so eindeutig verurteilt worden zu sein, wie es sich die Parteiführung gewünscht hätte. Schuldbekenntnisse kamen in solchen Fällen auf Druck der Parteiführung, aber weniger auf Drängen der Kollegen zustande.396 Eine Rolle als Erzieher spielten neben der Parteiführung auch Literaturfunktionäre wie Aleksandr Fadeev als Vorsitzender des Schriftstellerverbands. Er zeigte sich regelmäßig bereit, für eventuelle Fehler seiner Kollegen im Rahmen der „Selbstkritik" Mitverantwortung zu übernehmen, und fühlte sich daher auch berechtigt, diese gegebenenfalls wie Schüler zu behandeln. Dabei wurde er nie in der gleichen Weise als Autorität akzeptiert wie die Parteifunktionäre des Zentralkomitees. Als er den Lyriker Nikolaj Aseev einmal öffentlich tadelte, den Autor Curilin ungehörigerweise weitaus günstiger beurteilt zu haben als Andrej Zdanov, nahm Aseev dies zum Anlaß, sich ausgerechnet bei Zdanov über Fadeev zu beschweren (möglicherweise, um einer kindischen Denunziation zuvorkommen): „... im Ergebnis hielt mir Genösse Fadeev eine Moralpredigt darüber, daß man seine Führer lieben und ihre Meinung achten muß. Darauf habe ich wohl geantwortet, daß ich nicht gewohnt bin, meine Liebe nach außen hin zu zeigen. Überhaupt erhielt das Gespräch einen unangenehmen und für erwachsene Menschen peinlichen Charakter."397

Allerdings war Fadeev immer noch beliebter als der Partei- und Literaturfunktionär Polikarpov, der im Schriftstellerverband einen Ton des „Komman-

194 Diese Versammlung fand am 20. März 1936 statt. Vgl. Dokladnaja zapiska sekretnopoliticeskogo otdela GUGB NKVD SSSR ο soveäcanii pisatelej pri redakcii zumala „Nasi dostizenija", in: Jakovlev: Vlast' i chudozestvennaja intelligencija, S. 304-306. 395 Babicenko: Pisateli i cenzory, vgl. insbesondere S. 10-63. 396 Als Leonid Leonov 1940 direkt vom Zentralkomitee in die Schriftstellerversammlung zurückkehrte, wo sein soeben verbotenes Stück „Der Schneesturm" besprochen wurde, forderte er die Anwesenden dazu auf, sein Stück noch stärker zu kritisieren, da es „schlecht" und „ideologisch schädlich" sei. Vgl. Babicenko: Pisateli i cenzory, S. 36. 397 Zum Wortlaut des Briefs vom 9. Oktober 1940 vgl. Babicenko: „Literaturnyj front", S. 55-57.

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dierens, Anbrüllens und Befehlens" anschlug, in Versammlungen anderen das Wort abschnitt und sie manchmal „wie Schulbuben" zusammenstauchte.398 Wie aus Berichten von NKVD-Spitzeln hervorgeht, äußerten sich viele Schriftsteller in den folgenden Jahren sehr geringschätzig über die Organisation des Literaturbetriebs. Äußerlich akzeptierten sie weitgehend die Spielregeln, an deren Sinn sie nicht glaubten. Viktor Sklovskij zufolge verloren um 1944 auch die bewährten Disziplinierungsmethoden allmählich an konditionierender Wirksamkeit: „Man hat das Durcharbeiten, die Einschüchterungen, die Verbote so satt, daß sie nicht mehr einschüchternd wirken... Alle sind von den Schlägen schon so taub geworden, daß man sie schon nicht mehr fühlt... Das mit dem Durcharbeiten funktioniert nicht mehr. Sollen sie sich doch etwas Neues ausdenken".399

Freilich darf man solche Äußerungen nicht überbewerten. Wie man weiß, waren diese Methoden sehr wohl geeignet, nicht nur den Literaturbetrieb, sondern die sowjetische Gesellschaft insgesamt noch auf Jahrzehnte hinaus zu disziplinieren. Sklovskijs Zitat markiert eher denjenigen Moment, wo sich ein Untertan der Chance bewußt wurde, zwischen äußerer Konformität und persönlichen Überzeugungen in etwa dasjenige stabile Gleichgewicht herzustellen, auf dem nach Oleg Kharkhordin die „reife Sowjetgesellschaft" beruhte. Die Schriftsteller erlernten widerwillig den sicheren Habitus des „dummen Schulbuben" und rechneten bald nicht mehr mit ihrer Verhaftung. In den ausgewählten Beispielen von Saginjan über Sostakovic bis zu Zoscenko erscheint das Verhältnis der politischen Machtzentrale zu den Künstlern letztlich von derselben primitiven Pädagogik bestimmt wie das Verhältnis zu anderen Untertanen. Selbst gegenüber weltbekannten Künstlern konnte das Politbüro seine rein utilitaristische Sichtweise nicht ablegen, der die Untertanen auf konditionierbare Objekte, im besten Fall auf unmündige Schulkinder reduzierte. Da den einzelnen Persönlichkeiten kein besonderer Wert beigemessen wurde, spielten auch die Einzelheiten der individuellen Konversionsund Besserungsgeschichten keine große Rolle. Schuldbekenntnisse wurden in erster Linie als Unterwerfungsgesten aufgefaßt. Ihr Ausbleiben (wie im Falle Avdeenkos) wurde viel empfindlicher zur Kenntnis genommen als ihr positiver Inhalt (wie bei Zoscenko). Es kam oft weniger auf die Erziehung des einzelnen Künstlers an als auf die glaubwürdige Inszenierung eines abschreckenden Exempels. Bestenfalls erzeugte das Regime damit für sich selbst die Illusion, die künstlerische Produktion kontrollieren und verbessern zu können.

398

Vgl. Babicenko: Pisateli i cenzory, S. 112. Die Formulierungen entstammen einer Beschwerde des Literaten Α. K. Tarasenko an G. Malenkov vom 19.3.1946. 399 Vgl. Babicenko·. Pisateli i cenzory, S. 102. Vgl. auch die Äußerungen anderer Schriftsteller ebenda, S. 98-101.

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IV. Reue und Selbstkritik in der sowjetischen Öffentlichkeit 1931-1953

In den Nachkriegsjahren erfuhren ideologische Fragen eine enorme politische Aufwertimg. Die verschiedenen kulturellen Kampagnen richteten sich nicht nur gegen zu wenig konforme Schriftsteller, „kosmopolitische" Akademiker und Lysenko-Gegner, sondern waren Teil einer Propaganda, welche die Gesellschaft insgesamt auf den Kalten Krieg einstimmen wollte. Im folgenden Abschnitt soll dargestellt werden, daß sich die Rolle der „Selbstkritik" und der Schuldbekenntnisse bei der Konditionierung der einzelnen Wissenschaftler zwar erheblich wandelte, die ideologischen Kampagnen im Ganzen aber nach dem gleichen Muster abliefen wie schon 1930 bis 1932. Das Regime erwartete nicht von allen Akademikern genau die gleiche Form von politischer Loyalität. Während die hochgradig ideologisierten Geisteswissenschaftler (insbesondere Philosophen und Historiker) die „Parteilinie" im engsten Sinn unterstützen sollten, gab man sich im Fall der parteilosen Naturwissenschaftler eher mit der grundsätzlichen Loyalität gegenüber dem Sowjetregime zufrieden. Man unterstellte den Vertretern der „alten" Wissenschaft zwar keine „trotzkistische" Oppositionstätigkeit, aber doch manchmal eine gefahrliche Sympathie für das kapitalistische Ausland. Im folgenden Abschnitt sollen zwei Episoden aus den Jahren 1936 und 1947 skizziert werden, in denen die Stimmführer der „sozialistischen Öffentlichkeit" bei parteilosen Wissenschaftlern Anzeichen mangelnder Loyalität festzustellen glaubten. Die Fälle waren ähnlich gelagert, wurden aber dennoch sehr unterschiedlich behandelt. Sollte man die Betreffenden als gefahrliche „Feinde" zu Tode hetzen, oder war es nicht besser, ihre demütige „Umerziehung" zu inszenieren? Während das Regime 1936 noch unschlüssig zwischen diesen beiden Extremen schwankte, hatte es 1947 einen modus operandi gefunden, in dem moralische Schuldbekenntnisse zentrale Bedeutung erlangten. In der kurzen, aber spektakulären Kampagne gegen den parteilosen Mathematiker Nikolaj Nikolaevic Luzin überlagerten und durchkreuzten sich verschiedene Auffassungen vom Sinn des öffentlichen „Durcharbeitens", von der „Selbstkritik" und der „Erziehung".400 Seine wissenschaftliche Leistung hatte Luzin neben weltweiter Anerkennung auch einen Sitz in der Akademie der Wissenschaften eingetragen. Luzin galt als ein Repräsentant der übriggebliebenen „bürgerlichen" Wissenschaft, pflegte zahlreiche Kontakte ins Ausland und verhielt sich in politischen Angelegenheiten eher zurückhaltend. Ohne selbst dazu einen akuten Vorwand geliefert zu haben, wurde er offenbar allein aufgrund dieses Profils vom Propagandaapparat zur Zielscheibe einer Hetzkampagne ausgewählt, die sich mittelbar gegen die „bürgerliche" Wis-

400

Die Affäre wurde sehr ausführlich dokumentiert in: S. S. Demidov, Β. V. Levsin (Hrsg.): Delo akademika Nikolaja Nikolaevica Luzina, Sankt Petersburg 1999.

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senschafitstradition insgesamt richtete.401 Die federführenden Initiatoren waren allem Anschein nach der Moskauer Parteifunktionär Ernest Kol'man und der „Pravda"-Redakteur Lev Mechlis, der sich die Unterstützung Stalins verschafft zu haben glaubte.402 Am 3. Juli erhob die „Pravda" in dem anonymen Artikel „Über Feinde in sowjetischer Maske" schwere Vorwürfe gegen den Mathematiker: Angeblich erteilte Luzin unfähigen Studenten Gefalligkeitsgutachten, publizierte Forschungsarbeiten vorzugsweise im westlichen Ausland und stahl das geistige Eigentum seiner Schüler403 Dem genialen Nachwuchsmathematiker Susiin hatte Luzin 1919 angeblich böswillig die Existenzgrundlage entzogen und damit dessen vorzeitigen Tod verschuldet. Darüber hinaus unterstellte die „Pravda" Luzin eine faschistische Gesinnung und einen „Haß auf alles Sowjetische". Anstatt zum „ehrlichen sowjetischen Gelehrten" zu werden „wie viele aus der alten Generation", sei Luzin aus bösem Willen „ein Feind geblieben", der auf die „Kraft der sozialen Mimikry" vertraue. Der Artikel mündete im pathetischen Zuruf: „Sie haben sich getäuscht, Herr Luzin! Die sowjetische wissenschaftliche Öffentlichkeit reißt Ihnen die Maske des gewissenhaften sowjetischen Gelehrten vom Gesicht und nackt und nichtig stehen Sie vor aller Welt..."

Diese Propaganda präsentierte Luzin bereits als endgültig „entlarvten Feind", der seine Chance zur Umerziehung aus bösem Willen hatte verstreichen lassen. Nun sollte nicht mehr Luzin zur Loyalität, sondern die „wissenschaftliche Öffentlichkeit" zur „Wachsamkeit" und zur Bereitschaft erzogen werden, den Feind zu lynchen. Die Botschaft wurde von der „sozialistischen Öffentlichkeit" auch in diesem Sinne verstanden. Noch am selben Tag forderte die allgemeine Mitarbeiterversammlung des mathematischen Akademieinstituts, Luzin seiner Ämter zu entheben und ihm seinen Status als Akademiemitglied abzuerkennen.404 Die „mathematische Öffentlichkeit" dankte der „Pravda" für die „Aufdeckung des Feindes", rief sich selbst zur Verbreitung der „bolschewistischen Selbstkritik" auf und verurteilte den eigenen „faulen Liberalismus", der die „antisowjetische Tätigkeit" Luzins erst ermöglicht hatte. Eine ähnliche Versammlung fand eine Woche später auch in der mathematischen Fakultät der Moskauer Universität statt.405 Wenige Tage nach dem Erscheinen des „Pravda"-Artikels wandte sich Luzin mit einem langen Brief an das Zentralkomitee, der die übliche Mischung aus 401

Äußerer Anlaß für die Kampagne war Luzins Artikel in der „Izvestija" vom 27.6.1936, S. 4, der als Vorwand diente. (Vgl. Demidov: Delo akademika Luzina, S. 13-22 und S. 2 5 3 255.) 402 Vgl. Demidov. Delo akademika Luzina, S. 12. 403 Der Artikel ist vollständig zitiert in: Demidov: Delo akademika Luzina, S. 255-257. 404 Rezoljucija po povodu statej „Pravdy" „Otvet akademiku N. Luzinu" i „O vragach ν sovetskom maske". Rezoljucija obscego sobranija sotrudnikov Matematiöeskogo institute Akademii nauk SSSR, in: Demidov: Delo akademika Luzina, S. 258-259. 405 Vgl. Demidov: Delo akademika Luzina, S. 273-277.

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Rechtfertigung, Reue und Loyalitätsbeteuerung enthielt.406 Die Vorwürfe wies er im einzelnen fast vollständig zurück. Er bestritt nicht, in seinem Leben auch Fehler gemacht zu haben, deren größter in der „Pravda" allerdings überhaupt nicht erwähnt worden sei: Er bedauerte, 1930 die Lehrtätigkeit an der Universität aufgegeben zu haben. Nun erklärte er sich bereit, dafür „alle beliebigen Konsequenzen zu tragen". Seine rechtfertigenden Ausführungen unterbrach er an anderer Stelle mit der Beteuerung, daß er den politischen Sinn der Kampane durchaus begreife. Wenn die Parteiführung es für nötig halte, an ihm ein Exempel zu statuieren, so sehe er darin sogar einen „sittlichen Trost". Mehrere Kollegen versuchten, hinter den Kulissen für Luzin zu intervenieren. Der Physiker Petr Kapica nahm in seinem Brief an Molotov insbesondere an der bedrohlichen Abwesenheit des Erziehungsgedankens in der Sprache der „Pravda" Anstoß.407 Der parteilose Kapica erweist sich in diesem Dokument als subtiler Kenner der „bolschewistischen Sprache" und zeigte sich in der Lage, wirksam gegen die Linie der „Pravda" zu argumentieren, ohne dabei stalinistische Kategorien zu verlassen. Er wies darauf hin, daß die Vorwürfe der „Pravda" bei näherem Hinsehen kein einziges ernsthaftes Verbrechen enthielten, und forderte den Regierungschef auf, vor Luzin „keine Angst" zu haben.408 War es nicht grotesk, in einem weltfremden Mathematiker eine Bedrohung der starken Sowjetunion zu sehen? Kapica räumte ein, daß Luzin möglicherweise tatsächlich nicht immer „allen sittlichen Normen unserer Epoche" gerecht geworden sei, bestritt aber zugleich, daß „alles getan worden sei, Luzin umzuerziehen". Er erlaubte sich sogar den verallgemeinernden Vorwurf, die Staatsmacht verhalte sich gegenüber der Wissenschaft insgesamt „zu utilitaristisch" und „nicht aufmerksam genug", und klagte: „Ich weiß von mir selbst, wie seelenlos Sie mit Menschen umgehen können". Kapica gab sich überzeugt, daß man Jeden beliebigen Akademiker umerziehen" könne, wenn man ihm nur „aufmerksam" und „individuell" begegne. Es war wohl kaum Zufall, daß die Sprache dieser Ermahnungen sich durchweg an die Stalin-Rede vom 4. Mai 1935 anlehnte.409 Genau wie die Hetzartikel in der „Pravda" war auch Kapicas Plädoyer ein Akt „bolschewistischen Sprechens". Die Frage war nur, welcher Gruppe Luzin zugeordnet werden mußte: Den gefährlichen Feinden oder den loyalen Erziehungsobjekten, die als „Kader" bekanntlich einfühlsam betreut werden mußten. Wie Kapica unterhielt auch das Akademiepräsidium eigene Kontakte mit der Parteiführung und hatte somit ebenfalls keinen Grund, der von Mechlis vorgegebenen Linie der „Pravda" sklavisch zu folgen. Unter dem Vorsitz des 406

Pis'mo akademika Ν. N. Luzina ν CK VKP(b) ot 7 ijulja 1936 g., in: Demidov. Delo akademika Luzina, S. 265-268. 407 Pis'mo P. L. Kapicy V. M. Molotovu 6 ijulja 1936 g., in: Demidov: Delo akademika Luzina, S. 261-263. 408 Demidov: Delo akademika Luzina, S. 263. 409 Rede im Kremlpalast vor den Absolventen der Militärakademie. Pravda, 6.5.1935.

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alten Parteifunktionärs Gleb Krzizanovskij wurde eine Kommission eingesetzt, die den „Fall Luzin" untersuchen und über seinen Verbleib in der Akademie entscheiden sollte. Diese Kommission tagte mehrmals und gab auch Luzin Gelegenheit, ausführlich zu allen Vorwürfen Stellung zu nehmen. Es spricht vieles dafür, daß zur gleichen Zeit zwischen Luzin, dem Akademiepräsidium und der Parteiführung ein diskretes Arrangement getroffen wurde, daß Luzins Existenz geschont werden sollte.410 Dieser bestritt bis zum Schluß der Sitzung kategorisch, der Sowjetunion oder der sowjetischen Wissenschaft jemals bewußt geschadet zu haben. Am dritten Sitzungstag gab er aber schließlich zu, manchmal aus „Weichherzigkeit" tatsächlich allzu freundliche Beurteilungen verfaßt und manche Ideen seiner Schüler in der eigenen Arbeit weiterverwendet zu haben. 4 " Er hielt letzteres für eine normale wissenschaftliche Praxis, die keineswegs als Plagiat angesehen werden dürfe; er erklärte sich aber dennoch bereit, sich auf Verlangen bei allen Mitarbeitern öffentlich zu entschuldigen, falls diese darauf bestehen sollten. Außerdem versprach er, seine Arbeiten künftig nur noch in der Sowjetunion veröffentlichen zu wollen. Luzin formulierte seine Schuldgeständnisse sehr zurückhaltend. Nichts von dem, was er zugab, hätte ausgereicht, seine Reputation zu zerstören. Nachdem Luzin die Sitzung verlassen hatte, kommentierte der Vorsitzende Krzizanovskij lapidar, daß er „im Kern nichts Neues gesagt habe". Allerdings ließ Krzizanovskij durchblicken, daß er von der Parteiführung die Anweisung erhalten hatte, den Resolutionsentwurf deutlich abzumildern. Anders als die „Pravda" sollten die Akademiker Luzin nicht als „Feind in sowjetischer Maske" charakterisieren, sondern dessen Verhalten mit ihren eigenen, vornehmeren „akademischen" Ausdrücken beschreiben.412 Weder der Abschlußbericht der Untersuchungskommission, noch die Resolution des Akademiepräsidiums enthielt irgendeinen Hinweis darauf, daß Luzin ein, wenn auch begrenztes, Schuldbekenntnis abgelegt und seinen Willen zur „Besserung" auch selbst zum Ausdruck gebracht hatte. Wenn Luzins verhaltene Reue auf den Gang der Ereignisse tatsächlich Einfluß gehabt haben sollte, dann sah die Obrigkeit dennoch keinen Grund, darauf explizit hinzuweisen. Zu guter Letzt wurde die Hetzjagd auf den Feind nachträglich zu einer „Erziehungsmethode" umgedeutet. Der Resolution zufolge hatte Luzin zwar den Ausschluß verdient, doch angesichts seiner wissenschaftlichen Bedeutung und „angesichts der ganzen Kraft der öffentlichen Einwirkung, die in einer so breiten, einmütigen und

410

Vgl. dazu die Darstellung Demidovs und Levsins in: Demidov: Delo akademika Luzina, S. 36-39. Luzin schrieb auch selbst einen Briefe in eigener Sache an das Zentralkomitee und an eine unbekannte Person der Parteiführung: ebenda, S. 265-268 und S. 278-281. Darin stritt er die Vorwürfe zum größten Teil ab und beteuerte seine Loyalität gegenüber der Staatsmacht. 4,1 Zum Wortlaut von Luzins Schuldbekenntnissen vgl. Demidov: Delo akademika Luzina, S. 176-195. 412 Demidov: Delo akademika Luzina, S. 195 und S. 284-285.

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gerechten Verurteilung von Luzins Verhalten zutage getreten ist und ausgehend vom Wunsch, Luzin die Möglichkeit zur Änderung seines Verhaltens ... einzuräumen...", hielt man es für möglich, sich vorerst mit einer Verwarnung zu begnügen.413 Während die Akademieleitung Luzins Schuldbekenntnisse äußerlich ignorierte, reagierte die „Pravda" etwa so, wie die Parteiführung auf „Kapitulationen" und „Geständnisse" von „Feinden" schon immer reagiert hatte: Die Aufrichtigkeit wurde bezweifelt, die „Büßerpose" lächerlich gemacht und eine neue Etappe der Treibjagd eingeleitet. Wenn Luzin Fehler einräumte, dann handelte es sich natürlich nur um charakterlose Schauspielerei: „Luzin unternimmt den letzten Versuch, sich herauszuwinden. Er hofft auf die Schlappheit des wissenschaftlichen Milieus, auf dessen Bereitschaft, einem Menschen zu vergeben, der Reue heuchelt und sich wie ein rechter Komödiant auf die Brust schlägt."

Wie aber hätte er sich richtig verhalten sollen? Anscheinend verlangte die „Pravda" von Luzin tatsächlich, zielstrebig auf seine eigene Hinrichtung hinzuarbeiten: „Er gibt jetzt alle Tatsachen zu, aber er will sich nicht als Feind betrachten... Luzin vertuscht beharrlich seine gesellschaftsfeindlichen Reden, seine vertraulichen konterrevolutionären Bekenntnisse im Kreise von Kumpanen, seine antisowjetischen Handlungen. Und dieses Schweigen ist der ... Beweis dafür, daß der entlarvte Feind ... sich noch nicht entwaffnet hat."

Der Verfasser dieses Artikels betrachtete Luzin bereits mit den Augen des Untersuchungsrichters, der die Aufgabe hat, einen Schauprozeß vorzubereiten. Natürlich richteten sich diese eindeutigen Stichworte weniger an Luzin als an die „schlappen" Akademikerkollegen, die mit ihrer „Entlarvung" auf halbem Wege stehen geblieben waren. Allem Anschein nach war „Pravda"-Redakteur Mechlis überrascht und empört, daß die gefahrliche Hetzjagd auf Luzin unversehens in eine unblutige „pädagogische" Maßnahme überging.414 In der Kampagne gegen Luzin überkreuzten sich also zwei stalinistische Auffassungen von „Erziehung" und zwei Szenarien der „Selbstkritik". Mechlis favorisierte die paranoide und tödliche Variante, in der das Opfer Luzin von Anfang an auf die Identität des heimtückischen „Feinds" festgelegt war, und daher aus dem kollektiven Projekt der erzieherischen „Selbstkritik" ausgeschlossen bleiben mußte. Die Vorladung Luzins vor eine Untersuchungskommission sollte nur als Bühne dienen, auf der seine moralische Hinrichtung dann wie im Schauprozeß dramatisch inszeniert werden konnte. „Erziehung" bedeutete in diesem Zusammenhang die Ablichtung der sowjetischen „Öffentlichkeit" zur aktiven Beteiligung an jeder befohlenen Treibjagd. Wenn diese 4,3

Ob akademike N. N. Luzine. Postanovlenie Prezidiuma Akademii Nauk SSSR ot 5 avgusta 1936 g., in: Demidov: Delo akademika Luzina, S. 297-298. 414 Vgl. Demidov: Delo akademika Luzina, S. 39-41 und Mechlis' Brief an Stalin vom 14. Juli 1936, ebenda, S. 284-285.

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Art der kollektiven Ausführung des Herrscherwillens ein „Ritual" war, dann hatten eventuelle Schuldbekenntnisse der zu jagenden Person darin keine sinnstiftende Funktion. Sie dienten allenfalls dazu, das Opfer noch zusätzlich zu entwürdigen, konnten das Verhängnis aber nicht abwenden. Das mildere Ersatzszenario folgte415 dann mehr oder weniger den Leitlinien, die Petr Kapica skizziert hatte. Demnach war der gesellschaftlich einflußlose, weltfremde Luzin kein gefahrlicher Feind, sondern lediglich ein orientierungsloser Übriggebliebener der alten Ordnung, dem die sowjetische Öffentlichkeit die Gelegenheit geben sollte, „sein Verhalten zu korrigieren". Und so konnten die Vertreter des Regimes sich mit Ermahnungen, Maßregelungen oder einfach der Hoffnung begnügen, daß die bedrohlichen Töne der „Pravda" dem Akademiker Luzin und seinen Kollegen zumindest einen lehrreichen Schrecken eingejagt haben mochten. Insgesamt war die Luzin-AfFäre für das Regime wohl kein propagandistischer Erfolg. Die Widersprüchlichkeit und Zufälligkeit in seinem Vorgehen war allzu deutlich geworden. 1947 sahen sich die Mediziner Nina Kljueva und Grigorij Roskin ähnlichen Vorwürfen ausgesetzt wie Nikolaj Luzin elf Jahre zuvor.416 Wie Luzin genossen die Krebsforscher Kljueva und Roskin internationales Ansehen als Wissenschaftler. Sie publizierten ihre Arbeiten gerne im Ausland und in einem Fall waren sie sogar so weit gegangen, ihre bahnbrechenden Forschungsergebnisse über die von ihnen entdeckte (und nach ihnen benannte) Substanz „KR" amerikanischen Kollegen mitzuteilen. Sie hatten allerdings geglaubt, im Einverständnis mit der Parteiführung zu handeln, da der Gesundheitsminister Georgij Miterev die Übergabe ausdrücklich erlaubt hatte. Offenbar deuteten sie dieses Entgegenkommen als eine Art diplomatische goodwill-Aktion. Daneben hofften sie wohl darauf, von den Amerikanern im Gegenzug medizinische Geräte zu erhalten, die sie zur Fortführung ihrer Forschungen dringend brauchten, die in der Sowjetunion aber kaum zu beschaffen waren. Nun aber hatte sich herausgestellt, daß der Gesundheitsminister sein Einverständnis ohne die Zustimmung der Parteiführung gegeben hatte. Nach Meinung des Politbüros hatten sich der Minister, aber auch die beiden Mediziner des „unpatriotischen" Verhaltens schuldig gemacht. Anstatt ihre Entdeckung bis zur Anwendungsreife weiterzuentwickeln und erst dann propagandawirksam „im Namen der Sowjetunion" der ganzen Welt zur Verfügung zu stellen, hätten

415

Nach Meinung von Demidov und Levsin schreckte Stalin letztlich davor zurück, Parteifunktionären wie Mechlis und Kol'man zuviel Macht über den Wissenschaftsbetrieb einzuräumen. Vgl. Demidov: Delo akademika Luzina, S. 36-41. 416 Zu dieser Affäre vgl. V. D. Esakov, E. S. Levina: Delo KR. Sudy cesti ν ideologiii i praktike poslevoennogo stalinizma, Moskau 2001; V. D. Kallinikova, V. Ja. Brodskij·. Delo „KR", in: M. G. Jarosevskij (Red.): Repressirovannaja nauka. Vypusk II, Sankt Petersburg 1994, S. 113-120; Subkova: Kaderpolitik und Säuberungen in der KPdSU, S. 202-206 und S. 246-249.

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sie sie unter Wert an den Feind verkauft. Ihre persönliche Eitelkeit habe dabei ebenso eine Rolle gespielt wie der unpatriotische Zweifel, das Präparat in der Sowjetunion fertig zu entwickeln. Als gute Patrioten hätten die Mediziner zudem gegen die Einwilligung des Ministers Mißtrauen hegen und sich an höherer Stelle erkundigen müssen, ob die Übergabe des Materials an die Amerikaner tatsächlich gewollt war. Wie die Kampagne gegen Luzin sollte also auch die „KR-AfFäre" in der Propaganda als Beispiel dienen, um die Bevölkerung zu einer „patriotischen" Denk- und Handlungsweise zu ermahnen. Doch ging die Parteiführung diesmal viel sorgfältiger, ausgewogener und konsequenter vor als zu Beginn des „Großen Terrors". Sie gründete im März 1947 eigens das Institut des halböffentlichen „Ehrengerichts", das innerhalb der sowjetischen Einrichtungen wie ein Erziehungstheater funktionieren sollte.417 Die „Affäre KR" spielte dabei die Rolle des Musterfalls. Ihre Verhandlung fand Anfang Juni 1947 vor einem großen, aber ausgesuchten Publikum statt, das zum größten Teil aus Medizinern bestand. Anders als in den Versammlungen der dreißiger Jahre wurden die Vorwürfe und die möglichen Konsequenzen nun aber auf ein nachvollziehbares Maß begrenzt. Das Ehrengericht sollte grundsätzlich nur solche Delikte ahnden, die im Sinne des Strafgesetzbuchs nicht relevant waren, und durfte keine strengere Strafe verhängen als eine „gesellschaftliche Rüge". Wie schon bei den Kameradengerichten verzichtete die Obrigkeit also auf die strenge Strafandrohung zugunsten der moralischen Beschämung. Die eigentliche Neuheit lag eher darin, daß das Regime seine paranoide Angst vor dem illoyalen Einzelmenschen verloren zu haben schien: Anders als Luzin erschienen Kljueva und Roskin nicht mehr als mächtige, gefährliche Feinde. Wie der Ankläger Kuprijanov im Schlußplädoyer klarstellte, waren diese tatsächlich „nicht als Verräter unseres Volkes" zu betrachten: „Anderenfalls würde man sie nicht vor unser Ehrengericht zitieren; die sowjetische Justiz würde sie strenger und auf anderem Wege bestrafen".418 Hinter ihrem Loyalitätsversagen verbarg sich keine Abgründe von Haß, Feindschaft und Verrat, sondern nur schlechte Charaktereigenschaften. Kljueva und Roskin hatten eine „kleine Seele", waren „undankbar" gegenüber dem sowjetischen Volk, hatten die „Würde des sowjetischen Gelehrten" verloren und sich gegenüber den Ausländern „unterwürfig und liebedienerisch" verhalten. Darin erkannte Kuprijanov auch ein mentales „Überbleibsel des Kapitalismus".419 Obwohl die Beschuldigten mit der Anklage nicht übereinstimmten, verzichteten sie vor dem Ehrengericht auf eine konsequente Selbstverteidigung und

417

Zur Satzung der Ehrengerichte vgl. Esakov. Delo KR, S. 130-133. Vgl. Esakov. Delo KR, S. 209 Das Schlußplädoyer wurde unter der persönlichen Aufsicht von Zdanov und Stalin verfaßt. 419 Esakov. Delo KR, S. 208-209.

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zeigten sich zur „Reue" bereit.420 Daß ihnen kein Verrat vorgeworfen wurde und sie nicht mit einer schweren Strafe rechnen mußten, wird ihnen diese Entscheidung erleichtert haben. Kljueva deutete dieses Motiv in ihrem Schlußwort an, als sie daran erinnerte, daß sie zwar „das formale Recht auf ihrer Seite" habe, daß es vor dem Ehrengericht „aber darauf nicht ankomme". Sie gab zu, aus „persönlichen Interessen" und aus Eigenliebe gehandelt zu haben, als sie das Buch übergab. Sie „dankte" der Obrigkeit ausdrücklich für die erteilte Lektion und verurteilte ihre „überaus schweren Fehler, die eines Patrioten ... unwürdig sind".421 Ähnlich formulierte auch Roskin sein Schuldbekenntnis.422 Die aus dem agitsud bekannte Verbindung von formaler Milde und moralischem Rigorismus wirkte vermutlich überzeugender als die hysterische Hetzjagd der „Pravda" auf Nikolaj Luzin elf Jahre zuvor. Ein Parteifunktionär Petrov beschrieb in seinem Bericht für das Zentralkomitee die Stimmung des Publikums als sehr positiv. Man hielt das milde Urteil für „großzügig" und hätte auch eine strengere Bestrafung für möglich gehalten. Manche Beobachter hätten auch die Überzeugving geäußert, daß das Ehrengericht „viel stärker und schrecklicher" wirke als das gewöhnliche Strafgericht.423 Obwohl Ehrengerichte nur in sehr geringem Umfang tätig waren (Esakov und Levina zählen gerade einmal 82 Verhandlungen), war ihre Existenz diskursgeschichtlich bedeutsam. Wie die Schauprozesse der dreißiger Jahre wurden sie zwar unmittelbar vom Politbüro inszeniert, stellten diesen gegenüber aber einen deutlichen Kontrast dar. Nachdem Stalin sich 1936 bis 1938 an seinen Feinden gerächt hatte, präsentierte er sich nun in den Ehrengerichte als milder Erzieher. Die eigentliche Strafe bestand nur noch in der theatralischen Anprangerung und rituellen Beschämung als solcher. In fast allen von Esakov und Levina dokumentierten Fällen legten die Angeklagten umfangreiche Schuldbekenntnisse ab und demonstrierten ihren Besserungswillen. Ironischerweise wurde sogar im Apparat des Zentralkomitees ein Ehrengericht installiert, wo mindestens ein Prozeß stattfand.424 Nachdem das Prinzip der Parteiversammlung die ganze Gesellschaft erfaßt hatte, sollte sich nun ausgerechnet die Parteiorganisation von einem außerparteilichen Erziehungsinstrument disziplinieren lassen. In der Nachkriegszeit erreichten die ideologischen Kampagnen in der Wissenschaft ein Ausmaß und eine politische Bedeutung wie seit 1932 nicht mehr. In der Historiographie über diese Vorgänge kam es im vergangenen Jahrzehnt 420

Vgl. z.B. ihre private Unterhaltung vom 15. Mai 1947, die vom Geheimdienst abgehört wurde. Esakov: Delo KR, S. 157-158. 421 Esakov: Delo KR, S. 199-200. 422 Esakov: Delo KR, S. 201-203. 423 Esakov: Delo KR, S. 215. 424 Esakov: Delo KR, S. 302-308. Vgl. auch Subkova: Kaderpolitik und Säuberungen in der KPdSU (1945-1953), S. 202-206 und S. 246-248.

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zu einer gewissen Akzentverschiebung. Die frühere Literatur betrachtete die Einmischung des Regimes als einen Versuch, den Akademikern „totalitäre" Allmachtsansprüche aufzuzwingen, wogegen in den jüngeren Arbeiten auch die aktive Mitwirkung der Wissenschaftler hervorgehoben wird, die in manchen Fällen sogar selbst die Initiative ergriffen. Während der Versuch inzwischen aufgegeben wurde, die angebliche Einheit einer reinen dialektisch-materialistischen Ideologie zu rekonstruieren, gerieten die Streitkultur und die „Spielregeln" der akademischen Öffentlichkeit stärker ins Blickfeld, darunter auch die „Selbstkritik".425 Intellektuelle Gruppenkämpfe wurden schon seit etwa 1930 nach den Vorbildern der innerparteilichen Demokratie ausgetragen und „Entschuldigungsrituale" wie sie Arch Getty für die Politik beschrieben hat, existierten 1947 längst in vielen Milieus außerhalb der Partei.426 Kompliziert blieb jedoch das Verhältnis dieser Spielregeln zu denjenigen der höfischen Intrige, denn nach wie vor gab letztlich das Eingreifen Stalins den Ausschlag. Die prominentesten Wissenschaftler gehörten im weitesten Sinne zu Stalins „Hofstaat" und verkörperten auf ihrem Gebiet oft die Dominanz einer bestimmten „Linie". Ähnlich wie hochrangige Parteifunktionäre mußten sie damit rechnen, aufgrund eines politischen Richtungswechsels desavouiert zu werden. Ganz ohne eigenes Zutun fiel Stalins wiedererwachtem Chauvinismus beispielsweise der Parteiphilosoph Georgij Aleksandrov zum Opfer, dessen Lehrbuch über vormarxistische Philosophie angeblich die Bedeutung der russischen Geistesgeschichte zu wenig berücksichtigte. Andrej Zdanov organisierte Versammlungen, auf denen die Kollegen und Schüler sich dazu aufgefordert fühlen mußten, die bisherige Autorität Aleksandrov „von unten" her zu kritisieren. Ähnlich wie auf Parteisitzungen war auch hier die Kritik am Individuum mit kollektiven Selbstvorwürfen verbunden: Die Philosphen mußten sich eingestehen, daß sie aufgrund „mangelnder Selbstkritik" versäumt hatten, die Fehler Aleksandrovs von sich aus rechtzeitig zu bemerken. Da Zdanov persönlich in der Diskussion die „Anklage" vertrat, blieb Aleksandrov nichts anderes übrig, als schließlich die „Fehler" seiner Arbeit einzugestehen und 425

Vgl. insbesondere Alexej Kojevnikov: Rituals of Stalinist Culture at Work: Science and the Games of Intraparty Democracy circa 1948, in: The Russian Review 57 (1998), January, S. 25-52; daneben auch: Christoph Mick·. Wissenschaft und Wissenschaftler im Stalinismus, in: Stefan Plaggenborg (Hrsg.): Stalinismus: Neue Forschungen und Konzepte, Berlin 1998; Slava Gerovitch : „Russian Scandals": Soviet Readings of American Cybernetics in the Early Years of the Cold War, in: The Russian Review 60 (2001), October, S. 545-568; Gennadij A. Bordjugow: Die Kosten des bolschewistischen Sprechens: Die Intelligenzija und der Sowjetpatriotismus, in: Dietrich Beyrau (Hrsg.): Im Dschungel der Macht. Intellektuelle Professionen unter Stalin und Hitler, Göttingen 2000, S. 300-318; Torsten Rüting: Der Kampf um Pawlows Erbe: Die Karriere des Physiologen Leon Orbeli, in: ebenda, S. 319-339; Kirill Rossijanow: Gefährliche Beziehungen: Experimentelle Biologie und ihre Protektoren, in: ebenda, S. 340-359. 426 Vgl. das dritte Kapitel dieser Arbeit.

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seine Lernbereitschaft zu beteuern.427 Dies scheint ihm auch einigermaßen gelungen zu sein; er erlitt zwar einen empfindlichen Karriereknick, wurde aber nicht zur Unperson. Die Diskussion war für 2danov zugleich Anlaß, die samokritika von einer propagandistischen Losung zu einem „philosophischen Prinzip" aufzuwerten, um die Kampagnenpraxis ideologisch zu rechtfertigen.428 Zweifellos kannte Aleksandrov das Vorbild Deborins, der 1931 auf Stalins Drängen dem „menschewistischen Idealismus" abgeschworen hatte und seitdem eine marginale, aber unbehelligte Existenz fristete. Als der junge Jurij Zdanov, der Sohn Andrej Zdanovs und seit kurzem Leiter der Wissenschaftssektion in der Agitprop-Abteilung des CK, im Frühjahr 1948 versuchte, die Vorherrschaft Trofim Lysenkos in der Biologie zu beenden, gelang es diesem jedoch, die üblichen Spielregeln der Versammlungsdemokratie mit Hilfe einer Kreml-Intrige vorübergehend außer Kraft zu setzen. Er wandte sich mit Briefen an Stalin persönlich, in denen er um Vertrauen bat und zugleich demütig seinen Rücktritt anbot. In den Worten Kojevnikovs zeigte sich Stalin „beeindruckt" und ergriff für Lysenko Partei, während er im Politbüro das Vorgehen Jurij Zdanovs verurteilte. Letzterer mußte sich daraufhin bereitfinden, in einem Brief an Stalin seinen „Fehler einzugestehen". Die Schwierigkeit von Mitspielern und Höflingen bestand vor allem darin, Stalins allzu knappe Signale richtig zu interpretieren. Es ist gewiß möglich, daß Jurij Zdanov, der Sohn seines Vaters und Ehemann von Stalins Tochter, aus Naivität seinen politischen Kredit einfach überschätzte - denkbar ist aber auch, daß irgendjemand aus dem Politbüro ihn bewußt mit falschen Hinweisen in die Falle lockte, um seinem Vater zu schaden.429 An dieser Stelle sei daran erinnert, daß sogar der versierte Intrigant Lev Mechlis 1936 zu Unrecht geglaubt hatte, für seine Hetzjagd auf Nikolaj Luzin ein Mandat von Stalin zu besitzen. Wichtiger als die innerparteilichen Kommunikationsformen war also die psychologische Kunst, Stalins Haltung richtig einzuschätzen und seine Reaktionen vorauszuahnen. Beachtung verdient auch Stalins Vorgehen, nachdem er von Jurij Zdanov das briefliche Schuldeingeständnis erhalten hatte. Er versicherte Lysenko seiner Unterstützung, vermied es aber, diese Haltung vor der anstehenden Sitzung der „Akademie der landwirtschaftlichen Wissenschaften" auch öffentlich zu demonstrieren. Kojevnikov deutet diese Zurückhaltung als einen Test, in dem Lysenko erst beweisen mußte, daß er in der Lage war, aus eigener Kraft „das Feld zu kontrollieren, die Unterstützung der Basis zu organisieren" und die Sitzung „glatt über die Bühne zu bringen". Erst nachdem ihm dies (mit 427

Kojevnikov: Rituals of Stalinist Culture at Work, S. 30-31. Kojevnikov: Rituals of Stalinist Culture at Work, S. 35-36. 429 Das Politbüro gründete sogar ein eigenes Komitee, das herausfinden sollte, wer an Zdanovs Verhalten mitverantwortlich war. Zdanov und sein Kollege Sepilov machten dazu „obskure und widersprüchliche" Angaben. Vgl. Kojevnikov: Rituals of Stalinist Culture at Work, S. 42. 428

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Hilfe von Manipulationen) einigermaßen überzeugend gelungen war, wurde Jurij Zdanovs Brief in der Presse veröffentlicht und Stalins Parteinahme auch einem größeren Publikum mitgeteilt.430 Die Lysenkoisten strebten danach, der Akademiesitzung die gleiche Bedeutung zu verschaffen wie einem politischen Abstimmungskörper. Dementsprechend erwarteten sie von allen Opponenten, daß sie wie einst die Trotzkisten ihre Fraktionstätigkeit einstellen und sich „bedingungslos entwaffnen" sollten.431 Doch im Gegensatz zu Averbach oder Lysenko sah Stalin grundsätzlich kein politisches Loyalitätsverbrechen darin, wenn Intellektuelle in einer fachlichen Auseinandersetzung auf ihrem Minderheitenvotum beharrten. Denn sie schuldeten ihre Loyalität nicht einer akademischen Doktrin oder der Mehrheit eines irrelevanten Gremiums, sondern der Person und der „Linie" des Generalsekretärs. Daneben läßt sich hier auch das alte Motiv des „Voraustrupps" und der „Verbindung mit den Massen" wiedererkennen: Ähnlich wie Stalin 1930/31 von den jungen Philosophen verlangt hatte, sie sollten aus eigener Kraft die Autorität Deborins stürzen, so erwartete er 1948 von Lysenko, daß er sich an seinem Frontabschnitt notfalls auch alleine durchsetzen konnte. Doch während es Lysenko gelang, mit Stalins Rückendeckung sein Monopol auszubauen, wurde die Autorität anderer Koryphäen bald darauf zerstört. Die Kampagnen des Jahres 1950 stellten in vieler Hinsicht einen Kontrast zur Befestigung von Lysenkos Autorität dar.432 Manche Beteiligte hatten dazugelernt: Jurij Zdanov vergewisserte sich diesmal beispielsweise erst der ausdrücklichen Zustimmung Stalins, bevor er zum Angriff auf den Physiologen Leon Orbeli überging, der angeblich das „Erbe Pavlovs" monopolisiert hatte.433 Größeres Aufsehen erregte jedoch die Kampagne gegen die Schule des 1934 verstorbenen Linguisten Nikolaj Marr, deren Anhänger nach Stalins Worten ein „Arakceev-Regime" in der Sprachwissenschaft errichtet hatten. Ähnlich wie Lysenko neigten auch die Marr-Schüler dazu, ihre Gegner mit politischen Argumenten zu denunzieren, und räumten ideologischen Postulaten gegenüber wissenschaftlichen Methoden systematisch den Vorrang ein. Sie verstanden es, ihre fachlichen Mängel durch die Beherrschung der „Spielregeln" zu kompensieren und das chauvinistische Klima der Nachkriegszeit zu nutzen. Es gelang ihnen sogar, prominente Vertreter der seriösen indogermanischen Schule wie Viktor Vinogradov zur „Entwaffnung" zu zwingen.434 Doch das nützte ihnen nichts mehr, sobald sich Stalin persönlich in den Diskurs einmischte und die Lehren Marrs verurteilte. Dabei nahm er offenbar in Kauf, die Leitlinien der chauvinistischen Propaganda zu konterkarieren. Denn anders als 430

Kojevnikov: Rituals of Stalinist Culture at Work, S. 43. Vgl. Kojevnikov: Rituals of Stalinist Culture at Work, S. 44. 432 Kojevnikov spricht daher von einem „Paradigmenwechsel". Vgl. Kojevnikov. Rituals of Stalinist Culture at Work, S. 44-50. 433 Kojevnikov. Rituals of Stalinist Culture at Work, S. 45. 434 Kojevnikov. Rituals of Stalinist Culture at Work, S. 47. 431

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im Falle Lysenkos, in dem er die Idee der Eigenständigkeit der sowjetischen Wissenschaft verteidigt hatte, rehabilitierte er nun die international anerkannten Prämissen der allgemeinen Sprachwissenschaft. Sowohl in der Verteidigung Lysenkos wie bei der Verurteilung Marrs wurde deutlich, daß auch die Beherrschung aller „Spielregeln" der „innerparteilichen Demokratie" und der „akademischen Öffentlichkeit" den Beteiligten nichts mehr nützte, sobald Stalin persönlich zum Gegenspieler wurde. Warum sich der Diktator plötzlich für ein Thema wie Sprachwissenschaft interessierte und warum er gegen die Marristen Partei ergriff, muß an dieser Stelle offenbleiben.435 Sobald Stalin sein Urteil gesprochen hatte, begann das „Spiel" mit vertauschten Rollen erwartungsgemäß wieder von vorne. Insofern Stalins Eingreifen aus Sicht der Zeitgenossen unvorhersehbar war, kann man diese Kampagnen mit Kojevnikov auch als „chaotisch" bezeichnen.436 Slava Gerovich hat beschrieben, wie die Kybernetik infolge einer rein „epiphänomenalen" Kampagne in Verruf geriet.437 Es genügte, daß einige propagandistisch gestimmte Artikel der amerikanischen Kybernetik „semantischen Idealismus" vorwarfen und sie zur „bürgerlichen Scheinwissenschaft" erklärten. Diese Wertung wurde von vielen ahnungslosen Wissenschaftsjournalisten und Parteipropagandisten kritiklos übernommen und so oft wiederholt, bis sie schließlich 1954 Eingang in die Neuausgabe des „Kurzen philosophischen Lehrbuchs" fand 438 Wer konnte schon wissen, daß das Politbüro zur Kybernetik tatsächlich überhaupt keine Meinung hatte. Möglicherweise wäre diese Kampagne anders verlaufen, wenn in der Sowjetunion eine „kybernetische Schule" existiert und diese sich gewehrt hätte. Die dysfunktionalen Entscheidungsmechanismen der stalinistischen „Öffentlichkeit" eröffneten Scharlatanen und Trittbrettfahrern ein unüberschaubares Spielfeld. Mit einer gewissen Zeitverschiebung erreichten die verschiedenen Kampagnen und Neubewertungen jeweils die Bildungseinrichtungen in der Provinz. Dort scheint der primitive Kampf gegen die „Kosmopoliten" und gegen diverse „Nationalismen" eine relativ größere Rolle gespielt zu haben als die Neubewertungen in der Philosophie, der Biologie, der Physiologie oder der Sprachwissenschaft.439 Die Kampagne zur „Reinhaltung" der Wissenschaften war dann nur ein Vorwand, um Juden und Nichtrussen aus ihren Ämtern 435

Die Vertreter der indogermanischen Schule unternahmen mehrere Versuche, sich bei Stalin über ihre ungerechte Behandlung zu beschweren. Vielleicht war es reiner Zufall, daß es dem georgischen Philologen Cikobava schließlich gelang, Stalins Gehör zu finden. Vgl. Kojevnikov: Rituals of Stalinist Culture at Work, S. 48 und Slezkine: N. Ia. Marr and the National Origins of Soviet Ethnogenetics, in: Slavic Review 56 (1996), Η. 4, S. 826-862. 436 Kojevnikov: Rituals of Stalinist Culture at Work, S. 51. 437 Slava Gerovich: „Russian Scandals": Soviet Readings of American Cybernetics in the Early Years of the Cold War, in: The Russian Review 60 (2001), October, S. 545-568. 438 Vgl. Gerovich: „Russian Scandals", S. 548. 439 Schon 1945 organisierte das CK eine lokale Kampagne gegen den kasachischen Nationalismus, insbesondere im dortigen Bildungswesen. Vgl. Dokladnye zapiski ν CK VKP(b)

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zu vertreiben. An der gesellschaftlichen Basis erhielten die „Affären" noch eine andere Bedeutung. Die Propaganda erfand eine neue Spielart des Personenkults und bezeichnete den Diktator nun auch als „Koryphäe der Wissenschaften". Mancherorts geriet der Kampf gegen Marr zu einer exorzistischen Pflichtübung, die nicht zwangsläufig Opfer produzieren mußte. Den Russischlehrern der Moskauer Mittelschulen wurde 1951 beispielsweise erklärt, daß sie den Einfluß Marrs in ihrem Unterricht auch dann bekämpfen mußten, wenn sie zuvor nicht einmal seinen Namen gehört haben sollten.440 Grundsätzlich funktionierte die intellektuelle „Öffentlichkeit" in der Nachkriegszeit also immer noch nach dem Modell, das sich Anfang der dreißiger Jahre herausgebildet hatte. Viele ehrgeizige Akteure versuchten, die Wünsche des Regimes aktiv zu eruieren und sich mit politischen Thesen und Denunziationen im Konkurrenzkampf durchzusetzen. Aber auch die „blindwütigsten Eiferer" konnten sich Stalins Rückhalt nie ganz sicher sein und wurden manchmal selbst zu Opfern. Und wie schon 1932 wurden auch 1947 die jeweiligen Verlierer trotz ihrer „politischen Fehler" nicht automatisch zu „Feinden" oder „Oppositionellen" erklärt. Aus der Sicht des Regimes handelte es sich bei diesem Vorgang lediglich um eine erzieherische „Selbstkritik von oben". Ähnlich wie 1931/32 grassierten auch nun wieder nach jedem Machtwort flächendeckend die Fehlereingeständnisse und Schuldbekenntnisse.

Schlußfolgerung In allen untersuchten Milieus wurde die Situation jeweils einem von zwei Szenarien zugeordnet: Das zu beanstandende Verhalten der Untertanen hatte entweder als Ausdruck einer feindlichen Willensbildung oder als Folge eines Erziehungsdefizits zu gelten. Auch an der Basis verhielt sich der politische Abstimmungskörper gegenüber bewußten Verweigerern tendenziell eliminatorisch. Nicht nur die Partei, sondern auch Schulen, Betriebe und intellektuelle Verbandsorganisationen organisierten Sitzungen, in denen einfache Bürger - ähnlich wie die hochrangigen Parteifunktionäre im Zentralkomitee - Plädoyers hielten und darüber abstimmten, wie mit ihren Mitschülern und Kollegen verfahren werden sollte. Manchmal führte die Ausschlußdrohung zu Schuldbekenntnissen, die entfernt an die „Kapitulationen" der Trotzkisten erinnerten. Unter Druck geratene Personen distanzierten sich dann von ihren Eltern oder Freunden, nahmen bestimmte Äußerungen zurück und beteuerten ihre Loyalität gegenüber der ο sostojanii ideologiceskoj raboty ν Kazachstane (1945 g.), in: Voprosy Istorii, 2002, Nr. 5, S. 3-13. 440 Vgl. CMAM f. 381, op. 1, d. 15,1.2. Protokol zasedanija pedagogiöeskogo soveta skoly. 16.2.1951 goda.

Schlußfolgerung

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Staatsmacht. Arbeiter, die es gewagt hatten, ihre Interessen selbst zu artikulieren, demonstrierten ihre Unterwerfung, indem sie etwa eine besonders hohe „freiwillige" Staatsanleihe zeichneten oder einer Normerhöhung zustimmten. Bei dem Verhalten, das auf solche Weise ungeschehen gemacht werden sollte, handelte es sich in der Regel eher um spontane Protestäußerungen als um Versuche einer politischen Willensbildung. Wer sich dem Verdacht ausgesetzt hatte, die Ziele des Regimes insgesamt abzulehnen, der konnte sich auch mit Schuldbekenntnissen nicht mehr helfen. Es hing in beträchtlichem Maße von der politischen Atmosphäre und vom Zufall ab, ob das Verhalten der Untertanen als bewußte „Schädlingstätigkeit" oder als Folge eines Erziehungsdefizits aufgefaßt wurde. In den dreißiger Jahren, insbesondere in der Zeit von 1935 bis 1938, neigten das Regime und folglich auch die lokale Obrigkeit dazu, überall „Schädlinge" zu entlarven. Sogar an den Mittelschulen wurden fiktive „Organisationen" aufgedeckt, die angeblich das politische Ziel verfolgt hatten, den Lerneifer ihrer Kameraden bewußt zu untergraben. Doch in den folgenden Jahren favorisierten dieselben Instanzen eine optimistischere „pädagogische" Sichtweise: Disziplinverletzer wurden nun nicht mehr so leicht als Handlanger des „Feindes", sondern eher als „schwarze Schafe" angesehen, die man mit den Methoden der strafenden Abschreckung, der „einfühlsamen" Kontrolle und durch die moralische Beschämung wieder auf den rechten Weg zurückfuhren konnte. Die Gemeinschaft der „ehrlichen Sowjetmenschen" definierte sich dann als partriarchalische Großfamilie, deren Mitglieder im Umgang miteinander je nach Rangverhältnis den Habitus von Kindern, Schülern, Eltern oder Lehrern einnahmen. „Um jeden von uns sorgt sich Stalin im Kreml", so verkündete ein Plakat von 1940, das den Generalsekretär bei der nächtlichten Arbeit an seinem Schreibtisch zeigte.441 Nach Ansicht Oleg Kharkhordins hatten die Massenverhaftungen nicht zuletzt den Zweck erfüllt, in den sowjetischen Kollektiven „nach vielen gescheiterten Versuchen" endlich ein wirksames System der gegenseitigen Überwachung zu installieren.442 Das hier ausgewertete Quellenmaterial ist jedoch nicht geeignet, diese Annahme empirisch zu untermauern. Es gibt keine Hinweise darauf, daß die Mechanismen der Überwachung und Disziplinierung 1940 wesentlich besser funktioniert hätten als 1934 - möglicherweise war sogar das genaue Gegenteil der Fall. Plausibel scheint jedoch die Annahme, daß das Regime, nachdem es hunderttausende seiner ehemaligen, vermeintlichen und potentiellen Gegner getötet hatte, sich selbst subjektiv erheblich sicherer fühlte und daher in höherem Maße bereit war, den in Freiheit verbliebenen Untertanen grundsätzliche Besserungsfahigkeit zu unterstellen. Reuebekennt441

Das Plakat wurde von V. Govorkov entworfen. Vgl. Verlag „Kontakt-kul'tura" (www.plakat.ru). 442 Vgl. Kharkhordin: The Collective and the Individual, S. 128.

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nisse und andere Rituale hatten sich als untaugliches Verfahren erwiesen, das einmal verlorengegangene Vertrauen wiederherzustellen. Stalin wählte ein anderes Mittel, um die im freien Willen seiner Untertanen vorhandene Kontingenz zu reduzieren: Seine alten Gegner tötete er und den übrigen Untertanen zwang er den Habitus ewig unmündiger Schulkinder auf.

V. Schuldbekenntnisse im Gefängnis und vor Gericht Einleitung Solange sich die Sowjetbürger in Freiheit befanden, kommunizierten sie mit dem Regime und der Obrigkeit zumeist in der Öffentlichkeit der Sitzungen und Versammlungen. Im Gefängnis schließlich waren sie nicht länger Mitglied eines sowjetischen Kollektivs oder Abstimmungskörpers. Dort war es der Untersuchungsrichter, mit dem sie sich auseinanderzusetzen hatten. Andererseits waren auch Gerichtsverhandlungen in der Sowjetunion ein wichtiger Teil des öffentlichen Lebens. Grundsätzlich folgte die Justiz einer ähnlichen Zweiteilung wie auch die Öffentlichkeit: Sie unterschied zwischen solchen Straftaten, die sie als Ausdruck einer „feindlichen" politischen Willensbildung auffaßte, und solchen, die sie als Folge eines Erziehungsdefizits interpretierte. Diese Unterscheidung entsprach keineswegs deqenigen zwischen „Schauprozessen" und gewöhnlichen Gerichtsverhandlungen: Nach sowjetischem Verständnis gab es auch kleine „Schauprozesse" (pokazatel'nye processy), die sich nur mit Bagatelldelikten befaßten, während politische Prozesse häufig auch nichtöffentlich verhandelt wurden.1 Im folgenden Kapitel soll untersucht werden, welche Bedeutung und welchen sozialen Sinn das Regime, die Justiz und die Angeklagten den Selbstverurteilungen, Besserungsversprechen und strafrechtlich relevanten Geständnissen beimaßen, die vor Gericht abgelegt wurden. Es soll danach gefragt werden, wie sich die erzwungenen Geständnisse zur „Selbstkritik", zu oppositionellen Kapitulationen und zu pädagogischen Schuldbekenntnissen verhielten. Weshalb gab sich die Justiz bei der Abwicklung der „großen Säuberungen" solche Mühe, von ihren Opfern Geständnisse zu erhalten? Läßt sich die Geständnisbereitschaft der ehemaligen Oppositionellen auf einen bolschewistischen Moralkodex zurückfuhren, den Täter und Opfer gleichermaßen anerkannten? Ließ sich die stalinistische Justiz von einer ähnlichen Rechtsauffassung leiten wie die mittelalterliche Inquisition? Gab es eine spezifisch bolschewistische Moral, nach deren Maßstäben die konstruierten Anklagen, die erfolterten Geständnisse und die terroristischen Urteile trotz allem so etwas wie „Gerechtigkeit" herstellten? 1 In deutschsprachigen Publikationen wird der Begriff „Schauprozeß" oft irreführend gebraucht, wie etwa im Buchtitel „Schauprozesse unter Stalin. 1932-1952. Zustandekommen, Hintergründe, Opfer. Mit einem Vorwort von Horst Schützler, Berlin 1990". (Auf russisch erschien fast das gleiche Buch unter einem anderen Titel: Α. N. Jakovlev [Red.]: Reabilitacija: Politiceskie processy 30-50-ch godov, Moskau 1991.) Das Wort „Schauprozeß" sollte dem deutschen Leser offenbar signalisieren, daß die beschriebenen Prozesse (von denen gleich mehrere unter dem Ausschluß der Öffentlichkeit stattfanden) der politischen Repression dienten.

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V. Schuldbekenntnisse im Gefängnis und vor Gericht

Wie man sehen wird, lassen sich nicht alle diese Fragen eindeutig beantworten, da sich das Geständnis der Angeklagten auf mehrere Handlungs- und Wertesysteme gleichzeitig beziehen konnte. Im sowjetischen Schauprozeß standen sich nicht nur der Angeklagte und die Justiz gegenüber: Beide befanden sich auf einer großen Bühne und agierten vor den Augen mächtigerer Instanzen wie auch vor einer unübersehbaren Anzahl von Zuschauern. Abhängig von der Situation und vom Zweck konnten die beteiligten Akteure ihr Verhalten auf unterschiedliche Weise interpretieren. Im Zusammenhang damit scheint es sinnvoll, der sichtbaren Rolle und dem Habitus des Angeklagten insgesamt Beachtung zu schenken. Trat er als ein Subjekt auf, das über einen freien Willen verfugte und sich aus eigenem Entschluß für das Gute wie das Böse entscheiden konnte? Legte das Gericht Wert auf seine Parteinahme für die Sowjetmacht? Oder wurde er dem Publikum lediglich als ein negatives Anschauungsobjekt vorgeführt, das unweigerlich vernichtet werden mußte? Nicht näher eingegangen werden soll indessen auf die Frage, inwieweit Stalin und seine Mitarbeiter, die die Fabrikation der Untersuchungsmaterialien persönlich vorantrieben und die Prozesse für sich politisch zu nutzen wußten, nicht auch tatsächlich an die Existenz feindlicher Komplotte beziehungsweise an eine wie auch immer zu definierende „Schuld" der Angeklagten glaubten.2 Am Anfang dieses Kapitels soll auf diejenigen „Schauprozesse" eingegangen werden, die sich nicht gegen eine feindliche Willensbildung richteten; anschließend werden in chronologischer Reihenfolge die politischen Prozesse vorgestellt.

1. Der gewöhnliche Strafprozeß als „Schauprozeß" Die Bolschewiki strebten stets danach, ihrer Rechtssprechung auch eine propagandistische Wirkung zu verleihen. Wenn ihnen eine Strafsache von „prinzipieller gesellschaftlicher Bedeutung" zu sein schien, versuchten sie, 2

Es gibt Hinweise, die diese Vermutung nahelegen. Molotov gab sich noch dreißig Jahre später überzeugt, daß Bucharin „schuld" war, wobei es für ihn nicht auf nachweisbare Tatsachen ankam. Daß Bucharin sich einiger Verbrechen für schuldig bekannte, an denen er nachweislich unschuldig war, war für Molotov ein weiterer Beweis seiner Schuld: „Sie [die Angeklagten] haben sich solche Dinge angehängt, um damit zu zeigen, wie sehr auch alle anderen Anschuldigungen dumm sind. Das war ein Kampf gegen die Partei." Vgl. F. Cuev: Sto sorok besed s Molotovym. Iz dnevnika F. Cueva, Moskau 1991, S. 401. Ebenso überzeugt war er von einem geheimen Bündnis zwischen Trockij und Hitler: „Aber sie [die Oppositionellen] hatten Verbindungen zu Hitler... Trockij hatte Verbindung zu ihm, da gibt es keinerlei Zweifel. Hitler war ein Abenteurer und Trockij war ein Abenteurer, sie haben etwas Gemeinsames. Und mit ihm waren die Rechten verbunden - Bucharin und Rykov. So waren alle miteinander verbunden." Ebenda, S. 413. Molotov hätte in den siebziger Jahren längst keinen Grund mehr gehabt, solch abwegige Gedanken zu äußern, wenn er nicht an sie geglaubt hätte.

1. Der gewöhnliche Strafprozeß als „Schauprozeß"

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der Gerichtsverhandlung maximale Aufmerksamkeit zu verschaffen. Um die erwünschten Zuschauer anzuziehen, wurden solche Prozesse dann mitunter aus dem Gerichtsgebäude in Arbeiterklubs oder Fabrikhallen verlegt. In ländlichen Gegenden suchte das Gericht manchmal den Ort des Verbrechens auf, um dort sein Urteil zu sprechen. Im Sprachgebrauch der Zeitgenossen wurden diese „Schauprozesse" (pokazatel 'nye processy) daher auch häufig mit „auswärtigen Gerichtssitzungen" (vyezdnye processy) gleichgesetzt. Die „proletarischen Massen" sollten auch an gerichtsfernen Orten an die Existenz und Gültigkeit von Rechtsnormen erinnert und durch die Berufung von Beisitzern und „öffentlichen Anklägern" (obscestvennye obviniteli) in die Urteilsfindung mit einbezogen werden. Peter Solomon erkennt eine äußere Ähnlichkeit dieser sowjetischen Praxis mit der englischen Strafgerichtsbarkeit des achtzehnten Jahrhunderts.3 Es herrschte der Wunsch, das Urteil der Gesellschaft mit demjenigen der professionellen Justiz in Übereinstimmung zu bringen. Zusätzliche Bedeutung erhielten die Schauprozesse durch die erste „Selbstkritik"-Kampagne von 1928. Idealerweise sollte die Staatsanwaltschaft den Proletariern im Kampf gegen die rechtsvergessenen „Bürokraten" als Freund und Helfer zur Seite stehen.4 So kam es infolge der Smolensker Affäre zu einer Serie von offenen Gerichtsverhandlungen, von denen einige als Schauprozesse gefuhrt wurden.5 Die Einleitung eines Strafverfahrens war dann gewissermaßen die Fortsetzung der „Selbstkritik von unten" mit den Mitteln des Obrigkeitsstaates. Im Alltag blieb dieses Szenario eher eine Wunschvorstellung, da die zuständigen Staatsanwaltschaften von der lokalen Parteiführung abhängig waren. Erst als 1937 die lokalen Machtstrukturen zerbrachen, kam es in der Provinz zu einer regelrechten Flut von Schauprozessen gegen Partei- und Sowjetfunktionäre.6 Doch nicht immer saßen ehemalige Amtsträger auf der Anklagebank. Auch den kleinen Diebstählen oder Arbeitsversäumnissen der Arbeiter und Bauern wurde mitunter „prinzipielle Bedeutung" beigemessen.7 Solche Fälle wurden freilich häufig dem Kameradschaftsgericht übertragen, also gewissermaßen der abgemilderten Variante des Schauprozesses. Wenn der nichtpolitische Schauprozeß der zwanziger Jahre ein Erziehungsdrama war, welche Rolle spielte in ihm dann das Reuebekenntnis des Angeklagten? In den von Krylenko und Vysinskij zusammengestellten Sammlun3

Solomon: Sovetskaja justicija pri Staline, S. 38. Im Mai und Juni unterzeichnete der Justiz-Volkskommissar der RSFSR eine Reihe von Dekreten, in denen die Justiz angeleitet wurde, wie sie die Massen im Kampf gegen den Bürokratismus unterstützen sollte. Zu deren Wortlaut vgl. A. G. Zvjagincev, Ju. G. Orlov (Hrsg.): Raspjatye revoljuciej. Rossijskie i sovetskie prokurory. XX vek, Moskau 1998, S. 378-393. 5 Vgl. Kodin: „Smolenskyj naryv", S. 59-63. 6 Vgl. Fitzpatrick: How the Mice Buried the Cat: Scenes from the Great Purges of 1937 in the Russian Provinces, in: The Russian Review 52 (1993), July, S. 299-320. Vgl. auch das Kapitel „Bread and a Circus" in: Kotkin: Magnetic Mountain. 7 Vgl. die Beispiele aus dem vierten Kapitel. 4

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V. Schuldbekenntnisse im Gefängnis und vor Gericht

gen von Musterprozessen (die den provinziellen Richtern als Richtschnur dienen sollten) wurden die Plädoyers der Verteidigung und die Schlußworte der Angeklagten nicht wiedergegeben.8 Soweit es sich jedoch aus den Plädoyers des Staatsanwalts und aus den Urteilen ersehen läßt, scheinen Anfang der zwanziger Jahre in nichtpolitischen Strafsachen nur selten Reuebekenntnisse gefordert oder honoriert worden zu sein. Der Staatsanwalt begründete, weshalb er die Angeklagten für schuldig hielt, zeichnete ein Bild von ihren Charakteren und forderte abgestufte Urteile. Eingestandenermaßen ließ er sich dabei sowohl von seinem Klassenbewußtsein als auch von der Staatsräson, von moralischen Erwägungen und vom Erziehungsgedanken leiten. Revolutionäre Verdienste eines Angeklagten konnten sich strafmildernd auswirken. Vysinskij forderte Nachsicht für diejenigen, „die durch bösen Zufall auf den Weg des Verbrechens" geraten, aber fähig waren, „zu edlen Heldentaten und zu schöpferischer Arbeit zurückzufinden".9 In seltenen Fällen betrachtete die Justiz das Schuldbekenntnis als Anzeichen dafür, daß die Besserung bereits eingetreten war - offenbar vor allem dann, wenn sie regimenahe Delinquenten vor Bestrafung schützen wollte. Im Prozeß gegen einige Tschekisten, die den Chef der Moskauer Wasserwerke willkürlich terrorisiert hatten, polemisierte Krylenko 1922 gegen diese Unsitte: „Wir sind nicht hier, um zu spaßen.... Das Gesetz richtet sich gegen jeden, der die Diktatur des Proletariats untergräbt. ... Mögen diese ... Paragraphen in ihrer ganzen Strenge Anwendung finden! Ein wirkliches Urteil muß hier ausgesprochen werden, nicht nur das Geleitwort: ,Du hast gesündigt - nun gehe dahin und sündige nicht mehr'."10

Doch sein Engagement blieb vergeblich. Im Falle der übereifrigen Tschekisten folgte das Gericht dem christlichen Topos von „Reue und Vergebung" und ließ vier von fünf Angeklagten „angesichts ihrer reinherzigen Reue" mit einem „öffentlichen Tadel" davonkommen." Als im Februar 1922 der Fall der finnischen Kommunisten verhandelt wurde, die im August 1920 bei einer Schießerei in Petrograd einige Mitglieder ihrer Parteiführung getötet hatten, war es Krylenko selbst, der die Angeklagten zur Reue aufforderte. Er hielt es immerhin für möglich, daß die Täter, die der linken Arbeiteropposition nahestanden, in gutem Gewissen gehandelt hatten, und hoffte, die Totschläger „der Revolution erhalten" zu können.

8

Vgl. Nikolaj V. Krylenko: Zapjat' let. 1918-1922 gg. Obvinitel'nye reci po naibolee krupnym processam, zaslusannym ν moskovskom i verchovnom revoljucionnych tribunalach, Moskau/Petrograd 1923; Andrej W. Wyschinski: Gerichtsreden, Berlin 1951. 9 So etwa im Falle Posiguns. Wyschinski'. Gerichtsreden, S. 194-195. 10 Krylenko: Za pjat' let, S. 459. Es handelt sich um den Prozeß „Über den Selbstmord des Chefingenieurs der Moskauer Wasserleitung Oldenborger". Vgl. dazu Solschenizyn: Der Archipel Gulag. Versuch einer künstlerischen Bewältigung, Bern 1974, S. 322-327. " Krylenko: Za pjat' let, S. 459.

1. Der gewöhnliche Strafprozeß als „Schauprozeß"

331

„Dafür braucht es eines: Eine bestimmte Erklärung der Angeklagten, daß sie ihre Schuld eingesehen haben, begriffen haben, was für einen falschen Schritt sie getan haben.... Wenn denn das der Fall ist, dann sprechen wir eine gemeinsame Sprache.. ."'2

Aus dem Urteil geht nicht hervor, ob die Täter dieser Aufforderung nachkamen, doch lassen die milden Strafen solches vermuten. Das Gericht verurteilte nur den Haupttäter Elorant zum Tode, amnestierte ihn aber im selben Moment zu fünf Jahren Haft. Die anderen erhielten Strafen von bis zu fünf Jahren und sollten ebenfalls von Amnestieverordnungen profitieren. Das VCIK jedoch stellte sich der Amnestierung entgegen und ordnete die sofortige Erschießung Elorants an.13 Aus der Sicht des Jahres 1937, als viele Menschen allein aufgrund ihrer ehemaligen Zugehörigkeit zur Arbeiteropposition erschossen wurden, wirkt Krylenkos Hoffnung auf die Reintegration der oppositionellen Mörder geradezu sensationell. Unter den nichtpolitischen Schauprozessen verdient die 1933 verhandelte Strafsache der „Verladung unvollständig ausgestatteter Mähdrescher" besondere Beachtung.14 Funktionäre eines Landmaschinenkombinats wurden angeklagt, entgegen einer ausdrücklichen Regierungsanweisung Mähdrescher an die Kunden ausgeliefert zu haben, die aufgrund fehlender Einzelteile nicht funktionsfähig waren. Vergleichbare Praktiken waren im Chaos der jungen Planwirtschaft allgemein üblich und wurden nur selten bestraft. Nun aber hatte sich Stalin entschlossen, ein weithin sichtbares Exempel zu statuieren.15 Die Veranstalter wählten die mildeste Variante des Erziehungstheaters: Den Angeklagten wurde zwar eine „verbrecherische Verantwortungslosigkeit", aber keine bewußte „Schädlingstätigkeit" unterstellt - sie waren keine „Volksfeinde" und hatten nicht im Auftrag Poincares, Deterdings oder Trockijs gehandelt. Wie im Kameradschafts- oder dem späteren Ehrengericht lag der Schwerpunkt der Bestrafung in der Beschämung und Anprangerung als solcher. Laut Vysinskij bestand die Aufgabe des Gerichts darin, auf die Massen „moralisch einzuwirken" und J e n e Atmosphäre zu schaffen, die schon allein der sicherste Garant dafür ist, daß sich ähnliche Verbrechen in Zukunft nicht wiederholen".16 Fünf Angeklagte wurden zu Fristen von drei bis zwölf Monaten Zwangsarbeit verurteilt, in sechs weiteren Fällen beschränkte sich das Gericht angesichts der Verdienste wie auch der „aufrichtigen Reue" der Angeklagten auf die Erteilung eines „öffentlichen Tadels" beziehungsweise einer „Verwarnung".17

12

Krylenko'. Za pjat' let, S. 489. Krylenko·. Za pjat' let, S. 490-491. 14 Wyschinski: Gerichtsreden, S. 197-236. 15 Der Versuch Ordzonkidzes, die Maßnahme in Stalins Abwesenheit zu unterlaufen, führte zu einem kurzen Streit im Politbüro. Vgl. Stalins Briefe an Molotov vom 1. und 12. September 1933, in: Chlevnjuk: Pis'ma Stahna Molotovu, S. 247-249. 16 Wyschinski: Gerichtsreden, S. 236. 17 Wyschinski·. Gerichtsreden, S. 236. 13

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V. Schuldbekenntnisse im Gefängnis und vor Gericht

Eine ganz andere Dynamik entfalteten die vielen Schauprozesse, die 1937 in der Provinz abgehalten wurden. Hier knüpften die Staatsanwälte unmittelbar an Vorwürfe wie Korruption und Amtsmißbrauch an, die seit der ersten „Selbstkritik"-Kampagne stets gegen die „Bürokratie" im allgemeinen erhoben worden waren. Nun wurden sie aber gegen konkrete Amtsträger angewandt und häufig noch um den Tatbestand der „antisowjetischen Tätigkeit" nach Artikel 58 erweitert.18 Die ewigen Klagen der Bevölkerung und die paranoide Schädlingsjagd ergänzten sich gegenseitig. Aleksandr Solzenicyn hält diese provinziellen Schauprozesse für einen propagandistischen Mißerfolg des Regimes, da die Angeklagten sich im Unterschied zu Zinov'ev oder Bucharin häufig weigerten, ihre Schuld zu bekennen.19 Doch möglicherweise beurteilte Solzenicyn diese Spektakel zu sehr nach den dramaturgischen Maßstäben der großen Bolschewikenprozesse. Vermutlich mußte die Justiz gar keine unanfechtbaren Beweise vorlegen, um die Bevölkerung auf ihrer Seite zu wissen. Sheila Fitzpatrick geht davon aus, daß die Kolchosbevölkerung in obligatorischen Tötungsplebisziten ihre authentische Schadenfreude zum Ausdruck brachte: Die Katze war tot und die Mäuse tanzten auf ihrer Beerdigung.20 Die ausgewählten Sündenböcke spielten im Gerichtsspektakel die passive Rolle von negativen Anschauungsobjekten, auf deren Kooperation es nicht weiter ankam. Auch das Strafmaß wurde offensichtlich am stärksten von saisonalen Faktoren beeinflußt: Im Frühjahr 1937 erhielten die Hauptangeklagten jeweils zehnjährige Gefängnisstrafen, im Herbst wurden sie fast immer zum Tode verurteilt.21 Die Justiz folgte nun einem demagogischen Lynch-Szenario, in dem der Gedanke der Individualerziehung oder der Topos von „Reue und Vergebung" keinen Platz mehr hatten. Im Umgang mit den einfachen Untertanen machte sich über die dreißiger Jahre hinweg langfristig eine ähnliche Entwicklung bemerkbar. Die Befugnisse der erzieherischen Kameradschaftsgerichte wurde durch die drakonische Gesetzgebung immer mehr eingeschränkt. In den Schauprozessen, die der Bevölkerung die Bedeutung der Verordnung vom 26. Juni 1940 verdeutlichen sollten, war es der Justiz sogar ausdrücklich verboten, mildernde Umstände oder die Reue des Angeklagten zu berücksichtigen.22

18

Fitzpatrick·. How the Mice Buried the Cat, S. 305 " Solschenizyn: Der Archipel Gulag, S. 398^09. 20 Vgl. Fitzpatrick: How the Mice Buried the Cat, S. 317-318. 21 Fitzpatrick: How the Mice Buried the Cat, S. 305-306. 22 Vgl. das vierte Kapitel.

2. Schauprozesse, die sich gegen eine feindliche Willensbildung

richteten

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2. Schauprozesse, die sich gegen eine feindliche Willensbildung richteten In den Anfangsjahren ihrer Herrschaft lehnten die Bolschewiki das Ideal der Rechtsstaatlichkeit ebenso ab wie sittliche Konzeptionen von „Schuld und Sühne".23 Die zunächst vorherrschende nihilistische Rechtsauffassung sah in der politischen Justiz eher ein Mittel zur Fortsetzung des Bürgerkriegs mit anderen Mitteln. Bei der Urteilsfindung und der Festlegung des Strafmaßes kam es folglich weniger auf die genaue Wahrheitsfindung an als auf die Einschätzung der „Gefährlichkeit" des Angeklagten. Der neue Staat wollte sich an seinen Gegnern angeblich nicht für Vergangenes rächen, sondern sich in der Zukunft vor ihnen schützen.24 Darüber hinaus begriffen die Bolschewiki die Justiz auch als ein probates Propagandamittel. In den frühen zwanziger Jahren organisierten sie eine Reihe großer politischer Schauprozesse, in denen auch der Selbstverurteilung der Angeklagten eine gewisse strafmildernde Bedeutung beigemessen wurde. Im 1920 vor dem Obersten Revolutionstribunal des VCIK verhandelten Prozeß gegen das sogenannte „taktische Zentrum" wurde diese Politik bereits exemplarisch praktiziert.25 Das „taktische Zentrum" war eine Erfindung der CK und sollte offenbar den liberalen Flügel der politisch aktiven Intelligenz symbolisieren.26 Einige der Angeklagten - gesellschaftlich engagierte Wissenschaftler und Intellektuelle - hatten sich im Lauf des Jahres 1919 mehrmals privat getroffen und politische Ansichten ausgetauscht. Die CK sah hingegen in diesem Gesprächskreis eine konterrevolutionäre Gruppe, die versucht habe, von Moskau aus Denikin zum Sieg zu verhelfen. Der Ankläger Krylenko gab sich keine besondere Mühe, die kriminellen Aktivitäten der Beschuldigten im einzelnen nachzuweisen.27 Tatsächlich richtete sich seine Rede nicht so sehr gegen die angeklagten Individuen, sondern gegen die Intelligenz als gesellschaftliche Schicht, die sich endlich zweifelsfrei auf die Seite der 23

Zur Justiz in den Anfangsjahren vgl. Solomon: Sovetskaja Justicija pri Staline, S. 17-48. In der Praxis regierten weitgehend Willkür, Zufall und Ratlosigkeit. Die Revolutionstribunale, deren Handlungsfreiheit bis zum Sommer 1922 weder durch eine Strafprozeßordnung noch durch ein Strafgesetzbuch eingeschränkt wurde, schwankten zwischen der sofortigen Erschießung und vergleichsweise kurzen Freiheitsstrafen. Vgl. Salomon: Sovetskaja justicija pri Staline, S. 17-25. Vgl. Auch Michael Jakobson: Origins of the Gulag. The Soviet Prison Camp System 1917-1934, Lexington/Kentucky 1993. 25 Zu diesem Prozeß, der vom 16. bis zum 20. August 1920 stattfand, vgl. Krylenko: Za pjat' let, S. 28-56. (Dieselbe Rede befindet sich mit geringfügigen Kürzungen auch in: Ν. V. Krylenko: Sudebnye reci Izbrannoe, 1964.) Vgl. dazu auch den sarkastischen Kommentar Aleksandr Solzenicyns zu Krylenkos Reden: Alexander Solschenizyn: Der Archipel Gulag, Bern 1973, S. 314-320. 26 Zur Vorbereitung des Prozesses vgl. Vitali Sentalinskij: Donos na Sokrata, in: Novyj Mir, 1996, Nr. 11. 27 Vgl. Krylenko: Za pjat' let, S. 4 1 ^ 3 . 24

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Sowjetmacht stellen müsse.28 Offenbar versuchten fast alle Angeklagten, dieser Forderung dadurch nachzukommen, daß sie sich zu ihren Irrtümern bekannten und beteuerten, sich künftig gegenüber der neuen Macht loyal verhalten zu wollen.29 Krylenko reagierte auf diese Erklärungen mißtrauisch, in der Sache aber positiv. Er bezeichnete diesen Wandel ihrer politischen Haltung zwar nur als opportunistische Konsequenz aus der weißen Niederlage im Bürgerkrieg, wollte einige Angeklagte aber dennoch sofort in die Freiheit entlassen, um ihnen somit die Gelegenheit zu geben, ihre Loyalität „mit Taten" zu beweisen.30 Das Gericht ging auf diesen Vorschlag nicht ein. Gerade einmal zwei von über zwanzig „reuigen" Angeklagten wurden aufgrund ihrer Erklärungen freigelassen. Neunzehn Angeklagte wurden zum Tode verurteilt, doch wurde diese Strafe „... in Anbetracht ihrer mehr oder weniger vollständigen Reue und ihres aufrichtigen Wunsches, für die Sowjetmacht zu arbeiten, und aufgrund ihrer entschiedenen Verurteilung des bewaffneten weißgardistischen Aufmarsches und der ausländischen Interventionen..."

bei allen erheblich gemildert. Die vier Hauptangeklagten erhielten eine Strafe von zehn Jahren Gefängnis. 31 Eindeutiger als in vielen späteren Prozessen definierte die sowjetische Justiz sich hier selbst als ein rein politisches Kampfmittel. Die Anklage unternahm keine Anstrengungen, den Angeklagten über den Versuch einer politischen Willensbildung hinaus andere Verbrechen nachzuweisen. Somit bestand auch keine Notwendigkeit, Fakten aufwendig zu falschen oder Geständnisse zu erfoltern - es genügte, die zweifelsfrei gesicherten Tatsachen einseitig zu interpretieren und die Unschuldsvermutung auf den Kopf zu stellen. Bei der von Krylenko im Einleitungstext seines 1923 erschienen Sammelbandes spöttisch erwähnten „Selbstgeißelung" (splosnoe samobicevanie) der Angeklagten hingegen handelte es sich offenbar nicht um juristisch verwertbare Geständnisse, in denen sie geheimes Täterwissen offenbart oder konkrete Straftaten zugegeben hätten, sondern um rein politische Loyalitätserklärungen. Wenn die Angeklagten selbst von ihren „Fehlern" sprachen, dann meinten sie damit ihre früheren politischen Meinungen, Absichten und Hoffnungen, die sich inzwi28

Vgl. Krylenko: Za pjat' let, S. 33 und S. 50-52. Eine bemerkenswerte Ausnahme machte offenbar Aleksandra Tolstaja, die an den Gesprächen selbst gar nicht teilgenommen hatte. Vgl. Sentalinskij: Donos na Sokrata. 30 Jedoch wollte Krylenko seine Milde keineswegs als Gegenleistung in einer Art Tauschgeschäft aufgefaßt wissen: „Bürger Kondrat'ev hat vor dem Gericht offen den Wandel seiner Überzeugungen bekannt, und ich glaube das Recht zu haben, für ihn keine Bestrafung zu fordern. Ich möchte nicht, daß Kondrat'ev mich so versteht, daß er mit seiner Erklärung seine Schuld beglichen hätte; ich will nicht, daß irgendjemand meint, daß die Erklärung der staatsbürgerlichen Loyalität genügt, um von der Anklagebank in die Freiheit zu kommen nein. Ich wollte in der Erklärung Kondrat'evs den Ton echter Aufrichtigkeit hören - und ich bin sicher, daß ich sie gehört habe, und fordere daher keinerlei Bestrafung..." Krylenko: Za pjat' let, S. 51-52. 31 Krylenko: Za pjat' let, S. 55. 29

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sehen als irrig herausgestellt hatten.32 Ihr jetziges Loyalitätsversprechen rührte wohl daher, daß sich dieses Regime als unerwartet standfest erwiesen hatte und weiterer Widerstand sinnlos erschien. Aber auch diese bedingte Loyalität wußte das sowjetische Gericht 1920 durchaus zu honorieren. Ungleich spektakulärer verlief im Sommer 1922 der Schauprozeß gegen die Partei der rechten Sozialrevolutionäre (PSR). Während das „taktische Zentrum" kaum mehr als eine Erfindung der CK gewesen war, hatte die PSR wirklich existiert. Mitglieder und Gesinnungsfreunde der Sozialrevolutionäre hatten 1918 den Volkskommissar für das Pressewesen, Moisej Volodoraskij und den deutschen Botschafter Graf Mirbach erschossen, ein Attentat auf Lenin verübt und im Bürgerkrieg stellenweise gegen die Bolschewiken gekämpft.33 Dennoch blieb die bolschewistische Justiz - die sich inzwischen auf das neu eingeführte Strafgesetzbuch und eine Strafprozeßordnung festgelegt hatte ganz ihrem politisierten Selbstverständnis verhaftet. Die Anklageschrift war nach Trockijs Wunsch mehr eine politische Verdammungsschrift gegen die PSR insgesamt als eine Anklage gegen die einzelnen Sozialrevolutionäre.34 Ihr eigentliches Verbrechen bestand folglich nicht in den Mordanschlägen auf Diplomaten und Politiker, sondern in ihrem Kampf gegen die Bolschewiki. Daher zeigte die Anklage keinen besonderen Ehrgeiz, den einzelnen Angeklagten die individuelle Mitwirkung an diesen Verbrechen stichhaltig nachzuweisen.35 Die ebenfalls als Anklägerin auftretende Clara Zetkin behauptete sogar, daß die Schuld der Angeklagten nicht in ihren Taten begründet liege, sondern in ihren Absichten. Erst das Ziel, die Sowjetmacht zu stürzen, hatte ihrem Vorgehen einen kriminellen Charakter verliehen.36 Im Einklang mit dieser Logik verlangte das Gericht von den Angeklagten auch nicht so sehr kriminalistisch verwertbare Geständnisse als das Eingeständnis ihres politischen Scheiterns. Schon im Verlauf der Ermittlungen hatte die Staatsanwaltschaft die Angeklagten in zwei Gruppen eingeteilt: Die erste Gruppe bestand aus den prominenteren Parteiführern, die ihrer Sache treu bleiben wollten - die zweite Gruppe aus zweitrangigen Parteimitgliedern, die ihren politischen Fehler „eingesehen" hatten und mit der sowjetischen Justiz bereitwillig kooperierten. Die Beweisführung der Anklage beruhte im wesentlichen auf den Aussagen von Mitgliedern dieser zweiten Gruppe. Die erste Gruppe der „hartnäckigen" Parteiführer weigerte sich jedoch, Demut zu zeigen. Im Gegenteil betrachteten sie den Prozeß als eine willkommene Gelegenheit, sich im klassischen revolutionären Stil als Helden und Märtyrer 32

Vgl. Krylenko: Za pjat' let, S. 33 und S. 50-51. Zum Prozeß gegen die Sozialrevolutionäre vgl. Marc Jansen: A Show Trial under Lenin. The Trial of the Socialist Revolutionaries, Moscow 1922, Amsterdam 1982, Krylenko: Za pjat' let. 34 Jansen: A Show Trial under Lenin, S. 52. 35 Jansen: A Show Trial under Lenin, S. 104. 36 Jansen: A Show Trial under Lenin, S. 119. 33

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zu inszenieren und die existierende Herrschaft öffentlich anzuprangern. Sie lehnten es ab, sich von ihrer eigenen politischen Vergangenheit oder von anderen Sozialrevolutionären zu distanzieren. Als der Vorsitzende Richter Georgij Pjatakov die Angeklagten schließlich dazu aufforderte, im Schlußwort zu sagen, wie sie sich im hypothetischen Fall ihrer Freilassung verhalten würden, hatte er ihnen ein willkommenes Stichwort gegeben. Sie erklärten, daß sie in diesem Fall ihren politischen Kampf fortsetzen wollten und daß sie sich vor der Todesstrafe nicht fürchteten.37 Das Urteil folgte der gleichen Logik wie die Anklage: Die unbeugsamen Angeklagten wurden teils zu langjährigen Haftstrafen, teils zur Erschießung verurteilt. Die Todeskandidaten sollten jedoch auf unbestimmte Zeit als Geiseln am Leben gelassen werden: Für den Fall, daß die PSR ihren politischen Kampf fortsetzen werde, behielt man sich jedoch vor, das Urteil doch noch zu vollstrecken.38 Die Angeklagten der zweiten Gruppe wurden zwar ebenfalls verurteilt, aber sogleich begnadigt. Da sie sich nach Auffassung des Gerichts „in gutem Gewissen getäuscht" hatten, als sie glaubten, „ihre Verbrechen im Interesse der Revolution begangen" zu haben, da sie nur durch einen „tragischen Zufall" unter die Konterrevolutionäre geraten seien, da sie „die ganze Schwere ihrer Verbrechen begriffen" hätten und da man ihnen glauben dürfe, daß sie künftig „in den Reihen der Arbeiterklasse für die Sowjetmacht kämpfen" wollten, bat das Tribunal um ihre sofortige Freilassung. Sie wurde vom VCIK auch umgehend angeordnet.39 Zukunftsorientierte politische Bekenntnisse wurden bei der faktischen Strafbeimessung also nach wie vor viel stärker berücksichtigt als die Kooperation bei der Beweisführung. Das Tribunal gegen die Sozialrevolutionäre wurde von einer massiven propagandistischen Hetzkampagne begleitet. Am 20. Juni 1922 - dem vierten Todestag Voldarskijs - fand in Moskau eine Massendemonstration mit über hunderttausend Teilnehmern statt. Viele Transparente forderten den Tod der Angeklagten, manche allerdings auch „Gnade für die Reuigen".40 Schon vierzehn Jahre vor Vysinskijs berüchtigem Plädoyer gegen Zinov'ev und Kamenev forderten einige Plakate die „Erschießung der tollwütigen Hunde".41 Ankläger Krylenko und Richter Pjatakov solidariserten sich auf der Redetribüne mit den Zielen dieser Demonstration. Sie standen dort neben Lev Kamenev, der „all denjenigen den Kopf abzuschlagen" drohte, „die ihn vor der Sowjetmacht nicht beugen wollen". Sogar die Angeklagten selbst wurden gezwungen, sich an diesem Schauspiel zu beteiligen: Man führte sie auf den Balkon des Ge37

Jansen: A Show Trial under Lenin, S. 124—126. Krylenko: Za pjat' let, S. 328-329. Die Konstruktion der „zur Bewährung ausgesetzten" und in Geiselnahme umgewandelten Todesstrafe ging offenbar auf eine Idee des studierten Juristen Vladimir Lenin zurück. Vgl. Jansen: A Show Trial under Lenin, S. 139. 39 Krylenko: Za pjat' let, S. 329. 40 Vgl. Jansen: A Show Trial under Lenin, S. 67. 41 Jansen: A Show Trial under Lenin, S. 152. 38

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werkschaftshauses, wo sie sich von der aufgehetzten Masse beschimpfen lassen mußten.42 Mit der Aufführung solcher Lynch-Szenarien erinnerten die Bolschewiki eindringlich daran, daß sie ihre richterliche Gewalt nicht aus theoretischen Prinzipien, sondern nur aus ihrer Fähigkeit ableiteten, das Proletariat unter ihrer Fahne zu mobilisieren. Mit der Mehrheit der Volksmassen hatten sie unabhängig von allen Paragraphen und Prinzipien - auch das Recht auf ihrer Seite. Wenn ihre Justiz vorgab, nach Gerechtigkeit zu streben, so meinte sie damit letztlich die Herstellung einer politischen Willensgemeinschaft, der sich die Angeklagten anschließen mußten, wenn sie überleben wollten. 1922 erreichte die antireligiöse Politik der Bolschewiki einen Höhepunkt.43 Die sowjetische Staatsführung schlug das Angebot der Kirche aus, im In- und Ausland Hilfsgelder für die hungernde Bevölkerung im Wolgagebiet zu sammeln. Statt dessen beschloß sie, die Besitztümer der Kirche einschließlich der liturgischen Gegenstände zu beschlagnahmen - mit dem vorgeblichen Ziel, aus den Erlösen Nahrungsmittel zu beschaffen. Der Patriarch Tichon bezeichnete das gewaltsame Vorgehen der Bolschewiki in seinem Rundschreiben vom 28. Februar 1922 als „gotteslästerlich" und wies seine Untergebenen darauf hin, daß sie ebenfalls sündigten, wenn sie den Bolschewiki bei der Beschlagnahmung halfen.44 Das Rundschreiben blieb nicht ohne Wirkung. Bald stieß die Durchführung dieser Maßnahme auf heftigen Widerstand. An einigen Orten stellten sich die Gläubigen der Staatsmacht so lange entgegen, bis diese das Gewehrfeuer eröffnete. Das Regime beschuldigte die Kirche der „konterrevolutionären" Aktivität, ließ viele Kleriker verhaften und in Schauprozessen aburteilen. Das Moskauer Revolutionstribunal konnte sich den Spott nicht verkneifen, die Angeklagten im biblischen Tonfall dafür zu tadeln, daß sie keine „Reue zeigten" und sich statt dessen wie „Schriftgelehrte und Pharisäer" verhielten 45 Im Mai 1922 wurde schließlich Patriarch Tichon verhaftet. Der gegen ihn vorbereitete Prozeß wurde jedoch mehrmals verschoben und schließlich ganz fallengelassen. Im Lauf der dreizehneinhalb Monate, die der Patriarch teils unter Hausarrest, teils auf der Lubjanka verbrachte, zeigte er eine immer größere Bereitschaft, sein Verhalten nach den Maßstäben der Sowjetmacht zu beurteilen. Er knüpfte dabei an seinen schon 1918 geäußerten Gedanken an, daß die Christen sich im Sinne des Apostels Paulus der sowje-

42

Jansen·. A Show Trial under Lenin, S. 68-69. Zum folgenden Abschnitt vgl. Nikolaj Pokrovskij, S. G. Petrov: Archivy Kremlja. Kn.l. Politbjuro i cerkov' 1922-1925, Moskau 1997, und Vladimir Vorob'ev: Sledstvennoe delo patriaracha Tichona. Sbornik dokumentov po materialam Central'nogo archiva FSB RF, Moskau 2000. 44 Vozzvanie patriarcha Tichona k duchovenstvu i veijujuscim Rossijskoj Pravoslavnoj Cerkvi po povodu iz'jatija cerkovnych cennostej, in: Pokrovskij: Archivy Kremlja, S. 113-115. 45 Prigovor Moskovskogo Revtribunala po delu moskovskogo duchovenstva i verujuscich. 8 maja 1922 g., in: Pokrovskij·. Archivy Kremlja, S. 200-212, vgl. hier S. 209. 43

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tischen Obrigkeit ebenso bereitwillig unterordnen sollten wie einst derjenigen des heidnischen römischen Kaisers.46 Rückwirkend bedauerte er nun seine Handlungen, die als eine Einmischung in die Politik aufgefaßt werden konnten, erklärte diese aber mit der kirchenfeindlichen Haltung der Sowjetmacht. Für die tragischen Folgen seines Aufrufes vom Februar 1922 fühle er sich „sittlich" verantwortlich, obwohl er nicht mit einer so heftigen Reaktion der Gläubigen gerechnet habe. Er habe vielmehr auf eine friedliche Einigung mit der Sowjetmacht gehofft. 47 Anders als in seiner Zeugenaussage vor dem Moskauer Tribunal stimmte er im Januar 1923 schließlich der Ansicht zu, daß die Beschlagnahmung der heiligen Gegenstände für wohltätige Zwecke weder eine „Gotteslästerung" dargestellt noch den kanonischen Regeln widersprochen habe.48 Folglich räumte er ein, daß sein Aufruf tatsächlich einen Verstoß gegen den Artikel 62 des Strafgesetzbuches dargestellt habe, bestritt aber, den Sturz der Sowjetmacht angestrebt zu haben.49 Im März 1923 war die Anklageschrift fertig, die im April als Propagandabroschüre veröffentlicht wurde. Aus ihr geht allerdings nicht hervor, ob die Organisatoren vorgehabt hatten, Tichons Teilgeständnisse im Schauprozeß propagandistisch auszunutzen. Schließlich wurde die Version der Anklage, daß Tichon den Einfluß der Kirche auf die Gläubigen für die Sache der Konterrevolution mißbraucht habe, durch dessen neue Nachgiebigkeit nicht viel glaubwürdiger. Andererseits war die Beweisaufnahme auf Tichons Kooperationsbereitschaft keineswegs angewiesen.

46

Im Oktober 1918 hatte Tichon die Sowjetmacht anläßlich des Jahrestages der Revolution heftig kritisiert, schließlich aber eingeräumt, daß es nicht die Aufgabe der Kirche sei, „über die Macht zu richten"; vielmehr werde die Kirche jegliche Macht unterstützen, die das Wohl ihrer Untertanen anstrebe. Vgl. „Obraäcenie k SNK ν svjazi s pervoj godovsiinoj Oktijabrskoj revoljucii" vom 26.10.1918, in: Vorob'ev. Sledstvennoe delo patriaracha Tichona, S. 838-840. Tichon bezog sich dabei auf den Römerbrief des Apostels Paulus, in dem es heißt: „Jedermann sei Untertan der Obrigkeit, die Gewalt über ihn hat. Denn es ist keine Obrigkeit außer von Gott. ... Wer sich nun der Obrigkeit widersetzt, der widerstrebt Gottes Ordnung; die aber widerstreben, werden über sich ein Urteil empfangen" (Römer 13, 1-2). Vgl. auch die späteren Dokumente: Zajavlenie Patriarcha Tichona ν SNK po povodu obvinenija ego ν prizyvach k sverzeniju sovetskoj vlasti. 6.12.1918, in: Vladimir Vorob'ev (Hrsg.): Sledstvennoe delo patriarcha Tichona. Sbornik dokumentov po materialam central'nogo archiva FSB RF, Moskau 2000, S. 75; Poslanie Patriarcha Tichona ο nevmesatel'stve ν politiceskuju bor'bu, in: ebenda, S. 843-844. 47 Vgl. Protokol doprosa Patriarcha Tichona. 29 dekabija 1922 g. Vorob'ev: Sledstvennoe delo patriarcha Tichona, S. 186-188. 48 Protokol doprosa patriarcha Tichona. 11 janvaija 1923 g. Vorob'ev. Sledstvennoe delo patriarcha Tichona, S. 190-191. 49 Protokol doprosa Patriarcha Tichona. 10 aprelja 1923 g. Vorob'ev. Sledstvennoe delo patriarcha Tichona, S. 257. Der Paragraph 62 lautete: „Teilnahme an einer Organisation, die im Artikel 57 genannten Ziele (Sturz der Sowjetmacht) verfolgt, indem sie die Bevölkerung zu Massenunruhen, zur Nichtzahlung von Steuern, zur Nichterfüllung von Pflichten ... aufruft." Vgl. Vorob'ev. Sledstvennoe delo Patriarcha Tichona, S. 855.

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Noch im April 1923 strebte das Politbüro ein Todesurteil an, schreckte aber - offenbar aus Angst vor der Reaktion des Auslandes - im letzten Moment vor der Eröffnung des Tribunals zurück.50 Im Juni fand schließlich Emel'jan Jaroslavskij einen Ausweg aus der Sackgasse: Er schlug vor, den Patriarchen unter Auflagen freizulassen, falls dieser bereit sein sollte, sich zur Sowjetmacht zu bekennen, seine Schuld einzugestehen, den Papst und die Konterrevolution zu verurteilen und in der Kirche Reformen durchzufuhren (wie etwa der Einführung des gregorianischen Kalenders).51 Jaroslavskij begründete diese Idee mit der Notwendigkeit, der Öffentlichkeit den eigenen Verzicht auf das Tribunal zu erklären. Eine solche Botschaft Tichons würde dem Eindruck entgegenwirken, die Sowjetmacht habe sich von den Protesten des Auslandes einschüchtern lassen. Darüber hinaus wären alle feindlichen Organisationen, die sich im In- und Ausland auf Tichon beriefen oder sich für ihn eingesetzt hatten, empfindlich vor den Kopf gestoßen; Tichon selbst würde seine Autorität einbüßen; die Kirchenreformen könnten zu einer neuen Glaubensspaltung fuhren.52 Tatsächlich zeigte sich der Patriarch bereit zur Kooperation. Am 16. Juni teilte er dem Obersten Gericht mit, daß seine bisherige Ablehnung des Sowjetregimes auf seine monarchistische Erziehung und den Einfluß seiner Umgebung zurückzuführen sei. Seine antisowjetischen Handlungen seien „mit einigen Ungenauigkeiten" in der Anklageschrift wiedergegeben. Tichon erkannte ausdrücklich die Richtigkeit der Entscheidung an, ihn „nach den in der Anklageschrift genannten Paragraphen zur Verantwortung zu ziehen". Er „bereute" diese Vergehen und bat das Oberste Gericht, den Haftbefehl aufzuheben. Das Schreiben Schloß mit dem Bekenntnis, daß er von nun an „kein Feind der Sowjetmacht mehr" sein wolle: „Ich distanziere mich endgültig und entschieden von der aus- und inländischen monarchistischen weißgardistischen Konterrevolution".53

Wie die Gruppe der zum Bolschewismus bekehrten Sozialrevolutionäre verknüpfte auch Tichon in seiner Erklärung die politische Kapitulation mit einem strafrechtlich relevanten Geständnis. Allerdings konnte ein derartiges Loyalitätsversprechen die Kirche in ihrer Identität nur wenig erschüttern, da diese Institution ihre Existenzberechtigung ohnehin nicht vorrangig aus politischen Programmen und Machtansprüchen ableitete. Tichon mag sich daran erinnert 50

Vgl. Pokrovskij: Archivy Kremlja, S. 89-93. Zapiska predsedatelja antireligioznoj komissii CK RKP(b) Ε. M. Jaroslavskogo ν Politbüro CK RKP(b) ob uslovijach osvobozdenija iz-pod aresta patriarcha Tichona. 11 ijunja 1923 goda, in: Pokrovskij·. Archivy Kremlja, S. 282-283. 52 Zapiska ... Ε. M. Jaroslavskogo s motivirovkoj predlozenij ob uslovijach osvobozdenija izpod aresta patriarcha Tichona. 11 ijunja 1923 goda, in: Pokrovskij: Archivy Kremlja,! S. 283284. 53 Zajavlenie patriarcha Tichona ν Verchovnyj Sud RSFSR. 16 iunja 1923, in: Pokrovskij·. Archivy Kremlja, S. 285-186. 51

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haben, daß orthodoxe Christen jahrhundertelang unter der Herrschaft von Mongolen und Türken gelebt hatten, ohne dabei ständig zu rebellieren. Das oberste Ziel lag für ihn offenbar in der Bewahrung des orthodoxen Glaubens, den er durch den Einfluß von Katholiken, Protestanten und Sektierern nicht weniger gefährdet sah als durch die kommunistische Verfolgung.54 Dementsprechend enthielt seine Erklärung auch keinerlei Zugeständnisse im Sinne einer Kirchenreform. Zweifellos setzte Tichon auf die Hoffnung, daß der Staat früher oder später die in der Verfassung verankerten Rechte der Glaubens- und Gewissensfreiheit respektieren würde, wenn sich die Kirche nur selbst aus der Politik konsequent heraushielt. Daneben enthielt seine Erklärung aber auch ein persönliches Geständnis, das sich ganz im Sinne eines juristischen Vorgangs auf die Anklageschrift und die dort genannten Straftatbestände bezog. Er legte sich keine frei erfundenen Handlungen zur Last, sondern erkannte den kriminellen Charakter tatsächlich begangener Handlungen an. Das Eingeständnis persönlicher Schuld ergab sich letztlich aus dem politischen Loyalitätsversprechen. Faktisch sprach Tichon damit allen ihm unterstehenden Christen das Recht ab, sich gegen die Übergriffe der Staatsmacht zu wehren. Schließlich enthielt seine Erklärung auch eine kurze Autobiographie, die seinem Loyalitätsversprechen offenbar zusätzliche Glaubwürdigkeit verleihen sollte. Mit den Hinweisen auf seine „Erziehung unter der monarchistischen Ordnung" und den „Einfluß antisowjetisch eingestellter Personen" präsentierte er sich als eine von äußeren Umständen abhängige, aber lernfahige Persönlichkeit. Auf diese Weise versuchte er den Verdacht zu zerstreuen, daß das Oberhaupt der russisch-orthodoxen Kirche zwangsläufig ein Feind der Sowjetmacht sein müsse. Kurz darauf wurde er aus der Haft entlassen und konnte sich in seinen beiden verbleibenden Lebensjahren darum kümmern, die auseinanderfallende Kirche zu konsolidieren. In den hier vorgestellten frühen Schauprozessen feierten die neuen Machthaber nicht zuletzt ihren im Bürgerkrieg errungenen Sieg über alle konkurrierenden gesellschaftlichen Gruppen. Sie hatten rasch die Möglichkeiten der Selbstdarstellung entdeckt, die ihnen das an keinerlei Prozeßordnung gebundene Tribunal eröffnete. Sie leiteten dabei ihre richterliche Gewalt unmittelbar aus dem militärischen Sieg ab und zeigten offen ihre Genugtuung darüber, daß sie in ureigener Sache gleichzeitig als Ankläger, Richter, Henker und Prozeßberichterstatter auftreten konnten. Ähnlich wie im vormodernen Fürstenstaat erschien das „Recht zu strafen als ein Aspekt jenes Rechts, kraft dessen der Souverän Krieg gegen seine Feinde fuhren" durfte.55 Der symbolische Sinn 54

Vgl. Tichons auf dem Sterbebett verfaßtes Testament. Poslanie patriarcha Tichona ob otnosenii k suSöestvujusöej gosudarstvennoj vlasti. 7 aprelja 1925 g., in: Pokrovskij: Archivy Kremlja, S. 291-295. 55 Vgl. Michel Foucaults Ausführungen über „das Fest der Matern", in: Foucaulf. Überwachen und Strafen, S. 44-90, Zitat S. 64.

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der frühen Schauprozesse lag tatsächlich im „Fest" des selbstherrlichen Richtens und Aburteilens als solchem - unabhängig davon, ob der Angeklagte zu Geständnissen bereit war oder nicht. Wie wenig dramaturgische Bedeutung die Regisseure dieser Spektakel der Rolle des Angeklagten noch beimaßen, zeigt der Vergleich des Schauprozesses gegen die Sozialrevolutionäre mit der Strafsache des Patriarchen Tichon. Während die Sozialrevolutionäre trotz ihrer vorhersehbaren Renitenz die Gelegenheit erhielten, sich vor der Weltöffentlichkeit als „revolutionäre Märtyrer" zu präsentieren, wurde der Prozeß gegen Tichon kurzfristig abgesagt, obwohl dieser schon lange zuvor eine gewisse Kooperationsbereitschaft hatte erkennen lassen. Die Möglichkeit, das Kirchenoberhaupt vor Gericht erst demütig bereuen zu lassen, um es anschließend „großmütigerweise" freizulassen, blieb erstaunlicherweise ungenutzt. Auf die Festlegung des Strafmaßes hingegen hatte das Verhalten der Angeklagten einen großen Einfluß. Die weltanschauliche Nähe zum Kommunismus spielte dabei nicht die wichtigste Rolle. Angeklagte, die ihre „staatsbürgerliche Loyalität" beteuerten, konnten auf erhebliche Strafmilderungen hoffen. Noch gaben die Ankläger offen zu, daß sie gegebenenfalls auch den bloßen Versuch einer politischen Willensbildung mit dem Tod bestrafen würden - selbst dann, wenn der Angeklagte sich ansonsten keiner strafrechtlich definierter Verbrechen schuldig gemacht hatte. Diesem verblieb somit die vergleichsweise ehrenvolle Möglichkeit der politschen „Kapitulation", bei der er keine fiktiven terroristischen Untaten gestehen mußte. Nach einer Pause von sechs Jahren wurde der Säulensaal im Moskauer Gewerkschaftshaus 1928 wieder zur Bühne eines großen politischen Tribunals. Der „Sachty-Prozeß" gegen die „konterrevolutionäre Organisation im Donbass-Gebiet" war das erste von drei Gerichtsspektakeln, die zur Zeit des „großen Umbruchs" der Öffentlichkeit Stalins Weltsicht aufzwangen. Den „Konterrevolutionären" von Sachty folgte 1930 die „Industriepartei" und 1931 das „Unionsbüro der Menschewiken" auf die Anklagebank. Der parallel geplante Prozeß gegen eine „Werktätige Bauernpartei" (Trudovokrest'janskaja partija, TKP) kam nicht zustande. Zwischen diesen drei bzw. vier Schauprozessen gab es große Gemeinsamkeiten. Alle wurden unter Stalins Regie vorbereitet und verbanden das alte Motiv der ausländischen Intervention mit demjenigen der Sabotage, die von nun an als „Schädlingsarbeit" bezeichnet wurde.56 Die Angeklagten waren fast ausschließlich Ingenieure und hochqualifizierte Funktionäre, doch richtete sich die Anklage indirekt auch gegen die kommunistischen „Rechtsabweichler". Alle Prozesse wurden von

56

Rechtzeitig zu Beginn des Sachty-Prozesses klärte D. Zaslavskij die Zeitungsleser auf: „Schädling (vreditel*) - das ist ein neues Wort im sowjetischen Wörterbuch. ... Schädling, das war irgendein Wurm, der sich durch das Gebälk des Hauses fraß... Unter den Menschen gab es bisher keine Schädlinge.... Diese Gattung von Insektenmenschen wurde erst von den Kapitalisten im Kampf mit dem Kommunismus erschaffen." Pravda, 19.5.1928, S. 3.

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Hetzkampagnen begleitet, die auf eine Radikalisierung des gesellschaftlichen Klimas abzielten. Ein großer Unterschied gegenüber den früheren Schauprozessen lag darin, daß die Anklage sich nun gegen soziale Gruppen richtete, die scheinbar schon vor Jahren mit der Sowjetmacht Frieden geschlossen hatten. Die Justiz verstand es nun, diese Loyalität als eine reine „Maskierung" von „Doppelzünglern" zu entlarven, die der neuen Ordnung immer noch so haßerfüllt gegenüberstanden wie ehedem. Hatte früher der Glaube an einen baldigen Zusammenbruch des Regimes die Loyalität der „fremden Elemente" untergraben, dann waren es inzwischen dessen überwältigende Erfolge, die das feindliche Bewußtsein zur Sabotage anstachelten. In diesem Sinne strebte die Staatsanwaltschaft danach, den Angeklagten über den Versuch einer politischen Willensbildung hinaus konkrete Verbrechen nachzuweisen, die auch nach allgemeinmenschlichen Maßstäben als solche zu gelten hatten. Da sie hier nur mit puren Erfindungen und Konstruktionen arbeiten konnte, war sie von nun an schon aus den Gründen der Beweisführung stärker als zuvor auf die Aussagebereitschaft der Angeklagten angewiesen. Die Untersuchungsgefängnisse der GPU verwandelten sich in unterirdische Werkstätten, die künstliche Wirklichkeiten produzierten. Dieser Zweig der Produktion benötigte das soziale Ansehen als Rohstoff, das bislang verschiedenen Einzelpersonen und gesellschaftlichen Gruppen entgegengebracht wurde. Im Sachty-Prozeß (18. Mai bis 7. Juli 1928) erfüllten Selbstbeschuldigungen mehr Funktionen als zuvor." Die Erzählungen der Angeklagten dienten hier dazu, angebliches Täterwissen zu offenbaren, zur „Wahrheitsfindung" beizutragen und die Beweiskette der Anklage zu schließen. Schon Anfang März, zweieinhalb Monate vor Prozeßbeginn, versandte das Zentralkomitee an alle Parteiorganisationen eine Broschüre über die vorläufigen Ermittlungsergebnisse, die ausgiebig aus den Verhörprotokollen der verhafteten Personen zitierte.58 Im Vordergrund stand dabei die „Schädlingsarbeit", während es auf die persönliche Schuld der einzelnen Angeklagten, auf deren „Reue" und auf das Ausmaß ihrer fälligen Bestrafung nicht weiter ankam. Im Gegensatz zu den vorangegangenen und nachfolgenden Prozessen spielte auch das Moment der politischen „Kapitulation" kaum eine Rolle. Trotz ihres angeblichen Ziels, die Sowjetmacht zu stürzen, verkörperte diese „Organisation" weder in der Realität noch in der Fiktion eine ernstzunehmende Kraft, deren symbolische Selbstauflösung von Bedeutung gewesen wäre. Die Motive der Verbrecher wurden eher im ererbten, unreflektierten antisowjetischen Klassenbewußtsein und in primitiver Geldgier vermutet. An-

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Zur Bedeutung des Sachty-Prozesses vgl. das zweite Kapitel. Die Prozeßstenogramme wurden nur auszugsweise in der „Pravda" veröffentlicht. 58 Ob ekonomiceskoj kontrrevoljucii ν juznych rajonach ugol'noj promySlennosti. 7 marta 1928, in: Jakovlev: Kak lomali NEP. Τ. 1, S. 345^100.

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kläger Krylenko sprach verächtlich von „ängstlichen Söldnern des Kapitals", die nicht den Schneid hatten, der Sowjetmacht „den politischen Handschuh entgegenzuwerfen".59 Anstatt sich mutig zu ihrer politischen Identität zu bekennen, zogen die angeklagten Ingenieure es vor, sich feige wegzuducken. Wie die „Pravda" selbstzufrieden registrierte, hatten sie, um sich unsichtbar zu machen, sogar ihre arroganten Anzüge, Orden und Abzeichen mit einer grauen Einheitskleidung vertauscht.60 Wenn also eine politisch aussagekräftige Kapitulation von diesen „armseligen Gestalten" nicht erwartet werden konnte, dann waren ihre persönlichen Reuebezeugungen erst recht nicht gefragt. Wie Krylenko höhnte, waren diese nichts als ein „larmoyantes Gemurmel mit der Bitte um Gnade", „Erzählungen davon, wie die Leute sich nicht beherrschen konnten, als ihnen das Gespenst eines Sacks voller Gold begegnete", und Beteuerungen, daß sie „die Überlegenheit der sozialistischen Ordnung inzwischen begriffen" hätten.61 Die sowjetische Presse beurteilte das reuige Auftreten einiger Angeklagter nur als verlogene Schauspielerei.62 Die Dramaturgie war darauf angelegt, die Mentalität einer gesellschaftlichen Gruppe zu entlarven, anzuprangern und zu verdammen. Dazu war es nicht nötig, den 53 Tätern den Status vollwertiger Subjekte zuzubilligen, die ihren Standpunkt ändern konnten. Abgesehen von ihrer Funktion als Beweislieferanten erfüllten die Angeklagten eher die Rolle von Anschauungsobjekten. Da die Regie sich mehr oder minder am Szenario eines normalen Indizienprozesses orientierte, war es aus ihrer Sicht keine große Katastrophe, daß viele Übeltäter ihre Schuld ganz oder teilweise ableugneten. Die Anklage machte in solchen Fällen - wie in jedem normalen Strafverfahren - einfach von ihrer Möglichkeit Gebrauch, kooperationsbereite Mitangeklagte oder ehemalige Untergebene als Belastungszeugen auftreten zu lassen. Die einfachen Minenarbeiter konnten im Zeugenstand zwar nur wenig über konspirative Details, aber doch einiges über die Willkür ihrer ehemaligen Vorgesetzten oder über deren Fahrlässigkeiten bei der Einhaltung von Sicherheitsbestimmungen berichten. Solche Mißstände als „bewußte Schädlingstätigkeit" zu interpretieren lag dann im Ermessenspielraum des Gerichts. Auch die Verteidiger spielten hier noch eine Rolle, die an einen normalen Strafprozeß erinnerte. Mit erstaunlichem Selbstbewußtsein legten sie den Finger auf die Lücken und Wi-

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Vgl. sein Schlußplädoyer vom 29. Juni, in: Pravda, 30.6.1928, S. 3. Auch der Vorsitzende Richter Vysinskij unterstrich später, daß die Angeklagten „auf dem Gebiet der politischen und geistigen Ansichten Analphabeten" waren. Andrej Vysinskij·. Itogi i uroki sachtinskogo dela, Moskau 1928, S. 14. 60 Pravda, 19.5.1928, S. 3. 61 Pravda, 30.6.1928, S. 3. 62 Vgl. hierzu ausfuhrlich Cassiday. The Enemy on Trial, S. 110-160.

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dersprüche in der Beweisführung und forderten - wenn auch erfolglos - in vielen Fällen Freisprüche.63 In seiner kurz nach dem Urteil erschienenen Propagandabroschüre über die „Lehren der Sachty-Affäre" polemisierte der Vorsitzende Richter Andrej Januarevic Vysinskij heftig gegen die westliche Presse, die den Prozeß zur Farce erklärt hatte, da die Beweisführung sich ausschließlich auf Geständnisse gestützt habe. Nach Vysinskij durften diese weder auf die Folter noch, wie eine deutsche Zeitung vermutet hatte, auf die Neigung der „russischen Seele" zur Selbstverleumdung zurückgeführt werden. Schließlich habe auch der deutsche Angeklagte Badstüber ein Geständnis abgelegt. Schon zu diesem Zeitpunkt erprobte Vysinskij sein später oft wiederholtes Lieblingsargument, daß die Anklage gar nicht vorrangig auf Geständnissen und Zeugenaussagen beruht habe, sondern auf „technischen Gutachten, die die Verbrechen jedes einzelnen Angeklagten" akribisch bewiesen hätten. Angesichts einer solch „erdrückenden Beweislast" aber bleibe einem „geistig halbwegs gesunden Menschen" gar nichts anderes übrig, als zu gestehen.64 Wenn die Sachty-AfFäre darauf abzielte, die breite sowjetische Arbeitsbevölkerung psychologisch auf eine neue Phase des Klassenkampfes einzustimmen, dann richtete sich die Botschaft des Prozesses gegen die Industriepartei (25. November bis 8. Dezember 1930) eher an die Intellektuellen und an das Ausland.65 Die Rolle des Bösewichts im Hintergrund wurde keinem Geringerem als dem ehemaligen französischen Staatspräsidenten Raymond Poincare zugedacht, der angeblich zusammen mit russischen Emigranten Angriffspläne auf die Sowjetunion geschmiedet hatte.66 Um das unter diesen Voraussetzungen besonders neugierige ausländische Publikum zu beeindrucken, sollte das Gerichtsspektakel reibungsloser ablaufen als der Sachty-Prozeß. Die Verhandlungsdauer wurde auf zwei Wochen begrenzt, und es traten diesmal nur acht sorgfaltig ausgewählte Angeklagte auf, von denen alle - insbesondere die Hauptfigur Leonid Ramzin - kooperierten. Die Neuerung dieses Prozesses lag darin, daß die Selbstbeschuldigungen der Angeklagten nun die Funktion der Wirklichkeitsproduktion und die der politischen Entwaffnung gleichermaßen erfüllten.67 Die Angeklagten kapitulierten feierlich im Namen ihrer Partei wie auch im Namen ihres Berufsstan63

Pravda, 3.7.1928, S. 3 und 4.7.1928, S. 5. Vysinskij'. Itogi i uroki sachtinskogo dela, S. 42-43. 65 Zum Prozeß der Industriepartei vgl. Spione und Saboteure vor dem Volksgericht in Moskau, Berlin 1931. Außerdem die tägliche Berichterstattung der „Pravda". 66 Möglicherweise fürchtete sich Stalin tatsächlich vor einer solchen Entwicklung und spekulierte darauf, die potentiellen Angreifer durch präventive Verleumdung von einem solchen Vorhaben um so sicherer abzuhalten. Vgl. seinen Brief an Menzinskij vom Oktober 1930, in: Chlevnjuk: Pis'ma Stahna Molotovu, S. 187-188. 67 In gewisser Weise war dies auch schon bei den Aussagen der zweiten Gruppe im PRSProzeß der Fall gewesen. Aber da die Hauptangeklagten ihren Standpunkt nicht änderten, hatte deren Kapitulation keinen großen Wert. 64

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des. „Jedes Mitglied der Industriepartei, das ins Gefängnis kam, ... hat vor der Sowjetmacht kapituliert", beteuerte Ivan Kalinnikov, während Ramzin die Hoffnung aussprach, daß der Prozeß die „schmachvolle Vergangenheit der gesamten Intelligenz als isolierter Kaste ein für allemal abschließen" möge und die Ingenieure dazu aufforderte, sie sollten sich „wie ein Mann dem Proletariat angliedern".68 Die Angeklagten konnten so sprechen, da die Regisseure ihre Rolle in jeder Hinsicht stark aufgewertet hatten. Wie die Zeitschrift „Sovetskaja justicija" lobend hervorhob, erschienen sie diesmal nicht als heruntergekommene, Mitleid erregende Gestalten, sondern als elegant gekleidete „Gentlemen", die selbstbewußt und eloquent auftraten. So konnten sie glaubwürdig eine Schattenregierung und zugleich die Spitze der technischen Intelligenz verkörpern.69 Die Angeklagten lieferten nicht nur das Rohmaterial an Täterwissen, sondern verfügten auch über genügend politische Bildung, um ihre eigene feindliche Ideologie zu präsentieren, zu interpretieren und zu verdammen. Ramzin berichtete von den vorherrschenden Stimmungen unter den Ingenieuren, die von Anfang an nicht an den Erfolg der Sowjetmacht geglaubt hatten und insgeheim den enteigneten Fabrikbesitzern treu geblieben waren.70 Kalinnikov gewährte dem Auditorium eine Innenansicht seiner Ingenieursseele, die zugleich eine marxistische Analyse war. Die Erfolge des Fünfjahrplans hätten ihm zwar bald die Aussichtslosigkeit der konterrevolutionären Arbeit verdeutlicht, ihn zugleich aber so „verbittert", daß er einfach nicht von ihr habe lassen können. Sein Klassenbewußtsein habe sich aufgebäumt: „Ich entstamme der Klasse der Bourgeoisie und bin in einem ihr entsprechenden Geist erzogen worden. ... Infolgedessen war mir ... unbegreiflich, daß Ingenieure ... sich von der Arbeiterklasse leiten lassen sollten. Um dieses Prinzip zu begreifen, hätte ich ... dem Arbeitermilieu entstammen ... oder den Marxismus beherrschen lernen müssen."

Diese Chance habe er nicht genutzt, und so habe ihn die Läuterung erst im Gefängnis ereilt, das ja „bekanntlich die beste politische Schule" sei.71 Ramzin verknüpfte im Schlußwort traditionelle Topoi innerer Läuterung mit der Logik seiner politisch-weltanschaulichen Kapitulation: „Unabhängig von den Folgen für mich persönlich werde ich diesen Gerichtsaal mit ruhigerem Herzen verlassen, als ich ihn betrat. Jetzt, da ich mein Verbrechen eingesehen und meine volle Reue ausgesprochen habe, lege ich die Waffen nieder und beuge mein Haupt vor dem Willen des Proletariats."72

Hier war der Todeskandidat nun beides zugleich: Ein christgläubiger Verbrecher, der vor dem Eintritt ins Jenseits seine Sündenlast loswerden wollte, und ein geschlagener Kämpfer, der sich dem Sieger auf Gnade oder Ungnade 68 69 70 71 72

Spione und Saboteure vor dem Volksgericht in Moskau, Sovetskaja justicija 9 (1930), Nr. 32-33, S. 52. Spione und Saboteure vor dem Volksgericht in Moskau, Spione und Saboteure vor dem Volksgericht in Moskau, Spione und Saboteure vor dem Volksgericht in Moskau,

S. 42 und S. 10. S. 12-15. S. 42. S. 118-119.

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auslieferte. Fedotov zeigte sich sogar froh darüber, noch rechtzeitig verhaftet worden zu sein. Schließlich war es besser, „laut Gerichtsurteil zu sterben, als zu wissen, daß unsere Tätigkeit zur Intervention geführt hätte".73 Auch die anderen Angeklagten beteuerten, den Tod verdient zu haben, baten aber zugleich um Schonung, damit sie ihre Schuld durch ehrliche und selbstlose Arbeit wiedergutmachen könnten. In seinem Schlußplädoyer tat Krylenko so, als sei er mit der Aufwertung der Rolle der Angeklagten nicht einverstanden. Dem Staatsanwalt schienen Ramzins „angebliche ideologische Motive und seine Umwandlung" schon darum nicht glaubwürdig, weil er ein „Mann der Tat", ein „typischer Praktiker" war, der auch die Konterrevolution „vom geschäftlichen Standpunkt" her behandelte und somit ein „krasses Beispiel für einen politischen Abenteurer" darstellte.74 Daß die Angeklagten umfangreiche Geständnisse abgelegt hatten, konnte ihnen nicht als Verdienst angerechnet werden, denn als Vertreter einer „absterbenden Klasse", die „in flagranti ertappt" worden waren, „konnten sie sich nicht anders benehmen."75 Am 7. Dezember wurden die Angeklagten zum Tode verurteilt, aber tags darauf vom Präsidium des VCIK zu zehn Jahren Freiheitsentzug begnadigt. Im Gegensatz zu Krylenko honorierte das Staatsoberhaupt ausdrücklich, daß die Angeklagten ihre Verbrechen nicht nur „bereut", sondern sich schon in der Voruntersuchung „entwaffnet" hatten, und erinnerte daran, daß die Sowjetunion sich gegenüber „unschädlich gemachten, ihre Taten gestehenden und bereuenden Verbrechern" nicht von Rachegefühlen leiten lassen könne.76 Wenn das Sachty-Verfahren noch Ähnlichkeit mit einem Indizienprozeß gehabt hatte, dann geriet der Prozeß gegen die „Industriepartei" zur Demonstration einer monolithischen sowjetischen Willensgemeinschaft, der sich sogar die prominenten Todeskandidaten bedingungslos angeschlossen hatten. Es waren also die bürgerlichen Ingenieure, die als erste jene vollkommenen, „ehrlichen, mutigen" und zugleich auch objektiv nützlichen Schuldbekennt-

73

Spione und Saboteure vor dem Volksgericht in Moskau, S. 119. Spione und Saboteure vor dem Volksgericht in Moskau, S. 114. Krylenko hielt sich bei seinen Charakteristiken an wiederkehrende Stereotypen. Schon 1918 hatte er den bolschewistischen Duma-Abgeordneten und Polizeispitzel Roman Malinovskij als einen „typischen Abenteurer" bezeichnet. Vgl. Krylenko·. Sudebnye reci, Moskau 1964, S. 22-39. 75 Spione und Saboteure vor dem Volksgericht in Moskau, S. 107. 76 Spione und Saboteure vor dem Volksgericht in Moskau, S. 128. Vgl. auch Stalins Erläuterung im Brief an Maksim Gor'kij vom 15. Dezember 1930: „Wir wollten damit drei Dinge unterstreichen: a) Die Hauptschuldigen sind nicht die Ramzin-Leute, sondern ihre Gebieter in Paris - die französischen Interventen und ihr Anhängsel ,Torgprom'; b) die Sowjetmacht hat nichts dagegen, Menschen zu begnadigen, die sich entwaffnet und bereut haben, weil sie nicht aus Rachegefühlen, sondern um der Interessen des sowjetischen Staates willen handelt; c) die Sowjetmacht hat keine Angst, weder vor den Feinden im Ausland noch vor ihrer Agentur in der UdSSR." Jakovlev: Vlast' i chudozestvennaja intelligencija, S. 138. 74

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nisse ablegten, deren Schema später auch von bolschewistischen Häftlingen adaptiert wurde. Der Prozeß gegen das sogenannte „Unionsbüro der Sozialdemokratischen Partei" (1. bis 9. März 1931) ähnelte stark dem Verfahren gegen die Industriepartei.77 Diesmal handelte es sich bei den meisten Angeklagten um ehemalige Mitglieder der menschewistischen Partei, von denen manche bis zu ihrer Verhaftung in der zentralen sowjetischen Bürokratie gearbeitet hatten. Ihnen wurde vorgeworfen, ein illegales „Unionsbüro" gegründet zu haben, das ihnen Aufträge zur „Schädlingsarbeit" erteilt und gemeinsam mit französischen Regierungskreisen und Vertretern der Zweiten Sozialistischen Internationale eine Invasion geplant habe. Die vierzehn Angeklagten wurden ebenfalls für ihre Kooperation entlohnt: Das Gericht verzichtete auf Todesurteile und begnügte sich mit Haftstrafen von höchstens zehn Jahren. Doch da die menschewistische Partei in der russischen Geschichte eine bedeutende Rolle gespielt hatte, im Ausland immer noch existierte und der Zweiten Internationalen angehörte, hatte der Prozeß noch eine größere politische Bedeutung als die beiden vorangegangenen. Nachdem sie in ihren Zeugenaussagen artig die frei erfundenen Erzählungen wiederholt hatten, konzentrierten sich die Angeklagten in ihren Schlußworten wieder auf das Moment der politischen Kapitulation. Ihre Schuld erkannten sie vor allem darin, daß sie sich innerlich nicht rechtzeitig vom Menschewismus gelöst hatten. Abram Ginzburg tadelte sich dafür, daß er die Fähigkeiten des Proletariats und der bolschewistischen Partei unterschätzt habe. Jeder Sozialist, der „noch irgendein revolutionäres Gewissen" besitze, müsse in der jetzigen Situation bedingungslos die UdSSR unterstützen. Da die Zweite Internationale aber nicht aufhöre, mit ihrer antisowjetischen Propaganda die sowjetfeindliche Politik der westlichen Regierungen zu erleichtern, müsse auch deren Aktivität als „Schädlingsarbeit" bezeichnet werden. Nach Mojsej Tejtelbaum bestand das größte Verbrechen der menschewistischen Partei darin, „daß sie überhaupt noch existiert". Vasilij Ser berichtete, wie er von einem politischen Fehler zum anderen und von Fehlern schließlich zum Verbrechen gelangt sei. Der Prozeß sei für ihn eine schwere Erfahrung, weil er sich in seinem Alter noch einmal umwandeln mußte. „Meine Fehler sind die des Menschewismus". Ginzburg versuchte, durch eine explizite Abgrenzung vom Klischee der „russischen Seele" die Ernsthaftigkeit seines Gesinnungswandels zu unterstreichen:

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Zu diesem Prozeß vgl. Andre Liebich: From the other Shore. Russian Social Democracy after 1921, Cambridge/Mass. 1997; A. L. Litvin (Red.): Men'sevistskij process 1931 goda. Sbornik dokumentov ν 2-ch knigach, Moskau 1999; Process kontrrevoljucionnoj organizacii men'sevikov. Stenogramma sudebnogo processa. Obvinitel'noe zakljucenie i prigovor, Moskau 1931.

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„Ich denke, daß ich nicht zu den Leuten Scedrinschen Typs gehöre, von denen gesagt wird, daß sie bereuen, um zu sündigen und sündigen, um zu bereuen. Meine Reue ist ... ernst, endgültig und unumkehrbar."78

Auch diesmal vergaßen die Angeklagten nicht, das Gericht um ihr Leben zu bitten, damit sie durch ehrliche Arbeit ihre Schuld wiedergutmachen könnten. Die drei Gerichtsverhandlungen brachten zwei wesentliche Fortentwicklungen, die dem Genre des großen „stalinistischen Schauprozesses" bereits 1931 seine endgültige Form verliehen. Die im Sachty-Prozeß erprobte Technik der Wahrheitsproduktion implizierte paradoxerweise so etwas wie ein Zugeständnis an die international vorherrschende Auffassung von Rechtsstaatlichkeit. Zehn Jahre nach der Revolution ließ sich Stalins Justiz nicht mehr darauf ein, schwere Strafen alleine mit der politischen Einstellung des Delinquenten zu begründen. Statt dessen sollte den Opfern auch ein ganz gewöhnliches Verbrechen nachgewiesen werden, möglichst „aus niederen Motiven". Der nächste Schritt brachte wieder eine teilweise Abkehr vom Bild der Rechtsstaatlichkeit: Das Drama des Indizienprozesses, bei dem Anklage und Verteidigung - wenn auch mit ungleichen Waffen - gegeneinander kämpften, wurde durch den cantus firmus einer Willensgemeinschaft abgelöst, der alle Gerichtsparteien angehörten. Renitente Angeklagte wurden von der Bühne verbannt, die umständlichen Formalien auf ein Mindestmaß reduziert. Man verschwendete keine Zeit mehr mit einem Dutzend Anwälten und ihren Beweisanträgen, Zeugenbefragungen und Verteidigungsreden, sondern ließ die reuigen Angeklagten einfach selbst zu Wort kommen. Die Anwälte verschwanden in der Kulisse, der Delinquent wurde zum „Star". In der Literatur wurde diese Neudefinition des Genres oft vorschnell als technische Perfektionierung begriffen. Tatsächlich aber mochte ein solcher Auftritt auf das ausländische Publikum sogar noch unglaubwürdiger wirken als ein verworrener Indizienprozeß. Vermutlich wollte die Regie außenstehende Zuschauer gar nicht von der Version der Staatsanwaltschaft überzeugen, sondern durch die Präsentation einer monolithischen sowjetischen Willensgemeinschaft beeindrucken, die Todeskandidaten und Staatsanwälte, Henker und Opfer vereinte. Nach den Sitzungen der innerparteilichen Abstimmungskörper hatten sich nun auch die Gerichtsverhandlungen zu Ritualen akklamatorischer Einstimmigkeit gewandelt. Und wer aufgrund unwiderleglicher Beweise den Prozeß als Farce durchschaute, mußte sich angesichts des präzedenzlosen Schauspiels von der Macht und der Autorität des Regimes um so stärker beeindruckt zeigen.79 Die mit solchem Aufwand in die Welt gesetzten

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Pravda, 9.3.1931, S. 3-4. Laut Anklageschrift hatte der emigrierte Menschewik Rafael Abramoviö 1930 eine längere Reise durch die Sowjetunion unternommen. Die Angeklagten erzählten ausführlich, wie er ihnen Direktiven zur „Schädlingsarbeit" überbracht hatte. Abramoviö konnte hingegen gerichtsnotorisch beweisen, daß er sich zur fragliche Zeit in Europa aufgehalten und an ei79

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fiktiven Wahrheiten sollten Stalins Gegner im In- und Ausland nicht bekehren, sondern unter Druck setzen. Viele Beobachter interpretierten die erzwungenen Geständnisse fast ausschließlich als ein Mittel der Beweisführung, was den Vergleich mit der mittelalterlichen Auffassung vom Geständnis als der „Königin der Beweise" nahezulegen schien. Nicht umsonst gilt Andrej Vysinkij in der populären Überlieferung als moderner Anhänger dieses Prinzips.80 Doch im Unterschied zur mittelalterlichen zeigte die sowjetischen Justiz niemals Hemmungen, auch leugnende Delinquenten abzuurteilen. Es war keine juristische, sondern eine rein dramaturgische Entscheidung, daß in den großen politischen Schauprozessen seit 1930 nur noch geständige Angeklagte zugelassen wurden. In Gerichtsreden und anderen Veröffentlichungen unternahmen Krylenko und Vysinskij gewaltige Anstrengungen, um die Urteile als Ergebnis einer neuzeitlich aufgeklärten, wissenschaftlichen Beweistheorie erscheinen zu lassen. Vysinskij strapazierte den international gültigen Grundsatz von der „inneren Überzeugung" des Gerichts, welches sich in der Sowjetunion freilich stets von seinem revolutionären „sozialistischen Rechtsbewußstein" leiten ließ.81 Und so konnte Krylenko das Gericht im Sachty-Prozeß dazu auffordern, auch die „bloße Nachrede" als „vollwertigen Beweis" zu werten, wenn sie nur oft genug von „verschiedenen Personen unabhängig voneinander wiederholt" wurde.82 Entgegen der Überlieferung zeigte sich Vysinskij bestrebt, die Bedeutung der Geständnisse - er sprach ganz neutral von „Erklärungen des Angeklagten" - so weit als möglich in Abrede zu stellen. In seinem Lehrbuch über das Beweisrecht verurteilte er die erwähnte mittelalterliche Auffassung und ließ auch moderne Fälle der Rechtsgeschichte nicht unerwähnt, in denen sich unschuldige Angeklagte hartnäckig selbst beschuldigt hatten.83 Die Doppelbödigkeit seiner Warnungen wird erst darin sichtbar, daß er den Angeklagten nicht als mögliches Opfer, sondern als betrügerischen Urheber falscher Ge-

nem Kongreß teilgenommen hatte. Die deutsche Tagespresse berichtete über diese Episode ausführlich. 80 Vgl. u.a. Arkadij Vaksberg: Carica dokazatel'stv. Vysinskij i ego zertvy, Moskau 1992; Dmitrij S. Lichatschow, Hunger und Terror. Mein Leben zwischen Oktoberrevolution und Perestroika, Ostfildern 1997, S. 313; Andrej Gromyko: Pasukanis protiv Vyäinskogo, in: Ο. E. Kutafina (Red.): Inkvizitor. Stalinskij prokuror Vysinskij, Moskau 1992, S. 225-226. 81 „Die sowjetischen Prozeßgesetze ... bestimmten, daß die einzige Grundlage für die Beweiswürdigung die innere richterliche Überzeugung ist, die sich auf die Untersuchung aller Umstände der Sache in ihrer Gesamtheit stützt. (Art. 57 der Strafprozeßordnung der RSFSR)." Andrej Wyschinski: Theorie der Gerichtlichen Beweise im sowjetischen Recht, Berlin 1955, S. 177. Auch in der Bundesrepublik Deutschland unterliegt die Beweiserhebung allgemein dem Grundsatz der freien richterlichen Beweiswürdigung. Hierfür „genügt ein hoher Grad an Wahrscheinlichkeit, den auch vernünftige Zweifel nicht beseitigen können." (Vgl. z.B. § 286 der Zivilprozeßordnung.) 82 Zvjagincev: Rossijskie i sovetskie prokurory. XX vek. 1922-1936 gg., Moskau 1998, S. 156. 83 Wyschinski: Theorie der gerichtlichen Beweise im sowjetischen Recht, S. 275-278.

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ständnisse ansah, der die Staatsmacht in die Irre führen wollte.84 In allen Ratschlägen und Ausführungen Vysinskijs äußert sich das Bedürfnis, die Souveränität des allwissenden Gerichts hervorzuheben und den Beschuldigten auf ein ohnmächtiges Objekt zu reduzieren. „Der Beschuldigte mag geständig sein oder nicht, mag richtige oder lügnerische Erklärungen abgeben, mag sich an den Ermittlungen beteiligen oder auch nicht - davon dürfen weder der Verlauf noch die Ergebnisse der Untersuchung irgendwie abhängig sein."85

Da aber jedes Verbrechen, wie Vysinskij versicherte, „immer eine Vielzahl von Zeugen, Spuren und Sachbeweisen" hinterließ, die „bei genügender Geschicklichkeit und ... Aufmerksamkeit des Untersuchungsführers selbst in die verworrenste Sache eine gewisse Klarheit" zu bringen vermochten, ließ sich diese Gefahr leicht vermeiden. Dann wurde das Geständnis „als Beweismittel gegenstandslos" und konnte allenfalls noch eine Grundlage für die „Beurteilung bestimmter moralischer Eigenschaften des Angeklagten", für die „Milderung oder Verschärfung der Strafe" abgeben.86 Aber selbst wenn die Beweisführung tatsächlich nur auf den Aussagen der Beschuldigten beruhte, befand sich das allwissende Gericht nicht wirklich in deren Abhängigkeit: „Um vor Gericht die Wahrheit von der Lüge zu unterscheiden,... genügt selbstverständlich die Erfahrung des Richters, und jeder Richter, jeder Staatsanwalt und Verteidiger, der an mehr als einem Dutzend Prozessen teilgenommen hat, weiß, wann der Angeklagte die Wahrheit sagt und wann er sich, ganz gleich zu welchem Zweck, von dieser Wahrheit entfernt."87

Vysinskij wollte die seit 1930 dramaturgisch so stark aufgewertete Rolle der Angeklagten halten. Grundsätzlich sprach er den Loyalitätsverbrechern in den dreißiger Jahren die Fähigkeit ab, aus eigener Kraft ins richtige Lager zurückzufinden. Mochten sich die Widersacher einst aus freien Stücken böswillig gegen die Sowjetmacht aufgelehnt haben, ihre sogenannte Reue konnte niemals mehr sein als eine kreatürliche Reaktion auf starke äußere Reize (wie etwa die

84

„Deshalb kann ... keine ... Untersuchung als richtig anerkannt werden, die ihre Hauptaufgabe darin sieht, von dem Beschuldigten unbedingt eine Erklärung zu erhalten, die ein ,Geständnis' enthält. Eine solche Organisierung der Untersuchung, bei der die Erklärungen des Beschuldigten die hauptsächliche und - was noch schlimmer ist - die einzige Stütze der gesamten Untersuchung sind, kann dazu führen, daß das gesamte Verfahren ins Wanken gerät, falls der Beschuldigte seine Aussagen ändert..." Wyschinski: Theorie der gerichtlichen Beweise im sowjetischen Recht, S. 280. Daß eine solche Untersuchung auch zur Verurteilung Unschuldiger führen könnte, war dem Autor keine Erwägung wert. 85 Wyschinski: Theorie des gerichtlichen Beweises im sowjetischen Recht, S. 279. Ähnliche Gedanken äußerte Vysinkij auch vor dem Februar-März-Plenum des Zentralkomitees 1937. Vgl. Reinhard Müller. NKWD-Folter. Terror-Realität und Produktion von Fiktionen, in: Wladislaw Hedeler (Hrsg.): Stalinscher Terror 1934—1941. Eine Forschungsbilanz, Berlin 2002, 133-158, hierS. 151. 86 Wyschinski: Theorie des gerichtlichen Beweises im sowjetischen Recht, S. 276. 87 Vysinskij zitierte hier aus seinem Plädoyer gegen das „antisowjetische trotzkistische Zentrum" von 1937. Ifyschinski: Theorie des gerichtlichen Beweises im sowjetischen Recht, S. 282.

2. Schauprozesse, die sich gegen eine feindlicheWillensbildung richteten 351 Verhaftung). Ihre Geständnisse waren die Folge purer Hilflosigkeit: „Durch die Wucht der Tatsachen an die Wand gedrückt", blieb ihnen gar nichts anderes übrig, als zu kapitulieren und die ganze Wahrheit zuzugeben. Unabhängig von der Frage, mit welchen Folter- und Erpressungsmethoden die Staatsanwaltschaft ihre Ziele erreichte, konnte die Vermutung nie ganz ausgeräumt werden, daß manche der Angeklagten sich auch aus anderen Gründen zur Verfügung gestellt haben könnten. Insbesondere mit Bezug auf Lenins ehemalige Mitstreiter wurde oft gemutmaßt, daß die spezifisch bolschewistische Prägung, Ideologie und Parteidisziplin eine erhebliche Rolle gespielt haben können.88 Die Frage, weshalb die Angeklagten der „Industriepartei" und des menschewistischen Unionsbüros ihre „Schuld" bekannten, wurde hingegen sehr viel seltener einer genauen Erörterung für wert befunden.89 Dies ist um so verwunderlicher, als gerade die Existenz solcher „Kontrollgruppen" eine ideale Voraussetzungen für die Erkenntnissicherung darstellt. Leider ist über die Opfer des Industriepartei-Prozesses kaum etwas bekannt. Man weiß lediglich, daß Leonid Ramzin, ihr eloquenter Wortführer, seine wissenschaftliche Karriere bald nach dem Urteil unter privilegierten Bedingungen fortsetzen konnte, daß er 1936 vorzeitig entlassen wurde und bis zu seinem Tod 1948 zahlreiche Ehrungen und Auszeichnungen erhielt. Sein professioneller Reueauftritt war also höchstwahrscheinlich der Gegenstand einer geheimen Abmachung zwischen ihm und den Regisseuren. Das gleiche galt vermutlich auch für die übrigen Angeklagten, auch wenn diese über ihre Begnadigung hinaus keine Belohnung erhielten. Es ist wenig darüber bekannt, was Leonid Ramzin, Ivan Kalinnikov oder Aleksandr Fedotov vor ihrer Verhaftung wirklich glaubten und inwieweit sie sich aus patriotischen oder anderen Motiven mit der Sowjetregierung identifizierten. Die Hintergründe des Menschewikenprozesses sind ungleich besser dokumentiert. Als demokratisch orientierte Marxisten, die als Angestellte in der Regierungsbürokratie ihr Brot verdienten, standen die Teilnehmer als soziale Gruppe zudem ziemlich genau zwischen der „Industriepartei" und den regierenden Bolschewiken. Drei Monate nach der Begnadigung der Ingenieure hatten sie keinerlei Grund, den Versprechungen auf Strafmilderung zu mißtrauen. Die politische „Kapitulation" bedeutete für sie kein großes Opfer, da sie sich schon längst mit der bolschewistischen Alleinherrschaft abgefunden hatten. Die meisten der Angeklagten hatten schon vor Jahren ihren Bruch mit der menschewistischen Partei erklärt und keinen Anlaß, für ihr früheres politisches Credo den Heldentod zu sterben. Ebensowenig waren sie Bürger88 Die ausführlichste Untersuchung erschien schon vor 50 Jahren im Auftrag der US-Luftwaffe: Nathan Leites, Elsa Bernauf. Ritual of Liquidation. The Case of the Moscow Trials, Glencoe 1954. Derzeit gehört Arch Getty zu den prominentesten Vertretern dieser Ansicht. Arthur Koestler versuchte sich in seinem Roman „Sonnenfinsternis" dem Problem auf literarische Weise anzunähern. Vgl. auch das folgende Teilkapitel über die Bolschewiki. 89 Alexander Solzenicyns „Archipel Gulag" stellt eine bemerkenswerte Ausnahme dar.

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rechtler, die die Prinzipien persönlicher Menschenwürde, der Wahrheitsliebe, der Demokratie oder der Rechtsstaatlichkeit um ihrer selbst willen verteidigt hätten.90 Der Angeklagte Ser sprach in seinem Schlußwort selbst davon, daß er vor 25 Jahren schon einmal zum Tod verurteilt worden sei. Sein damaliger Mut fehle ihm heute, da er nun nicht das Gefühl haben könne, „das Richtige getan" zu haben.91 Nach ihrer Verurteilung kehrten die Angeklagten wieder in die Realität der Gefängnisse und Lager zurück. Manche von ihnen nutzten die Gelegenheit, ihre Mithäftlinge über die Hintergründe des Prozesses aufzuklären; andere versuchten gar, die nicht eingehaltenen Zusatzversprechen der GPU einzufordern 92 Die sensationellen Moskauer Schauprozesse gegen Lenins alte Mitstreiter und die Verfolgung „von Kommunisten durch Kommunisten" sind seit Jahrzehnten ein zentrales Thema der Diskussion über den Stalinismus. Vom Standpunkt einer Geschichtsschreibung, die in erster Linie das Ziel verfolgt, den Opfern der bolschewistischen Gewaltherrschaft Gerechtigkeit widerfahren zu lassen, läßt sich eine solche Schwerpunktsetzung kaum rechtfertigen.93 Sieht man vom Umstand ab, daß die Todesurteile der Moskauer Bolschewikenprozesse 1936, 1937 und 1938 auch tatsächlich vollstreckt wurden, so brachten sie nicht einmal in diskursgeschichtlicher Hinsicht viel Neues.94 Willkürliche Verhaftungen, erfolterte Geständnisse, inszenierte Prozesse - Techniken, die von Lenins Mitstreitern im Kampf mit nichtbolschewistischen „Feinden" erprobt worden waren, wurden nun auch auf sie selbst angewandt. Der Rachen hatte sich, wie Solzenicyn formulierte, „Glied für Glied vom Schwanzende bis zum Kopf herangefressen".95 Schon im Herbst 90

So gegensätzliche Kommentatoren wie Krylenko, Trockij und Solzenicyn erkannten die Ursache der Nachgiebigkeit im Fehlen einer inneren Überzeugung. Vgl. Spione und Saboteure vor dem Volksgericht in Moskau, S. 107; Leo Trotzki: Stalins Verbrechen, Berlin 1990, S. 85; Solschenizyn: Der Archipel Gulag, S. 385. 91 Pravda, 9.3.1931, S. 3. 92 Vgl. Litvin: Men'äevistskij process 1931 goda, Band 1, S. 8-9. Auch manche inhaftierte Belastungszeugen wie Aleksandr Grincer beschwerten sich. Er hatte ausgesagt, um seine bejahrten Eltern vor dem Gefängnis zu bewahren, doch anschließend waren diese trotzdem verhaftet worden. Außer JakuboviC erlebte nur Vladimir Ikov den zwanzigsten Parteitag. Die anderen wurden entweder zur Zeit des „großen Terrors" erschossen oder kamen während ihrer Lagerhaft um. Vgl. ebenda, S. 23-26. 93 Am wirkungsvollsten polemisierte Solzenicyn im „Archipel Gulag" gegen die Überbewertung der Kommunistenverfolgung. In jüngster Zeit wird wieder verstärkt daraufhingewiesen, daß die meisten Opfer des Jahres 1937 keine Parteimitglieder waren. Vgl. z.B. Peter Holquist: State Violence as Technique: The Logic of Violence in Soviet Totalitarianism, in: David L. Hoffmann·. Stalinism. The Essential Readings, Maiden 2004, S. 129-156. 94 Schon Zeitgenossen wie Anna Larina sprachen von „Bolschewikenprozessen", um sie von den vorangegangenen Prozessen gegen parteilose Spezialisten und Menschewiki zu unterscheiden. Der Einfachheit halber soll an dieser Bezeichnung festgehalten werden, obwohl auch in diesen Schauprozessen parteilose Sowjetbürger auf der Anklagebank saßen. 95 Solschenizyn: Der Archipel Gulag, S. 61.

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1930 - zwei Jahre vor dem Erscheinen der Rjutin-Plattform und vier Jahre vor dem Kirov-Mord - spielte Stalin mit dem Gedanken, die Ermittlungen gegen die „Werktätige Bauernpartei" auch auf Bucharin und Kalinin auszudehnen.96 Vorübergehend ließ er derartige Szenarien fallen: Als Zinov'ev und Kamenev im Oktober 1932 im Zusammenhang mit der „Rjutin-Affäre" für drei Jahre in Verbannung geschickt wurden, beschränkte sich die Anklage auf den plausiblen Vorwurf der Mitwisserschaft bei einer oppositionellen Willensbildung; von Schädlingsarbeit, Spionage und Terror war nicht die Rede. 1935 kam die Propaganda wieder auf die Version einer konspirativen Verbindung zwischen den bolschewistischen Oppositionellen und der bürgerlichen „Konterrevolution" zurück. Im Prozeß von Novosibirsk (November 1936) wurde beispielsweise eine Verbindung zwischen dem ehemals oppositionellen Funktionär des Volkskommissariats für Schwerindustrie (NKTP) Georgij Pjatakov und der acht Jahre zurückliegenden „Sachty-Affäre" hergestellt.97 In allen drei großen Moskauer Prozessen saßen neben Zinov'ev, Radek und Bucharin auch parteilose Sowjetbürger auf der Anklagebank. Ihre besondere Bedeutung erhalten diese Prozesse also erst durch die politische Prominenz der Angeklagten und durch die paradoxe Situation, daß diese bei einem geringfügig anderen Geschichtsverlauf genausogut als Ankläger hätten auftreten können (oder zuvor tatsächlich aufgetreten waren). Wie alle Parteimitglieder hatten auch die ehemaligen Oppositionellen in den vorangegangenen Schauprozessen die Forderung nach härtesten Strafen stets unterstützt. Georgij Pjatakov hatte 1922 die Sozialrevolutionäre als Richter zum Tode verurteilt und war noch 1936 ursprünglich als Ankläger im Prozeß gegen Zinov'ev und Kamenev vorgesehen.98 Der Eindruck einer beliebigen Austauschbarkeit von Richtern und Angeklagten könnte Anthropologen dazu verleiten, diese Prozesse als ein esoterisches „Blutopfer" zu betrachten, das unabhängig von der konkreten Opfer-Täter-Konstellation - religiösen Sinn zu stiften vermochte.99 Doch handelt es sich hierbei möglicherweise um eine reizvolle optische Täuschung. Schließlich verteilte immer der gleiche Intendant im Hintergrund die wechselnden Rollen. Will man sich vorstellen, daß auch Nikolaj Bucharin im umgekehrten Fall Iosif Stalin dazu gezwungen hätte, sich öffentlich als Terrorist und ewigen Verräter zu beschuldigen? Doch obwohl die ehemaligen Mitstreiter Lenins und Stalins 1936 bis 1938 mit ihren falschen Selbstbeschuldigungen im Grunde also nur an das Beispiel des Patriarchen Tichon, der bürgerlichen Ingenieure und der Menschewiki 96

Vgl. Chlevnjuk: Pi'sma I. V. Stahna V. M. Molotovu, S. 182-232, insbesondere S. 194, 198 und S. 220. 97 Zum Prozeß von Novosibirsk vgl. Pravda 20. bis 23.11.1936. Die Artikel wurden auf deutsch publiziert in: Fred E. Schräder: Der Moskauer Prozeß 1936: Zur Sozialgeschichte eines politischen Feindbildes, Frankfurt am Main 1995. 9S Schauprozesse unter Stalin, S. 185. 99 Diese Tendenz zeigt sich bei Riegel und bei Leites/Bernaut.

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V. Schuldbekenntnisse im Gefängnis und vor Gericht

anknüpften, spürten sie ein besonders starkes Bedürfnis, ihre Situation und ihr Verhalten in den Zusammenhang ihrer politischen Weltsicht einzuordnen. Saßen sie doch, wie ihnen von den Untersuchungsrichtern eingeschärft wurde, „in ihrem eigenen Gefängnis". Darüber hinaus versuchten sie bisweilen vergeblich, für ihre „demütig-heroische Selbstaufopferung" von Stalin so etwas wie eine moralische Anerkennung zu erhalten. Derartige Bemühungen sind es schließlich, die ein besonderes Interesse rechtfertigen. Die Anklage hielt sich indessen an die bewährte dreigleisige Strategie: Die Angeklagten sollten politisch kapitulieren, beweiskräftige Geständnisse ablegen und sich um ihre innere Läuterung bemühen. Die politische Legitimation zu seinem Vorgehen bezog das Regime wie schon 1922 zuerst aus seiner Fähigkeit, die Bevölkerung zu einer aufgebrachten Hetzmasse zu formen, die für die Angeklagten das Todesurteil forderte. „Das Sowjetvolk mußte nur einen Finger rühren, damit von ihnen nicht einmal eine Spur übrigbleibe", hieß es im „Kurzen Lehrgang".100 Der Urteilsspruch erschien somit zugleich als Ausdruck der Volksjustiz, eines demokratischen Scherbengerichts. Der „Kurze Lehrgang" suggerierte gar einen Zusammenhang zwischen dem Tötungsplebiszit und den unmittelbar darauf stattfindenden Sowjetwahlen.101 Die Trotzkisten mochten sich durch dieses Schauspiel zusätzlich an die Mehrheitsabstimmungen und an ihre gescheiterte Gegendemonstration vom November 1927 erinnert fühlen. Nichtsdestoweniger konnte auf dieser politischen Ebene vergleichsweise schnell eine Verständigung zwischen den Prozeßveranstaltern und den Gefangenen hergestellt werden. Hier vermochten die ehemaligen Oppositionellen nahtlos an ihre inzwischen schon fast zehnjährige Kapitulationspraxis anzuknüpfen. Sie ließen sich davon überzeugen, daß vor dem Hintergrund der Ermordung Kirovs und der wachsenden Kriegsgefahr ihre Kooperation politisch notwendig war. Schon im Januar 1935 räumte Zinov'ev in einem Brief an die Ermittler seine „politische" Mitverantwortung am Tode Kirovs ein.102 Auch ohne böse Absicht sei er, Zinov'ev, schon 1932 erneut „zum Sprachrohr jener Kräfte" geworden, die „den Sozialismus in der UdSSR beseitigen" wollten. Obwohl er von der Existenz einer solchen Gruppierung nichts gewußt habe, sei er für deren Taten dennoch verantwortlich:

100

Geschichte der Kommunistischen Partei der Sowjetunion, Kurzer Lehrgang, S. 420. „Das Sowjetgericht verurteilte die ... Scheusale zur Erschießung. Das Volkskommissariat für Innere Angelegenheiten vollstreckte das Urteil. Das Sowjetvolk billigte die Vernichtung der ... Bande und ging zur Tagesordnung über. Auf der Tagesordnung aber stand die Aufgabe, sich für die Wahlen zum Obersten Sowjet der UdSSR vorzubereiten und sie organisiert durchzuführen." Geschichte der Kommunistischen Partei der Sowjetunion, Kurzer Lehrgang, S. 420. 102 Die Erklärung wurde inzwischen im vollen Wortlaut veröffentlicht. Vgl. Schauprozesse unter Stalin, S. 63-75. 101

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„Aus der Anklageschrift gegen die Mörder Kirovs erfuhr ich, daß gerade in den Jahren 1933 und 1934 diese Leute ihre Aktivitäten besonders verstärkt haben. Die Ergebnisse sind bekannt. Also, ich habe ... von der Existenz der Organisation ... wirklich nichts gewußt. Aber ich wußte und mußte wissen, daß in Leningrad parteifeindlich eingestellte ehemalige ,Zinov'ev-Leute' geblieben waren und daß sie sich wahrscheinlich treffen. Ich wußte es und ich schwieg. ... Und das ist objektiv von größerer Bedeutung als der Fakt, daß ich von der Organisation der letzten Jahre nichts gewußt habe."103

Die Voranstellung der „objektiven" Schuld vor subjektiven Absichten und Verantwortlichkeiten entsprach einer traditionellen bolschewistischen Denkweise.104 Ihre Kooperation mit der Anklage wollten die alten Revolutionäre als eine tatkräftige, objektiv wirksame, möglicherweise kriegsverhindernde Wiedergutmachung aufgefaßt wissen. In den großen Schauprozessen betonten einige Angeklagte in ihren Schlußworten dieses Moment so sehr, daß ihre Glaubwürdigkeit als Belastungszeugen dadurch schon wieder erschüttert wurde. Radek etwa gab zu verstehen, daß die gesamte Anklage nur auf seinen Aussagen beruhte und daß er mit diesen Aussagen nur das Ziel verfolgte, dem Regime einen politischen Dienst zu erweisen.105 Muralov begründete seine schließliche Geständnisbereitschaft mit der Befürchtung, er könne sich nach achtmonatigen Widerstand in ein potentielles „Banner" beziehungsweise einen „giftigen Samen der Konterrevolution" verwandelt haben.106 Die Prozeßveranstalter indessen fühlten sich auf die politischen Solidaritätserklärungen der ehemaligen Oppositionellen schon längst nicht mehr wie im früheren Maße angewiesen. (In Prozessen gegen die Militärführung 1937 und gegen die Leningrader Parteiführung 1950 hatten die wichtigsten Angeklagten gar keine oppositionelle Vergangenheit, der sie hätten „abschwören" können.) Die Ermittler betrachteten die Kapitulationsbereitschaft der alten Oppositionellen eher als einen bequemen Hebel, um sie während der Untersuchungshaft zur Mitwirkung an der Lügenproduktion und zum Ablegen falscher Geständnisse zu bewegen. Die Staatsanwaltschaft hatte die Aufgabe, die Tötung der Angeklagten auch juristisch vor demjenigen Teil der Weltbevölkerung zu rechtfertigen, der sich nach wie vor an allgemeinmenschlichen Wertmaßstäben orientierte. Daneben benötigten die beteiligten Justiz- und Geheimdienstmitarbeiter die Geständnisse dazu, um sich selbst für den Eventualfall abzusichern. Soweit sich die Justiz in ihrem Vorgehen von Vysinskijs Beweistheorie leiten ließ, stieß sie bei den Angeklagten stets auf hartnäckigen Widerstand. In den Fragen der konkreten Tatbeteiligung kämpften manche der Angeklagten bis zum Schluß gegen die 103

Schauprozesse unter Stalin, S. 72-73. Vgl. hierzu ausfuhrlich Leites: Ritual of Liquidation, S. 166-175. los Prozeßbericht über die Strafsache des sowjetfeindlichen trotzkistischen Zentrums. Verhandelt vor dem Militärkollegium des obersten Gerichtshofes der UdSSR, Moskau 1937, S. 593-595. 106 Prozeßbericht über die Strafsache des sowjetfeindlichen trotzkistischen Zentrums, S. 614. 104

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Justiz. Die Schwachstellen der Beweisführung blieben dabei so unübersehbar, daß Trockij keine Mühe hatte, die Glaubwürdigkeit der sowjetischen Justiz im Ausland wirksam zu erschüttern.107 (Die Abwesenheit von Beweisen lieferte Jahrzehnte später auch die Rechtfertigung für die Rehabilitierung der Angeklagten.) Dennoch sollte die Überzeugungskraft der Selbstbeschuldigungen nicht unterschätzt werden. Zweifellos glaubten viele Zeitgenossen im In- und Ausland zumindest vorübergehend daran, daß Zinov'ev, Radek, Bucharin und Rykov sich in gravierender Weise schuldig gemacht hatten.108 Die Tatsache, daß die meisten verhafteten Bolschewiken - genau wie parteilose Sowjetbürger - sich wochen- und monatelang wehrten, ehe sie sich der ihnen zugeschriebenen Verbrechen schuldig bekannten, läßt auch Rückschlüsse auf ihre gruppenspezifischen Wertvorstellungen zu. Nicht erst auf den Plenarversammlungen des Zentralkomitees im Dezember 1936 und im Frühjahr 1937 war sichtbar geworden, daß es für Bucharin und Rykov einen enormen Unterschied machte, ob sie sich lediglich einer oppositionellen politischen Willensbildung oder auch terroristischer Aktivitäten schuldig gemacht hatten. Die den Bolschewiki häufig zugeschriebene Neigung, die Wahl der Mittel stets dem politischen Ziel unterzuordnen, spiegelt sich in den von Stalin redigierten Anklageschriften sehr viel deutlicher wider als in der Kooperationsbereitschaft der Angeklagten.109 Dies ist um so bemerkenswerter, als die meisten von ihnen sich nicht so schnell wie Stalin und Vysinskij dazu durchringen konnten, sich auch explizit wieder auf allgemeinmenschliche Wertvorstellungen zu berufen. Als der Kommunist Lazar Sackin in einem Protestbrief an Stalin die von ihm erlittenen Foltermethoden schilderte, beteuerte er zugleich, daß er damit „keineswegs vom Standpunkt eines abstrakten Humanismus dagegen protestieren" wolle - es gehe ihm lediglich darum, die Partei vor falschen Informationen zu schützen.110 Doch mußten die Bolschewiki nicht an den Rechtsstaat glauben, um sich gegen falsche Anschuldigungen zu wehren. Wie sich herausstellte, spielten dabei auch niemals aufgegebene Vorstellungen von der persönlichen „Ehre" oder „Würde" eine Rolle. Politbürokandidat Robert Ejche bezeichnete in einem Brief an Stalin seine falschen 107

Vgl. Schräder. Der Moskauer Prozeß 1936; Trotzki: Stalins Verbrechen. Vgl. Jens-Fietje Dwars: Deutungsmuster des stalinistischen Terrors, in: Stalinistischer Terror 1934-1941, Berlin 2002, S. 299-309. Siehe auch die Memoiren Nikita Chruäcevs, der selbst einmal die Gerichtverhandlung besuchte. Nikita Chruscev: Vospominanija. Izbrannye fragmenty, Moskau 1997, S. 46-47. 109 Vgl. die Verallgemeinerung von Leites und Bernaut: „Nach der bolschewistischen Doktrin ist es verboten, die politischen Mittel nach einem anderen Kriterium als dem der Nützlichkeit auszuwählen. Folglich ist der Unterschied zwischen gemäßigten und extremen Methoden gewöhnlich irrelevant. ... Bolschewiken neigen zur Annahme, daß eine Opposition, die mit moderaten Handlungsmethoden beginnt, später zum Gebrauch extremer Methoden übergehen wird; es ist unmöglich, auf halbem Wege anzuhalten." Leites: Ritual of Liquidation, S. 183. 110 Schauprozesse unter Stalin, S. 155-156. 108

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Aussagen als die „schändlichste Seite in meinem Leben".111 Wie Ejche widerriefen viele Gefangene vor den geschlossenen Tribunalen im letzten Moment alle ihre Geständnisse und Aussagen, wurden aber dennoch erschossen.112 Und wie Bucharin im April 1937 an seinen „Freund Koba" schrieb, wußte er „ganz genau", daß man mit ihm ,jetzt definitiv alles machen kann, was man will", bekräftigte aber, daß man ihn „mit keinen Mitteln dazu zwingen könne", sich selbst „schändlich zu verleumden".113 Zwar kam es bekanntlich anders, doch auch noch vor Gericht versuchten manche der ehemaligen Parteiführer, möglichst wenig falsche Tatsachenbehauptungen aufzustellen. Sie bejahten einsilbig vorformulierte Fragen oder spielten mit Formulierungen, die von einem kritischen Leser recht leicht entschlüsselt werden konnten. Auf Vysinskijs Lieblingsbehauptung, daß die „Wand der Beweisstücke" den Angeklagten Kamenev zum Geständnis gezwungen habe, antwortete dieser, daß er sich nicht wegen der vorliegenden Beweise schuldig bekannt habe, sondern „weil ich, als ich verhaftet und dieses Verbrechens beschuldigt worden war, es zugegeben habe."114 Gegen Vysinskijs anmaßende Beweistheorie verteidigte Kamenev weniger seine Unschuld als seine Fähigkeit, als ein Subjekt aus eigenem Entschluß zu handeln. Radek tat sogar so, als sei ohne seine freiwilligen Aussagen der ganze Prozeß überhaupt nicht denkbar gewesen und als müsse die Partei ihm für seine Kooperation folglich dankbar sein: „Für diese Tatsache gibt es die Aussagen von zwei Leuten - meine Aussagen, daß ich Direktiven und Briefe von Trockij bekommen habe (die ich leider verbrannt habe), und die Aussagen Pjatakovs, der mit Trockij gesprochen hat. Alle anderen Aussagen der übrigen Angeklagten ... beruhen auf unseren Aussagen. Wenn Sie es mit reinen Kriminalverbrechern ... zu tun haben, worauf können Sie dann Ihre Überzeugung begründen, daß das, was wir gesagt haben, die Wahrheit... ist?"115

Bucharin hingegen stimmte in seinem Schlußwort der Theorie Vysinskijs zu, daß das Gericht bei seiner Urteilsfindung auf die Geständnisse von ihm und seinen Mitangeklagten nicht angewiesen sei und es folglich „auf diese nicht ankomme".116 Er beschuldigte sich in allgemeiner Form des „Verrats der sozialistischen Heimat", der „Organisation von Kulakenaufständen", der „Vorbereitung von Terroranschlägen" und der „Zugehörigkeit zu einer antisowjetischen 1,1

Jakovlev: Reabilitacija: kak eto bylo. Dokumenty Prezidiuma CK KPSS i drugie materialy. Tom 1, Moskau 2000, S. 360-361. 112 So beispielsweise Aron Arnol'dov, ein leitender Angestellter der Südwestlichen Eisenbahnen, dem die Propaganda die Rolle des „leitenden trotzkistischen Kaders im Gebiet Voronez" zugewiesen hatte. CDNIVO P-6955,1. 417. 113 Ju. G. Murin·. „No ja znaju Cto ja prav." Pis'mo Ν. I. Bucharina I. V. Stalinu iz vnutrennej tjur'mi NKVD, in: Istocnik 2000, Nr. 3, S. 46-58. Zum Zitat vgl. S. 53. 114 Schauprozesse unter Stalin, S. 159. 115 Prozeßbericht über die Strafsache des sowjetfeindlichen trotzkistischen Zentrums, S. 595. 116 Sudebnyj otöet. Materialy Voennoj kollegii Verchovnogo Suda SSSR, Moskau 1997, S. 668.

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Untergrundorganisation", gab dabei aber zu verstehen, daß alle diese Tatbestände unterschiedlich interpretiert werden konnten.117 So fühlte er sich etwa für die Schädlingstätigkeit „politisch und juristisch verantwortlich", obwohl er sich „nicht daran erinnern konnte", jemals eine entsprechende Anweisung erteilt zu haben." 8 Er bestritt sogar, daß die Angeklagten einen „rechtstrotzkistischen Block" gebildet hätten, und nannte verschiedene Schlußfolgerungen Vysinskijs „unlogisch".119 Derartige Äußerungen waren eine Art Flaschenpost, die von alten Freunden, Familienmitgliedern und der Nachwelt gelesen werden sollte: Trotz ihrer oppositionellen Vergangenheit waren die Angeklagten im juristischen Sinne unschuldig. Sie hatten niemals Terroranschläge begangen und hielten der Revolution nach wie vor die Treue. Wenn das Tötungsplebiszit und Vysinskijs Beweisführung die Maßnahmen gegenüber der Weltöffentlichkeit politisch und juristisch legitimieren sollten, so versuchte der NKVD darüber hinaus, auch den Häftlingen den Sinn des Schauspiels verständlich zu machen. Das Regime sprach mit mehreren Stimmen. Wenn die Verhörspezialisten sich den Gefangenen als „Seelsorger" oder „Beichtväter" aufdrängten, vertraten sie das genaue Gegenteil der Ansichten Vysinskijs. Sie beriefen sich dann nicht auf den Buchstaben des Strafgesetzes oder gerichtstaugliche Beweise, sondern rückten die „objektive" politische Schuld des Gefangenen in den Vordergrund und appellierten zugleich an sein subjektives Bemühen, diese Schuld wiedergutzumachen. Während Vysinskij den Angeklagten zum Objekt degradiert sehen wollte, erinnerten die Untersuchungsführer ihn gerne an seine persönliche Willensfreiheit und die ihm daraus erwachsende Verantwortung. Der Appell an die bedingungslose Parteitreue gehörte zur Verhörroutine und konnte bei Mitgliedern aller Hierarchieebenen Wirkung zeigen. Nicht immer mußte eine oppositionelle Vergangenheit bemüht werden. Evgenija Ginzburg überlieferte die Episode, in der NKVD-Mitarbeiter einer verhafteten Parteikommunistin erfolgreich suggerierten, daß das Unterschreiben von Protokollen lediglich Teil eines raffinierten „Parteiauftrags" sei, der zur Tarnung ihren vorübergehenden Aufenthalt im Gefängnis notwendig mache.120 Wie A. Safonova, die Witwe Ivan Smirnovs, berichtete, verlangte der Untersuchungsrichter 1936, daß sie alle Behauptungen „unabhängig von ihrer Richtigkeit" bestätigen müsse, weil dies „für die Partei nötig sei". Vor Gericht habe sich dieser „Zwang" durch die Anwesenheit ausländischer Korrespondenten noch „verschärft": „Wir alle mußten die Wahrheit verschweigen, weil wir wußten, daß sie diese unsere Aussagen zum Schaden des sowjetischen Staates ausnutzen könnten."121 1.7

Sudebnyj otcet, S. 659. Sudebnyj otcet, S. 660. 119 Sudebnyj otcet, S. 660-662. 120 Jewgenija Ginsburg·. Marschroute eines Lebens, Reinbek 1967, S. 167-169. 121 Schauprozesse unter Stalin, S. 154. Die autobiographische Literatur nennt viele solcher Beispiele. Solzenicyn polemisierte in diesem Zusammenhang gegen die parteitreuen „Loya1.8

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Bei den genannten Fällen handelt es sich insofern um Ausnahmen, als die Ermittler hier die Zugehörigkeit der Gefangenen zur sowjetischen Willensgemeinschaft nicht in Frage stellten und ihnen gegenüber zugaben, daß die Anklage nur erfunden war. Im Normalfall vermieden sie es hingegen peinlich, sich eine derartige Blöße zu geben. Entsprechend seinem zur Schau getragenen Selbstverständnis war nicht der NKVD auf die Kooperation der Gefangenen angewiesen, sondern diese hatten ihm dafür dankbar zu sein, daß er sie rechtzeitig vom Überlaufen ins feindliche Lager abgehalten hatte. Vom Moment der Verhaftung an versuchte der Geheimdienst seine Opfer dazu zu nötigen, in ihm eine Art Jüngstes Gericht" zu erblicken und sich dementsprechend zu verhalten. „Erzählen Sie, warum man Sie hierhergebracht hat! Entwaffnen Sie sich vollständig! Fallen Sie vor der Partei auf die Knie!" Mit solchen Aufforderungen legte der NKVD seinen unfreiwilligen Gesprächspartnern nahe, die Verhöre als einen moralischen Vorgang zu begreifen und nicht etwa als eine Methode der juristischen Wahrheitsfindung. Möglicherweise sollte dieses Vorgehen hier an etwaige Schuldgefühle derjenigen Kommunisten appellieren, die irgendwann offen oder insgeheim an Stalin und der Parteilinie gezweifelt hatten. Die Einladung zum „aufrichtigen Geständnis" konnte von diesen nun als eine Chance interpretiert werden, ihre „Seele" von dieser „Schuld" zu befreien und dadurch in die Willensgemeinschaft der „ehrlichen Sowjetmenschen" zurückzukehren. In solchen Verhören legten die NKVD-Mitarbeiter eine Vorstellung von der Bedeutung von Geständnissen an den Tag, die tatsächlich an Vorbilder aus der Inquisition und dem Mittelalter erinnert. Ihr angebliches Bemühen um die „seelische Läuterung" des Gefangenen sollte diesen vergessen lassen, daß die sowjetische Justiz im Gerichtssaal Vysinskijs strikt profanen Maßstäben verhaftet blieb und die falschen Geständnisse nur als einfachstes Mittel benutzte, um einen massenhaften Justizmord „bürokratisch einwandfrei" abzuwickeln.122 Angeregt durch die inquisitorische Form der Seelsorge bezogen sich manche der Angeklagten in ihren Schlußworten auf traditionelle Topoi der christlichen Erlösungslehre. Ihr Streben nach innerer Läuterung war demnach ein Selbstzweck, dem keine platte Spekulation auf eine mögliche Begnadigung unterstellt werden durfte. Jakov Drobnis sprach etwa von einer „finsteren Macht", die ihn vom Enthusiasmus des sozialistischen Aufbaus zurückgestoßen habe, und erkannte in seinem Gefängnis das „Fegefeuer", das ihm „die Möglichkeit gab, diese ganze Abscheulichkeit aus mir auszufegen".123 Boris Norkin „empfand

listen". Solschenizyn: Der Archipel Gulag. Folgeband, S. 310-339. 122 Auch überzeugte Parteikommunisten aller Rangstufen mußten häufig erst gefoltert werden, ehe sie die erwünschten Aussagen unterschrieben. Vgl. beispielsweise Müller. NKWDFolter, S. 133-158. Auch (ehemalige) Politbüromitglieder wurden bisweilen gefoltert, wie etwa Jan Rudzutak. Vgl. Öuev: Sto sorok besed s Molotovym, S. 411-413. 123 Prozeßbericht über die Strafsache des sowjetfeindlichen trotzkistischen Zentrums, S. 613.

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vollkommene Reue".124 Aleksej Sestov hatte sich entschlossen, „wie der verlorene Sohn zu seinen Klassenbrüdern zu gehen" und „alles zu erzählen", was er getan hatte.125 Valentin Arnol'd hatte angeblich „seinen Lebenslauf noch nie so rein empfunden wie jetzt", nachdem er „alles erzählt hatte" und beteuerte, „noch kein ganz verlorener Mensch" zu sein.126 Doch andere der alten Bolschewiki wie Bucharin, Rykov, Krestinskij, Sokol'nikov und Radek vermieden in ihren Schlußworten den christlichen Topos der inneren Läuterung und betonten lieber die politische Nützlichkeit ihrer Kapitulation. Karl Radek bestritt sogar ausdrücklich, daß er sich von einem „Bedürfnis nach Reue" hätte leiten lassen.127 Die Situation der prominentesten Angeklagten war insofern eine besondere, als sie ihre Situation und ihre Behandlung im Gefängnis mehr oder weniger zwangsläufig auf die persönliche Haltung Stalins ihnen gegenüber zurückfuhren mußten. Ihre Rückkehr in die Gemeinschaft der „ehrlichen Sowjetmenschen" war undenkbar, solange ihr persönliches Verhältnis zu Stalin sich nicht besserte. Zinov'ev berichtete dem Generalsekretär unmittelbar nach seiner neuerlichen Verhaftung im Dezember 1934 von der „Erschütterung seiner Seele" und beteuerte, daß er seit seiner letzten Freilassung „nicht einen Schritt getan, nicht ein Wort gesagt, nicht eine Zeile geschrieben, nicht einen Gedanken gehabt" hätte, den er „vor der Partei, dem CK und Ihnen persönlich hätte verbergen müssen".128 Den Status des .jüngsten Gerichts", der routinemäßig vom NKVD beansprucht wurde, erkannten die prominenten Bolschewiki ihrem alten Kameraden persönlich zu. Das Unterwerfungsverhältnis der oppositionellen Minderheit unter die stalinsche Mehrheit wurde endlich auch auf der Ebene einer jahrzehntealten persönlichen Beziehung reproduziert. In diesem Zusammenhang war die „Seele" die Metapher für den letzten denkbaren Entstehungsoder Rückzugsraum einer gegen Stalin gerichteten Willensbildung. Offenbar hofften die Oppositionellen, Stalins Mißtrauen endlich zerstreuen zu können, wenn sie ihm wie einem Beichtvater (oder wie dem lieben Gott selbst) Einblick in ihr Inneres gewährten. Im April 1935 fand Zinov'ev dort aber nur noch seinen „brennenden Wunsch", Stalin „zu beweisen, daß er kein Feind mehr war".129 „Eines muß ich jetzt erreichen: Man soll ... sagen, daß mir der ganze Schrecken des Geschehenen bewußt geworden ist, daß ich restlos bereut habe ... und bereit war, alles, aber auch alles zu tun, um meine Aufrichtigkeit zu beweisen.... Ich bin schon so weit, daß ich ... denke: Ihr Lieben, schaut doch in meine Seele, seht Ihr denn wirklich nicht, daß ich Euch 124 125 126 127 128 129

Prozeßbericht über die Strafsache des sowjetfeindlichen trotzkistischen Prozeßbericht über die Strafsache des sowjetfeindlichen trotzkistischen Prozeßbericht über die Strafsache des sowjetfeindlichen trotzkistischen Prozeßbericht über die Strafsache des sowjetfeindlichen trotzkistischen Schauprozesse unter Stalin, S. 56. Schauprozesse unter Stalin, S. 160.

Zentrums, Zentrums, Zentrums, Zentrums,

S. 615. S. 616. S. 620. S. 593.

2. Schauprozesse, die sich gegen eine feindliche Willensbildung

richteten

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gehöre mit Leib und Seele, daß ich alles begriffen habe, daß ich bereit bin, alles zu tun, um Verzeihung und Nachsicht zu verdienen.. ,"130

Während sie ihren Beichtvater zum Blick in die Tiefe ihrer Seele einluden, versuchten die Gefangenen zugleich, seine Motive und Absichten zu entschlüsseln. Bucharin scheint sich noch im April 1937 an die Hoffnung geklammert zu haben, daß Stalin ihn „aufgrund schamloser Verleumdungen" tatsächlich für schuldig halten könnte - und folglich noch die Möglichkeit bestand, ihn vom Gegenteil zu überzeugen. Betrachtet man seine Gefängnisbriefe an Stalin als Versuch, die eigene Freilassung zu erreichen, dann bleibt letztlich unklar, wie er den Adressaten seiner überschwenglichen Liebeserklärungen und Komplimente tatsächlich einschätzte.131 Sprach er mit der „Inkarnation Lenins" nicht wie mit einem außer Kontrolle geratenen, nicht voll zurechnungsfähigen Kind, das man durch gutes Zureden gerade noch vom Schlimmsten abhalten konnte? Doch manche der Angeklagten scheinen auch nach dem Schwinden aller Rettungsaussichten noch darum gekämpft zu haben, zumindest bei Stalin persönlich als ehrliche Revolutionäre im Gedächtnis zu bleiben. Michail Tomskij beispielsweise hatte sich bereits durch einen Revolverschuß getötet, bevor man ihn verhaften, foltern und zu falschen Geständnissen zwingen konnte. Doch in seinem Abschiedsbrief bat er den „teuren Genossen Stalin" inständig, ihn nicht für einen Verräter zu halten. Er bat die Partei „wegen der alten Fehler um Verzeihung" und wünschte ihr „neue großartige Siege".132 Georgij Pjatakov hingegen wollte trotz seiner „vollständigen Reue" nicht aus dem Leben scheiden, solange er von oben keine Absolution erhalten hatte: „Ich stehe im Schmutz vor Ihnen, erdrückt von meinen eigenen Verbrechen. ... Ich habe meine Partei verloren, ich habe keine Freunde mehr, ich habe die Familie verloren, ich habe mich selbst verloren... Nur nehmen Sie mir eines nicht, Bürger Richter, nehmen Sie mir nicht das Recht auf das Bewußtsein, daß ich, wenn auch viel zu spät, auch in Ihren Augen in mir die Kraft gefunden habe, um mit meiner verbrecherischen Vergangenheit zu brechen".133

Wenn er schon offiziell als schuldig zu gelten hatte, dann sollte man ihm auch seine prämortale Rückkehr in die sowjetische Willensgemeinschaft amtlich bestätigen. Akmal Ikramov tröstete sich mit dem Gedanken, „daß das Volk 130

Schauprozesse unter Stalin, S. 160. „Ich habe von neuem gelernt, Dich nicht nur zu ehren, sondern auch heiß zu lieben. ... Denn in all diesen Jahren wurde eine so tadellose und vorurteilsfreie, kühne Außen- und Innenpolitik betrieben, daß ich erkannt habe, daß - um es auf alte Weise zu sagen - der Geist Il'ics auf Dich übergegangen ist. Mir war oft ungewöhnlich wohl zumute, wenn ich bei Dir sein durfte, es tat sogar gut, Dich zu berühren." Murin: „No ja to znaju, ito ja prav.", S. 49-50. 132 Predsmertnoe pis'mo M. P. Tomskogo I. V. Stalinu 22 avgusta 1936 goda, in: Ο. I. Gorelov. Cugcvang Michaila Tomskogo. Strichi k portretu, Moskau 2000, S. 233-234. 133 Prozeßbericht über die Strafsache des sowjetfeindlichen trotzkistischen Zentrums, S. 592. 131

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erfahren wird, daß dieser Ikramov sich zumindest am Ende seines Lebens von jener Position losgesagt ... hat, die Verrat und Spionage heißt".134 Und spätestens wenn sie auf dem Schafott standen, sollte der Führer der Weltrevolution ihnen augenzwinkernd zu verstehen geben, daß er sie nicht wirklich für Feinde hielt, sondern für Genossen, die für die Partei selbstlos ihr Leben und ihre persönliche Würde hingegeben hatten. Es gibt indessen keinen Hinweis darauf, daß Stalin seinen alten Komplizen jemals einen solchen Wink gegönnt hätte. Die Seelsorge überließ er einfühlsamen Verhörspezialisten wie Jakov Agranov, die er bald darauf ebenfalls töten ließ. Die Pflege des Andenkens der im Gefühl „moralisch vollkommener" beziehungsweise „politisch nützlicher" Reue verstorbenen Oppositionellen vertraute er hingegen dem langlebigen Henker Andrej Vysinskij an, der schon bald nach der Hinrichtung Zinov'evs und Kamenevs „auf Schritt und Tritt feststellen" mußte, daß „diese Leute, die schon mit einem Fuß im Grabe standen", immer noch nicht damit aufgehört hatten, „zu lügen und zu betrügen".135 Auch Bucharin starb offenbar im unerträglichen Zweifel, ob Stalin ihn nicht möglicherweise doch für einen Terroristen und Verbrecher hielt.136 Da viele Zeitgenossen den sowjetischen Staat als eine Erziehungsdiktatur begriffen, mußte auch die Idee einer möglichen Umerziehung der ehemaligen Oppositionellen irgendwie im intellektuellen Raum stehen.137 Kamenev selbst beantwortete diese Frage in seinem Schlußwort: „Die proletarische Revolution hat uns zehn Jahre lang die Möglichkeit gegeben, uns zu bessern und unsere Fehler einzusehen. Doch wir haben das nicht getan."138 134

Sudebnyj otcet, S. 649. Prozeßbericht über die Strafsache des sowjetfeindlichen trotzkistischen Zentrums, S. 562. Der „Kurze Lehrgang" widmete diesem Moment einen eigenen Absatz, in dem es hieß: „Die Sinowjewleute, die vor Gericht die Reuigen spielten, setzten ... auch in diesem Moment ihre Doppelzüngelei fort. Sie ... verheimlichten ... ihre Verbindungen mit den Bucharinleuten, das Bestehen einer vereinigten trotzkistisch-bucharinschen Bande von Söldlingen des Faschismus." Geschichte der Kommunistschen Partei der Sowjetunion. Kurzer Lehrgang, S. 395. 136 Am 10. Dezember 1937 schrieb er an Stalin, daß ihm „wesentlich ruhiger in der Seele" wäre, wenn er absolut sicher sein könnte, daß er nur aufgrund politischer Notwendigkeiten geopfert wurde. „Na, was soll man machen. Was sein muß, muß sein. Doch glaube mir, ein heißer Blutstrahl ergießt sich in mein Herz, wenn ich denke, daß Du an meine Verbrechen glauben und in der Tiefe Deiner Seele selbst denken könntest, daß ich an all dem Schrecken tatsächlich schuld bin". Vgl. Ju. G. Murin (Hrsg.): Prosti menja, Koba. Neizvestnoe pis'mo N. Bucharina, in: Istocnik 1993, S. 22-24, Zitat S. 23. 137 Der deutsche Schriftsteller Gustav Brand arbeitete an einem Romanprojekt, in dem „mit allen Kontroversen geschildert worden war, wie ein Trotzkist sich zum Stalinismus zurückbekehrte". Im Sommer 1936 wurde das Buch zur „Feindesarbeit" erklärt. Für die deutsche Sektion des Schriftstellerverbandes bot der Fall einen zusätzlichen Anlaß, „unnachgiebige Selbstkritik" zu üben. Vgl. Müller. Die Säuberung, S. 7-8 und S. 89-91. Es handelte sich wohl nicht um einen Einzelfall. 138 Prozeßbericht über die Strafsache des trotzkistisch-sinowjewistischen terroristischen Zentrums, verhandelt vor dem Militärkollegium des Obersten Gerichtshofes der UdSSR. 135

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Die mutwillige Entscheidung der Oppositionellen für das Böse war es also gewesen, die alle Rettungsversuche zunichte gemacht hatte. Für den Prozeß gegen die „Rechten und Trotzkisten" erteilte Stalin Vysinskij intern die Anweisung, in seinem Plädoyer herauszustellen, daß die Angeklagten schon vor der Oktoberrevolution und seitdem ununterbrochen insgeheim dem „feindlichen Lager" angehört hatten und die Partei aus eben diesem Grunde keine Möglichkeit gehabt hatte, „die Trotzkisten umzuerziehen".139 Dieser paranoide Zirkelschluß war das Argument, mit dem Stalin die unausrottbaren Optimisten überzeugen wollte. Kurz nach Stalins Tod begann die sowjetische Justiz, die Opfer der Massenverhaftungen und -erschießungen zu rehabilitieren.140 Dabei wurde rasch deutlich, daß sich Stalin bei der Durchführung der „großen Säuberungen" zwar auf die unbedingte Fügsamkeit des Partei- und Staatsapparates, aber keineswegs auf eine etablierte „bolschewistische" Rechtsauffassung hatte stützen können. Auch die Tatsache, daß die meisten Verurteilten falsche Geständnisse abgelegt hatten, mußte nun anders bewertet werden als zuvor. Solange Stalin lebte, hatte die Parteielite sämtliche vom NKVD präsentierte Zeugenaussagen und Geständnisse als beweiskräftig angesehen; doch kaum war er verstorben, kamen die bis dahin gebrauchten Ermittlungsmethoden zur Sprache. Im Gegensatz zu mittelalterlichen Juristen konnten sich Stalins Erben sofort auf das Prinzip einigen, daß erfolterte Geständnisse keine Beweiskraft haben durften.141 Am 3. April ordnete das Präsidium des Zentralkomitees die Rehabilitierung der Opfer der „Ärzte-Affare" an und tadelte das Staatssicherheitsministerium für die „Fabrikation von Tatbeständen" und die „grobe Verletzung sowjetischer Gesetze".142 Jeder wußte, was damit gemeint war. Schon am nächsten Tag befahl Lavrentij Berija seinen Mitarbeitern, die Folterkammer im Lefortovo-Gefangnis abzuschaffen und die Folterwerkzeuge zu

19.-24.8.1936, Moskau 1936, S. 172. Vgl. die entsprechenden Äußerungen Zinov'evs und Smirnovs, S. 174-175. 139 Vgl. Wladislaw Hedeler. Der Moskauer Schauprozeß gegen den „Block der Rechten und Trotzkisten". Von Jeshows Szenario bis zur Verfälschung des Stenogramms zum „Prozeßbericht", Berlin 1998, S. 47. Im Plädoyer wiederholte Vysinskij zwar Stalins Behauptungen, ging aber nicht explizit auf die Frage der „Umerziehung" ein. 140 Die Rehabilitierung der Opfer war ein langwieriger Prozeß, der sich in mehreren Etappen vollzog und auch nach fünf Jahrzehnten noch nicht vollständig abgeschlossen ist. Innerhalb der Partei war er von internen Diskussionen und Widerständen begleitet, die Gegenstand einer eigenen Dissertation sein könnten. Vgl. Jakovlev: Rebilitiacija: kak eto bylo. Tom 1. Mart 1953-fevral' 1956, Moskau 2000. Ders.: Lavrentij Berija. 1953. Stenogramma Ijul'skogo plenuma CK KPSS i drugie dokumenty, Moskau 1999. 141 Vgl. auch Zapiska L. P. Berii ν prezidium CK KPSS ob otmene voennoj kollegiej verchovnogo suda SSSR prigovora ν otnosenii Α. I. Sachunna, A. A. Novikova i drugich. 6 ijunja 1943 g., in: Jakovlev: Lavrenij Berija, S. 62. 142 Postanovlenie prezidiuma CK KPSS ο reabilitacii lie, privlecennych po „delu ο vracachvrediteljach". 3 aprelja 1953 g., in: Jakovlev. Reabilitacija: kak eto bylo. Τ. 1, S. 19.

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vernichten.143 Um seine Entstalinisierungspolitik innerhalb der Parteielite durchzusetzen, bediente sich Chruscev auch in den folgenden Jahren regelmäßig einer rechtstaatlichen Argumentation. Im Vorfeld des zwanzigsten Parteitags ließ er speziell für das CK-Präsidium einen Bericht über die „Ursachen der Massenrepressionen" zusammenstellen, denen die CK-Mitglieder in den dreißiger Jahren zum Opfer gefallen waren.144 Darin wurden viele „Verletzungen der Rechtsnormen" (izvrascenija zakonnosti) kritisiert: So habe etwa die pauschale Aburteilung von Japanern, Koreanern und Polen das „Verfassungsprinzip" des Asylrechts mißachtet; die pauschale Aburteilung von Ehefrauen und Kindern der „Volksfeinde" habe dem „Grundsatz der sowjetischen Gesetzgebung grob widersprochen", dem zufolge Personen nur aufgrund eines „konkreten, von ihnen [selbst] begangenen Verbrechens" bestraft werden durften.145 Den meisten Raum nahmen hingegen die Schilderungen ein, wie Postysev, Ejche, Rudzutak, Cubar', Bauman und andere durch Prügel und Schlafentzug dazu getrieben wurden, belastende Protokolle zu unterzeichnen. Auch die Methoden der „Seelsorge" blieben nicht ganz unerwähnt. Manchen Gefangenen sei eingeredet worden, sie wären gar nicht verhaftet, sondern lediglich „mobilisiert" worden, um falsche Geständnisse zu unterschreiben, da Partei und Regierung diese „brauchten". Die Verfasser des Berichts nannten dieses Vorgehen eine „offene Provokation".146 Chru§cev bemühte sich klarzustellen, daß die Partei Lenins keine erfundenen Geständnisse brauchte und auch niemals gebraucht hatte. Auch unter den anderen Mitgliedern der Parteielite fand sich keiner, der die gegenteilige Meinung verteidigen wollte.147 Wenn die Mitwirkung an der stalinschen Lügenproduktion den Verurteilten niemals wirklich als Verdienst anerkannt worden war, so konnte ihnen nunmehr sogar ein Vorwurf daraus gemacht werden. Der 1943 zu zehn Jahren Lagerhaft verurteilte kommunistische Schriftsteller Ν. I. Kocin schrieb 1956 an Nikita Chruscev: „Ich wußte genau, daß die Unterzeichnung des - wenn auch gegen mich selbst gerichteten gefälschten Dokuments ein moralisches Verbrechen darstellt, und erkenne an, daß ich mich damit vor der Partei schuldig gemacht habe. Ich will mich nicht rechtfertigen, sondern nur

143 Prikaz ministra vnutrennych del SSSR L. P. Berii „O zapreäßenii primenenija k arestovannym kakich-libo mer prinuzdenija i fiziöeskogo voszdejstvija. 4 aprelja 1953 g., in: Jakovlev: Lavrentij Berija. 1953. Stenogramma ijul'skogo plenuma CK KPSS i drugie dokumenty, Moskau 1999, S. 30-31. 144 Doklad komissii CK KPSS prezidiumu CK KPSS po ustanovleniju priöin massovych repress» protiv ölenov i kandidatov ν öleny CK VKP(b), izbrannych na XVII s'ezde partii. 9 fevralja 1956 g., in: Jakovlev. Reabilitacija: kak eto bylo. Τ. 1, S. 317-348. 145 Jakovlev: Reabilitacija: kak eto bylo. Τ. 1, S. 321-322. 146 Jakovlev: Reabilitacija: kak eto bylo. Τ. 1, S. 324-325. 147 Im Gegenteil: Schon manche von Chrusöevs erschossenen Kollegen hatten sich im Gefängnis mit dem Argument gewehrt, daß sie die Partei doch nicht „in die Irre führen" durften. Vgl. die im Bericht aufgeführten Fälle.

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den Umstand erwähnen, daß ich in einen völlig unterträglichen Zustand versetzt worden war..." 148

Die rehabilitierenden Instanzen hatten weder den Wunsch noch die Möglichkeit, sich ausschließlich von rechtstaatlichen Kriterien leiten zu lassen. Bei bestimmten Opfergruppen - vor allem bei linientreuen Parteifunktionären verzichtete die Justiz auf kleinliche Vorbehalte und rehabilitierte die Opfer aufgrund der „Nichtexistenz eines Tatbestandes" (otsutstvie sostava prestuplenija). Doch wenn den Erben Stalins die Rehabilitierung bestimmter Opfergruppen oder Einzelpersonen als nicht opportun erschien, konnte auch den erpreßten Geständnissen plötzlich wieder ihre einstige Beweiskraft zugesprochen werden. 1957 lehnte der Militärstaatsanwalt die Rehabilitierung des (bereits amnestierten) Moisej Tejtelbaum unter anderem mit der Begründung ab, daß dieser sich während der Ermittlungen und im Prozeß gegen das „Unionsbüro der Menschewiken" als schuldig bekannt hatte.149 In seinen Memoiren entschuldigte sich Nikita Chruscev dafür, daß die ehemaligen Oppositionellen und die Angeklagten der Schauprozesse von der Rehabilitierung ausgenommen blieben. Wie er offen zugab, waren dafür keine juristischen, sondern ausschließlich politische Gründe ausschlaggebend gewesen. Insbesondere befürchtete man, die westeuropäischen· Parteiführer bloßzustellen, die in den dreißiger Jahren ebenfalls ihren Beitrag zur stalinschen Wirklichkeitsproduktion geleistet hatten.150 In der Mitte der fünfziger Jahre war die Justiz von der Masse der zu bearbeitenden Rehabilitierungsfälle so überlastet wie 1937 mit der Bearbeitung „trotzkistischer Verschwörungen". Damit die Gefangenen in den Straflagern nicht erst auf den formlichen Abschluß ihres Rehabilitierungsverfahrens warten mußten, wurden 1956 mobile Entlassungs-Kommissionen geschaffen. Diese hatten die Aufgabe, die Straflager aufzusuchen und dort die sofortige Freilassung der Gefangenen abzuwickeln.151 Wie Solzenicyn berichtet, veranstalteten die Abgesandten des Obersten Sowjet bei dieser Gelegenheit ein

148 CADKM, f. 85, op. 1, d. 492,1. 5. Materialy po osuzdeniju i reabilitaciju Ν. I. Kocina. (1902-1982). V CK Partii. General'nomu Sekretarju N. S. Chrusöevu. 10 aprelja 1956 g. 149 Postanovlenie Voennogo prokurora otdela Glavnoj voennoj prokuratury podpolkovnika justicii Beljaeva. 3 ijulja 1957 g., in: Litvin: Men'Sevistskij process 1931 goda. Kniga2, S. 455-457. Das Begnadigungsgesuch war von Moisej Tejtelbaums Ehefrau eingereicht worden. Der 1953 „posthum" amnestierte Tejtelbaum war in der Lagerhaft verschollen, ein Todesdatum existiert nicht. Er und seine Mitangeklagten wurden erst 1990-91 rehabilitiert. 150 „Togliatti ... und Thorez ... wandten sich an uns mit einer Erklärung, daß wir die Braderparteien ... in eine unerträgliche Lage versetzen würden, wenn wir die Angeklagten der offenen Prozesse rehabilitieren würden. Als Augenzeugen hatten sie ihren Bruderparteien berichtetet und bewiesen, daß die Prozesse auf der Grundlage harter Beweise durchgeführt und juristisch begründet waren. Wir haben uns verabredet, die Rehabilitierung noch nicht jetzt durchzuführen, aber alles dafür Notwendige vorzubereiten." Chruscev: Vospominanija. Izbrannye fragmenty, Moskau 1997, S. 47-49. 151 Jakovlev: Reabilitacija: kak eto bylo, Τ. 1, S. 10.

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„bescheidenes Zeremoniell, bei dem der Häftling einige schuldbewußte Worte zu sagen und eine Minute mit gesenktem Kopf zu stehen hatte". Wer sich unschuldig fühlte und das Unterwerfungsritual verweigerte, setzte seine Freilassung aufs Spiel.152 Nach dem Willen der Obrigkeit sollte die Lagerhaft also genauso zu Ende gehen, wie sie einst begonnen hatte: Mit einem erzwungenen Schuldbekenntnis. Auf erfundene Wirklichkeiten konnte das Regime 1956 verzichten, auf den Kniefall der Untertanen nicht.

Schlußfolgerung Nichtpolitische Schauprozesse beruhten nur selten auf frei erfundenen Verbrechen. Meistens ging es um reale Tatbestände, deren exemplarischer Ahndung in der jeweiligen Situation eine besondere sozialpädagogische Bedeutung zugesprochen wurde. Es bestand keinerlei Notwendigkeit, banale Vorfalle wie Unterschlagungen, Diebstähle, grobe Fahrlässigkeiten oder Verletzungen der Arbeitsdisziplin eigens zu erfinden. Die Angeklagten wurden nicht gefoltert, und man hielt es fur normal, wenn sie sich in der Gerichtsverhandlung wehrten. In dramaturgischer Hinsicht waren sie mitsamt ihren „Finten und Ausreden" eher passive Anschauungsobjekte, auf deren Kapitulation oder Kooperation niemand angewiesen war. Wenn es darum ging, kampagnenbedingt „Sündenböcke" zu finden, lösten aufrichtige Schuldbekenntnisse und Besserungsversprechen eher Spott und Mißtrauen aus. Doch wenn dies nicht der Fall war, konnten sie - neben der sozialen Herkunft und dem Lebenswandel - für die Charakterisierung des Angeklagten, für seine Sozialprognose und die Festlegung des Strafmaßes durchaus positive Berücksichtigung finden. Im Extremfall konnte die öffentliche Beschämung und die „Einsicht" des Schuldigen nach Meinung der Richter eine weitere Bestrafung sogar überflüssig machen. Von dieser Praxis profitierten, nach der Auswahl der genannten Fälle zu schließen, am ehesten Partei- und Staatsfunktionäre. In politischen Schauprozessen hingegen erlangte die Selbstverurteilung der Angeklagten bald eine zentrale Bedeutung. Diese begriff sich zunächst als rein politische Kapitulation und wurde erst später um das Moment der Wirklichkeitsproduktion und der moralischen Läuterung ergänzt. Im Widerspruch zu allen rechtsstaatlichen Normen insistierte das politische Tribunal stets auf seinem plebiszitären Charakter: Wollte der geschlagene Feind nicht von den „proletarischen Massen" gelyncht werden, mußte er seine letzte Chance zur „Entwaffnung" nutzen. 152 So im Falle von Anna Skripnikova, die erst 1959 entlassen wurde. Solschenizyn: Der Archipel Gulag. Folgeband, S. 636. Zur Tätigkeit dieser Kommissionen vgl. Jakovlev·. Reabilitacija - kak eto bylo. Tom 2, Moskau 2003, S. 29-34.

Schlußfolgerung

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Auf dieser Ebene der archaischen Volksjustiz strebten die Bolschewiki zunächst nach der Herstellung einer Willensgemeinschaft, der sich die Angeklagten anschließen mußten, wenn sie überleben wollten. Die frühen Schauprozesse verrieten ein starkes Bedürfnis der neuen Machthaber, ihren eigenen Sieg im Bewußtsein der Besiegten gespiegelt zu sehen. Zweifellos empfand Iosif Stalin dieses Bedürfnis auch ganz persönlich.153 Neben paranoiden Verschwörungsszenarien entwickelte die Propaganda während der Schauprozesse stets auch triumphierende Phantasievorstellungen darüber, wie die „Feinde" ihre eigene Niederlage wohl subjektiv empfinden mochten. Gewiß verfolgte die von Stalin kontrollierte Wirklichkeitsproduktion zunächst wichtigere Ziele: Potentielle „Feinde" im In- und Ausland sollten nach dem Hase-und-Igel-Prinzip durch präventive Verleumdung daran gehindert werden, überhaupt erst aktiv zu werden; der lukrative Zwangsumtausch von „störenden Menschen gegen nützliche Lügen" gab ihm die Möglichkeit, sich gegen alle innerparteilichen Gegner, Konkurrenten, „Versöhnler" und Skeptiker durchzusetzen. In den Schauprozessen gegen die Industriepartei, das „Unionsbüro der Menschewiken" und die bolschewistischen Oppositionellen wurde die Transaktion vor den Augen ausländischer Diplomaten und Journalisten abgewickelt. Diese erlebten dort präzedenzlose Demonstrationen einer neu geschmiedeten sowjetischen Willensgemeinschaft. Die Angeklagten bestanden darauf, daß sie sich der Sowjetmacht nicht nur aus Angst unterworfen hatten, sondern weil sie angeblich ein ontologisches Bedürfnis danach verspürten, mit der Masse der „ehrlichen Sowjetmenschen" zu verschmelzen. Die unfreiwillige Bereitschaft der Angeklagten, sich an diesem Schauspiel zu beteiligen, darf nicht als eine bolschewistische Besonderheit betrachtet werden. Unter den Bedingungen der Geiselhaft verhielten sich die bürgerlichen und menschewistischen Spezialisten bei der Vorermittlung und vor Gericht nicht wesentlich anders als die Parteikommunisten. Da die ideologische Biographie der prominenten Bolschewiki allerdings gut dokumentiert ist, läßt sich ihre Entscheidung zur Kooperation in den Kontext ihrer politischen Überzeugungen und Hoffnungen einordnen. Es scheint plausibel, daß sie sich wenn auch nur unter massivem physischen Druck und in der nie ganz aufgegebenen Hoffnung auf Begnadigung - zur persönlichen Selbstverleugnung auch deswegen bereit fanden, weil sie ihrer Partei und ihrem Land auf diese

153 Aus diesem Grunde verteidigte Stalin Michail Bulgakovs Stück „Die Tage der Turbins" gegen die Angriffe „proletarischer" Schriftsteller: „Vergessen Sie nicht, daß der Haupteindruck, der beim Zuschauer von diesem Stück bleibt, ein für die die Bolschewiki günstiger Eindruck ist: ,Wenn selbst solche Leute wie die Turbins gezwungen sind, die Waffen zu strecken und sich dem Willen des Volkes zu unterwerfen, und somit zugeben, daß ihre Sache endgültig verloren ist, so bedeutet das, die Bolschewiki sind unbesiegbar, gegen sie, die Bolschewiki, ist nicht aufzukommen.' ,Die Tage der Turbins' sind eine Demonstration der alles besiegenden (vsesokrusajuscej) Macht des Bolschewismus." Antwort an BillBelozerkowski, in: Stalin: Werke, Band 11, S. 292-294, Zitat S. 294.

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Weise einen „letzten Dienst" tun konnten. Genauso gut oder schlecht lassen sich analoge Motive aber auch den parteilosen Häftlingen unterstellen. Schon anderthalb Jahre vor Bucharin hatte der „bürgerliche" Mathematiker Nikolaj Luzin gegenüber dem Politbüro sein Verständnis dafür ausgesprochen, daß Menschen wie er bisweilen als Sündenböcke herhalten mußten. Selbst der Patriarch Tichon hatte auf der Lubjanka die Sowjetunion zu seiner politischen Heimat erklärt, die er gegen äußere Feinde verteidigt sehen wollte. Andererseits wehrten sich Politbüromitglieder wie Rudzutak oder Ejche bis zum Schluß gegen falsche Anschuldigungen. Es war vermutlich auch kein Zufall, daß bei fast allen wichtigen Schauprozessen der zwanziger und dreißiger Jahre ein und derselbe Tschekist Jakov Agranov im Vorfeld die wichtigsten Verhöre führte. Agranov war literarisch gebildet und besaß offenbar die Fähigkeit, jedem Gesprächspartner das Gefühl irgendeiner Gemeinsamkeit zu vermitteln. Die Erforschung der Biographie von intelligenten Tätern wie Agranov könnte unserem Bild von den Schauprozessen möglicherweise noch einige Striche hinzufügen. Der eigentliche Unterschied lag also nicht im Verhalten der Häftlinge, sondern in ihrer Behandlung durch das Regime. Während die Kapitulationen und Reuebekenntnisse des Patriarchen Tichon, der „Industriepartei" und der Menschewiki vom Regime anerkannt und durch Gegenleistungen honoriert wurden, blieb den ehemaligen Oppositionellen die Begnadigung versagt. Im Umgang mit ihnen offenbarte Stalin seine Doppelzüngigkeit: Nachdem die „Seelsorger" des NKVD die Gefangenen einfühlsam auf den Weg der „vollkommenen Reue" geführt hatten, wurden sie von der Justiz als „tollwütige Hunde" erschossen und ihr Andenken von der Propaganda in ewiger Schande ertränkt. Die Oppositionellen waren einem rationalen (oder will man sagen: christlichen) Mißverständnis unterlegen, solange sie ihre Schuld in konkreten Handlungen erblickten, die durch Buße und Reue getilgt und verziehen werden konnten. Stalin hingegen mißbrauchte ihre hysterischen und hilflosen Beteuerungen nur dazu, ihnen das Stigma einer „ontologischen" Schuld aufzubrennen, von dem sie sich ebensowenig befreien konnten wie der Teufel von seinem Pferdefuß. Wie Niklas Luhmann formulierte, ist „Aufrichtigkeit inkommunikabel, weil sie durch Kommunikation unaufrichtig wird".154 Es läßt sich schwer sagen, in welchem Maße der Paranoiker Stalin diesem verzwickten Umstand zum Opfer fiel und in welchem Maße der Propagandist Stalin ihn sich zynisch zunutze machte.

154 „Einmal in Kommunikation verstrickt, kommt man nie wieder ins Paradies der einfachen Seelen zurück... Kommunikation setzt ... einen ... unbehebbaren Verdacht frei, und alles Beteuern und Beschwichtigen regeneriert nur den Verdacht. Dieses Problem ist zunächst als ein anthropologisches registriert worden; es geht aber auf ein allgemeines kommunikationstheoretisches Paradox zurück." Luhmann: Soziale Systeme, S. 207.

Schlußfolgerung

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Bemerkenswert waren die beträchtliche Veränderungen der Rolle des Angeklagten. Anfang der zwanziger Jahre wurden politische Gefangene zwar mitunter zu schweren Strafen verurteilt, aber noch nicht in der späteren Weise dämonisiert. Das Gericht erkannte an, daß sie keine gewöhnlichen Kriminellen waren, und billigte ihnen zu, daß sie ihre Haltung auch ändern konnten. Die Sozialrevolutionäre erhielten die Gelegenheit, sich vor großem Publikum als revolutionäre Märtyrer darzustellen. Der politische „Feind" erschien vor diesen Tribunalen als ein starkes, gefährliches Subjekt, das zwar bekämpft werden mußte, dem aber dennoch mit einem gewissen Respekt zu begegnen war. Die Angeklagten des Sachty-Prozesses wurden bereits ganz anders behandelt. Sie galten nicht mehr als politische Überzeugungstäter, sondern als Verräter aus egoistischen materiellen Motiven. Sie waren auch die ersten, denen frei erfundene Missetaten zur Last gelegt wurden, die auch nach allgemeinen juristischen Maßstäben verbrecherisch waren. Auf ihre „Kapitulation" kam es nicht weiter an; im Gerichtsschauspiel spielten sie die Rolle „erbärmlicher" Anschauungsobjekte. Die Angeklagten in den Prozessen gegen die „Industriepartei" und das „menschewistische Unionsbüro" waren schließlich beides zugleich: Wichtige politische Akteure, deren Gesinnungswandel und „Kapitulation" für das Schicksal der Revolution durchaus wichtig sein konnte, wie auch gemeine Verräter, die ihren persönlichen Egoismus über das Wohl ihres Landes gestellt hatten. Auch ihnen billigte man noch die Fähigkeit zu, sich aus eigenem Entschluß zu „bessern" und für das Gute zu entscheiden. Für die ehemaligen bolschewistischen Oppositionellen galt dies nicht mehr. Der alte Trotzkist oder Rechtsabweichler war in anderer Hinsicht von Bedeutung: Er verkörperte in der stalinistischen Dämonologie den besonders gefahrlichen Feind, der nicht wegen seiner sozialen Herkunft oder seiner kulturellen Rückständigkeit, sondern - ähnlich wie der Engel Luzifer - nur aufgrund seiner eigenen freien Willensentscheidung zum Verräter geworden war. Stalin wollte nicht daran glauben, daß er diesen Schritt auch aus freiem Willen wieder rückgängig machen konnte, egal wie oft er dies auch beteuern mochte. Es wäre sinnlos, an dieser Stelle Spekulationen darüber anzustellen, ob Stalin mit diesen Prozessen auch seinen persönlichen „Rachedurst" stillen oder sich ein sadistisches Vergnügen bereiten wollte.155 Doch da die „Liturgie" (Foucault) des Richtens, Begnadigens und erneuten Aburteilens in seiner Herrschaftspraxis einen solch unübersehbaren Raum einnimmt, sollen einige

155 Seit Jahrzehnten wird Stalin das Zitat zugeschrieben, daß es auf der Welt „nichts Süßeres" gebe, als „das Opfer zu wählen, den Schlag umsichtig vorzubereiten [und] seine unversöhnliche Rache zu stillen". Vgl. Maximilien Rubel: Josef W. Stalin. Mit Selbstzeugnissen und Bilddokumenten, Reinbek 1975, S. 109. Ebenso gern kolportiert wird die Anekdote, daß Stalin die Schauprozesse von einer Geheimloge aus pfeiferauchend verfolgt haben soll. Vgl. z.B. Vaksberg·. Carica dokazatel'stv, S. 122-123.

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V. Schuldbekenntnisse im Gefängnis und vor Gericht

diesbezügliche Bemerkungen Elias Canettis zur Persönlichkeitsstruktur des „paranoiden Machthabers" wiedergegeben werden. Laut Canetti neigt der Machthaber dazu, „sich fiktive, feindliche Akte zu konstruieren, um sie nicht zu vergeben", und sträubt sich innerlich „gegen jede Form von Vergebung". Wenn er aus politischen Gründen die Vergebung aussprechen muß, so geschieht dies nur zum Schein: „Der Machthaber verzeiht nie wirklich". Und trotz seiner Stärke sehnt er sich nach der „vollzähligen Unterwerfung aller" so sehr, daß er oft einen „übertrieben hohen Preis" dafür bezahlt. Nach dem „Vorbild des biblischen Gottes" hat er einen „verwickelten Handel mit Vergebungen eingerichtet", doch behält er „das Gebaren des Versklavten" streng im Auge und bemerkt es leicht, „wie man ihn täuscht". Sein Strafbedürfnis rechtfertigt er stets mit der „heiligen Notwendigkeit des Strafens", läßt aber „den Weg zur Gnade immer offen". „In ihrer höchsten Steigerung erscheint die Macht dort, wo die Begnadigung erst im letzten Moment erfolgt. ... Es ist die Grenze der Macht, daß sie keine Toten wirklich wieder zum Leben zurückholen kann; aber im lange hingehaltenen Akt der Gnade kommt sich der Machthaber oft so vor, als hätte er diese Grenze überschritten."156

Mit ihren falschen Geständnissen und vollkommenen Reuebezeugungen halfen die Angeklagten Stalin dabei, diese Grenze noch durchlässiger zu machen. Wenn Stalin darüber entschied, ob er die Unterwerfung noch einmal als „ehrlich" anerkennen und honorieren oder als „ekelerregende Heuchelei" verhöhnen wollte, dann urteilte er nicht nur über das Leben der Menschen, sondern auch über ihr Ansehen in der Nachwelt und das Schicksal ihrer Nachkommen. So archaisch und inquisitionsähnlich die sowjetische Justiz hinter den Gefängnismauern auch vorgegangen sein mag, sie verzichtete doch niemals auf ihren rechtsstaatlichen Anspruch. Andrej Vysinskijs Leistung bestand darin, die Schauprozesse und „großen Säuberungen" nach außen hin notdürftig mit rechtsstaatlichen Normen in Einklang zu bringen. Wenn der Stalinismus eine eigene Zivilisation war, deren Gesetze die willkürliche Ermordung von Millionen von Menschen erlaubte, so brachte er doch keineswegs eine eigene Rechtsauffassung hervor, die dieses Vorgehen nach ihren eigenen Maßstäben hätte legitimieren können. Paradoxerweise kam es in der Stalinzeit sogar zu einer Rekonstruktion legalistischer Grundsätze, von denen die Bolschewiki in der nachrevolutionären Zeit vorübergehend abgerückt waren. Hatten sich Lenin und Trockij offen zum „revolutionären Terror" bekannt, so bezeichneten die stalinistischen Juristen immer nur ihre harmlosen Opfer als „Terroristen", niemals aber sich selbst.

156

Canetti·. Masse und Macht, Frankfurt am Main 1995, S. 353-354.

Schlußfolgerung

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Nach dem Geist und dem Buchstaben der sowjetischen Gesetze handelte es sich bei den „großen Säuberungen" um eine millionenfache Rechtsbeugung, zu der sich die Richter in Anbetracht der realen Machtverhältnisse bereitgefunden hatten. Ähnlich wie die sowjetische und innerparteiliche Demokratie war die Justiz in eine spezifische Geiselhaft geraten, aus der sie sich Jahrzehnte später teilweise befreien konnte.

Sozialistische Öffentlichkeit und Stalins Panoptikum Öffentliche und nichtöffentliche Schuldbekenntnisse spielten in der sowjetischen Herrschaftskommunikation eine weitaus größere Rolle als in den meisten europäischen Gesellschaften. Dennoch gab es in der Propaganda und der Selbstwahrnehmung von Partei und Staat keine klar artikulierte Doktrin, die diese Praxis einer einheitlichen Deutung zugeführt hätte. Das Regime und seine Ideologen legten auch sich selbst nur in sehr begrenztem Umfang Rechenschaft darüber ab, weshalb sie überhaupt Schuldbekenntnisse einforderten und welche politischen, moralischen und sittlichen Prinzipien sie diesem Vorgang zugrunde legten. In dieser Arbeit wurde der Versuch unternommen, diese Lücke auszufüllen und die Zusammenhänge, die zur Etablierung dieser Praxis geführt haben, möglichst vollständig nachzuvollziehbar zu machen. Die Rekonstruktion ihrer Entstehungsgeschichte führte zu Ergebnissen, die auch andere Aspekte der stalinschen Herrschaftspraxis möglicherweise besser verständlich machen. Als besonders wichtig erwies sich die Entdeckung des bolschewistischen Abstimmungskörpers als des vielleicht wichtigsten Ordnungsprinzips im Stalinismus. Schon die Sowjetologen der „totalitären" Schule haben die Praktiken der offiziellen Kommunikation im Stalinismus als ein Herrschaftsinstrument, als ein Erziehungs-, Kontroll- und Bewährungsmittel beschrieben.1 In den letzten fünfzehn Jahren entwickelten Historiker ähnliche Erklärungsmodelle, wobei sich mehrere von ihnen auf die Konzepte des Philosophen Michel Foucault bezogen. Stephen Kotkin prägte die Metapher vom „bolschewistischen Sprechen", Oleg Kharkhordin beschrieb die sowjetische Gesellschaft als ein Makarenko'sches pädagogisches Kollektiv, Brigitte Studer und Berthold Untried sprachen von „identitätsstiftenden Diskursen" und Igal Halfin von einer „Seelen-Hermeneutik". Die vorliegende Arbeit hat sichtbar gemacht, daß sich der offizielle Kommunikationsraum in zwei Sphären unterteilte. Die Grenze verlief zwischen zwei Imperativen: Einerseits sollten sich die „ehrlichen" Menschen im Abstimmungskörper zu einer monolithischen Willens- und Kampfgemeinschaft zusammenschließen, andererseits auch wohlwollende Kritik (die sogenannte „Selbstkritik") an vorhandenen Mißständen vorbringen. Die Unterscheidung beider Kontexte hatte enorme Auswirkungen auf die Praxis.

1 Vgl. z.B. Alex Inkeles: Public Opinion in Soviet Russia, Cambridge/Mass. 1950; Margaret Maed: Soviet Attitudes toward Authority. An interdisciplinary approach to problems of Soviet character, New York 1951; Dinko Tomasic·. The Impact of Russian Culture on Soviet Communism, Glencoe 1953; Raymond A. Bauer, Alex Inkeles, Clyde Kluckhohn: How the Soviet System Works. Cultural, Psychological, and Social Themes, Harvard 1956.

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Unabhängig von formalen Rechten und Zuständigkeiten begriff sich jede sowjetische Institution, jedes Kollektiv als ein Organ der politischen Willensbildung. In Sitzungen, Versammlungen und schriftlichen Erklärungen bekannten sich die betreffenden Personen zur Politik der Partei insgesamt wie auch zu einzelnen ihrer Maßnahmen. Die Parteinahme war faktisch erzwungen, hatte aber als „freiwillig" zu gelten. Es bleibt festzuhalten, daß die individuellen und kollektiven Stimmrechte weder auf staatlicher noch auf parteilicher Ebene jemals abgeschafft wurden. Man hielt die Stimmberechtigten lediglich durch permanente Gewaltandrohung davon ab, sie nach eigenem Willen wahrzunehmen. Der innere Zusammenhang zwischen den zivilen Formen der politischen Willensäußerung und der gewaltsamen Bekämpfung des „Feindes" blieb in der Stalinzeit immer erkennbar. Bald wurden die „richtig" Abstimmenden dazu verpflichtet, die Vertreter einer oppositionellen oder renitenten Minderheit von sich aus zu identifizieren und zu bekämpfen: Dann erfolgte deren Ausgrenzung nicht im Namen der Staatsgewalt, sondern scheinbar auf Initiative und mit Billigung einer gesellschaftlichen Mehrheit. Der Abstimmungskörper wurde somit zu einem sich ständig selbst reproduzierenden „totalitären" beziehungsweise „panoptischen" Herrschaftsinstrument par excellence, über das der zarische Polizeistaat noch nicht verfugt hatte. Überall, wo ein Abstimmungskörper existierte, war auch der Körper des Souveräns gleichsam physisch präsent. Obwohl dieses System der gegenseitigen Überwachung später in der Partei besonders konsequent realisiert wurde, war es hier keineswegs so, daß die Bolschewiki ihre innere „Parteidisziplin" auf die Gesamtgesellschaft übertragen hätten. Eher traf das Gegenteil zu: Die Methoden, die sie während des Bürgerkriegs im Kampf gegen Klassenfeinde und „kleinbürgerliche" Konkurrenzparteien entwickelt hatten, dienten schließlich auch zur innerparteilichen Disziplinierung. Erst nach dem zehnten Parteitag (1921) begannen Lenin und Stalin mit Hilfe des Fraktionsverbots, die Immunität der Stimmberechtigten auch in der eigenen Partei aufzuheben. Nach den Sowjets sah sich nun auch der bolschewistische Abstimmungskörper dazu gezwungen, sich gegenüber allen Rebellen, Abweichlern und Verweigerern tendenziell eliminatorisch zu verhalten. Peter Holquist zufolge griff der sowjetische Staat nicht nur zu Gewaltmaßnahmen, um sich vor potentiellen Feinden zu schützen - er wollte darüber hinaus ein Idealbild vom „einheitlichen politisch-sozialen Körper" verwirklichen.2 Auch der Abstimmungskörper, wie er hier beschrieben wurde, mag sich als Vorläufer des angestrebten Einheitskörpers begriffen haben. Zusam2

Peter Holquist: State Violence as Technique, S. 129-156. In der späten Stalinzeit und unter Chruscev war das Schlagwort „moralisch-politische Einheit" (moral 'no-politiceskoe edinstvo) verbreitet.

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mengehalten wurde er indes nicht durch die Gleichartigkeit der physischen Gestalt als vielmehr durch die Einheitlichkeit seines Willens: Seine „monolithische" Geschlossenheit wurde nicht als erreicht angesehen, solange sich nicht jedes einzelne seiner Glieder als Subjekt bewußt und aus freiem Willen mit ihm identifizierte. Die - auch körperlich zu fassende - Gewaltbereitschaft der Willensgemeinschaft richtete sich gegen alle, die ihm ihren eigenen Willen entgegenstellten. Der Verlauf von Wahlen und Abstimmungen informierte die Bolschewiki darüber, wie weit sie von ihrem Endziel - der spontanen, vollkommenen Einstimmigkeit - noch entfernt waren. Die Kultur der feierlichen „Kapitulationen", Loyalitätserklärungen und Schuldbekenntnisse entstand zunächst als ein Nebenprodukt dieser/Entwicklung; die Vertreter der besiegten Minderheiten wollten durch einen Akt der Unterwerfung ihre frühere Willensäußerungen „zurücknehmen" und hofften, sich auf diese Weise der Abstimmungsmehrheit beziehungsweise dem „Einheitskörper" nachträglich anschließen zu können. 1937 stellte sich endgültig heraus, daß diese Hoffnung unbegründet gewesen war; alle Gruppen ehemaliger „Feinde" wurden nun verfolgt, verhaftet und teilweise nahezu ausgerottet. Diese Maßnahme, der unter anderem ehemalige weiße Offiziere, christliche Priester, „Kulaken", Anarchisten, Sozialrevolutionäre, Arbeiteroppositionelle, Trotzkisten und Rechtsabweichler zum Opfer fielen, wurde zwar technisch vom NKVD abgewickelt, politisch aber auch vom sowjetischen Abstimmungskörper explizit gebilligt. Vertreter aller Opfergruppen hatten in der Zeit von 1917 bis 1937 „Kapitulationserklärungen" und Loyalitätsversprechen abgelegt, doch hatte diese Praxis nirgendwo so ausgeprägte Formen angenommen wie unter den Bolschewiki selbst. Das Verhalten der linken Oppositionellen diente später auch Intellektuellen und anderen Gruppen als Muster. Ende der zwanziger Jahre stellte sich das Regime allerdings die Frage, ob ein übertriebenes Streben nach Einstimmigkeit nicht auch schädliche Nebeneffekte hervorbringen könnte. Bald warnte die Propaganda davor, die „proletarische Öffentlichkeit" durch ein bürokratisches Kommandowesen, durch „Papier-Deklarationen" und rituelle „Halleluja-Gesänge" zu ersetzen. Nachdem es gelungen war, die bekennenden Trotzkisten vollständig aus der Partei auszuschließen, sollte das „Ventil der Selbstkritik" der als loyal angesehenen Bevölkerung die Möglichkeit geben, „gesunde, berechtigte, konstruktive Kritik" zu äußern. Während der Abstimmungskörper sich gegenüber „Feinden" tendenziell eliminatorisch verhielt, strebte die „sozialistische Öffentlichkeit" danach, loyale, aber fehlerhafte Sowjetbürger zu korrigieren beziehungsweise zu „erziehen". Auch den Vertretern fehlerhafter oder „schädlicher" Ansichten mußte folglich mit Nachsicht begegnet werden. Das Regime fürchtete, die „Verbindung mit den proletarischen Massen" zu verlieren, wenn es den Amtsträgern erlaubte, sich gefahrlos hinter seiner Autorität zu verstecken. Der Begriff „Selbstkritik"

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sollte darauf hindeuten, daß die entstehende Willensgemeinschaft der ehrlichen Sowjetmenschen „selbst" - das hieß: ohne den Außendruck des Feindes - in der Lage sein mußte, sich zu kritisieren, ihre Fehler aufzudecken und gemeinsam zu überwinden. Die „selbstkritische" sowjetische Öffentlichkeit beließ den getadelten Individuen die Möglichkeit, sich zu „bessern" und sich in die Gemeinschaft zu reintegrieren. Auch der „sozialistische Wettbewerb", das Stoßarbeiterwesen und die routinemäßigen „Säuberungen" galten als Erscheinungsformen von „Kritik und Selbstkritik". Die Trennung der beiden Kontexte entsprach der historisch-materialistischen Auffassung von Vergangenheit und Zukunft. Im politischen Kampf rächte sich die Willensgemeinschaft zunächst an ihren Feinden, während die „selbstkritische Öffentlichkeit" sich bemühte, die zukünftige kommunistische Gesellschaft hervorzubringen. Diese Arbeitsteilung war im Kern nicht ideologisch bedingt. Auch in pluralistischen Gesellschaften neigen Akteure der unterschiedlichsten Couleur dazu, bei den Einwänden ihrer Gegner zwischen „sachlicher, positiver, konstruktiver Kritik" und „unseriöser, diffamierender, destruktiver Hetze" zu unterscheiden. Und auch demokratische Politiker warnen manchmal davor, durch übertriebene Kritik den Fortbestand deijenigen Kampfgemeinschaft zu gefährden, die nach ihrer Auffassung die Existenz des Gemeinwesens garantiert.3 Die Besonderheit der sowjetischen Verhältnisse bestand darin, daß es einer einzigen politischen Willensgemeinschaft tatsächlich gelang, den anderswo nur rhetorisch erhobenen Anspruch auf das Definitionsmonopol auch wirksam durchzusetzen. Das Vorhandensein einer Institution, die in jedem konkreten Fall selbstherrlich festlegen durfte, wo die Grenze zwischen „konstruktiver Kritik" und „staatsfeindlicher Hetze" verlief, wer zu den „ehrlichen" und wer zu den „feindlich-negativen" Bürgern zu rechnen war, bestimmte in allen Gesellschaften sowjetischen Typs die Spielregeln der öffentlichen Kommunikation.4 Wie verhielt sich Stalin zum „stalinistischen Subjekt"? Betrachtete er die Forderung nach Schuldbekenntnissen als eine Strategie, kommunismustaugliche Menschen zu erziehen? Wollte er die „alten Menschen" so lange büßen und bereuen lassen, bis sie endlich ihr „altes Ich" abgestreift hatten und zu „Neuen Menschen" geworden waren?

3

Vgl. die Ausführungen Friedbert Pflügers, des außenpolitischen Sprechers der CDU/CSUFraktion im Deutschen Bundestag: „Wir können Amerika kritisieren. Aber am Schluß haben wir mit diesem Amerika doch mehr gemeinsam als mit irgendeinem Regime im Nahen Osten. Wir müssen wissen, wo wir stehen. ... Wir können Streit haben - aber wenn es zum Schwur kommt, dann müssen wir wissen, auf welcher Seite wir stehen." In: Chrismon. Das evangelische Magazin, 2003, Nr. 7, S. 22. 4 Noch 1989 kommt dies in den internen Lageberichten des Ministeriums für Staatssicherheit der DDR drastisch zum Ausdruck. Vgl. Armin Mitter, Stefan Wolle: „Ich liebe euch doch alle!" Befehle und Lageberichte des MfS. Januar-November 1989, Berlin 1990.

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Die Analyse der konkreten Praxis vermittelt eher einen gegenteiligen Eindruck: Stalins Methoden der Menschenbehandlung dienten offensichtlich politischen Zwecken, seine politischen Maßnahmen aber nicht unbedingt pädagogischen. Gerade anhand der Geschichte der Schuldbekenntnisse wird deutlich, daß das Regime den Untertanen fast nur unter dem Gesichtspunkt der Machtakkumulation Aufmerksamkeit widmete. Es zeigte keine besonderen Anstrengungen, ihren äußeren und inneren Wünschen, Ambitionen, Bedürfhissen und Schwierigkeiten gerecht zu werden. Um den einzelnen Oppositionellen etwa kümmerte sich die Parteizentrale erst, nachdem sie den innerparteilichen Fraktionen vernichtende Niederlagen in den Kampfabstimmungen zugefügt und sie zur kollektiven Kapitulation gezwungen hatte. Das individuelle Parteimitglied erschien ihr als kleinster potentieller Bestandteil einer „oppositionellen Fraktion". Hatte der Oppositionelle kapituliert, dann blieb immerhin noch sein freier Wille ein möglicher Rückzugsort einer feindlichen Willensbildung - und nur unter diesem Blickwinkel blieb er als Individuum für die professionellen „Seelsorger" der Geheimpolizei und der Kontrollkommission interessant. Auch bei der „Kritik und Selbstkritik" arbeitete sich das Regime von den großen Problemen mühsam zu den charakterlichen Defiziten der Einzelpersonen vor - und nicht etwa umgekehrt. Bei der Suche nach den Ursachen der vielfältigen „Mißstände" stieß man letzen Endes auf die (schon von Lenin so bezeichneten) „konkreten Träger des Übels". Erst als man gemerkt hatte, daß die eskalierende „Treibjagd" auf „verfaulte Bürokraten" und „fremde Elemente" die Probleme nicht lösen würde, erinnerte sich die Propaganda daran, daß man die individuellen Funktionsträger ja auch als Erziehungsobjekte betrachten könnte. Wo Menschen keinen feindlichen Willen hegten, sondern einfach nur schlecht funktionierten, da empfahlen Stalin und seine Mitstreiter die Holzhammerpädagogik: Man sollte die Schuldigen „nicht totschlagen", sondern nur so lange „prügeln", bis sie sich bessern würden. Die Konditionierbarkeit der Untertanen wurde dabei weniger eingefordert als praktiziert. Wer seine Lektion nicht schnell genug begriff, den konnte man immer noch zum „Sündenbock" erklären und davonjagen - in der Hoffnung, wenigstens den Zuschauern einen heilsamen Schrecken einzujagen. Stalin bezeichnete die „Selbstkritik von oben" zwar explizit als Methode zur Erziehung von Parteikadem (und damit, wenn man so will, auch des „Neuen Menschen"), handhabte sie aber rein machiavellistisch. Häufig genug (wie etwa bei der Zwangskollektivierung 1930 oder den ausufernden „Säuberungen" 1938) war er in Wirklichkeit selbst für die „Überspitzungen" verantwortlich, die er seinen Funktionären zur Last legte. In der Praxis der Schuldbekenntnisse konstruierte sich das „stalinistische Subjekt" also nicht als Embryo des „Neuen Menschen", sondern als potentieller Verräter, als lästige Fehlerquelle oder als nützlicher „Sündenbock". Der herrscherliche Blick auf das individuelle Subjekt war in gleicher Weise gespalten wie die „sozialistische Öffentlichkeit": Negativ aufgefallene Unter-

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tanen wurden entweder als „Feinde" dämonisiert oder als „zurückgeblieben" infantilisiert. Nicht im „Neuen Menschen", sondern im „ehrlichen Sowjetbürger" erkannte die Parteisprache des Jahres 1937 den Antipoden des bösartigen „Volksfeinds". Es war die Unterscheidung zwischen „ehrlichen" und „feindlichen" Menschen, die indirekt, nebenbei und ungewollt den wirksamen Erziehungsbegriff des sowjetischen Herrschaftsalltags definierte. Als erziehungsfahig hatten demnach eben diejenigen zu gelten, die noch nicht als „Feinde" identifiziert worden waren; und unter „Erziehung" fielen all jene Maßnahmen, die die Obrigkeit gegenüber den Erziehungsfahigen ergriff. Erziehung war die euphemistische Umschreibung für die Behandlung der als loyal angesehenen Untertanen insgesamt. Dieser vollkommen redundante Diskurs verdankte seine Popularität weniger der zentralen Propaganda als vielmehr dem unermüdlichen Versuch der „bolschewistisch sprechenden" Untertanen, die Obrigkeit bei der Ausübung von Definitionsmacht zu beeinflussen. In ihren Schuldbekenntnissen zeigten sie große Bereitschaft, auch willkürliche Bestraftingen demütig als „notwendige Erziehungsmaßnahme" anzuerkennen, solange man sie nur nicht zu „Feinden" erklärte. Aus der Gefahrenzone der Hexenjagd flüchteten die Untertanen in die Selbstinfantilisierung. Auf dieser Wellenlänge fanden das Regime und die Untertanen nach langen Mühen tatsächlich zu einer gemeinsamen „bolschewistischen" Sprache. Stalin, der von seinen Mitstreitern schon in den dreißiger Jahren als „Hausherr" (chozjain) bezeichnet worden war, akzeptierte die Rolle des gütigen „Vaters und Lehrers", die Bürger gaben sich als harmlose Kinder. Nicht das aufgeklärte, moderne, rationale kommunistische Produktionskollektiv war das kulturelle Modell des neuen Kommunikationssystems, sondern die patriarchale Großfamilie. Die Bedeutung des Kollektivgedankens in der Stalinzeit sollte insgesamt nicht überschätzt werden. Die stalinistischen Techniken des Überwachens und Strafens hatten mit der Kollektivpädagogik Anton Makarenkos nicht allzuviel gemeinsam. Bezeichnenderweise gab es in der Partei, dem Komsomol, der Gewerkschaft und den Industriebetrieben überhaupt keine „Kollektive", sondern nur „Zellen" und „Organisationen", die gegenseitige Kontrolle fand in der „sozialistischen Öffentlichkeit" statt. Es handelt sich nicht nur um einen semantischen Unterschied. Während Makarenko versuchte, die von ihm betreuten Kollektive zu festen, selbstbewußten Kameradschaften zu formen, fürchtete sich Stalin vor jeder Form der stabilen „Gruppenbildung". Im stalinistische Abstimmungskörper wurden die Mitglieder dazu gebracht, sich gegenseitig ans Messer zu liefern, während Makarenko seine Zöglinge darin bestärkte, füreinander einzustehen. Immerhin setzten neben Makarenko auch viele andere sowjetische Sozialpädagogen große Hoffnungen darauf, individuelle Disziplinverletzer oder Leistungsverweigerer durch die moralische Einwirkung von Kollegen und Mit-

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schillern zu korrigieren. Die Komsomolführung ermahnte nach 1938 dazu, das Mißverhalten des einzelnen immer auch als ein Versagen seiner sozialen Umgebung aufzufassen. Sie erinnerte daran, daß Jugendliche auf die Ermahnung ihrer Kameraden oft wesentlich positiver reagierten als auf den obrigkeitlichen Tadel der Erzieher. Demnach war es nicht richtig, Disziplinverletzer hart zu bestrafen, ehe man sie nicht öffentlich zur Rede gestellt und an ihr Gewissen appelliert hatte. Stalins drakonische Gesetzgebung jedoch nahm den Techniken der einfühlsamen Milde ihre Wirkungsmöglichkeit. 1932 ordnete er an, kleine Diebstähle mit langjährigen Gefängnisstrafen und Arbeitsversäumnisse mit sofortiger Entlassung zu ahnden. 1935 senkte das Politbüro das Mindestalter für die Todesstrafe auf zwölf Jahre. Seit Juni 1940 mußten auch geringfügige Verspätungen am Arbeitsplatz mit Gefängnis bestraft werden. Offensichtlich glaubte der „Vater und Lehrer" nicht an die Wirksamkeit einer reueseligen Kollektivpädagogik, sondern vertraute lieber auf die Kraft der Abschreckung. Daß Schuld- und Reuebekenntnisse in der sowjetischen Öffentlichkeit überhaupt jemals große Bedeutung erlangen konnten, ist im Grunde verwunderlich - stieß doch die Einführung dieser Praxis in fast allen Milieus der Gesellschaft auf spürbares Befremden. Viele Zeitgenossen fühlten sich von der Szene einer öffentlichen Selbstbeschuldigung spontan abgestoßen. Insbesondere die Bolschewiki denunzierten die pseudokirchlichen „Bußrituale" als komödiantisch, heuchlerisch und würdelos. Sie fürchteten sich vor dem Wiederaufleben Dostoevskij'scher Gemütszustände (dostoevscina) und der hysterischen Irrationalität der verachteten „russischen Seele".5 Ähnlich wie ihre zarischen Vorgänger pflegten Partei- und Sowjetfunktionäre ein kompromißloses Verständnis von „Autorität". Sie betrachteten jegliche „Kritik von unten" - mochte sie noch so berechtigt sein - als einen Angriff auf die „Ehre" ihrer Institution. Es lag ihnen fern, eine solche Unbotmäßigkeit mit demütigen Fehlereingeständnissen zu beantworten. Wenn sie aber „von oben" getadelt wurden, waren sie zu solchen durchaus bereit. Auch die Kameradschaftsgerichte stießen mancherorts auf Ablehnung, weil eine wirksame Bestrafung dort durch „kirchliche Bußrituale" ersetzt werde. Vertreter der ultralinken marxistischen Intelligenz empfanden es als eine große Zumutung, sich für ideologische oder andere Fehler öffentlich entschuldigen zu müssen. Das Regime bezeichnete oppositionelle Kapitulationserklärungen grundsätzlich als „doppelzünglerische Manöver". Die Staatsanwälte Krylenko und Vysinskij zeigten häufig großen Widerwillen, der „Reue" ihrer Angeklagten auch nur im mindesten Glauben zu schenken. Je vehementer die Oppositionellen die „völlige Aufrichtigkeit" ihrer Unterwerfung beteuerten, um so schnel5

Manchmal wurden auch Assoziationen zu den Figuren der Schriftsteller Michail Saltykoväcedrin und Aleksandr Ostrovskij hergestellt.

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ler beeilte sich das Regime, neue Tatbestände zu konstruieren und sie ein weiteres Mal Lügen zu strafen. Nicht nur ehemalige Oppositionelle mußten sich eine solche Behandlung gefallen lassen. Nichtmarxistische Intellektuelle, denen traditionell „russische" Werte viel bedeuteten, erkannten in den Schuldbekenntnissen nicht weniger als eine sittliche Perversion. Bucharins Kapitulationserklärung vom Herbst 1930 kommentierte der Schriftsteller Michail Prisvin in seinem Tagebuch folgendermaßen: „Der eine erhängt sich, der andre gibt sich die Kugel, der dritte verleugnet sich selbst in einer Mitteilung an die Zeitung und bewahrt dabei im Stillen die Hoffnung, irgendwann in einem günstigen Moment seine menschliche Seele in das aufbewahrte Futteral seines verschwundenen Selbst wieder zurückzuschieben".6

Aleksandr Solzenicyn äußerte sich im „Archipel Gulag" verächtlich über Marxisten und Parteikommunisten, die nach seiner Meinung besonders schnell dazu bereit waren, falsche Geständnisse abzulegen und andere zu belasten. Der weltbekannte Kulturhistoriker Dmitrij Lichaöev bezeichnete in seinen Erinnerungen die „selbstkritischen" Sitzungen (prorabotki) der Nachkriegszeit als einen „Sabbat des Bösen" und als „Triumph der Niedertracht". Anständige Menschen hätten es als Ehrensache angesehen, sich so wenig wie möglich an ihnen zu beteiligen und auch selbst keine falschen Schuldbekenntnisse abzulegen.7 Wenn das Schauspiel von Kapitulations- und Loyalitätserklärungen großes Befremden auslöste, so war die Forderung nach Schuldbekenntnissen doch in keiner Weise originell. Alle siegreichen Armeen erwarteten die Kapitulation ihrer Gegner, alle Staaten und Regierungen erwarten von ihren Amtsträgern explizite Loyalitätsbekenntnisse. Auch im Rechtsstaat sind Staatsanwälte und Richter häufig bereit, reuige Geständnisse des Angeklagten zu honorieren. Die meisten Eltern und Lehrer erwarten von ihren Kindern und Schülern, daß sie Ermahnungen beherzigen und sich gegebenenfalls auch entschuldigen. Und schließlich richten Politiker auch in demokratischen Gesellschaften nach politischen Umwälzungen an den politischen Gegner gerne die Forderung, er möge seine Fehler, Irrtümer oder Verbrechen doch endlich zugeben.8 6

Michail Prisvin: Dnevnik pisatelja. 1930 god, in: Oktjabr' 1989, Nr. 7, Zitat S. 179. Vgl. Lichatschow: Hunger und Terror. Mein Leben zwischen Oktoberrevolution und Perestrojka, S. 312-332, insbesondere S. 318-321. 8 Angela Merkel forderte den Bundeskanzler Gerhard Schröder dazu auf, seine frühere ablehnende Haltung zur deutschen Wiedervereinigung nachträglich zu verurteilen: „Herr Bundeskanzler, ... ich erwarte von Ihnen ein Wort, mit dem Sie sagen: Ja, ich habe die Lage 1990 falsch eingeschätzt. Ja, ich habe aus diesem Irrtum etwas gelernt. Ja, ich habe daraus gelernt, daß es in der Politik Stunden gibt, in denen es um mehr geht als um Posten, Schulden und Steuern, nämlich um sehr grundsätzliche Fragen. Das erwarte ich von Ihnen." (Rede im Bundestag am 29. September 2000. Vgl. Das Parlament, 2000, Nr. 41-42.) US-Vizeverteidigungsminister Paul Wolfowitz forderte nach dem Irak-Krieg von türkischen Politikern, sie sollten zugeben, einen Fehler gemacht zu haben, als sie den amerika7

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Doch im Unterschied zu gewöhnlichen Autoritätspersonen oder Parlamentsrednern verfügte Iosif Stalin über die Machtmittel, derartige Forderungen auch weit über das übliche Maß hinaus durchzusetzen - und machte von ihnen konsequent Gebrauch. In den meisten Schlüsselepisoden war er es persönlich, der seine Gegner und Untergebenen zu Schuld- und Reuebekenntnissen zwang. Alle wichtigen von der CKK abgewickelten Wiederaufnahmeverfahren „reuiger Oppositioneller" liefen auch über seinen Schreibtisch.9 Um sein Verlangen nach Schuldbekenntnissen ideologisch zu untermauern, berief sich Stalin auf Lenins Emahnung, man müsse „den Mut haben, von den eigenen Fehlern zu sprechen". Diese Forderung, die Lenin an die Partei insgesamt gestellt hatte, übertrug Stalin auf die individuellen Funktionäre. Doch obwohl die Propaganda den Topos vom „mutigen Fehlereingeständnis" gerne dazu nutzte, jeglichen Rechtfertigungsversuch als „feige" zu brandmarken, durften reuige Funktionäre keineswegs selbst für sich in Anspruch nehmen, „mutig" zu sein. Niemals propagierte Stalin einen Moralkodex, der es verboten hätte, Schuldbekenntnisse zu verhöhnen. Anders als der beichtende Christ beschädigte der Sowjetbürger, der öffentlich seine Schuld bekannte, sein soziales Ansehen durchaus. Und nur allzu oft weigerte sich Stalin, die „Reue" auch mit seiner „Vergebung" zu beantworten. Er ließ keinen Zweifel daran, daß die Partei nicht „Worten", sondern nur „Taten" vertrauen durfte. Nur die optimistischeren Formen der Kollektiv-Pädagogik im Komsomol und im Arbeitsleben entfalteten sich weitgehend unabhängig von Stalins persönlichem Einfluß, und gerade bei diesen kam es weniger auf Schuldbekenntnisse an als auf Besserungsversprechen. Es ist wohl unmöglich, die „sozialistische Öffentlichkeit" mitsamt ihren Schauprozessen, Parteiversammlungen, Generalsäuberungen und Kameradschaftsgerichten zu beschreiben, ohne dabei ständig Vergleiche mit der Welt des Theaters herzustellen.10 Schon die Zeitgenossen hatten eine Ahnung davon, daß die Propaganda ihre Effekte häufig durch Fälschungen, Lügen und Manipulationen erzielte. Dennoch war es nicht die zu vermutende Fiktionalität, die der kommunikativen Situation den Anstrich des Theatralischen verlieh, sondern ihr pernischen Truppenaufmarsch blockierten (vgl. Interview mit CNN Turkey vom 6. Mai 2003, in: http://dod.mil/transcripts/2003/tr20030506-depsecdef0156.html). Die südafrikanischen „Wahrheitskommissionen" boten früheren Regierungskriminellen Schonung an, wenn sie „die ganze Wahrheit" zugaben. Eine ähnliche Idee hatte Solschenizyn schon im „Archipel Gulag" geäußert: „Aber wir sind unserem Land und unseren Kindern verpflichtet, alle zu finden und alle zu richten! ... Zu erreichen, daß es jeder von ihnen zumindest laut ausspricht: ,Ja, ich bin ein Mörder und Henker gewesen.'" (Solschenizyn: Der Archipel Gulag, S. 175). Die Liste der Beispiele ließe sich fortsetzen. 9 Vgl. den Verteilerschlüssel auf den Dokumenten über die Entschiedungen der CKK (vgl. das erste Kapitel). 10 Vgl. Cassidays Zusammenstellung historiographischer Zitate. Cassiday: The Enemy on Trial, S. 197.

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formativer Charakter, die wirkungsvolle, melodramatische Zuspitzung. Der Bühnenschauspieler verstellt sich, um das Publikum vergessen zu lassen, daß er seine Rolle nur spielt - der Stimmführer der sozialistischen Öffentlichkeit hingegen bediente sich theatralischer Gesten, um einen authentischen Willen in der Realität durchzusetzen. Kein Orchestergraben schützte das Publikum vor der dramatischen Handlung, niemand genoß das Privileg voyeuristischen Unbeteiligtseins, und Zinov'ev wurde tatsächlich erschossen. Alle Anwesenden waren Zuschauer und Akteure zugleich, sie mußten als eine Art tragischer Chor zum Geschehen Stellung nehmen und Zustimmung oder Ablehnung demonstrieren. Wie viele andere Machthaber erkannte Stalin in der Dimension des Performativen beziehungsweise des Theatralischen einen harten Machtfaktor. Mit großem Nachdruck arbeitete er daran, wirkliche und fiktive Konflikte öffentlich als Drama zu inszenieren, zuzuspitzen und dem Publikum eine eindeutige Bewertung des Geschehens aufzuzwingen. Die Performanz war eine Kombination von Bühnenshow und Akklamationsritual. Die sowjetische Bevölkerung verlieh dem Regime und seinen aktuellen Maßnahmen Legitimation, indem es sich in die Aufführung melodramatisch zugespitzter Herrschaftssituationen mit einbeziehen ließ. Traten im Stück Negativpersonen auf, so geriet die Aussage des Stücks mehr oder weniger zwangsläufig zu einer Art Gerichtsurteil, das im Publikum starke Emotionen hervorrufen sollte. Im Groben lassen sich drei unterschiedliche Szenarien unterscheiden. Im ersten Fall zeigte das Straftheater die Vernichtung des Feindes. Eine wütende Volksmasse umgab den Gerichtsplatz und mußte mühsam davon abgehalten werden, die Feinde sofort zu lynchen. Eine Kultur des Hasses verlangte nach ihrer Entwürdigung und Entmenschlichung. Die Aggression zielte fraglos auf die Identität, den Willen und den Körper der „Schädlinge". Zur Zeit der „großen Säuberungen" wurde dieses Szenario nicht nur im Gerichtsaal, sondern auch in der „sowjetischen Öffentlichkeit" aufgeführt. In den dreißiger Jahren wurde das Schuldbekenntnis zu einem wichtigen, aber nicht zum zentralen Element dieses Schauspiels. Entscheidend blieb nach wie vor die Zusammenrottung der „ehrlichen Sowjetmenschen" zu einer gewaltbereiten Hetzmasse. Das zweite Szenario zeigte die Statuierung eines lehrreichen Exempels. Im Vordergrund stand das Verbrechen und nicht der Schuldige. Er wurde nicht zwangsläufig mit dem „Feind" identifiziert. Man wollte ihn weder vernichten noch korrigieren, sondern ihm einfach nur zur Strafe sichtbare Schmerzen zufügen. Die Anprangerung des Sündenbocks sollte den Zuschauern einen heilsamen Schrecken einjagen und die Gültigkeit einer Norm befestigen. In der „sozialistischen Öffentlichkeit" wurde dieses Szenario noch weitaus häufiger aufgeführt als vor Gericht. Bei passender Gelegenheit maß die Betriebsobrigkeit banalen Regelverletzungen „prinzipielle Bedeutung" bei, berief gro-

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ße Arbeiterversammlungen ein und sorgte für eine sichtbare Bestrafung der Schuldigen. Das dritte Szenario schließlich erzählte die Geschichte einer individuellen Besserung. Aufgrund seiner guten Einsicht konnte der reuige Sünder gebessert und in die sozialistische Menschengemeinschaft reintegriert werden. Auch hier wurde ein Exempel statuiert, das seine Wirkung nun aber nicht mehr durch bloße Abschreckung, sondern durch den moralischen Appell erzielen wollte. Eventuelle Schuld- oder Reuebekenntnisse konnten in ganz unterschiedlicher Weise dramaturgisch genutzt werden: Sie eigneten sich dazu, die „doppelzünglerische" Erbärmlichkeit der gedemütigten Feinde zu illustrieren; andererseits erlaubten sie es dem Herrscher, sich gegebenenfalls als milden, einfühlsamen Erzieher zu präsentieren, der noch einmal Gnade vor Recht ergehen läßt. In allen Szenarien war die Zuschauermasse sowohl mit dem Gericht auch mit dem Beschuldigten in gewisser Weise identisch. Die Zuschauer ren es, denen die Lektion erteilt wurde; sie waren es aber auch, die über Urteilsspruch beraten und abgestimmt hatten. Diese angestrebte Identität Gericht und Volksversammlung erinnert an archaische Vorbilder.

wie waden von

Beide Sphären der gesellschaftlichen Öffentlichkeit können als panoptische Machttechniken angesehen werden - sowohl der kämpfende Abstimmungskörper, in dem das Regime seinen politischen Willen immer wieder von neuem demonstrativ bildete, behauptete und durchsetzte, wie auch die zivile, „konstruktive, kameradschaftliche, schöpferische Selbstkritik". Hier wie dort war eine Funktion umgestülpt worden. Das Regime hatte Kommunikationsformen, die ursprünglich zur Partizipation eingeladen hatten, in Techniken der Sozialkontrolle verwandelt, welche die Sowjetbürger gleichzeitig auf die Täter- wie auf die Opferrolle vorbereiteten. Den Versammlungsteilnehmern in der Partei, des Betriebs, der Gewerkschaft oder des Schriftstellerverbands blieb kaum anderes übrig, als sich im Sinne des Regimes gegenseitig zu beobachten, zu erziehen, zu maßregeln oder gar zu eliminieren. Doch trotz aller Gemeinsamkeiten wirkte die stalinistische „Öffentlichkeit" nicht in die selbe Richtung wie jene raffinierten Disziplinierungstechniken, die Michel Foucault in „Überwachen und Strafen" beschrieben hat. Laut Foucault besteht das Eigenartige der neuzeitlichen „Disziplinen" eben gerade nicht darin, daß sie den politischen Machterhalt als solchen garantieren; vielmehr gewährleisten sie die sparsame, diskrete und nachhaltige Leistungssteigerung der Individuen und aller gesellschaftlichen „Apparate". Nirgendwo läßt Foucaults Erzählung den Kontrast zwischen dem alten Fürstenstaat und der modernen westlichen Industriegesellschaft deutlicher werden als in der Gegenüberstellung der „gräßlichen Hinrichtungsliturgie" und dem sauberen, panoptischen, kostendeckend arbeitenden Disziplinargefängnis: „Die Antike war eine Zivilisation des Schauspiels gewesen. ... Mit dem Schauspiel dominierte die .öffentliche Lebensweise', die Intensität der Feste, die sinnliche Nähe. In

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Sozialistische Öffentlichkeit und Stalins Panoptikum

diesen von Blut triefenden Ritualen gewann die Gesellschaft ihre Kraft und bildete fur einen Augenblick gleichsam einen einzigen großen Körper. Die neuere Zeit stellt das umgekehrte Problem: Wenigen oder einem Einzelnen die Übersicht Vieler zu gewähren"." „Das Panopticum ... hat verstärkend und steigernd zu wirken; nicht um der Macht willen und nicht, um einer bedrohten Gesellschaft das Leben zu retten, organisiert es die Macht und macht sie ökonomischer und wirksamer: es geht darum, die Gesellschaftskräfte zu steigern die Produktion zu erhöhen, die Wirtschaft zu entwickeln, die Bildung auszudehnen, das Niveau der öffentlichen Moral zu heben; zu Wachstum und Mehrung beizutragen".'2

Es war das Schicksal der sowjetischen Untertanen, daß Stalin weder auf das eine noch das andere verzichten wollte. Der in allen Kapiteln beschriebene Gegensatz zwischen der behutsam, ja manchmal sogar „einfühlsam" konditionierenden „Selbstkritik" und dem blutig rächenden Abstimmungskörper kann auch als eine Gleichzeitigkeit dieser beiden Zeitalter des „Überwachens und Strafens" begriffen werden. Das von Foucault beschriebene Panopticum diszipliniert nicht nur seine Gefangenen, sondern verhält sich auch selbst überaus rational, diskret und vorhersehbar. Der stalinistische Abstimmungskörper hingegen war nicht bereit, in der Anonymität ökonomischer Vernunft zu verschwinden. Statt dessen machte er seine ureigenen körperlichen und seelischen Bedürfnisse geltend: seinen Verfolgungswahn, seine weltanschaulichen Grillen, seine archaische Rachsucht und seine regressive Eigenliebe. Nicht nur in dramatischen Momenten der kämpfenden Selbstbehauptung, sondern auch während der alltäglichen Planerfüllung verlangte es ihn nach sinnlicher Nähe, nach intensiven Festen, nach großartigen Gebärden und endlich nach Liebe und Anerkennung.

11 12

Foucault: Überwachen und Strafen, S. 278. Foucault: Überwachen und Strafen, S. 267.

Anhang Abkürzungsverzeichnis AK Nauk - Akademija nauk CAODM - Central'nyj archiv obäiestvennych dvizenij Moskvy CDNIVO - Centr dokumentacii novejäej istorii Voronezskoj oblasti CK - Central'nyj komitet CKK - Central'naja kontrol'naja kommissija CMAM - Central'nyj municipal'nyj archiv Moskvy FOSP - Federacija obäöestv sovetskich pisatelej GARF - Gosudarstvennyj archiv Rossijskoj Federacii GPU - siehe OGPU IKKI - Ispol'nitel'nyj komitet Kommunistiöeskogo Internacionala IKP - Institut krasnoj proffessury KPK - Komitet partijnogo kontrolja KP(b)U - Kommunistiöeskaja partija (bol'äevikov) Ukrainy LEF - „Levyj front iskusstv" Mestkom - Mestnyj komitet MGK - Moskovskij gorodskij komitet MGU - Moskovskij gosudarstvennyj universtitet MK - Moskovskij komitet MOPR - Mezdunarodnaja organizacija pomoäii borcam revoljucii NK RKI - Narodnyj kommissariat rabo£e-krestjanskoj inspekcii NKID - Narodnyj kommissariat inostrannych del NKT - Narodnyj kommissariat truda NKTP - Narodnyj kommissariat tjazeloj promySlennosti NKVD - Narodnyj kommissariat vnutrennich del OGIZ - Ob'edinennoe gosudarstvennoe izdatel'stvo OGPU - Ob'edinennoe gosudarstvennoe politiöeskoe uCrezdenie OK - Oblastnoj komitet OKK - Oblastnaja kontrol'naja kommissija PB - Politbjuro CK VKP(b) PSR - Partija socialistov-revolucionerov RAPP - Rossijskaja associacija proletarskich pisatelej RCChlDNI - siehe RGASPI RGALI - Rossijskij gosudarstvennyj archiv literatury i iskusstv RGASPI - Rossijskij gosudarstvennyj archiv social'no-politi£eskoj istorii

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Anhang

RK, Rajkom - Rajonnyj koraitet RKI - siehe NK RKI RKKA - Raboöe-Krest'janskaja Krasnaja Armija RKP(b) - Rossijskaja kommunistiieskaja partija (bol'sevikov) RSFSR - Rossijskaja sovetskaja federal'naja socialistiöeskaja respublika SNK - Sovet narodnych komissarov SSP - Sojuz sovetskich pisatelej VAPP - Vserossijskaja associacija proletarskich pisatelej VÖK - Vserossijskaja örezvycajnaja komissija po bor'be s kontrrevoljuciej i sabotazem VCSPS - Vsesojuznyj central'nyj sovet professional'nych sojuzov VGU - Voronezskij gosudarstvennyj universitet VKP(b) - Vserossijskaja kommunistiieskaja partija (bol'äevikov) VLKSM - Vsesojuznyj leninskij kommunistißeskij sojuz molodezi VOAPP - Vsesojuznoe ob'edinenie associacij proletarskich pisatelej

Bibliographie und Quellennachweise

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Bibliographie und Quellennachweise Archive CADKM - Central'nyj archiv dokumental'nych kollekcii Moskvy CAODM - Central'nyj archiv obScestvennych dvizenij Moskvy CDNIVO - Centr dokumentacii novejsej istorii Voronezskoj oblasti (Voronez) GARF - Gosudarstvennyj archiv Rossijskoj Federacii (Moskau) GAVO - Gosudarstvennyj archiv Voronezskoj oblasti (Voronez) Mannesmannarchiv (Düsseldorf) RGALI - Rossijskij gosudarstvennyj archiv literatury i iskusstv RGASPI - Rossijskij gosudarstvennyj archiv social'noj i politiceskoj istorii (Moskau) RGASPI-CChDMO - Centr chranenija dokumentov molodeznych organizacii

Zeitungen und Zeitschriften aus dem

Untersuchungszeitraum

Bjulleten' oppozicii Bol'Sevik Izvestija Kommuna Literaturnaja gazeta Na literaturnom postu Partijnoe stroitel'stvo Pravda Proletarskaja revoljucija Socialisticeskij vestnik Sovetskaja justicija Sovetskoe slovo Teoreticeskij front Torgovo-promySlennaja gazeta Trud Vestnik kommunisticeskoj akademii Za industrializaciju

Quellen und Quellenpublikationen

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Personenregister Adamov 66 Afinogenov 174, 387 Agranov 362, 368 Aleksandrov 320f. Alichanov 94, 115 Alpatov 168 Altuchov 278 Andreev, Andrej A. 56, 190f., 206, 215, 217, 222,300,305 Andreev-Arbeiter 56 Angarov, Α. I. 308 Anikeev 275f. Antipov, Nikolaj K. 220 Arochina - Werkmeisterin 259 Avdeenko, Aleksandr O. 303-306 Averbach 137, 142, 148-150, 154, 159, 170, 172-175, 178, 322 Averin - Parteiorganisator 241 Bagrickij, E. G. - „Konstruktivist" 153 Balasov - Techniker 58 Baranov - heimlicher Oppositioneller 68 Barber, John 162, 165 Bauman, Karl J. 74, 88-90, 92, 130,135, 162, 187, 198, 364 Becher, Johannes R. 299 Bednyj, Dem'jan 42,137 Behrendt, Lutz-Dieter 17, 142, 151 Beljakov - heimlicher Oppositioneller 69 Bereznjak - Parteimitglied 57f. Bergson, Henri 155 Berija, Lavrentij P. 211, 363f. Bernaut, Elsa 13,351,353,356 Bespalov, IvanM. 144, 147-151, 154, 157 Bezgin - öffentlicher Inspektor 264 Bezymenskij, Aleksandr I. 200 Birman, S. P. - Industriefunktionär 257 Bonner, Elena 274 Borovik, Fasonki - Schlosser 259 Borzov - Werkmeister 264 Brandt, Willy 27 Bubnecov - Jugendfunktionär 249 Bubnov, Andrej S. 84 Bucharin, Nikolaj I. 14, 34, 38f„ 47,49, 51, 74f„ 82, 85-87, 89, 91, 95, 109-111, 135, 188, 192-196, 198, 200-202, 213f., 233, 253, 283, 328, 332, 353, 356f„ 360-362, 368

Bulatoν - Parteifunktionär 195 Bulgakov, Michail Α. 137, 141 Bulganin, Nikolaj A. 203, 223 Busygin-Arbeiter 257 Butov - Eisenbahnangestellter 292 Bykovskij - Komsomolze 247 Canetti, Elias 34,370 Cariev, Ch.N. 173 Cassiday, Julie 20, 109, 123, 261, 343, 381 Cechoviß - Parteimiglied 66 Cernov - Eisenbahnangestellter 295 Chodzibaev - Parteifunktionär 43 Chruäöev, Nikita S. 34, 203, 210, 263, 356, 364f„ 374 Clinton, Bill 27 Cumandrin, M. F. 173f. Curilin, M.T. 310 Danilov - Student 164 David-Fox, Michael 17f„ 22,43,127, 136, 151 Deborin, Abram M. 155-157,160,163 Dernov - Professor 169 Deutscher, Isaac 38,188 Dostoevskij, Fedor M. 72,150, 379 Drobnis, Jakov 359 Dudnik, Efim - Parteimitglied 66f. Ejche, Robert I. 356,364 Ejsmont, Nikolaj B. 192 Enukidze, Avel S. 207-212, 228 Ermilov, V. V. 153 Esakov, V. D. 317-319 Evdokimov, G. E. 52,62 Ezov, Nikolaj I. 200, 207-210, 212, 215, 217-220,227 Fadeev, Aleksandr A. 137, 151, 169f„ 172-175, 178, 298, 306,310 Fedorov - Parteimitglied 69 Fedotov, Aleksandr A. 346,351 Filtzer, Donald 123 Fischer, Joseph 27 Fischer, Ruth 54 Fitzpatrick, Sheila 135, 150, 253, 291, 329, 332 Flior, Iosif 66

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Personenregister

Foucault, Michel 13, 21, 27-29, 94, 131, 340, 369, 373, 383f. Frolov-Arbeiter 259 Galko-Arbeiter 259f. Gerovich, Slava 323 Getty, John Arch 18f„ 21-23, 193, 201 f., 207-209, 211, 221-223, 225f„ 270f„ 286,289f„ 320,351 Ginzburg, Abram 347, 358 Goloäöekin, Filipp 191,205f. Gor'kij, Aleksej M., „Maksim" 139f., 144, 152f„ 174, 178,300, 303,346 Gorbacev, G. E. 150 Gorbov, D.A. 156 Gorbunkov, A. 118 Gorin, P. O. 163 Grinbljum - Universitätsangestellter 286 Gronskij, Ivan M. 170-175 Grossman, Vasilij S. 308f. Grossman-Roscin, I. S. 144, 155 Gubarev - Hochschulangestellter 284f. Günther, Hans 299 Haack, W., Dr.-Ing. 122 Halfin, Igal 20-23, 27,43, 64, 272f. Hellbeck, Jochen 23 Ignatov, Nikolaj G. 223 Ikramov, Akmal I. 361f. Iozefovic, Roman - Ingenieur 280 Isakov - Hochschulangestellter 284 Ivannikov - Aspirant 283 Ivanov, Bonju 66 Ivanov - Eisenbahnangestellter 292f. Ivanov - Parteifunktionär 68 Ivanov - Sowchosangestellter 287-289 Jagoda, Genrich 215, 217f., 303 Jakovenko - Universitätsangestellter 296 Jakubovic, Michail P. 352 Jaroslavskij, Emel'jan M. 56, 71, 73, 84, 124, 128, 156f., 162f„ 166, 182, 186f„ 198, 208, 271f., 274, 339 Kabakov, Ivan D. 208, 303f. Kaganovic, Lazar M. 41, 56, 97, 120f., 129, 160, 166f„ 169f„ 187, 199, 203-206, 208-210, 212, 214-217, 220f., 223f., 229, 256 Kalinin, Michail I. 50, 279f., 353 Kalinnikov, Ivan 345,351

Kalmanoviö, Moisej I. 219-221 Kamenev, Lev Β. 16, 38, 46, 48f„ 51f., 61, 63, 192f., 196f., 199,201, 207, 212, 336, 353, 357, 362 Kapica, Petr L. 314,317 Karev, Ν. A. 163f. Karlova - Komsomol-Erzieherin 247 Kaskin - Eisenbahnarbeiter 247 Kataev, Ivan I. 309 Kataev, Valentin 298, 305, 309 Kataev, Vasilij I. - Student 241-244 Kataeva - Abgeordnete des Obersten Sowjets 239 Kerzencev, Piaton M. 301 f. Kharkhordin, Oleg 19f., 22, 93, 107, 123, 180, 230,249, 260, 265, 267, 269, 272, 275,311,325, 373 Kirov, Sergej M. 97f„ 128, 181,190, 196, 200, 205, 207, 210, 233, 260, 285, 353 Kiräon, Vladimir M. 1 4 4 , 1 4 6 , 1 7 0 , 1 7 4 , 300 Klejstrap - Parteifunktionärin 239 Kljueva, Nina G. 317-319 Knepper, M., Dr.-Ing. 122 Knjazev - Ministerialangestellter 216 Kocin, Ν. I. 364 Kocnov, I. M. 43 Koestler, Arthur 351 Kogan - Druckereiangestellter 255 Kohl, Helmut 27 Kojevnikov, Alexej 18,23, 183,320-323 Kolcov - Parteimitglied 264 Kolikov - Student 242 Kollontai, Alexandra M. 41 Komnovyj - Student 242 Konakov, Nikolaj N. - Universitätsangestellter 295-297 Kondratenko - Eisenbahnangestellter 292 Kopysov, Μ. P. - Parteimitglied 42 Korcin - Propagandist 278f. Korovin - Stoßarbeiter 252 Korsch, Karl 54 Korsunov - Komsomolze 237f. Kosarev, Aleksandr V. 245 Kosior, Iosif V. 111,212 Kosterina, Nina - Komsomolzin 238f., 244, 265 Kostrickij - Parteimitglied 50 Kostrov, T. S. - Journalist lOOf. Kozlov - Maschinist 262 Krinickij, Aleksandr I. 111 Krupskaja, Nadezda I. 53

Personenregister Krylenko, Nikolaj V. 329-331,333-336, 343, 346, 349, 352, 379 Krysevic - Komsomolorganisatorin 239 Krzizanovskij, Gleb M. 315 Kucebo - Arbeiter 248 Kudijaäov - Sowchosangestellter 220 Kujbysev, Valerian V. 83, 87, 108,222f„ 239 Kulikov, E. F. 86 Kuranovskij - Arbeiter 252 Kuznecov, Aleksej A. 246, 280 Ladnjuk - Eisenbahnangestellter 278 Larina (Bucharina), Anna 187f., 190f., 352 Lasevic, Μ. M. 51 Leites, Nathan 1 3 , 3 5 1 , 3 5 3 , 3 5 5 , 3 5 6 Lenin, Vladimir I. 16, 34, 37-41,45f., 70, 75, 103-106, 109, 157, 161, 183f., 196, 199, 335-337, 370, 374, 377, 381 Leonhard, Wolfgang 16 Leznev, Α. Z. 309 Libedinskij, Jurij N. 142, 173f. LichaCev, Dmitrij S. 380 LifSic - Ministerialbeamter 216 Ljadov, Martyn N. 127 Ljapin - Parteiorganisator 276 Loja-Student 164 Lominadze, Vissarion V. 196-198,200 Lomtev - Student 164 Loskutova - Arbeiterin 237 Luhmann, Niklas 24f., 29, 368 Lukin, Jurij F. 163 Lunacarskij, Anatolij V. 138 Luppol, I . K . 164 Luzin, Nikolaj N. 3 1 2 - 3 1 9 , 3 2 1 , 3 6 8 Lysenko, Trofim D. 312, 321 f. Maier, Robert 256-258 Majakovskij, Vladimir V. 154 Makarenko, Anton S. 180, 230, 265, 266f., 303, 373, 378 Malachov, S. 167, 168 Malenkov, Georgij M. 203f., 311 Marinov - Parteisekretär 288f. Marr, Nikolaj J. 322,324 Marx, Karl 104f„ 183f. Maslov, Arkadij 54 Mate-Zalka 174 Mechlis, Lev Ζ. 303, 313f„ 316f„ 321 Medvedev, S. P. 54, 58 Mehnert, Klaus 253f. Menzinskij, Vjaceslav M. 344

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Michailov-Arbeiteijournalist 253,259 Michajlov, Vasilij M. 41, 117, 245f. Miljutin, V. P. 155 Mirbach, Wilhelm Graf 335 Mirosevskij - Parteimitglied 163 Mirzojan, Levon I. 205 Miterev, Georgij A. 317 Mjasnikov, Gavriil I. 41, 53, 169 Moksanov, Daniii - Parteimitglied 67 Molcanov, Georgij A. 218 Molotov, Vjaöeslav M. 41, 50, 72, 77f., 80, 85, 88-90, 99, 109, 127-129, 203f„ 210, 213-215, 217f„ 220f„ 226f„ 229, 248, 257,314, 328,331 Morozov, Nil - Parteimitglied 67-70 Motjusin - Parteimitglied 292f. Mrackovskij, S. V. 72 Muralov, Nikolaj I. 6 3 , 7 1 , 3 5 5 Murygin, Ν. I. - Parteifunktionär 273 Naumenko - Arbeiter 259f. Nenazivin - Komsomolsekretär 248 Norkin, Boris 359 Novak, Joseph 16 Orbeli, LeonA. 320,322 Ordzonikidze, Grigorij K. 59, 61 f., 71, 83, 85, 100f„ 111, 121, 128, 194, 205,210, 219, 257f.,300f. Ossovskij 54 Ostrovskij, Aleksandr N. 125,379 Pachomov - Eisenbahnangestellter 278 Paneev - Parteimitglied 57f. Pankrat'ev, Michail I. 227 Parsons, Talcott 25 Paskevic - Eisenbahnangestellter 292, 294 Pasternak, Boris 137, 308f. Paulus - Apostel 337f. Pereverzev, Valerian F. 144f., 147-150, 154f„ 175 Pervuchin, Michail G. 203 Pesljak - Komsomolfunktionär 249 Petergerenko - Gewerkschaftsfunktionär 255 Petrov - Parteisekretär 247, 319, 337 Petrus - Apostel 16 Pil'njak, Boris A. 138-140, 144, 152, 300, 308f. Piontovskij - Parteimitglied 163 Pjatakov, Georgij L. 52, 198, 212, 219, 336, 353, 361

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Personenregister

Platonov, Andrej P. 141 Plechanov, Grigorij V. 145 Podgorenskij - Sowchosarbeiter 277 Podsypanina, Anna - Komsomolzin 236 Poincare, Raymond 344 Polikarpov, D. A. 306,310 Poljakova - Literaturkritikerin 157f. Polosuchin - Hochschuldozent 276 PostySev, Pavel P. 160, 165, 213, 221-226, 228, 257,290, 364 Preobrazenskij, Evgenij A. 71f., 196f., 199 PriSvin, Michail M. 380 Puzanov - Student 66 Rabinovic - Parteimitglied 286 Rachmet-Rafik - Parteifunktionär 43 f. Radek, Karl B. 63, 71-73, 196,198f., 204, 353,355-357, 360 Rajkov - Parteimitglied 285-287 Rakovskij, Christian G. 63, 73 Ramzin, Leonid Κ. 344-346, 351 Redöenko - Parteimitglied 292 Riegel, Klaus Georg 16-18, 21-23, 353 Rimskij - Parteimitglied 163 Roskin, Grigorij I. 317f. Ross - Parteimitglied 163 Rozkov, P. D. 298 Ruchimoviö, Moisej L. 218f. Rudzutak, Jan E. 359,364,368 Rutschky, Katharina 232 Rybina - Weberin 277 Ryckov, Nikolaj M. 227 Ryklin - Parteimitglied 163 Rykov, Aleksej I. 51,61, 74, 82f„ 85-87, 91, 188, 191-196, 200f„ 213f„ 283, 328, 356, 360 Saburov, Aleksandr N. 203 Safarov - Parteimitglied 57 Safonova, A. - Parteimitglied 358 Saginjan, Marietta S. 96,261,299-301, 303,309,311 Sandalovskaja - Lehrerin 246 Sapoinikov, P. F. 163, 168, 281-283 Sarkisov - Parteifunktionär 256 Sarkisov - Parteimitglied 57 §Cerbakov, Aleksandr S. 298, 300, 3076§Cerbakov - Dozent 284 Scott, John 257 Seboldaev, Boris P. 290 Sejn - Sowchosangestellter 288 Ser, Vasilij 347,352

Sereda - Student 242 Serge, Victor 70f. Sestov, Aleksej 360 Seäukov, Stepan I. 142, 146f„ 150 SevCenko - Student 242 Shearer, David 118, 124 Sinajskij - Literaturkritiker 144f. Siräov, Petr P. 234 Siäko - Eisenbahnangestellter 278 Skiijatov, Matvej F. 218,220 Skvorcov-Stepanov, Ivan I. 138f. Sljapnikov, Aleksandr G. 41, 53, 58, 187 Sluckij, A. 161 Smilga, Ivar T. 62f.,251 Smirnov, Aleksandr P. 192f., 196 Smirnov, Ivan N. 71 f. Smirnov, Vladimir M. 52,59,61 Sokolov - Eisenbahnangestellter 295 Solomon, Peter 227, 260-264, 329, 333 Solzenicyn, Aleksandr I. 131,332,352, 359, 366, 380 Sorokin, Pitirim 36 SostakoviC, Dmitrij D. 300, 302f., 306, 308,311 Souvarine, Boris 54, 59 Stalin, IosifV. 11, 18, 30, 35, 38,40-42, 44,46-49, 51-56, 58-61, 63, 72-78, 80, 82-86, 88-90, 94, 98-100,102-107, 109, 111, 114f„ 118-120, 124, 126-130, 135-138,140-143, 150, 159-162, 166f„ 170f., 175, 177,181f., 184-188, 193, 196,201 f., 204-208, 210-215, 217-219, 221-223, 225, 227-229,253, 257, 266f„ 281 f., 284, 287f„ 299-309, 314, 316-323, 325-229, 331, 344, 353-363, 367-370, 374, 376-378, 381 f., 384 Stavskij, Vladimir P. 151, 298, 300f. Steckij, Aleksej I. 170 Sten, Ja. E. 163 Stranev, I. N. - Parteimitglied 42 Studer, Brigitte 21-23, 269f„ 274, 373 Subockij, L. M. 172,300 Suklov - Student 66 Sulimov, Daniii E. 85 Sultanov - Parteimitglied 57 Suvalov - Parteisekretär 252 Sverdlov - Universitätsdozent 103, 127, 295-297 Tatarinov - Parteisekretär 294 Tejtelbaum, Moisej 347, 365 Terechov - Parteiorganisator 260

Personenregister Tichomirov, Aleksandr - Parteimitglied 66 Tichon (Bellavin, Vasilij) - Patriarch der russ.-orth. Kirche 337-341,353,368 Tichonov, Anton S. - Universitätsdozent 297 Tichonov, Nikolaj S. 307 Tkacev - Eisenbahnangestellter 278f. Tokarev, Anton - Bauer 66 Tokarev - Instrukteur 287 Tolmaiev, Vladimir N. 192f. Tomskij, Michail PavloviC 51, 74, 82, 85-87, 111, 120, 128, 188-197, 199, 253,361 Trockij, Lev D. 16, 34, 38f„ 44-^6, 51-53, 56, 58, 60, 63, 69, 72f„ 84, 91, 193,203, 270, 291,328, 352, 356f„ 370 TruäCenko - Parteimitglied 57 Tverdin, Jurij - Komsomolze 239,244 Ugarov, Aleksandr I. 86 Uglanov, Nikolaj A. 56, 77-83, 86, 92, 111,127f. Unfried, Berthold 12, 21-23, 144, 269, 270, 373 Vaganjan, V. A. 72 Vanag, Ν. N. - Parteihistoriker 163

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Vardin, Il'ja V. 139 Veselyj, Artem 139 Vilenstoviö - Eisenbahnangestellter 279 Volin, Boris M. 152 Voronskij, Aleksandr K. 138,146,155 Voroäilov, Kliment E. 50, 129, 206, 210, 216 Vysinskij, Andrej Ja. 329, 331, 343, 344, 349f„ 356, 358, 362f„ 379 Weber, Max 54, 184 Werth, Nicholas 272,291 Zamjatin, Evgenij I. 141 Zavenjagin, Avraamij P. 226f. Zelinskij, K. L. 144f. Zetkin, Clara 335 2irov - Parteimitglied 286 Zirov-Schüler 244 Zitkov - Eisenbahnangestellter 292f. Zonin, Α. I. 144 Zosöenko, Michail 306-308, 31 lf. 2ovtis, Aleksandr 234 Zukov - CK-Mitglied 218 2ukov - Komsomolsekretär 238 Zuravlev - Parteimitglied 289

Ordnungssysteme. Studien zur Ideengeschichte der Neuzeit Herausgegeben von Dietrich Beyrau, Anselm Doering-Manteuffel und Lutz Raphael

Die Reihe Ordnungssysteme nimmt Impulse auf, die sich seit zwei Jahrzehnten aus der Revision politik- und sozialgeschichtlicher Forschungsansätze entwickelt haben. Als Forum einer methodisch erneuerten Ideengeschichte trägt sie der Wirksamkeit politisch-kultureller Traditionen Europas seit dem Zeitalter der Aufklärung Rechnung. Die besondere Aufmerksamkeit gilt dem konkreten Wechselspiel ideeller, politischer und sozialer Prozesse.

Die Reihe Ordnungssysteme hat insbesondere das Ziel: -

vergleichende Studien zu den nationalen Eigenarten und unterschiedlichen Traditionen in der europäischen Ideengeschichte zu fördern, gemeineuropäische Dimensionen seit der Aufklärung zu untersuchen, den Weg von neuen Ideen zu ihrer breitenwirksamen Durchsetzung zu erforschen.

Die Reihe Ordnungssysteme verfolgt einige Themen mit besonderem Interesse: -

den Ideenverkehr zwischen Europa und Nordamerika, die Beziehungen zwischen politischen und religiösen Weltbildern, die Umformung der politischen Leitideen von Liberalismus, Nationalismus und Sozialismus im 20. Jahrhundert die Herausbildung traditionsstiftender, regionenbezogener Gegensatzpaare in der europäischen Ideenwelt, wie zum Beispiel den Ost-West-Gegensatz.

Die Reihe Ordnungssysteme bemüht sich um eine methodische Erneuerung der Ideengeschichte: -

Sie verknüpft die Analyse von Werken und Ideen mit ihren sozialen, kulturellen und politischen Kontexten. - Sie untersucht die Bedeutung von Wissenssystemen in der Entwicklung der europäischen Gesellschaften. - Sie ersetzt die traditionelle Ideengeschichte der großen Werke und großen Autoren durch eine Ideengeschichte, die Soziabilität und Kommunikation als tragende Gestaltungskräfte kultureller Produktion besonders beachtet. - Sie bezieht Institutionen und Medien der Kulturproduktion systematisch in die Untersuchung ein.

Band 1: Michael Hochgeschwender Freiheit in der Offensive? Der Kongreß für kulturelle Freiheit und die Deutschen 1998.677 S. ISBN 3-486-56341-6 Band 2: Thomas Sauer Westorientierung im deutschen Protestantismus? Vorstellungen und Tätigkeit des Kronberger Kreises 1999. VII, 326 S. ISBN 3-486-56342-4 Band 3: Gudrun Kruip Das „Welt"-„Bild" des Axel Springer Verlags Journalismus zwischen westlichen Werten und deutschen Denktraditionen 1999.311 S. ISBN 3-486-56343-2 Band 4: Axel Schildt Zwischen Abendland und Amerika Studien zur westdeutschen Ideenlandschaft der 50er Jahre 1999. VIII, 242 S. ISBN 3-486-56344-0 Band 5: Rainer Lindner Historiker und Herrschaft Nationsbildung und Geschichtspolitik in Weißrußland im 19. und 20. Jahrhundert 1999. 536 S. ISBN 3-486-56455-2 Band 6: Jin-Sung Chun Das Bild der Moderne in der Nachkriegszeit Die westdeutsche „Strukturgeschichte" im Spannungsfeld von Modernitätskritik und wissenschaftlicher Innovation 1948-1962 2000.277 S. ISBN 3-486-56484-6 Band 7: Frank Becker Bilder von Krieg und Nation Die Einigungskriege in der bürgerlichen Öffentlichkeit Deutschlands 1864-1913 2001. 601 S. und 32 S. Bildteil ISBN 3-486-56545-1

Band 8: Martin Sabrow Das Diktat des Konsenses Geschichtswissenschaft in der D D R 1949-1969 2001.488 S. ISBN 3-486-56559-1 Band 9: Thomas Etzemüller Sozialgeschichte als politische Geschichte Werner Conze und die Neuorientierung der westdeutschen Geschichtswissenschaft nach 1945 2001. VIII, 445 S. ISBN 3-486-56581-8 Band 10: Martina Winkler Karel Kramär (1860-1937) Selbstbild, Fremdwahrnehmungen und Modernisierungsverständnis eines tschechischen Politikers 2002.414 S. ISBN 3-486-56620-2 Band 11: Susanne Schattenberg Stalins Ingenieure Lebenswelten zwischen Technik und Terror in den 1930er Jahren 2002.457 S. ISBN 3-486-56678-4 Band 12: Torsten Rüting Pavlov und der Neue Mensch Diskurse über Disziplinierung in Sowjetrussland 2002.337 S. ISBN 3-486-56679-2 Band 13: Julia Angster Konsenskapitalismus und Sozialdemokratie Die Westernisierung von SPD und DGB 2003.538 S. ISBN 3-486-56676-8 Band 14: Christoph Weischer Das Unternehmen .Empirische Sozialforschung' Strukturen, Praktiken und Leitbilder der Sozialforschung in der Bundesrepublik Deutschland 2004. X, 508 S. ISBN 3-486-56814-0

Band 15: Frieder Günther Denken vom Staat her Die bundesdeutsche Staatsrechtslehre zwischen Dezision und Integration 1949-1970 2004.364 S. ISBN 3-486-56818-3 Band 16: Ewald Grothe Zwischen Geschichte und Recht Deutsche Verfassungsgeschichtsschreibung 1900-1970 2005.486 S. ISBN 3-486-57784-0 Band 17: Anuschka Albertz Exemplarisches Heldentum Die Rezeptionsgeschichte der Schlacht an den Thermopylen von der Antike bis zur Gegenwart 2006.424 S., 46 Abb. ISBN 3-486-57985-1 Band 18: Volker Depkat Lebenswenden und Zeitenwenden Deutsche Politiker und die Erfahrungen des 20. Jahrhunderts 2006. 573 S. ISBN 3-486-57970-3 Band 19: Lorenz Erren „Selbstkritik" und Schuldbekenntnis Kommunikation und Herrschaft unter Stalin (1917-1953) 2008.405 S. ISBN 978-3-486-57971-1 Band 20: Lutz Raphael, Heinz-Elmar Tenorth (Hrsg.) Ideen als gesellschaftliche Gestaltungskraft im Europa der Neuzeit Beiträge für eine erneuerte Geistesgeschichte 2006. 536 S. ISBN 3-486-57786-7 Band 21: Thomas Großbölting „Im Reich der Arbeit" Die Repräsentation gesellschaftlicher Ordnung in den deutschen Industrie- und Gewerbeaussteilungen 1790-1914 2007. 518 S„ zahlreiche Abb. ISBN 978-3-486-58128-7

Band 22: Wolfgang Hardtwig (Hrsg.) Ordnungen in der Krise Zur politischen Kulturgeschichte Deutschlands 1900-1933 2007.566 S. ISBN 978-3-486-58177-5 Band 23: Marcus M. Payk Der Geist der Demokratie Intellektuelle Orientierungsversuche im Feuilleton der frühen Bundesrepublik: Karl Korn und Peter de Mendelssohn 2008.415 S. ISBN 978-3-486-58580-3 Band 24: Rüdiger Graf Die Zukunft der Weimarer Republik Krisen und Zukunftsaneignungen in Deutschland 1918-1933 2008.460 S. ISBN 978-3-486-58583-4 Band 25: Jörn Leonhard Bellizismus und Nation Kriegsdeutung und Nationsbestimmung in Europa und denVereinigten Staaten 1750-1914 2008. Ca. XIX, 1018 S. ISBN 978-3-486-58516-2 Band 26: Ruth Rosenberger Experten für Humankapital Die Entdeckung des Personalmanagements in der Bundesrepublik Deutschland 2008.480 S. ISBN 978-3-486-58620-6 Band 27: Desiree Schauz Strafen als moralische Besserung Eine Geschichte der Straffälligenfürsorge 1777-1933 2008.432 S. ISBN 978-3-486-58704-3 Band 28: Morten Reitmayer Elite Sozialgeschichte einer politisch-gesellschaftlichen Idee in der frühen Bundesrepublik 2009. Ca. 576 S. ISBN 978-3-486-58828-6