"Nicht du trägst die Wurzel, sondern die Wurzel trägt dich": Predigten zum 10. Sonntag nach Trinitatis 9783959484022, 395948402X

In diesem Buch sind Predigten zusammengestellt, die in den vergangenen Jahren am 10. Sonntag nach Trinitatis gehalten wu

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German Pages 243 [244] Year 2020

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Titelei
Impressum
Inhaltsverzeichnis
Vorwort - von Hans-Christoph Goßmann
Predigt über Exodus 19,1-6(-8) - von Regine Gittinger
Predigt über Exodus 19,1-6(-8) - von Eberhard von der Heyde
Predigt über Exodus 19,1-6(-8) - von Matthias Loerbroks
Predigt über Exodus 19,1-6(-8) - von Klaus-Georg Poehls
Predigt über Exodus 19,1-6(-8) - von Anke Wolff-Steger
Predigt über Deuteronomium 4,5-20 - von Ursula Rudnick
Predigt über Josua 10,12-14- von Görge K. Hasselhoff
Predigt über 2. Könige 25,8-12- von Hans-Christoph Goßmann
Predigt über 2. Könige 25,8-12 - von Matthias Loerbroks
Predigt über 2. Chronik 7,14 - von Sabine Münch
Predigt über Jesaja 62,6-12 - von Thomas Drope
Predigt über Jesaja 62,6-12 - von Matthias Loerbroks
Predigt über Jeremia 7,1-11 - von Siegfried Bergler
Predigt über Jeremia 7,1-15 - von Matthias Loerbroks
Predigt über Sacharja 2,12-15 - von Astrid Fiehland van der Vegt
Predigt über Matthäus 5,17-20 - von Matthias Loerbroks
Predigt über Markus 12,28-34 - von Dorothea Pape
Predigt über Markus 12,28-34 - von Ursula Rudnick
Predigt über Markus 12,28-34 - von Andreas Schulz-Schönfeld
Predigt über Markus 12,28-34 - von Rien van der Vegt
Predigt über Lukas 19,41-48 - von Maren Gottsmann
Predigt über Lukas 19,41-48 - von Maren von der Heyde
Predigt über Lukas 19,41-48 - von Matthias Loerbroks
Predigt über Johannes 4,19-26 - von Matthias Loerbroks
Predigt über Römer 9,1-5 - von Friedrich W.J. Hasselhoff
Predigt über Römer 9,1-5 - von Joachim Liß-Walther
Predigt über Römer 9,1-5 - von Matthias Loerbroks
Predigt über Römer 9,1-5 - von Ursula Rudnick
Predigt über Römer 9,1-5 - von Jörgen Sontag
Predigt über Römer 9,1-8.14-16 - von Michael Jordan
Predigt über Römer 9,1-8.14-16 - von Josef Kirsch
Predigt über Römer 9,1-8.14-16 - von Hans-Jürgen Müller
Predigt über Römer 11,25-32 - von Maren Gottsmann
Predigt über Römer 11,25-32 - von Matthias Loerbroks
Predigt über Römer 11,25-32 - von Ursula Rudnick
Themenpredigt - von Sabine Münch
Themenpredigt - von Ursula Rudnick
Themenpredigt - von Michaela Will
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"Nicht du trägst die Wurzel, sondern die Wurzel trägt dich": Predigten zum 10. Sonntag nach Trinitatis
 9783959484022, 395948402X

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Hans-Christoph Goßmann

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Die neuen Wege, die im christlich-jüdischen Dialog gesucht und auch beschritten werden, haben nicht zuletzt auch in der Gestaltung des 10. Sonntags nach Trinitatis ihren Ausdruck gefunden: In früheren Zeiten diente er dazu, sich die Zerstörung des Jerusalemer Tempels vor Augen zu halten, das als Gericht Gottes über das Volk Israel verstanden wurde. Eigentlich sollte sich die Kirche das Gericht Gottes vergegenwärtigen, um selbst zur Buße, zur Umkehr bewegt zu werden. In der Praxis wurde jedoch an diesem Sonntag nur allzu oft die angebliche Überlegenheit des Christentums über das Judentum betont. Demgegenüber hat der 10. Sonntag nach Trinitatis in unserer Gegenwart eine andere Funktion erhalten. Dementsprechend kommen heutzutage an diesem Sonntag im Allgemeinen andere Themen zur Sprache: der kirchliche Antijudaismus und dessen Überwindung, die bleibende Erwählung des Volkes Israel, ein neues christlich-jüdisches Verhältnis. Diese Themen haben in den Predigten in diesem Buch ihren Niederschlag gefunden. Somit können diese Predigten viele Denkanstöße vermitteln, wie Christinnen und Christen eine neue Einstellung zum Judentum gewinnen können.

ISBN 978-3-95948-402-2

(Hrsg.) Hans-Christoph Goßmann (Hrsg.) – „Nicht du trägst die Wurzel, sondern die Wurzel trägt dich“

In diesem Buch sind Predigten zusammengestellt, die in den vergangenen Jahren am 10. Sonntag nach Trinitatis gehalten wurden, dem so genannten Israel-Sonntag. Die Predigerinnen und Prediger, deren Predigten hier veröffentlicht werden, haben eine Gemeinsamkeit: Sie sind alle im christlich-jüdischen Dialog engagiert; allen ist es wichtig, zu einem besseren Verhältnis zwischen Juden und Christen beizutragen. Dieses Anliegen hat nichts an Bedeutung verloren, denn der Antisemitismus nimmt in unserer Gesellschaft wieder zu. Und oft speist er sich nach wie vor aus den Wurzeln des jahrhundertealten kirchlichen Antijudaismus.

„Nicht du trägst die Wurzel, sondern die Wurzel trägt dich“ Predigten zum 10. Sonntag nach Trinitatis

Verlag Traugott Bautz GmbH

„Nicht du trägst die Wurzel, sondern die Wurzel trägt dich“

Jerusalemer Texte Schriften aus der Arbeit der Jerusalem-Akademie

herausgegeben von Hans-Christoph Goßmann

Band 20

Verlag Traugott Bautz

Hans-Christoph Goßmann (Hrsg.)

„Nicht du trägst die Wurzel, sondern die Wurzel trägt dich“ Predigten zum 10. Sonntag nach Trinitatis

Verlag Traugott Bautz

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek: Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über ‹http://www.dnb.de› abrufbar.

© Verlag Traugott Bautz GmbH 98734 Nordhausen 2018 ISBN 978-3-95948-402-2

Inhaltsverzeichnis Vorwort Hans-Christoph Goßmann

8

Predigten über Texte der Hebräischen Bibel Predigten über Exodus 19,1-6(-8) - Regine Gittinger - Eberhard von der Heyde - Matthias Loerbroks - Klaus-Georg Poehls - Anke Wolff-Steger

10 19 25 31 35

Predigt über Deuteronomium 4,5-20 - Ursula Rudnick

44

Predigt über Josua 10,12-14 - Görge K. Hasselhoff

48

Predigten über 2. Könige 25,8-12 - Hans-Christoph Goßmann - Matthias Loerbroks

55 61

Predigt über 2. Chronik 7,14 - Sabine Münch

67

Predigten über Jesaja 62,6-12 - Thomas Drope - Matthias Loerbroks

74 79

Jeremia 7,1-11(-15) - Siegfried Bergler - Matthias Loerbroks

84 91 5

Predigt über Sacharja 2,12-15 - Astrid Fiehland van der Vegt

97

Predigten über Texte des Neuen Testaments Predigt über Matthäus 5,17-20 - Matthias Loerbroks

105

Predigten über Markus 12,28-34 - Dorothea Pape - Ursula Rudnick - Andreas Schulz-Schönfeld - Rien van der Vegt

111 116 123 130

Predigten über Lukas 19,41-48 - Maren Gottsmann - Maren von der Heyde - Christoph Huppenbauer - Matthias Loerbroks

134 140 144 152

Predigt über Johannes 4,19-26 - Matthias Loerbroks

156

Predigten über Römer 9,1-5 - Friedrich W.J. Hasselhoff - Joachim Liß-Walther - Matthias Loerbroks - Ursula Rudnick - Jörgen Sontag

163 169 177 182 187

Predigten über Römer 9,1-8.14-16 - Michael Jordan

193

6

-

Josef Kirsch Hans-Jürgen Müller

200 205

Predigten über Römer 11,25-32 - Maren Gottsmann - Matthias Loerbroks - Ursula Rudnick

209 215 222

Themenpredigten - Sabine Münch - Ursula Rudnick - Michaela Will

228 233 238

7

Vorwort Hans-Christoph Goßmann In diesem Buch sind Predigten zusammengestellt, die in den vergangenen Jahren am 10. Sonntag nach Trinitatis gehalten wurden, dem so genannten Israel-Sonntag. Da sich die meisten dieser Predigten auf die Bibeltexte beziehen, die von der Lutherischen Liturgischen Konferenz Deutschlands für diesen Sonntag ausgewählt worden sind, gibt es in diesem Sammelband zu den meisten dieser Bibeltexte mehrere Predigten. Diese weisen jedoch nur wenige Überschneidungen auf und zeigen auf diese Weise, dass ganz unterschiedliche Predigten über dieselben Bibeltexte geschrieben und gehalten werden können. Dies ist bemerkenswert, denn die Predigerinnen und Prediger, deren Predigten hier veröffentlicht werden, haben eine Gemeinsamkeit: Sie sind alle im christlich-jüdischen Dialog engagiert; allen ist es wichtig, zu einem besseren Verhältnis zwischen Juden und Christen beizutragen. Dieses Anliegen hat nichts an Bedeutung verloren, denn der Antisemitismus nimmt in unserer Gesellschaft wieder zu. Und oft speist er sich nach wie vor aus den Wurzeln des jahrhundertealten kirchlichen Antijudaismus. Die neuen Wege, die von vielen Christinnen und Christen im Dialog mit Jüdinnen und Juden gesucht und auch beschritten werden, sind Folge eines theologischen Umdenkens, das darauf abzielt, die alten antijüdischen Vorstellungen und Denkweisen zu überwinden. Dieses Umdenken hat nicht zuletzt auch in der Gestaltung des 10. Sonntags nach Trinitatis seinen Ausdruck gefunden: In früheren Zeiten diente er dazu, sich die Zerstörung des Jerusalemer Tempels vor Augen zu halten, die als Gericht Gottes über das Volk Israel verstanden wurde. Eigentlich sollte sich die Kirche das Gericht Gottes vergegenwärtigen, um selbst zur Buße, zur Umkehr bewegt zu werden. In der Praxis wurde jedoch an diesem Sonntag nur allzu oft die angebliche Überlegenheit des Christentums über das Judentum betont.

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Demgegenüber hat der 10. Sonntag nach Trinitatis in unserer Gegenwart eine andere Funktion erhalten. Dementsprechend kommen heutzutage an diesem Sonntag im Allgemeinen andere Themen zur Sprache: der kirchliche Antijudaismus und dessen Überwindung, die bleibende Erwählung des Volkes Israel, ein neues christlich-jüdisches Verhältnis. Diese Themen haben in den Predigten in diesem Buch ihren Niederschlag gefunden. Somit können diese Predigten viele Denkanstöße vermitteln, wie Christinnen und Christen eine neue Einstellung zum Judentum gewinnen können. Ich danke allen Kolleginnen und Kollegen, die ihre Predigten für dieses Buch zur Verfügung gestellt haben.

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Predigt über Exodus 19,1-6(-8) Regine Gittinger Gnade sei mit euch und Friede von Gott, unserem Vater und dem Herrn Jesus Christus. Amen. Liebe Gemeinde, kennen Sie den? Er ist gerade mal 7,5 cm groß und eine der bekanntesten Playmobilfiguren. Im Jahr 1517 veröffentlichte Martin Luther bekanntermaßen seine 95 Thesen in Wittenberg. Es war der Anfang der Reformation. Jetzt, 500 Jahre später, stecken wir mitten im Reformationsjubiläum und ich wette, dass Sie alle davon auch schon etwas mitbekommen haben. Vielleicht haben Sie den ja auch bei sich zu Hause stehen. Denn passend zum Jubiläum wurde Anfang 2015 die erste Auflage dieses Mini-Luthers mit einer Auflage von 34.000 herausgegeben. Vorbild sei das historische Lutherdenkmal in Wittenberg gewesen, das den Reformator mit aufgeschlagener Bibel zeige, so heißt es beim Hersteller. Obwohl diese Figur nicht wie üblich bei Playmobil in den Spielzeugläden zu kaufen war, war diese erste Auflage innerhalb von 72 Stunden ausverkauft.

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Schnell wurde nachgeordert und im Playmobilwerk musste die Produktion von Rittern, Feen und sonstigen Figuren dafür zurückgefahren werden. Bald war eine halbe Million dieser kleinen Lutherfiguren verkauft. Er lässt sich gut zusammenbauen mit der typischen Mütze, der Schreibfeder in der rechten und der Bibel in der linken Hand. Aber es gab bei dieser ersten Playmobil-Luther-Version ein Problem. Das musste allerdings erst entdeckt und dann behoben werden. Vielleicht haben Sie davon gehört? Sonst bitte ich Sie, sich die beiden Bilder von der ersten und der Nachfolge-Version einmal genauer anzuschauen. Es gibt dabei einen kleinen, aber sehr wichtigen Unterschied. Haben Sie ihn entdeckt? Der jüdische Erziehungswissenschaftler Micha Brumlik hatte im Sommer in einem Zeitungskommentar bereits kritisiert, dass die Mini-Lutherfigur das Alte Testament, also die hebräische Bibel, für beendet und überwunden darstelle. Dies hätten Antisemiten bis hin zu den „Deutschen Christen“ im Nationalsozialismus getan. Und das ginge nun überhaupt nicht mehr. Was ist der Grund seines Einspruchs? Es ist ein kleines Wort, um das es geht: ENDE In der alten Auflage findet man auf der aufgeschlagenen Bibel links: Bücher des Alten Testaments – und dann in Großbuchstaben: ENDE. Brumlik schlug der Playmobil-Firma vor, das Wort „Ende“ künftig einfach wegzulassen oder es zumindest nicht in Großbuchstaben zu setzen. Das Wort „Ende“ erinnere zu stark an Luthers antijüdische Tradition und spreche dem Alten Testament, der Hebräischen Bibel, die Gültigkeit ab. In der Folge wurde die Figur überarbeitet und nun in neuer Auflage wieder herausgegeben – ohne das ENDE.

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Über eine Million Mini-Lutherfiguren sind inzwischen verkauft, die ersten mit, die überarbeiteten ohne ENDE. Mit diesem kleinen Wort sind wir mitten in der Problematik dieses Israelsonntags. Was soll, kann und muss gesagt werden über das Verhältnis von Juden und Christen, von Israel als Gottes Volk und der christlichen Gemeinde? Und es wird nicht einfacher, da, wie ich denke, wir das Verhältnis des Staates Israel zu Palästina auch nicht verschweigen dürfen. Bei der Vorbereitung für diese Predigt und beim Suchen nach den richtigen Worten für das Verhältnis von Juden und Christen heute fiel mir meine Vikariatszeit ein. 1984, also vor über 30 Jahren, musste ich auch einen Gottesdienst halten zum Israelsonntag. Im Studium an der Universität hatten wir in den Seminaren sehr kontrovers darüber diskutiert, wie wir als Christen unser Verhältnis zum jüdischen Volk nach dem verheerenden Mord an den Juden während der Naziherrschaft neu beschreiben konnten. 1980 hatte die rheinische Landeskirche als eine der ersten formuliert, dass für uns Christen nach der Schoa „die fortdauernde Existenz des jüdischen Volkes, seine Heimkehr in das Land der Verheißung und auch die Errichtung des Staates Israel Zeichen der Treue Gottes über seinem Volk sind“. Die Kirchenordnung wurde im Rheinland entsprechend geändert und man hielt fest: „Sie [die EKiR] bezeugt die Treue Gottes, der an der Erwählung seines Volkes Israel festhält. Mit Israel hofft sie auf einen neuen Himmel und eine neue Erde.“ Die Themen standen im Raum und in allen Landeskirchen der EKD begannen die Gespräche und theologischen Auseinandersetzungen. Es war klar, dass man hinter folgende Punkte nicht zurück konnte: 1. Die ursprunghafte Verbundenheit der Kirche mit dem jüdischen Volk 2. Die bleibende Erwählung Israels als Volk Gottes 3. Die Absage an die Judenfeindschaft 4. Die Kirche und ihr Verhältnis zum Bund Gottes mit Israel

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5. Die gemeinsame Hoffnung von Kirche und Israel auf das eschatologische Heil Aber zurück zu meiner Predigtvorbereitung im Vikariat. Auch damals schon auf der Suche nach den angemessenen Worten schaute ich auch bei Martin Luther nach. Und ich war erschrocken über das, was ich da fand. Da war nichts von der Freiheit eines Christenmenschen, nichts von Gnade und Gottes Weg mit seinem Volk Israel zu lesen, auch nicht von einem Priestertum aller Gläubigen, sondern Abgrenzung, Verurteilung und Schmähung. Jetzt im Zusammenhang mit dem Reformationsjubiläum ist dieses schwierige Erbe, das uns Luther da hinterlassen hat, gründlich aufgearbeitet worden. Luther konnte und wollte nicht akzeptieren, dass die Juden nicht zum christlichen Glauben wechseln wollten. Er leugnete, dass Gottes Bund mit ihnen weiter Bestand hat und nicht vom neuen Bund in Christus abgelöst ist. So verblendet hat er dann am Ende seines Lebens sogar zu Gewalt gegen die Juden aufgerufen, bis zu seiner Schrift „Von den Juden und ihren Lügen“ aus dem Jahr 1543, in der er zur Zerstörung ihrer Synagogen und zum Verbrennen der heiligen jüdischen Schriften anstachelte. Ein schweres Erbe für uns Christen bis heute. Deswegen ist das kleine Wort ENDE auch so belastet. Das besser zu verstehen, hat mir damals die Schilderung folgender Begebenheit geholfen. Ich möchte sie Ihnen gerne auch daran teilhaben lassen. Es ist die Begegnung zwischen dem Juden Elie Wiesel und seinem Sohn. Elie Wiesel, selbst Überlebender von Auschwitz, hat das Wort „Holocaust“ in Umlauf gesetzt, damit in Wörtern wie „Endlösung“ und „Ausrottung“ nicht die Sprache Hitlers und sein Geist weiterlebe. Elie Wiesel erzählt, wie er mit seinem etwa acht Jahre alten Sohn umgeht. Jeden Abend haben Vater und Sohn eine festgesetzte Stunde zu-

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sammen… es gibt ein paar Regeln für diese Zeit. Jeder von beiden darf alles fragen. Jeder von beiden antwortet nach bestem Wissen. Da bittet der Junge den Vater zum Beispiel, von seiner Schulzeit zu erzählen. „Wie war das, als du ein Junge warst?“ Er fragt nach den Lehrern, den Schulkameraden. Der Vater erzählt ihm viel. Dann stellt der Junge manchmal Fragen wie: „Wo ist dein Freund jetzt?“ oder: „Lebt dein Lehrer noch? Was passierte danach? Steht der Kirschbaum noch im Garten des Onkels?“ Und der Vater antwortet nicht. Er spricht nicht. Er schweigt. Und eines Tages stellt der Junge eine merkwürdige Frage an den Vater. Er sagt: „War es davor oder danach?“ Der Vater hat dem Kind nichts erzählt über Deportation, über Vernichtungslager, über Gas. Und doch weiß der Junge etwas und umschreibt es mit den Wörtern „davor“ und „danach“. „Das war davor, Vater, nicht?“ sagt er. Irgendwann wird der Vater es ihm sagen müssen, was zwischen davor und danach geschehen ist. Davor und danach und die Zeit dazwischen, wenn ich heute am Israelsonntag predige, dann tue ich es auch als Deutsche, als jemand, die zu einem Volk gehört, das unter dem Nazi-Regime Millionen von Juden ermordet hat. Ich gehöre einer Generation an, in deren Schulzeit die Lehrer meist noch schwiegen über das, was zwischen dem Davor und Danach lag. Sie schwiegen nicht wie der Vater Elie Wiesel aus Verletztheit, Trauer und Schmerz. Sie schwiegen oft aus dem Wunsch, zu vergessen, nicht mehr hinschauen zu müssen auf das, was geschehen war. Doch vergessen und verdrängen, dass es ein Davor, ein Dazwischen und ein Danach gibt, trägt das schwere Erbe nur weiter, denn, so habe ich es einmal gelesen: Die Schatten der Geschichte werden länger, gewiss. Aber sie folgen uns nach, solange die Menschheit sehen kann.

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Was wir vergessen und verdrängen, das müssen wir noch einmal erleben. Wir sind nicht unbelastet, auch nicht gegenüber unseren eigenen Wurzeln und es ist oft ein schwieriger Prozess, sich dem zu stellen. So hören wir den heutigen Predigttext aus dem 2. Buch Mose 19,1-8 mit all den Stimmen der vergangenen Geschichte unseres geschichtlichen und gemeindlichen Erbes. Wir hören ihn nicht unbelastet, und achten Sie mal darauf, was bei Ihnen anklingt, wenn ich den Text nun lese. 2. Mose 19,1-6 Ankunft am Sinai 1 Im dritten Monat nach dem Auszug der Israeliten aus Ägyptenland, an diesem Tag kamen sie in die Wüste Sinai. 2 Sie brachen auf von Refidim und kamen in die Wüste Sinai, und Israel lagerte sich dort in der Wüste gegenüber dem Berge. 3 Und Mose stieg hinauf zu Gott. Und der HERR rief ihm vom Berge zu und sprach: So sollst du sagen zu dem Hause Jakob und den Israeliten verkündigen: 4 Ihr habt gesehen, was ich an den Ägyptern getan habe und wie ich euch getragen habe auf Adlerflügeln und euch zu mir gebracht. 5 Werdet ihr nun meiner Stimme gehorchen und meinen Bund halten, so sollt ihr mein Eigentum sein vor allen Völkern; denn die ganze Erde ist mein. 6 Und ihr sollt mir ein Königreich von Priestern und ein heiliges Volk sein. Das sind die Worte, die du den Israeliten sagen sollst. Ja, hören wir hier, Gott sagt Ja zu dem Volk, das er aus Ägypten geführt hat. Er hat das Schreien dieser Menschen in der Sklaverei Ägyptens gehört. Gott hat Mose berufen, sie herauszuführen in die Freiheit. Gott hat sie durch die Wüste geführt und bewahrt vor Hunger und Durst. Bewahrt auch vor der eigenen Kurzsichtigkeit, zurück zu wollen zu den Fleischtöpfen Ägyptens. In der Wüste hat Gott sie getragen wie auf Adlerflügeln. Ihr Murren und Lamentieren über diese Herausforderung hat Mose

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immer wieder vor Gott gebracht und Gott hat das Volk bewahrt – Wachteln und Manna gab es als Speise. Rettung – Bewahrung und nun der 3. Schritt: in der Wüste die entscheidende Frage: Wie soll es weiter gehen mit dem Volk und mit Gott? Kein Ende, sondern ein Anfang. Mose steigt auf den Berg und hört Gottes Vorstellung, wie es weiter gehen soll. Ein Bund soll geknüpft werden. Gott will sich binden an diese Menschen und traut ihnen eine besondere Aufgabe zu: -

-

5 Werdet ihr nun meiner Stimme gehorchen und meinen Bund halten, so sollt ihr mein Eigentum sein vor allen Völkern; denn die ganze Erde ist mein. 6 Und ihr sollt mir ein Königreich von Priestern und ein heiliges Volk sein. Das sind die Worte, die du den Israeliten sagen sollst.

Hier wird deutlich, dass diese Erwählung Israels durch Gott nicht zustande kommt, weil dieses Volk bevorzugt sein soll, weil es besser ist als die anderen Völker. Gott bindet sich hier an Israel, indem er ihnen eine Aufgabe zutraut: Sie sollen mit ihrem Leben eine Antwort auf Gottes Handeln sein. An Israel sollen alle anderen Völker erkennen können: So ist Gott: Er rettet, er bewahrt, aber er fordert auch. Er fordert ein Leben nach seinen Geboten. Wir haben uns in der letzten Woche im Bibelkreis diese Gebote noch einmal genauer angeschaut und immer wieder kamen wir auf das Wort: Gerechtigkeit. Gott will, dass Menschen in Frieden und Gerechtigkeit beieinander wohnen und miteinander leben. In diesem Sinne ist der Bund Gottes mit Israel nicht zu Ende. Und in diesem Sinne stehen wir als Christen auch in einer gemeinsamen Geschichte mit dem jüdischen Volk. Wir haben es gerade in der Lesung gehört: Jesus wird gefragt nach dem höchsten Gebot. Er antwortet: 16

Gott lieben und den Nächsten wie sich selbst. Das hat Jesus gelebt, dafür ist er gestorben! Und wir bekennen als Christen: Gott hat ja gesagt zu Jesus Christus, in der Auferstehung ist der Bund neu geworden. Alter und neuer Bund, hebt das eine das andere auf? Nein, kein Ende, so antwortet schon Paulus im Römerbrief darauf, das sei ferne! Gott hält in seiner Liebe fest, die kein Mensch aus eigener Kraft verdienen kann. Gnade können wir es auch nennen. Diese Gnade ist das Geheimnis Israels und sie ist das Geheimnis der Kirche. Diese Gnade verbindet Israel und die Kirche in letzter und tiefster Solidarität. Und weil ich das so festhalten will an dieser Stelle, kann ich hier nicht enden. Während der Vorbereitung zu diesem Gottesdienst habe ich immer auch die Bilder und Stimmen aus Begegnungen im Kopf, die ich in diesem Jahr in Palästina hatte. Ich war an den alten Orten der Geschichte Israels, in Hebron, in Bethlehem, in Jerusalem. Ich habe dort erlebt, wie die Besatzung durch den Staat Israel systematisch die Lebensbedingungen, die Lebensgrundlagen der Palästinenser dort zerstört. Sie werden aus ihren Dörfern vertrieben, ihre Olivenbäume, seit Jahrhunderten Nahrungsgrundlage für die Familien, werden einfach gefällt. Ich kann hier noch lange weiter fortfahren. Und ich kann es eigentlich nur so zusammenfassen: Das muss ein Ende haben. Ich möchte hier enden und hoffentlich damit einen Anfang setzen bei Ihnen. Ich ende mit den Worten der israelischen Schriftstellerin Lizzie Doron. Sie ist Menschen auf beiden Seiten begegnet in Israel und in Palästina, Menschen, die sagen: Ende, so kann es nicht weitergehen. Wir zerstören uns in unserer Angst mit unserem Hass gegenseitig. Lizzie Doron schreibt:

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„Die Gespräche mit ihnen zerstörten die Geschichte, die ich mir selbst erzählt hatte, die Geschichte, die ich von vielen meiner Freunde übernommen hatte. … Die Treffen mit diesen Menschen entzogen mich der vertrauten und bequemen Balance. Ich wurde von einem Strom ergriffen. Ich war gezwungen, meine Denkmuster zu überprüfen, das rechte Wort zu finden, Fragen zu stellen, die ich nie zuvor gestellt hatte. Jemand, der mein Feind war, lehrte mich, dass ich das, was ich bislang dachte, nie zwingend auch morgen noch denken musste. Ich lernte, meine Angst zu überwinden, es zu wagen, bereit zu sein, einer Geschichte zuzuhören, die parallel zu meiner verläuft und dennoch nach Schnittpunkten mit ihr zu suchen“. Amen.

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Predigt über Exodus 19,1-6(-8) Eberhard von der Heyde Liebe Gemeinde, Tausende von Pilgern, Reisenden und / oder Touristen haben sich aufgemacht und in der Wüste Sinai die hier so genau verzeichneten Orte aufgesucht. Sie haben die Wege abgemessen, die Orte, Ebenen und Berge aufgespürt und sicher lokalisiert. Die kleine Halbinsel, die eine Brücke zwischen Afrika und Asien darstellt, ist bis heute zum größten Teil Wüste, hat einige fruchtbare Oasen, und sie ist im Süden gebirgig. Die höchste Erhebung ist 2637 m hoch. Der Berg, von dem hier die Rede ist, ist 2285 m hoch. Er trägt heute den Namen Djebel Musa, Mose-Berg. Kein Wunder, so oft wie Mose ihn hinauf und wieder hinunter gestiegen ist. All die beschriebenen Ereignisse lassen sich im Sinne eines Faktenchecks eins-zu-eins nachvollziehen. Was die Bibel hier so detailreich beschreibt, lesen viele deshalb gern wie einen Reiseführer. Eine Reisebeschreibung des Volkes Israel, das mit Gottes Hilfe aus der Knechtschaft in Ägypten auszieht und nach langem Umherwandern in der Wüste schließlich eine neue Heimat findet. Unterwegs ist so einiges passiert, was die ganze Geschichte für die Einen sehr spannend macht, für die Anderen eher ungebührlich langatmig zu lesen ist. Der direkte Weg von Ägypten in das Land Kanaan dauert ja schließlich – Fußweg, Kinder, Alte und Kranke mit eingerechnet – nur wenige Wochen. Man kann es selbst ausprobieren (vorausgesetzt es gibt keine aktuellen Reisewarnungen des Auswärtigen Amtes!). Ihr habt selbst gesehen, was ich den Ägyptern getan und wie ich euch auf Adlersflügeln getragen und euch hierher zu mir gebracht habe. Merkt auf: Dies Geschehen, das Gottes Gegenwart und Handeln voller Fürsorge und Verlässlichkeit so offensichtlich gemacht hat, ist doch

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hunderttausendfach bezeugt. Ihr habt es selbst gesehen! Alle waren dabei, sind Augen- und Ohrenzeugen und können es bestätigen! Ja, so ist es gewesen. So nimmt unser kurzer Textabschnitt auf die Rettung aus der Knechtschaft und all die damit verbundenen Geschehnisse Bezug. So sehr dieser Text einer Reisebeschreibung ähneln mag, so wenig lässt er sich auf diese Ebene reduzieren. Jedes Wort, jeder Buchstabe hat Aussagekraft. Nicht ein einziges Jota oder Strichlein soll von diesen Worten genommen werden, so bestätigt Jahrhunderte später Rabbi Jesus diese Tradition (vgl. Matth. 5). Die gehäuften Wiederholungen hier (3xWüste, 2xSinai, 2xkommen, 2xlagern) – am Anfang einer Erzählung eher ungewöhnlich – weisen auf etwas ganz Wesentliches hin. Sie geben Zeit und heischen Aufmerksamkeit. Am Anfang dieses Textabschnitts markieren sie den Beginn eines langen zentralen Teils der Thora, der Weisungen Gottes zum Leben. Erst zwei Bücher weiter in der Bibel (Num. 10,11) und elf Monate später wird Gott den Israeliten das Zeichen zum erneuten Aufbruch geben. Dazwischen liegen alle Ereignisse in der zweiten Hälfte des Buches Exodus, das ganze Buch Levitikus und die Geschehnisse bis Numeri 10. Der Kern der Weisungen Gottes, der Thora, ihre Mitte mit SEINEN Offenbarungen, nimmt genau hier am Berg im dritten Monat seit dem Auszug seinen Anfang. Also, erst einmal ankommen. Erst einmal lagern. Erst noch einmal vergegenwärtigen und verkraften, was in den letzten Monaten und bis zu diesem Tag geschehen ist: Die Errettung am Meer, die Gabe von Wasser, von Fleisch und Brot (Wachteln und Manna), das Geschenk des Shabbat und der Verantwortung für seine Einhaltung, die Versuchungsfrage voll Verzweiflung und Zweifel der immer wieder durstigen Menschen „Ist der Herr in unserer Mitte oder nicht?“ und die rettende Zuwendung Gottes mit Wasser aus dem Felsen in Rephidim und ebenfalls dort im Kampf gegen die Amalekiter. Immer wieder Zögern, Not und Zweifel, Sorge um die eigene Existenz sowie die Erfahrung von Rettung und Bewahrung verbunden mit dem Ruf in die eigene Verant-

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wortung. Das braucht Zeit. „Im dritten Monat“ heißt es deshalb. Und wie so oft verweist die Zahl 3 auf Wartezeit, auf die notwendige Zeit zur Vorbereitung. Die dritte Stufe bringt dann die Vollendung. Mit der Ankunft am Sinai, am Lagerplatz unten, dem Berg gegenüber, ist die Befreiung aus dem Sklavenhause und den versklavenden Bindungen an knechtende Bedingungen vollendet. Jetzt kann etwas Neues beginnen. Mose kennt diesen Ort von früher. Hier hat er seine Berufung erlebt, im Nicht-Verbrennenden-Dornbusch den Gott kennengelernt, der den Namen trägt: Ich bin da! Hier hat seine Geschichte mit diesem Gott begonnen. Stotternd war er und zögernd damals, voller Fragen, ob das nicht alles zu viel wäre für ihn; und wie er es denn schaffen solle, mit all den eigenen Mängeln, auf die er hinweisen konnte. Sicherlich ging es gerade jetzt vielen im Volk genau so, vielen von denen, die sich da unten am Berg lagerten. Mose aber stieg hinauf zu Gott. Und der Herr rief ihm vom Berge aus zu. Und so kümmert er sich gar nicht um seine Schlafstatt, überlässt das Sich-Lagern den Anderen und läuft Gott entgegen. Der erste von vielen Aufstiegen, die noch folgen sollten. Ihm ruft Gott entgegen. Heißt ihn regelrecht willkommen. Mit seinem Zuruf vom Berge her bestätigt Gott die besondere Nähe und Vertrautheit zu Mose. Und er sendet ihn unmittelbar zum Ausrichten der göttlichen Botschaft wieder hinab. Darin besteht Mose besondere Beauftragung und der Grund der engen Verbindung zwischen Gott und ihm, zwischen ihm und Gott. Mose trägt die Botschaften hin und her und vermittelt die Geschehnisse. Das macht ihn so bedeutsam. So auch diesmal: Was viele im Volk deutlich noch in ihren Gelenken spüren und sicherlich zunächst als mühsames Gehen durch die Wüste erinnern, ist auf einer anderen Ebene göttliches Handeln – wie auf

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Adlersflügeln – Gottes eigene Aktivität, die das Volk zu ihm gelangen lässt. So also ist der Weg bis hierher zu verstehen, der sich mit der (Wieder-)Begegnung am Berg vollendet hat. Ja, so ist es gewesen. Das haben wir erlebt. Gottes Werk! Und nun, ... heißt es dann in unserem Textabschnitt. Mit „Und nun“ – „jetzt aber“ – markiert die hebräische Sprache den Beginn von etwas Neuem. Die Erfahrungen der Vergangenheit werden hingeleitet zu Entscheidungen für die Zukunft. Noch steht alles unter dem Vorzeichen eines „Wenn“: wenn ihr auf meine Stimme hört und meinen Bund haltet ... Im hebräischen Text steht hier nicht einfach hört, sondern zweifach hört: hörend hört, oder zu übersetzen: lauschend hört, ernstlich hört. Solch aufmerksames Hören ist grundlegend für gelingende Beziehung. Das ernsthafte Achten auf die Rede des Anderen, in diesem Fall auf Gottes Rede, ist Voraussetzung für die Nähe, Einmaligkeit und Verbindlichkeit, die diese Beziehung auszeichnen soll. Die Beziehung zwischen Gott und seinem Volk. Darauf greift der nächste Teilsatz dann schon vor. Der Bund zwischen Gott und seinem Volk wird erst in Kapitel 24 bestätigt und besiegelt werden. Aber hier schon kommt diese Zukunft in den Blick. Ein Bund zwischen Gott und seinem Volk trägt in der Gegenwart gegenseitiger Anwesenheit weiter, was in dem Bund mit den Vätern, mit Abraham und Isaak schon lange begonnen hat. Und nun – Jetzt aber! könnte mit den Nachkommen konkret werden, was in den Zusagen im Bundesschluss mit den Erzvätern bereits angelegt worden war. Immer noch hinter der Bedingung des „Wenn“ steht doch schon die Zusage einer unverwechselbaren exklusiven Verbundenheit: … wenn ihr auf meine Stimme hört und meinen Bund haltet, so sollt ihr von allen Völkern mein Eigentum sein; denn mein ist die ganze Erde. Ihr sollt mir ein Königreich von Priestern werden und ein heiliges Volk. Gottes Volk und Gottes ganze Schöpfung stehen im Verhältnis 22

zueinander. Drei besondere Beziehungsverhältnisse sind hier benannt. Das 1.: „Eigentum“ übersetzt hier ins Deutsche eine Wendung im Hebräischen, die ein persönliches Verhältnis zu einem unveräußerbaren Besitz bezeichnet und mit Erwählung zu tun hat. Der Rabbiner Samson Raphael Hirsch übersetzt in seinem Kommentar diese biblischen Worte mit: mir ausschließlich angehören. „Eigentum“ bedeutet hier also ein gegenseitiges Aufeinander-Angewiesensein, in der Verantwortung für einander zu stehen. Es ist kein Zufall, dass diese an ein Hochzeitsversprechen erinnernde Wendung immer wieder das Bild von Braut und Bräutigam als Beschreibung für das Verhältnis von Gott zu seinem Volk – und vom Volk zu seinem Gott – vor Augen gestellt hat. 2.: Ihr sollt mir ein Königreich von Priestern werden. Das wiederholt vorangestellte Ihr betont die besondere Rolle der Adressaten. Schon am Rande des Schilfmeeres hatte das Volk Gott gepriesen als „König für immer und ewig“. Nun qualifiziert dieser König sich ein Volk der Priesterschaft: Nach SEinem Wort zu leben und zu handeln und IHn so zu bezeugen vor der Welt. SEinen Namen anzurufen und IHn so heilig zu halten in Allem, trotz Allem und für Alle. Und 3.: Ein heiliges Volk. Bei Volk könnte schnell auch an die politische Verfasstheit einer Nation, über staatliche Eigenständigkeit nachgedacht werden. Wichtiger aber ist hier das „heilig“. Die Einladung, dem ähnlich zu werden, der selber und zuhöchst heilig ist. Ein Angebot intimer Nähe zu Gott. Dieser bedeutsame Ausblick kehrt auch gleich in den nächsten Versen wieder, in der Aufforderung an das Volk, sich für die Begegnung mit Gott zu heiligen. Erstaunlich, was Gott hier unternimmt. Der kurze Rückblick auf die vorhergehende Geschichte ließ deutlich werden, wen Gott hier in die besondere Beziehung ruft, wer die sind, die er erwählt und auf wen er sich einlässt. Und auch die spätere Diskussion der Rabbinen reflektiert diese ungeheuerliche Entscheidung, auf die sich dann ja auch das Volk einlässt. Manche Gelehrte sagen, darum steht in der Schrift „das Volk stand unter dem Berg.“ Hätte es eine Wahl gehabt auszuweichen, dann

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hätte es diese Verantwortung der unmittelbaren Nähe zu Gott sicherlich nicht auf sich genommen. Und wenn im 1. Petr. 2,9 den im Namen Jesu Christi Erwählten genau diese Erwählung zugesprochen wird: „Ihr aber seid ... die königliche Priesterschaft, das heilige Volk, das Volk des Eigentums, damit ihr die herrlichen Taten dessen verkündigt, der euch aus der Finsternis zu seinem wunderbaren Licht berufen hat ...", so kann ich die Freude und die Last der Verantwortung, die mit dieser Erwählung und diesem großartigen Auftrag in der Welt und vor der Welt verbunden ist, deutlich spüren. In der Nachfolge Christi sollen auch wir Zeugen sein vor den Augen der Welt und für die Welt, Gottes Gegenwart verkünden und Gottes Handeln in der Welt preisen. Gottes Gegenwart vor die Augen der Welt stellen, wenn andere sich lagern wollen und ihre Füße kühlen. Was für eine Berufung. Gut zu wissen, dass dieser Gott treu ist und sein Name ist: Ich bin da! Amen.

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Predigt über Exodus 19,1-6(-8) Matthias Loerbroks Liebe Gemeinde, ganz akribisch, mit genauen Zeit- und Ortsangaben wird hier von den ersten Schritten Israels nach der Befreiung aus der Sklaverei erzählt. Der Erzähler macht damit zum einen deutlich, dass diese Befreiungsgeschichte nicht aus dem Märchenbuch stammt, nicht Bild, Symbol, Illustration für alle möglichen inneren und äußeren Befreiungserfahrungen ist, jedenfalls nicht nur, sondern in einer bestimmten Gegend sich abspielt – einer Gegend, die Halbinsel Sinai zwischen Ägypten und Israel, von der uns ja gerade in den letzten Wochen äußerst konkrete und sehr beunruhigende Nachrichten erreichten. Zum anderen erinnert der Erzähler daran, dass sich Israels Gott bereits als Befreier und beschützender Begleiter seines Volkes bewährt hatte, ehe er dann am Sinai einen Bund mit ihm schließt und ihm seine Gebote gibt, die berühmten zehn, aber auch noch viele andere. Erst die Befreiung, dann die Gebote oder, mit den theologischen Begriffen, die Martin Luther sehr beschäftigt haben: das Evangelium, die frohe Botschaft, hat Vorrang vor dem Gesetz. Das gilt für beide Teile der christlichen Bibel, für das Alte wie für das Neue Testament – vorhin, bei der Taufe, hörten wir, wie Jesus seine Jünger zu den Völkern schickt und beauftragt, sie erst zu taufen, eine Zeichenhandlung, die ein bisschen an den Gang durchs Schilfmeer erinnert, und sie dann erst seine Gebote zu lehren. Hier, in der Exodusgeschichte, wurde das Volk Israel auf erstaunliche Weise aus der Sklaverei befreit und hatte dann zwei Monate lang die Erfahrung gemacht, von dem Gott, der es befreit hatte, versorgt zu werden mit Essen und Trinken, es hatte, offensichtlich mit Hilfe dieses Gottes, den Überfall von Banditen abgewehrt. Israel hatte Gott kennen gelernt als einen, der befreit und der mitgeht mit seinem Volk, zeichenhaft sichtbar als Wolke und Feuersäule.

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An diese Vorgeschichte, mit der er sich als Befreier und Begleiter bewährt hatte, erinnert nun Gott selbst: Ihr habt gesehen, was ich getan habe an Ägypten, lässt er seinem Volk durch Mose ausrichten. Israel hat etwas zu sehen bekommen – freilich nicht Gott selbst, aber seine Taten; Israel wurde durch mächtige Taten freigepresst. Und auf dem Weg Israels zwischen Schilfmeer und Sinai hat sein Gott sich erwiesen als der, der dich auf Adelers Fittichen sicher geführet. Dies Bildwort von den Adlerflügeln wurde in jüdischer Tradition verschieden gedeutet. Raschbam, Rabbi Schmuel ben Meir, im Mittelalter paraphrasiert: schnell und sicher habe ich euch über das Meer und trockenes Land getragen, wie ein Adler über die Meere fliegt. Raschi, Rabbi Schlomo Itzchaki, ebenfalls im Mittelalter, einer der berühmtesten Theologen der jüdischen Geschichte, betont hingegen Gottes Hingabe und Opferbereitschaft: Alle anderen Vögel tragen ihre Jungen in ihren Klauen, weil sie Angst haben, ein anderer Vogel könnte über sie hinweg fliegen. Der Adler hat nur Angst vor dem Pfeil des Jägers, weil kein anderer Vogel höher fliegen kann als er. Deshalb nimmt er seine Jungen auf seine Schwingen: soll der Pfeil lieber mich treffen als meine Kinder. Im 20. Jahrhundert deutet der Philosoph, Pädagoge und religiöse Sozialist Martin Buber das Bild als Einübung von Freiheit und Selbständigkeit: Adler bringen ihren Jungen das Fliegen bei, indem sie sie auf den eigenen Flügeln in die Höhe tragen, sie auffangen, wenn sie fallen. Kräftige und sichere Führung, Bewahrung und Schutz, pädagogische Leitung und Anleitung zum Selbständigwerden – all das wird mit diesem Bild ausgedrückt. Nun sind sie am Sinai angelangt, dem Ort, an dem dieser Gott aus einem brennenden Dornbusch heraus zum ersten Mal mit Mose sprach, ihn beauftragte, seinen Namen erklärte. Alles, was Israel bisher erlebt hatte, war eine Auslegung, ein Erweis dieses Namens: Ich werde dasein als der ich dasein werde, werde mit euch sein wie immer ich mit euch sein werde. Das ist gemeint mit seinem Namen, der in Luthers Bibelübersetzung mit „der HERR“ umschrieben wird. Und wenn Jesus

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verheißt: Ich bin bei euch alle Tage bis zur Vollendung der Welt, spielt er auf diesen Namen an. Er bezeichnet das Besondere an diesem Gott: das, was ihn von anderen Göttern und Mächten unterscheidet. Bereits bei dieser ersten Begegnung hatte diese Stimme gesagt: Hier, an diesem Berg, werdet ihr mir dienstbar. Aus dem Frondienst der Sklaverei, aus dem Haus der Dienstbarkeit wird Israel befreit, um stattdessen diesem Gott zu dienen. Die Befreiung und Erwählung Israels ist kein Selbstzweck, sondern Befreiung und Erwählung zum Dienst: Gottesdienst statt Sklavendienst. Der HERR, der Gott Israels, hat sich als Bundesgenosse dieses Volkes erwiesen, um dieses Volk zum Bundesgenossen zu gewinnen: Ich will euer Gott sein, ihr sollt mein Volk sein. Aus der Sklaverei befreit ist Israel bereits. Doch bevor es in das versprochene Land kommt, bekommt es hier am Sinai Weisung, angefangen mit den Zehn Geboten, damit es im neuen Land nicht in alte ägyptische Verhältnisse zurückfällt, Weisung zum Leben, zum Bewahren der Freiheit. Die Freiheit besteht darin, diesem Gott zu dienen, und worin dieser Dienst im Einzelnen besteht, erfährt Israel hier, wenn es auf diese Stimme hört. Die Befreiung geschah bereits in Ägypten und am Schilfmeer. Zum Gottesvolk, zum kollektiven Bundesgenossen dieses Gottes wird es erst hier am Sinai. Aber was ist das, ein Gottesvolk? Wozu braucht Gott ein Sondergut, ein besonderes Volk, wenn ihm doch, wie er im selben Satz sagt, die ganze Erde gehört, er es ist, der Himmel und Erde geschaffen hat, alle Menschen aller Völker seine Geschöpfe sind? Warum und wozu erwählt er eines dieser Völker besonders und macht es zu etwas Besonderem? Und was haben dann wir aus den anderen Völkern mit dieser Geschichte zu tun, was geht uns das an? Gott hat bei der Erwählung Israels, bei seinem Bund mit diesem Volk auch uns, die anderen Völker im Blick. Er zeigt in dieser besonderen Geschichte, wie er im Allgemeinen, im Ganzen ist. Er liebt alle Menschen, indem er Israel liebt. Diese besondere Geschichte geschieht stellvertretend für die Weltgeschichte, ist ihr roter Faden, ihre Mitte. Das 27

wird deutlich, wenn er sagt, wozu er Israel erwählt hat, wozu er ein besonderes Volk, ein Sondergut braucht, was das überhaupt ist: ein Gottesvolk, ein heiliges, also ausgesondertes Volk: Ihr werdet mir sein ein Königreich von Priestern. Das Wort Königreich verweist auf den Bereich der Politik. Dieser Gott interessiert sich nicht nur für Glaubensinhalte, nicht nur für Einzelne, nicht nur für Seelisches. Er strebt eine bestimmte Art gesellschaftlichen Zusammenlebens an, will Recht und Gerechtigkeit verwirklichen. Ein Königreich bedeutet: Die Art und Weise der Politik soll zeigen, wer König ist. Er hat darum ein Volk erwählt, nicht eine Religion und hat ihm ein Land versprochen als materielle Grundlage einer neuen Gesellschaft. Aber diese Besonderung und Aussonderung geschieht stellvertretend für das Ganze, dieses Volk soll der Anfang einer neuen Menschheit sein, dieses Land der Beginn einer neuen Welt: ein Königreich von Priestern. Priester, für uns Protestanten ein fremdes Wort, das sind Menschen, die zwischen Gott und den Menschen vermitteln. Ein Priester vertritt Menschen vor Gott, distanziert sich nicht von den Gottlosen, sondern solidarisiert sich mit ihnen, spricht und handelt stellvertretend für alle, er vertritt aber auch Gott bei den Menschen, tut seinen Willen kund, macht seinen Einfluss geltend, vor allem: Er spricht Menschen Segen zu, also Gottes fördernde, helfende und schützende Begleitung. Israel soll als ganzes, als ein Volk eine Art kollektiver Priester sein, soll vermitteln zwischen diesem Gott und allen Menschen, Kontakt herstellen. Die Völker kommen mit Gott zusammen, indem sie mit diesem Volk zusammen sind, lernen diesen Gott kennen, indem sie auf diese besondere Geschichte aufmerksam werden. Jedenfalls war das Gottes Ziel und Absicht. Schon dem Abraham hatte er bei dessen Berufung versprochen, dass seine Nachkommen ein Segen sein werden für alle Völker. Und im 5. Buch Mose wird in Aussicht gestellt, dass die anderen Völker aus dem Staunen gar nicht wieder rauskommen angesichts Israels und seiner anderen Art des Zusammenlebens, seiner gesellschaftlichen Organisation. Die Propheten Jesaja und Micha, 28

auch viele Psalmen künden an, die Völker würden zum Zion ziehen, um dort Weisung zu lernen – wir haben vor zwei Wochen davon gehört. Die Spannung der gesamten biblischen Erzählung besteht zwischen diesen beiden Bergen: dem Sinai, außerhalb des Landes, als Zeichen des besonderen Bundes, der Aussonderung dieses Volkes, und dem Zion, im Zentrum des Landes, als Hoffnungszeichen seiner Weltbedeutung, der Zukunft der Völker. Doch es kam anders. Zum einen darum, weil dieses Volk immer wieder die Last seiner Erwählung, diese Sonderrolle loswerden wollte, lieber ein Volk wie alle anderen werden wollte – was ihm aber nie ganz gelungen ist. Vor allem aber, weil die anderen Völker sich keineswegs von diesem besonderen Volk über seinen besonderen Gott aufklären ließen, sondern feindselig reagierten, es bekämpften, in seiner Erwählung keinen Segen sahen. Entweder waren sie gekränkt und eifersüchtig darüber, nicht selbst erwählt zu sein, und erwählten sich auch selbst. Oder sie sahen in ihr den Ausdruck einer ungeheuren Arroganz dieses kleinen Volkes: einen Erwählungsgedanken, ein Erwählungsbewusstsein, einen Auserwähltheitsanspruch. Oft geschah beides, eine Mischung aus Nationalismus und Antisemitismus – eine besondere Rolle Israels wurde so zwar deutlich, aber nicht als Gottesvolk, als Segen und Licht der Völker, sondern als ein besonders verachtetes Volk. Durch das Evangelium von Jesus Christus wurden Menschen aus vielen, aus fast allen Völkern auf diese besondere Geschichte, auf die Beziehung zwischen Gott und diesem Volk aufmerksam. Sie sahen die ganze Bundesgeschichte in einem bestimmten Juden zusammengefasst, hörten in den Worten Jesu sowohl die Stimme Gottes wie die Antwort Israels. Doch auch die Christen aus den Völkern ärgerten und rieben sich an der Besonderheit Israels und behaupteten, als Gottesvolk sei Israel abgelöst und ersetzt worden durch die Kirche. Juden als Juden bräuchte es nicht mehr zu geben, denn wenn sie in Jesus den Messias Israels erkennten, würden sie ja Christen und in der Kirche aufgehen. Das Kommen des Messias sei das Ziel, aber damit auch das Ende der Geschichte Israels.

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Inzwischen aber haben viele Christen entdeckt, dass die Erwählung Israels ein wichtiges Thema ihrer eigenen christlichen Bibel ist; dass der Bund zwischen Gott und seinem Volk nicht gekündigt ist; dass Gott Israel die Treue hält. Sie entdeckten auch, wie sie sich durch ihre Distanzierung von den Juden selbst geschadet hatten: Aus dem besonderen Gott der Bibel war ein Allerweltsgott, Allgemeingott geworden, farblos und blass, ein Gott ohne Eigenschaften, ohne Ziele, ohne Geschichte. Doch diese ganze Verdrängung, Ersetzung, Beerbung, Überbietung Israels haben wir nun als Irrweg erkannt, verstehen den Ort und die Aufgaben der Kirche nicht mehr anstelle, sondern an der Seite Israels. Wir Christen aus den Völkern entdecken nun ebenfalls eine priesterliche, eine vermittelnde Aufgabe, werden zu Dolmetschern zwischen Israel und den Völkern, bitten die Völker an Christi statt: Lasst euch versöhnen mit Gott – und mit seinem Volk. „Ein Mensch“, so hörten wir es vor vier Wochen von Karl Barth, „tritt in seiner Taufe als tätiges Glied hinein in das heilige Volk Israel, das nach Jesaja 42,6 zum ‚Bundesmittler unter den Völkern’ bestellt ist.“ Alles, was Odem hat, lobe mit Abrahams Samen. Amen.

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Predigt über Exodus 19,1-6(-8) Klaus-Georg Poehls Schemot / Exodus 19, 1-6 „Was mich bis heute bei der Berufung auf den christlichen Gott immer wieder stört – sowohl bei manchen Kirchenleuten als auch bei manchen Politikern –, das ist die Tendenz zur Ausschließlichkeit, die wir im Christentum antreffen – und ebenso auch in anderen religiösen Bekenntnissen: Du hast unrecht, ich aber bin erleuchtet, meine Überzeugungen und meine Ziele sind gottgefällig. Mir ist seit langem klar geworden: Unsere unterschiedlichen Religionen und Weltanschauungen müssen uns nicht hindern, zum Besten aller zusammenzuarbeiten; denn tatsächlich liegen unsere moralischen Werte nahe beieinander. Friede unter uns ist möglich, allerdings müssen wir den Frieden immer wieder aufs Neue herstellen und »stiften«, wie Kant gesagt hat.“ So hat es Helmut Schmidt 2007 in seiner Rede zum Ethos eines Politikers in Tübingen gesagt. Ich gebe Helmut Schmidt Recht und wende mich gegen exklusive, also andere ausschließende Erwählungsvorstellungen: Wann immer sich ein Mensch, eine Religion, ein Volk, als von Gott, von der Geschichte, vom Schicksal als „erwählt“ betrachtet, fangen die Probleme an. Denn die Nicht-Erwählten werden zum Objekt der Erwählten: entweder als Objekte von Missionierung oder von Ausbeutung. Theologisch ist die Gefahr groß, Gott zum Gefangenen der Erwählungsvorstellungen derer werden zu lassen, die sich für erwählt halten. Er darf nicht sein, was er nach dem Evangelium Jesu Christi ist: unbedingte und unbegrenzte Liebe, oder dem Koran nach der Allerbarmer oder dem Judentum nach der, der alles gesegnet hat (vgl. K.-P. Jörns, Notwendige Abschiede, 202). Liebe Gemeinde, wenn Sie auch dem großen Hamburger Schmidt zustimmen können, dann lässt sich ganz neu auf unseren Predigttext gucken, in dem das Volk Jisrael zum „besonderen Eigentum des Ewigen

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unter allen Völkern“ bezeichnet wird. Nein, dieses Volk will und soll sich nicht über die anderen erheben, sie weder zu Ausbeutungs- noch zu Missionsobjekten degradieren. Denn ein Ruf ist ergangen. Ein besonderer Ruf Gottes an Mosche oder Mose. Nur dreimal wird der Ruf Gottes mit seinem Woher in der Thora verbunden: vom brennenden Dornbusch her, und Mose erfährt den Namen Gottes, vom Berg her und Mose erfährt von der Erwählung der Kinder Israels, vom Zelt der Begegnung her und Mose redet mit Gott, wie ein Mann mit seinem Freund redet. Später, im 5. Buch Mose wird Israel sein Glaubensbekenntnis formulieren, das dem Ruf Gottes folgt: „Höre Israel“. Sollte es beim Glauben – und damit auch beim Beten – mehr darum gehen, dass wir Gott er-hören, als dass Gott uns erhört? Er stellt sich seinem Volk damals und uns heute vor als einer, der sein Volk auf Adlerflügeln trägt. Unser heutiges Schlusslied wird dieses Bild aufnehmen (EG 316, 2). Es ist ein Bild der Befreiung und der Freiheit. Mit dem Flug des Adlers hinaus aus einer unerträglichen Gefangenheit und hinein in die Weite. „Die Söhne Jifsraels aber seufzten aus dem Dienst, sie schrien auf, ihr Hilferuf stieg zu Gott empor aus dem Dienst. Gott aber hörte ihr Gestöhn, Gott aber gedachte seines Bunds mit Abraham, mit Jizchak und mit Jaakob, Gott aber sah die Söhne Jifsraels, Gott erkannte.“ So heißt es 17 Kapitel vorher in der Übersetzung Martin Bubers (Ex 2,23-25). „Exodus“ also, Auszug aus unerträglich gewordenen Lebensbedingungen im Namen Gottes, Abstandnahme und Distanz von Willkür, wie sie in Ägypten erlebt wurde und wie viele sie heute als Staats- oder Religionstotalitarismus erleben – und davor fliehen, Freiheit suchen. Und nun die Wüste. Der Adler ist gleichsam gelandet, das Volk lagert sich. „Auf der theologischen Sinnebene hat die Szenerie „Wüste“ eine tiefe Bedeutung, ist doch die Wüste der nackte Raum schlechthin, ein Ort der Leere, ein Ort ohne Eigenmacht, der gerade so zum objektiven Korrelat für Gottes Fülle, Gottes Präsenz, Gottes Zur-Welt-Kommen werden

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kann“, schreibt Karl-Josef Kuschel. (K.-J. Kuschel, Juden Christen Muslime, 484). Und das Volk Gottes muss lernen, sich in diese Fülle und diese Präsenz hineinzuleben, muss lernen, wie es geht, wirklich Volk Gottes zu sein und nicht das Volk eines Despoten. Wie soll das gehen, ein priesterliches Reich zu sein und ein heiliges Volk, ein Volk also, das Gott als gegenwärtig versteht? Eine neue Haltung, ein neues Ethos muss gefunden werden, Regeln für das Leben vor Gott und für das Leben miteinander, von Anfang an auch schon für das Leben mit Fremden. „Durch die Wüste“ ist kein biblisches Thema, sondern ein Buch von Karl May. Es geht nicht um einen Zug durch die Wüste, bei dem nun allerlei Abenteuer zu erleben und zu erzählen sind. In der Wüste muss das Volk Israel seine Identität finden. Vierzig Jahre soll es dauern, bis das Volk Israel in der Generation der in der Wüste Geborenen als befreites und als Volk Gottes sein Land erreicht. Vierzig Tage ist Jesus in der Wüste, bis er sein Selbstverständnis gefunden hat. „Vierzig“ hier als Zahl für das Werden zu dem, von dem wir meinen, wir sollten es von Gott her sein. Und jetzt entsteht ein neuer Dreiklang: erwählt – frei – dienstbar. Die Erwählung des Volkes Israel stellt es in die Freiheit. Eine Freiheit nicht nur von Sklaverei und Schinderei, sondern eine Freiheit zum Dienst an Gott und den Menschen. Es soll den Segen Gottes unter die Menschen, die Völker bringen, auch Freiheit schaffen, auch zum Gottes-Dienst einladen. „Das höchste Gebot ist das: »Höre Israel, der Herr, unser Gott, ist der Herr allein, und du sollst den Herrn, deinen Gott, lieben von ganzem Herzen, von ganzer Seele und von ganzem Gemüt und von allen deinen Kräften«. Dies ist das höchste und größte Gebot. Das andere aber ist dem gleich: »Du sollst deinen Nächsten lieben wie dich selbst«. In diesen beiden Geboten hängt das ganze Gesetz und die Propheten“ (Mk 12, 29.30; Mt 22, 39.40).

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Wir hören auf die Stimme eines Juden und stehen in der Tradition der Thora. All die über 600 Gebote der hebräischen Bibel, all das, was wir als Willen Gottes bezeichnen und von dem wir wollen, das es als Wille Gottes geschieht, wie im Himmel, so auf Erden, all das hat Jesus in diesem Doppelgebot der Liebe genial zusammengefasst – als das Höchste und Größte - untrennbar miteinander verbunden. Und beide Gebote finden sich getrennt noch voneinander in der Thora. Und all das, was uns heute in die Knie zwingen will, was uns als „Must Do“, „Must Have“ oder „Must Believe“ entgegentritt, unterliegt immer noch diesem Höchsten und Größten. Für viele von uns ist die Welt unübersichtlich geworden oder gar aus den Fugen geraten. Es wird mit Angst gearbeitet; es werden drohende Szenarien aufgebaut, manche haben gute Begründungen, manche sind postfaktisch oder „alternative facts“. Viele fühlen sich ausgeliefert, haben nichts, was sie alldem entgegenhalten können. Und das ist das Schlimme, nicht die Bedrohungen, seien sie real oder populistisch aufgepumpt. Die Lauen, die Leeren, die Herz- und Geistlosen, die Spötter ohne Haltung, die Kraftmeier ohne Liebe. Noch einmal Karl-Josef Kuschel: „Im Glauben an den einen Gott, der Himmel und Erde schuf, sich ein Volk erwählte, seinen Willen in einer Lebensordnung kundtat und Verantwortung im Leben sowie Rechenschaft nach dem Tode fordert, sind Israel und Kirche vereint, obgleich sie getrennte Wege gehen. ... Und aus diesem Glauben an den einen Gott, den Gott Abrahams, Isaaks und Jakobs, der für Christen auch der „Vater“ Jesu Christi ist, folgt die gemeinsame Arbeit daran, „unserer Welt Gerechtigkeit und Frieden zu bringen“ (K.-J. Kuschel, Juden Christen Muslime, 49 [unter Beziehung auf Dabru Emet]). Amen.

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Predigt über Exodus 19,1-6(-8) Anke Wolff-Steger Liebe Gemeinde, einen Liebestext bekamen wir zu hören. Einen Liebestext, der nicht uns Christen, sondern Gottes Volk Israel, denen, die bis heute Juden genannt werden, gilt. Auf Adlerflügel habe ich euch getragen und euch zu mir gebracht. Ein wunderschönes Bild der Fürsorge: Der Adler trägt sein Junges auf seinen Flügeln, er fliegt unter ihm, bis es selbst fliegen kann und schützt es mit seinem Körper vor Feinden. Wenn das Junge – denn meistens ist es nur eines – ermattet, dann sind Vater oder Mutter da, um es zu tragen und zu schützen. Um das eine geht es – das muss getragen werden, damit alle überleben. Aus der Knechtschaft, der Sklaverei in Ägypten, hat der Gott, den die Hebräer bis dahin nur aus den Erzählungen der Väter kannten, die Nachfahren Abrahams befreit, um sie wie ein Adler zu tragen. Aber was ist der Sinn der Befreiung? Dienst, Gottesdienst folgt auf die Befreiung aus der Dienstbarkeit Ägyptens. Was Dienstbarkeit für den Gott Israels bedeutet, das ist noch offen. Was es im Hause Pharaos bedeutet hat, das wissen die Kinder Israels. Sie sind befreit worden, um IHM dienstbar zu werden. Ohne Befreiung ist dieser Dienst, Gottesdienst, nicht möglich. Dienst ist eben nicht gleich Dienst. Und insofern wird auch deutlich, was die nachfolgenden Gebote, all das, was wir Christen so abwertend Gesetz der Juden nennen, eigentlich sind: Grundpfeiler für ein Leben in Freiheit durch Befreiung. Will Israel in der Befreiung bleiben, 35

dann ist es aufgerufen, SEINEN Geboten zu folgen. Somit sind die Gebote weniger Gesetze im Sinne eines Zwangscharakters, sondern Weisungen zur Freiheit. Nicht das „du sollst“ der Gebote ist richtig, nein: du wirst nicht töten, du wirst nicht stehlen, du wirst nicht falsches Zeugnis reden, du wirst nicht die Gemeinschaft von zwei Menschen zerbrechen, du wirst nicht begehren, wenn du mit dem Gott, der dich befreit hat, auf dem Weg bist. Befreiende Gebote sind es aus dem Zwang von Menschen, den anderen Menschen nicht neben sich dulden zu wollen. Wir Christen teilen mit den Juden diese ZehnGebote und das Alte Testament, den größten Teil der Bibel. Manchen ist das gar nicht bewusst, dass Juden und Christen sich auf den gleichen Teil, die hebräische Bibel berufen. Auch Jesu Botschaft beruft sich auf die Thora, die Fünf Bücher Mose, und auch auf die Propheten, auf die Psalmen und Schriften. Thora wurde von den Christen mit Gesetz übersetzt. Aber Thora ist mehr als Gesetz; sie ist Lehre, Weisung. Ja, es ist eine Lehre zum Leben, Lebensweisung. Die Thora als Ganzes und das Buch Exodus im Besonderen erzählt von der Befreiung Israels zum Dienst am HERRN. Dienst ist eigentlich nichts, was dem Bewusstsein des modernen Menschen entspricht. Frei! – ja, das will jeder sein – aber um zu dienen? Nein – das hat ja wieder mit Zwang zu tun! Freiheit von allem,

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frei tun und lassen können, was man - frau will, das ist die Freiheit, die heute gelehrt wird. Aber es ist eine einsame Freiheit! Es ist eine Freiheit zum Sieg, zum Erfolg, zur Leistung, und zugleich eine Freiheit zum Verrecken, zum Untergang, eine Freiheit von allem Schutz und aller Fürsorge, eine ziemlich einsame Freiheit. In der Bibel, so auch hier geht es immer um eine Gemeinschaft von Menschen, deshalb wird auch nicht ein einzelner Mensch erwählt, der für sich dann frei lebt, anderen vorlebt, was es heißt, ein Mensch Gottes zu sein. Nein. Ein Volk steht vor Gott, eine Gemeinschaft von Menschen – kein Einzelner. Selbst Mose – so besonders er dargestellt wird – ist nur ein Vermittler zwischen Gott und dem Volk. Das ist seine Aufgabe. Er steigt allein zu Gott hinauf, wird erzählt. Was er hört, gilt aber allen, die am Berg sich zum Lager niedergelassen haben. Der Einzelne geht nicht unter in der Gemeinschaft. Mose hat seine Aufgabe, von Gott zu berichten, besser gesagt von dem, was ihm gesagt wurde, was er erlebt hat. Zu sehen ist Gott auch für Mose nicht, auch wenn er auf den Berg steigt, um ihm nahe zu sein. Das Einzige, was zu sehen ist, sind seine Taten, so heißt es auch in unserem Predigttext: Ihr habt gesehen, was ich an Ägypten tat… Was war zu sehen?

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Nie Gott selbst, keine Gestalt, auch kein Bild von IHM. Eine Erscheinung ist schon zu sehen: der brennende Dornbusch, Feuer und Wolkensäule. Aber in erster Linie sind Taten zu sehen. Es ist zu sehen, was Er an Ägypten tat. ER fordert nichts, ohne nicht zuvor schon gegeben zu haben. Gesehen mit eigenen Augen haben die Israeliten ihre Befreiung aus Ägypten. Mit dieser Erfahrung werden dann die Zehn Gebote und alle folgenden Satzungen begründet: Ex 20,2 ICH bin dein Gott, der ich dich führte aus dem Land Ägypten, aus dem Haus der Dienstbarkeit. Der Dienst am Gott Israels gründet auf der Befreiung, der Dienst für Pharao auf Unterdrückung. Deshalb sollen sie auf seine Stimme hören und seinen Bund bewahren. Nun werden Sie fragen: Wo ist Gottes Stimme heute zu hören? Ist seine Stimme überhaupt zu hören? Wo ist er zu sehen? Gibt es ihn überhaupt? Das sind unsere Fragen. Von den Juden, dem Volk Israel können wir lernen, ganz anders nach Gott zu fragen. Gott ist nicht zu sehen. Er hat kein Bild. Und das ist auch gut so. Bilder sind starr, schreiben fest – oft auch nur das, was ich selbst meine, was Gott zu sein hat,

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also mein eigenes Gottesbild. Und diese eigenen Gottesbilder sind dann keine Götter, die Menschen zu einem Volk, einem Volk Gottes zusammenbringen können, denn jeder hat seinen eigenen Gott, dem er nachfolgt. Gott ist in der Bibel das, dem man nachfolgt, wonach ich mich ausrichte. Götter gab es viele im alten Orient, der Gott Israels unterscheidet sich von allen Göttern dadurch, dass er kein Bild hat, das angebetet werden soll, sondern Menschen folgen seinen Geboten, um frei zu bleiben. Die Juden haben sich Geschichten erzählt – immer wieder eigentlich die gleiche Geschichte, die Geschichte von der Befreiung, die Geschichte vom Auszug aus Ägypten! Immer wieder neu! Auch im Neuen Testament wird diese Geschichte der Befreiung als Urereignis des Glaubens von Jesus seinen Jüngern kurz vor seinem Tod erzählt: Schon zur Zeit Jesu bis heute wird eine ganze Nacht hindurch davon erzählt, das Brot gebrochen – ungesäuertes – schnell gebackenes Brot, und Wein wurde einander gereicht – vier – fünf Becher, Passah wird dieses Fest zur Erinnerung an den Auszug genannt. Auch wir Christen brechen das Brot und reichen zum Abendmahl einen Becher Wein, weil das letzte Mahl, das Jesus mit seinen Jüngern feierte, dieses PassahMahl war. „Zur Erinnerung“ so sagte er. „Zur Erinnerung“ heißt es immer wieder im Passah-Mahl. Es soll in das Innere eines jeden – einer jeden geholt werden:

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Auch wenn du jetzt noch unfrei lebst, jetzt noch unterdrückt wirst, versuche, dich hineinzuschmecken und hineinzuhören, was es bedeutet, frei zu sein, was es heißen könnte, befreit von Knechtschaft zu leben und einen Ausblick haben zu dürfen auf das, was eigentlich menschlich und gut ist: nämlich frei und geborgen in einer Gemeinschaft von Menschen sein Brot zu essen und seinen Wein zu trinken. Für die Juden war dieses Passahfest sozusagen das, was ihren Glauben am Leben gehalten hat, ein Überlebensfest. Und die Thora, die wir Christen oft abwertend Gesetz nennen, war die Möglichkeit, schon einmal den Versuch wagen zu dürfen, auf den Pfaden der Freiheit zu gehen. Wenn Gott auch in den eigenen Erfahrungen immer mehr verschwand, so war doch dieses alte Buch da, die Fünf Bücher Mose, mit all den Geschichten und Geboten, die erzählt, ausgelegt und mit und nach denen versucht wurde zu leben, damit Gott spürbar bleibt. Durch die Jahrhunderte, ja Jahrtausende der Unterdrückung, Verfolgung und Ermordung vieler aus ihrem Volk hat die Erzählung vom Auszug aus Ägypten das Volk Israel am Leben gehalten als Glaubensgemeinschaft selbst in den Ghettos und Konzentrationslagern der Nazis. Die Erwählung Israels steht im Zentrum unseres Predigttextes, auch wenn das Wort selbst nicht fällt. Ein besonderes Eigentum Gottes, ein Königreich von Priestern, ein heiliges Volk werden sie im Predigttext genannt.

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Für manche war und ist das Erwählungsbewusstsein Israels bis heute der Grund, warum Juden immer wieder Neid, Eifersucht bis hin zur Verfolgung und Ermordung auf sich gezogen haben. Aber darum geht es bei der Erwählung Israels nicht. Es ist kein Vorzug, sondern zuerst Dienst und auch Last. Ein Volk inmitten der Völkerwelt wird Gottes erstgeborenes Volk. Nicht aufgrund von besonderen Leistungen oder Vorzügen, die es vorweisen kann, sondern nur deshalb, weil Gott es liebt. Ja, an anderer Stelle wird gesagt, es sei sogar das kleinste und ein minderes Volk. Israel hat seine Erwählung nicht als Vorzug vor den anderen oder als ein Besser-Sein verstanden, Erwählung bedeutet Dienst: Dienst vor Gott, Dienst am Nächsten und Dienst an der Völkerwelt. Die Erwählung ist also ein Dienst, den Israel für uns Christen erbracht hat und weiterhin erbringt: Auch Jesus war einer aus diesem Volk und hat uns, die wir keine Juden sind, die Tür geöffnet für die Weisung Gottes. Christen konnten es jahrhunderte-, jahrtausendelang nicht ertragen, den jüdischen Bruder, die jüdische Schwester in ihrem Glauben neben sich und vor Gott zu dulden. Was neu ist, muss auch besser sein. Was alt ist, ist überholt, abgetan, kann weg. Die jüdische Wurzel abgehakt. Der Vorwurf der Erwählungsüberheblichkeit der Juden spukt bis heute in vielen Köpfen als Vorurteil herum. Aber Erwählung ist nicht gleich Erwählung.

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In der Naziideologie wurde von der Minderwertigkeit anderer Rassen ausgegangen und damit die Überlegenheit und Erwählung der arischen Rasse begründet. Die Einteilung in Herrenmenschen und Untermenschen und solchen, die kein Recht auf Leben haben, beseelte die deutschen Köpfe. Juden gehörten zu denen, die als Krebsgeschwür der Menschheit ausgerottet werden müssen. Die Naziideologie vom auserwählten deutschen Volk diente der Unterdrückung, Unterwerfung und Ermordung von Menschen. Befreiung, Recht und Gerechtigkeit, ja Gnade und Barmherzigkeit waren keine Themen ihrer Botschaft an die Völker, sehr wohl aber Inhalte der Botschaft Israels als Licht für die Völker. Jesus bzw. seine Jüngerschaft waren Licht für die Völker und haben auch den Heiden eine Tür geöffnet zu dem, was Israel als Volk ausmachte: das Leben nach der Thora. Im Evangelium für den heutigen Sonntag (Markus 12) bindet Jesus zwei Stellen aus dem Alten Testament als für Christen verbindliches Gebot zusammen: Du sollst Gott lieben und deinen Nächsten wie dich selbst. Oder sagen wir es anders: Du wirst Gott lieben, dann liebst du auch deinen Nächsten, und dann bist du bei dir selbst. Gottesliebe weist auf die Nächstenliebe und so können wir auch Eigenliebe, Achtung vor uns selbst empfinden – das ist biblische Auffassung vom Menschen, Mit dieser zentralen Aussage sind die Jünger zu den Völkern gegangen.

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Die christliche Gemeinde ist also nicht von der Thora unberührt geblieben, sondern lebte aus dieser Quelle wie ihre jüdischen Brüder und Schwestern. Die Thora lebt von der Auslegung und ist nie das starre Gesetzeswerk gewesen, zu dem es die Christen gemacht haben. Dass Jesus bzw. seine Jünger auch den Christen Gebote der Thora überliefert haben, wird nur zu gern vergessen. „Machet zu Jüngern alle Völker und lehret sie halten alles, was ich euch befohlen habe!“ Auch wir aus den Völkern dürfen hören, was uns Israel als Weisung zum Leben in Freiheit durch Mose und dann durch Jesus zugerufen hat. Diese Weisung ist keine Last, sie tut gut, weil sie dem Leben dient, Menschen befreit und miteinander leben lässt. Diese gute Botschaft haben wir dem Volk Israel zu verdanken und ganz besonders einem aus diesem Volk, dem Juden Jesus aus Nazareth. Amen.

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Predigt über Deuteronomium 4,5-20 Ursula Rudnick Liebe Gemeinde, Mose steht auf dem Berg Nebo. Es ist der letzte Tag seines Lebens. Mehr als 40 Jahre hat er das Volk Israel begleitet und geführt. Nun heißt es, Abschied zu nehmen. Das Volk wird in das von Gott versprochene Land ziehen und Mose wird sterben. Zuvor aber hält er eine letzte, lange Rede. Sie ist sein Vermächtnis an die Israeliten und besteht aus Erinnerungen und Ermahnungen. Erinnerungen an die gemeinsam erlebte Geschichte. Ermahnungen für das künftige Leben im verheißenen Land. Betrachten wir sie aus der Nähe! Die Geschichte beginnt mit der Unterdrückung der Israeliten in Ägypten. Dort sind sie eine Minderheit und müssen für den Pharao als Arbeitssklaven schuften. Obwohl sie wenige sind, fürchten sich die Ägypter vor ihnen und die Angst des Pharao nimmt wahnhafte Züge an. Er ordnet an, alle neugeborenen Knaben zu ermorden. Nur der Mut der Hebammen, die Gott mehr fürchten als den Pharao, verhindert das. Die Situation ist dramatisch. In seiner Not schreit das Volk zu Gott und Gott reagiert: “Ich habe das Elend meines Volks in Ägypten gesehen und ihr Geschrei über ihre Bedränger gehört; ich habe ihre Leiden erkannt. Und ich bin herniedergefahren, dass ich sie errette aus der Ägypter Hand und sie herausführe aus diesem Lande …”, so heißt es in der Übersetzung von Martin Luther (2. Mose 3,7-8). Gott sieht und hört das Leiden der Israeliten. Er lässt sich anrühren von ihrem Leid und befreit sie aus der Sklaverei. Er bewahrt ihr Leben in der Wüste. Am Sinai schließt er einen Bund mit Israel. Jetzt am Tag des Abschieds erinnert Mose die Israeliten noch einmal an diesen Augenblick des Bundesschlusses: “… der Berg aber stand in Flammen bis in den Himmel hinein, und da war Finsternis, Wolken und Dunkel. Und der Herr redete mit euch mitten aus dem Feuer. Seine Wor-

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te hörtet ihr, aber ihr saht keine Gestalt, nur eine Stimme war da. Und er verkündigte euch seinen Bund...” (5. Mose 4,11-13) Was ist dieser Bund? Der Bund zwischen Gott und Israel beruht auf der Befreiung der Israeliten aus Ägypten. Aber die Freiheit kann nur bewahrt werden, wenn die Israeliten die Weisungen Gottes befolgen. Sie dienen dem Leben. In ihnen steckt die Weisheit für ein gelingendes Leben, nicht allein des Einzelnen, sondern der Gemeinschaft. Und: Sie verbinden Gott und Israel miteinander. „Sie verpflichten Ihn so gut wie uns” sagt Abraham Joshua Heschel, der jüdische Religionsphilosoph. In den Geboten kommt die Partnerschaft von Gott und Mensch zum Ausdruck: Wer ein Gebot erfüllt, “wird zum Mitstreiter Gottes, tritt ein in die Gemeinschaft derer, die Seinen Willen tun.” Die Gebote, das sind nicht allein die zehn Gebote, die Mose auf Steintafeln erhalten hat, sondern auch weitere Gebote (und Verbote). Einige der Gebote finden Sie auf der Innenseite des Blattes, das Sie am Eingang erhalten haben. „Ehre Vater und Mutter“, „Liebe Deinen Nächsten wie dich selbst“, „Unterstütze Deinen Bruder – oder Deine Schwester –, wenn sie in Not sind“ und „Liebe den Fremden wie dich selbst.“ Die Bibel kennt viele Gebote. Die Assoziationen, die sich beim Wort „Gebot“ einstellen, sind unter Christinnen und Christen meist nicht positiv. „Gebot“ das klingt nach Anweisung, nach Zwang und Einschränkung. Etwas, das ich tun muss, ob ich es will oder nicht. Die lutherische Tradition spricht im Zusammenhang der Gebote Gottes auch vom „Gesetz“. „Gesetz“ und „Evangelium“ sind Schlagwörter, die einander häufig gegenübergestellt wurden. Mit dem Evangelium wurden Liebe und Freiheit assoziiert, mit dem Gesetz die Aufdeckung der Sünde. Und so mag der Blick in die Bibel und die jüdische Tradition überraschen. In Psalm 19 heißt es: „Gottes Gebote sind süßer als Honig… .“ Dies ist nicht nur Poesie, sondern ein Satz, der auf Erfahrungen beruht. Erfahrungen der Israeliten, Erfahrungen von Juden durch die Jahrhun-

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derte hindurch und ja, auch meine eigene Erfahrung. Ein wichtiger Begriff der Bibel und in der jüdischen Tradition, um die Gebote zu bezeichnen, ist das Wort „Thora“. Thora, das ist die Weisung Gottes für das Volk Israel. Es kann ein einzelnes Gebot meinen oder alle Weisungen Gottes. Das Judentum spricht von der schriftlichen Thora, den Fünf Büchern Mose und der mündlichen Thora, die im Talmud ihren Niederschlag gefunden hat. Wichtig ist, es geht um Gottes Weisung für Israel. Weisung, die auf eine soziale und gerechte Gesellschaft zielt. Daher fragt Mose rhetorisch: „Welches große Volk gibt es, das Gesetze und Rechtssätze hat, so gerecht wie diese ganze Thora?” (5. Mose 4,8) Die Thora prägt das Leben jüdischer Gemeinden. Im Gottesdienst wird ihre Wertschätzung besonders augenfällig. Die Thora-Rolle ist geschmückt und trägt ein Kleid aus Samt, sie hat ein silbernes Brustschild, sowie Kronen aus Silber. Der Thora-Schrein in der Synagoge, in dem die Thora-Rolle aufbewahrt wird, ist meist besonders schön gestaltet und verziert. An jedem Schabbat wird aus der Thora gelesen – das ganze Jahr hindurch, immer einige Kapitel, sodass zu Beginn des jüdischen Neujahrs jeweils aufs Neue mit der Lesung der Thora begonnen wird. Und dann gibt es das Thora-Freudenfest: Simchat Thora. Die Weisung Gottes – und der Bund mit Gott – sind etwas Gutes. Sie geben Anlass zur Freude. Und so wird am Tag des Thora-Freudenfestes mit der ThoraRolle getanzt. In traditionellen Gemeinden tanzen die Männer mit der Thora-Rolle, in liberalen Gemeinden alle. „Gebote sind süß“, wie der Psalmist sagt und ihr Halten kann Freude bereiten. Hierzu ein Beispiel: „Ehre Vater und Mutter“, so lautet die Aufforderung in den Zehn Geboten. „Sorge dafür, dass sie das zum Leben Notwendige haben und dass es ihnen gut geht.“ ist die Intention dieser Aufforderung. Das Gebot erinnert mich daran, dass ich meine Existenz und mein Aufwachsen anderen Menschen verdanken, seien es biologische oder soziale Eltern. Ich habe etwas erhalten und da ist es gut und angemessen, wenn

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ich etwas zurückgebe. Und zum Gebot, die Eltern zu ehren, gehören für mich auch die Großeltern. Als meine Großeltern noch lebten, habe ich sie jeden Freitagnachmittag angerufen. Sie haben sich über diesen Anruf gefreut und ihre Freude hat mir Freude bereitet. Es ist eine Kleinigkeit, eigentlich gar nicht erwähnenswert. Aber: Gerade die Kleinigkeiten sind es, die den Alltag zum Leuchten bringen können. Hätte ich ohne das Gebot meine Großeltern auch angerufen? Ja. Aber vielleicht nicht so regelmäßig. Das Gebot erinnert mich daran, dass ein christliches Leben nicht allein auf sich bezogen sein kann, sondern eingebunden ist in Familie, Gesellschaft und die Welt. Es bestärkt mich. Und diese Bestärkung ist eine schöne Erfahrung! Ich ernte auf diese Weise mehrfach Freude. Zum einen, weil sich meine Großeltern gefreut haben und ihre Freude mich angesteckt hat. Zum andern, weil ich etwas getan habe, was in Einklang mit der biblischen Weisung steht. Führt dies nicht zu Hochmut? Nein, denn oft genug komme ich den biblischen Weisungen nicht nach. Gehe z.B. am Bettler vorbei – und für Ostafrika habe ich noch immer nichts überwiesen. Es ist genau vor dem Hintergrund der Erfahrung, dass ich immer wieder nicht das tue, was vielleicht notwendig wäre – wozu ich aber keine Kraft, keine Zeit habe oder wofür ich eine Entschuldigung finde. Und wenn es dann doch gelingt, eine gute Tat zu tun: So ist es Anlass zur Freude. Gottes Gebote sind süß – sagt der Psalmist! Lassen wir uns von unseren jüdischen Geschwistern in der Freude über Gottes Weisung anstecken. Freuen wir uns an den Geboten und freuen wir uns, wenn wir sie tun! Amen.

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Predigt über Josua 10,12-14 Görge K. Hasselhoff Liebe Gemeinde, da hält einer den Lauf von Sonne und Mond einfach an. Wie oft habe ich mir schon gewünscht, dass dieser faustische Ausruf „Augenblick, verweile doch“ sich in die Tat umsetzen ließe. Aber um einen Augenblick eines wie auch immer gearteten Gefühls geht es hier in dieser Geschichte gar nicht. Sie steht in einem größeren Rahmen, von dem ich kurz erzählen werde. Danach werde ich dem tieferen Sinn dieser Geschichte nachgehen und seine Bedeutung für uns heute darstellen. I. Nach dem Tod von Mose stand das Volk Israel noch außerhalb des Gelobten Landes. Mose selbst durfte das Land nicht betreten, so heißt es (5. Mose 32,50-52). Sein Nachfolger als Anführer der Israeliten in der Wüste wurde Josua ben Nun. Mit ihm und Gott an der Spitze eroberte sich das Volk Israel Stadt um Stadt, Dorf um Dorf das ihm zugesagte Land Kanaan. Dazu gehörte Jericho in der Wüste in der Nähe des Toten Meers. Sie kennen alle die Geschichte von dem Volk, das mit Posaunen um die Stadt herumzieht, bis die Mauern einstürzten. Was sie vielleicht nicht wissen, weil es viele Prediger verschämt verschweigen, ist, dass Josua anschließend die Stadt plündern und die Bevölkerung vertreiben bzw. zum Großteil auch einfach töten ließ. Das passiert in Kriegen nun einmal und die Kriegsführung hat sich zu allen Zeiten auch barbarischer Mittel bedient. (Auch an solchen Fragen hat sich in späteren Zeiten die Frage nach einem gerechten Krieg entzündet, aber darüber müssen wir ein andermal nachdenken.) Nachdem Jericho also erobert war, war die Stadt Ai an der Reihe, die ebenfalls mit Gottes Hilfe erobert wurde. Ai ist ungefähr da, wo heute die Stadt Ramalla liegt. Die Eroberungen erschreckten die Bewohner der

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Stadt Gibeon so sehr, dass sie sich freiwillig den Israeliten ergaben und sich mit ihnen verbündeten. Gibeon, das muss man wissen, liegt westlich der Stadt Jerusalem, ungefähr da, wo es aus der Ebene in die judäischen Berge hinaufgeht. Jerusalem selbst liegt ja in ca. 800 m Höhe über dem Meeresspiegel. Gibeon also hat sich den Israeliten ergeben. Langsam wurden die anderen Bewohner des Landes Kanaan unruhig. Versetzen Sie sich einmal in deren Lage: Da kommt so ein Hirtenvolk mit ein paar Tausend Leuten aus der Wüste und erobert und zerstört „mal eben“ zwei große Städte, eben Jericho und Ai, und eine dritte große Stadt, nämlich Gibeon, ergibt sich vorsorglich. Plötzlich sind diese Nomaden eine Bedrohung. Also verbünden sich einige Könige der Umgebung, nämlich der von Jerusalem, der von Hebron, der von Jarmut, der von Lachisch und der von Eglon, miteinander, um sich diesen Eindringlingen entgegenzustellen. Gegen wen führt man in dieser Situation wohl sinnvollerweise einen Krieg? Gegen diese unheimlichen Eindringlinge mit ihrem furchterregenden Gott? Oder lieber gegen diese Abweichler aus den eigenen Reihen, die sich gerade ergeben haben? Nun, es sind die „Umfaller“ von Gibeon, gegen die sie zu Felde ziehen und deren Stadt die fünf Könige der Amoriter belagern. Die Bewohner von Gibeon rufen also ihre Verbündeten vom Volk Israel zu Hilfe. Die hatten sich irgendwo in der Wüste in die Stadt Gilgal zurückgezogen. Die genaue Lage von Gilgal ist heute nicht mehr bekannt, es war auf jeden Fall etwas weiter weg. Josua also kommt mit seinem Heer aus der Wüste heran, der belagerten Stadt Gibeon zu Hilfe. Und jetzt beginnt etwas Einmaliges und Unvorstellbares: Gott sagt Josua seine Hilfe auch in dieser Situation zu und greift schließlich selbst in den Kampf ein: „Und als sie vor Israel flohen (...) ließ der Herr große Steine vom Himmel auf sie fallen bis Aseka, dass sie starben.“ (Jos. 10,11a) Und direkt im Anschluss an diese Erzählung von den Steinen, die Gott vom Himmel regnen lässt, findet sich dann das Gebet von Josua, mit dem er Sonne und Mond anhält.

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II. Nun lässt sich fragen, und das ist von allen Auslegern dieser Geschichte immer wieder getan worden, was es denn damit auf sich hat, dass Josua hier den Lauf von Sonne und Mond anhält. Handelt es sich hier um eine lediglich blutrünstige und unwahrscheinliche Geschichte einer fremden Zeit und fremden Kultur (oder sollte ich sagen: Unkultur?), mit der wir heute nichts mehr zu tun haben? So viel Blut, Steine, die aus dem Himmel fallen und Menschen töten, Rache an anderen Völkern. Schnell fallen hier Begriffe wie: das ist „alttestamentarisch“, das ist unchristlich, das ist doch typisch dieses „Auge um Auge, Zahn um Zahn“-Denken, mit dem wollen wir nichts zu tun haben. Oder handelt es sich hierbei um eine höchst interessante religionsgeschichtliche Erzählung? Dann überlegen wir einmal, welche Völker gab es denn im Alten Orient und welche Götter hatten die? Schnell fallen mir da zum Beispiel die alten Griechen ein, die uns so wundervolle Erzählungen zu den Sternbildern geliefert haben. Da werden unbotmäßige Hunde an den Himmel verbannt, da wird eine Leier an den Himmel gehängt, Löwen und anderes Getier tummelt sich dort, bei den Römern erhalten Götter ihre eigenen Sterne, seien es der Morgen- und Abendstern als die schöne Venus, sei es der Kriegsgott Mars, der Göttervater Jupiter usw. In den Kulturen des Orients hießen sie Ischtar oder Astarte oder anders, aber das Phänomen ist das gleiche. Und dagegen hat Israel eine radikale Religions- und Götterkritik gestellt, indem ein Gottesmann, Josua, seine Macht über die am Himmel befindlichen Göttergestalten demonstriert. Der am Himmel fahrende Sonnenwagen wird kurzerhand entmythologisiert und die Macht des einen Gottes Israels demonstriert. Derartige Fragen und ihre möglichen Antworten finde ich zwar interessant, aber letztlich unbefriedigend, weil ich glaube, dass hier etwas ganz anderes zum Ausdruck gebracht werden soll. Und dafür lohnt sich ein genauerer Blick auf die drei Verse unseres Predigttextes. III.

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Zunächst erfahren wir den Zeitpunkt des Geschehens: Damals, an dem Tag, an dem der Herr die Amoriter den Israeliten preisgab. Das ist der Tag, an dem auch die Steine, von denen ich eben erzählt habe, vom Himmel regneten. Dann erfahren wir, wer die handelnde Person ist und was genau diese handelnde Person tut: Josua redete mit dem Herrn und sprach in Gegenwart Israels. Und hier ist etwas zu beobachten, was typisch ist in der hebräischen Bibel, z.B. in den Psalmen, die wir jeden Sonntag im Gottesdienst sprechen. Hier werden Verben wiederholt und vermeintlich Gleiches wird doppelt ausgesprochen. Das ist hier jedoch nicht der Fall. Sondern die beiden Sprachhandlungen Josuas geschehen in zwei verschiedenen Zusammenhängen. Zuerst redet Josua mit seinem Gott, dem Gott Israels und dem Vater Jesu Christi. Und anschließend – und wir müssen uns das vorstellen, als drehte sich Josua dann um – erst anschließend spricht Josua dann die Worte, die uns der Schreiber des Bibeltextes aufgezeichnet hat. Und diese Worte spricht er in Gegenwart Israels, oder wie es wörtlich heißt, vor den Augen der Söhne Israels. Anders ausgedrückt: Erst betet Josua zu Gott und anschließend spricht er zur Sonne und zum Mond und gibt ihnen den Befehl, ihren Lauf zu unterbrechen. Und Sonne und Mond? Wenn ich rufe: „Augenblick, verweile doch“, passiert meist gar nichts, außer dass ich gerufen habe und jemand anderes darüber lächelt oder lacht. Sonne und Mond würden sich von meinem Rufen, so befürchte ich, wenig beeindrucken lassen. Nicht so aber damals bei Gibeon: Da stand die Sonne still, und der Mond blieb stehen. Und zwar solange, bis das Volk Rache genommen hatte an seinen Feinden. Da haben wir es ja wieder, werden jetzt manche denken, da zeigt sich wieder dieses „Blutrünstig-Alttestamentarische“. Aber es geht hier um die Geschichte Gottes mit seinem Volk Israel, dem auserwählten Volk. Ohne dieses auserwählte Volk Gottes gäbe es heute keine Kirche, träfen wir uns nicht hier in der Markuskirche, sondern liefen vielleicht noch mit Keulen durch irgendeinen germanischen Urwald. Und dann steht da noch als abschließende Begründung eine Erinnerung

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daran, dass es das Volk Gottes ist, für das der Lauf von Himmel und Erde außer Kraft gesetzt wird: Denn der Herr stritt für Israel. Gucken wir aber noch einmal auf den Text, denn da findet sich noch einiges andere. Da findet sich zum Beispiel ein Hinweis darauf, wie lange Sonne und Mond ihren Lauf unterbrochen haben: So stand die Sonne still mitten am Himmel und eilte nicht, unterzugehen, beinahe einen ganzen Tag. Wir erfahren hier, dass es zur Mittagszeit war, als die Sonne stehen blieb, denn sie stand mitten am Himmel, und sie blieb ungefähr vierundzwanzig Stunden stehen, denn so lange dauert nicht nur in Israel ein Tag. Schließlich macht der Schreiber dieser Geschichte noch eine letzte Angabe: Und niemals, nicht vorher und nicht nachher, hat der Herr auf eines Mannes Stimme gehört, wie an diesem Tage. Da möchte man als eifriger Bibelleser, als eifrige Bibelleserin rufen: Aber das stimmt doch gar nicht, das passiert doch zuhauf in der Bibel. Und sofort fallen einem da Geschichten wie die von dem Profeten Jesaja und dem König Hiskia ein, wie sie in Jesaja 38 erzählt wird. Dort wird erzählt, dass Hiskia krank ist und sterben soll. Hiskia dreht sich daraufhin zur Wand um und betet zu Gott und weint vor seinem Herrn. Gott erhört das Gebet und das Weinen und lässt durch den Profeten Jesaja dem König mitteilen, dass er ihm noch fünfzehn Jahre zusätzliches Leben geben und Israel aus der Bedrohung der Assyrer befreien wird. Und damit Hiskia ihm Glauben schenken kann, gibt er ihm das folgende Zeichen: „‚...Und dies soll dir das Zeichen vom Herrn sein, dass der Herr dieses Wort, das er gesprochen hat, ausführen will: Siehe ich lasse den Schatten auf den Treppenstufen, die die Sonne – auf den Stufen, die Ahas gebaut hat – abwärts gegangen ist, um zehn Stufen wieder zurückgehen.’ Da ging die Sonne auf den Stufen, die sie schon abwärts gegangen war, wieder um zehn Stufen zurück“ (Jes. 38,6f, Übers. Georg Fohrer). Jetzt könnte man spitzfindig antworten: Ja, aber bei Hiskia sind es nur zehn Stunden, bei Josua aber immerhin 24 Stunden. Aber damit verfehlt man die eigentliche Absicht der Geschichte, und die soll uns abschließend beschäftigen.

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IV. Der Sinn dieser Geschichte ist nämlich keineswegs darin zu finden, dass hier ein Mann, Josua, den Lauf der Sonne anhält, nur um seine wundersamen Fähigkeiten unter Beweis zu stellen. Der Stillstand der Sonne ist kein Selbstzweck. Vielmehr verweist die Geschichte uns auf die Macht des Gebets. Josua, wie auch der König Hiskia, betet zu Gott. Was genau er zu Gott gesprochen hat, wird uns nicht mitgeteilt. Aber Gott hat ihm augenscheinlich auf sein Gebet geantwortet, denn in der Folge kann er sich umdrehen und vor den Augen des Gottesvolks Israel der Sonne und dem Mond einen Befehl erteilen. Da stellt sich sofort die Frage: Kann ich das denn auch, hilft mir mein Gebet denn auch? Die Antwort darauf muss eine doppelte sein. Es kann. Allerdings können wir Menschen Gott nicht zu irgendeinem unserer menschlichen Wünsche zwingen. Gottes Geist weht und wirkt nur da, wo Gott es will. Vielmehr kann das Gebet uns aber helfen, den Willen Gottes zu erkennen. In der Geschichte von Josua ist es der Wille Gottes gewesen, seinem Volk im Kampf um eine Stadt und letztlich bei der Inbesitznahme des ihm zugedachten Landes zu helfen. Zum anderen aber muss das christliche Gebet seinen Grund haben in unserem christlichen Glauben. Wie es bei Paulus heißt: „Einen andern Grund kann niemand legen als den, der gelegt ist, welcher ist Jesus Christus.“ (1. Kor. 3,11) Dieser Grund besteht darin, dass wir nur im Glauben an das Heilswirken Gottes in Tod und Auferstehung Jesu Christi etwas bitten können. Zugleich gilt hier die Ermahnung des Apostels, die durchaus auch auf das nicht gläubige Gebet zu beziehen ist: „Was aber nicht aus dem Glauben kommt, das ist Sünde.“ (Röm. 14,23b) In diesem Glauben können wir dann aber sogar scheinbar Unmögliches bitten, wie es uns Jesus einmal gelehrt hat, als er sagte, dass der Glaube Berge versetzen kann. Ist der Grund aber, wie ich eben sagte, derjenige, der in Christus Jesus gelegt ist, dann müssen wir uns auch vor Augen stellen, dass Jesus Christus nicht möglich ist, ohne die Geschichte Gottes mit seinem Volk

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Israel, dem seine unverbrüchliche Liebe und Treue bis heute gilt. Denn Josua konnte nur deswegen scheinbar Unmögliches erbitten und von Gott diese Bitte erfüllt bekommen, weil auch für ihn galt, was am Ende unserer Geschichte steht: Denn der Herr stritt für Israel. Damals wie heute. Amen.

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Predigt über 2. Könige 25,8-12 Hans-Christoph Goßmann Liebe Gemeinde, der heutige Sonntag ist ein Bußtag – nein, noch nicht der Buß- und Bettag – den werden wir erst im November begehen –, aber auch ein Bußtag. Deshalb hängt heute hier auch das violette Parament und nicht das grüne wie an den anderen Sonntagen nach Trinitatis. Dieser heutige Tag kann uns wieder daran erinnern, was mit dem Wort ‚Buße‘ eigentlich gemeint ist. Was Buße ist, macht ein Blick in das Alte Testament deutlich: Das hebräische Nomen ‫תשובה‬, das die Bedeutung ‚Buße‘ hat, kann auch mit ‚Umkehr‘ übersetzt werden. Es gibt viele Stellen im Alten Testament, an denen es heißt, dass jemand umkehrt von seinem schlechten Weg. Wer auf seinem Weg umkehrt, muss erst einmal innehalten und sich fragen, ob er überhaupt auf dem richtigen Wege ist. Buße heißt also zunächst einmal: innehalten, sich hinterfragen lassen und überlegen, ob das, was man gerade macht, richtig ist. Und dazu haben wir heute Gelegenheit. Denn der heutige Sonntag, der 10. Sonntag nach Trinitatis, ist seiner ursprünglichen Intention nach ein Bußtag. Die Christenheit sollte sich das Gericht Gottes an Israel vor Augen halten, das in der Zerstörung Jerusalems und des Tempels über das Volk Israel erging, um so zur Umkehr, zur Buße, bewegt zu werden. Die Trauer über die Zerstörung Jerusalems und des Tempels ist im Judentum bis heute nicht verstummt. Vor knapp drei Wochen, am 5. August, war der Tischa be Aw, der 9. Tag im Monat Aw. Dieser Tag ist der strengste jüdische Fasttag. An ihm wird in Klage- und Bußgebeten der Zerstörung Jerusalems gedacht. An diesem Tag wird nicht nur auf Essen und Trinken verzichtet, nein, auch das Studium der Bibel unterbleibt, weil es von der Trauer ablenken könnte. Juden und Christen gedenken also beide zu fast derselben Zeit der Zerstörung Jerusalems, genauer gesagt: der Zerstörungen Jerusalems. Denn Jerusalem wurde zweimal

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zerstört: im Jahr 586 vor Christus durch die Babylonier und im Jahr 70 nach Christus durch die Römer. Bei der ersten Zerstörung nahmen die Truppen Nebukadnezars die Stadt ein, schleiften ihre Mauern, brannten die Häuser und den Tempel nieder und verschleppten einen Teil der Bevölkerung als Gefangene nach Babylonien. In dieser Zeit des Exils gaben die Deportierten ihr Vertrauen auf Gott aber nicht auf, obwohl er es zugelassen hatte, dass sein Tempel, seine Wohnstatt, entweiht und ein Opfer der Flammen wurde. Nach ihrer Rückkehr aus dem Babylonischen Exil bauten die Juden den Tempel wieder auf. Herodes hat diesen neuen Tempel dann großzügig ausgebaut und erweitert. Aber auch dieser Tempel wurde zerstört, als die Juden im Jahr 70 nach Christus einen Aufstand gegen die römischen Besatzungstruppen unternahmen und dabei eine vernichtende Niederlage hinnehmen mussten. Jerusalem wurde von den Truppen des Titus erobert, die Stadt wurde wieder vernichtet und der Tempel wieder verbrannt. Diese erneute Zerstörung Jerusalems und des Tempels war es, die Jesus nach dem Bericht des Lukas, den wir eben in der Evangeliumslesung gehört haben, angekündigt hatte. Dieser Zerstörung bzw. Zerstörungen Jerusalems und des Tempels gedenken Juden am Tischa be Aw und wir Christen am heutigen 10. Sonntag nach Trinitatis. Damit wir als Christinnen und Christen dafür eine geeignete biblische Grundlage haben, ist als Predigttext für den heutigen Sonntag der Abschnitt aus dem Zweiten Buch der Könige ausgesucht, in dem die Zerstörung Jerusalems und des Tempels geschildert werden. Er lautet in der Lutherübersetzung: Am siebenten Tage des fünften Monats, das ist das neunzehnte Jahr Nebukadnezars, des Königs von Babel, kam Nebusaradan, der Oberste der Leibwache, als Feldhauptmann des Königs von Babel nach Jerusalem und verbrannte das Haus des HERRN und das Haus des Königs und alle Häuser in Jerusalem; alle großen Häuser verbrannte er mit Feuer. Und die ganze Heeresmacht der Chaldäer, die dem Obersten der Leibwache unterstand, riss die Mauern Jerusalems nieder. Das Volk aber, das

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übrig war in der Stadt, und die zum König von Babel abgefallen waren und was übrig war von den Werkleuten, führte Nebusaradan, der Oberste der Leibwache, weg; aber von den Geringen im Lande ließ er Weingärtner und Ackerleute zurück. 2. Könige 25, 8-12 In aller Nüchternheit wird hier geschildert, wie Nebukadnezar die Strafaktion nach der Einnahme Jerusalems an deren Bewohnerinnen und Bewohnern vollziehen ließ. Die Stadt war gefallen und der Plünderung preisgegeben. Bemerkenswert ist, dass es fast einen ganzen Monat dauerte, bis das Exekutionskommando unter der Führung eines hohen babylonischen Offiziers in der Stadt eintraf. Nebusaradan hieß dieser Offizier, war Chef der Leibwache, ein bekannter Minister am babylonischen Hof des 7. vorchristlichen Jahrhunderts. Er war es, der den Tempel, den Königspalast und alle Stadthäuser der Oberschicht einäschern ließ, der die Stadtmauern schleifen ließ, der die Restbevölkerung ins Exil deportieren ließ und der die Angehörigen der Unterschicht in die großen Ländereien der babylonischen Besatzungsmacht schicken ließ. All dies wird in einer geradezu kühlen Distanziertheit geschildert. Wenn unser heutiger Predigttext mit den Worten beginnt „Am siebenten Tage des fünften Monats, das ist das neunzehnte Jahr Nebukadnezars, des Königs von Babel“ (Vers 8a), dann wird deutlich, dass sich sogar die Chronologie an den Daten der Sieger orientiert. Es ist ein wahrlich bedrückender Blick in die Vergangenheit, zu dem uns dieser Text veranlasst. Können wir uns da mit dem Gedanken trösten, dass das in ihm geschilderte Geschehen ja vergangen ist und mit der Gegenwart nichts mehr zu tun hat? Die meisten unserer jüdischen Geschwister würden diese Frage wohl mit einem „Nein“ beantworten. Biblische Geschichte prägt das Denken und Fühlen heute lebender Jüdinnen und Juden weit stärker, als dies auf den ersten Blick zu sehen ist. Das möchte ich an einem kleinen Beispiel veranschaulichen: Eine Jüdin, die von Jerusalem aus nach Ägypten reisen wollte und zu diesem Zweck in

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einer Bank Geld wechselte, bekam von dem Bankangestellten, einem jungen Israeli, zu hören: „Do you want to go to Egypt? After all the trouble we had to get out?“ Das we zeigt ganz deutlich, welch immens hohe Bedeutung die biblische Tradition für das Selbstverständnis dieses Israeli, der wohl für viele steht, nach wie vor hat. Das mag verwundern; weisen es doch viele Israelis weit von sich, religiös zu sein. ‫– אני לא דתי‬ ich bin nicht religiös, bekommt man in der Regel zu hören. Wie ist es zu erklären, dass für nicht-religiöse Israelis die biblischen Traditionen von solch hoher Bedeutung sind? Ein Blick auf den modernhebräischen Sprachgebrauch hilft hier weiter: Als ‫ – דתי‬religiös – werden die Juden bezeichnet, die im Jerusalemer Stadtteil Mea Schearim anzutreffen sind. Und mit diesen ultraorthodoxen Juden möchten die säkularen Juden keineswegs identifiziert werden. Das liegt nicht zuletzt daran, dass die Israelis trotz aller Kritik an der jeweiligen Regierung zu ihrem Staat stehen, während die Orthodoxen ihn als Menschenwerk ablehnen. Für diese ultraorthodoxen Juden wäre ein Staat Israel nur dann akzeptabel, wenn Gott selbst ihn ins Leben rufen würde, indem er seinen Messias sendet und so die messianische Zeit anbrechen lässt. Den 1948 gegründeten Staat können sie nur als den Versuch ansehen, Gottes Handeln vorzugreifen und ihm so ins Handwerk zu pfuschen. Konsequent standen sie im Unabhängigkeitskrieg auf der Seite der Araber und kämpften gegen die Errichtung des neuen Staates, was verständlicherweise zu extremen Spannungen zwischen den Ultraorthodoxen und den übrigen Juden geführt hat. Kein moderner Jude möchte mit diesen Ultraorthodoxen in einem Atemzug genannt werden. Folglich gibt man sich als ‫ – לא דתי‬als nicht-religiös. Trotzdem hat die biblische Überlieferung für das eigene Selbstverständnis eine wichtige Bedeutung – und somit auch die so hoffnungslos wirkende Schilderung der Zerstörung Jerusalems im Zweiten Buch der Könige. Aber ist es so? Ist diese Schilderung wirklich nur hoffnungslos – oder gibt es in den fünf Versen des heutigen Predigttextes nicht zumindest auch ein klitzekleines Zeichen der Hoffnung? Vielleicht können wir im

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letzten Vers ein solches Hoffnungszeichen erkennen. Ich lese diesen Vers noch einmal: „aber von den Geringen im Lande ließ er Weingärtner und Ackerleute zurück“ (Vers 12). Die Hoffnung, die wir in diesen Worten erkennen können, kommt auf leisen Sohlen daher, eher verborgen und behutsam, alles andere als überschwänglich. Sie ist auf das Überleben ausgerichtet und an das Alltägliche gebunden, an die Sicherung der Lebensgrundlage der überwiegend armen Bevölkerung: Wo es Brot und Wein gibt, da wird das Leben weitergehen. Brot und Wein lassen an Pessach denken, an den Auszug aus der ägyptischen Sklaverei und den Einzug in das verheißene Land. Und Brot und Wein lassen uns Christinnen und Christen an das Abendmahl denken, in dem uns als christlicher Gemeinde der Weg in eine verheißungsvolle Zukunft geebnet wird. In diesem letzten Vers unseres heutigen Predigttextes wird deutlich, dass es selbst in dieser Schilderung der Zerstörung Jerusalems ein Zeichen der Hoffnung auf ein zukünftiges Leben unter dem Segen Gottes gibt. Man muss nur bereit sein, genau hinzusehen, um dieses Zeichen zu entdecken. Leider sind viele Mitglieder christlicher Gemeinden dazu ganz offensichtlich nicht bereit; viele Pastorinnen und Pastoren anscheinend auch nicht. Und so wurde der heutige Predigttext in unzähligen Predigten dergestalt ausgelegt, dass gesagt wurde, die Juden seien ja selbst schuld gewesen. Sie sollten sich also nicht darüber beschweren, dass das Gericht Gottes sie traf und Jerusalem samt Tempel zerstört wurde. Wer so spricht, ist von einer Buße gleichsam Lichtjahre entfernt. Dieser besondere Tag im Kirchenjahr – der 10. Sonntag nach Trinitatis – wurde nicht als Anlass verstanden, selbst Buße zu tun. Statt sich selbst und das eigene Verhalten zu hinterfragen, wurde über das der Juden geurteilt. Aber damit wurde auch der Weg zu dem Hoffnungszeichen verstellt, das der heutige Predigttext eben auch enthält – neben all den Schilderungen der Zerstörung. Als Konsequenz daraus wurde beschlossen, diesen Predigttext durch einen anderen zu ersetzen, der im elften Kapitel des Römerbriefes steht. Wir haben ihn eben als Epistellesung gehört. Nun ist das zweifellos ein

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passender Text für den heutigen 10. Sonntag nach Trinitatis, geht der Apostel Paulus doch in den Kapiteln 9 bis 11 dieses Briefes ausführlich auf das Verhältnis zum Judentum ein. Aber dennoch finde ich es bedauerlich, dass die Chancen, die uns der ursprüngliche Predigttext für diesen Sonntag bietet, so wenig genutzt worden sind, dass er letztlich aus der Liste der Predigttexte gestrichen worden ist. Denn dieser Text kann uns die Augen dafür öffnen, dass auch wir – die wir nicht dem jüdischen Volk angehören – in der Hoffnung leben dürfen, dass Gott uns auch in Katastrophen, die auf den ersten Blick jegliche Hoffnung auf Zukunft im Keim zu ersticken scheinen, Zeichen der Hoffnung auf eine verheißungsvolle Zukunft gibt. Diese Hoffnung verbindet uns nicht nur mit unseren jüdischen Geschwistern; sie ist es, die uns letztlich in unserem Leben trägt. Amen.

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Predigt über 2. Könige 25,8-12 Matthias Loerbroks Liebe Gemeinde, der 9. Tag im Monat Aw – in diesem Jahr war das am 25. Juli – ist in Israel, ist für das jüdische Volk in der ganzen Welt ein Tag der Trauer und des Fastens. Israel gedenkt der Zerstörung Jerusalems und des Tempels im Jahre 586 vor unserer Zeitrechnung. Und im Lauf der Zeit wurde es immer mehr zur Gewissheit, dass auch die Zerstörung des 2. Tempels im Jahre 70 nach Christi Geburt durch die Römer an eben diesem 9. Aw geschah. Und fand nicht auch die Vertreibung aller Juden aus Spanien im Jahre 1492 am selben Tag statt? Der 9. Aw wurde so mehr und mehr zum Gedenktag für all die Massaker und Pogrome, die Vertreibungen, Deportationen, Plünderungen und Brandstiftungen, die Israel in seiner langen Geschichte durchzumachen hatte. An diesem Tag wird in den Synagogen und natürlich in Jerusalem an der einzigen Mauer des Tempels, die stehenblieb, das Buch der Klagelieder gelesen, in dem in drastischen Worten geklagt wird, wie damals in Jerusalem zerstört und verbrannt und geplündert und versklavt, vergewaltigt, gemordet und gehungert wurde. Am 9. Aw trauert Israel – und wir, die christliche Gemeinde, sind an diesem 10. Sonntag nach Trinitatis eingeladen mitzutrauern. Um mittrauern, mitfühlen zu können, müssen wir erstmal was wissen, uns hineindenken und hineinversetzen in die Bedeutung dieses Ereignisses für Israel. Es war der König David, der vor ungefähr 3000 Jahren – in diesem Jahr wurde ja ausgiebig daran erinnert – Jerusalem erobert und zur Hauptstadt seines Reiches gemacht hatte. Und David hatte von Gott zwei Zusagen gehört: Er habe nicht nur das ganze Volk Israel erwählt, sondern innerhalb Israels nochmal besonders David und seine Nachkommen auf immer. Und er habe nicht nur auf das Land Israel sich festgelegt, sondern innerhalb des Landes nochmal besonders, konzentriert auf die Stadt Jerusalem. Nicht überall und jederzeit und sowieso zeigt

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Gott, wer und wie er ist und was er will. Sondern in dieser besonderen Geschichte, an diesem besonderen Ort. Davids Sohn und Nachfolger Salomo hatte dann diesem Gott an diesem Ort einen Tempel gebaut, die transportable Bundeslade, Zeichen der Gegenwart Gottes bei seinem Volk, bekam ein festes Haus. Natürlich wusste auch Salomo, dass man den großen unfassbaren, unvergleichlichen Gott, den Schöpfer des Himmels und der Erde, nicht in ein bestimmtes Haus, nicht in eine bestimmte Kirche einsperren, ihn nicht festlegen und festnageln, ihn nicht besitzen, nicht seiner Freiheit berauben kann. Aber Salomo preist und feiert Gott dafür, dass er von seiner Freiheit nun gerade so Gebrauch gemacht hat, dass er sich in freier Liebe auf das Volk Israel festgelegt hat und auf diesen Ort, Jerusalem: ein Ort, dem er seine Gegenwart zusichert, wo er anrufbar ist, wo auch von ihm zu hören ist. Und die Propheten Israels hatten die Vision, eines Tages werde das auch den anderen Völkern einleuchten, dann werden sie ihrer Rat- und Hilf- und Gottlosigkeit inne, dann kommen sie alle herbei, um vom Gott Israels in Jerusalem Rat und Hilfe, Weisung zu holen, werden lernen, ohne Krieg auszukommen, Schwerter zu Pflugscharen zu machen: Weltfriede. Dieser Glaube und diese Hoffnung ist nun gefährdet und bedroht, weil Jerusalem selbst gefährdet und bedroht ist vom gewaltigen Heer der damaligen Großmacht im Mittleren Osten: Babel, Babylon. Da kommen nun tatsächlich die fremden Völker zum Zion gezogen, aber keineswegs um Weisung zu hören, Frieden zu lernen. Die schmieden kein bisschen ihre Schwerter um, die machen von ihnen blutigen Gebrauch. Ist Gott nun wortbrüchig geworden oder ist er schwach? Kann er uns nicht helfen oder will er nicht? Er hat doch versprochen, bei und mit uns zu sein, er ist doch unser Bundesgenosse, sein eigener Name bedeutet doch die Zusage: ich werde da sein, wie immer ich da sein werde. Ihr könnt euch denken, was in einer solchen Situation standhafte Priester, prophetische Prediger, persönliche und politische Seelsorger sagen werden. Fürchtet euch nicht, werden sie sagen, starrt nicht ängstlich auf die gewaltige Übermacht eurer Feinde, sondern traut auf Gott und auf

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seine Verheißungen. Der wird das Joch zerbrechen, mit dem die Mächtigen euch unterdrücken. Doch es gibt auch andere Stimmen im damaligen Jerusalem, andere Propheten, es gibt da vor allem die Stimme des Propheten Jeremia, der diese Art von Gottvertrauen und von Durchhalteparolen für restlos verlogen hält, für eine Mischung aus Betrug und Selbstbetrug. Ihr unterdrückt doch selbst die Armen, ruft er den Mächtigen zu, und da soll Gott euch schützen und bewahren vor eurer Unterdrückung? In eurer Politik und Wirtschaft, im alltäglichen Leben, da lasst ihr Gott nicht mitreden, lasst ihr euch von ihm nichts sagen, aber wenn ihr dann – zu Recht – gescheitert seid, dann soll er plötzlich einspringen, als Bundesgenosse funktionieren? Für wen haltet ihr ihn eigentlich? Gott ist doch kein Talisman, kein Maskottchen, keine Kaskoversicherung! Und was heißt hier überhaupt Vertrauen auf Gott! Ihr rechnet doch gar nicht wirklich mit seiner befreienden Macht, innenpolitisch sowieso nicht, aber auch außenpolitisch setzt ihr doch eure Hoffnungen auf ganz andere Mächte, konspiriert ausgerechnet mit Ägypten, von wo uns Gott einst mühsam genug befreit hat. Das einzige, was uns jetzt noch retten, wenigstens unser nacktes Leben retten kann, ist die sofortige und bedingungslose Kapitulation, Unterwerfung unter Babel. Natürlich hat sich Jeremia mit solchen Reden nicht beliebt gemacht, die Aufforderung zur Kapitulation galt als Landesverrat, als Wehrkraftzersetzung. Nicht als Stimme des Gottes Israels galt er, sondern als Agent der anderen Seite, mindestens als ihr nützlicher Idiot. Stellen wir uns vor, heute würde – nicht ein Kirchenkritiker von außen, sondern – ein Kirchenmitglied so reden, etwa: Geben wir doch endlich zu, die Kirche ist am Ende, und zwar zu Recht. Geben wir es doch auf, noch länger strampelnd uns zu sträuben, lösen wir uns auf. Wir haben eben einfach zulange uns nichts sagen lassen von Gott, haben uns bloß für kirchliche Eigeninteressen eingesetzt und zu wenig für Frieden und Gerechtigkeit für alle – nun können wir nichts mehr von Gott erwarten. Er wird schon andere Mittel und Wege finden, seine Ziele durchzusetzen, uns findet er

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offenbar nicht mehr brauchbar. Und damit wird er rechthaben. Wir würden ihm entgegenhalten: Vertrau doch auf Gott, auf Jesus, aufs Evangelium. Lass dich doch nicht so beeindrucken von sinkenden Mitgliederzahlen, von Finanznöten. Das Evangelium ist doch eine einzige Liebeserklärung Gottes an uns. Er wird uns nicht fallenlassen. Bei jeder unserer – zugegeben – nicht mehr sehr vielen Taufen hören wir Jesu Versprechen: Siehe, ich bin bei euch alle Tage bis zur Vollendung der Welt. Und überhaupt sollten Christen nicht schwarzmalen, nicht Pessimismus verbreiten, sondern Hoffnung. Dietrich Bonhoeffer im Tegeler Zuchthaus sah die Kirche zu Recht untergehen, konnte sich ihren Neuanfang nur nach einem solchen Ende denken, nicht als einfaches Weitermachen. „Unsere Kirche“, schrieb er, „die in diesen Jahren nur um ihre Selbsterhaltung gekämpft hat, als wäre sie ein Selbstzweck, ist unfähig, Träger des versöhnenden und erlösenden Wortes für die Menschen und für die Welt zu sein. Darum müssen die früheren Worte kraftlos werden und verstummen, und unser Christsein wird heute nur in zweierlei bestehen: im Beten und im Tun des Gerechten unter den Menschen. Alles Denken, Reden und Organisieren in den Dingen des Christentums muß neugeboren werden aus diesem Beten und aus diesem Tun. ... Die Umschmelzung (der Kirche) ist noch nicht zu Ende, und jeder Versuch, ihr vorzeitig zu neuer organisatorischer Machtentfaltung zu verhelfen, wird nur eine Verzögerung ihrer Umkehr und Läuterung sein.“ Es kann sein, dass wir in unseren Tagen erleben, dass Bonhoeffer recht hatte: dass unsere Kirche ihre Umkehr und Läuterung nur 40, 50 Jahre hinausgezögert hat – nun aber, jedenfalls in ihrer bisherigen Gestalt, wirklich am Ende ist. Jeremia jedenfalls hat recht behalten mit seinen Mahnungen und Warnungen. Jerusalem und der Tempel wurden erobert, geplündert, zerstört, viele seiner Bewohner getötet oder verschleppt. Doch dieses Ende war nicht das Ende Israels. Gott hat sein Volk nicht verstoßen. Der Prophet Hesekiel sah die Herrlichkeit Gottes, den Glanz seiner Gegenwart mit ins Exil gehen, in die Verbannung. Das Exil wurde der Ort einer großen

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Umkehrbewegung, einer genauen selbstkritischen Erforschung der Gründe dieser Niederlage. Große Teile der Bibel entstanden hier, verdanken sich dieser Umkehr und Läuterung. Doch Israel hat sich mit dem Exil nie abgefunden, hielt an der Sehnsucht nach Zion, nach Jerusalem fest, an den Hoffnungen, die Gott mit seinen Verheißungen erweckt hat. Auch Bonhoeffer hoffte ja auf eine Neugeburt der Kirche, wenn sie erstmal ihr Ende wirklich eingesteht und einsieht, nicht länger leugnet oder durch organisatorische Machtentfaltung überspielt und mit protestantischem Selbstbewusstsein übertönt, die nötige Umkehr hinauszögert. Ein wichtiges Thema einer solchen Umkehr, vielleicht sogar ihr Kern, ist das Verhältnis der Christen zu den Juden, das Thema des heutigen Sonntags. Wir Christen, Freundinnen und Freunde des Juden Jesus, hätten ja eigentlich diejenigen aus den Völkern sein müssen, die tatsächlich zum Zion ziehen, um dort Weisung vom Gott Israels zu empfangen. Stattdessen haben gerade Christen und Kirchen noch dazu beigetragen, dass die Völker gegen Israel Sturm liefen, haben die Juden verhasst und verächtlich gemacht, ihnen das Leben in fast allen Ländern schwer gemacht, manchmal sogar zur Hölle. Viele der Pogrome und Massaker, der Israel am 9. Aw gedenkt, wurden ja von Christen begangen. Paulus hatte den Christen nichtjüdischer Herkunft eingeschärft, dass Israel ihre Wurzel ist, dass sie in den edlen Ölbaum Israel eingepfropfte Zweige sind. Leicht einzusehen, dass dann eine Kirche, die sich ständig von ihrer eigenen Wurzel abtrennt, auf ihrer eigenen Wurzel herumhackt, irgendwann vertrocknet und verdorrt. Die geistige Lähmung, Ermattung, Erstarrung unserer Kirche könnte also ihren Grund in ihrer hartnäckigen Abgrenzung von Gottes Volk Israel haben. Wenn die Christen und Kirchen in aller Welt, die sich bisher in Wenigem so einig sind wie in ihrem Antijudaismus, aus eingefleischten Feinden zu treuen Freunden und Verbündeten Israels würden, das wäre eine wirkliche Umschmelzung, genauso groß und wunderbar wie jene andere: die von Schwertern zu Pflugscharen, und wahrscheinlich sogar ihre Voraussetzung, die Bedingung für wirklichen Weltfrieden. Das ist jedenfalls mei-

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ne Hoffnung – und die Tatsache, dass Gott bis auf den heutigen Tag das Volk Israel aufrechterhält, auch neben der Kirche, auch gegen sie, bestärkt mich in dieser Hoffnung, ist mir ein Zeichen der Treue Gottes, unserer Untreue zum Trotz. Amen.

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Predigt über 2. Chronik 7,14 Sabine Münch Liebe Gemeinde! Dieses Wort hat euch gefunden. Euch, die ihr mich vor Monaten angesprochen habt und sagtet: Wir wollen Buße tun! Wir wollen in und mit unserer Gemeinde vor Gott Buße tun über den Nazigeist! Wir wollen Jesus Christus darum bitten, dass er ihn von uns austreibe! Wir wollen den Heiligen Geist bitten, dass er uns auf den Weg des Lebens bringe. Wir wollen in den Riss treten! (Hes 22,30) In diesen abgrundtiefen Riss, den die Zeit der nationalsozialistischen Herrschaft auch hier bei uns in Possendorf hinterlassen hat, der sich bis heute tief durch die Seelen und Gemüter der Täter und Opfer, der Mitläufer und Schweigenden zieht. Ihr habt euch eingehend mit eurer Ortsgeschichte beschäftigt und da ist euch deutlich geworden: Auch unsere Vorfahren hier sind in diese Schuldgeschichte verstrickt und wenn sie nur Zeugen der Todesmärsche waren, die durch Possendorf zogen. Ach ja, man hört dann oft: Ist das nicht alles längst vergangen?! Sollte man das nicht alles besser ruhen lassen?! Aber so einfach ist das eben nicht. Ihr habt gemerkt: Schuldbeladene Vergangenheit vergeht nicht einfach so. Sie drückt nieder,

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sie lastet auf den Nachfahren, die ja gar nichts dafür können. Die nicht eingestandene Schuld unserer Vorfahren übt über uns – an der damaligen Zeit Unschuldigen – ihre Macht aus. Bis heute. Wir wollen uns ihr stellen, weil uns in der Schrift verheißen ist: Wenn wir Menschen Schuld eingestehen, dann kehrt Gott um, dann wendet er sich uns zu. Diese Macht haben wir, liebe Gemeinde. Gott lässt sich von unserer Buße bewegen, dass er sich zu uns kehrt – gnädig und segensreich. Aber warum sollte Gott sein Angesicht überhaupt von uns abgewendet haben? Wir hier tragen persönlich wahrlich keine Schuld an den Vergehen der Nazizeit. Das ist vollkommen klar! Aber lasst uns jetzt einmal in Gott einfühlen – denn mit weniger ist es nicht getan, wenn wir ihn für seine Umkehr zu uns persönlich und unsere Lebensverhältnisse gewinnen wollen. Wir haben eben in der Lesung aus Sacharja gehört, wie Gott spricht: Wer euch, die Kinder Israels, antastet, der tastet meinen Augapfel an. Wie muss sich Gott nach der Shoah fühlen, nachdem ihm durch die millionenfache Ermordung von Juden brutal ins Auge gegriffen wurde?! Was für einen unendlichen Schmerz muss Gott erlitten haben und bis heute erleiden.

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Liebe Gemeinde, erst wenn wir anfangen, uns in Gottes Schmerz über die schreckliche Geschichte und Schuld unseres Volkes gegenüber dem jüdischen Volk einzufühlen, dann wird er hellhörig, dann erreicht unsere Buße sein zutiefst verwundetes Herz, dann erfährt er: Jetzt nahen sich mir Menschen, die ein Herz haben für meinen Schmerz, den ich über die Gequälten, Gefolterten, Vergasten und Hingemordeten meines erwählten Volkes Israel trage. Jetzt stellen sich mir, dem Gott Israels, zur Seite Kinder und Kindeskinder aus dem Volk der Täter, mit mir trauernd und mitleidend. Ach, dass ihr mir die Tränen trocknet und abwischt! Nicht wahr, liebe Gemeinde, das ist ein schwerer, ein ungewöhnlicher Gedanke: dass der durch die Shoa tief verwundete Gott darauf wartet, die Kinder der Täter, der Mitläufer und Schweigenden möchten sich ihm an die Seite stellen, sich in seinen abgrundtiefen Schmerz hineinfühlen und bei ihm ausharren. Das soll unsere Buße sein: Die Gemeinde Jesu Christi möge sich im Bekenntnis ihrer Schuld an den millionenfach ermordeten Juden und vielen anderen Menschen an der Seite des leidenden und weinenden Gottes wiederfinden. ... dass sie beten und mein Angesicht suchen Sein von Tränen überströmtes Angesicht suchen! Halten wir das aus, liebe Gemeinde? Trauen wir uns zu, diesen Gedanken zu denken? Dass wir uns heute mit unserem Schuldbekenntnis an die Seite eines tief verletzten und trauernden Gottes stellen?

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Nein, von uns aus können wir das nicht! Nur wenn wir uns von unserem gekreuzigten und auferstandenen Herrn mitnehmen und hineinziehen lassen in das trauernde Herz Gottes – dann, ja, dann kommen wir wirklich bei dem Gott Abrahams, Isaaks und Jakobs an, der der Vater Jesu Christi ist. Dann teilen wir seinen Schmerz. Dann wird Gottes Schmerz von unserer Buße in Versöhnung und Segen für uns und dieses Dorf gewandelt werden. Tatenlos, liebe Gemeinde, ist Gott in seiner Trauer über die Hingemordeten indes nicht geblieben. Und wer Augen hat zu sehen, der ist dankbar, dass er in erfüllter Zeit leben, dass er Zeuge sein darf: Gott hat seinem Volk nach fast 2000 Jahren wieder eine Heimstatt im verheißenen Land gegeben. Wahre Buße über den tief im Volke sitzenden Antisemitismus führt einen Christenmenschen dann auch zur Mitfreude und Solidarität mit Israel – in Wort und Tat. Man kann viel darüber diskutieren, was diese Staatsgründung für Folgen gehabt hat und hat für die dort lebenden Menschen. Aber wenn wir als Christen und als Deutsche darüber reden, dann müssen zwei Dinge von vornherein unverrückbar klar sein. Der Christ muss wissen: Nach dem Zeugnis der Bibel gibt es kein Volk, dem ein bestimmtes Land von Gott verheißen ist, außer den Juden, denen das Land Israel von Gott versprochen und aufgegeben ist. Und diese Zusage hat Gott weder durch die Verfehlungen Israels, noch durch Verfehlungen, die Israel von außen zu-gefügt wurden, zurückgenommen. Im Gegenteil: Könnte es nicht sogar so sein, dass der Staat Israel – 1948 neu gegründet – Gottes demütige Antwort auf Auschwitz ist?

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Ein Zeichen, dass Gott für die Verbrechen der Menschen in Auschwitz Buße tut? Das Kreuz Christi spricht für dieses demütige Tun Gottes, wenn wir doch als Christen glauben, dass Gott am Kreuz unsere Sünde wegschafft und sich selbst über den Hals zieht – der Demütigste aller Demütigen, der Bußfertigste aller Bußfertigen. Gott, der Herr – in den Tiefen menschlicher Raserei und Schuldgeschichte, da treffen wir ihn an, da arbeitet er und pflügt unseren Blutacker um in ein Land, da Milch und Honig fließen. Wo immer Gott sich unter den Tod beugt, da geschieht Auferstehung. Und so können wir nicht anders, als im Staat Israel mehr als nur einen absoluten Neuanfang zu sehen. Wer nach Israel reist, erlebt Auferstehung. Auferstehung mitten im Wüsten- und Bombenfeld dieser Erde. Ein Gedächtnis seiner Wunder. Und so hemmt das wiedererlangte Land bei manch einem HolocaustÜberlebenden ein klein bisschen die Hemmnisse, an Gott zu glauben. Der amerikanische Rabbiner Abraham Heschel schreibt: Wir (Juden) haben das Land niemals aufgegeben, und es ist, als habe das Land niemals das jüdische Volk aufgegeben. Alle Versuche, in dem Land andere Zivilisationen heimisch zu machen, waren ein Fehlschlag. Zahlreiche Eroberer besetzten das Land: Römer, Byzantiner, Araber, Kurden, Mongolen, Mamelucken, Tataren und Türken. Aber was haben diese Völker mit dem Land gemacht? Keines gründete einen Staat oder bildete eine Nation. Das Land reagierte nicht.

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Warum nicht, liebe Gemeinde? Die Antwort gibt ein Psalmwort: Gott gibt Speise denen, die ihn fürchten. Und nun zum zweiten: Wer sich der deutschen Geschichte, der Schuldgeschichte an den Juden bewusst ist, besonders der zwischen 1933 und 1945, der weiß sehr genau, warum die Juden in aller Welt auf die Neugründung ihres Staates nach dem zweiten Weltkrieg drängten und nur dort eine einigermaßen sichere Zufluchtsstätte für sich sahen und sehen. 12 Jahre waren die Tore der Kontinente verschlossen, und die Tore der Vernichtungslager standen offen wie ein nimmersattes hungriges Maul eines entfesselten Ungeheuers, das doch ein Gesicht trug wie du und ich. Die Wälder in aller Welt, die großen Paläste, die Täler in ihrer stolzen Schönheit, wo so viele Mütter ein Versteck hätten finden können, um ihre Kinder vor den Gaskammern zu retten – alle blieben taub für den Schrei der Not. Die Juden hatten nichts, wo sie ihr Haupt hinlegen konnten. Die Gründung des Staates Israel vor 68 Jahren hängt unmittelbar mit dem mörderischen Antisemitismus zusammen, der von unseren meist auch christlich geprägten Vorfahren ausging. Wir Nachgeborenen können die Schuld unserer vorangegangenen Generationen nicht ungeschehen machen, aber wir stehen in der Verantwortung für unsere jüdischen Geschwister und haben in unserem Umfeld die Aufgabe, für ihr Wohnrecht in Israel einzutreten. Dann werden wir anfangen zu verstehen, wenn Juden uns sagen: Israel hilft uns, die Qual von Auschwitz zu ertragen, ohne gänzlich zu verzweifeln, hilft uns, einen Strahl von Gottes Glanz im Dschungel der Geschichte zu spüren.

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Darum lasst uns Buße tun, lasst uns Verantwortung für die begangene Schuld unserer Vorfahren übernehmen, so treten wir in Gottes Schmerz und Trauer um die Ermordeten von Auschwitz, Buchenwald, Theresienstadt und, und, und ein ... – so fangen wir an, die Tränen Gottes zu trocknen und die Tränen der Kinder Israel. Amen.

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Predigt über Jesaja 62,6-12 Thomas Drope Liebe Gemeinde, „O Jerusalem!“ Ein Stoßseufzer, wie er so richtig in diese Zeit passt. Seit Jahrzehnten kommt Jerusalem in unseren Radio- und Fernsehnachrichten vor. Selten in erfreulichen Meldungen. Meistens sind es Mitteilungen über Gewalt und Tod, über Streit und Krieg. Die aktuellen Auseinandersetzungen sollen in der Gründung des Staates Israel im Jahr 1948 ihre Ursache haben. Die arabischen Nachbarn haben diese Gründung in Palästina nie akzeptiert. Jerusalem mit den heiligen Stätten von Juden, Christen und Muslimen wurde zum Zankapfel und ist es noch. Heute ist die Stadt in mehrere, religiös-politisch klar voneinander abgrenzbare Stadtbezirke geteilt: in ein jüdisches Jerusalem und ein arabisches Jerusalem, bewohnt von muslimischen und christlichen Palästinensern. Zwischen den verschiedenen Stadtbezirken bestehen enge wirtschaftliche und verwaltungsmäßige Verflechtungen, die unterschiedlichen Bewohnerinnen und Bewohner sind aufeinander angewiesen. In religiöser, sozialer und politischer Hinsicht sind die Menschen jedoch weitestgehend voneinander getrennt – und es sieht nicht so aus, als ob sich das in absehbarer Zeit hin zu einem konstruktiven Miteinander ändern sollte. Die Friedensgespräche zwischen Israel und palästinensischer Verwaltung scheiterten zuletzt im Jahr 2000 an der Frage der Hoheit über Jerusalem. Die „Gründung von (Gottes) shalem“, also Fülle, Frieden, Heil, wie „Jerusalem“ übersetzt heißt, ist immer wieder Anlass zum Streit.

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„O Jerusalem!“ Wie kommt es aber, dass gerade hier kein Frieden einkehrt? Warum übt die Stadt Jerusalem so eine starke Anziehungskraft auf die Menschen aus, dass sie darum immer wieder in blutigen Streit geraten? Und warum schon seit Jahrtausenden? Ich selbst bin noch nie in Jerusalem gewesen. Jerusalemreisende haben mir aber von der Faszination erzählt, die sie beim Besuch der Stadt ergriffen hat. Altvertraute Liedstrophen kamen ihnen auf dem Weg zur Stadt hinauf in den Sinn: „Jerusalem, du hochgebaute Stadt“. Und Bibelverse: „Seht, wir gehen hinauf nach Jerusalem“ oder die Geschichten von David und Jesus beim Einzug in Jerusalem. In der Stadt selbst: die Begegnung mit Zeugnissen biblischer und außerbiblischer Geschichte auf Schritt und Tritt. Ein Kollege erzählte: Mehrmals habe er ergriffen gedacht: „Hier ist Jesus entlanggekommen. So ähnlich muss Jesus das auch gesehen haben.“ Was wir von Gott gelesen und gehört haben, was wir von Jesus wissen – hier hat ein Großteil dessen vor Ort stattgefunden. Ob er es nun wollte oder nicht, bald ist ihm jeder Stein heilig vorgekommen. Geglaubtes wird greifbar an einem mit allen Sinnen erfassbaren realen Ort. Dann sind da die vielen Kirchen aus aller Welt. Jede Konfession scheint hier ihre „Filiale“ zu haben. Außerdem die Klagemauer an den letzten Resten des alten jüdischen Tempels, der Felsendom, in dem Mohammed gebetet hat: Für drei Weltreligionen ist Jerusalem der Ort, den Gott sich ausgewählt hat, um sich mit der Erde und den Menschen geschichtlich zu verbinden. Gott kann an jedem Ort der Welt sein, keinem von uns ist Gott fern, sagt Paulus; ob wir nun am Nordpol oder am Südpol sind, im Himalaya oder im Amazonasdschungel. Überall können wir zu Gott beten, überall hört er unser Gebet. Aber konkret mit Erde, Steinen, geographisch ist der Name Gottes und damit Gott selbst für die drei Weltreligionen zuerst mit Jerusalem verbunden, der Gründung von Gottes shalem.

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Die Gläubigen der drei Religionen hoffen auf seinen Frieden für sich und für die ganze Welt. Doch sind sie in ihren Lehren unterschiedlicher Auffassung darüber, wie dieser Frieden in die Welt kommt. Weil es dabei um letzte und höchste Wahrheit geht, versucht einer den anderen davon zu überzeugen, dass seine Wahrheit die einzige sei. Im guten Fall führt das zum theologischen Streitgespräch darüber, solange bis Gott ihnen seine Sicht der Dinge endgültig offenbaren wird, und bis sie zusammen über ihre Irrtümer gemeinsam werden lachen können – im bösen Fall führt das Beharren auf der eigenen Wahrheit aber zu gewalttätigen Auseinandersetzungen. So ist das Religionsgemisch ein Pulverfass. Andererseits ist allen klar: Gelingt hier einmal der Friede zwischen allen, dann wird es ein Friede für die ganze Welt sein. Und alle Welt wird nach Jerusalem sehen und sagen: Wenn dort Friede ist, dann soll bei uns auch Friede sein. Gott hat sich in Jerusalem vor allen anderen Völkern mit Israel verbunden. Für die bevorzugte Erwählung Israels steht Jerusalem auch. Die Kirchen aber haben Israel und den Juden diese Erwählung immer wieder aberkannt. Dabei sagt Jesus bei Johannes im Gespräch mit Nikodemus: „Das Heil kommt von den Juden.“ Und Paulus bekräftigt im Römerbrief, dass Gott es sich niemals gereuen lässt, dass er Israel vor aller Zeit erwählt hat. Zu wem Gott sich einmal bekennt, dem bleibt er treu. Die Christen kommen erst später hinzu. Doch ist die Erwählung durch Gott eine schwere Bürde. In der letzten Woche haben wir hier vom Propheten Jeremia gehört. Er war von Gott erwählt, zu einer großen Aufgabe ausersehen worden. Das hat ihn sehr belastet und ihm viele schwere Situationen im Leben gebracht, an denen er letztlich zugrunde gegangen ist. Diese Last erfährt das von Gott erwählte Volk in seiner Geschichte. Israel hat sich immer neu dem Hass der Menschen auf Gott ausgesetzt gesehen und diesen am eigenen Leib erfahren.

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Die Welt hasst Gott, hat der Theologe Klaus Berger vorletzte Woche in einer theologischen Bewertung der jüngsten Kriegsaktionen zwischen Israel und der Hisbollah im Libanon geschrieben. Und die Folge des Gotteshasses ist der immer neue Angriff auf Israel, auf das von Gott vor allen anderen erwählte Volk. Die Unruhe und Gewalt um Jerusalem ist keine Erfindung der Neuzeit. Sie gibt es schon über zwei Jahrtausenden. Mehrmals ist die Stadt auf dem Berge angegriffen worden. Besonders einschneidend waren die Katastrophen der Tempelzerstörungen 586 vor Christus durch die Babylonier und 70 nach Christus durch die Römer. Der Tempel war das zentrale Heiligtum. Im Tempel auf dem Zion hatte sich Gott sein Zuhause gewählt. Hier wohnte nach dem Glauben der Alten sein heiliger Name und damit Gott selbst. Wo war Gott, wenn der Tempel nicht mehr da war? In langen Erkenntnisprozessen lernten sie, dass Gott überall sein konnte, wo sein Wort zu hören war und seine Weisungen von den Menschen befolgt wurden. Doch braucht der Mensch auch feste Orte, an denen er seinen Glauben festmachen kann. Wir haben darum auch Kirchgebäude. Für Juden ist das zentrale Heiligtum der Tempel in Jerusalem, der bis heute nicht wieder aufgebaut ist. Nach dem Zeugnis der Bibel ist Gott für immer mit Jerusalem verbunden. Durch die Geschichte der Zerstörungen Jerusalems und der Vertreibungen der Juden in alle Welt ist Jerusalem für viele mehr und mehr zu einem Zeichen der Hoffnung geworden. Zu einem Zeichen des endzeitlichen Friedens. Wenn Gott endgültig Frieden bringt, dann wird auch der Tempel auf dem Zion wieder stehen und seine Wohnung sein. Jerusalem ist sowohl das heutige Jerusalem als auch das ersehnte und erhoffte Jerusalem der Lieder und Psalmen: Ein Ort, der so noch nicht ist, aber eines Tages sein wird: ein Ort des Friedens und Vorbilds der Gerechtigkeit für alle Menschen.

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Von dieser Hoffnung ist der Prophet Jesaja beflügelt, wenn er ein künftiges Jerusalem vorhersagt, in dem den Arbeitenden die gerechte Frucht für ihre Arbeit gelassen wird. Ein Jerusalem ohne Unrecht, Klage und Geschrei, dafür ein Jerusalem der Feier und des Festes, ein Wallfahrtsort des Friedens für alle Völker. Dass es so komme, dafür sollen Wächter beten. Gottes Friede kommt durch fortwährendes Gebet zustande. Seine Gründung des Friedens wird nicht durch menschliche Gewalt aufgerichtet werden, sondern nur durch andauernde Gebete. Tag und Nacht sollen diese Wächter nicht schweigen. Diesen Dienst verrichten heute z.B. die Männer an der Klagemauer. Unablässig steigt ihr Gebet zu Gott, bis der Ruf in der heiligen Stadt zum letzten Mal ertöne: Tochter Zion, siehe, dein Heil kommt! Und dass dann Frieden für alle sei. Mit nüchternem Blick auf Jerusalem mögen wir vielleicht sagen: Was soll’s, es wird doch nie etwas mit dem Frieden im Nahen Osten! Das ist die Stimme der Resignation und Gleichgültigkeit. Sie rät uns dazu, uns lieber um unsere eigenen Probleme zu kümmern als um die noch schwerer verständlichen im Nahen Osten. Doch so wenig uns die Nachrichten aus Jerusalem wirklich kalt lassen und uns immer wieder zum Diskutieren anstacheln, so wenig sollte uns auch die Zukunft Jerusalems kalt lassen. Solange dort kein Frieden ist, solange wird die Welt nicht wissen, was Friede ist. Und wenn dort der Friede gelingt, wird er überall auf der Welt gelingen. Und um der Menschen willen, die im „heiligen Land“ leben, mit denen wir verbunden sind durch unseren christlichen Glauben an den einen Gott und Vater Jesu Christi, müssen wir mitbeten und mithoffen, dass endlich Frieden werde für sie und für uns. Dann werden wir nicht mehr seufzen, sondern vor Freude jauchzen und loben: O Jerusalem. Amen.

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Predigt über Jesaja 62,6-12 Matthias Loerbroks Liebe Gemeinde, der Prophet redet hier eine Stadt an, Jerusalem, als wäre sie eine Person, eine Frau: Über deine Mauern, Jerusalem, habe ich Wächter bestellt, heißt es zu Beginn. Und am Schluss: Und dich wird man rufen: gesuchte, nie verlassene Stadt. Dazwischen: Sprecht zur Tochter Zion: siehe, deine Freiheit kommt. Zion – das ist ein feierlicher poetischer Ausdruck für die Stadt Jerusalem. Schon diese Anrede der Stadt als ein Du deutet an, dass diese Stadt eine besondere Bedeutung hat, möglicherweise nicht nur für ihre Bewohner. Doch auch ihnen will der Prophet Gutes verkünden, wenn er sagt: Ich habe Wächter bestellt. Seltsame Wächter sind das. Von Wächtern auf einer Stadtmauer erwartet man, dass sie die Stadtbewohner warnen, wenn Feinde sich nähern oder irgendeine andere Gefahr droht. Diese hier aber sollen Gott in den Ohren liegen, Tag und Nacht Krach schlagen, werden ausdrücklich dazu aufgefordert, ruhestörenden Lärm zu machen: Gönnt euch keine Ruhe – und gebt ihm, Gott, keine Ruhe. Diese Wächter sind Verbündete, Mithelfer, Mitarbeiter des Propheten, tun das, was er auch tut. Ein paar Verse vor unserem Text sagt nämlich der Prophet von sich selbst: Um Zions willen will ich nicht schweigen, um Jerusalems willen nicht still sein. Doch wozu dieser gemeinsam veranstaltete Lärm, diese ständige Unruhe? Beide Male wird ein Zielund Endpunkt genannt: Der Prophet will nicht schweigen, bis in dieser Stadt Gerechtigkeit und Befreiung so strahlend leuchten und glänzen – wie eine brennende Fackel, sagt der Prophet –, dass dieser Glanz auch den anderen Völkern und ihren Königen, ihren Regierungen einleuchtet, dieses Licht sie aufklärt darüber, wer wirklich Gott ist und was er will. Auch bei den Wächtern wird ein Ziel angegeben: Sie sollen sich selbst und Gott keine Ruhe gönnen, bis er Jerusalem so wiederherstellt, dass 79

diese Stadt ein einziger Lobpreis Gottes, ein Psalm wird. Auch hier besteht das Ziel darin, dass diese Stadt Bedeutung bekommt für die anderen Völker, dass die hier nicht nur über Gott und seine Ziele aufgeklärt werden, sondern selbst dazu angeregt und veranlasst werden, angesichts dieser Stadt Gott zu loben. Die Aufgabe besteht darin, Gott zu erinnern, ihn so aufzustören und aufzurütteln, dass er gedenkt – und in der Bibel ist damit immer ein praktisches Eingreifen Gottes gemeint, eine Befreiungsaktion. Es mag uns seltsam vorkommen, auch beunruhigend, dass Gott dieser Erinnerung bedarf, um zu gedenken, wir setzen voraus, haben das auch im Ohr, dass Gott ohnehin seines Bundes auf ewig gedenkt. Aber dieser Bund ist eine zweiseitige, eine gegenseitige Geschichte: Beide Partner, Gott und Israel, wirken aufeinander ein. Der Prophet beruft sich dabei auf eine direkte Zusage Gottes, auf einen Schwur: Mit seiner Rechten, mit dem Arm seiner Stärke habe Gott geschworen – und diese beiden Worte dienen nicht nur der Bekräftigung, sie bedeuten auch inhaltlich etwas. Wenn Israel in knapper Form an seine Urgeschichte, die Befreiung aus der Sklaverei erinnert, dann heißt es fast formelhaft: Mit starker Hand und mit ausgerecktem Arm hat er uns befreit. Und um eine ähnliche Befreiung geht es auch in diesem Schwur, um ein Ende von Ausbeutung und Ausplünderung, von Sklaverei, Zwangsarbeit. Nicht mehr sollen andere, noch dazu Feinde, von Israels Mühe und Arbeit profitieren. Die Arbeitenden sollen die Früchte ihrer Arbeit genießen und über diesen Genuss Gott preisen, im Hof des Heiligtums fröhlich trinken. Bei der angestrebten Weltbedeutung dieses Orts, seiner erhellenden Wirkung auf die Völker geht es also nicht nur um religiöse Erkenntnis, sondern um wirtschaftliche, soziale und politische Befreiung. Und das erinnert an die zionistische Bewegung des 20. Jahrhunderts. Sie war in ihren Anfängen überwiegend nicht religiös. Es ging um politische und soziale Befreiung, darin freilich auch um nationale: Man wollte sich nicht mehr von den Nichtjuden herumschubsen und herumkommandieren und übrigens auch nicht definieren lassen: entweder nur als Religion

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oder nur als Volk oder gar als Rasse, wollte die eigenen Sachen selbst regeln, auch endlich eigene Fehler machen. Trotz dieser nichtreligiösen, z.T. antireligiösen Motive knüpft das Wort Zionismus an die biblische Bezeichnung Zion an. Und diese Bewegung hat sich auch nie überzeugen lassen, den angestrebten jüdischen Staat vielleicht in Uganda, Madagaskar oder Uruguay zu gründen, sondern hielt am biblischen Land Israel fest. Der Zionismus bewies so vielleicht mehr unbewusst als bewusst seine Nähe zum Materialismus des Gottes Israels. Der hatte sich ja nicht damit begnügt, eine Gesinnungsgemeinschaft, etwa eine Kirche, zu gründen, sondern erfand ein Volk, also ein leiblich historisches Kollektiv, dessen Geschichte nicht bloß durch Überzeugungen zusammengehalten wird, sondern durch Zeugungen, und gab ihm ein bestimmtes Land als materielle Grundlage, interessierte sich intensiv für die Art seines politischen und gesellschaftlichen Zusammenlebens. Diese Erwählung bzw. Erfindung Israels war und ist kein Selbstzweck, zielt auch auf die Völker in der Hoffnung, die würden sich aufklären lassen von dem Licht, das da mitten in der Finsternis der Völkerwelt aufleuchtete: Dieses Volk sollte der Anfang sein einer neuen Menschheit, dieses Land der Beginn einer neuen Welt. Doch wozu dann diese Konzentration Gottes auf dieses eine Volk, wenn es ihm doch um alle Menschen geht, und auf dieses eine Land und in ihm, wie wir hörten, auch noch auf eine bestimmte Stadt? Um sich erkennbar und unterscheidbar zu machen. Er will kein Allerweltsgott sein, nicht verwechselt werden mit irgendwelchen höheren Mächten, der Natur etwa oder des Schicksals. Erst in dieser Konzentration auf ein bestimmtes Volk und ein bestimmtes Land bekommt die Geschichte Farbe und Geschmack, wird charakteristisch für diesen bestimmten Gott. Man kann nicht sagen, dass er damit großen Erfolg hatte. Die Völker haben überwiegend dieses Licht nicht begriffen, es hat ihnen nicht eingeleuchtet. Es ist die Aufgabe von uns Christen, das zu ändern. Im Lukasevangelium wird erzählt, wie im Tempel in Jerusalem, als Jesus von

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seinen Eltern als kleines Kind dorthin gebracht wird, der greise Simeon ihm eine doppelte Rolle, eine zweifache Wirkung voraussagt, eine im Blick auf sein Volk Israel, eine für die Völker. Er soll ein Licht sein zur Aufklärung der Völker, also das, was auch ganz Israel sein soll, und das soll er nicht etwa tun, um Israels Licht in den Schatten zu stellen, sondern zum Preis seines Volkes Israel. Da schwingt mit, was hier die Wächter mit ihrem Geschrei erreichen wollen: dass Israel und Jerusalem zum Lobpreis auf Erden werden. Dass ihm das bisher nicht gelungen ist, liegt nicht an ihm, sondern an uns Christen. Wir haben es bisher versäumt, zum Lobpreis Israels beizutragen, haben ihm keinen guten Namen gemacht. Generationen von Christen waren der Meinung, auf das leibliche Israel käme es seit Jesus gar nicht mehr an – es ginge nur noch um ein geistliches Israel, nämlich die Kirche. Und im Zuge dieser Abgrenzung fanden sie bald alles Materielle überhaupt nicht mehr so wichtig, hielten alles Geistige für etwas Höheres. Und viele Christen hielten es für die Aufgabe der Kirche und der Christen, selbst beizutragen zum Ende Israels dadurch, dass sie versuchten, möglichst viele, möglichst alle Juden zu Christen zu machen – einige halten das auch heute noch für unsere Aufgabe. Aber das ist sie nicht. Wir sollten uns statt dessen an denen orientieren, die der Prophet hier als Verbündete gesucht und gefunden hat, selbst solche Wächter sein, die Gott Tag und Nacht in den Ohren liegen für Israel. Und nicht nur Gott. Wir sind auch dazu geeignet, die Völker auf Israel aufmerksam zu machen, ihr Verständnis zu wecken und zu fördern, Dolmetscher zu sein zwischen Israel und den Völkern. Denn einerseits gehören wir ja selbst zu den Völkern, kennen uns da aus, kennen auch gerade aus der christlichen Geschichte ihre Judenfeindschaft, andererseits wissen wir aus der Bibel, auch der christlichen, dass die Erwählung Israels, der Bund zwischen Gott und diesem Volk nicht irgendeine womöglich nationalistische Selbstüberschätzung eines kleinen Volks ist, sondern eine Tat Gottes im Blick auf alle Menschen, Gegenstand auch unseres Glaubens. Auch die Wächter, die Jesaja bestellt hat, sollen ja

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nicht nur Gott keine Ruhe lassen. Ein Gebet, dem nicht die eigene Praxis entspricht, ist nicht ernst. Und so beginnen sie das, was sie erflehen, worauf sie hoffen, auch schon in die Tat umzusetzen, ziehen selbst ein durch die Tore, machen so auch anderen Bahn, bereiten ihnen den Weg, räumen Steine weg. Den Mitmachern des Propheten geht es dabei wie der modernen zionistischen Bewegung um noch nicht befreite Mitjuden. Aber unsere Aufgabe in der Völkerwelt ist dem vergleichbar: In fast allen Völkern der Welt gibt es Christen. Sie könnten ihren Völkern den Zugang zu diesem einzigartigen, aber auch eigenartigen Volk bahnen, Wege bereiten, Steine wegräumen. Da gibt es viel zu tun, nicht nur außerhalb der Kirche, auch in ihr. Man wird dich nicht mehr nennen „Verlassene“, verheißt der Prophet der Stadt Jerusalem und dem jüdischen Volk. Es ist an uns, zur Verwirklichung dieser Verheißung beizutragen. Die verschiedenen Aufstände und Umwälzungen in der arabischen Welt haben bisher nicht dazu geführt, dass Israels Existenz im Nahen Osten akzeptiert, geschweige denn begrüßt wird, sondern diese Existenz bedrohter gemacht, wie besonders die Entwicklung in Ägypten und die in Syrien zeigen. Es ist bisher auch nicht gelungen, das iranische Atomprogramm zu stoppen. Und hierzulande zeigen einige der Beiträge zur Diskussion über die Beschneidung, wie tief verwurzelt antijüdische Ressentiments sind. Wünscht Jerusalem Frieden! Befriedet seien, die dich lieben! Friede sei in deinen Mauern, befriedet deine Paläste! Um meiner Brüder und um meiner Genossen willen will ich Frieden herbeireden für dich. Amen.

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Predigt über Jeremia 7,1-11 Siegfried Bergler Liebe Gemeinde, eine schöne Publikumsbeschimpfung ist dies. Wir haben Glück, dass wir nicht gemeint sind. Stellen wir uns nur vor, auf unserem Weg in diese Kirche würde uns jemand so anmachen: „Diebe, Mörder, Ehebrecher seid ihr alle ... Wie könnt ihr es bloß wagen, hier hereinzutreten und zu beten: ‚Du, Herr, bist immer bei uns.‘ Nein, bald wird es mit euch und mit eurer Kirche aus sein, falls ihr euch nicht bessert.“ Unsere andächtige Stimmung wäre wohl restlos dahin. Der Prophet Jeremia war damals, im 6. Jh. v. Chr., so ein unbequemer Zeitgenosse. Er stand neben einem der Eingänge zum Tempelplatz und las den Vorbeikommenden die Leviten: „Hört des Herrn Wort! Ihr traut euch, hierher zu kommen, doch hernach macht ihr in eurem alten Trott weiter wie bisher, übertretet die Gebote und lauft fremden Göttern nach. Bessert euer Leben, sonst gibtʼs euren schönen Tempel bald nicht mehr!“ Jeremias provokative Botschaft stieß auf taube Ohren. Die Folgen ließen nicht allzu lange auf sich warten. Etwa zwei Jahrzehnte danach lag der Tempel in Schutt und Asche – dazu ganz Jerusalem. Die Bevölkerung des Landes wurde deportiert. 600 Jahre später – Tempel und Stadt waren längst wieder aufgebaut – weinte Jesus (wir haben es im Evangelium des Tages gehört) über Jerusalem und prophezeite ihr – im Stil Jeremias – abermals den Untergang: „Wenn doch auch du erkenntest an diesem Tag, was zum Frieden dient! Aber nun istʼs vor deinen Augen verborgen.“ Auch Jesus sorgte am Tempel für einen Skandal, als er Händler und Geldwechsler vertrieb und sich dabei – unüberhörbar – wörtlich auf Jeremia berief: „Ihr aber habt es [d.h. dieses Haus] zur Räuberhöhle gemacht.“

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Die Geschichte wiederholte sich: Jesu Worte wurden – wie die Jeremias – in den Wind geschlagen. 40 Jahre später eroberten die Römer Jerusalem und schleiften die Stadt samt Heiligtum, so wie es Jesus vorhergesagt hatte. Fortan durften Juden nur am Jahrestag der Zerstörung diesen Ort betreten und an den wenigen erhalten gebliebenen Mauern beten – das, was man heute „Klagemauer” nennt –, jahrhundertelang nur an diesem einen Tag im Jahr an den ehrwürdigen Steinen ihre Klagen, Bitten und Hoffnungen vor Gott bringen. „Was geht uns das an? Muss ich denn das wissen?“, wird sich jetzt der eine oder die andere unter uns fragen. Die Sache liegt doch lange zurück – 2000 bzw. gar 2600 Jahre – und betrifft auch nur die Juden. Nur ihnen galt Jeremias und Jesu Drohrede. Darum erschreckt sie uns nicht weiter. Diebe, Mörder, Götzendiener sind wir ja nun wirklich nicht. Unsere Kirche ist auch keine „Räuberhöhle“. Übrigens: Als im Jahr 70 n. Chr. Jerusalem in Flammen aufging und kaum ein Stein auf dem anderen blieb, hatten die Christen schon längst die Stadt verlassen und sich im Ostjordanland in Sicherheit gebracht. Über den Verlust des Tempels waren sie nicht besonders traurig, hatte doch Jesus gesagt, er sei überall da zu finden, wo sich zwei oder drei in seinem Namen versammelten. Also: Weshalb brauchte man noch einen jüdischen Tempel! Außerdem stand für die ersten Christen fest: Seine Zerstörung war voll verdient. Sie war das untrügliche Zeichen Gottes dafür, dass er mit den Juden nichts mehr zu tun haben wollte: Jawohl, er hat sie verworfen, aus ihrer heiligen Stadt vertrieben, in die ganze Welt zerstreut – und zwar deshalb, weil sie nicht an Jesus, den Sohn Gottes und Messias, glaubten, vielmehr ihn umgebracht hatten. Und die Christen folgerten daraus weiter: Jetzt sind wir das auserwählte Volk. Wir sind das neue, wahre Israel. Nun hat Gott ausschließlich mit uns einen neuen Bund geschlossen, – ein neues Testament! Ab sofort ist die Judenbibel das Alte Testament – im Sinne von veraltet, überholt,

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abgetan. Der neue Tempel Gottes – das ist die christliche Kirche. Das sind wir. All dies war Ausdruck einer stolzen, triumphierenden, hochmütigen Kirche, die allein die seligmachende Wahrheit zu besitzen wähnte. Juden, die sich nicht taufen lassen wollten, mussten darum in christlichen Ländern mit dem Schlimmsten rechnen. Das Heil der Kirche wurde verknüpft mit dem Unheil der Juden, die Frohe Botschaft wurde für sie zur Drohbotschaft. Dieser 10. Sonntag nach Trinitatis ist seit Jahrhunderten offizieller kirchlicher Gedenktag an die zweifache Zerstörung des Jerusalemer Tempels. Aber leider wurde an diesem Datum lange Zeit von den Kanzeln recht negativ – antijüdisch – gepredigt, so als ob Jeremia Christ gewesen sei und darum seine Gerichtsbotschaft gegen die Juden vollkommen in Ordnung ginge. Vor allem ihre Blindheit und Verstocktheit gegenüber dem Evangelium von Jesus Christus wurde an diesem Tag hervorgehoben und mit klammheimlicher Freude betont, dass sie bis heute keinen Tempel mehr haben und auch keinen Frieden in Jerusalem finden. Es fällt so leicht, über nicht Anwesende zu urteilen: „Ja, wie konnten die Juden damals nur! Hatten die denn keine Augen im Kopf und keine Ohren zum Hören, um Jesus Christus zu erkennen?” Ich kenne noch einen pensionierten Kollegen, der sich sogar weigerte, an diesem Sonntag über unser Verhältnis zu den Juden zu predigen. „Es kann doch nicht angehen“, sagte er, „dass wir uns über die Schuld anderer Leute vor Gott Gedanken machen müssen.” Das sei nur vertane Zeit. Ich meine jedoch: Gerade in unseren Tagen, wo sich Antisemitismus hierzulande wieder in beängstigendem Maße breit macht, dürfen innerhalb der Kirche weder der christlich-jüdische Dialog ausgeklammert noch irgendwelche Reden, die Judenhass fördern, geführt werden. So bin ich froh, dass dieser Sonntag inzwischen mehr und mehr dazu dient, gerade über Gottes bleibende Erwählung und Treue zu seinem jüdischen Volk nachzudenken.

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Fragen wir darum noch einmal: „Was geht uns heute Jeremias kritische Tempelrede an?“ Meine Antwort: Die Kritik des Propheten damals an seinen jüdischen Landsleuten darf heute nur als Kritik an uns, an der Kirche, gepredigt werden. Jeremias Anklage besagt: „Euer Leben hat sich in zwei getrennte Räume aufgeteilt: Die Woche über, in eurem Alltag, lebt ihr in dem einen Bereich, wo ihr nur an euch denkt, oft auf Kosten anderer, zum Schaden eurer Mitmenschen. Am Feiertag, am Schabbat, aber tut ihr fromm und kommt hier im Tempel euren religiösen Pflichten nach.“ So wirft Jeremia den Gottesdienstbesuchern Scheinheiligkeit vor: „Da klafft bei euch ein tiefer Graben zwischen jenen beiden Bereichen: zwischen eurem Glauben und eurem Leben, zwischen Wort und Tat, zwischen Schein und Sein. Ihr habt aus diesem Tempel eine Räuberhöhle gemacht. Warum Räuberhöhle? Weil ihr dieses Gebäude als Schlupfwinkel benutzt, als Versteck, als Alibi, um euch hier drin eurer Verantwortung vor Gott und euren Mitmenschen zu entziehen. Nein, Gott ist nicht hier bei euch, wenn ihr nicht auch ernsthaft mit ihm da draußen auf den Straßen, in euren Wohnungen, in jedem einzelnen eurer Mitmenschen rechnet. Nur wenn ihr da mit Gottes Geboten ernst macht, wird er bei euch wohnen und auch euch wohnen lassen.“ Übers Jahr verteilt gibtʼs hierzulande vielerorts Gedenkfeiern, Lichterketten, Glockengeläut, das daran erinnert, dass im Zweiten Weltkrieg deutsche Städte und Kirchen in Flammen aufgingen. Erinnerungen an Flucht, Vertreibung und Zwangsumsiedlung werden wach, Hoffnungslichter angezündet mit der Mahnung: „Nie wieder Krieg!“ Alljährlich wird auch der Reichspogromnacht und der Befreiung von Auschwitz gedacht. Verstehe ich Jeremia recht, so gehören all diese Erinnerungsdaten aufs engste zusammen. Als ob er direkt zu uns sagen würde: „Bessert euer Leben und euer Tun, verlasst euch nicht auf Lügenworte, die euch ins Unglück geführt haben. Hört vielmehr auf das Wort des Herrn. Gott bleibt nur dann bei euch und lässt euch in eurem wieder vereinten Land wohnen, wenn auch ihr andere wohnen lasst. Übt keine Gewalt

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gegen Fremdlinge, Waisen und Witwen.“ Gerade Asylanten sind da mit gemeint. Vor 80 Jahren haben wir andere in unserem Land nicht wohnen lassen. Nachts kamen Lastwagen und Güterzüge und holten unsere jüdischen Mitbürger ab. Und in den Kirchen wurde weitestgehend geschwiegen, bzw. – wie es Dietrich Bonhoeffer sarkastisch ausdrückte – es wurde dort nur „gregorianisch gesungen“ und Augen und Ohren verschlossen. Das Gebet vor Gottes Angesicht drinnen widersprach eklatant dem Handeln draußen. Nur zwei konkrete Beispiele für diese Diskrepanz: Als die Nazis am 1. April 1933 zum Boykott jüdischer Geschäfte aufriefen, ersuchte die Reichsvertretung der deutschen Juden per Telegramm den evangelischen Oberkirchenrat in Berlin „um ein baldiges Wort, das im Namen der Religion ... gesprochen wird“, um unwiederbringlichen Schaden abzuwenden. Doch die Kirche blieb stumm, sah sich nicht für Juden, ja nicht einmal für Judenchristen zuständig. Analog dazu das zweite Beispiel: Während noch am 10. November 1938 die nachts angezündete Synagoge von Hannover qualmte, ging der Betrieb des unmittelbar daran angrenzenden Landeskirchenamtes weiter, so als sei nichts geschehen. Es fehlte schlichtweg das Bewusstsein der Verbundenheit zwischen Christen und Juden. Israel-Vergessenheit grassierte! Ich behaupte: Ohne die von der Kirche Jahrtausende lang geförderte Judenfeindschaft wäre der Holocaust nicht möglich gewesen. Was Wunder, dass dann auf einmal unsere blühenden Landschaften und Städte dem Erdboden gleichgemacht wurden, dass unsere Landsleute in Schlesien, Ost- und Westpreußen, im Sudetenland und anderswo nicht mehr wohnen bleiben konnten. Ich möchte damit nicht etwa „aufrechnen“, sondern lediglich mit Jeremia feststellen: Wenn Gott wegzieht, dann ist es auch mit unserem Wohnen vorbei. Unser Bleiben hängt von Gottes Bei-uns-Bleiben ab, und das wiederum hängt davon ab, ob wir andere Menschen bei uns wohnen lassen.

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Sicher: Jeremia geißelte Israel, das selbstsicher auf seinen Tempel pochte, obwohl Gott längst von dort ausgezogen war. Es musste ins Exil. Doch ist Israel und sein Geschick letztlich Modellfall für andere Völker. Dieses Volk hat Bedeutung für alle. Innerhalb unserer Gesellschaft haben wir Christen eine Vorbildfunktion. Darum können wir nicht so tun, als ginge die Kritik des Propheten Jeremia uns nichts an. Die von ihm aufgezählten Gebote, nicht zu töten, zu stehlen oder fremden Göttern nachzulaufen, sind nämlich schnell übertreten. Auch wir haben keinen Anlass, uns sicher zu fühlen. Und wenn heute in unserem Land Fremdlingen – Ausländern, Asylanten – Gewalt widerfährt, dann dürfen wir dazu nicht schweigen, denn jene stehen unter Gottes besonderem Schutz: „Der Herr hat die Fremdlinge lieb”, heißt es in der Bibel. Christsein – ebenso wie Judesein – erschöpft sich nicht in frommer Innerlichkeit. Zu christlicher Existenz gehören Taten und konkrete Schritte, nicht bloß innere Gestimmtheit. Mögen wir uns auch noch so sehr von Gott erwählt fühlen und von Jesus dem Christus überzeugt sein, – ohne die entsprechende Praxis des Glaubens, ohne das entschiedene Tun des Guten bleibt dies nutzlos. Können auch wir uns vorstellen, dass Gott uns nicht mehr wohnen lässt – wie damals in der Weltkriegszeit? Heimatlos werden muss nicht unbedingt heißen, dass wir das Land zwischen Rhein und Oder verlassen müssen, sondern dass wir Christen permanent an Boden verlieren und uns auf stetem Rückzug aus der Öffentlichkeit befinden. Da wird sangund klanglos der Buß- und Bettag gestrichen. Da werden Kirchen zum Verkauf angeboten oder für Partys und andere Events zweckentfremdet. Das Kreuz verschwindet von Staats wegen aus öffentlichen Bereichen. Und wir wenigen Christen bleiben unter uns und huldigen bloß unserer Erbauung? Ist Jeremias Prophezeiung nicht auf bestem Wege, sich erneut zu erfüllen? Gott wandert aus. „Bessert euer Leben und euer Tun, ... so will ich euch immer und ewiglich wohnen lassen an diesem Ort.“

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Abschließende Frage: Was bedeutet dieser Appell für unser Verhältnis als Christen zu den Juden? Er zielt auf die Einsicht und Buße der Kirche ab, dass sie einen Jahrtausende währenden Irrweg gegangen ist, vor allem dass sie während des Dritten Reiches versagt hat. Sodann verlangt dieser Appell Ursachenforschung, Aufarbeitung der Vergangenheit und Wahrheitsfindung, warum aus dem Evangelium Jesu auf einmal Feindschaft, Hass und Verfolgung der Juden entstanden sind. Ferner beinhaltet der Appell, unser Leben und Tun zu bessern, den Ruf zur Wachsamkeit: „Wehrt allen Anfängen von neuem Antisemitismus und Fremdenfeindlichkeit!“ Dank gebührt an die Adresse des Volkes Israel, uns – den Völkern – den einen Gott bekannt gemacht zu haben. Israel ist für mich die Kontaktadresse Gottes. Wer von Gott etwas wissen will, hat sich an diese Adresse zu wenden. So ist für mich die Frage „Was geht uns Gott an?“ nicht zu trennen von der Frage: „Was gehen uns die Juden an?“ Dass es dieses Volk überhaupt – noch – gibt, ist ein deutliches Zeichen für die Treue Gottes und die Zuverlässigkeit seiner Verheißungen, mit der er dieses Volk „zum Erbe erwählt“ hat. Wir dürfen auch nicht übersehen, dass der Bund, den Gott zuerst mit Israel geschlossen hat, durch Jesus – den Juden! – erweitert worden ist. Wir Christen stehen in diesem erweiterten Bund neben Gottes ersterwähltem Volk. Diese Sicht sollte uns Bescheidenheit, ja Demut gegenüber unseren älteren Geschwistern im Glauben lehren. Juden und Christen befinden sich nebeneinander auf dem Weg mit der gemeinsamen Aufgabe: von dem einen Gott zu zeugen. Aufeinander hören, voneinander im Glauben lernen und glaubwürdig so leben, dass man uns wieder nach Gott fragt – das sollen wir. Unser geschwisterliches Miteinander ist dann sicheres Indiz dafür, dass auch Gott bei uns an diesem Ort wohnt. Amen.

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Predigt über Jeremia 7,1-15 Matthias Loerbroks Liebe Gemeinde, da steht einer im Tor, steht allen im Weg, allen, die zum Gottesdienst kommen. Alle Gottesdienstbesucher müssen durch dieses Tor, müssen an ihm vorbei, müssen hören die Rede, die er da spricht, die er weiterzusagen hat. Wie ein Torhüter steht er da, der die Gottesdienstbesucher prüft und befragt, mit welchem Recht sie eigentlich kommen. Was sind das für Leute, auf was für Wegen gehen sie, was sind ihre Taten, ihre Geschäfte – was tun sie, sozusagen, in der übrigen Woche? Ist dieser Gottesdienst, zu dem sie alle kommen, Zentrum und Hauptsache ihres ganzen Lebens, ein Dienst also, der ihr ganzes Leben prägt und in Anspruch nimmt? Oder ist er ein bestimmter Bereich ihres Lebens, neben dem es noch lauter andere Lebensbereiche gibt mit jeweils eigenen Gesetzen, Regeln, Gewohnheiten oder gar Notwendigkeiten? Der da im Tor steht und redet, ist tatsächlich wie ein Torhüter, denn er prüft und befragt ja nicht aus privater Neugier, aus lauter Lust daran, die dunklen Seiten im Leben anderer auszuspionieren, zu erschnüffeln. Er spricht im Namen des Hausherrn, im Namen dessen, nach dem dieses Haus benannt ist. Eben darauf, dass dies das Haus des HERRN ist, der Ort seines Namens, berufen sich offenbar seine Gegner. „Sichert euch doch nicht ab,“ ruft Jeremia ihnen zu, „fühlt euch nicht sicher durch Lügenreden: der Tempel des HERRN, der Tempel des HERRN, der Tempel des HERRN ist hier!“ Aber was heißt hier Lüge? Dies ist doch der Ort, den der HERR erwählt hat, die Stätte, da er versprochen hat, ansprechbar zu sein, das Land, das er den Vätern und Müttern zugeschworen hat. Der HERR der Heerscharen – ist er nicht der Gott Israels? Ja, das bestätigt auch Jeremia. Er hat keineswegs die Absicht, den Tempel und die Gottesdienste abzuschaffen, im Gegenteil. Auch er bestätigt:

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das Land, das der HERR den Vätern gab von Urzeit her und für Weltzeit, also: von Ewigkeit zu Ewigkeit. Und auch in seiner schneidend scharfen Anklage- und Drohrede heißt es: Bessert eure Wege und eure Handlungen, dann will ich euch wohnen lassen an diesem Ort. Aber eure Berufung auf diese Verheißungen wird zur Lügenrede dann, wenn ihr sie als Garantie, als Sicherheit, als Versicherung versteht, als Absicherung all eurer falschen Wege. Wenn ihr euch im übrigen Leben wie Ganoven verhaltet – und das Kriterium ist das Recht des Schwächeren, das Recht der Witwen und Waisen, der Fremdlinge – und euch dann hier gesichert fühlt, ein Rückzugsgebiet, wo ihr aus eurer Mördergrube kein Herz macht – dann macht ihr doch mein Haus zur Räuberhöhle. Dann ist der Gottesdienst nicht mehr Hauptgottesdienst, Zentrum des ganzen Lebens, prägend für alle Lebensbereiche – sondern Lebensversicherung oder Rechtsschutz- und Haftpflichtversicherung für ein Leben, das in seinen Wegen und Handlungen ganz anderen Göttern dient. Der Prophet hält den Gottesdienstbesuchern die Thora, die Weisung des Gottes Israels, die Zehn Gebote etwa, vor wie einen Beichtspiegel. Wieso seid ihr so sicher? Seht euch doch Schilo an, den Ort eines früheren Heiligtums, das Nordreich Israel – zu Jeremias Zeiten längst verschleppt. Wie kommt ihr darauf, dass euch das nie passieren kann? Diese harte Rede ist zwar in einer äußerst scharfen innerjüdischen Auseinandersetzung gesprochen, aber wir merken längst beklommen, dass wir mit gemeint sind, denn wir bekennen uns ja zum selben Gott, zum Gott Israels, fühlen uns mit erreicht und mit betroffen von den Verheißungen an die Väter. Angesichts dieser Auseinandersetzung ist uns gar nicht danach, uns als Nichtbetroffene abzugrenzen, uns überlegen abzusichern, als könne uns das nie passieren, dass der HERR uns fortschickt von seinem Angesicht. Besonders wir evangelischen Christen haben ja durch Luther und die Reformation gelernt, dass es im Verhältnis zu Gott auf gute Werke gar nicht ankommt, sondern allein auf Gnade, allein auf Christus, allein auf Glauben. Aber es ist doch vorstellbar, dass auch uns ein Prophet oder

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Jesus selbst, der ja Jeremias Stichwort von der Räuberhöhle aufgriff, an der Tür empfängt oder abfängt und unser Leben, unsere Wege und Taten prüft, uns zuruft: Sichert euch nicht mit Lügenreden, hier ist der Christus des HERRN, der Christus des HERRN, der Christus des HERRN, der gerecht macht durch sein Blut. Oder: die Vergebung der Sünden, die Vergebung der Sünden, die Vergebung der Sünden ist hier. Ist das der Inhalt eurer Rechtfertigungslehre, dass sich euer Leben gar nicht zu ändern braucht, dass alles gerechtfertigt ist, dass ihr in Sicherheit seid? Solche Propheten hat es auch in der Kirche gegeben, auch in der Kirche der Reformation. Am Bußtag 1938, also eine Woche nach den schrecklichen Mord- und Brandstiftung- und Plünderungstaten vom 9. November 1938, der sogenannten Reichskristallnacht, empfing Helmut Gollwitzer seine Gemeinde ähnlich wie Jeremia, nicht am Tor, aber in der Predigt, die so begann: „Wer soll denn heute noch predigen? Wer soll denn heute noch Buße predigen? Ist uns nicht allen der Mund gestopft an diesem Tage? Können wir heute noch etwas anderes, als nur schweigen? Was hat nun uns und unserem Volk und unserer Kirche all das Predigen und Predigthören genützt, die ganzen Jahre und Jahrhunderte lang, als daß wir nun da angelangt sind, wo wir heute stehen, als daß wir heute haben so hereinkommen müssen, wie wir hereingekommen sind? Was muten wir Gott zu, wenn wir jetzt zu Ihm kommen und singen und die Bibel lesen, beten, predigen, unsere Sünden bekennen, so, als sei damit zu rechnen, daß Er noch da ist und nicht nur ein leerer Religionsbetrieb abläuft! Ekeln muß es Ihn doch vor unserer Dreistigkeit und Vermessenheit. Warum schweigen wir nicht wenigstens? Ja, es wäre vielleicht das Richtigste, wir säßen heute hier nur schweigend eine Stunde lang zusammen, wir würden nicht singen, nicht beten, nicht reden, nur uns schweigend darauf vorbereiten, daß wir dann, wenn die Strafen Gottes, in denen wir ja schon mitten drin stecken, offenbar und sichtbar werden, nicht schreiend und hadernd herumlaufen: wie kann Gott so etwas zulassen? – ach wie viele von uns werden's dann ja tun und in ihrer Blindheit

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keinen Zusammenhang sehen zwischen dem, was Gott zuläßt, und dem, was wir getan und zugelassen haben.“ Jahrhunderte lang haben die Christen und die Kirchen das Volk Israel, die Juden verachtet und verhasst gemacht, haben grässliche Geschichten über Juden verbreitet und wohl auch selbst geglaubt, idiotische Klischees, was alles als typisch jüdisch gilt, hielten das Judentum und so alle Juden für erledigt, für überholt, für längst beerbt durch die Christen. Dass die Christen sich zum Juden Jesus als ihrem Herrn und König bekannten, das hat sie nicht zu Freunden und Verbündeten Israels gemacht, im Gegenteil: Gerade in den Ländern, die angeblich seit Jahrhunderten christlich geprägt sind, ging es den Juden schlecht, entstand der Antisemitismus mit allen Folgen. Da muss doch Jesus verzweifeln und meinen, er sei umsonst gekommen, gestorben und auferstanden, wenn er sieht, was wir, seine angeblichen Jüngerinnen und Jünger, getan haben an seinen jüdischen Brüdern und Schwestern. Ihr vergleicht euch gern mit dem verlorenen Sohn aus meinem Gleichnis von den beiden Söhnen, könnte er sagen: Der verlorene Sohn, der von seinem Vater freudig empfangen wird, sein Vater läuft ihm sogar entgegen – aber ist das eure Dankbarkeit, dass ihr nun sofort den älteren Bruder, der bei seinem Vater blieb und ihm treu diente, rausschmeißen wollt? Ihr nennt euch Christen, weil ihr euch zu mir als Christus, als Gesalbter, als König der Juden bekennt – aber mit den Juden wollt ihr euch nicht versöhnen lassen? In großer Gewissheit und Selbstgerechtigkeit geht ihr einfach davon aus, dass Gott sein Volk verstoßen habe, den Bund gekündigt, zur Strafe, weil es den Messias nicht erkannt habe. Aber wie wäret ihr denn dran, wenn tatsächlich menschliches Versagen, menschliche Untreue Gottes Treue aufheben könnte? Und merkt ihr nicht, wie sehr euch eure Trennung von Israel selbst geschadet hat? Was ist denn aus eurer Kirche, über die doch mein Name gerufen ist, geworden ohne die Wurzel Israel? Ihr lauft doch längst ande-

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ren Göttern nach, weil ihr längst nicht mehr aus Zion Weisung holt, gar nicht mehr wisst, was die besonderen Wege und Ziele und Eigenschaften gerade dieses Gottes, des Gottes Abrahams, Isaaks, Jakobs sind. Ohne Israel als Brüder und Schwestern, als Zeugen von Gottes Geschichte und Zukunft, verkommt doch eure Kirche zum leeren Religionsbetrieb, zur Absicherung, verwechselt ihr ständig Gott mit irgendwelchen Schicksalsmächten, Zeitgeistern und modischen Strömungen. Mit welchem Recht redet ihr dann eigentlich von Israels angeblichem Unglauben, Untreue, Ungehorsam? Da es für uns Christen aus den Völkern, den Heiden, allen Anlaß gibt, von den Juden zu lernen, bei ihnen in die Schule zu gehen, möchte ich in dieser Predigt zum Israel-Sonntag auch die Stimme eines heutigen Juden uns hören lassen. Er schreibt: „Was Israels Probleme mit seinem Gott auch sein mögen, wie groß Israels Sünde und Gottes Zorn sein mag, der Streit ist ein Familienstreit zwischen Israel und seinem Gott, seinem Vater. Es ist ein sehr, sehr gefährliches Unterfangen, wenn Fremde sich dazwischenmischen, wenn sie die Mängel des Sohnes hervorheben, um sich an ihnen gütlich zu tun, um eine Theologie aus ihnen zu machen und sich ihretwegen besser zu dünken. Wie schrecklich der Ärger eines Vaters über seinen Sohn auch sein mag, es ist ein Ärger, den er sich leisten kann, denn dahinter steht die Liebe eines Vaters. Wenn andere sich von diesem Ärger stimuliert fühlen, so kommt etwas gänzlich anderes ins Spiel, und der Vater kann nur schockiert sein. Es ist sehr gefährlich, in solche Familienstreitigkeiten verwickelt zu werden. Wer das tut, wird sich den Zorn beider Seiten zuziehen. Ich will darum offen sein. Es ist nicht die Sache der Heiden, auf die Sünden Israels zu sehen. Es ist nicht die Sache der Heiden, Israel zu seiner Sendung zu rufen, sich ihm moralisch überlegen zu fühlen und ihm gegenüber die Rolle der Propheten zu spielen. Es ist die Sache der Heiden, dieses Volk zu lieben, notfalls blind, unerschütterlich, nicht unparteiisch, sondern parteiisch, und den Instinkten dieses Volkes zu vertrau-

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en, das Gott als sein Eigentum erwählt hat. Wenn es nottut, wird es wohl gezüchtigt werden von seinem Vater, der sich nicht zum Narren halten läßt. Aber wehe den Heiden, die zur Rute von Gottes Züchtigung an Israel werden, zum Instrument seines Zornes oder zu befriedigten Zuschauern seines Strafgerichts. Es wäre besser, sie wären nicht geboren worden, als Augenzeugen zu sein bei diesem Streit der Liebenden. Ich habe gesagt, daß es die Sache der Heiden ist, Israel zu lieben. Das ist natürlich falsch. Es kann von den Heiden nicht verlangt werden. Aber es kann verlangt werden von den Christen.“ Amen.

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Predigt über Sacharja 2,12-15 Astrid Fiehland van der Vegt Liebe Gemeinde, na klar. Er ist mal wieder der letzte, der übrig bleibt. Im Fußball ist er eine totale Niete. Kein Wunder, dass keiner scharf darauf ist, ihn in seiner Mannschaft dabei zu haben. Er ist von schmächtiger Gestalt, trägt eine viel zu große Brille im Gesicht und einen scheußlichen Ranzen auf dem Rücken. Den hat ihm seine Großmutter geschenkt… Einfühlsam und zugleich urkomisch erzählt der irische Kinderfilm „Thirty Five Aside“1 von den Leiden des Jungen – Philipp heißt er. Philipp hasst es, zur Schule zu gehen. Wenn am Nachmittag der Unterricht aus ist, beginnt jeden Tag eine wilde Verfolgungsjagd. Mit Gebrüll rennen dann alle Jungen der Klasse hinter Philipp her, kreuz und quer durch die Gassen der Kleinstadt. Seiner Mutter mag er sich nicht anvertrauen, wenn er danach mit zerrissenen Hosen und blauen Flecken nach Hause kommt. Sie hat selbst schon genug Probleme. Der Vater sitzt im Knast. Die Lage scheint aussichtlos. So beschließt Philipp eines Tages, seinem Leben ein Ende zu setzen. Zum Glück misslingt der Versuch. Und dann folgt meine Lieblingsszene in diesem Film: Von heiligem Zorn gepackt erteilt Philipps Mutter den Schülern in seiner Klasse eine unvergessliche Lektion. Dabei landet nicht nur eine Sahnetorte im Gesicht des Rädelsführers. Zum Entsetzen der Kinder rammt sie auch ein scharfes Messer in einen Fußball, um deutlich zu machen, wie weh es tut, wenn sich alle gegen einen Einzelnen verbünden. Ihr couragierter 1

Thirty Five aside oder Große Ranzen machen einsam Clingfilms Production, Dublin.

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Kurzspielfilm Irland 1995,

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Auftritt verfehlt seine Wirkung nicht. Von diesem Tag an gehört Philipp dazu. Der Film endet versöhnlich mit dem Klassiker „You never walk alone!“. Diesen großartigen Film des Iren Damien O‘donnell zeige ich oft meinen Konfirmanden am Beginn ihrer Konfirmandenzeit. Denn natürlich wünsche ich mir auch da, dass alle sich wohlfühlen in der Gruppe und dass keiner ausgegrenzt wird. Selbstverständlich ist das nicht. Nicht nur Erwachsene erleben, was man heute gerne „Mobbing“ nennt. Auch unter Kindern und Jugendlichen kommt Mobbing in unterschiedlicher Abstufung vor: Abfällige Bemerkungen, das Bloßstellen vor der Klasse bis hin zu körperlicher Gewalt und Erpressung ‒ jedes zehnte Kind ist nach einer Umfrage des SPIEGELs davon betroffen. Aus Scham vertrauen sich viele Kinder und Jugendliche niemandem an, denn nicht selten geben sie sich selbst die Schuld daran, dass sie ‚anders‘ sind und deshalb ausgegrenzt werden. Jeder fünfte Selbstmordversuch unter Jugendlichen wird mit Mobbing-Erfahrungen begründet. Die humorvoll-überspitzte Darstellung im Film ist in der Sache also durchaus nah an der Wirklichkeit. Das spüren die Konfirmanden intuitiv. Was muss sich ändern, damit unter uns keiner zum Opfer wird? Im Film kommt die rettende Wende von außen, nämlich in Gestalt der Mutter, die auf sehr originelle Weise den Mitschülern ihres Sohnes die Augen öffnet. Im Predigttext bringt der Prophet Sacharja den von ihren Feinden gejagten und ausgeplünderten Israeliten die erlösende Nachricht: Keine Angst! Ihr seid nicht allein! Ihr habt einen Fürsprecher! Wer euch Schaden zufügt, bekommt es mit Gott zu tun. Und: schadet sich selbst! Wir hören den Predigttext: „Denn so spricht der HERR ‒ um seiner Ehre willen hat er mich gesandt zu den Völkern, die euch ausplündern:

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Wer euch antastet, der tastet seinen ‚Augapfel‘ an.2 Ja, siehe ich schwinge meine Hand wider sie, dass sie zum Plündergut werden für die, deren Knechte sie waren. Und ihr werdet erkennen, dass der HERR der Heerscharen mich gesandt hat.“ Ich kann mir gut vorstellen, wie die Israeliten bei diesen Worten aufhorchen: Ist diesem Propheten zu trauen? Wird sich Gott doch als der Stärkere erweisen? Damals, als der Tempel in Flammen stand und große Teile der Bevölkerung nach Babylon verschleppt wurden, hatte ihr Gottvertrauen einen tiefen Riss bekommen. Der Spott der Sieger traf sie mitten ins Herz: Wo ist nun euer Gott? (Ps 79,10) Wenn es ihn wirklich gibt, warum hilft er euch nicht? Wer mit dem Rücken zur Wand steht, wünscht sich nichts sehnlicher, als dass ihm einer zu Hilfe eilt und ihn aus seiner Ohnmacht befreit! Ich erinnere noch, wie ich selbst mich gefühlt habe, als ich vor Jahren einmal in Bedrängnis kam. Es war auf dem Ölberg in Jerusalem. Plötzlich umzingelte mich eine Gruppe von Jungen und drängte mich gegen die Mauer, die zu beiden Seiten die enge Gasse säumte. Es waren fast noch Kinder, doch mit ihren kleinen Schnappmessern waren sie mir überlegen. Große Schätze, die sie mir hätten rauben können, hatte ich nicht einmal bei mir... Fieberhaft überlegte ich, wie ich mich aus der Umzingelung befreien könnte, da öffnete sich in der gegenüberliegenden Mauer unverhofft eine Tür. Ein alter Araber trat auf die Straße. Er sah mich und verstand sofort. Mit drohender Gebärde schwang er seinen Gehstock in die Luft und schimpfte laut los. Es dauerte keine dreißig Sekunden, da war die ganze Bande auf und davon. Nuschkur Allah! Gott sei Dank!

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Es heißt hier wörtlich „seine Pupille“, die bekanntere Metapher von ‚Gottes Augapfel‘ wird aber für die Wahl des Predigttextes den Ausschlag gegeben haben, so dass es sinnvoll scheint, die Übersetzung hier der Erwartung des Hörers anzupassen.

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Wer euch antastet, der tastet seinen Augapfel an! Jede und jeder von uns kann in Situationen geraten, in denen wir angewiesen sind auf das mutige Einschreiten eines Anderen. Aber geht es hier überhaupt um uns? Ist es legitim, Worte, die Gott zu seinem Volk Israel spricht, einfach zu übertragen auf jeden von uns? Verwischen wir damit nicht den Unterschied zwischen dem einen Volk, das Gott zu seinem Eigentum erwählt hat, und allen anderen Völkern? Diese anderen Völker – so erfahren wir aus unserem Text – haben Israel „ausgeplündert“ und „versklavt“. Es geschieht ihnen also ganz recht, wenn sie nun selbst zum „Plündergut“ ihrer vormaligen Knechte werden sollen – oder nicht? Menschlich nachvollziehbar ist das Bedürfnis nach Vergeltung allemal. Auch weil das jüdische Volk in biblischer Zeit fast durchgängig unter der Vorherrschaft fremder Völker zu leiden hatte. Das spiegeln viele Texte der Hebräischen Bibel wider. Auf lange Sicht allerdings ist nichts damit gewonnen, wenn ungerechte Machtverhältnisse sich lediglich umkehren. Denken wir für einen Moment zurück an Philipp, den Jungen aus dem Film, der von seinen Mitschüler so übel schikaniert wird. Würde es ihn wirklich glücklich machen, wenn er den Spieß umkehren könnte? Oder wenn seine Klassenkameraden – aus Furcht vor seiner energischen Mutter – jetzt vor ihm kuschen würden? Nein! Es würde ihn nicht glücklich machen. Denn in Wirklichkeit sehnt er sich nach etwas anderem: nach Beziehung, nach Fairness und echter Freundschaft! Diese tiefe Sehnsucht kennt auch der Prophet Sacharja. Tatsächlich verheißt er seinen Zuhörern weit Besseres als nur den Rollentausch vom Unterdrückten zum Unterdrücker. Hört, was er im Namen Gottes verkündet: „Juble und freue dich, Tochter Zion, denn siehe, ich komme und werde in dir wohnen. – Spruch des HERRN. Und es werden sich viele Völker anschließen an den HERRN an jenem Tage und mir zum Volk werden. Und ich werde in deiner Mitte wohnen.

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Und du wirst erkennen, dass der HERR mich gesandt hat.“ Sacharja schaut weit in die Zukunft: An jenem Tag werden sich viele Völker anschließen an den HERRN. An jenem Tag werden sie einmal nicht als Feinde gen Jerusalem ziehen, wie es so oft im Lauf der Geschichte geschah. An jenem Tag werden sie in friedlicher Absicht zum Berg Zion kommen – angelockt vom Glanz Gottes, der mitten unter seinem Volk wohnen wird. Es ist ein starkes Bild, das Sacharja seinen Landsleuten (im Exil?) vor Augen malt: ein ganz neues Jerusalem, das keine Mauern und Zäune mehr braucht (V.8), eine offene Stadt, die Raum genug bietet für jede und jeden, der Gottes Nähe sucht. In den Tagen Sacharjas hat diese Vision keinen Anhalt an der Wirklichkeit. Die erste Generation derer, die aus Babylon zurückkehrt, findet die Stadt, nach der sie so verlangt hatte, in erbärmlichem Zustand vor. Der Tempel liegt verwüstet, die Mauern sind eingerissen, die Häuser geplündert. Der Anblick muss eher zum Heulen als Anlass zum Jubeln gewesen sein. Und heute? Heute ist Jerusalem eine wachsende Stadt. Überall werden Wohnungen gebaut. Im Westteil der Stadt kann man über prächtige Boulevards mit edlen Geschäften und schicken Cafés flanieren. Die herunter gekommenen Viertel bekommen Touristen in der Regel ja nicht zu sehen! So wie in vielen unserer Städte zeigt sich auch in Jerusalem ein krasses Wohlstandsgefälle. Auch spürt man bis heute die unsichtbare Mauer, die palästinensische und jüdische Bewohner voneinander trennt. Wer jenseits der ‚Sicherheitsmauer‘ lebt‚ die Jerusalem vom Westjordanland trennt, dem bleibt der Zugang zur Stadt oft ganz verwehrt. Umgekehrt ist es auch Juden mit israelischem Pass verboten, in die Palästinensergebiete zu reisen (Transitstrecken und Siedlerstraßen ausgenommen!). Bis heute wird im Ringen um eine Friedenslösung für Israel und

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seine Nachbarvölker über die Frage, wem Jerusalem gehört, am heftigsten gestritten. Wie lange wird es dauern, bis sich Gottes Verheißungen erfüllen, sodass ganz Jerusalem darüber jubeln und sich freuen kann? Wenn ich Sacharja richtig verstehe, sollen wir nicht passiv abwarten, bis es so weit ist, sondern in froher Erwartung mit dem Jubeln und Singen schon einmal anfangen – nach dem Motto: Noch ist dunkle Nacht, aber wir singen, weil wir wissen, dass der Tag bald kommt! Habt Vertrauen! Gott hält Wort! Um seiner Ehre willen! ‒ so ruft uns der Prophet Sacharja zu. Uns? Ja! Auch uns! Denn hier kommen wir ausdrücklich vor: Wir sind nicht Israel, wir gehören zu denen, die sich „angeschlossen“ haben an den Gott Israels. Wir sind hinzugekommen als Menschen aus vielen Völkern. Aus der Sicht vieler Christen hat sich in der Sendung Jesu etwas von dem erfüllt, was der Prophet Sacharja geschaut hat. Für sie ist Christus das Licht, das in die Welt gekommen ist zu erleuchten die Heiden. Wahrscheinlich können wir mit unseren christlichen Ohren gar nicht anders, als an Jesus zu denken, wenn wir hören: „Tochter Zion, freue dich“. Von Anfang an sind wir als Christen fest verbunden mit dem jüdischen Volk. Auch deshalb kann uns nicht gleichgültig sein, wenn Jüdinnen und Juden bedrängt, beleidigt, bedroht oder gar tätlich angegriffen werden. Egal, wo auf der Welt dies geschieht. Das Wort der Schrift gilt: „Wer Israel antastet, tastet Gottes Augapfel an.“ Am jüdischen Rockzipfel lernen wir aus der Heiligen Schrift aber auch, dass die Verantwortung, die wir Menschen füreinander tragen, unteilbar ist: „Wer ein Menschenleben zerstört, zerstört die ganze Welt. Wer einen Menschen rettet, rettet die ganze Welt.“ (Jerusalemer Talmud 4:0 ). Dieser Grundsatz wird übrigens auch im Koran zitiert (Sure 5:32). In den vergangen Jahren haben wir erlebt, dass an vielen Orten der Welt die Menschenrechte, deren universale Akzeptanz uns beinahe schon

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selbstverständlich schien, mit brutaler Gewalt verletzt wurden. Umso wichtiger ist es, sich der eigenen Werte zu vergewissern und sie mutig zu verteidigen. Die tödlichen Terroranschläge von Paris zu Beginn dieses Jahres haben uns neu das Bewusstsein dafür geschärft, dass dabei jeder Einzelne von uns gefragt ist, mit Leben zu füllen, was unser Grundgesetz in seinem allerersten Artikel uneingeschränkt und klar formuliert: Die Würde des Menschen ist unantastbar. 1,5 Millionen Bürger gingen in Paris nach den Anschlägen auf die Straße. Es war die größte Demonstration, die die Stadt seit Ende des zweiten Weltkriegs gesehen hat. Christen, Juden, Muslime, Menschen ohne Religion – alle bekräftigten an diesem Tag ihren Willen, sich nicht auseinanderdividieren zu lassen. Lassana Bethily, ein muslimischer Migrant aus Mali, wurde in Paris damals wie ein Held gefeiert. Er versteckte sechs jüdische Kunden des überfallenen Supermarktes in einer Kühlkammer und rettete ihnen dadurch das Leben. Auf die Fragen der Reporter antwortete er im Interview später bescheiden: „Es geht nicht um Juden, Christen oder Muslime. Wir sind Brüder. Wir sitzen alle im selben Boot, man muss sich gegenseitig beistehen, um aus so einer Krise herauszukommen.“ Wahrscheinlich – hoffentlich! – wird niemand von uns je in so eine Situation kommen, in der er oder sie sein Leben wagen muss, um andere zu retten. Doch wo es auf uns ankommt, da lasst uns beherzt handeln. Lasst uns die Schwachen schützen – ob in der Schulklasse, in der Familie oder am Arbeitsplatz. Lasst uns wach sein und nicht wegschauen, wo Menschen zu Opfern gemacht werden. Lasst uns kritischer fragen, warum antisemitische und rassistische Parolen immer noch und immer wieder Gehör finden. Lasst uns den ersten Schritt tun und auf Fremde, die mit uns leben, zugehen, sie einladen und kennenlernen. Dann werden aus

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Fremden Nachbarn werden, vielleicht sogar Freunde. Dann wird Gott in unserer Mitte wohnen. Amen. (Diese Predigt wurde zuerst veröffentlicht in: Volker Haarmann; Hanna Lehming; Ursula Rudnick; Axel Töllner [Hrsg.], „Wer euch antastet, der tastet meinen Augapfel an“ Arbeitshilfe zum Israelsonntag 2015. 10. Sonntag nach Trinitatis – 9. August zu Sacharja 2, 12-15, Nürnberg 2015)

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Predigt über Matthäus 5,17-20 Matthias Loerbroks Liebe Gemeinde, würde man eine Liste machen von Bibelworten, die am auffälligsten erfolglos, wirkungslos, folgenlos blieben, der Beginn unseres Predigttextes hätte gute Chancen, einen der vorderen Plätze zu belegen: Meint nicht, ich sei gekommen, das Gesetz und die Propheten aufzulösen. Auch einige Sätze des Apostels Paulus würden auf einer solchen Liste weit oben stehen. In seinem Römerbrief schreibt er: Schaffen wir das Gesetz ab durch den Glauben? Das sei ferne! Sondern: wir richten das Gesetz auf (3,31), und das klingt ganz ähnlich wie die Worte Jesu aus der Bergpredigt. Und etwas später im selben Brief: Hat denn Gott sein Volk verstoßen? Das sei ferne! (11,1). Denn genau das, was hier zurückgewiesen wird, ist ja ganz überwiegend die Meinung der Christen, besonders der evangelischen: dass Jesus gekommen ist, Gesetz und Propheten, also das christlich so genannte Alte Testament, aufzulösen, und natürlich auch, dass Paulus das Gesetz durch den Glauben abschafft, von der Verstoßung des jüdischen Volkes nicht zu reden. Und diese Meinung gab es offenbar schon früh – schon in der Zeit, in der das Neue Testament entstand, musste sie dementiert werden. Ein paar Kapitel später steht ein im Aufbau ganz ähnliches, freilich etwas unheimliches JesusWort: Meint nicht, dass ich gekommen bin, Frieden auf die Erde zu bringen. Ich bin nicht gekommen, Frieden zu bringen, sondern das Schwert (Mt 10,34). Das Gemeinsame der beiden Sätze ist: Macht es euch nicht zu einfach mit Jesus; legt ihn euch nicht zurecht. Da sind Meinungen über ihn im Umlauf, die sich zu verfestigen drohen, denen aber aus- und nachdrücklich widersprochen werden muss. Immer wieder wird die Sendung Jesu in den Evangelien in solchen „Ich bin gekommen“-Sätzen programmatisch zugespitzt: „Ich bin nicht gekommen, Gerechte zur Umkehr zu rufen, sondern Sünder“ (Mt 9,13);

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„Des Menschen Sohn ist gekommen, das Verlorene zu suchen und zu befreien“ (Mt 18,11); „Des Menschen Sohn ist nicht gekommen, sich dienen zu lassen, sondern zu dienen und sein Leben zu geben als Lösegeld für viele“ (Mt 20,28); „Feuer auf Erden zu werfen, bin ich gekommen, und wie sehr wünsche ich, es wäre schon entfacht“ (Lk 12,49). „Wir könnten aus den Worten vom gekommenen Jesus“, so sagt es der Berliner Theologe Friedrich-Wilhelm Marquardt, „eine ganze Lehre vom Werk Christi entwickeln, und noch dazu eine anstößig-militante und revolutionäre mit Bejahung von Feuer und Schwert, – der Verlorenen, – mit Wegstoßen der Gerechten, – Nein zum faulen Frieden, – mit Konzentration auf Lebenshingabe.“ Hier ist das Ich-bin-gekommen-Wort die Überschrift, das Vorwort, der Interpretationsrahmen des folgenden Abschnitts der Bergpredigt, in dem Jesus an einigen Beispielen sein aktuelles Verständnis der Thora zuspitzt, ein Abschnitt, der fälschlich, aber verdächtig hartnäckig „die Antithesen“ genannt wird – auch da hat die Überschrift nicht recht geholfen. Ich bin nicht gekommen, Thora und Propheten aufzulösen – das ist aber wohl auch Überschrift der ganzen Bergpredigt und – wie die anderen Ich-bin gekommen-Worte – eine Zusammenfassung der Sendung Jesu überhaupt, denn es findet sich im ganzen Neuen Testament kein Hinweis, Jesus sei gekommen, das Alte Testament, also die damalige Bibel, abzuschaffen oder zu modernisieren oder zu humanisieren oder zu universalisieren. Im Gegenteil: Die ersten drei Evangelien sind sich darin einig, dass Jesus gerade im Gespräch mit Mose und Elia – also mit dem Gesetz und den Propheten – hell wie das Licht leuchtet und von einer himmlischen Stimme bestätigt wird. Nicht um die Hebräische Bibel abzuschaffen, sagt Jesus, ist er gekommen, sondern um sie zu erfüllen. Das bedeutet zunächst schlicht, das Gebotene zu tun, den von den Propheten gewiesenen Weg zu gehen. Doch es gehört zu den auffälligsten Besonderheiten des Matthäusevangeliums, dass häufiger als in anderen Büchern biblische Zitate eingeleitet werden mit den Worten: „auf dass erfüllt werde“. Beim Kindermord in

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Bethlehem und beim Ende des Judas aber verzichtet Matthäus auf den Finalsatz, stellt nur fest: „da wurde erfüllt“ (2,17; 27,9), und schon diese Stellen zeigen, dass wir die Erfüllungszitate missverstehen, wenn wir meinen, der Evangelist stelle hier eine Art Checkliste auf, die er abhakt, um so mit der Schrift zu beweisen, dass Jesus der Messias ist – eine ohnehin etwas schlichte Vorstellung. Was meint Matthäus mit „erfüllen“? Bei der Taufe Jesu will Johannes ihm zunächst die Taufe verweigern – wer, wenn nicht Jesus, gehört zu den Gerechten, die der Umkehr nicht bedürfen? Doch Jesus insistiert: Lass es zu, sofort, denn so, auf diese Weise, gebührt es uns, alle Gerechtigkeit zu erfüllen (3,15). Gerechtigkeit erfüllen bedeutet hier die Solidarisierung des Gerechten mit den Sündern. Und diese Solidarisierung wird sogleich in der Versuchungsgeschichte mit ihren deutlichen Parallelen zur Kreuzigung – wenn du Gottes Sohn bist, dann – illustriert: Jesus betrachtet seine ihm gerade in der Taufe zugesprochene Gottessohnschaft nicht als Privileg, sondern als Teilnahme an der Situation verlorener Menschen. Das ist ein Schlüssel für das matthäische Reden vom Erfüllen überhaupt: Erfüllen meint Füllen, neu Füllen, nicht mit neuem Inhalt, sondern mit dieser, mit seiner Person. Dazu passt der Rahmen, den Matthäus seinem Buch gegeben hat: „Man wird seinen Namen rufen: Immanuel, das ist verdolmetscht: Gott mit uns“, zitiert und übersetzt Matthäus zu Beginn (1,23) Jesaja 7,14; und am Schluss: „ich bin mit euch alle Tage bis zur Vollendung der Weltzeit“ (28,20) – das spielt deutlich an auf die Deutung des Namens in Ex 3,14. Im Kommen des Menschen Jesus kommt der Gott Israels seinem Volk und so auch den Völkern zu Hilfe, füllt Thora und Propheten mit diesem Menschen und seinem Kommen. Bis Himmel und Erde dahingehen, wird kein Jota oder Häkchen am Gesetz dahingehen. Das erinnert an die Verheißung Jesu, Mt 24,35: Himmel und Erde werden dahingehen, meine Worte aber werden nicht dahingehen, und zu seinen Worten gehören Zuspruch und Anspruch. Der Satz ist darum keine Einladung zur Spekulation darüber, ob es in der neuen Welt Gottes der Thora und der Propheten vielleicht nicht mehr

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bedarf, sondern dazu, im Tun des Gebotenen darauf zu vertrauen, dass der Gebietende verlässlich ist. Der Hinweis auf Jota und Häkchen ist zudem eine Ermunterung dazu, es mit der Thora genau zu nehmen, sie wörtlich, ja buchstäblich zu nehmen. Mit dem guten Satz des Paulus, dass der Buchstabe tötet, der Geist lebendig macht (2. Kor 3,6), ist ja viel Missbrauch getrieben worden, er wurde meist und interessiert als Lizenz zum ‚Es nicht so genau Nehmen‘ verstanden: Da wir ja als Geistbegabte den Geist der Gebote erfassen und vom Geist getrieben auch praktizieren, können wir die Buchstaben fahren lassen, was dem Schriftgelehrten Paulus nicht gerecht wird, eher an das geschickte Vorgehen der Schlange erinnert mit ihrer Suggestivfrage: Sollte Gott gesagt haben? (Gen 3,1). Das heutige Jesuswort kann uns von der Schizophrenie befreien, uns einerseits mit der Überlegenheit der Jesusgebote gegenüber dem Wortlaut der Thora zu brüsten – Überbietung! Feindes-, nicht bloß Nächstenliebe! –, andererseits uns mithilfe einer Mischung aus Paulus und Luther von der Befolgung dieser Gebote für dispensiert zu halten. Und nun ist das mit dem Jota und dem Häkchen ja keine Aufforderung zu enger und ängstlicher Pedanterie, sondern eine Einladung dazu, sich der Bitte des Psalmisten anzuschließen: Öffne mir die Augen, dass ich sehe die Wunder an deinem Gesetz (Psalm 119,18). Was für Jota und Häkchen gilt, gilt erst recht für jedes kleinste oder geringste Gebot. Hinzu kommt hier die ironische Entsprechung zwischen dem Lösen von geringen Geboten und dem selbst als gering gelten. Auch wer im Himmelreich als gering gilt, ist immerhin drin, könnte man erleichtert sagen, da Jesus ja hier seinen Jüngern ankündigt, sie werden nicht hineinkommen, wenn ihre Gerechtigkeit nicht die der Schriftgelehrten übertrifft. Aber das ist 1. nicht sicher, da bekanntlich auch über Abwesende geringschätzig geredet werden kann, und 2. ist es nicht ratsam, es darauf ankommen zu lassen. Auffällig ist, dass Jesus hier ausgerechnet Schriftgelehrte und Pharisäer, mit denen er sonst oft Streit hat, uns, seinen Jüngerinnen und Jüngern, als Vorbild nennt. Eine andere große Rede, in der Jesus Schriftgelehrten

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und Pharisäern heftige Vorwürfe macht, beginnt mit den Worten: Was sie euch sagen, das tut und haltet, aber tut nicht ihre Taten. Wer also das Besondere an Jesus in seiner Lehre sucht, was ja immer wieder versucht wird, wird nicht fündig werden. Zumal ja Matthäus und der von ihm gezeichnete Jesus selbst offenkundig Schriftgelehrte sind. Ein Schriftgelehrter, der ein Jünger des Reichs der Himmel geworden ist, gleicht einem Hausherrn, der aus seinem Schatz Neues und Altes hervorholt (13,52) – das ist auch ein kleines Selbstportrait des Verfassers. Am Ende des Matthäusevangeliums trifft der auferstandene Jesus seine Jünger wieder auf einem Berg. Da sendet er sie nicht zum jüdischen Volk, sondern zu den Völkern und trägt ihnen auf, sie zu lehren, „alles zu halten, was ich euch geboten habe“ (28,20). Die Bergpredigt ist demnach eine Thora-Zuspitzung und -Aktualisierung, die auch uns Jesusjüngern aus den Völkern gilt. Und im Blick auf das Gebotene gilt auch uns die Verheißung Jesu, dass es sich dabei keineswegs um eine weitere Last für ohnehin Abgemühte und Belastete handelt, sondern uns gerade aufatmen lässt: Nehmt auf euch mein Joch und lernt von mir, denn ich bin sanft und von Herzen niedrig, und ihr werdet Aufatmen finden für eure Seele. Denn mein Joch ist angenehm und meine Last ist leicht (11,28ff.). Es ist ja inzwischen ein kaum noch praktisch überprüfter Glaubenssatz geworden, dass die Weisungen der Thora wie die Gebote Jesu prinzipiell unerfüllbar sind, sie uns in etwas missgelaunter und hämischer Pädagogik nur dazu gegeben sind, uns zu zeigen, dass wir sie nicht tun können. Es ist Zeit, es mit ihnen hier und da doch einfach mal zu versuchen. Vielleicht entdecken auch wir dann so etwas wie Freude an der Thora. Zu betonen, dass Jesus keineswegs dazu gekommen ist, das sog. Alte Testament abzuschaffen oder zu korrigieren, zu humanisieren, zu modernisieren, zu überbieten usw., sondern als Thoratreuer Jude die Gebote befolgt und gelehrt hat, das klingt etwas bemüht und beflissen und darum langweilig, zumal diese Erkenntnis nun nicht mehr ganz neu ist. Evangelium, frohe Botschaft aber ist unser Text dadurch, dass er uns dankbar macht – dankbar dafür, dass jedenfalls unsere Generation die

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froh und frei machende Botschaft nicht mehr zwanghaft im Gegensatz und in Abgrenzung zur Hebräischen Bibel hören und lehren, darum Jesu Thoraauslegung nicht mehr als Antithesen verstehen und überhaupt künstlich und krampfhaft Lehrunterschiede zwischen Jesus und seinen Zeitgenossen suchen und behaupten muss. Der Text regt uns dazu an, Gott zu danken für die jüdischen und christlichen Lehrer und Lehrerinnen, die uns dafür die Augen geöffnet haben und damit auch für die Wunder an der Thora – eine Ermutigung dazu, mit Juden und Jüdinnen gemeinsam Thora zu studieren, einschließlich ihrer Häkchen, und zwar nicht nur die schriftliche, sondern auch die mündliche: den Talmud. Zudem werden wir dazu angeregt, nicht nur in der Existenz Israels ein Zeichen der Treue Gottes zu erkennen, der sein Volk neben der Kirche und gegen sie aufrechterhält, sondern im jüdischen Nein zum Evangelium und zur Kirche, das schon durch diese bloße Existenz, aber auch in expliziter Kritik ausgedrückt wird, die Stimme Jesu zu hören, die Stimme des Herrn der Kirche als Kirchenkritiker von außen, der in Gestalt seines Volkes zur Kirche sagt: Nicht jeder, der zu mir „Herr, Herr“ sagt, kommt in das Reich der Himmel, sondern wer den Willen meines Vaters im Himmel tut (Mt 7,21); der darum Menschen, die seine Worte zwar hören, aber nicht tun, törichte Menschen nennt, die auf Sand gebaut haben. Schließlich: Wir haben Grund, Gott zu danken und ihn zu preisen dafür, dass Jesus gekommen ist – um Sünder zur Umkehr zu rufen; Verlorene zu suchen und zu befreien; sein Leben als Lösegeld für die Vielen (= die Völker) zu geben; freilich auch, das Schwert zu bringen, Feuer anzuzünden, und in und mit alledem die Gerechtigkeit, die Thora und die Propheten zu erfüllen. „Er ist gekommen“, heißt es im Epheserbrief (2,17), „und hat im Evangelium Frieden verkündet euch, den Fernen (also uns), und Friede den Nahen (Israel)“. Amen.

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Predigt über Markus 12,28-34 Dorothea Pape Liebe Schwestern und Brüder, Gottes Güte, seine Freundlichkeit, sein Heiliger Geist sei mit uns allen. Haben Sie schon gehört? Bei diesem Satz schärfen sich schnell unsere Ohren. Denn meistens ist es interessant, was jetzt kommt... Eine Neuigkeit, ein bisschen Tratsch oder vielleicht auch etwas, was für die Stadt, das Dorf, das Wohngebiet – letztendlich für einen selbst wichtig ist. Haben Sie schon gehört? Ohne unser Gehör wären wir arm. Wir könnten dann auch nicht sprechen. Und wir könnten nur mit großen Schwierigkeiten miteinander „sprechen“. Wir könnten keine Musik hören und genießen, wir könnten nicht singen, keine Vögel zwitschern hören… – ganz abgesehen von den vielen Neuigkeiten. Wir könnten keine Gespräche führen, keine zärtlichen Worte hören, keine Gedichte, keine Neuigkeiten und würden in einer ganz anderen Welt leben. Aber wir hören…. Wir hören vieles. So manches ist dabei, was wir nur an uns vorbeirauschen lassen, aber hin und wieder ist auch etwas dabei, wo wir mit unserem ganzen Ich, auch mit unserem Herzen hören… Es ist oft ein ruhiges, ergriffenes Hören, wenn unsere Gefühle dabei sind.

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Jesus hat so geredet, dass es vielen Menschen wirklich etwas bedeutet hat und sie gut zuhörten. Wer ihm zuhörte, dem konnte es so gehen, dass er oder sie ergriffen war, von dem, was da zu hören war. Bei Jesus geht es um die ureigensten Sachen – um einen selbst. Sicher hören wir auch schon in der Bibel, dass es Menschen gegeben hat, die nicht hörten, nicht hören wollten, nicht hören konnten… Aber alle Worte in der Bibel, die von Jesus und all die anderen haben wir bis heute, um für uns etwas zu hören. Etwas, das uns bewegt, das uns etwas gibt, vielleicht etwas verändert…. Das uns vielleicht bestärkt, vielleicht Mut macht, befreit, oder einfach unseren Horizont erweitert. In der Beispielgeschichte aus Markus 12 wird uns nun folgendes erzählt. Da ist einer, der schon längere Zeit zugehört hat. Ich lese einmal den ersten Vers: Und es trat zu Jesus einer von den Schriftgelehrten, der ihnen zugehört hatte, wie sie miteinander stritten. Und als er sah, dass Jesus ihnen gut geantwortet hatte, fragte er ihn: Welches ist das höchste Gebot von allen? Was würdet Ihr / was würden Sie darauf antworten? Mit all der Lebenserfahrung, mit all den menschlichen Enttäuschungen auf dem Buckel. Mit solchen Streitereien, wie dieser Fragende sie mit anhören musste. Mit all den Aggressionen, negativen Gefühlen – das war ja damals nicht anders als heute… Vielleicht denkt Ihr / denken Sie aber auch bei dieser Frage an das eigene, nicht unerhebliche Wissen, dass Menschen auch ganz wunderbar und stark und sehr menschlich sein können? Was ist das höchste Gebot? Was wünscht sich Gott am meisten von uns? Von Dir, von mir, von uns allen?

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Was ist das Wichtigste im Leben, auf das man achtgeben sollte, das man auf jeden Fall als Maxime ansehen sollte? Als ein Gebot, das unter Menschen unbedingt wirksam sein sollte… Jesus und der Schriftgelehrte sind sich einig – wie sonst selten –: es ist die Liebe. Die Liebe – nicht nur die zu anderen Menschen, die sowieso zu einem gehören und einem nahe sind – deshalb dieses alte Wort: mein Nächster – sondern auch die Liebe, die Beziehung zu Gott. Natürlich haben sowohl der Schriftgelehrte als auch Jesus gut aufgepasst im Schulunterricht, in der Synagoge. In ihrer jüdischen Kultur ist es normal, lesen und schreiben zu lernen – und die besonderen Weisungen und Gebote parat zu haben. Sie haben das Gleiche von klein auf gelernt: „Das höchste Gebot ist das: ‚Höre, Israel, der Herr, unser Gott, ist der Herr allein, und du sollst den Herrn, deinen Gott, lieben von ganzem Herzen, von ganzer Seele, von ganzem Gemüt und mit all deiner Kraft‘. Das andre ist dies: ‚Du sollst deinen Nächsten lieben wie dich selbst‘. Es ist kein anderes Gebot größer als diese.“ Beides steht so im Alten Testament. Beides lernen jüdische Kinder bis heute von klein auf als wichtigstes Gebot. Beides leben wir durch Jesus Christus im Christentum. Für Jesus, aber zum Glück auch für den Schriftgelehrten, ist die Antwort also die: So wie Du mit anderen umgehst, und mit dir selbst und mit Gott – das ist das wichtigste. Dafür gibt es ein Wort, das zwar auch viele, viele Facetten hat und in ganz verschiedenartiger Weise verstanden werden kann, aber das auch jede und jeder sofort versteht: Liebe. Geh liebevoll mit Gott, mit Dir und mit anderen um! Die Liebe ist das wichtigste im Leben. Wenn sie fehlt, dann ist alles andere nicht mehr wirklich etwas wert.

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Gott ist für uns Gott. Einzig und allein. Gott ist Gott. So liebe denn Gott mit Herz und Verstand, mit jedem Atemzug, mit aller deiner Kraft. Und: liebe deinen Nächsten wie du dich selbst liebst. Jesus verbindet das Urbekenntnis Israels, das Sch‘ma Jisroel – auf Deutsch: Höre Israel – mit dem Gebot der Nächstenliebe und indirekt auch der Liebe zu sich selbst. Gottesliebe und Liebe zum Menschen gehören zusammen. Erst im Gegenüber, im gegenseitigen Dialog, im gegenseitigen Erkennen, Akzeptieren, Annehmen und Lieben – in dieser Beziehung – passiert das, was Leben ermöglicht. Erfülltes, gelingendes, glückliches Leben – in der Gemeinschaft mit anderen und mit Gott. Sich gegenseitig anzuschauen, aufeinander zu achten, aufeinander zu hören, miteinander zu leben, ist in unserem Leben miteinander ganz wichtig. Nur so erkennen wir, wer wir sind. Nur im Gespräch, im Dialog miteinander kann ein Mensch sich selbst, sein Ich wirklich erkennen. Die Stärken und die Schwächen, das Schöne und das Hässliche, den Mut und die Angst, die Feigheit und die Stärke usw. Nur so sehen wir, wer wir sind. Martin Buber sagt: „Der Mensch wird am Du zum Ich.“ Ein Mensch kann nur echt Mensch sein, wenn er oder sie im Gegenüber und in der Verbundenheit zu anderen Menschen lebt – aber vor allem auch zu Gott, der unser Innerstes sieht und uns nahe sein möchte. Gott hat den Menschen als Gegenüber geschaffen – als Mann und Frau. Er hat den Menschen in einen lebendigen Dialog hinein geschaffen, der wichtig ist, um ein Mensch zu sein und auch zu bleiben.

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In der Beispielgeschichte sehen wir nicht nur dem fragenden Schriftgelehrten, sondern auch Jesus ins Herz. Und dieses Herz ist christlich und jüdisch – beides zu 100 Prozent. Wir hören und erleben, dass nicht wie sonst große Dissonanzen und Missverständnisse und Streitereien wie noch kurz vorher das Verhältnis bestimmen, sondern Einigkeit und Verständnis. Liebe Gott und den Menschen, der dir nahe ist, nahe kommt, denn er oder sie ist wie Du. Er oder sie ist Dir gleich mit seinen Gefühlen und seiner Not, mit seiner Freude und seiner Hoffnung, seiner Güte und seiner Angst, seinem Lebensmut und seiner Verzweiflung. Liebe Gott und den Menschen neben dir. Manchmal ist es schwer, zu hören, immer dran zu bleiben, zu verstehen, im Gleichklang zu bleiben. Aber wenn die Stürme kommen, dann zeigt sich, was hält und Bestand hat. Auf jeden Fall die Liebe. Wer auf Gott hört, braucht dazu Ruhe – Stille. Gott spricht in der Stille mit uns. Und unser Geist und unser Herz öffnen sich ganz weit…Und nicht nur das… Er hört auch uns. Mit all unseren Fragen, unseren Sorgen, unseren tiefen Ängsten und unseren Hoffnungen. Am meisten aber hört er auf unsere Liebe. Die Liebe zu Gott und zu anderen Menschen, die Liebe zum Leben. Haben Sie schon gehört? Heute habe ich gehört, dass Jesu Worte uns ermuntern, auf Gott und aufeinander zu hören und mit den Augen des Herzens zu schauen. Amen.

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Predigt über Markus 12,28-34 Ursula Rudnick Liebe Gemeinde, im heutigen Predigttext geht es um die Frage: Was ist zu tun? Die Evangelien überliefern ein Gespräch zwischen Jesus und einem Schriftgelehrten, einem, der sich in der Tradition und mit den Geboten auskennt. Ein Gespräch unter Fachleuten. Es geht um die Frage nach dem wichtigsten Gebot, dem unverzichtbaren Kern. Im Judentum gibt es viele Gebote. Manche von ihnen beziehen sich auf ethische Fragen, wie das Gebot, Witwen und Waisen zu unterstützen. Manche sind explizit religiöse Gebote, wie die Weisung, das tägliche Gebet zu sprechen. Manche Gebote beziehen sich auf das Land, so z. B. es in einem bestimmten Rhythmus ruhen zu lassen oder auf eine bestimmte Art zu ernten. Andere Gebote der jüdischen Tradition beziehen sich auf den Tempel und die täglichen Opfer. Es gibt Gebote für Männer, wie z. B. die Weisung, Kinder zu zeugen und sich Schaufäden an die Kleidung zu machen; es gibt Gebote für Frauen, z. B. am Freitagabend zu Beginn des Sabbats die Kerzen anzuzünden. Die Gebote der jüdischen Tradition sind zahlreich und sie umfassen alle Aspekte menschlichen Lebens. In Anbetracht ihrer Vielzahl taucht in den Diskussionen der Rabbinen die Frage auf: Welches sind die wichtigsten Gebote? Was ist unbedingt zu tun? Die Antwort Jesu lautet: Das wichtigste Gebot ist das: Höre Israel, der Herr, unser Gott, ist Herr allein und du sollst den Herrn, deinen Gott, lieben mit ganzem Herzen, mit ganzer Seele, mit all deinem Verstand und mit all deiner Kraft. Das andere ist dies: Du sollst deinen Nächsten lieben wie dich selbst. Kein anderes Gebot ist wichtiger als diese beiden.

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Als erstes benennt Jesus den Text der Bibel, der sich zu dem jüdischen Gebet, ja man könnte sogar sagen, zum jüdischen Bekenntnis entwickelt hat, das Höre Israel. Zu dem Gebet gehören noch zwei weitere Sätze: „Und diese Worte, die ich dir heute gebiete, sollst du dir zu Herzen nehmen und sollst sie deinen Kindern einschärfen und davon reden, wenn du in deinem Haus sitzt oder unterwegs bist, wenn du dich niederlegst oder aufstehst. Und du sollst sie binden zum Zeichen auf deine Hand, und sie sollen ein Merkzeichen sein zwischen deinen Augen und du sollst sie schreiben auf die Pfosten deines Hauses und an die Tore.“ Dieses Gebet wird auch heute in jedem jüdischen Gottesdienst gesprochen. Es wird den Kindern beigebracht. Es ist das Gebet, das auf dem Sterbebett gesprochen wird. Die Bedeutung dieses Textes möchte ich mit einer Legende aus der Antike und einer Erinnerung aus dem 20. Jahrhundert illustrieren. Die Legende wird über Rabbi Akiba aus dem 2. Jahrhundert berichtet. Rabbi Akiba war von den Römern zum Tode verurteilt worden, weil er verbotenerweise jüdische Tradition an seine Schüler weitergegeben hatte. Er wurde auf den Richtplatz geführt, mit eisernen Kämmen gefoltert. Und als er sein Leben aushauchte, sprach er diesen Satz: Schema Israel, adonai elohenu, adonai echad. „Höre Israel, der Herr, unser Gott, ist Herr allein.“ Und er verschied mit dem letzten Wort. Ein Märtyrer, der im Angesicht der Feinde, am Bekennen seines Gottes festhält und dies mit den Worten des Höre Israel tut. Und jetzt ein ganz anderes Beispiel aus dem 20. Jahrhundert. Gerschom Scholem, der große Wissenschaftler der jüdischen Mystik, wurde zu Beginn des 20. Jahrhunderts in Berlin geboren und wuchs in einem liberal-säkularen Elternhaus auf. Als junger Mann entdeckt Scholem die religiöse Tradition des Judentums und beginnt, Hebräisch zu lernen. Eines Tages spricht ihm seine Mutter, für die Religion keine Bedeutung hatte, einen hebräischen Text vor. Es ist das „Höre Israel...“. Diesen Text kennt sie, auch wenn sie ihn nicht übersetzten kann. Hier ist das

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„Höre Israel“ das, was noch da ist, wenn jemand sonst alles an Religion vergessen hat. Schema Israel, adonai elohenu, adonai echad. „Höre Israel, der Herr, unser Gott, ist Herr allein.“ Gott ist Herr: ich höre diesen Satz als eine Erinnerung und als eine Vergegenwärtigung. Er ist eine Erinnerung – oder besser: Vergegenwärtigung – daran, dass Gott der Schöpfer der Welt ist, die Israeliten aus Ägypten befreit und ihnen die Thora geschenkt hat. Gott ist Herr, kann auch als Aufforderung verstanden werden, nicht anderen Göttern anzuhängen. Martin Luther sagt: Daran, woran du dein Herz hängst, das ist dein Gott. Dieser Gott – oder besser: dieser Götze – kann viele Gesichter haben: Es können Gegenstände sein, ein Auto oder ein Computer, es können auch bestimmte Eigenschaften sein: Klug oder cool sein zu wollen, es kann das Verfolgen von Zielen sein, Reichtum nachjagen oder dem großen Erfolg. Der vielleicht größte Götze wird uns täglich von der Werbung gepredigt: Einkaufen und Konsumieren machten glücklich, wird uns auf vielfältige Weise immer wieder neu eingeprägt. „I shop, therefore I am.“ – „Ich kaufe, also bin ich.“ Die moderne Selbstvergewisserung des Individuums geschieht im Einkaufen und im Konsumieren. Mehr oder weniger haben wir alle an ihr teil. Aber der Satz ,Höre Israel, der Herr, unser Gott, ist Herr allein‘ erinnert daran, dass es anderes gibt als Geld zu verdienen und Geld auszugeben. Nämlich ein Leben zu führen, in dem ich mich meinem Nächsten, der sozialen Gemeinschaft und Gott gegenüber verantwortlich weiß. Der Satz „Höre Israel, der Herr, unser Gott, ist Herr allein“ ist für mich auch ein Satz von Hoffnung, in dem der Wunsch verborgen ist, dass Gott der Herr der Welt werde: nicht GmbHs mit dem Ziel, die Rendite zu vergrößern, sollen die Herrschaft über die Welt ausüben, sondern Gott möge der Herr dieser Welt sein. Nicht als ein absoluter Herrscher, wie

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der Sonnenkönig Louis XIV., sondern durch Menschen, die diesen Gott „lieben mit ganzem Herzen, mit ganzer Seele, mit all deinem Verstand und mit all deiner Kraft“, wie es im zweiten Teil des Höre Israel heißt. Gott wünscht sich eine Beziehung zu den Menschen, die den ganzen Menschen umfasst: mit allen Trieben und Instinkten, mit dem Verstand, mit dem Herzen und mit allen Eigenschaften, Talenten und Besitztümern, über die ein Mensch verfügt. Dieser Satz kann als ein unendlicher Anspruch gehört werden, vor dem Menschen nur versagen können. Aber so muss er nicht verstanden werden. Er kann auch als befreiend gehört werden: in meiner Beziehung zu Gott, in meinem Mich-Einsetzen für Gott mit allem, was und wer ich bin, brauche ich nichts von meiner Person abzuspalten. Auch nicht jene Seiten, die ich an mir für negativ halte. Faulheit, Neid, Eitelkeit. Dies ist die Herausforderung: auch mit ihnen Gott zu dienen. Das Gebot Gott mit dem ganzen Mensch-Sein zu lieben, verknüpft Jesus mit einem anderen zentralen Gebot der jüdischen Tradition: „Liebe deinen Nächsten wie dich selbst.“ Der jüdische Religionsphilosoph und Übersetzer der Bibel Martin Buber hat dieses Gebot so übersetzt: „Liebe deinen Nächsten, denn er ist wie du.“ Frei übersetzt kann diese Aufforderung lauten: sieh in dem Menschen, der dir begegnet, ein Bild Gottes und respektiere ihn. Wer immer dir begegnet, behandele diesen Menschen mit Respekt und Achtung. Sieh in ihm oder ihr nicht nur eine Arbeitskraft, einen Widerstand, ein Störfaktor, ein Ärgernis. Sieh in Deinem Gegenüber ein einzigartiges und unverwechselbares Bild Gottes. Und: Behandle keinen Menschen als ein Mittel zum Zweck. Lass den Menschen, der vor Dir steht, den wichtigsten auf der Welt sein. Die Antwort, die Jesus auf die Frage seines Kollegen gibt, bindet den Menschen ein in eine Beziehung zu Gott und zu seinen Mitmenschen.

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Sie lenkt den Blick weg von der eigenen Person, hin auf Gott und hin auf den oder diejenige, die meine Nächste ist. Das Bild, das an dieser Stelle von Jesus und seinem jüdischen Gesprächspartner gezeichnet wird, sprengt ein Klischee: die Vorstellung, es habe zwischen Jesus und seinen jüdischen Zeitgenossen einen tiefen, unüberbrückbaren Gegensatz gegeben. Hier besteht kein Gegensatz, sondern es herrscht Übereinstimmung zwischen Jesus und seinem Gegenüber. Der Antwort Jesu stimmt der Schriftgelehrte zu: „Meister, du hast wahrhaftig Recht.“ Er wiederholt die Aussage Jesu zustimmend und führt sie fort: „Gott (er) ist Herr allein, und es gibt keinen andern außer ihm; und ihn lieben mit ganzem Herzen, mit aller Einsicht und mit aller Kraft, und seinen Nächsten lieben wie sich selbst, das ist mehr als alle Brandopfer und Schlachtopfer.“ Der Schriftgelehrte formuliert hier eine Einsicht, die die Propheten Amos und Jesaja ihren Zeitgenossen entgegen hielten: Gottesdienst ist nur dann Gott wohlgefällig, wenn das Leben ihm entspricht. Jesus und sein Kollege sind sich einig. Diese Gebote sind ein Kompass für das Leben – damals wie heute. Heute ist Israelsonntag und deshalb will ich neben der Auslegung des Evangeliums auch einen Blick auf das Verhältnis von Kirche und Judentum in der Gegenwart werfen. Die Kirchen haben in den letzten 50 Jahren viel getan, um die christliche Theologie und den Glauben zu erneuern, Antijüdisches aus der christlichen Theologie, dem Gottesdienst und dem Religionsunterricht auszuscheiden und die Beziehungen zu den jüdischen Gemeinden zu verbessern. Dies spiegelt sich in den Studien ‚Christen und Juden 1-3‘ der EKD von 1975 bis 2001. Die Synoden der einzelnen Landeskirchen verabschiedeten Erklärungen: die hannoversche Synodalerklärung wurde 1995 verabschiedet, und die Erkenntnisse wurden 2013 Teil der Kirchenverfassung. (Am Büchertisch gibt es hierzu eine Broschüre.)

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In Niedersachsen gibt es die Gesellschaften für christlich-jüdische Zusammenarbeit, (Hanna Kreisel-Liebermann ist die Vorsitzende der hannoverschen Gesellschaft.) Es gibt den Verein Begegnung – Christen und Juden. Niedersachsen: das aktuelle Jahresprogramm finden Sie auf dem Büchertisch. Es gibt vielfältige Initiativen und Projekte, wie z.B. die Internationale Jüdisch-Christliche Bibelwoche in Ohrbeck bei Osnabrück. Es hat sich in den letzten Jahrzehnten viel getan. Jedoch: Die Erneuerung von Theologie und kirchlicher Praxis ist keinesfalls abgeschlossen. Der Antijudaismus ist so tief in der christlichen Religion und Kultur verwurzelt, dass es mehr als eine Generation braucht, um ihn auszuscheiden. Und: Was vor wenigen Jahren nicht hinterfragbar schien, wird hinterfragt. Das Recht auf Beschneidung von Knaben, so dass sie Teil des Bundes zwischen Gott und Israel werden. Das Recht, sich koscher ernähren zu können, und das Recht, sichtbar als Juden in unserer Gesellschaft ohne Angst auf Übergriffe leben zu können. In der Spiegel-Ausgabe vom 21. Juli werden aktuelle Erfahrungen von Jüdinnen und Juden mit Antisemitismus beschrieben und wie dies konkret Einfluss auf das Leben hat. Besonders berührt hat mich, dass viele Kinder in den Schulen nicht sagen, dass sie jüdisch sind, aus Furcht davor beschimpft und gemobbt zu werden. Zunehmend höre ich von Jüdinnen und Juden: „Wir werden nicht geschätzt, wir werden nicht respektiert, wir sind bedroht.“ Dies gilt es wahrzunehmen. „Wir werden nicht geschätzt, wir werden nicht respektiert, wir sind bedroht.“ Was braucht es? Ein hörendes Herz. Empathie und Solidarität, um zu zeigen: Ihr seid nicht allein. Wir stehen an Eurer Seite. Kirche und jüdische Gemeinschaft, das ist auch – aber nicht nur ein Kapitel im Lehrbuch der Dogmatik. Es ist eine Beziehung, die zu leben ist.

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Immer wieder neu: mit einem hörenden Herzen, empathisch und solidarisch. Diese Beziehung mit einem hörenden Herzen, empathisch und solidarisch zu leben, ist eine Konkretion der Gebote, die Jesus aus der Thora zitiert und ins Zentrum stellt: Gott zu lieben und den Nächsten. Und dies ist mehr als alle Brand- und Schlachtopfer, dies ist mehr als der Gottesdienst, den wir heute feiern. Amen.

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Predigt über Markus 12,28-34 Andreas Schulz-Schönfeld Liebe Gemeinde, wenn Sie eine Frage an Jesus richten könnten, was würden Sie fragen? Würden Sie auch fragen: „Welches ist das höchste Gebot von allen?“ Mit Geboten haben wir Lutheraner das ja nicht so im Allgemeinen. Eher mit der Gnade. Gebote: Ist das nicht mehr was für Katholiken? Oder Juden? Geht uns so eine Frage an? Und geht uns die Antwort an, wenn sie beginnt: „Höre Israel, der Herr, unser G´tt… .“ Es ist der spannende Beginn eines spannenden Gespräches, das aufhorchen lässt. Und das ist gut so und wichtig. Weil es hoffentlich dazu hilft, bestimmte Bilder, die wir im Kopf haben, zurechtzurücken: von Jesus, von seinen Gesprächspartnern, von Judentum und Christentum, von Geboten und dem, was das Wichtigste im Leben ist, das, worauf es ankommt, auch für uns. Also schauen wir noch mal von Anfang auf die Geschichte. Da ist ein Mann, ein Schriftgelehrter, also einer, der sich mit der Thora, der Auslegung der fünf Bücher Mose und den 613 Geboten und Verboten, die sich darin finden, beschäftigt. Ein Schriftgelehrter ist nicht in erster Linie ein Theologe, er hat auch viel von einem Rechtsgelehrten, einem Anwalt oder Richter. Denn die Thora enthält Gesetze über Landwirtschaft und Handel, über Schadensersatzleistungen und Erbrecht, über Eheschließung, über Rechte der Wehrdienstleistenden, über soziale Abgaben und Steuern, über Opfer, über die Aufgaben der Gemeinschaft und des Einzelnen. Da ergaben sich immer neue Fragen, und so waren Diskussionen unter Thorakundigen an der Tagesordnung.

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Der Thoragelehrte in unserer Geschichte hat den Gesprächen und Diskussionen, die Jesus davor geführt hatte, zugehört. Und da er sah, wie gut Jesus in diesen Gesprächen geantwortet hatte, war er überzeugt: den Jesus lohnt es zu fragen. Ich möchte seine Position, seine Lehrmeinung hören. Und so trägt er seine Frage vor: „Welches ist das höchste der Gebote?“ Wie sieht Deine Wertung aus? Worauf legst Du den größten Wert, was rangiert ganz oben? Und Jesus antwortet: „Das höchste Gebot ist das:“ und er rezitiert das: „Höre Israel, der Herr unser G´tt, ist der Herr allein.“ Wir haben diesen Text vorhin in der Lesung gehört. Aus dem Buch Deuteronomium, dem 5. Buch Mose, also aus der Thora. Und dieses Schema Israel, das ist nicht irgendein Satz. Es ist das Glaubensbekenntnis Israels. Vielleicht hat sich Jesus mit den Fingern die Augen bedeckt, wie es heute in der Synagoge üblich ist, wenn das Schema Israel gemeinsam gesprochen wird, vielleicht hat er es in dem Singsang vorgetragen und sich leicht mit dem Körper gewiegt. Der Bibeltext sagt dazu nichts. Aber er gibt mit den Worten, mit dem Zitieren des Glaubensbekenntnisses Israels einen Einblick in Jesu eigene jüdische Spiritualität, in das was ihm das Wichtigste ist, was trägt: HÖRE Israel, der Herr, unser G´tt, ist der Herr allein, und du sollst den Herrn, deinen G´tt lieben, von ganzem Herzen, von ganzer Seele, von ganzem Gemüt und von allen deinen Kräften. Und Jesus verbindet dieses Bekenntnis als das Höchste, aus dem alles andere hervorgeht, mit einem weiteren Gebot aus der Thora, aus dem 3. Buch Mose: „Du sollst deinen Nächsten lieben, wie dich selbst.“ Was Jesus tut, das ist lediglich, diese beiden Gebote zu einem, zu dem höchsten oder dem Gebot schlechthin zusammenzuziehen: zur Grundhaltung der Liebe, der Liebe zu G´tt und der Liebe zum Mitmenschen. Diese Grundhaltung der Liebe, darauf läuft alles zu, die liegt allem zugrunde, so liest Jesus die Thora G´ttes. Und der Thoragelehrte stimmt Jesus überzeugt zu. „Lehrer, Meister“, so spricht er Jesus an, „du hast wahrhaftig recht geredet.“ Und er wieder-

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holt noch einmal das Gebot der Liebe, das aus den beiden Thoraworten zusammengefügt ist. Diese Grundhaltung der Liebe: Darauf kommt es an, das ist ihm klargeworden, und das ist mehr als all die unterschiedlichen Opfer und alle anderen Vorschriften. Jesus und der Thoragelehrte: die beiden haben eine übereinstimmende Überzeugung gefunden in diesem Gespräch von Jude zu Jude. Was aber bedeutet das für uns, als Christen aus den Völkern, die wir diese Geschichte mithören? Wie gehen wir mit dieser Frage, diesem Gespräch und dieser Antwort um, die mit „Höre Israel“ sich ausdrücklich an Israel wendet, an das reale Israel, das seit 3000 Jahren nicht aus den Schlagzeilen kommt, nicht aus den positiven und nicht aus den kritischen, jenes Israel aus Fleisch und Blut und aus G´ttes Gnaden. Und dem nach den Worten des Apostels Paulus die Kindschaft gehört, und der Bund und der G´ttesdienst und die Verheißungen, denen auch die Väter gehören und aus denen „Christus herkommt nach dem Fleisch“ (Röm 9). Für die ersten Christen war das alles noch kein Problem, denn sie waren Juden, die Jesus als den Messias, den Christus G´ttes bekannten. Als aber immer mehr Menschen aus den Völkern Christen wurden, die keine Juden waren, da wurde dies zur Frage: wie gehören Christen und Juden, wie gehören die Kirche und Israel zusammen? Die Kirche hat versucht, es sich in ihrer Geschichte über Jahrhunderte einfach zu machen. Scheinbar einfach. Die Kirche hat sich selbst an die Stelle Israels gesetzt, nicht als Israel nach dem Fleisch, um in der Sprache des Paulus zu bleiben, sondern als das „wahre Israel“, das quasi das alte ersetzt. „Enterbung“ kann man so was nennen. Oder eher: „das Erbe streitig machen“, denn „enterben“ könnte nur von G´tt ausgehen. Und da war Paulus ganz eindeutig: „G´tt hat sein Volk nicht verstoßen, dass er zuvor erwählt hat. Denn G´ttes Gaben und Berufungen können ihn nicht gereuen.“

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Wie also dann? Wie kommen wir in die Geschichte mit hinein? Der Evangelist Lukas, der diese Geschichte auch aufgeschrieben hat und der sich an die Christen in der ganzen damaligen Welt wandte, also gerade auch an solche aus den Völkern, er hat die Frage verändert. „Meister, was muss ich tun, dass ich das ewige Leben ererbe?“ Vielleicht spricht die Formulierung der Frage manchen mehr an. Aber die Antwort ist die gleiche. Die Antwort, die die Liebe als Grundhaltung in das Zentrum rückt. Und die Antwort, die ganz deutlich macht: Wir kommen an dem Glauben und der Liebe zu dem einen G´tt, der sich in besonderer Weise immer wieder an Israel gewandt hat, nicht vorbei. Wir sind Mithörer, wir sind durch Jesus mit hineingenommen in den Glauben an diesen G´tt, wir sind hineingenommen in ein Verhältnis zu diesem G´tt und damit sind wir in ein besonderes Verhältnis zu Israel gestellt. Gerade an diesem Sonntag, dem Israelsonntag, der das Nachdenken über das besondere Verhältnis von Christen und Juden zum Thema hat, kann diese Textstelle uns deutlich machen, dass Juden und Christen die Aufgabe verbindet, die Liebe zu dem einen G´tt und die Liebe zum Nächsten in der Welt zu leben. Und hier können wir voneinander lernen. Ich habe jedenfalls vom jüdischen Glauben viel für mich und meinen christlichen Glauben gelernt. Eine Sache, die ich vom jüdischen Glauben mit seinem Achten auf das Tun gelernt habe, ist dies: Liebe ist nicht nur ein Gefühl, Liebe bedeutet auch Tat. Bei dem Gebot der Nächstenliebe wird dies am schnellsten deutlich. Auf die Frage „Wer ist denn mein Nächster?“ antwortet Jesus mit der Geschichte vom barmherzigen Samariter. Und mit dieser Geschichte sagt er nicht nur, wer dem Verwundeten zum Nächsten geworden ist, sondern auch wie: der Samariter sieht hin, nimmt sich Zeit, versorgt die Wunden, zahlt für seine Unterbringung. Er handelt. Er übt Barmherzigkeit. Und wie ist es mit der Liebe zu G´tt?

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Wir sprechen ja meist davon, dass G´tt uns Menschen liebt. Das tut er auch. Aber hier ist die Rede davon, dass wir G´tt lieben sollen. Wie geht das: G´tt lieben. Was bedeutet das? Vom Judentum habe ich gelernt: Die Gabe der Gebote wird als Zeichen der Liebe G´ttes zu seinem Volk Israel gesehen. G´tt gibt so den Menschen eine Richtschnur als Hilfe für ihr Leben. Und die Erfüllung der Gebote ebenso wie das Lob G´ttes im G´ttesdienst wird als Ausdruck der Liebe zu G´tt gesehen. Auch hier ist Liebe verbunden mit Tat. G´tt lieben bedeutet konkret, in seinem Handeln sein Leben auf G´tt, auf seine Weisungen auszurichten. So ähnlich hat es auch Luther gesagt: Woran du dein Herz hängst, das ist dein G´tt. Worauf wir unser Leben ausrichten zeigt, welchem G´tt wir dienen. Und dass sich die Liebe zu G´tt im Leben ausdrückt und für andere Menschen in unserem Tun sichtbar wird, das finden wir auch im NT, im 1. Johannesbrief: „Wenn jemand spricht: Ich liebe G´tt und haßt seinen Bruder, der ist ein Lügner. Denn wer seinen Bruder nicht liebt, den er sieht, der kann nicht G´tt lieben, den er nicht sieht.“ (1. Joh 4,20). Darum: Welchen G´tt wir lieben und dass wir ihn lieben, das soll sich in unserem Leben ausdrücken, das sollen die Menschen um uns herum sehen und spüren können. Woran hängt dein Herz? Worauf ist dein Leben ausgerichtet? Woran sehen die Menschen, dass du G´tt liebst von ganzem Herzen, von ganzer Seele, von ganzem Gemüt und von allen deinen Kräften. Eine sehr persönliche Frage. Jeder kann sie nur für sich beantworten. Wenn ich das für mich tue, dann muss ich mir ehrlich eingestehen, dass meine Liebe zu G´tt oft doch nicht so groß und stark ist, wie ich es mir wünsche. Und wenn ich mir unsere Gesellschaft, unser christlich geprägtes Land ansehe, dann scheint mir, dass die Götter oder Götzen doch eher Wirtschaftswachstum, Effizienzsteigerung, Maschinenlaufzeiten, Aktienkur-

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se, Arbeitsplatz, persönlicher Besitz heißen, auf die alles ausgerichtet wird. Mich hat beeindruckt, dass in dem kleinen Land Israel der Schabbat, der Ruhetag, so eingehalten wird, dass alle Fabriken, Geschäfte, Theater, Restaurants geschlossen sind und das öffentliche Leben (bis auf die Krankenhäuser und lebenswichtigen Einrichtungen) ruht. Der Ruhetag ist ein Geschenk G´ttes an die Menschen und die Einhaltung ein Zeichen der Liebe zu G´tt, wie ein Bekenntnis. Auch wir berufen uns auf die Zehn Gebote, in denen der Ruhetag vorkommt. Aber mit dem Argument der Maschinenlaufzeiten, dem Konkurrenzdruck, der Aussicht, mehr Umsatz machen zu können, wird für Sonntagsschichten und Ladenöffnungszeiten am Sonntag argumentiert und die Sonntagsruhe immer mehr ausgehöhlt. Das scheint alles unausweichlich, dem scheint man sich nicht entgegenstellen zu können. Aber Lernen von Israel heißt, zu sehen, dass es auch anders gehen kann. Dass es die Frage ist, woran man sein Herz hängt, ob man bereit ist, G´tt auch dann zu lieben, wenn es etwas kostet. Dass Schema Israel, das Bekenntnis Israels zu der Liebe des einen, einzigen G´ttes, das sind auch die Worte, die ein frommer Jude spricht, wenn er in das Martyrium geht, wenn er bereit ist, eher zu sterben als diesen Glauben zu verleugnen. Unzählige Juden sind mit diesem Satz auf den Lippen gestorben, weil sie sich nicht von Christen zum Religionsübertritt zwingen lassen wollten. Auch das gehört zur jüdisch-christlichen Geschichte dieses Satzes. Auch das sollte im Kopf sein und einem den Ernst dieses Satzes deutlich machen, wenn wir ihn als Christen heute mithören oder im Herzen nachsprechen. Dieser Satz: Du sollst G´tt, deinen Herrn, lieben von ganzem Herzen, von ganzer Seele, von ganzem Gemüt und von allen deinen Kräften. Das ist kein billiger Satz. Dafür müssen wir gar nicht so weit gucken. In diesem Jahr denken wir an 20 Jahre Mauerfall und Ende der DDR. Für Christen in der DDR bedeutete das Bekenntnis zu G´tt oft auch, in Kauf zu nehmen, bespitzelt zu werden, nicht das Gymnasium besuchen zu

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dürfen, nicht zum Studium zugelassen zu werden und weitere Einschränkungen. Es gab in der DDR vielleicht wenige Christen, aber die haben deutlich gemacht: G´tt zu lieben mit ganzem Herzen, bedeutet auch Bekenntnis, bedeutet auch Tat. Die schlichte Antwort, die Jesus gibt auf die Frage nach dem höchsten Gebot, nach dem, worauf es ankommt, die hat es in sich. Ein Wort, das an das Grundsätzliche geht: im Verhältnis von Christen und Juden, und in dem Stellenwert, den der Glaube für unser Leben haben soll. Ich hoffe, es ist deutlich geworden, dass diese Textstelle aus der Bibel uns Christen mit unseren jüdischen Schwestern und Brüdern verbindet. Gleichermaßen haben wir den Auftrag, unsere Liebe zu G´tt und zu unserem Nächsten zur höchsten Richtschnur zu machen, zu unserer Grundhaltung und danach zu handeln und zu leben. Dabei können wir uns in dieser Welt helfen, indem wir uns gegenseitig befragen und einander Antwort geben, wo wir uns von diesem Gebot gerufen fühlen, damit wir, ähnlich wie Lessing das in seiner Ringparabel in ‚Nathan der Weise‘ beschrieben hat, uns der Liebe des Vaters würdig erweisen. Das höchste Gebot ist das: »Höre, Israel, der Herr, unser Gott, ist der Herr allein, 30 und du sollst den Herrn, deinen Gott, lieben von ganzem Herzen, von ganzer Seele, von ganzem Gemüt* und von allen deinen Kräften« (5. Mose 6,4-5). 31 Das andre ist dies: »Du sollst deinen Nächsten lieben wie dich selbst« (3. Mose 19,18). Es ist kein anderes Gebot größer als diese. Und Jesus sprach: Du bist nicht fern vom Reich Gottes. Amen

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Predigt über Markus 12,28-34 Rien van der Vegt Liebe Gemeinde, „Höre, Israel!“ Das sind die Worte Jesu. So erzählt Markus, was er gesagt hat. Und so hat deswegen die Kirche diesen Satz zweitausend Jahre lang weitergegeben, unterrichtet, gepredigt – und sich regelmäßig gewundert, warum Jesus das so sagt, und warum wir das noch lesen. Warum nicht „Höre, Kirche!“, „Höret, Christen!“ – oder „Jünger“, jedenfalls.... Vielleicht auch „Höre, Welt“. Das „Höre Israel!“ klingt, meinen manche, so wenig evangelisch, so alt... -modisch. Muss man das so sagen, immer wieder? Sind die anderen Formulierungen dieses ersten, großen Gebotes (bei Matthäus und Lukas, ohne dieses „Israel“) nicht besser? -- Aber, natürlich, es stimmt. Wenn man es genau nimmt, waren alle, die dort waren, höchstwahrscheinlich Juden. Die Jüngerinnen und Jünger waren Juden, gewiss auch die Schriftgelehrten, ebenso die Menschen, die dabei standen und es sich anhörten – und Jesus selbst war, das haben wir mittlerweile gelernt, auch Jude. Er hat sich mit den Leuten unterhalten über das Wort Gottes und dessen Bedeutung, darüber, wie die Menschen leben sollen und was der Wille Gottes ist. Sie sprachen über die Steuern, über die Auferstehung – und dann kommt die Frage nach dem höchsten Gebot: Was ist nun das Allerwichtigste? Gebote gibt es viele, aber sie behandeln so viele Themen, so viele sehr unterschiedliche Bereiche des Lebens werden abgedeckt. Wo soll man anfangen? Soll man Gott dienen und im Tempel sein? Oder ist es wichtiger, Gerechtigkeit zu üben? Muss die heilige Stadt Jerusalem gebaut werden oder geht es eher um die Witwen und Waisen und Armen? Das können wir, denke ich, auch nachvollziehen. Was ist das Gebot der Stunde, das Gebot jeder Stunde? Flüchtlinge? Umwelt? Sicherheit? Familie? Sollen wir vor allem das Reich Gottes verkündigen?

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-- „Höre Israel!“ sagt Jesus. Das ist das Erste: hören. Wir haben alle viel zu sagen, können erklären und erläutern, welches unsere Prioritäten sind und aus welchen Gründen. Wir können erzählen, wieso die anderen Gebote weniger Bedeutung haben. Aber wenn dann die Antwort kommt, sind nicht unsere Vorstellungen, unsere Worte wichtig, sondern Jesus spricht das kurze Gebot „Höre“. Das Hören steht am Anfang. Immer. Höre auf Gott und höre auch mal auf deinen Mitmenschen, aber höre... Es geht bei diesem „Höre“ um die Antwort auf die Frage, aber auch um die Voraussetzung: für uns ist die einzige Art und Weise, eine Antwort zu erfahren, zu hören. Es gibt nämlich mehr zu hören als du denkst. Gott spricht, aber es gibt auch Menschen, die rufen, Kinder, die schreien, und Tiere, die alle ihre eigene Sprache sprechen. Gott spricht Gebote, Verheißungen, Trost. Gott spricht immer, aber die Menschen hören nur so selten. -- Israel hört: am Sinai, im Tempel, in der Synagoge. Dieser Satz ist gesprochen zu Israel und so, seit Jesus, auch zur Kirche, und er steht doch zwischen den beiden. Er ist geworden zum jüdischen Bekenntnis schlechthin, gesprochen in der Synagoge an einem wichtigen Moment im Gottesdienst – gesprochen mit geschlossenen Augen und mit der Hand vor dem Gesicht: nachdenklich, konzentriert, damit die Bedeutung halbwegs erfasst wird. -- Er wird auch gesprochen, wenn möglich, am Ende des Lebens. Von Märtyrern, von Menschen, die wegen ihres Glaubens getötet wurden. Zum Beispiel in der Zeit der Kreuzfahrer. Aber auch später. Oft. In erschreckend vielen Momenten in der jüdischen Geschichte – Momenten, die, man kann es nicht verneinen, auch zur christlichen Geschichte gehören. So ist es ein Wort, das uns nicht nur verbindet, sondern das uns auch trennt, das zwischen Juden und Christen steht. Es ist zuerst ein sehr jüdisches Wort. Danach, zögernd, können auch Christen es hören, es buchstabieren, es sprechen, wenn sie den Mut haben. Es gibt etwas zu hören, denn Gott hat gesprochen und weiter gesprochen: Versprechen, Gebote, Gesetze und Weisungen, wie die Menschen

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leben können. Zehn Gebote und noch viele, viele mehr. -- Und das Höchste? „Höre... Gott ist eins.“ Ist das ein Gebot oder eher eine Voraussetzung? Er ist der Herr allein, es gibt keine anderen Götter, und er ist eins, nicht teilbar, der Ursprung von allem, was ist. Dann erst kommt die Konsequenz, das Gebot, das, was der Mensch dann tun soll... Gott, diesen Gott, lieben mit allem, was er hat. Herz und Seele und Gemüt (Verstand) und Kräften... Und direkt geht es weiter: Und deinen Nächsten sollst Du auch lieben, wie dich selbst – denn er ist wie Du. Gibt es nun ein Gebot oder sind es doch zwei? Ja, richtig, ein Erstes und ein Zweites werden genannt, aber die beiden gehören ganz eng zusammen. Beide sprechen von derselben Liebe. -- Das eine geht nicht ohne das Andere. Liebe zu Gott, das hört man so manchmal, als ob das das Einzige ist. Menschen können ganz darin aufgehen, zufrieden und glücklich sein mit ihrem Glauben, ihrer Religion. Und es gibt andere Menschen, die haben ihre Mühe mit der Liebe zu Gott, konzentrieren sich lieber auf die Menschen, auf das Praktische. Wenn man sich damit beschäftigt, kann das doch so falsch nicht sein? So ist es, ganz falsch kann das nicht sein, aber wie lange hält man das durch? Die Liebe zu Gott gehört ganz und gar dazu. Sie ist nicht nur Aufgabe, sondern auch Quelle von Kraft, von Licht und Leben. Es gibt viele Aufgaben, und sie sind groß. Es kann einem Menschen zu viel werden. Was sollen wir dann ohne Liebe zu Gott und von Gott? -- Der Schriftgelehrte wiederholt Jesu Worte, Jesus antwortet und die beiden sind sich herzlich einig. So liest man das nur selten im Evangelium, oft gibt es Unterschiede, die man vergrößern oder klein-reden kann, hier ist es ganz ohne Konflikt. -- Der Schriftgelehrte fügt die beiden Gebote ganz zusammen: es wird ein Satz, ein Gebot, mehr als Brandopfer und Schlachtopfer, mehr als alles andere, das ein Mensch tun kann. -- Es umfasst alles, das ist wahr... aber als erstes Gebot bekommt es einen klaren Platz. Höre Israel, höre Kirche, höre Menschen und Völker.

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-- Es heißt aber „Höre Israel“. So steht es immer noch da. Das verbindet uns mit Israel, macht uns auch selber, wenn man es richtig versteht, zu Menschen, die man darauf ansprechen kann. Nicht anstelle des echten, alten Israels, aber dazu, direkt daneben, da-hinein, wenn Sie so wollen. Damit wir es nie vergessen, wo Gott anfangen hat, und wer diese Worte und Gebote gelebt und aufbewahrt hat, Jahrtausende lang. Gott ist eins. Er ist immer noch derselbe. Deswegen sollen wir Menschen hören, immer wieder. Deswegen hören wir nicht an Israel vorbei, sondern mit Israel und über Israel. Immer. -- Und der Friede Gottes, welcher höher ist als alle Gewalt, erfülle eure Herzen und Sinne in Christus Jesus. Amen.

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Predigt über Lukas 19,41-48 Maren Gottsmann Liebe Gemeinde, die Straße steigt noch steiler an als zuvor. Sie erklimmt den letzten Buckel und führt dann in eine Senke zwischen dem Scopusberg und dem Ölberg. Dann fällt sie steil ab: Plötzlich teilen sich die Hügel und geben den Blick auf gewölbte Kuppeln und hohe schlanke Minarette frei. Vor uns im blendenden Licht erhebt sich eine befestigte Stadt. Im Nu herrscht eine einmalige und erregende Atmosphäre. Jerusalem liegt inmitten hoher Berge am Rande einer tiefen Schlucht. Es bricht mit seiner ganzen Gewalt über uns herein, sobald wir die Senke zwischen den beiden Bergen durchqueren: lange Mauern und Wälle, finstere Türme, gewölbte Steindächer, Kirchen, Synagogen und Moscheen. Und über alledem erhebt sich, ur-uralt, das gewaltige steinerne Plateau des altehrwürdigen jüdischen Tempelberges – jetzt ein islamisches Heiligtum –, abgenutzt durch die Anbetung zu vieler sich bekriegender Götter. ... Selbst wenn man mit Jerusalem keine besonderen historischen Ereignisse in Verbindung bringt, ruft es dennoch durch sein außerordentliches Erscheinungsbild heftige Emotionen wach. – Mit diesen Sätzen beschreibt der jüdische Journalist und Schriftsteller Amos Elon den Weg von Osten in die Stadt Jerusalem. Natürlich, das heutige Jerusalem entspricht nicht der Stadt, in die Jesus damals von Osten zog – umjubelt vom Volk – und doch war er bereits auf dem Weg in seine Passion. Aber damals wie heute wohl eindrücklich dieser Moment, in dem die Hügel den Blick auf diese Stadt freigeben – und auf das uralte, steinerne Plateau des Tempelberges. Und Jesus sah die Stadt, so heißt es in dem Evangelium für den heutigen Sonntag: „Und er weinte über sie. Und er sprach: Wenn du doch erkennen könntest zu dieser Zeit, was dem Frieden dient. Aber nun ist es vor deinen Augen verborgen. Denn es wird

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eine Zeit über dich kommen, da werden deine Feinde um dich einen Wall aufwerfen, dich belagern und dich von allen Seiten bedrängen und werden dich dem Erdboden gleichmachen samt deine Kindern in dir und keinen Stein auf dem anderen lassen in dir, weil du deine Zeit nicht erkannt hast, in der du heimgesucht worden bist. Und er ging in den Tempel und fing an, die Händler auszutreiben, und sprach zu ihnen: es steht geschrieben: Mein Haus soll ein Bethaus sein – ihr aber habt es zur Räuberhöhle gemacht. Und er lehrte täglich im Tempel. Aber die Hohenpriester und Schriftgelehrten trachteten danach, dass sie ihn umbrächten und fanden nicht, wie sie es machen sollten – denn das ganze Volk hing ihm an.“ Das Evangelium für den heutigen Sonntag: Für mich ein dramatischer Text. Dramatisch in dem, was dort beschrieben ist: Der Schmerz des jüdischen Wanderrabbis über die zukünftige Zerstörung dieser Stadt, des Tempels, der Menschen. Nur an zwei Stellen im Neuen Testament wird uns davon berichtet, dass Jesus weint. Hier, und angesichts des Todes von Lazarus. Doch während er nach dem Johannesevangelium Lazarus‘ Schicksal wenden konnte, steht Jerusalems Schicksal fest. In uralter, prophetischer Tradition seines Glaubens klagt Jesus über Gottesferne und Friedlosigkeit des doch von Gott auserwählten und geliebten Volkes und voller Schmerz weist er ihnen die Konsequenzen. Dennoch bleibt Jesus nicht bei seiner Klage stehen – Lukas fügt ihr die Erzählung von der sogenannten Tempelreinigung an. Angesichts der unabwendbaren Zerstörung Jerusalems – und damit des jüdischen Volkes – sät Jesus bereits die Saat aus für ein neues, heilvolles Miteinander zwischen Menschen – und zu Gott. Angesichts der bevorstehenden Vernichtung setzt er den Tempel wieder neu ein als heiligen Ort, als heilvollen Ort: Ort der Verkündigung, der Lehre, des Gebetes. Dramatisch, was in diesen 7 Versen geschieht. Dramatisch, was dann in der Interpretation dieser Verse in den folgenden Jahrtausenden geschehen ist – und eigentlich stockt es einem den

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Atem, dass dieses Evangelium immer noch in der Perikopenordnung der Ev. Kirche Deutschlands für den heutigen Sonntag vorgesehen ist. Denn die im Jahre 70 n. Christus ja tatsächlich erfolgte Zerstörung Jerusalems durch den römischen Kaiser Titus wurde durch unsere ganze christliche Geschichte hindurch als Strafe Gottes gedeutet, als Strafe Gottes dafür, dass Israel sich nicht zu Christus bekannte. Der Israelsonntag, der in zeitlicher Nähe zu dem Jahrestag dieser Zerstörung, dem 9. Aw nach dem jüdischen Kalender, steht, wurde als Bußtag begangen. Aber auch in der Gestalt der Buße rechtfertigte man das Leiden Israels und gab der Zerstörung Jerusalems einen vermeintlich göttlichen Sinn. Viel zu spät haben wir als Christen erkannt, auf welchem Irrweg wir uns befinden, die Erwählung des Volkes Israel in Abrede zu stellen und es dadurch für vogelfrei zu erklären. Für Millionen Menschen jüdischen Glaubens zu spät. Auf ganz andere Weise als in früherer Zeit müsste dieser Sonntag deshalb ein Bußtag sein. Zeichen dafür: Wir als Christen und Christinnen schämen uns dessen, was in unserem Land und in unserem Glauben Menschen jüdischen Glaubens angetan wurde. Deswegen: Eigentlich stockt mir der Atem: Dieser Text gerade heute. Und ich war versucht, mir und uns heute einen genehmeren Predigttext auszuwählen – immerhin bieten Arbeitskreise in den Landeskirchen zum Thema ‚Juden und Christen‘ inzwischen auch eine alternative Perikopenordnung an. Doch was mich dann an diesem Evangelium festhalten ließ, war das Weinen Jesu. „Wo geweint wird, wird auch geliebt“, so hat es der Theologe und langjähriger Leiter des ‚Institutes für Kirche und Judentum‘ in Berlin, Prof. Peter von der Osten-Sacken formuliert.

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„Wo geweint wird, wird auch geliebt.“ Diese Liebe Jesu zu den Menschen macht dieses Evangelium für mich heute so kostbar, dass ich es nicht seiner fatalen Wirkungsgeschichte überlassen kann und will. Jesus Liebe zu Menschen, die fehlgehen, die irren – sich gar verirren und verrennen auf ihren Lebenswegen. Jesu Liebe zu denen, die schuldig wurden. Schuldig wurden an ihrem eignen Leben – am Leben anderer. Und es geschieht so schnell und so leicht, dass wir einander etwas schuldig bleiben, dass wir verletzen und enttäuschen. „Wo geweint wird, wird auch geliebt.“ In all die Friedlosigkeit unserer Welt hinein – die der großen Welt – und die unserer kleinen Welt in Familien und Lebenskreisen – da brauche ich Jesu Weinen. Da brauche ich Jesu Klage über das, wo Menschen fehlen. Jesu Schmerz über das, was Menschen in der Lage sind, Menschen zuzufügen. Jesu Verzweiflung über das, wo Menschen ohne Recht und Rücksicht ihre Bedürfnisse durchsetzen. Jesu Weinen darüber, wo Lebenshäuser und Lebensräume und Lebensträume von Menschen zerschlagen werden durch Hass und Rache – durch Profitgier – durch Machtstreben – oder: durch eigene Irrtümer und Fehler. Jesu Weinen – Jesu mit dem Jerusalem damals – und mit uns heute. Keine Vorwürfe – keine Schuldzuweisung. Auch nicht das Präsentieren von Lösungen. Sondern zunächst nur: Trauer und Schmerz zulassen können, weil wir uns darin nicht gottverlassen glauben müssen. Denn Jesus weint mit uns mit. Das mag wenig erscheinen. Doch die Unfähigkeit zu trauern ist seit dem Psychotherapeutenehepaar Margarete und Alexander Mitscherlich als eine grundlegende Störung menschlichen Miteinanders erkannt worden.

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„Wo geweint wird, da wird auch geliebt.“ Für mich ein kostbares Gut in unserer jüdisch-christlichen Tradition, dass wir Gott glauben und hoffen dürfen als Mitweinenden, als Mitleidenden... Sicherlich, dass bedeutet nicht, dass es für uns und unsere Welt nicht auch bitter notwendig ist, Kritik zu üben, Realitäten präzise zu analysieren und Fehlverhalten aufzudecken. Mitleid bedeutet ja nicht, blind zu sein dafür, was dringend zu verändern ist in der Welt und in unserem alltäglichen Miteinander. Ihr habt die Zeichen der Zeit nicht erkannt, weint Jesus. Aber wenn am Anfang eine gemeinsame Trauer stehen darf – und nicht Schuldzuweisungen – ich glaube, dass würde unser Miteinander in heilvoller Weise verändern können – nicht nur angesichts gescheiterter Beziehungen, sondern auch angesichts gescheiterter Finanzkonzepte. Doch statt Trauer zuzulassen über das Fehlgehen – da wird mit Abwrackprämien und Finanzspritzen ein munteres: Weiter so! praktiziert – weil die Angst, Fehler einzugestehen, zu groß ist und wir in unserer Gesellschaft wenig Kultur haben, in guter Weise mit Fehlern umzugehen. Doch nur da, wo Trauer Raum bekommt, kann wieder etwas Neues entstehen. Eindrücklich für mich beschrieben in einem Text der jüdischen Schriftstellerin Else Lasker-Schüler über ihre eigene Trauer, der sie an der Jerusalemer Klagemauer Ausdruck verleihen konnte. Sie schreibt: „Ich kaufte am Eingang der Klagemauer eine Kerze, entzündete sie sehr bewegt, im Gedanken an meine ruhenden teuren Eltern, an meinen zu Gott heimgerufenen, jungen, herrlichen Sohn, an meine geliebten Geschwister im Himmel, an alle meine Freunde und Freundinnen, die nicht mehr mit mir vereint auf dieser Erde wandeln. Viele opferten ihr unersetzliches Leben dem furchtbaren Weltkrieg. Aber auch an meine lieben lebenden Spielgefährten dachte ich, die ich verlassen musste in meiner mir liebgewordenen deutschen Heimat. Wir gedenken stumm einander in Innigkeit. Und ich bat Gott, alle Geschöpfe zu schützen, auch das Tier, auch das wildeste, noch gärend und schäumend wie die rasenden Wellen

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des Ozeans und vernichtend wie der verheerende Sturm, und vor allem zu schirmen die Kronen der Bäume und das Antlitz der Pflanze. An der Heiligen Klagemauer kann man, lauscht man aufmerksam, viel Weisheit lernen. Aus der Weisheit blüht Güte.“ Else Lasker-Schüler konnte 1933 aus Deutschland flüchten. Viele aus ihrer Familie, aus dem Freundeskreis wurden jedoch Opfer des 3. Reiches und sie selber verlor ihre Heimat – auch ihre Sprachheimat als Lyrikerin. Sie starb im Januar 1945 und erlebte das Ende der Nazidiktatur nicht mehr. In bewundernswerter Weise gelingt es ihr, aus der zugelassenen Trauer über das Verlorene vergebend und nicht rächend auf die Welt zu schauen. Ähnlich gelingt es in einer inzwischen bedeutenden Friedensorganisation in Israel und Palästina, in der sich israelische und palästinensische Eltern zusammenfinden, deren Kinder durch die Gewalt und Kämpfe in Israel-Palästina umkamen. Jedes Leben, um das Eltern weinen müssen, ist ein Leben zu viel. Egal welcher Religion, egal welcher Nationalität es angehört. In ihrem gemeinsamen Weinen verbunden setzten sie sich mit aller Liebe für ihre getöteten Kinder dafür ein, dass endlich Friede wird. „Wo geweint wird, wird auch geliebt“, nach dem Vorbild von Jesu Liebe zu Jerusalem und seinen Menschen. Einen besseren Weg kenne ich nicht für unsere zerrissene Welt auf die Frage nach dem Frieden, von dem heute nicht nur im Nahost-Konflikt niemand weiß, wie man ihn erreichen kann. Amen.

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Predigt über Lukas 19,41-48 Maren von der Heyde Liebe Gemeinde, „Gericht ist das Erleben dessen, was folgt, nachfolgt“ (FriedrichWilhelm Marquardt, Prolegomena zur Dogmatik, S. 403). Auf je unterschiedliche Weise ist keinem von uns diese Erfahrung fremd: Gericht ist Erleben dessen, was folgt, nachfolgt. Was immer wir auch tun oder unterlassen, hat mitunter böse Folgen. Wir reden vom „bösen Erwachen“ als ob unser Tun im Zustand nicht vollen Bewusstseins – wie im Schlaf – geschehen wäre. Eine verharmlosende Redeweise, als läge ein Schleier von Bewusstlosigkeit über uns. Wissend stürzen wir uns also bewusstlos in das Unglück…: Kann einer anders verstehen: - Dass wir leben wie bisher, obwohl die Verteilungskämpfe um Nahrung und Bildung zum Himmel schreien? - Dass wir fahren wie die Verrückten, obwohl wir die Wälder sterben sehen? - Dass wir Milliarden für die Verwaltung ausgeben und der Phantasie für die Schaffung neuer geldschluckender Gremien keine Grenzen setzen, aber nicht genug haben für die Menschen auf der Flucht, - Ja nicht einmal für die eigenen Kinder, aber für Parkplätze… (damals wurden in Howe in der Lindenstraße Vorgärten zu Parkplätzen umgebaut). - Dass wir Gottes gute Schöpfung in einer Räuberhöhle verwandeln… Wenn wir doch erkennten, was dem Menschen dient! Wenn wir doch den Schleier der Bewusstlosigkeit abwerfen – und unserem Tun ins Angesicht schauen würden! Was hindert uns? Warum überdecken wir Schuld mit Scham, aber bekennen uns nicht dazu? 140

Wie oft haben wir das Wort Erlösung, haben wir vom Erbarmen Gottes gehört, aber es nicht in uns aufgenommen. Gottes Botschaft in Jesus Christus will uns zum Mensch-Sein – gegrenzt-Sein – befreien – aber wir lassen es nicht zu. Jesus wirbt, macht flehentlich die Folgen unserer Bewusstlosigkeit in Bildern deutlich, aber wir begraben sein Erbarmen wie der Knecht das Geld des Herrn. Wir geben seinem Erbarmen keine Chance. Wie zu allen Zeiten gibt es auch in unserer Zeit Propheten, die ihre Finger immer wieder in die Wunden legen. Wir hören und überhören sie gleichzeitig. Anstatt uns von ihnen aufrütteln zu lassen, integrieren wir sie in den Kulturbetrieb – von Rudolf Bahro über Dorothee Sölle bis zu Greenpeace. Wir machen sie zu Stellvertretern unseres schlechten Gewissens und sinken beruhigt wieder in den Dämmerschlaf. Was ist bloß los? Ist Mitschlafen die erste Bürgerpflicht? Menschen wie Simon Wiesenthal werden bedroht – die Opfer und die Kinder der Opfer des industriellen Völkermordes in Auschwitz-Birkenau und anderswo dürfen nicht klagen, ja auch keine Sympathie erwarten. Die Forderung heißt: Vergrab deine Bitterkeit, überwinde deinen Schmerz. Sieh, hast du nicht auch Fehler? Bist du vielleicht rachsüchtig, dass Du keine Ruhe gibst? Die NS-Prozesse machen bis heute deutlich: Die Opfer müssen sich erklären und ausweisen. Die Täter bleiben im Nebel der Bewusstlosigkeit. Es ist kaum erstaunlich, dass sie sich an nichts zu erinnern glauben. Wir werden sie nicht dazu zwingen können, die Folgen des von ihnen verordneten, geduldeten und mit ausgeführten Unheils nur zu ermessen. So werden sie trotz eines möglichen Urteils das Gericht nicht erfahren. Ist

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das gerecht? Entsetzlich ist, dass dem Täter größere Sympathie entgegenkommt als dem Opfer. Kann Frieden sein, wo Vergangenheit und Gegenwart im Nebel von Bewusstlosigkeit verschwinden? Denken wir an das, was im letzten Jahr geschah. Seit der Invasion des Irak in das Emirat Kuwait – EmbargoKrieg – Umweltkatastrophen – Frieden ist nicht in Sicht! Im Irak hat sich nichts geändert, aber die Bevölkerung leidet entsetzlich. In Kuwait ist von Demokratie keine Spur. Die Palästinenser und die Israelis sind machtloser als je zuvor. Israel hat wieder einmal spüren müssen, wie unsicher seine Existenz ist. In Jugoslawien weinen die Familien: Hass, neue Bitterkeit werden gesät. Liebe Gemeinde, am Anfang des Jesajabuches steht eine wunderschöne Verheißung – Jerusalem – so oft Ausgangspunkt falscher Machtträume gewesen – zerstört und mit ihren Kindern weinend – soll ein Ort des Friedens – Welt-Mittelpunkt werden. Von ihr wird Weisung ausgehen. Die Völker werden zum Zion strömen, um sich die Konflikte im Namen des Gottes Jakobs schlichten zu lassen. Waffen und Kriegshandwerk werden überflüssig. Jerusalem wird das Zentrum universalen Friedens werden, weil die Menschen einander dort im Glauben als Kinder Gottes anerkennen. Da wird keine Angst mehr sein, da wird es nicht mehr wie bisher verschiedene Wirklichkeiten geben, sondern eine Erlösung und ein Erbarmen. Wir werden wissen, was dem Frieden dient. Noch geht von Jerusalem nicht die Weisung für die Welt aus. Noch unterscheiden sich die Menschen dort nicht von uns. Darum weinte Jesus auch damals über Jerusalem, als er nahe kam. Unser Predigttext steht bei Lukas im 19. Kapitel. (Lesung) Wer weint, dessen Herz ist offen und weit für das Leid, das er sieht. Jesus spricht kein Urteil. Er warnt, er fleht die Menschen an: „Jerusalem, wenn du doch erkenntest, was zum Frieden dient!“

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„Mein Haus soll ein Bethaus sein. Ihr habt es zur Räuberhöhle gemacht.“ So kehrt um. Der Evangelist Lukas weiß um die Zerstörung Jerusalems Jahrzehnte nach dem Tod Jesu. Was hätte näher gelegen, als aus diesem Wissen heraus ein Triumphgeschrei über Jerusalem anzustimmen? Aber Jesus weint…und am Ende die Worte: „Das ganze Volk hing an ihm und hörte ihn.“ Jesus und auch Lukas sehen keinen Anlass, auf Jerusalem herabzusehen. Jerusalem ist bis heute – wie für Jesus und Lukas – für Jesaja und alle frommen Juden, Christen und Muslime mehr als eine gewöhnliche Stadt. Von ihr geht die Hoffnung aus, dass die Weisungen Gottes uns eines Tages erreichen – den Schleier durchdringen und alle erkennen lassen –, was dem Frieden dient. Weinen wir wie Jesus um Jerusalem? Wir haben viel nachzuholen. Jahrhundertelang war unser christliches Reden davon geprägt – das Volk, das Jesus zuhörte, zu verdrängen – uns an seine Stelle zu stellen. Wir haben sie verfolgt und lassen bis heute ihr Klagen nicht zu. Werden wir lernen, mit ihnen zu weinen? Mit ihnen zu hoffen und zu beten? Die Weisen sagten: Wer am 9. Aw – also dem heutigen Sonntag nach christlichem Kalender – Arbeit verrichtet und nicht über Jerusalem trauert, wird auch ihre Freude nicht sehen, denn es heißt: „Freut euch mit Jerusalem und jubelt mit ihr, ihr alle, die ihr sie lieb habt, frohlockt mit ihr, ihr alle, die ihr über sie trauert.“ Hieraus folgerten sie: Wer über sie trauert, dem ist beschieden, auch ihre Freude zu sehen, und wer über Jerusalem nicht trauert, dem ist auch nicht beschieden, ihre Freude zu sehen. Werden wir mit Jesus weinen und uns als Gäste und Freunde unter das Volk stellen – um ihm zuzuhören? Die Hoffnung ist stark und nicht wenige leben in dieser Hoffnung. Wir hören diese Worte in einem Sologesang von Inken Klose. Amen

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Predigt über Lukas 19,41-48 Christoph Huppenbauer Liebe Gemeinde, was für ein Mensch war der Zimmermannssohn Jesus von Nazareth? Unser Glaube an den Auferstandenen, an den Gottessohn Christus, an den Weltenrichter am Ende der Zeiten und das fleischgewordene Wort Gottes von Anbeginn an überdeckt nur allzu leicht den Blick auf den Menschen Jesus, der am See Genezareth wirkte und einen Gott verkündigte, den er seinen ‚lieben Vater‘ nannte, der eine Jüngerschar von Männern und Frauen um sich sammelte und der am Rande von Jerusalem auf dem Hügel Golgatha hingerichtet wurde. Ich finde, dass es ein Armutszeugnis der frühen Kirche ist, in ihren Glaubensbekenntnissen nichts von der Botschaft des Rabbis Jesus von Nazareth aufgenommen zu haben, nichts von seiner innigen Gottesbeziehung, nicht das Gebot der Gottes- und Nächstenliebe, nichts von seiner uns so nahe kommenden Menschlichkeit, kein Wort über das ‚Reich Gottes‘, wie es uns insbesondere in seinen Gleichnissen begegnet, nichts aus der Bergpredigt – nicht einmal das Vaterunser wird erwähnt –, als ob all das nicht zum Kernbestand unseres Glaubens gehörte. Wichtig war der frühen Kirche die Einbeziehung des Menschen Jesus in die Gottheit Gottes: die Jungfrauengeburt, das Leiden und Sterben Jesu als stellvertretendes Opfer und Voraussetzung seiner Auferstehung, Himmelfahrt, Wiederkunft und Weltgericht usw... Vielleicht fällt Ihnen auf, dass es sich hier vor allem um Glaubenssätze handelt, in denen sich das Christentum vom Judentum unterscheidet. Außer dem Bekenntnis zum Schöpfergott findet sich etwa im Apostolischen Glaubensbekenntnis nichts, was uns mit dem Glauben des Volkes Israel verbindet. Doch das ist genau die Herausforderung des sog. Israelsonntags, den wir heute begehen: Nämlich, sich insbesondere nach dem Holocaust und Auschwitz der Frage zu stellen: In welcher Kontinuität – und weniger in

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welcher Unterschiedenheit – steht unser christlicher Glaube zum Glauben des Volkes Israel, dem Glauben des Jesus von Nazareth? Historisch lässt sich manches erklären. Der Christusglaube hat sich in bewusster Abgrenzung vom jüdischen Glauben und in Aufnahme griechisch-philosophischen Gedankengutes, vor allem Platons, herausgebildet. Doch wir erkennen heute auch, wie verhängnisvoll es war, dass Juden und Christen, Glaubensgeschwister und Kinder desselben ‚Vaters‘, ihre familiäre Verbundenheit über viele Jahrhunderte geleugnet haben. Es ist gut, dass wir diesen Israelsonntag haben, um uns an unseren gemeinsamen Wurzelgrund zu erinnern. Der heutige Predigttext lüftet ein wenig den Schleier, der sich durch unsere Glaubenssätze gebildet hat und erlaubt einen Blick auf den Menschen Jesus und seine ganz und gar menschlichen Gefühle. Zwei Szenen werden von Lukas geschildert. Die erste offenbart Jesu Mitgefühl: Er weint um das Schicksal der Stadt Jerusalem: Wenn doch auch du erkenntest zu dieser Zeit, was zum Frieden dient! – die zweite zeigt den zornigen, den wütenden Jesus, der die Händler aus dem Vorhof des Tempels vertreibt mit den Worten: „Es steht geschrieben (Jesaja 56,7): "Mein Haus soll ein Bethaus sein"; ihr aber habt es zur Räuberhöhle gemacht.“ Weinen und Wüten – das sind Attribute, die wir gewöhnlich nicht mit Jesus verbinden. Für mich sind sie jedoch unverzichtbare Elemente des Evangeliums. Sie holen Jesus ganz nah an meine Seele heran. Denn auch ich kenne beides: die Anteilnahme, den Schmerz, auch die Verbitterung und Enttäuschung, die mir Tränen in die Augen treiben. Und ich kenne die Aggressivität, den Zorn, der eigentlich dreinschlagen möchte – aber ich bin ja so gut erzogen, so vernünftig, dass er nur sehr selten zum Ausbruch kommt. Hier erlebe ich Jesus in seiner wütenden Aggressivität. Sie ist dennoch kein blindwütiger, Menschen verletzender Rausch der Gewalt. Denn Jesus hat klar die Sache im Blick, um die es ihm geht. Seine Vision ist der Tempel als ‚Bethaus‘, d. h. als Ort inniger Gottesbeziehung. Sein Zorn richtet sich gegen die Geschäftemacherei im Namen

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Gottes. Jesus wird mir durch beide Affekte, Schmerz und Zorn, zum mitmenschlichen Bruder, dem ich vertrauen kann. Jesus weinte. Das ist frohe Botschaft für mich, trotz der Tränen, gerade wegen der Tränen. Jesus, einer, der Mitgefühl zeigt und sich seiner Tränen nicht schämt. Wir haben das Bild von Angela Merkel noch vor Augen, die sich überrumpelt fühlt von den Tränen des palästinensischen Flüchtlingsmädchens Reem, die Angst hat vor der Abschiebung. Doch statt ihr Herz sprechen zu lassen, gibt die Kanzlerin zunächst weitschweifige Erklärungen, warum alles so schwierig sei. Ihr Herz meldet sich trotzdem, die Tränen des Mädchens lassen sie nicht unberührt. In ihrem inneren Zwiespalt strauchelt sie in eine hilflos rührende Geste mit den Worten: „Ich möchte sie streicheln“. Das klingt, als wäre das Mädchen ein niedliches Kätzchen. Sie setzt sich einen Moment neben sie. Doch dann besinnt sie sich wieder auf ihre politische Rolle. Wichtiger als echte Anteilnahme am Schicksal der Flüchtlinge scheint ihr offenbar die Sorge zu sein, nicht aus der Rolle zu fallen. Ihre nüchtern vorgebrachte Botschaft lautet: Wir können nicht alle aufnehmen. Es ist bedauerlich, dass bei uns die Verfahren so lange dauern. Das muss schneller gehen. Ach wie gnadenlos Recht hat sie doch! Doch Reem hört für sich vielleicht heraus: Bedauerlich, dass du immer noch hier im Lande bist und du schon über vier Jahre auf einen rechtlichen Bescheid über deinen Verbleib wartest. Jesus hingegen fragt nicht – weder im Weinen, noch in seinem Wüten im Tempel – nach seiner Rolle, nicht, wie wirke ich. Er gibt auch keine um Verständnis heischenden Erklärungen ab. Er weint. Er ist zornig. Er zeigt Gefühl, offen, unmissverständlich und unmittelbar: Er weint über das Schicksal der Stadt, die ihm am Herzen liegt. Und er spürt zugleich seine Ohnmacht. Er kann die kommende Katastrophe nicht verhindern. Knapp 40 Jahre später wird Jerusalem mitsamt seinem Tempel von den Römern zerstört. Das jüdische Volk verliert sein geistliches Zentrum. Auf dem Titusbogen in Rom, der Triumphbogen des Kaisers und Jerusa-

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lembezwingers Titus, lässt sich noch heute die Demütigung des jüdischen Volkes in seinen steinernen Reliefs nachempfinden: die geraubten heiligen Gegenstände des Jerusalemer Tempels werden in einem feierlichen Siegeszug durch die Straßen Roms den jubelnden Massen präsentiert. Was für eine Demütigung für die Juden, was für eine Krise ihres Glaubens! Wenig später schreibt der griechisch sprechende Arzt Lukas, ein Christ aus einer vermutlich jüdischen Familie, sein Evangelium. Die Klage des weinenden Jesus über das verblendete Jerusalem sieht er in dieser Tragödie bestätigt. Jesus weint nicht nur. Er ist nicht depressiv. Er wird zornig und handelt, ein scheinbar sinnloses, verzweifeltes Handeln. Zornig über die Geschäftemacherei im Tempel, dem Haus seines himmlischen Vaters, versucht er, die Händler und Geldwäscher – Entschuldigung: Geldwechsler – davonzujagen. Was wird es schon gewesen sein? Ein paar Tische umstoßen vielleicht? Vermutlich wurde auch keiner verletzt. Die ganze Aktion hat offenbar auch nicht viel gebracht, war bestimmt auch nicht besonders klug. Denn spätestens am nächsten Tag waren sie alle wieder da: die Händler und ihre Auslagen auf den Tischen. Jesus selbst wird auch nicht gleich verhaftet. Die Priesterschaft im Tempel steht noch unter dem Eindruck der jubelnden Massen, die ihm tags zuvor bei dem legendären Einzug in Jerusalem gehuldigt hatten. Sie suchen einen weniger spektakulären Weg, ihn zu beseitigen. Wenige Tage später sollte sich dazu eine günstige Gelegenheit im Garten Gethsemane ergeben. War der wütende Auftritt Jesu im Tempel also umsonst? Vordergründig sieht es so aus. Doch vielleicht verstehen wir diese Aktion anders, wenn wir nicht eine unmittelbare Wirkung, einen nachhaltigen Erfolg erwarten, sondern sein Handeln als einen prophetischen Akt, als eine sog. Zeichenhandlung, verstehen. Es geht Jesus darum, Aufmerksamkeit für die Botschaft zu wecken, auf die es ihm ankommt: Das Haus Gottes soll ein Bethaus, ein Ort der inneren Einkehr, sein und keine ‚Räuberhöhle‘. Drastische Worte. Doch für mich und viele andere, die sich an Jesus orientieren, ist der Auftritt Jesu im Tempel enorm wichtig. Er sagt mir

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und allen, die manchmal verzweifelt und wütend sind über die drohenden und bereits eintretenden menschengemachten Katastrophen, über das rücksichtslose Verhalten der Mächtigen in der Welt, uns sagt er: Resigniert nicht, handelt trotzdem – nicht mit Gewalt gegen Menschen, aber deutlich genug, um Eure Botschaft bekannt zu machen. Mach dich nicht abhängig von den Chancen, die du dir ausrechnest, ob dein Handeln erfolgreich ist. Handle so, dass deine Botschaft deutlich wird. Aber in allem: Handle in Liebe und aus Liebe zu den Menschen. Der Auftritt Jesu erinnert mich an die gegenwärtigen Demonstrationen der Occupy-Bewegung gegen die ausbeuterische Macht der Banken und Konzerne. Die Demonstranten wissen, dass ihre Zelte auf den großen Plätzen in den Metropolen der Welt wieder abgerissen werden. Dennoch handeln sie. Mich erinnert dieser Auftritt auch an die Kirchengemeinden, die Flüchtlingen Asyl gewähren mit dem hohen Risiko, dass es sinnlos scheint. Und doch tun sie es, um ein Zeichen zu setzen für die Liebe Gottes zu allen Menschen und unsere daraus folgende Verantwortung. Er erinnert mich an die Friedensgebete und Kerzen in der damaligen DDR, die unerwartet und völlig überraschend für die, die damals mitmachten, zum Erfolg, dem Zusammenbruch des Regimes führten. Er erinnert mich an die Märtyrer der frühen Christengemeinden, die sich weigerten, die römischen Kaiser anzubeten, um stattdessen Gott die Ehre zu geben. Es braucht nicht notwendig einen exklusiven Ort für unsere Andacht. Wie das Handeln und die Worte Jesu könnten auch die zornigen Zeichenhandlungen und Worte für unsere Zeit lauten: Wisst ihr nicht, dass dieser Planet Erde ein Gottesplanet ist, ihm und uns zur Freude; ihr aber habt ihn zur räuberischen Ausplünderung freigegeben. Er erinnert mich nicht zuletzt auch an die Eltern von Kindern, und an die Kinder von Eltern, die nicht mehr wissen, wie sie deren Herzen erreichen können. Da fließen häufig Tränen – und dennoch halten viele von ihnen fest an der Liebe, werden auch mal zornig, vielleicht sogar verletzend und hören trotzdem nicht auf, ihnen trotz allem und immer wieder neu Gutes zu tun – auch wenn es so aussichtslos erscheint.

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Auch wir sollten wie Jesus mehr darüber weinen und ihm entsprechend handeln, so zornig und so voller Liebe wie er. Doch entscheidend ist dabei: immer in der Beziehung zu Gott zu bleiben, d. h. immer wieder stille zu werden und zu beten. Ora et labora, Bete und handle, der Leitspruch der Benediktiner, kann uns auch heute noch ein wichtiger Maßstab sein. Andere feiern starke Helden. Jesus ist nach unseren Maßstäben eher ein schwacher Held, ein Antiheld, einer, der auf Macht verzichtet, einer mit der ‚Gabe der Tränen‘, um einen Begriff von Dorothee Sölle zu nennen, und einer, der in seinem zornigen Handeln sich nicht von einem erwarteten Erfolg, sondern zuallererst von der Liebe leiten lässt. Aber gerade mit dieser Gabe kommt er mir nahe. Er stärkt mich und andere, die sich auch machtlos wähnen gegenüber den Mächtigen in Politik und Wirtschaft, denen zum Weinen zumute ist, weil das Leben so tiefe Kerben in ihre Seelen geschlagen hat. Der Jude Jesus weint über Jerusalem, den Heiligen Ort der Juden, der Ort des Tempels, des Hauses Gottes. Lukas betont immer wieder die enge Verbundenheit Jesu mit Jerusalem und seinem Tempel. Er erzählt, dass dieser schon mit 12 Jahren den Tempel als sein eigentliches Zuhause bezeichnet hatte. Von Anfang an war Jesus klar, dass in Jerusalem sich entscheiden musste, ob seine Botschaft von der Liebe Gottes gehört und angenommen würde. Aber er ahnt darüber hinaus auch die kommende Tragödie über diese Stadt – und er weint und er handelt. Dennoch spürt Jesus seine Ohnmacht. Er kann den Tempel und die Heilige Stadt nicht retten. Jesus weint, weil ihm die Gier der Mächtigen die Tränen in die Augen treibt, und er spürt die Unfähigkeit der vielen, ihn zu verstehen. Jesus kann die Katastrophe nicht aufhalten, in die sein geliebtes Volk hinein geraten wird damals in Jerusalem und immer wieder in den späteren Jahrhunderten, die Pogrome, Demütigungen und Vertreibungen, die Gottes auserwähltem Volk noch bevorstehen sollten, von der christli-

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chen Kirche der Macht, die sich als Hüterin der Wahrheit verstand, zuletzt aber ganz besonders durch die Vasallen des „Meister(s) aus Deutschland“, den Tod, „der millionenfach Gräber aushob in den Himmeln“, wie Paul Celan in seiner berühmten Todesfuge die geplante sog. Endlösung der Judenfrage durch die Nazis in Worten zum Ausdruck brachte, die den Atem stocken lassen. Ich bin sicher: Der Jude Jesus weinte in Auschwitz, als seine Geschwister, sein Volk, im Gas erstickten und verbrannten. Er war auch zornig über die Täter aus Deutschland. Daran denken wir heute am Israelsonntag. Und noch immer weint er und ist zornig über alle, die ihren Glauben, ihre Religion missbrauchen für ihre ausgrenzenden Ideologien und psychopathischen Machtinteressen – sei es in „christlich“ oder „islamisch“ sich nennenden Völkern, oder – so habe ich manchmal den schrecklichen Verdacht – bei politischen und religiösen Fanatikern im Judentum selbst. Jesus weint über alle Orte und Situationen, wo die Menschen- und Gotteswürde mit Füssen getreten wird, wo Macht die Ohnmächtigen bedrängt, wo Leben beschnitten und gedämpft wird, wo Tränen zurückgehalten und unterdrückt werden, wo Starke über die Schwachen herrschen, weil sie ihre eigenen Schwächen nicht ertragen wollen. Jesus weinte, ja, aber danach geht es weiter. Die Tränen haben seine Augen nicht trübe bleiben lassen. Im Gegenteil: mit Tränen gewaschene Augen machen einen neuen Durchblick möglich. Nach den Tränen der Ohnmacht kommt das Handeln. Gott sei Dank. Jesus lehrt mich: nach den Tränen muss nicht starre Resignation bestimmend bleiben. Tränen können ins Fließen bringen, setzen neue Energie frei, vielleicht nicht immer, aber es mag sein, dass …. Jesus wird zornig und handelt, weil es keinen billigen Frieden geben darf, weil sein Haus ein Bethaus sein soll, ein Ort, der zuerst die Herzen öffnet, uns einander wahrnehmen hilft als Menschen mit der großen Sehnsucht nach Frieden und Gerechtigkeit, als Menschen, die bereit sind, dafür auch einen Preis zu zahlen – etwa, indem sie auf selbstver-

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ständlich scheinende Ansprüche verzichten, die nicht der Gerechtigkeit dienen. Dass wir uns dort, an einem solchen Ort besinnen auf das Wort Gottes, das in Jesus ein Gesicht bekommen hat, damit wir es von jetzt an in den Gesichtern der Vielen gespiegelt finden und wir begreifen: Wir sind nicht allein. Dafür sind wir da als Kirche Jesu Christi. Darin liegt ihr guter und notwendiger Sinn. Jesus weint, Jesus wütet, und ich ahne neu, was Konstantin Wecker so wunderbar authentisch zum Ausdruck gebracht hat: „zwischen Zärtlichkeit und Wut tut das Leben richtig gut. … Zwischen Zärtlichkeit und Wut fasse ich zum Leben Mut“ (Konstantin Wecker: „Wut und Zärtlichkeit“, Lied auf der gleichnamigen CD).* Amen.

Inspiriert und ermutigt wurde ich durch Aussagen in der wunderbaren poetischen Predigt von Tobias Götting; siehe https://predigten.evangelisch.de/predigt/zwischenzaertlichkeit-und-wut-predigt-zu-lukas-1941-48-von-tobias-goetting. Einige Zeilen habe ich wörtlich übernommen. Durchs Herz gefiltert und den Verstand geprüft, sowie mit meinen Ergänzungen und Weglassungen modifiziert, wurde dessen Predigt letztlich jedoch zu meiner authentischen Botschaft.

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Predigt über Lukas 19,41-48 Matthias Loerbroks Liebe Gemeinde, dass die Situation in und um Jerusalem, im Nahen und Mittleren Osten auch heute zum Heulen ist, wird niemand bestreiten, der sie verfolgt. Viele erinnern den Krieg im Gazastreifen im Frühjahr. Damals hatte die dort regierende Chamas einen Waffenstillstand nicht verlängert. Hunderte von Raketen flogen täglich nach Israel – Vorwarnzeit weniger als zwei Minuten –, vor allem in die Stadt Sderot und ihre Umgebung, aber zunehmend auch in größere, weiter entfernte Städte wie Aschkylon und Aschdot im Norden, Beerscheva im Süden, und es war absehbar, dass es nicht mehr lange dauern würde, bis sie auch die wirklich große Stadt Tel Aviv erreichen würden, die westliche und weltliche, allen Frommen verhasste Stadt, die sich selbst gern mit New York vergleicht. Dass Israel sich aus dem Gazastreifen zurückgezogen und alle dortigen Siedlungen geräumt hatte, hatte nichts genützt, ebenso wenig wie zuvor der Rückzug aus dem Süden Libanons. Verständlicherweise gab und gibt es in Israel nur wenige, die sich daraufhin auch noch aus der Westbank zurückziehen wollten. Aber was hat dieser Krieg bewirkt und gebracht, außer Tod und Zerstörung, Trauer und Empörung? Ja, es werden sehr viel weniger Raketen abgeschossen, und das ist wichtig. Aber die Situation im Gazastreifen ist so elend und entsetzlich, dass es der dort regierenden frommen Mörderbande nicht schwer ist, immer neuen Nachwuchs zu rekrutieren. Dass sie nun, wie gestern zu hören war, noch Frömmere zusammenschießt, macht die Sache nicht besser. Und die nichtreligiöse Fatah, die in begrenztem Maß die Westbank regiert, auch nicht, wie sie grade mit ihrem Parteitag gezeigt hat. Auch die christlichen Palästinenser, mit denen unsere Kirche partnerschaftlich verbunden ist, sind keine Hilfe, sie sind, im Gegenteil, supernational, um nur ja nicht im Verdacht zu stehen, westlich, also national nicht zuverlässig zu sein. Verständlich

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zwar, aber auch nicht hilfreich, dass inzwischen in Israel Parteien regieren, die sich von Verhandlungen mit den Palästinensern wenig versprechen, sich zwar mit der Regierung der Vereinigten Staaten über Siedlungen streiten, aber die Gefahr eines atomar gerüsteten Iran viel dringlicher finden, und diese Gefahr ist ja in der Tat real. Die Situation ist zum Heulen. Doch schon laufen wir Gefahr zurückzufallen, zurückzurutschen in ein altes Verständnis des Israelsonntags, von dem wir dachten, es sei schon überwunden: Jerusalem erkennt nicht, was dem Frieden dient, ob wir dabei an die Palästinenser denken, von denen der frühere israelische Außenminister Abba Eban sagte, dass sie nie eine Chance verpassen, eine Chance zu verpassen, oder an die israelische Regierung, deren Tun und Unterlassen wir kritisieren, bis hin zu den blödsinnigen Vergleichen zwischen den dortigen Sperranlagen und der Berliner Mauer. Der 10. Sonntag nach Trinitatis verdankt sein Thema als Israelsonntag seiner zeitlichen Nähe zum 9. Tag im Monat Aw (Tescha bAw) – in diesem Jahr war der vor gut zwei Wochen, am 30. Juli. Israel begeht an diesem Tag einen Trauertag, an dem gefastet und an dem in der Synagoge das Buch Klagelieder gelesen wird, denn an diesem Tag, so die jüdische Tradition, geschah sowohl die Zerstörung des ersten Tempels durch die Babylonier unter Nebukadnezar im Jahre 586 v. u. Z. wie die des zweiten Tempels durch die Römer unter Titus im Jahre 70. Und noch eine dritte Katastrophe in der jüdischen Geschichte, eine von Christen verursachte, ist mit diesem Tag verbunden: die Vertreibung der Juden aus Spanien im Jahre 1492. Freilich hat die christliche Kirche nicht solidarisch mitgetrauert und mitgefastet. Sie betrachtete die Zerstörung Jerusalems als Strafe des Gottes Israels für sein Volk, weil es in seiner großen Mehrheit in Jesus nicht den lang erwarteten Messias, den Christus sah. So begingen Christen den 10. Sonntag nach Trinitatis bei aller Erschütterung doch eher triumphierend selbstbewusst und selbstgerecht: Jerusalem hat nicht erkannt, was seinem Frieden dient – wir aber, wir wissen es. So wurde auch unser Lukastext verstanden, und

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das war auch der Grund, warum er zum Evangeliumstext für den 10. Sonntag nach Trinitatis wurde. Zumal ja auch die Geschichte von der Austreibung der Händler aus dem Tempel alles zu bestätigen schien, was christliche und nichtchristliche Antisemiten immer schon von der „jüdischen Krämerseele“ zu sagen wussten. Leider gibt es noch immer Christen, die meinen, Juden als Juden dürfe es seit Jesus gar nicht mehr geben, weil sie seitdem alle Christen sein müssten. Doch die meisten Kirchen haben inzwischen gelernt, Gottes Treue darin zu sehen, dass er sein Volk neben der Kirche und gegen sie erhält, lehnen darum Judenmission ab. Die christliche Überheblichkeit aber ist nicht verschwunden, sie wurde bloß säkularisiert. Viele Christen, auch viele nicht mehr christliche Deutsche, wissen wieder besser als Israel selbst, was Jerusalem zum Frieden dient und was nicht, nicht mehr religiös, aber politisch. Doch Gott sei Dank, wir müssen heute unseren Lukasabschnitt nicht mehr so hören und verstehen, wie ihn unsere Väter und Mütter gehört und verstanden haben, können entdecken, dass wir ihm damit nicht gerecht werden, denn gerade Lukas hat ein ausgesprochen positives Verhältnis zu Israel, zu Jerusalem und zum Tempel. Bei Lukas kommt Jesus bereits als Säugling nach Jerusalem, in den Tempel. Der greise Simeon prophezeit ihm da eine Doppelrolle: für sein Volk Israel einerseits, unter den Völkern andererseits: er werde ein Licht zur Erleuchtung der Völker und zum Preis seines Volkes Israel. Und der zwölfjährige Jesus erklärt seinen Eltern, als sie ihn im Tempel finden, er müsse in dem sein, was seines Vaters ist. Einen großen Teil seines Evangeliums gestaltet Lukas als Reise nach Jerusalem. Und nach seiner Ankunft ist Jesus, wir hörten es, täglich im Tempel, wie auch, nach Ostern und Pfingsten, seine Jünger. Denn auch der zweite Band des Lukas, seine Apostelgeschichte, ist auf Jerusalem zentriert. In der Verkündigung des Evangeliums unter den Völkern sieht er den Beginn der Verwirklichung dessen, was wir vorhin aus dem Buch Micha hörten: die Völker lernen Weisung aus Jerusalem. Und Lukas hat von seinem

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großen Lehrer Paulus gelernt, was wir vorhin aus dessen Römerbrief hörten, nämlich mit dem jüdischen Nein zu Jesus und dem Evangelium etwas Positives anzufangen. Vor allem aber hat das traditionelle, etwas behäbig selbstgewisse Verständnis unseres Textes dessen entscheidenden, dramatischen Punkt nicht wirklich wahr- und ernstgenommen: Jesus weint. Es ist bezeichnend, dass es alte Handschriften gibt, in denen dieser Vers fehlt: ein weinender, noch dazu ein um Jerusalem weinender Jesus war den Überlieferern nicht recht. Lukas beschreibt einen Moment heftiger Gemütsbewegung, in seiner Intensität vergleichbar nur mit der Situation in Gethsemane. Er deutet damit an, dass beide Situationen auch inhaltlich vergleichbar sind: Jesu heftige Trauer über die bevorstehende Zerstörung Jerusalems und des Tempels und sein heftiges Ringen mit der bevorstehenden Kreuzigung. So zeigt sich Jesus in seinem Leben wie in seinem Tod von Römerhand vorbehaltlos vergleichbar mit seinem Volk, weil er vorbehaltlos solidarisch mit ihm ist. Vorstellbar, wünschenswert wäre eine christliche Gemeinde, die auf alle Besserwisserei, sei es religiöse, sei es politische, verzichtet, stattdessen wie ihr Herr mit und um Jerusalem trauert und dem Aufruf des 122. Psalms folgt, Jerusalem Frieden zu wünschen. Im selben Lukasevangelium preist Jesus die Weinenden selig und verheißt ihnen: ihr werdet lachen. Und diese Verheißung gilt auch für sein eigenes Weinen um Jerusalem, sie gilt auch uns, wenn wir ihn in seiner Trauer nicht im Stich lassen. Am Ende des Buchs Jesaja wird diese verheißene Zukunft vorweggenommen: „Freut euch mit Jerusalem und seid fröhlich über die Stadt, alle, die ihr sie lieb habt! Freut euch mit ihr, alle, die ihr über sie traurig gewesen seid.“ Amen.

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Predigt über Johannes 4,19-26 Matthias Loerbroks Liebe Gemeinde, Die Geschichte, in der unser heutiger Predigttext steht, beginnt damit, dass Jesus wieder einmal ausweicht, weggeht. Gerade sein Erfolg in Juda ist für ihn bedrohlich geworden, veranlasst ihn zur Rückkehr nach Galiläa. Da hatte er kurz zuvor sein erstes Zeichen getan, und das hatte mit Wasserschöpfen und mit Wasserkrügen zu tun, wurde angestoßen durch ein etwas seltsames Gespräch mit einer Frau: er hatte bei einer Hochzeit Wasser zu Wein gemacht und mit diesem Zeichen gezeigt, dass er gekommen ist, um für volles, pralles, buntes und fröhliches Leben zu sorgen, gegen Mangel eintritt, gegen kümmerliches und verkümmertes, beschädigtes und bedrücktes Leben. Er musste aber durch Samaria ziehen, behauptet der Erzähler – geographisch musste er nicht. Da gab und gibt es andere Wege. Es muss sich um ein theologisches Müssen handeln. Samaritaner, das sind Leute, die betrachten sich wie die Juden als Nachkommen Jakobs, als Kinder Israels. Sie verstehen sich als Nachfahren des lange schon untergegangenen Nordreichs, der zehn Stämme Israels, die verschleppt wurden. Sie stützen sich auf dieselben heiligen Schriften wie die Juden, allerdings nur auf die fünf Bücher Mose, die Thora im engsten Sinne, die übrigen Bücher der Bibel erkennen sie nicht an. Und so machen sie auch die biblische Konzentration auf Jerusalem nicht mit, betrachten stattdessen den Berg Garizim – bei Nablus – als den Ort, den Gott für seine Einwohnung und zur Begegnung mit ihm erwählt hat. Die Juden in Judäa und Jerusalem können allerdings in den Samaritanern keine Geschwister, keine Mit-Israeliten erkennen. Zu schmal ist ihre biblische Grundlage und umgekehrt zu viel Fremdes ihr beigemischt. Eine Rivalität, die uns bekannt vorkommt: Nichtjuden, die sich als wahres Israel verstehen und meinen, die jüdische Bibel besser zu verstehen als die Juden selbst, sie aber nur

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sehr zum Teil überhaupt gelten lassen, und Juden, die in der Existenz dieser Gruppe zwar irgendeine Wirkung ihrer Bibel erkennen, doch mit so viel Unbiblischem vermengt, dass sich kaum noch von entfernten Verwandten reden lässt. Die sind fremd, einander entfremdet. In Samaria gelangt Jesus zu einem Brunnen, und der Erzähler erinnert da in wenigen Andeutungen an den Ursprung der Spaltung zwischen Nordreich und Südreich, zwischen Jakobs Söhnen Josef und Juda, spricht vom Land, das Jakob seinem Sohn Josef gegeben hatte, nennt den Brunnen die Quelle Jakobs. Die Quelle Jakobs, Israels, das klingt doppelsinnig. Jesus sitzt an der Quelle des Lebens, kommt aber ohne fremde Hilfe, ohne Hilfe Samarias nicht ran. Er musste durch Samaria, denn er ist auf Samaria angewiesen. Jesus ist abgemüht, und es ist zwölf Uhr mittags. Eins seiner letzten Worte am Kreuz wird sein: „Mich dürstet.“ Da kommt auch schon eine Frau aus Samaria, um Wasser zu schöpfen. Einst hatte Elieser, Abrahams Knecht, sich an einem Brunnen eine Art Orakel zurechtgelegt: Wenn eine Frau, die Wasser schöpft, auch ihm welches anbietet, dann ist sie die richtige, die Geschichte fortzusetzen, die mit Abraham und Sara begann: die Mutter Israels zu werden. Diese Frau bietet Jesus nichts an, und als er sie um was zu trinken bittet, verweist sie auf den Gegensatz: du – ein Jude; ich – eine Samaritanerin, erinnert an die Trennung an der Quelle Jakobs. Gib mir zu trinken, hatte Jesus gesagt und sagt nun: Wenn du kenntest die Gabe Gottes und wer das ist, der zu dir sagt: gib mir zutrinken, so hättest du ihn gebeten, und er hätte dir lebendiges Wasser gegeben – beide hätten einander was zu geben. Die Frau jedoch betont Jesu Angewiesenheit: du hast kein Schöpfgefäß, und der Brunnen ist tief. Tief ist der Brunnen der Vergangenheit, so beginnt Thomas Manns Josephsroman, sollte man ihn nicht unergründlich nennen? Auch die Frau geht weit zurück in die Vergangenheit: du bist doch nicht größer als unser Vater Jakob, erinnert auch an Jakobs Söhne und damit an die Trennung zwischen Juda und Josef. Jesus geht auf diese Konkurrenzfrage nicht ein. Nicht er ist mehr als Jakob-Israel, sondern der Quelle Ja-

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kobs ist mehr verheißen. Wieder spricht er vom Geben, davon, dass das Wasser, das er gibt, in den Trinkenden wiederum zur sprudelnden Quelle wird, und weckt damit die Sehnsucht der Frau, die nun das Stichwort Geben aufgreift: Gib mir dieses Wasser, dass ich nie mehr dürste und hier her kommen muss, Wasser zu schöpfen. Viele Exegeten sprechen hier und überhaupt beim Johannesevangelium gern von der Technik des Missverständnisses und meinen damit: Jesus verheißt Hochgeistiges, nämlich ewiges Leben, die Frau aber versteht nur Materielles, erhofft sich eine Erleichterung ihrer Hausarbeit. Bei unserer Geschichte kann von Missverständnis keine Rede sein: die Frau hat sehr genau und sehr tief verstanden, was die Bilderrede vom Wasser des Lebens, vom ewigen Leben meint. Ein volles, ein erfülltes, ein ganzes, ein lebendiges Leben. So wird ihr die Mühsal des immer wieder neuen Wasserschöpfens und Wasserschleppens zum Bild ihres mühsamen und ermüdenden Lebens, der immer neuen Anfänge und Aufbrüche, des immer neuen Scheiterns, der nagenden Vergeblichkeit, lähmenden Sinnlosigkeit. So wie im 20. Jahrhundert dem Juden Manés Sperber „Die Wasserträger Gottes“ zum Inbegriff wurden für die völlig vergebliche Mühsal der Welt des jüdischen Schtetls, die er flieht und Atheist wird, Kommunist, Psychoanalytiker. Auch diese Frau schreit nach einem neuen, anderen Leben, wie der Hirsch lechzt nach frischem Wasser – ein Seufzen, mühselig und beladen. Hier treffen sich zwei, die beide abgemüht, die auf einander angewiesen sind. Doch da nimmt das Gespräch eine überraschende Wende. Jesus redet vom Mann dieser Frau, davon, dass sie fünf Männer gehabt habe und nun einen, der nicht ihr Mann ist. Das klingt, als müssten erst Ehe- und Liebesgeschichten aufgeklärt werden, ehe die Quelle lebendigen Wassers sprudeln kann. Es ist nicht zu bestreiten, dass es das als kirchliche Praxis gab und gibt: anderen Sünden vorhalten, dunkle Seiten aufdecken, um ihnen ihre Angewiesenheit auf die Gnade und das Evangelium nachzuweisen. Dietrich Bonhoeffer hat das als pfäffisches Schnüffeln kritisiert. Das sollten wir Jesus nicht unterstellen. Er redet diese Frau als

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Vertreterin ihres Volkes an, die Frau aus Samaria wird hier Frau Samaria. Jesus greift ein Bild aus den Prophetenbüchern auf, dem Teil der Bibel also, der in Samaria nichts gilt. Die Propheten hatten die Beziehung zwischen Gott und seinem Volk Israel oft mit einer Liebesgeschichte verglichen, und darum den Abfall Israels von seinem befreienden Gott, seine Hinwendung zu anderen Herren und Mächten als Hurerei bezeichnet; aber auch verheißen, dass Gott Israel zum Ursprung, zur Quelle ihrer Liebesgeschichte zurückführen wird. An dieser Stelle beginnt der Predigttext: 19 20 21

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Die Frau spricht zu ihm: Herr, ich sehe, du bist ein Prophet. Unsere Väter haben auf diesem Berge angebetet. Doch ihr sagt, in Jerusalem sei der Ort, wo man anbeten müsse. Jesus spricht zu ihr: Glaube mir, Frau, die Stunde kommt, da ihr weder auf diesem Berg noch in Jerusalem den Vater anbeten werdet. Ihr betet an, den ihr nicht kennt, wir beten an, den wir kennen, denn das Heil kommt von den Juden. Aber: die Stunde kommt – und ist jetzt da –, wo die wahren, die getreuen Anbeter den Vater in Geist und Wahrheit, in Treue anbeten werden. Und solche sucht der Vater ja, die ihn anbeten. Gott ist Geist, und die ihn anbeten, müssen ihn im Geist und in der Wahrheit anbeten. Die Frau spricht zu ihm: Ich weiß, der Gesalbte, der Messias genannt wird, kommt. Wenn der kommt, wird er uns alles ansagen. Jesus spricht zu ihr: Ich bin es – der mit dir redet.

Im Unterschied zu vielen moralisierenden Auslegern, die sich etwas abenteuerlich das Privatleben dieser Frau zusammenphantasieren, versteht die Frau selbst diese Bilderrede sofort: Ich sehe, du bist ein Prophet, sagt sie, und meint damit nicht: ein Hellseher, der irgendwelche Heimlichkeiten erkennt, die kein Mensch wissen kann und soll. Und so

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redet sie auch nicht von ihrer Ehe, sondern vom Kern des Konflikts zwischen Juden und Samaritanern, redet als Sprecherin ihres Volkes Jesus als Juden an, spricht von „wir“ und „ihr“: Unsere Väter haben auf diesem Berg angebetet, doch ihr sagt, Jerusalem ist der Ort, wo man anbeten soll. Und Jesus greift dieses Gegenüber auf, redet nun auch von wir und ihr – was immer sonst seine Konflikte mit anderen Juden sind, und davon gibt es gerade im Johannesevangelium viele, im Gespräch mit Nichtjuden, also auch uns Christen aus der Völkerwelt, versteht und betätigt er sich als Sprecher aller Juden; als Sprecher und Repräsentant seines Volkes, als König der Juden, wird er am Ende von Nichtjuden, denen er überliefert wurde, verspottet und gekreuzigt: Ihr betet an, den ihr nicht kennt, wir beten an, den wir kennen. Eine höchst beunruhigende Anrede an uns Nichtjuden. Jesus hält es für möglich, dass wir Gottesdienst feiern, fromm sind, Religiöses erleben und empfinden und doch keine Ahnung von Gott haben, den Gott Israels nicht kennen. Doch Jesus verbindet mit diesem kritischen Wort eine Verheißung: das Heil kommt von den Juden. Er will die Frau und uns nicht zum Judentum bekehren, aber zu den Juden: Wer sich von den Juden trennt, trennt sich vom Heil, denn das Heil kommt von den Juden. Gott hat sich in seiner Freiheit an die Juden gebunden in der Erwartung, die anderen Völker werden ihn in seinen Wegen mit diesem Volk kennenlernen. „Heil“ ist freilich ein unklares Wort, überdies in den tausend Jahren zwischen 1933 und 1945 tot gebrüllt. Wörtlich steht da: Die Befreiung kommt von den Juden, denn befreiende Gotteserkenntnis entsteht in der Begegnung mit diesem Volk. Dass er sein Volk in der Völkerwelt vertritt, heißt aber nicht, dass er es ersetzt. Jesus kommt nicht allein, bringt sein Volk mit. Die christliche Gemeinde ist auf eine lebendige Gesprächsbeziehung mit den Juden angewiesen. Die Befreiung kommt von den Juden, Befreiung auch von einer Religion ohne Erkenntnis des Gottes Israels, Befreiung darum auch, wie bei Frau Samaria, von allerlei anderen Göttern und heiligsten Gütern, Baalim, Besitzer-Ehemännern.

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Die christliche Gemeinde kann nur gemeinsam mit den Juden aus der Quelle Jakobs=Israels schöpfen und sie verdorrt, wenn sie es nicht tut. Jesus muss durch Samaria, er sucht das Gespräch mit dieser Frau, ist auf sie angewiesen, weil sein Vater Anhänger sucht unter Nichtjuden. Der Vater sucht Leute, die ihn im Geist und in der Wahrheit anbeten, sagt Jesus. Es geht ihm nicht um eine Art religionsgeschichtlichen Fortschritt, er will Gottes Bindung an das Land Israel, die Stadt Jerusalem nicht ersetzen durch eine Anbetung im Geist und in der Wahrheit. Geist ist nicht der Geist des Idealismus, der sich über primitive Bindungen an Materielles erhaben weiß, sondern der Geist des Gottes Israels, der verhindert, dass wir anbeten, was wir nicht kennen. Ihn in Wahrheit anbeten, heißt: seiner Treue trauen, Israel als Zeichen dieser Treue wahrnehmen und diese Wahrnehmung als treue Verbündete dieses Volkes bewähren. Gott sucht Verbündete. Leute, denen der Geist die Augen öffnet und die Ohren und die Herzen, ausgerechnet in diesem Volk, in seiner Geschichte und Gegenwart Gott zu erkennen. Dazu braucht es Gottes Geist, denn wir wissen aus der Bibel wie aus der Zeitung, dass diesem Volk – fragwürdig wie alle Völker – nichts Besonderes anzumerken ist. Gott im Geist und in der Wahrheit anzubeten, das bedeutet, ihn kennenzulernen als den Gott Israels; sich in Treue, in Solidarität auch seinem Volk beizugesellen. Wer ein Christ, eine Christin wird, bekommt mit Israel zu tun, wird zum Teilnehmer an der Geschichte Gottes mit diesem Volk. Die Frau aus Samaria möchte die ganze Frage der Gotteserkenntnis offen lassen, in die Zukunft verschieben: Ich weiß, dass der Gesalbte kommt, der Messias genannt wird. Wenn er kommt, tut er uns alles kund. Doch Jesus antwortet: Ich bin es – der mit dir redet. Eine merkwürdige Definition des Messias: der Jude, der mit dir redet. Messias ist Jesus darin, dass er als Sprecher seines Volkes in die Fremde geht und da für Israel Gutes bewirkt, als Licht zur Aufklärung der Völker und zum Preis seines Volkes Israel dazu beiträgt, dass Israel ohne Angst, befreit von der Hand seiner Feinde, Gott dienen kann. Es geht ihm da-

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rum nicht nur um unsere Angewiesenheit auf eine Lebensbeziehung mit den Juden, weil die Befreiung von den Juden kommt, sondern auch um die umgekehrte Angewiesenheit: Jesus repräsentiert hier ein abgemühtes, ein bedürftiges Israel, ist auf Nichtjuden angewiesen, wie er in der Mittagshitze auf einen Schluck Wasser angewiesen ist; er muss durch Samaria, weil sein Vater Anhänger unter Nichtjuden sucht, die ihn im Geist und als treue Bundesgenossen seines Volkes anbeten. Jesus kommt und spricht als Jude zu Nichtjuden, geht als Fremder in die Fremde, um die Fremdheit zu überwinden, Verbündete Gottes und seines Volkes zu gewinnen und sie so zu Leuten zu machen, die Gott erkennen, ihn im Geist und in der Wahrheit anbeten. Die Frau lässt den Krug stehen und eilt in die Stadt – Jesus hat ihr jetzt das lebendige und lebendig machende Wasser gegeben, von dem er sprach. Sie eilt in die Stadt und sprudelt. Amen.

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Predigt über Römer 9,1-5 Friedrich W.J. Hasselhoff* Liebe Gemeinde, der heutige Sonntag wird der Israelsonntag genannt. An diesem Sonntag pflegt die Kirche ihr Verhältnis zu Israel zu bedenken. Und sie hat dies seit Jahrhunderten in gleicher Weise getan. Und zwar so: Seit den Tagen der Urgemeinde hat die christliche Kirche sich als Gemeinde des neuen Bundes verstanden. Sie hat von sich als dem „neuen“ oder „wahren“ Israel gesprochen. Sie hat den in Christus geschlossenen „neuen“ Bund als Ablösung oder sogar als Gegensatz zum „alten“ Bund verstanden. Sie sah die legitime Existenz des jüdischen Volkes als Bundesvolk, als Volk Gottes, mit dem eigenen Eintritt in die Geschichte als beendet an. Von nun an hat die Kirche dem jüdischen Volk das Existenzrecht direkt abgesprochen. Die Kirche hat sich an die Stelle des alten Volkes Gottes gestellt und dabei hat sie den Juden eine eigenständige Gottesbeziehung zum Gott Israels abgesprochen, ja, eine Weiterexistenz des alten Bundesvolkes neben der Kirche wurde von der Kirche bestritten, und dies wird bis heute in unseren Gemeinden bestritten. Und der Jude? Er sank in den Augen der Kirche ab unter den Heiden, er wurde als von Gott verflucht angesehen, ewig ruhelos und verfolgt von allen, vor allem von der mächtigen, Kirche. Aber seine Existenz war ein stiller Protest gegen dieses Gebaren der Kirche. Und so hat die Kirche durch ihre grundsätzliche Ablehnung des Juden und durch ihren grundsätzlichen Judenhass auch den Boden bereitet, auf dem die Saat des rassischen Antisemitismus des 19. und 20. Jahrhunderts aufging und ihre giftigen Blüten treiben konnte. *

Predigt am 19. August 1979 (Israelsonntag), in der Evangelischen Kirche EssenRellinghausen. – Zuerst unter dem Titel „Israel bleibt Volk Gottes (Röm. 9, 1-5)“ in: Friedrich W. J. Hasselhoff, „Mitbürger der Heiligen und Gottes Hausgenossen“ – Gesammelte Aufsätze, Vorträge und Predigten, Würzburg: Königshausen & Neumann, 2012, 175-178.

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Das ist die Grundhaltung der Kirche, die sie eingenommen hat im Verhältnis zum Judentum bis heute. Und die abendländische Gesellschaft hat diese Grundhaltung sich zu eigen gemacht. Aber seit Auschwitz ist diese Grundhaltung der Kirche nicht mehr möglich. Wir müssen umdenken! Warum eigentlich? Aus einem einfachen Grund: Die Judenvernichtung in den 1930er Jahren, die in dem Vernichtungslager Auschwitz kulminierte, hat eine Krise der Kirche und der abendländischen Kultur eingeleitet, deren Ausmaß wir noch nicht überblicken können. Ich will nur einiges andeuten: Auschwitz hat gezeigt, wozu Menschen abendländischer Kultur fähig sind, und wie sie mit dem Menschen umgehen. Und was mich am meisten betroffen macht, ist, dass an dieser Vernichtung verschiedene Stände mitgewirkt haben, von denen man es von ihrer Herkunft und Ausbildung her nicht erwartet hätte. Denn es gilt ja zu sehen, - dass die Nürnberger Rassengesetze und die Kommentare dazu von Juristen erarbeitet wurden, - dass das Gas Zyklon B von Chemikern hergestellt wurde, - dass die Aktion Gnadentod und die medizinischen Versuche von Ärzten durchgeführt wurden, - dass bei Auschwitz eine Arbeitskräfteverwertungsfabrik von Industriellen betrieben wurde, - dass die KZ-Baracken von Architekten entworfen wurden, - dass die Naziideologie in den Schulen von Lehrern vermittelt und gelehrt wurde, - dass Eisenbahner die Transportpläne erarbeiteten und durchführten, - dass Christen „das Alte Testament“ aus der Bibel werfen wollten und an der Entjudung des Glaubens arbeiteten, - dass das Ausland vor Kriegsbeginn zu spät oder nicht reagierte. Mit anderen Worten: Universitäten, Schulen, die Wirtschaft, die Technik und die Theologie haben ihren Beitrag dazu gegeben.

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Freilich ist auch zu sagen: Aus all diesen Gruppen ist auch Widerstand geleistet worden, hat man Juden und Oppositionellen geholfen. Gott sei Dank! Und darum ist es nötig, ihr Erbe zu unserem Erbe werden zu lassen und es der Jugend weiterzugeben. Und ein Sonntag wie der heutige Israelsonntag lädt dazu ein, unser Verhältnis, das Verhältnis der Kirche zum Judentum neu zu überdenken. Und wir wollen es anhand unseres Predigttextes tun. Was Paulus uns zu lernen neu aufgibt, was als Grundvoraussetzung unseres Verhältnisses zu den Juden anzusehen ist, ist in einem Satz gesagt: Gott hält an seinem Volk Israel fest. D.h. Gottes Wort ist an Israel nicht „hinfällig“ geworden. Seine Zusagen und Verheißungen an und für Israel bleiben in Kraft. Sie sind zu keiner Zeit aufgehoben worden. Und der Bund Gottes mit Israel ist nicht gekündigt, Israel ist nicht verflucht, sondern bleibt geliebt, bleibt erwählt. Mit anderen Worten: Israel hat bleibende heilsgeschichtliche Bedeutung. Die Kirche hat sich geirrt – Jahrhunderte lang. Und wir dürfen nicht in diesem Irrtum verharren. Diese Sätze entfaltet Paulus im Einzelnen in unserem Predigttext. Ihm wollen wir uns zuwenden. Er sagt: 1. Sie sind Israeliten. Die Bezeichnung „Israelit“ ist eine ehrenvolle Bezeichnung in der Bibel. Um sie ganz zu verstehen, müssen wir weit im sogenannten Alten Testament zurückblättern. Im 1. Buch Mose finden wir dann die Geschichte von Jakob. Von ihm wird erzählt, dass er seinen Bruder Esau und seinen Vater Isaak betrogen hat, den einen um das Erstgeburtsrecht, den anderen um den Segen, und dass er deswegen fliehen musste. – Aber es wird auch erzählt, dass Gott nach ihm greift. Und nun lebt er im Zugriff Gottes; als er zurückkommt, aus der Fremde, stellt ihn Gott, und er kämpft gegen Gott am Fluss Jabbok. – Und Gott lässt sich von ihm besiegen. Gott aber gibt ihm dabei den Ehrennamen: Israel – d.h. Gottesstreiter. Und so wird dieser Name zum Ehrennamen des Volkes Israel. Israel – genauer: die Juden heute – leben im Zugriff Gottes und leben aus der Gnade Gottes bis heute und in Zukunft!

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2. Paulus sagt von den Juden: Sie haben das Recht auf die Sohnschaft. Um dies zu verstehen, müssen wir wieder ins Alte Testament hineinschauen. Da finden wir in der Mosegeschichte die Stelle, die von Israel als dem Sohn Gottes spricht, den Gott aus Ägypten ruft (Ex. 4). Aber was heißt das? Mit „Sohn“ ist ein Rechtstitel gemeint. In der Antike war es so: Der als Sohn geborene ist der Erbe, er ist der Freie, er ist kein Sklave! Darum wird z.B. der verlorene Sohn wieder in die Rechte des Sohnes eingesetzt! – Israels Sohnschaftsrecht heißt also: Gott hat es zur Freiheit des freien Sohnes berufen und geführt. Israel ist der Erbe des Heils Gottes, es ist der Erbe des Reiches Gottes! Und indem die Heiden in die Kirche gerufen werden, werden sie in die Sohnschaft Israels gerufen. Nun sind wir nicht mehr Gäste und Fremdlinge, sondern mit den Juden zusammen Söhne und Erben! 3. Sie haben die Herrlichkeit! D.h. die personhafte Gegenwart Gottes ist bei Israel. In der Wüstenwanderung in der Gestalt der Feuersäule, die mit den Israeliten zog, im Land war die Gegenwart Gottes im Tempel, wo Gott seinen Namen, d.h. seine Gegenwart, wohnen ließ! Seine Gegenwart ist für Israel im Namen Gottes, und der heißt: Ich bin mit dir. Im Johannesevangelium heißt es darum: „Und das Wort wohnte unter uns, und wir sahen seine Herrlichkeit!“ (Joh. 1, 14) – Gott hat Israel mit seiner Gegenwart ausgezeichnet! Und dies ist bis heute so! Dies ist nicht hinfällig geworden. 4. Sie haben die Bundesschlüsse. Wir Christen meinen immer, dass der alte Bund Gottes mit Israel gekündigt sei, weil ein neuer ihn abgelöst hat. Hier werden wir von Paulus eines anderen belehrt: Sie haben die Bundesschlüsse: den Noahbund, den Abrahambund, in dem steht, dass Gott ihr Gott sein will ad olam, auf ewig! (Wir überlesen solches allzu schnell!), den Sinaibund, den Davidbund. Sie sind alle von Gott her ungekündigt. Wer etwas von diesen Bundesschlüssen versteht, wird es bestätigen können, ja müssen. –

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Wie können wir da meinen, dass Gott den Bund mit seinem Volk gekündigt hat? 5. Sie haben die Gesetzgebung. Gemeint sind damit die Zehn Gebote. Aber das ist bereits falsch wiedergegeben: in der Bibel sind es zehn Worte! Und diese Worte hängen auf das Engste mit dem Sinaibund zusammen, in dem Israel zum heiligen Volk, zum Eigentumsvolk Gottes erklärt wird. Und die Lebensordnungen dieses Volkes Gottes stehen in den Zehn Worten: sie schützen die Freiheit dieses Volkes! – Und darum freut sich jeder Jude über diese Worte! Wie man nachlesen kann in Psalm 1 oder in Psalm 19 oder in Psalm 119: „Denn Dein Wort ist meines Fußes Leuchte und ein Licht auf meinem Wege.“ (Ps. 119,105) 6. Und sie haben die Gottesdienste und die Verheißungen. Gottes Verheißungen sind die Zusagen seiner Gnade und seines Heiles, auch die sogenannten messianischen Weissagungen sind es. Und sie bilden den Inhalt des jüdischen Gottesdienstes, und sie sind die Hoffnung dieses Volkes. Darum leben sie unter uns, gehalten von Gott, und die Pforten der Hölle wird dieses Volk nicht überwinden. 7. Und so gehören ihnen auch die Väter: Abraham, Isaak und Jakob und mit ihnen auch der Gott Abrahams, Isaaks und Jakobs, nicht der Philosophengott, sondern der Gott der Väter, der Gott der Erwählung und des Auszuges, der Gott mit uns. Und schließlich: 8. Von ihnen stammt auch der Messias, der Christus, seiner leiblichen Herkunft nach ab. Es gehört zu den größten Torheiten der Christenheit zu behaupten, dass Jesus kein Jude gewesen sei, sondern Arier, oder dass er das Judentum überwunden habe oder dass er kein Jude war, sondern Christ. Und in der Geschichte der Kirche haben die Christen meist geglaubt, dass Jesus uns vom jüdischen Volk trennt, und viele Christen glauben das noch heute. – So kann man unter anderem hören, dass Jesus das Judentum endgültig überwunden und ein neues Gottesvolk begründet habe. Aber seit einiger

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Zeit hat in der Kirche eine Besinnung über die Frage begonnen, ob Jesus uns vom jüdischen Volk trennt oder uns mit ihm verbindet. Paulus hat diese Frage bereits zu seiner Zeit eindeutig beantwortet: Jesus Christus steht ganz auf Seiten des Volkes Israel. Ja, Jesus selbst sagt in den Evangelien, dass er zum Hause Israel gesandt sei. Er ist durch und durch Jude und sein Judesein hat theologische Bedeutung. Und im Lukasevangelium sagt der greise Simeon von ihm: „Gott, meine Augen haben dein Heil gesehen, das du vor allen Völkern bereitet hast: ein Licht zur Erleuchtung der Heiden und zur Verherrlichung deines Volkes Israel.“ (Luk. 2, 32) D.h.: Jesus trennt nicht die Juden von den Christen, sondern er verbindet sie. Er ist für die Heiden, die Gott nicht kannten, die Tür geworden zum Vater! Und der Vater ist der Gott Israels! Er hat uns ehemalige Heiden eingeladen, teilzuhaben am Heil Gottes, teilzuhaben am Erbe Israels. Er ist es auch, der uns in dem Volk Israel Gastrecht gegeben hat, nein mehr: die Sohnschaft. Liebe Gemeinde, heute dämmert die Erkenntnis: Wer diese Auszeichnung Israels nicht anerkennt und als Voraussetzung einer Verhältnisbestimmung zwischen Christen und Juden macht, der verrät das Evangelium, der weiß auch nicht, woher unser Ursprung ist. Darum ist für die Gemeinde von ungeheurer Wichtigkeit die Information über Israel, weil sie darüber etwas über sich selbst erfährt. Liebe Gemeinde, es geht um ein neues Verhältnis zum Judentum, so sagten wir. Und ich meine, es ist an der Zeit, dass wir in dieser Gemeinde damit beginnen. Fangen wir heute damit an. Denn Juden und Christen gehören zusammen als das eine Volk Gottes, mit der gleichen Aufgabe betraut: Gott vor der Welt zu bezeugen. Amen.

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Predigt über Römer 9,1-5 Joachim Liß-Walther Liebe Gemeinde, im Herbst 1933, als die Vertreibungen deutscher Bürger jüdischer Herkunft aus den Bereichen des öffentlichen Lebens hässliche Gestalt angenommen hatten und die Knebelungen jüdischer Existenz bereits ahnen ließen, worauf es die Peitschenschwinger des Nationalsozialismus abgesehen hatten, im Herbst 1933 veröffentlichte das Breslauer Wochenblatt ´Evangelischer Ruf ´auf der ersten Seite folgende ´Vision ´: „Gottesdienst. Das Eingangslied ist verklungen. Der Pfarrer steht am Altar und beginnt: `Nichtarier werden gebeten, die Kirche zu verlassen!´ Niemand rührt sich. ´Nichtarier werden gebeten, die Kirche zu verlassen!´ Wieder bleibt alles still. ´Nichtarier werden gebeten, die Kirche zu verlassen!´ Da steigt Christus vom Kreuz des Altars herab und verlässt die Kirche.“ Wenige Tage später wurde das Blatt verboten. Einige Jahre danach hätte das Blatt vielleicht den Text folgendermaßen fortschreiben können: „Christus verlässt die Kirche und reiht sich ein in den Zug seines Volkes nach Auschwitz, um das Todeslos mit seinen Brüdern und Schwestern zu teilen.“ Undenkbar wäre das nicht, denn nach dem biblischen, dem neutestamentlichen Zeugnis hat sich Jesus, dieser jüdische Rabbi aus Nazareth, in keiner Weise aus der Solidarität mit seinem Volk herausbegeben: Sein Eintreten für sein Volk, sein Bekenntnis zum Gott Israels, zum Gott Abrahams, Isaaks und Jakobs, zum Vater des Himmels und der Erde hat ihn sein Kreuz auf sich nehmen lassen und ans Kreuz gebracht. Liebe Gemeinde, hören wir noch in eine andere Geschichte hinein... Franz Werfel, einer der bedeutendsten und bekanntesten Schriftsteller des 20. Jahrhunderts, erzählt ´Die Geschichte des Kaplans vom wiederhergestellten Kreuz´ in seinem unvollendeten Roman ´Cella oder die Überwinder´, geschrieben vom September 1938 bis März 1939 im vor-

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läufigen Exil in Frankreich. Um eine Rahmenhandlung ergänzt und einige Passagen erweitert, erschien die Erzählung 1942 als „die wahre Geschichte vom wiederhergestellten Kreuz“ in Amerika, dem letzten Zufluchtsort Werfels, der dort am 26. August 1945 starb. Die Geschichte spielt 1938 kurz nach der Annektierung Österreichs durch das nationalsozialistische Deutschland. Am Ende dieser Erzählung ereignet sich folgende Szene: Zur ungarischen Grenze getrieben von einer Nazibande, warten der Rabbi Fürst und seine Familie auf den Ausgang der zähen Grenzübertrittsverhandlungen. Der Anführer der Bande stapft heran, in den Händen ein armseliges hölzernes Grabkreuz, das er durch dünne angenagelte Querbrettchen in ein Hakenkreuz verwandelt hat, und er schreit den Rabbi Fürst an, das Hakenkreuz zu küssen. Was tut der Rabbi? Wie im Traum knickt er „eins nach dem andern die nur lose angenagelten Seitenbrettchen ab, die aus dem Kreuz ein Hakenkreuz machten.“ Er büßt dafür mit dem Leben, und der die Familie Fürst begleitende Kaplan erzählt später: „Ein jüdischer Rabbi hat das getan, was eigentlich ich, der Priester, hätte tun müssen... Er stellte das geschändete Kreuz wieder her... .“ In einem Gespräch, das der Kaplan und der Rabbi einige Tage zuvor geführt hatten, fasste Rabbi Fürst seine Überzeugung zusammen: „Wir gehörten zusammen, Hochwürden, aber wir sind keine Einheit. Im Römerbrief steht geschrieben, wie Sie wohl besser wissen als ich: ´Die Gemeinde des Christus fußt auf Israel.´ Ich bin überzeugt davon, dass, solange die Kirche besteht, Israel bestehen wird, doch auch, dass die Kirche fallen muss, wenn Israel fällt... .´ ´Und woher kommen Ihnen diese Gedanken´, fragte der Kaplan. ´Aus unserem Leid bis auf den heutigen Tag´, versetzte der Rabbi, ´denn glauben Sie vielleicht, dass Gott uns so viele Jahrhunderte hätte zwecklos erdulden und überstehen lassen?´“ Und im Vollzug, im Tun dieser Überzeugung stellte der Rabbi das geschändete Kreuz wieder her, der Kaplan tat es nicht, wohl wissend, dass er es hätte tun müssen; selbst nachdem ihm angedroht worden war, dass

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man durchaus auch mit Pfaffen in unangenehmster Weise werde verfahren können. Mit diesem Bekenntnis des Rabbi formulierte Werfel, dieser christusgläubige, doch nicht getaufte Jude, nichts anderes als sein eigenes. In seinem schriftstellerischen Werk setzte er sich immer wieder mit der Zusammengehörigkeit und der Differenz von Judentum und Christentum auseinander und strebte nach deren Versöhnung. Das Schicksal des Rabbi Fürst hätte auch ihn fast ereilt, kurz nach der ersten Niederschrift der Erzählung, kurz vor dem rettenden Ufer. Noch vor Auschwitz konnte Werfel dieses ineinander geschobene Gefüge von Israel und Kirche in äußerster Konzentration verdichten und formulieren, was die christlichen Kirchen nie hätten vergessen dürfen: Die christliche Kirche fußt auf Israel. Die Kirchen jedoch waren demgegenüber fast blind; selbst die Bekennende Kirche hat in ihrer Barmer Theologischen Erklärung am 31. Mai 1934 kein Wort gefunden für die durch das NS-Regime existentiell bedrohten jüdischen Mitmenschen. (Hitler hingegen wusste um diesen Zusammenhang sehr genau: Das Christentum, die Kirche war ihm nur eine Spielart des Judentums, das auszurotten er angetreten war. Für seine Zwecke konnte er große Teile der einflussreichen Kirchen einspannen und ihnen schmeicheln, da sie die Pervertierung des Kreuzes zum Hakenkreuz mitmachten, paganisiert wie sie waren, losgerissen von ihrer Wurzel Israel, geprägt von einer ´so viele Jahrhunderte´ langen Herrschaftsgeschichte. Das änderte nichts daran, dass Hitler sich von Beginn an geschworen hatte, „das Christentum in Deutschland mit Stumpf und Stiel, mit allen seinen Fasern und Wurzeln“ auszurotten, denn für das deutsche Volk sei es entscheidend, „ob es den jüdischen Christenglauben und seine weiche Mitleidsmoral habe oder einen starken heldenhaften Glauben an Gott in der Natur, an Gott im eigenen Volke, an Gott im eigenen Schicksal, im eigenen Blute... .“ Der letzte Feind des Dritten Reiches sei das christliche Gewissen. Das christliche Gewissen aber hat eine Wurzel: „Wir beenden einen Irrweg der Menschheit. Die Tafeln vom Berge Sinai haben

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ihre Gültigkeit verloren. Das Gewissen ist eine jüdische Erfindung. Es ist wie die Beschneidung, eine Verstümmelung des Menschenwesens“, so Hitler in vertraulichen Gesprächen. Als dann der Kirchenpolitik Hitlers, vor allen durch die Bekennende Kirche und katholische Einsprüche, der Erfolgt versagt blieb, setzte er ungerührt darauf, dass mit dem Krieg, nach dem Krieg und nach der ´Endlösung´ auch der Kirche endlich der Garaus gemacht würde, die Kirche abfaulen müsse ´wie ein brandiges Glied´. Seltsam und doch bezeichnend, dass der hellsichtige Blick des christusgläubigen Juden Werfel und der diabolisch geschulte Blick Hitlers das gleiche erkannten – der eine im Versöhnungswillen, der andere im Vernichtungswillen: Israel und die Kirche sind untrennbar miteinander verbunden.) Liebe Gemeinde, um diese untrennbare Verbindung von Juden und Christen, Judentum und Christentum geht es auch und gerade Paulus, vor allem in seinem großen Brief an die Römer in den Kapiteln 9 bis 11. Da macht keiner leere Worte, da ringt einer mit seinem ganzen Herzen, mit seiner ganzen Seele und mit seiner ganzen Kraft um sein Volk, um seine jüdischen Geschwister, die nicht oder noch nicht in Jesus Christus den Messias erkennen und bezeugen. Was gibt es stärkeres als zu wünschen, selbst verflucht und verstoßen, geschieden von Gott und Christus zu sein, damit andere nicht verflucht und verstoßen werden? Es ist beeindruckend, wie Paulus, der Jude, der Christ wurde, derart tiefe Solidarität ausdrückt mit seinem Volk trotz großer Differenz und manch negativer Erfahrung: Hatte nicht Paulus einiges von seinen Landsleuten zu hören und zu spüren bekommen, Verrat, Verfolgung, Prügel, Denunziation? Paulus quält sich mit der Frage: Wie geht es weiter mit seinen Leuten, die nicht in Christus den Erlöser bekennen, nicht bekennen können oder wollen? Er fragt sich das nicht nur, weil sie seine „Stammverwandten sind nach dem Fleische“, er also ihnen zugehört wie sie ihm. Paulus fragt sich vor allem, ob all die Verheißungen und Zusagen, die Gott sei-

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nem Volk, seinem Augapfel, wie es bei den Propheten heißt, gemacht hatte, nun hinfällig und beiseite geschoben wurden – und zwar von Gott selbst. Ist es denn denkbar, dass Gott sagt: Nun habe ich Jesus, meinen Sohn, zum Heil und Glück meiner Juden und damit zugleich zum Heil und zur Versöhnung aller anderen Völker gesandt. Und sie, meine Juden wollen nichts davon wissen. So also ziehe ich meine schützende Hand über sie zurück, kündige ihnen und strecke meine Hand aus über mein neues Gottesvolk, die Christen aus allen Völkern. Ist das denkbar? Für die christlichen Kirchen später, als sie mächtig wurden, war das nicht nur denkbar; sie haben sich den Juden gegenüber abweisend und ausweisend, verachtungsvoll und todbringend verhalten. Sie haben Jesus seinem Volk enteignet und gegen sein Volk gestellt, sie haben bis vor kurzem theologisch gelehrt und predigend verkündigt, dass der alte Bund Gottes mit seinem Volk aufgelöst und zu den Akten abgelegt sei, abgelöst und ersetzt durch den neuen Bund mit der christlichen Kirche, auch wenn sich die Kirche in unterschiedlichen Fraktionen darstelle. Aber ist das denkbar für Gottes Verhältnis und Verhalten gegenüber seinem Volk? Paulus kann und will das nicht annehmen und er vertieft sich in die heiligen Schriften seines Volkes: Gott würde sich selbst gegenüber untreu, wenn er seinem Bund mit seinem häufig genug nicht treuen, sondern untreuen Volk untreu würde. Israels Erwählung bleibt bestehen. Und Paulus erinnert daran: Es ist Israel, dem die Gotteskindschaft zugesprochen ist und zugehört – der Bund bleibt bestehen, den Gott mit Abraham geschlossen hat und erneuerte mit Isaak und Jakob, und schließlich ausführte durch Mose am Berg Sinai, wo die Thora, die Gebote, die Anweisungen zum Leben in Kraft gesetzt wurden. Sind etwa die Gebote aufgehoben worden und ungültig? Ist ihr Konzentrat in den Zehn Geboten für Christen etwa unwesentlich? Und Paulus erinnert gleichfalls an den Gottesdienst, in dem Gott als der Gott Israels bezeugt und angerufen wird, den Jesus Vater nennt.

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Beten wir in unseren Gottesdiensten heute nicht die Psalmen der heiligen jüdischen Schriften, des sog. Alten Testaments? Hören wir nicht die Verheißungen aus den Büchern der Propheten oder die Schöpfungsgeschichten? Singen wir nicht hebräisch, wenn wir das „Hallelujah“ anstimmen? Empfangen wir nicht am Ende des Gottesdienstes zumeist den Segen, den Gott Aaron geboten hat, über die Kinder Israels zu sprechen: „Der Herr segne dich und behüte dich...“ (4. Mose 6,22-27)? Darin zeigt sich die Verbindung der Kirche mit Israel – auch wenn es uns nicht immer bewusst wird. Das Schärfste aber ist und bleibt – und Paulus weist deutlich darauf hin –, dass Jesus, der Christus, Jude war, ´jüdisches Fleisch´ und als Jude lebte und lehrte. Was bedeutet es eigentlich für die christliche Trinitätslehre, wenn der Sohn Gottes, die zweite Person des dreieinigen Gottes, also Gott sich in einem Juden verkörperte? Es bedeutet zu einem nicht geringen Teil, dass immer dann, wenn Christen auf Juden herabblickten, spuckten, einschlugen, wenn sie Juden denunzierten und umbrachten, jüdische Grabmäler beschmierten und schändeten, sie das auch zugleich diesem Jeschua aus Nazareth antaten, in dem und durch den Gott sich erneut zu seinem Bund mit seinem Volk bekannte. Das vielleicht schwärzeste Kapitel christlicher Theologiegeschichte, christlicher Theorie und Praxis dürfte die Behauptung sein, dass Gott selbst seinen Bund mit seinem Volk außer Kraft gesetzt und auf die Kirche übertragen hätte. Damit haben die christlichen Kirchen sich die Legitimation verschafft, antijudaistisches ´Gedankengut´ zu etablieren und auf das Übelste mit Juden zu verfahren. Das tiefe Erschrecken dann, dass die Shoah möglich und wirklich wurde, führte in den letzten Jahrzehnten zu eingreifenden theologischen Korrekturen, vor allem in den reformierten, lutherischen und katholischen Kirchen. Es wird festgehalten, was Paulus über die Erbschaft des jüdischen Volkes schreibt, über den ungekündigten Bund. Wir Christen leben von den Wurzeln Israels: Ohne Juden keine Christen. Nach Paulus sollen wir wissen, „dass nicht du die Wurzel trägst, sondern die Wurzel trägt dich“ (Röm 11,18).

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Liebe Gemeinde, wir müssen und können hier und jetzt nicht die keineswegs einfachen Gedankengänge weiter verfolgen, die Paulus in den großen drei Kapiteln 9 bis 11 seines Römerbriefes entwickelt. Es drängt sich hier nun aber doch die Frage auf, was der ´neue Bund´ Gottes mit der christlichen Kirche denn dann heißen kann, wenn der ´alte Bund´ mit Israel in Kraft bleibt? Es hieße dann, dass die Christen eben durch Jesus Christus in den Gottesbund mit Israel hinein genommen, einbezogen sind – ohne dass wir deshalb Juden werden müssten. Damit wäre dann auch theologische Bescheidenheit angesagt, wie sie Paulus auch anmahnt: „Rühmst du dich wider sie (die jüdischen Zweige sind gemeint), so sollst du wissen, dass nicht du die Wurzel trägst, sondern die Wurzel trägt dich.“ Bezogen auf die Treue Gottes ließe sich auch sagen: Wenn Gott seinen Bund mit seinem Volk aufgelöst und auf die Kirche übertragen hätte, könnte dann die Kirche, könnten wir dann sicher sein, dass Gott den Bund mit der christlichen Kirche aufrecht hielte und aushielte? Angesichts unserer Geschichte und Untreue ihm gegenüber und unserer Verbrechen an seinem Volk und an anderen Völkern wäre eine Kündigung, die uns ins Haus flattern könnte, kein Wunder und eben kein Wunder, wenn Christus vom Kreuz stiege und uns verließe. Denn er wäre dann bei seinen Leuten. Welche Bedeutung, diese Frage soll am Schluss stehen, hat nun aber das Wort Jesu, das zur Begründung des Absolutheitsanspruchs, der Überlegenheit des Christentums immer erneut herangezogen wurde und auch noch wird: „Ich bin der Weg, die Wahrheit und das Leben; niemand kommt zum Vater denn durch mich“ (Joh 14,6)? Für unseren Zusammenhang – die Treue Gottes zu seinem Bund mit Israel – ist bedeutsam, was Franz Rosenzweig in einem Brief an seinen zum Christentum konvertierten Vetter Rudolf Ehrenberg am 1. November 1913 schrieb: „Was Christus und seine Kirche in der Welt bedeuten, darüber sind wir einig; es kommt niemand zum Vater denn durch ihn. Es kommt niemand zum Vater – anders aber, wenn einer nicht mehr zum Vater zu kommen braucht, weil er schon bei ihm ist. Und dies ist nun der Fall des Volkes

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Israel (nicht des einzelnen Juden).“ Man denke dabei an das so wichtige Gleichnis Jesu vom verlorenen und daheim gebliebenen Sohn (Luk 15, 11-32). Amen.

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Predigt über Römer 9,1-5 Matthias Loerbroks Liebe Gemeinde, hier schüttet Paulus sein Herz aus, und dieses Herz ist unglücklich. Er redet von Schmerz, von unablässiger Qual. Und die Schmerzen und Qualen seines Herzens sind nicht bloß seine persönlichen – die würde er für sich behalten –, sondern sie sind Teil seiner Botschaft, seines Zeugnisses, gehören zu dem, was er verkündet, was wir, seine Hörer und Leser, wissen sollen. Er beginnt mit fast buchstäblich beschwörenden Worten: Wahrheit sage ich in Christus, ich lüge und betrüge nicht, mein Gewissen bezeugt es mit im heiligen Geist. Diese Eindringlichkeit zeigt, dass das, was jetzt kommt, höchst umstritten ist, aber auch: dass Paulus großen Wert darauf legt – wer ihm hier nicht folgen kann oder will, hat den ganzen Paulus, hat das Evangelium von Jesus Christus noch nicht verstanden. Es ist ja etwas überraschend, wie sehr Paulus betont, dass er die Wahrheit sagt und nicht lügt. Schließlich erwarten wir das auch von allen anderen Teilen seiner vielen Briefe. Und was soll es bedeuten, wenn er diese Wahrheit die „Wahrheit im Christus“ nennt? Gibt es verschiedene Wahrheiten? Mir fällt auf, dass Paulus zuvor den ersten Teil seines Römerbriefs mit dem frohen Ausruf schließt: nichts kann uns trennen von der Liebe Gottes, die im Christus ist. Es ist die Geschichte von Jesus Christus, sein Leben, sein Tod, seine Auferweckung, die Paulus so gewiss macht, dass wirklich nichts, weder Tod noch Leben, uns trennen kann von der Liebe Gottes. Im Christus wurde diese Liebe ihm deutlich. Diese Liebe Gottes ist die Wahrheit im Christus. Die etwas irritierenden Worte: Ich sage die Wahrheit, ich lüge nicht, bedeuten darum: ich rede von der Treue Gottes im Christus und werde keinen Verrat begehen an dieser Treue.

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Doch was ist es, was Paulus so quält, ihm so große Schmerzen macht? Die große Mehrheit seines Volkes, des jüdischen Volkes, im weitesten Sinn seine leiblichen Verwandten, sieht, anders als Paulus selbst, in Jesus nicht den Christus, den Gesalbten, den Messias Israels. Hingegen wurden vor allem durch die Arbeit von Paulus selbst lauter Nichtjuden zu Jesusjüngern und dadurch zu Anhängern und Anbetern des Gottes Israels, des Gottes Abrahams, Isaaks und Jakobs, Saras, Rebekkas, Leas und Rachels und Moses und Davids und all der anderen, von denen sie zuvor wenig gehört hatten, deren Gott sie zuvor nicht interessierte. Diese Nichtjuden waren bald die Mehrheit in den Gemeinden, die Paulus gegründet hatte, und sie waren höchst verunsichert: Wir bekennen uns zu Jesus als dem Christus, als Messias Israels, und der größte Teil Israels selbst tut das nicht. Und um diese Verunsicherung zu beenden, erklärten sie kurzerhand: Die Juden haben ihren Gott nicht verstanden, waren und sind blind für das Evangelium. Darum habe Gott sein Volk Israel durch ein neues Volk, ein neues Israel ersetzt, nämlich durch uns, die Kirche. Wir sind zwar keine leiblichen Nachkommen Abrahams, Isaaks und Jakobs, aber geistig. Gegen diese Auffassung kämpft Paulus an im Römerbrief. Wenige Kapitel nach unserem Text wirft er selbst die Frage auf: Hat Gott sein Volk verstoßen?, und beantwortet sie ganz entsetzt: unmöglich! Ausgeschlossen! Denn, sagt er, Gottes Gaben und Berufungen können ihn nicht gereuen. Und darum betont er hier so stark, dass er von der Liebe und Treue Gottes im Christus redet, keinen Verrat üben will. Darum verkündet er uns, seinen Hörern und Lesern, uns nichtjüdischen Jesusjüngern als erstes: sie sind Israeliten – nicht: sie waren es einst, sind es aber nun nicht mehr Und dann erklärt er an ein paar Stichworten, was das Besondere an Israel ist, was das jüdische Volk von anderen Völkern unterscheidet, und zwar bis zum heutigen Tag: Ihrer ist die Sohnschaft. Israel als ganzes ist Sohn Gottes. Das hatte Gott einst dem Pharao ausrichten lassen: Israel ist mein erstgeborener Sohn;

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und ich gebiete dir, dass du meinen Sohn ziehen lässt, dass er mir diene. Wirst du dich weigern, so will ich deinen erstgeborenen Sohn töten. Wie ernst es ihm damit war, hat er dann den Ägyptern klar gemacht. Diese Gottessohnschaft ganz Israels ist uns Christen in einem Sohn dieses Volkes deutlich geworden, Jesus, den wir darum Gottes Sohn nennen. Seine Gottessohnschaft stellt die Sohnschaft ganz Israels nicht in den Schatten, sondern bringt sie weltweit zum Leuchten, bestätigt sie. In ihm hat Gott selbst sich mit seinem Volk solidarisiert. Gelobt sei der Herr, der Gott Israels, hörten wir vorhin im Evangelium, denn er hat besucht und erlöst sein Volk. Und die Herrlichkeit, fährt Paulus fort und erinnert damit an den strahlenden Glanz von Gottes Zuwendung. Der Gott, den die Himmel und aller Himmel Himmel nicht fassen können, hat sich herabgelassen, einem kleinen Volk nahe zu sein. Diese Herrlichkeit des Herrn, so hatte es der Prophet Ezechiel gesehen, ging sogar mit ins Exil. In jedes Exil seines Volkes, lehrten die Rabbinen. Die endgültige Befreiung Israels wird darum auch Gottes Selbstbefreiung sein. Und die Bündnisse. Der Bund, den der Herr einst mit Abraham schloss, als er ihn herausrief aus allen seinen Bindungen, ist nicht gekündigt. Der Bund vom Sinai ist nicht gekündigt, sondern für jede Generation geschlossen. Der Bund mit David ist nicht gekündigt, sondern durch Jesus, den Sohn Davids bestätigt. Freut euch, dass ihr dazugehören dürft, dass er euch auch erwählet hat. Aber was wäre eure Berufung wert, wenn Gott seinem eigenen Volk gegenüber wortbrüchig wäre? Dass Israel selbst den Bund oft gebrochen hat, ist kein Geheimnis. Die Bibel redet sehr deutlich davon. Aber wie wären wir denn dran, wenn menschliche Untreue Gottes Treue aufheben würde? Wer sich einmal klar gemacht hat, wie diese verschiedenen Bundesschlüsse einander bestätigen und interpretieren, aber nie ersetzen oder abschaffen, wird es nicht mehr fertig bringen, den neuen Bund gegen den alten Bund zu stellen, also das Neue Testament gegen das Alte, wird überhaupt das christliche Pathos von Neu gegen Alt nicht mehr aufbringen.

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Und die Gabe der Thora. Die Offenbarung der Thora, des Willens Gottes, ist nicht weniger Gnade als die Verkündigung des Evangeliums vom Christus. Israel ist das Volk der Bibel, das Volk, zu dem Gott gesprochen hat, dem er sich anvertraut hat. Diese gute Gabe Gottes, die Thora, wird in Israel gefeiert und nicht etwa seufzend ertragen. Glaubt nicht, dass Jesus gekommen ist, die Thora abzuschaffen. Er ist gekommen, sie zu erfüllen. Und der Gottesdienst. Was wissen wir denn, wie viel wir dem zu verdanken haben, dass Israel den wahren Gott feiert und preist, aber auch anfleht und anklagt und anschreit? Ob die Welt nicht längst wäre wie Sodom und Gomorra ohne diesen Dienst? Was ahnen wir von der Widerstandskraft, die in Israels Gottesdienst entsteht und besteht? Passt euch nicht dem Schema dieser Welt an, ruft Paulus nach diesen drei Kapiteln Israel-Lehre den Christen zu: Das sei euer logischer, all dem Gesagten entsprechender Gottesdienst. Stellt euch an die Seite Israels, dieses hartnäckig unangepassten Außenseiter-Volks, Gottes Minorität, denn es vertritt den Gott, der sich ebenso hartnäckig weigert, sich in das Schema dieser Welt einzwängen zu lassen. Und die Verheißungen. Von Israels Erwählung und Gottessohnschaft, vom Bund mit Israel und von der Thora kann nicht gesprochen werden, ohne von Verheißungen zu reden. Von Abraham an bis auf diesen Tag lebt Israel von Verheißungen, ist das Volk der Verheißung. Die Verheißung: ein Volk als Anfang einer neuen Menschheit, ein Land als Anfang einer neuen Erde, einer neuen Weltordnung, ist durch Jesus nicht nur bestätigt, sondern weltweit bekannt und wirksam geworden. Und es ist nicht zuletzt die Treue Israels zu diesen Verheißungen, die es in seiner großen Mehrheit daran hindert, Jesus als Messias zu bekennen. Aber gerade das, darauf will Paulus hinaus, geschieht uns zugute. Israels schiere Existenz als Volk Gottes neben der Kirche und gegen sie ist die leibhaftige Erinnerung daran, was alles noch aussteht von Gottes Verheißungen: ein neuer Himmel, eine neue Erde, wo Gerechtigkeit wohnt, wo die Völker nicht mehr lernen, Krieg zu führen.

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Ihrer sind die Väter und aus ihnen der Messias – so fasst Paulus seine lange Aufzählung zusammen und umklammert damit Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft Israels. Und er schließt mit einem Lobpreis Gottes, der über allen, nämlich über beiden ist, über Israel und den Völkern. Es gibt ja nicht viele Zeichen der Treue Gottes – ein Blick aufs Weltgeschehen spricht eher dagegen. Darum ist es für uns gut, dass der Gott Israels sein Volk neben der Kirche und gegen sie aufrechterhalten hat und noch erhält. Das hat auch Paulus erst lernen müssen. Doch er hat sich mit dieser Einsicht nicht durchgesetzt. Die Kirche aus den Völkern hat nicht auf den Völkerapostel gehört. Inzwischen aber haben wir angefangen nachzusitzen, das Versäumte zu lernen. Und so lernen wir auch: die christliche Wahrheitsfrage ist nicht die terroristische Pistole-auf-dieBrust-Frage: Ist er nun der Messias oder ist er es nicht? Christlich ist die Wahrheitsfrage eine Frage der Bewährung. Trägt unser Christusbekenntnis dazu bei, dass Israel erlöst aus der Hand seiner Feinde seinem Gott ohne Furcht dienen kann? Oder trägt es zum Gegenteil bei? Ein Jude, der amerikanische Theologe Michael Wyshogrod – er ist in Berlin geboren, in der Nähe der Synagoge in der Oranienburger Straße aufgewachsen – sagte vor Jahren den Teilnehmern eines evangelischen Kirchentags: Ob Jesus der Messias ist, das hängt von euch ab. Amen.

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Predigt über Römer 9,1-5 Ursula Rudnick Liebe Schwestern und Brüder, Paulus: der Apostel der Völker. Er hätte gut in die heutige Zeit gepasst, denn Paulus weiß sich zu inszenieren. Denken Sie an seine Berufung: die dramatische und höchst einprägsame Geschichte. Wer sie einmal gehört hat, vergisst sie nicht so schnell: Die Wandlung des Paulus vom Verfolger der Jesus-Messias-Gläubigen hin zum engagierten Botschafter Christi unter den Völkern. Paulus würde gut in heutige Talk-Shows passen. Er ist streitbar, lässt sich von niemandem ins Bockshorn jagen und vertritt seine Position engagiert. Sein Credo: Die frohe Nachricht vom Gott Israels gilt nicht allein dem Volk Israel, sondern mit der Auferweckung Jesu Christi auch den Völkern. Unter den Profeten Israels gibt es Visionen für ein Miteinander von Israel und den Völkern. So stellt sich Micha eine Zeit vor, da nicht nur Israel, sondern auch die Völker zum Zion, zu Gottes Wohnsitz in Jerusalem pilgern werden: „Kommt, lasst uns hinauf zum Berge des Herrn gehen und zum Hause des Gott Jakobs, dass er uns lehre seine Wege und wir in seinen Pfaden wandeln. Denn von Zion wird Weisung ausgehen und des Herrn Wort von Jerusalem.“ (Mi. 4,2) Und dann werde Frieden herrschen, Schwerter werden zu Pflugscharen umgeschmiedet und jeder werde unter seinem Feigenbaum und Weinstock sitzen. Diese Visionen sind messianische Hoffnungen, Vorstellungen einer Endzeit, die anders ist als die erlebte Gegenwart. Paulus sagt nun: Diese Hoffnung von der Versöhnung der Völker ist schon jetzt Wirklichkeit. Er widmet ihr sein Leben. Seine Botschaft ist in der jüdischen Gemeinschaft allerdings umstritten. Zum einen haben sich nur einige Menschen Jesus und seinen Anhänge-

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rinnen und Anhängern angeschlossen. Und zum anderen ist da die Frage: auf welche Weise – können und dürfen – Nicht-Juden Zugang zum Gott Israels haben. Paulus macht sich dafür stark, dass die Menschen aus den Völkern, die durch den Glauben an Jesus Christus ihren Zugang zum Gott Israels gefunden haben, keinen Status zweiter Klasse erhalten. Dies wäre naheliegend, denn sie sind später gekommen und sie halten nicht alle Gebote der Tradition. Was für uns Christinnen und Christen heute selbstverständlich ist, dass Menschen aus den Völkern den Namen des Gottes Israels anrufen, war im 1. Jahrhundert eine umstrittene Frage. Paulus behauptet: die neu Hinzugekommenen sind „nicht mehr Gäste und Fremdlinge, sondern Mitbürger der Heiligen und Hausgenossen Gottes“ (Eph. 2,19), wie es der Epheserbrief so anschaulich formuliert. Und so wie Paulus Respekt für die „Neuen“ fordert, so macht er gleichermaßen deutlich, dass die „Neuen“ keinen Anlass für Überheblichkeit gegenüber den „Alten“ haben. In komplexen Gedankengängen führt er dies – insbesondere in den Kapiteln 9-11 des Römerbriefes aus. Hören wir auf Worte aus dem 9. Kapitel, die Verse 1 bis 5. „Ich sage die Wahrheit im Gesalbten, ich lüge nicht, mein Gewissen legt dabei Zeugnis für mich ab im heiligen Geist: Ich haben großen Schmerz, und mein Herz hat unaufhörlich Kummer. Ich wünschte nämlich, selbst verflucht und so vom Gesalbten getrennt zu sein zugunsten meiner Geschwister, meiner Landsleute der Herkunft nach. Sie sind ja doch Israeliten, ihnen gehört die Kindschaft, der Glanz, die Bundesschlüsse, die Gabe der Thora, der Gottesdienst und die Verheißungen, ihnen gehören die Väter, und von ihnen kommt der Gesalbte seiner Herkunft nach. Der über allem ist, Gott: Er sei gesegnet für immer! Amen.“ Mit seinem ganzen Sein wünscht sich Paulus, dass seine jüdischen Zeitgenossen sein Vertrauen auf Jesus, den Gesalbten Gottes, den Messias

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teilen. Alles würde er dafür geben: selbst seine Zugehörigkeit zum Gesalbten. Und doch muss er feststellen: viele teilen seine Leidenschaft nicht. Sie glauben nicht an Jesus als Gesalbten Gottes. Dies ist jedoch kein Grund den „Alten“, den jüdischen Geschwistern ihre Verbindung zu Gott abzusprechen. Das jüdische Volk hat reiche Schätze. Paulus macht eine lange Liste: x Die Kindschaft: das heißt Gottes geliebtes Kind zu sein. x Der Glanz – die Herrlichkeit, meint die Erfahrung der Gegenwart Gottes. Sie spiegelt sich im Antlitz seines Volkes. x Die Bundesschlüsse: zu ihnen gehören der Noachbund, der Abrahamsbund und in der Lesung haben wir die Geschichte des Sinaibundes gehört. Der Bund: das ist die Selbstverpflichtung Gottes, für sein Volk da zu sein und es durch die Zeiten hindurch zu bewahren. x Und als Lebensmittel – als Mittel zum Leben in Freiheit – die Thora: Die fünf Bücher Mose mit den Weisungen Gottes für ein gelingendes Leben in Freiheit. x Der Gottesdienst: in ihm wird Gott gelobt und immer wieder die Geschichte mit Gott vergegenwärtigt. Gottesdienst, das ist die Feier der Geschenke Gottes im Alltag. x Die Verheißungen: die Hoffnungen und die Versprechen auf eine Zukunft in Frieden – Sie kennen die Visionen von Jesaja, Micha und den anderen Profeten. Die sechs Punkte, die Paulus hier benannt hat, laden ein zum Erzählen und sie fordern heraus, Jüdinnen und Juden zu fragen, nach der Bedeutung des Bundes, der Thora und des Gottesdienstes heute. Zum Beispiel David Freund: Er ist Mitglied der Liberalen Jüdischen Gemeinde in Hove in der Nähe von Brighton und kommt jedes Jahr zur Jüdisch-christlichen Bibelwoche in Ohrbeck bei Osnabrück. Einer seiner Großonkel war Landesrabbiner in Niedersachsen, ein anderer Direktor des jüdischen Friedhofs in Berlin-Weißensee. Sein Vater studierte Ger184

manistik in Göttingen und konnte sich in der Nazi-Zeit rechtzeitig nach Großbritannien retten. Dort fand er keine Anstellung und emigrierte deshalb mit seiner Frau Kitty nach Südafrika, wo David geboren wurde. Heute lebt David in Großbritannien. Er ist ein liberaler Jude, der tief in der jüdischen Tradition verwurzelt ist. David Freund sagt: „Der Bund umfasst mein ganzes Leben. Er ist mein Leben. Er verbindet mich mit meinen Vorfahren, der Geschichte meiner Väter und Mütter. Mit der Geschichte meines Großonkels, der Rabbiner in Hannover war, und mit dem Großonkel, der Direktor des jüdischen Friedhofs in Berlin war. Mit der Geschichte meines Vaters, der sein Land verlassen musste, weil er Jude war. Das Leben meiner Vorfahren und auch mein Leben wären anders verlaufen, wenn ich nicht jüdisch wäre. Der Bund ist etwas Positives. Ich erlebe ihn in der Gemeinschaft, wenn ich zur Synagoge oder zur Talmudstunde gehe. Ich lebe den Bund in meinem Alltag. Er ist nicht exklusiv: er verbindet mich mit Gott und mit allen Menschen und Geschöpfen…. Mit Worten lässt sich seine Bedeutung gar nicht ausdrücken. Es ist so viel und so viel mehr.“ Was für viele Menschen sich nach einem abstrakten Konzept anhört: der Bund Gottes mit dem jüdischen Volk, ist für David Freund etwas Konkretes, das einen wichtigen Teil seines Lebens ausmacht. Es ist das Fundament seines Lebens, welches auf vielfältige Weise – auch und gerade im alltäglichen Leben – seinen Ausdruck findet. Und zur Thora sagt David Freund: „Die Thora ist für mich Geschichte, Kultur und Ethik. Wichtig ist mir dabei, immer wieder neue Perspektiven zu entdecken: Fragen zu stellen. Neue Fragen zu entdecken. Immer wieder neu.“ Bund und Thora sind ein tragbares Vaterland. Heinrich Heine sprach vom „portativen Vaterland“. Mit dem Bund und der Thora zu leben, bedeutet, eine nicht-zerstörbare geistlich-geistige Heimat zu besitzen. Es heißt, sich als Kind und Volk Gottes zu wissen, mit einem Kompass und

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einer Landkarte fürs Leben ausgestattet, für ein Leben in Freiheit und im Gegenüber und im Angesicht Gottes. Es gäbe viel zu erzählen. Es gibt viel zu entdecken. Paulus zählt Schätze des Volkes Israel auf. Sie waren im 1. Jahrhundert Schätze des Volkes Israel – und sie sind es auch in der Gegenwart. In den vergangenen Jahren und Jahrzehnten haben sich Christinnen und Christen auf den Weg in Synagogen und Lehrhäuser gemacht, haben Jüdinnen und Juden zugehört und haben viel Neues gelernt. Wir haben theologische Urteile als Vorurteile und Falschurteile entlarvt. Wir haben Neues entdeckt, so z.B. die Freude an der Thora mit ihren Geboten. Wir haben jüdische Tradition und Traditionen schätzen gelernt und ein zusätzliches Geschenk erhalten. Das Geschenk, auch unsere eigene Tradition in einem neuen Licht zu sehen und sie auf diese Weise besser zu verstehen. Dies ist die Verheißung und die Aufforderung des Apostel Paulus: „Freut euch ihr Völker mit Gottes Volk…! “ Ja, freuen wir uns mit Gottes Volk, mit unseren jüdischen Schwestern und Brüdern! Aus der Freude wächst das Gotteslob. Gott „sei gesegnet für immer!“ – so Paulus. Denn wir sind reich beschenkt. Es gilt die Schätze zu entdecken, sie miteinander zu teilen und sich an ihnen zu freuen. Amen.

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Predigt über Römer 9,1-5 Jörgen Sontag 1 Am Israelsonntag setzen wir uns mit der Frage auseinander, wie wir Christen zu Israel stehen. Auch wenn viele Christen diese Frage aus Unsicherheit oder Unbehagen gern umgehen möchten, sie steht vor uns: Wie stehen wir zu Israel . . . - zu dem Volk Abrahams, Isaaks und Jakobs, das Mose aus der Unfreiheit in das verheißene Land geführt und dem er am Berg Sinai im Auftrage Gottes die Gottesgebote gegeben hatte, - zu dem Volk, das Gott nach Auffassung der ganzen Bibel zum Zeugen Seiner Gerechtigkeit und Barmherzigkeit in der Welt erwählt hat und zu dem die Propheten gesprochen haben, - zu dem Volk, aus dem Jesus hervorgegangen ist, - zu dem Volk, das 1900 Jahre heimatlos und verfolgt durchgestanden und nun eine neue Heimstatt gefunden hat, - zu dem Volk, das zu einem Teil seit 1948 in einem eigenen Staat gleichen Namens lebt, - zu dem Volk, das seit dem Junikrieg 1967 als Besatzungsmacht ein anderes Volk, das palästinensische Volk, beherrscht, und dabei wie jede Besatzungsmacht eine verhängnisvolle Veränderung durchmacht und mit den Folgen seines eigenen Tuns nicht fertig wird, - zu dem Volk, das weltweit, besonders aber in Europa, für die Politik der Regierung des Staates Israel gescholten wird, auch wieder bei uns in Deutschland. Wie stehen wir zu Israel? 2 In diesem Gottesdienst führen wir keine politische Diskussion. Aber wir versuchen, unsere Gedanken zu ordnen. Dann können wir in der Diskus-

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sion über den Antisemitismus, die bei uns plötzlich, aber nicht überraschend, von neuem aufgebrochen ist, einen begründeten Standpunkt einnehmen. Es ist ja in höchstem Maße bedauerlich, dass berechtigte Kritik an der Politik der israelischen Regierung dazu missbraucht wird, Stimmung gegen jüdische Mitbürgerinnen und Mitbürger zu machen, negative Einstellungen wachzurufen und die jüdischen Gemeinden von neuem in Ängste zu stürzen. In der Kirche ist nach dem Ende des NS-Regimes und seiner Judenverfolgung oft mit starken Worten betont worden, Antisemitismus ist Gottlosigkeit, und Christen dürfen um Gottes und der Menschen willen nicht daran teilnehmen. Nun können dieselben Kirchen und Christen nicht einfach schweigen! Oder sind die überzeugten und überzeugenden Worte von damals vergessen, ist der Kirche ihr eigenes Reden peinlich geworden? Sehen Sie, deshalb ist es nötig, dass sich christliche Gemeinde, wenn es um Israel geht, immer wieder auf das biblische Zeugnis bezieht. Es verhilft uns zu klarer Stellungnahme und zu Unterscheidungen. Heute beziehen wir uns auf einen Abschnitt aus dem 9. Kapitel des Römerbriefs des Apostels Paulus. (Röm 9,1-5) 3 Sie erleben hier einen leidenschaftlich engagierten Apostel Paulus. Sie wissen ja, Paulus ist Jude, Glied des Volkes Israel. Er ist in der Tradition des jüdischen Glaubens groß geworden und erst als Erwachsener Christus begegnet. Er leidet Kummer und Schmerz über den Weg seines Volkes, weil es sich in seiner großen Mehrheit gegen Jesus Christus als den Messias stellt. Er empfindet so stark für sein Volk, dass er, wenn das möglich wäre, sich sogar von seinem Herrn Christus trennen, wenn dadurch sein Volk zu Christus gelangen würde. Das ist ein abenteuerlicher Gedanke;

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er zeigt, wie wichtig es Paulus ist, dass das Volk Israel Jesus Christus als den ihm von Gott gesandten Heiland erfährt und annimmt. So äußert sich seine Liebe zu seinem Volk. Wenn die Kirche und die Christen Paulus darin nur ein wenig gefolgt wären! Dann wäre es nicht zu der furchtbaren Verfolgungsgeschichte gekommen. Doch das ist nur der Anfang. Er macht deutlich, mit welcher Priorität Sie das folgende hören sollen. Da geht es Paulus um ein sachliches Problem des Glaubens: Was ist mit Israel, nachdem es mehrheitlich Jesus Christus abgelehnt hat und fortfährt, Ihn abzulehnen? Fällt Israel dadurch aus der Verbindung zu Gott heraus? Verliert es seinen besonderen Status als Gottes erwähltes Volk? – Kann er, kann ein an Gott Glaubender das denken und glauben? Nein, das geht gar nicht! Dann müsste Paulus und müssten mit ihm ja wir annehmen, dass Gott alle Seine verheißungsvollen Worte an das Volk Israel zurückgenommen hätte, dass Gott nicht mehr zu Seinen Worten stehen würde. Dann müssten wir ganz neu über Gott lernen, dass Er nur dann treu bleibt, wenn wir Menschen bestimmte Bedingungen erfüllen. Das wäre ein ganz anderer Gott, als Ihn die Bibel bezeugt. Gottes Treue abhängig von menschlichem Guttun? Welcher Mensch könnte sich erdreisten, so etwas über Gott zu sagen?! Das ist Paulus ganz unzweifelhaft, ganz eindeutig klar: Gott steht zu Seinen Worten der Verheißung. Er hält Wort. Darauf baut Paulus. Darauf kann das Volk Israel bauen. Darauf können Sie sich als Christ/in und die Kirchen sich verlassen. Wenn das nicht so wäre, dann wäre die Christenheit nach der hinter ihr liegenden Geschichte verlassen und ohne Gewissheit. Aber es gilt: Gott bleibt treu, Er steht zu Seinen berufenden, erwählenden und Heil schenkenden Worten.

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4 Das unterstreicht Paulus auf eine eindrucksvolle Weise. Er versucht, Gottes Treue irgendwie zu beweisen, – nein, nicht zu beweisen, das geht nicht, aber doch überzeugend zu belegen. Paulus gibt uns acht Erweise dafür, dass Gott weiter zu Seinem Volk Israel steht, dass Israel also Gottes Volk ist und bleibt. Ich lese sie Ihnen noch einmal im Wortlaut des Paulus. Danach will ich sie kurz erläutern. V4 1 Die Angehörigen des Volkes Israel sind Gottes Kinder. Hier geht es um das besondere Verhältnis Gottes zu diesem Volk. Und wir Christen haben zu lernen und uns ständig bewusst zu halten: Wenn wir von Kindern Gottes sprechen, dann sind das zunächst die Angehörigen des Volkes Israel. 2 Ihm gehört die Herrlichkeit, Gottes Herrlichkeit. Ich glaube, damit ist Gottes Gegenwart in diesem Volk gemeint, Gottes stärkende, Mut machende, zum Dienst rufende, tröstende, aber auch Kritik übende Gegenwart in diesem Volk. 3 Nun nennt Paulus die Bünde. Achten Sie bitte darauf, Paulus redet in der Mehrzahl. Gott hat sich Seinem Volk nicht nur einmal am Anfang seiner Geschichte zugewandt, sondern immer wieder, immer wenn Er es für nötig ansah, den einmal geschlossenen Bund zu erneuern oder zu aktualisieren. Es begann bei Abraham, setzte sich fort bei Isaak und Jakob, hatte einen Höhepunkt zur Zeit des Mose, ging über Josua und David bis in die Zeit der Propheten. 4 Gott hat dem Volk das Gesetz gegeben. Gesetz meint hier etwas anderes, als wir meist verstehen. Gesetz, im Hebräischen Thora, meint Weisung. Gottes Weisung begleitet den Weg Israels. Gott hat Israel den Weg gewiesen, es beschützt, es zur Umkehr gerufen, wenn es sich ver-

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rannt hatte. Wir kennen Zusammenfassungen dieser Thora, die Zehn Gebote oder das Doppelgebot der Liebe, der Liebe zu Gott und zu dem Nächsten. Diese Thora ist bis heute Grundlage und Leitlinie für das Leben der Juden. Gott hat es ihnen gegeben. 5 Paulus nennt den Gottesdienst. Er meint damit, dass es der regelmäßige Gottesdienst ist, der die Verbindung Gott – Israel am Leben erhält und stärkt. Dabei geht es nicht nur um den Gottesdienst am Schabbat, sondern um das tägliche persönliche Gebet. 6 Es folgen die Verheißungen. Davon hatte ich bereits gesprochen. In den Verheißungen hatte sich Gott Seinem Volk mitgeteilt. In ihnen hatte Er Leben und Nachkommenschaft, Land und Auskommen in dem Land zugesagt, aber vor allem auch, daß Er selbst ihr Gott sein und bleiben wolle und dass sie Ihn immer tiefer und reifer erkennen würden. 7 Paulus nennt noch die Väter. Gemeint sind vor allen anderen Abraham, Isaak und Jakob. Paulus stellt damit den genealogischen Zusammenhang her, dass Israel nicht nur eine Religionsgemeinschaft ist, sondern auch ein Volk. (Das beides zusammenzuhalten und gleichzeitig zu unterscheiden, tun wir Nicht-Juden uns meist schwer). 8 Ans Ende seiner Belegliste für die Treue Gottes stellt Paulus den Messias. Der kommt aus dem Volk Israel. Für Paulus und für uns Christen trägt der Messias (griechisch: Christus) den Namen Jesus von Nazareth. Die Juden hingegen warten auf den Messias noch, weil sie die mit dem Kommen des Messias eingetretene Veränderung der Welt zum Frieden bisher nicht erkennen können. 5 Ich fragte zu Beginn der Predigt: Wie stehen wir zu Israel?

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Ja, wie können wir als die an Jesus Christus, den Juden aus Nazareth, Glaubenden zum Volk Israel stehen? Drei kurze Antworten zum Merken und Mitnehmen: - Die Erweise der Treue Gottes, die Paulus beim Volk Israel erfüllt sieht, gelten – in unterschiedlicher Weise – auch für uns Christen. Gottes Treue gilt unzweifelhaft – Juden und Christen. So viel haben wir mit dem jüdischen Volk gemeinsam. Darüber jubelt Paulus: Gott, der über allem ist, sei gelobt in Ewigkeit! (V.5) - Unser Verhältnis zum Volk Israel sollte zuerst und vor allem von Dank bestimmt sein. Denn was unseren Glauben ausmacht, hat Jesus Christus uns aus Seinem Volk und dessen Glauben vermittelt. Machen Sie sich das in jedem Gottesdienst bei jedem Stück unserer Liturgie klar! Dank als Grundhaltung – das ist eine gute Basis für gelebte Gemeinschaft. - In den letzten Jahren ist in Kiel eine neue jüdische Gemeinde gewachsen. Es besteht eine gute Zusammenarbeit zwischen Christen und Juden. Bei dem vielen, was in unserer Gegenwart zu kritisieren und zu beklagen ist, dies jedenfalls ist gut. Ich freue mich, dass auch aus dieser Kirchengemeinde einige mit Engagement dabei sind. Das kann und muss wachsen. Die Reise im November nach Berlin und deren Vorbereitung geben Anlass, vieles in der Predigt Angedeutete zu vertiefen. Ich schließe mit dem Satz, den die Nordelbische Synode im September 2001 als Ergänzung für die Präambel, also für die unumstößlich geltenden Grundsätze der Verfassung unserer Kirche, beschlossen hat: Die Nordelbische Evangelisch-Lutherische Kirche bezeugt die Treue Gottes, der an dem Bund mit Seinen Volk Israel festhält. Sie ist im Hören auf Gottes Weisung und in der Hoffnung auf die Vollendung der Gottesherrschaft mit dem Volk Israel verbunden.

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Predigt über Römer 9,1-8.14-16 Michael Jordan Liebe Gemeinde, ich weiß nicht, ob Sie dieses Gefühl kennen: Ihnen selbst ist der Glaube zentral wichtig geworden in Ihrem Leben. Er gibt Ihnen Orientierung, schenkt Lebensgewissheit, inneren Frieden und Sinn. Vielleicht gab es eine Zeit bei Ihnen, wo das alles noch nicht so der Fall war, wo Kirche und Glauben für Sie langweilig und nichtssagend waren. Dann aber fingen Sie nach und nach Feuer, der Glaube an Gott wurde für Sie zu einer zentralen und nicht mehr wegzudenkenden Größe in Ihrem Leben. Aber um Sie herum ist das nicht der Fall. Die engsten Angehörigen, die besten Freunde: für sie bleibt der Glaube fremd, bestenfalls finden sie es okay, manchmal aber gibt es auch harte Worte wie „frommes Geschwätz – ist doch alles Humbug – werde mal wieder normal“. Und innerlich leiden Sie daran, wünschen auch ihren Kindern, Ehepartnern, Freunden solche Erfahrungen mit Gott, wie Sie sie erlebt haben. Denn es ist Gewissheit geworden: Mit Gott an der Seite wird das Leben sinnvoll. Solche Gedanken, Erlebnisse, widerstreitenden Gefühle und Sehnsüchte müssen wir uns auch beim Apostel Paulus vorstellen, nachdem er zum Glauben an Jesus Christus gekommen war – und feststellen musste, dass seine jüdischen Glaubensgeschwister ihm darin nicht folgten. Paulus war im jüdischen Glauben groß geworden: der Unterricht in Glaubensfragen,

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die Freude an der Thora, den Geboten und Verboten, den Weisungen Gottes für das Leben, die jüdischen Feste, die zuerst auch immer Familienfeste sind, all dies war ihm in Fleisch und Blut übergegangen. Und dann hatte sich dieser so genannte „neue Weg“ bei einigen Juden gebildet. So wurde der Glaube der ersten Christen, die ja allesamt Juden waren, zu Anfang genannt. Es gab damals noch keine zwei Religionen. Die Christen waren eine von vielen Sondergruppierungen, die es zur Zeitenwende im Judentum gab. Und sie waren erfolgreich. Sie warben in den Synagogen für ihren Glauben an Jesus als den erwarteten und gekommenen Messias Israels, und Menschen schlossen sich dem „neuen Weg“ an. Paulus gehörte zu denen, die solche Missionierungsbemühungen nicht hinnehmen wollten. Er wurde zu einem der schärfsten Verfolger der Anhänger des neues Weges. Es kam zu scharfen Abgrenzungen ihnen gegenüber bis hin zu Ausschlüssen aus den Synagogen. Paulus selbst schreibt über diese Zeit (Gal 1,13f): „Denn ihr habt ja gehört von meinem Leben früher im Judentum, wie ich über die Maßen die Gemeinde Gottes verfolgte und sie zu zerstören suchte.“ Dann aber geschah etwas, was seinen Glauben von Grund auf änderte, sein Erlebnis vor Damaskus, wo es ihm wie Schuppen von den Augen fiel: Der Weg zu Gott führt über Jesus Christus! Nach außen hin schien Jesus gescheitert, jämmerlich am Kreuz hingerichtet, seine Botschaft und sein Leben sinnlos.

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Aber Gott hat ihn auferweckt, er hat denen kein Recht gegeben, die ihn und damit auch seine Botschaft von Gottes Barmherzigkeit und Liebe aus dem Weg schaffen wollten. Die Auferweckung Jesu Christi zeigt: Da, wo unsere menschlichen Möglichkeiten am Ende sind – und wo wird dies augenfälliger als im Tod –, da ist Gott noch lange nicht am Ende. Das Leben des Paulus drehte sich um 180 Grad. Aber es war eben erst mal nur sein Leben, das sich wendete. In der Folge hatte er zwar viel Erfolg im Werben für den christlichen Glauben – dies aber hauptsächlich bei Menschen, die allenfalls dem Judentum nahestanden, ansonsten aber gar nicht glaubten oder anderen religiösen Kulten angehörten. Die Mehrzahl der Juden aber blieb bei ihrem Weg zu Gott, der eben nicht über Jesus Christus, sondern über das Leben nach den Weisungen Gottes zum Heil führte. Die Thora oder wie Luther übersetzte: das Gesetz, blieb der alleinige Maßstab im Leben der jüdischen Gemeinden – bis heute.

Das traf Paulus unmittelbar in seiner eigenen Existenz, weil er sich auch als Christ dem jüdischen Volk verbunden fühlte, weil er seine Herkunft nicht leugnete: Ich bin tieftraurig, und es quält mich unablässig, wenn ich an meine Brüder und Schwestern denke, die Menschen aus meinem Volk. Wenn es möglich wäre, würde ich es auf mich nehmen, selbst an ihrer Stelle verflucht und für immer von Christus getrennt zu sein.

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Wer selbst aus der Kraft des Glaubens für sein Leben schöpft, dem ist es nicht egal, wie seine engsten Angehörigen leben. Im besten Sinne wünscht man ihnen auch solche Erfahrungen mit Gott. Und dieser Wunsch wird umso dringender, wenn wir sehen, wie sich jemand quält mit seinem Leben oder gar zu scheitern droht, und wir ihm oder ihr nichts sehnlicher wünschen, als wieder Grund unter die Füße zu bekommen. Weil uns selbst der Glaube ein solcher Halt ist, wünschen wir es auch unseren Lieben. Auf der anderen Seite gab es zur Zeit des Paulus aber diejenigen, die meinten, das Judentum hätte abgewirtschaftet. Wenn sie Jesus nicht als Christus, als Messias erkennen und verharren im Weg der Thora, dann sei eben ihre Zeit abgelaufen. Gott selbst suche sich jetzt ein neues Volk, Menschen, die sich um Christus scharen. Das alte Volk Gottes, die Juden, sie hätten ihre Chance verpasst. Der Bund Gottes mit ihnen sei nun abgelöst vom neuen Bund durch Christus. Im Abendmahl heißt es: „Dies ist der neue Bund in meinem Blut ...“ Neu, d. h. in dieser Lesart, der alte Bund gilt nicht mehr. Die Kirche ist an die Stelle der Synagoge getreten. Das war der Beginn einer jahrtausendelangen Judenfeindschaft, eines christlichen Antijudaismus, der immer wieder auch Nahrung für den Antisemitismus in der gesamten Gesellschaft war und bis heute bietet. Paulus selbst hat in seinem ersten Brief, der uns in der Bibel überliefert ist, dazu beigetragen, in dem er schrieb (1. Thess 2,15f): Die Juden haben den Herrn Jesus getötet und die Propheten und haben uns verfolgt und gefallen Gott nicht und sind allen Menschen feind. Und um das Maß ihrer Sünden allewege voll zu machen, wehren sie uns, den Heiden zu predigen zu ihrem Heil. Aber der Zorn Gottes ist schon in vollem Maß über sie gekommen.

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Fünf Jahre später in seinem letzten uns erhaltenen Brief, seinem theologischen „Testament“, dem Römerbrief, klingt er ganz anders. Die christliche Überheblichkeit gegenüber dem erst erwählten Volk Gottes – und er benennt es hier mit seinem biblischen Ehrennamen Israel – weist er in die Schranken. Beschwörend, voller Erregung zieht er die höchsten Gewissheiten heran: Für das, was ich jetzt sage, rufe ich Christus als Zeugen an. Es ist die Wahrheit; ich lüge nicht! Auch mein Gewissen bezeugt es, das vom Heiligen Geist bestätigt wird. Und dann ruft er es seiner Gemeinde und der christlichen Kirche bis heute ins Bewusstsein: Sie sind doch Israel, das von Gott erwählte Volk. Ihnen gehört das Vorrecht, Kinder Gottes zu sein. Ihnen offenbarte er seine Herrlichkeit (Schechina). Mit ihnen hat er wiederholt Bünde geschlossen. Ihnen hat er sein Gesetz gegeben und die Ordnungen für den Gottesdienst. Ihnen hat er das künftige Heil versprochen. Sie sind die Nachkommen der von Gott erwählten Väter, und zu ihnen zählt nach seiner menschlichen Herkunft auch Christus, der versprochene Retter. Dafür sei Gott, der Herr über alles, in Ewigkeit gepriesen! Amen. Aber was gilt nun? Müssen die Juden an Jesus Christus glauben? Oder können sie weiterhin als Juden auf ihre Glaubensweise das Heil erlangen?

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Paulus hat dafür keine einfache Antwort. Drei Kapitel ringt er um die Beantwortung dieser Frage: „Was gilt nun? Was ist nun mit Juden, die Juden bleiben und keine Christen werden?“ Und mit dieser Frage ringt die christliche Kirche bis heute. In einem bleibt er in diesen Kapiteln fest und eindeutig: Jesus Christus ist der Weg zu Gott – nur über ihn kommt man zum Heil. Das gilt auch für das Volk Israel, für die Juden. Gleichzeitig hält er daran fest, dass Israel – auch in der Ablehnung von Jesus als Messias – Gottes erwähltes Volk bleibt. Und dies ist zentral wichtig auch für unseren Glauben. Denn wenn die Verheißungen an die Väter und Mütter Israels nicht mehr gültig wären, dann wäre auch Gottes Wort an uns durch Christus hinfällig: „Gott hat sein Volk nicht verstoßen, das er zuvor erwählt hat. Gottes Gaben und Berufung können ihn nicht gereuen“, schreibt Paulus im 11. Kapitel. Ich finde, diese Kapitel im Römerbrief sind ein Beispiel für eine christliche Theologie, die mit viel Herzblut und Engagement betrieben wird, ein Glaube, der sich danach sehnt, dass auch die engsten Freunde und Verwandten zu diesem Glauben finden, ja am Ende die ganze Welt. Und dies geschieht nicht in überheblichem Ton, sondern allein getrieben von der ehrlichen Überzeugung und getragen von der eigenen Erfahrung, dass der Glaube an Gott unser Leben reich und sinnvoll macht. Ob unsere Lieben, ob andere Menschen und Angehörige anderer Religionen Christen werden, das können wir Gott selbst anheimstellen.

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Es kommt nicht auf den Willen und die Anstrengung des Menschen an, sondern einzig auf Gott und sein Erbarmen. Vertrauen wir auf Gottes Erbarmen, leben und bezeugen wir einfach unseren christlichen Glauben – und stellen wir es Gott anheim, dass die Menschen, die uns am Herzen liegen, zum Glauben an Gott und zum Sinn in ihrem Leben finden. Amen.

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Predigt über Römer 9,1-8.14-16 Josef Kirsch Liebe Gemeinde! Höre, Israel, der Herr unser Gott, der Herr ist einer. Und die Aufforderung zum Bekenntnis zu dem einen und einzigen Gott wird mit der Aufforderung, mit dem Gebot verbunden: Du sollst den Herrn, deinen Gott lieben von ganzem Herzen, von ganzer Seele, von ganzem Gemüt und mit all deiner Kraft, Nichts Anderes ist Glauben. Glauben ist ja nicht das Fürwahrhalten bestimmter Sätze, sondern im letzten ist es nur und nichts Anderes als die Liebe zu Gott. In dieser Tradition steht Israel und in der gleichen Tradition stehen wir. So bezeugt es das heutige Evangelium (Mk. 12, 28-31). In jedem Gottesdienst wird unsere Verbindung mit dem erstberufenen Gottesvolk zur Sprache gebracht: im Psalm, der gebetet wird, in einer alttestamentlichen Lesung, im Halleluja, im Sanctus, im Friedensgruß, im aaronitischen Segen am Ende des Gottesdienstes. Die Tendenzen, die es in der Geschichte der Kirche bis zum heutigen Tage immer wieder gegeben hat, Israel und Kirche zu trennen, sind ein Irrweg; mehr noch, sie bahnen den Weg zu den größten Verbrechen, die die Weltgeschichte erlebt hat. Die Kirche hat sich immer zu dem Gott Israels bekannt, und dennoch haben Antijudaismus und Antisemitismus unbegreiflicherweise ihren Ort in der Kirche gehabt, sogar noch, wie eine Wanderausstellung der Nordkirche aufweist, nach dem zweiten Weltkrieg. Jesus war Jude. Er hat den Tanach, wie das AT auf Hebräisch heißt, ausgelegt und das Vaterunser wendet sich in seiner herzlichen Anrede an den Gott Israels. Die junge christliche Gemeinde hat das AT gelesen und gedeutet unter dem Schmerz des Karfreitags und dem Jubel von Ostern. Aber sie hat das AT auch gelesen, um die Ereignisse des Karfreitags und des Ostertages verstehen und verkündigen zu können. „Fürwahr, er trug unsere Krankheit und lud auf sich unsere Schmerzen. Wir aber hielten ihn für

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den, der geplagt war und von Gott geschlagen und gemartert wäre. Aber er ist um unserer Missetat willen verwundet und um unserer Sünde willen zerschlagen. Die Strafe liegt auf ihm, auf dass wir Frieden hätten und durch seine Wunden sind wir geheilt.“ Vielleicht würden wir heute andere Verstehensmöglichkeiten suchen, aber dieser großartige Text aus dem 53. Kapitel des Propheten Jesaja half der jungen christlichen Gemeinde, dem Karfreitag eine Deutung zu geben. Umso schmerzhafter ist es, dass unser Reformator Martin Luther ab 1543, also in den letzten drei Jahren seines Lebens, einen entsetzlichen Antijudaismus propagierte, auf den sich die Nazis bei ihren Mordtaten berufen haben. Die Botschaft von der bedingungslosen Zuwendung Gottes zu uns Menschen wird verraten durch jede Form von Menschenverachtung, und der Antisemitismus ist eine besonders entsetzliche Form der Menschenverachtung. Und nun haben wir in der Epistellesung einen Abschnitt aus dem großen Gedankenkomplex Römer 9-11 gehört, in dem der Apostel Paulus über sein Verhältnis zum Volk Israel nachdenkt. Er beginnt diesen Textkomplex in ungewöhnlich emotionaler Aufgerührtheit: Mein Gewissen bezeugt im Hl. Geist, dass ich große Schmerzen ohne Unterlass in meinem Herzen habe. Ich selber wünschte, verflucht und von Christus getrennt zu sein für meine Brüder, die meine Stammverwandten sind nach dem Fleisch, die Israeliten sind, denen die Kindschaft gehört und die Herrlichkeit und der Bund und das Gesetz und der Gottesdienst und die Verheißungen. Paulus erkennt ohne jede Einschränkung die unermessliche Bedeutung an, die Israel in seinem Verhältnis zu Gott und für unseren Glauben hat. Nichts von dieser Bedeutung wird zurückgenommen oder relativiert. Israel gehört die Kindschaft, die Herrlichkeit und der Bund, das Gesetz und der Gottesdienst und die Verheißungen. Überschwänglicher und großartiger kann man es überhaupt nicht ausdrücken. Auf der anderen Seite ist es für Paulus völlig klar: für ihn geht der Weg zu Gott über

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Christus und er wünschte, seine eigene Heilshoffnung dran geben zu können, wenn Israel die Bedeutung Jesu Christi erkennen könnte. Aber wenn man die Kapitel 9 bis 11 aufmerksam liest, macht man erstaunliche Entdeckungen. Paulus schreibt von dem Ölbaum, der ein Bild für Israel ist, auf den die bekehrten Heiden aufgepfropft sind, aus dem natürlich auch Zweige ausgebrochen sind. Aber eindeutig stellt er fest: Nicht wir sind die Wurzel für Israel, sondern Israel ist unsere Wurzel. Und er führt den Gedanken in aufregender Weise weiter: So wie Israel für uns zur Quelle des Heils geworden ist, so werden wir für Israel zum Heil werden, wenn die ganze Welt zur Erkenntnis Gottes gelangt sein wird. Nun wird man einwenden können, dass nichts dafür spricht, dass dieses jemals so eintreten wird. Dennoch macht der gedankliche Weg des Paulus hier eine erstaunliche Wendung. Verzeihen Sie, wenn ich vielleicht etwas pedantisch am Text hänge, aber manchmal wird dadurch auch einiges klarer. Das achte Kapitel, also der Text unmittelbar vor dem großen Komplex, in dem Paulus über das Verhältnis Israel – Christenheit nachdenkt, dieses achte Kapitel schließt mit einem großartigen Hymnus: „Denn ich bin gewiss, dass weder Tod noch Leben, weder Engel noch Mächte noch Gewalten, weder Gegenwärtiges noch Zukünftiges, weder Hohes noch Tiefes uns scheiden kann von der Liebe Gottes, die in Christus Jesus ist.“ Die Liebe Gottes ist in Jesus Christus in unsere Mitte gekommen, bedingungslos. Das ist Paulus, wie wir ihn schon immer kannten. Das elfte Kapitel endet ganz anders: „O, welch eine Tiefe des Reichtums, beider der Weisheit und der Erkenntnis Gottes. Wie unbegreiflich sind seine Gerichte und unerforschlich seine Wege. Denn von ihm und durch ihn und zu ihm sind alle Dinge. Ihm sei Ehre in Ewigkeit. Amen.“ Kein Wort von Jesus Christus am Ende der großen Auseinandersetzung Israel – Kirche. Und es legt sich ein Gedanke nahe, der aufregend ist. Paulus, der immer von Christus als dem Zentrum her dachte, führt uns am Beispiel Israel in ein Dilemma seiner Theologie. Paulus scheint für Israel einen Heilsweg an Christus vorbei zu denken. Leider ist der Rö-

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merbrief der letzte Brief, der er schrieb, so dass eine Präzisierung dieser Gedanken nicht mehr erfolgen konnte. Aber eines ist klar: Dass die Kirchen im vergangenen Jahrhundert auf die Missionierung Israels offiziell verzichtet haben, ist keine politisch korrekte Marotte, sondern wächst aus der Erkenntnis. dass Israel die Kindschaft gehört und die Herrlichkeit und der Bund und das Gesetz und der Gottesdienst und die Verheißungen. Dieses bleibt stehen und deswegen feiern wir in jedem Gottesdienst den Zusammenhang der Christenheit mit dem erstberufenen Volk Gottes. Und noch ein Punkt ist mir wichtig in unserem Text. Paulus sucht eine Antwort auf die Frage, ob Gott denn ungerecht sei, indem er das AT zitiert: „Gott sagt zu Mose: Wem ich gnädig bin, dem bin ich gnädig und wessen ich mich erbarme, dessen erbarme ich mich. So liegt es nun nicht an jemandes Wollen oder Laufen, sondern an Gottes Erbarmen.“ Gottes Verheißungen an Israel gelten und der Weg zu Gott geht für uns über Jesus Christus, Es gibt keine Bevorzugung des Christentums. Wer an die Bevorzugung glaubt, der ebnet den Weg zu Pogromen, zum Antisemitismus, letztlich zum Grauen des 20. Jahrhunderts. Beides gilt: Gott ist absolut frei und Gott ist uns in bedingungsloser Liebe zugewandt. Dieses ist die Spannung des Evangeliums, und in dieser Spannung führen wir unser Leben. Da gibt es keine Sicherheiten. Da gibt es gewaltige Zweifel, aber es gibt auch eine geradezu provokante Hoffnung. Genug Hoffnung auf jeden Fall für beide: für Israel und für die Christenheit. Diese Hoffnung eröffnet einen weiten Raum, nicht für Bemächtigung, aber für den Dialog, für ein gemeinsames offensives Eintreten gegen den überall in Europa aufflammenden Antisemitismus, für gemeinsame Entdeckungen des Glaubens. Für Israel, jedenfalls für viele Juden, ist Jesus der vielleicht bedeutendste Prophet, weil ohne ihn, die Welt den Gott Israels nicht kennen gelernt hätte. Für die Kirche ist Jesus, der Heiland, der mit seinem ganzen Denken und Wirken Jude war. Gott ist frei und zugleich uns in bedingungsloser Liebe zugewandt. Das gilt für Israel und das gilt für uns Christen. Es ist ein zentrales Anliegen der Reformation Martin

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Luthers, dass diese beiden Aspekte: Freiheit und bedingungslose Liebe in jedem Christenleben ihre Resonanz, ihre Spiegelung ihre Darstellung finden. Es ist ein zentrales Anliegen des Apostels Paulus, dass diese beiden Aspekte: Freiheit und bedingungslose Liebe in Israel ihre Resonanz, ihre Spiegelung, ihre Darstellung finden. Amen

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Predigt über Römer 9,1-8.14-16 Hans-Jürgen Müller Liebe Gemeinde, heute also hat er sich mit ein paar Leuten aus der jüdischen Gemeinde verabredet. Es hat lange, sehr lange gedauert. Jahrelang ging er an dem Haus vorbei, das deren Gotteshaus ist. Sein Weg zur Arbeit führt daran vorbei, aber es war ein Haus neben anderen. Er schenkte diesem Haus keine Beachtung, er nahm es kaum wahr. Heute am Nachmittag des Israelsonntags sitzen sie sich gegenüber. Der Tisch ist breit, die Gefahr, sich zu nahe zu kommen, besteht nicht, aber sie können sich in die Augen sehen. Die Atmosphäre knistert noch, die Pausen des Schweigens sind eine Stille, die oft nur schwer auszuhalten ist. Aber es ist gut, dass er den Weg in die Synagoge gefunden hat. Er hat von Paulus gehört. Dort in der Synagoge sind die ganz nah Verwandten. Hören wir auf Paulus: (Text: Römer 9,1-8.14-16) Paulus hat ein ernstes, ein ganz und gar persönliches und doch ganz und gar von seinem Glauben geprägtes Anliegen. Das können wir nicht überhören. Die Wahrheit bezeugt er und dies in Christus: „Ich sage die Wahrheit in Christus, ich lüge nicht.“ Paulus ruft den Heiligen Geist mit auf: „Wie mir mein Gewissen im Heiligen Geist bezeugt.“ Es geht ans Eingemachte. Herzblut ist mit im Spiel. Paulus macht keinen Hehl daraus: er ist traurig – „Schmerzen ohne Unterlass in meinem Herzen“ –, dass ausgerechnet seine jüdischen Stammverwandten den Weg nicht mitgehen, der ihm offenbart wurde. Sie, seine jüdischen Stammverwandten, sie müssten doch … Wie viele von uns denken und hoffen so und können es nicht verstehen, dass ausgerechnet Gottes Volk Nein zu Jesus Christus sagt.

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Aber sehen wir auf Paulus: Ihm ist Christus begegnet, für ihn ist klar, eine neue Zeit ist angebrochen, messianische Zeit. Jetzt heißt es hinaus in die Welt, jetzt sind die Unterschiede in der Politik, in der Sexualität, in den Speisegesetzen unerheblich, jetzt sollen alle Menschen auf dem weiten Erdkreis den einen Gott ehren, ihn loben und ihm singen. Paulus rennt förmlich durch die damalige Welt, damit man auch im letzten Winkel von dem einen Gott weiß. Und daneben die Erfahrung, die Mehrheit seiner jüdischen Schwestern und Brüder lässt sich nicht gewinnen, teilt die neue Sicht nicht. Paulus streitet, Paulus kämpft, Paulus kann hart werden und manchmal scheint es fast so, als ob seine jüdischen Geschwister in seinen Augen gefallen sind. Aber hier in diesen Kapiteln, gleich mehrfach hebt er an: Keineswegs!! Paulus zerschneidet das Tischtuch nicht. Im Gegenteil: all die Ehrentitel für das jüdische Volk bleiben! Einen Ehrentitel reiht er an den anderen – und immer schreibt Paulus in der Gegenwart: sie sind, nicht: sie waren! Sie sind Israeliten – also das Volk, dem sich Gott in besonderer Weise zuwendet; ihnen gehört die Kindschaft, das heißt sie, die Angehörigen des jüdischen Volkes sind Töchter und Söhne Gottes, ihnen gehört die Herrlichkeit, das heißt: die Gegenwart Gottes ist bei ihnen zu Hause, wo sie den Tempeldienst tun bzw. die Thora studieren, ihnen gehören die Bundesschlüsse – all die Bünde, die Gott mit Abraham und den Vätern geschlossen und immer wieder erneuert hat, sie gelten –, ihnen gehört die Thora, der Gottesdienst und die Verheißungen. Und nicht zuletzt: der auferweckte Jesus Christus selbst gehört in die Reihe der Ehrentitel. Er ist und bleibt einer aus dem jüdischen Volk. Alle diese Aussagen sind Gegenwart! Und: Paulus wiederholt nur, was von Gott her gesagt ist. Wie wichtig dem Paulus all dies ist, spürt jeder, der das liest und so schließt er diese Reihung als Gebet: „Gott, lebendig über allem, gepriesen sei er in Ewigkeit. Amen.“ Und hart daneben: seine jüdischen Schwestern und Brüder sind ihm fremd geworden, Sie wollen oder können nicht glauben, in Jesus ist der Messias erschienen. Darüber streitet er, gewiss, aber noch mehr, darüber

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empfindet er Schmerz. Diesen Schmerz hält er aus, er lässt sich nicht dazu verleiten, das Tischtuch zu zerreißen, denn er weiß oder besser: das glaubt er: der eine Gott kann nicht geteilt werden, der eine Gott, das ist in ein und derselben Person der Gott Israels und der Vater Jesu Christi. Der eine Gott ist treu, was er einmal an Liebe zugesagt hat – an sein Volk Israel und dann an die Kirche, das behält seine Gültigkeit. Welch ein Durchatmen für uns, für jeden Einzelnen, für die Kirche als Ganze! Was wäre aus jedem Einzelnen von uns und noch mehr aus der Kirche, wäre Gott nicht treu oder müssten wir daran auch nur leise zweifeln! Gottes Treue zu Israel, zum jüdischen Volk, das bekräftigt die Gewissheit seiner Treue auch zu uns. So wie er sich diesen immer wieder neu zuwendet und zugewendet hat, obwohl das Volk und einzelne abtrünnig wurden, den Weg verfehlt haben, gesündigt haben, so wendet er sich uns immer wieder zu – trotz unseres manchmal verfehlten Lebens. Mit derselben Klarheit, mit der Paulus herausstellt: seine jüdischen Schwestern und Brüder sind auch mit ihrem Nein zu Jesus Christus von Gott geliebt, mit eben solcher Klarheit stellt Paulus heraus, dass Gottes Wahl nicht durch Menschen eingegrenzt werden kann oder wird. Er hat schon immer frei gewählt. Paulus nimmt als Beispiel Isaak und Ismael, die beiden Kinder Abrahams. Und so ist Gott frei, auch euch zu erwählen, wie er es jedem Einzelnen in der Taufe zugesagt hat. Paulus weiß sich gerade um der Liebe und Treue Gottes wegen an sein jüdisches Volk gewiesen. Um Gottes Willen kann er das Tischtuch nicht zerschneiden. Gott selbst hat sich mit diesem Volk verbunden und darum sind die, die jetzt auch erwählt sind – also wir, die Kirche, ihr die Gemeinde hier vor Ort – mit diesem jüdischen Volk verbunden – so wie wir mit den anderen Christen verbunden sind – unabhängig davon, ob das alles gute Menschen sind oder ob darunter auch rechte Bösewichte sind. Davon hat er gehört, der so oft achtlos an der Synagoge auf seinem Arbeitsweg vorbeigegangen ist. Das aber wollte er nicht mehr. Die dort sind, die dort beten und zusammen kommen, sind Gottes erste große

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Liebe. Die sind nicht alles gute Menschen, genauso wenig wie alle in der christlichen Gemeinde gute Menschen sind. Aber Gott lässt diese ebenso wenig wie einen jeden einzelnen von uns fallen. Sie sitzen an einem Tisch. Zaghaft beginnt das Gespräch. Sie erzählen von den Festen, von den Gottesdiensten. Die jüdischen Gastgeber zeigen ihm die Schätze der Synagoge, sie zeigen ihm die Mesusa, dieses kleine Behältnis außen an der Tür, schräg am Türpfosten angebracht. Die Gastgeber erzählen davon, was darinnen steht: das wichtigste jüdische Gebet: „Höre Israel, der Herr ist unser Gott, der Herr ist einer.“ Sie verabreden sich zum gemeinsamen Bibellesen, denn die Schriften des Alten Testamentes sind auch deren heilige Schriften. Sie machen es zur Regel. Mindestens einmal im Jahr, zumindest am Israelsonntag sich zu treffen. Sein Weg führt weiter an der Synagoge vorbei. Jetzt ist es nicht mehr ein Haus unter den vielen anderen. Er weiß, da beten die nahen Verwandten und einst werden wir gemeinsam Gott loben und ihn ehren. Predigtschlussgebet: Gepriesen und gelobt seist du, barmherziger und gnädiger Gott du gehst mit deinem jüdischen Volk deinen Weg, du berufst uns in deine Gemeinde. Führe du Juden und Christen durch die Zeiten, lehre du sie beide, dich loben und preisen – in Wort und Tat, eine du uns alle am Ende der Zeiten, dann dich gemeinsam zu ehren in deiner Heiligkeit. Das bitten wir dich durch Jesus Christus, unsren Herrn. Gemeinde: Amen.

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Predigt über Römer 11,25-32 Maren Gottsmann Liebe Gemeinde, manchmal kann es passieren, dass die, die man zu kennen meint wie sich selbst, dass sie in einem ganz wichtigen Punkt nicht mit uns übereinstimmen. Es ergibt sich eine völlig unterschiedliche Sicht der Dinge, an der Stelle, wo man es nie vermutet hätte. Ich erinnere mich an einen Anruf einer Freundin, die mitteilte, ihre jüngere Tochter sei aus der Kirche ausgetreten... Sie selber hat sich ihr Leben lang an der Enge und Traditionalität ihrer katholischen Kirche gerieben, war darüber auch verzweifelt. Aber umso engagierter war sie als Christin – seit Jahrzehnten verantwortlich in der Friedensbewegung Pax Christi und in ökumenischer Arbeit. Menschen verschiedener Glaubenstraditionen ins Gespräch zu bringen, ist ihr ein großes Anliegen – und plötzlich bekennt eine der Töchter, Glaube bedeute ihr im Moment einfach nichts. Für die Mutter ein Schmerz, der sie selber überraschte. Manchmal passiert es: Das, was uns wichtig ist, wird von jemandem nicht – nicht mehr geteilt. Und manchmal bedeuten unterschiedliche Ansichten plötzlich auch getrennte Wege. In genau dieser Situation befindet sich der Apostel Paulus. Er musste erfahren, dass viele, die ihm nahe standen, nicht den gleichen Weg wie er gegangen sind. Viele seiner Glaubensgeschwister, die Jüdinnen und Juden, waren ihm auf dem Weg des Jesus von Nazareth nicht gefolgt. Ich stelle mir Paulus vor, wie er in einem kleinen Haus in Korinth sitzt. Er schreibt einen Brief an die Gemeinde in Rom. Es wird ein sehr grundlegender Brief, vielleicht, weil für ihn ein Lebensabschnitt zu Ende geht.

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Immer wieder wandern seine Gedanken zurück. Er wundert sich selbst, dass er die Kraft hatte, so viel herumzureisen. Unzähligen Menschen hat er in Kleinasien von Jesus Christus erzählt. Von Christus, der ganz verschiedene Menschen zusammenbringt und sie zu einer Gemeinschaft von Schwestern und Brüdern macht. Eine Gemeinschaft, eine Gemeinde, in der keine Unterschiede mehr etwas bedeuten, egal ob Mann oder Frau, ob Sklave oder Freie, ob Jüdin oder Grieche. Jetzt ist er an einem Wendepunkt in seinem Leben angelangt. Er will zu neuen Gebieten aufbrechen, in den Westen. Dorthin, wo er noch nie war: nach Spanien. Auf dem Weg dorthin will er die Gemeinde in Rom besuchen, die ihn schon lange gebeten hatte, einmal zu kommen. Die Gemeinde in dieser großen Stadt interessiert ihn: Juden und NichtJuden leben dort zusammen. Paulus schüttelt den Kopf. Er denkt daran, wie wenig Erfolg er mit seiner Botschaft in den jüdischen Gemeinden hatte. Bei seinen Reisen ist er als Jude ganz selbstverständlich zu den Juden gegangen: Was er zu sagen hatte, war zu allererst eine Botschaft für sein Volk. Doch er stieß damit nicht nur auf offene Ohren. Wenn er von dem Christus, dem Messias, erzählte, und dass eine neue Zeit angefangen habe, gab es sofort Widerspruch: „Eine neue Zeit? Es ist doch alles noch wie vorher. Die Römer sind im Land und es gibt so viel Armut, Elend und Ungerechtigkeit. Wie kann man da von dem angebrochenen Friedensreich des Messias sprechen?“ Paulus sagte dann z.B.: „Sein Reich ist noch so klein, es ist nicht mit Maßstäben dieser Welt zu messen. Denn Jesus Christus hat die Welt nicht mit Macht und Stärke überwunden, sondern mit seiner Liebe und Hingabe, die ihn am Kreuz sterben ließ.“ Gedankenverloren malt Paulus ein Wort auf sein Papier: „Geheimnis“ steht da in dicken Buchstaben. So lange hat er sich gemartert mit der Frage, warum viele der Juden seine Botschaft nicht annehmen konnten. Warum verlief die Geschichte so? Wo lag der Schlüssel dazu?

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Im Laufe der Jahre hat sich die Antwort in ihm geformt: „Es ist ein Geheimnis“ sagt er leise vor sich hin. So gut er es kann, fasst er das Geheimnis in Worte und schreibt: Ich möchte, dass ihr die verborgene Wirklichkeit kennt, Geschwister, damit ihr die Dinge nicht nur nach euren Maßstäben beurteilt: Über einen Teil Israel ging eine Verhärtung, sie wird so lange anhalten, bis die Völker vollzählig hinzugekommen sind. Auf diese Weise wird ganz Israel gerettet werden Gott bereut es nicht, in freier Zuwendung Geschenke gemacht zu haben und Menschen berufen zu haben. Das gilt unwiderruflich. Einst habt ihr nicht auf Gott gehört – aber JETZT habt ihr Barmherzigkeit erfahren, weil sie sich weigerten, auf Gott zu hören. JETZT sind sie es, die nicht auf Gott hören, weil euch Barmherzigkeit geschenkt wurde. Dies geschieht, damit auch sie Barmherzigkeit erfahren. Gott hat alle in ihrem Starrsinn eingeschlossen um allen Barmherzigkeit zu schenken.. Paulus kann es an seiner eigenen Person nachvollziehen: Denn hätten ihn die jüdischen Gemeinden dankbar aufgenommen, wäre er nie zum Apostel der Heiden geworden. „Verhärtung“ – Luther übersetzt: „Verstockung“, dieses Wort, so düster es klingt, ermutigt Paulus, denn es sagt: Gott hat seine Hand im Spiel. Gottes Wege völlig verstehen, das kann Paulus nicht. Aber es reicht ihm, zu wissen, dass es Gottes Wege sind. Da die einen – die Juden – nicht hörten – konnte er sich den anderen – den Nicht-Juden zuwenden. Die Berufung als Geliebte Gottes hat Israel dadurch nicht verloren, dass auch andere zur Gemeinschaft mit Gott dazukamen. So sehe ich Paulus sitzen, in einem Haus in Korinth, vor beinahe 2000 Jahren. Wenn Paulus geahnt hätte, wie die Geschichte zwischen Juden und Christen weiterverlief, hätte er bestimmt manches noch deutlicher unterstrichen. Es ist erst in den letzten 10, 20 Jahren geschehen, dass Kirchen wie die Nordkirche in ihrer Päambel das Bekenntnis der bleibenden Treue Got-

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tes zu Israel aufnahmen. Möglich wurde das durch die langjährigen Gespräche im Rahmen des christlich-jüdischen Dialoges und in dem Eingestehen, dass Kirche und Christentum im Dritten Reich nicht einfach nur versagt, sondern aktiv Antisemitismus und damit die Ermordung von jüdischen Frauen, Männern und Kindern unterstützt und vorangetrieben hatte. Getrennte Wege, die Menschen einschlagen, getrennte Glaubenstraditionen, die sich herausbilden, sie entwickeln zerstörerisches Potential, wenn damit anders als von Paulus die absolute Frage nach richtig und falsch gestellt wird. Im Dritten Reich wurde diese Frage so gestellt. Die Konflikte in diesen Tagen und Monaten in der Welt, die Eskalation von Vernichtung und Gewalt im Mittleren Osten, sie lassen sich für mich auf diesen Punkt verkürzen: Es werden Menschen, Gruppen, Kulturen, Glaubensrichtungen in richtig und falsch eingeteilt. Und deswegen die einen von den anderen niedergemetzelt. Warum ist das so, fragen uns unsere Kinder immer wieder – es scheint etwas zum Menschen zugehörig zu sein, dass vernichtet werden muss, was nicht so ist wie man selbst. Religionen bieten sich durch die Jahrtausende als Vorwand an, zu morden und zu beherrschen. Paulus‘ Thema erscheint mir also höchst aktuell – und seine Gedanken wie eine große, hoffnungsvolle Vision für unsere Zeit, dass Religionen, Kulturen und Gruppierungen sich auf die Verschiedenheit des jeweils anderen eines Tages werden einlassen können. Als Glaubende egal welcher Tradition haben wir im 21. Jahrhundert eine besondere Verantwortung, uns für Frieden, für Respekt in der Welt einzusetzen und eine Kultur des gegenseitigen Interesses, des Fragens und Zuhörens vorzuleben. Der Nahe Osten ist die Wiege dreier Religionen, in deren innersten Kern Frieden steht. Und es schmerzt mich zutiefst, dass gerade dort die Religionen missbraucht werden von Machthaben-

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den, blutige und unselige Konflikte fortzuführen. Umso wichtiger für mich, mit jüdischen Gläubigen im Gespräch zu bleiben. Denn nur dann stoßen wir dabei auf das, was uns verbindet und uns miteinander eine Zukunft eröffnet. Wir haben es vorhin als Evangeliumslesung gehört: Ein Zitat aus dem Ersten Testament – Gott lieben von ganzem Herzen und den Nächsten wie sich selbst – Kernsatz aller mosaischen Religionen – Christentum, Judentum und Islam. Ich zitiere immer wieder gerne einen Satz von Fulbert Steffensky, den er vor vielen Jahren einmal in seiner Predigt bei der jährlichen Ansgarfeier in St. Petri gesagt hat – und die für viel Wirbel sorgte: Die Gemeinsamkeiten zwischen den verschiedenen Konfessionen sind oftmals größer als innerhalb einer Konfession. Und ich glaube, das lässt sich im Grundsatz auch auf andere Religionen ausweiten. Mit der reformierten Jüdischen Gemeinde Pinneberg und mit manchen muslimischen Nachbarn verbindet mich eine große Glaubensnähe. In manchen Bibelkreisen, Weltgebetstagsgruppen, aktuell in der Vorbereitung eines Netzwerkes für die Flüchtlinge hier in Niendorf – da wissen wir oft gar nicht mehr so richtig, wer aus St. Ansgar ist oder von „uns“ oder ob überhaupt Kirchenmitgliedschaft vorliegt. Über das, was uns verbindet, gemeinsam nachzudenken über wichtige Fragen unseres Lebens, gemeinsam aktiv zu werden für Menschen hier im Stadtteil – darum geht es doch! Paulus lädt uns ein, im Gespräch zu bleiben und vor allem dazu: die Achtung voreinander nicht zu verlieren, denn nicht wir sind der Maßstab aller Dinge. Verschiedene Wege, die Menschen einschlagen – sie müssen nicht zu getrennten Wegen werden.

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Das gilt für unseren Glauben, das gilt für uns in unseren Beziehungen, Freundschaften und Familien. Möge uns dieser Sonntag dazu ermutigen. Amen.

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Predigt über Römer 11,25-32 Matthias Loerbroks Liebe Gemeinde, der 10. Sonntag nach Trinitatis ist seit den Zeiten der Alten Kirche Israelsonntag. Er verdankt dieses Thema seiner zeitlichen Nähe zu einem wichtigen Tag im jüdischen Kalender, Tischa be Aw: am 9. Tag des Monats Aw gedenkt Israel der Zerstörung des ersten Tempels durch die Babylonier im Jahre 586 vor und der des zweiten Tempels durch die Römer im Jahre 70 n. Chr. Und auch noch eine dritte Katastrophe in der jüdischen Geschichte ist mit dem 9. Aw verbunden: die Vertreibung der Juden aus Spanien im Jahre 1492. An diesem Tag wird gefastet und das Buch Klagelieder in den Synagogen verlesen. Das jüdische Volk gedenkt nicht nur der Tempelzerstörungen, sondern der vielen Verfolgungen und Pogrome seiner Geschichte. Der 10. Sonntag nach Trinitatis aber war viele Jahrhunderte lang nicht ein Tag, an dem die Christenheit solidarisch mit dem trauernden Israel mitgetrauert und mitgeklagt hätte. Mit einer Mischung aus Grauen und Triumph hörten die Christen von der Zerstörung Jerusalems und des Tempels. Sie hörten die Geschichte einerseits als Warnung: so geht es Menschen, auf die Gott zornig ist. Andererseits als Bestätigung: Der Verlust von Staat und Land und Tempel schien doch zu beweisen, dass Gott sein Volk verstoßen und durch ein anderes Volk ersetzt habe, den alten Bund gekündigt zugunsten eines neuen Bundes. Erst nach 1945 begann der Charakter des Israelsonntags sich zu ändern. Zum einen war nun schrecklich klar geworden, wohin die christliche Lehre vom Ende Israels geführt hatte. Zum anderen zeigte die Gründung des Staates Israel 1948, dass von einem Ende Israels keine Rede sein konnte. Der Verlust von Staat und Land waren nun kein theologisches Argument mehr. Schon während des Kirchenkampfs in der Nazizeit hatten einige Christen die Kapitel 9 bis 11 des Römerbriefs neu entdeckt, in

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denen Paulus die Christen aus den Völkern schon früh gegen jede Selbstüberhebung gegenüber Israel gewarnt und ausdrücklich bestritten hatte, dass Gott sein Volk verstoßen habe. Und nun stellte sich immer mehr heraus, dass es sich bei diesem Abschnitt nicht um einen mehr oder weniger zufällig hineingekommenen Exkurs handelte, sondern um die inhaltliche Mitte dieses langen und gerade für evangelische Christen so wichtigen Briefs: alles Vorherige zielt darauf hin, alles Folgende kommt da her. Es ist uns gut, dass wir heute erneut bei Paulus in die Schule gehen, denn wir leben in Zeiten, in denen es wieder üblich zu werden droht, antijüdisch zu reden und zu handeln, in denen Juden in aller Welt, auch in unserem Land, in Angst leben und in denen wir Christen gefragt sind, ob wir zu unserer Bindung an Israel stehen oder uns ihrer schämen und sie verleugnen und sagen: Ich kenne den Menschen nicht. Den Beginn dieses Abschnitts hatten wir vorhin als Epistellesung gehört. Paulus betont da, dass auch die Juden, die nicht Christen geworden sind, ihre große Mehrheit also, immer noch Israel sind und was das bedeutet: Ihnen gehört die Sohnschaft – Israel ist kollektiv Sohn Gottes – und die Herrlichkeit, der Glanz der Gegenwart Gottes; ihrer sind die Bundesschlüsse, die nicht gekündigt wurden, und die Gabe der Thora, der Gottesdienst und die Verheißungen. Ihrer sind die Väter und aus ihnen stammt der Christus seiner leiblichen Abstammung nach. Die Schlusszusammenfassung dieser Kapitel ist heute Predigttext: Denn ich will nicht, dass ihr dieses Geheimnis nicht kennt, Geschwister, damit ihr nicht aus euch selbst verständig seid: Verhärtung ist Israel geschehen zu einem Teil, bis die Fülle der Völker hineinkommt, und so wird ganz Israel befreit werden, wie geschrieben steht: Aus Zion wird kommen der Löser, der wird abwenden Untreue von Jakob, und dies ist von mir her der Bund mit ihnen, wenn ich erlasse ihre Sünden. Im Blick aufs Evangelium sind sie zwar Feinde – um euretwillen. Im Blick auf die Erwählung aber Geliebte – um der Väter willen. Nicht bereut sind näm-

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lich die Gnadengaben und Berufungen Gottes. Denn wie ihr einst Gott ungehorsam ward, nun aber Erbarmen erfahren habt durch ihren Ungehorsam, so sind auch sie jetzt ungehorsam gegenüber dem Erbarmen für euch, damit auch sie jetzt Erbarmen erfahren. Denn zusammengeschlossen hat Gott alle im Ungehorsam, um sich aller zu erbarmen. Paulus will uns einweihen, uns ein Geheimnis öffnen. Ein Geheimnis ist es mit Israel, geheimnisvoll die besondere Geschichte Gottes mit diesem besonderen Volk. Geheimnisvoll – nicht offenkundig, sonnenklar. Damit wir nicht unkundig, nicht Ignoranten bleiben, bedürfen wir der Einweihung, der Öffnung unserer Augen. Und Paulus ist sehr bemüht um diese Öffnung, er nennt seinen Beruf als Sendbote Gottes auch Haushalter der Geheimnisse Gottes, er setzt alles daran, uns unsere Ignoranz zu nehmen, uns kundig zu machen – damit wir nicht uns begnügen mit unserem eigenen Verstand, uns allein mit uns verständigen, uns selbst einen Reim machen auf diese Geschichte mit ihren Ungereimtheiten, uns selbst für verständig halten, ohne irgendwas verstanden zu haben. Denn das befürchtet Paulus bei uns Christen aus den Völkern leider nicht zu Unrecht: ein Verstand, der nichts versteht, weil er das Geheimnis Israels ignoriert, die geheime Mitte der Weltgeschichte; eine eigenständige, selbständige Vernunft, in der für Israel kein Platz ist, die sich von dieser geheimnisvollen Wirklichkeit nicht irritieren, nicht stören und so auch nichts sagen lässt. Doch Paulus hält eine Vernunft, die Israel ignoriert, für nicht wirklich frei, sondern für zwanghaft und eingezwängt. Eine Vernunft, die nicht vernehmungsfähig ist, nicht wahrnehmungsfähig für Wirklichkeit. Dieses Sich-selbst-für-klug-Halten, dieses Vernünfteln bei sich selbst macht uns Christen blind für das Geheimnis Israels. Da erarbeiten wir unter Absehung von Israel eine Theologie, finden dann in ihr keinen Platz für Israel und folgern dann, dass es so etwas wie Israel, ein besonderes Volk Gottes, gar nicht geben kann.

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„Weil, so schloss er messerscharf, nicht sein kann, was nicht sein darf“ – so hat Christian Morgenstern diese Art der Vernunft karikiert. Diese zwingende Logik, dieses messerscharfe Schließen hält Paulus für Ignoranz: Da wird geschieden, was Gott zusammengefügt hat und unter Einheitszwang gezwängt, was Gott unterschieden hat. Und wir wissen inzwischen: so ein gewaltsames Denken, ein Denken, das sich seines Gegenstandes bemächtigt, ihn beherrscht, das begnügt sich nicht damit, dass bloß das Denken messerscharf ist, nur die Logik zwingend. Zuerst wurde Israel logisch und theologisch abgeschafft, doch dann kam der Versuch, es auch physisch aus der Welt zu schaffen. Angesichts dieser allgemeinen Vernunft, die für Israel keinen Platz lässt, möchte Paulus unseren Sinn für die besondere Beziehung Gottes zu Israel wecken, uns einweihen in das Geheimnis dieser Beziehung. Vielen Christen aus den Völkern war und ist es ein Stein des Anstoßes, dass Israel in seiner großen Mehrheit Nein sagt zu dem Bekenntnis der Christen, Jesus sei der Messias. Es ist ja immer irritierend, ärgerlich, anfechtend, wenn es Menschen gibt, die meinen Weg ablehnen, das mir Allerwichtigste zurückweisen, einen ganz anderen Weg einschlagen – wie es ja auch umgekehrt mich in meinem Weg bestätigt, wenn er auch anderen einleuchtet, sich auch andere ihm anschließen. Aber nun sind es ja nicht irgendwelche Atheisten, die von diesem besonderen Gott der Bibel ohnehin keine Ahnung haben, die das Bekenntnis der Christen ablehnen. Ausgerechnet Israel, die Kinder Abrahams, Isaaks, Jakobs, das Volk Gottes sagt Nein. Viele Christen haben diese Irritation, diese Anfechtung ihres Weges nicht ausgehalten. Sie haben mit zwingender Logik aus dem Nein Israels zu Jesus auf ein Nein Gottes zu Israel geschlossen. Die besondere Beziehung Gottes zu diesem besonderen Volk habe mit dem Kommen Jesu ihr Ziel, aber auch ihr Ende erreicht. Aber diese Logik lehnt Paulus ab. Das ist die Logik des Imperialismus, klassisch verkörpert im erobernden Alexander, der einen komplizierten Knoten einfach durchschlägt, messerscharf. Gott hat sein Volk nicht verstoßen, seine Gnadengaben, seine Berufung können ihn nicht gereuen, schreibt

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er wenige Verse vor unserem Text – ein Paulussatz, der sich nicht durchgesetzt hat. Stattdessen erkennt er im Nein Israels einen ganz einzigartigen Rang, einen großen Wert, eine eigene Würde: Gott selbst hat Israel hart gemacht, hartnäckig, hat ihm den Rücken gesteift gegen das Evangelium. So hatte es Gott einst seinen Propheten Hesekiel und Jeremia zugesagt: „Ich mache deine Stirn wie Diamant, härter als Kiesel. Ich mache dich zur Festung, zur eisernen Säule, zur ehernen Mauer: sie werden gegen dich kämpfen, aber dich nicht überwältigen, denn ich bin mit dir, dich zu erretten.“ Doch wozu diese seltsame Abhärtung? Paulus antwortet, nicht zuletzt im Blick auf sein eigenes Lebenswerk: So kommt das Evangelium unter die Völker, so kommen die Völker hinein in den Bund Gottes mit Israel. Wer ein Christ, eine Christin wird, sich taufen lässt, wird Teilnehmer dieser Bundesgeschichte, die lange vor Christi Geburt begann. Das Nein Israels geschah und geschieht also euch zugute. Im Blick aufs Evangelium sind sie zwar Feinde – aber um euretwillen. Es ist gut für euch, dass Gott sein Volk Israel gegen euch aufrechterhält. Es ist euch nicht gut, in eurem Ja zum Evangelium unangefochten zu sein. Israel demonstriert mit seinem Nein gegen eure Selbstzufriedenheit, die sich mit der Kirche begnügt, nicht mehr trachtet nach dem Reich Gottes, sondern so tut, als wäre alles schon erreicht. Es demonstriert die Freiheit Gottes, auch außerhalb der Kirche, auch gegen sie zu agieren. Es demonstriert für die Zukunft Gottes, indem es sie offen hält. Paulus versteht das jüdische Nein als Aktion Gottes – gegen uns, uns zugut –, und das klingt so, als nähme er es als eigensinniges, bewusstes, entschiedenes Nein gar nicht ernst, als betrachte er das jüdische Volk als willenloses Instrument seines Gottes. Doch das wäre wieder jene messerscharfe Logik des Entweder-Oder, die Paulus ablehnt. Er orientiert sich an einer biblischen Logik, die wir aus der Geschichte von Josef und seinen Brüdern kennen. Als die Brüder da ziemlich kleinlaut, ängstlich Josef wieder unter die Augen treten, sagt er ihnen: „Ihr hattet Böses ge-

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plant, als ihr mich verraten und verkauft habt unter die Völker, aber Gott hat es umgeplant zum Guten, mein Exil genutzt, um euer Überleben zu organisieren.“ So auch Jesus: Seine Überlieferung in die Hände der Völker nutzt Gott, um unter den Völkern Bundesgenossen zu suchen für seinen Bund mit Israel. Und so wird ganz Israel gerettet, befreit werden von Angst und Hass und Bedrückung. „Ob Jesus der Messias ist - das hängt von euch ab“, hat ein Jude den Christen auf einem Evangelischen Kirchentag gesagt: Von eurem Leben und Handeln hängt ab, ob die Jesus-Geschichte, die Wirkung des Evangeliums unter den Völkern Israel zugutekommt, Rettung und Befreiung bewirkt: damit auch sie jetzt Erbarmen erfahren. Wenn das Evangelium von Jesus Christus uns Christen zu treuen und verlässlichen Verbündeten Israels macht und so dazu beiträgt, dass Israel inmitten der Völker ohne Angst leben kann, dann wirkt Jesus als Messias, als Befreier Israels. Wenn das Evangelium uns aber antijüdisch prägt, was es Jahrhunderte lang getan hat, Christen alle möglichen Klischees verbreiten, was jüdisch sei oder pharisäisch oder alttestamentarisch, dann mag Jesus alles Mögliche sein, aber nicht der Christus, nicht der Messias Israels. Die Rettung, die Befreiung ganz Israels stellt sich Paulus also nicht als Eingehen, Aufgehen Israels in der Kirche vor, sondern, im Gegenteil: als Hineingehen der Fülle der Völker in den Bund Gottes mit Israel. Die Beziehung zu Israel ist entscheidend, ist Kriterium für unsere Gottesbeziehung. So hatte es Gott schon Abraham verheißen: „Segnen will ich, die dich segnen, und die dich fluchen, fluche ich. Und so sollen in dir gesegnet sein alle Völker.“ Paulus hat uns eingeweiht in die Geheimnisse Gottes, damit wir uns nicht selbst für klug halten. Und so schließt er nicht mit Stolz auf seine Klugheit, seinen Verstand, dieses Geheimnis entschlüsselt, dieses Rätsel gelöst zu haben, sondern mit einem Lobpreis der Klugheit Gottes. Im Geheimnis der Geschichte Israels sieht er ein Meisterstück der Weisheit Gottes:

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„O Abgrund von Reichtum und Weisheit und Erkenntnis Gottes! Wie unausforschbar sind seine Richtsprüche und unaufspürbar seine Wege. Denn: wer erkennt den Sinn des Herrn wer ist sein Berater gewesen? Oder: wer hat ihm zuerst gegeben, dass ihm etwas zurückzugeben wäre? Aus ihm und durch ihn und auf ihn hin ist Alles. Sein ist die Herrlichkeit auf ewig. Amen.“

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Predigt über Römer 11,25-32 Ursula Rudnick Liebe Gemeinde, „Aus Zion wird der Erlöser kommen…“ – mit diesem Satz aus dem Profeten Jesaja, den Paulus im Römerbrief zitiert, begrüße ich sie zum heutigen Gottesdienst am 10. Sonntag nach Trinitatis. Dieser Sonntag ist der Israel-Sonntag. An ihm steht das Nachdenken über das Verhältnis der Kirche zum Judentum im Mittelpunkt. Dieser Sonntag liegt in der Nähe des 9. Aw, der in diesem Jahr auf den 9. August fällt. An ihm gedenkt die jüdische Gemeinde der zweifachen Zerstörung des Tempels in Jerusalem: einmal durch die Babylonier im 6. Jahrhundert v. Chr. und einmal durch die Römer 70 n. Chr. Der Tempel war das Zentrum des biblischen Judentums: in ihm war Gott gegenwärtig und Gottes Nähe konnte erfahren werden. Seine Zerstörung bedeutet für das jüdische Volk eine Katastrophe. Hatte Gott sein Volk verlassen? Wo war Gott? Wie konnte Gott bei seinem Volk sein, wenn Sein Wohnort zerstört war? Die Rabbinen fanden einen Weg aus dieser Krise: nicht mehr der heilige Ort, also der Tempel, war zentraler Bezugspunkt, sondern die heilige Zeit, der Sabbat und die Feste, rückten in den Mittelpunkt des Lebens. Früher deutete die Kirche die Zerstörung des Tempels und den Verlust des Landes als einen vermeintlichen Beweis dafür, dass Gott sein Gericht an Israel vollzog. Die Kirche sah sich als Alleinerbin der Verheißungen Gottes, als einzig geliebtes Kind Gottes. In den vergangenen Jahrzehnten haben wir mühsam gelernt, Juden als „ältere Geschwister“ anzuerkennen. Heute entdecken wir, was wir dem Judentum verdanken. Predigttext „Denn Brüder, [Geschwister], ich möchte, dass ihre diese Wahrheit versteht, die Gott zuvor verborgen hatte, nun aber offenbart hat, damit ihr

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euch nicht einbildet, mehr zu wissen, als ihr tatsächlich wisst. Verstockung ist zu einem gewissen Teil über Israel gekommen, bis die Völkerwelt eingeht in ihrer Vollzahl. Und sodann wird auch ganz Israel gerettet werden: „Aus Zion wird der Erlöser kommen; er wird die Verfehlung aus Jakob fortnehmen, und das wird mein Bund sein mit ihnen,… wenn ich ihre Sünden fortnehme.“ Im Hinblick auf die Frohbotschaft sind sie zwar Feinde um euretwillen, aber im Hinblick auf die Erwählung sind sie Geliebte um der Väter willen. Denn Gottes Gaben und SEIN Erwählen sind unwiderruflich. So wie ihr selbst Gott früher ungehorsam wart, jetzt aber Erbarmen empfangen habt wegen Israels Ungehorsam, so ist auch Israel jetzt ungehorsam gewesen, damit es, indem ihr ihm das gleiche Erbarmen erweist, das Gott euch erwiesen hat, jetzt ebenfalls das Erbarmen Gottes empfange. Denn Gott hat die ganze Menschheit in Ungehorsam eingeschlossen, damit er sich aller erbarme!“ (Übersetzung Andreas P. Schmidt) Liebe Gemeinde, Diese Worte des Paulus aus dem 11. Kapitel des Römerbriefes wurden zum Grundstein einer Theologie des Respekts gegenüber dem Judentum. Wie ist das möglich? Wo doch von „Verstockung“ die Rede ist und davon, dass Juden „Feinde im Hinblick auf das Evangelium seien“. In der Übersetzung Luthers werden sie gar „Feinde Gottes“ genannt. Weiter spricht Luther von „Gottlosigkeit“ und „Ungehorsam. Diese Verse sollen die Grundlage einer neuen Theologie des Respekts gegenüber dem Judentum sein? Schwer nachzuvollziehen. Und dennoch ist es so. Im Römerbrief, vor allem in den Kapiteln 9 bis 11 denkt Paulus über das Verhältnis von Juden und Nicht-Juden nach: Nicht-Juden, die an Jesus Christus als Messias glauben, und Juden, die nicht an ihn glauben. Paulus, der Apostel der Völker, warnt die nicht-jüdischen MessiasGläubigen vor Überheblichkeit gegenüber Israel, dem jüdischen Volk,

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das sich in seiner überwiegenden Mehrheit nicht zum Glauben an den Messias Jesus Christus bekehrt hat. Im Gleichnis vom Ölbaum erinnert Paulus die gläubigen Nicht-Juden daran: Ihr seid die Zweige, das Volk Israel ist jedoch die Wurzel. Er ermahnt die Neuen: „Sei[d] nicht überheblich, sondern ehrfürchtig.“ (Röm 10, 21) Es scheint, als habe Paulus hier in die Zukunft schauen können und bereits vorausgesehen, welche Haltung die Kirche Jahrhunderte lang dem Judentum entgegenbringen würde: Sie würde das Erbe Israels, die Verheißungen Gottes auf sich selber und nur auf sich beziehen. Sie würde Israel herabsetzen, beschimpfen und diffamieren. Paulus warnt vor Überheblichkeit, nicht nur einmal, sondern zweimal. Er führt verschiedene Argumente ins Feld. Das zuvor erwähnte Gleichnis vom Ölbaum ist wohl das bekannteste. Aber auch die sich anschließenden Zeilen sind eine Warnung vor Überheblichkeit gegenüber Juden, die in Jesus nicht den Messias sehen. Überheblichkeit auf Seiten der Hinzugekommenen würde heißen, den Ast, auf dem wir sitzen, abzusägen. Paulus macht deutlich, dass das „Nein“ des jüdischen Volkes eine positive Wirkung für die Nicht-Juden hat. Denn hätte es dieses „Nein“ Israels nicht gegeben, dann hätten die Heiden gar keine Chance erhalten, zum Gott Israels zu finden. Also: ohne das „Nein“ Israels, gäbe es keine Völkermission und keine Kirchen. In Gottes Plan hat also das, was Paulus aus menschlicher Perspektive mit dem Wort „Verstockung“ im Hinblick auf das Evangelium bezeichnet, eine wunderbare Wirkung. Paulus verfolgt diesen Gedanken weiter: Wenn sich die Völkermission als erfolgreich erweist und die Heiden zum Glauben kommen, dann wird auch ganz Israel gerettet werden. Mit den nachfolgenden Sätzen begründet er seine Aussage mehrfach: - Am Ende der Tage wird Gott seinen Bund mit Israel endgültig aufrichten. - Aufgrund von Gottes Erwählung sind Juden „Geliebte um der Väter willen“. Also: Gottes Bund, den Gott zunächst mit den Vätern Abraham, Isaak und Jakob schloss, bestätigte er gegenüber

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dem ganzen Volk am Sinai. Dieser Bund gilt unverbrüchlich, auch dann, wenn er von Israel wieder und wieder gebrochen wird. Die Argumentationsrichtung dieses Abschnitts zielt darauf, Heiden, die Anteil an der Barmherzigkeit Gottes erhalten, vor der Überheblichkeit gegenüber Juden zu warnen. Zugleich spricht Paulus voller Zuversicht davon, dass am Ende der Zeit ganz Israel errettet werden wird. „Und sodann wird auch ganz Israel gerettet werden.“ Paulus sagt nicht, wie und auf welche Weise, aber er gibt einen Zeitpunkt an, nämlich die Erfüllung der Heidenmission. Im Anschluss zitiert er zwei Verse aus Jesaja, gleichsam als Beleg für seine Hoffnung. Paulus hat nicht nur in die Zukunft geblickt und das Problem des Hochmutes der künftigen Kirchen gegenüber dem Judentum erkannt, er hat mit seinen Worten auch dafür gesorgt, dass Judenfeinde späterer Zeit Versatzstücke für ihre eigene Argumentation finden konnten. Und so enthält dieser Text die Schlagworte des antijüdischen Vokabulars und der Denkfiguren kommender Jahrhunderte: „Verstockung“, „Starrsinn“, „Gottlosigkeit“ „Ungehorsam“ oder „Unglaube“ und „Feindschaft“. Die Übersetzungen haben zur antijüdischen Auslegung dieses Textes beigetragen. Spricht Paulus davon, dass Juden „im Hinblick auf die Frohbotschaft … Feinde um euretwillen“ seien, so verfälscht die Übersetzung Luthers dies in „Feinde Gottes“. Das paulinische Vokabular von „Verstockung“ und „Feindschaft“ ist nicht zu trennen von der langen Geschichte christlicher Urteile über Juden und von konkreter Judenfeindschaft. Als Theologie der Verachtung hat der französische Historiker Jules Isaac sie treffend charakterisiert. In den vergangenen Jahrzehnten, nach dem Schock über das Versagen der Kirche im Dritten Reich und über zahlreiche antijüdische Denkfiguren in der protestantischen Theologie, haben Theologen und Theologinnen versucht, die Theologie der Verachtung hinter sich zu lassen und nach Grundlagen einer neuen Theologie des Respekts gesucht. Sie begannen, die Bibel neu zu lesen und versuchten bewusst, die antijüdische

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Brille der Tradition abzulegen. Dabei gewannen sie neue Einsichten. Insbesondere zwei Sätze aus dem heutigen Predigttext erwiesen sich als grundlegend für eine neue theologische Wahrnehmung des Judentums. Der erste Satz lautet: „Gottes Gaben und seine Berufung sind unwiderruflich.“ Was bedeutet dies? Die traditionelle Theologie sah das jüdische Volk, Israel, als von Gott berufen: Mit der Ankunft Jesu Christi sah sie die Erwählung Israels auf die Kirche übergehen. Dieser Satz sagt nun aber, dass Gottes Berufung, Gottes Bund mit Israel nicht aufgehoben ist, sondern weiter besteht. Nach mehr als 2000 Jahren Ringen um die Verheißungen Gottes, Ringen darum, wer das geliebte Kind Gottes sei, wer rechtmäßiger Erbe sei, kommt es zur Bestätigung des paulinischen Satzes. Israels Bund ist nicht gekündigt. 1950 erscheint dieser Satz erstmalig in einer evangelischen Erklärung zum Judentum. Die Synode der EKD in Weißensee spricht ihn aus. Sollte Ihnen diese Einsicht vertraut und ganz selbstverständlich erscheinen, dann ist dies gut und zeigt, wie selbstverständlich einige der Einsichten dieser Theologie des Respekts inzwischen geworden sind. Was bedeutet dies konkret? Es heißt, dass es neben unserer Auslegung der Bibel noch eine weitere legitime Stimme gibt, die jüdische Auslegung. Sie steht nicht einfach in Konkurrenz zu unserer Auslegung, sie ist auch nicht bedeutungslos, wie Ausleger früherer Zeiten meinten, sondern ergänzt, bestätigt oder widerspricht auf eine ihr ganz eigene Weise. Diese Stimme ist nie nur eine einzelne Stimme, sondern seit Beginn der rabbinischen Auslegung ein ganzer Chor. In Psalm 62 heißt es: „Eins hat Gott geredet, ein Zweifaches habe ich gehört.“ Die Auslegung von Gottes Wort gibt es nur mehrstimmig. Der zweite Satz, um dessen Bedeutung lange in der evangelischen Kirche gestritten wurde, lautet: „Dann wird ganz Israel gerettet werden.“ Nach langen und hitzigen Auseinandersetzungen früherer Jahrzehnte gelangen die Verfasser der dritten Studie der EKD zu „Christen und Juden“, zu der Einsicht: Gott sorgt für sein Volk Israel. Gott steht zu sei-

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nem Volk und wird es retten. Mission unter Juden im Sinn einer Bekehrung zum Christentum ist nicht notwendig. Wir sind nicht „Buchhalter über Gottes Gnade“. Was wir schon immer hätten wissen können und erst so mühsam im christlich-jüdischen Dialog gelernt haben, gilt nicht nur für Gespräche mit Juden, sondern auch für Gespräche mit allen Menschen, seien sie Atheisten, Muslime oder Buddhisten. Gottes Lob zu singen, sich der Frohbotschaft zu freuen, ist das Eine, Scharfrichter der Gnade Gottes zu sein, ein Anderes. Die Herausforderung besteht darin, respektvoll mit der Verschiedenheit der Ansichten und Bekenntnisse umzugehen. Das Eigene nicht zu verschweigen, aber auch nicht dem Gegenüber die Gnade Gottes abzusprechen. Denn: Gottes „Plan für die Geschichte und Erlösung bleibt ein Geheimnis, vor dem wir in Ehrfurcht stehen,“ so Abraham Joshua Heschel, der große jüdische Religionsphilosoph. Und Paulus formuliert ganz ähnlich seinen Lobpreis am Ende des Abschnittes: „Wie unbegreiflich sind seine Entscheidungen und unerforschlich seine Wege! … Ihm sei Ehre in Ewigkeit.“ Amen

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Themenpredigt Sabine Münch Ansprache zum Israelsonntag 2017 Liebe Gemeinde! Israel – wenn wir das Wort hören, woran denken wir? Was verbinden wir mit dem Wort? Die Bibel redet in dreifacher Hinsicht von Israel. Israel – das Volk, das Land, die Nation. Israel – das Volk Aus allen Völkern erwählt sich Gott das Volk Israel. Warum gerade dieses Volk? Dazu heißt es in 5. Mose 7: „Nicht hat euch der HERR angenommen und euch erwählt, weil ihr größer wäret als alle Völker – denn du bist das kleinste unter allen Völkern –, sondern weil er euch geliebt hat.“ Gott nennt sie Kinder Israels, seine Kinder, manchmal nennt er auch ganz Israel seinen Sohn, und sie, die Kinder Israels, nennen ihren Erwähler Vater. So hat es Jesus gelernt in seinem Elternhaus und so haben wir es von Jesus gelernt. „Vater unser“ – Juden und Christen, ein Volk von Gotteskindern, die etwas Größeres kennen als sich selbst, die den lebendigen Gott anbeten und ehren und die ihm keine Ruhe geben, mit dem, was sie auf dem Herzen haben.

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„Vater unser“ zu sagen, das haben wir vom Volk Israel gelernt. Es hat uns durch Jesus in sein Gebet mit aufgenommen, es hat uns das schönste und tiefste Gebetbuch aller Zeiten geschenkt, die Psalmen: Der Herr ist mein Hirte ... Befiehl du deine Wege ... Herr, deine Güte reicht so weit der Himmel ist ... Lobe den Herrn, meine Seele, und was in mir ist, seinen heiligen Namen ... Israel, ein Volk von Gotteskindern, dass den Völkern den Glauben an den bis ins letzte mitgehenden und leidenden Gott gebracht hat, Israel, aus dem wir Jesus Christus empfangen haben. Israel – das Land Einen Bund schließt Gott mit dem Erzvater Abraham und seinen Nachkommen. Israel soll der Thora, der Wegweisung Gottes, seinen Geboten nachgehen. Es soll sich im Gehorsam des Ewigen als sein Volk bewähren und die Welt nach seinem Willen gestalten und erhalten. Dazu wird dem Volk das Land Israel zum Leihbesitz von Gott verheißen und gegeben: vom Libanon bis nach Ägypten, vom Mittelmeer bis an den Jordan. Nur ein kleiner Flecken auf dieser riesigen Erde, aber kein Flecken der Erde sonst bekommt von Gott die Verheißung, dass dort Milch und Honig fließen, für Leib und Seele, dort im Lande Israel - scham beeretz jisrael.

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Israel – Gottes Musterland: von hier aus ergeht Gottes Weisung und Willen hinaus in alle Welt. Jesus von Nazaret, der Messias, der Heiland der ganzen Welt, überschreitet während seines irdischen Lebens nicht ein Mal die Grenzen Israels. Alles, was er auszurichten hat, muss im verheißenen Land, in Israel geschehen. Immer nimmt Gottes Rettungs- und Erlösungswerk bei den Kindern Israel seinen Anfang. Von den Juden kommt das Heil, sagt Jesus. Und dort vollendet es sich auch. Wie oft beklagen wir uns, liebe Gemeinde, oder denken es im Stillen, dass wir so wenig von Gottes Wirken und Verheißungen mit unseren sieben Sinnen zu fassen bekommen, man sieht so wenig, von dem, was Gott in und an dieser Welt tut. Da kann geholfen werden: Reise ins Land Israel und du wirst Gottes Wundertaten erleben. Seit 70 n. Chr., seit der Zerstörung Jerusalems und der Besatzung Israels durch die Römer waren die Juden aus ihrem Land vertrieben und in alle Welt zerstreut, wurden sie gezwungen, ihr Judentum in der Fremde zu leben, aber nie haben sie die Hoffnung auf ihr Land, auf Gottes Zusage aufgegeben. Und 1948, mit der Staatsgründung Israels, war nach 1878 Jahren Gottes Versprechen in Erfüllung gegangen: Und sie sollen wieder in dem Lande wohnen, das ich meinem Knecht Jakob gegeben habe, in dem eure Väter gewohnt haben. Sie und ihre Kinder und Kindeskinder sollen darin wohnen für immer. In der Tat, liebe Gemeinde, die Menschen, die damals mit Jesus zur gleichen Zeit gelebt haben, haben eine besondere Zeit erlebt. Aber auch wir leben in einer ganz besonderen Zeit, in der wir Gott auf die Hände

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sehen können, wie er den Kindern Israel sein Land wieder, zum zweiten Mal anvertraut hat. In der langen Zwischenzeit wurde Palästina nie eine nationale Heimstätte für ein anderes Volk, war nie ein unabhängiger Staat oder bildete eine Nation. Das Land reagierte nicht – erst als die Kinder Israels heimkehrten ... Israel – die Nation In der Verheißung Gottes an den Erzvater Israels, an Abraham heißt es: „Und ich will dich zu einer großen Nation machen, und ich will dich segnen, und ich will deinen Namen groß machen, und du sollst ein Segen sein!“ Unter einer großen Nation stellen wir uns wohl etwas anderes vor als ausgerechnet Israel, so groß wie das Bundesland Hessen. Da denken wir eher an die USA, Russland oder China und dann auch Deutschland. Alle aber entbehren dieser Verheißung, die Israel bis heute gilt und der Gott treu geblieben ist. „Ich will dich segnen, und du sollst ein Segen sein.“ Den letzten Sinn des Staates Israel muss man wohl mit den Augen prophetischer Schau sehen: die Erlösung aller Menschen. Religiöse Pflicht des Juden ist es, mitzuwirken am Prozess der dauernden Erlösung, indem er dafür sorgt, dass Gerechtigkeit über die Macht siegt, dass menschliches Verstehen und Entscheiden vom Wissen um Gott durchdrungen ist. Die Existenz des Staates Israel ist die Zurückweisung der Verzweiflung, der Verzweiflung, dass der abgrundtiefe Hass siegt. Die Kinder Israel wissen, wovon sie sprechen.

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Gesegnet, liebe Gemeinde, gesegnet sind wir mit dem Segen Israels durch Jesus Christus, dass nicht der Hass den Sieg davontragen wird – darum lasst uns mit Israel für Gott und die Menschen ein Segen sein, wo wir es nur eben können. Amen

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Themenpredigt Ursula Rudnick Liebe Gemeinde, liebe Freundinnen und Freunde, Israel-Sonntag ist wie Muttertag: an diesem Tag denken wir Christinnen und Christen darüber nach, was wir Israel verdanken. Israel? Wer ist Israel? Geht es hier um den Staat und eine politische Aussage? Nein, der Begriff Israel meint das jüdische Volk. Er bezeichnet Jüdinnen und Juden – mit ihrer Beziehung zu Gott. Israel ist der Name, der dem Patriarchen Jakob verliehen wird. Eindrücklich wird diese Geschichte im Buch Genesis erzählt. Jakob ist unterwegs auf dem Weg von Haran, im nördlichen Zweistromland, nach Kanaan, wo er aufgewachsen war. Bei ihm sind seine beiden Ehefrauen, Rahel und Lea, und seine 11 Kinder. Je näher Jakob seiner Heimat kommt, desto größer wird seine Angst. Er fürchtet sich vor Esau, den er um den Segen des Erstgeborenen betrogen hatte. Jakob sendet seinem Bruder Esau Rinder, Esel und Schafe, in der Hoffnung, ihn mit diesen Gaben milde zu stimmen. Esau kommt ihm mit 400 Mann entgegen: „Da fürchtete sich Jakob sehr“. In der folgenden Nacht ereignet sich der Kampf am Jabbok. Jakob ringt mit einem Mann. Keiner kann den anderen bezwingen. Jakob fordert von ihm: „Ich lasse dich nicht, du segnest mich denn.“ Und der Unbekannte sagt: „Du sollst nicht mehr Jakob heißen, sondern Israel; denn du hast mit Gott und mit Menschen gekämpft und gewonnen. „Isra – El“, dieser hebräische Name lässt sich als „Gottesstreiter“, der, der mit Gott kämpft, übersetzen. Aus Jakob, der einen Konflikt mit seinem Bruder Esau hat und der sich sehr vor einer Auseinandersetzung fürchtet, wird ein Gottesstreiter. Kein Kreuzritter, kein Taliban, keiner, der sich mit Gewalt, dem Schwert oder Bomben vermeintlicher Weise für seinen Gott einsetzt. Nein, einer, der mit seinem Gott streitet und sich mit seinem Bruder versöhnt. Die Be-

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gegnung mit Esau am kommenden Tag verläuft anders als von Jakob befürchtet und vielleicht auch anders, als von Esau geplant. Jakob läuft Esau entgegen und „neigte sich sieben Mal zur Erde, bis er zu seinem Bruder kam. Esau aber lief ihm entgegen und herzte ihn und fiel ihm um den Hals und küsste ihn und sie weinten.“ Statt Hass und Streit erleben wir hier Versöhnung. Aus dem Gottesstreiter wird ein Versöhner. Israel – der Ehrenname des Patriarchen Jakob wird zum Namen eines Volkes: Benei Israel – die Kinder Israels oder Am Israel, Volk Israel, sind Ausdrücke, die in der Bibel häufig vorkommen. Am Israel – das Volk Israel: dieser Name ist nicht allein eine biblisch-historische Bezeichnung, nein, er beschreibt auch jüdisch-religiöses Selbstverständnis bis in die Gegenwart hinein. Israel – das ist also das jüdisches Volk, in seinem Bezug zur Geschichte mit dem Gott, der sein Volk aus der Sklaverei in Ägypten befreite und den Bund am Sinai mit ihnen schloss, der bis heute andauert. Zum Volk Israel – davon gibt die Bibel Zeugnis – gehört der Gott Israels: der Elohei–Israel und weist auf den engen Zusammenhang zwischen Gott und Volk hin. Die Bibel zeigt uns: Zum Volk Israel und seinem Gott gehört auch das Land Israel und auch ein Staat. Saul gründete das Königreich. Nach dem Tod seines Enkels Salomon im 10. Jahrhundert zerfiel es in zwei Staaten, nämlich das Südreich Judah und das Nordreich namens Israel. Dieser Staat Israel existiert 2 Jahrhunderte lang, dann wird er von den Assyrern ausgelöscht. (Die Profeten halten überwiegend an der Sprachweise Israel als Namen für das ganze Volk fest, die Königsbücher dagegen bezeichnen eher das Nordreich, wenn sie von Israel reden.) Die sprachliche Begriffsverwirrung, was der Name Israel meint, stammt nicht erst aus dem 20. Jahrhundert. Israelsonntag: an diesem Tag denken wir Christinnen und Christen darüber nach, was wir Israel, dem jüdischen Volk, verdanken. IsraelSonntag ist wie Muttertag. Der Muttertag hat seinen Ursprung in der englischen und amerikanischen Frauenbewegung des 19. Jahrhunderts. Initiatorin des Muttertags

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ist die amerikanische Methodistin Anna Jarvis, die ihrer eigenen verstorbenen Mutter zu Ehren einen Gedenktag im Jahr 1908 feierte. Im folgenden Jahr wurde am zweiten Maisonntag in der Methodistenkirche in Grafton eine Andacht gefeiert, die allen Müttern gewidmet war. Anna Jarvis setzte sich dafür ein, dass Muttertag ein offizieller Feiertag wird. Offensichtlich traf sie einen Nerv ihrer Zeit, denn bereits 1909 wurde der Muttertag in 45 Staaten der USA gefeiert. 1914 wurde er zum ersten Mal als nationaler Feiertag in den USA begangen. Schnell breitete er sich auch in Europa aus. 1917 in der Schweiz, 1918 in Finnland und Norwegen, 1919 in Schweden, ab 1923 in Deutschland. Der Muttertag wurde kommerzialisiert und instrumentalisiert, so z.B. von den Nationalsozialisten, die diesen Tag geschickt in ihre Propaganda einbauten und den Tag für ihre eigenen Zwecke nutzten. Der Muttertag hat sich trotz des Missbrauchs und auch immer wiederkehrender Kritik hartnäckig als ein Feiertag gehalten. Er steht für die Dankbarkeit gegenüber der eigenen Mutter, für die Fürsorge und all das Gute, was ein Kind von seiner Mutter erhalten hat. Israel-Sonntag ist wie Muttertag. [Wenigstens] einmal im Jahr darüber nachdenken, was wir Israel verdanken. Was verdanken wir dem Am Israel, dem jüdischen Volk? Ich nenne drei Schätze, die wir Christinnen und Christen empfangen haben: 1. Wir haben die Bibel empfangen a. Die Bibel ist für uns Protestanten Fundament unseres Glaubens. Die Kirche hielt seit ihren Anfängen daran fest, dass unsere Heilige Schrift aus zwei Teilen besteht, dem sogenannten Alten und Neuen Testament. Zu jedem Versuch, den ersten Teil der Bibel für überflüssig zu erklären, sagte die Kirche jedes Mal „Nein“, sei es in der Antike, in der Neuzeit oder auch in der Gegenwart. 2. Wir haben ethische Impulse erhalten, die auch heute aktuell sind

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a. „Liebe deinen Nächsten wie dich selbst“, ist ein Satz, den Jesus gesprochen hat und der von vielen Christen als Kern der christlichen Botschaft verstanden wird. Dieser Satz stammt aus dem 19. Kapitel des 3. Buches Mose. b. Die Aufforderung, sich um die Schwachen der Gesellschaft zu kümmern, finden wir in den Geboten der Thora. Die Profeten, wie auch später Jesus, aktualisieren sie immer wieder. Und schließlich: Jesus Christus ist Jude Paulus erinnert in seinem Römerbrief an Jesu Jude-Sein, die Evangelien beschreiben es ausführlich. In den vergangenen Jahrzehnten haben Theologinnen und Theologen gelernt, Jesus in seinem jüdischen Umfeld wahrzunehmen. Jesus, der am 8. Tag seiner Geburt beschnitten wurde, als Erstgeborener im Tempel ausgelöst, dort lernend und betend, in den Synagogen predigend. Durch Jesus Christus haben wir Christinnen und Christen Zugang zum Gott Israels gefunden.

Die Kirche verdankt dem jüdischen Volk viel. Ohne Israel gäbe es uns nicht, jedenfalls nicht als Christinnen und Christen. Grund genug für Dankbarkeit. Eine Dankbarkeit, die immer da sein sollte. Derer wir uns jedoch nicht immer bewusst sind. Denn zu oft liegt anderes oben auf. Und schließlich: über viele Jahrhunderte hinweg war das Christentum in einem Streit um die Wahrheit mit Israel gefangen. Sprach dem jüdischen Volk ab, Israel zu sein. Behauptete selber, Israel zu sein. Wie ein Teenager versuchte sich das Christentum von seiner Mutter abzugrenzen. Hoffen wir, dass diese Zeiten für immer hinter uns liegen. Am Muttertag gibt es Blumen. Die Blumen stehen symbolisch für die Dankbarkeit eines – hoffentlich – erwachsen gewordenen Christentums. Und der Israel-Sonntag gibt die Gelegenheit, hier an dieser Stelle „Danke“ zu sagen.

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Muttertag ist ein konfliktträchtiger Tag. Es gibt Erwartungen und Enttäuschungen. Die Kritik am Muttertag ist fast so alt wie dieser selbst. Denn: es genügt nicht, einmal im Jahr vorbei zu kommen und einen Blumenstrauß zu überreichen. Der Muttertag kann allenfalls der Anlass sein, um das zum Ausdruck zu bringen, was vorhanden, im Alltag aber vielleicht überdeckt ist. Und so gilt für den Israel-Sonntag gleichermaßen wie für den Muttertag: So gut es ist, sich einmal im Jahr der Beziehung und der Verbundenheit zu vergegenwärtigen, so setzt es doch eben diese Beziehung und ihre Pflege voraus. Was braucht es zur Pflege der Verbundenheit von Kirche und Israel? Solidarität mit Israel: Israel zur Seite zu stehen. Dies beginnt z.B. mit dem Recht von Juden, Knaben am 8. Tag nach ihrer Geburt zu beschneiden, so dass sie Teil des Bundes zwischen Gott und Israel werden. Dazu gehört, Antisemitismus zu bekämpfen. Erst in diesem Juni wurde der jüdische Friedhof in Delmenhorst geschändet. Gute Nachbarschaft: dazu gehört, dass man sich gratuliert an Festen und Feiertagen, dass man freundlich und wertschätzend miteinander umgeht. Darüber hinaus wünsche ich mir gelebte Zeitgenossenschaft. Die Vision: ein gemeinsamer Einsatz für eine Welt mit einem menschlichen Antlitz. Punktuell. So dass deutlich wird, dass wir Kinder und Zeugen des einen Gottes sind. Des Gottes Israels, durch den wir Christinnen und Christen Zugang durch Jesus Christus haben. Amen.

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Themenpredigt Michaela Will Liebe Zelt-Gemeinde, das Zelten hat eine lange Geschichte in der christlich-jüdischen Tradition. Die Erzväter, Abraham und seine Nachkommen, waren ja Halbnomaden. Sie zogen mit ihren Herden durch das Land zu fruchtbaren Weideplätzen. Sie lebten natürlich in Zelten. Mehrere Hungersnöte verschlugen das Volk Israel dann nach Ägypten, wo sie zunächst freundlich aufgenommen, aber nach einigen Generationen versklavt wurden, bis sie schließlich unter Mose auszogen aus Ägypten – aus der Sklaverei. Die Bibel berichtet, dass sie vierzig Jahre durch die Wüste ziehen mussten, bis sie das Gelobte Land erreichten und sich dort niederließen. Gott begleitete auf der Wüstenwanderung bei Tag in einer Wolkensäule und bei Nacht in einer Feuersäule, um sie zu führen. Vierzig Jahre Rückkehr zur nomadischen Existenz: Leben auf der Wanderung in Zelten. Zur Gottesverehrung diente die Stiftshütte, ein zeltähnlicher Bau, der nach Gottes Anweisungen vom Sinai kunstvoll zusammengesetzt wurde. Soweit die biblische Tradition zum Zelten, wie sie in den fünf Büchern Mose überliefert worden ist. Im Judentum gibt es ein Fest, das an diese nomadische Existenz erinnert. Es ist das Laubhüttenfest, hebräisch Sukkot. Es wird jedes Jahr als Erntefest nach der Wein-, Oliven- und Obstlese gefeiert. Das Fest dauert sieben Tage. Neben seiner Bedeutung als Erntefest hat das Laubhüttenfest auch eine religiös-historische Bedeutung: Es dient der Erinnerung an die vierzigjährige Wüstenwanderung von Ägypten durch die Wüste bis ins Gelobte Land Israel, in der die Juden in zeltähnlichen Hütten, hebräisch: Sukkot, lebten. Vier Tage vor dem Fest wird mit dem Bau der Laubhütte, hebräisch: Sukka, begonnen. Die heutige Sukka wird aus Brettern, Ästen, Laub und Tüchern errichtet und mit Blumen und Früchten geschmückt. Sie darf nicht mehr als 9,50 Meter hoch und nicht län-

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ger als ein Meter sein. Sie muss mindestens siebzig Zentimeter breit sein und eine Tür sowie drei bis vier Wände enthalten. Das Dach soll nur so dicht sein, dass man bei Nacht noch die Sterne sehen kann. Die Hütte steht in der Regel im Garten oder auf dem Balkon. In manchen Wohnsiedlungen werden Gemeinschaftshütten gebaut, in denen sich abwechselnd verschiedene Familien aufhalten. Nach Möglichkeit sollen die Familien während der sieben Tage des Laubhüttenfestes in der Laubhütte wohnen. Bei schlechtem Wetter sollen sie keine Krankheiten riskieren, aber doch versuchen, zumindest die Mahlzeiten in der Sukka einzunehmen. Sieben Tage in Laubhütten zu leben, zur Erinnerung an die vierzigjährige Wüstenwanderung, so schreibt es die Bibel vor. Aber wozu das Ganze? Die jüdische Tradition gibt auf diese Frage verschiedene Antworten. Dies ist für das Judentum typisch. Das Gebot und die Praxis, also hier das Leben in der Sukka, sind verbindlich. Die Erklärungen und die Theologie sind plural und vielfältig. Der jüdische Gelehrte Raschbam, der im 12. Jahrhundert in Frankreich Kommentare zur Heiligen Schrift verfasste, schreibt zur Bedeutung des Laubhüttenfestes Folgendes: Indem der Mensch eine gewisse Zeit unter provisorischen Bedingungen verbringt, obwohl er es doch viel besser haben könnte, wird ihm die Unsicherheit des Lebens bewusst. Er wird dann anerkennen, wieviel er Gott zu verdanken hat, der die Ernte wachsen lässt und das Leben ermöglicht. Es ist nicht die Genialität des Menschen, die ihm Überfluss bringt, sondern der göttliche Beistand, der ihm liebevoll gewährt wird. Eine andere Begründung für das Wohnen in der Sukka stellt die Vergänglichkeit aller Sicherheiten in den Mittelpunkt, die besonders in der Geschichte des jüdischen Volkes zum Ausdruck kommt. Das Leben in der Sukka dient hiernach zur Erinnerung daran, dass nicht nur die Vorväter als unstete Nomaden lebten, sondern ganz Israel sich ständig auf einer Wanderschaft befindet. Im Laufe der Geschichte hat das jüdische Volk immer wieder vor der bitteren Notwendigkeit gestanden, die festen

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Häuser und alle Sicherheiten preiszugeben. Alles, was Sicherung und Halt bietet, muss auch wieder verlassen werden können. Das jüdische Volk soll jedes Jahr neu wieder lernen, sich mit leeren Händen unter Gottes Schutz zu stellen. Es gibt aber auch noch eine ganz andere Auslegung des Laubhüttenfestes. Sukkot heißt wörtlich „Hütten“, im übertragenen Sinn kann es auch „Gottes Wolken der Herrlichkeit“ heißen. So erinnert Sukkot an den wunderbaren Schutz, den Gott dem jüdischen Volk in der Wüste vierzig Jahre lang gewährt hat, als er es in der Wolke seiner Herrlichkeit vor extremer Hitze und anderen Gefahren schützend bewahrte. Der jüdische Gelehrte Abravanel bemerkt dazu Ende des 15. Jahrhunderts in Portugal: Gottes väterliche Liebe zu den Menschen ist so umfassend, dass er jedem Individuum und jeder Nation Seine persönlichen Wolken der Herrlichkeit schickt, um sie zu bewachen und zu beschützen. Und noch etwas: Sukkot ist ein fröhliches Fest. Sieben Tage sollt ihr fröhlich sein vor Gott, heißt es in der Bibel. Die Freudenfeiern im Judentum dauern bis zur Morgendämmerung. Liebe Zelt-Gemeinde! Das Laubhüttenfest ist ein jüdisches Fest, aber das, wofür dieses Fest steht, ist auch Teil unseres Glaubens: dass wir Gott unsere Ernte und alles, was wir haben, verdanken und dass Gott uns schützt und bewahrt, gerade auch in schweren Zeiten. So möge unser Zelt wie die Laubhütten an Sukkot zum Symbol werden für diese große Freude, für alles, was Gott uns schenkt in diesen Tagen und für seinen Schutz. Möge Gottes Wolke der Herrlichkeit Sie alle begleiten und Sie schützen und bewahren auf diesem Volksfest und darüber hinaus. Amen.

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Jerusalemer Texte Schriften aus der Arbeit der Jerusalem-Akademie herausgegeben von Hans-Christoph Goßmann Band 1:

Peter Maser, Facetten des Judentums. Aufsätze zur Begegnung von Christen und Juden sowie zur jüdischen Geschichte und Kunst, 2009, 667 S.

Band 2:

Hans-Christoph Goßmann; Reinhold Liebers (Hrsg.), Hebräische Sprache und Altes Testament. Festschrift für Georg Warmuth zum 65. Geburtstag, 2010, 233 S.

Band 3:

Hans-Christoph Goßmann (Hrsg.), Reformatio viva. Festschrift für Bischof em. Dr. Hans Christian Knuth zum 70. Geburtstag, 2010, 300 S.

Band 4:

Ephraim Meir, Identity Dialogically Constructed, 2011, 157 S.

Band 5:

Wilhelm Kaltenstadler, Antijudaismus, Antisemitismus, Antizionismus, Philosemitismus – wie steht es um die Toleranz der Religionen und Kulturen?, 2011, 109 S.

Band 6:

Hans-Christoph Goßmann; Joachim Liß-Walther (Hrsg.), Gestalten und Geschichten der Hebräischen Bibel in der Literatur des 20. Jahrhunderts, 2011, 294 S.

Band 7:

Hans-Christoph Goßmann (Hrsg.), Geschichte des Christentums, 2011, 123 S.

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Band 8:

Jonathan Magonet, Schabbat Schalom. Jüdische Theologie – in Predigten entfaltet, 2011, 185 S.

Band 9:

Clemens Groth; Sophie Höffer; Laura Sophie Plath (Hrsg.), „... das habe ich nie vergessen, bis heute ...“. Jugendliche befragen Menschen, die die Zeit des Nationalsozialismus erlebt haben, 2011, 200 S.

Band 10:

Hans-Christoph Goßmann, Altes Testament und christliche Gemeinde. Christliche Zugänge zum ersten Testament der Bibel, 2012, 198 S.

Band 11:

Bernd Gaertner; Hans-Christoph Goßmann (Hrsg.), Der Glaube an den Gott Israels. Festschrift für Joachim LißWalther, 2012, 254 S.

Band 12:

Wilhelm Kaltenstadler, Maqāla fī al-rabw. Die Abhandlung des Maimonides über das Asthma, 2013, 171 S.

Band 13:

Hans-Christoph Goßmann; Joachim Liß-Walther (Hrsg.), Gestalten und Geschichten der Hebräischen Bibel im Spiegel der Literatur des 20. Jahrhunderts, 2015, 434 S.

Band 14:

Wilhelm Kaltenstadler, Ernährung im medizinischen Werk des Moses Maimonides, 2015, 132 S.

Band 15:

Yee Wan SO, „And Jesus Replied...” – But what issues did Jesus address in his replies?! The Reception of the Conflict Narratives in the Gospel of Matthew, 2015, 377 S.

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Band 16:

Salomon Almekias-Siegl; Sabine Münch, Gehen wohl zwei miteinander. Jüdisch – christliche Lernwege durch die Bibel, 2016, 288 S.

Band 17:

Michaela Will, Rabbinat bei Franz Rosenzweig, 2017, 102 S.

Band 18:

Hans-Christoph Goßmann; Michaela Will (Hrsg.), „Siehe, wie gut und schön es ist, wenn Geschwister beieinander wohnen“. Festschrift für Wolfgang Seibert, 2017, 202 S.

Band 19:

Joanne Schmahl, Von der „Vergegnung“ zur Begegnung. Die besondere Beziehung zwischen Christentum und Judentum und die Bedeutung des christlich-jüdischen Dialogs für den Frieden, 2018, 139 S.

Band 20:

Hans-Christoph Goßmann (Hrsg.), „Nicht du trägst die Wurzel, sondern die Wurzel trägt dich“. Predigten zum 10. Sonntag nach Trinitatis, 2018, 243 S.

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