"Der Mensch hat das Wort": Der Sprachdiskurs in der Frankfurter Zeitung 1933–1943 9783110315134, 9783110314861

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German Pages 293 [296] Year 2013

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Table of contents :
Geleitwort
Danksagungdes Herausgebers
Die Sprache als Diskursobjekt in der Frankfurter Zeitung 1933—1943
Textteil
Texte aus der Frankfurter Zeitung
1. Beseitigung des Wortes „Arbeitsmarkt" (24.2.1934)
2. Der Volksname „deutsch". Sein geschichtlicher Ursprung und sein Sinn (18.9.1934, Ernst Michel)
3. Sprache und Stil (23.9.1934, Rudolf Kircher)
4. Das arme C. (9.1.1936, Dolf Sternberger)
5. Man nehme (11.2.1936, Dolf Sternberger)
6. Vademecum für den Gebrauch von Sprichwörtern (15.3.1936, Dolf Sternberger): Gebrauch von Sprichwörtern
7. I. Das heiße Essen (15.3.1936)
8. II. Krähen untereinander (22.3.1936)
9. III: Blick der Liebenden (5.4.1936)
10. IV. Zwischen A und B (28.4.1936)
11. V. Das Asyl der Wahrheit (3.5.1936)
12. Nötige Bemerkung (10.5.1936)
13. VI. „Ende gut, alles gut" (10.5.1936)
14. VII. Der stolze Dumme und der dumme Stolze (26.5.1936)
15. VIII. Aller Tage Abend (7.6.1936)
16. IX. Frucht und Wespe (30.6.1936)
17. Das Wort (3.5.1936, Dolf Sternberger)
18. Kuriose Heilswege (19.7.1936, Dolf Sternberger)
19. Der übertrumpfte Superlativ (1.8.1936, Hans Kallmann)
20. Vom Ablaut (10.9.1936, h.k.)
21. Ablativus absolutus (31.12.1936)
22. Lateinisches C = K? (1.5.1937, m.–l.)
23. „Frontabschnitt Wissenschaft" (8.5.1937, Dolf Sternberger)
24. Vom Gebrauch der deutschen Sprache (9.5.1937, Theodor Heuß)
25. Der Mensch hat das Wort (16.5.1937)
26. Verschriebene Schreiber (6.6.1937, Dolf Sternberger)
27. Der Eifer für die Sprache (13.6.1937, Gerhard Storz)
28. Tempel der Kunst. Adolf Hitler eröffnete das „Haus der Deutschen Kunst" (19.7.1937, Dolf Sternberger)
29. Ein guter Ausdruck (22.8.1937, Dolf Sternberger)
30. Im Dickicht der Sprache (19.9.1937, Gerhard Storz)
31. Verlorene Sprache (28.11.1937, Dolf Sternberger)
32. „Schlanke Linie" in der Sprache (28.1.1938, Fritz Kraus)
33. Für die Sprache (13.3.1938, Gerhard Storz)
34. Sprachform und Sprachsinn (2.9.1938, Hermann Herrigel)
35. Vox humana (9.10.1938, Dolf Sternberger)
36. Ton und Wort (9.10.1938, Wilhelm Furtwängler)
37. Philologie (9.10.1938, Karl Reinhardt)
38. Sangbarkeit der Sprachen (9.10.1938, Karl Voßler)
39. Ueber Gleichnisse (9.10.1938, Rudolf Alexander Schröder)
40. Die deutsche Sprache (9.10.1938, Albrecht Goes)
41. Volkssprache (14.10.1938, lg)
42. „ortografi"? (25.6.1939, Dolf Sternberger)
43. Ueber die Sprache (12.11.1939, Gerhard Storz)
44. Weiter nichts? Über die Verständigung in der Sprache (26.11.1939, Dolf Sternberger)
45. Noch einmal: Ueber die Sprache. Verständigung und Ausdruck (5.1.1940, F.M.R. Reifferscheidt)
46. Wer spricht? (5.1.1940, Dolf Sternberger)
47. Das Universalverbum (28.1.1940, Dolf Sternberger)
48. „Räume" (9.4.1940, Erik Graf Wickenburg)
49. Menschen als Material (21.4.1940, Dolf Sternberger)
50. Für und gegen den „Raum" (5.5.1940, Erik Graf Wickenburg/ds.)
51. Soldatengespräche im Bus (2.6.1940, Erik Graf Wickenburg)
52. Das Ausrufzeichen (31.8.1940, Ernst Benkard)
53. Das Elsaß im Kampfe um Sprache und Volkstum (1.9.1940, Franz Schnabel)
54. Das Gesetz des Schweigens (24.9.1940)
55. Das historische Präsens (29.9.1940, Gerhard Storz)
56. Das Wort als Lebenszeichen (17.11.1940, Gerhard Storz)
57. Sprachgeister (8.12.1940, Dolf Sternberger)
58. Haben und besitzen sind nicht synonym (9.1.1941, Mechtilde Lichnowsky)
59. Der „Angeber" (23.3.1941, Gerhard Storz)
60. Deutsch reden (19.6.1941)
61. „Menschlich" (22.6.1941, Dolf Sternberger)
62. Die neue „deutsche Normalschrift" (13.9.1941)
63. Hand-Schrift (14.9.1941)
64. Antiqua statt Fraktur (5.4.1942)
65. Gedankenbahnen in der Sprache (18.4.1942, Gerhard Storz)
66. „Unter Beweis stellen" (9.5.1942)
67. Soldatenausdrücke (2.6.1942, Erik Graf Wickenburg)
68. Die Darumwisser (5.7.1942, Dolf Sternberger)
69. Führung und Sorge (19.7.1942, Dolf Sternberger)
70. Volkhaft, volklich, völkisch. Ein Kapitel über Nachsilben (7.8.1942, Gerhard Storz)
71. Zwischenmenschlich (15.9.1942, Gerhard Storz)
72. Umbetreuungen? (26.9.1942)
73. Leistung (20.10.1942, Heddy Neumeister)
74. Der Laie und das Fachwort (25.10.1942, Gerhard Storz)
75. „Brot kosten Geld" (1.12.1942, Dolf Sternberger)
76. Moralische Tests (6.12.1942, Dolf Sternberger)
77. Ein neues Wort (10.12.1942, Gerhard Storz)
78. Über die Nachahmung (25.12.1942, Dolf Sternberger)
79. Unbegrenzte Fähigkeiten? (14.2.1943, Gerhard Storz)
80. Bekochen und beschirmen (25.8.1943, Walter Dirks)
Texte aus anderen Publikationen
81. Religion, Natur, Kultur: Soll und kann man solche Hochbegriffe verdeutschen? (Dr. Alexander Matschoß)
82. Fremdwort, Deutschheit und Schrifttumsgeschichte (V. Reytmeyer)
83. Gerhard Storz, Laienbrevier über den Umgang mit der Sprache (Dr. Heinz Sacher)
84. Neu! Flugschrift Nr. 1. Sprachpflege als Rassenpflicht von Prof. Ewald Geißler
85. Das unvermeidbare Schmarotzerwort (Dr. Karl Friedrich Baberadt)
Anhang
Editorische Notiz
Auflösung der Kürzel
Anmerkungen zu den Texten
Anmerkungen zu den Autoren
Bibliographie
Personenregister
Sprachkritisches Register
Über den Autor
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"Der Mensch hat das Wort": Der Sprachdiskurs in der Frankfurter Zeitung 1933–1943
 9783110315134, 9783110314861

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„Der Mensch hat das Wort“

„Der Mensch hat das Wort“ Der Sprachdiskurs in der Frankfurter Zeitung 1933 – 1943 Herausgegeben von William John Dodd

ISBN 978-3-11-031486-1 e-ISBN 978-3-11-031513-4 Library of Congress Cataloging-in-Publication Data A CIP catalog record for this book has been applied for at the Library of Congress. Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.dnb.de abrufbar. © 2013 Walter de Gruyter GmbH, Berlin/Boston Satz: Michael Peschke, Berlin Druck und Bindung: Hubert & Co. GmbH & Co. KG, Göttingen ♾ Gedruckt auf säurefreiem Papier Printed in Germany www.degruyter.com



Für Kate mit schönen Erinnerungen an die Domstraße.

Geleitwort von Günther Gillessen Als ich vor Jahren in der Frankfurter Zeitung (in der Ausgabe vom 3. Mai 1936) auf Dolf Sternbergers Auslegung des Sprichworts von den Kindern und Narren stieß, staunte ich über den strategisch zu nennenden Einfall, scheinbar harmlose Volksweisheiten unter den Augen der Nazis so auszulegen, dass sie von aufmerksamen Lesern als Verweise auf die Ungeheuerlichkeiten dieser Diktatur gelesen werden konnten, geradezu mussten. Sternberger interpretierte die Sprichwörter und Redensarten der Volkssprache mit einer rhetorischen Geschicklichkeit, die einen selbst noch im Nachhinein fürchten lässt, dass er mit dem nächsten Satz über den Rand der Klippe treten und in sein Verderben stürzen werde. Das Kunststück bestand darin, das Gemeinte nach der Seite des Regimes hin zu verwischen und zu verhüllen, und nach der anderen Seite den ihm zugewandten Lesern so anzubieten, dass sie darin die Aufforderung zur Übersetzung in Klartext erkennen und den Inhalt der Mitteilung verstehen konnten. Das geht nicht so einfach wie es klingt, denn der Tyrann sieht genau so scharf durch die Verhüllung wie die Tyrannisierten. Man hatte den Hieb also so zu führen, dass der Getroffene sich nicht rächen konnte ohne damit zugeben zu müssen, der Schurke zu sein, von dem da wie von einem Dritten die Rede ist. Damit ist man mitten im Thema dieses Buches, dem verblümten und dem unverblümten Sprechen in der nationalsozialistischen Diktatur. William Dodd hat mit seiner Edition sprachkritischer Beiträge aus der Frankfurter Zeitung eine reichhaltige Fundgrube geschaffen. Wer mit dem Gegenstand auch nur ein wenig vertraut ist, kann die Mühe einschätzen, die es erforderte, in zehn Jahrgängen zwischen 1933 und dem Verbot der Zeitung im Jahr 1943 systematisch nach sprachkritischen Beiträgen zu suchen, ihre Rhetorik zu analysieren, typologisch zu ordnen und darzustellen. Dodd profitierte dabei von Kenntnissen, die er bei den Recherchen für seine im Jahr 2007 erschienene Monographie über Dolf Sternbergers politische Sprachkritik (Jedes Wort wandelt die Welt) gewonnen hatte. An beiden Studien kann man beispielhaft den Mehrwert philologischer Analyse für die historische Forschung erkennen. Der deutsche Leser bemerkt zudem mit Freude, dass der britische Germanist Dodd diese komplexe und kontroverse Thematik nicht nur mit einer zu bewundernden Sprachsensibilität beherrscht, sondern auch mit einer für viele Deutsche immer noch schwer zu erreichenden Unbefangenheit und Unbelastetheit im Urteil präsentiert. Wie Dodd zu Recht in seiner erhellenden Einleitung berichtet, ist es in Deutschland nämlich noch immer umstritten, ob Beiträge wie diese als politische Sabotage an der Legitimität der NS-Herrschaft, somit als Akte publizistisch-politischen Wider-

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 Geleitwort

spruchs anzusehen seien oder eher als Mangel an Mut und Ausweichen vor der Aufgabe, dem Regime seine Schande ins Gesicht zu sagen. Dass es in der Frankfurter Zeitung sprachkritische Beiträge gegeben hatte, war bekannt, aber dass es so viele und so verschiedene waren, ist eine wichtige Entdeckung. Nicht nur der heute noch einigermaßen bekannte Sternberger tritt hier auf, sondern auch der zu Unrecht vernachlässigte Gerhard Storz, den einige vielleicht noch als Literaturhistoriker und Kultusminister Baden-Württembergs in den 1950er und 1960er Jahren kennen. Eine andere, große politische Gestalt – Theodor Heuss – ist auch hier zu finden. Die anderen Namen dürfen heute nur wenigen bekannt sein: Erik Graf Wickenburg, Heddy Neumeister, Fritz Kraus, Walter Dirks, um nur einige zu nennen. Fast zwanzig Autoren trugen zum sprachkritischen Programm der Frankfurter Zeitung bei. Man sieht – und das ist ein großes Verdienst dieses Buches – dass es sich nicht um vereinzelte Glossen handelt, sondern um eine konzertierte Aktion eines Kollektivs, um einen auf Distanz und Widerspruch abzielenden „Diskurs“ über – und natürlich durch – die Sprache. Dass der Aufsatz Rudolf Kirchers „Sprache und Stil“ vom September 1934 eine Art Schlüsselposition in dieser Textsammlung einnimmt, sagt viel aus über den Gegenstand „Sprache“ als politische Waffe. Kircher war in der Redaktion der Frankfurter Zeitung der Zyniker unter den Verächtern des Regimes und zugleich der jenige, der mit den hohen Ämtern des Regimes zu tun hatte und ihr Führungspersonal aus nächster Nähe zu beobachten hatte. Seit 1930 leitete er das Berliner Büro der FZ. Nur jemand wie er mit der Gewandtheit seines Auftritts, seiner artistisch anmutenden Verwegenheit und seinem Sinn für Eleganz verstand sich darauf, mit dem Entsetzen über die Nazis auch Spott zu treiben. Die Frankfurter Zeitung ist der heute vielleicht bekannteste, doch bei weitem nicht der einzige Fall einer Gegenstimme gegen das Regime. Man könnte auch, wenn nicht in demselben Maße, auf andere Zeitungen wie das Berliner Tageblatt und die Kölnische Zeitung verweisen, auch auf anspruchsvolle literarisch-politische Zeitschriften wie Rudolf Pechels Deutsche Rundschau, Peter Suhrkamps Die Neue Rundschau (später von Karl Korn herausgegeben) und Carl Muths Hochland. Auch stand der von Dodd so treffend identifizierte „Sprachdiskurs“ nicht als einziger resistenter Diskurs in der Frankfurter Zeitung. Der Kulturdiskurs wäre hier auch zu nennen, und insgesamt gab es Hunderte von literarischen Aufsätzen, Buchrezensionen, Feuilletons, Gedichten, politischen Nachrichten, Reportagen, Leitartikeln, selbst einzelne Erörterungen im Handelsteil der Frankfurter Zeitung, die nach den Mustern durchsichtiger Verhüllung geschrieben waren. Wie Dodd zurecht betont, war nicht alles in gleichem Maße widerständig, und selbst die energischsten, riskantesten Beispiele des Widerspruchs sind von der „Sprachlosigkeit“ der Zeit gezeichnet. Dass einige Beiträge sogar auf diese Sprachlosigkeit

Geleitwort 

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eines großen Teils der deutschen Bevölkerung öffentlich hinwiesen, wie es musterhaft Kirchers „Sprache und Stil“ tat, war ein Akt ihrer versuchten Umgehung. Für die Kunst des verdeckten, des „schrägen“ Schreibens über die Machthaber, die oratio obliqua der Alten, gab es Vorbilder, die nur wiederentdeckt werden mussten: Gleichnisse der Bibel, die Märchen der Völker, die äsopischen Fabeln, in denen Tiere die Torheiten und Bosheiten von Menschen darstellen, die Phantasie-Geschichten Jonathan Swifts über ferne Länder, Brief-Romane wie Diderots erfundene Korrespondenz zweier Perser über die seltsamen Zustände im absolutistischen Frankreich und jenen Typus historischer Literatur, bei dem der Leser denkt: „genau wie jetzt bei uns“. Sternbergers Artikel über „Figuren der Fabel“ (der auch in diesem Band stehen könnte) ist ein berühmtes Exemplar dieses Genres. In der Geschichte vom Wolf und dem Lamm sucht die Mordlust des Raubtiers nach Gründen, warum sie berechtigt sei, das Unschuldslamm zu fressen. An Weihnachten 1941 war es nicht schwer, darin die Wahrheit über die Verleumdung und Vernichtung der Juden zu erkennen. Ohne dafür wirklich Vorbilder in der Literaturgeschichte zu haben, entdeckte die Redaktion der Frankfurter Zeitung Verfahren, um mit bloßer Kritik an schlechtem Deutsch und an Veränderungen der politischen Sprache den zynischen Charakter des Regimes im Umgang mit Menschen ins Bewusstsein zu heben. Die Redakteure erkannten, dass Sprachkritik zur Systemkritik taugte und die Sorge um die Sprache dem Menschen selbst galt. Auf dem Gebiet der Sprachkritik entdeckten sie einen Kampfplatz, auf dem ihnen der Gegner nichts entgegenzusetzen hatte. Hier gab es die Möglichkeit, das Regime an seiner Redeweise erkennbar zu machen und ein Gegenbild von der Sprache als dem Menschlichsten des Menschen vorzustellen. Der Kontrast zur NS-Sprache war frappierend. Für „gutes Deutsch“ einzutreten, war unangreifbar, denn ein gutes Deutsch war so deutsch wie nur irgend etwas. Die „gute Sprache“ war ein Gebiet, das sich der „Sprachregelung“ aus dem Propagandaministerium entzog. Die Leser dieses Buches dürfen spannende Einsichten in Sprache und Politik erwarten. Am Ende werden sie, wenn sie, wie Dodd empfiehlt, sich die Hellhörigkeit der damaligen Leser anzueignen suchen, als wirklich „Mitlesende“ empfindsamer werden auch für die Art und Weise, wie in der Diktatur selbst die kleinsten Unterschiede in dem Umgang mit der Sprache eine ganz enorme Bedeutung gewinnen können.

Danksagung des Herausgebers Die Entstehung dieses Buchs wäre ohne die Unterstützung mehrerer Personen und Institutionen nicht möglich gewesen. Mehreren Kollegen sei hier für ihre kritische Lektüre des Manuskripts gedankt: Professor John Klapper, Professor Wolfgang Teubert und Professor Wilfried van der Will (Birmingham), Professor Günther Gillessen (Freiburg), Professor Erwin Rotermund und Dr. Heidrun EhrkeRotermund (Mainz), Professor Jürgen Schiewe (Greifswald). Ferner danke ich Professor Ulrich Bröckling (Freiburg), Neal Cobourne (Walthamstow), Professor Martyn Cornick (Birmingham), Hanna Bauer (Birmingham), Dr. Friedrich Pfäfflin (Marbach), Professor Peter Schlobinski (Hannover) und Dr. Sabine Werner (Mainz) für praktische Unterstützung, hilfreiche Informationen und Anregungen. Ich bin Frau Bianca Zahn für ihr genaues Korrekturlesen der Originale sehr zu Dank verpflichtet. Mein besonderer Dank gilt Jürgen Schiewe, der das Buchprojekt von Anfang an unterstützend begleitete, und Günther Gillessen, der freundlicherweise mir den Zugriff auf den im Deutschen Literaturarchiv deponierten Apparat zu seiner wegweisenden Studie Auf verlorenem Posten: Die Frankfurter Zeitung im Dritten Reich gestattet hat. Das Buch hat in besonderem Maße von den Gesprächen mit beiden enorm profitiert. Das Buchprojekt konnte vor allem dank der Verleihung eines Senior Fellowships des Alfried-Krupp-Wissenschaftkollegs in Greifswald (2010—2011) realisiert werden. Ich möchte hier der Alfried-Krupp-von-Bohlen-und-Halbach-Stiftung, insbesondere Professor Bärbel Friedrich, Dr. Christian Suhm und dem ganzen Personal des Krupp-Kollegs meinen herzlichen Dank für ein wunderbares und produktives Jahr in Greifswald ausdrücken. Der University of Birmingham sei hier für eine finanzielle Unterstützung des Buchprojekts sowie der British Academy für die Gewährung eines Small Research Grant und eines Conference Grant gedankt. Für Druckkostenzuschüsse bin ich der Dolf-Sternberger-Gesellschaft, der FAZIT-Stiftung der Frankfurter Allgemeinen Zeitung und Professor Dr. Dietrich Götze zu Dank verpflichtet. Für die Erlaubnis zum Abdruck von Texten sei gedankt: Cornelius Borchardt, Professor Ulrich Bröckling, Dr. Ludwig. T. Heuss, Irene Kircher, Rose C. Keßler, Professor Dr. Klaus Landfried, Frau Jutta Storz, dem Herder-Verlag, Freiburg i.Br. und dem Deutschen Literaturarchiv, Marbach am Neckar. Für die Erlaubnis, Texte aus Sternbergers Schriften nachzudrucken, möchte ich dem Insel-Verlag verbindlich danken. Der Herausgeber konnte nicht alle Rechteinhaber finden und bittet Personen, die Ansprüche haben, mit ihm in Kontakt zu treten. Der Inhalt dieses Bandes wurde zum Teil im Unterricht an den Universitäten Birmingham und Greifswald behandelt. Den Studierenden der Birminghamer Seminare „Oppositional Writing in the Nazi Period“ und „The German Language



Danksagung des Herausgebers 

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and National Identity“ sei hier gedankt, sowie den TeilnehmerInnen an meiner Vorlesung „Im Dickicht der Hellhörigkeit. Die Sprachkritik in der ,inneren Emigration‘“ im Wintersemester 2010/11 und an Professor Schiewes Seminar „Sprache, Sprachlosigkeit und Sprachkritik“ im Sommersemester 2012 an der Ernst-MoritzArndt-Universität. Schließlich wäre das Buch ohne den schnellen und professionellen Einsatz des Personals eines Rettungswagens auf dem Museumsplatz in Greifswald am 24. Juni 2011, eine chirurgische Intervention der kardiologischen Abteilung der Universitätsklinik, und die fördende Pflege in der Uniklinik und Rehabilitation in der Mediklinik in Trassenheide vielleicht nie erschienen. Allen Beiteiligten gilt neben meiner besonderen Hochachtung ein ganz persönlicher, herzlicher Dank. Für die professionelle Betreuung des Manuskriptes durch den De Gruyter Verlag bin ich Andreas Brandmair, Christina Lembrecht und Bettina Neuhoff zu Dank verpflichtet.

Inhalt Geleitwort von Günther Gillessen   VII Danksagung des Herausgebers   X Die Sprache als Diskursobjekt in der Frankfurter Zeitung 1933—1943   1

Textteil Texte aus der Frankfurter Zeitung 1. Beseitigung des Wortes „Arbeitsmarkt“ (24.2.1934)   57 2. Der Volksname „deutsch“. Sein geschichtlicher Ursprung und sein Sinn (18.9.1934, Ernst Michel)   57 3. Sprache und Stil (23.9.1934, Rudolf Kircher)   60 4. Das arme C. (9.1.1936, Dolf Sternberger)   64 5. Man nehme (11.2.1936, Dolf Sternberger)   65 6. Vademecum für den Gebrauch von Sprichwörtern (15.3.1936, Dolf Sternberger): Gebrauch von Sprichwörtern   66 7. I. Das heiße Essen (15.3.1936)   68 8. II. Krähen untereinander (22.3.1936)   69 9. III: Blick der Liebenden (5.4.1936)   71 10. IV. Zwischen A und B (28.4.1936)   72 11. V. Das Asyl der Wahrheit (3.5.1936)   74 12. Nötige Bemerkung (10.5.1936)   75 13. VI. „Ende gut, alles gut“ (10.5.1936)   77 14. VII. Der stolze Dumme und der dumme Stolze (26.5.1936)   78 15. VIII. Aller Tage Abend (7.6.1936)   80 16. IX. Frucht und Wespe (30.6.1936)   81 17. Das Wort (3.5.1936, Dolf Sternberger)   83 18. Kuriose Heilswege (19.7.1936, Dolf Sternberger)   84 19. Der übertrumpfte Superlativ (1.8.1936, Hans Kallmann)   85 20. Vom Ablaut (10.9.1936, h.k.)   86 21. Ablativus absolutus (31.12.1936)   87 22. Lateinisches C = K? (1.5.1937, m.—l.)   89 23. „Frontabschnitt Wissenschaft“ (8.5.1937, Dolf Sternberger)   91 24. Vom Gebrauch der deutschen Sprache (9.5.1937, Theodor Heuß)   92

XIV 

 Inhalt

25. Der Mensch hat das Wort (16.5.1937)   94 26. Verschriebene Schreiber (6.6.1937, Dolf Sternberger)   104 27. Der Eifer für die Sprache (13.6.1937, Gerhard Storz)   106 28. Tempel der Kunst. Adolf Hitler eröffnete das „Haus der Deutschen Kunst“ (19.7.1937, Dolf Sternberger)   110 29. Ein guter Ausdruck (22.8.1937, Dolf Sternberger)   111 30. Im Dickicht der Sprache (19.9.1937, Gerhard Storz)   116 31. Verlorene Sprache (28.11.1937, Dolf Sternberger)   117 32. „Schlanke Linie“ in der Sprache (28.1.1938, Fritz Kraus)   118 33. Für die Sprache (13.3.1938, Gerhard Storz)   119 34. Sprachform und Sprachsinn (2.9.1938, Hermann Herrigel)   121 35. Vox humana (9.10.1938, Dolf Sternberger)   124 36. Ton und Wort (9.10.1938, Wilhelm Furtwängler)   125 37. Philologie (9.10.1938, Karl Reinhardt)   128 38. Sangbarkeit der Sprachen (9.10.1938, Karl Voßler)   130 39. Ueber Gleichnisse (9.10.1938, Rudolf Alexander Schröder)   132 40. Die deutsche Sprache (9.10.1938, Albrecht Goes)   135 41. Volkssprache (14.10.1938, lg)   137 42. „ortografi“? (25.6.1939, Dolf Sternberger)   138 43. Ueber die Sprache (12.11.1939, Gerhard Storz)   139 44. Weiter nichts? Über die Verständigung in der Sprache (26.11.1939, Dolf Sternberger)   142 45. Noch einmal: Ueber die Sprache. Verständigung und Ausdruck (5.1.1940, F.M.R. Reifferscheidt)   146 46. Wer spricht? (5.1.1940, Dolf Sternberger)   150 47. Das Universalverbum (28.1.1940, Dolf Sternberger)   154 48. „Räume“ (9.4.1940, Erik Graf Wickenburg)   155 49. Menschen als Material (21.4.1940, Dolf Sternberger)   156 50. Für und gegen den „Raum“ (5.5.1940, Erik Graf Wickenburg/ds.)   157 51. Soldatengespräche im Bus (2.6.1940, Erik Graf Wickenburg)   161 52. Das Ausrufzeichen (31.8.1940, Ernst Benkard)   164 53. Das Elsaß im Kampfe um Sprache und Volkstum (1.9.1940, Franz Schnabel)   165 54. Das Gesetz des Schweigens (24.9.1940)   169 55. Das historische Präsens (29.9.1940, Gerhard Storz)   171 56. Das Wort als Lebenszeichen (17.11.1940, Gerhard Storz)   173 57. Sprachgeister (8.12.1940, Dolf Sternberger)   177 58. Haben und besitzen sind nicht synonym (9.1.1941, Mechtilde Lichnowsky)   180

Inhalt 

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59. Der „Angeber“ (23.3.1941, Gerhard Storz)   183 60. Deutsch reden (19.6.1941)   184 61. „Menschlich“ (22.6.1941, Dolf Sternberger)   186 62. Die neue „deutsche Normalschrift“ (13.9.1941)   187 63. Hand-Schrift (14.9.1941)   189 64. Antiqua statt Fraktur (5.4.1942)   190 65. Gedankenbahnen in der Sprache (18.4.1942, Gerhard Storz)   191 66. „Unter Beweis stellen“ (9.5.1942)   195 67. Soldatenausdrücke (2.6.1942, Erik Graf Wickenburg)   196 68. Die Darumwisser (5.7.1942, Dolf Sternberger)   198 69. Führung und Sorge (19.7.1942, Dolf Sternberger)   200 70. Volkhaft, volklich, völkisch. Ein Kapitel über Nachsilben (7.8.1942, Gerhard Storz)   202 71. Zwischenmenschlich (15.9.1942, Gerhard Storz)   205 72. Umbetreuungen? (26.9.1942)   206 73. Leistung (20.10.1942, Heddy Neumeister)   208 74. Der Laie und das Fachwort (25.10.1942, Gerhard Storz)   210 75. „Brot kosten Geld“ (1.12.1942, Dolf Sternberger)   212 76. Moralische Tests (6.12.1942, Dolf Sternberger)   214 77. Ein neues Wort (10.12.1942, Gerhard Storz)   216 78. Über die Nachahmung (25.12.1942, Dolf Sternberger)   217 79. Unbegrenzte Fähigkeiten? (14.2.1943, Gerhard Storz)   221 80. Bekochen und beschirmen (25.8.1943, Walter Dirks)   223

Texte aus anderen Publikationen 81. Religion, Natur, Kultur: Soll und kann man solche Hochbegriffe verdeutschen? (Dr. Alexander Matschoß)   227 82. Fremdwort, Deutschheit und Schrifttumsgeschichte (V. Reytmeyer)   230 83. Gerhard Storz, Laienbrevier über den Umgang mit der Sprache (Dr. Heinz Sacher)   233 84. Neu! Flugschrift Nr. 1. Sprachpflege als Rassenpflicht von Prof. Ewald Geißler  234 85. Das unvermeidbare Schmarotzerwort (Dr. Karl Friedrich Baberadt)   235

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 Inhalt

Anhang Editorische Notiz  239 Auflösung der Kürzel  239 Anmerkungen zu den Texten  240 Anmerkungen zu den Autoren  257 Bibliographie  264 Personenregister  271 Sprachkritisches Register  274 Über den Autor  277

Die Sprache als Diskursobjekt in der Frankfurter Zeitung 1933—1943 W. J. Dodd Zweimal Dickicht Die in dem vorliegenden Band wieder abgedruckten Texte wurden erstmals zwischen 1933 und 1943 in der Frankfurter Zeitung publiziert. Sie präsentieren eine Auswahl von Glossen, Aufsätzen, Leitartikeln und Rezensionen, die von der großen Bedeutung zeugen, die in dieser Zeitung in den Jahren der nationalsozialistischen Herrschaft dem Gegenstand Sprache beigemessen wurde. Die ausgewählten Texte handeln von diesem Gegenstand, und sie tun dies auf eine komplexe Weise, in versuchter Umgehung der Zensurstellen. Der vorliegende Band will zur erneuten Lektüre dieses historischen kritischen Diskurses anregen und zeigen, dass und warum sich gerade die Sprache als Gegenstand eines solchen Diskurses eignet. Diesen Diskurs über die Sprache für heutige Leserinnen und Leser wieder zugänglich zu machen, könnte man mit dem Versuch vergleichen, aus einem Dickicht in einem Dickicht herauszufinden. Das Dickicht der Sprache selbst stellt uns vor das Problem, über die Sprache angemessen zu urteilen. Das Dickicht der „inneren Emigration“ stellt uns vor das Problem, dass diese Sprachkritik weitgehend nur als codierter Kommentar zu den Tendenzen des zeitgenössischen Sprachgebrauchs auftreten konnte. Als solcher besaß sie aber das Potenzial, zum Diskurs über die beschlagnahmte Öffentlichkeit zu werden. Als erstes Dickicht begegnet uns die Sprache selbst, wenn wir über sie als Gegenstand reflektieren. Sich in diesem Dickicht zu orientieren, fällt nicht leicht, hat die Sprache doch viele strukturelle, individualpsychologische, gesellschaftliche und historische Dimensionen, die miteinander verwoben und bei jedem natürlichen Gebrauch von Sprache präsent sind und deren Wirkung dunkel bleibt. Im Dickicht der Sprache heißt das zu Unrecht vernachlässigte Buch des jüdischen Freud-Schülers Adolf J. Storfer, das noch 1937, als Nachfolger von Wörter und ihre Schicksale (1935), in Wien erscheinen konnte. Nach Joachim Danckwardt versinnbildlicht das Dickicht bei Storfers Betrachtung der Sprache „von unten“ die in der Wortentstehung und -geschichte wurzelnde Entwicklung der menschlichen Psyche.1 Storfer bietet also eine Art Mentalitätsgeschichte der Sprachgemeinschaft und Nation, und zwar eine, die ethnische und nationalstaatliche Abgrenzungen oft als unbedeutend darstellt und die Bedeutung der Wandernden für die 1 Danckwardt 2005, S. 12.

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 Die Sprache als Diskursobjekt in der Frankfurter Zeitung 1933—1943

Sprachgeschichte hervorhebt. Sein Gespür für die Entstehung falscher volksetymologischer Sinnzuschreibungen, die auf die Arbitrarität des Nexus zwischen Laut und Sinn zurückzuführen sind, dürfte dieser Sprachbeschreibung in einer Zeit des übergreifenden völkischen Kulturbegriffs eine weitere Brisanz verliehen haben. Hier geht es um „das wirkliche Dickicht, aus dem Worte aufwachsen […,] ein Schauspiel des drängenden und quirlenden Lebens“, wie es in Gerhard Storz’ Besprechung von Storfers Buch (FZ, 19.9.1937) heißt. Storfer, der Verfasser dieser oft den aktuellen, nazistisch gefärbten Gebrauch erhellenden Kommentare, hatte schon vor dem Ersten Weltkrieg für die Frankfurter Zeitung geschrieben, war mit Storz bekannt und hatte wohl einen Einfluss auf das von Storz, Sternberger und W.E. Süskind nach 1945 verfasste „Wörterbuch des Unmenschen“.2 Mit diesem Sprachdiskurs befinden wir uns aber auch, mit Reinhold Grimm zu sprechen, „im Dickicht der ‚inneren Emigration‘“,3 und der Versuch einer Würdigung führt deshalb mitten in die heute noch andauernde, zum Teil bitter ausgefochtene kritische Auseinandersetzung um die Verhaltensweisen und Erscheinungen, die dazu gezählt worden sind, und um den Begriff selbst. Beim Umgang mit diesem Thema sollte man, so Grimm, versuchen, sich von jeglichem Schubladendenken freizumachen und stets eine gleitende Skala im Auge zu behalten, die vom aktiven Widerstand bis zur passiven Verweigerung reicht. Jener gipfelt in der offenen Tat, während diese im gänzlichen Verstummen endet. Den Ausschlag gibt auch jedoch auch beim Verstummen, daß es sich um ein unmißverständliches, ja demonstratives handelte. Wer lediglich schwieg und sich abkehrte, leistete noch keinen Widerstand; und wer nicht faschistisch schrieb, schrieb damit noch keineswegs nichtfaschistisch oder gar antifaschistisch. Nur eine Gegenhaltung, die erkennbar war, verdient den Namen ‚innere Emigration‘.4

An welcher Stelle in Grimms gleitender Skala „nicht faschistisch – nichtfaschistisch – antifaschistisch“ sind die in diesem Band versammelten Texte anzusiedeln? Die Frage ist heute so kompliziert zu beantworten wie sie berechtigt ist. In einigen Texten ist eine erkennbare Gegenhaltung, die nach Grimm erst den Namen einer oppositionellen „inneren Emigration“ verdient, heute noch nachvollziehbar. Sie sind als „nichtnazistisch“ oder gar „antinazistisch“ einzustufen, während andere eher (bloß) „nicht nazistisch“ erscheinen. Überhaupt sind diese Texte von einer Hybridität geprägt, die nicht nur eine Mischung der von Grimm 2 Siehe hierzu Henneberg 2003, S. 62. Eine Anerkennung Storfers sieht Henneberg in Storz’ Glosse zu „Raum“ im Wörterbuch des Unmenschen, in dem Hinweis auf die Redensart, „dass Wörter ihre Schicksale haben“, woraus gefolgert wird: „Wörter sind es, die Schicksal allererst machen“ (Sternberger/ Storz/ Süskind 1986, S. 166). 3 Grimm 1976. 4 Grimm 1976, S. 411.



Resistenz und Sprachlosigkeit 

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vorgeschlagenen Kategorien darbietet, sondern auch konforme Äußerungen enthält, eindeutige rhetorische Konzessionen an das Regime, die bei dem skeptischen heutigen Leser eher den Verdacht der Kompromittierung oder sogar des Mitläufertums erwecken. Die verschiedenen Facetten und typischen Erscheinungsformen dieses Diskurses für eine heutige Leserschaft vorzustellen und seine Beschaffenheit – die Rahmenbedingungen seiner Existenz unter den „Spielregeln“ einer gelenkten Presse – herauszustellen, ist das Ziel des vorliegenden Bandes. Damit soll auch ein Beitrag geleistet werden zu einer angemessenen Würdigung eines sprachkritischen Programms, das von der verstärkten Hellhörigkeit sprachsensibilisierter Regimegegner beflügelt war und von dem Wunsch, die verordneten Diskurszwänge der Zeit zu umgehen. Dieser Anspruch hat zur Folge, dass nicht nur auf die Brisanz und Brillanz mancher Glosse hinzuweisen ist, sondern auch auf die Konzessionen an eben die Sprachlosigkeit, die es zu überwinden galt. Bei aller Anerkennung der Treffsicherheit mancher Urteile müssen aus heutiger Sicht auch die Irrwege aufgezeigt werden, in die diese Sprachkritik geführt hat. Denn die Hellhörigkeit der Betroffenen, die manchem Text zugrunde liegt, ist zwar ein wichtiges Zeugnis der Zeit, erweist sich aber nicht immer, und mit zunehmendem zeitlichen Abstand noch seltener, als ein allgemein verlässlicher sprachkritischer Kompass.

Resistenz und Sprachlosigkeit Die Geschichte des deutschen Widerstands ist das Kehrbild der Geschichte der Nazifizierung der deutschen Gesellschaft.5

Der geistige Widerstand, der in vielen der in diesem Band gesammelten Texte erkennbar ist, kann jeweils nach der von Grimm vorgeschlagenen Skala bewertet werden. Er nimmt eine Vielfalt von Formen an, ist ein öffentliches Sprechen, das sich gegenüber dem Nationalsozialismus distanzierend, ablehnend, widerstehend, widersprechend oder anderssagend verhält. Dieses Spektrum des geistigen Widerstands wird hier nach Broszats Begriff der Resistenz aufgefasst und diese Resistenz wiederum als Kehrbild der mit allen Mitteln der Staatsgewalt durchgeführten Nazifizierung der deutschen Gesellschaft gesehen. Die Resistenz dieses Sprachdiskurses besteht in dem Versuch, die allgemeine Sprachlosigkeit der machtlosen Gegner des Regimes zu überwinden. 5 Broszat 1986, S. 295.

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 Die Sprache als Diskursobjekt in der Frankfurter Zeitung 1933—1943

Mit der Beschaffenheit der im nationalsozialistischen Staat real bestehenden Diskursgemeinschaft setzt sich Gerhard Bauer in seiner Studie Sprache und Sprachlosigkeit im Dritten Reich auseinander. Trotz der propagandistischen Stilisierung einer perfekten „Gleichschaltung“, stellt Bauer fest, „kommen wir dem Sprachraum des ,Dritten Reiches‘ am nächsten, wenn wir uns ihn nicht nur von Spannungen und Gegensätzen durchzogen, sondern schlechterdings als einen Kampfplatz vorstellen, auf dem mit äußerst ungleichen, vielfach wechselnden Mitteln, aber unaufhörlich gekämpft wurde“.6 In diesem ungleichen Kampf der Diskurse seien die Worte auch Opponierender „meist weit davon entfernt, ihre eigenen Worte zu sein. Selbst die Worte, die sie als ihre eigenen empfanden – auch noch ihre grimmigsten Witze –, waren gezeichnet von der Situation, die sie nicht in der Hand hatten, der gegenüber sie nur ihre Ohnmacht verbal verarbeiteten“.7 Bauer erinnert schließlich an den Befund der modernen Soziolinguistik, wie er von Erving Goffman formuliert wurde: „Es geht hier also nicht um Menschen und ihre Situationen, sondern eher um Situationen und ihre Menschen.“8 Damit wird die pragmatische Dimension von Sprache als gesellschaftlichem Phänomen betont, das sich als konkrete sprachliche Handlung nach gesellschaftlichen Normen richtet. Wer zu wem was sagen kann, unter welchen Umständen, mit welchem Grad der Offenheit bzw. Höflichkeit – solche gesellschaftlich geregelten Fragen prägen die Situationsbedingtheit des Sprechens, die auf Unterschieden in der Machtstellung der Beteiligten basiert. Die Zwänge der Sprachlosigkeit im „Dritten Reich“ setzten neue Grenzen des öffentlich Sagbaren. Die durch Tabuisierung und Selbstzensur entstandenen Auslassungen und Verbiegungen im öffentlichen Diskurs aus der Perspektive der Leidenden, „von unten“, zu kommentieren, gehört demnach zu den wichtigsten Zielen, die sich eine opponierende publizistische Sprachkritik in jenen Jahren setzen konnte. Der von Bauer nachgezeichnete Zustand der Sprachlosigkeit, in dem Menschen von Situationen beherrscht wurden, könnte leicht zu einem Alibi für ein konformes Sprachverhalten werden. Jedoch – und das ist hier der entscheidende Punkt – besteht Bauer darauf: „trotz dieser Tendenzen zur Verselbständigung“ war das eigene Sprechen „gegenüber dem tatsächlichen Lebensprozess nie willkürlich aufgesetzt und wegzudenken. Wo immer Sprache gebraucht wurde, waren Menschen da, die sie brauchten, die in ihr oder in Auseinandersetzung mit ihr lebten“.9 Auch wenn die Situation ein bestimmtes Sprachverhalten forderte,

6 Bauer 1988, S. 10. 7 Bauer 1988, S. 13. 8 Goffman 1978, S. 9. 9 Bauer 1988, S. 13



Resistenz und Sprachlosigkeit 

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blieben den Menschen die Möglichkeit des Anderssprechens – und die Verantwortung des einzelnen für das eigene Gesagte. Das Terrain der nichtnazistischen Kulturproduktion in dieser Zeit adäquat zu vermessen, wird nicht zuletzt durch ein weiteres, begriffliches Dickicht erschwert, das um den Begriff „Widerstand“ entstanden ist. Auch wenn einige der hier vertretenen Autoren ihr damaliges Tun als „geistigen Widerstand“ beschrieben, scheint es der Sache angemessen, wenn man diesen Begriff für Taten des aktiven Widerstands reserviert, also für die verschiedenen Attentate auf führende Persönlichkeiten des Regimes, für versuchte oder gelungene Sabotage der Kriegsmaschinerie oder auch die Verteilung von Flugblättern von Mitgliedern der „Weißen Rose“. Die Gefahr, der man sich mit solchen Taten aussetzte, war qualitativ anders als diejenige, die ein Schriftleiter bei der Frankfurter Zeitung durch eine gewagte Sprachglosse einging. Von einer nichtkonformen, abweichenden, sogar ablehnenden oder oppositionellen Haltung jedoch kann man, wie die vorliegende Sammlung beweist, manchmal mit Recht sprechen. Auch sie war nicht ohne Gefahr, selbst wenn das Propagandaministerium mit Blick auf das Ausland einen gewissen Spielraum gelten ließ. Auch der Begriff „Opposition“ sollte mit Vorsicht verwendet werden, etwa für die Extreme dieses Spektrums, wo die geduldete Grenze des Sagbaren auf besonders markante Weise durchbrochen wird. Aufgrund dieser Erwägungen scheint Martin Broszats Begriff der Resistenz am ehesten das Wesen dieser Publizistik zu treffen, die in seinem Sinne unter „die vielfältigen Formen der inneren Emigration und Dissidenz im Bereich des Bildungswesens und der Kultur“ fällt.10 Unter Resistenz versteht Broszat allgemein eine Verhaltensweise des Bürgertums „am typischsten in der Konsolidierungs- und Erfolgsphase des NS-Regimes zwischen 1934/35 und 1940/41“.11 Als eine „Form passiver kollektiver Resistenz“ war diese Art Widerstand „primär auf Erhaltung des persönlichen Zusammenhalts, auf die Bewahrung der Gesinnung und Überzeugung“ abgestellt.12 Neben den Kirchen und untergetauchten Netzwerken politischer Parteien war auch eine Zeitung wie die Frankfurter Zeitung ein möglicher Ort einer solchen Resistenz, sowohl in der Redaktion als auch in der – allerdings zerstreuten und voneinander weitgehend isolierten – Leserschaft. Die von Broszat identifizierte Zeitspanne 1934/35 bis 1940/41 scheint auch ungefähr den Zeitpunkt des beginnenden Sprachdiskurses zu umfassen – also nach der ersten Konsolidierungsphase des Regimes, als Hoffnungen, es würde nach einigen Monaten in sich zusammenbrechen, sich als Wunschdenken entpuppen. Im Fall der Frankfurter Zeitung reicht die Resistenz bis zur Einstellung 10 Broszat 1986, S. 302. 11 Broszat 1986, S. 300. 12 Broszat 1986, S. 298.

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 Die Sprache als Diskursobjekt in der Frankfurter Zeitung 1933—1943

der Zeitung im Jahr 1943. Mehr noch: an den hier gesammelten Glossen und Aufsätzen kann man sogar die Tendenz beobachten, in den hoffnungsloser werdenden Phasen nach Kriegsbeginn, etwa ab 1940, mehr zu wagen. Zur Probe dieser These lese man etwa Sternbergers „Menschen als Material“ (FZ, 21.4.1940) oder Storz’ „Der ‚Angeber‘“ (FZ, 23.3.1941). Auch bei dieser Lektüre muss man sich jedoch die allgemeine Sprachlosigkeit vor Augen halten, die den Hintergrund für solche versuchten Ausbrüche aus der Sprachlosigkeit bildet, die – um wieder mit Broszat zu sprechen – „die typologische Entsprechung des erfolgreichen nationalsozialistischen Totalitarismus“ darstellen.13 Der Rekurs auf resistente, scheinbar ersatzpolitische Themen wie die Sprache lässt sich ermessen an der zunehmenden Abrückung vom Ton und Inhalt des Kommentars, den die Zeitung am Tag nach der Bildung eines „Kabinetts HitlerPapen“ noch zu bringen vermochte. Auf der Titelseite stand von Rudolf Kircher der Artikel „Unter welchen Bedingungen? – mit welchen Garantien?“, in dem der Satz fett gedruckt stand: Es wird nötig sein, die Rechte des werktätigen Volkes, die Grundelemente der Demokratie, den Sinn für Geistesfreiheit und Gerechtigkeit, die wirtschaftliche und soziale Vernunft und manches andere mit allen erdenklichen Mitteln gegen diese Regierung zu verteidigen und zur Geltung zu bringen.14

Mit der fortschreitenden Konsolidierung des Regimes auf der Grundlage der Gewalt konnte jedoch ein solches einer „freien Presse“ obliegendes Programm kaum noch realisiert werden. Der Anteil der Beiträge, in denen Distanz, Dissens oder Dissonanz – von direktem Widerspruch kann nicht mehr die Rede sein – in irgendeiner Weise geäußert werden konnte, wurde zurückgedrängt und zunehmend punktuell auf bestimmte Diskurse beschränkt, unter denen der Sprachdiskurs zu den wichtigsten gehören sollte. Damit einhergehend wurde die unmittelbar politische und später die kriegspolitische Berichterstattung zunehmend von den Sprachregelungen und Tagesparolen bestimmt, so dass diese wichtigen Sparten für Verlautbarungen des Regimes reserviert wurden und – nach dem Selbstverständnis der Redaktion – den Lesern als solche klar erkennbar sein sollten. Die Schlagzeile am 4. September 1939 zum Beispiel, nach der Kriegserklärung Englands, lautete: „England greift Deutschland an“.

13 Broszat 1986, S. 300. 14 FZ, 31.1.1933, S.1, Sp. 1–2.



„Aushängeschild“ Frankfurter Zeitung: Situation und Selbstverständnis  

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„Aushängeschild“ Frankfurter Zeitung: Situation und Selbstverständnis Dass die Frankfurter Zeitung nach der Machtübernahme weiter bestehen durfte, ist nicht zuletzt der Tatsache zu verdanken, dass sie von dem Reichsministerium für Volksaufklärung und Propaganda unter dem persönlichen Schutz von Joseph Goebbels als (zahmes) „Aushängeschild“ für das westliche Ausland am Leben erhalten wurde, dem dadurch ein Gegenbeweis zu der kursierenden „Greuelpropaganda“ über das nationalsozialistische Deutschland geliefert werden sollte. In der Geschichtsschreibung über die Frankfurter Zeitung bestehen prinzipielle Differenzen zwischen denjenigen Kommentatoren, die die Instrumentalisierung des Blatts im Dienst des Regimes betonen, und denjenigen, die das Selbstverständnis der Redaktion im Wesentlichen akzeptieren, die Zeitung habe als eine Art Fremdkörper im nationalsozialistischen Staat gewirkt. Dieses Selbstverständnis ist in mehreren Studien und Erinnerungen der damals Beteiligten dargestellt worden. Zu nennen sind hier vor allem die Erinnerungen von Benno Reifenberg, Fritz Sänger und den Beiträgern zu dem 1956 erschienenen Sonderheft der Zeitschrift Die Gegenwart zum hundertsten Jubiläum der Gründung der Zeitung durch Leopold Sonnemann.15 In diesen Beiträgen wird überwiegend ein gebührend bescheidenes, aber das oppositionelle Moment betonendes Bild ihrer publizistischen Tätigkeit tradiert. Diesen Quellen verpflichtet und der Leistung der Zeitung entsprechend positiv bewertend ist die bis heute umfassendste Geschichte der Frankfurter Zeitung in dieser Zeit, Günther Gillessens Studie Auf verlorenem Posten, die auch auf breiter Quellenbasis, darunter auf Archivalien der NSDAP, basiert.16 Eine prinzipiell positive Einschätzung wird auch von philologischen Einzelstudien zu der Zeitung bzw. zu einzelnen Autoren und Redakteuren vorgenommen.17 Dagegen ist eine Reihe von mediengeschichtlichen Studien nicht zu übersehen, die den Entschluss der Frankfurter Redaktion, 1933 nicht ins Ausland zu gehen, als eine Fehlentscheidung bewerten, die zur „Kapitulation“ führen musste und zur Manipulation der Zeitung als Teil der Regierungspolitik. Auch wo Anerkennung der intellektuellen Leistung und der ideologischen Kampfstellung einzelner Autoren und Beiträge vorhanden ist, überwiegt bei diesen Kommentatoren Skepsis, was die politische Leistung betrifft. So zollen zum Beispiel Norbert Frei und Johannes Schmitz den „kleine[n] Meisterwerke[n] der kritisch-eleganten Anspielung“ Sternbergers Respekt, finden aber gleichzeitig ein Zeichen „des 15 Reifenberg o.J., Sänger 1975, 1977, 1978, Brück et al. 1956a. 16 Gillessen 1986. Gillessen: Apparat. 17 Z.B. Hepp 1949, Werber 1965, Dodd 2007.

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Rückzugs in die Innerlichkeit“ und fragen schließlich: „Und hatte sie wirklich noch politische Bedeutung?“18 Noch gravierender fällt das Urteil anderer Kommentatoren aus, das „Aushängeschild“ habe auch im Inneren nicht regimekritisch, sondern systemstabilisierend gewirkt, die Journalisten seien eher „Diener des Staates“ gewesen.19 Ähnlich scheiden sich die Geister über die Möglichkeiten eines Gegensteuerns der Frankfurter Redaktion angesichts der nach wenigen Monaten konsolidierten Macht des Regimes und der Eigentumsverhältnisse nach 1929, als die IG Farben unter Carl Bosch sich zu fünfzig Prozent an den Aktien beteiligte, dann nach 1939, als die Zeitung von dem NSDAP-eigenen Franz Eher Verlag aufgekauft wurde. Bernd Sösemanns scharfe Kritik an Gillessen sei hier stellvertretend für eine Skepsis gegenüber einer „apologetischen“ Geschichtsschreibung zitiert, die „aufgrund von mangelnder Quellenkritik und wegen forcierter Rechtfertigungsbemühungen, thematisch-konzeptioneller Enge und wegen des fehlenden Nuancenreichtums eher zur Emotionalisierung der Debatte und zur Verzeichnung der Sachverhalte als zu ihrer Klärung beigetragen“ habe.20 Nach Sösemann habe sich die Zeitung schon 1932 zu einem im konservativen Lager weit verbreiteten „Zähmungskonzept“ bekannt, das die NSDAP einbinden sollte und eher auf die Bedrohung von links fokussierte, was durch die Nähe des Blatts zu Unternehmensinteressen und die finanzielle Beteiligung der IG-Farben seit 1929 zu fünfzig Prozent zu erklären sei. Auch die Fortsetzung eines opponierenden Kurses nach und trotz der zügigen Machtkonsolidierung, statt die Zeitung selbst einzustellen, hält Sösemann für eine schwerwiegende, durch Selbstüberschätzung verschuldete Fehlentscheidung. Einer solchen Kritik ist allerdings vorzuwerfen, dass sie „akkusatorisch“ vorgeht, mit einem Geschichtswissen im Nachhinein, das den damaligen Akteuren nicht gegönnt war. Ein Blick auf diese polarisierte Debatte lehrt, dass man nicht mit moralisierenden Ansätzen, weder durch übertriebene Heroisierung noch durch Dämonisierung der Agierenden einer angemessenen Würdigung der Situation näherkommt. Bei einer Wertung der historisch gegebenen Situation der Frankfurter Zeitung ist dennoch die Frage zu erwägen, ob oder inwieweit sie als Zeitung im Nationalsozialismus zwangsläufig zu einer Zeitung des Nationalsozialismus werden musste,21 ob Lenkung gleichzusetzen ist mit „Gleichschaltung“. Mit Blick auf die in der Zeitung praktizierte „verdeckte Schreibweise“ ist zum Beispiel oft die Rede vom Durchschmuggeln getarnter Ein- und Widersprüche gegen nationalsozialistische Werte gewesen. Zugleich aber muss man von dem Versuch des 18 Frei/ Schmitz 1989, S. 131. 19 Dem Titel von Studt (Hg.) 2007 entnommen. Siehe z.B. Sösemann 2007, S. 34. 20 Sösemann 2007, S. 11. 21 Zu dieser Unterscheidung siehe Stöber 2010, S. 275.



„Aushängeschild“ Frankfurter Zeitung: Situation und Selbstverständnis  

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Regimes reden, ein Trojanisches Pferd in das Lager des liberalen Bürgertums im In- und Ausland einzubringen. In Goebbels’ Tagebuch vom Mai 1942 liest man sogar von der Absicht, die Zeitung als Vehikel der Kriegslist für eine lancierte Missinformation zu instrumentalisieren.22 Auch wenn dies der einzig bekannte Fall ist, erhebt sich nachdrücklich die Frage, ob die gegönnten bzw. erkämpften resistenten Freiräume zu teuer erkauft wurden. In diesem „Spiel mit versteckten Karten“ besteht trotzdem kein Widerspruch in dem Urteil, dass die Zeitung sowohl ein instrumentalisiertes Blatt im von Goebbels orchestrierten Zeitungswesen als auch ein Ort der (wenn auch punktuellen) Resistenz war. Im Gegenteil: Resistenz und Instrumentalisierung sind hier komplementäre Phänomene. Man kann zudem behaupten, dass Resistenz, als versuchte Umgehung von Sprachlosigkeit verstanden, ein Aufbäumen gegen diese Instrumentalisierung darstellt. Man vergleiche zu dieser These die steigende Frequenz und Brisanz der in dem vorliegenden Band gesammelten Artikel aus den Jahren 1940 bis 1943.

Zur Situation Schon am 24. Januar 1933 hatte die Redaktionskonferenz der Frankfurter Zeitung Überlegungen des Eigentümers Heinrich Simon erörtert, im Falle eines Verbots durch eine nationalsozialistische Regierung, mit dem nach den Aussagen Hitlers schon in Mein Kampf zu rechnen war, die Zeitung in die Schweiz zu verlegen. Die Möglichkeit einer Emigration wurde laut Fritz Sänger jedoch ausgeschlagen und der Beschluss gefasst, „im Lande zu bleiben und den Versuch zu wagen, im gleichen Geiste wie bisher zu wirken, solange dies möglich sein würde“.23 Nach dem 30. Januar wurde dann die Gleichschaltung der Presse schnell vorgenommen, allerdings mit kleinen Konzessionen gegenüber einigen bürgerlich-liberalen Zeitungen, darunter der Kölnischen Volkszeitung24, dem Berliner Tageblatt25 und der Frankfurter Zeitung, die vor allem im Ausland hohes Prestige genossen und für das Ansehen des Regimes im Ausland nützlich sein konnten.26 Dass diese bürgerlichen Titel vom Regime nicht sofort eingestellt wurden, ist mit Goebbels’ gegen eine Opposition in der Partei durchgesetzem Konzept zu erklären, dass die Presse im neuen Staat „monoform im Willen und polyform in der Ausgestaltung

22 Vgl. Sösemann 2007, S. 27; Goebbels 1995, Bd. 4, S. 291, 319. 23 Sänger 1975, S. 12. 24 Siehe z.B. Toepser-Ziegert 2007. 25 Siehe z.B. Silex 1968, Boveri 1965. 26 Frei/ Schmitz 1989, S. 48f.

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des Willens“ sein sollte.27 Die Versuche des Regimes, diese gewissermaßen privilegierten Titel zu lenken, geben den Hintergrund ab, vor dem sich die tägliche Existenz der Zeitung und ihrer Redakteure abspielte.28 Noch im Jahre 1933, in der ersten Konsolidierungsphase des Regimes, wurden durch die „Reichstags-Notverordnung“ „zum Schutz von Volk und Staat“, das Ermächtigungsgesetz, das Verbot von sozialdemokratischen und kommunistischen Zeitungen, die Gründung des Ministeriums für Volksaufklärung und Propaganda sowie der Reichspressekammer als Bestandteil der Reichskulturkammer, schließlich durch das Schriftleitergesetz vom 4. Oktober mit dazugehörigen Berufsgerichten die Möglichkeiten einer freien Meinungsbildung so drastisch beschnitten, dass man von einer weitestgehend entpluralisierten, wenn nicht fast monopolisierten Öffentlichkeit sprechen kann. Die von Goebbels im Reichspropagandaministerium eingeführten Pressekonferenzen luden einzelne zugelassene Vertreter bestimmter Zeitungen, darunter der Frankfurter Zeitung, zu vertraulichen, unter Drohung von Repressalien bis hin zum Todesurteil protokollarisch zu vernichtenden Unterweisungen zu Auswahl, Hierarchisierung, Inhalt, Aufmachung und sprachlicher Umsetzung von Tagesthemen. Die steigenden Zahlen der Goebbelsschen Presseanweisungen (1933: 300; 1934: 1.000; 1938: 3.750; 1939: 4.620)29 zeugen von dem Ausmaß dieses Lenkungsversuchs. Dass sie überhaupt für die Nachwelt erhalten blieben, ist einem Akt der Zuwiderhandlung zu verdanken, der einem Widerstand gleichkommt: der Berliner Vertreter der Frankfurter Zeitung, Fritz Sänger, hat die zu vernichtenden Unterlagen aufbewahrt.30 Als „Befehlsausgabe“ kennzeichnet Sänger die Pressekonferenz.31 Ab dem 1. November 1940 wurden in den Pressekonferenzen zusätzliche, vom Reichspressechef Otto Dietrich diktierte „Tagesparolen“ ausgegeben, die verbindlichen Charakter hatten und wörtlich weiterzugeben waren.32 Bis Kriegsausbruch 1939 zählt man zirka 15.000 Anweisungen, bis Kriegsende weitere 65—85.000, die von diesen Ämtern an Zeitungsredaktionen ergingen.33

27 Zitiert aus Goebbels’ Rede zur Verkündung des Schriftleitergesetzes am 4.10.1933. Vgl. Deutsche Presse 23 (1933), S. 278. 28 Zum Thema Presselenkung vgl. Hagemann 1970, Frei 1984, Toepser-Ziegert 2007, Sösemann 2007. 29 Toepser-Ziegert 2007, S. 87. Zum Ausmaß und Erfolg der Lenkung siehe auch Glunk 1966— 1971, Hagemann 1970. 30 Für den Zeitraum 1933–1939 liegen 19 Bände vor. Bohrmann/ Toepser-Ziegert 1984—2001. 31 Sänger 1978, S. 53 („Nur Mittel zum Zweck”). 32 Siehe hierzu „Tagesparolen”, Sänger 1978, S. 74—77. 33 Toepser-Ziegert 1984, S. 24.



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Insgesamt wurde die Kontrolle der Presse im nationalsozialistischen Deutschland auf drei Ebenen durchgeführt.34 Auf der personell-institutionellen Ebene wurden u.a. durch Propagandaministerium, Schriftleitergesetz, Reichsverband der Deutschen Presse, Reichspressekammer und Deutsches NachrichtenBüro eine Reihe von Instanzen und Gesetzen geschaffen, die die Einstellung und Arbeitsbedingungen von Journalisten im Sinne des Regimes regelten. Auf ökonomischer Ebene wurden Titel entäußert bzw. durch Zwang und „Arisierung“ vom parteieigenen Franz-Eher-Verlag unter der Leitung von Max Amann aufgekauft. Auch die Frankfurter Zeitung, seit dem Krisenjahr 1929 im Besitz der Imprimatur GmbH, hinter der eine Beteiligung der IG Farben auf immer noch ungeklärter Grundlage steckte, wurde 1939 an den Eher-Verlag verkauft – eine Tatsache, die die Frage nach der Unabhängigkeit der Zeitung erst recht aufwerfen muss. Schließlich wurde auf inhaltlicher Ebene durch die geheimzuhaltenden Presseanweisungen und später durch die von Otto Dietrich wörtlich fixierten Tagesparolen Auswahl, Inhalt und sprachliche Behandlung von Themen gesteuert. Selbstzensur war der Baustein und die Folge dieses Lenkungsapparats, da die Schriftleiter die Verantwortung für den Inhalt ihrer Zeitung trugen. Allerdings blieben wegen der konkurrierenden Kompetenzansprüche in diesem System, wie etwa zwischen örtlichen Gestapostellen und dem Propagandaministerium oder zwischen Max Amann, Otto Dietrich und Joseph Goebbels als Verwaltern des Pressewesens, graue Zonen des freien oder zweideutigen Spielraums, die die Frankfurter Redaktion auszunutzen trachtete. Im Falle der Frankfurter Zeitung ist ferner anzumerken, dass sie einen vom Propagandaministerium gegönnten gewissen Sonderstatus genoss. So konnte es geschehen, dass 1934, gegen die Verordnung 5.3 des Schriftleitergesetzes von 1933, ein Redakteur mit einer jüdischen Frau (Sternberger) eingestellt werden konnte und dass drei „versippte“ Redaktionsmitglieder (Sternberger, Wilhelm Hausenstein, Otto Suhr) bis Mai 1943 bleiben konnten. Auch die Vernichtung einer „Akte Sternberger“ im Jahre 1941 durch Hans Fritzsche im Propagandaministerium, nach einer Intervention des Berliner Büros der Zeitung,35 legt einen Sonderstatus der Zeitung aus der Sicht des Regimes nahe. Nach der Machtübergabe erlebte die Frankfurter Zeitung als einzige „bürgerliche“ Zeitung – zu einer Zeit, in der auch die meisten parteinahen Zeitungen einen Rückgang erlitten – einen leichten Aufschwung der Auflagenhöhe. Allerdings liegen die Schätzungen hier weit auseinander. Für das Jahr 1934 wird nach Toepser-Ziegert eine Auflagenhöhe von 102.731 attestiert, was der durchschnittlichen Auflagenhöhe der 1920er Jahre in etwa entsprach, dann in den Jahren vor 34 Toepser-Ziegert 2007, S. 79f. 35 Gillessen 1986, S. 353f.

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Kriegsbeginn im Schnitt bei 77.000, im Jahr der Einstellung 1943 bei 30.000.36 Nach Gillessen lag sie jedoch 1934 bei 61.000, Ende 1936 bei 78.000, erreichte in den Kriegsjahren 90.000 und 1943 sogar 200.000.37 Es ist also schwer, sich ein genaues Bild von der Reichweite der Zeitung zu machen, wobei man auch die Zahl der Endleser durch Weiterreichen und Weitersagen mit einkalkulieren müsste. Sicherlich waren wiederum nicht alle Leser gewillt und in der Lage, einen zunehmend codierten Kulturdiskurs zu verfolgen. Wenn man von den niedrigeren Auflagenhöhen ausgeht und die quantitative Wirkung entsprechend bescheiden veranschlagt, ist diese immerhin nicht auf Null zu setzen. Rein quantitative Maßstäbe geben aber die Leistung der Zeitung nur grob wieder, denn dass es überhaupt noch Orte gab, wo man resistente Botschaften lesen konnte, hatte damals sicherlich eine heute schwer einzuschätzende Signalfunktion. Über das damalige Verhalten der Leser ist allerdings wenig bekannt. Eine dankende Zuschrift an die Redaktion war ja mit einem gewissen Risiko für den Absender verbunden, wie auch das Abonnieren der Frankfurter Zeitung als Zeichen der abweichenden Gesinnung gedeutet werden konnte. Ein Abonnentenregister hat sich nicht erhalten. Diese bedauerliche Wissenslücke wurde durch die Zerstörung des Frankfurter Zeitungsarchivs kurz vor Kriegsende verursacht, nicht durch einen Bombenangriff, sondern durch einen Akt der Sabotage: der von den Nazis eingesetzte Verlagsleiter sorgte im März 1945 für die Verbrennung des gesamten Zeitungsarchivs auf dem Hof. So bestimmten die Nazis nicht nur das Weiterbestehen der Zeitung nach 1933, ihre finanzielle Eingliederung 1939 in den parteieigenen Eher-Konzern und ihre Einstellung im August 1943, sondern auch ihr Verstummen als künftige Quelle für Historiker38 – eine Reihe von Tatsachen, die die real bestehenden Machtverhältnisse verdeutlicht. Auch der Anlass zur Einstellung der Frankfurter Zeitung durch das Regime im August 1943 wird unterschiedlich erklärt. Unmittelbarer Anlass soll Herbert Küsels kaum verschlüsselt verunglimpfender Aufsatz über Dietrich Eckart gewesen sein, auf den Hitler wütend reagiert haben soll. Dieses „Verbot“ des Blatts durch Führerbefehl wird von einigen Kommentatoren als heroisierender Mythos betrachtet. Sie weisen auf die Tatsache hin, dass die Frankfurter Zeitung mit einer Reihe anderer Titel nach gewohnter Praxis und erst drei Monate später „aus kriegswirtschaftlichen Gründen“ eingestellt wurde, was nahelegt, dass sie 1943 dem Regime „entbehrlich“ geworden war.39 Dass sie durch die im Jahr 1940

36 Toepser-Ziegert 1984, S. 97f. 37 Gillessen 1986, S. 175f. 38 Siehe Sänger 1975, S. 15; 1978, S. 51. 39 Stöber 2010, S. 275f.



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von Goebbels gegründete Wochenzeitschrift Das Reich auf dem Markt überflüssig geworden war, ist eine weitere, allerdings umstrittene, These.40

Zum Selbstverständnis Vom ersten Tag der nationalsozialistischen Herrschaft an verpflichteten sich die Redakteure einem Sprachgestus, der die Distanz der Zeitung zum herrschenden und verordneten Sprachgebrauch auf subtile, aber erkennbare Weise zeigen und Vorbildcharakter haben sollte. In diesem Sinne sollte schon der neutralen oder gemäßigten Sprache der Redaktion eine wichtige Signalfunktion zukommen in den Beiträgen, die nicht direkt von den bald gleichgeschalteten Nachrichtendiensten (zum Deutschen Nachrichten-Büro zwangsvereinigt, als „darf nichts bringen“ apostrophiert) oder sonstigen Ämtern des Regimes übernommen werden mussten. Damit wollte man die eigene, „humane“ Sprache für die Leser von der inhumanen Sprache der Verlautbarungen absetzen. Die verordnete Sprache sollte z.B. durch Wiedergabe in indirekter Rede oder durch bloßes Zitieren ohne Kommentar markiert werden, wie in dem ungezeichneten Artikel „Der Wortlaut” (FZ, 16.9.1935), der bloß die Texte der Nürnberger Gesetze wiedergibt, oder am 6. September 1940 „Der Wortlaut der Rede des Führers”. Im Gegensatz dazu sollte ein nicht nazistischer, „reiner“ Text durch Fehlen bestimmter auf dem Haus­codex stehender Ausdrücke und durch Aufmachung und Platzierung kenntlich gemacht werden, wobei bestimmte Seiten und Spalten für „Oasen“ reserviert waren (wie die dritte Seite, wo die meisten sprach- und kulturkritischen Beiträge auch erschienen). Laut Reifenberg glaubten die Mitarbeiter, „ihre Integrität wahren zu können und hofften, mit einer immer raffinierter werdenden Methode des Zeitungsmachens der Öffentlichkeit etwas anderes als die übrige Presse zu bieten”.41 Als „sauber“ und „redlich“ charakterisiert Max von Brück rückblickend den ange­­strebten Hausstil, dessen Sprache die Integrität behielt, „wo sie Distanz spüren ließ, und zwar, sofern ein Widerspruch gegen den Inhalt nicht mehr möglich war, jedenfalls und immer Distanz durch Stil, Syntax, Wort, Sprachklima“.42 Hausensteins Erinnerungen machen deutlich, dass man zwischen dem „Jargon der Zeit” und einer „aus ursprünglicher Unverdorbenheit der Sprache” herrührenden Sprachverwendung glaubte unterscheiden zu können. Diese zum Hauscodex erweiterte Sprachsensibilität führte dazu, dass – in Hausensteins Worten – zum Beispiel Telegraph und Telephon mit “ph”, nicht mit “f”, 40 Sösemann (2007, S. 32) vertritt diese Ansicht. Siehe dagegen Toepser-Ziegert 1984, S. 101. 41 Reifenberg o.J., S. 14. 42 Brück 1956b, S. 28.

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geschrieben wurden, dass „das preziöse, überdies missbräuchliche benötigen” durch nötig haben ersetzt wurde, und dass „das flaue wissen um” und „gestanzte Modewörter wie einmalig, unerhört, erlesen, die unerträglich geworden waren”, vermieden wurden.43 Der Zusammenhang in dem Selbstverständnis der Redaktion zwischen einer solchen sprachkonservativen Haltung und einer indirekten politischen Opposition lässt sich auch erkennen in den Angriffen auf die erfolglos bleibenden Bemühungen Bernhard Rusts44 um eine modernisierte „ortografi“ (FZ, 25.6.1939, vgl. auch FZ, 1.5.1937). Einige dieser proskribierten Vokabeln wurden zur Zielscheibe einer kritischen Sprachglosse, wie in Sternbergers „Die Darumwisser” (FZ, 5.7.1942). Gegen den schrillen Verlautbarungston (der aus unerhört und einmalig herausklingt) wenden sich weitere Beiträge, wie z.B. Ernst Benkards „Das Ausrufzeichen” (FZ, 31.8.1940). Die kumulative Bedeutung dieser Proskribierungen im Selbstverständnis der Redaktion gibt Fred Hepp treffend wieder: „Die Sprache hat in diesem Kampf eine wichtigere als nur äußerlich-ästhetische Bedeutung. Aus der bewahrenden Grundhaltung heraus unterscheidet sie sich essentiell von der Sprache des Totalitarismus. Sie ist Wesensaussage, das Signum des Geistes gegenüber dem Ungeist.“45 Bei den meisten dieser proskribierten Ausdrücke leuchtet heute ein enger Zusammenhang mit einem nazistischen Sprach­ gebrauch oder mit einem moralisch verwerflichen nicht ohne weiteres ein. Auch als ausdrücklicher Kommentar zum aktuellen Sprachgebrauch scheint ein Großteil dieses Sprachdiskurses – mit hervorragenden Ausnahmen – weniger die Sprachverwendung des Regimes als solche zu hinterfragen, als eher vor deren unbedachter oder prahlender Aufnahme in die Alltagssprache von Nichtnazis zu warnen. Eine Glosse wie „Die Darumwisser“ tangierte damals eher einen in der Bevölkerung beobachteten schwammigen, unverbindlichen Sprachgebrauch, der für die Hellhörigen Züge eines billigen Mitmachens trug. In dieser Tendenz kann man ein weiteres Ausweichen der Kritiker ausmachen, mit dem eine Verbiegung des sprachkritischen Diskurses unter den Bedingungen der allgemeinen Sprachlosigkeit einhergeht. Mit der Zeit beschäftigt die Kritiker immer mehr das Nebenfeld der Expansionsgefahr. Man machte wohl die Beobachtung, dass außerhalb der Redak­tions­räume, auf der Straße, weniger streng unterschieden wurde, und daraus entstand eine gesteigerte Sensibilisierung für die Kontami­nie­rung des alltäglichen Sprachgebrauchs und eine Besorgnis um seine Resis­tenz gegen den mit Macht und, zumindest bis zum Wendepunkt des Kriegs, mit Prestige assoziierten herrschenden Diskurs. Auch wenn man sich heute den damaligen Stellenwert 43 Zitiert nach Gillessen 1986, S. 364. 44 Vgl. Birken-Bertsch/ Markner 2000, S. 45—55. 45 Hepp 1949, S. 183.



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des hauseigenen „sauberen“ Hausstils vorzustellen vermag, kann man Gerhard Bauer ohne weiteres zustimmen, dass dieses sprachliche Auftreten „nicht schon als solches die Alternative zum Einstimmen und Mitlaufen“ geboten habe. Die politische Wirkung der Frankfurter Zeitung darf also nicht überschätzt werden. Sie konnte aber, wie Bauer bemerkt, eine gewisse Signalfunktion erfüllen.46 Der Beschluss, 1933 weiterzumachen, basierte auch auf einer bestimmten Auffassung von Patriotismus und auf der Überzeugung, im Inland eine effektivere Gegenstimme sein zu können als im Exil. Der Beschluss deutet auf den Glauben der Redaktion hin, das über Jahrzehnte angesammelte kulturelle und politische Kapital der Zeitung gegen die jetzt geballte und mit voller Staatsgewalt ausgerüstete Diskurshegemonie des amtierenden Nationalsozialismus einsetzen oder zumindest diesen Versuch unternehmen zu können.47 In diesem Sinne ist das Wort Fritz Sängers zu deuten, der rückblickend feststellte, die Frankfurter Zeitung sei nach der Machtübergabe vom 30. Januar 1933 „durch ihre Geschichte und durch die Haltung von Redaktion und Verlag auf einen historisch gewordenen einsamen Platz verwiesen“ worden.48 Über welche Art geistiges Kapital die Zeitung zu verfügen glaubte, hat Sänger wie folgt zusammengefasst: Die Prinzipien und die Methoden des totalitären Nationalismus stießen bei der Begegnung mit dieser Zeitung auf eine Tradition, die in der gesellschafts- und staatskritischen Wirklichkeit und aus den sozialpolitischen Strömungen im 19. Jahrhundert entstanden waren. Diese Tradition hatte ihren Nährboden in der süddeutsch-westeuropäisch orientierten Liberalität und wurde gefördert von der Weltoffenheit der damals Freien Stadt Frankfurt.49

Liest man zum Beispiel die politischen Kommentare Rudolf Kirchers in den ersten Monaten nach der Machtübergabe, dann glaubte die Zeitung bei Bewahrung dieser Tradition zunächst auf Augenhöhe mit der Regierung reden zu können, etwa so, wie sie sich in den 1860er Jahren gegen Bismarcks Politik ausgesprochen hatte (was 1866, nach dem Einmarsch preußischer Truppen in Frankfurt, zu der Verlegung des Betriebs nach Stuttgart führte). Die Naivität dieser Hoffnung musste der Redaktion jedoch nach der schnellen, gewaltsamen Konsolidierung der Macht ernüchternd klar geworden sein. Der Rückzug von jeder expliziten politischen Auseinandersetzung mit dem Regime führte allmählich zu einer „Politik der kleinen Stiche“, die auf weniger oder scheinbar nicht politische Gebiete ausweichen musste. Die kurze Notiz über die „Beseitigung“ des Worts Arbeitsmarkt (FZ, 24.2.1934) und Ernst Michels vielschichtige begriffsgeschichtliche Abhandlung zu 46 Bauer 1988, S. 16. 47 Der Begriff „kulturelles Kapital“ ist Pierre Bourdieu verpflichtet. Vgl. Bourdieu 1982. 48 Sänger 1975, S. 11. 49 Sänger 1977, S. 275.

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dem Wort deutsch (FZ, 18.9.1934) – die eine Warnung zu enthalten scheint vor den künftigen Gefahren seiner völkischen Auslegung – sind kleine Beispiele dafür. Es ist aber bezeichnend, dass der früheste in engerem Sinne sprachkritische Aufsatz in der vorliegenden Sammlung („Sprache und Stil“, FZ, 23.9.1934) gerade von Kircher stammt, der in den Wochen davor zu den politischen Morden und zum so genannten „Röhm-Putsch“ auffällig vorsichtige Kommentare verfasst hatte und jetzt, wie es scheint, das Feld der Tagespolitik räumte und nach neuen Standorten suchte. Vom Kurs der direkten politischen Auseinandersetzung abgekommen, setzte die Zeitung noch intensiver auf eine Identität als Hochburg der Resistenz und auf die Kulturlandschaft als ersatzpolitischen Topos. Dieser Kurs war auch im nationalsozialistischen Lager kein Geheimnis und man muss sich vor Augen führen, dass der Gegner nicht so borniert war, nicht auch „zwischen den Zeilen“ lesen zu können. Nicht nur in Berlin, im Propagandaministerium, sondern auch an den örtlichen Zensurstellen, wie Gillessen zur Genüge nachweist,50 verstand man zumindest manchmal das oppositionelle Taktieren der Zeitung. Aber gerade dieses kulturelle Kapital wollte das Regime für sich instrumentalisieren, wie das von Goebbels geprägte Bild vom „Orchester“ des deutschen Pressewesens nahelegt, das der Gefahr der zu eindeutig dirigierten Einförmigkeit Rechnung trug. Dieses Konzept des Regimes erklärt die Antwort des Staatssekretärs Funk 1936 auf eine Beschwerde des Hauptschriftleiters des Frankfurter Volksblattes: Von maßgeblichen Stellen wird die Frankfurter Zeitung in der jetzigen Form für notwendig und nützlich erachtet. Durch diese Zeitung ist es immerhin möglich, nationalsozialistische Ideen an Kreise des Auslandes heranzutragen, an die wir sonst nicht herankommen und die bestimmt keine nationalsozialistischen Zeitungen lesen werden. Im übrigen ist auch aus der Ansprache des Führers an die Hauptschriftleiter der nationalsozialistischen Presse zu entnehmen, daß er nicht wünscht, daß aus der gesamten deutschen Presse in Zukunft restlos Parteizeitungen werden sollen. Ich ersuche Sie daher, unverzüglich die Presseangriffe gegen die Frankfurter Zeitung einzustellen, damit die Zeitung die Aufgabe, die ihr gestellt ist, erfüllen kann [...]51

Ähnlich erging es Wolf Heinrichsdorff, dem Verfasser einer 1937 als Doktorarbeit vorgelegten Entlarvung der „ideologisch dürftigen, politisch durchsichtigen Tarnung“ in der Frankfurter Zeitung.52 Der Verfasser identifiziert als Methoden der gegnerischen „liberalen Zielsetzung“ u.a. „die ‚Vergeistigung‘ der Probleme und damit das scheinbare Weichen aus der Gefahrenzone politischer

50 Siehe z.B. Gillessen 1986, S. 178. 51 Zitiert nach Sänger 1977, S. 280. 52 Heinrichsdorff 1937, S. 7. Für den Verweis auf diese Quelle bin ich Erwin Rotermund zu Dank verpflichtet.



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Entscheidungen“.53 Tatsächlich gelingt es dem Autor, „die propagandistischen Möglichkeiten von der direkten aktiven Obstruktion bis zur sublimiertesten Opposition“ aufzuzeigen, für die eine als „kluge Taktik“ erkannte „Entpolitisierung“ von Bereichen zähle, die auf einer „Konkretisierung der ideellen Trennung von Geist und Politik“ beruhe. Zur Methode der „Zersetzung“ gehöre das gegen den Rassengedanken gerichtete Schlagwort Menschheit – dies eine Beobachtung, die für den in der Zeitung sich gerade entwickelnden Sprachdiskurs höchst relevant war.54 Auch die durch „Umschreibungen“ angestrebte Metaphernsprache, deren Sinn „nicht direkt faßbar und darstellbar“, sondern „zwischen den Zeilen gesagt“ und daher „in einem Zitat kaum darstellbar“ ist, vermochte der Autor überzeugend zu beschreiben.55 Bezeichnenderweise wurde diese entlarvende Analyse im Propagandaministerium verärgert zur Kenntnis genommen: dort hieß es in einem Gutachten von 1937, sie „verkennt aber die elementarsten politischen Voraussetzungen und tut so, als ob niemand aufgepaßt habe, ob jemand Obstruktion und Opposition in der Presse treibe“. Daher die Presseanweisung, „in der Presse in keiner Weise auf sie einzugehen“.56 Aus solchen Zeugnissen geht das Verhältnis zwischen Regime (vor allem dem Propagandaministerium) und Redaktion deutlich hervor. Mit Blick auf die Ungleichheit der beiden Kontrahenten schwebt einem das Bild eines Teufelspakts vor. Auf der einen Seite nahm das Regime viele Beispiele von Resistenz und Zuwiderhandlung gegen Presseanweisungen bzw. deren freier Auslegung duldend zur Kenntnis, weil es glaubte, im Gegenzug wichtige außen- und später kriegspolitische Ziele erreichen zu können. Auf der anderen Seite versuchten die Journalisten, den ihnen eng geschnittenen Spielraum und die Grenzen des Sagbaren zu erweitern. Es wäre auch sicherlich verfehlt, diesen Autoren zu unterstellen, sie hätten die realen Bedingungen ihres Wirkens nicht erkannt. Sehr wohl wussten sie, was es bedeutete, für dieses „Aushängeschild“ zu arbeiten. Ein merkwürdiges Beispiel für solches Aufgeklärtsein findet man in Sternbergers Kommentar zum aktuellen Gebrauch des Sprichworts „Kinder und Narren sagen die Wahrheit“, der in der Serie „Vademecum für den Gebrauch von Sprichwörtern“ am 3. Mai 1936, einem Sonntag, erschien: Kinderland und Narrenland sind zwei Enklaven auf der Landkarte dieser Gesellschaft, wohin man Sonntag nachmittags bei schönem Wetter von Zeit zu Zeit einen vergnüglichen 53 Heinrichsdorff 1937, S. 9. 54 Heinrichsdorff 1937, S. 51. Gegen Menschheit als „jüdische Idee“ und Humanität als „fremdes Motiv“ hatte sich auch Rosenberg in Der Mythus des 20. Jahrhun­derts ge­äußert. Vgl. Bartholmes 1965, S. 61. 55 Heinrichsdorff 1937, S. 17f. 56 Zitiert nach Hagemann 1970, S. 313. Zur Frankfurter Zeitung siehe dort, S. 298–305.

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Spaziergang unternimmt. Gut ausgeruht und bei munterer Laune sieht man dann zu, wie die Bewohner dieser seltsamen Gegenden, welche gleichsam unter Naturschutz stehen, umherspringen und die Wahrheit sagen.

Als eingezäuntes Gelände und Kuriosum erscheint hier die Sonntagsausgabe, in der der Aufsatz steht, in dem über aktuellen Sprachgebrauch gemutmaßt wird, als „Asyl der Wahrheit“ (Sternbergers Titel). Die hoch reflektierte, ironische Selbststilisierung gibt auf knappstem Raum das Selbstverständnis eines „inneren Emigranten“ wieder, das alles andere als weltfremd ist. Wie Sternberger in dem vorherigen Satz feststellt: „Wird die Wahrheit Kindern und Narren überlassen, so mag es zwar um die Wahrheit recht gut, so muß es um die Erwachsenen und Verständigen aber hoffnungslos bestellt sein“. Trotzdem wurde versucht, über dieses Revier hinaus auf die allgemein verordnete Sprachlosigkeit hinzuweisen und gegen sie anzukämpfen, wozu die Sprache selbst die Mittel und einen passenden Gegenstand bereitstellte. Dass man – dieser ironischen Schilderung nach – sonntags das Naturschutzgebiet aufzusuchen pflegte, dürfte auch als eine nüchterne Einschätzung der Rolle der schönen Beilagen und Feuilletons aufgefasst werden. Inwieweit Sternbergers Denkbild das damalige bewusste Selbstverständnis der Redaktion widerspiegelt, ist nicht bekannt, der Gedanke, dass er es tat, liegt aber nahe, rekurrierte doch Theodor Heuss 1956 auf eben dieses Bild: Die Zeitung sei durch „manche Mitarbeiter Hitlers [...] ‚in einen Schutzpark verbannt‘“ worden, „in den politische Touristen geführt werden konnten, wenn es den Nazis zweckmäßig erschien“.57 Es ist auch sicherlich kein Zufall, dass von den achtzig Texten, die das Korpus dieses Bandes ausmachen, ein auffällig großer Teil – rund fünfzig Beiträge – in der Sonntagsausgabe der Zeitung erschienen ist. Dieser Befund dürfte einerseits eine abfällige Maxime bekräftigen, nach der die lange Tradition der publizistischen Sprachkritik als „Sonntagsbeschäftigung für Laien“, also als unterhaltsames, besserwissendes, aber nicht ernst zu nehmendes Unterfangen abgetan wird.58 Sicherlich trifft diese Kritik auch auf manche im vorliegenden Band enthaltene Sprachglosse zu – was die Frage aufwirft, inwieweit diese publizistische Gattung, in der verschiedentlich vom „Verfall“ der „Sprache“ und von „Sprachsünden“ die Rede ist, den Autoren bewusst als Camouflage gedient hat.

57 Heuss’ Wort wird hier von Fritz Sänger wiedergegeben (Sänger 1977, S. 279). 58 Heringer (Hg.) 1982, S. 163.



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War das Sklavensprache? Schreiben und Lesen „zwischen den Zeilen“ Das Schreiben und Lesen „zwischen den Zeilen“ setzt eine esoterische Kommunikationsgemeinschaft voraus, die mittels subtiler rhetorischer Techniken ihre Botschaften en- und dekodieren kann, ohne dass diese Botschaften einer exoterischen Leserschaft von Außenstehenden auffallen. Zur Hermeneutik der verschlüsselten Kommunikation in der Nazizeit haben vor allem Heidrun EhrkeRotermund und Erwin Rotermund in ihrer Einführung zu dem Sammelband Zwischenreiche und Gegenwelten59 einen wichtigen Beitrag geleistet, der hier nur kurz skizziert werden soll. Im folgenden Teil dieser Einleitung wird vielfach auf diese hermeneutischen Techniken rekurriert, die in der Entfaltung eines resistenten Diskurses über die Sprache eingesetzt wurden. Um die „eigentliche“ Bedeutung eines oppositionellen60 „Klartextes“ zu camouflieren, stehen Autoren verschiedene Möglichkeiten zur Umgestaltung dieses Klartextes zur Verfügung, wie, in Anlehnung an die klassische Quintilianische Rhetorik, die Hinzufügung (adiecto) eines affirmativen Elements, die Tilgung (detractio) eines oppositionellen, die Umstellung (transmutatio) von oppositionellen Aussagen, zum Beispiel durch ihre Verstreuung im Text, und der Ersatz (immutatio) von z.B einem negativ bewerteten Gegenstand durch einen anderen, wie in Rudolf Pechels Besprechung des sowjetischen Gulagsystems.61 Besonders die immutatio, die Möglichkeiten der metaphorischen und metonymischen Sinnerweiterung eröffnet, ist als Technik beliebt, lässt sich doch selbst die Ausweichung auf die Sprache als Ersatzgegenstand nach diesem Schema einordnen. Damit soll der kritische Klartext dem exoterischen Leser möglichst verschleiert bleiben, dem esoterischen Leser aber durchschimmern. Um den exoterischen Leser, gegen den ausgesagt wird, von der Existenz bzw. dem Ausmaß des verschleierten Klartexts abzulenken, bedient sich der Autor nicht nur tarnender, sondern auch absichernder Strategien, indem er konforme Aussagen und Textstrukturen einbaut. Damit entsteht ein hybrider Text, der entweder konform oder resistent gelesen werden kann. Dabei ist das Verhältnis zwischen konformen und nichtkonformen Aussagen sehr wichtig, wenn auch vertrackt. Im Allgemeinen muss der Autor, je gewagter der im Klartext enthaltene Widerspruch, desto mehr Absicherung einbauen, oder die Tarnung wird dementsprechend dichter, was die Gefahr mit sich bringt, dass sogar der 59 Ehrke-Rotermund/ Rotermund 1999, S. 16—24. Im Folgenden wird das dort vorgeführte Modell sinngemäß wiedergegeben. 60 Im Falle eines affirmativen Klartexts, der verschleiert werden soll, gelten diese Schachzüge mit umgekehrtem Vorzeichen. 61 Siehe hierzu Ehrke-Rotermund/ Rotermund 1999, S 25—39.

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intendierte Leser die oppositionelle Aussage nicht findet oder nicht eindeutig nachvollziehen kann. An diesem Punkt ist es wichtig, den Grad der Idealisierung zu betonen. Dass jede Modellierung des Kommunikationsvorgangs „zwischen den Zeilen“ ein idealisiertes Bild malt, beweisen die vielen Belege, über die Gillessen und auch Ehrke-Rotermund/Rotermund berichten, dass nationalsozialistische Leser sehr wohl „mitgelesen“ haben. Im Fall der Frankfurter Zeitung gab es nachweislich in den örtlichen Gestapostellen und im Propagandaministerium kompetente Leser, auch wenn anzunehmen ist, dass selbst diese raffinierten Gegner nicht alles registriert haben, was an resistenten Botschaften „durchgeschmuggelt“ wurde. Aber auf der anderen Seite ist auch von den nach Resistenzzeichen suchenden Lesern der Zeitung das Gleiche zu vermuten. Die Interpretationen, die unten geboten werden, sollen also als der Versuch verstanden werden, den von dem Text implizierten Leser wieder herzustellen, den es in der Praxis vielfach nur begrenzt gab. Es ist aber auch anzunehmen, dass diesem Versuch vieles entgeht, was ein esoterischer Leser damals an Sinn hat konstruieren können. Es besteht in gewisser Weise also die Wahrscheinlichkeit sowohl einer Über- wie einer Unterinterpretation des resistenten Potenzials. Neben dem Begriff „Kommunizieren zwischen den Zeilen“ gibt es für solch kodierte Sprache verschiedene Bezeichnungen, wie „Aesopische Sprache“, „verdeckte Schreibweise“ oder „Sklavensprache.“ Negativ konnotiert scheint besonders die letzte, was sicherlich Sternbergers verärgerte Ausführungen aus dem Jahr 1961 erklären. In „War das Sklavensprache?“62 griff Sternberger den Herausgeber einer Sammlung von Aufsätzen aus Die Neue Rundschau an, der Beiträge aus der Nazizeit nicht aufgenommen hatte, weil diese nur Beispiele einer Sklavensprache seien. Gegen diese Auslassung und ihre Begründung wendet er ein, der nachgeborene Leser soll doch, „wenn es denn wirklich soviel Mühe kostet, den verdeckten Stil der Diktaturepoche zu lesen“, sich dieser Mühe unterziehen oder bei denen anfragen, „die diese Erfahrungen gemacht haben, die ihre Intelligenz und ihren Stil geschärft haben unter Bedingungen, da es den Kopf kosten konnte, auf die Wahrheit hinzudeuten“. Es ist für Sternberger unzulässig, hier abwertend von Sklavensprache zu reden und nicht zu wissen, wie es ist wenn man täglich auf neue Wege, auch Schliche, sinnen musste, eben dieses freie Wort als Konterbande durchzuschmuggeln und doch verstanden zu werden. Wie das ist, das Herz zum Bersten voll von Wut, Verzweiflung, Hohn, Angst und vielleicht einem Schuss Übermut – und es zu wagen, den Widerspruch vernehmlich durch die Zähne zu pfeifen, damit es doch gesagt sei, und weil es doch gesagt sein musste.

62 Sternberger 1961.



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Man könnte mit gutem Grunde Sternberger antworten, dass dies im strengen Sinne doch eine Art Sklavensprache war, glich doch das innere Exil der Regimegegner einer Gefangenschaft im eigenen Lande. Demnach könnte man die Situation der Frankfurter Zeitung mit derjenigen einer Zeitung vergleichen, die die Insassen eines Gefängnisses unter Aufsicht der Behörden vertreiben dürfen, mit dem Zweck, als Beweis der humanen Lebensbedingungen in der Anstalt gegenüber Außenstehenden, und als Ventil für die Insassen, zugleich als Sicherheitsventil für die Behörden zu dienen, wobei allerdings die Normen der Behörden als die geltenden behauptet werden sollen. Unter diesen Grundbedingungen wird den Insassen erlaubt, einander zu trösten und sich gelegentlich gegen die Direktion verbal aufzubäumen. Dabei ist aber anzumerken, dass dieses Bild die Manipulation und Sprachlosigkeit der Situation unterstreicht, die „den Menschen hatte“, auf Kosten der individuellen Verantwortung für das eigene Gesagte („der Mensch hat das Wort“) und für die Versuche, die Grenzen des Sagbaren immer wieder nach Möglichkeiten eines freien oder freieren Sprechens abzuklopfen. Aus diesem Grund kann man wohl Sternbergers Abneigung gegen den Terminus nachvollziehen. Thomas Manns (später revidierter) Behauptung, dass alles, was in der Nazizeit veröffentlicht wurde, übergangen oder gar vernichtet werden soll, weil es nach Sklavensprache oder gar „nach Blut“ rieche, widersprach schon 1945 Wilhelm Hausenstein, der eine Liste von Namen nannte, von denen viele in dem vorliegenden Band vorkommen.63 Unter den Kommentatoren zur Situation der Frankfurter Zeitung leistet Rudolf Stöber einen wichtigen Beitrag zu dieser Frage, indem er in einem Kommentar des von Sösemann wiederholt attackierten Kircher64 zu den politischen Morden vom 30. Juni 1934 Zeichen einer Distanzierung vom Regime festzustellen glaubt, jedoch nur, wenn der Leser den NS-Stil erkannte, den FZ-Artikel als Imitat der offiziellen Sprache identifizierte, als Kontrast zur ansonsten in der FZ gepflegten Diktion interpretierte und die Diskrepanz als bewusste Distanzierung wahrnahm. Der Leser musste also nicht nur die doppelte Transferleistung erbringen, mit dem Sprachstil der FZ die Meinung der Journalisten und mit der imitierten Sprache die Meinung des Regimes zu identifizieren, sondern auch voraussetzen, dass die „nationalsozialistisch“ ausgezeichnete Meinung der des Journalisten diametral entgegenstand.65

Besser ist der Ansatz nicht zu formulieren, der den Interpretationsversuchen im nächsten Abschnitt dieser Einleitung zugrunde gelegt wird. Die entsprechende 63 Vgl. Gillessen 1986, S. 532f. 64 Siehe z.B. Sösemann 2007, S. 25f, S. 36. 65 Stöber 2010, S. 291.

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Distanz hört der sensibilisierte Stöber aus einzelnen Wörtern und Fügungen heraus: die bei „Herrn Hitler“ in dieser Aktion konstatierte „eiserne Disziplin“ und „beispiellose Strenge“ legen für den implizierten Leser eher die Verachtung von Gesetzen und damit den in der Öffentlichkeit tabuisierten Begriff Mord/ Mörder nahe. Insofern ist Kirchers Text „Sprache und Stil“, der unten eingehend erörtert wird, als Fallstudie für diese Debatte anzusehen.

Der Mensch hat das Wort: Facetten eines resistenten Diskurses Die in dem vorliegenden Band gesammelten Texte weisen unter sich eine große Verschiedenheit auf, auch in dem Grad der Resistenz. Es lassen sich aber einige wesentliche Merkmale feststellen, die zur allgemeinen Charakteristik dieses Sprachdiskurses gehören: –– der punktuelle Ansatz als not­wen­diges Korrelat einer „Politik der Nadelstiche“; –– ein um den „Zustand der Spra­che“ kreisender Diskurs des Verfalls; –– die Klage gegen Unbekannt; –– der Glaube an Sprache als Mittel der Selbstentlarvung; –– eine Metaphernsprache, die Sprache als Sinnbild für Freiheit und Demokratie erscheinen lässt, sowie –– eine metonymische Anwendung, die man als Scharnierfunktion bezeichnen kann. In vielen Beiträgen merkt man hinter der Tendenz zur Verall­gemeinerung einen engen Bezug zum zeitgenössischen Sprachgebrauch und eine listige Bericht­ erstattung, die die Sprache als Scharnier zu durch Spra­che bezeichneten, eigentlich indiskutablen Sachverhalten benutzt und auf diese Weise eine durchaus brisante Regimekritik möglich macht. Vor allem in der Wortkritik, in Kommentaren zu einzelnen Vokabeln, findet man Hinweise auf das, was mit dem neuen Wortgebrauch bezeichnet wird oder verschleiert werden soll, nach dem Motto: „Ein Wort ist niemals bloß ein Wort, es ist stets der genaue Name einer Realität“ (Sternberger, FZ, 21.4.1940). Nichtsdestoweniger ist in allen Beiträgen, auch in denen, in denen Gewagtes ausgesagt wird, die allgemeine Sprachlosigkeit erkennbar, die es zu umgehen galt.



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Die Sprache als „resistenter“ Gegenstand Als „resistenter“ Topos eignet sich der Gegenstand „Sprache“ noch mehr als die Kultur im Allgemeinen, an der sie auch einen wesentlichen Anteil hat, weil sie im wahrsten Sinne des Wortes jedermanns Sache ist. Jeder Deutschsprechende ist Mitglied einer Kommunikationsgemeinschaft, ist als Produzent und als Rezipient an sprachlichen Mitteilungen beteiligt. Die Kompetenz, über die man als Sprachteilnehmer verfügt, bezieht sich ferner nicht nur auf das Produzieren und Rezipieren von sprachlichen Ausdrücken, auf aktives und passives Teilnehmen am täglichen Austausch der sprachlichen Kommunikation, sondern auch, wie die moderne Sprachwissenschaft betont,66 auf die Fähigkeit, über die Sprache zu reflektieren und sich über sie als Gegenstand zu äußern – sei es mit Bezug auf den Sprachgebrauch oder auf ein kognitiv aufgefasstes Sprachsystem. Diese Kompetenzen, vor allem wohl die der Sprachreflexion, bestehen allerdings als Potenzial, das betätigt und entwickelt werden kann, in Wirklichkeit aber unterschiedlich entwickelt worden ist. So gesehen, entsteht eine Spannung zwischen der Sprache als „Gemeineigentum“ einerseits (mit Mauthner zu sprechen: „Alles gehört allen, alle baden darin, alle saufen es, und alle geben es von sich“67) und andererseits als unterschiedlich verteilter Diskursmasse in der real bestehenden Gesellschaft. Gegen letztere lässt sich immer ein resistenter Sprachdiskurs entfalten, die auf das „demokratische“ Wesen von Sprache verweist und auf die Fähigkeit auch eines passiven Rezipienten, über das Rezipierte kritisch nachzudenken. Aus dieser Denkfigur von Sprache als Allgemeingut lässt sich eine übergeordnete Metapher gewinnen von der Sprache als Sinnbild von Freiheit und Demokratie. Man nehme als Beispiel die Versinnbildlichung des ABC in Sternbergers „Zwischen A und B“ (FZ, 28.4.1936) nicht als vorgegebener Zwangsordnung, sondern als Freiheitsquelle durch individuelles Kombinieren. Im Gegensatz dazu vergleiche man den „Ablativus absolutus“ (FZ, 31.12.1936) als Metapher der Diktatur.68 Parallel zu diesem metaphorischen Diskurs ergibt sich aber auch zwanglos ein Potenzial einer resistent metonymischen Denkfigur aus dem Verhältnis zwischen Sprache und Welt. Über Sprache zu sprechen bedeutet oft, über eine außersprachliche Wirklichkeit, die durch diese Sprache so erfasst wurde, mitzusprechen. Einem getarnt resistenten Sprachdiskurs bietet sich damit die Möglichkeit an, hintergründig über einen außersprachlichen Tatbestand zu reden, indem 66 Vgl. Wimmer 1982, Schiewe 2010, S. 60. 67 Mauthner 1923, S 27. 68 Der Begriff Sprache bietet sich hier auch als Oberbegriff für verschiedene semiotische Codes. Gegen den Versuch einer Wiederbelebung einer völkischen Zwecken dienenden „Sprache” der Tracht wendet sich z.B. die Glosse „Verlorene Sprache” (FZ, 28.11.1937).

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es ihr vordergründig um die sprachliche Formulierung an sich geht. Diese resistente Nutzung der Scharnierfunktion, vor allem in der unten zu besprechenden Einzelwortkritik, läuft in genau entgegengesetzter Richtung zu der Linie, die vom Propagandaministerium durch Tagesparolen und Sprachregelungen verordnet wurde, ist also als der Versuch erkennbar, eine vom Regime angestrebte „gleichgeschaltete“ Semantik zu unterwandern, wie auch Walter Dirks bemerkte: „In der Tat, wer es versteht, die Sprache zu regeln, regelt viel mehr, die Ideologien, und im Totalfall das Gefühlsleben und das Weltbild. Wir wollten dem widerstehen“.69 Mit gutem Grund widmet Gillessen, spätere Aussagen von einigen Redakteuren aufgreifend, der Sprache ein Kapitel in seiner Geschichte der Zeitung in diesen Jahren.70 Wie Gillessen es knapp formuliert: „Sprachkritik war Systemkritik“.71 Auch wenn heutigen Lesern einiges an diesem sprachkritischen Programm als verbleibende Kritik an dem Nationalsozialismus nicht sofort einleuchtet, wie zum Beispiel der implizit für automatisch gehaltene Konnex zwischen „Sprachverluderung“ und Nazismus, gibt Gillessen doch das Selbstverständnis der Autoren wieder, wenn er bemerkt, dass die vielen sprachpflegenden Abhandlungen „dazu helfen soll[t]en, die viel beklagte Sprachverluderung an entscheidend wichtigen Punkten anzugreifen“.

Der Mensch hat (doch) das Wort Der Mensch hat Sprache, aber die Sprache hat auch den Menschen. Macht und Ohnmacht liegen nahe beieinander. Und alles kommt darauf an, daß der Mensch lernt, diese Geister klug und gelinde zu regieren, damit sie ihm dienen. (Dolf Sternberger, „Sprachgeister“, FZ, 8.12.1940.)

„Der Mensch hat das Wort“ – dieser Titel steht am Sonntag, dem 16. Mai 1937 – in der Pfingstausgabe also – über einer Kompilation von Textausschnitten, die die ganze fünfte Seite der Zeitung füllt. Im Kontext gelesen, hört man wohl ein widersprechendes „doch“ mitschwingen: Dem plakativen Titel haftet etwas Grundsätzliches, Programmatisches an, wie der Titel eines Manifests. In der Tat deutet er auf ein Unterfangen, das seit etwa einem Jahr programmatischen Charakter angenommen hatte – die Ankündigung von Sternbergers Serie „Vademecum für den Gebrauch von Sprichwörtern“ im März 1936 (im vorliegenden Band erstmals 69 Dirks, „Eine liberale Zeitung im System der Diktatur“, Südwestfunk 20.7.1980, zitiert nach Gillessen 1986, S. 367. 70 Gillessen, S. 360—369. 71 Gillessen 1986, S. 367.



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vollständig wiedergegeben) dürfte ungefähr den Beginn markieren. Der Sinn dieser Parole dürfte dem heutigen Leser zunächst schwer einleuchten, wer aber regelmäßig Frankfurter Zeitung las, hat ihn wohl verstanden – liefert doch das oben zitierte Wort Sternbergers, in seiner Rezension von W. E. Süskinds Buch Vom ABC zum sprachlichen Kunstwerk, eine Art erläuternde Fußnote. Es ist ein Programm der sprachlichen Resistenz angesichts der umzingelnden Sprachlosigkeit im deutschen Alltag. Schon in Sternbergers Glosse „Das Wort“ (FZ, 3.5.1936), also zeitlich in der Mitte der „Vademecum“-Serie, begegnet die These, dass die „Gabe“ der Sprache dazu da ist, die Situation, in der „der Schreck oder das Staunen“ einen „sprachlos“ macht, zu überwinden, „alles Erlebnis in genaue Worte zu setzen“, weil erst dann gilt: „Der Mensch spricht“. Diese Glosse ist eine von mehreren (wie z.B. Kirchers „Sprache und Stil“ (FZ, 23.9.1934) und der Leitartikel „Das Gesetz des Schweigens“ (FZ, 24.9.1940), die die real bestehende Sprachlosigkeit thematisieren. Für die Seite am 16.5.1937 zeichnet kein Redakteur verantwortlich, was auf eine geschlossene Haltung der Redaktion insgesamt schließen lässt. Stattdessen steht unter jedem Ausschnitt der Name und die Lebensdaten eines berühmten Autors – Hamann, Vico, Herder, Wilhelm von Humboldt, Kierkegaard, Novalis, Schopenhauer, und, als Vertreter der zeitgenössischen Generation, Ernst Jünger. Außer durch die Wahl und Ordnung der Beiträge bekommt die Kompilation durch die hinzugefügten Zwischentitel („Vom Ursprung des Wortes“, „Dichtung der Giganten“), vor allem aber durch den programmatischen Titel und den einleitenden Text, ihre besondere Gestalt. Am Letzteren lässt sich trotz Anonymität – wie in vielen der ungezeichneten Beiträge – die Hand Sternbergers vermuten, für den die durch seinen Lehrer Karl Jaspers vermittelte aristotelische Sentenz, der Mensch sei ein zoon logon echon, ein Wesen, das Sprache besitzt, schon zum Grundsatz seines Umgangs mit dem Gegenstand Sprache geworden war.72 Allerdings wird hier Aristoteles nur zur Hälfte zitiert, denn es fehlt die Ergänzung der Sentenz, dass der Mensch gleichzeitig auch ein zoon politikon, ein politisches, d.h. ein in Gesellschaft lebendes Wesen sei. Die beiden Hälften dieser Sentenz ergänzen einander und setzen einander voraus: die menschliche Gesellschaft ist ohne menschliche Sprache unvorstellbar, so wie die menschliche Sprache ohne die menschliche Gesellschaft nicht denkbar ist. Die Auslassung des zoon politikon an dieser Stelle ergibt für den esoterischen Leser eine Leerstelle, die für diesen Diskurs nicht untypisch ist und die dem exoterischen Leser vorenthalten werden soll, und damit auch die erweiterte politische Pointe.

72 Jaspers 1947, S. 413; Sternberger, Schriften, Bd. 9 (1988), S. 200f. Zu Sternbergers Autorschaft von ungezeichneten Beiträgen siehe die einschlägige Notiz in den Anmerkungen zu den Autoren.

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Bei näherer Betrachtung scheinen einige dieser Texte selbst Kompositionen von Passagen aus dem Werk des genannten Autors zu sein.73 So stammt zwar alles in dem „Schriftstellerei und Stil“ betitelten Text Schopenhauers aus seinem Essay „Über Schriftstellerei und Stil“. Jeder der fünf Absätze ist jedoch aus dem ursprünglichen Kontext gerissen, so dass gewissermaßen neue Zusammenhänge entstehen. Der Text enthält den für diesen Sprachdiskurs wichtigen Grundsatz, auf den immer wieder rekurriert wird: „Der Stil ist die Physiognomie des Geistes“.74 „Der Mensch“ in diesem Titel ist sowohl phylogenetisch als auch ontogenetisch gemeint, verweist also nicht nur auf die Spezies Mensch, sondern auch auf den einzelnen Menschen, und das Programmatische ist wohl wie folgt zu verstehen: Die Sprache dient den Menschen, nicht umgekehrt. Damit wird der Wert auch des einzelnen Sprachbenutzers behauptet gegen sprachphilosophische Varianten organischer Auffassungen der menschlichen Gesellschaft (in diesem Fall: der deutschen Sprach- bzw. Kommunikationsgemeinschaft), die etwa suggerieren: als einzelner Sprachbenutzer bist Du nichts, die Sprachgemeinschaft ist alles. Dass der Mensch das Wort hat und nicht das Wort den Menschen, behauptet einen (mindestens potenziellen) geistigen Raum der Freiheit für jeden Sprachbenutzer, eine Freiheit, die darin besteht, dass die Sprache die Mittel bereitstellt, anders zu formulieren. Nicht von einer vor- oder übermenschlichen Macht (vom göttlichen Logos etwa) ist die Rede, sondern säkular von Sprache als „Werkzeug“, also „von demjenigen Element, das den Menschen als geistbestimmten erst eigentlich zum Menschen macht“. Schließlich wird in der kurzen Einleitung auf die Bedeutung der Aufklärung hingewiesen als die „Epoche der Selbstbesinnung“, in der – dies „kein Zufall“ – die Mehrheit der hier wiedergegebenen Mutmaßungen über die Sprache entstand. Die Bemerkung, dass diese Epoche auch eine war, „die des Menschen ursprüngliche Ganzheit aufgesucht hat“, legt eine wertfreie Auffassung von Sprache als phylogenetischem Gemeingut aller Völker nahe und dürfte als leiser Widerspruch zu einer völkisch wertenden Anthropologie verstanden werden. Als plakative Losung scheint „Der Mensch hat das Wort“ also einen Widerspruch gegen einen nicht genannten Widersacher zu enthalten, der diese Auffassung vom Menschen und seiner Sprache verneint. An dieser Stelle ist eine weitere ganzseitige Aufmachung zum Thema Sprache zu erwähnen. Am Sonntag, 9. Oktober 1938 war die fünfte Seite anlässlich eines Kongresses in Frankfurt mit Beiträgen zum Thema „Sprache und Musik“ gefüllt – von dem merkwürdigen Ensemble Wilhelm Furtwängler, Karl Reinhardt, Karl Voßler und Rudolf Alexander Schröder. Unter der Schlagzeile „Vox humana“ 73 Siehe hierzu den einschlägigen Kommentar in den Anmerkungen zu den Texten. 74 Schopenhauer 1939, S. 547 (Parerga und Paralipomena, „Über Schriftstellerei und Stil“, § 282).



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steht ein einleitender Artikel von Sternberger, in dem behauptet wird, „daß aus dem Gesetz der Sprache eine Moral, eine Anstandslehre des Sprechens folgt. Sie ist umfassender und strenger als alle Forderungen der Sprachpflege es sind“. Dass diese Namen auf derselben Seite begegnen, ist ein Beweis für die Überschneidungen zwischen dem Sprachdiskurs und verwandten Diskursen über die Kultur sowie für seinen oft christlich geprägten Humanismus. Sie sind, wenn man will, Vertreter einer „edelkonservativen ‚Inneren Emigration‘“, die sich der „Pflege der altehrwürdigen Kulturtraditionen der deutschen Geschichte“ hingeben.75 Die leise, christlich-humanistisch geprägte Distanz, die diesen Texten innewohnt, gesellt sich allerdings mit gelegentlichen gespitzten Aussagen, wie z.B. Reinhardts Plädoyer für die Philologie als „eine Art von Geistespolizei“ gegen Fälschungen (Stichwort Uralinda-Chronik). Im einleitenden Text Sternbergers begegnet nicht zum ersten Mal die Beobachtung Lichtenbergs, dass der Gedanke zumindest beim unbedachten Sprachgebrauch „lose sitzt“,76 die hier mahnend wirkt, wenn dagegen ernst behauptet wird, dass „Glück und Untergang davon abhängen, wie wir uns jetzt oder früher oder vor langer Zeit ausgedrückt haben“. Auf die Nähe dieses Sprachdiskurses zu einem Diskurs der religiösen und moralischen Einkehr deutet die Tatsache hin, dass „Der Mensch hat das Wort“ an einem Pfingstsonntag erschien. Ferner gehört Sternbergers „Über die Nachahmung“ (FZ, 25.12.1942) in eine Reihe von mehreren philosophischen Essays zu Weihnachten bzw. zum Jahreswechsel, die in den vorliegenden Band nicht aufgenommen wurden, die aber eine eindeutige Verwandtschaft mit dem Sprachdiskurs aufweisen: „Über den Umgang mit Menschen“ (FZ, 25.12.1936), „Gut und Böse: Zur Besinnung“ (FZ, 24.12.1939), „Da ich aber ein Mann ward, tat ich ab, was kindisch war“ (FZ, 31.12.1939), „Über die Satire“ (FZ, 25.12.1940), und der berühmte Essay „Figuren der Fabel“ (FZ, 25.12.1941), in dem festgestellt wird, „dass aber auch die Gewalt nicht nackt auftritt, sondern ein Recht in Anspruch nimmt“77 – wozu sie sich, in der äsopischen Figur des Wolfs, der Sprache bedienen muss.

Anfang und Modell?: Rudolf Kirchers „Sprache und Stil“ (FZ, 23.9.1934) Das früheste Beispiel eines sprachkritischen Aufsatzes stammt, wie oben angemerkt, von dem politischen Redakteur Kircher, der seit 1930 Leiter der Berliner Redaktion war und am 1. Januar 1934 im Sinne des Schriftleitergesetzes 75 Hermand 1999, S. 9. 76 Siehe z.B. „Für die Sprache” (FZ, 13.3.1938). 77 Sternberger, Schriften, Bd. 9 (1988), S.18.

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zum Hauptschriftleiter der Frankfurter Zeitung wurde. Kirchers Position in der „oppositionellen“ Redaktion wird von Bernd Sösemann besonders skeptisch dargestellt.78 Als Nationalist und Befürworter des Mitgehens und des Zähmungskonzepts, das Hitler vor 1933 in eine verfassungsmäßige Politik einzubinden trachtete, soll er nach der Machtübergabe gute Verbindungen zu Parteistellen gehabt haben. Aus diesem Grunde ist ein genaues Nachlesen seines Textes von besonderem Interesse. „Sprache“ ist in diesem Artikel als Sprachverwendung zu verstehen, an deren Veränderungen „das neue Denken und Fühlen“ ermessen werden kann, das „zu einer neuen Sprache geführt“ habe. Dass Sprache aus dieser Sicht, als Stil, den Menschen entlarvt, wird eingangs behauptet, ganz im Sinne Schopenhauers, nur mit dem Zusatz, dass das Schweigen vieler auch deutlich geworden sei. Vom ersten Satz an geht es Kircher also um zwei Gruppen, die Sprechenden und die Schweigenden. Seine Bemerkungen streifen allgemein den Sprachgebrauch von mehreren Tausenden Anhängern des Regimes, üben aber auch stellenweise eine Redekritik an Hitler selbst. Der Aufsatz ist ein klassisches Beispiel für das Zusammenspiel von getarnter Kritik und absichernder Konformität, das Texte der „verdeckten Schreibweise“ kennzeichnet. Allerdings scheinen die Konzessionen, vor allem Hitler selbst gegenüber, etwas großzügig und ohne die verschleierte Ironie geboten zu werden, die in späteren Beispielen dieser Gattung zu finden sind. Die Textstellen, die bejahende oder zumindest konforme Aussagen über das Regime enthalten, stechen zunächst hervor, die „Spitze“ der Bewegung scheint aus der Kritik an den Anhängern ausgeklammert zu sein, „die hinter dem Ideal der Formulierung allzu weit zurückbleiben“, Hitler wird eine „innere Verbindung mit dem Hörer“ bescheinigt, Goebbels wird sogar als Schutzherr gegen den Kitsch apostrophiert. Wenn diese Aussagen der Absicherung eines oppositionellen Texts dienen sollen, müssen sie anderswo im Text durch getarnte oder weniger hervorstechende Kritik kompensiert werden. In der Tat ist eine solche Auslegung möglich, die auf die im Text verteilte, sorgfältig formulierte negative Kritik an dieser neuen Sprache und ihren Sprechern achtet. An ihrer Sprache erkenne man „das Gefühlsmäßige“ der neuen Gesinnung, das „für die vielen Millionen bestimmt“ ist, im esoterischen Klartext also die zahlenmäßig unbedeutende Schicht der Gebildeten und die intellektuelle Auseinandersetzung als politische Größen ausschaltet. Diese „Arbeit am Volke“ geschehe durch „Zehntausende“ von Sprechern, denen die neuen Sprachlosen gegenüberstehen („nicht wenige von uns, deren Schweigen deutlich spürbar ist“). Der Vergleich mit dem 78 Diese Zusammenfassung folgt Sösemann 2007. Sösemann stellt ferner fest (S. 25), Kircher habe gegen die übliche Praxis der Redaktion, von „Hitler” anstatt vom „Führer” zu reden, in einem Beitrag vom 21.2.1938 verstoßen. Siehe auch Frei/ Schmitz 1989, S. 154—159.



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von „Konfliktstimmung“ geprägten politischen Sprechen des wilhelminischen Zeitalters – inklusive des Kaisers – deutet ex negativo auf die Verdrängung aller Konfliktstimmung aus der neuen Öffentlichkeit und erklärt das „Schweigen“ der Ausgeschalteten. Man braucht nicht weit zu suchen, um Klartext zu finden: „Es gibt Unzählige, die hinausschreien möchten, was sie empfinden, Menschen, die echte Nationalsozialisten sind und solche, die es nicht sind.“ „Nach der Idee der deutschen Volksgemeinschaft“ sei Hitler bestrebt, seine Botschaft zu vermitteln. Kircher thematisiert aber in diesem Aufsatz das Bild einer von den Nazis zerklüfteten Sprachgemeinschaft, die im Gegensatz steht zu derjenigen der Kaiserzeit, die „nicht dazu bestimmt“ war, „große Volksteile von vornherein abzustoßen“. Die Angst vor der an den neuen Sprachverwendungen abzulesenden Expansion einer Einwilligung in die herrschende Gesinnung ist schon bei Kircher präsent. Kennzeichnend für den neuen Stil sei „die ganze Skala der Schwülstigkeit, des Wortpomps und der Superlative“, die um sich greife: „gerade im Kreise der Gebildeten (und noch mehr der Gebildet-sein-wollenden)“ habe man „sich daran gewöhnt, so zu schreiben und zu sprechen [...]“. Damit ist ein zentrales Anliegen dieses Sprachdiskurses schon 1934 etabliert. Bei Hitler selbst wird, liest man genau, trotz absichernder scheinbarer Komplimente ein schwammiges Reden konstatiert: „Was er meint, wird, selbst wenn das Thema schwierig und Diktion nicht leicht ist, all denen klar, die den gleichen Ausgangspunkt zu nehmen vermögen“. Den anderen aber bleibe es, um eine andere Stelle aus Kirchers Text aufzugreifen, aus den genannten Gründen alles andere als klar: „denn Klarheit ist unerreichbar ohne Gleichgewicht der Seele und ohne die Beherrschung ihrer Regungen durch die Kühle des Verstandes“. Im Zusammenhang ergeben die beiden Textstellen, dass Hitler diese wichtigen Eigenschaften fehlen. Wer die Textstellen so zu (re)kombinieren verstand, konnte in diesem verschleierten Kommentar zu Hitler den Kircher eigenen „kalten Sarkasmus“ erkennen.79 Ihre Aufgabe sah die Zeitung jetzt zunehmend in einer „Erziehungsfrage“: Der Mitlesende wurde zur Hellhörigkeit aufgefordert (auch gegenüber sich selbst) und sollte dazu erzogen werden, die unklare Sprache der Politiker in eine klare zu übersetzen. So steht die Formel „ein gutes Deutsch“, für das Kircher am Ende des Aufsatzes wirbt (nur scheinbar in Einklang mit Hitler) für eine bestimmte Art von Klarheit, die die Resistenz gegen eine prestigeträchtige und bedrohlich ansteckende Sprachverwendung bewahren und erhöhen soll. Es ist wohl kein Zufall, dass der Topos „gutes Deutsch“ und der Hitlersche Spruch „deutsch sein heißt klar sein“, den Kircher hier zur Schlüsseläußerung macht, drei Jahre später von Sternberger in „Ein guter Ausdruck“ (FZ, 22.8.1937) wieder aufgegriffen wurden, nachdem ihn Hitler bei der Eröffnung des Hauses der Deutschen Kunst (siehe 79 Frei/ Schmitz 1989, S. 154.

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„Tempel der Kunst“, FZ, 19.7.1937) wiederholt hatte. Dabei konnte Sternberger gewissermaßen auf ein von Kircher entworfenes Modell zurückgreifen, das zum Hausstil geworden war. Allerdings merkt man bei genauer Lektüre, dass „Ein guter Ausdruck“ ein gutes Stück weiter geht in dem persönlichen Angriff auf Hitler als gefährlichen Phrasendrescher, dessen schwammiges Reden ihn selbst bloßstellt. Im Vergleich zu Sternbergers höhnischer Ironie ist die Ironie Kirchers verhaltener und umsichtiger, sein Appell an Hitler hat noch etwas vom vorsichtigen, respektvollen Ton eines Bittstellers. Während bei Sternberger Lichtenberg als Instanz dient, steht bei Kircher ein Verweis auf den liberalen Politiker Friedrich Naumann (1860—1919), der „Schranken niederzureißen“ imstande gewesen sei und dessen genaue Relevanz hier zu eruieren wäre. Als einer der 93 Unterzeichner des Aufrufs „an die Kulturwelt“ vom Oktober 191480 könnte Kircher mit der Erwähnung Naumanns auf die Möglichkeit aufmerksam machen, Nationalgefühl mit Demokratie zu verbinden – als Kontrafaktur zum Fall Hitler.

Spielarten der Kritik am herrschenden Diskurs Als Kritik am hegemonialen Diskurs des Regimes hat die in der Frankfurter Zeitung praktizierte Sprachkritik drei Grundvarianten, die hier näher beschrieben werden sollen: (1) die Kritik an einzelnen mit Namen genannten Sprechern; (2) die Kritik an in der Gesellschaft auszumachenden Sprechergruppen; (3) die Kritik an einem allgemeinen Sprachgebrauch in der ganzen Gesellschaft. Bei der zweiten und dritten Variante ist die Tendenz zu einer Klage gegen Unbekannt bezeichnend, die einzelne Sprecher nicht identifiziert. Mit dieser Tendenz geht eine Verlagerung des Brennpunkts vom Sprecher und seinen Absichten zum sprachlichen Produkt einher, die eine Verlagerung von der gesellschaftlichen Pragmatik auf eine sprachimmanente Semantik mit sich bringen kann (aber nicht muss). Bei der dritten Variante ist besonders auffallend eine Verlagerung auf die gefürchtete und beobachtete Expansion des herrschenden Diskurses in den alltäglichen Sprachgebrauch, sei es aus Prestigegründen (die kleinen Hitlers im Volk) oder aus Unreflektiertheit. Bei allen drei Varianten ist ferner die eingeschränkte Auswahl von zu kritisierenden Wörtern und Ausdrücken anzumerken. Leitvokabeln der nationalsozialistischen Ideologie und Regierungsmaschinerie werden, mit wenigen, aber deshalb wichtigen Ausnahmen, eher nicht thematisiert. Wo dies geschieht, geschieht es eher in der dritten, dann in der zweiten Variante, als in der ersten.

80 Meyer-Rewerts/ Stöckmann 2011.



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Eine Kritik an mit Namen genannten Sprechern begegnet aus verständlichen Gründen relativ selten, lädt doch eine solche Rede- bzw. Stilkritik ad hominem (von Peter von Polenz als Sprachverwendungskritik kategorisiert81) zu Repressalien ein, wie das Beispiel des wohl bekanntesten Vertreters dieser Gattung, Karl Kraus, deutlich macht. Ein Kommentar zum Redner Hitler kommt in Kirchers „Sprache und Stil“ vor und in Sternbergers miteinander verknüpften Artikeln „Tempel der Kunst“ und dem unten besprochenen „Ein guter Ausdruck“, in dem die nur ansatzweise ausgeführte Redekritik in „Tempel der Kunst“ weitergeführt wird. Werner Beumelburg wird in „Das Wort“ (FZ, 3.5.1936) widersprochen. Ansonsten werden Aussagen von namentlich genannten Sprechern selten kommentiert, wie z.B. ausnahmsweise Ludwig Siebert, Leiter der Deutschen Akademie, im Leitartikel „Deutsch reden“ (FZ, 19.6.1941). Weitere Nennungen von nationalsozialistischen Rednern scheinen eher als loser Anlass zu einem Kommentar, oft als tarnende Rückendeckung, zu funktionieren. Zu dieser Kategorie scheint die Erwähnung von Walther Darré („Verlorene Sprache“, FZ, 28.11.1937) zu gehören. Hinzu kommen verdeckte Verweise auf führende Persönlichkeiten, die dem damaligen Leser viel schneller einleuchten mussten als dem heutigen. Andeutungsweise ist zum Beispiel ein Verweis auf Hitler im Schlussteil von „Blick der Liebenden“ (FZ, 5.4.1936) zu vermuten, im Schlussteil von „Zwischen A und B“ (FZ, 28.4.1936) verweist das Wort „Verführer“ möglicherweise auf Hitler bzw. auf Goebbels. In Fritz Kraus’ Glosse „‚Schlanke Linie‘ in der Sprache“ (FZ, 28.1.1938) könnte auch von Schirach apostrophiert sein. Wie weit man solche „verdeckten“ Andeutungen damals entdecken konnte, hing natürlich auch von dem Sensorium ab, das man dem Text entgegenbrachte, wobei auch die Möglichkeit einer Überinterpretation – wie auch heute – nicht auszuschließen war. Das wohl markanteste Beispiel für einen verdeckten Angriff auf den Redner Hitler ist in „Ein guter Ausdruck“ zu finden. Der auf der dritten Seite gedruckte abschließende Absatz dieses Aufsatzes, dessen Titel am 22. August 1937 die erste Seite der Zeitung dominierte, scheint den üblichen Tribut an die politische und sprachliche Begabung Hitlers zu zollen und ihn als Modell der rednerischen und gedanklichen Klarheit zu preisen: Die von Adolf Hitler gebrauchte Definition „Deutsch sein heißt klar sein“ verpflichtet auch im Bereich der Sprache und gerade dort. Denn ein guter, das ist ein genauer, bewegter, tüchtiger, bildlich treffender und also wahrhaft „gebildeter“ Ausdruck ist so viel wert als ein guter Gedanke. Indem man sprechen lernt, lernt man sogleich auch denken. Und was wäre nützlicher, was auch angenehmer als dies?

81 Für eine Typologie der verschiedenen Arten von Sprachkritik siehe Polenz 1973.

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Wer jedoch den Artikel sorgfältig gelesen hat, dem entgeht nicht die gewagte Ironie dieses Schlusses und der Geist des Widerspruchs zu dem „unübertrefflichen Adolf Hitler“, wie es 1932 bei Sternberger hieß.82 Für den Mitlesenden wird der Satz Hitlers als leerformelhafter Selbstwiderspruch enthüllt, eine jener Sprechweisen, die, wie es früher im Aufsatz heißt, „sich freilich mit einem gewissen Brustton füllen lassen und dem Sprecher Bedeutung zu verleihen scheinen“. Der Satz ist eben deshalb „ein guter Ausdruck“, weil er den Sprecher in seiner klischeehaften, gefährlichen Vagheit entlarvt. Man muss auch wissen, dass diese Redekritik an „Adolf Hitler“ (vom „Führer“ ist hier nicht die Rede) aufs engste verbunden ist mit dem auch von Sternberger verfassten Bericht über die Eröffnung des Hauses deutscher Kunst in München durch Hitler, der auch für die oberste Schlagzeile auf der Titelseite sorgte: „Tempel der Kunst“ (FZ, 19.7.1937). Von besonderem Interesse ist, dass Sternberger auch an dieser besonders exponierten Stelle versucht, die Ereignisse ironisch darzustellen, was ihm einigermaßen bei der Beschreibung der versammelten Gäste im „Tempel“ gelingt, ihm aber weitgehend misslingt, wenn es um die Darstellung von Hitlers Eröffnungsrede geht, in der eine Passage den Titel trug: „Deutsch sein heißt klar sein“. Nach einer ironischen Charakterisierung des Redestils („obwohl verzweigt, deutlich und entschieden genug“) verlässt sich Sternberger auf eine Technik des distanzierenden Imitats im Sinne Stöbers.83 Dass sich Sternberger an dieser Stelle nicht dazu bringen konnte, die ironische Sprache, die er sich wünschte, zu gebrauchen, ist ein vielsagendes Indiz für die besondere Situation der jetzt hautnahen Gefahr, in der er sich befand, oder mit Goffman zu sprechen: über die Situation, die ihn hatte. Die Reprise in „Ein guter Ausdruck“ liefert den gewünschten Schlag nach, jetzt aus sichererer zeitlicher und physischer Distanz, zeugt schon von Mut, aber auch wohl unterschwellig von einer gewissen Scham, damals versagt zu haben. Auch und gerade bei dieser nachgeholten Racheaktion ist die Sprachlosigkeit im Sinne Bauers durchaus präsent. Eine Kritik an eindeutig ausgemachten Sprechergruppen (bei von Polenz als Sprachverkehrkritik kategorisiert) begegnet auch relativ selten und scheint, chronologisch betrachtet, eine Zwischenstufe darzustellen im Wandel dieses sprachkritischen Diskurses weg von dem Impuls einer frontalen Auseinandersetzung mit dem Regime hin zu einer mittelbaren. Bezeichnend für diese Zwischenkategorie ist, dass kein einzelner Sprachbenutzer verantwortlich gemacht wird. Als Beispiel dafür wäre die Kampagne gegen das Wort durchführen zu nennen, das in „Kuriose Heilswege“ (FZ, 19.7.1936) eindeutig als (entlarvende) Schlüsselvoka82 Sternberger 1932, S. 315 (Dodd 2007, S. 303). 83 Es ist bezeichnend, das diese Passage von Walter Benjamin in seinem Angriff auf Sternberger aufgegriffen wurde (Benjamin. Gesammelte Briefe, Bd. 6, 1938–1940, S. 70). Vgl. Dodd 2008.



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bel des Regimes, also als Teil einer nationalsozialistischen Regierungssprache, genannt wird. Eine andere Variante ist jedoch der entlarvende Einblick in die Sprache der Soldaten bei Wickenburg (FZ, 2.6.1942), der über die Psychologie bagatellisierender Ausdrücke beim „Verein für deutliche Aussprache“ – dies ein zynischer Ausdruck in der Soldatensprache – mutmaßt, bevor er einige geläufige Ausdrücke der Gefreiten für ihre mit Orden dekorierten Vorgesetzten (Raupenschlepper, Allerheiligenstritzel) lüftet und so das Bild der einheitlichen Volks- und Kampfgemeinschaft unterminiert. Nach der damaligen Gesetzgebung hätte man diesen Aufsatz leicht als Wehrkraftzersetzung bezeichnen können. In diesem Artikel wird eine im Dienst des Regimes arbeitende Sprachinstanz genannt, die in München ansässige, gleichgeschaltete Deutsche Akademie unter der Leitung von Ludwig Siebert. Als Anlass dient Wickenburg ein Aufsatz in der Zeitschrift der Deutschen Akademie von August Miller. Auch der Leitartikel „Deutsch reden“ (FZ, 19.6.1944) nimmt Anstoß an dem durch die Akademie verbreiteten Begriff von „Soldaten der Sprache“, mit dem der Krieg als Vehikel des Sprachenkampfes identifiziert wird. Insofern wird ein Gegner beim Namen genannt, der ausdrücklich dem Regime zuarbeitet. Auf die moralische Korrumpierung bestimmter Gruppen deuten weitere Beiträge mit Berichtcharakter, wie Wickenburgs über Soldatengespräche im Bus (FZ, 2.6.1940) und Sternbergers über ein psychiatrisches Interview mit einem asozialen Jugendlichen (FZ, 6.12.1942). Die Scharnierfunktion ist in Sternbergers Bericht über die Sprachprobleme bei ausländischen Zwangsarbeitern („Brot kosten Geld“, FZ, 1.11.1942) besonders auffällig. Der Großteil der im vorliegenden Band enthaltenen Beiträge ist aber der dritten Variante zuzuordnen, die von Polenz als Sprachbrauchkritik kategorisiert und die in diesem Fall durch die Klage gegen Unbekannt charakterisiert ist. Mit dem Verschwinden einzelner verantwortlich zu machender Sprecher entsteht vor allem in dieser dritten Variante die Gefahr einer Hypostasierung der „Sprache“ zur selbstständigen Macht, die von einzelnen Sprechern nicht (mehr) gesteuert werden kann. Es fällt auf, dass das Kampfwort „Der Mensch hat das Wort“ eben gegen eine solche Macht der Sprache gerichtet ist, dass der Kampf jedoch weitgehend durch diese dritte Variante geführt werden musste. In dieser Variante kommt sehr deutlich eine Angst vor der Expansion des herrschenden Diskurses zum Ausdruck, die schnell zum eigentlichen Anliegen dieses sprachkritischen Diskurses wird, wie schon in Kirchers „Sprache und Stil“ zu sehen ist. So erklärt sich auch die große Rolle, die die Aufklärung über die Grammatik in diesen Jahren spielt. Storz und Süskind veröffentlichen Teile ihrer Sprach- und Stilfibeln (Storz 1937, Süskind 1940) in der Frankfurter Zeitung, und wichtige Sprachabhandlungen anderer Autoren werden dort rezensiert. Zu dem sprachpflegerischen und sprachkritischen Programm gehört Aufklärung über die Grammatik, die das notwendige Mittel bereitstellen sollte für einen selbstständigen Umgang mit Sprache

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– mit der eigenen und mit der Sprache anderer. Dass Grammatik- und Stilfibeln zu den geistigen Impfstoffen gegen das sprachliche Manipuliertwerden gehörten, mag heutigen Lesern etwas befremdlich und naiv erscheinen. Die Leser sollten aber mit einem Diagnostik- und Selbstheilmittel zum selbstständigen Denken und Sprechen ausgerüstet werden. Neben den Hemmungen bei der Nennung einzelner Sprecher sind auch entsprechende Hemmungen bei der Thematisierung von bestimmten Wörtern und Ausdrücken zu erwähnen, die man als zentrale Leitbegriffe des Nationalsozialismus bezeichnen könnte. Auch hier bedingte die Sprachlosigkeit, dass eine Kritik an solch prominenten Begriffen meistens jenseits der Grenze des öffentlich Sagbaren lag und einer Selbstzensur unterlag. Der in der Zeitung oft begegnende Appell an den übergeordneten Begriff „Mensch/menschlich/Menschlichkeit“ wurde, wie Heinrichsdorff schon 1937 gesehen hatte, als Mittel gegen die Rassenideologie eingesetzt, jedoch zeugt die Tatsache, dass z.B. das Wort „Jude“ nicht ein einziges Mal in diesen Beiträgen begegnet, von den herrschenden Diskurszwängen der Zeit. Ein gutes Beispiel ist Sternbergers Glosse „Blick der Liebenden“ (FZ, 5.4.1936), die, im Kontext der Zeit gelesen, sich gegen den zeitgenössischen Gebrauch des Sprichworts „Liebe macht blind“ als achselzuckendes Mitgehen mit dem in den Nürnberger Rassengesetzen festgeschriebenen Verbot von Liebe zwischen „Ariern“ und „Nichtariern“ richtet, unter denen in erster Linie Juden und Jüdinnen (wie Sternbergers Frau Ilse) gemeint waren. Es fällt auf, dass der Konterangriff Sternbergers nicht Leitvokabeln der rassistischen Ideologie, wie Blutschande oder die kurz davor rassistisch umgedeutete Mischehe als Zielscheibe nimmt, sondern diese Begriffe für den esoterischen Leser andeutungsweise, auch durch die auffällige Invektive, aus der Tiefenstruktur des Kontexts heraufbeschwört. Wir heutigen Leser müssen uns dabei in die Lage der intendierten Mitlesenden bzw. Betroffenen versetzen können, für die die Nürnberger Gesetze und ihre allgegenwärtige sprachliche Verarbeitung den Hintergrund bildeten, vor dem Sternbergers Text seine Geltung gewann. Das Fehlen von Vokabeln wie Jude oder Nichtarier in dieser Glosse ist gewiss als Zeichen der Sprachlosigkeit zu sehen, nicht ohne weiteres aber als Zeichen der Kapitulation davor. Ein anderes Beispiel ist das Fehlen des Worts Spitzel in Storz’ weiter unten besprochener Glosse „Der ,Angeber‘“ (FZ, 23.3.1941).

Einzelwortkritik: Kritik am Sprachgebrauch Die Kritik an einzelnen Wörtern bietet die wohl wichtigste Gelegenheit einer Systemkritik am Nationalsozialismus. In den meisten Fällen nimmt diese Kritik die Gestalt eines verallgemeinernden Kommentars zu Entwicklungen in der



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„Sprache” an. Es besteht kein Zweifel, dass mit „Sprache” der aktuelle Sprachgebrauch gemeint war, hinter dem für den esoterischen Leser oft bestimmte Sprecher oder Sprechergruppen auszumachen waren. Im Folgenden werden einige herausragende Beispiele kurz besprochen, damit man sieht, wie auch in der gegebenen Sprachlosigkeit eine Kritik an Leitvokabeln des Regimes möglich war. Es geht um die Wörter durchführen, Raum, Menschenmaterial, völkisch und Angeber. In diesem Zusammenhang sind auch Kommentare zu den Vokabeln Frontabschnitt Wissenschaft (FZ, 8.5.1937), Zugriff (FZ, 10.12.1942), Leistung (FZ, 20.10.1942) und Umbetreuung (FZ, 26.9.1942) zu nennen. In dem Aufsatz „Kuriose Heilswege“ zum Beispiel (FZ, 19.7.1936) wird das Wort durchführen als Vokabel der Verordnungskultur des Regimes identifiziert. Damit wird wiederum die Scharnierfunktion von Sprache aktiviert, so dass der Kommentar über den Sprachgebrauch in einen Kommentar übergeht zu dem, was durch Verordnung „durchgeführt“ wurde, und zwar im Namen der „Wege zum Heil“. Das Heilswesen dient hier nicht bloß als Metapher, sondern sehr wohl als Metonym für eine Aktion, die auch viele „arische” Familien traf. Für die Betroffenen und die sensibilisierten Leser jener Zeit leuchtete wohl sofort der aktuelle Bezug zum 1936 eingeführten Sterilisierungsprogramm und allgemein zu den „rassenhygienischen” Maßnahmen des Regimes ein. Der ablehnende Ton dieses Aufsatzes bleibt auch heute nachvollziehbar. In zwei Beiträgen wird über den Raum als geopolitischen Begriff diskutiert. Er wird als dehnbarer, verschwommener Begriff dargestellt, dessen Ungenauigkeit durch den Appell an die Materialität getarnt wird. Nicht auszuschließen ist, dass die am 5.5.1940 wieder abgedruckte Leserstimme von „ds“, die auf Wickenburgs Glosse „Räume“ (FZ, 9.4.1940) reagiert, gestellt ist (an anderer Stelle – FZ, 24.9.1940 – wird über dieselbe Taktik bei einer bedrängten französischen Zeitschrift offen gemutmaßt). Ein ironisch neckender Ton ist unverkennbar in diesem möglicherweise fingierten Austausch mit dem sich naiv gebenden Widersacher, der die ursprüngliche „von leisem Ingrimm erfüllte“ Glosse mit banalen Gegenbeispielen zu bagatellisieren und von einer ernsthaften Erörterung des geopolitischen Kontexts abzulenken droht. Das Wort an sich sei unschuldig, „von den Schwätzern, Geschwollenen und Wichtigtuern, die es offensichtlich missbrauchen, sei dabei nicht mehr die Rede“. Da ist erneut das wichtigtuerische Nachahmen thematisiert, das immer wieder als zentrales Anliegen dieses Sprachdiskurses vorkommt. Doch auch gegen den geopolitischen Gebrauch richten sich schließlich diese Glossen. Raum habe in dieser Anwendung einen (pseudo-) naturwissenschaftlichen, philosophischen Anhauch bekommen. Auch die materiellen Interessen, denen damit gedient wird, werden genannt: Bei „Luftraum“ haben wir es mit einem eher als militärisch zu verstehenden Begriff zu tun, während untertags Rohstoffvorkommen ins Auge gefasst werden, die auch

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wirtschaftlich-militärischen Zwecken dienen. Die Glosse zeigt exemplarisch, wie der angekündigte Kampf gegen Modewörter einem mittelbaren Kampf gegen den hegemonialen Sprachgebrauch diente. In „Menschen als Material“ (FZ, 21.4.1940) ist ausdrücklich vom medizinischen Bereich die Rede, von Krankenmaterial, Krankengut, und wie für die durch Sprache zum Material oder zu Gütern erklärten Menschen konsequent „Güterwagen, Güterzüge und Güterbahnhöfe dienlich sind“, um sie zu „transportieren“. Abschließend wird auf die Kollokation erstklassiges Menschenmaterial hingewiesen, das zu einer anderen Wertkonstellation zu gehören scheint, und es wird festgestellt: „es steckt ein Zustand, ein objektives Verhältnis in dem Wort“. In der Tat gehört Menschenmaterial geschichtlich in eine Reihe wertender Diskurse über den Menschen, aus dem etwas Positives (eine Nation vorrangig) zu machen sei,84 Krankenmaterial dagegen in die von Sternberger identifizierte medizinische Fachsprache, die im Menschen Exemplare einer Pathologie sieht. Die Glosse bringt geläufige Leitvokabeln dieser beiden wertenden Diskurse in ein Vexierbild zusammen, dessen Lösung dem implizierten Mitleser überlassen wird, wobei bezeichnend ist, dass die Eisenbahnmetapher gerade zwischen den beiden Vokabeln vermittelt, ebenso wie das Verb zwischen Agierendem und Leidendem in einem Passivsatz mit der Struktur: Krankenmaterial wird vom erstklassigen Menschenmaterial transportiert. So gelesen, tritt die Scharnierfunktion dieses Kommentars hervor, werden Deportationen auf dem Schienenweg (zu jener Zeit aus den besetzten Ostgebieten und aus Österreich) angesprochen, über die ein Redakteur der Frankfurter Zeitung sehr wohl informiert sein konnte, über die zu berichten aber durch Sprachregelung und Tagesparole verboten war.85 Die These von dem entlarvenden Sprachgebrauch, die dieser Sprachkritik zu Grunde liegt, ist auch in diesem Kommentar zu finden: „Denn solch ein Wort ist niemals bloß ein Wort, es ist stets der genaue Name einer Realität“. Dass Sternbergers langjähriger Freund und Kollege Gerhard Storz auch einen besonderen Platz in diesem Band verdient, zeigen die von ihm gezeichneten Glossen, darunter zwei kleine Meisterstücke der Gattung „Wortkritik“. Einen hämischen Kommentar zu einem sich wandelnden Wortfeld liefert seine Glosse zu volkhaft/volklich/völkisch (FZ, 7.8.1942), der auf eine ideologiekritische Analyse des Kernworts völkisch hinausläuft. Zwischen dem sachlich-beschreibenden volkhaft und dem wertenden völkisch wird grundsätzlich unterschieden und der fließende Übergang zwischen den beiden im aktuellen Sprachgebrauch als unbegründet und schwammig dargestellt. Der Kommentar wird als „Kapitel über Nachsilben“ mit einer philologischen Akribie vorgetragen, die Schutz und 84 Siehe hierzu Mehring 1960, S. 142; Schmitz-Berning 2000, S. 399—403. 85 Siehe hierzu Dodd 2007, S. 207—210.



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Tarnung bietet für die zersetzende Absicht, die vor allem in der Auswahl und Anordnung der erfundenen Beispiele, die es in sich haben, realisiert wird. Der Reihe der ausgewählten „tadelnden“ Beispiele gibt Storz den Vorzug und lädt zu einem Vergleich ein, wenn der Leser zu kombinieren vermag. Verhält sich etwa volklich zu völkisch wie kindlich zu kindisch? Die jüngere Bildung auf -isch soll auch „die vorbildliche [...] Gegenwart“ bezeichnen. Auch die doch auffallende Metapher vom „militärischen Sinn“ von ganzheitlich, das auch sprachkritisch thematisiert wird, deutet auf eine zeitgenössische Relevanz, die vom Leser zu vervollständigen wäre.86 Zielscheibe dieser Kritik sind wohl diejenigen gewesen, die Zeichen eines unverbindlichen sprachlichen Mitgehens im völkischen Programm von sich gaben durch eine billige, lose Verwendung von volkhaft, das als Begriff damit in den Sog des völkischen Denkens hinein geriet – dies ein Phänomen, das von anderen Kommentatoren registriert wurde, wie man in Seidel und Seidel-Slottys zwischen 1934 und 1938 insgeheim „für die Schublade“ recherchierter Studie, die anders als Storz die Sprecher nennt und zitiert, nachlesen kann.87 In „Der ‚Angeber‘“ (FZ, 23.3.1941) stellt der Sprachlehrer Storz fest, dass bei einem seiner Lateinschüler der für ihn noch pri­märe Sinn von Angeber, nämlich „Denunziant“, zugunsten des bis dahin sekundären „Prahler“ verdrängt wurde, eine semantische Verschiebung, die seitdem gilt. Allerdings lässt die Glosse durchschimmern, dass diese Bedeutungsverschiebung doch ihren zeitgebundenen gesellschaftlichen Grund haben mag. Das plötz­liche Verschwinden von Angeber in dem Sinne „Denunziant“ kann nämlich zwei Gründe haben. Entweder das dadurch Bezeichnete ist nicht mehr vorhanden, oder es besteht weiter, wird aber nicht mehr mit diesem Wort bezeichnet. Beide Vor­gänge könnten das rasche Aufsteigen des sekundären Sinnes („Prahler“) erklären, der das so oder so entstandene Vakuum füllt. Indem Storz die erstere Erklärung, die ja die politisch „richtige“ wäre, travestiert, deutet er hämischerweise auf die letztere als die eigentliche Erklärung. Nicht das Verschwinden dieser „gemeinen Handlungsweise“, sondern ihre gesell­schaftliche Tabuisierung wird herausgestellt. Dabei bedient sich Storz der glatten Ironie. Im braven Nachsagen des herrschenden Diskurses wird den Alltagserfahrungen von Millionen von Deutschen schlicht widersprochen. Er kann auch der Versuchung nicht widerstehen, den seit dem „Führererlass“ vom 19. November 1940 politisch ausge­schal­teten Sprachpuristen des Deutschen Sprachvereins88 einen Seitenhieb zu versetzen. So ein un­deutsches 86 Eine Recherche im DWDS-Kernkorpus legt nahe, dass ganzheitlich zu jener Zeit ein Kernwort im Diskurs der NS-nahen Existenzphilosophie war. [http://dwds.de] (30.6.2013). 87 Seidel/ Seidel-Slotty 1961, S. 139—142. Die Beispiele in dem genannten Abschnitt sind weitgehend den Werken Leo Weisgerbers entnommen. 88 Polenz 1999, S. 46—49.

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Benehmen (das es aber, wie es im Text heißt, „erfreu­licherweise“ nicht mehr gebe!) verdiene nicht die Bezeichnung durch ein gutdeutsches Wort – so die „amtliche“ Linie – und deshalb gehöre Denun­ziant zu den „schwer ersetzbaren Fremdwörtern“. Die Logik macht stutzig: Wenn Denunziant tatsächlich in der deutschen Sprache „schwer ersetzbar“ ist, bedeutet das nicht, dass das Designatum doch genug vorhanden ist, um bezeichnet zu werden? Als Anlass des Kommentars dient die Sprachverwendung eines nicht genannten Schülers, woraus anscheinend zunächst eine Kritik am Sprachgebrauch der Jugend entsteht. Sehr bezeichnend dabei ist, dass Storz die wohl in allen Schichten geläufigste Vokabel gerade nicht erwähnt, nämlich Spitzel (erstaunlicherweise bei Adolf Storfer in Im Dickicht der Sprache noch gründlich attestiert89). Diese Lücke ist sehr wohl das Ergebnis einer bewussten Selbstzensur, denn es fällt schwer zu glauben, dass der Autor den Begriff nicht kannte oder beim Schreiben vergessen hatte. Die Verdrängung des Worts Spitzel – denn darum handelt es sich – dürfte für manchen heutigen Leser als Beweis gelten für eine moralisch peinliche Kompromittiertheit, auch wenn die Erwähnung dieser Vokabel ohne Zweifel für Autor und Redaktion gefährlich gewesen wäre und die Selbstzensur der Redaktion nicht passiert hätte, weil es doch zum Indiskutablen gehörte. Dagegen wäre aber die Möglichkeit zu erwägen, dass der kompetente Leser, der die Ironie der Glosse verstand und der für den oppositionellen Klar­text empfänglich war, ohne weiteres die von Storz vorgeführte Wort­liste um dieses Wort zu erweitern imstande war, und dass auf die­se Weise ihre Tabuisierung auch durchbrochen wäre. Man las die Glosse im privaten Kreis, legte sie nieder, und sagte sich: Spitzel. Wenn Storz’ esoterischer Leser in der Tat so gelesen hat, würde dies bedeuten: hier schließt sich der hermeneutische Kreis, die Scharnierfunktion von Sprache wird voll entfaltet. In dieser Hinsicht stellt diese Glosse eine für heutige Leser relativ nachvollziehbare Probe aufs Exempel bei der Rezeption und Bewertung dieses historischen Sprachdiskurses.

Stilkritik als Systemkritik Versteht man Stilkritik als Sprachkritik, die über die lexikalische Ebene hinaus auf syntaktische Fügungen und sonstige (kombinatorische) Strukturen aufmerksam machen will, dann sind in diesem Sprachdiskurs folgende Schwerpunkte auszumachen: –– Eine Kritik an dem schrillen Verlautbarungston des öffentlichen Diskurses.

89 Storfer 2005b, S. 139—144.



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–– Eine Kritik an der zunehmenden semantischen und pragmatischen „Akkusativierung“ des Menschen, der als handelndes Subjekt immer mehr in die Rolle eines passiven Objekts versetzt werde. –– Eine Kritik am „Substantivitis“ (FZ, 9.5.1942 und 14.2.1943) eines überbordenden Nominalstils, insbesondere an bestimmten Funktionsverbgefügen, die mit einem flachen „Universalverbum“ (FZ, 28.1.1940) ausgestattet sind. Als Grundlage einer solchen Stilkritik in diesem Sprachdiskurs gilt der Glaube an die entlarvende Natur der Sprache nach Schopenhauers Spruch: „Der Stil ist die Physiognomie des Geistes. Sie ist untrüglicher als die des Leibes“ (FZ, 16.5.1937). Für den Kampf gegen die Expansion eines faschisierten Sprechens gilt ferner Schopenhauers darauf folgender Satz: „Fremden Stil nachahmen heißt eine Maske tragen“. Daraus folgt, wie auch bei der Wortkritik, dass Stilkritik zu einem unabdingbaren Werkzeug einer praktischen Anstandslehre wird, allerdings in diesem Diskurs überwiegend ohne bestimmte Sprachproduzenten zu nennen. Die oben skizzierte gelegentliche Redekritik „zwischen den Zeilen“ an Hitler bildet hier eine begrenzte Ausnahme. Klagen über den schrillen Verlautbarungston mit seinen Tendenzen zu Schwulst und Hyperbel sind meist mit einer humoristischen Ironie verfasst. Heuss spricht von einem „Lautsprecher“ (FZ, 9.5.1937), und kleine ironische Klagen sind zu finden in den Ausführungen zum „übertrumpften Superlativ“ (FZ, 1.8.1936, möglicherweise von Hans Kallmann), in Fritz Kraus’ Ausruf zu einer „schlanken Linie“ in der Sprache (FZ, 28.1.1938) und Ernst Benkards Metapher vom Ausrufzeichen als Tyrann unter den orthographischen Zeichen (FZ, 31.8.1940). Auch die Glosse „Vom Ablaut“ (FZ, 10.9.1936) gehört in diesen Zusammenhang. Nicht um den Ablaut als solchen geht es, sondern um den falschen Ton im Beispielsatz „Trete/Tritt ein in die NSV!“, wozu man in Wirklichkeit vielfach gezwungen wurde. Richtig wäre hier, so versteht man, der offene Befehlston, ohne dass versucht wird, eine falsche Anfreundung mitklingen zu lassen. Das Thema „inhumaner Akkusativ“ ist zwar erst nach 1945 durch die von Sternberger, Storz, und Süskind verfasste Glossenserie „Aus dem Wörterbuch des Unmenschen“ zu einem geflügelten Wort geworden, vor allem wegen der kritischen Auseinandersetzung mit Sprachwissenschaftlern nach der ersten Buchausgabe von 1957,90 es ist aber schon in der Frankfurter Zeitung ansatzweise als Bestandteil ihres sprachkritischen Diskurses zu finden, zusammen mit kritischen Überlegungen zu einer für ominös gehaltenen sprachlichen Tendenz, dem Menschen eine passive Rolle zuzuweisen. Von der Gefahr einer Passivierung in diesem Sinne handelt Storz’ „Unbegrenzte Fähigkeiten?“ (FZ, 14.2.1943), nicht 90 Polenz 1999, S. 318f., Dodd 2007, S. 42—62.

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ohne auf den Kannibalismus als Endpunkt hinzuweisen und auf die Notwendigkeit, die Semantik von Nachsilben zu beachten. Walter Dirks’ „Bekochen und beschirmen“ (FZ, 25.8.1943), kurz vor der Einstellung der Zeitung erschienen, ist ein brillanter, emotionaler Appell gegen die Sprache der als Fürsorge auftretenden Bevormundung, die in der Auswahl der Beispiele und Argumentation vielfach nuancierter ist als Sternbergers spätere Glosse „Betreuen“ im „Wörterbuch des Unmenschen“. Die Kritik an sogenannten Universalverben (FZ, 28.1.1940, der Begriff scheint von Sternberger zu stammen) wie erfolgen, stellen, stattfinden, gestalten und vor allem durchführen und am dazugehörigen Funktionsverbgefüge im Nominalstil („Unter Beweis stellen”, FZ, 9.5.1942) scheint dem Zweck zu dienen, „das substantivische Denken” (Storz, FZ, 14.2.1943) als unecht und als Merkmal des faschisierten öffentlichen Diskurses zu brandmarken und vor der Verführung durch Nachahmen zu warnen. Vor allem Storz beschäftigt dieses Thema in seinen Ausführungen zu „Gedankenbahnen in der Sprache” (FZ, 18.4.1942) und zur Semantik von Nachsilben. In „Verschriebene Schreiber“ (FZ, 6.6.1937) greift Sternberger die Platzhalterverben durchführen und gestalten an und fügt sarkastisch hinzu: „Und der Gipfel der Wonne wird erreicht, wenn man es fertigbringt, die Gestaltung etwa eines Feierabends durchzuführen.” Auch wenn das Beispiel fingiert und auf die Spitze getrieben ist – auch dies ein Merkmal dieses Sprachdiskurses –, wird hier sehr wohl eine Beobachtung aus der Hellhörigkeit gemacht, die wirkliche Tendenzen im damaligen Sprachgebrauch registriert. In „Das Universalverbum” (FZ, 28.1.1940) warnt Sternberger vor der „Übermacht der Dingwörter”: Alle Handlung […] schrumpft und verhärtet sich zum Ding, und solches Ding kann dann nur noch durchgeführt werden. Wo der Vorgang, das Geschehen, der Prozeß, die Geschichte anfangen sollte – da ist nun nichts mehr übrig, da ist es leer, und in diese Leere hinein wird nun durchgeführt. Das Durchführen (und das Erfolgen) will das bewußte Handeln und das vielfältige Geschehen selber verdrängen. So wissen wir wenigstens, wessen wir uns schuldig machen, indem wir das Universalverbum gebrauchen.

Vor allem in dem abschließenden Satz, wo von Schuld gesprochen wird, die „wir” durch Übernahme dieser Sprechweise auf uns nehmen, ist die Position eines sprachkritischen Beobachters in „innerer Emigration” auffällig. Diesem letzten Strang haftet allerdings besonders für die Nachwelt etwas Problematisches an, wie seine prominente Stellung in der sprachwissenschaftlichen Kontroverse nach 1957 zeigt. Den exzessiven Gebrauch eines Nominalstils kann man heute noch sehr wohl als soziolinguistisches Thema anerkennen, aber dass derartige syntaktische Fügungen als solche partout als Zeichen einer ethisch verwerflichen Gesinnung anzusehen sind, wurde nach der Veröffentlichung von Aus dem Wörterbuch des Unmenschen im Jahr 1957 zu einer cause célèbre des so



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genannten Streits um die Sprachkritik der 1960er und 1970er Jahre. Peter von Polenz wies dabei auf die semantische Nuancierung und die verschiedene Register- und Kontextzugehörigkeit bei verwandten Strukturen wie etwa etwas beweisen und etwas unter Beweis stellen hin, der hier durch unzulässige Verallgemeinerung keine Rechnung getragen wird.91 Werner Betz warnte vor einer zu schnellen Vermengung von Sternbergers These mit einer Anstandslehre: Es gibt moralisch sehr hochstehende Persönlichkeiten, die ein sehr schlechtes und im Sternbergerschen Sinne inhumanes Deutsch schreiben, und es gibt moralisch sehr zweifelhafte Persönlichkeiten, die ein vorzügliches Deutsch schreiben.92

Diese Kritik legt nahe, wie ort- und zeitgebunden der sprachkritische Diskurs in der Frankfurter Zeitung ist. Ethische und politische Tugend nach grammatischen Regeln mit „gutem“ oder „reinem“ Deutsch gleichzusetzen, war schon eine These, der vor allem Karl Kraus, dessen Einfluss hier zu vermuten ist, auf brillante Weise Gültigkeit verliehen hatte. Sie gehörte auch zum Selbstverständnis und zum sprachpflegerischen und sprachkritischen Programm der Zeitung, und hatte sehr wohl aktuelle Tendenzen des Sprachgebrauchs im Nationalsozialismus mit einer für damalige Leser nachvollziehbaren Treffsicherheit aufgedeckt und kommentiert. Wie von Polenz erläutert, hatten diese hellhörigen Sprachkritiker zum Beispiel beobachtet, „daß durchführen seit 1933 mehr und mehr andere Verben, wie veranstalten, unternehmen, besorgen, ausführen, verdrängt hat, weil es im 3. Reich zweckentsprechend jede bewirkende Tätigkeit im öffentlichen Leben als ein gegen alle Widerstände rücksichtsloses Beharren und Durchsetzen darstellte”.93 Daraus aber zu schließen, dass jeder Gebrauch von durchsetzen oder eines deverbalen Nominalstils mit Platzhalterverb als (proto-)faschistisch oder moralisch verwerflich war (und ist), mag uns heute – vielleicht als Folge unserer zunehmenden zeitlichen Distanz von den Bedingungen der nationalsozialistichen Sprachgemeinschaft – problematisch erscheinen. Wie problematisch diese These ist, zeigt die im Anhang wieder abgedruckte Glosse von Karl Friedrich Baberadt aus der Zeitschrift der Propagandakompanien Deutsche Presse. Hier plädiert der Autor für ein klares Sprechen im Krieg, indem man formelhafte Nominalphrasen durch schlichte Verben ersetzt:

91 Polenz 1963; 1964, S. 151f. 92 Betz, „Fünf Gegenthesen“, in Sternberger/ Storz/ Süskind 1986, S. 337. Dieser Einwand ist von anderen Kritikern gegen Karl Kraus erhoben worden. Siehe Dodd 2001, S. 240f. 93 Polenz 1963, S. 195.

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Da ist zuerst das fürchterliche und, ach so bequeme durchführen! Ist es wirklich notwendig, zu sagen: „ ... ihre Ausmerzung durchzuführen“ oder klingt es nicht besser, zu sagen: „ ... sie ausmerzen“?94

Die Argumentation erinnert nicht zufällig an den Sprachdiskurs der Frankfurter Zeitung (man vergleiche etwa „Das Universalverbum“, FZ, 28.1.1940), denn Baberadt erscheint in einer Liste der Redaktionsmitglieder der Zeitung in der nationalsozialistichen Periode. Ansonsten ist über seine Tätigkeit wenig bekannt.95 Wenn man davon ausgeht, dass es sich hier nicht um schiere Ironie handelt (was für einen Gegner des Regimes ein fast heroisches Wagnis gewesen wäre), dann ist zu fragen, was von Sternbergers These des „unmenschlichen“ Nominalstils bleibt. Auf der einen Seite könnte man meinen, Baberadt stimme hier Sternberger zu, von einem forcierten Nominalstil des falschen Registers zu einem direkten und ehrlichen Sprechen und Schreiben zurückzufinden. Aber auf der anderen Seite müsste man sich fragen, ob Sternberger diesen Sprecher und diese Sprechweise im Sinne von Baberadt für tugendhaft halten würde.

Der Deutsche Sprachverein und die Fremdwortfrage Der Allgemeine Deutsche Sprachverein wurde 1885 von Hermann Riegel gegründet. Das Ziel des Vereins war die (normierende) Pflege der deutschen Sprache und insbesondere die Bekämpfung von Fremdwörtern. Die vereinseigene Zeitschrift Muttersprache hatte sich nach der Machtübergabe schnell zu einem der NSDAP zuarbeitenden Kurs bekannt („die SA unserer Muttersprache“), der neben die früheren nationalistischen Töne jetzt auch völkische und faschistische anklingen ließ.96 Jedoch gab es ein gespanntes Verhältnis zwischen Regime und Verein, der sich erlaubte, den Fremdwortgebrauch auch führender Nationalsozialisten zu kritisieren, bis Goebbels in einem Artikel im Völkischen Beobachter das Thema „Fremdwort“ und die Anmaßung des Vereins, in dieser Sache mitreden zu dürfen, praktisch vom Tisch wischte, indem er, einen Artikel im April-Heft der Muttersprache aufgreifend, auf die jüdische Herkunft des Ehrenmitglieds Eduard Engel, des Verfassers seit dem Ersten Weltkrieg von Streitschriften gegen „Welscherei“, hinwies.97 Goebbels’ Intervention war die politische Vorentscheidung 94 Baberadt 1941. 95 Brück et al. 1956a, S. 56. Laut dieser Quelle war Baberadt von 1920 bis April 1943 Redaktionsmitglied und ist 1944 verstorben. 96 Bernsmeier 1983, S. 37, 35. Siehe auch Szalatnay 2007. 97 Engel 1917; Rehtmeyer 1937; Goebbels, Völkischer Beobachter, Münchner Ausgabe, 3.5.1937, S.



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der Fremdwortfrage. Mit dem Verbot der Fremdwortkritik durch Führererlass vom 19. November 1940 wurde sie ein für allemal politisch entkräftet.98 Man hat jedoch den Eindruck, dass das Thema Fremdwort in der Frankfurter Zeitung auch nach der Entkoppelung vom Regime als Platzhalter für die potenzierte Gefahr der nationalsozialistischen Ideologie in allen Lebensbereichen weiterhin besetzt wird. Auf das Thema rekurriert Storz in seinen Rezensionen vom 19.9.1937 und 13.3.1938. Eher als Attrappe dient Sternberger 1940 das Fremdwortthema, damit er ein Bindeglied in der verdeckten Begriffskette Mensch – Material – Gut – Güter – Züge schmieden kann (FZ, 21.4.1940), die einen in der Sprachlosigkeit der Zeit nicht nennbaren Oberbegriff wie Verschleppung nahe legt. Theodor Heuss’ Ausführungen über die maßlose Fremdwortjagd der nationalistischen Puristen (FZ, 9.5.1937) und Storz’ Aufsatz vom 13.6.1937 erschienen also in den Tagen unmittelbar nach dem Angriff des Regimes auf den Verein. Der spaßende Kommentar zur geforderten Germanisierung des lateinischen C in deutschen Ortsnamen (FZ, 1.5.1937) liegt zwischen den beiden Angriffen auf Engel. Allein Sternbergers „Das arme C“ (FZ, 9.1.1936) und „Man nehme“ (FZ, 11.2.1936) sind vor diesem Wendepunkt in der Frage der „fremden Eindringlinge“ erschienen. Im Letzteren handelt es sich explizit um eine Replik auf Verdeutschungsvorschläge „in einem Artikel der Zeitschrift des deutschen Sprachvereins“, der nicht näher bestimmt wird. Um das dialogische Moment in dieser Glosse wieder herzustellen, wird der in Frage kommende Aufsatz von Dr. Alexander Matschoß, der im Januarheft der Muttersprache erschienen war, im Anhang dieses Bandes wieder abgedruckt. Die Mutmaßung, dass weitere Glossen verschleiert auf Beiträge in der Muttersprache Bezug nehmen (in „Volkssprache“ (FZ, 14.10.1938) zum Beispiel wird auf einen Zeitschriftenartikel erwidert), lässt sich für Storz’ Artikel „Der Eifer für die Sprache“ (FZ, 13.6.1937) konkret bewahrheiten. Auch ohne den genauen Kontext zu wissen, ist die Aussage dieses Artikels noch heute klar: Liebe zur eigenen Sprache ja, aber nicht aus Hass gegen das Fremde. Storz nimmt hier die Gelegenheit wahr, gegen eine völkische Variante der Sprachpflege vorzugehen, die eine ideologisch motivierte „Aufartung“ des Deutschen zu begründen sucht. Das gerade erschienene Juni-Heft der Muttersprache berichtet unter anderem von der im Mai abgehaltenen Stuttgarter Tagung des Vereins. Nach Goebbels’ Intervention war die geplante 27. Hauptversammlung des Vereins in eine „bloße Arbeitstagung“ abgewandelt worden, auf der die Konsequenzen der 7. Vgl. Polenz 1967, S. 135, Bernsmeier 1983, S. 43. 98 „Der Führer wünscht nicht derartige gewaltsame Eindeutschungen und billigt nicht die künstliche Ersetzung längst ins Deutsche eingebürgerter Fremdworte durch nicht aus dem Geist der deutschen Sprache geborene und dem Sinn der Fremdworte meist nur unvollkommen wiedergebende Wörter.“ Zitiert nach Bernsmeier 1983, S. 43.

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neuen Situation gezogen wurden. So kündigte der Generaldirektor Dr. Buttmann an: „Wir rücken weit ab von der haltlosen Verdeutscherei“.99 Die neue Enthaltsamkeit beschränkte sich allerdings nur auf die Fremdwortfrage, und den „Höhepunkt der Tagung“ bildete laut den dort zu lesenden „Vereinsnachrichten“ der Vortrag Ewald Geißlers über „Sprachpflege als Rassenpflicht“, der gelobt und dessen Wortlaut auszugsweise zitiert wird (er erschien später als Sonderdruck des Vereins). So liest man z. B. in den „Vereinsnachrichten“ zu Geißlers Vortrag: „Der Sprachverein treibt nicht nur Sprachpflege, sondern artgegründete Sprachzucht, um auf dem Wege einer bewußten Wortaufartung einen neuen Adel der Sprache zu schaffen“.100 Dass Storz in seiner Glosse die „Wortaufartung“ (ein sofort erkennbares Hochwertwort des Nationalsozialismus101) thematisiert, ist also kein Zufall, sondern er nimmt sich in dieser Glosse vor allem den Redner Geißler vor, ohne ihn allerdings beim Namen zu nennen. Dass dieses Heft der Muttersprache Storz’ besonderes Interesse erweckte, legt auch schließlich die Tatsache nahe, dass es eine ablehnende Besprechung seines Laienbreviers von Dr. Heinz Sacher enthält („Ich lehne das Buch ab: es spricht nicht zum Laien, sagt ihm nicht das, was er wissen will und wissen soll, und sagt es nicht so, wie er es hören möchte“.)102 Die einschlägigen Textstellen aus diesem Heft, im Anhang zum vorliegenden Band abgedruckt, erhellen Storz’ Glosse als Replik auf Geißler und die anderen „Eiferer“ des Vereins in Sachen Muttersprache.

Der Fall Reifferscheidt Einen exemplarischen Charakter hat die Auseinandersetzung zwischen Sternberger und dem konservativen Sprachpfleger und -kritiker Friedrich Mayer Reifferscheidt, die um die Jahreswende 1939/40 in einer öffentlichen Disputation gipfelt (FZ, 26.11.1939, 5.1.1940, siehe auch Storz’ Rezension vom 12.11.1939).103 Liest man die Texte von Sternberger und Storz ohne Reifferscheidts 1939 erschienenes Buch Über die Sprache zu kennen, bekommt man nur eine dunkle Vorstellung von den Differenzen, die hier ausgetragen werden. Die Ablehnung Reifferscheidts scheint darauf zu beruhen, dass er als „hoher Priester” der Sprache eine elitäre Position vertritt, die einen literarischen Kanon verteidigt und der Alltagssprache 99 „Aus den Vereinsnachrichten”, Muttersprache 52 (1937), H. 6, Sp. 254. 100 Muttersprache 52 (1937), H. 6, Sp. 258. 101 Zu Aufartung vgl. Schmitz-Berning 2000, S. 73—74. 102 Muttersprache 52 (1937), H. 6, Sp. 252. 103 Für eine eingehende Diskussion siehe Dodd 2007, S. 196—206.



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eine große Bedeutung abspricht. Demnach habe der individuelle Sprecher der „Sprache”, als historischer Monolith verstanden, zu dienen. Dieser Umriss der Argumente macht schon deutlich, wie Reifferscheidt als Vertreter einer Position erscheint, die als „Die Sprache hat den Menschen” zusammengefasst werden konnte. Wie Clemens Knobloch gezeigt hat,104 steht Reifferscheidts Buch in einer Tradition, die trotz gelegentlicher Querschüsse auf die National­sozialisten in vie­len Hinsichten dem ideologischen Substrat der NS-Ideologie das Wort redet. Knobloch findet in Reifferscheidts Buch „ein Potpourri der bei den ‚Gebildeten‘ qua Sprache mobilisierbaren Ein- und Aus­schließungs­figuren, eine Art schöngeistiger Entsprechung zur prak­tischen NS-Sprachpolitik im Krieg,105 die aber durchaus auch ‚gebildete‘ Distanz­ signale gegenüber dem NS setzt: Wer der Sprache dient, bedarf ‚keines sogenannten Fanatismus‘“. Reiffer­scheidts Buch repro­duziere, so Knobloch, „die verbreiteten völker­ psychologischen Sprach-­ Vorurteile, auf deren Grundlage die Kultur- und Wesenskunde öffent­lich und politisch reüssieren konnte.“ Festzuhalten bei dem vor­liegenden Streit ist die Vehemenz, mit der Sternberger seinen Gegner her­ausfordert und angreift – dies trotz (oder gar wegen?) ober­flächlicher Paral­lelen zwischen ihnen als Vertretern einer traditionell wort­bezo­genen publizistischen Sprachkritik, die vom „Missbrauch“ und „Verderb“ der Sprache redet. In dieser von Stern­berger initiierten Auseinandersetzung steht aber ver­mutlich mehr auf dem Spiel als Sternberger hätte öffentlich und unmittelbar sagen kön­nen. In der Formel „Wer spricht?“ (FZ, 5.1.1940) wird ein An­griff nicht nur auf Reif­ferscheidts elitär-snobistische Sprachauffassung gebündelt, sondern auch – was an einigen Stellen angedeutet wird – auf seine „volk­hafte“ Sprachideologie. Nicht explizit diskutierbar waren jedoch für Sternberger die einzelnen von Knobloch festgehaltenen Positionen Reiffer­ scheidts in ihrer weitgehenden Kompatibilität mit den Ideologemen der schon seit den zwanziger Jahren fest etablierten populari­sierten Unterordnung von Sprach­wissenschaft unter die „tieferen“ Pseudowissenschaften von Kultur- und Wesenskunde mit ihrer als einleuchtend geltenden Behaup­tung einer wesentlichen Verbindung von Sprache und Volksgeist. Knobloch führt weiter aus: Diese selbstverständliche Bindekraft dominiert auch die schöngeistig-essayistische Literatur zum Thema Sprache in den NS-Jahren. Als ein Kompendium ihrer Motive kann Reifferscheidt (1939) gelten. Da ist die Sprache eines Volkes die „all­um­fassende und ewige Schaustellung des geschichtlichen Lebens dieses Volkes“ (Reifferscheidt 1939:29). Die modernen Sprachen werden „ständig wortreicher, glatter und bequemer zu handhaben“ (1939:49) bis hin zum Englischen („ein immer dürftiger werdendes Natur-Volapük, das sich am Ende nur noch für 104 Knobloch 2005, S. 84f. Knobloch zitiert aus Reifferscheidt 1939, S. 198. 105 Knobloch verweist hier auf Scholten 2000.

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die Verkaufswerbung eignet“; 1939:75). Wo die deutsche Sprache im Ausland ge­deiht, „da ist ebenfalls Deutschland“ und die Vereinigung kein politisches Pro­gramm, sondern ein „Naturbefehl“ (1939:93). Kleine und „geschichtslose“ Sprach­völker dürfen entlehnen und müssen die großen Kultursprachen lernen (aber nicht vice versa). Im Deutschen ist das Fremdwort eine „Kolonie fremden Volksgeistes“, ein Blutgerinnsel im Kreislauf der Muttersprache (1939:139). Die großen Volks­sprachen Europas bilden den „geistigen Adel unter den Völkern und Rassen der Erde“ (1939:95). Und am Ende wird dem Volk der Juden („das Volk ohne Spra­ che“, auf dem „ein unheimlicher und unlösbarer Fluch lastet“ 1939:96), das seine Spra­che verloren und aufgegeben hat „um der Gewalt über andere willen“ (1939:96), bescheinigt, dass es „das Zeichen des Untergangs auf der Stirn“ trägt (1939:98).106

In der Tat scheint Reifferscheidt (sprach-)politische Posi­tio­­nen zu vertreten, die nationalsozialistischen Werten, auch dem Antisemitismus, das Wort reden. Hinter Stern­bergers Maxime, dass „der Mensch es ist, der die Sprache hat“, ist also vieles verschlüsselt enthalten, darunter die Ablehnung des Rassismus. Explizit ist nicht von Reif­fer­scheidts volkhafter und antijüdischer Position die Rede, sondern seiner Auffassung vom „hohen“ Dienst, den der Mensch der Sprache zu erweisen habe, wird in seinem elitären, aber auch proto­faschistischen Appell durch ein ent­gegen­gesetzes Bild widersprochen, das die Sprache in den Dienst des freien Menschen setzt und sie zu seinem Diener macht.107 Auch Rezensionen von Storz (FZ, 21.11.1939) und Süskind108 lassen grundsätzliche Bedenken dieser Autoren erkennen, ohne dass ins Detail gegangen wird.

Die Rezension Damit ist ein Problem der Gattung „Rezension“ angesprochen, die im vorliegenden Band mit einigen Exemplaren vertreten ist. Im Allgemeinen konnte man durch die Rezension positive Hinweise auf Lektüren geben und nicht nazistischen oder resistenten Stoff andeutungsweise empfehlen. Auf der anderen Seite jedoch war eine eindeutig begründete Ablehnung, wie der Fall Reifferscheidt zeigt, sehr von den Bedingungen der Sprachlosigkeit getroffen. Zum Programm der Spracherziehung und Sprachsensibilisierung gehörte der Vorabdruck und die Besprechung von für „rein“ oder sogar resistent gehaltenen Sprach- und Stillehren. Ein kleines Netzwerk tritt hier in Erscheinung, das u.a. einige Gründungsmitglieder der in Darmstadt ansässigen Deutschen Akademie

106 Knobloch 2005, S. 84. Die Seitenangaben in Reifferscheidt 1939 wurden beibehalten. 107 Zur Relevanz von Heidegger und Jaspers in dieser Sprachauffassung Sternbergers siehe Dodd 2007, S. 82—100. 108 W.E. Süskind, in Die Literatur 43 (1940—41), S. 88f.



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für Sprache und Dichtung im Jahr 1950 umfasst.109 Als Beispiele des Vorabdrucks wichtiger Buchpublikationen dieser Art sind Gerhard Storz’ Laienbrevier (1937), Wilhelm E. Süskinds Vom ABC zum sprachlichen Kunstwerk (1940) und Adolf Storfers Im Dickicht der Sprache (1937) zu nennen. Alle werden positiv rezensiert: Storz von Theodor Heuss (FZ, 9.5.1937), Süskind von Sternberger (FZ, 8.12.1940), Storfer von Storz (FZ, 19.9.1937), der den Hinweis gibt, hier finde man in Storfers A bis Z „gewöhnliche Worte wie ‚ausmerzen‘ und seltenere wie ‚Quintessenz‘ so abgeleitet und erklärt, dass es eine Freude ist“. Storz bespricht auch Oscar Janckes Restlos erledigt? (FZ, 13.3.1938), das wie seine frühere Glossensammlung Und bitten wir Sie (1936) den nie aufhörenden Kampf „gegen Wichtigtuerei und Geschmacklosigkeit“ fortsetze. Albrecht Goes’ Rezension von Clemens ten Holders Sammlung von Aussagen berühmter Autoren, Die deutsche Sprache: Wesen und Deutung (FZ, 9.10.1938), die als Vorlage für die Seite „Der Mensch hat das Wort“ gedient haben könnte, bekräftigt die humanistische Botschaft dieses Textensembles und geht einen Schritt weiter, indem er weitere Autoren erwähnt, von denen mindestens einer, Theodor Haecker, für das Regime eine persona non grata war. Auch hier begegnet die These der „reinen“ Sprache als vorbildlicher Sprache. Ossietzkys Spruch „Deutsch sollen sie lernen“ scheint hier Schule gemacht zu haben.

1940: Sprachenpolitik in Elsass und Lothringen Wir erleiden wie ihr das harte Gesetz des Schweigens. („Das Gesetz des Schweigens“, FZ, 24.9.1940.)

Nach der Kapitulation Frankreichs und der Besetzung eines großen Teils des französischen Territoriums im Sommer 1940, die wohl den Höhepunkt der Popularität des Regimes markieren,110 bringt die Zeitung eine Diskussion über die nationale Identität in den besetzten Regionen Elsass und Lothringen. Im September 1940 werden dieser Frage zwei Beiträge gewidmet, die hier wieder abgedruckt werden. Am 1. September 1940 erscheint ein längerer Aufsatz von Franz Schnabel zur sprachgeschichtlichen Situation im besetzten Elsass – von dem der erste Teil in diesen Band aufgenommen wurde – und am 24. September folgt ein redaktioneller Kommentar. Dem heutigen Leser fällt vielleicht nicht ohne weiteres 109 Oscar Jancke gilt als Initiator der 1949 gegründeten Akademie und war ihr erster Sekretär. Zu den Gründungsmitgliedern gehörten Sternberger, Storz, Heuss, Goes. Vgl. Assmann/ Heckmann (Hgg.) 1999, Böttiger (Hg.) 2009, S. 82—110. 110 Stöber 2010, S. 294.

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die sorgfältig artikulierte Distanz auf, mit der Schnabel das Thema behandelt. Seine Schilderung der historischen Entwicklung seit der Französischen Revolution ist eher durch eine Sachlichkeit gekennzeichnet, die sich nicht einlässt auf wertende Urteile zur aktuellen politischen Frage, wem das Elsass „naturgemäß“ gehöre, sondern vielmehr die Bevölkerung der besetzten Gebiete als historisches Opfer wiederholter staatenpolitischer Macht- und Sprachkämpfe erscheinen lässt. Schon die Tatsache, dass das deutsche Vorherrschaftsinteresse hier nicht behauptet wird, verleiht dem Artikel eine gewisse Brisanz. Bleibt die Frage, ob – wenn auch nur punktuell – doch noch wertende Feststellungen zu Ungunsten des nationalsozialistischen Deutschland gemacht werden, zum Beispiel im Rekurs auf die Staatstheorie Ernest Renans und der Beobachtung, die Franzosen hätten „die Zugehörigkeit zur Nation nicht von der Abstammung abhängig gemacht […], sondern in den Willen des einzelnen, in den Willen zur Zusammengehörigkeit verlegt“. An solchen Stellen bietet sich implizit Stoff zu einer kritischen Gegenüberstellung zweier Revolutionen, denen von 1789 und 1933. Was einigen Lesern damals bekannt gewesen sein mochte: dem Karlsruher Professor für Geschichte Schnabel waren die Mittel für seinen Lehrstuhl 1936 entzogen worden, der dem Zentrum nahe stehender Katholik lebte seitdem zurückgezogen, angeblich mit Publikationsverbot. Im Vergleich zu Schnabels Aufsatz weist der redaktionelle Kommentar vom 24. September 1940 schon in der Textsorte wesentliche Unterschiede auf. Es handelt sich hier nicht um den Bericht eines namhaften Experten, sondern um eine Stellungnahme der Redaktion zu einem hohen Politikum, zu dem man sich sorgfältig äußern musste, handelte es sich doch um Staatsinteresse und Kriegsziele. Aus diesen Gründen ist es auch verständlich, dass dieser Text durch einen höheren Grad an Hybridität gekennzeichnet ist, so dass es schwer fällt, eine konstante Linie herauszulesen. Das Ergebnis ist eine Mischung von resistenten und der Absicherung dienenden konformen Aussagen, es kommt zu Paradoxa und Aporien, die dem klassischen Muster der „verdeckten Schreibweise“ entsprechen. Zwar steht hier anscheinend die faktische Anerkennung einer „neuen Ordnung Europas“ durch die jetzt für endgültig betrachtete „säkulare Niederlage Frankreichs“. Es fehlt jedoch die eindeutige Parteinahme für die historische deutsche Sache, dafür wird stellenweise aus einer französischen Zeitschrift, Le Jour, zitiert – ohne dass verraten wird, dass diese Zeitschrift in der zone libre erscheint und keineswegs Vichy-freundlich ist. Durch diese Taktik kommt die leidende Stimme des französischen Politikers Fernand Laurent unmittelbar zur Sprache, seine Ansprache an die Elsässer und Lothringer gewinnt jetzt ein deutsches Publikum, und mehr noch – es entsteht in Ansätzen eine verdeckte, analoge Botschaft an die mitleidenden deutschen Leser zur Sprachlosigkeit ihrer eigenen Situation. Auch hier funktioniert die simple Technik der Substitution: für Frankreich setze man



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Deutschland, allerdings ohne die tarnende Parenthese ernst zu nehmen, indem man liest, „daß wenigstens in dieser Zeitung (im „Jour“) wir euch gehört und verstanden haben. Ich möchte, daß ihr eurerseits euch anstrengt, unsere Situation zu verstehen, daß in eurem eigenen Interesse die schmerzlichen Probleme, die ihr hervorruft, nicht öffentlich diskutiert werden können und dürfen“. Diese subtile Lesart scheint in der Aussage zu gipfeln (die auch den Titel des Artikels liefert): „Wir erleiden wie ihr das harte Gesetz des Schweigens“. Für heutige Leser dürfte diese angebliche Resistenz des Textes durch die anscheinend hochkonformen Textteile – etwa in der Rede von einem „festen und klaren Führungsanspruch“ Deutschlands und einer „neue[n] Ordnung“ in Europa, in der das Leiden der Elsässer und Lothringer „ausgelöscht“ werden soll, fraglich oder hinfällig erscheinen. Man muss aber versuchen, sich in die historische Situation der Leser damals zu versetzen, um sich die entsprechende Leseerfahrung anzueignen. Ob dabei Kompromittiertheit oder Widerspruch vorherrscht, muss man dann für sich entscheiden. Hier scheint die abschließende Aussage des Kommentars eher eine leicht anklingende Mahnung an den Sieger zu enthalten, dass die neue Vormachtstellung Deutschlands eine historische Verantwortung für Europa mit sich bringt.

Das „Frakturverbot“ von 1941 Am 3. Januar 1941 wurde (zunächst parteiintern) Hitlers Entscheidung bekanntgemacht, in Zukunft die Frakturschrift, allgemein als „deutsche Schrift“ bekannt, zugunsten der Antiqua (jetzt als „Normalschrift“ bezeichnet) abzusetzen.111 Dieser Beschluss kam für die meisten Deutschen völlig überraschend, schien er doch der Ikonografie eines völkischen Deutschtums zu widersprechen und ein „Zeitalter der Schriftideologisierung“112 zu verabschieden. Als Erdrutsch hat Peter Rück diese Kehrtwende beschrieben.113 Die Umstellung von Fraktur auf Antiqua, von einer jetzt als „jüdisch“ verpönten Schriftart zu einer römischen „Normalschrift“, ist, wie Peter von Polenz nahe legt, wahrscheinlich auf praktische verwaltungstechnische Überlegungen zurückzuführen, die eine leicht zu erlernende Schriftsprache in dem nach dem „Endsieg“ bestehenden deutschen Imperium der europäischen Völker bevorzugten – wofür die Frakturschrift nicht taugte. Die seismografischen Nachwirkungen dieses Beschlusses sind in der Frankfurter Zeitung registriert, zunächst in anscheinend sachlichen Berichten 111 Ich folge hier Polenz 1999, S. 47—49. Vgl. auch Niehr 2009. 112 Polenz 1999, S. 49. 113 Rück 1993, S. 231.

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wie die beiden im September 1941 erschienenen Beiträgen „Die neue ‚deutsche Normalschrift‘“ (FZ, 13.9.1941) und „Hand-Schrift“ (FZ, 14.9.1941). Frappierend wirken hier der Hinweis auf eine jetzt so zu nennende Normalschrift und die Bemerkung Sternbergers, die damit einhergehende Umstellung der Handschrift habe „keine geringe Bedeutung für den ganzen Habitus des Schreibenden“. Am 5.4.1942 meldet die Zeitung sachlich die Umstellung auf Antiqua. Die tiefen Nachwirkungen dieser Umstellung werden dann in dem mehrschichtigen philosophischen Essay in der Weihnachtsausgabe 1942 „Über die Nachahmung“ noch einmal zum Gegenstand kritischer Beleuchtung. Insgesamt enthält dieser Essay eine Reihe von Überlegungen, die in einer in „innerer Emigration“ geschulten Sprachsensibilisierung ihre Wurzeln haben.114 Hier werden die ästhetischen und ethischen Konsequenzen für die eigene Praxis erörtert und die Frage nach der moralischen Integrität (auch zwischen den Zeilen an das Regime) gestellt. Das Motiv des unechten „Nachäffens“ und des verantwortlichen Umgangs mit Sprache, die Bemühung um die „stillen Veränderungen“ im Sprachgebrauch eher als „die stürmischen“ sollten auch im Jahr 1945 den sprachkritischen Ansatz im „Wörterbuch des Unmenschen“ bestimmen.

Fazit: Leistungen und Grenzen dieses Sprachdiskurses Der vorliegende Band gewährt einen Einblick in einen Diskurs über den Sprachgebrauch einer Epoche, die zwar historisch abgeschlossen ist, die aber heute immer noch eine enorme Resonanz besitzt. Daraus ergibt sich in erhöhtem Maße eine doppelte Perspektive für die Frage der Bewertung. Einerseits geht es um die damalige Bedeutung dieser Texte für die ursprünglichen Beteiligten, andererseits um ihre aktuelle Bedeutung für uns heute. Die Unterscheidung scheint wichtig, denn eine Kritik muss erstens den Versuch unternehmen, sich in die historische Situation der damaligen Verfasser und Leser zu versetzen, um zweitens in angemessener Weise den historischen Sprachdiskurs nicht nur an seinen eigenen und den damals geltenden Maßstäben, sondern auch an heute geltenden, darunter denen der modernen Sprachwissenschaft, zu messen. Ethische Urteile sind dabei unverzichtbar, müssen jedoch nicht zwangsläufig zu einer einseitigen Apologetik bzw. Akkusatorik führen. Im Vergleich mit Texten von Zeitgenossen, die „für die Schublade“ schrieben, bieten die im vorliegenden Band gesammelten Texte nur einen begrenzten, weil mittelbaren und unvollständigen Zugang zu den eigentlichen Entwicklungen des Sprachgebrauchs im Nationalsozialismus. Dass dem so ist, liegt natür114 Für eine Interpretation dieses Essays siehe Dodd 2007, S. 210—217.



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lich an der Entscheidung, öffentlich aufzutreten. Die Texte unterliegen einer Selbst- und Vorzensur (durch einen Gegenleser vor Freigabe für den Druck), die zu der Tabuisierung bestimmter Themen und Vokabeln (wie Mord, Spitzel, Jude) führt – zumindest auf der Textoberfläche. Ein richtiges Mitlesen bedeutete schon damals, den passenden Brechungskoeffizienten mit einzukalkulieren, der den Bedingungen der allgemeinen Sprachlosigkeit Rechnung trug. Dass dies für den heutigen Leser erst recht eine Herausforderung bedeutet, liegt auf der Hand. Man vergleiche die wertvolle Hinterlassenschaft, die uns tradiert worden ist in insgeheim geschriebenen Tagebüchern wie denen Victor Klemperers mit der Rubrik „LTI“, in Theodor Haeckers Tag- und Nachtbüchern, die regelmäßige Beobachtungen zur Sprache enthalten, oder in akribischen wissenschaftlichen Arbeiten wie Seidel und Seidel-Slottys kommentierter Kartei zum Sprachwandel in den Jahren 1934—1938.115 Für uns heute bieten solche Quellen mit ihrem hohen Grad an Kontextreichtum einen unmittelbaren Zugang zum sprachlichen Alltag im Nationalsozialismus: Menschen, Orte und Dinge werden beim Namen genannt, Texte und Reden werden zitiert und schlicht kommentiert. Gerade solche Belege und solche Direktheit fehlen weitgehend in den Texten im vorliegenden Band, die erst durch ein engagiertes, suchendes Mitlesen ihr kritisches Potenzial entfalten können. Klemperer beschreibt sein Tagebuch als seine „Balancierstange“, ein „an mich selbst gerichteter SOS-Ruf“,116 dokumentiert seine sprachliche Umwelt zunächst als Überlebensstrategie, dann zunehmend als „exaktes Zeugnis“ für die Nachwelt.117 Die Autoren im vorliegenden Band sahen ihre Aufgabe anders: als öffentliche Intervention im ungleichen Kampf der Diskurse, für den Tagesverbrauch eher als für eine Nachwelt gedacht. Für damalige Leser bestand eine wichtige Leistung dieses Sprachdiskurses sicherlich in den wiederholten Zeichen der Resistenz und einer von Wut und Widerspruch, auch von Trost und Melancholie geprägten Solidarität. Auf den Seiten der Zeitung waren für die eingeweihten Leser solche Botschaften bis zu ihrer Einstellung im Jahr 1943 zu finden, in teilweiser Umgehung der Presselenkungsmaßnahmen und der allgemein verordneten Sprachlosigkeit. Das qualitative Verdienst der Frankfurter Zeitung lag und liegt vielleicht vor allem darin, das es einen solchen Ort für öffentliche Resistenz überhaupt gab. Dies ist allerdings ein Urteil, das umstritten bleiben wird, vor allem von denjenigen, die den Preis des erkauften Freiraums im gelenkten Presseapparat für zu hoch halten. Nach Auflagenhöhe, geographischer und gesellschaftlicher Reichweite gemessen, ist die Leistung der Zeitung eher gering anzusetzen. Über das 115 Klemperer 1998, Haecker 1947, Seidel/ Seidel-Slotty 1961. 116 Klemperer 1978, S. 15. 117 Klemperer 1998, S. 99 (Tagebuch, 27. Mai 1942).

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Leserverhalten ist wenig bekannt und die Wirkung auf einzelne Leser – inwiefern sie wirklich mitlesen konnten und sich ermutigt fühlten, auch zu weiteren Akten der Resistenz, der Opposition oder gar des Widerstands – kann nicht (mehr) quantifiziert werden. In das Spektrum „nicht nazistisch – nichtnazistisch – antinazistisch“ ordnen sich die Texte sehr unterschiedlich ein, auch was die Gattungen, die Themen und den Grad der Resistenz und ihres Gegenparts, der tarnenden konformen Absicherung angeht. Die aus heutiger Sicht gelungensten gehören wohl der Gattung „Wortkritik“ an, die über die Scharnierfunktion sogar gelegentlich auf eine listige Berichterstattung über indiskutable Sachverhalte (wie Bespitzelung, Sterilisierung und Verschleppung) hinauslief. Vor allem durch die Wortkritik konnten ideologische Schlüsselbegriffe (wie Raum, völkisch/volkhaft, Menschenmaterial, Aufartung) unterwandert und eine Sprache des Regierens (wie bei durchführen) bloßgestellt und mit einem Diskurs der Menschlichkeit – dies ein eindeutiges Fahnenwort des Antirassismus – gekontert werden. Es bleibt allerdings das Problem, heute wie wohl auch damals, ob man „richtig“ mitlese, und die doppelte Gefahr, dass man unter- bzw. überinterpretiere. Diese Gefahr ist diesem Diskurs inhärent, dessen Texte ein Ensemble von expliziten und implizierten Aussagen in einem Vexierbild der Metaphern und Metonyme zusammensetzen, das den esoterischen Leser zum genauen, interessegesteuerten Lesen geradezu einlädt. Die Wortkritik ist aber, wie Uwe Pörksen bemerkt, ein sehr an die Zeit gebundener „Faschismusdetektor“, denn: „In einer veränderten Umgebung können Wörter wie das zum Schrecken gewordene betreuen, durchführen, Lager und auch Menschenbehandlung ihre älteren oder neue Spielräume zurückgewinnen“.118 Für die Stilkritik gilt dies wohl in gesteigertem Maße. Vor allem die Proskribierungen im Hauscodex gegen einen „Jargon der Zeit” und allgemein die enge Koppelung von Stil („gutes Deutsch“) und Ethik kann heute nicht überzeugen gegen den Vorwurf des arbiträren Werturteils und die Replik Werner Betz’, es gebe moralisch aufrichtige Menschen, die ein (in diesem Sinne) „schlechtes“ Deutsch reden und schreiben, und vice versa. Schließlich lüge nicht die Sprache als solche, sondern der einzelne Sprachbenutzer.119 Der Rekurs auf sprachliche Authentizität und auf Schopenhauers Diktum, der Stil sei der ganze Mensch, ist insofern an sich kein festes Fundament für eine Stilkritik, ließ es sich doch auch vom Gegner (wie der Text Baberadts nahe legt) für seine Sache benutzen. Besonders im Fall der Stilkritik ist auf die Aufgabe zu verweisen, die damalige von der heutigen Bedeutung zu unterscheiden. Im Kontext der Zeit und im Kreis des angesprochenen Publikums hatte diese Stilkritik sehr wohl eine aktuelle Relevanz und wurde als mittelbare 118 Dodd 2007, S. 345. Vgl. auch Fiedler 2005. 119 Betz, „Fünf Gegenthesen“, in Sternberger/ Storz/ Süskind 1986, S. 337; Betz 1968.



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Regimekritik verstanden. Schopenhauers Bemerkung zum Beispiel, das Nachahmen eines fremden Stils heiße, eine Maske tragen, bekam in diesem Diskurs eine ganz konkrete Bedeutung, wie auch der von der Redaktion gepflegte Hausstil, der die eigene, „reine“ Sprache von dem durch oktroyierten „verdorbenen“ „Jargon“ unterscheiden sollte, eine klare Signalfunktion hatte. Von einem „Rückzug in die Innerlichkeit“120 kann man vor allem bei den sehr verschlüsselten Texten wie Sternbergers „Über die Nachahmung“ sprechen, die eine hohe literarische und philosophische Dichte aufweisen. Die Begrenztheit dieses Sprachdiskurses ist aber weniger in seiner verschlüsselten Hermeneutik zu sehen (die vielfach heute nachvollziehbar ist) als in anderen durch die Bedingungen der Sprachlosigkeit verursachten Verbiegungen. Im Allgemeinen ist die Tendenz zu beobachten, einer Kritik an namentlich genannten nationalsozialistischen Sprechern, mit Belegen und Zitaten, auszuweichen. Diese in demokratischen Gesellschaften übliche Praxis wich weitgehend einer Kritik an ausgewählten Schlüsselvokabeln des Regimes und einer Kritik am Sprachgebrauch der Bevölkerung, die von der Angst vor der Expansion einer faschistischen Mentalität angetrieben wurde. Damit wurden andere Zielscheiben ins Auge gefasst, die zu einer Tugendlehre passen: die Sprache des Prahlers, die Verführungsmacht des Prestiges, die Gefahren eines unbedachten sprachlichen Mitgehens. Man müsse sogar sich selbst vor diesen Gefahren hüten. Vor diesem Hintergrund stechen die Kommentare zum Redner Hitler (bei Kircher und Sternberger) und die Wortkritiken zu eindeutigen Ideologemen der Bewegung um so mehr als mutige Aussagen hervor. Schließlich ist die Leistung dieser Sprachkritik in erster Linie daran zu messen, inwieweit es ihr gelang, öffentlich Indiskutables diskutierbar zu machen. Auch wenn wir heute nur einen Bruchteil davon verstehen, was ein sensibilisierter Leser der Zeitung damals, mitten im Zeitgeschehen, hat rekonstruieren können, führt eine sorgfältige Lektüre dieser Texte zu dem Schluss, dass hier Wichtiges, wenn auch punktuell, geleistet wurde. Aber auch bei solch positiver Bewertung bleibt das hermeneutische Problem der adäquaten Interpretation offen, wie es sicherlich damals auch offen war und von einzelnen Lesern unterschiedlich gelöst wurde. Um einige Proben aufs Exempel zu nennen: Fehlt wirklich das tabuisierte Wort Spitzel in Storz’ Glosse „Der ‚Angeber‘“, also in ihrer Tiefenstruktur? Ist Kirchers „Sprache und Stil“ nur ein Beispiel der Anbiederung? Ist Sternbergers Wiedergabe von Hitlers Rede in „Tempel der Kunst“ als empfehlende Weitergabe oder als distanzierendes Imitat zu lesen? Auch wenn man in allen drei Fällen eine geschickte Umgehung der Sprachlosigkeit festzustellen glaubt, ist ein letztes Mal zu betonen, dass selbst die herausragenden, mutigen 120 Frei/ Schmitz 1989, S. 131.

Exemplare des Widerspruchs die Zeichen einer schließlich nicht zu überwindenden Sprachlosigkeit tragen, als Kehrbilder der fast perfekten Nazifizierung der deutschen Gesellschaft. Diese Einleitung hat sich die Aufgabe gestellt, diesen Sprachdiskurs in seinem historischen Kontext, in seinen typischen Zügen und in seiner kontroversen Rezeption vorzustellen. Sollte sie eine Anregung geben zur Lektüre und zur Auseinandersetzung mit den Texten und ihren Kritikern, auch mit deren Wertschätzung durch den Herausgeber, so hat sie diese Aufgabe erfüllt. Das letzte Wort hat sie sicherlich nicht gesagt.

 Textteil

Texte aus der Frankfurter Zeitung 1 [24. Februar 1934] Beseitigung des Wortes „Arbeitsmarkt“ In Kreisen der Arbeitsfront wurde kürzlich der Wunsch ausgesprochen, das Wort „A r b e i t s m a r k t“ aus dem deutschen Sprachgebrauch zu streichen. Diesem Wunsche soll jetzt auch v o n d e n B e h ö r d e n e n t s p r o c h e n werden. Der „Reichsarbeitsmarktanzeiger“, der regelmäßig die statistischen Arbeiten der Reichsanstalt über die Arbeitslosen- und Beschäftigungszahlen veröffentlicht, wird, wie das VdZ.*-Büro meldet, ab 1. April unter der neuen Bezeichnung „A r b e i t u n d A r b e i t s l o s i g k e i t“ erscheinen. Die Reichsanstalt wendet sich damit von dem im Volksbewußtsein verankerten Begriff „Arbeitsmarkt“ auch äußerlich ab.

2 Ernst Michel [18. September 1934] Der Volksname „deutsch“.

Sein geschichtlicher Ursprung und sein Sinn. Die w o r t g e s c h i c h t l i c h e Bedeutung des Wortes deutsch ist seit Jakob Grimm klar. Das Wort „diutisk“ = „deutsch“ kommt vom Hauptwort „diot“ = „Volk“, bedeutet also „völkisch“. Unklar und unbekannt war jedoch bis vor einigen Jahren der g e s c h i c h t l i c h e V o r g a n g, durch den das Wort „deutsch“ bestimmt wurde, die von den deutschen Stämmen gesprochene Sprache und keine andere zu bezeichnen. Den Geschichtsforscher Alfred Dove* hat die Frage über den Ursprung des deutschen Volksnamens jahrzehntelang beschäftigt. Seitdem aus seinem Nachlaß die „Studien zur Vorgeschichte des deutschen Volksnamens“ (1916) erschienen sind, galt seine Forschung als abschließend. Dove kam in seinen „Studien“ zu dem Schluß: Deutsch sei ein Wort, mit dem die K i r c h e den verschiedenen Stammessprachen der rechtsrheinischen Germanenstämme eine einheitliche Benennung habe aufdrücken wollen. Deutsch sei somit die Bezeichnung für die letzten heidnischen „Völker“ (gentes) gewesen, die noch außerhalb der Kirche standen und ihr durch die Mission des Bonifatius* zugeführt werden sollten. Latein als Kirchensprache stünde hier im Gegensatz zu „Deutsch“ als Sprache der noch zu bekehrenden heidnischen Germanenstämme. Nun spricht gegen Doves Deutung zunächst schon die Tatsache, dass diutisk = deutsch auf die rechtsrheinischen jungchristlichen Sachsen, auf die Bayern und Thüringer erst n a c h t r ä g l i c h – erst

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 Texte aus der Frankfurter Zeitung

später als auf die Franken – erstreckt worden ist, also gerade nicht die Sprache der h e i d n i s c h e n Stämme bezeichnet hat. Gegen Dove führte Eugen R o s e n s t o c k* 1928 den Nachweis, daß das Wort „deutsch“ mit Betonung zuerst die Sprache der F r a n k e n, und zwar besonders l i n k s des Rheins bedeutet habe – in Abhebung von der romanischen Bevölkerung und ihrer „wälschen“ Sprache. Otfried von Weißenburg* z.B. gebraucht immer wieder deutsch und fränkisch als gleichbedeutend und ebenso sind die ältesten Fundstellen für „deutsch“ i n n e r f r ä n k i s c h gemeint. Welcher geschichtliche Vorgang liegt nun dem zugrunde, daß das Wort „deutsch“ geeignet befunden wird, die „unverwälschte fränkische“ Sprache zu bezeichnen und zwar gerade auch in ihrer Ausstrahlung vom Hofe des Frankenkönigs auf das ganze Reichsgebiet? Diese Frage wird auf Grund einer sehr eindringlichen rechtsgeschichtlichen Deutung des zweitältesten und wichtigsten Belegs für das Wort „deutsch“ beantwortet: eines förmlichen W e i s t u m s des Königstags von Ingelheim 788 gegen den Herzog Tassilo* von Bayern. Von hier aus klärt sich dann auch der älteste Beleg aus dem Jahre 786. Die Anklage gegen Tassilo lautete auf Desertion gegenüber dem fränkischen Heeresverband, dem exercitus Francorum. In dem Urteil über Tassilo wird nun von dem strafbaren Tatbestand gesagt: „quod nos t h e o d i s c a l i n g u a dicimus h e r i s l i z“ („was wir in der d e u t s c h e n S p r a c h e herisliz d.h. ,Verlassen des Heerbannes‘ nennen“). Es wird nachgewiesen, daß hier mit der Anwendung des „deutschen“ d.h. des fränkischen Ausdrucks die s t r e n g e F o r m gemeint ist, die dem Urteil Wucht geben soll. „In deutscher Sprache“ heißt an dieser Stelle: i n d e r S p r a c h e d e s H e e r e s, des exercitus Francorum, das damals in Ingelheim Ankläger und Richter war, dem aber auch die Heereskontingente anderer Stämme gleichberechtigt angehörten. Die deutsche d.h. die fränkische Sprache war damals die Sprache des einheitlichen Reichsheeres, und das bedeutet, daß sie zugleich die r e c h t s f ö r m l i c h e Sprache war. Das „Herr der Franken“ ist nämlich ein grundlegender verfassungsrechtlicher Begriff der Zeit. Es erscheint in der Liturgie als Gegenstand der Fürbitte, als Adressat in Staatsbriefen, als Corpus in Friedens-Eiden. Die Heeresversammlung ist das Organ, auf dem Karls des Großen weltliche Herrschaft gründet. Das Heer spricht im Thing sein Urteil „deutsch“ (theodisce). Deutsch ist die fränkische Amts- und Kommandosprache. Denn an das Heer angelehnt war das G e r i c h t, war fast alles, was an V e r w a l t u n g damals aufgebaut wurde. Nun wird aber das Reich Karls d. Gr. trotz des Fortbestehens der Stämme k o n s t i t u i e r t durch das „Herr der Franken“, das über die Ufer des Stammhaften greifen muß und zum R e i c h s h e e r wird, dem Sachsen, Bayern, Thüringer, Langobarden angehören. Ueber das Reichsheer wird die fränkische Heeressprache auch die einheitliche Rechtssprache, wo es um das Reichsrecht ging. Das bedeutet: im Augenblick der äußersten Erweiterung des Reiches Karls des Großen



Der Volksname „deutsch“. 

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erkennt man rechtlich das Reich an seinem Reichsrecht und Reichsgericht. Und „deutsch“ werden hieß der fränkischen Rechtssprache mächtig werden. Deutsche Leute sind alle, die gleichberechtigt mit den Franken im Heer kämpfend ihre Amtssprache teilen. Dem H e e r e s v e r b a n d entspricht also die Einheit des Reichsrechts und die Gleichberechtigung der Stämme. Aber nur ein Teil des Reichsrechts ist „deutsch“. Neben dem Heer war die K i r c h e dank ihrer straffen Romanisierung die zweite große Stütze für Karls d. Gr. Herrschaft. Die Synode aber redet und verurteilt l a t e i n i s c h. Das Frankenreich spricht somit zwei Amtssprachen, „diutisk“ und „latine“. Und eben in der e r s t e n Fundstelle für das Wort deutsch, in einem fränkischen Bericht an den Papst vom Jahre 786, wird von dem Beschluß einer Versammlung von Herr und Klerus gesagt, daß er lateinisch und deutsch, also in beiden Amtssprachen verlesen worden sei. Das Heer spricht deutsch, und wo das Königsheer hindringt, da gibt es neben schwäbisch, sächsisch und bayrisch die „deutsche Sprache“. D e u t s c h i s t a l s o e i n z u m R e i c h s v o l k s n a m e n e r h o b e n e r S t a m m e s n a m e. Es ist der geistige Sieg des Frankenstammes über die anderen Stämme, den das Wort diutisk ausdrückt. Wenn die fränkische Heeresgemeinschaft das deutsche Volk geschaffen hat, dann ist es verständlich, daß der deutsche Patriotismus ein h e e r v o l k h a f t e r, auf dem Verband der Männer ruhender ist: deutsche Leute, deutsches Land – das bedeutet Volkstum, das von den Franken ihrem Heer und ihrem Recht einverleibt ist. Der französische Patriotismus dagegen ist aus ebensolchen historischen Gründen ein t e r r i t o r i a l e r. Die Franzosen nennen sich – ebenfalls vom fränkischen Reich her – nach dem Boden. Daher die Rolle der Isle de France, jenes Kerngebietes, in der französischen Geschichte, im französischen Patriotismus! Bei den Deutschen dagegen gelingt es dem fränkischen Zentralgebiet nicht, die ihm von Karl zugedachte Rolle t e r r i t o r i a l e r K e r n b i l d u n g zu übernehmen. Hier entscheidet die personale Zugehörigkeit zum Heeresverband. Aus dieser durchgehenden personenrechtlichen Auffassung leitet sich die Rolle der „Römerzugs“ und das Gewicht der auf diesem Römerzug herrschenden Heeresordnung vom 10. Bis 13. Jahrhundert her. Der Römerzug kann zum Inbegriff der Verfassung des mittelalterlichen Kaiserreichs der Oststämme werden, weil er den Diot, das Heervolk, gliedert. Unter der Maske dieses Römerheeres wird das fränkische Heer, der fränkische Diot, zum Deutschen. Die Teilnahme an der Heerfahrt nach Rom gibt den deutschen Fragmenten des auseinandergeborstenen Frankenreiches das Einheitssymbol, ein diot, ein Heer zu bilden, im Vollsinn der Einheit in Heer und Gericht. Das „Römische“ der Kirche und das „Deutsche“ des Heeres gab den Deutschen nach dem Untergang der Dynastie das einzige gemeinsame Z i e l, die einzige organisierende und die Heereskontingente

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zusammenschweißende Aufgabe. Das Reich Heinrichs III. tragen die Romkirche und das deutsche Heer. „Die Sprache des Heeres wird Herr über die Zersplitterung der deutschen Stämme. Das Reich des Heeres ist immer umfassender als das des Zivil.“ Das sind nach Rosenstock die Grundsätze der deutschen Geschichte geblieben seit dem Tage, an dem Karls Heer Bayern und Sachsen aufnahm, damit sie als Urteiler ihren heerfränkischen Spruch über Tassilo mitfällten. Kriegsgemeinschaft hat das deutsche Volk geschaffen: Heeresverband und Rechtsverband hat Land um Land gegen Osten hin eingedeutscht. Im Gegensatz zu den Franzosen aber ist das Volk der Deutschen ein Volk ohne klar bestimmten Raum geblieben. Mit diesen Schlussfolgerungen werden zwar wichtige geschichtliche Perspektiven gegeben, die bis zur Gegenwart Bedeutung haben. Aber spätere geschichtliche Ereignisse haben für die Konstituierung des „deutschen Volkes“ ein nicht minderes Gewicht – und oft ein Gegengewicht – gewonnen, was über den hier erwähnten blendenden Thesen nicht vergessen werden darf. Ernst Michel

3 Rudolf Kircher [23. September 1934] Sprache und Stil. RK Berlin, 21. September Man hat gesagt, die Sprache sei dazu da, die Gedanken zu verbergen, das ist – von Ausnahmen abgesehen – nicht die S i t u a t i o n u n s e r e r Z e i t. Es gibt freilich nicht wenige unter uns, deren Schweigen deutlich spürbar ist, aber es gehört zu den wichtigeren Kennzeichen der Zeit, daß Zehntausende bemüht sind, ihren Gedanken und Gefühlen in Wort und Schrift lebhaftesten Ausdruck zu verleihen. Das neue Denken und Fühlen hat dabei zu einer neuen Sprache geführt. Es gibt kein Gebiet, das in die Totalität der nationalsozialistischen Bewegung noch nicht hineingerissen worden wäre und in dem wir deshalb nicht zahllose Menschen bestrebt sähen, d a s N e u e z u f o r m u l i e r e n, um es andern mitzuteilen. Das Neue in Deutschland wird in so hohem Maß durch den Instinkt und das Gefühl bestimmt, daß der Schwerpunkt der Formulierung und Verkündung ganz von selbst auch dann in das Gefühlsmäßige fallen müßte, wenn es sich dabei nicht um uns Deutsche handelte. Wenn man hinzufügt, daß alles, was zur Vermittlung nationalsozialistischer Anschauung heute in Deutschland gesprochen und geschrieben wird, nicht von einem Gremium von Akademieprofessoren formuliert wird und daß es nicht für ein oberes Hunderttausend, sondern für die vielen Millionen des Volkes – also für jeden einzelnen unter uns – bestimmt ist, und wenn man bedenkt, daß die Zahl der Verkündenden außerordentlich groß ist, so sind damit die ganz besonderen Schwierigkeiten angedeutet, die mit dieser



Sprache und Stil. 

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Arbeit am Volke verbunden sind. Man sagt nicht zu viel, wenn man dies ein geistiges Problem allerersten Ranges nennt. Das Problem ist in dieser Art für Deutschland neu — jedenfalls wird es zum ersten Male ernsthaft angepackt. Was ist in vergangenen Zeiten geschehen, um die Aufgaben der Nation zu formulieren oder die Empfindungen auszudrücken, die das Volk bewegten? Wer heute in den Reden Wilhelms II. blättert, wird leicht bemerken, warum es diesem hochgespannten Geist nicht gelang, von der Gesamtheit als Sprecher anerkannt zu werden. Er wird auch bemerken, daß Wilhelm innerpolitisch zumeist aus einer K o n f l i k t s t i m m u n g heraus redete. Das war auch das Schicksal der meisten Parteiredner, – und als solche waren auch schon in der kaiserlichen Zeit (trotz dem persönlichen Regiment) auch die Reichskanzler und Kabinettsmitglieder zu betrachten. Hier könnte der Begriff „Volksgemeinschaft“ wirksam werden. Jedenfalls schafft er die Voraussetzung für eine allgemeingültige Formulierung, für eine Formulierung, die nicht dazu b es t i m m t ist, große Volksteile von vornherein abzustoßen. Während damals die Regierenden – außer in vereinzelten Fällen größter nationaler Not – wenig taten, was wirklich der Zerklüftung ein Ende machen konnte, waren die Parteiführer, so wie sie nun einmal (mit ganz wenigen Ausnahmen, zu denen wir Fr. Naumann* zählen dürfen) ihre Aufgabe verstanden, überhaupt nicht imstande, Schranken niederzureißen. Je größer aber der Menschenkreis war, den sie anzureden hatten, je mehr „Arbeiterschaft“ darunter war, desto mehr glaubten viele in der Hervorkehrung der Gegensätze den diesen Massen verständlichen Ton gefunden zu haben. Die Anpassung an die Masse war somit allzu oft gleichbedeutend mit ihrer Aufhetzung, – während man sich im selben Atem bemühte, die Aufgestachelten wieder zu beruhigen, damit sie das taktische Spiel nicht verdürben. Man wird nicht behaupten können, daß der Nationalsozialismus durch den Verzicht auf die Aufpeitschung von Leidenschaften zur Macht gekommen sei. Die Ueberzeugung von der unbedingten Ausschließlichkeit sowie der Wille, den Marxismus in jeglicher Gestalt zu vernichten – daneben auch Ausflüsse der Rassentheorie –, führten ganz von selbst dahin. Aber dies geschah mit dem Ziel und in der Hoffnung, eine wahre V o l k s g e m e i n s c h a f t an die Stelle der Zerrissenheit setzen zu können. So wurde mehr und mehr die Sprache des Nationalsozialismus nicht so sehr durch den Willen zum Niederreißen wie durch den Willen zum Aufbau bestimmt. In jedem dieser beiden Fälle widmet sich aber der Nationalsozialist seiner Aufgabe mit L e i d e n s c h a f t und in höchster Steigerung der Gefühle. Das bestimmt die Sprache, das bestimmt den Stil. In einer programmatischen Rede in Nürnberg hat A d o l f H i t l e r an das Wort erinnert: deutsch sein heißt k l a r s e i n*. Eine gigantische Aufgabe, in der rauschenden Bewegung dieser Zeit klar zu sein! Zugleich eine Mahnung von größtem Wert. Er selbst wird mit einer Leichtigkeit verstanden, die verblüfft. Dieser Redner

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hat innere Verbindung mit dem Hörer. – Das ist die Erklärung. Und umgekehrt: die Hörer sind vertraut mit der Sprachweise ihres Führers. Was er meint, wird, selbst wenn das Thema schwierig und Diktion nicht leicht ist, all denen klar, die den gleichen Ausgangspunkt zu nehmen vermögen: die nationalsozialistische Gesinnung. Wer das nicht kann, wird ohne Verständnis bleiben. Es ist dabei die Eigenart vieler solcher Reden, daß sie den Hörer zwingen, gleichsam von Anfang an – fast voraussetzungslos – den Gedankenweg mitzugehen, den sich der Vortragende in seinem Ringen nach Klarheit für sich selbst erkämpft hat und den er nun allmählich entwickelt. Und dies wiederum hängt damit zusammen, daß ein nationalsozialistischer Interpret sich meist gedrängt fühlt, ab ovo zu dozieren, denn es ist ja sein Ziel, ein neues Weltbild, ein neues Gedankensystem, ein neues Fühlen dem Hörer zu vermitteln – nicht als abstrakte Doktrin, sondern als Leitsatz für das praktische Denken und Arbeiten. Auf diese Weise wird die gesamte öffentliche Diskussion in Deutschland auf die A u s g a n g s p u n k t e, auf die Anfangsgründe des Denkens zurückverwiesen. Man braucht die Rückkehr zu den Ausgangspunkten, um zu neuen Schlüssen kommen zu können – oder: man muß zu ihnen zurückstreben, um den neuen Schlüssen das Fundament zu liefern. Diese Eigentümlichkeit unserer derzeitigen Diskussion ist leicht zu beobachten, aber sie ist nicht für jeden leicht zu verstehen, denn gerade im Kreise der Gebildeten (und noch mehr der Gebildet-sein-wollenden) hat man sich daran gewöhnt, so zu schreiben und zu sprechen, dass eine möglichst große Zahl von Gedankenreihen und Erkenntnissen vorausgesetzt wurde. Besonders schwierig ist das Verstehen jener Eigenart für viele Ausländer, die sich wundern, warum eine Durchforschung der Fundamente nötig sein soll, während sie selbst, – im Glauben, feste Fundamente und ein vielstöckiges Etagenhaus unter sich zu haben – vielfach nur mit den Verzierungen am Dach ihres Hauses beschäftigt sind. Es ist tatsächlich so: wir Deutsche sind wieder mit den Grundvoraussetzungen unseres Daseins als Nation beschäftigt: die einen, indem sie das Fundament nach neuen Gesetzen ordnen und umbauen, die andern, indem sie die Gefährdung von Grund­elementen befürchten, die sie für unentbehrlich halten. Es ist nicht jedermanns Sache, das Neue zu formulieren und dabei mit der gleichen Sicherheit das Gebäude vor den Hörer hinzustellen, wie das einige wenige zu tun vermögen. Je weiter man von der Spitze der Pyramide in deren Breite vordringt, desto mehr ist man nicht nur von dieser Spitze getrennt, sondern desto mehr Menschen wird man antreffen, die hinter dem Ideal der Formulierung allzu weit zurückbleiben. Anstatt Klarheit wird man dann leicht ein romantisches Zwielicht antreffen, anstatt vorbildlichem Geschmack, anstatt echtem Pathos, anstatt einfacher Ausdrucksweise, anstatt dem Verzicht auf alles Billige, – kurzum an Stelle der Askese klaren Denkens und nobler Formulierung wird man die ganze Skala der S c h w ü l s t i g k e i t, des Wortpomps und der Superlative vorfinden,



Sprache und Stil. 

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die zu den Erbsünden deutscher Rednerei und Schreiberei gehören und die sich immer dann einstellen, wenn der Deutsche, dem ein gewisses Maß sentimentaler Romantik nun einmal im Blute liegt, sich in Wort und Schrift zum Heroismus bekennt, den ihm die Aufgabe der Zeit abfordert und den die meisten b e s s e r z u l e b e n a l s i n W o r t e z u f a s s e n v e r s t e h e n. Uebertreibung und natürlich auch die Neigung zum Geschmacklosen (nicht ohne Grund bekämpft Herr Dr. Goebbels den Kitsch) haben sich zu allen Zeiten eingestellt, und dabei als hinderlich erwiesen. Treitschke*, der große Patriot, war es, den der Anblick nationalen Ueberschwanges so erzürnte, dass er niederschrieb, wenn man diese Kraftmenschen höre, so müsse man glauben, „dass beim nächsten Einfall der Franzosen die deutsche Turnerschaft nur eine einzige Bauchwelle zu schlagen brauchte, um den Feind zu zermalmen“. – Fürwahr, falsches Pathos und jenes Klar-sein sind unversöhnliche Gegensätze. Es paßt nicht in den erstrebten deutschen Lebensstil, auf seinen eigenen Heroismus oder auf das weiche Herz in der rauhen Hülle mit dem Finger zu zeigen, anstatt sich bewußt zu bleiben, daß alles wahrhaft Große am besten durch sich selbst wirbt. Wo aber dergleichen geschieht, erleben wir den Fall, daß der Mensch das natürliche Gleichgewicht seiner inneren Kräfte noch nicht gefunden hat, – somit, daß jene Klarheit noch nicht erreicht ist, die Adolf Hitler als wahres Kennzeichen deutscher Art empfindet, denn Klarheit ist unerreichbar ohne Gleichgewicht der Seele und ohne die Beherrschung ihrer Regungen durch die Kühle des Verstandes. Wenn man diesen Standpunkt anerkennt, verlieren die Fälle einen Teil ihrer Bedeutung, wo Redner oder Schreiber – vor allem diese – zwar eine Sprache, aber noch keinen gültigen Stil gefunden haben, denn hier ist Raum für Entwicklung. Die deutsche Seele ist noch immer bis in ihr Tiefstes erschüttert und aufgewühlt. Es gibt Unzählige, die hinausschreien möchten, was sie empfinden, Menschen, die echte Nationalsozialisten sind und solche, die es nicht sind. Der deutsche Mensch ist heute in diesem Sinne gleichzeitig Impressionist und Expressionist. Gewaltiges stürmt auf ihn ein, Gewaltiges möchte er dem Volk mitteilen. Sein Führer Adolf Hitler ist unablässig bemüht, ihm die zahllosen Gedanken und Gefühle nach großen Gesichtspunkten, vor allem nach der Idee der deutschen Volksgemeinschaft auszurichten und ihm Gedanken, Gefühle, Sprache und Stil zu vermitteln. Die politische Aufgabe läuft hier – ohne Abgrenzung – in das Reinmenschliche, ja Stilistische hinüber, dessen Ziel die Lebensform ist. Die Zeit, so darf man hoffen, wird jene „Klarheit“ bringen – und mit ihr die E i n f a c h h e i t in Wort und Schrift, im Denken und Fühlen. Es ist zum guten Teil eine Erziehungsfrage. Daß sie erkannt wurde, ergibt sich daraus, daß von berufenen Stellen ausgesprochen wurde, eine der wichtigsten Aufgaben der Schule im nationalsozialistischen Staat müsse es sein, die jungen Deutschen in ihrer eigenen Sprache zu unterrichten: sie ein g u t e s D e u t s c h zu lehren. Ein gutes Deutsch wird stets

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 Texte aus der Frankfurter Zeitung

ein klares und einfaches Deutsch sein. Das Schönste, was in deutscher Sprache je gesagt wurde, ist schlicht und gerade darum ergreifend gesagt worden. Eines freilich bleibt zu bedenken: All diese Dinge haben eine Skala zum Maßstab, die nicht für eine Oberschicht, Elite, Aristokratie, oder wie man es nennen will, gültig ist, sondern die sich eignet für eine Gemeinschaft von 65 Millionen. Um ihre Gefühle, ihr Denken, ihre Sprache, ihren Stil, ihren Geschmack handelt es sich. Nicht, was einem einzelnen unter uns genehm ist, was seinem Geschmack oder seiner Bildung zusagt, bestimmt in einem Massenstaat das Denken, Sprechen und Fühlen, sondern auf das kommt es an, was R e s o n a n z i m V o l k e findet, denn ohne Resonanz gibt es keinen Ton. Die Nation aber soll klingen! Was weiß der einzelne vom Volk? Das ist eine Frage, der wir heute auf Schritt und Tritt begegnen. Was weiß der Gebildete, der Wissenschafter, der Intellektuelle oder gar der Aesthet von den Gefühlen und Bedürfnissen der Massen, die das Wesen des heutigen Staates mehr bestimmen als je zuvor? Aber umgekehrt darf man bezweifeln, daß die Pathetiker und Superlativisten, auch wenn sie an sich eng mit breiten Volksschichten verbunden sind, immer den Ton treffen, der diesem Volk wahrhaftig gemäß ist. Und es war Adolf Hitler selbst, der in Nürnberg die Neigung zu „teutscher“ Gefühlsschwüle mit seinem Spott bedachte. Nur einem Instrumentenbauer von höchsten Graden kann es gelingen, aus dem spröden, aber köstlichen Holz einen Klangkörper zu machen, bei dem nicht nur ein paar dünne Obertöne, sondern der ganze Reichtum der Klangkraft unseres Volkes allmählich in harmonische Schwingung versetzt wird.

4 Dolf Sternberger [9. Januar 1936] Das arme C. Eine Position nach der anderen muß es preisgeben und dem triumphierenden K überlassen. Seine letzten Niederlagen waren besonders schmerzlich, weil die Stellungen, die geräumt werden mußten, so kräftig und durch Tradition gefestigt schienen. Cleve wurde vorigen Herbst durch Regierungserlaß zu Kleve, und seit dem 1. Januar gibt es – wenigstens für die Reichsbahn – kein Cochem und Castellaun mehr, sondern nur noch Kochem und Kastellaun. Cöln und Cassel sind ja schon längst vorausgegangen. Unerbittlich rückt das K vor, und je mehr es an Terrain gewinnt, desto geringer werden die Aussichten des C, sich auch noch in den verbleibenden Gebieten zu halten. Am Ende werden ihm nur noch die geheimen Schlupfwinkel bleiben, in welchen es sich lautlos verhält und mit einer unscheinbaren dienenden Funktion sich begnügt: im ch und ck. Der Kampf dauert schon Jahrzehnte lang, und bisweilen wird es von den Mannschaften, die das K befehligt, auch deutlich ausgesprochen, weswegen sie kämpfen: das C



Man nehme. 

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sei ein f r e m d e r E i n d r i n g l i n g. Nun ist hierüber schwer etwas Endgültiges auszumachen. Zwar steht es fest, daß das C, das aus dem griechischen Gamma entstanden ist, eine nicht weniger ehrwürdige, wenn auch wechselvollere Geschichte hat als das K, das sich seit den ältesten Zeiten immer gleichgeblieben ist, das aber seinerseits in der lateinischen Schrift nur eine höchst dürftige Rolle gespielt hat (wofür es sich heute rächt). Es steht ebenso fest, daß das C auch im Althochdeutschen seinen Platz durchaus noch behauptet hat, neben dem K. Erst später wurde sein Bereich mehr und mehr eingeschränkt. Es blieb bis auf unsere Tage ein eigentümlich römischer Geschmack an ihm haften, und indem es aus den Namen Cöln, Castel, Castellaun verschwindet, macht es für einen Moment die Physiognomie dieser Städte, die eben sämtlich römische Gründungen oder doch Neugründungen sind, um so deutlicher sichtbar. Das Element der römischen Cultur – diese Zuflucht lasse der Leser dem armen C für diesmal, hier ist es zu Hause – ist freilich gerade dieser Landschaft des deutschen Westens zu tief eingeprägt, als daß die Ausmerzung des C, dieses schönen geschichtlichen Denkmals der Antike, sie vergessen machen könnte. d. st.

5 Dolf Sternberger [11 Februar 1936] Man nehme. Daß vielen, ja den meisten von uns jene Natur, von der die moderne Naturwissenschaft handelt, so ungreifbar, fremdartig und geheimnisvoll erscheint, rührt von der fremdwortreichen Terminologie dieser Wissenschaften nicht so sehr her, als daß es sich in ihr ausdrückt. Geht man diesem System von fremden Namen mit der Absicht der Verdeutschung zu Leibe, so wird es deshalb höchst fraglich bleiben, ob diese Natur, die als Magnetismus und Elektrizität, als Gebäude von Molekülen und Atomen, Ionen und Elektronen sich darstellt, – ob diese Natur uns darum vertrauter, heimatlicher wird. Eine Kommission des „Deutschen Vereins zur Förderung des mathematischen und naturwissenschaftlichen Unterrichts“ hat sich dies Ziel gesteckt und kürzlich ihre Ergebnisse auf dem Gebiet der physikalischen Fachsprache veröffentlicht. Statt „Elektrizität“ beispielsweise schlägt sie vor: „Bern“ (wie in „Bernstein“) zu sagen, statt „Kristall“: „Formstein“. Zwar wird in vielen Fällen die Anschaulichkeit des Begriffs verstärkt, aber gerade diese Anschauung, die das deutsche Wort mit sich führt, kann fast ebenso oft irreführend wie klärend wirken. Immerhin läßt sich hier manches für und wider vorbringen, da es sich um Namen handelt, die zum guten Teil wenig mehr als Zeichen sind, mögen sie nun griechischen oder deutschen Ursprungs sein. Was soll man aber dazu sagen, wenn in einem Artikel* der Zeitschrift des deutschen Sprachvereins unter manchen anderen das Wort „Natur“ selber nicht

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 Texte aus der Frankfurter Zeitung

einmal bloß vorsichtig auf deutsch ausgelegt, sondern mit Ingrimm angeprangert wird! Ob es nicht der reine Hohn sei, fragt der Verfasser, daß das Volk des Gemüts und der Seelentiefe in diesem Punkt sprachliche Anleihen bei den Römern mache, (und er versieht die Römer obendrein mit einem eingeklammerten Ausrufungszeichen) „Gotteswelt, Unendlichkeit, Weltall, All, Lebensstrom“ – das seien Worte, die die deutsche Seele zum Schwingen brächten. Selbst „Mutter Grün“ klingt ihm angenehmer, weil inniger als jene, wie ihm scheint, so dürftige „Natur“. Um welchen Preis aber geschähe solche „Verdeutschung“: was für eine pompös harmlose Idylle wird hier aus der vielgesichtigen Natur, und auf was für einen Touristen-Pantheismus würde hier der Deutsche festgelegt werden! Derselbe Deutsche, dessen Naturforschung und Naturphilosophie zum größten Teil unter den Tisch fallen müßte, wollte man solche Verdeutschung mit rückwirkender Kraft einführen. „Oder man nehme“ – sagt der Verfasser jenes Artikels – „die nordische Vorstellung vom Welten- und Lebensbaum!“ „Man nehme“ – da liegt es. Der Vorkämpfer des wurzelechten Sprachguts hantiert mit Worten und Sprachbildern wie die Köchin mit den Zutaten zum Eierkuchen. Gut verrühren und dann in die heiße Pfanne geben. Die Sprache aber läßt nicht mit sich spaßen, denn Worte bedeuten Sachen und ein andres Wort eine andre Sache. Zuletzt gleicht solcher Kampf gegen Fremdworte ein wenig dem anderen, der einst gegen Windmühlen ausgetragen wurde.

6 Dolf Sternberger [15. März 1936] Vademecum für den Gebrauch von Sprichwörtern. Dolf Sternberger

Sprichwörtern eignet eine außerordentliche Faszination. Ohne Zweifel gehören sie zu den häufigsten und bedeutsamsten Mitteln, die wir besitzen, um uns gegenüber der stets neuen und anders andrängenden Erfahrung zu sichern. Sie bilden ein Arsenal fertiger Weisheiten, die, indem sie so vielfältigen Gebrauch erlauben, uns die Vorstellung einflößen, die Welt bleibe sich immer gleich, und wir kennten sie längst auswendig. Wer stets sein Sprichwort bereit hat, um im rechten Augenblick damit hervorzutreten, gilt meist oder hält sich doch selber gern für einen Mann, dem man nichts vormachen und dem der Lauf der Welt keine Ueberraschungen bieten kann. Sprichwortlehren mögen hundertmal durch die Erfahrung widerlegt werden – sie entziehen sich fröhlich allen Konsequenzen und kehren, Kobolden gleich, immer wieder. Nun ist gegen Sicherungsmaßnahmen der Vernunft grundsätzlich gar nichts einzuwenden, und unter einem gewissen Gesichtswinkel läßt sich die Entwicklung des menschlichen Geistes geradezu als ein beständiges Hervorbringen von



Vademecum für den Gebrauch von Sprichwörtern. 

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Sicherungen betrachten, die nach kürzerer oder längerer Zeit der Uebermacht der Umstände unterliegen, um neuen Sicherungen Platz zu machen. Diese Ansicht ist nicht einmal so banal, wie sie zu sein scheint. In dieser Welt heimisch zu werden, die ihr innewohnenden Gefahren wenn nicht abzuschaffen, so doch einzuschränken – macht dies nicht ein gutes Teil der Geschichte des Menschen in seiner Auseinandersetzung mit der Natur aus? Und jene andre Vorstellung, die vielfach heroisch genannt worden ist: den Stürmen des Schicksals Brust und Stirn zu bieten, Sicherung und Versicherung zu verschmähen und gefährlich zu leben – ist sie nicht selber eine andre Art von Sicherung, bei welcher aus der Not eine so sehr befriedigende Tugend gemacht wird, daß man dafür manches nähere oder fernere Ziel, das doch aller Mühe wert wäre, gerne aufopfert? Um aber auf die Sprichwörter zurückzukommen, so unterscheiden sie sich von den Weisungen der Philosophie wie von den Verheißungen der Religion wesentlich durch die Art ihrer Prägung: Es sind Aussagen über den Weltlauf, die weder an den Willen noch an den Glauben irgendwelche Anforderungen stellen, sondern lediglich diejenige Fähigkeit angehen und in Gang setzen, die man den gemeinen Menschenverstand nennt. Sehr oft scheinen sie einem skeptischen Beobachter in den Mund gelegt zu sein, aber ihre Skepsis enthüllt sich fast immer als gutartig, und so bitter die einzelne Erfahrung sein mag, die das Sprichwort, das schon auf dem Sprunge liegt, hervorlockt, – spricht man es vollends aus, so hat seine Allgemeinheit eine tröstliche Wirkung. Denn man fühlt sich aufgehoben in dem, was seit Jahrhunderten schon bekannt ist, und weiß sich einig mit einer langen Reihe von Generationen, die vor uns waren. Überdies scheint die besondere Lebenslage, in der man sich gerade befindet, durch die verblüffende Einfachheit der Bilder, die das Sprichwort auszeichnet, stets entwirrt zu werden, – und das gibt ihm den Charakter einer Art von Z a u b e r f o r m e l d e s g e m e i n e n M e n s c h e n v e r s t a n d e s. Ebendarin liegt es aber auch begründet, daß das Sprichwort im Gebrauch so sehr verschieden ausschlagen kann. Indem es vereinfacht, kann es ernüchtern und derart zum klugen Handeln befähigen. Es kann aber auch als falscher, vorschneller Trost geraten und zu einer Einschätzung der Dinge verleiten, die zwar bequem, aber völlig falsch ist und uns vor peinlichen Überraschungen keineswegs schützt. Deswegen ist es nötig, den Vorrat unserer Sprichwörter, die im privaten wie im öffentlichen Leben jeden Tag eine ebenso bedeutende wie unkontrollierbare Rolle spielen, von Zeit zu Zeit n e u d u r c h z u r ü h r e n. Dazu gehört vor allem, daß wir aus bloßen Sprachrohren zu Benutzern des Sprichworts werden, daß wir uns von seiner festgebackenen Weisheit nicht beherrschen lassen, sondern mit ihm nach unserm Willen umzugehen lernen, es auch biegsam und v a r i a b e l machen.

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 Texte aus der Frankfurter Zeitung

7 Dolf Sternberger [15. März 1936] I. Das heiße Essen. „Es wird nichts so heiß gegessen, als es gekocht ist.“ Annehmlichkeit und Skepsis liegen in diesem Worte schön ineinander. Es zeigt einerseits den Mut (den Nietzsche* forderte), „vom Menschen mit einer bedeutenden Ermäßigung seines Wertes zu denken“. Denn man schätzt die Kunst des Kochs, der hier supponiert wird, nicht eben sehr hoch ein, wenn man ihm nicht zutrauen mag, daß er das Essen so heiß auf den Tisch bringt, wie er es angerichtet hat. Solche Geringschätzung aber macht sich andrerseits alsbald bezahlt. Denn die Gäste, die bei Tische sitzen, haben – wenn anders das Sprichwort wahr ist – den Vorteil von der Unzulänglichkeit des Kochs: sie brauchen sich nicht die Zunge zu verbrennen. Dieser K o c h wird wohl meist als eine übergeordnete Persönlichkeit vorgestellt, mindestens mit solcher Macht begabt, daß wir ihr in ihrem Bereich, der Küche, nicht dreinreden und dreinpfuschen können. So wird der Koch zum sprichwörtlichen Stellvertreter für Väter, Lehrer, Machthaber und Instanzen aller Art, die etwas anzukündigen, anzudrohen und zu verfügen die Mittel haben. Das E s s e n, das er anrichtet, kann entsprechende Strafe, Prüfung, Gesetz und Exekution desselben bedeuten. Uns selber hingegen ist die durchaus passive Rolle der E s s e r zugedacht, die um den Tisch sitzen und erwarten, was verzehrt werden muß. Das S p r i c h w o r t will uns nun einreden, wir brauchten, während wir doch an den glühenden Herd und die brodelnden Töpfe in der verschlossenen Küche denken, gleichwohl für die Temperatur des Essens nicht zu fürchten. Seid nur still, habt keine Angst – so lautet seine Ansprache, während der Tisch noch leer ist – es wird n i c h t s so heiß gegessen, als es gekocht ist. Bei Lichte betrachtet, ist die Rolle, die wir da selber übernommen haben, recht kläglich. Zumal wir eben durch die anhaltende Predigt des Sprichworts, die uns so angenehm in den Ohren klingt, daß wir uns davon nicht loszureißen vermögen, abgehalten werden, zur Küche vorzudringen und uns daraufhin den Koch einmal näher anzusehen. Und zumal wir in dieser Lage, die das Sprichwort uns aufnötigt, obendrein gewärtig sein müssen, von ihm b e t r o g e n zu werden: mit einem Male kommt das Essen, die Töpfe werden geöffnet, und wir können vor lauter Hitze und Dampf eine ganze Weile nicht aus den Augen sehen. Diesen Moment pflegt dann das Sprichwort zu benutzen, um zu entwischen. Es ist einfach nicht mehr da, wie sehr wir auch hinter ihm dreinschimpfen mögen. Daran zeigt sich dann, daß es mit dem Koch in geheimem Bunde stand, als ein



Krähen untereinander. 

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falscher Tröster, der uns in die Falle gelockt hat. Es muß nicht, aber es kann doch so ausgehen, und es ist schon oft genug so ausgegangen. Bisweilen wird eben doch genauso heiß gegessen als g e k o c h t w u r d e. Es kommt ganz auf den Koch an und auf die Mittel, die er in seiner Küche zur Verfügung hat, um die Hitze in den Töpfen zu halten. Darum eben sollte man sich durch das Sprichwort nicht davon zurückhalten lassen, die Küche zu inspizieren. Wer das indessen getan hat und dabei gewahr geworden ist, daß die Deckel nicht schließen, oder – noch besser –: wer den Entschluß und den Verstand hat, den Koch auf seinem Wege von der Küche zum Tisch etwa durch eine List aufzuhalten, in die Töpfe zu gucken und bei dieser Gelegenheit einmal kräftig hineinzublasen, um die übermäßige Hitze zu vertreiben – der freilich, aber nur er, kann getrost in die Stube treten und es mit Bedeutung aussprechen: „H e u t e wird nicht so heiß gegessen als gekocht wurde.“ (wird fortgesetzt.)

8 Dolf Sternberger [22. März 1936] Krähen untereinander.

Vademecum für den Gebrauch von Sprichwörtern (II.) „Ach was“, hört man sagen, „seid nur getrost: E i n e K r ä h e h a c k t d e r a n d e r e n k e i n A u g e a u s.“ Oder aber: „Natürlich, das konnte man sich ja denken – eine Krähe hackt der anderen kein Auge aus.“ Das Wort hat also einen tröstlichen und beruhigenden oder einen bitteren und resignierten Klang je nachdem, ob der Sprecher den Nutzen oder den Schaden davon hat, daß Krähen untereinander so verträglich sind. Man wird nicht fehl gehen, wenn man in dem ersten Sprecher selber eine heimliche Krähe oder doch einen Anhänger der Krähen, in dem zweiten aber ihren Feind vermutet, – einen Feind, den es wurmt, daß er die nötigen Körner nicht zur Verfügung hat, mit welchen er Zwietracht unter jene säen könnte. So oder so ist das Sprichwort also weit entfernt, etwa auf die verträgliche Gemütsart oder den zivilisierten Sinn der Krähen zu bauen. Nein, es erblickt – skeptisch, wie es auch hier wieder ist – die Gewähr für das Verhalten der Krähen einzig darin, daß sie eben allesamt Krähen sind. Das heißt: Daß jede einzelne von ihnen zwar von räuberischer und selbstsüchtiger Natur ist, daß aber zwei oder mehr Krähen Dritten, etwa anderen Vogelarten, gegenüber vor allem ihr gemeinsames Interesse zu behaupten suchen werden, zumal sonst die Sicherheit jeder einzelnen von ihnen bald dahin wäre. Beide oben angeführten Benutzer des Sprichworts, der zufriedene wie der grämliche, haben also keine hohe Meinung

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 Texte aus der Frankfurter Zeitung

von den Krähen, insbesondere was ihre Gesellschaftsform anlangt. Daß sie sich nicht die Augen wechselseitig aushacken, ist – so setzen sie voraus – weder auf ein ausgebildetes Rechtssystem noch auf lebhaftes Mitgefühl, sondern einzig auf den V o r t e i l zurückzuführen, den sie davon haben, daß sie es nicht tun. Setzen wir aber nun einmal den Fall, zwei Krähen würden beim Beutemachen nicht von irgendwelchen belanglosen Spatzen gestört, sondern von einem G e i e r oder ich weiß nicht was für einem mächtigen Wesen überrascht, welches seinerseits Rechte auf die Beute geltend machte und darum obendrein die Räuber zu bestrafen gesonnen wäre. Ohne Zweifel werden beide Krähen fliehen. Nur eine von ihnen wird aber die Beute davontragen können, wenn nicht beide ihr räuberisches Gelüst verleugnen und die Beute im Stich lassen wollen. In solcher höchsten G e f a h r, wo es nicht mehr bloß um Körner oder dergleichen, sondern überdies um das eigene Leben geht – liegt es da nicht sehr nahe, daß die eine der andern geschwind ein Auge aushackt, damit der Geier nicht allen beiden, während sie noch am Brocken zerren, den Garaus mache? – So weiß man ja zum Beispiel von den amerikanischen Gangsters, daß konkurrierende Banden schlechter untereinander stehen als jede einzelne von ihnen mit der Polizei. Und daß die Polizei, welche also in unserem Bilde durch den Geier vertreten wäre, bisweilen geradezu darauf baut, daß diese Krähen einander womöglich mehr als ein Auge aushacken. Wie die Krähen in dem angenommenen Falle, so haben eben auch die Gangsters ein so gefährliches Geschäft, daß ihre Selbstsucht nicht mehr von der Gemeinsamkeit ihres Interesses aufgewogen wird. Ebensogut läßt sich umgekehrt ein Zustand ausdenken, in dem die Krähen selber alle M a c h t über den Bereich der Stoppelfelder auf sich vereinigt haben, indem sie alle übrigen Vögel, die zuvor hier umherpickten, sei es durch Gewalt, sei es durch List ausgerottet hätten. Auch in diesem Falle werden sie, da kein gemeinsamer Feind sie mehr davon abhält, sicherlich sehr bald Gelegenheit und Neigung genug finden, einander die Augen auszuhacken, mag es nun vielleicht auch nur um das winzigste Körnchen gehen. Wobei man wiederum nur die eine Voraussetzung beibehalten muß, daß die Krähen Krähen bleiben und ihre räuberische Natur nicht von Grund aus ändern. Aber warum sollten Krähen gerade auf dem Gipfel ihrer Macht und Sicherheit zu Tauben werden? Daraus folgt, daß es für den rechtmäßigen Gebrauch dieses Sprichworts eine obere und eine untere Grenze gibt. Nur dann ist es vollkommen wahr, wenn sowohl die Gefahr, mit der die Krähen bei ihrer Lebensweise zu rechnen haben, als auch die Sicherheit, die sie genießen, und die Gewalt, die sie in ihrem Felde ausüben, ein gewisses m i t t l e r e s M a ß nicht übersteigt. Wird eine der beiden Grenzen überschritten, so wird die Barbarei, die in der Kultur dieser Sprichwortkrähen ja stets latent vorhanden ist, offen ausbrechen. Der zufriedene Sprecher des Sprichworts wird, da er sich den Krähen heimlich verschrieben hat, mindes-



Blick der Liebenden. 

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tens in große Aufregung geraten. Der grämliche Sprecher aber wird triumphieren – wenn anders er überhaupt noch existiert. Denn dieser hat – so kann man annehmen – entweder längst das Weite gesucht oder ist seiner eigenen Resignation zum Opfer gefallen. Dolf Sternberger.

9 Dolf Sternberger [5. April 1936] Blick der Liebenden.

Vademecum für den Gebrauch von Sprichwörtern. (III.) Meist sagt es ein alter Schulkamerad des Mannes, der sich soeben verliebt oder gar verheiratet hat: „Ich weiß nicht, was er an dieser Frau findet, sie ist weder intelligent noch besonders hübsch, und über ihren Charakter wollen wir schon gar nicht reden, – man kann‘s nicht ändern: L i e b e m a c h t b l i n d.“ Und er wendet sich resigniert ab, überzeugt, daß er den Freund so bald nicht wieder allein zu fassen kriegen wird, und gewillt, sich den Einladungen des jungen Paares so oft als möglich durch Ausflüchte zu entziehen, die vielleicht nicht einmal ganz ungern gehört werden. Seine Resignation wird freilich in den seltensten Fällen vollkommen und endgültig sein, denn die geheime, aber sichere Hoffnung, daß auch für ihn wieder bessere Tage kommen werden, hält ihn davon ab, sich grimmiger Menschenverachtung anheimzugeben. Wer gewiß ist, daß Liebe blind mache, hat den mit solcher Blindheit Geschlagenen noch lange nicht aufgegeben. Denn e s i s t j a n u r die Liebe, die blind macht – so denkt er im stillen –, und die geht vorüber. Die Gewohnheit aber wird ihn eines Tages schon wieder sehend machen, und ich kann’s abwarten. Oft genug wird einem solchen Kenner der menschlichen Leidenschaften der Freund, der geheiratet hat, nach einigen Monaten schon bei sich selber und nach einigen Jahren auch offen recht geben. Dann nämlich, wenn er wieder anfängt, allein auszugehen und sich im Wirtshaus oder Café mit den alten Schulkameraden zu treffen, gereift an Einsicht und Erfahrung, wie er meint. Dann scheint alles beglichen, und die Wahrheit außer Zweifel. Dies späte Einverständnis des Ehemannes beweist indessen gar nichts. Schon darum nicht, weil er, den die abgelaufene Zeit so vergeßlich hat werden lassen, am wenigsten befugt ist, über die Liebe etwas auszusagen. Es kann sich ja auch so verhalten, daß er vordem als Liebender sehend gewesen und nun durch Gewohnheit erst blind geworden ist. Daß sein Ueberdruß nicht in der Erkenntnis, sondern seine – ach wie zweifelhafte – Erkenntnis im Ueberdruß begründet ist. Ueberdruß aber ist eine Folge von Faulheit. Ein Liebender, der faul und bequem wird – man erkennt ihn unzweifelhaft an den deklamatorischen Versicherungen,

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 Texte aus der Frankfurter Zeitung

die er über gebrachte Opfer und dergleichen abgibt –, hat es schon satt, selber zu lieben. (Denn die Liebe ist zwar heiter, aber doch kein bloßer Spaß.) Und wenn er es satt hat und wenn er satt ist, dann glaubt er, sehend zu werden, – während der Satte sonst zwar nicht gerade blind, aber doch schläfrig zu werden pflegt. Ueber all das aber, was er vordem mit dem frisch aufgetanen Blick des Liebenden entdeckt und erkannt hatte – all die tausend kleinen Mienen, Gebärden und Regungen nämlich des geliebten Wesens, welche jener Schulkamerad mit seinem Sprichwort im Munde oder vorm Kopf niemals hätte sehen können – über all das hat sich dann ein anfangs dünner, später immer dichter werdender Schleier gesenkt. D i e L i e b e m a c h t e i h n s e h e n d, seine Faulheit machte ihn blind. Es gibt allerdings einen Fall, in dem das Sprichwort gleichwohl zu Recht gebraucht werden kann: dann nämlich, wenn Liebe und Faulheit zusammenfallen oder die Liebe der Faulheit entstammt. Wer – sei es aus Selbstgefälligkeit, sei es aus Unsicherheit – einzig zu dem Zwecke liebt oder zu lieben vorgibt, um selber mit Liebe bedient und gestärkt zu werden, den freilich macht Liebe blind. Er pflegt sich auf seine Verdienste, seine Arbeit und vorzüglich seine Leiden zu berufen, und fordert Liebe zum D a n k dafür. Hier gilt‘s. Hier ist aber nicht an irgendeinem Dritten, sondern an dem derart falsch geliebten Wesen selber, aufzustehen und zu sprechen: S o l c h e Liebe macht d i c h blind. Diesem Blinden kann der Star nur unter großen Schmerzen gestochen werden. Dolf Sternberger.

10 Dolf Sternberger [28. April 1936] Zwischen A und B.

Vademecum für den Gebrauch von Sprichwörtern IV. „Wer A sagt, muß auch B sagen“ ist ein Sprichwort, daß sich von der großen Masse der übrigen dadurch unterscheidet, daß es keinen Trost zu spenden, sondern eine harte Notwendigkeit aufzurichten scheint. Eine Art Naturgesetz wird hier herangeführt, und es geschieht mit einer Bestimmtheit, die jede Widerrede ebensosehr ausschließen will, wie das Naturgesetz jede Ausnahme ausschließt. Indessen steht es doch nicht einfach in den Sternen geschrieben, daß auch B sagen müsse, wer A gesagt hat. Vielmehr ist, wie allgemeingültig es daherkommen mag, das Sprichwort auch hier nichts ohne den, der es spricht. Das Wörtchen „muß“ verrät es, daß solch ein Naturgesetz für sich selber auf recht schwachen Füßen stünde, wäre da nicht einer, der ihm seine eigenen Füße liehe. Dieser verbirgt sich hinter dem Pomp solcher Allgemeingültigkeit und trägt den Satz als eine gewaltige Vermummung einher, nicht anders, wie jene Riesenfiguren im Maskenzuge, deren wahre Substanz man auch nur an den unten hervorschauenden Socken und Hosenenden erkennt.



Zwischen A und B. 

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Solch ein Socken ist hier das Wörtchen „muß“. An ihm verrät sich der verkappte Drängler, der es nämlich selber wünscht und will, und der noch einen Stoß dazu gibt, daß denn auch wirklich B gesagt werde. Man packe ihn bei diesem Socken, und man wird bald erfahren, warum ihm soviel daran gelegen ist, daß ringsum B gesagt werde: weil er selber schon längst B – und nicht allein B, sondern auch C und D und E und F und so das ganze Alphabet heruntergesagt und durchgebetet hat und kein anderes mehr zu sprechen versteht als eben dieses. Und weil es ihm darum unerträglich wäre, wenn andere ein anderes Alphabet benutzten. So gibt er das seinige eben für das allgemeine aus, als ob niemand sich dem entziehen könnte. Er gibt sich nüchtern und logisch, und seine Ueberredungskunst ist ebenso trocken wie sanft. Im Innern aber fiebert er vor Spannung und lauert nur darauf, daß sein B dem andern aus dem Munde komme. Dies sein Alphabet ist aber in Wahrheit keineswegs das allgemeine. Es beginnt nämlich gar nicht mit dem A, sondern mit dem B. Was ist ihm das bloße A? Das A allein gilt ihm gar nichts (obgleich er laut und öffentlich vorgibt, es sei Anfang und Verpflichtung). Auf das B-Sagen kommt’s ihm an, und erst wenn das B gesagt ist, hat er seine Lust gebüßt und kann sich ausruhen. Erst dann schaut er getrost in die Zukunft, weil er weiß, daß das C und das D und das E und das F und all die andern immer rascher hervorsprudeln werden und gar nicht mehr aufzuhalten sind. Das A ist nur der Köder, den er auswirft, wartend, daß er mit dem Netze des ganzen restlichen Alphabets den Anbeißenden einfange. „Du hast A gesagt“ redet er uns an, „nun sei ein Mann, beweise Konsequenz und Charakter und sage auch B!“ Das A findet er immer irgendwo in der Vergangenheit des derart Angesprochenen, er stellt ihn zwischen dieses supponierte A und das postulierte B und redet ihm ein, es gebe gar keine andre Wahl als eben B, wolle jener nicht ein Stümper bleiben. Hier, zwischen A und B, ist der Moment, wo es aufzumerken und wachsam zu sein gilt. Man lasse sich nicht irremachen, blicke nicht scheu und scheel nach dem Sprecher, sondern forsche zuerst genau nach, ob man denn wirklich A gesagt hat, und selbst wenn man es gesagt hat, ob es dies selbe A ist, das der Sprecher meint, dieser locker baumelnde Köder am Netze seines Alphabets. Denn dieses sieht dem andern zwar zum Verwechseln ähnlich, ist aber doch nur ein nachgemachtes, falsches A, das die peinliche Lücke seines Alphabets (welches ja mit dem B beginnt) zu verdecken und zu verheimlichen dient. Es ist das höchst unvernünftige A l p h a b e t d e s S a t a n s, und das fehlende A das Pendant zum Pferdefuß. Zwischen A und B aber liegt die menschliche F r e i h e i t, die es uns ermöglicht, die Buchstaben nach unserem Sinn zusammenzusetzen. Zu Worten, die den Ohren des Verführers nicht so angenehm und harmonisch klingen werden wie die Leier des B C D E F, die er uns entlocken möchte. Dolf Sternberger.

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11 Dolf Sternberger [3. Mai 1936] Das Asyl der Wahrheit.

Vademecum für den Gebrauch von Sprichwörtern V. Die mehrfach bemerkte Skepsis des Sprichwortes scheint in diesem einen Höhepunkt zu erreichen: „K i n d e r u n d N a r r e n s a g e n d i e W a h r h e i t.“ Wird die Wahrheit Kindern und Narren überlassen, so mag es zwar um die Wahrheit recht gut, so muß es um die Erwachsenen und Verständigen aber hoffnungslos bestellt sein. Kinder und Narren sind die Hauptsorten von Außenseitern der menschlichen Gesellschaft, zu welcher sich jedermann gerne rechnet, der erwachsen und bei rechtem Verstande zu sein sicher ist. Kinderland und Narrenland sind zwei Enklaven auf der Landkarte dieser Gesellschaft, wohin man Sonntag nachmittags bei schönem Wetter von Zeit zu Zeit einen vergnüglichen Spaziergang unternimmt. Gut ausgeruht und bei muntrer Laune sieht man dann zu, wie die Bewohner dieser seltsamen Gegenden, welche gleichsam unter Naturschutz stehen, umherspringen und die Wahrheit sagen. Die Empfindungen, die die erwachsenen und verständigen Zuschauer hierbei hegen, sind sehr gemischter Art. Eine gewisse wehmütig-verliebte Sehnsucht nach solchem Paradiese vereinigt sich mit dem lebhaften Amüsement darüber, daß Kinder und Narren so kindisch und närrisch sind, die Wahrheit zu sagen. Läßt sich aber einmal einer der Ausflügler selber, was zuweilen geschieht, hinreißen und mischt sich unter die Kinder und Narren, um wie sie die Wahrheit zu sagen, so wird man es alsbald erleben, daß die Umstehenden ihn düster grimmig anfahren. „Weißt du nicht, wohin du gehörst? Siehst du nicht, daß es die Sache der Kinder und Narren ist, die Wahrheit zu sagen? Entweder bist du ein Kindskopf oder ein Idiot!“ Obwohl solche Ausflüge ins Kinder- und Narrenland derart eine gewisse Gefahr mit sich bringen, und obwohl der Heimweg unter Umständen nicht in eben derselben strahlenden Sonntagslaune vonstatten gehen wird wie der Abmarsch von Hause, hat man doch selten davon gehört, daß die Erwachsenen und Verständigen ganz auf die süße Gewohnheit dieser Spaziergänge verzichten möchten. Die Gründe für ihre Beibehaltung sind nicht ganz leicht zu ermitteln. Es scheinen aber vornehmlich diese zwei zu sein: Würde man die Ausflüge aufgeben und die Kinder und Narren vollends sich selber überlassen, so müßte man fürchten, daß jene ihre Asyle verlassen und die Erwachsenen bei sich zu Hause aufsuchen, und dies könnte auf die Dauer sehr störend werden. Zweitens ist es tröstlich, sich ab und zu dessen durch Augenschein zu versichern, daß es noch Kinder und Narren gibt, und daß also die Wahrheit noch gesagt wird. Aber freilich: keiner, der das Sprichwort gebraucht, möchte selber ein Kind oder ein Narr sein. (Umgekehrt gebrauchen weder Kinder noch Narren das Sprich-



Nötige Bemerkung. 

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wort, denn sie haben es nicht nötig.) Es liegt somit eine bedeutende Entlastung für die Erwachsenen und Verständigen darin, daß – wie es im Sprichwort heißt – Kinder und Narren die Wahrheit sagen. Auf solchen geordneten Verhältnissen beruht es, daß, wer bei Verstande ist, auch „bei Troste“ ist. Jenes kleine Kind, das in Andersens Parabel von „des Kaisers neuen Kleidern“ endlich den Ausruf tat, den alle Erwachsenen und Verständigen zurückhielten – den Ausruf: „Der Kaiser ist ja nackt!“ –, jenes Kindlein befreite das ganze Land von dem Bann, der auf ihm gelegen und der allen seinen Bewohnern das Zutrauen zu sich selbst genommen hatte. Dieser Ausruf war wie eine Stecknadel, mit der man eine noch so riesengroße Blase aufsticht. Er befreite also nicht nur die andern Kinder und Narren, sondern vor allem gerade die Erwachsenen und Verständigen, die sich nicht selber hätten befreien können, den Kaiser und seine Minister mit eingeschlossen. Es mag vielleicht wundernehmen, daß das Kindlein eine so bedeutende Wirkung hervorbrachte, und vor allem, daß man ihm nicht sofort den Mund gestopft hat. Aber das erklärt sich leicht aus dem Umstande, daß Andersens Geschichte ja ein Märchen heißt. „Was tut Gott: die ganze Geschichte ist nicht wahr.“ Märchen handeln aber fast immer davon, daß ein Zauber gelöst wird und der Mensch frei und glücklich hervorgeht. Von der großen Märchenhoffnung auf endliche Befreiung durch die Wahrheit und also durch ein Kind oder einen Narren – von dieser Hoffnung ist auch im Sprichwort noch eine schwache Spur enthalten. Bei aller Selbstgenügsamkeit der Erwachsenen und Verständigen, die ihm innewohnt, erkennt es immerhin eine Instanz an, die stellvertretungsweise sich damit beschäftigt, die Wahrheit zu sagen. Eine Instanz freilich, über die man, das Sprichwort im Munde, lachend sich jederzeit hinwegsetzen kann, ohne befürchten zu müssen, daß man damit aus dem allgemeinen Rahmen fiele, Im Gegenteil: eher wird man, spricht man es aus, den vergnügten Beifall aller übrigen Erwachsenen und Verständigen finden. So liegt die W a h r h e i t in diesem Sprichwort zwar im Grabe, aber doch nur halb. Halb schaut sie auch daraus hervor. Sie gleicht jenen Toten auf den alten Bildern, die im Begriffe sind, sich aus ihren Särgen zu erheben, während die Posaunen des Jüngsten Gerichts ertönen. Dolf Sternberger.

12 Dolf Sternberger [10. Mai 1936] Nötige Bemerkung

zum Vademecum für den Gebrauch von Sprichwörtern. Einige Briefe, die bei dem Verfasser des Vademecums eingegangen, und Urteile, die ihm mündlich zugetragen worden sind, lassen es angezeigt erscheinen, die Absicht dieses Versuchs zur besseren Verständigung noch einmal zu erläutern.

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 Texte aus der Frankfurter Zeitung

Manche haben es bedauert, daß dies oder jenes Sprichwort, das ihnen lieb war und mehr bedeutete, nicht so gut weggekommen ist, wie sie es gern gesehen hätten; sie glaubten es mißhandelt. Andere wiederum haben (so sonderbar es klingen mag) eine Art von geheimer Erleuchtung in einer der bisher veröffentlichten Auslegungen entdecken wollen. Von beidem ist das Vademecum seinem Zwecke nach gleich weit entfernt. Es will ein Generalangriff auf den Alltagsverstand – welcher sich in Sprichwörtern ausdrückt – ebensowenig sein wie eine Kundgabe tiefer und außerordentlicher Erkenntnisse. Daß freilich die verschiedenen Sprichwörter auch einen unterschiedlichen Akzent bekommen, ist nicht zu hindern. Denn es gibt unter ihnen gute und weniger gute, schlechte und weniger schlechte. Die meisten zählen zu den Gattungen der weniger guten und der weniger schlechten. Dies stellt sich aber immer erst im G e b r a u c h e heraus und kann nicht ohne Rücksicht auf den Gebrauch und den Sprecher des Sprichworts behauptet werden. Was man also einem Sprichwort zum Lobe sagen kann, ist vorab dies: daß es sich gut gebrauchen lasse. Aus diesem Grunde ist der Verfasser des Vademecums stets bestrebt, auf die verschiedenen Möglichkeiten des Gebrauchs zu achten und, wo es irgend angeht, zum guten Gebrauche anzureizen. In den seltensten Fällen läßt sich ein Sprichwort in Bausch und Bogen abtun. Denn es ist kein Zweifel: an allem ist etwas Wahres daran. (Man wird hier das „Wer A sagt, muß auch B sagen“ entgegenhalten: es bleibt dabei, daß darin das Alphabet des Satans gesprochen wird – im gewöhnlichen Gebrauche; aber es ist sehr wohl möglich, daß auch dieser Satz, wendet man ihn nur gehörig um und um, in irgend einer Variation noch etwas Wahres hergibt.) Um aber Sprichwörter richtig zu gebrauchen, müssen wir sie uns zuvor gefügig machen. Dieser Satz klingt ebenso einfach, wie seine Verwirklichung mühselig ist. Denn für gewöhnlich haben wir, indem uns das Sprichwort aus dem Munde geht, auf unseren eignen Verstand schon Verzicht geleistet. Die Herrschaft des Sprichworts aber beruht auf Usurpation. Ihr Zeichen, die Würde des Naturgesetzes, ist erborgt und falsch. Es gilt also – und nichts anderes ist die Absicht des Vademecums –, das Sprichwort dieser falschen Würde zu entkleiden und es uns dienstbar zu machen. Erst wenn wir es zu v a r i i e r e n verstehen, gebrauchen wir es wirklich. Daß die Versuche, diesen Zweck zu erfüllen, überdies noch vielen Lesern zu einer angenehmen Unterhaltung dienen, ist eine Wirkung, die dem Verfasser durchaus nicht schädlich erscheint. Nach dieser nötigen Bemerkung folgt das sechste Stück des Vademecums, das mit einem neuen Beispiel von Variation schließen wird. Es handelt von dem Satze:



„Ende gut, alles gut“. 

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13 Dolf Sternberger [10. Mai 1936] „Ende gut, alles gut“. Dies mag mit einem Seufzer freudiger Erleichterung ausgesprochen werden von Leuten, welche Zeugen eines gewagten und sie, die Zuschauer, in Atem haltenden Unternehmens gewesen sind. Nun der Erfolg sicher ist, wird aller Aerger und alle Aufregung, die man zuvor hatte erleiden müssen, gern vergeben und vergessen. Es mag aber auch von dem Handelnden selber nach vollbrachter Tat denjenigen Kritikern entgegengehalten werden, die auch jetzt noch nicht darauf verzichten wollen, an dem oder jenem Mittel zu mäkeln, obwohl es zum Erfolg verholfen hat. Was wollt ihr? – spricht dieser – der Erfolg gibt mir ja recht, Ende gut, alles gut. Die Ueberzeugungskraft, die das Wort derart im Munde des Glücklichen und Erfolgreichen hat, ist groß. Daher wird es vielen seiner Zuhörer, ja dem Sprecher selbst, entgehen, daß diese Selbstrechtfertigung mit Hilfe eines T r i c k s zuwege gebracht wird. Das „Ende“ heißt nämlich gut, weil es gut bekommt. Das „alles“ indessen – alles, was vorherging und zu diesem Ende führte – wird gar nicht daraufhin angesehen, ob es gut bekommen ist, gar ob es allen gut bekommen ist. Sondern „alles“ wird gut geheißen, weil das Ende gut bekommt. Und umgekehrt wird das Ende nicht daraufhin angesehen, ob es gut ist, sondern man läßt sich daran genügen, daß es eben gut bekommt. Der Trick besteht also in der hurtigen Glätte dieses Satzes, in seiner abgekürzten Form. Würde man es umständlicher ausdrücken, so würde die Täuschung offenbar. „Bekommt das Ende gut, so war alles gut“: das leuchtet nicht entfernt so leicht ein. Auch werden dieselben Leute, die zuvor so zufrieden waren und im Triumph des guten Endes sich sonnten, sich jetzt alsbald zerstreuen, denn sie werden kaum den Ruf auf sich nehmen wollen, Z y n i k e r zu sein. „Alles“ wird hier von der erwähnten Sonne des Triumphs rückwärts beglänzt, einer künstlichen Sonne, die überdies die Umstehenden blendet. Gibt das Ende aber kein Licht, so pflegen merkwürdigerweise mindestens die Handelnden (aber auch viele Zuschauer) keineswegs so schnell bereit zu sein, darum auch „alles“ im Dunkel zu belassen. „Ende schlecht, alles schlecht“ – wie doch das natürliche Pendant zum Sprichwort lauten müßte – hat man noch selten gehört. Im Gegenteil versucht man in diesem Falle meist, das ausgebliebene Licht auf andere Weise zu beschaffen und wenn nicht „alles“, so doch einiges zu rechtfertigen und gut zu heißen, o b w o h l das Ende schlecht bekommt. Nach einem Mißerfolge strebt jedermann, die guten Absichten hervorzukehren, die er doch gehabt habe. Man betrachtet also diesmal „alles“ ganz unabhängig vom „Ende“ und läßt es sich sehr angelegen sein (wenn anders man aus dem schlechten Ende mit dem Leben

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 Texte aus der Frankfurter Zeitung

davongekommen ist), den Satz zu erweisen: War auch das Ende schlecht, so war doch keineswegs alles schlecht. Es läßt sich also alles sehr wohl auch für sich betrachten und prüfen, ganz unerachtet des Endes, zu dem alles führt. Prüfen wir denn alles, möglichst schon ehe das Ende da ist, und vergessen wir nicht die Ergebnisse dieser Prüfung, wenn es da ist! Währenddessen können wir des einen sicher sein (und das ist die angekündigte Variation): Alles gut, Ende gut. Dolf Sternberger.

14 Dolf Sternberger [26. Mai 1936]

Der stolze Dumme und der dumme Stolze.

Vademecum für den Gebrauch von Sprichwörtern VII. Ein kräftiges Wort, das böse dreinfährt: D u m m h e i t u n d S t o l z w a c h s e n a u f e i n e m H o l z. Auf dem Holze der menschlichen Natur nämlich. Gemeinhin kommt uns das Wort freilich nur dann über die Lippen, wenn der stolze Dumme vorübergeht, aufgebläht und selbstgefällig lächelnd – der, dessen Dummheit offenkundig und dessen Stolz nur die Maske dieser seiner Dummheit ist. Der „stolziert“ im hellen Lichte der Straße einher, und das Sprichwort wird im Dunkel hinter dem Fenster gesprochen, hämisch und voll Ärger über solch gespreiztes Wesen. So findet es sich leicht im Munde der Vergrämten und Übergangenen – weswegen es freilich nicht weniger wahr ist. Bloß ist auch diese Wahrheit meist ohnmächtig, mindestens gegenüber jenem stolzen Dummen, denn er müßte nicht dumm sein, wenn er sich kritisieren oder belehren, wenn er sich die Maske des Stolzes herunterreißen ließe. Nein, die sitzt fest – und darum ist das Sprichwort nach dieser Seite hin ebenso giftig wie resigniert. Wer es so verwendet, hat die Hoffnung schon aufgegeben, wahrscheinlich nicht nur die Hoffnung, die sich an den oder jenen Menschen knüpft, sondern die Hoffnung auf eine Wendung zum Besseren im Lauf der Welt überhaupt. Deswegen, weil jener vorbeiwandelnde Dumme – in dessen Figur sich ihm der Weltlauf konzentriert und personifiziert darstellt – nicht auf seine Dummheit stolz ist, sondern auf seinen E r f o l g in der Welt. Der hämische Betrachter hinter dem Fenster wird aber stets geneigt sein, diesen Erfolg eben der Dummheit zuzuschreiben. Auf seine Dummheit selber kann der stolze Dumme schon darum nicht stolz sein, weil er sie nicht kennt. Dazu ist der Dumme eben zu stolz, daß er sich eingestünde, dumm zu sein. Das wäre der stolze Dumme. Das Sprichwort hat aber noch ein anderes Ziel, auf das es nicht minder gut sich abschießen läßt: den dummen Stolzen. Und hier besteht begründete Aussicht, daß der Pfeil tiefer eindringt und womöglich eine



Der stolze Dumme und der dumme Stolze. 

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heilsame Wunde verursacht als bei jenem stolzen Dummen, der ein viel zu dickes Fell hat, als daß er je dergleichen zu spüren vermöchte. Dummheit und Stolz wachsen auf einem Holz – das kann auch heißen: Guter Freund, dein Stolz läßt auf Dummheit schließen! Oder: es ist dumm von dir, stolz zu sein! Wäre es nicht besser, du würdest bescheiden? Man wird stolz, wenn man dumm ist – hieß es zuvor und heißt es für gewöhnlich. Jetzt heißt es: es ist dumm, stolz zu sein. Der Stolze ist nur darum stolz, weil er dumm ist. Wäre er nämlich gescheit, gar weise, so sähe er, daß kein Anlaß besteht, stolz zu sein. Von hier aus fällt denn auch ein helleres Licht auf die vorige und gewöhnliche Art des Gebrauchs dieses Sprichworts. Denn es zeigt sich, daß ebensosehr der Dumme einzig und allein darum dumm ist, weil und sofern er stolz ist. Wäre er nämlich bescheiden, so wäre dies bereits das erste Zeichen von Einsicht, und das dicke Fell, die Schwarte seiner Dummheit, begänne zu zergehen an der Sonne dieser Einsicht. Kurz: Dummheit ohne Stolz ist gar nicht mehr Dummheit, sondern allenfalls Unwissenheit oder Einfalt. Und diese geht ja gerade mit der Bescheidenheit oder Demut einher nicht anders wie die Klugheit. Und Stolz ohne Dummheit ist auch kein Stolz, kann es nicht sein, sondern allenfalls Diskretion oder Souveränität. Nun ist noch dieser komplizierte Fall zu erörtern, der dann vorliegt, wenn jemand sich selber für zu dumm erklärt, um dies oder das zu verstehen. Er scheint und gibt sich bescheiden, ist aber in Wahrheit gerade stolz, und man kann Gift darauf nehmen, daß er diese Dummheit, die er sich laut attestiert, im stillen bei sich selber als eine ganz besondere Klugheit versteht und übersetzt. Und an diesem Stolz, als der sich seine vorgebliche Bescheidenheit enthüllt, ist unzweideutig zu erkennen, daß er dumm ist. Er sagt, er sei dumm, und er ist es trotzdem wirklich. Eben deswegen wird es ihm stets sehr unangenehm sein, wenn man‘s ihm aufs Wort glaubt, was er sagt. Die Probe darauf kann man jederzeit machen, wenn man mit dergleichen Leuten zu schaffen hat und dieser Redewendung begegnet. Das ist der dritte, der zum stolzen Dummen und zum dummen Stolzen hinzukommt: der dumme Dumme. Man sage es ihm auf den Kopf zu, dann ist er der Dumme. Dieses Sprichwort ist also, obgleich es so oft von Ohnmacht eingegeben wird, von höchster Moral. Es brandmarkt die Dummheit als das, was sie ist, ein Laster. Sie ist das Laster des Stolzes, der Selbstgerechtigkeit. Dies eine Holz abzusägen, ist die größte, schwierigste und edelste Arbeit unseres Gewissens. Sie bleibt es, selbst wenn man dabei die Entdeckung machen sollte, daß es das Holz des Astes ist, auf dem wir sitzen. An diesem Sprichwort gibt es nichts zu variieren. Dolf Sternberger.

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 Texte aus der Frankfurter Zeitung

15 Dolf Sternberger [7. Juni 1936]

Aller Tage Abend.

Vademecum für den Gebrauch von Sprichwörtern. VIII. Der Schauer der Endzeit und der letzten Dinge scheint uns anzurühren, indem wir dieses Sprichwort hören: Es ist noch nicht aller Tage Abend. Denn „aller Tage Abend“ – das ist das Ende der Welt, das Ende der Zeit. Die letzte Dämmerung, nach der kein neuer Tag mehr anbricht und die, herniedersinkend, alles Tagewerk, Mühen, Streben, alle Umwälzungen, Triumphe und Niederlagen des menschlichen Geschlechts vergessen und vergangen macht und in ein Dunkel hüllt, das sich nicht mehr lichten soll – diese letzte Dämmerung wird hier beschworen. Zu welchem Ende aber? Vorab und für gewöhnlich zum T r o s t e. Laß dich nicht so sehr bedrücken von den Sorgen dieser Tage – so ist die Meinung dessen, der das Sprichwort im Munde führt –, es wird sich auch dieses Blättchen wenden, es geht alles vorüber, warte nur ein Weilchen, es ist noch nicht aller Tage Abend! Die Geduld, die hier gepredigt wird, soll – mag es, sie zu bewahren, leicht oder schwer fallen – ihre Hoffnung aus dem Umstand ziehen, daß alles Irdische vergänglich ist. Der so rät, hat vielleicht Anzeichen bemerkt, gute oder schlechte Gründe für die Annahme ermittelt, daß Veränderungen bevorstehen. Gleichwohl kann er doch mit diesem Sprichwort bestenfalls nur eine Art von chinesischer Gemütsverfassung hervorbringen. Etwa nach dem Muster jener „drei gelben Alten“, von denen im chinesischen Märchen erzählt wird, sie hätten es in der Selbstabtötung und Weltabgewandtheit so weit gebracht, daß ihnen auf der Insel, wo sie seit unvordenklichen Zeiten sitzen, die Käfer und Würmer zum einen Ohre herein- und zum anderen wieder hinauskriechen können, ohne daß sie es nur wahrnähmen. Denn wenn dies, die gegenwärtigen Sorgen, vorübergegangen und andere Tage, bessere Tage für den also Getrösteten angebrochen sein werden, so wird es auch dann, in der Epoche s e i n e s Glücks, ja unverändert gelten: es ist noch nicht aller Tage Abend. Dann freilich wird er es nicht so gerne hören, und wenn es dennoch – nun von einem entweder hämischen und mißgünstigen oder auch von einem weise mahnenden Genossen dieser Zeit – ausgesprochen wird, so mag der Trost von vordem sich nun leicht in D r o h u n g verwandeln. Gib nichts darauf (heißt es nun), daß es dir gut geht und du ans Ziel deiner Wünsche gekommen bist, daß die Welt dir nun wohlgeordnet erscheint: es ist noch nicht aller Tage Abend, und bis dahin wird sich auch dies wieder wenden. Abends pflegt man schlafen zu gehen, und der Schlafende, träumt er nicht gerade sehr lebhaft, merkt nichts von der Welt. So wohltätig und wunderbar diese Gabe des Schlafes ist – wir mögen doch nicht gern alle Hoffnung in dieser Welt



Frucht und Wespe. 

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auf jenen letzten Schlaf setzen, in den wir sinken werden, wenn aller Tage Abend angebrochen sein wird. Es ist ja auch merkwürdig genug, daß die Erfinder dieses Sprichwortes das Ende der Zeiten im vergehenden Schein des Abends erblickt haben, da doch biblisch mit gutem Grunde vom Jüngsten T a g e gesprochen wird. Bringt man beides zusammen, so tritt das Sprichwort in ein neues Licht, worin Trost und Drohung in eins zusammenfließen: Aller Tage Abend wäre dann der Abend des Jüngsten Tages, der Abend, der sich dann in der Tat friedlich über eine gereinigte und geordnete, weil gerichtete Welt senkt. So verstanden, flößt das Sprichwort auch Hoffnung ein, aber nicht auf einen absoluten Schlaf, sondern auf absolute G e r e c h t i g k e i t. Diese aber, die in der biblischen Allegorie, vom schärfsten und strahlendsten Tageslicht umgeben, ans Ende der Zeiten versetzt wird, steht doch zugleich, da wir den Anbruch dieses Tages und Abends nicht im voraus kennen, über allen unseren gegenwärtigen Tagen und Abenden. Wäre dem nicht so, würden wir der Gerechtigkeit vergessen und d i e s e Hoffnung aufgeben, so könnte uns freilich nur noch ewiger Schlaf retten, – ja wir schliefen in Wahrheit schon, und kein Blättchen würde sich mehr wenden, weder zum Guten noch zum Schlechten. Es ist freilich noch nicht aller Tage Abend. Aber so lange gilt es doch, daß a l l e T a g e „J ü n g s t e T a g e“ sind, an denen sich, wenn auch kein Richterspruch zu hören ist, etwas entscheidet, was nicht mehr wird ausgelöscht werden können, bis aller Tage Abend alles zudeckt. Dolf Sternberger.

16 Dolf Sternberger [30. Juni 1936]

Frucht und Wespe.

Vademecum für den Gebrauch von Sprichwörtern: IX. In Zeiten der Anfechtung von außen, die vielleicht für Augenblicke auch einen inneren Zweifel am eigenen Rechte bewirkt, mag dieser Spruch sich bisweilen einstellen (man hat längst vergessen, daß ihn ein Dichter* prägte): Es sind die schlechtesten Früchte nicht, woran die Wespen nagen. Und wieder sind’s die einfachen, unbezweifelbaren Verhältnisse der Natur, ist es der helle Zauber der dort waltenden Problemlosigkeit, was Trost spendet, Skrupel vergessen macht und den niedersinkenden Mut aufrichtet. Zuvor noch fand man sich verwickelt in einem Dickicht oder Dornengestrüpp von menschlichen Feindseligkeiten, Kritik, Bosheit gar, und es schien kaum Aussicht, jemals lebend hinauszugelangen, mindestens nicht in unverletztem Zustand und mit aufrechtem Gang. Da wird das Sprichwort von irgendwoher laut, und schon ist es, als lichte sich die Landschaft, als befinde man sich in einer schönen, freien Gegend unter blauem Sommerhim-

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 Texte aus der Frankfurter Zeitung

mel, und nichts als süßer Duft von Früchten und das Summen der Wespen erfüllt die Luft. Eine Fata Morgana? Ist es nichts als ein Truggebilde, das uns die eigene Einbildungskraft vorspiegelt, um unsere Lage zu erleichtern? – Sinnend stehen wir in Betrachtung der Früchte, welche nicht die schlechtesten sind, und der nagenden Wespen, und alsbald, indem uns das Schicksal der herrlichen Früchte rührt, stellt das Gleichnis sich ein: die Vergleichung zwischen ihnen, den Früchten, und uns, den Menschen, als seien wir in unserer Welt nicht anders zerstörerischem Nagen ausgesetzt. Währenddessen zeigt sich, wie auch unter solchem Sommerhimmel im Kleinen Bosheit wirkt und Vernichtung fortschreitet. Wütender, rasender ertönt das unbeirrbare mörderische Summen der Wespen, die sich bald von dieser, bald von jener Seite einbohren in die süße Frucht, ihre reife Form zerfressend, den Saft entsaugend, häßlich starrende Ruinen, ausgehöhlte Reste dem vollkommenen Tode des Dörrens und Faulens überlassend. Derart vermögen wir zuzusehen, welch grausam böses Ende diese Früchte nehmen, obgleich sie nicht die schlechtesten sind. Und insoweit enthält das Gleichnis unserer eignen Lage, wenn anders wir den Mut haben, seine Anwendung sehenden Auges durchzuhalten, nichts Tröstliches, da nichts diese Wespen von der Vollendung ihres Zerstörungswerkes abzuhalten vermag, es sei denn ihre eigne Sättigung. Schon fallen einige der ehemals wohlgerundeten Früchte, reif wie sie waren und bereit, sich vom Baum zu lösen, der sie nährte, unter der Last der anstürmenden Summer zu Boden. Es bleibt uns, den philosophischen Betrachtern in dieser Landschaft, nichts übrig, als diese Untergänge zu beklagen, während wir die Opfer aus dem Grase greifen und in der Hand wenden, nachdem die Nager aufs neue ausfliegend sie rasch verlassen haben. Und wirklich, noch in diesem Zustand der Vernichtung umgibt sie ein Glanz von Schönheit, umschwebt sie der vergehende Duft, welcher die Wespen lockte und so die Ursache ihres unschuldig-schuldigen Todes wurde. Keine Fata Morgana also. Kein bloßes Truggebilde unserer Einbildungskraft, denn diesem würde nicht die böse Wirklichkeit innewohnen, für die dieses Sprichwort doch die Augen öffnet. Auch kein leichter Trost wird von ihm den Geplagten und Befehdeten, den Zweifelnden dargeboten. Dann nämlich nicht, wenn sie in der Landschaft des Gleichnisses ausharren und mehr als einen flüchtigen Blick dahinein tun. Diesen freilich kann jeder werfen, und jeder beliebige – wer wäre denn nicht geneigt, seine Kritiker im Bilde von Wespen zu begreifen! – versetzt sich gern für einen Augenblick in die Rolle der guten Frucht, überzeugt von seiner eignen Vortrefflichkeit. Kaum einer wird umgekehrt geneigt sein, sich selber auch als Wespe zu sehen. Und doch hat das Gleichnis auch diese Seite, und es ist nützlich, sie zu bedenken, um nicht geschwinder Selbstzufriedenheit anheimzufallen. (Vielleicht sind’s auch die schlimmsten Tiere nicht, die an den Früchten nagen: Diese Variation mag zur Erleichterung solchen Versuchs dienen!) Nur wer auch



Das Wort. 

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(im Gleichnis) Wespe zu sein den Mut aufbringt, kann mit Fug und auf glaubwürdige Weise alsdann – w e n n ers kann! – in die Rolle der Frucht zurückkehren, der Frucht, welche unschuldig ist wie’s ein Mensch nicht sein kann. Und erst für denjenigen, der bis zum Ende zugesehen hat, was Wespen vermögen, weht wie jener letzte, schwächer werdende und fast schon vergehende Duft der zerstörten Früchte die H o f f n u n g aus dem Gleichnis hervor, die ihn denn auch stärken mag: Es sind die schlechtesten Früchte nicht, woran die Wespen nagen. Dolf Sternberger.

17 Dolf Sternberger [3. Mai 1936] Das Wort. Es gibt keinen Gedanken ohne Sprache. Ist man sprachlos, verschlägt einem der Schreck oder das Staunen die Rede, so hat man in diesem Augenblick eben nicht nur kein Wort, sondern auch keinen Gedanken zur Verfügung. Solch ein Erlebnis kann nicht allgemein gemacht werden, außer es wird aus der Erinnerung entweder des Betroffenen selber oder der Anwesenden nachträglich hervorgehoben und in Worte gebracht. Dieser extreme Fall lehrt doch eines mit Bestimmtheit: es gibt kein „Erlebnis“, das unmittelbar, ohne Vermittlung des Wortes (oder des Bildes – aber davon ist hier nicht zu reden) der Allgemeinheit auf gültige Weise zugänglich gemacht werden könnte. Der Berliner Rundfunk-Intendant, Werner B e u m e l b u r g, hat kürzlich von seinen Erfahrungen erzählt und aus diesen Erfahrungen einige Richtlinien für die Zukunft abgeleitet, die genaue Beachtung verdienen. Aus seiner Darstellung ist ein gewisser Ueberdruß am Reden deutlich geworden. Man wolle, so etwa sagte er, künftig mehr als bisher die Ereignisse und Erlebnisse selbst zu Gehör bringen und das Reden ü b e r die Dinge in den Hintergrund treten lassen; man müsse vor allem auch auf gestellte oder frisierte Gespräche und dergleichen verzichten. Die negative Seite dieses Gedankens erscheint durchaus nützlich: in der Tat können absichtsvoll arrangierte Unterhaltungen, die ohne Schauspieler ein „Stück Wirklichkeit“ zu vermitteln suchen, beim Hörer fast nie das Arrangierte vergessen machen, bisweilen haben sie eine geradezu peinliche Wirkung. Und dies, obwohl diese Form ursprünglich von eben demselben Ziel geleitet war, das auch Beumelburg verfolgt, dem Ziel, „lebensnah“ zu sein. Nicht minder nützlich können sich jene Gedanken dort auswirken, wo es sich um R e p o r t a g e n etwa von politischen Veranstaltungen handelt. Hier wäre es dem Hörer meist genug, vom Reporter einige faktische Mitteilungen über den Ort und das Publikum zu erhalten. Das „Erlebnis“ aber sollte ihm, dem Hörer, selber überlassen bleiben. Anders ist es freilich bei solchen Veranstaltungen, bei denen nicht sowieso geredet wird, etwa

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 Texte aus der Frankfurter Zeitung

bei Autorennen oder Fußballkämpfen. Wir haben hervorragende Beispiele von Sportreportagen kennengelernt, bei welchen sowohl die Geistesgegenwart als die Prägnanz des Ausdrucks (beides ist im Grunde eines) hoch zu rühmen sind. Beumelburg hat nun von einem sehr merkwürdigen Versuch berichtet, der auch in diesem Bereich, eine neue Methode zu erproben, unternommen worden sei: man habe einen Reporter bei einem Autorennen selber in einen Rennwagen gesetzt und ihn, den Fahrenden, zugleich ins Mikrophon sprechen lassen. Wir hatten leider keine Gelegenheit, das Experiment mitanzuhören, wir fürchten aber, daß das Ergebnis kaum mehr als ein Kuriosum darstellt. Um ganz davon abzusehen, daß das Verfahren eine unerhörte Strapaze für den Reporter bedeuten muß. Es ist nicht die Absicht dieser Bemerkungen, an der Arbeit des Berliner Intendanten Kritik zu üben. Aber es gilt, allgemein und nicht nur für den Bereich des Rundfunks, vor einer bedeutenden Gefahr zu warnen. Es schiene uns richtiger, alles gerade darauf anzulegen, daß der Sprecher durch keine andere gleichzeitige Tätigkeit von seiner Hauptaufgabe abgelenkt werde – der Aufgabe, gerade alles das in prägnante Worte zu fassen, was die anderen nur sehen und allenfalls mit leidenschaftlichen Ausrufen begleiten. Die Aufgabe des Sprechens ist bedeutend genug. Sie ist durch nichts anderes zu ersetzen. Das L e b e n selber spricht nicht. Es gibt höchstens ein dumpfes Geräusch. Der M e n s c h spricht. Und es ist nötig, überall und auch in den kleinsten Dingen alle Mühe daran zu wenden, daß diese unsere Gabe mit möglichster Vollkommenheit verwaltet werde: alles Erlebnis in genaue Worte zu setzen. Im Halbdunkel des bloßen Erlebnisses zu verharren, ist des Menschen unwürdig. d. st.

18 Dolf Sternberger [19. Juli 1936] Kuriose Heilswege. Es ist nicht bekannt, wie viele Menschen in abseitig-einsamen Mußestunden noch um die Konstruktion des perpetuum mobile bemüht sind. Die Verlockung der Mechanik, die Welt gleichsam als Spielwerk zu verstehen und kleine Welten allein aus menschlicher Erfindungskunst herzustellen, mag den Ursprung dieses Unterfangens bilden. Dies also ist nicht bekannt, aber die gedachten oder ausgedachten perpetua mobilia, die Welt- und Lebenssysteme einsamer, allenfalls von einigen begeisterten Jüngern umgebener Denker, die Pläne, welche durch Regeln und Unterweisungen die Welt zwar nicht noch einmal im kleinen zu erschaffen, aber im großen und meist total zu e r n e u e r n versprechen, -- solche sonderbaren Heilswege werden fast täglich aus irgendeiner anderen Ecke angeboten. (Ein sehr beträchtlicher Teil der Einsendungen, die bei Redaktionen ankommen,



Der übertrumpfte Superlativ. 

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rechnet zu dieser Gattung.) Vielen dieser Systeme wohnt die Hoffnung inne, mit einem Schlage sämtliche Bezirke des menschlichen Lebens – Staat, Wirtschaft, Religion und Kunst – organisch oder natürlich oder wie sonst zu ordnen. Und ebenso oft begegnen uns die Sprecher, Prediger und Propheten solcher Heilswege oder besser Heilsverfahren auf Einwände mit dem suggestiv-heiteren Blick des von allem Kummer der Probleme Erlösten und mit der Versicherung: „Es ist doch alles so einfach, man muß nur ...“ Was man nun muß, ist sehr verschieden. Geeignete Nahrungsaufnahme und bewußte Atmung – wir zitieren aus einem jüngst eingelaufenen Schriftstück – sind physische, Glaube an das Leben und bloßer Wille zum Guten, Selbstläuterung durch Anlegen einer Lebensbuchführung – auch hierfür existieren subtil ausgearbeitete Vorschläge – sind mehr geistige Wege zum Heil. Selten fehlt dabei der lockende Hinweis auch auf praktische Erfolge im Leben, gar auf den „Dauererfolg“, der derart gewährleistet werde. Und schließlich winkt das Bild eines vollkommen in Licht und Glück getauchten Daseins, wofür der folgende, ebenfalls keineswegs böswillig erfundene Satz ein Beispiel geben mag: „Gereift, wird der Lebensgläubige spielend mit dem Wesen des Leides fertig.“ Das ist in der Tat ein hohes Ziel, und die Vorstellung, es durch Training oder auf noch einfachere Weise, gleichsam durch ein bloßes Anknipsen des Lichts im Gehirn, erreichen zu können, stimmt hoffnungsvoll. Zumal, wenn man sich dem in jüngster Zeit üblich gewordenen Wunsche anschließt, die nationalsozialistische Staatsführung möchte im Verordnungswege das jeweilige Heilsprogramm oder Erneuerungssystem kurzerhand „durchführen“. Nicht so hoffnungsvoll und sehr bedenklich gegenüber allen deutenden Reden von „dem Geist der Zeit“ stimmt hingegen der Blick in das Labyrinth des w i r k l i c h e n Geisteslebens, zu welchem alle diese kuriosen Wege und krummen Gänge (indem sie doch auf lichte Höhen zu führen meinen) sich zusammensetzen. Das Dunkel, das darin herrscht, ist so eigenwillig, daß das Licht der Vernunft es nur selten zu durchdringen vermag. d. st.

19 Hans Kallmann [1. August 1936] Der übertrumpfte Superlativ. Es ist etwa ein Jahr her, daß eine Diskussion um die Verwendung des Superlativs in Zeitungsberichten entstand, in der sich viele Gegner des Ueberschwangs und keine Verteidiger dafür fanden. Denn Ueberschwang gehäuft – das ist gewöhnlich nur ein Zeichen mangelnder Herrschaft über die Sprache, das Eingeständnis des Unvermögens, die Dinge, große oder kleine, schlicht und klar durch ihr Wesen selbst wirken zu lassen. Da man sich darüber einig war, daß die übereif-

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 Texte aus der Frankfurter Zeitung

rige Verwendung großer Worte nur zu deren Abnutzung führen könne, und da sich sehr gewichtige Stimmen in die Diskussion mischten, welche sich die Strapazierung der Superlative verbaten, ist das Ganze wohl nicht ohne einige Wirkung geblieben, wenngleich sich auch nicht behaupten läßt, es werde die Sprache nun schon überall mit jener sorgsamen Einfachheit behandelt, welche die einprägsamsten Wirkungen hervorbringt. Ein Schulbeispiel dessen, was nicht sein sollte, ein Schulbeispiel auch für die Folgen, die bei dem Berichterstatter eine ständig geübte Steigerung hervorrufen kann, war kürzlich zu verzeichnen, als eine kommende Veranstaltung in dem Bericht eines Korrespondenzbüros als die „g r o ß e R i e s e n k u n d g e b u n g“ angekündigt wurde. Gibt es vielleicht auch „kleine Riesenkundgebungen“ oder „große Kleinkundgebungen“, daß der Berichterstatter es für notwendig hielt, zwei Begriffe zusammenzustellen, welche sich miteinander vertragen, wie der berüchtigte „weiße Schimmel“? Oder sollte etwa gemeldet werden (was der Wortlaut e i g e n t l i c h wirklich besagt!), daß eine große Kundgebung von Riesen stattfinden werde? Mit ein wenig Phantasie läßt sich herausfühlen, daß die Sache wahrscheinlich ohne jede Absicht geschah, nur daß dem Berichterstatter das Wort „Riesenkundgebung“ eben schon s o g e l ä u f i g gewesen sein mag, daß er die Empfindung hatte, er müsse das Exzeptionelle der Sache noch durch ein weiteres „groß“ zum Ausdruck bringen. Wünschen wir ihm, daß er sich nicht auch d a r a n gewöhnt und nicht etwa demnächst in Versuchung gerät, eine „gewaltig-große Riesenkundgebung“ anzukündigen. Kln

20 h.k. [10. September 1936] Vom Ablaut. In der Zeit vor dem Kriege pflegte der hochbetagte Professor Imelmann* aus Begeisterung für das klassische Altertum die Studenten der Berliner Universität, die auf Realanstalten das Griechische hatten entbehren müssen, in diese beseelte Sprache durch Sonderkurse einzuführen, die allerdings nur von wenigen besucht wurden. Hier nun kam einmal der Ausspruch über seine Lippen: „Es war ein erhabener Moment, als Jakob Grimm sagte: ‚Der Hund b o l l‘.“ Wir sagen ‚Der Hund bellte‘, aber Jakob Grimm bevorzugte die starke ältere Form, wie ja auch manche Dialekte noch die alte Sprachform bewahrt haben, die im Praeteritum Singular und Plural durch einen Vokalwechsel unterscheidet (ich sprang, wir sprungen, ich fand, wir funden). Im allgemeinen aber geht die Neigung dahin, diese klangvolle Verschiedenheit der Vokale abzuschleifen: die schöne Form „er frug“ klingt uns doch schon sehr altväterlich. Dennoch wird es manchen überrascht haben, in den Straßen Frankfurts auf Plakaten die Wendung zu lesen:



Ablativus absolutus 

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„T r e t e ein in die NSV!“ Ist das nicht falsches Deutsch? fragt man sich. Muß das nicht heißen: „Tritt ein in die NSV“? Jedoch was heißt hier falsch? Der hiesige Dialekt bevorzugt gerade die schwachen Formen, man hört auch sehr oft „l e s e“, wo man sonst „l i e s“ sagt, und die Dialektsprache ist an sich eine ebenso gültige wie die Schriftsprache. Auch Goethe hat diese Form angewandt: „Freudig t r e t e herein und froh entferne dich wieder!“ Es kommt eine besondere Klangwirkung hinzu: Der Imperativ „Tritt!“ hat doch etwas recht Barsches, wie das Substantivum auch, und man assoziiert da zu leicht jene volkstümliche Wendung, die noch ein bestimmtes Ziel dieses Trittes anzugeben pflegt. Da klingt „t r e t e“ doch viel verbindlicher, um so mehr, als es wieder an die konjunktivische Form „man trete ein“ erinnert. So kann man für die sprachliche Fassung jener Aufforderung einige Gründe anführen; trotzdem wäre es vielleicht besser, die Form „Trete“ hier doch nicht zu verwenden, denn das wird die Leute ermuntern, diese abgeschliffenen Sprachformen mehr und mehr zu gebrauchen, wobei unsre Muttersprache an Klang viel verlieren würde. Für die m o n u m e n t a l e Inschrift ist doch wohl die beste Form der Sprache die gegebene, und diese Gelegenheit zu einer unauffälligen Spracherziehung sollte man nicht ungenutzt lassen. Daß es bei der Bewahrung des Ablauts um keine philologische Marotte, sondern um etwas Volkswichtiges geht, zeigt die Bemerkung des eingangs erwähnten Jakob Grimm, der in dem geregelten Uebergang des Vokales in einen andren „ein edles und ihr wesentliches Vermögen der deutschen Sprache“ sah. Der Schaden läßt sich auch leicht beheben: es braucht an das in Frage stehende Wort nur ein t angemalt zu werden, dann heißt es „Tretet ein in die NSV!“. Damit hätte die Aufforderung nicht nur ihre sprachlich beste Form erhalten, sie enthielte auch das Warme, Verbindliche, um dessentwillen jene andere Form wohl gewählt wurde. h.k.

21 [31. Dezember 1936] Ablativus absolutus Allmählich treten die bestimmten Merkmale der künftigen höheren Schule deutlicher hervor. Bei einer so einschneidenden, die Bildung, das Denken und also auch die spätere Haltung der Deutschen in allen praktischen Dingen so nachdrücklich prägenden Maßnahme, wie es die Einrichtung eines neuen und allgemein verbindlichen Schultyps ist, verfährt man sicher am glücklichsten, wenn man das Neue nicht mit einem Schlage in die Welt setzt, sondern seinen Charakter langsam Zug um Zug im Kontakt und Gespräch mit den Beteiligten an allen Orten erst festlegt. Derart nämlich hat der Reichserziehungsminister gehandelt, wenn er im April dieses Jahres, von der grundsätzlichen Absicht der Vereinheitlichung

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 Texte aus der Frankfurter Zeitung

abgesehen, zunächst nur die zwei Punkte bekanntgab: daß der fremdsprachliche Unterricht in der künftigen Normalschule mit dem E n g l i s c h e n beginnen solle und daß dieser Schulart der Vorrang vor dem humanistischen Gymnasium gebühre. Aus diesem zweiten Punkt folgte insbesondere die Bestimmung, daß an Orten mit nur einer höheren Schule diese kein Gymnasium sein solle, ausgenommen, es werde im einzelnen Falle sowohl eine besondere Bedeutung als auch eine ehrwürdige Tradition eines bestehenden Gymnasiums nachgewiesen. In allen diesen Fällen – es gibt nach der vom Reichserziehungsministerium mitgeteilten Statistik etwa 600 solcher „Alleinschulen“, unter diesen sind etwa 100 Gymnasien – in allen diesen Fällen sollte ein begründeter Antrag auf Erhaltung gestellt werden. Solche Anträge scheinen nun, wie sich aus dem soeben veröffentlichen neuen Erlaß entnehmen läßt, in beträchtlicher Zahl eingelaufen zu sein: ein bemerkenswertes Zeichen von Anhänglichkeit an die überlieferten Formen. Nun hat der Minister alle Anträge zurückgegeben mit der Aufforderung, sie unter einer Reihe von Gesichtspunkten abermals zu überprüfen, von denen hier nur der wichtigste wiederholt sei: daß nämlich die künftige „Hauptform“, nächst dem Englischen als zweites fremdsprachliches Pflichtfach das L a t e i n i s c h e enthalten werde. Auf diese Weise soll dasjenige Bildungselement, welches so lange und so intensiv auf allen Gebieten in Deutschland seine Wirkung getan hat und welches man getrost als stets notwendiges Korrektiv und schlechthin unentbehrliche Substanz bezeichnen kann, – das der Antike – in den gültigen Plan der höheren Schule wieder eingefügt werden. Daß überdies das Gymnasium und nicht beispielshalber die Oberrealschule offenbar die einzige zulässige Nebenform darstellen wird, bekundet die gleiche Tendenz. Man darf annehmen, daß die übrige Konstruktion und die zweifellos schwierige Ausbildung des Lehrplans der Hauptschulform auf ähnliche Art im Gespräch erwogen werden sollen. Ob etwa eine dritte Fremdsprache als Pflichtfach eingeführt werde und wie mit dem Sprachunterricht der deutschkundliche (Geschichte soll ja zentrales Hauptfach sein) und der mathematisch-naturwissenschaftliche ins Gleichgewicht gebracht werde – diese Fragen sind noch offen. Inzwischen ist das, was schon feststeht, von wesentlicher Bedeutung. Gelegentlich begegnet man auch heute noch der Meinung, das Latein sei ein überflüssiger Ballast, man könne damit „im praktischen Leben“ nichts anfangen, und der Name einer t o t e n S p r a c h e bekommt im Munde der Wortführer solcher nur scheinbar realistischen Ansicht dann einen abschätzigen Klang. Irren wir nicht, so sind diese Stimmen allerdings in jüngerer Zeit zum Glück seltener geworden. Man kann bisweilen sehr handfest denkende Männer, Techniker zum Beispiel, heute das Lob des Gymnasiums und des Lateinischen zumal singen hören. Und eben jene eingangs erwähnten Anträge, auf die der Ministerialerlaß Bezug nimmt, bezeugen denselben Wandel der Bewertung. Was namentlich das Wort von der



Lateinisches C = K? 

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toten Sprache angeht, so meint diese Wendung ja ursprünglich nur den Umstand, daß diese Sprache von keinem lebenden Volke mehr gebraucht wird: die Sprache selbst eine Leiche zu nennen, ist also eigentlich nur ein Gleichnis, dessen Sinn und Geltung noch zu prüfen wären. Immerhin ist es sicher nicht völlig sinnlos, denn die Analyse des grammatischen und syntaktischen Systems würde bei einer noch gesprochenen Sprache niemals zu solcher Vollkommenheit gebracht werden können, wie es bei dieser „toten“ geschehen ist, und diese Analyse läßt sich ganz entsprechend mit der Tätigkeit des Anatomen vergleichen, der das Gerüst des natürlichen Körpers, seine Elemente in ihrer Verknüpfung und wechselseitigen Ergänzung bloßlegt. Ginge nicht diese Untersuchung des toten Körpers voraus, so wäre der lebendige in seinen Verwandlungen nicht zu begreifen und also auch nicht zu behandeln. Insofern übrigens ein wenn auch verborgenes System von Notwendigkeiten jeder, der toten wie der lebendigen Sprache innewohnt, ließe sich sagen, daß auch die lebendige Sprache stets etwas Totes an sich hat. Und es müßte hinzugefügt werden, daß die lebendige Sprache nur dort wahrhaft lebendig gemacht, also zur vollen Entfaltung geführt werden kann, wo ihr „Totes“, ihre innersten Regeln, ihr Gerüst und der notwendige Zusammenhang ihrer Elemente souverän erkannt und beherrscht werden. Nichts verhilft aber dazu besser als das Studium des Lateinischen. Es ist nicht zuviel gesagt: wer das Lateinische in sich hat, spricht meist auch besser deutsch. Lessing bietet das glänzendste Beispiel davon. Je besser aber einer spricht, desto genauer denkt er (wenn man nur gutes Sprechen nicht mit abstrakten Stilkünsten verwechselt). Eben aus diesem Umstand mögen sich die zuvor erwähnten Aeußerungen von Technikern erklären. Das Latein ist freilich keine bequeme Sache, aber so mancher Pädagog, der seinen Schülern nur so viel „Stoff“ vermitteln will, als diese unmittelbar auch schon mit Sinn begreifen können, sollte bedenken, daß gerade die Härte des noch Unbegriffenen, des noch bloß Gelernten (des Caesar, des Tacitus) einen weiterwirkenden Sporn für das ganze Leben enthält. Die Konstruktion etwa des Ablativus absolutus – „quibus rebus cognitis“ – die bei der lateinischen Lektüre in der Schule so leidig und verwirrend war, wird gerade, wenn sie erst dem dreißigjährigen Manne in ihrer ganzen Präzision, Schönheit und Dienlichkeit aufgeht, wunderbare Früchte tragen.

22 m.—l. [1. Mai 1937] Lateinisches C = K? Kikero und Käsar gingen in einen Kirkus; Kikero trug einen Kylinder, und Käsar aß eine Kitrone. So etwa haben sich die älteren Herren über die verbesserte Lateinaussprache ihrer Söhne lustig gemacht, als diese auf den Gymnasien im Nach-

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kriegsdeutschland die richtige, klassische Aussprache lernen sollten. In der Tat: Wer jemals Verse Vergils oder Ovids mit dem vollerklingenden „k“ gehört hat, wird dieser Aussprache den Vorzug geben; und aus griechischen Umschriften wissen wir ja, daß z.B. Cicero dort nicht anders erscheint als Kikeron, obgleich man natürlich auch Zizero hätte schreiben können. Aber in der klassischen Latinität wurde das C überall wie K gesprochen – so wurde aus Cäsar dann Kaiser, aus cella der Keller. Und wer als Tertianer Griechisch lernte, für den war der Uebergang von kentum zu hekaton leichter zu verstehen, als von zentum, zumal wenn man nun gar das lateinische Wort richtig nasalisiert (vor n und m) ausgesprochen hätte. Indessen – mehr sollte ja einer späteren Zeit vorbehalten werden, so hieß es in den preußischen Richtlinien von 1925. Lediglich das c wie ka zu sprechen wurde verlangt. Nun hat sich aber durch die Reform* von 1937 die Lage wesentlich geändert: Auf allen höheren Knabenschulen wird Latein gelehrt, und zwar als Grundlage der romantischen Sprachen, also vornehmlich des Französischen und Italienischen. Dafür wäre es aber viel wertvoller, man spräche das lateinischen c wieder wie ce (und nicht wie k). Denn schon der kleine Klavierspieler wird bei accelerando an celer erinnert, und das französische cent klingt an zentum an, wie wir ja auch eine Zentenarfeier begehen und keine Kentenarfeier, einen Zentimeter benutzen und keinen Kentimeter. Aber auch unter dem Gesichtspunkt der nunmehr auf den höheren Schulen zu lesenden Werke in lateinischer Sprache dürfte sich die Aussprache c = z empfehlen. Vermutlich hat der Verfasser des Stabat mater dolorosa iuxta crucem lacrimosa dort nicht crukem, sondern crucem gesprochen, wie ja auch unser Lehnwort Kreuz daher erklärlich ist. Freilich ist hier vieles noch problematisch; denn neben Keller kommt ja auch Zelle von cella, neben Kaiser auch Zar von Caesar, und erst ganz kürzlich wurde das Wort Kirche nicht auf das griechische Kyriake, sondern auf das lateinische Circum zurückgeführt, das man dann allerdings sich als Kirkum gesprochen denken müßte. Aber in dem mittelalterlichen und späteren Latein, in der Kirchen- wie Gelehrtensprache, auch in den Dichtungen, hat man wohl meist die unklassische Aussprache c = z anzunehmen, und hoffentlich werden es nun gerade diese Werke sein, die im Lateinunterricht der deutschen höheren Schule im Mittelpunkt stehen. Denn sie bieten ja eine Fülle wertvollster Beiträge zur Deutschkunde im allerweitesten Sinne und sind – wie jeder, der einmal damit einen Versuch bei reiferen Schülern gemacht hat, bestätigen wird – für die Jugend wesentlich interessanter, als etwa Sallust oder Ovid. Zudem kommt die augusteische Poesie, also Horaz und Vergil, nun überhaupt nicht mehr so stark in Frage, weil das griechische Original gar nicht mehr auf diesen höheren Schulen gelehrt wird. Bei den Prosaikern wie Cäsar und Tacitus aber, deren Werke natürlich noch gelesen werden, ist die Aussprache des c = k nicht so wichtig, daß man deshalb den Schülern eine Erschwe-



„Frontabschnitt Wissenschaft.“ 

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rung zumuten sollte. Anders freilich können sich die wenigen Gymnasien einstellen, bei denen das Griechische als Lehrfach geblieben ist. Sie werden – eben wegen des Anschlusses an die Sprache und die Literatur der Hellenen – bei der richtigen klassischen Aussprache c = k verbleiben. Alle anderen Quartaner aber mögen nun wieder, wie ihre Väter dies gelernt haben, den Zäsar und Zizero in den Zirkus gehen lassen. m. – l.

23 Dolf Sternberger [8. Mai 1937] „Frontabschnitt Wissenschaft.“ Dies ist eine Formel, die in studentischen Veröffentlichungen heute nicht selten anzutreffen ist. Soeben erst wieder fand man sie in einer Betrachtung über die Ergebnisse des studentischen Reichsberufswettkampfes. Sie bezeichnet prägnant diejenige Gesinnung, in und mit welcher gegenwärtig gerade von der Seite der nationalsozialistischen Studenten die wissenschaftliche Bemühung – nach einer Periode des lebhaften Zweifels nicht allein an „objektiver“ Erkenntnis, sondern weithin an Erkenntnis überhaupt – wieder gerechtfertigt, sogar mit Nachdruck propagiert wird. Die Zeitung* des NS-Studentenbundes hat dies vor wenigen Tagen ebenfalls ausgesprochen, wenn auch ohne jene kriegerische Metapher zu gebrauchen: Heute, da im Kampf um die Selbstbehauptung der Nation der Ruf nach dem „geistigen Facharbeiter“ immer lauter werde, sei der Hinweis notwendig, daß unberechtigte und laienhafte Kritik an geistiger und theoretischer Arbeit, an den Universitäten überhaupt, „unbedingt und endgültig“ ein Ende haben müsse. Die Entschiedenheit dieses Wortes an dieser Stelle ist bedeutsam genug. Es ist gut, daß die theoretische Bemühung hier überhaupt zugänglich, anreizend und lohnend gemacht, daß sie gepriesen, daß für sie geworben wird. Aber es ist auch bemerkenswert, wie das geschieht: indem nämlich die Theorie, kurz gesagt, zur Praxis erklärt wird. Kein Zweifel, daß alles Denken aus praktischen Wurzeln entspringt und praktische Wirkungen zeigt. Ist aber hierin alles Gesetz der Wissenschaft auch schon beschlossen? Die Arbeiten, die aus dem Reichsberufswettkampf der Studenten als die besten hervorgegangen sind, haben ausnahmslos technisch oder politisch unmittelbar nützliche Themen. Mit frischer kämpferischer Initiative rückt man in den „Frontabschnitt Wissenschaft“ ein, und durch Beispiel und Gebärde werden neue Mannschaften zum Nachfolgen aufgefordert. Niemand braucht zu zweifeln, daß sie alle den Gebrauch der Waffe gut kennen lernen werden. Reicht aber dies Gleichnis wirklich aus, um mit dem Nutzen auch die Erkenntnis selber voranzutreiben? Ueberall und stets dient der menschliche Geist den menschlichen Zwecken, teils durch Willen und Absicht, indem man ihm Zwecke setzt, teils auch unverhofft, indem er gleichsam von selber dienlich

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 Texte aus der Frankfurter Zeitung

wird, wenn nicht zu Kampf, so doch zur Tröstung. Aber ebenso fordert er überall und stets, daß man ihm diene – und diese seine wesentliche Forderung wird befolgt, wo immer sie einmal vernommen wurde. d. st.

24 Theodor Heuß [9. Mai 1937] Vom Gebrauch der deutschen Sprache. Die Begegnung mit dem „L a i e n b r e v i e r über den Umgang mit der Sprache“ (137S. Frankfurt a.M., Societäts-Verlag. Geb. RM 2.40), das Gerhard S t o r z geschrieben hat, macht, so gelassen es ist, den Leser etwas unruhig. Mißtrauisch betrachtet er die eigenen Sätze. Sind sie nun eigentlich richtig gebaut? Aber indem er dies Wort „richtig“ gebraucht, verschiebt er schon die Frage. Denn darauf kommt es dem Verfasser gerade nicht an, ein Verzeichnis von Vorschriften zu entwerfen, deren Betrachtung jeden „Fehler“ ausschließt und den Gewinn des guten Ausdrucks sichert. Er will nur auf eine freundliche und nicht rechthaberische oder strenge Weise ermuntern, daß der Schreibende, auch der Redende, behutsam mit der Sprache verfahre und zugleich den Möglichkeiten, die in ihr stecken, nicht ausweiche, sondern sich tapfer ihrer annehme. Also: warum denn keinen Konjunktiv mehr? Wir sind, indem wir dies schreiben, sehr froh, einen schönen und hoffentlich auch richtigen soeben gebraucht zu haben; nicht ganz ohne Bedenken, dies wird deutlich gemacht, lassen sich die Deutschen heute mit ihm ein, und plötzlich haben sie ein Imperfekt gebildet, wo das Präsens an der Ordnung wäre (oder ist … wie nun eigentlich?). Dem Betrachter der Sprachentwicklung fällt auf, daß im Deutschen das Zeitwort, transitiv oder intransitiv, gegenüber dem mit Eigenschaftswörtern überlasteten Substantiv ins Hintertreffen gekommen ist. Aus diesem Zustand möchte er es erlösen und ihm unmittelbar wieder die Aufgabe zuweisen, den Satz und seinen Sinn zu tragen – die Prosa von Goethe und Schiller schenkt die Beispiele, wie das gemeint ist. („Beweisen“ statt „unter Beweis stellen“ u.s.f.) Und Storz macht auch Mut, das Partizipium in seinem konstruktiven Eigenleben – und nicht bloß als Prädikat-Ersatz – stärker zu verwenden, wohl wissend, welche schauderhaften Mißbildungen das Kürzungsbedürfnis des Geschäftsverkehrs geschaffen und durch Gewöhnung anerkannt hat. Darf man nun aber „Kürzungsbedürfnis“ sagen? Auf alle Gefahr hin sei es gewagt. Denn „eigentlich“ gehört diese Koppelung von Hauptwörtern auch zu den Krankheitszeichen der Sprache, gerade der deutschen – sie ist so bequem und sie wird gefährlich, wie einige Beispiele zeigen, wenn pathetische Absicht beigemischt wird. Es will uns scheinen, daß jene Teile des Buches mit besonderem Gewinn gelesen werden sollten, die sich der gewaltsamen Steigerung des Ausdrucks widmen. Eine Zeitlang war es wohl, als es sich fing, das Werbewesen,



Vom Gebrauch der deutschen Sprache. 

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heute noch ist es der Sport, doch nicht er allein, für den der Wortvorrat nach seiner Verwendbarkeit für einen „Lautsprecher“, in jedem Sinn, gewertet wird. Der Sprachverschleiß ist in der erregten Dauerverwendung unheimlich: es konnte nicht ausbleiben, daß viele weitgängige Wortbildungen schlechthin unerträglich wurden: wenn das Auge ihnen begegnet, ergänzt es von selber die Druckzeile mit ironischen Anführungszeichen. Sehr verständig wird das Fremdwort behandelt, weder gehätschelt noch totgeschlagen, sondern als Mahnung betrachtet, es zu vermeiden. Was will das heißen? Von einer Anzahl fachlicher und auch allgemeiner Ausdrücke wird einfach hingenommen, daß sie in das deutsche Sprachgefühl eingegangen sind – Idee, Person u.s.f. –, auch von den Meistern der deutschen Sprache gebraucht: im übrigen mag das Fremdwort veranlassen, daß ein Satz neu überdacht und die Vermeidbarkeit des Eindringlings untersucht wird. Das ist besser, als krampfhafte Eindeutschung. Diese mag oft genug glücken, wie etwa beim „Fernsprecher“; aber Storz hat wohl recht, wenn er dessen adjektiven Nachkommen („fernmündlich“) schauderhaft findet. Indem man nun beim Lesen des angenehmen Buches mit dem Verfasser in eine Art von Unterhaltung gerät und sich auf eine unpedantische Weise belehren läßt, paßt man ein bißchen auf, wie es denn bei ihm selber steht (oder stehe). Natürlich will er nicht, daß wir, schreibend oder sprechend, die U n b e f a n g e nh e i t verlieren – denn mit ihr ginge ja ein gut Teil schöpferischen Vermögens verloren. Aber er will das Gewissen schärfen, und er hat recht, wenn er etwa die gespreizte Anhäufung von Präpositionen anmerkt („be-inhalten“ statt „enthalten“) – sehr nett spricht er von einer „präpositionellen Vergletscherung“, die unsere Sprache bedrohe. Doch man stößt dann wohl auch auf eine Bemerkung, die wie ein persönlicher Vorwurf wirkt. Also: da ist das Wort „Sinnenhaftigkeit“ verdammt – schön ist es nicht und ganz gewiß künstlich gemacht worden. Es wird wohl so gewesen sein, daß das Wort „sinnenhaft“ einmal erfunden wurde, als eine Art von Ausweichen erfunden werden mußte, nachdem „sinnlich“ gemeinhin eine wohl unerwünschte, aber ziemlich harte Verengung erfahren hatte. Nun hilft sich die Sprache eben aus, und ich möchte den Schild vor das Wort halten. Während ich aus der Verteidigung vorstoße, gelingt es mir jedoch, bei Storz das Wort „Verlautbarkeit“ aufzuspießen, und zwar ganz ohne Anführungszeichen, und nun schwenke ich es wie eine Trophäe. Da ich kein Philologe bin – es handelt sich ja auch um ein Laienbrevier –, weiß ich nicht, wann dieses Wortungestüm zum erstenmal entstand; ich möchte (indem ich mich von vornherein dem Gegenbeweis unterwerfe) frank und frei behaupten, es sei ein Geschenk der k. und k. Kanzleisprache: in Wien machte man weder Berichte noch Meldungen, sondern gab amtliche Verlautbarungen. Storz soll nun einmal das Wort auf seine Bestand-

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teile untersuchen: ver-laut-bar-ung – und dann Versichtbarung schreiben und dann die Vokabel bei der nächsten Auflage hinausschmeißen. Denn indem wir ziemlich sicher behaupten, daß das kein schönes und gutes Wort sei und auch von den meisten kaum gebraucht werde, sind wir doch dem Verfasser des Büchleins gerne und dankbar gefolgt: es ist eine anmutige Arbeit, sie verzichtet bei der Kritik auf die „Schlager“, ist nicht selbstgerecht, sondern sucht, prüft, entscheidet in einer vorsichtigen Weise. Manche Sprachbetrachtungen schüchtern durch Pedanterie ein, diese hier macht willig und mutig. Theodor Heuß

25 [16. Mai 1937] Der Mensch hat das Wort. Die Antike sah eine wesentliche Bestimmung des Menschen darin, daß er „zoon logon echon“: ein mit Sprache begabtes Wesen, sei. In diesem wahrhaft h u m an e n Sinne ist hier von der Sprache die Rede, nicht als vom göttlichen „Logos“, der als Weltbaumeister „im Anfang war“, wohl aber als von demjenigen Element, das den Menschen als geistbestimmten erst eigentlich zum Menschen macht. Noch bis in die handfestesten Grundsätze über das „Werkzeug“ Sprache hinein ist es d i e s e Ueberzeugung, die den folgenden Erwägungen ihre Gemeinsamkeit verleiht. Kein Zufall, daß sie zu einem erheblichen Teile jener großen Epoche der Selbstbesinnung entstammen, die des Menschen ursprüngliche Ganzheit aufgesucht hat. Denn wo ließe sich der Kern dieser Ganzheit inniger erspüren als in der Sprache, die – vom leichtesten Hauch bis zum schwersten Gedanken und zur erhabensten Dichtung – das Menschenwesen beseelt und begeistert? Vom Ursprung des Wortes. Weil die Werkzeuge der Sprache wenigstens ein Geschenk der alma mater Natur sind, und weil, der höchsten philosophischen Wahrscheinlichkeit gemäß, der Schöpfer dieser künstlichen Werkzeuge auch ihren Gebrauch hat einsetzen wollen und müssen, so ist allerdings der Ursprung der menschlichen Sprache göttlich. Wenn aber ein höheres Wesen oder ein Engel, wie bei Bileams Esel*, durch unsre Zunge wirken will, so müssen alle unsere Wirkungen, gleich den redenden Tieren in Aesops Fabeln, sich der menschlichen Natur analogisch äußern, und in dieser Beziehung kann der Ursprung der Sprache und noch weniger ihr Fortgang anders als menschlich sein und scheinen. Daher hat bereits Protagoras den Menschen mensuram omnium rerum genannt.



Der Mensch hat das Wort. 

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— Jede Erscheinung der Natur war ein Wort, – das Zeichen, Sinnbild und Unterpfand einer neuen geheimen, unaussprechlichen, aber desto innigeren Vereinigung, Mitteilung und Gemeinschaft göttlicher Energien und Ideen. Alles, was der Mensch am Anfange hörte, mit Augen sah, beschaute, und seine Hände betasteten, war ein lebendiges Wort; denn Gott war das Wort. Mit diesem Worte im Mund und im Herzen war der Ursprung der Sprache so natürlich, so nahe und leicht wie ein Kinderspiel; denn die menschliche Natur ist vom Anfange bis zum Ende der Tage ebenso gleich dem Himmelreiche als einem Sauterteige, mit dessen Wenigkeit jedes Weib drei Scheffel Mehl zu durchgären imstande ist. – Der Mensch lernt alle seine Gliedmaßen und Sinne, also auch Ohr und Auge, brauchen und regieren, weil er lernen kann, lernen muß und ebenso gern lernen will. Folglich ist der Ursprung der Sprache so natürlich und menschlich, als der Ursprung aller unserer Handlungen, Fertigkeiten und Künste. Ohngeachtet aber jeder Lehrling zu seinem Unterricht mitwirkt nach Verhältnis seiner Neigung, Fähigkeit und Gelegenheit zu lernen; so ist doch Lernen im eigentlichen Verstande ebensowenig Erfindung als bloße Wiedererinnerung. Eine heilige Sparsamkeit der Worte gibt mehrenteils eine günstige Vermutung für eine Barschaft der Gedanken und für einen verborgenen Schatz des Herzens ab; weil Reichtum und Verschwendung, Tiefsinn und Schwatzhaftigkeit schwerlich miteinander bestehen können. Das unsichtbare Wesen unserer Seele offenbart sich durch Worte – wie die Schöpfung eine Rede ist, deren Schnur von einem Ende des Himmels bis zum andern sich erstreckt. Der Geist Gottes allein hat so tiefsinnig und begreiflich uns das Wunder der sechs Tage erzählen können. Zwischen einer Idee unserer Seele und einem Schall, der durch den Mund hervorgebracht wird, ist eben die Entfernung als zwischen Geist und Leib, Himmel und Erde. Was für ein unbegreiflich Band verknüpft gleichwohl diese so voneinander entfernten Dinge? Ist es nicht eine Erniedrigung für unsere Gedanken, daß sie nicht anders sichtbar gleichsam werden können als in der groben Einkleidung willkürlicher Zeichen; und was für ein Beweis göttlicher Allmacht – und Demut –, daß er die Tiefen seiner Geheimnisse, die Schätze seiner Weisheit in so kauderwelsche, verworrene und Knechtsgestalt an sich habende Zungen der menschlichen Begriffe einzuhauchen vermocht und gewollt. So wie also ein Mensch den Thron des Himmels und die Herrschaft desselben einnimmt: so ist die Menschensprache die Heilsprache – im gelobten – im Vaterlande des Christen. Heil uns! Freilich schuf er uns nach seinem Bilde – weil wir das verloren, nahm er unser eigen Bild an – Fleisch und Blut, wie die Kinder haben, lernte weinen – lallen – reden – lesen – dichten wie ein wahrer Menschensohn; ahmte uns nach, um uns zu seiner Nachahmung aufzumuntern. J o h a n n G e o r g H a m a n n (1730—1788).

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 Texte aus der Frankfurter Zeitung

Dichtung der Giganten. Es gibt drei Zeitalter der frühen Menschheit: das Zeitalter der Götter, in dem die heidnischen Menschen glaubten, sie lebten unter göttlicher Herrschaft und alles sei bei ihnen befohlen durch Orakel, welche die ältesten Dinge der Profangeschichte sind – das Zeitalter der Heroen, in dem diese überall in aristokratischen Republiken herrschten – endlich das Zeitalter der Menschen, in dem es volksfreie Republiken und später Monarchien gab, die beide humane Regierungsformen sind. Entsprechend diesen drei Arten von Naturen und Regierungsformen wurden drei Arten von Sprachen gesprochen: die erste in der Zeit der Familien, wo die heidnischen Menschen eben erst in die menschliche Gesittung aufgenommen waren: sie erweist sich als eine stumme Sprache durch Gebärden der Körper, die eine Wesensbeziehung zu dem auszudrückenden Gegenstand hatten – die zweite durch heroische Devisen oder Aehnlichkeiten, Vergleichungen, Bilder, Metaphern oder natürliche Beschreibungen, die den Hauptbestandteil der heroischen Sprache ausmachen, – die dritte war die menschliche Sprache, durch Uebereinkunft der Völker entstanden, über die die Völker selber absolute Herrscher sind ... Als Grundprinzip der Ursprünge sowohl der Sprachen wie der Buchstaben erweist sich der Umstand, daß die ersten Völker des Heidentums Dichter waren, wiewohl es unserem heutigen zivilisierten Wesen schwer noch möglich ist, sich die dichterische Natur solcher ersten Menschen vorzustellen. Ihre poetischen Charaktere zeigen sich als phantastische Allgemeinbegriffe oder Bilder, meist von belebten Wesen, sei es Göttern oder Heroen, auf die sie alle besonderen Erscheinungen zurückführten. So erweisen sich die göttlichen oder heroischen Charaktere als Mythen oder wahre Erzählungen, welche nicht analoge, sondern zusammenfassende, nicht philosophische, sondern historische Bedeutungen enthalten. Ferner offenbaren sich, weil diese Allgemeinbegriffe (denn das sind die Mythen in ihrem Wesen) von ganz starken Phantasien gebildet wurden, nämlich von Menschen mit ganz schwacher Vernunft, ihre wahren poetischen Inhalte: es müssen in ungeheure Leidenschaften gekleidete Gefühle gewesen sein, und daher voll Erhabenheit und das höchste Staunen erregend. Weiter zeigen sich als Quellen allen poetischen Ausdrucks folgende: sprachliche Armut und Notwendigkeit sich zu erklären und verstanden zu werden; hieraus ergibt sich die Ausdrucksgewalt der heroischen Sprache, die unmittelbar folgte auf jene erste stumme Sprache. Und schließlich zeigt sich, daß durch solchen notwendigen und natürlichen Lauf der menschlichen Dinge die Sprachen bei den Assyrern, Syrern, Phöniziern, Ägyptern, Griechen und Lateinern mit heroischen Versen begonnen haben.



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Die poetische Weisheit, die die erste Weisheit des Heidentums war, mußte mit einer Metaphysik beginnen, und zwar nicht mit einer abstrakten und verstandesmäßigen, wie die der Gelehrten, sondern einer sinnlich empfundenen und durch Einbildungskraft vorgestellten, wie es solchen ersten Menschen entspricht, die gar kein Nachdenken, aber ganz starke Sinne und mächtige Phantasie besaßen. Dies war die ihnen eigentümliche Dichtung, eine ihrem Wesen entsprechende Fähigkeit (denn die Natur hatte sie mit solchen Sinnen und solcher Phantasie ausgerüstet), entstanden aus der Unkenntnis der Ursachen: die Unkenntnis ist die Mutter des Staunens; daher bestaunten sie in ihrer Unwissenheit aufs Heftigste alle Dinge. Solche Dichtung begann in ihnen als eine göttliche, weil sie sich die Ursachen der Dinge als Götter vorstellten. Von dieser Art mußten die ersten Gründer der heidnischen Menschheit sein, als zweihundert Jahre nach der Sintflut, nachdem die Erde genügend getrocknet war, der Himmel schließlich blitzte und donnerte mit schreckerregendem Blitz und Donner, wie sie durch die erste derartige gewaltige Erschütterung der Luft erzeugt wurden. Da erhoben einige wenige Giganten – die kräftigsten, denn sie lebten verstreut in den Wäldern auf den Bergeshöhen, wie die stärksten Tiere dort ihr Lager haben – erschreckt und entsetzt von der ungeheuren Wirkung, deren Ursache sie nicht wußten, die Augen und gewahrten den Himmel. Da nun in solchem Fall die Natur des Menschengeistes es mit sich bringt, daß er einer derartigen Wirkung sein eigenes Wesen zuschreibt – ihr Wesen aber das von Menschen war, die nur aus ungeheuren Körperkräften bestehen und heulend und brüllend sich gegenseitig ihre wilden Leidenschaften kundmachen – so erdichteten sie den Himmel als einen großen belebten Körper, den sie Jupiter nannten, den ersten der Götter, der ihnen durch das Zischen des Blitzes und das Krachen des Donners etwas mitteilen wollte. Diese ersten theologischen Dichter, die keinen Gebrauch vom Verstand machen konnten, verliehen durch einen weit erhabeneren, ganz entgegengesetzten Akt Sinne und Leidenschaften den Körpern, und sogar so riesigen Körpern wie Himmel, Erde und Meer. Als aber später solche ungeheure Kraft der Phantasie verarmte und die Fähigkeit zur Abstraktion stärker wurde, nahm man sie als kleine Zeichen ihrer selbst. Die Unwissenheit der Grammatiker über die bis heute verborgen gebliebenen Ursprünge der menschlichen Dinge machte solche Verwechslung zum System: Jupiter wurde so klein und leicht, daß ihn ein Adler im Fluge trug; Neptun eilt auf einer leichten Muschel über das Meer; und Kybele sitzt auf einem Löwen. Aus diesen und vielen anderen Dingen kann bewiesen werden, daß sämtliche Sprachbilder nicht, wie man bisher geglaubt hat, geistreiche Erfindungen der Schriftsteller gewesen sind, sondern Ausdrucksarten, die für die ersten poetischen Völker Bedürfnis waren, und daß sie ursprünglich ihre eigentümliche Bedeutung ganz besaßen. Als aber bei wachsender Aufklärung des Menschen-

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 Texte aus der Frankfurter Zeitung

geistes sich Worte fanden, die abstrakte Formen bedeuten, oder Gattungsbegriffe, die ihre Arten einbegreifen oder die Teile mit dem Ganzen verbinden, da wurden die Ausdrucksweisen der ersten Völker zu Uebertragungen; und hier beginnen zwei allgemein verbreitete Irrtümer der Grammatiker in sich zusammenzufallen: daß die prosaische Sprache die eigentliche, die der Dichter die uneigentliche sei; und daß man zuerst in Prosa und dann in Versen gesprochen habe. G i a m b a t t i s t a V i c o (1668—1744) Jugend und Alter. So wie sich das Kind oder die Nation änderte, so mit ihr die Sprache. Entsetzen, Furcht und Verwunderung verschwand allmählich, da man die Gegenstände mehr kennenlernte; man ward mit ihnen vertraut und gab ihnen Namen, Namen, die von der Natur abgezogen waren und ihr soviel möglich im Tönen nachahmten. Bei den Gegenständen fürs Auge mußte die Geberdung noch sehr zu Hülfe kommen, um sich verständlich zu machen; und ihr ganzes Wörterbuch war noch sinnlich. Ihre Sprachwerkzeuge wurden biegsamer und die Accente weniger schreiend. Man sang also, wie viele Völker es noch thun, und wie es die alten Geschichtsschreiber durchgehend von ihren Vorfahren behaupten. Man pantomimisierte und nahm Körper und Geberden zu Hülfe: damals war die Sprache in ihren Verbindungen noch sehr ungeordnet und unregelmäßig in ihren Formen. Das Kind erhob sich zum Jünglinge; die Wildheit senkte sich zur politischen Ruhe; die Lebens- und Denkart legte ihr rauschendes Feuer ab; der Gesang der Sprache floß lieblich von der Zunge herunter, wie dem Nestor des Homers, und säuselte in die Ohren. Man nahm Begriffe, die nicht sinnlich waren, in die Sprache; man nannte sie aber, wie von selbst zu vermuten ist, mit bekannten sinnlichen Namen; daher müssen die ersten Sprachen bildervoll und reich an Metaphern gewesen sein. Und dieses jugendliche Sprachalter war bloß das poetische: man sang im gemeinen Leben, und der Dichter erhöhete nur seine Accente in einem für das Ohr gewählten Rhythmus; die Sprache war sinnlich und reich an kühnen Bildern; sie war noch ein Ausdruck der Leidenschaft, sie war noch in den Verbindungen ungefesselt; der Periode fiel auseinander, wie er wollte! – Seht! das ist die poetische Sprache, der poetische Periode. Die beste Blüthe der Jugend in der Sprache war die Zeit der Dichter; da es noch keine Schriftsteller gab, so verewigten sie die merkwürdigsten Thaten durch Lieder; durch Gesänge lehrten sie, und in den Gesängen waren nach der damaligen Zeit der Welt Schlachten und Siege, Fabeln und Sittensprüche, Gesetze und Mythologie enthalten. Daß dies bei den Griechen so gewesen, beweisen die Büchertitel der ältesten verlorenen Schriftsteller, und daß es bei jedem Volk so gewesen, zeugen die ältesten Nachrichten.



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Je älter der Jüngling wird, je mehr ernste Weisheit und politische Gesetztheit seinen Charakter bildet, je mehr wird er männlich und hört auf, Jüngling zu sein. Eine Sprache in ihrem männlichen Alter ist nicht eigentlich mehr Poesie, sondern die schöne Prosa. Jede hohe Stufe neiget sich wieder zum Abfall, und wenn wir einen Zeitpunkt in der Sprache für den am meisten poetischen annehmen, so muß nach demselbem die Dichtkunst sich wieder neigen. Je mehr sie Kunst wird, je mehr entfernet sie sich von der Natur. Je eingezogener und politischer die Sitten werden, je weniger die Leidenschaften in der Welt wirken, desto mehr verlieret sie an Gegenständen. Je mehr man an Perioden künstelt, je mehr die Inversionen abschaffet, je mehr bürgerliche und abstrakte Wörter eingeführet werden, je mehr Regeln eine Sprache erhält, desto vollkommener wird sie zwar, aber desto mehr verliert die wahre Poesie. Jetzt ward der Periode der Prosa geboren und in die Runde gedrehet: durch Uebung und Bemerkung ward diese Zeit, da sie am besten war, das Alter der schönen Prosa, die den Reichthum ihrer Jugend mäßig brauchte, die den Eigensinn der Idiotismen einschränkte, ohne ihn ganz abzuschaffen, die die Freiheit der Inversionen mäßigte, ohne doch noch die Fesseln einer philosophischen Konstruktion über sich zu nehmen, die den poetischen Rhythmus zum Wohlklang der Prosa herunterstimmte und die vorher freie Anordnung der Worte mehr in die Runde eines Perioden einschloß – dies ist das männliche Alter der Sprache. Das hohe Alter weiß statt Schönheit bloß von Richtigkeit. Diese entziehet ihrem Reichthum, wie die lacedämonische Diät die attische Wohllust verbannet. Je mehr die Grammatici den Inversionen Fesseln anlegen, je mehr der Weltweise die Synonymen zu unterscheiden oder wegzuwerfen sucht, je mehr er statt der uneigentlichen eigentliche Worte einführen kann; je mehr verlieret die Sprache Reize, aber auch desto weniger wird sie sündigen. Ein Fremder in Sparta siehet keine Unordnungen und keine Ergötzungen. Dies ist das philosophische Zeitalter der Sprache. J o h a n n G o t t f r i e d H e r d e r (1744—1806) Die ideelle Ganzheit. Die Sprache muß zwar, meiner vollsten Ueberzeugung nach, als unmittelbar in den Menschen gelegt angesehen werden; denn als Werk seines Verstandes in der Klarheit des Bewußtseins ist sie durchaus unerklärbar. Es hilft nicht, zu ihrer Erfindung Jahrtausende und abermals Jahrtausende einzuräumen. Die Sprache ließe sich nicht erfinden, wenn nicht ihr Typus schon in dem menschlichen Verstande vorhanden wäre. Damit der Mensch nur ein einziges Wort wahrhaft, nicht als bloßen sinnlichen Anstoß, sondern als artikulierten, einen Begriff bezeichnenden Laut verstehe, muß schon die Sprache ganz, und im Zusammenhang in ihm liegen. Es gibt nichts Einzelnes in der Sprache, jedes ihrer Elemente kündigt

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 Texte aus der Frankfurter Zeitung

sich nur als Teil eines Ganzen an. So natürlich die Annahme allmählicher Ausbildung der Sprachen ist, so konnte die Erfindung mit einem Schlage geschehen. Der Mensch ist nur Mensch durch Sprache; um aber die Sprache zu erfinden, müßte er schon Mensch sein. So wie man wähnt, daß dies allmählich und stufenweise, gleichsam umzechig, geschehen, durch einen Teil mehr erfundener Sprache der Mensch mehr Mensch werden, und durch diese Steigerung wieder mehr Sprache erfinden könne, verkennt man die Untrennbarkeit des menschlichen Bewußtseins, und der menschlichen Sprache, und die Natur der Verstandeshandlung, welche zum Begreifen eines einzigen Wortes erfordert wird, aber hernach hinreicht, die ganze Sprache zu fassen. Darum aber darf man sich die Sprache nicht als etwas fertig Gegebenes denken, da sonst ebensowenig zu begreifen wäre, wie der Mensch die gegebene verstehen, und sich ihrer bedienen könnte. Sie geht notwendig aus ihm selbst hervor, und gewiß auch nur nach und nach, aber so, daß ihr Organismus nicht zwar als eine tote Masse, im Dunkel der Seele liegt, aber als Gesetz die Funktionen der Denkkraft bedingt, und mithin das erste Wort schon die ganze Sprache antönt und voraussetzt. Wenn sich daher dasjenige, wovon es eigentlich nichts Gleiches im ganzen Gebiete des Denkbaren gibt, mit etwas anderem vergleichen läßt, so kann man an den Naturinstinkt der Tiere erinnern, und die Sprache einen intellektuellen der Vernunft nennen. So wenig sich der Instinkt der Tiere aus ihren geistigen Anlagen erklären läßt, ebensowenig kann man für die Erfindung der Sprachen Rechenschaft geben aus den Begriffen und dem Denkvermögen der rohen und wilden Nationen, welche ihre Schöpfer sind. Ich habe mir daher nie vorstellen können, daß ein sehr konsequenter, und in seiner Mannigfaltigkeit künstlicher Sprachbau große Gedankenübung voraussetzen, und eine verloren gegangene Bildung beweisen sollte. Aus dem rohesten Naturstande kann eine solche Sprache, die selbst Produkt der Natur, aber der Natur der menschlichen Vernunft ist, hervorgehen. Konsequenz, Gleichförmigkeit, auch bei verwickeltem Bau, ist überall Gepräge der Erzeugnisse der Natur, und die Schwierigkeit, sie hervorzubringen, ist nicht die hauptsächlichste. Die wahre der Spracherfindung liegt nicht sowohl in der Aneinanderreihung und Unterordnung einer Menge sich aufeinander beziehender Verhältnisse, als vielmehr in der unergründlichen Tiefe der einfachen Verstandeshandlung, die überhaupt zum Verstehen und Hervorbringen der Sprache auch in einem einzigen ihrer Elemente gehört. Ist dies gegeben, so folgt alles übrige von selbst, und es kann nicht erlernt werden, muß ursprünglich im Menschen vorhanden sein. Der Instinkt des Menschen aber ist minder gebunden, und läßt dem Einflusse der Individualität Raum. Daher kann das Werk des Vernunftinstinkts zu größerer oder geringerer Vollkommenheit gedeihen, da das Erzeugnis des tierischen eine stetigere Gleichförmigkeit bewahrt, und es widerspricht nicht dem Begriffe der Sprache, daß einige in dem Zustande, in welchem sie uns erscheinen, der



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vollendeten Ausbildung wirklich unfähig wären. Die Erfahrung bei Uebersetzungen aus sehr verschiedenen Sprachen, und bei dem Gebrauche der rohesten und ungebildetsten zur Unterweisung in den geheimnisvollsten Lehren einer geoffenbarten Religion zeigt zwar, daß sich, wenn auch mit großen Verschiedenheiten des Gelingens, in jeder jede Ideenreihe ausdrücken läßt. Dies aber ist bloß eine Folge der allgemeinen Verwandtschaft aller, und der Biegsamkeit der Begriffe, und ihrer Zeichen. Für die Sprachen selbst und ihren Einfluß auf die Nationen beweist nur, was aus ihnen natürlich hervorgeht; nicht das, wozu sie gezwängt werden können, sondern das, wozu sie einladen und begeistern. W i l h e l m v o n H u m b o l d t (1767—1835) Sprache und Musik. Das Element der Sprache ist die Zeit, das aller übrigen Medien der Raum. Nur die Musik verläuft auch in der Zeit. Durchwandere ich nun das Reich der Sprache, um aus ihr die Musik gleichsam herauszulauschen, so stellt sich die Sache etwa folgendermaßen dar: Nehme ich an, daß die Prosa diejenige Form der Sprache ist, die der Musik am fernsten steht, so bemerke ich schon im rednerischen Vortrag, in dem Bau klangvoller Perioden einen Anklang des Musikalischen, der auf den verschiedenen Stufen des poetischen Vortrags, im Bau der Verse, im Reim immer stärker und stärker hervortritt, bis schließlich das Musikalische sich so kräftig entwickelt, daß die Sprache aufhört. Dann wird alles zur Musik, wie die Dichter so gerne sagen, um damit auszudrücken, daß sie der Idee gleichsam aufkündigen, daß die Idee für sie verschwindet. Daraus könnte man nun den Schluß ziehen, daß die Musik ein noch vollkommeneres Medium sei als die Sprache. Dies ist aber eines von jenen schmachtenden Mißverständnissen, die nur in leeren Köpfen aufkommen. Ich will hier nur auf den merkwürdigen Umstand aufmerksam machen, daß ich bei einer Bewegung in entgegengesetzter Richtung wiederum auf die Musik stoße. Wenn ich nämlich von der vom Begriff durchtränkten Prosa abwärts steige, so komme ich bei den Interjektionen an, die wieder musikalisch sind, wie ja des Kindes erstes Lallen musikalisch ist. Hier kann doch nicht wohl die Rede davon sein, daß die Musik ein vollkommeneres oder reicheres Medium sei als die Sprache, es sei denn, daß man annähme, ein unartikuliertes „Uh“ sei mehr wert als ein ganzer Gedanke. Was folgt daraus? Wo die Sprache aufhört, da fängt das Musikalische an – wohl der vollkommenste Ausdruck dafür, daß die Musik überall die Sprache begrenzt. Jetzt sieht man auch, wie das Mißverständnis entstehen konnte, daß die Musik ein reicheres Medium sei als die Sprache. Wenn nämlich die Sprache aufhört und die Musik anfängt, wenn, wie man sagt, alles zur Musik wird, so zeigt das, daß man nicht vorwärts, sondern rückwärts geschritten ist. – Hier liegt

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 Texte aus der Frankfurter Zeitung

nun freilich der Einwand nahe: wenn es richtig ist, daß die Sprache ein reicheres Medium ist als die Musik, wie kommt es, daß es so außerordentlich schwierig ist, der Musik ästhetisch gerecht zu werden, daß sich in dieser Hinsicht die Sprache im Vergleich mit der Musik als das ärmere Medium erweist? Dies ist jedoch keineswegs unbegreiflich oder unnatürlich. Die Musik drückt nämlich beständig das Unmittelbare in seiner Unmittelbarkeit aus: darum stellt die Musik im Verhältnis zur Sprache ein früheres oder späteres Stadium dar, und darum ist es ein Mißverständnis zu sagen, die Musik sei das vollkommenere Medium. Die Sprache hat die Reflexion in sich genommen; deshalb kann sie das Unmittelbare nicht ausdrücken. Die Reflexion tötet das Unmittelbare: deshalb ist es unmöglich, in der Sprache das Musikalische auszudrücken. Aber diese scheinbare Armut der Sprache ist gerade ihr Reichtum. Das Unmittelbare ist nämlich das Unbestimmbare, und deshalb kann die Sprache es nicht auffassen; aber daß es das Unbestimmbare ist, bedeutet nicht eine Vollkommenheit, sondern einen Mangel. S ö r e n K i e r k e g a a r d (1813—1855) Gebilde der Freiheit. Die Sprache ist ein Produkt des organischen Bildungstriebes. So wie nun dieser überall dasselbe unter den verschiedensten Umständen bildet, so bildet sich auch hier durch Kultur, durch steigende Ausbildung und Belebung die Sprache zum tiefsinnigen Ausdruck der Idee der Organisation, zum System der Philosophie. Die ganze Sprache ist ein Postulat. Sie ist positiven, freien Ursprungs. Man muß sich einverstehen, bei gewissen Zeichen gewisse Dinge zu denken, mit Absicht etwas Bestimmtes in sich zu konstruieren. Es ist eigentlich um das Sprechen und Schreiben eine närrische Sache; das rechte Gespräch ist ein bloßes Wortspiel. Der lächerliche Irrtum ist nur zu bewundern, daß die Leute meinen, sie sprechen um der Dinge willen. Gerade das Eigentümliche der Sprache, daß sie sich bloß um sich selbst bekümmert, weiß keiner. Darum ist sie ein so wunderbares und fruchtbares Geheimnis, das, wenn einer bloß spricht, um zu sprechen, ja gerade die herrlichsten originellsten Wahrheiten ausspricht. Will er aber von etwas Bestimmtem sprechen, so läßt ihn die launige Sprache das lächerlichste und verkehrteste Zeug sagen. Daraus entsteht auch der Haß, den so manche ernsthafte Leute gegen die Sprache haben. Sie merken ihren Mutwillen, merken aber nicht, daß das verächtliche Schwatzen die unendlich ernsthafte Seite der Sprache ist. Wenn man den Leuten nur begreiflich machen könnte, daß es mit der Sprache wie mit den mathematischen Formeln sei: sie machen eine Welt für sich aus, sie spielen nur mit sich selbst, drücken nichts als ihre wunderbare Natur aus, und eben darum sind sie so ausdrucksvoll, eben



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darum spiegelt sich in ihnen das seltsame Verhältnisspiel der Dinge. Nur durch ihre Freiheit sind sie Glieder der Natur, und nur in ihren freien Bewegungen äußert sich die Weltseele und macht sie zu einem zarten Maßstab und Grundriß der Dinge. So ist es auch mit der Sprache: Wer ein feines Gefühl ihrer Applikatur, ihres Takts, ihres musikalischen Geistes hat, wer in sich das zarte Wirken ihrer inneren Natur vernimmt, und danach seine Zunge oder seine Hand bewegt, der wird ein Prophet sein; dagegen wer es wohl weiß, aber nicht Ohr und Sinn genug für sie hat, Wahrheiten wie diese zu schreiben, von der Sprache selbst zum besten gehalten und von den Menschen verspottet werden wird. Friedrich von Hardenberg (N o v a l i s) (1772—1801) Schriftstellerei und Stil. Die Sprache ist ein Kunstwerk und soll als ein solches, also o b j e k t i v genommen werden, und demgemäß soll alles in ihr Ausgedrückte regelrecht und seiner Absicht entsprechend sein, und in jedem Satz muß das, was er besagen soll, wirklich nachzuweisen sein, als objektiv darin liegend; nicht aber soll man die Sprache bloß s u b j e k t i v nehmen und sich notdürftig ausdrücken, in der Hoffnung, der andere werde wohl erraten, was man meine. Der Stil ist die Physiognomie des Geistes. Sie ist untrüglicher als die des Leibes. Fremden Stil nachahmen heißt eine Maske tragen. Wäre diese auch noch so schön, so wird sie, durch das Leblose, bald insipid und unerträglich; so daß selbst das häßlichste lebendige Gesicht besser ist. Den deutschen Schriftstellern würde durchgängig die Einsicht zustatten kommen, daß man zwar, wo möglich, denken soll wie ein großer Geist, hingegen dieselbe Sprache reden wie jeder andere. Man brauche gewöhnliche Worte und sage ungewöhnliche Dinge. Wer etwas Sagenswertes zu sagen hat, braucht es nicht in pretiöse Ausdrücke, schwierige Fragen und dunkle Allusionen zu verhüllen, sondern er kann es einfach, deutlich und naiv aussprechen, und dabei sicher sein, daß es seine Wirkung nicht verfehlen wird. Daher verrät, durch obige Kunstmittel, wer sie braucht, seine Armut an Gedanken, Geist und Kenntnissen. Nichtsdestoweniger ist es ein falsches Bestreben, geradezu so schreiben zu wollen wie man redet. Vielmehr soll jeder Schriftstil eine gewisse Spur der Verwandtschaft mit dem Lapidar-Stil tragen, der ja ihrer aller Ahnherr ist. Jenes ist daher so verwerflich wie das Umgekehrte, nämlich reden zu wollen wie man schreibt; welches pedantisch und schwer verständlich zugleich herauskommt. A r t h u r S c h o p e n h a u e r (1788—1860)

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Das Werkzeug. Die Sprache ist ein Handwerkzeug, dessen Gebrauch man durch die Beschreibung des Gegenstandes erlernt, – ähnlich wie man die Schützenkunst sich vor der Scheibe erwirbt. Wichtig ist daher vor allem die Erziehung zur sachlichen Schilderung, beginnend etwa mit der Beschreibung des Apfels, und zwar des Apfels, der während des Schreibens auf dem Tische liegt. Zu erstreben ist, daß der Gegenstand durch die Feder wie durch einen Pinsel getroffen wird; zu vermeiden dagegen die Umsetzung des Gegenstandes in Geist, die zu der allgemein so beliebten Prosa führt, bei der man an jedem Interpunktionszeichen das Beifallsklatschen zu vernehmen glaubte, das der Autor seinen eigenen Gedanken zollt. In einer Zeit, in der die Aufmerksamkeit schärfer als je auf die Rasse gerichtet ist, darf man nicht übersehen, daß die Treffsicherheit der Sprache zu den wesentlichen Kennzeichen der ausgeprägten Rasse gehört. Der Mangel an literarischen Schulen gehört daher zu den bedenklichen Anzeichen. Auch Nietzsche, dessen Erscheinung als das letzte große Ereignis der deutschen Sprache zu betrachten ist, hat keine eigentliche Schule hinterlassen, obwohl sein Einfluß überall nachzuweisen ist. Der Mangel an Mustern und der damit notwendig verbundene Mangel an gültiger Kritik erschwert es dem Einzelnen außerordentlich, sich seine Sprache zu erarbeiten. Wo die Sprache eine gummiartige Dehnbarkeit besitzt, dringt man höchstens bis zur Gesinnung, das heißt zu einem schlechten Stil, der sich hinter großen Worten vesteckt, oder aber bis in die Zone der Artistik vor. Dies entbindet den Einzelnen nicht von der Verantwortung, und in einem Zustande, in dem es der Sprache an Maßstäben fehlt, bleibt doch der Maßstab des Gegenstandes bestehen. E r n s t J ü n g e r

26 Dolf Sternberger [6. Juni 1937] Verschriebene Schreiber. Es gibt ein Wort, das sich in jüngster Zeit mit einer dämonischen Beflissenheit und Zähigkeit in den deutschen Sprachgebrauch, namentlich in denjenigen der Zeitungen, aber auch der amtlichen Briefe, der Prospekte und sonstigen öffentlichen Schriftstücke, eingenistet hat und das, einmal halbwegs geläufig geworden, nun der Bereich seiner usurpierten Herrschaft immer weiter und weiter ausdehnt. Mit Windeseile hat es sich die Köpfe schreibenden und redenden Volks untertan gemacht, und diese unabsehbaren Triumphe waren deswegen so leicht, weil jeder einzelne seiner Untertanen nicht etwa mit Zähneknirschen, nicht einmal nur mit männlicher Fassung, nein mit Eifer, mit Genuß sogar sich dieser Herrschaft beugt. Nicht anders als der Teufel selbst leiht dies Wortwesen jedem, der sich



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ihm verschreibt – und was läge den Schreibern näher, als sich zu verschreiben! –, eine jedermann imponierende Gewalt über das Schicksal und über die Welt im ganzen, zudem und vor allem ein bedeutendes Gefühl von solcher Macht der eigenen Person. Aber es ist eben ein Vertrag mit dem Teufel: diese Macht bleibt Blendwerk und kann nicht hindern, daß die verschriebenen Schreiber irgendwann einmal ihres gebrachten Opfers inne werden müssen. Es ist hier nicht das Opfer der Seele, sondern des Geistes. Nun denn: wir meinen das Wort „d u r c h f ü h r e n“. Ehedem wurden allenfalls Pläne und Absichten durchgeführt (w e n n sie sich durchführen ließen), auch diese freilich nicht von vorneweg: sondern in der Erinnerung und genauen historischen Betrachtung konnte man dem oder jenem tatkräftigen Manne attestieren, er habe durchgeführt, was er sich einmal vorgesetzt hatte. Heute aber führt man allerorten nicht allein Pläne und Programme durch, sondern auch Versammlungen, Tagungen, Theateraufführungen, Konzerte, Feste und Feiern, Lehrgänge, ja selbst Erziehung überhaupt. Eine Achthundertjahrfeier* durchzuführen, scheint um so leichter zu sein, als sie nur alle achthundert Jahre vorkommt. Was nach alledem noch undurchgeführt geblieben ist – leider –, das wird dann doch wenigstens gestaltet. Und der Gipfel der Wonne scheint erreicht, wenn man es fertig bringt, die Gestaltung etwa eines Feierabends durchzuführen. Hybrisch weiß man‘s allemal auch schon vorher, daß dies und das durchgeführt werde, und begnügt sich keineswegs mit der bloßen Absicht, es durchzuführen. Eine unvergleichliche Energie, eine auf trockene Weise heitere Zuversicht spricht aus diesem Wort, wo immer es, gern begrüßt, sich einfindet. Die ganze Welt ist hier wieder zur platten Scheibe geworden, worauf die Durchführer sich nach Herzenslust tummeln, und stets klingt etwas von dem Gemütszustande eines Reklamechefs hervor, der auf dem ihm längst vertrauten „Streufeld“ des Publikums munter und siegessicher einen „Werbefeldzug“ durchführt. Der Widerstand von Dingen und Menschen, die Besonderheiten des jeweiligen „Materials“, mit dem man umgeht in jenen Unterhaltungen, bei jenen Aufführungen, Konzerten, Abendkursen, schrumpft zu einem Nichts zusammen, und zugleich trocknet alle Heiterkeit jener Volksfeste, alle Macht der Gedanken oder Dichtungen zum dürrsten Leder ein. Ueberdies scheint das stolze Bewußtsein, daß etwas durchgeführt werde, allen bestimmten Inhalt dessen, w a s da durchgeführt wird, völlig belanglos zu machen. Morgen wird das und das durchgeführt – heißt es, und nachher: gestern ist das und das durchgeführt worden. Ausgezeichnet, denkt man, welche Energie! Was war‘s aber eigentlich? Eben brauste es heran, nun ist‘s schon vorbeigeschossen, und es bleibt uns Zuschauern nichts, als auf die leere Stelle zu schauen. Da ist kein Objekt mehr, da geht nichts eigentlich vor, da passiert nichts Unerwartetes, da sind keine Menschen am Werk. Das ist alles verkauft und verschrieben.

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 Texte aus der Frankfurter Zeitung

Nein, der Schein solcher Energie ist allzu glatt. Wir sind gründlich betrogen von diesem Wort-Teufel. d. st.

27 Gerhard Storz [13. Juni 1937] Der Eifer für die Sprache. Wenn man in Zeitungen und Zeitschriften, in neueren Veröffentlichungen blättert, wird man mit Erstaunen gewahr, wie vieler Liebhaber die Sprache in jüngster Zeit sich rühmen darf. Und, will man im Eifern und in der Eifersucht eine Liebesprobe erblicken, dem Schwarm dieser Freier ist es recht ernst: so gewalttätig und endgültig der geliebten Sprache jeder Umgang außerhalb des oft recht eng gezogenen Burgfriedens von ihren Verehrern verboten wird, so aufgebracht und mißgünstig lassen sie sich an, wenn unversehens ein neuer Pfleger im Heiligtum sich zu schaffen macht. Freilich, es ist wirklich so: die Sprache erreichen wir nur in der L i e b e – nicht nur, daß die Liebe uns die schönsten und tiefsten Worte eingibt, oder daß sie einen Menschen rasch eine fremde Sprache erlernen und meistern läßt, mehr noch – die Beziehung zwischen der Sprache und der Liebe ist anfänglichster und allgemeinster Art. Sprache ist nicht so viel wie Sammlung von Wörtern und Wendungen. Liebe ist nicht gekennzeichnet durch Beherrschen und Besitzen; es gibt Beziehungen unter den Menschen, zwischen Person und Sache, vom Eigenen zum Fremden, Verbindungen, die enger sind. Sie entstehen in dem, was die Sprache so sichtvoll „Hingabe“ nennt. Ob sie einem Menschen gilt oder einem Ding, einer Leidenschaft oder einem Gedanken, immer dringt sie tief ein, so sehr, daß das Einzelne durchleuchtet wird und nun in einer noch nie zuvor bemerkten Verbundenheit mit vielem und anderem, mit dem Ganzen einer Welt erscheint. Und wie die leidenschaftliche Vereinzelung in eine äußerste Verallgemeinerung sich verwandelt, so thut sich die Versenkung in das Geliebte als ein Zustand dar, in dem unser Geist gleichzeitig handelt und erfährt. Jetzt aber, an diesem Punkt, ergibt sich die Sprache dieser gedoppelten Kraft unseres Geistes; sie kommt der Stärke seines Verlangens entgegen. Denn seinem Drängen nach Vereinigung, sie ziele nach dem Bescheidensten oder Nächsten, dem Festesten oder dem Flüchtigsten, ist dies eine Organ zugeordnet: die Sprache. Anspannung, Begabung und Begnadung, der ganze Ablauf leidenschaftlicher Versenkung, erfüllt und löst sich im Sagen, Benennen und Beschreiben. Im Wort erfolgt die Vereinigung unseres Geistes mit dem Gegenstand seiner Liebe, im Wort wird das Unsichtbare sichtbar, das Flüchtige greifbar, das Ferne erreichbar: allein im Wort und mit dem Wort erschafft und besitzt unser Geist. Diese Art von Beschwörung vollzieht sich immer noch in einer angeblich entzauberten Welt.



Der Eifer für die Sprache. 

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Wo immer das Wort Kraft hat, wenn immer die Sprache lebendig anspricht und in klarem Bau sich fügt, geschieht das nur, weil Versenkung, Sorgfalt, Ergriffensein zuvor war. Um die Sprache sich bemühen, bedeutet also über die R e d l i c h k e i t des Denkens und Fühlens selber wachen. Redlichkeit im weitesten Sinn, denn selbst Begeisterung kann noch unredlich sein. Nichts also steht der Sprache so hemmend entgegen wie Flüchtigkeit des Denkens und Erlebens. Alles Fehlerhafte und Unschöne im Gebrauch der Muttersprache geht auf solche Flüchtigkeit zurück: Das Wort entsteht nicht mehr aus dem Umgang mit den Dingen, nicht mehr aus der Hingabe an den Gedanken. Weil aber gerade dem Flüchtigen das Wort sich weigert, bleibt seiner Haft nichts übrig, als das Wort zu v e r g e w a l t i g e n. Und ist das Wort erniedrigt worden zum bloßen Buchstabenzeichen für irgend etwas, was der Leser oder Hörer – so denkt der Flüchtige – ja schon des Näheren und im übrigen weiß, dann besteht kein Unterschied mehr zwischen Lauten der Muttersprache und den für uns bildlosen Zeichen einer fremden. Deshalb, weil Flüchtigkeit leider fast die gewöhnliche Haltung gegenüber der Sprache geworden ist, haben die Liebhaber des Wortes in jüngster Zeit so viel Grund, zu ermahnen, zu warnen und zu verbieten. Freilich mit dem Kampf gegen einzelne Wortungeheuer ist nicht viel getan, denn ihre Ursache, die Flüchtigkeit, ist wahrlich eine Hydra, die alsbald nur mehr und scheußlichere Mißbildungen aufschwellen läßt. Dem Uebelstand wäre nur dadurch abzuhelfen, daß man sich gewöhnte, langsamer mit dem Wort zu verfahren, und wenigstens vor das Schreiben wieder etwas von der beschwerlichen Feierlichkeit zu setzen, die es für den redlichen und klaren Menschen zu allen Zeiten besaß. Alles Bemühen um die Sprache muß immer auf die Einsicht sich gründen, daß dem einzelnen Wort, ob es nun treffend und schön oder verschwommen und häßlich ist, das Formen und Fügen des Gedankens zum Ganzen, zum Satz voran gehen muß. Denn ein Mensch, der sich müht und gewöhnt, Sätze zu bauen, formt und bildet, an Gedanken zuerst und dann in Worten. Wer aber Worte prüfend wägt, lernt sie verstehen, ehren und richtig gebrauchen. Dies alles bedeutet aber, daß Anleitung und Gewöhnung auf die Dauer fruchtbarer sind als Verbote. Zumal da es mit dem Verbot gegenüber Erscheinungen der Sprache so eine Sache ist: wie häufig entspringt die zornig vorschnelle Aechtung eines einzelnen Wortes einem ganz bestimmten Zusammenhang oder gar dem bloßen Geschmack eines Einzelnen (z.B. der in letzter Zeit zu beobachtende Kampf gegen die Fürwörter „derselbe“ und „derjenige“). Mit einem solchen, nur in einem einzelnen Fall berechtigten Verbot fällt dann häufig genug die Verpönung einer Redeform zusammen, nach der unser Denken ebenso verlangt wie ein reicheres Sprachbedürfnis. Und eine sorgfältigere Untersuchung ergibt oft genug, daß die Sprachgesetze und die Wortgeschichte die verbotene Redeform durchaus rechtfertigen.

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 Texte aus der Frankfurter Zeitung

Die Geschichte des menschlichen Geistes läßt eine geheime und schreckhafte Erscheinung entdecken: der haßbesessene Kämpfer gleicht sich von innen her und insgeheim seinem Gegner immer mehr an, so sehr, daß der endliche Sieger alle Züge des vernichteten Widersachers zeigt. Dieses seltsame Gesetz erfüllt sich zusehends an den Eiferern unter den Sprachpflegern. Solange zum Beispiel ein F r e m d w o r t, also ein einzelnes Wort, getilgt wird, nur weil es fremd ist, wird damit für die Sprache und für unsere Haltung gegenüber der Muttersprache noch nichts getan. Was einen Freund des Deutschen dem Fremdwort geflissentlich ausweichen läßt, ist das Bewußtsein, daß dort, wo man es setzen wollte, der Gedanke noch nicht klar genug, noch nicht sauber zu Ende gedacht war. (Nicht umsonst ließ man uns vor 25 Jahren, wenn die Anforderungen besonders hoch sein sollten, fremdwortgespickte Zeitungsartikel ins Latein übersetzen!) Denn im Fremdwort beruft unsere Aussage, ohne sich dessen bewußt zu sein und ungefähr genug, sich auf allgemein bekannte Erkenntnisse und ergänzende Zusammenhänge. Klar aber ist ein Gedankengang nur, wenn er vom Anfang bis zum Ende in uns entstand, ganz aus sich selbst gedacht und also bis ins Einzelne und Letzte von uns geklärt und geprägt wurde: Beim Denken und Sprechen ist es wirklich so, als ob diese alte Welt noch einmal bei uns anfinge! Was den Ehrgeizigen aber reizt, und zwar mit großer Macht, ohne Fremdwort auszukommen, ist die Einsicht, daß Fremdwörter nicht selten unseren Mangel an Kraft und Fülle des Ausdrucks verbergen wollen. So wird das Fremdwort dem Liebhaber der Sprache zu einer Art von „schmerzlicher Scham“, die seine Leistung im Bauen von Sätzen beflügeln wird. Der verkrampfte Hasser des Fremden (und schließlich müßte doch auch bedacht werden, daß die Sprache ein Element voll eigenen Lebens ist und daß Sprachen benachbarter Völker sich im Lauf langer Zeit niemals anders verhielten und verhalten als die mancherlei Wasser in der Erde und in den Flüssen zwischen den Bergen dort und den Meeren hier) ersetzt häufig nur die fremdsilbige Gedankenträgheit durch eine deutsche, und sagt etwa für „Desinfizierung“ eines Tages „Entwesung“: die Silben haben gewechselt, das Verhältnis des Schreibers zur Sprache und zum Wort ist das gleiche, äußerliche geblieben. Nur daß eine Häßlichkeit, die bislang wenigstens noch als fremd gekennzeichnet war, nun unserer Sprache aufgepackt wurde. So triumphiert das Fremdwort bisweilen niemals hämischer als im „Ersatz“ aus zusammengestoppelten Silben der Muttersprache. Es sollte aber nicht „ausgemerzt“, sondern durch größere Sprachkraft ü b e r w u n d e n werden, und dafür gibt es allerdings kaum eine bessere Uebung als die, ein solches Papierwort (fast alle Fremdwörter sind es) ins strenge L a t e i n zu übersetzen: in jedem einzelnen Fall muß es auf eigene Weise geschehen, jedesmal aber durch schärferes Denken, durch lebendigeren, gegenständlichen Ausdruck. Solche Überwindung des Fremdworts ist freilich mühevoller als ein Verfahren, das im Sinn von „Auge um Auge“ zu Werk geht und mechanisch



Der Eifer für die Sprache. 

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das fremde Hauptwort durch ein deutsches Hauptwort, das fremde Zeitwort durch ein deutsches Zeitwort ersetzt. Findet sich kein gültiges Wort der Muttersprache, nun dann stoppelt man flugs ein solches zusammen. Gerade in der Mühe aber, die es kostet, ein Fremdwort zu überwinden, steckt der eigentliche Sinn dieses Bemühens. Pflege der Sprache erschöpft sich nicht im Kampf gegen das Fremdwort oder gegen falschen Gebrauch einzelner Wörter. Nachdem es eine gewisse Zeit lang so hat aussehen wollen, macht sich diese umfassendere Einsicht seit einiger Zeit in der Neigung gewisser Sprachpfleger kund, n e u e W ö r t e r zu bilden. Als ob die deutsche Sprache nicht reich genug an Wörtern wäre! Und die Sprachnot, von der man jetzt so viel spricht, hat wahrlich nicht im M a n g e l an Wörtern ihren Ursprung. Man widmet sich also da und dort der „Wortaufartung“ und hat seine Meinung von der Sprache schon in diesem einen Wort geoffenbart. Und wenn man bei Sprachpflegern dieser schöpferischen Art vom „Bautum“ unserer Sprache, ihrem „Arttum“ und der „kultürlichen“ Bedeutung dieser und jener Dinge zu lesen bekommt, wartet man gerne noch möglichst lange auf weitere Füllen aus solchen Zuchtanstalten. Besser als solche Neuheiten, besser auch als eine Art von Schulmeisterei an den Zeitgenossen, die da meint, eine Wendung sei schon zu vermeiden, nur weil sie üblich ist (zum Beispiel die Wortfolge „keinerlei Zwang“), besser ist es, das uns Ueberkommene zu verstehen: wir sollten von unserer Sprache, der Geschichte ihrer Wörter, den Eigentümlichkeiten ihres Gebrauchs mehr w i s s e n! Und dieses Bestreben, das Eigene zu verstehen, wird durch nichts so sehr gefördert als durch den Vergleich mit dem entschieden anders Gearteten: das gründliche Erlernen einer fremden Sprache, einer klassischen oder romanischen, ist ein vortreffliches Mittel, unserer Sprache bewußt und sicher zu werden. Zunächst und zuletzt wird es gelten, das Ueberkommene in uns neu werden zu lassen und am Gültigen uns zu bewähren; eine unaufhörliche Schule der Lauterkeit im Denken und Fühlen! Wenn uns aber einmal etwas wesentlich Neues zu sagen gelingt, aus einer neuen Klarheit unseres Gedankens, aus einer neuen Stärke unseres Gefühls, dann wird die Sprache selbst es sein, die uns unmerklich neue Worte eingibt. Dann ist es Zeit, sie zu sagen. Vorher aber nicht. —a—o—

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 Texte aus der Frankfurter Zeitung

28 Dolf Sternberger [19. Juli 1937] Tempel der Kunst. Adolf Hitler eröffnete das „Haus der Deutschen Kunst“. (Drahtmeldung unseres Sonderberichterstatters.)

dst München, 18. Juli. Die weite Säulenereihe des neuen Hauses, die rot und goldenen Standarten dazwischen, die geschlossenen Abteilungen von Wehrmacht und uniformierten Gliederungen der NSDAP, welche die Prinzregentenstraße säumten – all das vereinigte sich an diesem Sonntagmorgen, bei aufgeklärtem Himmel, zu einer Dokumentation von Macht und Ordnung. Im Empfangsraum des Hauses, der wie die Ausstellungshallen selber sein Licht von oben empfängt, sammelten sich bis zehn Uhr die Gäste: die gesamte Reichsregierung, Mitglieder des Diplomatischen Korps, Reichs- und Gauleiter der NSDAP und andere führende Männer, sämtlich mit ihren Damen. In der ersten Stuhlreihe gewahrte man auch die Witwe des Erbauers, Frau Professor T r o o s t. In den Seitenschiffen der Halle, hinter einer Kette von Männern der SS, fand stehend noch eine Anzahl von Geladenen Platz. Die hier innen waren, vernahmen den Akt der Uebergabe des Hauses, die Worte des Münchner Gauleiters W a g n e r, des Vorsitzenden der Gesellschaft ,Haus der Deutschen Kunst’, Herrn v o n F i n c k, und den Dank des Führers und Reichskanzlers nur durch Lautsprecher: dies vollzog sich vor dem Portal auf der Freitreppe. Dann betrat A d o l f H i t l e r den feierlichen Raum, gefolgt von den genannten Herren, ferner vom Reichskriegsminister und Reichsluftfahrtminister. Nach der Darbietung eines Weihechors (Städtischer Chor Augsburg unter Otto J o c h u m) erteilte Gauleiter W a g n e r sogleich dem F ü h r e r u n d R e i c h s k a n z l e r das Wort. Es will fast überflüssig erscheinen, hier seine Rede zu charakterisieren: sie war, obwohl verzweigt, deutlich und entschieden genug. Nicht überflüssig aber ist es, von der außerordentlichen inneren Anteilnahme des Sprechenden an seinem Gegenstand einen Begriff zu geben, welcher allen Hörern spürbar werden mußte, die eigenste Leidenschaft und den Ton des persönlichen Erlebens zu bezeichnen, welche hier eindrucksvoll vernehmlich geworden sind. Auch denen, die diese Rede nur l e s e n, wird es nicht entgehen können, daß sie eine A b r e c h n u n g darstellt mit Gesinnungen und Theorien, die das öffentliche Kunstleben der hinter uns liegenden Epoche bestimmten – eine Abrechnung, die heute noch nicht beendet ist. Diese Auseinandersetzung, welche durch die Gleichzeitigkeit der G r o ß e n D e u t s c h e n K u n s t a u s s t e l l u n g mit der bereits angekündigten Schaustellung ,Entartete Kunst’ (sie wird von morgen ab zugänglich sein) ebenso schlagend illustriert wird wie durch den Entschluß Adolf Hitlers, einen unerbittlichen Säuberungskrieg im Bereich der Kunst zu führen – diese Auseinandersetzung



Ein guter Ausdruck. 

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wurde in der Rede zugleich mit den Waffen scharfer Ironie wie mit den Mitteln philosophischer Erörterung geführt. Der Begründung von Kunstformen auf die Z e i t, der Jagd nach Modernität wurde der E w i g k e i t sursprung und die Ewigkeitsgeltung der Kunst entgegengestellt, den Fragen gegenüber, welche sich auf inneres Erleben, heroisches Wollen, ursprüngliche Primitivität berufen, wurde der F l e i ß gepriesen, der Darstellung mißgestalteter Figuren der Kult der K r a f t u n d S c h ö n h e i t des Menschentyps vorgehalten. Das Gesetz der Klarheit – „deutsch sein heißt klar sein“* – wurde von neuem aufgerichtet, und an der Stelle spezialisierter Kenner und abseitiger Kritiker das V o l k selber zum R i c h t e r über seine Kunst aufgerufen. Kurz: der Führer und Reichskanzler hat hier die Lehre und die Maßstäbe gegeben, die der hohen Gründung eines Tempels der Kunst allein angemessen sind, das Programm und die Richtung der künftigen Kunstübung und Kunstpflege in Deutschland.

29 Dolf Sternberger [22. August 1937] Ein guter Ausdruck. „Ein guter Ausdruck ist so viel wert als ein guter Gedanke, weil es fast unmöglich ist, sich gut auszudrücken, ohne das Ausgedrückte von einer guten Seite zu zeigen.“ Lichtenberg

dst. Es gibt keinen Gedanken und kein Denken ohne Sprache. Es gibt keine Vorstellung, mag sie sich auch im innersten Busen verbergen, die nicht zum wenigsten Bruchstücke von Satz und Rede enthielte. Darum ist die Sprache niemals bloße Formsache und niemals – um eine oft und gern gebrauchte Metapher zu wiederholen – bloß das Kleid des Geistes. Gerade uns Deutschen liegt es nahe, die Sprache als „bloße Form“ in die zweite Reihe zu schieben und ihre Ausbildung von beiläufigen Tugenden zu erwarten, die man zwar gern sieht, wenn sie zu anderen hinzutreten, die man aber, für sich genommen, nicht sonderlich hochschätzt. So spricht man etwa von „Gewandtheit“ oder „Gefälligkeit“ des Ausdrucks und gibt zu verstehen, daß man dergleichen zur Not auch entbehren könnte. Wenn einer sonst das Herz auf dem rechten Fleck habe, heißt das, oder wenn er nur tiefe Gedanken habe, so brauche man auf den Ausdruck, auf die Sprache nicht mehr so viel zu geben. Von dem Augenblick an, in dem man anerkennt, daß Denken und Sprechen zweierlei sei, und, vor allem, daß zuerst gedacht, dann erst gesprochen werde – von diesem Augenblick an ist es freilich schwer, ja vergeblich, der Sprache das Wort zu reden, auf guten Ausdruck zu dringen. Denn so wird, sich gut auszudrücken, eben immer eine Sache zweiten Ranges bleiben, die zu pflegen (auch dies schöne Wort ‚pflegen‘ klingt nicht scharf genug) den Stunden der Muße und also auch nur den Leuten, die Muße

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 Texte aus der Frankfurter Zeitung

haben, überlassen wird. In Wahrheit kann einer nicht einen Deut mehr oder tiefer oder richtiger oder gründlicher gedacht haben, als er geredet und geschrieben hat. Wobei, wie sich versteht, das Schweigen und Verschweigen mit zum Reden gerechnet werden muß. Hat er schlecht gedacht, so wird er auch schlecht schreiben, und kein Glanz gefälliger Wendungen kann darüber täuschen. Genau ebenso gilt die Umkehrung: wer sich schlecht ausdrückt, hat schlecht gedacht, und keine Versicherung, daß er sich nur schlecht ausgedrückt habe, wird ihm davonhelfen. Ein guter Ausdruck ist so viel wert als ein guter Gedanke ... Gewiß nicht mehr wert (das ist überflüssig zu sagen), aber auch nicht weniger wert (das muß gesagt und eingesehen werden). *** Es steht nicht erst seit gestern schlecht um den Gebrauch der deutschen Sprache. Aber seit gestern oder sogar erst seit heute ist die Einsicht im Wachsen, daß es schlecht steht. Von mancherlei Beiläufigkeiten und Steckenpferden abgesehen, war es bisher fast ausschließlich der Kampf gegen die Fremdwörter, der öffentlich erörtert wurde. Heute beginnt der Kampf um die deutsche Sprache selber, der ein Kampf f ü r die Sprache ist, für die Genauigkeit und Gelenkigkeit des Ausdrucks, eine öffentliche Angelegenheit zu werden. Er ist eine öffentliche Angelegenheit, und eine vom höchsten Rang. Sie geht nicht die Dichter und Schriftsteller allein an, nicht – was man allenfalls noch zugäbe – die Journalisten allein, sondern ganz ebenso die Männer der Wissenschaft, die Richter und Anwälter, Lehrer aller Fächer und Arten, Geschäftsleute, Politiker, Techniker und Arbeiter. Sie betrifft schlechterdings jedermann. Denn es gibt niemand, der ohne Sprache auskäme – da sie uns allen gegeben ist –, und es gibt niemand, der sich der Forderung der Sprache ungestraft entziehen könnte. Die Sprache fordert aber nichts anderes, als daß der Mensch sich ihrer bediene. Das scheint wenig. Wenn es aber möglich wäre, eine Statistik anzulegen, worin verzeichnet wäre, wer und wann er sich der Sprache bedient und wer und wann er von der Sprache (das heißt von festgebackenen Formen und Metaphern, die wie unförmige Klöße in dünner Brühe zu schwimmen pflegen) sich gebrauchen läßt – das Ergebnis würde schaudern machen. Wer einen schlechten Ausdruck, ein schiefes Bild, eine falsche Satzform anwendet oder ungeprüft stehen läßt, der zeigt nicht bloß, was entschuldbar wäre, Mangel an Schönheitssinn oder ‚Stilgefühl‘, sondern zum wenigsten Mangel an Genauigkeit, Redlichkeit, Zuverlässigkeit, Selbständigkeit, Männlichkeit, also auch Mangel an Charakter. Er s p r i c h t die Sprache nicht selber, sondern er ist der Knecht dessen, was einmal irgendwo und irgendwann gesprochen wurde. Er ist fast so gut wie stumm - nein, schlimmer als stumm, denn er brauchte es nicht zu sein. Die Sprache fordert also vom Menschen nur, was seiner würdig ist: sie souverän zu gebrauchen. Diese Einsicht – die Einsicht, daß nicht bloß einzelne



Ein guter Ausdruck. 

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Sprachsünden, wie hartnäckig sie auch seien, auszutilgen sind, sondern daß der Gebrauch der Sprache von Grund auf gelernt und geübt werden muß – scheint im Wachsen. Es gibt Anzeichen dafür, daß das Bedürfnis nach Lehre, Regel und Uebung von vielen lebhaft gefühlt wird. Die starke Zustimmung, welche die in dieser Zeitung veröffentlichten Beiträge zu einem „grammatikalischen Laienbrevier“ bei Lesern aus allen möglichen Berufen gefunden haben, beweist es ebenso wie der Umstand, daß der erste und sehr glückliche Versuch eines Buchs zur Uebung im guten Ausdruck für die Schulen, die höheren wie die Volksschulen, in wenigen Jahren sich weit verbreitet hat. Wir meinen die „Schule des Schreibens“*, die der württembergische Studienrat Fritz Rahn verfaßt und soeben neu zu bearbeiten begonnen hat. Die Furcht, daß ein kostbares Erbe vertan werde, daß seit Jahren etwas geschehe, was nicht wieder gut zu machen sei, soll gewiß nicht zu früh gedämpft werden. Aber der Augenblick, da einige Hoffnung aufkommt, muß zum Handeln genutzt werden. *** „Gleich nach erfolgter Ankunft in Weimar unterzogen wir das Goethehaus einer eingehenden Besichtigung“. (Ein Beispiel aus der „Schule des Schreibens“). Der das schrieb, hat nicht gesehen, sondern besichtigt, ja nicht einmal das, er hat das Goethehaus einer Besichtigung unterzogen. Er hat eine obligate Aufgabe erledigt, und die vorgenommene Besichtigung, obwohl sie „eingehend“ heißt, war genau so gleichgültig wie die erfolgte Ankunft. Man hätte beides auch lassen können. Diese ungelösten, ungebrauchten, undienlichen Wortklumpen – Rahn nennt sie „tote Sprachhülsen“ – lassen sicher auf den Vorgang und auf die mangelnde Bereitschaft, Aufmerksamkeit, Erfahrungstiefe des Schreibers schließen. Macht man ihn nun umgekehrt auf die Schlechtigkeit seines Ausdrucks, auf die Peinlichkeit – nein, die Unwürdigkeit solcher ungesprochenen Sprache aufmerksam, gibt man ihm Gelegenheit, das Uebel von Grund auf zu erkennen und das Sprechen neu zu lernen, so kann das Wissen von der reinen Sprache ein Sporn werden, künftig in der Wirklichkeit bereiter zu sein, besser aufzumerken, tiefer zu erfahren – oder ein Anlaß zu schweigen, da er dann lieber gar nichts als etwas Schlechtes aussagen wird. Jener Satz war einem Briefe entnommen. Nicht nur sein Schreiber, auch sein Empfänger befindet sich da in einer peinlichen Lage, wo er nicht sprechen hört und also auch nicht angesprochen ist. Die Sprache ist das Mittel (nicht das beliebige Werkzeug, wohl aber das Medium) der V e r s t ä n d i g u n g. Wie kann man sich verständigen auf Kosten des Verstandes? Der sprachliche Verstand knetet die Wortmassen, gliedert und bildet die Sätze, spricht und spricht an. Wo aber solche unförmige Ballen hingelegt werden – die sich freilich mit einem gewissen Brustton füllen lassen und dem Sprecher Bedeutung zu verleihen scheinen –, da

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 Texte aus der Frankfurter Zeitung

verständigt man sich nicht mehr mit dem Angeredeten, sondern man unterwirft sich allenfalls gemeinsam mit ihm einem Fetisch von starrem Ausdruck. *** Die S c h u l e gibt die erste und die größte Gelegenheit, die Sprache wahrhaft sprechen zu lernen, ihre Weite und Tiefe auszumessen, ihre erhörten und unerhörten Möglichkeiten zu erproben – auch zu erfahren, wie genau und wie gründlich wir uns verständigen könnten, wenn wir diese Gabe nur recht verwalten wollten. Der Unterricht im Deutschen ist dazu vorzüglich berufen, die Mittel der Lektüre und zumal des deutschen Aufsatzes sind längst bewährt. Die Regeln des Sprachbaus, Grammatik und Syntax, spielten freilich früher nur eine untergeordnete und etwas dürftige Rolle; in den Lesebüchern der höheren Klassen traten sie als Anhang auf; überdies waren sie allzu sehr vom Gebrauche abgezogen. Heute steht immerhin die schon erwähnte „Schule des Schreibens“ zur Verfügung, die – eingeteilt jeweils in Ausdrucksübungen und Aufsatzlehre – nicht nur vielseitig, reich an Beispielen, dem Gebrauche nahe, zielsicher und pädagogisch treffend, sondern auch außerordentlich unterhaltend ist, so daß man sie jedermann auch außerhalb der Schule zur Lektüre empfehlen kann. Ein Schulmann (SchmidtVogt* in Frankfurt), der die Jahresberichte von 1934/35 über den Deutschunterricht an den höheren Schulen Hessen-Nassaus untersucht hat, fordert allerdings mehr – die Ergebnisse seiner Untersuchung zwangen ihn dazu: „Jedenfalls sollte auch ein deutsches S p r a c h l e h r b u c h verbindlich eingeführt werden ...“ Wenn man dahin käme (und wie nützlich wäre es), so müßte freilich die größte Sorgfalt daran gewendet werden: die „Schule des Schreibens“ scheint zum wenigsten die beste Vorarbeit für ein solches Lehrbuch zu sein. Was aber den d e u t s c h e n A u f s a t z betrifft, so hat die erwähnte Untersuchung ergeben, daß in diesem Jahr und Gebiet keine sprachlichen und sehr wenige literarische Themen gestellt worden sind. Das wäre kein Schaden, wenn anders sich das Sprachliche von selbst verstünde. Da aber diejenigen Aufsatzthemen, welche an die Gesinnung appellieren und Mut, manchmal fast zuviel Mut zum eignen Urteilen und Werten machen, so zahlreich sind – ein Beispiel für viele: „Wie urteilen Sie über die Lösung in Goethes Werther?“ (Oberprima) –, da überhaupt nach der Auskunft jenes Prüfers die zu eng gefassten Aufgaben sehr selten, die uferlosen aber weit häufiger sind, so könnten solche Aufsatzübungen nur von Nutzen sein, welche etwa ein gegebenes Stück Prosa von gutem oder auch von schlechtem Ausdruck nach allen grammatischen, syntaktischen und stilistischen Richtungen untersuchten und den schlechten Ausdruck besserten. Derart würde der Verstand selber an Genauigkeit und Bestimmtheit gewöhnt werden, und das „Uferlose“ müßte mit der Zeit von selbst verschwinden. Gegenstände aus andren Fächern, nicht allein aus der Geschichte, sondern auch aus der Biologie



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oder Physik oder Erdkunde für den Aufsatz zu wählen ist längst angeregt worden; wie es scheint, wird aber diese Möglichkeit nur spärlich genutzt. Wahrscheinlich verspräche das andre Verfahren, in all jenen anderen Unterrichtsfächern mehr schriftliche Arbeiten zur Pflicht zu machen, mehr Erfolg. Dann müßte jeweils der Deutschlehrer gegenlesen, um die Sorgfalt des Ausdrucks und das ist – immer wieder – die des sachlichen Verständnisses zu prüfen. Die Vorteile würden sich ohne Zweifel bald auch in den anderen Fächern bemerkbar machen. *** „Die sprachliche Vorbildung unseres Nachwuchses (an Lehrern) ist im Kennen und Können z. Zt. oft so gering, daß die praktische berufliche Ausbildung auf diesem Kerngebiet des Deutschunterrichts gar nicht zu ihrem Recht kommen kann.“ Dieses Urteil findet sich ebenfalls in der angeführten Untersuchung der Berichte aus Hessen-Nassau. Es geht die E r w a c h s e n e n an, und diese Seite der Sache scheint heute mindestens ebenso wichtig wie die vorige, die die Kinder betraf. Hier fehlt es zunächst an der Hochschule. Man könnte sich sogar denken, daß in allen Fakultäten, nicht nur in der philosophischen, Lehrgänge für den Gebrauch der Sprache eingerichtet würden, die jeder Studierende einmal durchlaufen müßte, und daß man es an den Hochschulen für Lehrerbildung ganz ebenso hielte. Diese Lehrgänge dürften freilich nichts Beiläufiges sein, was man so nebenher absolvierte. Vielmehr müßte wenigstens zwei Semester lang viel Zeit daran gewendet werden, und demgemäß könnte auch die Stellung der Sprachlehrer keine untergeordnete sein. An manchen Orten würden die Dozenten der Germanistik dies Amt versehen, anderswo könnte man auch hervorragende Schriftsteller berufen. Die besten Männer wären gerade gut genug. Und – von der Hochschule abgesehen – was für ein Feld recht betriebener „V o l k s b i l d u n g“ liegt hier! Wenn tätige Juristen, Kaufleute, Beamte, Soldaten, Ingenieure sich in dieser oder jener Stadt um einen solchen Lehrer der Sprache sammelten, wenn hier Urteilsbegründungen, Geschäftsbriefe, Werbeschriften, Patentanmeldungen sprachlich durchgearbeitet, wenn Regeln und Muster aufgestellt würden: der Segen für unser ganzes öffentliches Leben, für unsere „Verständigung“, könnte unermeßlich sein. Und wir zweifeln nicht, daß die Leute kämen, wenn erst ein Anfang gemacht würde. *** Die von Adolf Hitler gebrauchte Definition „Deutsch sein heißt klar sein“ verpflichtet auch im Bereich der Sprache und gerade dort. Denn ein guter, das ist ein genauer, bewegter, tüchtiger, bildlich treffender und also wahrhaft „gebildeter“ Ausdruck ist so viel wert als ein guter Gedanke. Indem man sprechen lernt, lernt man sogleich auch denken. Und was wäre nützlicher, was auch angenehmer als dies?

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 Texte aus der Frankfurter Zeitung

30 Gerhard Storz [19. September 1937] Im Dickicht der Sprache. Dies ist der Titel eines Buches, das ebenso umfangreich wie inhaltsschwer ist. (Passer Verlag, Wien-Leipzig-Prag. 295 S. RM geb. 6.50.) Um es gleich vorweg zu sagen: A.J. S t o r f e r*, der Verfasser des ausgezeichneten Buches „Wörter und ihre Schicksale“, hat da etwas ganz Seltenes vor die Leser gebracht. Selten deshalb, weil man nicht so leicht dieser Paarung von Gründlichkeit und Souveränität, ausgebreitetem Wissen und eigentümlicher Klarheit begegnet. Trifft eine so seltene Vereinigung gerade auf diesen Stoff – auf die Herkunft und die vielverzweigte Verwandtschaft einzelner Wörter und Redensarten –, so muß notwendig ein interessantes, ja ein spannendes Buch das Ergebnis sein: die Abschnitte dieses Buches lesen sich häufig wie ein Roman. Jedoch wird da nicht etwas für die breite Leserschaft ausgewählt und mit allerlei Künsten zurechtgestutzt. Nein, das Buch wurde deshalb so interessant, weil der Gegenstand selber so interessant ist und dieser – seinen Meister fand. Es ist fast nicht zu glauben, wieviel ganz neue Zusammenhänge und Einzelheiten – neu auch für den Philologen – Storfer auf diesen 295 Seiten darbietet. Ausgangs- und Zielpunkt ist immer das Deutsche, einzelne Wörter und festgeprägte Wendungen oder Bilder. Deshalb ist der größere Teil des Buches alphabetisch geordnet, und da findet man von „Abstecher“ bis „Zwilling“, eben von A bis Z, gewöhnliche Worte wie „ausmerzen“ und seltenere wie „Quintessenz“ so abgeleitet und erklärt, daß es eine Freude ist. Denn die Beweglichkeit und das Wissen des Verfassers – es ist doch etwas Erfreuliches um ein Wissen von solchem Umfang und Zusammenhang in sich selbst! – beschränkt sich nicht darauf, die Ableitung und Deutung zu geben, die ihm die zutreffende zu sein scheint: er breitet alle Möglichkeiten der Erklärung vor dem Leser aus, und diesem geht nun ein Licht auf über das wirkliche Dickicht, aus dem Worte aufwachsen. Das ist denn ein Schauspiel des drängenden und quirlenden Lebens: die einstige Wurzel wird bald nicht mehr verstanden, das Wort wird von der Sprache selbst neu erklärt, ein anderer Gebrauch ist nun die Folge, der alte scheint aber wieder durch oder ist inzwischen in andere Sprachen eingegangen und kehrt als Fremdwort in die Muttersprache zurück. So schwellen alte germanische Wörter durch Wanderung, Entwicklung und Irrtum zu wahren, abenteuerlichen Lawinen an, deren Schichten der Autor sorgsam und überraschend deutlich von einander löst. Und deshalb folgt man den Wegen des Forschers gern, wenn sie ihm vom deutschen Wort zu ganzen Ausflügen ins Latein, ins Keltische, in den Pariser Argot führen. Gerade der Abstecher ins Französische ist ganz besonders reizvoll. Um nur eins zu nennen: wer hätte je gedacht oder gar gewußt, daß „g a m i n“ das



Verlorene Sprache. 

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deutsche „G e m e i n e r“ aus der Militärsprache ist? Der Verfasser aber belegt es so bündig, daß ein Zweifel daran nimmer möglich ist. Nach 158 Seiten solcher Köstlichkeiten ist man durchaus nicht müde und folgt dem Verfasser gern auf weitere Forschungsreisen, die nicht besser als mit “Kreuz und quer” überschrieben werden konnten. Nicht als ob die feste Hand des Führenden und der klare Blick der Ueberlegenheit nicht auch da merklich wären, – die Wörter selbst sind’s, die in die Kreuz und Quere führen. Besonders erquickliche Landschaften erschließen Kapitel wie “Die schweizerischen Wörter im Hochdeutschen” oder “Aus dem Wortschatz des Wieners” (anschließend lese man dies und jenes Stück aus Weinhebers Wiener Idyllen und Elegien). Der Leser, dem die Pflege der Sprache am Herzen liegt, mag seine Waffe an den “aristophanischen Zusammensetzungen” schärfen, aber dann im Abschnitt “von einsilbigen Wörtern und deren Ueberhandnehmen” B e h u t s a m k e i t für seine künftigen Kuren lernen. Ueberhaupt denen, die als Aufseher im Garten der Sprache umherzugehen lieben, sei das Buch dringlich empfohlen: hier werden sie vom Leben der Sprache und einem tiefen Kenner dieses Sprachlebens so nachdrücklich belehrt, daß nur die eiserne Stirn von Unbelehrbaren widerstehen könnte – der Einsicht nämlich: Worte sind lebende Wesen und Sprache ist eine Naturkraft wie Feuchtigkeit und Luft. Wie oft haben wir es gesagt und gehört! Wie wenig der Tatsache Rechnung getragen, daß Worte wie Wasser und Wind wandern, über unsern Häuptern, unter unsern Füßen, über Grenzen hin und zurück in alle Ferne, aus aller Weite! Wem könnte das Buch etwa nicht angelegentlich empfohlen werden? Dem Laien mit Sprachsinn wird es ebenso heilsam sein wie der Bücherei des Fachgelehrten, den Jean Pauls unter den Schriftstellern ebenso wie dem Deutschlehrer: allen wird es Nutzen und Freude bringen. Denn das Buch ist, wie wir schon sagten, die Arbeit eines M e i s t e r s. Eines, das über die allermeisten Neuerscheinungen auf diesem Gebiet weit hinausragt und neben die grundlegend älteren, klassischen Werke der Sprachwissenschaft gestellt werden muß. Gerhard Storz.

31 Dolf Sternberger [28. November 1937] Verlorene Sprache. In manchen deutschen Landschaften gibt es noch Trachten, in anderen gibt es wieder Trachten, und in dritten gibt oder gab es eine Trachtenfrage. Diese stieg bedrohlich dort auf, wo zwischen der eigensinnigen Besonderung der Trachtenträger – einer Besonderung nach Landstrichen, manchmal sogar nach Dörfern – und dem Einheitsbedürfnis der Organisatoren Konflikte entstanden waren. Die schwärmerischen Gefühle, die manchmal Liebhaber des Volkstums vor und

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 Texte aus der Frankfurter Zeitung

nach dem Kriege bei dem Wort „Gemeinschaft“ empfanden, indem sie, rückschauend, in den altertümlichen kleinen Gruppen eine warme Schutzhülle gegen die Gefahren der Zivilisation und ein Paradies fast pflanzenhaft ursprünglichen Lebens zu finden glaubten oder strebten – diese Gefühle kollidierten hier mit der doch zugleich notwendigen Erkenntnis der modernen Massengruppierungen, der „Formationen“. Jene schätzten und liebten unter anderen, schon vergessenen oder verborgenen Ueberlieferungen eben auch die Trachten – nicht in ihrer genauen jeweiligen Bedeutung und Abkunft, sondern allgemein als Ausdruck „gewachsener“ Gemeinschaft –, diesen aber ist, als Kleidung, die Uniform zugehörig und angemessen, sei sie im übrigen militärisch oder zivil. Wo man seither versucht hat, die Kollision aufzuheben und Harmonie herzustellen, geschah es durch die Vermittlung des K u n s t g e w e r b e s, das dann neue Trachten entwarf. Es ist klar, daß diese, oft zwischen scheuer Romantik und ungewisser Modernität schillernde Zwischeninstanz weder den innigen Gefühlen der einen noch den nackten Forderungen der anderen gerecht werden konnte, da sie weder Tracht noch Uniform schuf, sondern ein drittes: die Eigenkleidung. Die einen mußten einwenden, daß sich etwas Gewachsenes nicht „künstlich“ herstellen lasse, die andern verachteten darin einen ästhetischen Individualismus, der sich zumal mit der nationalsozialistischen Volksgemeinschaft schon gar nicht vertrage. Vermutlich hätten zudem auch die Betroffenen, die Bauern, kaum Geschmack an solcher Kunst-Tracht gefunden – vom Fremdenverkehr ganz zu schweigen. In einer energischen Aeußerung hat vor einigen Tagen der R e i c h s b a u e r nf ü h r e r*, veranlaßt durch das Angebot einer „eigenständischen“, bäuerlichen Festkleidung, diese ästhetische Vermittlung ausgeschaltet. Und zwar mit einem Argument, das viel zur Klärung beitragen kann: Die Sprache der Trachten ist verloren, ihre Zeichen sind nicht mehr lesbar, und – so läßt es sich zusammenfassen – ein erfundener Ersatz, wieviel Geschmack oder volkskundliche Kenntnis auch daran gewendet werde, muß entweder vage oder unverständlich sein. Ein kurioser Versuch, Romantik und Organisation zu verknüpfen, hat hier seine Ohnmacht erwiesen. d. st.

32 Fritz Kraus [28. Januar 1938] „Schlanke Linie“ in der Sprache. Kommenden Zeiten wird es im Rückblick vielleicht erstaunlich vorkommen, mit welcher Gewalt und Plötzlichkeit sich die Neigung zum Superlativ in der Alltagssprache der Nachkriegszeit durchgesetzt hat. Dieselben Menschen, die sich sorgsam bemühten, ihrem Körper unnütze Fettpolster fernzuhalten, die sich sogar Strapazen unterzogen, um etwa schon vorhandene loszuwerden, redeten



Für die Sprache. 

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oft in einer Weise, die nur mit dem Ausdruck „geschwollen“ zu kennzeichnen war. Wer nach dem Grund dieser seltsamen Aufblähung der Redeweise forschte, stieß alsbald auf die Beobachtung, daß sich die Funktion der Sprache im öffentlichen Leben gewandelt hatte und daß diese Wandlung auch in den Bereich des Alltags hinein wirkte. Gewiß – auch vor dem Kriege war in der Oeffentlichkeit geredet worden, aber das war entweder bei dekorativen Anlässen oder vor begrenzten Zuhörerscharen geschehen. Jetzt erlebte man etwas Neues: die direkte Ansprache der breitesten Oeffentlichkeit auf Themen hin, die sie unmittelbar berührten. Zum ersten Mal gewann die politische Leidenschaft vor einem großen Forum Stimme – was Wunder, daß diese Stimme mächtig hallte, daß sie die Gewalt der Sprache aufbot, daß ihrem Gehalt der pathetische Ausdruck entsprach. Aber was hier vielleicht als notwendig erschien, mußte unangemessen und skurril werden, sobald die großen Worte aus dieser Sphäre in den Alltag übernommen wurden, sobald sie zur Bezeichnung von Vorgängen und Sachverhalten herhalten mußten, die ihrer Natur nach dem Pathos fremd, ja feindlich waren. Nichts nutzt sich im Alltag rascher ab als die großen Worte. Und nichts zerstört so die Fähigkeit, auf Zwischentöne zu achten, die Rede zu nuancieren, wie die Gepflogenheit, dauernd im Fortissimo zu sprechen. So könnte es angebracht sein, die Alltagssprache einer Art „Entfettungskur“ zu unterwerfen, um sie wieder auf jenes Maß von Nüchternheit herabzubringen, das die Grundlage bilden muß für inhaltlich motivierte Steigerungen an bestimmten Stellen. Aber „Kur“ ist bei einer Sprache ein mißliches Ding, weil alles gewollte Manipulieren an diesem feinsten Instrument des Menschen leicht fehlgreift. Die Aufblähung der Alltagssprache kann nicht durch befohlene „Maßnahmen“, sondern allein aus dem empfundenen B e d ü r f n i s der Sprechenden selbst geheilt werden. Dies sorgsam zu belauschen und ihm, sobald es auf die rechte Bahn drängt, Raum zu geben, ist das beste Mittel zu einer Erneuerung des einfachen Sagens aus sich selbst. Wenn jetzt aus dem Kreise der Reichsjugendführung* das Lob des natürlichen und einfachen Erzählens verkündet und auf gute Erfahrungen bei den Heimabenden der HJ hingewiesen wurde, so mag man das als Symptom dafür auffassen, daß gerade die jungen Menschen ein Empfinden dafür verspüren, wie erwünscht die „schlanke Linie“ in der Sprache sein müßte. F.K.

33 Gerhard Storz [13. März 1938] Für die Sprache. Die neue Sammlung von Sprachdummheiten, die Oskar Jancke* seiner frühen Lese („und bitten wir Sie“) folgen läßt, zeigt, daß gegen Wichtigtuerei und Geschmacklosigkeit kämpfen mit einer Hydra sich messen heißt. So viel neue,

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rasch aufgeschossene Ungeheuer führt die soeben vorgelegte Auswahl auf, die in schmerzlicher Ironie „Restlos erledigt?“ überschrieben wurde. (O. J a n c k e, „R e s t l o s e r l e d i g t ?“ bei Knorr & Hirth, München, 144 S., geb. R.M. 3,20.) Vor allem ist es die Neigung zum übertreibenden Aufschwemmen der Redeweise, die diesen wackeren und verdienten Kämpfer auf den Plan rief; für sie ist eben der Gebrauch von „restlos“ kennzeichnend. Von derselben Art seien gleich noch das gedankenlose „technisch“, das leere „grundsätzlich“ „naturgemäß“ „ewig“ erwähnt; erfreulicherweise hat Jancke auch die wenig schönen und selten gerechtfertigten Zusammensetzungen mit „Groß“ in dem lustigen Abschnitt „Großunfug“ vorgenommen. Kurz, es ist wieder eine bunte Fülle von Sprachschnitzern, über die der Verfasser seine Pritsche klatschen läßt; alle sind sie uns bekannt und unleidlich genug, um ihnen das freudig zu gönnen und dem Sachwalter der Sprache Dank zu wissen. In andern Abschnitten werden Dinge der Satzfügung berührt. Ob Sätze kurz oder lang sein sollen, inwiefern ein langer Satz gut oder verwerflich ist, diese wichtige Frage ist jedoch mit dem Zerrbild einer Periode nicht beantwortet: Syntaktische Fragen lassen sich nicht in der spielenden, die Fehler übertreibenden und häufenden Art abtun, die der Verulkung eines einzelnen verfehlten Ausdrucks sehr dienlich ist. Mag es um das heute oft mit Unrecht verfolgte Fürwort „derjenige“ sich handeln, um den Gebrauch von „an sich“, um das richtige oder unrichtige „e“ beim Dativ (etwa von Mond), um „fragte“ oder „frug“, um „rief mir“ oder „rief mich“ – kurz, bei solchen Dingen (die teilweise weniger eindeutig und kurzhin sich entscheiden lassen, als der Autor es tut!) will der Leser klare Gründe hören. Besonders dann, wenn der Leser guten Willens ist und vom schönen Vorsatz geleitet, seiner ihm als mangelhaft bewußten Sprachsicherheit aufzuhelfen. Und für solche Leser allein schreibt man in Wahrheit Sprachbücher. Denn die eigentlichen Sünder, denen der Hohn des Verfassers gilt, die Urheber der offenbaren Torheiten fühlen sich gewiß im Narrenkleid ihrer Sprache viel zu wohl, als daß sie auf den Gedanken kommen sollten, noch etwas für ihre Ausdruckssicherheit zu tun, z.B. die Verspottung des eigenen Gehabes schwarz auf weiß nach Hause zu tragen. Glücklicherweise ist heute nicht nur der Mißbrauch erkennbar, sondern auch gerade bei Menschen aus der Geschäftswelt (– das muß auch einmal gesagt werden!) ein so ernster Wille, sich belehren zu lassen, daß der Anwalt der Sprache diesen Ernst des Fragers bei seinen Darbietungen im Bewußtsein haben sollte. An dieser Stelle haben wir vor einiger Zeit gerne gerühmt, wie glücklich Jancke das „docere“ mit dem „delectare“ zu verbinden weiß. Aber der Scherz wird nicht immer und nicht völlig die ausdrückliche Lehre erübrigen, und so dürfen wir wohl zu überlegen geben, ob es nun, seit Wustmann, der Heiterkeit um Dinge der Grammatik nicht genug sei: Es genügt nicht, daß der Leser über diesen oder jenen Mißbrauch lacht, ohne im Grunde recht zu wissen, weshalb



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er das tut. Es könnte ja sein, daß er künftig über den richtigen Gebrauch eines solchen Wortes auch lacht. Und vielleicht ist dieses Lachen nicht immer frei von Schadenfreude und Ueberheblichkeit, Empfindungen, die jedermann zum Lernen völlig ungeschickt machen. Das Buch hat jedoch des Treffenden und des guten Salzes genug, um dem gedachten Leser wertvolle Winke zu geben und seinen Lerneifer zu steigern. Vor allem, und dies ist das deutliche, uneingeschränkte Verdienst des Buches, zeigt es jedem, der an der Muttersprache bewußten Anteil nimmt, das eine: Der Kampf gegen den Mißbrauch deutscher Wörter, gegen Verunstaltungen und sinnlose Neubildung ist heute so dringlich wie einst der Kampf gegen das Fremdwort. Wenn es im Bild gesagt werden darf: Beides, Mißbrauch und Fremdwort, sind Krankheitserscheinungen an dem Lebewesen Sprache. Die erste Erscheinung ist aber der einen und bestehenden Krankheitsursache zu vergleichen, die zweite dem bald so, bald anders gearteten Anzeichen. —a—o—

34 Hermann Herrigel [2. September 1938] Sprachform und Sprachsinn. In der Schule lernte man damals natürlich im Lateinischen, daß im Gegensatz zu den anderen Zeitwörtern bei esse = sein das Adjektiv, nicht das Adverb steht und daß es sich nach dem Hauptwort richten muß. Wenn man auch irgendwie dunkel ahnte, daß das Zeitwort esse wie das deutsche „sein“ eine Sonderstellung einnimmt, schon weil es so oft vorkommt und andere Formen hat als die anderen Zeitwörter, so war dieses Privileg doch eben nur eine weitere unverständliche Regel, die man im Kopf behalten mußte und die das Latein unnötig schwer machte. Später begegnete einem im Französischen dieselbe Geschichte wieder, immerhin auffallend, aber auch hier nicht mehr als eine ärgerliche Falle, in die man auch trotz aller Aufmerksamkeit immer wieder fiel. Vermutlich kehrt diese Regel in allen Sprachen wieder, die die Form des Adverbs unterscheiden vom Adjektiv und sozusagen verdeckt auch in allen übrigen Sprachen. Denn es handelt sich hier im Grunde gar nicht um eine „Regel“, sondern es ist der S i n n, also das, was man eigentlich sagen will, der im einen Fall das Adjektiv und im andern Fall das Adverb fordert. Was heißt überhaupt „Adjektiv“ und „Adverb“? Das sind nicht besondere Wortformen, die aus irgendwelchen Gründen in der Sprache vorkommen und deren Gebrauch durch eine besondere Regel geordnet werden müßte, in der Weise, daß die eine Form nur beim Zeitwort, die andere nur beim Hauptwort und bei „sein“ steht. Sondern das Adjektiv ist ein Wort, das in einer besonderen Funktion, nämlich zur näheren Bestimmung, beim Hauptwort steht, und das

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Adverb ist das Wort, das in derselben Funktion beim Zeitwort steht. Das sagen gut die deutschen Ausdrücke Eigenschaftswort und Umstandswort. Es ist nun aber etwas Verschiedenes, ein Hauptwort und ein Zeitwort näher zu bestimmen. Die Hauptwörter haben verschiedenes Geschlecht, sie können in der Einzahl oder in der Mehrzahl vorkommen, außerdem als Subjekt oder in verschiedener (durch die „Fälle“ unterschiedener) Objektbeziehung im Satze. Um die Zugehörigkeit des Adjektivs zu seinem Hauptwort deutlich zu machen, muß daher das Adjektiv der Form des Hauptwortes angepaßt, es muß dekliniert werden. Es wird nicht dekliniert, weil es ein Adjektiv ist, sondern gerade umgekehrt: weil es dekliniert werden muß, ist es ein Adjektiv. Beim Zeitwort fallen solche Unterschiede weg, daher bleibt das Adverb auch unverändert. Man kann die Sprache nicht von den Wörtern her verstehen, die nach vorgeschriebenen grammatischen Regeln zu Sätzen verbunden werden, so wie der Quintaner seine lateinischen Uebungssätze zusammenbaut. Die Sprache ist lebendig im Satz, und in diesem Sinne ist der Grundsatz aufzustellen, daß der Satz vor dem Wort kommt. Satz ist das, was einen Sinn aussagt, und sei er noch so einfach. Daher ist auch schon der erste Ausruf des Kindes als ein Satz zu verstehen. Auch Adjektiv und Adverb sind nur im Satz zu verstehen. Im Sinnzusammenhang des Satzes wird die Regel, von der wir ausgingen, daß bei esse ebenso wie beim französischen être und beim deutschen Zeitwort „sein“ kein Adverb stehen darf, in ihrer Notwendigkeit einsichtig. Nehmen wir die Sätze „er ist stark“, (auch „er wird stark“, denn dieselbe „Regel“ gilt auch für andere Zeitwörter des Seins und Werdens) und „er w ä c h s t stark“, so wird der Unterschied deutlich. Im ersten Fall steht das Wort stark als „Prädikat“, d.h. als Aussage, die von dem Subjekt „er“ gemacht wird, und ist auf dieses Subjekt

bezogen. Es wäre denkbar, daß die Sprache ein besonderes Zeitwort im Sinne von „starksein“ hätte, so wie man statt „stark werden“ auch sagen kann „erstarken“. An Stelle eines eigenen Wortes verwendet die Sprache hier wie in vielen anderen Fällen das „ist“ mit einem Adjektiv. In dem andern Satz dagegen ist „stark“ eine nähere Bestimmung des Wachsens (es sei denn, man legt in dem Satz „er wächst stark“ den Nachdruck so sehr auf die Vorstellung und den Vorgang des Werdens, dass der Satz den Sinn erhält „er wächst, so dass er stark wird“), daher steht es hier als Adverb. Der Unterschied wird noch deutlicher, wenn man beiden Sätzen noch eine nähere, etwa zeitliche Bestimmung gibt, die in beiden Fällen zweifellos zum Zeitwort gehört. Dann heißt der erste Satz „er wird rasch stark“ (das „ist“ erträgt seinem Sinn nach eine solche Bestimmung nicht), der zweite „er wächst rasch und stark“. Die beiden Adverbialbestimmungen müssen hier durch ein „und“ verbunden werden, während im ersten Satz das „und“ unmöglich ist, da die beiden



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Wörter eine ganz verschiedene Funktion haben und daher nicht verbunden werden können. Es wurde schon gesagt, daß auch andere Zeitwörter des Seins und Werdens mit dem Adjektiv verbunden werden, und das kann nicht überraschen. Aber da es keinen festen Kanon solcher Wörter gibt, bleibt hier dem Sprachgebrauch ein weiter Spielraum der Nuancierung, die jedoch keineswegs willkürlich ist, sondern, wenn auch nicht immer bewußt, eine ganz bestimmte Auffassung zum Ausdruck bringen will. Es kommt im einzelnen Fall darauf an, ob ein bestimmtes Zeitwort mehr als ein Sein oder als ein Tun empfunden wird. Der Franzose sagt vivre heureux und verwendet hier ein Adjektiv, während wir, wenn wir sagen „glücklich leben“, das Wort adverbial gebrauchen; der Franzose mit anderen Worten hat bei „leben“ die Vorstellung eines Zustandes, der Deutsche die eines Handelns. Vielleicht ist die französische Ausdrucksweise zu erklären als eine Analogiebildung zu naître aveugle (blind geboren werden) und mourir pauvre (arm sterben). In diesen Verbindungen ist ein adverbialer Gebrauch offensichtlich unmöglich, denn er würde etwas Sinnloses aussagen. Die Adjektiva sind in der Verbindung mit diesen Verben, auch im Deutschen, zu Substantiven geworden mit der Bedeutung „als ein Blinder geboren werden“, „als ein Armer sterben“. Diese Ausdrücke sind zugleich ein Beispiel dafür, wie die Sprache sich für den Ausdruck sehr verwickelter Beziehungen einfacher grammatischer Formen bedienen kann, die gleichwohl richtig verstanden werden. Wie wenig grammatikalische Regeln im Grunde bedeuten, wo der Sinn nuanciert werden soll, dafür schließlich noch ein lateinisches Beispiel: obwohl der lateinische Sprachgebrauch im Ausdruck bene vivere (glücklich leben) das Adverb anwendet, findet sich in einem Briefe Ciceros an Attikus (Att. 3,5) der Satz Ego vivo miserrimus, et maximo dolore conficior, „ich befinde mich äußerst elend und verzehre mich im größten Schmerz.“ Offenbar wird hier das Adjektiv gebraucht, da es darauf ankam, den augenblicklichen Zustand, und gerade hier einen leidenden, nicht einen tätigen Zustand, auszudrücken, während bene vivere die Aktivität ausdrückt, wie sie etwa im deutschen „es sich gut gehen lassen“ liegt.

Diese Beispiele zeigen, wie beweglich der sprachliche Ausdruck ist. Diese Beweglichkeit ist aber zugleich Verpflichtung. In einem Satz kann kein Wort verändert, ja nicht einmal umgestellt werden, ohne daß sich zugleich das, was er sagt, mitverändert. Eine Sprache beherrschen heißt nicht, die Regeln ihres korrekten Gebrauches kennen, um nicht gegen sie zu verstoßen, sondern über die Möglichkeiten, die die Sprache mit ihrem Wortschatz, ihren Wortverbindungen, Beugungen, Bedeutungswandel, Wortstellung bis hin zu Klang und Rhythmus bietet, so sicher zu verfügen, daß der reinste und genaueste Ausdruck des Sinnes

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erreicht wird. Nicht von den grammatikalischen Regeln aus, sondern von dem aus, was sich nicht mehr ausdrücken läßt, v o n i h r e r G r e n z e a u s, muß die Sprache verstanden werden. Dann wird erst deutlich, wie weit ihre Möglichkeiten reichen – und doch nicht so weit, daß man nicht immer wieder an ihre Grenze stieße –, und wie sehr die grammatischen Regeln der Korrektheit im groben bleiben. Hermann Herrigel.

35 Dolf Sternberger [9. Oktober 1938] Vox humana dst Diesen Sonntag wird hier in Frankfurt ein internationaler Kongreß eröffnet, dessen Titel und Thema lautet: „Singen und Sprechen“. Ein neues und ungewöhnliches Thema für einen Kongreß. Und ein bedeutendes Thema. Indem wir die Zusammenkunft hier begrüßen, möchten wir sogleich von der Sache selbst, um die sie sich bemühen wird, einen Begriff zu gewinnen suchen. Daß der Mensch sprechen kann, ist wohl das allgemeinste und zugleich bestimmteste Merkmal, das sein Geschlecht auszeichnet, ein anspruchsvolles Merkmal überdies. Es gibt für uns keine Wirklichkeit, die nicht durch Sprache begrenzt und gefärbt, von Sprache durchtränkt, erschlossen oder auch verschlossen wäre. Es gibt keine Wahrheit außer durch Sprache und keine Lüge außer durch Sprache. Nur durch Sprache finden wir uns, indem wir sie benennen, in der Natur zurecht ebenso wie in uns selber, und durch Sprache wird uns diese Welt gemeinsam, da wir uns, sprechend, miteinander verständigen. In der Sprache oder Rede auch bewährt sich erst der Verstand, der nichts ist, wenn er stumm bleibt. Denn solange der Ausdruck dem Gedanken (wie Lichtenberg sagt) nur lose ansitzt*, solange bleibt der Gedanke, wie sicher man seiner im stillen Gefühl auch sein mag, unvollkommen, ohnmächtig oder auch gefährlich; in jedem Falle hat er die Probe noch nicht bestanden und ist nur genau so wenig wert als der „lose ansitzende“, also unbestimmte, faule oder knöcherne Ausdruck. Da auf diese Weise alle Entscheidungen unseres Lebens, in Bildung, Liebe, Beruf, Politik, Krieg und Frieden, Zerwürfnis und Verständigung, Leidenschaft und Erkenntnis, auch sofort in Worten, sei es auch nur in vorgestellten, sich vollziehen, da Glück und Untergang davon abhängen, wie wir uns jetzt oder früher oder vor langer Zeit ausgedrückt haben, so bleibt es, spricht man nun vom Sprechen selber, das wichtigste, daß wir sein Gesetz und das heißt seine stete Beziehung auf das Gesprochene im Auge behalten. Es gibt kein Sprechen schlechthin und an sich, es wäre denn Plappern. Freilich schließt jede, auch die feinste Veränderung der Sprechweise, nach Ton, Raschheit und Bedächtigkeit, Gleichklang oder Differenzierung, die wiederum sanft oder schroff sein kann, auch schon eine



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Veränderung des Gesprochenen insgesamt und also des Gegenstandes in sich. Von diesem Zusammentreffen des Wie und des Was in Wort handelt Karl Reinhardt auf dieser Seite: der Lehrer der klassischen Philologie beschreibt in eben diesem Sinne das Wort als den Gegenstand seiner Wissenschaft. Und indem dies ausgesprochen wird, zeigt sich auch sofort, daß aus dem Gesetz der Sprache eine Moral, eine Anstandslehre des Sprechens folgt. Sie ist umfassender und strenger als alle Forderungen der Sprachpflege es sind. Genauigkeit der Verständigung, Schärfe des Ausdrucks, Ernstnehmen des Worts: dies sind ihre Maximen, eigentlich ist es nur eine einzige. Nicht als ob wir uns, sprechend, je aus der Welt entfernen, auf Flügeln des Geistes uns von hinnen heben könnten. Alle Rede ist Gleichnisrede, auch die abstrakteste macht, ohne Willen meist, Gebrauch von Bildern, und so knüpft uns die Sprache mit tausend Fäden an die Dinge dieser Welt und Zeitlichkeit. Vom Gespinst der Gleichnisse und von der nötigen Aufgabe zumal der Dichter, sie zu fassen und zu setzen, handelt der Beitrag des Dichters Rudolf Alexander Schröder. Ob nun aber der Gesang – der menschliche, nicht derjenige der Vögel oder der himmlische, von dem Legenden wissen – aus solcher Bindung in der Welt befreie, ob die vox humana singend in andere Sphären sich erhebe und also ein Vorzeichen größerer Freiheit, eigentlicher Seligkeit sei: wer wagte dies zu entscheiden! Sprachlos zu singen, scheint uns wohl bisweilen süß, dennoch aber unmenschlich; es ist etwas Wesenloses oder aber Nur-Sinnliches im puren Singen. Daher denn auch seit langem Gesang mit Sprache ins Spiel und Widerspiel getreten ist – in verschiedenem Sinne je nach Rolle und Ort solcher Künste in der Geschichte, worauf Wilhelm Furtwängler in seinem Beitrag dringlich hinweist. Gesang scheint Sprache mit sich fortzureißen, und doch tritt dann bisweilen das fast klanglose, nichts als gesprochene Wort daraus hervor wie am Morgen der erste wache Gedanke aus dem Bann des Traums. Dies unaufhebbare Hin und Wieder, wie es im artikulierenden Gesang selber sich zeigt, und dessen Spannung durch kein Tönen, das der Sprache selber schon eigen wäre, gelöst wird – obwohl alles Sprechen auch Spuren oder Ansätze von Singen enthält –, liegt schließlich auch den Bemerkungen zugrunde, die Karl Voßler, der Kenner der romanischen Sprachen, hier über die Frage der „Sangbarkeit“ beigesteuert hat.

36 Wilhelm Furtwängler [9. Oktober 1938] Ton und Wort

Von Wilhelm Furtwängler Ton und Wort, Musik und Dichtung – zwei Welten für sich, zwei Flüsse, verschiedenen Quellen entsprungen. Und doch können sie – anders als andere Künste

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untereinander – eine Liebesgemeinschaft eingehen, sich vereinigen zu e i n e m großen Strom. Der Grund dazu liegt im Wesen der Musik, genauer gesagt: in ihrer Doppelnatur. Seit den Zeiten des Gregorianischen Chorals, das ganze Mittelalter hindurch, erschien Musik – wenn es sich nicht um primitive Tanzrhythmen handelte – nur in Gemeinschaft mit dem Wort, besonders dem Bibelwort, sich an ihm haltend wie der Efeu am Baum. Mit Bach und seinen Vorgängern wurde dies grundlegend anders. Die Entdeckung der Tonalität, für die Musik nicht weniger einschneidend als für die Welt der Wirklichkeit, diejenige der Buchdruckerkunst oder des Schießpulvers – übrigens hat sie mit diesen die Eigenschaft gemeinsam, daß sie ebensowenig rückgängig zu machen ist – schuf die Möglichkeit des musikalischen Raums. Die reinmusikalischen Formen entstanden: das Lied, die Fuge, schließlich die Sonate. Nun wurde die Musik dem Wort gegenüber nicht nur gleichberechtigter Partner, sondern war imstande, die Führung an sich zu nehmen. Nicht, daß Empfindungen und Geschehnisse der Wirklichkeit Bach zu tonmalerischen Bildungen angeregt haben, ist für seinen Stil wesentlich; sondern daß die Form des Ganzen, seine Struktur rein-musikalisch, vom Wort unabhängig wurde, entweder als zyklische Form (Arie, Choral-Variationen) oder mehr den Satzgesetzen der Fuge folgend (Chöre). Das Wort gibt hier nicht mehr als nur Anregung, nur Anstoß für den Musiker. Was aber macht dieser daraus! Welche Größe, welche Kraft weiß er seiner Sprache zu verleihen, wie bekommt sie Flügel, da, wo das Wort mühsam an den Boden sichtbarer Wirklichkeit gefesselt bleibt. Eine neue Welt entstand, eine neue Kunst, die eigentliche Kunst der neuen Zeit, die Musik. Sie hat nichts zu tun mit Gegenständen unserer sichtbaren Welt, wohl aber alles mit deren Impulsen, Triebkräften, Strömungen. Hier erreicht ihre Sprache eine Bestimmtheit, die jede andere weit hinter sich läßt und immer wieder in die falsche Versuchung führte, musikalischen Ereignissen Vorgänge der realen Wirklichkeit unterlegen zu wollen (zum Beispiel Beethoven‘sche Sonaten durch Dichtungen anderer zu erklären). Wenn diese freie Musik eigen-gewachsener Formen zum Wort greift, tut sie es auf ihre Weise; sie verzichtet selbst da nicht auf ihre Rechte, wo sie sich, wie in der Oper, einer Theaterhandlung anzupassen hat. So komponiert Mozart nur das, was durch Bildkraft der Geschehnisse oder den Unterton des mitschwingenden Gefühls den Musiker in ihm anregt; alles andere verweist er ins Rezitativ. Aber auch da, wo er ein Stück Wirklichkeit in Musik setzt, wo seine Musik im Gleichschritt der Worte einhergeht, tut sie es gleichsam mit Vorbehalten. So gehört meistens in den einzelnen Nummern seiner Opern (etwa des Figaro) der Handlung nur ein Teil, etwa dreiviertel des jeweiligen Stücks; das letzte gehört der Musik allein. Hier schwingt sie sich aus nach ihren eigenen Gesetzen, selig in



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sich selbst. Das Wort muß sich dann diesem Vorgang in endlosen, oft sinnwidrigen Wiederholungen anpassen, ob es will oder nicht. Auch im Schlußsatz der Neunten Symphonie ist es Beethoven nicht so sehr um das Wort im einzelnen zu tun als um den Sinn der Dichtung im ganzen. Die Freude-Melodie ist ohne Worte entstanden, diese sind ihr nachträglich unterlegt. Das Ganze aber ist vor allem Schlußglied für den Riesenbau der Symphonie. Es hat eine rein-musikalische zyklische Form, ist ein Variationensatz wie andere auch (wie das ihm vorangehende Adagio) so wie sie Beethoven, zumal in seiner letzten Zeit, viel geschrieben hat. Trotz Anregung durch einzelne Teile des Gedichts ist doch alles, was in diesem Satz vorgeht, rein-musikalisch begründet. Selbst das Rezitativ des Baßsängers ist durch das vorausgehende InstrumentalRezitativ der Contrabässe, entsprechend dem musikalischen Gesetz der wiederholten Steigerung, in den Gesamt-Organismus einbezogen. Wer wollte auch das, was Beethoven hier ausspricht, mit den relativ abstrakten Worten des Schillerschen Gedichtes nur annähernd erklären. Hier zeigt sich so recht, was die Musik vermag, wenn sie sich selber folgt; wie sie, auch wo sie sich des Wortes bedient, doch Welten aufreißt, die von der Welt des Wortes, des Dichters himmelweit verschieden sind. Aber auch die diesseitige Welt hatte an der Musik ihren Anteil; war sie ihr doch durch Lied und Tanz tausendfältig verknüpft. So entstanden Bestrebungen, Wort und Ton auf höherer Ebene zu gemeinsamem Wirken zu einen, zuerst bei Schubert und seinen Nachfolgern im deutschen Lied, dann im Wagnerschen Musikdrama. Die Meister des Liedes versuchen die Erfüllung einer fremden, fertigen Dichtung mit Musik und durch sie eine Angleichung der in der Dichtung ruhenden Kräfte an die musikalischen Gesetze oder umgekehrt. Dabei wandeln sich die Anschauungen und Anforderungen; bei Schubert schlingt die Musik die Worte mit in ihren Strom, bei Hugo Wolf herrscht der Dichter, die Musik deklamiert, interpretiert. Nun ist es schon oft bemerkt worden, daß gerade die schönsten Gedichte, zum Beispiel Goethes, sich am wenigsten adäquat in Musik setzen lassen. Das Gedicht ist in sich fertig, vollendet, so sehr, daß die Musik zwar ein Neues hinzubringen, den End-Eindruck jedoch nicht stärker machen kann. Der End-Eindruck eines Liedes hängt ja nicht von der Güte der Dichtung an sich, sondern davon ab, wieweit diese musikalische Wirklichkeit werden konnte. In solchen Fällen enthüllt sich uns die verschiedene Herkunft und damit die latente Rivalität von Dichter und Musiker. Beider Ehe ist, wie man sieht, nur eine zeitweilige und bleibt nicht ohne Probleme. Am nachdrücklichsten rückt Wagner dieser Frage zu Leibe. Er war nicht nur Musiker, sondern sein eigener Dichter; zudem ein wirklicher Dichter. Er löste die Musik aus ihren selbstherrlichen Formen, ließ sie teilnehmen an der Welt der Wirklichkeit. Er vermochte es, den Sturmwind des Meeres, das Gewitter der

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Frühlingsnacht, das Weben des Waldes in Musik zu setzen. Die Musik gewann so auf der einen Seite an Lebenskraft, an neuen Inhalten, was sie auf der anderen Seite an Freiheit und Selbständigkeit verlor. Wagner war und bleibt Einzelfall, ohne eigentliche Vorgänger und Nachfolger. In seinen Werken gehen Dichter und Musiker eine Liebesgemeinschaft ein, die tatsächlich keinem von beiden vor dem anderen einen Vorrang einzuräumen scheint. Gibt der Dichter das Gerüst des Ganzen, sozusagen den “Knochenbau”, dazu den bildkräftigen Sinn der Worte, so gibt der Musiker die Atmosphäre, die “Epidermis”, die Farbe, Sinnlichkeit, Kraft und Wärme. Dabei vermochte Wagners erstaunliches Genie den Eigengesetzen der Musik ebenso Rechnung zu tragen wie denen des Dramas. Trotzdem ist seine Musik nicht die des reinen Musikers, ist seine Dichtung nicht die des wahrhaften Wort-Dichters (weshalb er auch von beiden immer aufs neue hartnäckig bekämpft und verkannt wird). Irgendwie rechnet in seinen Werken jedes der beiden Elemente mit dem anderen, stützt sich auf das andere. Auch hier also eine Art Wahlverwandtschaft, Wahl-Gemeinschaft. Durch Wagner hat die Musik mit ihren eigenen Formen auch die Sicherheit des Instinkts verloren. Mit ihm begann die Krise, die bis heute dauert. Sein mißverstandenes Beispiel verdarb die Musik ebenso wie die Begriffe über sie, die heute zwischen den Extremen einseitiger Wort- und Ausdrucksverbundenheit und ausdruckslos-spielerischer – man nennt es “musikantischer” – Haltung hinund herschwanken. Sinn und Fähigkeit zur großen rein-musikalischen Form sind geschwächt, wenn auch deren Wirklichkeit heute genau so unverrückbar wahr ist wie jemals. So erscheinen – trotz aller Fähigkeit zu zeitweiliger Vereinigung, der wir wunderbarste Kunstwerke verdanken – Musik und Dichtkunst, wenn wir sie in ihren letzten Konsequenzen verfolgen, doch als zweierlei Kräfte, die, jede auf ihre Weise, Aehnliches aussagen, als – wenn ein Bild erlaubt ist – gleichsam verschiedene Aggregatzustände desselben Elements. Eis kann nicht zugleich Wasser sein – und doch ist das eine wie das andere aus demselben Stoff.

37 Karl Reinhardt [9. Oktober 1938] Philologie.

Von Karl Reinhardt. Bis zum Beginn des neunzehnten Jahrhunderts durfte sich die Philologie als Königin unter den Wissenschaften des ‚Worts‘ betrachten. Heute sieht sie sich im Kreis der angrenzenden Disziplinen zwar noch immer in einer gewissen Mittelstellung, aber darf in dieser kaum mehr sich besonders thronen fühlen. Ihrem Ursprung, Namen und Begriff nach Wissenschaft vom ‚Wort‘, ‚Logos‘, insgemein

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und insbesondere unserer eigenen Tradition, erleidet sie an sich die ganze Spannung und Erschütterung des Gefüges, die sich ihres Gegenstands, des Worts bemächtigt. Wort ist Laut, Satz, Zeichen, Inhalt, Rhythmus, Melodie, Sinn, Seele und Geist in einem. Aber dieser Eintracht scheint die Zwietracht als ihr immer drohendes Schicksal eingeboren. Forscht man nach, wo ihre Sonderung zuerst begann, so findet man: seit dem Zerfall der griechischen Klassik. Seitdem wird die Ureinheit, zum mindesten im hohen Stil, wohl noch vorübergehend erreicht, wie im Hochmittelalter, doch sie ist kein dauernder Besitz mehr. Ein erhabenes Ungenügen am geschriebenen, nur geschriebenen Wort, statt des ‚lebendigen‘, das ‚von Seele zu Seele‘ geht, wirft sich mit sprachbewegender Gewalt zuerst auf das geschriebene Wort bei Platon. Aber Platons Ungenügen ist mehr als das der einsamen Natur, des großen ‚Melancholos‘, als das Zeichen einer allgemeinen Wende. Folgenschwerer wird, daß mehr und mehr der Sinn des Worts jenseitig, transzendent, in einem einseitigen Sinn symbolisch, allegorisch, mystisch wird. Den tiefsten Riß in sein Gefüge bis auf lange Zeit hinaus reißt der gewalttätige Satz des Paulus: „Der Buchstabe tötet, der Geist aber macht lebendig.“ Jetzt beginnt, nachdem im Hellenismus schon Grammatik, Ethik, Logik und Rhetorik sich gesondert hatten, über alles herrschend die Theologie sich zu erheben – bis aus neuer Rückbesinnung, neuem Rückgriff auf den Geist des Hellenismus, über Renaissance, Barock und Aufklärung hinaus zuletzt im 19. Jahrhundert die Brechung der Ureinheit des Worts im Spektrum des zerlegenden Geistes sich vollendet. Jedesmal finden die Krisen, Wiedergeburten und Erstarrungen, welche das Wort als Sprache, Dichtung und Gebild durchmacht, ihr Echo im Chorus der Disziplinen. Heute sind wir stolz darauf, der Neunzahl, Laut, Satz, Zeichen, Inhalt, Rhythmus, Melodie, Sinn, Seele, Geist entsprechend ebensoviel Wissenschaften aufzuzählen und noch ein Schock mehr: Akustik, Phonetik, Musikwissenschaft, Metrik, Sprachwissenschaft, Paläographie, Literaturwissenschaft, Geistesgeschichte, Religionsgeschichte, wozu noch in unklaren Verhältnissen Psychologie, Soziologie, Ethnologie, Philosophie, Theologie kommen, von der Schar der Trabanten, der Theater-, Zeitungs-, Film-, Bibliothekswissenschaft und wie sie heißen, nicht zu reden. Auch im Anblick dieser Schar erweist sich das letzte Jahrhundert als das der Entdeckungen, die den Entdeckern selbst zuletzt über die Köpfe wuchsen. Inmitten der aufgezählten Disziplinen sitzt bescheiden heute die Philologie, noch immer mit dem Anspruch, Wissenschaft vom ‚Wort‘ zu sein. Das nur noch Lautliche und Klangliche, wie auf der anderen Seite das vom Wort gelöste Sachliche und Geistige entzieht sich ihrem Zugriff und entschwindet für sie ins ‚Irrationale‘. Sie fühlt sich in ihrem Element, wo Geistiges und Lautliches, Seele und Zeichen, Grammatik und ‚Sinndeutung‘, Sprachwissenschaft und Literaturgeschichte einander begegnen und durchdringen. Für das allgemeinere Bewußt-

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sein bringt sie sich als eine Art von Geistespolizei zur Geltung: man erinnere sich des Falls der Uralinda-Chronik*. Jedenfalls scheint sie im Parlament der Wissenschaften zum konservativen Flügel zu gehören. Allein für den Eingeweihten bleibt sie die Geduldige, die Mittlerin, die immer wieder sucht, das immer wieder Auseinanderbrechende, Entgleitende für den Erkennenden in eins zu binden und aus seiner Sonderung zu erlösen. Wo jede Neun: Laut, Satz, Zeichen, Inhalt, Rhythmus, Melodie, Sinn, Seele und Geist in ihrem Einklang anschaulich, beweisbar, aufzeigbar zu werden anfangen, da sieht der Philologe seinem Ziele sich am nächsten. Was ist philologisches Interpretieren schließlich anders als ein Aufeinander-Abstimmen. Weil es letztlich in der Philologie um diese Einheit geht, und diese Einheit immer wieder zu erringen ist, so kann der Philologe sich seiner zugleich auch pädagogischen Berufung nicht entschlagen. Allerdings, die Vielfalt, ja Unendlichkeit des ‚Worts‘ in seiner Fülle bringt es mit sich, daß die Aufgabe unendlich wird. Aber auch das gehört zur guten Sache. Bleibt ihr gegenüber, wie bei allem, was unendlich wird, nach aller Skepsis nur die Haltung einer gläubigen Naivität. Um ein Beispiel anzuführen: wie Pindar gesungen hat, wer will das heute wissen? Ein Stück Notenschrift zum Anfang seines Lieds: „Goldene Leier …“ erwies sich erst neulich noch als Fälschung der Barockzeit. Eher schon weiß man, wie er sang, von Walther*. Doch das Große lebt im Durchgang durch das zeitlich und individuell Bedingte in ein Allgemeines. Wer Pindar wie Hölderin liest, ist im Irrtum. Das läßt sich beweisen. Aber wenn er ihn zuletzt, nach allen Prozeduren philologischen Verstehens, mutatis mutandis, doch wieder wie Hölderlin liest, so ist er im Recht. Zur Philologie, und wenn sie alle wissenschaftlichen Reserven, die sie sich aussinnen mag, sich auferlegt, gehört zuletzt ein Glaube, ein Vertrauen auf eben jenes Allgemeine, als ein menschlich Ewig-Nahes. Um mit Heraklit* zu reden: auch ihr Amt und Wesen ist: „Sagen und Tun des Wahren, darauf hinhörend nach seiner Natur.“

38 Karl Voßler [9. Oktober 1938] Sangbarkeit der Sprachen. Von Karl Voßler.

Es ist eine weitverbreitete Meinung, die romanischen Sprachen seien sangbarer als die germanischen. Wenn man unter Sangbarkeit die Fähigkeit oder Möglichkeit, gesungen zu werden, versteht, so müssen wir sie doch wohl jeder menschlichen Sprache zugestehen. Es hängt mehr vom Sänger als von der Sprache ab, wie gut und schön das Lied gelingt. An und für sich läßt sich jede Melodie, jede Stimmführung, jede Taktierung in der Sprache beherbergen, sofern nur der



Sangbarkeit der Sprachen. 

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Sänger seine Kunst versteht. In welcher Sprache er sich am bequemsten bettet, muß er aus Erfahrung, Neigung, Geschmack und Uebung selber am besten wissen. In der Regel wird ihm die Muttersprache die sangbarste sein. Versteht man unter Sangbarkeit aber die natürliche Annäherung einer Sprache an den Gesang, dann allerdings läßt sich eine gewisse Stufenfolge ansetzen, die freilich sehr beweglich bleibt. Gustav Gröber, der große Romanist, der in den neunziger Jahren in Straßburg mein Lehrer war, vertrat einen Lehrsatz, den wir zuerst überraschend, allmählich aber einleuchtend fanden: nämlich, daß die sangbarste aller romanischen Sprachen, ja aller europäischen, das Französische sei, und zwar in derjenigen Lautgestalt, die es im Zeitalter des Klassizismus, das heißt im 17. Jahrhundert, erreicht, sodann aber wieder verlassen hatte. – Wieso? Durch eine ungefähr tausendjährige Entwicklung habe, so lehrte Gröber, das Französische einen Zustand verwirklicht, der allen romanischen Sprachen als unbewußtes Ziel triebartig vorschwebte, dem sie aber vielfach wieder untreu wurden, nämlich die Beseitigung der Konsonanten am Schluß der Silben, Wörter und Sätze. Das Ziel wäre also eine Aussprache, in der die Vokale ungehindert ausklingen dürfen und nicht abgeknackt werden durch Konsonanten. Nur beim Einsatz, am Anlaut der Silben, Wörter und Sätze kommen die Konsonanten zu ihrer Geltung. In der Tat sind im Französischen, um 1600, geschlossene Silben eine seltene Ausnahme geworden und finden sich beinahe nur noch in gelehrten und fremden Wörtern; wo sie sonst etwa auftreten, werden sie durch Herüberziehen des auslautenden Konsonanten zum folgenden Wort, d.h. durch die sogenannte liaison beseitigt. Die Rede perlt in ruhigem, ungehemmten Fluß in lauter freien oder offenen Silben dahin. Wenn sie nun gesungen wird, geht kaum ein Laut von ihr verloren. Man vergleiche etwa das deutsche Sätzchen: “du sagst es” mit dem französischen: “tu le dis”, das im Gesange klingt als “tu-le-di”. Im Französischen versteht der Hörer den gesungenen Text unmittelbarer, weil die französische Sprechweise viel näher bei der Singweise liegt als die deutsche, ja sogar auch ein wenig näher als die italienische. Was im Italienischen, trotz seinem Reichtum an Vokalen, trotz seiner vielgerühmten Sangbarkeit, die Annäherung hindert, sind die vielen Doppelkonsonanten. Fatto und fato, vacca und vaca, bacio und braccio sind im Gesange kaum zu unterscheiden. Freilich können demgegenüber die Italiener geltend machen, daß solche Gleichklänge im Zusammenhang der Texte sehr selten vorkommen und wohl nie ein wirkliches Mißverständnis veranlassen und daß andererseits der französische Gesang durch die sehr häufige Nasalierung der Vokale immerhin beeinträchtigt wird, ganz abgesehen von ungelöst zurückbleibenden konsonantischen Härten wie per-dre, ac-tif, quel-que und so weiter. – Was steht nun höher: Reinheit oder Klangstärke, Klarheit oder Schallkraft der gesungenen Sprachlaute?

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 Texte aus der Frankfurter Zeitung

Will man zu einer grundsätzlichen Entscheidung gelangen, so kommt man nicht um die Frage herum: ob überhaupt, und wenn ja, wie weit das Verständnis eines Textes durch Gesang vermittelt und gesichert werden kann. Sollen wirklich Laut für Laut, Silbe für Silbe, Wort für Wort dem Ohr des Musikfreundes durch den Sänger eingeträufelt werden? Der Deutsche wird stracks mit Nein antworten, und wie sollte ich ihm nicht beipflichten? Gesänge buchstabiert man nicht, artikuliert man weder phonetisch noch syntaktisch, sondern man gliedert sie m e l o d i s c h, auch rhythmisch und nach Takten, aber nicht nach g r a m m a t i s c h e n Einheiten. Wie weit die musikalische Gliederung sich mit der sprachlichen etwa deckt, bleibt verhältnismäßig nebensächlich. Da sogar im günstigsten Fall, wie ihn das Französische des 17. Jahrhunderts tatsächlich bietet, keine völlige Deckung zustandekommen konnte, da auch die größte Sangesnähe einer Sprache gewisse Spannungen zwischen Singen und Sagen belassen muß; da der restlose Ausgleich sogar ein Uebelstand, nämlich ein toter Punkt, wäre, auf dem Singen und Sagen zusammenfielen, so tritt nun auch die entgegengesetzte Ansicht in den Bereich der Möglichkeit: nämlich daß diejenige Sprache, die ihrer lautlichen Natur nach sich am weitesten vom Gesang entfernt, für den echten Komponisten und Sänger die größten Gelegenheiten und stärksten Antriebe zur Entfaltung seines besonderes Könnens bietet. So könnte wohl gar (warum auch nicht?) die sangesf e r n s te Sprache in einem höheren Sinn zur sangbarsten werden. Wie heißt die Kraft, durch die allein zwischen Sprache und Gesang ein gedeihlicher Bund gestiftet wird? Geistiger Eros. Künstlerliebe. Wer will dem liebenden Geist des Musikers vorschreiben, ob der die einladende Schönheit oder die spröde, die hingegebene oder die trotzige, die französische, die italienische oder die deutsche umwerben oder gewinnen soll?

39 Rudolf Alexander Schröder [9. Oktober 1938] Ueber Gleichnisse.

Von Rudolf Alexander Schröder. Dem, der aufgefordert wird, ein Wort zu sagen über die Rolle, die das Gleichnis innerhalb der dichterischen Rede spielt, – auch diese Wendung enthält, wie der Leser bemerken wird, schon eine Metapher – dem werden wohl zunächst zwei klassische Standorte der Gleichnisrede ins Gedächtnis kommen. Anläßlich beider wird ihm Unterweisung daheim oder im Unterricht in der Schule zum ersten Male etwas über das Wesen und die Absicht des Redens in Gleichnissen gesagt haben. Ob mit dem Erfolg einer wirklichen Durchdringung und Erhellung des in seiner Art weltumfassenden Begriffes, das bleibe dahingestellt. Nicht immer spricht in



Ueber Gleichnisse. 

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ihren reichsten und entwickelsten Formen sich Sinn und Wesen einer Erscheinung am deutlichsten aus. Die beiden loci classici der Gleichnisrede sind die Reden Jesu in den Evangelien und die vielbewunderten und -beredeten Gleichnisse in den Homerischen Gedichten. Dem in geistigen Dingen Bewanderten und Erfahrenen wird sich zu dieser Welt handgreiflicher Gleichnisse alsbald eine andere Welt gesellen, in der ebenfalls an zwei scheinbar verschiedenen Erscheinungen eine Gleichheit des Wesens oder doch des Verhaltens unter beliebigen Bedingungen nachgewiesen sind, freilich in Gleichnissen sehr mittelbarer, übertragener, rückgespiegelter Art, Gleichnissen, die bis zur bloßen Formel entwesentlicht, entsinnlicht sein können, die Welt der „abgezogenen“ Schlüsse per analogiam. Mit ihnen wird er freilich schon in einer Welt sein, die sich eben durch ihre „Abstraktionen“, durch ihr Streben zur „reinen“, zur entsinnlichten Formel von der Welt der Dichtung sonderte, deren Ausdrucksmittel wie die aller Künste dem sinnlichen Substrat der Erfahrung wesentlich fester verhaftet bleibt. Wenn ich hier selber „in Gleichnissen“ reden dürfte, würde ich sagen: der Dichter gleiche dem Antäus, er müsse auch von dem höchsten Aufschwung, den er genommen, wieder zur Erde zurück, um sich neue Kraft zu holen. Dem Denker müßte ich dann die Art des Paradiesvogels zuschreiben, den die Sage ohne Füße sein läßt. Ich werde hernach in die Lage kommen, ihn unter einem entgegengesetzten Bilde vorzuführen; aber auf alle Fälle ist es das Bestreben alles „reinen“ Denkens, sich ständig in der Nähe oder geradezu innerhalb des Brennpunktes zu halten, in dem alle Analogie zusammenfließt, wie sie aus ihm entspringt. Neben den beiden legitimen Formen des Gleichnisses, denen der dichterischen Gleichnisrede und denen der gedanklichen Rede per analogiam, werden dem Kundigen zwei hybride Formen ins Gedächtnis treten, Formen, in denen – kurz gesagt – die Welt der Abstraktion und die der sinnlichen Wahrnehmungen sich mengen, die vom Sophismus, vom nur „geistreichen“ Einfall bis zum platten Wortspiel eine Welt der Scheingleichnisse aufstellen. Es sind, aufs Allgemeine gesehen, Verfallsformen sowohl des Gedankens als der Dichtung. Daß auch ihnen in besonders geistesmächtiger Rede, in besonders formgewaltigen Händen so etwas wie ein wirkliches Dasein zuteil werden könne, wenn auch nur im Sinne reizenden Schmuckes und anlockender Hinüberleitung auf festeren Boden des Gedankens und der Wahrnehmung, wollen wir nicht leugnen. Vom Dichterischen her genügt der Hinweis auf Shakespeare. – Die andere Zwitterform, die Abstraktion und Sinnlichkeit gewaltsam mengt, ist die Allegorie. Auch sie ist, aufs Ganze gesehen, in beiden hier verhandelten Welten, ein Schädling. Aber freilich in beiden ein unentbehrlicher, schon wegen des Voltenschlages, mit dem sie je nachdem das Sinnliche für ein Abstraktes, das Abstrakte für ein Sinnliches auszugeben vermag. Alle Poesie wird die großen Abstraktionen: Trauer, Freude,

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 Texte aus der Frankfurter Zeitung

Glück, Liebe, Hoffnung und so weiter immer irgendwie als „Wesenheiten“ behandeln, und auch noch an so reinen Abstraktionen wie den platonischen Ideen oder der Identitätslehre haftet ein Hauch des Allegorischen. Wir haben hiermit die beiden Zwischenformen des concetto und der Allegorie für unsere Zwecke genügend charakterisiert. Wenden wir uns wieder zur eigentlichen Gleichnisrede. Das bekannteste Gleichniswort Christi ist das vom Sämann, der seinen Weizen auf verschiedenen Grund säte. Die Rede wurde nicht verstanden; der Meister mußte sie den Jüngern auslegen. Uns an vielfältige Gleichnisrede Gewöhnten befremdet das zunächst. Aber ich habe mir dieser Tage von einem Pfarrer erzählen lassen, daß seine Konfirmanden in der ersten Predigt, der sie beigewohnt, gelacht hätten. Auf die Frage, warum, hätten sie gesagt, der Pfarrer habe von ihnen als von Bausteinen der Gemeinde geredet, und da hätten sie die Steine herumlaufen sehen, und er habe von dem „Eckstein“ geredet, und das sei doch eine Zigarettenmarke. Da haben wir einen ganz späten und dem ursprünglichen Quell aller Rede entfremdeten Geisteszustand, der Worte nur noch wie Rechenpfennige zu verwenden weiß. Ich will mich auf die Frage, wie weit ähnliches für die erste Hörerschaft Jesu anzunehmen sei, hier nicht einlassen. Jedenfalls würde es auch ihr schwer, ja wohl unmöglich gewesen sein, der ganz anderen Gleichnisrede Homers zu folgen, die ja nicht in Gestalt einer Parabel, sondern eines in manchen Fällen sehr weit hergeholten Vergleiches auftritt und vor allem den eigentlichen Vergleichspunkt gern innerhalb der manchmal höchst eigenständigen und kunstvoll durchgeführten Welt des einzelnen Gleichnisses dem Hörer gewissermaßen versteckt. Unter diesem Gesichtspunkt stellt sich also die Welt der homerischen Gleichnisse als eine wesentlich künstlichere und kompliziertere dar. Aber beide, die christliche Parabel und der homerische Vergleich, haben gemeinsam, daß sie aus dem sinnlichen Vorgang einer Erzählung oder einer Schilderung heraus auf ein Geheimnis der E n t s p r e c h u n g deuten. Bei Christus ist es durchgehend die Entsprechung eines Innern zu einem Aueßeren, bei Homer oft genug das Geheimnis der Entsprechung schlechthin. Und in diesen beiden Formen der Entsprechung haben wir das Geheimnis selber, auf dem und in dem Sprache überhaupt erwachsen ist. Wäre unsere Welt nicht eine Welt der unablässig sich von neuem erzeugenden, vermehrenden und wieder ineinanderkehrenden Entsprechungen, so hätten wir überhaupt keine Sprache, denn sie ist mit der Welt ihrer Gleichnissetzung, in der allein sie lebt und ihr Recht und Amt hat, das Siegel des Menschengeistes auf dem Befund seiner Welt. Als Bewahrer dieses Urstandes der Sprache ist der Dichter Zeuge am Geist und vom Geist. Ohne sein Zeugnis würde auch der Gedanke nicht leben. Und wenn wir nun in aller Kürze den Dichter mit dem Nachtwandler vergleichen und seine Rede mit dem Tun des Nachtwandlers, der vor dem Abgrund des nicht mehr irdischer Entsprechung Zugänglichen innehält, wie die Gleichnisrede der Evan-



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gelien vor dem Geheimnis der Menschwerdung, die des Homer vor dem Geheimnis des inneren und äußeren Zusammenhangs und Zusammenklangs alles Erlebbaren und Erfahrbaren, so sehen wir nun den Denker als Gipfelsteiger, der sich Schritt vor Schritt höher tastet, um dessentwillen, was ihm als die höchste aller menschlichen Wünschbarkeiten erscheint: Welt-Anschauung. Eine Abwägung beider Geisteswege steht uns hier nicht zu. Der „Internationale Kongreß für Singen und Sprechen“, der von Sonntag, den 9., bis zum Sonntag, den 19. Oktober in Frankfurt in den Räumen der Universität veranstaltet wird, ist das erste Unternehmen dieser Art. Er steht unter der Schirmherrschaft des Reichsministers für Volksaufklärung und Propaganda und wird von dem Abteilungsleiter am Deutschlandsender, Professor Max Donisch, geleitet. Er macht den bedeutsamen Versuch, verantwortliche Männer all derjenigen Institute zu gemeinsamer Besinnung zu vereinigen, die Sprache und Gesang bewußt, ja kunstmäßig zu gebrauchen und auszubilden haben.

40 Albrecht Goes [9. Oktober 1938] Die deutsche Sprache. Hier ist ein Lesebuch entstanden, ein Lesebuch im handlichen und zuverlässigen Sinn dieses Wortes, in dem zusammengestellt ist, was von den Meistern der deutschen Sprache über eben diese deutsche Sprache, darüber hinaus über die Sprache überhaupt gesagt worden ist. (D i e d e u t s c h e S p r a c h e. Wesen und Deutung, Zeugnisse deutscher Männer, im Verlag von Ernst Klett in Stuttgart, herausgegeben von C l e m e n s t e n H o l d e r*, 294 S. Geb. R.M. 5.80.) Das Buch geht chronologisch vor. L u t h e r beginnt. Sein berühmter Text über Sprache und Sprachen aus dem Ratsherrntraktat steht da wie ein rocher de bronce. Begründung sowohl wie Begrenzung von deutschem Humanismus. Leibniz, Möser und Klopstock entwickeln erste Keime. Hamanns wunderbare Geisterstimme tönt herein („Reden ist übersetzen – aus einer Engelsprache in eine Menschensprache, das heißt Gedanken in Worte“). Dann kommt H e r d e r, und es ist wie nach einem gewaltigen Durchbruch: breit strömt nun die Sprache daher, und sie weiß, daß sie mit allen ihren Nebenflüssen durch Deutschland fließt. Ihm folgt G o e t h e, und an Clemens ten Holders erstaunlicher GoetheAuswahl mag sich am deutlichsten erweisen, daß das ganze Unterfangen des Buches keineswegs von nur-ästhetischen Erwägungen bestimmt ist, daß ihm vielmehr darum zu tun ist, für die Ganzheit unserer Ueberlieferung, für seine elementar-völkischen wie für seine humanistischen Gewalten einzustehen. Fichte, Wilhelm von Humboldt und Ernst Moritz Arndt stehen neben Goethe, sie tragen

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 Texte aus der Frankfurter Zeitung

doppeltes Licht: Geleucht in sich selbst und Licht, das auf Goethe, auf ihren Vater im Geiste, zurückfällt. Jean Paul, ein anderer Aladin mit der Wunderlampe, findet Bezirke und Beziehungen, die keiner vor ihm so zu sehen gewagt hat: das Wort von der „Muttersprache, welche noch richtiger die Sprach-Mutter hieße“, bleibt als eines unter vielen unvergeßlich. Und nun kommen die allerkundigsten Hände, um in den reichen Schatzkammern der deutschen Sprache Uebersicht zu schaffen, es sind die Hände des einen J a k o b G r i m m, dem denn auch füglich der größte Abschnitt in diesem Buch eingeräumt ist. „Jakob Grimm“ – heißt es in dem gescheiten, festlichen und genauen Vorwort Clemens ten Holders – „hob die Sprache aus der Unsicherheit des täglichen Gebrauchs und der Mitteilung empor in die geistige Ordnung des weisen Forschens und Sinnens und baute das Denkmal ihres Ruhmes für alle nachkommenden Geschlechter zu deren Heil.“ Den Beschluß machen vier zeitgenössiche Autoren. Um noch einmal das Vorwort zu zitieren: „Weil wir in ihnen die Liebe spüren zur deutschen Sprache, stehen sie da, diese vier Namen, die für alle stehen sollen, die unsere Sprache lieben, so daß also ihre Wahl niemandem zur Qual werden möge.“ Es sind Heinrich Federer*, Theodor Haecker*, Ernst Jünger und Josef Weinheber. Federer nimmt den Jean-Paulschen Vergleich von der deutschen Sprache als einer Orgel auf, sein Text ist von zartester Kontur. Haeckers Prosa, die auf dem Fuße folgt, macht die Brisanz echter Sprache spürbar, aus Jüngers „geschliffener Dunkelheit“ – um einen Jüngerschen Terminus auf sich selbst anzuwenden – blickt dann und wann das Antlitz des alten Hamann. Weinhebers „Hymnus auf die deutsche Sprache“ macht den feierlichen Beschluß: er mündet in den Lobgesang des Reinmar von Zweter*, der am Eingang steht: „O sel’ger Mund, der reine Zunge heget!“ Unter den mannigfachen literarischen Bemühungen um den Patienten „Deutsche Sprache“, die in den letzten Jahren erschienen sind und in Diagnose und Therapie wichtige Dienste verrichten konnten, scheint mir das vorliegende Buch eine ausgezeichnete Stelle einzunehmen. Denn obschon diese Zeugnisse deutscher Männer nur eben eine Auswahl sein können – eine sichere, vor allem möchte man sagen: eine e n e r g i s c h e Hand hat die Auswahl vollzogen – dem Buch kommt der Charakter einer rechten Summa zu. Und wenn wir – mit Jakob Grimm* – die Sprache „den vollen Atem menschlicher Seele“ heißen, so darf dieses Werk zu den Büchern gezählt werden, in denen wir tief und erquickend Atem holen können, zu den wahren Genesungsbüchern der deutschen Seele. Albrecht Goes.

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41 lg [14. Oktober 1938] Volkssprache. Es ist nicht leicht, zugleich einfach, anschaulich und kraftvoll zu sprechen oder zu schreiben. „Schriftdeutsch“, „Papierdeutsch“, „Kaufmannsdeutsch“ bezeichnen einen gewundenen, hölzernen oder aufgeblasenen Stil. Die Worte zeigen einige der Irrwege, auf die man im Bereich der Sprache geraten kann. Daß jedermann sich von Jugend auf um guten Ausdruck bemühe, ist nur eine notwendige Forderung. Gerne hat man dabei die Einfachheit und Herzhaftigkeit des unverbildeten Menschen zum Vorbild genommen. „Dem Volke aufs Maul schauen“, das ist die Losung seit Luther. In einer Zeitschrift* wurden jüngst Beispiele gebracht für die Kraft und den Nachdruck des „gesprochenen“ Wortes, das im Volke lebe. Der einfache Mann, so hieß es da, sage nicht: „Das erklärt sich daher, daß er immer viel getrunken hat“, sondern: „Das kommt vom vielen Trinken“, und die Grimmschen Märchen erzählten nicht: „Bei der Geburt des Kindes starb die Königin“, sondern: „Und wie das Kind geboren war, starb die Königin“. Der volkstümliche Klang dieses Satzes beruhe darin, daß das Substantiv vermieden und die einfache Zeitbestimmung in einen kleinen Satz aufgelöst werde, der ein Geschehen wiedergebe. Zum Schluß wird in dem Zeitschriftenaufsatz angedeutet, daß die Sprache der Märchen vielleicht eher noch als die Schillers für den Unterricht in der Volksschule geeignet sei, denn sie könne als die vom Volke selbst hervorgebrachte Sprache von den Schülern auch wirklich beherrscht werden. Dies wäre unbedingt schlüssig, wenn die Brüder Grimm ihre Märchen wirklich so einfach in der Volkssprache geschrieben hätten. Sie haben sich aber, als die ersten auf diesem Gebiete, ihr ganzes Leben lang mit der Geschichte und den Gesetzen der deutschen Sprache abgegeben und diese – auch wissenschaftlich – besser als jeder ihrer Zeitgenossen gekannt. Die Sprache ihrer Märchen ist eines der Ergebnisse dieser Lebensarbeit. Diese Märchen sind, wie das Beispiel zeigte, wohl dem Volke abgehört, aber ihre Niederschrift ist, bei aller Genauigkeit im einzelnen, doch auch wieder – aufs Ganze gesehen – ein eigener schöpferischer Akt. Die Brüder Grimm konnten gar nicht anders, als den Erzählungen dabei zugleich ihren persönlichen Stil mitzuteilen, man kann sagen: einen romantischen Stil. Das zeigt sich deutlich, wenn man die Grimmschen mit anderen Volksmärchen vergleicht. Das spricht gewiß nicht gegen die Volkstümlichkeit der Märchen der Brüder Grimm und auch nicht gegen ihre Eignung als Vorbild im Unterricht, aber es zerstreut die Vorstellungen, als wachse eine volkstümliche Sprache absichtslos ohne weiteres zu einer vollendeten Form. Sie bedarf dazu vielmehr ebenso der geistigen Bemühung wie des bewußten Verstehens, und es ist am Ende eine

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 Texte aus der Frankfurter Zeitung

hohe Kunst, zugleich einfach, anschaulich und kraftvoll zu sprechen und zu schreiben. lg.

42 Dolf Sternberger [25. Juni 1939] „Ortografi“? Wieder einmal wird gegen das „ph“, das „th“, zugleich aber auch gegen alle Dehnungsbuchstaben (ie, ah und so weiter), Doppelkonsonanten und – dies sogar an allererster Stelle – gegen alle großen Buchstaben Sturm gelaufen. (Diesmal in einer Zeitschrift für Gewerbelehrer.) Das „ph“ ist ja schon seit längerer Zeit im Rückzug, wie man am „Telefon“ und an der „Fotografie“ erkennen kann: Diese Schriftbilder riechen heute den meisten kaum noch nach reformistischer Gesinnung. Eher werden manche heute umgekehrt einen Mann, der sich auf dem Aushängeschild ausdrücklich als „Photographen“ bezeichnet, einer bewußt konservativen, wo nicht böswillig rückständigen Gesinnung verdächtigen. Reden wir nicht vom griechischen Ursprung, nicht davon, daß unser „th“, wo es noch übrig ist, einen besonderen griechischen Buchstaben wiedergibt, der vom „t“, das es auch gab, scharf geschieden war. Historische, lautgeschichtliche Argumente gelten den Reformern doch nichts – der oben erwähnte Verfasser von zehn „tesen“ will zum Beispiel auch „krist“ und sogar „fux“ und „axel“ schreiben. Sie haben nichts für die Geschichte übrig, um so mehr aber für die Natur. Denn sie fordern eine „natürliche“ Schreibweise nach dem Motto „Schreibe, wie du sprichst!“. Kann man denn überhaupt natürlich schreiben, kann man so schreiben, wie man spricht? Schrift ist nicht Sprache, sondern stets und überall gesetztes Zeichen, ein System von Chiffern, das man nicht mit auf die Welt bringt und nicht mit der Muttermilch einsaugt, das jeder Mensch vielmehr erst mühsam erlernen muß, um es lesen und anwenden zu können. Es sind aber Zeichen nicht bloß für wenige abstrakte Laute, die überall wiederkehren, sondern auch für Worte, für Sinn, und daher Male oder Spuren der Abkunft, Verwandtschaft, bedeutungsvoller Beziehung zwischen Worten und Sachen. Der Laut als solcher aber bedeutet gar nichts. Sonst könnte man ja auch tabula rasa machen mit unserer ganzen Schrift und die Stenographie einführen oder Striche und Punkte wie bei Morse oder auch die chinesischen Zeichen. Nein, als bloß natürliche Wesen können wir nicht schreiben, und also müßten wir, wenn wir der Natur ganz und gar ihren Lauf ließen, das Schreiben aufgeben. Dieses Pathos der Natürlichkeit aber einmal beiseite gelassen – so ist nicht einzusehen, warum das f ein besseres Zeichen sei als das ph, warum das gar eine Frage des karakters sei, wie nämlich unser tesenverfasser meint, wenn er ausdrückt: „Eine volkstümliche Schreibung, die auch auf diesem Lebensgebiet aufräumt mit den Verworrenheiten und der Bildungstünche eines



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morschen Intellektualismus und in wahrhaft deutsch-germanischem Geiste Formen schafft, die zu den Herzen der Millionen sprechen.“ Spricht denn ein x mehr zum Herzen als ein chs? Nein, aber auf der Schreibmaschine tippt sich’s freilich rascher. Man soll uns doch kein x für ein chs vormachen. Warum dann nicht gleich ein x für ein u? Vielleicht ist das x viel natürlicher und vernünftiger als das u – oder gar: fil fernünftiger, fileicht? Genug davon. d. st.

43 Gerhard Storz [12. November 1939] Ueber die Sprache. Früher einmal – vielleicht geschieht es auch heute noch – prägten die Kandidaten der klassischen Philologie das Folgende sich ein: das Nachdenken darüber, ob die Sprache „physei“ oder „thesei“ entstanden sei, bezeichne die Anfänge der Sprachwissenschaft bei den Griechen. Denn danach wurde in der Prüfung sicherlich gefragt, sobald das Stichwort „Sophisten“ gefallen war. Jener Streit, ob die Sprache als urtümliches und eigenes Wesen oder als zweckhafte Festsetzung und Machenschaft der Menschen zu betrachten sei, erschien im Alltagsbetrieb des Studiums freilich nicht mehr zu bedeuten als eine der kennzeichnenden Eigentümlichkeiten eines fernen Zeitalters. Es bedurfte, wie in allen Dingen, der eigenen Erfahrung und des wirklichen Bedrängtseins, damit offenbar werden konnte, was mit solcher Auseinandersetzung eigentlich gemeint gewesen sei und was es heute noch damit auf sich habe. Heute, so scheint es, ist es nun so weit, daß der alte Streit noch einmal durchgefochten werden muß – und zwar vor allem, was unsere deutsche Sprache und unser eigenes Sprechen angeht. Wohl für jeden sprachempfindlichen Menschen kommt die Zeit, in der ihn die Sprache fast erschreckt. Denn sie erscheint ihn nun nicht mehr als Möglichkeit und Stoff, Werkzeug und Vorratskammer, sondern als Macht, Wesen und Geheimnis. Eine solche Veränderung geht dann vor, wenn ein Mensch wieder und wieder gesehen hat, daß die Sprache es ist, die entlarvt. Meinungen können übernommen und gewechselt werden, oft sehr schnell und ohne ersichtliche Beschwer, die Sprache aber kann man nicht mit derselben Leichtigkeit wechseln. Früh belehrt die Erfahrung den Aufmerksamen auch darüber, daß die klügste Lehre, vom Dummkopf nachgesprochen, alsbald in Torheit sich verkehre, daß aber auch noch die unzulänglichste und schiefste Einsicht dem Redlichen und Starken gute Früchte zeitigte. Zwar gibt es Masken, Verkleidungshilfen in der Sprache: gerade sie werden es sein, die den Gaukler ausweisen. Mag einer Kleider über sich ziehen, soviel er will und so bunte als ihm gefallen, sein Wuchs, das Eigentümliche seiner Gestalt vermag er nicht zu ändern. Und gerade das auffallendste Stück wird die etwa zu kurzen Beine am deutlichsten zeigen. Denn eben

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die Sprache macht es offenbar, ob eine Meinung zu Recht oder vor der Zeit, von der vollen Einsicht oder ohne rechtes Verstehen, in ganzem Ernst oder mit halber Ueberzeugung ausgesprochen wurde. Spiegel zu sein, – Zauberspiegel, in dem Dürftigkeit erkennbar unter erborgter Schönheit hervorlugt, – oder Waage, die verläßlich das Gewicht des Sprechenden anzeigt, – Spiegel oder Waage zu sein, das erscheint als das wahre, freilich geheime Wesen der Sprache. „Wie einer spricht, so ist er!“ heißt es im Volksmund, und wie so manche der überkommenen Aussagen, so erlangt auch diese immer mehr an Reichweite, Gehalt und Wahrheit, je mehr man darüber nachdenkt. Solche Beobachtungen geben bereits eine entscheidene Antwort auf die alte Sophistenfrage: Die Sprache wurde und wird n i c h t vom Menschen „erfunden“ eingerichtet und ausgetüftelt wie etwa technische Dinge. Weil es ohne die Sprache keinen Verkehr unter den Menschen gibt, konnte der Irrtum entstehen, die Sprache sei ihrem Wesen und Sinn nach ein Verkehrsmittel und könne wie diese von seinen Benützern gelenkt, verbessert und vereinfacht werden, wie es eben das Bedürfnis, vor allem das nach Schnelligkeit und Bequemlichkeit, erfordere. In diesem Irrtum sind die Keime zu fast allen Verstößen gegen die Sprachrichtigkeit enthalten, aus ihm erwachsen die meisten Sprachdummheiten und all die Gebrechen, über die mehr und mehr Klage laut wird. Solange die Sprache nicht als das erfahren und begriffen wird, was sie ist: als eigener Lebensbereich, in dem der Mensch nicht anders steht als innerhalb der Natur – und deren Beherrschung läßt er sich doch wahrhaftig sauer werden! –, als Wesen, das über dem Einzelnen und dem jeweils Heutigen ragt, als Ordnung, die am deutlichsten die Göttlichkeit aller in dieser Welt verborgenen, wahren Ordnung anzeigt, – solange der Sprache dies ihr eigentliches und volles Recht nicht gegeben wird, bleiben alle Versuche, ihr zu helfen, fruchtlos: der Reinigungsbeflissene setzt an die Stelle eines Greuels einen solchen aus anderen Silben, der Empfindliche dient seinem Hochmut oder Eigensinn, nicht aber der Sprache – kurz die Aerzte behandeln die Anzeichen einer Krankheit, von der sie nichts wissen, deshalb nicht, weil sie selbst von ihr nicht weniger befallen sind als die, welche sie für ihre Verbreiter halten. Zu solchen Betrachtungen und zu einem solchen Begriff von der Sprache, daß sie nämlich „physei“ entstanden sei, leitet das Buch von Fr. M. R e i f f e r s c h e i d t den wahren und pünktlichen Leser. (U e b e r d i e S p r a c h e. Verlag Jakob Hegner, Leipzig, 199 Seiten.) Die „Natur“ der Sprache ist freilich seltsam, janusköpfiger Art: Geist-Natur! Reiferscheidt macht diesen verwickelten Sachverhalt erstaunlich klar und faßlich: er nennt den Menschen den „Geisteigenen“ der Sprache. Treffender und handlicher kann man die hin und her, vorwärts und rückwärts laufende Beziehung des Menschen zur Sprache nicht ausdrücken: auch das seltsame Verhältnis des unveränderlichen Wesens in der Sprache und ihres der Geschichte unterworfenen Teils läßt er übersehbar und deutlich



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werden. Er durfte es sich zutrauen, über den schwierigsten Gegenstand in der, wie er meint, gemütlichsten Schreibart sich zu äußern: nicht in der geradeswegs durchlaufenden, auf bestimmte, einzelne Endergebnisse zielenden Darstellung, sondern in einzelnen Betrachtungen, die bald enger, bald in weiterem Abstand um das kreisen, was oben als das Geheimnis der Sprache verstanden wurde. An mancherlei Dingen, die in diesem Buch den Sinn von Anzeichen und Merkmalen bekommen, wird der Leser herangeführt: Vaterlandsliebe, Nationalstolz, die Sprache als „formgewordene Deutschheit“ – Wesen und Grenzen der Mundart – Blut und Sprache – Dichter, Schriftsteller und das Wort – einzelne Verstöße gegen die Sprachrichtigkeit und anderes mehr. Die einzelnen Abschnitte haben jedoch nicht die Art der „Plaaderei“, sie fassen das Gemeinte scharf ins Auge und drängen es aufs Wesentliche zusammen. Denn diesem Buch ist ernstlich und vor allem um die Wahrheit und den Geist zu tun. Deshalb ist es ein wichtiges Buch. Sein Vortrag ist denn auch – trotz einer gewissen Breite und manch volkstümlicher Töne – kaum „gemütlich“, eher herzhaft, er wird eigentlich immer von herzhaftem Grimm angeheizt. Die Sprache wirkt auch hier als Spiegel, und der Autor braucht das Spiegelbild wahrlich nicht zu scheuen. Da und dort aber wollte es uns so vorkommen, als ob er besser daran getan hätte, über manche Dinge nicht gerade in der angedeuteten Haltung zu sprechen: sein sonst so treffendes Urteil verhärtet und verengt sich dann zu einer Art von Eigensinn. Von der Satire hält Reiferscheidt offenbar mehr als vom Humor oder gar vom Pathos (Oder vielleicht nur, sofern solche Haltung Pose darstellt?) Lichtenberg scheint sein Mann zu sein – die Wahl dieses Patrons war ihm immerhin erlaubt –, und Lessing ist es, den er vor allem verehrt. Das eine ist freilich auch wahr: es ist in Deutschland, nicht zuletzt in Betrachtungen über die Sprache, zu viel geschwärmt und „erfühlt“ worden. Wem es mit der Suche nach Form und Gestalt ernst ist – der Ruf danach erklingt ja schon lang –, der wird gut daran tun, seinem Gefühl eine Weile zu mißtrauen. Es ist ja auch nicht ausgemacht, daß Schwärmerei sich ausschließlich auf die holden und weichen Dinge beziehen müßte, das Bereden der harten und düsteren kann ebenso wenig des Geistes und der Zucht entbehren. Deshalb wirkt das Buch wohl auch dort fruchtbar, wo es nach unserer Meinung über das Ziel hinaus oder nicht gerade in dessen Mitte trifft. Unter den Büchern über Dinge der Sprache – eins nach dem andern kam in den letzten Jahren – hat dieses Buch deutlich seine eigene und besondere Stelle, ist von höherem Rang und übertrifft die meisten davon an Bedeutung. Gerhard Storz.

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 Texte aus der Frankfurter Zeitung

44 Dolf Sternberger [26. November 1939] Weiter nichts? Über die Verständigung durch Sprache.

Von Dolf Sternberger

In einem Buch* über die Sprache, das jüngst erschien, liest man diesen Satz: „Wer nichts weiter begehrt, als verstanden zu werden, der ist es begreiflicherweise vollauf zufrieden, wenn er nur trockenen Fußes ans andere Ufer seiner Rede gelangt“. Die Meinung geht dahin, daß man, um gut und kräftig zu reden, mehr begehren müsse, als verstanden zu werden, daß man also eine tiefere oder auch höhere Ansicht von der Sprache selbst gewinnen müsse, als sie dem gewöhnlichen Sprachgebrauch innewohne, denn das eben sei das Gewöhnliche (und Verderbliche), daß die gewöhnlichen Menschen die Sprache bloß gebrauchten, anstatt sie zu ehren, daß sie sie zum bloßen Mittel ihrer Notdurft, ihres Verkehrs, eben ihrer Verständigung erniedrigten, anstatt sie in ihrem eigenen Wesen scheu und innig zu erkennen und gleichsam selbstlos in ihrer Fülle unterzutauchen, anstatt, mit einem Wort, ihr zu dienen. Ihr zu dienen? Die Sprache sollte uns also beherrschen? „Wer nichts weiter begehrt, als verstanden zu werden ...“ – nichts weiter? Ist es nicht sehr viel, ja beinahe alles, verstanden zu werden? Wie oft gelingt es uns denn, verstanden zu werden – gelingt es denn überhaupt jemals vollkommen? Ich will verstanden werden. Nichts weiter. Verstanden? „Verstanden“ – das ist ein Kommandowort, ein Mittel zur Einschüchterung, und, so verstanden, scheint das Begehren, verstanden zu werden – und weiter nichts – freilich ein sehr selbstsüchtiges Begehren zu sein. Ein Befehl duldet keine Widerrede, kein Gespräch. Wenn er nicht recht verstanden wurde, dann ist es wohl ein schlechter Befehl gewesen. Wir gebrauchen ja aber die Sprache nicht bloß zu Befehlen – im Gegenteil bilden diese geradezu einen Ausnahmezustand der Sprache –, und überall sonst muß ich, um verstanden zu werden, auch selber verstehen. Die Selbstsucht – wenn man so will – ist gegenseitig. Denn wo ich nicht zugleich höre, kann ich auch nicht hoffen, verstanden zu werden. Das gilt genau so für Liebende wie für Geschäftspartner, für das intime wie für das öffentliche Gespräch, und dies eben macht den Vorgang der Verständigung aus. Die Sprache aber ist in der Tat das Mittel solcher Verständigung – wenn man das Wort „Mittel“ nur recht versteht –, nicht so sehr das Werkzeug als vielmehr das Medium der Verständigung. Wir verständigen uns miteinander durch Sprache oder auch in der Sprache, nämlich zumeist in unserer Sprache, in unserer gemeinsamen Sprache. Daß sie „unser“ ist, bedeutet ganz gewiß nicht, daß wir die Sprache besitzen, so wie man Möbel oder Aktien besitzt. Wir haben sie ja nicht gekauft. Sie dient uns, ohne daß wir sie besitzen, sie steht uns zu Gebote. Freilich sind wir auch unsererseits an sie gebunden, wie man eben an ein Medium gebunden ist, gerade



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um der Verständigung willen. Denn wenn wir uns nicht an sie hielten, wenn wir nicht der Grammatik und der Syntax und dem Bildsinn, der Metaphorik, folgten, so könnten wir uns nicht miteinander verständigen, könnten nicht einmal verstanden werden, wenigstens nicht richtig, nicht eben so, wie wir es begehren. Wer also weiter nichts begehrt, als verstanden zu werden – gerade der wird auch allem eignen Wesen der Sprache notwendig auf die Spur kommen. Sonst wird er gerade nicht verstanden. Dieses eigne Wesen der Sprache thront nicht irgendwo in der Abgeschiedenheit oder in der Höhe über uns, sondern es ist nur mitten unter uns, es kommt nur zum Vorschein und erfüllt sich ausschließlich gerade im Verkehr, in der wechselseitigen Mitteilung, in der Verständigung. Ebendarin geht es ganz und gar auf. Man gräbt also der Sprache das Wasser ab, wenn man diese Sphäre des Verkehrs, der Mitteilung, der Verständigung, „von oben herab“ meint betrachten und behandeln zu müssen, als ob sie flach und seicht wäre. In Wahrheit kann man sie übrigens gar nicht von oben herab betrachten – außer man müßte verstummen und sein Leben lang selber das Maul halten. Man kann die Sprache nicht aus dem Verkehr ziehen. Jedermann will verstanden werden und sich verständigen, so gut es geht, ob er sich nun zu den gewöhnlichen oder zu den „höheren“ Menschen rechnen mag. (Mit welchem Recht und Privileg eigentlich?) Ein Geschäftsbrief oder ein Gespräch mit „Wie geht’s?“ und „Kalt heute“ auf der Trambahn oder im Wirtshaus zeugt von diesem allgemeinen Begehren nicht mehr, eher weniger, wahrscheinlich aber genau so sehr wie ein Gedicht von Hölderlin. Sie unterscheiden sich auf andere Weise, dieses Trambahngespräch und dieses Gedicht, aber nicht dadurch, daß das eine in der bloßen Verständigung befangen bliebe und das andere etwa der Sprache diente. Auch Hölderlin begehrte nichts weiter, als verstanden zu werden, er begehrte es sogar sehr heftig, nur darum dichtete er. Es hätte ihm gar nichts Lieberes geschehen können, als verstanden zu werden, denn wenn er verstanden worden wäre, so wäre ja die Welt wiedererstanden, die er stets beschwor. Nicht darin also besteht der Unterschied zwischen Rede und Rede, sondern in dem, was der eine und der andere zu sagen hat. Es gibt eben Dinge oder Wahrheiten, die sich nicht so leicht „verständlich“ machen lassen. Und selbst der einsamste Einsiedler noch begehrt durchaus, verstanden zu werden. Er begehrt sogar nichts weiter, als verstanden zu werden, wenn auch nicht von Menschen. Oder ist nicht auch das Gebet ein Zeugnis solchen Begehrens? Selbst wenn das eigentliche, das reinste Gebet gerade dasjenige wäre, welches alles Begehren und Wünschen auslöschen soll – und nicht das andere, häufigere, in dem ein Anliegen oder eine Fürbitte ausgesprochen wird –, selbst dieses äußerste „Rede, Herr, dein Knecht hört“ drückt noch ein Verhältnis des Verkehrs aus, ja es begründet sogar eine ganz eigentümliche Art der Verständigung. Nichts weiter.

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Oder sollten wir umgekehrt, wenn die Sprache für Höheres vorbehalten wäre, uns auch ohne Sprache verständigen können? Es heißt, daß Freunde oder Liebende einander ohne viel Worte verstünden. Es ist sogar Mode geworden neuerdings, im stummen, aber kräftigen und bedeutenden Händedruck, im tiefsten seelenvollen Blick, in der „guten“ Gebärde die höhere oder feinere Art des Verstehens zu finden. In Romanen und Filmen sollen häufig gerade die Figuren, die „nicht viel Worte machen“, schwer und stumm dasitzen, dann aber beim Abschied beide Hände des Partners oder der Partnerin ergreifen und ihm oder ihr lang in die Augen schauen, als die feinen Menschen, die höheren, tieferen oder auch wertvolleren Naturen aufgefaßt werden. Die Rede wird dann leicht verächtlich und gern eben als „Worte machen“ oder als „Geschwätz“ abgetan in dem Gefühl: wir Stummen sind doch bessere Menschen. Derart wird dann beinahe die Sprache schlechthin den Niederungen des Daseins oder wiederum des Verkehrs zugewiesen, das eigentliche vollkommenere „Verstehen“ gegen die unzulängliche bloße Verständigung abgehoben. Auf den Höhen schweigt man, wie die Höhen selber schweigen – Berge bilden ja nicht selten die Kulisse solcher Innerlichkeit. (Ich bin nicht sicher – aber vielleicht sind diese Liebhaber des Schweigens sehr nahe verwandt mit jenen Hohepriestern der Sprache; jedenfalls kommen beide in dem Bewußtsein des Höher-seins überein.) Ein seltsames Ideal! Seltsam für Menschen – bei anderen Wesen brauchte es einen nicht zu wundern –, aber seltsam für Menschen, denen doch gerade etwas mehr gegeben ist als Blicke und Gebärden, damit sie sich miteinander verständigen können. Tiefe Blicke haben auch die Tiere, auch sie können sich anschmiegen, ja sie könnten sogar im Prinzip ein ander auf die Schultern schlagen, wenn sie nur aufrecht gehen wollten. Warum sollten wir dieses Leiden der Kreatur nachahmen, da wir doch wahrhaftig zu reden vermögen, da wir von dieser unvergleichlichen Möglichkeit der Sprache Gebrauch machen können! Ist solches höhere Schweigen nicht vielleicht nur eine höhere Faulheit? Auch diese begehren, verstanden zu werden, aber sie scheuen die Mühe, selber zu verstehen und zu hören, sie scheuen die Mühe, ihr gehütetes Inneres in der Rede zu artikulieren, sie fürchten vielleicht auch, sie müßten auch Einbuße leiden an Seelenbesitz und Selbstgefühl, sie fürchten, sich zu verlieren. Und so begehren sie, verstanden zu werden auch ohne Sprache. Wer mich liebt, versteht mich auch so. Aber wer sich nicht verlieren will, gewinnt auch nicht. Und die unverstandene Frau und der unverstandene Mann haben es sich nur selber zuzuschreiben. Sie hätten es eben nicht so bald aufgeben dürfen, sich zu verständigen. Es ist freilich nicht immer leicht, sich zu verständigen. Es ist sogar oft alle Mühe und Sorgfalt – sprachliche Sorgfalt – und auch immer erneuter Mut dazu nötig, will man verstanden werden. Das „falsche Wort“ kann alles zerstören, die Verständigung kann mißlingen, die Katastrophe der Entzweiung eintreten. Die



Weiter nichts? Über die Verständigung durch Sprache.Von Dolf Sternberger  

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Schuld für solche falschen Worte kann nun freilich auch wieder nicht der Sprache als solcher zur Last gelegt werden, sondern einzig demjenigen, der sie gebraucht. Er wird es lange bereuen, ihrer nicht besser Herr gewesen zu sein, er wird sich den Augenblick zurückwünschen, um es noch einmal, genauer und sorglicher zu sagen, um noch einmal mit mehr Bedacht zu begehren, verstanden zu werden – nichts weiter. Aber es gibt noch andre Schwierigkeiten, gerade wenn man sehr lebhaft begehrt, wirklich vollauf verstanden zu werden. Man muß es nur einmal versuchen, sich ganz und gar verständlich zu machen, so wird man Gründe und Abgründe, Tücken und Fallen der Sprache gewahr werden, selbst wenn es sich um die einfachste Mitteilung von der Welt handelt. Beispielsweise darum, daß die Eltern ihrem Sohn begreiflich machen wollen, sie seien unerwarteterweise ins Theater gegangen, und wenn er heimkomme, so werde er sein Essen in der Küche finden. So nämlich in einem Sketch Karl Valentins. Da schreibt also die Frau (Lisl Karlstadt) auf einen Zettel: Mein lieber Joseph – Mann: Das kannst net schreiben, weil er mir auch g’hört. Frau: Dann schreib ich halt unser lieber Joseph, daß d’a Ruah gibst. Unser lieber Joseph. Natürlich steckt in dieser richtigen Lösung, die auf eine so zwingende logische Argumentation sich gründet, nur wieder eine neue Schiefheit – aber es ist keineswegs einfach, nachzuweisen, warum diese komische Anrede etwa falsch wäre, da sie doch so richtig ist. Zwischen Logik und Grammatik stößt man sich hier an allen Ecken. Oder nachher schreibt sie: „... weil wir ins Theater gehen müssen.“ Darauf der Mann: Wenn ma net mögen, müß ma net. Frau: Dann schreib ich dürfen – können – wollen – sollen – Mann: werden. Frau: Dann sind wir doch schon fort, wenn er den Zettel liest. Mann: Dann schreibst: gegangen sind. Diesmal ist das Ergebnis richtig oder doch normal, denn man pflegt eine solche Formulierung auf den Augenblick zuzubereiten, in dem sie gelesen wird. Gleichwohl könnte jemand eigensinnig weiter pochen: wir sind doch gar nicht gegangen – und schließlich auf das zweite Futur geraten: weil wir ins Theater gegangen sein werden. Und so wäre es denn wieder richtig und wieder falsch. Wie kommt das nur? Wird man die Sprache am Ende doch nie Herr? Und das alles nur, weil wir begehren, verstanden zu werden. Nichts weiter. Derart macht gerade der Gebrauch der Sprache zur Verständigung oder macht die Verständigung in der Sprache deren Geheimnisse erst recht fühlbar – weit fühlbarer, als es ein (fiktiver) selbstgenügsamer Dienst an der Sprache als „hohem Gut“ jemals vermöchte, denn er fände ja keinen Widerstand. Wahrhaftig, wir können uns, redend, in die Sprache verstricken – dies eben lehrt eindringli-

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cher, als es die Philosophen könnten, der Komiker Valentin* –, wir können uns so sehr verstricken, daß es unmöglich scheint, überhaupt noch loszukommen, und darum verfügt Valentin durchaus gordisch: Dann schreibt halt so und so, und damit Schluß. Ja, wir können das nicht nur, sondern wir sind, indem wir reden, stets auch gefangen in diesem Mittel, dessen wir uns bedienen. Jedes Wort legt uns fest*, jedes Wort, das wir selber sagen, ist zugleich ein kleines Element unseres Schicksals. Und bisweilen scheint eines hinter uns aufzustehen wie ein Kobold und bedeutet auf einmal etwas ganz anderes, als wir „meinten“, indem wir’s aussprachen. Nur kommen wir aus dieser Lage nicht dadurch heraus, daß wir den Kobold zum Fetisch machen und uns zu seinen demütigen und eifernden Priestern. Denn so tun die höheren Sprachpfleger. Sondern der Gefangenschaft in der Sprache entrinnen wir einzig durch die Freiheit der Sprache. Denn redend sind wir zugleich immer daran, uns zu befreien, ja wir sprechen nur, um uns zu befreien, und die Sprache ist das Signum dieser unsrer Freiheit. Wir haben sie nicht, aber wir müssen – dürfen – können – wollen – sollen – nein, wir werden sie gewinnen. Indem wir begehren, verstanden zu werden. Nichts weiter.

45 F.M.R. Reifferscheidt [5. Januar 1940] Noch einmal: Ueber die Sprache. Am 12. November erschien in der Literaturbeilage dieser Zeitung eine Besprechung des Buches von F. M. R e i f f e r s c h e i d t: „U e b e r d i e S p r a c h e“. Ein Satz aus diesem Buche bildete den Ausgangspunkt zu einer Untersuchung von Dolf Sternberger, der am 26. November unter dem Titel „W e i t e r n i c h t s?“ im Feuilleton erschienen ist und sich mit dem Begriff „Verständigung“ befaßt. Der Satz Reifferscheidts lautet: „Wer nichts weiter begehrt, als verstanden zu werden, der ist es begreiflicherweise vollauf zufrieden, wenn er nur trockenen Fußes ans andere Ufer seiner Rede gelangt.“ Wir geben hierunter die Erwiderung Reifferscheidts auf jenen Aufsatz und fügen die Duplik Sternbergers an. Indem wir den beiden Auffassungen hier nochmals und gleichzeitig Gehör verschaffen, müssen wir die Diskussion an dieser Stelle für abgeschlossen ansehen, wiewohl sich möglicherweise noch weitere Argumente für und wider die hier vertretenen Ansichten einführen ließen. Die Schriftleitung Verständigung und Ausdruck. Von F.M.R. Reifferscheidt. „Auch Hölderlin begehrte nichts weiter, als verstanden zu werden; er begehrte es sogar sehr heftig, nur darum dichtete er.“ So lautet ein Kernsatz aus der



Noch einmal: Ueber die Sprache. 

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Abhandlung Dolf Sternbergers über das Walten des Verständigungswillens im Sprachgebrauch und überhaupt im ganzen, unteilbaren Leben der Sprache. Der Verfasser meint, daß die Verständigung das Ein und Alles der Sprache sei, daß dem Zwang und der Gepflogenheit des Sprechens ein tieferer Sinn als dieser gar nicht zugrunde liegen könne. „Das eigene Wesen der Sprache,“ so formt er das selbst, „thront nicht irgendwo in der Abgeschiedenheit oder in der Höhe über uns, sondern es ist mitten unter uns, es kommt nur zum Vorschein und erfüllt sich ausschließlich gerade im Verkehr, in der wechselseitigen Mitteilung, in der Verständigung.“ Das ist eindeutig und unmißverständlich, und niemand wird sich einfallen lassen, hier mir nichts dir nichts zu widersprechen. Der gesellschaftliche Charakter der Sprache ist ja nachgerade bereits ein philosophischer Gemeinplatz, wenn auch freilich ein sehr angenehmer und festlicher, einer, auf dem sich vor allem der denkende Mensch zu seinem eigenen Vorteil ergehen sollte. Keine Sprache, die nicht eine Ansprache wäre, und kein Verstand, den die Natur dem Menschen nicht in der Absicht eingepflanzt hätte, daß er dadurch befähigt würde, sich mit seinesgleichen zu verständigen. Nur daß die Sprache nicht auch zugleich „in der Höhe über uns throne“, und nur, daß Hölderlin ausschließlich um der Verständigung willen gedichtet habe, will mir nicht einleuchten, und so sei mir denn schließlich gestattet, mich nun auch meinerseits etwas verständlich zu machen, wobei ich, auf Ehrenwort, nichts weiter begehre, als eben verstanden zu werden. Die Sprache ist das Verständigungsmittel, und außerdem ist sie auch der gesammelte Gemeingeist einer sich nicht nur in die Breite der Gegenwart, sondern auch in die Tiefe der Geschichte erstreckenden Sprachgenossenschaft. Man bedient sich der Sprache; aber man kann ihr auch dienen, indem man sich ihrer auf eine besondere Weise bedient. Sie ist dem Einzelnen untertan und muß sich jederzeit seinen Bedürfnissen fügen. Doch das schließt nicht aus, daß der Einzelne von seinem ersten Lebensschrei an ihr geisteigener und höriger Knecht ist, der es lernen muß, seine Bedürfnisse ihren höheren Absichten einzuordnen. Der Mensch lebt fünfzig oder achtzig Jahre; die Sprache ist aber ein Gebilde weit größerer Zeiträume und hört auch nicht auf mit dem Hingang selbst noch so vieler einzelner Sprachbenützer. Die Sprache war da, eher jeder von uns von sich sagen konnte, daß er da sei, und sie wird sein, wenn wir schon längst nicht mehr über unser Gewesensein aussagen können. Wie die Summe der Einzelnen kein Volk, so ergibt auch die Summe der Verständigungsbedürfnisse keine Sprache. Diese ist nicht nur ein rationales Gebilde, das sie natürlich zunächst und vor allem ist, sondern zugleich auch ein corpus mysticum, an welchem der Einzelne mit anderen als den Vernunftkräften teil hat. – Ist sie also nicht doch vielleicht etwas Höheres als das durch sie erst geformte und gebildete Individuum und thront sie

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demnach nicht doch in schwindelnder Höhe über unserer einzelpersönlichen Armut und Abhängigkeit? Und nun, Hölderlin, der heilige Sänger. Er habe sich verständigen wollen, sagt Sternberger, nichts weiter. Das sei viel, sei schon alles, was ein Mensch von der Sprache nur immer verlangen könne. Ja, darin gleiche Hölderlin eigentlich jedem anderen Sprachbenützer, vor dem er sich also mit seinen Hymnen und Oden durch gar nichts Besonderes auszeichne. Höchstens daß ein Unterschied der gegenständlichen Bedeutung der Rede erkennbar bleibe, insofern als Hölderlin die Welt, der Verfasser eines Geschäftsbriefs hingegen nur seinen Besitzstand habe verändern wollen. Ueberlegen wir jetzt einen Augenblick! Hölderlin hätte sicherlich nicht gesprochen, wenn er nicht eine Sprachgemeinschaft vor sich gehabt hätte, die er hat ansprechen können, und von der er auch nach allen bisherigen Erfahrungen annehmen durfte, daß sie fähig und willens sei, ihn zu verstehen. Genau so, wie auch der Mann auf der Plattform der Straßenbahn niemals auf den Gedanken käme, seinem Nebenmann zuzurufen: „Kalt heute!“, wenn er auch nur ein bißchen argwöhnen müßte, daß dieser Nebenmann nicht gleichfalls sprachbegabt und dadurch fähig und willens ist, ihn zu verstehen. Das ist also tatsächlich wieder nichts weiter als die nun schon wohlbekannte Erscheinung der Gesellschaftlichkeit des mit dem Sprechvermögen ausgerüsteten Menschen. Aber ist die Frage Hölderlin damit etwa gelöst? Nein, sie ist dadurch noch kaum berührt. Genau betrachtet bietet die Sprache nämlich noch einen wesentlich anderen Anblick als nur den sozialen. Hölderlin hat verstanden werden wollen, das ist sonnenklar, und dazu hätte es ja auch nicht gerade eines Hölderlin bedurft. Er hat jedoch außerdem sich auch noch äußern oder ausdrücken wollen, indem er sprach, und das braucht der bloße Verständiger durchaus nicht ebenfalls vorzuhaben. Wenn ich sage: „Wie geht’s?“, was kehre ich da schon von dem, was in mir ist, nach außen? Nichts, wirklich nichts; denn in diesem Falle verständige ich mich, ohne mich auch nur im entferntesten auszudrücken. Oder sollten etwa die fertig gestanzten Redensarten den ganzen Inhalt des Menschen ausmachen? Das kann auch Sternberger nicht meinen, und so wird ihm denn schließlich nichts anderes übrig bleiben, als mit mir zusammen der Ansicht zu sein, daß der erlebte Ausdruck und die gestanzte Redensart in Gegensatz zu­einander stehen, und daß es den Rang eines Menschen bestimme, wieviel er vom einen und wieviel vom anderen in sich hat. Die Verständigung ist das eine, der Ausdruck jedoch ist das andere, und beide sind sie sozusagen naturgewollte Funktionen der Sprache. Ueberdies ist Hölderlin das denkbar schlechteste Beweismittel für eine Alleinherrschaft des Verständigungswillens. Dieser Dichter hat fortgefahren, sich auszudrücken, als schon längst jener Zustand eingetreten war, den die Aerzte Wahnsinn nennen, und den ich hier gerade als das Erlöschen des sozialen Bedürfnisses



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und Vermögens ansehen möchte. Von Verständigung konnte da kaum mehr die Rede sein, wovon ja auch die Hervorbringungen dieser Endzeit selbst aufs deutlichste zeugen; wohl aber regte sich noch bis zum letzten Augenblick der allein ursprüngliche Wille, sich auszudrücken. Das Gespräch war darüber ein umnachtetes Selbstgespräch geworden, und es schien jetzt schon nicht mehr möglich, den zu verstehen, der bereits den Verstand von sich abgetan hatte. – Und dieser Hölderlin soll nun tatsächlich nichts weiter begehrt haben, als verstanden zu werden? Einer solchen Vermutung scheint mir eine etwas ungenaue Kenntnis des Menschen zugrunde zu liegen. Denn es ist ja nicht einmal der Durchschnittsmensch so weit in der Gesellschaftlichkeit aufgegangen, daß er sich immer nur mitteilen wollte, ohne mitunter auch das Bedürfnis des rein persönlichen Ausdrucks zu fühlen. Selbst der Durchschnittsmensch sucht nach Aeußerungen, die den Verständigungszweck überragen; um wieviel mehr also Hölderlin, dem doch wohl auch Sternberger das Prädikat eines „höheren Menschen“ zuerkennen wird. Die Verständigung formt die Sprache vermöge ihrer mengenmäßigen Ueber­ legenheit. Sie formt das Verständigungsmittel Sprache, und das jeweilige Ergebnis solcher Formung ist dann der Sprachgebrauch. Der Ausdruck aber, dieses elementare Sichausdrückenwollen des einzelnen Menschen, der dabei einmal ausnahmsweise seine Gesellschaftlichkeit nicht vor Augen hat, baut die Sprache erst richtig auf, wirkt an der Bildung jenes überzeitlichen corpus mysticum Sprache, das dann nicht mehr dem Einzelnen, sondern gleich der ganzen geschichtlichen Sprachgemeinschaft entspricht. So etwa haben Lessing und Hölderlin, jeder auf seine Weise, die Sprache gebildet und sind dabei natürlich auch mehr oder weniger verständlich geworden. Während nämlich der Sprachleib ganz dem Zweck der Verständigung unterworfen ist und sich in der Gewalt der Verständiger befindet, ist den Menschen vom Typus Hölderlin oder Lessing der Geist der Sprache anvertraut. Sie können sich selbstverständlich darüber nicht ausweisen; aber ich glaube, es besteht kein Grund, ihnen zu mißtrauen. Verstanden wird man, auch wenn man noch so falsch oder sonstwie mangelhaft spricht. Ja, das völlige Fehlen eines persönlichen Ausdruckswillens gewährleistet geradezu die beste und unmittelbarste Verständigung. Davon abgesehen hat der bloße Verständigungstrieb auch sehr viel zur Ver­krüp­pelung und Verschandelung der Sprachen beigetragen. Ich weiß nicht, wie Sternberger darüber denkt, aber ich halte zum Beispiel die Schrumpfung der herkömmlichen Zeitenfülle im Sprachgebrauch der neueren Zeit für einen offenkundigen Verderb. Nun, es ist die Verständigung und nur sie, die uns da auf Gegenwart und Vergangenheit einzuschränken droht, und es ist auch Schuld eines skrupellosen und selbstherrlichen Mitteilungsdranges, daß die einfache Leideform zusehends ausstirbt. Jetzt werden die Soldaten nicht mehr entlassen, sondern sie werden „zur Entlassung

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gebracht“. Das ist klar, das ist nichts als verständlich, und wenn einem auch der Verstand davor stillsteht. Im übrigen ist der heimliche Gegensatz zwischen Verständigung und Ausdruck und überhaupt die ganze Strittigkeit dieses Sachverhalts nicht etwa neu, sondern eher schon uralt. Es ist das im Grunde nur eine literarische Spielart des Gegensatzes zwischen dem Einzelnen und der Gesellschaft. Aber wie es in der Staatskunst als das höchste Ziel gelten muß, die Lebensnotwendigkeiten des Einzelnen und die der Gruppe miteinander zu vereinbaren, so scheint mir auch hier das Heil in der Wahrung eines gedeihlichen Gleichgewichts zu liegen. Wenn der Gestaltungswille der Dichter die Sprache in ihrer bisherigen Bildung erhält und weiterbildet, dann mag die Verständigung ruhig sich selbst überlassen bleiben. Sie kann da keinen Schaden anrichten, sondern erfüllt nur die ihr zugeteilte Aufgabe. In Zeiten jedoch, in denen die Bildkraft des Dichterwortes in Frage gestellt ist, wäh­rend ein entfesselter Mitteilungstrieb alle Dämme durchbricht und die Saaten der Vergangenheit niederzustampfen droht, in solchen Zeiten dürfte es wohl so unvernünftig nicht sein, die Valentinsche Gelassenheit aufzugeben und mit Friedrich Gentz* „bis zur Halsstarrigkeit altgläubig“ zu werden, selbst wenn man dabei Gefahr laufen sollte, daß einen der eine oder andere für einen „höheren Sprach­pfleger“ hält.

46 Dolf Sternberger [5. Januar 1940] Wer spricht?

Von Dolf Sternberger. Der Mensch spricht. Jeder Mensch spricht (ausgenommen die Stummen). Jeder einzelne Mensch, jedes Individuum spricht. Aber natürlich hat kein einzelner sich die Sprache erfunden oder erschaffen, sie ist vielmehr überliefert, der einzelne findet sich in sie hinein und lernt sie gebrauchen, das meiste lernt er früh, manches später und, so lang er lebt, immer noch etwas. Denn die Sprache ist frelich älter als jeder einzelne, gestern oder heute oder morgen lebende Mensch. Darüber brauchten wir uns gewiß nicht zu streiten, – wenn es darum ginge. Aber wenn ihr A l t e r und ihre Fortdauer auch schon ein Zeugnis ihres höheren Wesens und ihres eigenen Wesens wäre, – wieviel solcher höheren Wesen müßte es dann geben! Denn was ist nicht alles älter als das Individuum! Ars longa, vita brevis. Aber nicht bloß Kunst und Wissenschaft, auch die Wirtschaft, auch die Technik, auch das Geld, ja sogar der Verkehr müßten dann zu den höheren Mächten gerechnet werden. Was der Sprache recht ist, ist dem Verkehr billig. Und in der Tat, es gibt ja auch vieles Höhere von dieser Art – wenn man die jeweiligen Interessenten hört, die den Nutzen davon haben, daß solche Macht gelte.



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Aber eben vor diesem Schicksal wollte ich das Sprechen bewahren oder doch die Sprechenden warnen, daß nun auch noch die Sprache aus dem Verkehr gezogen, eingebracht und abgestellt werde in irgendeinem Tempel* oder Naturschutzpark oder in ein Museum (das man für einen Tempel ausgibt), und sei es auch ein bewohntes, belebtes Museum, dergleichen man ja heute hier und dort einrichtet. Die Sprache ist unzweifelhaft älter als „wir“, wenn wir uns als historische Individuen betrachten, aber dies jedenfalls ist noch kein Zeugnis ihres höheren Wesens. Darum kann es also hier nicht gehen. Worum denn sonst? *** Es geht nicht um ihren überindividuellen, es geht aber auch nicht um ihren gesellschaftlichen Charakter als um eine spezielle Eigenschaft, die der Sprache, ihrem Wesen zufällig, außerdem noch anhinge – außer dem, daß sie eben Sprache oder Ausdruck sei. Dieser Begriff des Ausdrucks , den mein Unterredner hier neuerdings in die Diskussion eingeführt hat, um eine tiefere vor einer platteren, eine individuelle (und doch auch wieder und erst recht überindividuelle) vor einer kommun gesellschaftlichen Sphäre der Sprache auszuzeichnen, dieser Begriff bringt in Wahrheit durchaus nichts neues bei. Wer sich verständigen, wer verstanden werden will, muß sich auch ausdrücken, und zwar jeder von diesen muß es tun, nicht allein die feineren, tieferen oder dichtenden Menschen. Höchstens könnte man einen Unterschied für eine Weile gelten lassen zwischen denen, die e t w a s ausdrücken, und denen, die s i c h ausdrücken. Eines ist freilich so ehrenwert und so mühevoll wie das andere. Und überdies sind, sieht man nur genauer zu, beide Spielarten des Ausdrucks stets eigentümlich ineinander verwoben. Indem man nämlich „bloß“ e t w a s ausdrückt und bescheiden genug ist, von sich selber dabei abzusehen, zeigt sich mitunter am Ende, daß man sehr genau und vollständig s i c h ausgedrückt hat. (Denn wer sich selbst verliert, gewinnt sich am ehesten – er braucht davon übrigens selber nichts zu bemerken.) Wer es aber darauf anlegt, s i c h auszudrücken, läuft Gefahr, alles Etwas zu verlieren und sich selber obendrein, da er in den leeren Spiegelsaal der wesenlosen Subjektivität sich eingeschlossen oder – ausgeschlossen hat. Soviel zum Ausdruck. Wer nun aber die überindividuelle Macht der Sprache so nachdrücklich ins Feld führt, der sollte sich doch hüten, von ihrem gesellschaftlichen Charakter und zumal von den „gestanzten Redensarten“ (die er dem „erlebten Ausdruck“ entgegensetzt) so gering zu denken und so abschätzig zu reden. Denn was könnte die überindividuelle Macht unzweifelhafter bezeugen als eben diese Redensarten, in denen der überlieferte Gemeingeist an Stelle des Einzelnen denkt und fühlt? Sprichwörter sind nicht immer so schlecht, wie mein Unterredner, der doch gerade die Bauern und ihre Sprache so hoch einschätzt, hier glauben machen will. Wenn sie auch gewiß nichts Individuelles nach außen kehren, so kann man ihre Wahrheit doch

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immerhin selber prüfen oder erfahren oder – wenn es denn sein muß – erleben. Aber, wie gesagt, um den gesellschaftlichen Charakter der Sprache geht es gar nicht. Worum denn sonst? *** Aber halt! – Die „gestanzten Redensarten“ bringen mich auf die Gemeinplätze und auf das, was ihnen entgegengesetzt wird: die T i e f e. Dazu mögen die Leser mir erlauben, wenigstens im Vorbeigehen etwas zu bemerken. Nämlich dies: Ein philosophischer Schriftsteller sollte auf keinen Fall tief sein wollen. Wer sagt ihm denn, daß Tiefe eine Garantie der Wahrheit sei? Vielleicht liegt die Wahrheit auf der Gasse oder sogar auf den Gemeinplätzen, und man müßte nur sorgfältig genug den Staub und Kehrricht durchsuchen, um sie am Ende doch zu finden. Dem Tiefensüchtigen kann es gehen wie jenem Schatzsucher*, der viele Länder durchwanderte, in Höhlen kroch und Gräber öffnete, und dabei war der geweissagte Schatz daheim in seiner armseligen Stube hinter dem Ofen verborgen. Man denke: hinter dem Ofen! Kann es einen banaleren Ort geben – für einen Schatz? Man sollte auch das Banale nicht scheuen, wenn es nur wahr ist. Heute argwöhnt man gerne in allem, was mit dem gemeinen Verstande eingesehen werden kann, eine Plattheit, die der Mühe nicht wert ist, und zieht sich rasch auf das Irrationale, Mystische oder Paradoxe zurück, ohne es mit dem Verstande noch recht versucht zu haben: eine Bequemlichkeit, die freilich Ansehen verleiht (wie so viele Bequemlichkeiten). Wie aber kann man nicht zuvor alle rationalen Möglichkeiten ernstlich – wohlgemerkt: ernstlich, also nicht bloß so rasch abgehapselt als notwendiges Uebel und nicht bloß in der vorgängigen Ueberzeugung, daß sie doch nicht weit führen werden – wenn man diese also nicht zuvor ernstlich erprobt hat? Und wie kann man auf Paradoxe treffen oder auf Antinomien, wenn nicht gerade auf dem Wege der Vernunft? Wenn auch der R a t i o n a l i s m u s einmal durch einige seiner praktischen Folgen und Werke desavouiert worden ist – muß das an der R a t i o schlechthin gelegen haben? Kurz, ich will es jedenfalls gern auf mich nehmen, Gemeinplätze zu betreten und mir auch manches geringschätzige Lächeln dabei zuzuziehen, wenn ich nur die Chance habe, Wahrheit dort zu entdecken. Die Chance! – nicht die Garantie. Aber es gibt keine Garantie für die Wahrheit, und die Tiefe bietet sie schon gar nicht. Dies nur zwischenhinein. Worum also geht es? Nicht um den überindividuellen, nicht um den individuellen, nicht um den gesellschaftlichen, sondern einzig um den m e n s c h l i c h e n Charakter der Sprache. Die Sprache ist menschlich – oder: Der Mensch hat Sprache. Fühlt man, hört man, ermißt man, was für ein großes Wort dieser Gemeinplatz ist? Ist es auch nur tiefer, geschweige wahrer (wenn anders man einen solchen Komparativ überhaupt bilden darf), zu sagen, die Sprache sei übermenschlich? An einer Stelle nämlich scheint mein Unterredner etwas derartiges andeuten zu



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wollen („Die Sprache war da, ehe jeder von uns von sich sagen konnte, daß er da sei ...“), aber ich weiß nicht gewiß, ob er bei diesem Wort genommen sein möchte. „Jeder von uns“ – heißt das: jeder von uns Menschen überhaupt? Von diesem Worte her bekommt seine Darlegung einen gewissen oder vielmehr ungewissen metaphysischen Schimmer, es scheint sich ein Wölkchen Weihrauch zu erheben. Aber Ontologie* läßt sich nicht andeuten, sie müßte entschiedener und gründlicher dargetan, aus solcher bedeutenden Arabeske müßte System werden, damit man darüber streiten oder – es einsehen könnte. Lassen wir also die Frage, ob die Sprache vor dem Menschen als ein eigenes Wesen andrer Art gegeben und geschaffen sei und nach ihm dauern werde, so lange auf sich beruhen. Bleiben wir aber bei der anderen, die sich auf die menschliche Existenz und auf sie allein bezieht: Hat der Mensch Sprache? Oder hat die Sprache den Menschen? – Es wird jedem, der die Replik Reifferscheidts aufmerksam gelesen hat, klar sein, daß dieser sich für die eine Seite dieser Alternative endgültig entschieden hat, nämlich dafür, daß die Sprache den Menschen habe. Er selbst, der Sprachhüter, tritt geradezu als ihr Priester auf und als ihr Vogt zugleich, der ihre „hörigen Knechte“, die Menschen, streng genug an den Dienst mahnt, den sie ihr schuldig sind, die sich aber seiner Rute entzogen haben, die läßt er in Gottes Namen laufen, Schmähungen und zornige Prophezeiungen ausstoßend. Da er nun sieht, daß das Feudalsystem derart auch in der Sphäre der Sprache, für die er es retten möchte (“bis zur Halsstarrigkeit altgläubig”), ein großes Loch hat, da er nämlich nicht bestreiten kann, daß auch diese Entlaufenen dennoch sprechen oder Sprache haben, so trifft er eine neue Unterscheidung und liefert diesen den “Sprachleib” aus – er befinde sich in der Gewalt der Verständiger –, während er selber den ‚Geist der Sprache’ hinter sich im Tempel weiß und um diesen Geist wiederum die Geister einiger verstorbener Genien und der Dichter im allgemeinen als heilige Hörige versammelt. Ist das, was da verehrt wird, nun das corpus mysticum der Sprache? Heißt corpus nicht gerade – Leib? Hat die Sprache den Menschen – oder hat der Mensch die Sprache? Ist das überhaupt eine Alternative? Ist es nicht vielmehr ein dialektisches Verhältnis? – Die Sprache hat zwar von Haus aus keine höheren Absichten als der Mensch (der Mensch schlechthin, nicht: das Individuum). Aber sie kann freilich höchst selbständig, übermächtig, tückisch und dämonisch werden. Eigene Absichten beginnt sie dann zu hegen und durchzusetzen, wenn wir sie aus dem Auge lassen – und das tun wir meistens und gemeinhin. Sie rächt sich schrecklich, indem sie uns die Meinung oder den Sinn verkehrt, wenn wir ihr freien Lauf lassen, ihre Gesetze nicht achtend, ihre Bilder nicht prüfend. Dann verdirbt sie uns die Verständigung wie den Ausdruck. Hinter unserem Rücken steht die Metapher auf und zeugt wider uns, und ehe wirs uns versehen, sind wir von ihr gefesselt und in Bann geschlagen. Wir können uns dann noch so eifrig gegen „Mißverständnisse“

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verteidigen (wie namentlich die Gelehrten fortwährend tun), so hilft uns das so lange nicht, als wir nicht den Mut und die Geduld aufbringen, uns umzuwenden und die Geister zu stellen, die da ihr eignes und dann freilich mächtigeres Wesen treiben. Da nützt uns sogar der heftigste „Gestaltungswille“ nichts, selbst wenn einer auch ein Dichter wäre. Wir müssens nur treffen, müssen diesen unseren Willen, diese unsere Meinung korrigieren lassen, unseren Ausdruck genau auf das hin prüfen, was er selber sagt, anstatt ihn bloß mit unserer Innerlichkeit zu beladen. Denn einmal verläßt er deren Dunstkreis, wenn nicht heute, dann später, und dann wird er womöglich in dem kälteren Lichte der Verständigung fehl und gespenstisch aussehen oder gar lächerlich. Indem wir aber den Ausdruck stellen, die Gesetze zu den unsrigen machen und die Bilder prüfen, geben wir uns der Sprache nicht als Hörige zu eigen, sondern verleiben wir sie uns ein, befreien wir uns von ihrer Dämonie, gewinnen wir Sprache, haben wir Sprache, sprechen w i r erst eigentlich. Dann spricht nicht die Sprache – als ein Götze und Unwesen – dann spricht der Mensch.

47 Dolf Sternberger [28. Januar 1940] Das Universalverbum. Es ist zwar im Lauf der Zeit hier wohl schon einige Male auf dieses erstaunliche Phänomen hingewiesen worden, aber das soll uns nicht hindern, es noch einmal zu tun. Das Wort „durchführen“ scheint sich noch immer hartnäckig festzusetzen und noch immer weiter auszubreiten, sowohl was die Menge der Menschen angeht, die es gebrauchen, als auch die Gelegenheiten, bei denen es sich einstellt. Bisweilen sieht es so aus, als ob sich der Vorrat von Verben bei vielen Zeitgenossen – nimmt man die unumgänglichen „sein“ und „werden“ aus – auf diese eiserne oder papierne Ration reduziert habe, die eben aus dem Universalverbum „durchführen” besteht; allenfalls kommt noch das „erfolgen“ hinzu. Manchmal mag bei den Benutzern des Wortes noch eine Verlegenheit zu spüren sein, sie zögern einen Moment, dann fällt ihnen aber nichts ein, und sie führen in Gottes Namen durch. Meist aber kommt es durchaus unbedenklich, ja forsch und wohlig heraus – und zwar in allen Sphären der mündlichen oder schriftlichen Aeußerung, im Betrieb und auf der Straße, unter Fremden und unter Freunden, in Gesprächen und Briefen, Nachrichten und Aufsätzen. Und es ist, wie stets bei derart dämonischen Vorgängen, keine Hoffnung, hier durch wohlgemeinte Empfehlungen, durch gebildete Klagen, gutmütigen Spott noch auch durch strenge Pädagogik Wandel zu schaffen. Was ist das aber für eine rätselhafte Erscheinung? Ein Programm, ein Plan wird durchgeführt (das ältere, etwa stillere „ausführen“ ist vollkommen ver-

„Räume.“ 

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drängt); Veranstaltungen, Vereinbarungen, Konzerte, Theateraufführungen, auch Lehre und Forschung, ja die Arbeit selbst – alles wird durchgeführt. Neulich wurden auch Soldatenlieder am Rundfunk durchgeführt. Was hat das nur zu bedeuten? Es ist sicherlich ein Zeichen besonderer Aktivität. „Durchführen“ ist in bestimmter Weise aktiver als selbst „ausführen“, denn das „durch“ kennt keine Hindernisse und ist des Erfolges ganz und gar gewiß. Alexander hieb den gordischen Knoten durch und gab derart für alle Zeiten ein Vorbild, auf das sich die Unbesonnenen, wenn auch ohne Recht, berufen können. „Hans Geradedurch“ hieß auch ein Theatermärchenheld der Kinderzeit. Das ist es aber nicht allein. Vor allem unterscheidet sich das Durchführen vom eigentlichen, wirkenden Handeln sehr genau: Der Handelnde kann nicht der Erkenntnis seines Gegenstandes entbehren, seines rechten Augenblicks und der Abwägung seiner Widerstände. Die Aktivität des Durchführens hingegen kennt keine eigene Wirklichkeit, sofern diese durch Gesetze, Verwicklungen (eben: Knoten), Widerstand und Spannung bestimmt wird, sie will solche Wirklichkeit nicht kennen oder nicht wahrhaben. Sprachlich gehört die Uebermacht der Dingwörter eng damit zusammen: alle Handlung – also wiederum etwa das Planen, Veranstalten, Verabreden, Aufführen, Musizieren, Lehren, Forschen, das Arbeiten und Spielen selbst – schrumpft und verhärtet sich zum Ding, und solches Ding kann dann nur noch durchgeführt werden. Wo der Vorgang, das Geschehen, der Prozeß, die Geschichte anfangen sollte – da ist nun nichts mehr übrig, da ist es leer, und in diese Leere hinein wird nun durchgeführt. Das Durchführen (und das „Erfolgen“) will das bewußte Handeln und das vielfältige Geschehen selber verdrängen. So wissen wir wenigstens, wessen wir uns schuldig machen, indem wir das Universalverbum gebrauchen. d. st.

48 Erik Graf Wickenburg [9. April 1940] „Räume.“ Die Frage nach dem Wesen des Raumes gehört in der Philosophie zu den schwierigsten Begriffsbestimmungen, was schon daraus erhellt, daß mit einem NichtRaum schlechthin nicht auszukommen ist, der leere Raum also von Kant als Anschauungsform des wahrnehmenden Subjekts, nicht „an sich“ bestehend, aber für die Erscheinungswelt wirklich, genommen wird. Für den durchschnittlichen Begriff ist Raum etwas Dreidimensionales; es wird, wenn von einem „Raum“ im täglichen Leben gesprochen wird, die Vorstellung einer allseitigen Begrenzung, wie sie etwa das Zimmer, das Haus, des Menschen Brust liefern, erweckt. Wie aber ist die metaphorische Verwendung des Wortes zu begreifen, auf die man häufig stößt? Sind das nicht Räume, die keine Räume sind, auch nicht

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die leeren Räume der Philosophie, sondern: wunderbar dehnbare, ziemlich nebelhafte und undeutlich begrenzte „Räume“, in denen etwas „vorgeht“, die „geplant“ oder „gestaltet“ werden? Der „nördliche Raum“ dient als Formel für etwas nicht genau Definierbares, nicht recht Faßbares, also fast Magisches, und ähnlich steht es mit dem „pazifischen Raum“, dem „vorderasiatischen Raum“ und dem „Mittelmeerraum“. Der klangvolle Diphthong des Wortes füllt den Raum des Mundes und hat ein Echo im Gaumen des Redenden. Die Frage nach dem Wesen dieser Art von Raum ließe sich vielleicht einfacher beantworten als die zuerst gestellte; sie wäre aber zu Zeiten der Idealität noch nicht möglich gewesen, da es sich um ein Modewort neuerer Prägung handelt, über dessen funktionelle Bedeutung hier nichts weiter ausgesagt werden soll, als daß, ganz folgerichtig, die Verschwommenheit im Sprachlichen eine Ungenauigkeit im Denken unterstützt, welches, gerade wenn solche in sich schon schwer abgrenzbare Fragen behandelt werden, doch allein von einer durchaus gegenständlichen Begriffsbezeichnung gewinnen könnte. Der „nördliche Raum“ wird in einem Fall die Länder Skandinaviens bedeuten, im anderen vorwiegend rassemäßig oder gar klimatisch gemeint sein. Die Präzisierung mag gewiß im Einzelfall Kopfzerbrechen verursachen, aber sie wird gerade darin wieder fruchtbar sein. Der Freund klaren Denkens und Sprechens verhängt über sich selbst die strenge Vorschrift: Betreten d i e s e s Raums verboten! egw.

49 Dolf Sternberger [21. April 1940] Menschen als Material. Manche Kliniker pflegten – und das war lange Zeit selbstverständlich, fiel niemand weiter auf – bei Berichten in der Fachliteratur, wenn sie etwa die Wirkungen eines Heilverfahrens beschrieben und statistisch ordneten, die Menschen, an denen sie es erprobt hatten, als ihr „Krankenmaterial“ zu bezeichnen. Man schien, indem man so sprach, in der Klinik wie in einer Fabrik zu hantieren, wo das „Ausgangs-“ oder „Rohmaterial“ durch gewisse Weisen der Bearbeitung aufbereitet, verändert, geformt oder auch veredelt, im Analogiefalle also behandelt oder auch geheilt wird. Diese Assoziation oder dieses drastische Gleichnis, dem das Wort „Krankenmaterial“ mindestens unbewußt seine Entstehung dankt, ist aber in neuester Zeit doch offenbar als peinlich empfunden worden. Jedenfalls suchte man nach einem neuen Wort, das weniger „materialistisch“ klänge. Und man fand es auch. Es war obendrein ein deutsches Wort und hörte sich edler an. Es hieß „Krankengut“. Man kannte bis dahin zwar Massengüter und Stückgüter, immerhin aber auch das Kulturgut und das Gedankengut, also „immaterielle“ Güter, so schien also gegen diese neue Prägung kaum etwas einzuwen-



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den zu sein. In Wahrheit war dies fast nichts anderes als eine Verdeutschung des „Materials“, nur daß diesmal an die Stelle der Fabrik das Handelshaus getreten ist. Güter besitzt man – dies gilt zumal vom Landgut oder Rittergut –, oder man kauft, verkauft und transportiert sie, wozu unter anderen Mitteln Güterwagen, Güterzüge und Güterbahnhöfe dienlich sind. Güter sind allemal Dinge, und wenn man von „immateriellen“ oder auch von „höheren“ Gütern spricht, so macht man sie im gleichen Atemzug eben zu Dingen oder man spricht es aus, daß sie zu Dingen geworden sind. Die Verschönerung des Krankenmaterials zum Krankengut enthüllt also, daß man sich nur terminologisch unbehaglich gefühlt hat, daß in der Sache aber alles beim alten geblieben ist. Kürzlich aber ist in der Münchener Medizinischen Wochenschrift ein Kliniker, Professor von Baeyer*, aufgetreten, der beide Wendungen, die alte wie die neue, auszuräumen trachtet und am Ende rund und klar empfiehlt: „Man sage einfach: die Kranken“. In der Tat, die Kranken sind Wesen und nicht Dinge. Man sage es einfach! Es wird sich zu zeigen haben, ob es so einfach ist, dieses einfache, natürliche, würdige Wort zu gebrauchen. Man muß es auch meinen, denken, fühlen, tun – kurz, die Kranken müssen auch wirklich aufhören Krankengut zu sein, sie müssen wirklich Kranke werden für den Arzt. Denn solch ein Wort ist ja niemals bloß ein Wort und nichts weiter, es ist stets der genaue Name einer Realität. Als „Menschenmaterial“, und sei es auch ein „erstklassiges“, sind die Menschen wirklich Material, es steckt ein Zustand, ein objektives Verhältnis in dem Wort. Und wenn aus dem Menschenmaterial die Menschen erstehen, wie dort aus dem Krankengut die Kranken; so ist nicht bloß ein Wort verändert, sondern ein Zustand. Man sage es einfach – aber man meine es auch ernstlich! d. st.

50 Erik Graf Wickenburg/ds. [5. Mai 1940] Für und gegen den „Raum“. Gegen die Ausweitung, die da und dort mit dem Begriff des „Raumes“ getrieben wird, hatte sich vor kurzem hier eine Bemerkung gewandt. Das Folgende ist die Zuschrift eines Lesers, der, obwohl auch er den Mißbrauch verurteilt, doch für etwas mehr Toleranz plädieren zu müssen glaubt. Wir lassen ihr abschließend eine Aueßerung des Verfassers der ersten Bemerkung folgen. Der Leser, der hier als Anwalt einer unbeliebten Sache auftreten will, hatte gerade die von leisem Ingrimm erfüllte Glosse „Räume“ gelesen. Er sann, während er sich dem Hof näherte, in dem er sein Fahrrad abgestellt hatte, ueber Unsinn und Sinn des in jener Glosse angeklagten Wortes nach, als sein Blick eine schwarze Tafel traf, auf der ihm – mit der Anziehungskraft des Bezüglichen – sofort ein bestimmtes Wort ins Auge fiel: „Raumordnung“. Er prallte zurück:

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was hat ein Fahrradschuppen mit Geopolitik und Landesplanung zu tun? Nun, die Inschrift hieß: „Laut Raumordnung müssen die Fahrräder angeschlossen werden.“ Man sieht, das Wort lockt nicht nur Politiker und Geographen. Die kleine Beobachtung hätte die Absicht, den sozusagen streng verbotenen Raum dennoch zu betreten, ja sogar ketzerisch für die Beseitigung des Verbotsschildes einzutreten, eigentlich erschüttern sollen. Aber ist der Mißbrauch eines Wortes ein genügender Grund, es in Bann und Acht zu tun? Weder dieser neuentdeckte noch der angeprangerte übliche Mißbrauch rechtfertigt jenes Verbotsschild, wenn das Wort erstens auch einen vernünftigen und guten Sinn und am Ende sogar eine notwendige Funktion hat, und wenn es zweitens als Wort einigermaßen dazu geeignet ist, diesen Sinn auszudrücken und diese Funktion zu übernehmen. So wären denn erstens der Begriff und zweitens das Wort zu verteidigen. Von den Schwätzern, Geschwollenen und Wichtigtuern, die es offensichtlich mißbrauchen, sei dabei nicht mehr die Rede. Das Wort „Raum“ in dem modernen (zugegeben: modisch gewordenen) Sinne meint – und damit wird auf Anhieb eine Definition improvisiert – ein geographisches Gebiet, das als relativ geschlossenes System von menschlichen Aktionen und Reaktionen verstanden werden kann. Man darf an den „Feld“-Begriff der neuen Physik denken. Es ist vielleicht kein Zufall, daß „Raum“ und „Feld“ in der gleichen Zeit ihren neuen Sinn bekommen haben. In beiden Begriffen wird ja ein System vorgestellt und gemeint, in dem Räumliches und Energetisches untrennbar aufeinander bezogen sind. Die Vorstellung eines solchen Systems – nicht die Sache selbst – ist einigermaßen neu. Hier wie dort löst die komplexe Vorstellung eine ältere ab, in der beides als schärfer getrennt erschien; in der der Raum – hier im ursprünglichen Sinne des Wortes! – so etwas wie ein Kasten war, „in“ dem sich Kausalitätsreihen abwickelten. Es ist hier wie dort eine wichtige, wenn auch überschätzbare Entdeckung, daß das Verhältnis des Räumlichen und Energetischen – des Geographischen und Politischen etwa – viel enger ist als jene äußerliche Zuordnung, die zugleich eine kategoriale Trennung war. Man könnte das anstößige Wort „Raum“ sogar einigermaßen durch „Kraftfeld“ ersetzen, wenn damit nicht einerseits zu viel, andererseits zu wenig ausgesagt wäre. Zuviel, weil das Wort „Raum“ im Sonderfall und Grenzfall auch Gebiete meinen kann, die durch das Fehlen von Kraft gekennzeichnet sind, „leere“ Gebiete, die aber vielleicht einmal erfüllt werden können, die vielleicht latente Kraftfelder sind. („Der artistische Raum.“) Zu wenig, wie „Kraftfeld“ zu Abstrahierungen verführt und das Stoffliche, das Schwergewicht der Erde, ihrer mannigfaltigen Gegebenheiten, der Entfernungen, der Bodenschätze vergessen läßt. Wer dem Wort „Raum“ präzis den oben angedeuteten Sinn gibt, muß ja Wert darauf legen, daß beides mitgemeint ist: das Geographische in seiner ganzen Fülle und die Ener-



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gien der menschlichen Gruppen, die wirtschaftlichen, geistigen, politischen und militärischen. Ueberall da, wo aus der grenzenlosen Kugelschale der Erdoberfläche einerseits, aus der grenzenlosen Fülle der Strebungen, Anziehungen, Abstoßungen, Einflüsse und Abhängigkeiten, Aktionen und Reaktionen, der Feindschaften und Freundschaften andererseits mit einem in der Sache begründeten Recht ein relativ geschlossenes System herausgeschnitten werden kann, hat der Begriff sein Recht. Daß er nicht so genau abgrenzbar ist wie die Meere, die Inseln, Halbinseln und Kontinente der Geographen und die Staaten der Politiker, liegt in der Natur der Sache; fast durchweg wird zum Beispiel an die Stelle der „Grenzlinie“ die „Grenzzone“ treten – eine Ungenauigkeit, wenn man will, ohne die jedoch die Geographen auch nicht auskommen – dort wo die schönen Linien der Küsten, Flüsse und Grenzkämme versagen. Die geographischen Bezeichnungen allein können uns den gewünschten Dienst nicht tun. „Skandinavien“ ist nicht dasselbe wie „der skandinavische Raum“, die „baltischen Staaten“ sind nicht dasselbe wie der „baltische Raum“, die Rheinlande oder das Rheintal sind nicht dasselbe wie „der rheinische Raum“. Im einzelnen kann der „Raum“ durch seine geographische Bestimmung, die den Sinn nicht nur dem Umfang nach abgrenzt, sondern auch Hinweise auf die Art des Beziehungsfeldes gibt, oft recht genau präzisiert werden. Daß in anderen Fällen eine Diskussion oder sogar ein Streit darüber möglich ist, ob dieses oder jenes Gebiet zu diesem oder jenem „Raume“ gehört oder nicht, beweist nichts gegen die Brauchbarkeit der Kategorie selbst, – ja setzt diese Kategorie durchaus voraus, – genau wie der Streit der Geologen und Geographen um die Grenze zwischen West- und Ost-Alpen geradezu voraussetzt, daß die Zweiteilung der Alpen an sich ihren vernünftigen Sinn hat. Soweit zum „Begriff“. Was das „Wort“ betrifft, so sei noch einmal vorausgeschickt, daß seinem Verteidiger sein geschwollener Mißbrauch auch seit Jahren auf die Nerven geht; diese Reaktion war zuerst da; dann folgte erst der hypothetische Einwand seines Gerechtigkeitssinnes, der ihn zwang, zu überlegen, ob hinter diesem Geschwätz nicht ein vernünftiger Sinn verborgen sein könne. Allmählich ist dann sein Widerstand auch gegen das Wort schwächer geworden. Es hat viel gegen sich, aber auch manches für sich. Zunächst, daß es tatsächlich die neue Funktion seit Jahren ausübt und daß noch niemand ein besseres gefunden hat. Vom „Kraftfeld“ war schon die Rede. „Beziehungsfeld“ wäre richtiger, aber häßlicher. „Einflußzone“ ist nur manchmal richtig, dann nämlich, wenn das gemeinte Gebiet einen eindeutigen Mittelpunkt hat und wenn nur die von ihm ausgehenden Energien gemeint sind; der „Frankfurter Raum“ unterscheidet sich vom „Frankfurter Einflußgebiet“ dadurch, daß er auch die zentripetalen Wirkungen einbegreift. Das Wort „Gebiet“ kann gelegentlich benutzt werden, dann nämlich, wenn die energetische Seite unwichtig oder im Zusammenhang

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selbstverständlich ist. Sehr oft aber reicht es nicht aus; oft sind sogar die Abgrenzungen verschieden: „Das baltische Gebiet“ deckt sich einigermaßen mit dem „baltischen Raume“, dagegen ist „das skandinavische Gebiet“ kleiner als „der skandinavische Raum“, das „Frankfurter Gebiet“ weit kleiner als „der Frankfurter Raum“. „Bereich“ kommt dem „Raume“ weit näher; ihm gegenüber hat das Wort „Raum“ hauptsächlich den sozusagen polemischen Vorteil: daß es auf das Energetische und die enge Bindung des Geographischen und Energetischen besonders aufmerksam macht. Schließlich aber ist das Wort weit „richtiger“, als seine Kritiker meinen. Sie scheinen der Abstrahierung zu erliegen, welche die Landkarte vornimmt, wenn sie meinen, das Wort, das ausdrücklich die Dreidimensionalität meine, werde hier auf ein zweidimensionales Gebilde angewandt. In Wahrheit ist nur die Karte zweidimensional: die dritte Dimension spielt in der gemeinten Sache selbst eine bedeutende Rolle. Sowohl die nach oben hin gemessenen sechs oder acht oder mehr Kilometer – der „Luftraum“ des Flugverkehrs, des Luftkrieges, des Wetters und des Klimas – wie auch die nach unten hin erreichbaren zwei bis zu drei Kilometer, welche die Bodenschätze erschließen, gehören trotz ihrer quantitativen, verhältnismäßigen Geringfügigkeit durchaus und sehr entschieden zu jenem relativ geschlossenen System, welches das Wort „Raum“ meint. So sehr dieses Wort nach dem Orte und nach dem Augenblick seiner Entstehung in unserem gemeinsamen Denken die Aufmerksamkeit auf das Energetische lenkt (es wurde ja erfunden, u m das zu tun), so sehr stimmt es gerade nach der anderen Seite hin: jene „Räume“ sind echte Räume, dreidimensionale Gebilde. So wäre denn also, meine ich, jene Verbotstafel zu beseitigen. Freilich sollte man sie durch ein anderes Warnungsschild ersetzen: „Vorsicht, Modewort! Unbefugten verboten!“ Die Befugten aber mögen es getrost in Gewissenhaftigkeit und geistiger Zucht gebrauchen. ds. Nachwort. Die Apologie des Wortes „Raum“ soll sowohl auf dem Begriff „Raum“ beruhen, der durch die neue Wissenschaft der Geopolitik geschaffen worden sei; mangels eines neuen Wortes für die neue Erkenntnis ist sie also in einen alten Schlauch geschlüpft, wenn wir den Verfasser der Zuschrift recht verstehen. Wichtige Neuerungen pflegen im Durchschnitt mit den vorhandenen „alten“ Worten nicht auszukommen, deshalb schaffen sie sich neue Bezeichnungen, die freilich – wir erinnern an Autobahn – durchaus an alte Worte anknüpfen können. Nur muß eben auf irgendeine Weise kenntlich werden, daß etwas Spezifisches gemeint sei. Eben dies wäre der Fall, wenn man das jeweils zum Raume tretende Adjektivum „nördlich“, „baltisch“, „asiatisch“ und so weiter als Signal dafür nehmen wollte,



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daß nunmehr nicht vom gewöhnlichen Raume die Rede ist, sondern von einem „Raum“ in Anführungsstrichen. Ohne allen Zweifel leistet das Wort einer Popularisierung Vorschub, die sich gerne mit dem Anschein letzter Informiertheit auf Randgebiete wissenschaftlicher Forschung stürzt. Unser Einwand richtet sich aber vor allem gegen die weite Verwendung eines Begriffs, der oft mehr durch Farbenpracht als durch Strenge verlockt. Vielleicht wäre, wenn schon um keinen Preis ein neues Wort zu finden war, immer noch der weniger bedeutende und weniger vollmundige „Bereich“ glücklicher gewesen; er hätte ungefähr das Auszusagende getroffen, ohne der Gefahr zu verfallen, nun auch als konkret zutreffend verteidigt zu werden. Denn den geopolitischen „Raum“ – etwa Asiens – als dreidimensionales Gebilde braucht man bloß auf Postkartengröße umzudenken, um den wahren Charakter der „Höhe“ zu erkennen, der dann eben der Dicke des Kartenblattes gliche. Solche gegenüber der Fläche verschwindende Höhendimensionen pflegt man in stiller Uebereinkunft zu vernachlässigen, weil eine praktische Zweidimensionalität nicht existiert. egw

51 Erik Graf Wickenburg [2. Juni 1940] Soldatengespräche im Bus. Unterwegs, im Mai. „Versäumst Dein Zug?“ „Ja freilich. Aber vielleicht langt’s noch.“ „Jaja.“ In dieser friedlichen Manier begann ein Gespräch zwischen drei Soldaten, die auf der Rückbank des Autobusses nebeneinander saßen, sitzen konnte man die Tätigkeit eigentlich nicht nennen, denn sie lagerten gleichsam, oft einer klassischen Gruppe ähnlich, bald mehr ins Genrehafte und Waldmüllersche übergehend, nebeneinander, nicht etwa aus Müdigkeit, sondern aus jungenhafter Dalberei. Der eine legte den Kopf an die Schulter des andern, der dritte stieß den ersten an, der mittlere versuchte, dem ersten eine Mütze überzustülpen, und kurz und gut, die balgten sich wie die zwölfjährigen (diejenigen von ihnen, die keinen Ehrgeiz haben, schon Männer zu sein.) Das Gespräch setzte sich fort, als der Lastwagen, dem unser Buschauffeur auf offener Landstraße zu Hilfe gekommen war, wieder flott geworden war. „Vielleicht krieg’ ich den Zug jetzt doch noch.“ „Wer wird denn meinen, nur net ignorieren.“ „Vielleicht machst g’schwind eine Wallfahrt nach Maria Taferl hinauf, daß bald ein andrer kummt.“ „Ich hab’ gemeint, gescheite Leut’ gehen nicht wallfahren.“

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„Hört’s auf, reden wir von was anderm.“ Eine mitfahrende Bäuerin mischte sich ein. Sie hatte versucht, zu ihrem Köfferchen im Gepäcknetz zu gelangen, dabei war ihr einer der drei sehr spontan behilflich gewesen, in dem er sich von der absichtslosen Gruppe löste, aufsprang, und den Koffer zwischen Dach und Netz hervorholte. Sie dankte verlegen, öffnete den Deckel, zog ein Tuch weg, griff nach einem Paketchen und reichte es dem Soldaten: „Was auf’s Brot!“ „Aber wir haben doch!“ wehrten sie alle zugleich fast schamhaft ab. „Nehmt’s nur, ist gern gegeben.“ „Dankschön, dankeschön.“ „Du Franzl, komm dani, mir ham’ a Butter derwirtschaft.“ „Von der Frau da.“ „Von dem Fräulein.“ „Von dem schönen Fräulein.“ Die junge Bäuerin, hübsch und drall, wurde noch verlegener, aber die Anzüglichkeiten der Soldaten gingen nun um keinen Ton weiter. Soviel, schienen sie zu spüren, waren sie der Weiblichkeit der Spenderin schuldig; Zudringlichkeiten versagten sie sich. Keiner machte den Versuch, an dieser empfindsamen Reibfläche irgendwelche Witze anzureißen, sie merkten es genau, daß Soldatensprüche, aus der Masse gegen eine einzelne Person losgelassen, lähmend wirken müssen. „Also essen wir.“ „Hast du auch keinen furchtbaren Hunger?“ „Gib her den Bims (das Brot).“ „Wär’ ich nicht eins einundneunzig sieben, ich wär bestimmt daheim geblieben.“ „Ist das deine Telephonnummer?“ „Eine Bruchzahl.“ Inzwischen kam der Franzl, den sie aus dem vorderen Teil des Autobusses herangewinkt hatten; ein stämmiger und schmalwangiger Gefreiter. Seine Aussprache strafte seinen süddeutschen Rufnamen Lügen. Er verfügte über gute StimmMittel, die er sogleich in den Dienst einer Erzählung aus dem Feld stellte. Ein Oberschütze machte dabei eine ausgezeichnete Figur gegenüber einem Polizeileutnant; alle lachten. Nun war es auffallend: die dalbernden Knaben verwandelten sich in lachende Männer, sie waren vorher lustig gewesen, jetzt waren sie vergnügt geworden. Das erstemal hörte man auch ein politisches Wort, aber nur flüchtig, als verstehe sich alles, was dazu gehört, ohnehin am Rande. Zugleich erfuhr man, daß alle vier seit September im Feld gewesen waren und soeben einen Fronturlaub beendeten. „Wann fahr’n wir wieder z’haus?“



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„Gleich morgen reich’ ich ein um Heimatsurlaub, weißt, ich möcht’ doch wieder in die Schwammerln (zum Pilzsuchen) gehen.“ „Da hinten beim Gidibauern in der kleinen Schonung, das ist aber mein Platz.“ „Weißt’, wie wir immer einer noch früher als der andere aufg’standen sind?“ Sie vertieften sich in Erinnerungen aus den Tagen vor dem September 1939; über das Wetter in den Augusttagen, über einen Sturz in den Graben, den der eine vom Rad aus erlitten hatte, und über einen kleinen Streit: die Friedensbestände waren erstaunlich gut erhalten, sie wußten alles bis auf Einzelheiten des Mittagessens so genau, als ob’s gestern gewesen wäre; genauer vielleicht, als wenn kein Krieg eine Zäsur geschaffen hätte. „Feine Halskrausen tragt ihr aber,“ äußerte sich der „Franzl“ unmißverständlich zu den bunten Binden, die die Soldaten an Stelle des feldgrauen Latzes trugen. Die eine war rot, die andere waschblau, die dritte gar mauvefarben – es sah recht kriegerisch aus, „Gelt, die Krawatteln! Meins ist ein Putztuch gewesen.“ „Für mich hat eine Schürzen ihr Leben gelassen.“ „Ist aber doch unvorschriftsmäßig?“ „Trotzdem erlaubt. Sollten wir denn mit nacktem Kragen herumlaufen? Die Latzerln baut man halt so viel leicht an.“ Die Einwände waren alle bescheiden gemacht; sehr bald dominierte der Neuhinzugekommene vollkommen über das Gespräch. Die andern verstummten. Sie setzten sich gerade, dann sank dem einen der Kopf nach vorn und er schlief sitzend ein. Der zweite folgte ihm, den Kopf in die Ecke gelehnt. Die Brote waren verzehrt. Der „Franzl“ drehte aus dem Butterpapier einen Fidibus und steckte ihn dem einen Schläfer in den Mund, der letzte der drei holte gutmütig sein Feuerzeug hervor und versuchte den Stengel, der jenen zwischen den Zähnen hing, anzuzünden. Die Umsitzenden lachten, der Schläfer wachte rechtzeitig auf, lachte mit, schnipste den Fidibus über das Dach hinweg. Er schüttelte den Kopf leicht, schloß die Augen schweigend wieder, denn er war kein Spielverderber, aber er stand nicht gern im Mittelpunkt der allgemeinen Aufmerksamkeit. Der Autobus schnob um die Kurven, das Versäumte aufzuholen. Der zweite Schläfer nieste ein paarmal, davon erwachte er. Statt ihm „Helfgott“ oder „Gesundheit“ zu wünschen, wie dies manchmal üblich ist, sagte der Nebenmann „Danke, danke,“ als habe e r sich für einen solchen Wunsch zu bedanken, worauf der Nieser schon wieder halb im Schlaf erwiderte: „Bitteschön.“ Der Franzl verließ die Müden, er suchte seinen alten Platz vorn auf und starrte in die gewaltlose Landstraße. Die Bäuerin machte Anstalten, aufzubrechen, alle drei Schläfer sprangen zugleich auf, ihr behilflich zu sein, als hätten sie sogar im Traum noch

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 Texte aus der Frankfurter Zeitung

die Ehrenpflicht gespürt, die sie nun eifrig erfüllten, – echte Kavaliere, diese Drei! Wenn sie auch Fußsoldaten waren. egw.

52 Ernst Benkard [31. August 1940] Das Ausrufzeichen. Es gleicht einem umgestülpten Semikolon und neigt auch sonst zu allerlei Unarten. Man mag als seine Eigenart hinnehmen, daß es keinen Zweifel duldet, die unbedingte Entscheidung liebt, die Dialektik verabscheut und einen Wunsch oder Befehl signalisiert. Wohlgelitten in der Kommandosphäre, hat es außerhalb dieser die Neigung, auf Kosten anderer sich vorzudrängen. Das Fragezeichen läßt es allerdings ungeschoren, und mit dem Semikolon, seinem virtuellen Spiegelbild, gibt es sich gar nicht erst ab; aber da sind die Stillen im Lande, Punkt und Beistrich, denen es das Leben sauer macht. Als einem Schreier kommen ihm diese Artverwandten zu unbedeutend vor, die ja erst beide, zusammengenommen, seine Figur ausmachen. Eine weitere Eigentümlichkeit ist sein Herdentrieb: an seinesgleichen kann es nie genug haben, weshalb es zuweilen sogar zu zweien oder dreien auftritt. So trifft man es in Briefen von weiblicher Hand mitunter rudelweise. Da sucht es dann freilich einen ganzen Sachverhalt, der zwischen den Sätzen steht, auszudrücken. Wenn etwa geschrieben steht: „Vergiß nicht, den Schlüssel dem Portier zu geben!!“ – da liegt in dieser verdoppelten Interpunktion Mahnung, Tadel, wehmütiges Gedenken früherer Versäumnisse, also weit mehr als nur Bitte oder Befehl. Oder wenn eine Schreiberin wissen läßt, ein Brief habe sie unsäglich gefreut, ist das Rufzeichen, gar noch gehäuft, keine schlichte Aussage, für die allein der Punkt zuständig wäre, vielmehr stellvertretend für eine Gefühlslage, die in der Beschaffenheit der Dame, und nicht im Zeichen, ihren mehr oder minder großen Reiz hat. In schriftstellerischen Produkten aber wird man gegenüber den Capricen des Rufzeichens weniger galant sein dürfen. Hier ist ihm nicht erlaubt, unausgesprochene Emotionen des Verfassers zu ersetzen oder mit dem Leser in eine Zeichensprache einzutreten. Hier muß sich schon der Verfasser die Mühe nehmen, das, was er sagen will, in Worte zu fassen. Und dabei wird die akrobatische Interpunktion, ob es ihr paßt oder nicht, auf ihre eng umschriebene Aufgabe zurückgedrängt werden müssen. Ihr Lärmen ist mitunter verräterisch, oftmals wäre der Punkt ausreichend. Wenn auch die Neigung zu starken Akzenten begreiflich erscheint und das Emotionszeichen vielen liegen mag, wegen der Höhengefühle, die sich für sie offenbar einstellen: die Worte geben den Ton, die Sätze, und nicht der interpungierende Signalmast. Auch das Ergreifende, Erhebende, Packende wird nicht eindringlicher durch ein Ausrufzeichen, selbst in Liebes- und Krimi-



Das Elsaß im Kampfe um Sprache und Volkstum. 

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nalromanen nicht. Im übrigen ist nicht zu vergessen, daß gerade die hohen Gipfel einer breiten Mittellage bedürfen, die durch die ruhigen Kommata und Punkte abgeteilt wird. Der ungehemmt dynamische Stil gleicht dem Redner, der das Wort verliert und mit den Armen fuchtelt. Was einmal zur Kennzeichnung des Schriftstellers gesagt wurde: man sehe sich seine Adjektiva an, gilt auch hier. Man sehe sich seine Ausrufzeichen an. Je weniger, je besser. b—k.

53 Franz Schnabel [1. September 1940] Das Elsaß im Kampfe um Sprache und Volkstum. Von Franz Schnabel.

Eine „elsässische Frage“ hat es vor der französischen Revolution nicht gegeben. Das Elsaß blieb unbestritten deutscher Volks- und Kulturboden, auch als es durch die Expansionspolitik Richelieus und Ludwigs XIV. von Frankreich annektiert worden war. Es erhielt eine Sonderstellung im französischen Staatsverband als „province effectivement étrangère“, wie es in der Sprache des bourbonischen Staatsrechtes bezeichnet wurde. Den Gemeinden und Korporationen wurden ihre alten Privilegien gewährleistet, die Gerichts- und Verwaltungssprache blieb deutsch. Denn das französische Königtum, das auf Zentralisation und Uniformität hinarbeitete, war doch – im Vergleich zu der nachfolgenden Revolution – in seinen Mitteln noch sehr gehemmt durch die Rücksichten, die es überall auf die alte Ständeordnung, auf die gewachsenen Kräfte eigener Herkunft nehmen mußte. Und dies galt naturgemäß ganz besonders dem Elsaß gegenüber; die Städte, die Stiftungen und Körperschaften, die Zwischeninstanzen behielten ihren deutschen Charakter. Auch erschien den Menschen jener Zeit die Verschiedenheit der nationalen Kulturen noch von geringer Bedeutung gegenüber der Verschiedenheit der Konfessionen. Aus allen diesen Gründen war der Gedanke, eine fremde Völkerschaft durch Kampf gegen ihre Sprache und ihre Kultur gewaltsam einzuschmelzen, dem Ancien Régime noch undenkbar. Es mußte sich begnügen, den Glanz, der damals von der französischen Literatur ausstrahlte, zu benützen, um auch im Elsaß einen Teil der gebildeten Schicht für französisches Wesen zu gewinnen. Erst die französische Revolution hat Schluß gemacht mit den Methoden der alten Zeit. Sie hat die Prinzipien der Staatseinheit und Zentralisation bis in die letzten Konsequenzen vorgetrieben und ihnen mit dem nationalen Gedanken eine mächtige bewegende Kraft geliefert. Alle Privilegien und Sonderverträge – wie die 1681 der Stadt Straßburg gewährte Kapitulation – wurden aufgehoben, das Eigendasein hörte auf. Sogar die alten historischen Namen wie Elsaß und Lothringen wurden abgeschafft, das Elsaß in zwei Departements aufgeteilt.

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 Texte aus der Frankfurter Zeitung

Künftig war das Elsaß mit der Zentrale direkt verbunden, es sandte seine Kinder in die neue französische Staatsschule, seine Rekruten in das neue Heer der allgemeinen Wehrpflicht; zu Straßburg ist die Marseilleise gedichtet und zum ersten Male gesungen worden. Wenn sich der Einheitsstaat in der Volksvertretung ein einheitliches Organ schuf, so nahm daran auch das Elsaß teil; auch Elsässer saßen in den Nationalversammlungen von 1789 und 1792, in dem nationalen Convent des Jahres 1793. Entsprechend ihrem individualistischen Grundgedanken hat die französische Revolution die Zugehörigkeit zur Nation nicht von der Abstammung abhängig gemacht – was das Wort Nation, vom lateinischen nasci, natus ursprünglich besagt –, sondern in den Willen des einzelnen, in den Willen zur Zusammengehörigkeit verlegt. „Eine Nation ist, was eine Nation sein will“, so lautet die Definition Renans*, die ganz aus dem französischen Denken gesprochen ist. Wenn aber das Wesen der Nation nach französischer Auffassung im Willen und im Bekenntnis lag – in der freien Entscheidung für dieses Volk, diesen Staat, diese Kultur –, dann gab es freilich Mittel und Möglichkeiten genug, den Willen zur Nation zu lenken, die Bürger entsprechend zu „erziehen“, damit sie sich zur französischen Nation bekannten. Zum französischen Begriff der Nation gehört also die Kulturpropaganda im fremden Volkstum mit dem Ziele der „Assimilierung“. Vom individualistischen und rationalistischen Standpunkte aus erschien es möglich und leicht, fremde Menschen zu „assimilieren“. Und im übrigen vertraute der französische Staat damals auf die Werbekraft seiner Ideen und auf die Gewandtheit und Absorptionsfähigkeit der französischen „Rasse“. Zu allen Zeiten hatten es auch starke Staaten der still waltenden Macht der Entwicklung überlassen, daß die Sprache der Unterworfenen langsam abstarb und die Sprache der Sieger weiter wuchs. Nur in den verworrenen Verhältnissen Osteuropas, wo so viele kleine Nationalitäten im Gemenge wohnen, hatten Polen und Hussiten zum ersten Male einen Sprachenkampf entfesselt. In die abendländische Welt ist der Gedanke, fremdes Volkstum seiner Sprache und seiner Kultur zu berauben und hierzu vor allem die Schule zu benutzen, erst durch die französische Revolution getragen worden. So sind die Sprachen- und Schulkämpfe für das neunzehnte Jahrhundert ebenso bezeichnend geworden wie für frühere Zeitalter die Religionskriege. Das Elsaß aber wurde das erste Opfer des neuen revolutionären Prinzips, es wurde der klassische Schauplatz der Sprachenkämpfe und der Schulkämpfe. Schon 1790 faßte die Nationalversammlung in Paris den Beschluß, die Einheit des nationalen Staates gegenüber dem Provinzialismus, den immer noch ansehnlichen Resten des Lebenswesens dadurch zu betonen, daß in allen Teilen Frankreichs die Dialekte unterdrückt und die nationale Einheitssprache zum allgemeinen Gebrauch gebracht wurde, – „bannir les jargons, derniers lambeaux de la léodalité et de l’esclavage“. Zu den „Dialekten“ rechnete man ohne weiteres



Das Elsaß im Kampfe um Sprache und Volkstum. 

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auch die flämische Sprache in Französisch-Flandern und ebenso die Sprache, die im Elsaß gesprochen wurde – das Hochdeutsche wie das „Elsässer Dütsch“. Im Konvent liebte man es, allgemeine Grundsätze zu formulieren: „la langue d’un peuple libre doit être une et la même pour tous“. Den Konventsmännern kam es vor allem auch an auf die „propagation de l’esprit public“, die durch die „Idiome“ erschwert werde. So arbeitete der Konvent darauf hin, das Französische im Elsaß zur Schul- und Geschäftssprache zu machen. Die Buchdrucker wurden angewiesen, sich beim Drucken deutscher Texte nur lateinischer Buchstaben zu bedienen. Die elsässischen Frauen aber wurden „eingeladen“ – sont invitées –ihre deutsche Tracht abzulegen, „weil ihre Herzen französisch sind“. Die Jakobiner haben freilich auch durch blutigen Terror die Elsässer nicht umbilden, die einheimische Sprache, Tracht und Sitten ihnen nicht nehmen können. Der Terror wurde von landfremden Elementen ausgeübt, er veranlaßte die Bevölkerung zur Massenflucht über den Rhein auf deutschen Boden, und er dauerte nur wenige Monate. Alsdann wurden die Jakobiner gestürzt. Die Revolution war stark genug geworden, sie warb nun mit ihren Erfolgen und ihren Geschenken für die neue Ordnung im Lande und damit zugleich für Frankreich. Der nationale Gedanke war dabei im Elsaß zunächst so wenig wie irgendwo sonst eine bewegende Kraft. Man war bisher deutsch gewesen aus Anhänglichkeit an das Hergebrachte; viele wurden nun zu Anhängern des neuen französischen Staates, weil er den Boden in die Hände der Bauern gab, den Städtern Brot und Arbeit schaffte, dem ganzen Dritten Stande den Weg nach oben öffnete. So konnten damals große Teile dieses an sich konservativen, zähen und bedächtigen Menschenschlags den Neuerungen und damit Frankreich gewonnen werden. Am raschesten vollzog sich der Wandel in den Städten, und bezeichnend war die Haltung Mülhausens. Diese Stadt hatte bis dahin nicht zu Frankreich, sondern zur Eidgenossenschaft gehört, sie war schon damals eine Fabrikstadt mit reichen Textilfabrikanten, die Sonntags ihren Voltaire lasen: 1797 entschied sie sich für den Eintritt in den französischen Staat, in die französische Nation. Napoleon hat dann der neuen Ordnung Dauer verliehen und die Elsässer an dem Ruhme seiner Waffen, an dem Aufstieg zu den höchsten Kommandostellen teilnehmen lassen. Die Generale* Kléber und Rapp sind Elsässer gewesen. Der Marschall Rey – Herzog von Elchingen und Fürst von der Moskwa, mit dem Ehrentitel des „Tapfersten der Tapferen“ – stammte aus Saarlouis; sein Vater war ein aus dem Württembergischen eingewanderter Handwerker, seine Nichte Elisabeth Rey hat als deutsche Bildhauerin um die Mitte des vorigen Jahrhunderts die hervorragenden Büsten der großen deutschen Gelehrten geschaffen. Ebenso waren die Generale Kellermann, Vater und Sohn, die Napoleon zu Herzögen von Valmy gemacht hat, deutscher Herkunft. Der Sieg der nationalen Idee bedeutete – in tragischer Verkettung der Dinge – auf dem elsässischen Boden einen Sieg

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 Texte aus der Frankfurter Zeitung

des Französischen über die alte deutsche Kultur des Landes, die als Ueberrest aus dem „finsteren Mittelalter“ verachtet wurde. Die Entscheidung war schon gefallen, als sich über den Trümmern des alten Reiches auch ein deutsches Nationalgefühl im alten Deutschland entwickelte und politische Ziele verkündete. Die Elsässer schwiegen diesem Rufe gegenüber, auch wenn er nach der Leipziger Schlacht ganz unmittelbar auf das linke Rheinufer getragen und an das Elsaß gerichtet wurde. Die deutschen Patrioten – Arndt*, Görres*, Jakob Grimm, Friedrich Rückert* – haben den Willen der Großmächte, daß das Elsaß bei Frankreich verblieb, niemals als endgültig anerkannt. Sie haben damals bedauert, daß die Elsässer „nicht mehr echte Deutsche von Gesinnung“ seien. Aber in den Enttäuschungen der Restaurationszeit fanden sie doch manches entschuldigende Wort dafür, daß die deutschen Brüder jenseits des Rheines nicht hatten Gefahr laufen wollen, mit irgendeinem kleinen deutschen Fürstentum zusammengepaart oder in Länderfetzen zerstückelt zu werden und „einige Lappen mehr zu dem teutschen Hanswurstrocke zu liefern“. Wer so wie die Wortführer der deutschen Bewegung das Leben im nationalen Verbande als eine Naturnotwendigkeit – und nicht als Willensentscheidung und Willkür des einzelnen – empfand, der durfte mit Jakob Grimm still vertrauend sich trösten: „Was unsere Sprache redet, ist unseres Leibes und Blutes und kann undeutsch heißen, allein nicht undeutsch sein, solange ihm dieser Lebensatem ein- und ausgeht“ – man solle nicht „gegen sein eigen Fleisch sprechen, sondern warten, bis ein gutes Schicksal uns mit Ehren zu ihnen und sie ohne Sünde zu uns führt.“ Die Restauration nach 1815 ist, wie überall sonst, so auch hier darauf ausgegangen, die Völker wirtschaftlich zu fördern und sie so ihr Volkstum vergessen zu lassen. Die französische Regierung tat dabei alles, das Antlitz des Landes nach Westen zu wenden. Mancherlei Umstände kamen ihr dabei zu Hilfe. Die Korrektion des Oberrheines, die den Strom in hohe Dämme einbettete – ein Wunderwerk der Technik in der damaligen Zeit, von dem badischen Ingenieur Tulla* noch auf Napoleons Befehl entworfen – trennte die Dörfer und die Menschen auf beiden Ufern mehr voneinander, als dies jemals früher der Fall hatte sein können. Und als die Eisenbahn gebaut wurde, legte man den Bahnhof in den Westen der Stadt Straßburg, so daß die aus Deutschland kommenden Züge um die ganze Stadt herumfahren müssen. Als Präfekten wurden ausschließlich Nationalfranzosen berufen. Diese bildeten auch an dem Appellhof in Colmar die Mehrheit und ebenso an der Akademie in Straßburg, die an die Stelle der in der Revolution untergegangenen deutschen Universität trat; Pasteur* ist der berühmteste unter diesen Professoren der Akademie gewesen. Das Studium der Elsässer an deutschen Universitäten – das kurz vorher noch so häufig gewesen war – hörte im neunzehnten Jahrhundert bis 1870 so gut wie ganz auf. Das Elsaß hatte ja den Weg der deutschen Literatur nur bis vor die Tore der großen Entfaltung mitschaf-



Das Gesetz des Schweigens. 

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fend begleitet; die Blüte in Weimar ist erst aufgebrochen, als die Revolution auf dem linken Rheinufer gesiegt hatte. Die französische Regierung arbeitete durch Zwangsmaßnahmen darauf hin, daß in der Verwaltung, vor Gericht und in allen Schulgattungen die französische Sprache zur Geltung kam und die deutsche zurücktrat. Das Ergebnis der neuen Gesamtlage war, daß in den beiden „rheinischen Departements“ der Gebrauch des Deutschen als Geschäfts- und Umgangssprache von Jahrzehnt zu Jahrzehnt abnahm. In Französisch-Flandern ist um 1850 die Volkssprache sogar völlig verschwunden.

54 [24. September 1940] Das Gesetz des Schweigens. Im französischen „Jour“ hat Fernand Laurent* vor einigen Tagen mit bewegten Worten über das tragische Schicksal der Elsässer und Lothringer geklagt. Die Klage ist gewiß nicht grundlos. Sie rührt an einen Punkt, der durch seelische Erschütterungen sehr empfindlich geworden ist. Die alemannischen Elsässer und die moselfränkischen Lothringer haben seit dem Verfall des ersten Reiches der Deutschen wirklich ein tragisches Schicksal erlebt. Sie haben seit drei Jahrhunderten in allen Wechselfällen der Geschichte und mit vielen Schmerzen den Gegensatz zwischen eigener Art und fremder Staatlichkeit austragen müssen. Die Schwäche des Reiches und die nach Osten vordringende Macht Frankreichs, die deutsche Herkunft und die französische Herrschaft sind in der Seele der Elsässer und Lothringer zusammengestoßen. Daraus sind oft tragische Konflikte entstanden. Das zweite Reich hat sie in den knappen fünf Jahrzehnten zwischen 1871 und 1918 nicht aufgehoben. Noch weniger hat die Franzosenherrschaft der letzten zwei Jahrzehnte die Spannungen lösen können. Das Schicksal der Elsässer und Lothringer ist tragisch geblieben. Die Franzosen freilich haben dafür nie echtes Verständnis aufbringen können. Ein Volk, das schon in einem frühen Stadium seiner Geschichte Staat und Nation als Einheit erleben durfte, hat kein Gefühl dafür, daß die Ueberschneidung staatlicher und nationaler Grenzen seelische Wunden aufreißt. Ein Volk vollends, das wie die Franzosen in dem Bewußtsein groß geworden ist, daß seine eigene Kultur und Lebensform das legitime Modell der ganzen Menschheit sei, mag leicht verführt sein, in dieser Hinsicht immer nur einen Fall als tragisch zu empfinden – den beklagenswerten Fall, nicht Franzose zu sein. Aus diesem Grundgefühl strömt auch die Klage Fernand Laurents über das tragische Schicksal der Elsässer und Lothringer. Er spricht sie selbst an: „Nichts kommt der Tragik eures Schicksals gleich. Ich schreibe heute allein deswegen, ohne mir zu verhehlen, wie sehr diese Sätze euch ungenügend und schwach

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 Texte aus der Frankfurter Zeitung

erscheinen werden, damit ihr wißt, daß wenigstens in dieser Zeitung (im „Jour“) wir euch gehört und verstanden haben. Ich möchte, daß ihr eurerseits euch anstrengt, unsere Situation zu verstehen, auch zu verstehen, daß in eurem eigenen Interesse die schmerzlichen Probleme, die ihr hervorruft, nicht öffentlich diskutiert werden können und dürfen. Könnt ihr daran zweifeln, daß ihr einen auserwählten Platz im Herzen und in den Sorgen des Marschalls*, im Herzen und in den Sorgen aller Franzosen einnehmt? Elsässer und Lothringer, unsere Freunde, unsere Brüder, wir flehen euch an: sprecht nicht dieses Wort ,vergessen’ aus. Schreibt nicht das noch grausamere Wort ,verlassen’. Wir erleiden wie ihr das harte Gesetz des Schweigens. Aber wir kennen eure Leiden, wir teilen sie. Wir hören nicht auf, beklommenen Herzens an euch zu denken.“ Das ist, wie die Form der direkten Anrede erkennen läßt, die Antwort auf einen Brief, der nach der Versicherung Fernand Laurents bei der Schriftleitung des „Jour“ eingelaufen sei. „Lassen Sie mich,“ heiße es darin, „mein zerbrochenes Herz ausschütten. Ich bin ein Elsässer vom alten Stamme, und das ist der dritte Krieg, den ich erlebt habe.“ Die Frage, ob dieser Brief echt oder fingiert sei, kann ebenso außer Betracht bleiben wie die weitere Frage, ob er die Stimmung der Mehrheit der Elsässer und Lothringer getreulich wiedergebe. Zur Erörterung steht nur die Antwort. Sie ist allerdings, das hat Fernand Laurent richtig gespürt, „ungenügend und schwach“. Wenn es Elsässer und Lothringer gibt, die sich in der neuen Lage nicht zurechtfinden, dann wird ihnen gewiß am wenigsten geholfen, wenn ihnen von Frankreich aus mit Anspielungen auf ein berühmtes Wort Gambettas* („nie davon sprechen, immer daran denken“) historische Erinnerungen suggeriert werden, die in der Gegenwart ihren Sinn verloren haben. Die Zeiten, in denen Elsässer und Lothringer ihr Volkstum und ihr Schicksal in die Rivalität zwischen Deutschland und Frankreich verstrickt haben, sind endgültig vorüber. Der Fall ist mit der säkularen Niederlage Frankreichs entschieden. Die neue Ordnung Europas wird nicht mehr auf die empfindliche Labilität eines vergeblichen Gleichgewichts, sondern auf einen festen und klaren Führungsanspruch begründet sein. Auch ohne Prophetengabe läßt sich voraussagen, daß dieser Führungsanspruch nicht an Frankreich fällt. Die neue Ordnung aber wird die großen Zeiten der deutschen Geschichte erneuern, in denen ein starkes Reich europäische Verantwortung zu tragen hatte und zugleich allen deutschen Stämmen die freie Entfaltung ihrer Kräfte zu sichern wußte. In einer solchen Ordnung werden sich endgültig auch die Spannungen lösen, die bisher die Elsässer und Lothringer belastet haben. Der Konflikt zwischen Volkstum und Staatlichkeit, den sie durch die letzten Jahrhunderte schleppen mußten, wird ausgelöscht sein.



Das historische Präsens. 

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55 Gerhard Storz [29. September 1940] Das historische Präsens. Die Gegenwartsform in der Erzählung war von jeher als wirkungsvolles Ausdrucksmittel dem Kind und dem Volk ebenso geläufig wie dem Schriftsteller (… „eben kam ich um die Ecke, hatte eben noch Zeit, zur Seite zu springen, da rast ein Motorrad geradewegs über den Markt, das Kind kommt eben noch vorbei, aber die Frau strauchelt, fällt... und schon war das Entsetzliche geschehen“). Seine Geläufigkeit wird auch sofort begreiflich: diese Redeform ist natürlich, denn sie bildet genau und lediglich den seelischen Vorgang nach, der sich in jedem dringlich Erzählenden ohne sein Wissen und Zutun vollzieht. Je mehr sich der Erzähler dem Höhepunkt nähert, desto mehr überwältigt ihn der Gegenstand, aus dem Bericht springt er in die Schilderung, ja noch mehr: selbst der Schwerfälligste wird zum Schauspieler, der Biertisch zur Szene, der Maßkrug zum Requisit. Nicht anders als bei Hamlets Komödianten geht jetzt „in stürmischem Geseufz der Odem“ und gleich Hekubas längst erfülltem Geschick geschieht der vorgestrige Unfall noch einmal. Mit dem Sinne solch zauberischer Kraft der Rede stellt sich auch deren Begrenzung dar: wurde die erschütternde Wendung zum zweiten Male vollzogen, so tritt die Erzählung alsbald in die Vergangenheit wieder zurück, als ob der ergriffen-ergreifende Erzähler inne würde, daß er das Vergangene wohl beschwören, aber nicht rückgängig machen könne. Kaum anderswo wird der Wesenszug des Vergangenen, seine Unwiderruflichkeit, aber auch der Sinn der Gegenwart – als des Ortes für das Mögliche – so deutlich wie in jener wunderlichen Verwandlung von Vergangenem ins Gegenwärtige. Sie bezieht sich – das wird in unserem Beispiele greifbar – auf einen Punkt in der Zeit, eben auf den Scheitelpunkt, und ihre Kraft liegt im Gegensatz: Nach diesem Punkt muß die Erzählung wieder dorthin zurückfallen, woher sie aufstieg, in die Vergangenheit; wer in der Gegenwartsform weiter erzählen wollte, schüfe Verwirrung oder den stillschweigenden und abschwächenden Vorbehalt im Hörer, die Gegenwartsform der Erzählung sei ja nicht ernst, sondern bloß als Zierform der Rede zu nehmen. „Gleich in den ersten Tagen des neuen Jahres 1730 erkrankt der Kaiser auf den Tod: eine Gesichtsrose ergreift den Schlund. Man erzählt sich in Wien, er könne nicht im Bett bleiben, um nicht zu ersticken, auch soll der Kranke bisweilen weinen, wenn er seine Knaben sieht.“ „Am Abend des 3. April 1740 sitzen sie bechernd und schwätzend zusammen. Sie wissen freilich nicht, daß es zum letzten Male ist, sie werden sich nie wiedersehen.“

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„Der Mann, der einst mit seinem Blut keine Überzeugung besiegeln wird, rettet der Wissenschaft den Forscher, der einst berufen sein wird, die große Entdeckung zu machen … .“ Solche Sätze liest man heute oft und dann gleich seitenweise. Vor uns liegt ein Buch, die Lebensbeschreibung eines vor nahezu hundertfünfzig Jahren gestorbenen Großen, die auf ihren vierhundert Seiten das Zeitwort fast nur in der Gegenwarts- oder in der Zukunftsform gibt. Was hat es damit auf sich? Wenn es schon Mode ist, was steckt dahinter? Das Bestreben, so eindringlich wie möglich zu erzählen? Aber dieses griffe im Mittel fehl, denn der dauernde Gebrauch bringt ja eben unsere Redeform um ihre eigentümliche Wirkung. Etwas anderes also zeigt sich darin an – vielleicht eine neue Haltung gegenüber der Geschichte? Die Vergangenheit mögen wir bedauern, verwünschen oder preisen, sie muß schließlich von uns zugestanden und sie will verstanden werden. Die Gegenwart aber wird erlebt, sie macht uns zu Empfindenden und Wollenden: in der völlig erfüllten Seele ist kein Raum noch für das zulängliche Urteil, für das Abschätzen dessen, was jenseits von unserer Beteiligung, unabhängig von unserem Wunsch und Willen lediglich ist, als letzter, eigentlicher und vielleicht unauflöslicher Kern. Man könnte also vermuten, deshalb werde durch jenes Stilmittel das Vergangene so beharrlich in eine scheinbare Gegenwart gerückt, um es den Verstandeskräften nach Möglichkeit zu entziehen und es völlig dem Empfinden und Wollen auszuliefern: Geschichtsbetrachtung könnte sich dann auflösen in Nachempfinden. Jetzt würde sich die Frage stellen, ob die empfindsame Haltung der Geschichte wirklich gerecht zu werden vermöge. Wer das Geschichtliche als vergangen erzählt, bindet sich, und zwar eben an die Unwiderruflichkeit des einmal und gerade so Gewesenen. Der Erzähler beugt sich vor der Würde des Vergangenen, das er weder ändern kann noch darf. Zugleich steht er in dem Abstand zum Geschehenen, der jeden Lebenden von jedem Toten trennt. Dieser Abstand ist es aber auch, der den Geschichtsbetrachter Wesentliches und Eigentümliches vom Unwesentlichen und Durchschnittlichen unterscheiden lehrt (daß solche Unterscheidung je nach der Person des Betrachters verschieden ausfällt, ist eine andere, hier nicht zu erörternde Sache). Wer das Geschichtliche in die Gegenwart verpflanzt, nimmt sich eine nicht ungefährliche Freiheit: Was im gegenwärtigen Augenblick abläuft, ist reicher an Möglichkeit und ärmer an Zwang. Im Gegenwärtigen behauptet sich der Schein neben dem Wirklichen, ins Gegenwärtige sprengt sich unablässig das Nebensächliche, noch erscheint das Geringere unerkannt neben dem Bedeutenden, das strenge Schicksal bleibt verborgen, der bunte Zufall treibt sein täuschendes Spiel im Vordergrund, und auch der Scharfsichtige muß sich irren: Welche Möglichkeiten, aber welche Versuchung auch bietet die Gegenwartsform des Zeitworts dem beredten Schriftsteller, der auf Farbe und Rührung zielt! Er rückt ohne Zweifel



Das Wort als Lebenszeichen. 

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der Vergangenheit nahe, aber vielleicht da und dort eben zu nahe, denn die Geschichte erlaubt dem Betrachter weder zu ihren Kleinen noch zu ihren Großen das Verhältnis von Du und Du. Mit jenem Futur aber, in dem die letzten Begebenheiten eines abgelaufenen Zusammenhangs so gerne erzählt werden, hat es seine eigene Bewandtnis: Legt sich denn der Erzähler damit nicht die anspruchsvolle Rolle des Propheten oder der Norne* zu? Und die will gespielt sein! Die antike Dichtung kennt das vaticinium ex eventu, aber es war eben ein Vergil, der sich seiner in der Unterweltsfahrt des Aeneas, also auf dem Höhepunkt seines Werkes, bediente. Bei weniger bedachtem Gebrauch gleicht der Weissagende eher dem Zauberkünstler, der doch, wie alle seine Zuschauer wissen, gar nicht zaubern kann, sondern nur einen verblüffenden Trick abschnurren läßt. Und rückt solche Mummerei schließlich nicht den Verdacht nahe, daß hier mit aller Erzählung nichts anderes gemacht werde als Theater? Es ist aber ein Unterschied zwischen dem echten Schauspielertum, das mit dem historischen Präsens, wie eingangs gezeigt wurde, zwangsläufig verbunden ist, und diesem Versuch, geschichtliche Gestalten zu Rollen für den Geschichtsdarsteller, den Biographen zum Schausteller zu machen. –a—o—.

56 Gerhard Storz [17. November 1940] Das Wort als Lebenszeichen. Wenn gewisse Zeichen nicht trügen, so steht der vielfach beklagten Mißhandlung der Sprache seit einiger Zeit der innigere Anteil gegenüber, den ein Kreis von Menschen – und er setzt sich keineswegs nur aus Fachleuten zusammen – an ihr nimmt: die Verbindung der Sprache mit den s i t t l i c h e n Kräften, ihr enger Zusammenhang mit dem K e r n des Menschen überhaupt ist uns aufs neue bewußt geworden. Beschäftigten sich die Sprachfreunde ehedem mit der Geschichte der Sprache als einer nicht weiter zu erörternden Gegebenheit, mit ihrer Entwicklung und der Verschiedenheit ihrer Ausprägung, so scheint heute die Frage dringlicher geworden zu sein, welche Bewandtnis es mit der einzigartigen und verwickelten Möglichkeit habe, die dem Menschen mit der Sprache geschenkt ist: wie es um den Zusammenhang bestellt sei, in den der Mensch mit der Welt tritt, dadurch daß er spricht. Kurz, die Sprachphilosophie scheint vielen zu einem neuen Anliegen geworden zu sein. Unter diesem Gesichtspunkt müssen zwei Neuerscheinungen betrachtet werden, die nach Umfang und Richtung sehr verschieden sind. Keine Untersuchung, eher eine Art von Mystik des Wortes legt Fritz K l a t t* in seinen Essays „W i r k u n g s g e w a l t d e r S p r a c h e“ vor. (Sammlung „Die Kunst des Wortes“.

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 Texte aus der Frankfurter Zeitung

Verlag die Rabenpresse. Berlin. 31 Seiten. Kartoniert RM 1.50.) Für die Art dieser Arbeit ist es bezeichnend, daß sie von einer Stelle der Upanishaden ausgeht: im rechten Sprechen wie im richtigen Schweigen „opfert“ der Mensch, entweder „den Atem in die Rede“ oder „die Rede in den Atem“. Die Schrift wendet sich also gegen zwei einander entgegengesetzte Gruppen zugleich, die solches Opfer verweigern, weil es ihnen an „Atem“ fehlt: gegen die Verschwender haucharmer, leerer Wörter, die Schwätzer, gegen die stummen, tatverkrampften Verächter des Wortes, die Nur-Praktiker. Auf beiden Seiten erscheint das Menschentum verkümmert und von der vollen Wirklichkeit abgetrennt. Schon mit der Enthüllung solchen Mangels wurde etwas Wesentliches und Dringliches geleistet. Der immer vorhandene Zusammenhang von Schweigen und Sprechen, die Verbindung von Sprecher und Hörer wird weiterhin verfolgt und ausgedeutet: aufs neue erweist sich die alte Wahrheit, daß alle lebendige und wirkende Gemeinsamkeit, das c o n v i v i u m, nicht anders als das Gespräch auf dem Wort, auf seinem rechten Gebrauch und seiner echten Wirkung beruhe. Die Sprache wird also nicht als Begriffzeichen, nicht bloß als Werkzeug der Erkenntnis, sondern zugleich auch als Wirken, als Lebenszeichen überhaupt verstanden: der Fachausdruck „Lautgebärde“ erhält in diesem Zusammenhang einen tieferen und weiteren Sinn, wodurch er freilich auch an Klarheit verliert. Auch auf Einzelheiten, auf den Unterschied nördlicher und südlicher Sprechhaltung, auf die Bedeutung von Vokal und Konsonant fällt von solchen Einsichten her kräftiges Licht. Einige Einwände jedoch dürfen nicht übergangen werden: das Denken in Analogien greift weiter als die einfache Schlußkette, die beim unmittelbar Gegebenen und eigentlich Gemeinten verharrt, aber fruchtbar wird es nur, wenn es genau so streng fortschreitet wie das Logische. Die Analogien müssen nicht nur deckend, sondern ernsthaft und dringlich sein. Jener „Atem“ zum Beispiel wird von Klatt zwar nicht bloß, ja gar nicht eigentlich als leiblicher Vorgang genommen, sondern als „der im Atem sinnlich erfahrbare Zusammenhang aller irdischen Wesen mit dem Weltbaustoff“: die mit „Atem“ aufgegriffene Analogie wird alsbald wieder hinfällig, sie konnte also ganz außer Betracht bleiben, statt dessen war es nötig, genauer zu sagen, was es mit jenem „Zusammenhang“ und mit „Weltbaustoff“ auf sich habe. Auch anderer Bilder und Entsprechungen (Wort und Gebärde) bedurfte es für seine Darstellung nicht: was schließlich als Kern erscheint, wurde aus ihnen gar nicht entwickelt. Die vorgetragenen Ansichten erschienen uns, wie oben angedeutet, richtig und wichtig, aber sie konnten doch wohl kürzer und einfacher mitgeteilt werden und hätten dann an Ueberzeugungskraft gewonnen. Endlich erscheint uns solche Mystik des Wortes auch nicht ohne Gefahr, weil sie den Zusammenhang von Wort und Wirklichkeit, Denken und Reden allzusehr lockert: der Atem geht im Menschen, ob er es weiß und will oder nicht: ehe der Mensch spricht, muß er erfahren und denken: beides kann nur



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geschehen, solange er weiß und will. Der Atmende hat weder Wahl noch Schuld, vor dem Denkenden liegt immer beides. Wenn „Segen“ ausgeht von „einmal ausgesprochener Wahrheit“, so fließt er weder vom rechten Sagen noch vom rechten Hören her als der einzigen und eigentlichen Quelle, sondern vor allem aus der Wahrheit, – sie aber ist und besteht vor dem Sagen und Reden, das ihr gilt. Strenge Sorgfalt, ernste, nüchterne Arbeit, klares Fortschreiten sind die Kennzeichen des Buches „L a u t. W o r t. S p r a c h e u n d i h r e D e u t u n g“ von Egon F e n z* (Wien. Verlag Franz Deuticke. 179 Seiten. Gebunden RM 8.-.) Es ist aber mehr als nur ein Beispiel für ungewöhnlichen, bewunderungswürdigen Fleiß, es sieht nicht nur scharf und klar, sondern zugleich in die Weite und in die Tiefe: eine fruchtbare und bedeutsame Leistung, die den sprachsinnigen Laien eben so in Atem halten wird wie den Gelehrten. Fenz hat die alte Frage aufgegriffen, ob schon der einzelne Laut etwas bedeute, ob also der Schall den eigentlichen Sinn des Wortes ausspreche. Zum ersten Male aber wurde sie in seinem Buch nicht mit gelegentlichen Beobachtungen oder teilweisen Vermutungen, sondern grundsätzlich und ausgedehnt beantwortet: aus unzähligen einzelnen Proben, aus Vergleichen, Schlüssen und Abgrenzungen wird von Fenz Zusammenhang entwickelt und umfassende Erkenntnis gewonnen. Daß „knallen“, „klirren“ nichts anderes wollen als nachbilden, daß ihr Sinn unmittelbar aus ihrem Klang sich ergebe, kurz die „onomatopoetische“ Wirkung gewisser Wörter ist seit alters erkannt und unbestritten. Fenz zeigt nun, daß es keineswegs nur Gehörseindrücke sind, die von Sprachlauten nachgebildet werden können, auch das Sicht- und Greifbare reizt zur Nachahmung: „Schnee“ und „prall“ enthalten dem Grad und Wesen nach so viel an nachformender Wiederholung wie die lautmalenden Wörter. Wie kann aber Stummes nachgebildet werden durch den Schall? Dadurch – und das ist die grundlegende Ansicht des Buches –, daß etwa das Runde an einem Ding wiederholt wird durch die Rundung der Lippen, das Gespaltene durch den Spalt, den die Zunge oder der Gaumen bildet: kurz, der Sinneseindruck, der dem Sprechenden an einem Gegenstand das Wesentlichste ist, wird durch eine entsprechende Haltung der Sprechwerkzeuge nachgeahmt, durch die Lautgebärde. Diesen Begriff, der uns oben schon einmal begegnete, hat Fenz nicht geprägt, aber wohl nie zuvor wurde der in ihm beschlossene Zusammenhang so klar und völlig entwickelt. Die Lautgebärden – dies die andere Grundthese des Buches – werden von uns heute, ob wir neue Wörter prägen oder aus vorhandenen Wörtern gleichen Sinnes das Bezeichnendste auslesen, nicht anders und genauso unbewußt vollzogen wie von den Menschen der Frühzeit. Deshalb haben auch heute noch die Lautgebärden, die in alten und selbst in fremden Wörtern stecken, für uns denselben Sinn wie für den Ausländer und den Vorfahren – sofern durch die „Sprachverwitterung“ nicht eben die Laute, die aus jener Gebärde folgten, verändert oder

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getilgt wurden. Daß dieselben Dinge in unserer Sprache (also innerhalb einer einzigen) und natürlich erst recht in der fremden verschieden bezeichnet werden, diese Tatsache ergibt keinen Einwand gegen die dauernde und allgemein gültige Verbindung von Laut und Sinn. Denn auch das einfachste Ding enthält mancherlei Eigenschaften, und von ihnen kann immer wieder eine andere dem anderen Sprecher als die bestimmende gelten: diese bildet er nach, und die ganze große Zahl der so sehr verschiedenen Wörter und Begriffe etwa für die Eigenschaft des Hellseins – in den vielerlei Sprachen ebenso wie in der einen, eigenen – wären dann nichts anderes als Metonymien. – Die gleiche Eigenschaft, der gleiche Sinneseindruck wird aber von den Menschen verschiedener Zeiten und Länder auf die gleiche Weise nachgebildet (wenn auch mit verschiedenem Ergebnis, denn im einzelnen Wort, im einen Begriff schon vereinigen sich mehrere Beobachtungen und Sinnbezüge). Deshalb steht in den vielen Reihen und Einzelnachweisen des Buches das magyarische Wort neben dem deutschen, das französische und lateinische und griechische Wort neben dem slawischen: vor dieser Art von Lautdeutung heben die Grenzen, von der vergleichenden Grammatik und der Etymologie zwischen den einzelnen Sprachsippen gezogen, sich auf. Und in diesem wichtigen Bezirk erschiene uns also noch jenes gültige Einheitswesen – „der Mensch“. Die Deutungen einzelner Laute an Wortbeispielen (etwa 500 an der Zahl), wurde ebenso vorsichtig wie scharfsichtig durchgeführt, die daraus gewonnenen Merkmale bewähren sich zu einem großen und überzeugenden Teil an den mancherlei Wortreihen, die – nach gleichem Lautstand zusammengestellt, nach Begriff und Bedeutung sehr verschieden gerichtet – in der Tat die eine gemeinsame Lautgebärde etwa „zusammen“ oder „stark anders“ erkennen lassen. Häufiger noch und greifbarer als früher wird das Bildhafte manches heutigen Abstraktwortes durch lautdeutendes Wissen solcher Art klar, es bleiben aber auch ihm Wörter genug zurück, die nicht schildern. Weil aber das Buch den Sinn und die Herkunft der Sprache einzig in der Nachahmung findet, muß es hinter solchen Wörtern fehlerhaften Gebrauch als (oft sehr weit zurückliegende) Ursache erblicken: Verwechslung, Zusammenziehung, unverstandene Uebernahme von Fremdwörtern und so fort. Von hier aus wäre es also für den Sprachpfleger (zum Beispiel gegenüber dem Fremdwort) ein neuer, klarer Gesichtspunkt zu gewinnen. Damit ist eine der an diese Lautdeutungslehre zu knüpfenden Folgerungen angedeutet worden. Es gibt deren noch mehr, nicht zuletzt im Gebiet der Sprachphilosophie. Das Buch fügt einige davon – zum Beispiel die alte Frage, ob die Sprache „thesei“ oder „physei“* entstand – in seinen analytischen Beweisgang ein, ebenso wird eine kurzgefaßte Geschichte der Bemühungen um die Lautdeutung gegeben: Platon, im Kretylos, muß als ihr Archeget betrachtet werden, späterhin haben sich Philipp von Zesen, Jakob Böhme, Herder, Hum-

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boldt, Wundt, Steiner und Klages mit ihr beschäftigt. Endlich fehlt es auch nicht an einem Versuch über die Symbolik der lateinischen Buchstaben. Dieser Bericht hat weder die Möglichkeit noch die Aufgabe, die Methoden und Ergebnisse des Buches kritisch zu prüfen. Auf den ersten Blick erscheint im Grundsätzlichen das eine zweifelhaft: die „Lautung“ ist immer ein recht verwickelter Vorgang: selbst wenn nur ein einziger Laut hervorgebracht wird, ist die Arbeit der Sprechwerkzeuge vielfach und ihr Verhalten (Gaumen, Zunge, Zähne, Lippen) verschieden. Nach welchem Gesichtspunkt wählt man daraus die bestimmende Lautgebärde? Und dann das Folgende: man wird, wie das Beispiel des Kindes zeigte, auch mit dem Klang- und Wortg e d ä c h t n i s rechnen müssen, was die Entwicklung des Wortbestandes angeht: häufig wird dann der erinnernde Wortstamm das Primäre sein, und sein Vorstellungsgehalt wird auf die Dinge übertragen werden. Fenz selbst spricht es aus, daß die Arbeit des Deutens niemals weder der bloßen Vermutung noch des subjektiven Empfindens sich ganz werde entschlagen können: auch ist er sich der Fragwürdigkeit mancher einzelnen Auflösung bewußt. Aber er darf in der Tauglichkeit der meisten Deutungen, die er so vielen Proben unterzieht, den Beweis sowohl für die Möglichkeit der Lautdeutung überhaupt als auch für die Richtigkeit seines Verfahrens und seiner wesentlichen Ergebnisse sehen, eine „Grundlage für eine Lautdeutungslehre“ wollte er geben, und sie erweist sich doch wohl als tragfähig und geräumig. Es wird gewiß nicht an Nachfolgern und Bemühungen fehlen, die darauf weiterbauen werden. Gerhard Storz.

57 Dolf Sternberger [8. Dezember 1940] Sprachgeister. „Sprache-lernen ist etwas Höheres als Sprachen-lernen“ sagt Jean Paul. Und während die wenigsten von uns, wenn sie die Schule hinter sich haben, noch eine neue Sprache zu erlernen Lust haben oder sich gedrungen finden, sind wir diesem höheren Geschäft, die Sprache zu lernen, allesamt unser Leben lang unterworfen. Irren wir uns nicht, so ist bei allem Verderb der Sprache, bei aller Versteinerung nun doch zugleich auch ein Sinn wach geworden und am Werke, die Sprache selber – und das heißt vor allem die eigene Sprache – aufs neue zu prüfen, abzuhorchen und abzuklopfen. Das besagt schon die Fülle der Veröffentlichungen von Philologen, Pädagogen und Schriftstellern, die in den letzten paar Jahren erschienen sind und noch weiter erscheinen. Deutsche Sprachlehre, Grammatik und Syntax sind uns auch äußerst nötig, zumal da uns der überlieferte Halt und grammatische Kanon der alten Sprachen mehr und mehr entgleiten. Darin könnte und sollte ein Antrieb liegen, den wahrhaft freien, nämlich

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zugleich geschmeidigen und souveränen Gebrauch unserer eigenen Sprache zu fördern. Ein neues Buch dieser Art scheint uns hierzu in besonderem Grade beizutragen: W. E. S ü s k i n d s* Grammatik („Vom ABC zum Sprachkunstwerk“ ist ihr Titel) hält sich nämlich von dem idyllischen Plauderstil so vieler „Sprachfreunde“, die die Wörter nach Feierabend hin und her zu wenden und zu begießen beginnen wie andere Leute ihre Kakteen, ebenso weit entfernt wie von jener dürftigen Schulmeisterei (man tut freilich den Schul-Meistern Unrecht mit solcher Redewendung), welcher der lebendige Gaul zwischen ihren Beinen längst, aber ohne daß sie es merkte, zum hölzernen Steckenpferd eingeschrumpft ist. Dabei ist Süskinds Ton – er hat sein Buch ausdrücklich für Erwachsene bestimmt – stets liebenswürdig gegen den Leser, er scheint oft wie zu einer Schar verstreuter Freunde zu sprechen, denen gegenüber eine leise – wenn auch immer charakteristische – Andeutung genügt, ihre eigene Erinnerung und Aufmerksamkeit zu wecken. Glücklicherweise (um dies noch zu sagen) hat er auch nichts mit dem priesterhaften oder eifernden Sprachpfleger gemein, welcher einen Kult zu versehen beansprucht, anstatt sich menschlich in die Welt und, wenn es sein muß, auf die Gasse zu begeben. Es sind Umrisse und locker ausgeführte Partien, also gleichsam der Karton einer neuen deutschen Grammatik, was er vorlegt, und er hat jedenfalls einen Beweis mehr geliefert, daß diese bei vielen verrufene Wissenschaft, kunstvoll betrieben, die Sprache nicht sowohl zu drosseln und zu dörren als vielmehr aufzuschließen, frisch und gelenkig zu halten oder zu machen vermag, ja bestimmt ist. Freilich ist es keine diktierende, sondern eine nachspürende, fühlsame Art von Grammatik, die er übt, und der Autor unterscheidet sie ausdrücklich von der „landläufigen Sprachlehre“, welche das Methodische, nicht das Organische suche. (Diese Antithese scheint mir die Sache glücklicher zu treffen als eine andere, die in Süskinds Vorrede formuliert ist: „Sprachkunde ist keine regelsetzende, sondern eine lebenbeschreibende Wissenschaft.“ Da doch die „Regeln“, versteht man den Begriff nur nicht zu grob, im „Leben“ verborgen enthalten sind, was gerade in diesem Buche vielfältig hervortritt!) Die Kapitel des Buches, von denen manche das Ansehen konziser Essays bieten (einige auch schon zuvor isoliert veröffentlicht wurden), sind sehr zweckmäßig in drei große Abteilungen geordnet, die der Wortlehre, der Satzlehre und der Stilkunde gewidmet sind. Meisterstücke der grammatischen Spürkunst – um nur wenige Beispiele anzuführen – bietet etwa der Abschnitt über Indikativ und Konjunktiv und darin namentlich der Passus, wo aus einer wunderbar ausgewählten Goethe-Stelle der Begriff des „schwebenden Konjunktivs“ entwickelt wird, eines Konjunktivs nämlich, der, vollkommen gleichlautend mit dem Indikativ und daher gar nicht direkt nachweisbar, dennoch die Aussage „wie mit einem Schleier umgibt“; und wo diesem dann der „klärende Indikativ“ als Gegenstück

Sprachgeister. 

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an die Seite gestellt wird, als welcher er, wiewohl nach der Regel kaum vertretbar, „wie ein Blitz in die Schwüle“ übermäßig gehäufter Konjunktive fährt. Oder auch das Kapitel über Vorsilben, darin vor allem die Analyse der unscheinbaren Silben „be-“ und „ge-“, die der Autor „die großen Verinnerlicher und Wahrer des Wesens“ nennt, und des merkwürdig paradoxen „ent-“, das sowohl eine Minderung, einen Raub, als auch eine eigentümlich intensive Steigerung ausdrücken kann und ihm darum als die geheimnisvollste aller Vorsilben gilt. Vom Relativsatz hat man wohl kaum zuvor eine so geistvolle und reizende Ansicht gewinnen können, als Süskind sie eröffnet: er überzeugt uns durchaus davon, daß dieser Form, die so oft aus Verlegenheit angeheftet und nachgestoppelt wird, ein originaler Witz, eine Scherzo-Atmosphäre innewohnt – mehr sei nicht verraten. Aus den allgemeinen Vorbemerkungen zur Satzlehre sei schließlich noch eine Einsicht angeführt, die sprachphilosophisch von hoher Bedeutung ist, nämlich „daß sich der Mensch nicht eigentlich mit der Sprache schon, sondern erst mit dem Satz ganz vom Tier gelöst hat“: Denn in Sätzen erst, nicht in bloßen Lauten oder Urworten, wie manche meinen, artikulieren wir und artikuliert sich uns die Welt. Es ist nicht ein abstrakter „Geist der Sprache“, dem hier gehuldigt, es sind die mannigfachen Sprachgeister, die hier aufgerufen und in ihrer eigenen koboldhaften oder anmutigen, tyrannisch ordinären oder heimlich sublimen Lebendigkeit vorgeführt werden: oft zeigt auch dieselbe Wortart oder Satzfigur beiderlei Gesichter. Das Hauptwort erscheint als ein „vornehmer großer Herr“ und wiederum als ein „Hohlkopf und Windbeutel“, das Adjektiv als Schatten oder „dritter Mann beim Skat“, der Infinitiv als ein Bettler, „der sich um fünfzig Pfennig zu allerlei Diensten erbietet und sie dementsprechend schluderig versieht“, der Superlativ hier als „bescheiden“, dort als „verlogen und feige“, das Hilfszeitwort als kunstfertiger „Ballettmeister, der aus dem Zeitwort gewisse Leistungen erst herausholt“, aber auch als unheimlich sich vermehrendes und sich verkappendes Unwesen: die Präposition „regiert“ (nämlich einen bestimmten Fall), wird aber auch selber insgeheim beherrscht (nämlich vom Zeitwort): und ein einfacher dreigliedriger Satz mit einem mächtigen Zeitwort in der Mitte „sieht aus wie ein Riesenkörper mit zu kurzen Armen“. Das sind alles keine bloßen Späße. Sondern diese starken Metaphern und Vergleiche bringen das wirkliche Wesen und vor allem die Macht der Sprachgeister zum Vorschein, der bösen wie der guten, – und sie alle können sowohl böse als gut sein. Der Mensch hat Sprache, aber die Sprache hat auch den Menschen. Macht und Ohnmacht liegen nahe beieinander. Und alles kommt darauf an, daß der Mensch lernt, diese Geister klug und gelinde zu regieren, damit sie ihm dienen. „Der beschworene Geist, wenn der Beschwörer etwas taugt, ist kleiner als sein Meister und kann von diesem wieder entlassen werden“ – sagt Süskind im Kapitel über den „Anfang in der Erzählung“. Die Mittel dieser Regierungskunst sind sehr variabel, aber zwischen dem Instrument

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 Texte aus der Frankfurter Zeitung

der „Regel“ und dem des „Gefühls“ ist kein scharfer Gegensatz: was dem Gefühl anvertraut wird, ist oft genug doch eine feinere Regel oder ließe sich mindestens als solche fassen, und in der handlichen Regel ist stets auch ein gradaus fahrendes Gefühl enthalten. (Unbeschadet der Bemerkung Hamanns*: „Die Reinigkeit einer Sprache entzieht ihrem Reichtum: eine gar zu gefesselte Richtigkeit ihrer Stärke und Mannheit“.) Das Regiment des Menschen über jene Geister, also seine Sprache, ist vollkommen in den Augenblicken, da es als freies Spielen erscheint. Auch dies läßt Süskind uns begreifen. (W. E. S ü s k i n d: V o m A B C z u m s p r a c h l i c h e n K u n s t w e r k. E i n e d e u t s c h e S p r a c h l e h r e f ü r E r w a c h s e n e. Deutsche Verlagsanstalt, Stuttgart-Berlin. 247 Seiten. Gebunden RM 4.80) Dolf Sternberger.

58 Mechtilde Lichnowsky [9. Januar 1941] Haben und besitzen sind nicht synonym. Dies ist der erste von einigen* sprachkritischen Beiträgen, die uns die Schriftstellerin Mechtilde Lichnowsky zur Verfügung gestellt hat. Die leidenschaftliche Schärfe der Unterscheidung ist in Sachen der Sprache wohl begründet, da die Disziplin im Sprechen und Schreiben eines der obersten moralischen Gesetze sein muß, das der Mensch sich selbst und seinesgleichen gegenüber zu befolgen hat. Ueberdies bereitet aber auch die logische Aufklärung der Worte, die wir sonst so selbstverständlich und oft lässig genug gebrauchen, ein hohes Vergnügen: sie verhilft zur eigentlichen „Artikulation“. Es sei noch vorausgeschickt, daß die Beispiele in diesem und den nachfolgenden Aufsätzen von der Autorin in zehn Jahren aus Büchern und Zeitungen gesammelt wurden, daß also kein einziges erfunden ist, außer wenn dies eigens angemerkt wird. Alles, was man besitzt, hat man; aber nicht alles, was man hat, kann man auch besitzen. Es handelt sich hier nicht um einen juristischen Begriff, sondern um einen sprachlichen. Man „hat“ den Mut zur eigenen Meinung, man hat Schmerzen, dieser Mann hat Kopf, jener hat Humor, Phantasie, Geistesgegenwart. Mit diesem „haben“ drückt man etwas aus, das jemand ständig zur Verfügung steht oder ihm, wie Schmerz wie ein Gefühl, eine Idee, ein Wunsch, von Fall zu Fall eignet. „Haben“ zu gebrauchen wird immer korrekt sein, während „besitzen“ meist an falscher Stelle angewendet wird und zwar von Leuten, die es für vornehmer halten als das „ordinäre“ „haben“. Merkwürdigerweise hat der Sprachgeist dem Wort „besitzen“ (und zwar jetzt im abstrakten Sinn) nur einen winzigen Boden überlassen, auf welchem es sich korrekt behaupten kann, obgleich es sich mit Substantiven paart, die in anderen Fällen ausschließlich ein „haben“ verlan-



Haben und besitzen sind nicht synonym. 

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gen. Wenn nämlich alle Stricke reißen, wenn man einem nichts zur Verfügung steht, als ein letzter Rest von Kraft, Mut, Charakter, ein Funken nur von Geistesgegenwart, so ist die Wendung „besitzen“ statt „haben“ gestattet; ihr Sinn ist: weder „haben“, noch „besitzen“, sondern zur Verfügung haben; zum Beispiel: „Er besaß noch gerade so viel Geistesgegenwart ...“ (er hatte keine mehr, aber, wie durch ein Wunder, stand sie ihm zur Verfügung in diesem kritischen Augenblick). „Wird sie noch hinreichend Mut besitzen, den schweren Entschluß ...“ „Die Frage ist, ob er diesen rettenden Humor (der allein imstande wäre, ihm, trotz Leid und schwerem Schicksal, zu helfen) noch besitzt ...“ Mir persönlich ist in jedem Fall ein „haben“ sympathischer und, wenn ich es vermeiden will, baue ich lieber den Satz um, ehe ich mich mit einem „besitzen“ einlasse. Anstatt Mut zu besitzen, was falsch ist, bin ich lieber mutig; Ausdauer besitze ich nicht, bin aber ausdauernd. Wie leicht sind folgende falsche Aussagen umzubauen: „Ich kenne ihn seit vier Jahren, er ist langweilig und besitzt keinen Humor ....“ (der Satz müßte mit „ihm fehlt“ gebaut werden). Oder: „... aber sie besitzen den Mut zur Ueberzeugung nicht ...“ (was besonders falsch, weil falsch gedacht klingt) und erst recht dieses Monstrum: „Wer das Verhältnis … dauernd zu beobachten Gelegenheit besaß ...“ und dieses: „weil die Donau niemals die Wildheit amerikanischer Ströme besitzt, sondern ...“ und „... da der Vogel die Eigenschaft besitzt, sein Nest in unmittelbare Nähe des Wassers zu bauen ...“ „Josephine Beauharnais besaß eine übermäßige Neigung zum Luxus ...“ (besitzt etwa der schiefe Turm von Pisa eine Neigung?). „Der Gorilla besitzt Fähigkeiten, die ihn erheblich von ... unterscheiden ...“ (Fähigkeiten besitzen ist so sinnlos, wie „Imstandesein“ besitzen). Das nächste Beispiel ist einem Artikel entnommen (auch die vorhergehenden sind gefunden, nicht etwa erfunden), in welchem Anfängern in der Biologie die Zweckmäßigkeit von Muskeln und Gelenken gezeigt und erklärt wird, und zwar von einem (sprachlich) Nicht-Berufenen: „... die dadurch hervorgerufene Gefäßbildung ... des Menschen. Kein Tier besitzt ein Gefäß ...“ (und kein Mensch). … Was zum Wesen eines Geschöpfes, zum Wesentlichen eines Gegenstandes gehört, was ihm anhaftet wie Glieder, Haut, Haare und so weiter, wenngleich ihm eigen, kann nimmermehr Eigentum, ihm zu Eigen sein; man besitzt seine Augen nicht, ebensowenig wie die Uhr ein Zifferblatt besitzt oder Rädchen. Die Bestandteile einer Uhr, die, vereinigt, erst die Uhr ergeben, können nicht Besitz der noch nicht zusammengestellten Uhr sein: und wenn die Uhr noch nicht „ist“, kann sie erst recht nichts besitzen. „Man“ – so undeutlich dieses Subjekt sein

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 Texte aus der Frankfurter Zeitung

mag – ist die Einheit Mensch, die aus Teilen (Glieder, Haut, Sinnen, geistigen Fähigkeiten) besteht. Seine Bestandteile besitzt „man“ nicht, da ihr vollständiges Beieinandersein erst die Vorraussetzung zu „man“ ist. Nur was wesentlich nicht zu einem gehört, könnte man besitzen; was einem eigen oder eigentümlich ist (französisch: ce qui lui est particulier), ist nicht Besitz. Das Eigentümliche kann von außen nicht erworben werden, wohl aber das, was in dem Wort „besitzen“ ausgedrückt ist, und was etymologisch nachweisbar, noch heute zu hören ist: sich auf etwas gesetzt und damit Eigentumsrecht kundgetan oder erworben haben. Ein Haus kann dem Menschen Eigentum sein, er besitzt es, er kann es verlieren. Er kann auch ein Auge verlieren, und dennoch besaß er es vorher nicht, das Auge, das zu ihm gehörte, das sein Auge war. Mensch und Tier sind empfänglich für ..., aber sie besitzen Empfänglichkeit nicht; trotzdem schreibt einer den folgenden Satz: „Die Ratten besitzen eine gewisse Empfänglichkeit für die Uebertragung der Maul- und Klauenseuche ...“ (Empfänglichkeit für die Uebertragung besitzen ist gleich: „Man ist empfänglich fürs Hergeben“, also ein Unsinn). „R. begab sich in den Klub. Dort besaß er großes Ansehen ...“ (genoß er). Das Ansehen, das Augen und Urteilskraft der Klubmitglieder schufen, das Ansehen, das deren Art, R. zu sehen, entsprach, kann es als Besitz zu ihm oder in ihn gelangen? Ja, er kann ihr Vertrauen besitzen, denn Vertrauen ist ein Gut, ein wertvolles Geschenk, das Freunde in seine Hand, in sein Herz legten. Hingegen müßte der Imperativ lauten: „Habt Vertrauen“, wenn in den anderen das Vertrauen zu R. geweckt werden soll. Ein Schüler, der (wie ich) diese furchtbaren Gebilde in Büchern oder Zeitungen gelesen hat, könnte dazu verführt werden, seinem Aufsatz Aehnliches einzufügen, denn der Nachahmungstrieb, bei sehr jungen Menschen oft unumschränkt gebietend, die Ehrfurcht vor dem gedruckten Wort, die naive Freude an breitspurigen Substantiven werden seinen Blick trüben, seinen Geschmack fälschen und zeitweise den Willen zu gedanklicher Klarheit verbiegen. Wie würden ihm folgende Sätze gefallen: „Geht man der Geschichte der Körperstrafen nach, so wird man finden, daß jede Epoche, jedes Volk Eigenarten besaß, dem jeweiligen Gesetz Nachdruck zu verleihen.“ An diesem „verleihen“ erkennt man den guten Willen des Schreibers, sich gewählt auszudrücken, das geht meistens, so auch hier daneben: ich besitze ein Messer, dem Bleistift Schärfe zu verleihen, – so als ob mein Bleistift davon schon gespitzt wäre, daß ich ein Messer besitze. Gleich nach dem „verleihen“ wird der Bericht zwar ohne falsch angewandtes „besitzen“ fortgesetzt, aber mit einem so bemerkenswerten „sich bedienen“, daß auch dies noch zitiert werden möge: „Neben den Körperstrafen bediente sich die Justiz der Freiheitsstrafen, Geldstrafen ... Die Römer bedienten sich des Räderns, die Marokkaner des Spießens ...“



Der „Angeber“. 

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– wo Rädern und Spießen so benützt werden, als wären sie Gegenstände, deren sich ein hergelaufener Sadist bedient. Vielleicht schreibt der gelehrige Schüler bei nächster Gelegenheit: „Um seiner Familie das tägliche Brot zu sichern, bedient sich der Zahnarzt des Plombierens und Ausreißens der Zähne.“ Sicherlich aber dürfte ihn sein gesunder Verstand vor dem folgenden, Grauen erweckenden Monstrum bewahren, das für den Begriff „Leben bejahen“ steht (zum hundertsten Geburtstag eines Malers): „Er hat die Unfähigkeit Nein zu sagen, sein Leben lang besessen ...“ Hier kann man nur noch Gott um eine Windhose bitten.

59 Gerhard Storz [23. März 1941] Der „Angeber“. Wer heute mit diesem Wort angerempelt wird, mag je nach Laune und Temperament mehr oder weniger aufbegehren: an der Ehre jedoch braucht er sich kaum je getroffen zu fühlen. Es wäre freilich nicht ohne Belang zu vernehmen, ob die Rechtsprechung heute dem Wort im gegebenen Falle eine beleidigende Wirkung zutrauen würde. Denn unter den Jungen wird das Wort heute nicht selten, des Tadels ohngeachtet, mit dem gewissen Wohlwollen ausgesprochen, das der unterhaltsame Aufschneider, der witzige Prahler noch immer gefunden haben. Für die Aelteren hingegen ist das Wort doch wohl immer noch mit einer so unangenehmen Vorstellung belastet, daß der Besonnene es scherzhaft nur dann zu gebrauchen wagen wird, wenn der Zusammenhang jede Gefahr des Mißverstehens ausschließt. Die Aelteren verstehen nicht anders als unsere klassischen Schriftsteller und alle Wörterbücher unter „Angeber“ den Denunzianten. Ein Primaner aber übersetzt den lateinischen Passus „secretarum epistularum delator“ heute folgendermaßen (und glaubt gewiß, seine Sache besonders geschickt gemacht zu haben): „Der Mann, der mit seiner Kenntnis von geheimen Briefen zu prahlen pflegte.“ Das wahrlich blinde Vertrauen des Schülers zu seinem Vokabelbüchlein, in dem kurz und kahl steht „delator = Angeber“, sah sich mit einem roten Strich im Extemporale-Heft übel belohnt. Daß der Mann mit dem erschlichenen Briefgeheimnis gerade nicht prahlte, sondern in aller Heimlichkeit zuwege ging, bedeutete für den Jüngling eine überraschende Eröffnung. Ein deutsches Wort, so scheint es, ist eben dabei, seine Bedeutung in der Umgangssprache nicht unerheblich zu ändern. Für den Stilisten ergibt sich daraus, daß „der Prahler“ bald einen so altertümlich pathetischen Klang haben mag, wie sich ihn ein Prahlhans nur wünschen kann. „Der Wichtigtuer“ dürfte in nicht allzuferner Zeit nach Wörterbuch oder nach J. P. Hebels Altväterlichkeit

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 Texte aus der Frankfurter Zeitung

schmecken. Der „Aufschneider“ wird sich nicht mehr deutlich vom „Märchenerzähler“ unterscheiden, einem Worte, das die Umgangssprache schon heute fast nur noch in ironischen Anführungszeichen ausspricht. „Der Protz“ könnte künftig fast lutherische Macht erlangen: Alle diese Wirkungen werden darauf beruhen, daß „der Angeber“ die genannten Wörter aus der Gebrauchsrede verschwinden ließ. Der Sprachreiniger aber möchte sich bald dem Uebelstand gegenüber sehen, daß „Denunziant“ zu den schwer ersetzbaren Fremdwörtern gehört. Dann wird ihn vielleicht der sprachdeutende Kulturhistoriker mit dem Bemerken trösten, die gemeine Handlungsweise dessen, den die Römer „delator“ nannten, sei erfreulicherweise so selten geworden, daß sie die Bezeichnung durch ein deutsches Wort gar nicht mehr verdiene. a. o.

60 [19. Juni 1941] Deutsch reden. In jedem Worte oder doch in jedem Satz einer Sprache liegt ein spezifischer Geist nicht nur, sondern eine spezifische Welt beschlossen. Im guten Ausdruck eine gute Welt, im schlechten ein schlechte. Im klaren und gegliederten Satz eine klare und gegliederte Welt oder Wirklichkeit, im verschwommenen oder gestoppelten Satz eine verschwommene oder gestoppelte Welt. Denn die Welt ist – für uns Menschen – nicht älter als die Sprache, ebensowenig wie freilich die Sprache, das Wort, vor der Welt schon dagewesen wäre oder sie gar erschaffen hätte und noch erschüfe. (Wir sprechen von der menschlichen Sprache, nicht vom Logos des Johannes-Evangeliums.) Die Worte erschaffen weder die Dinge noch kommen sie erst nachträglich hinzu, um ihnen Namen zu geben. Sondern die Dinge sind genau in demselben Augenblick, in demselben Umfang, Maße und mit demselben Gesicht für uns vorhanden wie die Worte, durch die und in denen wir sie artikulieren und begreifen. So zeigt, verrät oder verschließt auch die chinesische Sprache eine chinesische, die deutsche Sprache eine deutsche Welt. Denn die Menschen haben nicht einerlei Sprache – und dieses Schicksal macht die Erzählung von der babylonischen Sprachverwirrung in seiner ganzen Schwere deutlich, indem sie es als plötzliches Ereignis darstellt: Mit einem Male verstanden die Menschen, die Völker, einander nicht mehr, obgleich doch alle weitersprachen und nicht etwa verstummten. Seitdem sind wir aber unaufhörlich beschäftigt, aus solcher Verwirrung wieder ins klare zu kommen, die Sprachen miteinander in Vergleich zu setzen, Wort und Satz zu „übersetzen“ – ohne daß damit je die Grenze aufgehoben werden könnte: Indem wir übersetzen, treten wir stets auch in ein anderes Land, eine andere Wirklichkeit ein, und wenn jemand zwei oder drei Sprachen gleichermaßen intensiv und geläufig spricht, so lebt er auch in zwei oder drei Welten.



Deutsch reden. 

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Kurz, wir sind bemüht, uns wechselseitig miteinander zu verständigen. Jede Verständigung zwischen den Völkern beginnt mit der Sprache – mit der gesprochenen Sprache, wozu Miene und Gebärde gehören – und endigt (wofern dieser Prozeß überhaupt je endigen kann) auch mit der Sprache. Die Konstruktion einer allgemeinen Kunstsprache hilft nicht viel weiter und vermag vor allem die Verwirrung keineswegs aufzuheben, denn die Kunstsprache bezeichnet und beschließt in sich auch nur eine Kunstwelt, und das ist nicht die Welt, in der wir leben. Es ist also nichts Geringes, sondern gerade das Wesentliche und Bedeutende erfaßt, wenn man die Sprache als das Medium der menschlichen Verständigung begreift. Diese Bestimmung trifft vielmehr alle Bereiche und Stufen der Sprache, vom Geschäftsbrief bis zum „Faust“, gleichermaßen. Nun aber haben verschiedene Sprachen verschiedene Geltung in der Welt, je nach der Geltung, Macht, Ausbreitung und Herrschaft des Volkes, das sie spricht. Eine solche Entscheidung zwischen den Geltungs- und Führungsansprüchen der Völker, wie sie im gegenwärtigen Kriege ausgetragen wird, bestimmt auch über die Geltung der Sprachen, denn es ist unmöglich, daß alle Sprachen gleiche Geltung besitzen und beanspruchen könnten. Wiederum hilft auch die Ausbreitung einer Sprache die Macht derer befestigen, die sie sprechen. In diesem Sinne war es wohl, daß auf der Tagung der Hitler-Jugend, die soeben in Weimar abgeschlossen worden ist, das Gleichnis von der „Soldaten der Sprache“ geprägt wurde. Ein Mitarbeiter der Deutschen Akademie* hat die Rede gehalten, die in dieser Forderung gipfelte – die Jungen sollten Soldaten der Sprache werden –, und dieses Institut hat sich ja seit langem die Aufgabe gesetzt, die deutsche Sprache in der Welt auszubreiten. (Es sei auch kurz an die Vorträge erinnert, die der Präsident der Deutschen Akademie, Ludwig Siebert, in den letzten Monaten über die „Weltgeltung der deutschen Sprache“ gehalten hat; ebenso daran, daß Baldur von Schirach*, damals Reichsjugendführer, schon vor drei Jahren, ebenfalls in Weimar, dieser großen Jugendorganisation die Parole gegeben hat, die deutsche Sprache zu pflegen – das heißt: deutsch zu reden.) Das Gleichnis vom Soldaten prägt sich ein. Waffen bewirken nur dann etwas, wenn sie solide geschmiedet, genau konstruiert und fein geschliffen sind. Und wenn man sie geschmeidig und sicher zu handhaben versteht. All das gilt ebenso von der Sprache, obwohl sie von Hause aus kein bloßes Werkzeug ist, sondern zum Wesen des Menschen gehört. Darin also liegt der Wert und die Pointe des Gleichnisses. Im übrigen sind Waffen zum Kampfe da, und die Kanonen beginnen gerade dann zu „sprechen“, wenn das Sprechen, das Gespräch, die Sprache, die Verständigung aufhört, aufgegeben werden muß oder versagt. Aber die Geltung der Sprache ist eine Funktion nicht nur der Macht, sondern, da sie die Macht befestigen, im Fremden Fuß fassen soll, eine Funktion ihrer Verständlichkeit. Um verständlich zu sein oder um verstanden und angeeignet zu werden, muß sie also – wie die Waffe – solide geschmiedet, genau konst-

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ruiert und fein geschliffen sein. Das heißt, sie muß Grammatik, Syntax und Ausdruckslehre haben. Nein, sie muß das alles nicht nur haben, sondern diejenigen, welche diese Sprache sprechen – hier also: diejenigen, welche deutsch reden –, müssen sich darin auskennen, müssen Wort, Satz und Ausdruck auf das genaueste mit Luft und Eifer studieren, um sich in der eigenen Sprache frei zu bewegen, um eins zu werden mit ihr, immer von neuem, um wirklich aus dem Grunde deutsch zu reden. Um also die Sprache (wie eine Waffe) geschmeidig und sicher zu handhaben. Denn sonst ist die reichste und schönste Sprache nur ein überliefertes Petrefakt, ein Klotz, den man, ob auch voll Bewunderung, weiterwälzt. Was die deutsche Sprache angeht, so fehlt es ihr in allen diesen Hinsichten an nichts, weder an Grammatik noch an Syntax noch an Ausdruck. Ihre große Literatur hat die vielfältigsten Möglichkeiten, die in ihr lagen, ans Licht gebracht. Es fehlt ihr – was für ihre Ausbreitung von besonderer Wichtigkeit ist – auch nicht an der Potenz zum knappen und präzisen Ausdruck. Lichtenberg* sagt sogar, man finde bei allen Menschen von Geist eine Neigung, sich kurz auszudrücken, geschwind zu sagen, was gesagt werden soll. Er warnte allerdings auch schon vor der Gefahr der Abnutzung: „Die Gedanken werden nur so ungefähr ausgedrückt, der Ausdruck sitzt dem Gedanken nur los an.“ Hören wir auf diese Warnung und erfüllen wir uns mit jener Hoffnung! Sehen wir zu, daß wir immer wieder und immer weiter sprechen lernen, deutsch reden lernen! So wird es an der Geltung und Wirkung, an der Verständigung nicht fehlen.

61 Dolf Sternberger [22. Juni 1941] „Menschlich“. Seit einiger Zeit – es können Jahre, es kann auch schon mehr als ein Jahrzehnt sein: desgleichen ist ja schwer zu datieren – seit einiger Zeit also hört man das Wort „menschlich“ im Konversationston auf eine höchst kuriose Weise gebrauchen. Etwa, wenn zwei Leute über einen Dritten reden: „Menschlich ist er sehr nett!“ Oder, um einige Grade inniger und eindringlicher: „menschlich sehr fein“; dies kann auch von literarischen Produkten gelten. Oder gar, nicht so still, vielmehr unbedenklicher, stürmischer, aber wie jeder Superlativ auch unzuverlässiger: „menschlich fabelhaft!“ Lassen wir die Differenz der Tonarten beiseite, die allerdings ebenso viele gesellschaftliche Jargons, Sphären und Typen bezeichnen, so bleibt allen drei Wendungen gemeinsam das Adverb „menschlich“. Seltsam schon, daß es überhaupt als Adverb auftreten kann. Ein Adverb ist ein Umstandswort. Ist das Menschliche bei einem Menschen ein besonderer Umstand, eine spezielle Bedingung oder Hinsicht? In welcher Hinsicht könnte man einen Menschen denn sonst noch betrachten oder beurteilen als eben in der menschlichen? Es ist in der



Die neue „deutsche Normalschrift“. 

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Tat der allgemeinste „Umstand“ eines Menschen, daß er ein Mensch oder menschlich ist, der allgemeinste und also gar kein Umstand, gar keine spezielle Bedingung und Hinsicht. Ein bestimmter Mensch ist in bestimmter Weise beschaffen, er sieht so und so aus, hat einen gewissen Blick, eine gewisse Stimme und Gebärde – das sind seine physischen oder physiognomischen Umstände, und wenn man deren Beschreibung vollständig macht (vollständig machen könnte), so hätte man alles Wesentliche schon beisammen; auch Stellung, Beruf und Betragen gehören zu dieser Beschreibung, aber es ist freilich möglich, diese Umstände oder Hinsichten abzutrennen und das Gesellschaftliche, das Berufliche und das Moralische je für sich zu behandeln. Physisch, gesellschaftlich, beruflich, moralisch läßt sich ein Mensch betrachten, wenngleich etwa das Moralische, ernst und konkret genommen, weder von der Arbeit noch von der Stellung noch auch vom Aussehen, von der Miene abgetrennt werden kann. Immerhin, für eine Weile mag es hingehen. Aber menschlich? Ein Mensch ist er doch in alledem, überall und immer. Irren wir nicht, so ist das „Menschliche“. Was natürlich alsbald zu einer neuen Konvention wurde, nur daß man sich zu ihr nicht mehr bekennen wollte. Aber das ist noch nicht das Entscheidende. „Menschlich“ – das ist im Unterschied gesagt zu anderen Hinsichten, vor allem wohl zum Beruflichen oder Fachlichen oder Geschäftlichen, zu allen Arten praktikabler, meßbarer Leistung, auch etwa derjenigen des Verstandes. In alledem – so will man sagen – mag einer hergeben oder darstellen, was er will, wenig oder viel, aber menschlich, menschlich ist er sehr nett oder fein oder fabelhaft. Das Menschliche des Menschen ist, wenn man dieser Redensart trauen darf, zu einer Sparte neben der anderen, einer Spezialität neben der anderen geworden. Man will hier von allen Leistungen und Zwecken, von allen praktischen und ökonomischen Maßstäben absehen, wonach der Wert des Menschen sonst bemessen werden kann, und ihn eben „rein als Mensch“ nehmen. Und man bewirkt oder bezeugt gerade das Gegenteil: man spezialisiert auch noch das Menschliche. Das Menschliche ist aber kein Umstand, sondern Wesen. Das Adverb ist eine sehr geringe Wortart, und es wäre schon etwas gewonnen, wenn man nur das Wort vermiede: indem man seine Sprache ändert, ändert man sich selbst. Es wäre noch besser, die Sparte „Menschlich“, dieses Teilstück und Residuum, verschwände selber und vollends. Es wäre besser für das menschliche Wesen. d. st.

62 [13. September 1941] Die neue „deutsche Normalschrift“. Wie wir gestern gemeldet haben, hat der Reichserziehungsminister durch einen Runderlaß vom 1. September verfügt, daß künftig an allen deutschen Schulen – unerachtet einer Uebergangszeit von unbestimmter Dauer – nur noch eine einzige

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 Texte aus der Frankfurter Zeitung

Schrift gelehrt werden soll. Die bisher so genannte „deutsche“ (Fraktur-) Schrift, die neben der sogenannten „lateinischen“ im Schreib- und Leseunterricht gelehrt und gelernt wurde, soll nach einiger Zeit ganz verschwinden. Aber auch die neue „Normalschrift“ ist nicht identisch mit der bisher gelehrten Sütterlinschrift. Den Unterschied machen die beiden Alphabete deutlich, die wir hierbei veröffentlichen.

Die neue Schrift kehrt, wie man sieht, zu einer mäßig schrägen Lage zurück und entfernt sich überhaupt von dem druckschriftähnlichen Charakter, den Sütterlin entwickelt hatte. Uebrigens soll nach dem Erlaß auch die „gleichmäßige Strichstärke nicht als eine besonders charakteristische Eigenschaft der Schrift“ gefordert werden, das heißt: die alten „Haar- und Grundstriche“ werden zwar nicht verlangt, aber auch nicht geradezu untersagt. Schließlich – um hier nur die auffälligsten Unterschiede zu nennen – ist die Einteilung der Schreibzeile, also die Proportion der Unter- und Oberlängen zum Mittelstück der Buchstaben, gegenüber Sütterlin, dessen Schrift im folgenden abgebildet ist, wieder differenziert worden.

Hand-Schrift. 

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Sütterlin hatte die Schreibzeile im Verhältnis von 1:1:1 aufgeteilt, und gerade dieser Umstand hat viel zu dem etwas steifen, wie gemalten Bilde beigetragen, das seine Buchstaben bieten. Bei der Normalschrift verhalten sich die Unterlängen und die Oberlängen zum Mittelstück wie 2:3; das Mittelstück wird ja in einem Text von den meisten kleinen Buchstaben ausgefüllt und es trägt hier nun der Größe nach auch den Hauptakzent. Die Veränderung, die der Erlaß einleitet, hat also keine geringe Bedeutung für den ganzen Habitus des Schreibenden.

63 [14. September 1941] Hand-Schrift. Für den Schreibunterricht an den Schulen sind neue Bestimmungen getroffen worden. Der Referent im Erziehungsministerium, der sich bei dieser Gelegenheit über die Schriftarten geäußert hat, macht auch die Bemerkung, daß das Schreiben überhaupt wieder stärker hervortreten und zum Beispiel auch auf der Oberstufe der Schule gepflegt werden müsse. „Es ist gar nicht so lange her,“ – sagte er – „als selbst auf den Seminaren dem Schreibunterricht eine beachtliche Stellung eingeräumt war.“ Und man erinnert sich, durch diese Hinweise angeregt, jener ganzen Sphäre des „Schönschreibens“ (früher hatte ja auch das Unterrichtsfach eben diesen Namen) oder der „Kalligraphie“, die uns so ganz versunken zu sein scheint; man erinnert sich gewisser Schreiblehrer und Schreibmeister, die in den Städten einen Ruf hatten und bei denen auch Erwachsene, ja Damen der „Gesellschaft“ in die Schule gingen; man erinnert sich an Lebensbeschreibungen noch von Anfang dieses Jahrhunderts, worin etwa bei Pfarrern oder Lehrern

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 Texte aus der Frankfurter Zeitung

ihre Schreibkünste eigens Erwähnung fanden. Soll man’s nun beklagen, daß das alles verloren scheint? Nein – so werden viele antworten –, denn wir haben ja die Schreibmaschine. Früher war es eine Hauptbedingung, wenn einer zum Kaufmann in die Lehre gehen wollte, daß er schön, klar, leserlich, ordentlich schreiben könne. Heute ist zwar die Rechtschreibung genau so unerläßlich, da ja auch die Maschine nicht von selbst schreibt, aber auf die guten und schönen Schriftzüge kommt es in der Tat weithin nicht mehr in dem alten Maße an, denn der Kaufmann tippt oder diktiert seine Briefe in die Maschine. Dem Tatbestand kann sich niemand verschließen. Aber – wir sehen ganz davon ab, daß es ja nicht überall Schreibmaschinen gibt, nicht in jedem Laden oder Bauernhof, und daß vor allem nicht immer eine zur Hand ist, wenn etwas notiert oder angefertigt werden muß, sondern die entscheidende Antwort auf jenes Argument scheint uns darin beschlossen, daß der Mensch nicht mehr vollständig wäre, der nicht mit der eigenen Hand zu schreiben, Buchstaben („Charaktere“), Worte, Sätze festzulegen, aufzuzeichnen verstünde. Auch die Hand führt zwar ein Werkzeug, nämlich die Schreibfeder, wie umgekehrt auch die Maschine kein Automat ist, sondern nur von eben derselben Hand in Tätigkeit gesetzt werden kann – beide Mittel sind also nicht so tief voneinander geschieden, wie wohl manche Romantiker meinen mögen. Indessen gehört der Gebrauch jenes ersten und einfachen Werkzeuges notwendig zu den Funktionen des ausgebildeten Menschen. Wir nähen ja auch noch mit der Nadel, wir gehen ja auch noch zu Fuß, – fast möchte man hinzufügen: wir sprechen ja auch noch mit dem Munde. Und die Handschrift, dieses Hand-Werk, kann nicht einmal bloß als Vorschule verstanden werden, so wie Segelschiffe noch als Vorschule der Seeleute dienen: Die Hand vielmehr müsste selbst verkümmern oder erschlaffen, die sich des Handschreibens je entwöhnte. Nein, zwischen der Maschine und der Feder ist gar keine wirkliche Alternative: wir schreiben mit der Maschine und mit der Hand. Und also müssen wir’s auch gründlich lernen.

64 [5. April 1942] Antiqua statt Fraktur. Die „Frankfurter Zeitung“ wird mit ihrer ersten Ausgabe nach dem Osterfest sich der Antiqua bedienen. Der Abschied von der Fraktur wird wie von der Schriftleitung so von der Leserschaft nicht leicht genommen werden können. Nicht deshalb, weil etwa hiermit ursprüngliche vaterländische Zeichen gegen zwar bequeme, aber weniger charaktervolle eingetauscht würden. Es ist in den letzten Monaten, in denen alle großen Zeitungen Deutschlands diese Umstellung vollzogen haben, ja oft genug daran erinnert worden, daß die Geschichte der Schrift



Gedankenbahnen in der Sprache. 

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des Abendlandes mit der römischen beginnt und daß es gerade eine deutsche Leistung, nämlich die Reform Karls des Großen war, die alte römische in eine für das ganze Reich gültige Schrift umgewandelt zu haben; was man „Fraktur“ nennt, ist nichts anderes als eine stilistische Abwandlung der „Antiqua“. Doch das lesende Gefühl ist unabhängig von historischen Ueberlegungen, es zögert zunächst, wenn ein gewohntes Bild durch ein neues ersetzt wird. Aber das Argument der kosmopolitischen Lesbarkeit der Antiqua hat den Ausschlag gegeben; das Gefühl – das hier sicher mehr bedeutet als träge Gewohnheit – gibt der Vernunft den Vorrang. Wir möchten in diesem unserm letzten Blatt, das in Fraktur gedruckt ist, den Lesern eines zu bedenken geben: Gottlieb Immanuel Breitkopf in Leipzig hat Ende des achtzehnten Jahrhunderts die Fraktur – gegen die wachsende Begeisterung der Klassizisten – damit verteidigt, daß der „gemeinen Volksklasse“ eine Veränderung der Schrift schaden müsse; ihn bewegte die Sorge, es möchte durch einen Wechsel in der Schrift das kaum erwachte Bildungsinteresse des bürgerlichen Lesepublikums leiden. Eine solche Sorge fällt heute fort: Es gibt keine Volksschicht mehr, für die das Instrument der Schrift, sei sie Antiqua oder Fraktur, etwas Schwieriges wäre. Das Mittel ist allen geläufig geworden, es wäre lohnend zu untersuchen, inwieweit die allgemein-verbreitete Kenntnis der Schrift die Kenntnis der Begriffe, des Geistigen überhaupt, vertieft hat. In der Epoche des weltumfassenden Kampfes kann Wachheit für Weltereignisse vorausgesetzt werden. Es kommt also jetzt für das Interesse der „gemeinen Volksklasse“ einzig darauf an, dieses Weltbild unverstellt vor Augen zu führen. Daran gemessen ist die Frage Antiqua oder Fraktur eine Frage zweiter Ordnung.

65 Gerhard Storz [18. April 1942] Gedankenbahnen in der Sprache. Nicht erst in einer bestimmten Mitteilung – in der Sprache selbst liegen und laufen Gedankenbahnen wie Schienen in einer Landschaft: Geist, der Gestalt, Gedanke, der Form geworden ist. Auf sie treffen wir vor allem in den Wörtern, die, auf sich selbst gestellt, keinen „Sinn“ haben, weder Bild noch Gefühl erwecken (und, aber, doch, daß), wohl aber gewisse Gedankenschritte vollziehen, wie es die mathematischen Zeichen tun. Verglichen mit den klangvollen Wörtern, die, zum Spiel und Traum tauglich, von Ahnung, Erinnerung, Stimmung aufschwellen, verglichen mit diesen lockenden Schönheiten führen jene Wörtchen ein verachtetes Dienstbotendasein. Und doch ist ihr Dienst für unser Denken und Sprechen gar nicht zu entbehren: Statt des vielsagenden und vollen Wortes findet sich im Vorrat der Sprache immer noch ein schmächtigeres, aber dafür vielleicht kan-

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tigeres zur Aushilfe; ohne sie aber, ohne die Geleise und Weichen der Sprache, käme unser Denken nicht in Fahrt und unser Gedanke nirgends zum Ziel. So sehr bedarf es ihrer, daß sogar noch oder schon in Silben die Kraft steckt, dem Denken Richtung, den Sachen Zusammenhang zu geben. Gleichheit und Unterschied zu setzen: das sind die Vor- und Nachsilben am Zeit- und Haupt- und Eigenschaftswort. Ihre Fülle läßt sich in Gruppen scheiden: Die einen „bilden“ das Wort, das heißt sie bringen das, was sein eigentlicher Lautkern meint (den „Stamm“, oder die „Wurzel“) in eine gewisse Richtung. Sind solche Richtungen sehr deutlich ausgeprägt und einander zugeordnet, ergeben sie insgesamt ein System, so gelten die richtungweisenden Silben als „Beugungssilben“: jene Systeme enthalten die Beugung der Haupt- und Zeitwörter. Der Hinweis, den die einzelne Beugungssilbe gilt, ist knapp, deutlich, und von jedem andern klar geschieden. Die Gebärde der Wortbildungssilben erscheint uns demgegenüber als mehrdeutig. Sie können dem Stamm vorgesetzt werden, wie es bei den Zeitwörtern die Regel ist (be- und ge-), und ihre Wirkung springt, so scheint es, dann auch eher in die Augen: Hier aber soll nicht von ihnen, sondern von den wortbildenden Nachsilben (Suffixen) die Rede sein. „-heit“. Beginnen wir mit dem Hauptwort und greifen wir die zwei besonders häufigen -heit und –tum heraus. Vergleicht man sie mit den redenden Vorsilben „Hin“, „Heraus“, „Ein“, „Rück“, so möchte man in ihrer kargen „Sinn“losigkeit den Beweis für ihre elementare Natur erblicken. Genau genommen sind sie allerdings erst für uns Heutige Elemente im Sinne von unauflösbaren Einheiten: die „Heit“ begegnet noch in Texten des achtzehnten Jahrhunderts als Hauptwort, und in einem solchen des sechzehnten wird die „schöne Heit“ (= Art) eines Dinges gerühmt. Aehnlich verhält es sich mit dem „tum“: Das „Tum des Königs“ ist in einem alten Text zu lesen. Grimm hält dafür, es habe „Würde“ bedeutet. Sehr früh schon und immer häufiger erscheinen sie als Wortbildungssilben. Die Sprachgeschichte gibt aber, was ihre Unterscheidung und ihren Gebrauch angeht, unserem Sprachgefühl keine Hilfe. Wir müssen sie aus dem Vergleichen gewinnen. Es gibt Hauptwortstämme, die nur der Nachsilbe „heit“ fähig sind: Zweiheit, Ewigkeit („heit“ verhärtete sich unter gewissen Umständen zu „keit“), Dummheit, Gerechtigkeit, Einsamkeit, Ergriffenheit. Dieser Reihe ist zunächst eigentümlich, daß sich „heit“ stets an das Eigenschaftswort (ewig) oder an das Zahlwort anfügt. Dem mit „heit“ gebildeten Hauptwort liegt also ein Urteil zugrunde, zum Beispiel, daß der oder jener dumm sei. Sodann wird aber dieses Urteil zu der Erkenntnis erweitert, daß es, abgesehen vom jeweiligen Vertreter, das Dumme überhaupt gab. Mit „heit“ wird also die Eigenschaft zur Idee potenziert, die Zahl



Gedankenbahnen in der Sprache. 

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aber zum Begriff: Es ist ein ebenso steiler wie beträchtlicher Gedankenschritt, den die unscheinbare Silbe vollzieht. „-tum“. Schöpfertum, Priestertum, Fürstentum, Beamtentum – Reichtum, Banausentum, Wachstum, Schrifttum – auch diese Reihe umfaßt Abstrakta. Aber sie steht dem Abstrakten deutlich anders gegenüber als die „heit“-Reihe: sie geht nicht, wie jene, schon von einem Urteil, sondern von einem konkreten Kern, einer Figur, einer Person aus. In den ersten Beispielen spricht sich die alte Bedeutung „Würde“ deutlich aus. „Banausentum“ wäre eine ironische Prägung und bedeutete einen Scherz nach Art des „lucus a non lucendo“. „Schrifttum“ jedoch, das weiß unser Sprachgefühl noch, ist eine jüngere und sozusagen künstliche Bildung, die im amtlichen Sprachgebrauch das Fremdwort „Literatur“ zu ersetzen bestimmt ist: Mit dem „tum“ hatte man eben die verallgemeinernde und sammelnde Wirkung im Auge. Vielleicht waren Wörter wie „Wachstum“ das Vorbild zu jener Verdeutschung? Denn „Wachstum“ ist genau derselbe Sammelbegriff, Gottfried Keller schreibt: „Sie wanderte von Korb zu Korb, das darin aufgehäufte Wachstum übersehend.“ Auch „Wachstum“ begegnet übrigens verhältnismäßig spät. Philosophie der Silben. Vielleicht führt eine dritte Reihe weiter, in der „heit“ und „tum“ am gleichen Wortstamm erscheinen: Weisheit-Weistum, Heiligkeit-Heiligtum, ChristenheitChristentum, Menschheit-Menschentum, Deutschheit-Deutschtum, Narrheit-Narrentum, Eigenheit-Eigentum. Die ersten Paare sind ebenso alt wie geläufig, und lassen einen gleichlautenden Gegensatz erkennen: Die Bildung auf „heit“ gibt den allgemeinen Begriff, ja man wird sagen die Idee des Weise-, Heilig-, Christlich-Seins. Die auf „tum“ meint die konkrete Erscheinungsform solchen Seins: in der Rechtssatzung, im Gebäude oder in der Reliquie, in der Lehre. Aehnlich wird ursprünglich der Gegensatz von Menschheit und Menschentum, Eigenheit und Eigentum, zu verstehen gewesen sein. Dem „heit“ entspricht das lateinische „tas“ (maiestas = Größerheit, qualitas = Beschaffenheit.) Das „tum“ hat nicht die eine und volle Entsprechung im Latein: Unser Gegensatz ist wohl erst durch die Gedankenarbeit des Mittelalters und der Neuzeit geprägt worden, wahrscheinlich hat sie erst dazu geführt, Idee und Phänomen derart zu unterscheiden, daß sie der „heit“ das „tum“ gegenüberstellte. Sehr viele „heit“-Wörter entstammen denn auch der Scholastik und den Mystikern des dreizehnten Jahrhunderts. Als die Theologen, vor allem Eckhart, deutsch zu schreiben und zu lehren begannen, übersetzten sie die lateinischen Begriffe auf –tas, die sie oder die Kirchenväter

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zum großen Teile erst gebildet hatten, mit oft recht seltsamen „heiten“, als da sind „Andersheit“, „Ichheit“, „Wesenheit“. Und auch später neigten spekulative Geister zu den „heit“-Bildungen, so etwa Fichte; er hat, wie es scheint, den Begriff „Deutschheit“ geprägt, den das spätere „Deutschtum“ zwar häufig ersetzt, aber doch nicht erübrigt hat: Dem Deutschen als Seinsweise (heit) steht das Deutsche als Erscheinung in der Welt (tum) noch klar scheidbar gegenüber. Die humanitas scheint in „Menschheit“ durch. Noch Schiller gebraucht es im Sinn von „Menschlichkeit“. Im Widerspruch zu der festgestellten Funktion des „heit“ hat jedoch das Wort heute ebenso wie „Christenheit“ den kollektiv-konkreten Sinn: „alle Menschen“. Vielleicht ist in beiden Fällen die zweite Bildung „Menschlichkeit“, „Christlichkeit“ (nach Art von „Gerechtigkeit“) an solcher Verkehrung schuld? Die Genauigkeit der Sprache. Das Streben nach Genauigkeit muß dem wissenschaftlichen Ausdruck besonders dort ein Anliegen sein, wo er Begriffe abgrenzt. Dem also Bemühten erscheint die Sprache gerne als recht grobes Instrument, das er schärfen müsse. Je mehr aber der Wetzstein gedreht wird, desto weniger will sich Schärfe zeigen, desto häufiger springen Scharten in die Klinge, desto zahlreichere Anstückungen werden nötig. Ist da nicht der ruhige Blick auf das Verfahren der Sprache hilfreich, mit welch einfachen Mitteln sie eine so feine Sonderung im Abstrakten wie die eben angedeutete kennzeichnet? Freilich bedarf es des Vertrauens auf ihre Kraft und zu den Ohren der Hörer. Aber eben deshalb muß der Mißbrauch ferngehalten werden: Welchen Sinn hat es, die Wörter zu doppeln und „Artheit“ oder „Arttum“ zu bilden? Ist etwa gemeint „Bindung an eine bestimmte Art“? Solche Absicht überspannt die Funktion unserer Nachsilben. Auch „Wesenheit“ ist im heutigen Gebrauch solcher Doppelung verdächtig. Wem „Art“ und „Wesen“ nicht genügt, der will offenbar noch abstrakter als abstrakt reden. Derart angestückt, steigern diese Nachsilben den Begriff nicht mehr – das ist ja eben unmöglich – nein, sie blähen ihn auf zur allegorischen Stellvertretung von Tiefsinn und Philosophie schlechthin, wie sie Mephisto ausmalt: „als stünden grau leibhaftig vor Euch da Physik und Metaphysika.“* Aber mehr als Stellvertretung, als Blendwerk vermag auch die gewaltsame Anstückung nicht zu liefern. a—o



„Unter Beweis stellen.“ 

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66 [9. Mai 1942] „Unter Beweis stellen.“ Der Nationalsozialistische Rechtswahrerbund hat, nicht gerade offiziell, aber immerhin in einer Anmerkung seines Zentralorgans, der Zeitschrift* „Deutsches Recht“, einen notwendigen Akt des Erbarmens vollzogen: Er hat sich dagegen gewehrt, daß der in der Juristensprache gebräuchliche Ausdruck „unter Beweis stellen“ mißhandelt und unter Verfälschung seines Sinnes landauf, landab als gleichwertiger Ersatz für das einfache „Beweisen“ verwendet werde. Die Anmerkung, in der das geschieht, ist eigentlich eine Epistel an die Presse, offenbar deshalb, weil hier der Mißbrauch (in eigenen Arbeiten wie in der Wiedergabe von Reden) am sichtbarsten zu Tage tritt. „Unter Beweis stellen“ heißt in der Sprache der Richter und Anwälte „Beweis antreten, Beweis anbieten“. Wer etwas unter Beweis stellt, macht sich anheischig, etwas beweisen zu können; ob es ihm gelingt, wird sich später zeigen. Wenn aber zu lesen ist, mit der Versenkung von soundso viel tausend Tonnen Schiffraums habe die deutsche U-Boot-Waffe abermals ihre Schlagkraft „unter Beweis gestellt“, so soll damit doch nicht gesagt werden, die U-Boot-Waffe habe einen Beweis angeboten, sondern sie habe den Beweis bereits erbracht, sie habe ihre Schlagkraft bewiesen. Der allgemeine Gebrauch des umständlichen Ausdrucks ist also, wenn nicht ein juristisches Beweisangebot gemeint ist, ebenso ein Verstoß gegen die Klarheit wie gegen die Sauberkeit der Sprache. Wer aufmerksamer zusieht, weiß freilich, daß solcher Mißbrauch nicht alleinsteht, daß Schwulst und Trübung des Sinnes meist Hand in Hand gehen, vor allem, wenn statt einfacher Zeitwörter monumental klingende Konstruktionen mit Hauptwörtern verwendet werden. Die Neigung dazu hat in den letzten Jahrzehnten stark um sich gegriffen, wie eine Krankheit – Substantivitis epidemica könnte man sie nennen. Die beste Kur ist, wie oft auch im ärztlichen Bereich, eine handfeste Diät: Man verordne sich einfach redliche, hausbackene Zeitwörter, meide die aufwendigen und schlecht bekömmlichen Umschreibungen mit Hauptwörtern, und man wird sehr bald in der Lage sein, wie ein gescheiter Mann* einmal gemeint hat, mit gewöhnlichen Worten ungewöhnliche Gedanken auszudrücken – immer natürlich vorausgesetzt, daß man über solche Gedanken auch wirklich verfügt. Dies wäre dann freilich nicht „unter Beweis zu stellen“ – denn das könnte jeder –, sondern schlicht zu beweisen.

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67 Erik Graf Wickenburg [2. Juni 1942] Soldatenausdrücke. Kleider machen Leute, und das Leutesein, das Etwas-vorstellen verlangt nach Ausdruck, der sich teils sichtlich, teils aber in Art und Tonfall der Rede dartut und über die Berufsgruppensprache hinaus eine eigene Markierung sucht. Die führt alsbald auf den markanten Weg des Witzes, der sprachlichen Unterstellung, der ironischen Einbeziehung verlassener oder verlorener, jedenfalls unzugehöriger Elemente. Der Soldatenstand hat, äußerlich gekennzeichnet wie kaum ein anderer, auch in seinen Ausdrücken neben der fachlichen Terminologie ein psychisches Reservat, das in seinen Anfängen von dem Auftrotzen gegen die Minderachtung datieren mag, die der Besitzende dem Habenichts und Landesknecht angedeihen ließ – so wenigstens erläutert es August M i l l e r* in der Zeitschrift der Deutschen Akademie in einem Aufsatz über die Soldatensprache. Heute hat aber der „Verein für deutliche Aussprache“, wie sich die Soldaten nennen, aus anderen Gründen eine spezifische Ausdrucksweise hervorgebracht und bringt sie immer weiter hervor. Der Verfasser des Aufsatzes befaßt sich nach seinen Mitteilungen schon seit Jahren, besonders einläßlich aber seit 1937 mit der Sammlung von Soldatenausdrücken; ein Fragebogen ist an die einzelnen Truppenteile ausgeschickt und 840 Sammler sind bestellt worden; das Material wird zur Zeit auf 250 000 Zettel beziffert. Unter den neuesten Ausdrücken figurieren zahlreiche sportliche Motive: wenn ein Rekrut vor sich hindämmert „markiert er den Torwart“, er bekommt dafür eine „Ehrenrunde“ um den Kasernenhof. Der Panzerspähwagen heißt „Sargmobil“. Ein angenehmer Kamerad ist ein „guter Beiwagen“, einem Mädchen wird eine „zackige Karosserie“ attestiert. „Zackig“ und „schwer auf Draht“ sind Bezeichnungen, die zur soldatischen Fachsprache zählen; bei ihnen ist nicht mehr auszumachen, wie weit sie einer allgemeinen Stimmungslage, eben des Zackigen und Drahtigen, ernsthaft oder in Gänsefüßchen entsprechen. Einen Bunker „knacken“ kann wiederum ebensogut der gewöhnliche Umgangston sein wie vielleicht sogar dem Ursprung nach eine Kompensation des gewaltigen Eindruckes darstellen – wie zum Beispiel die Flugwaffe eine ganze Reihe solcher schnoddriger und zugleich ungewöhnlich anschaulicher Bezeichnungen eben dieser Funktion aufweist. Der Fall wird bagatellisiert und damit faßlich gemacht: auch wird die Phantasie der Nicht-Soldaten von solchen Metaphern leicht über das Eigentliche des Krieges hinweggeschläfert, was beabsichtigt sein mag – weil dem Helden an Pathos nicht gelegen ist –, aber auch zu einer unerfreulichen Irrmeinung über die wahre Leistung führen kann. Der Nichtsoldat steht vor der

Soldatenausdrücke. 

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Aufgabe, die ihm gebotenen Früchte soldatischen Humors wieder zu dekompensieren, will er der gegenständlichen Wahrheit nahe bleiben. Dem persönlichen Verhältnis des Mannes zu seinen Waffen entspringt eine Anzahl weniger pointierter, gleichsam kollegialer Ausdrücke wie beispielsweise der Name „Anton“ für den leichten Granatwerfer. Der Stahlhelm, im Frieden vorzüglich repräsentativ bei feierlichen Anlässen benützt, genießt gelegentlich die Bezeichnung „Begeisterungstopf“. Es ist dabei oft Bedeutungswandel gegenüber dem Weltkrieg beobachtet worden: während es damals hieß „Alter Mann ist kein Eilzug“, figurieren jetzt Ausdrücke wie „kein Schnellboot, kein Stuka“ in ähnlicher Funktion. Der „feuerige Elias“, einst der Kleinbahn zugedacht, wird nunmehr auf Nebelwerfer angewendet, und der „Kommiß“ stellt sich vorwiegend als „Barras“ dar. Dieser Ausdruck wird in allen Tonlagen von der reinen Fachbezeichnung bis zur Vision gebraucht, ist jedoch kaum als eine Anbiederung oder besser Anbiegung zu verstehen, wie sie etwa in „Hemdkameraden“ für Läuse, „Aspiringeschwader“ für die motorisierte Sanität, „Männer mit der langen Leitung“ für die Nachrichtentruppe liegen mag. Das Zwielicht solcher Ausdrücke ist groß genug, um eine individuelle Anwendung vom Scherz bis zur Invektive hin zu gestatten. Dem Soldaten ist die Freiheit gegeben, die Skala nach seinem Geschmack zu gebrauchen. Das natürliche numerische Verhältnis zwischen Soldaten und Vorgesetzten gibt jenen, in der Masse Stehenden, hinreichend Anlaß, ihre jeweils verschieden gemischten Gefühle zu einem Ausdruck zu bringen, der dann freilich oft so wenig für den Dienstverkehr geeignet ist, wie die Spitznamen, mit denen eine zivile Gefolgschaft ihren Leiter bedenkt. Die Bezeichnung „Kapo“ für den Unteroffizier, die bei norddeutschen Einheiten gefunden worden ist, herrührend aus dem „capo“, dem Rottenführer der italienischen Straßenarbeiter, wird dem Vorgesetzten eher zu Ohren kommen dürfen als die wenig respektvolle, vom geflochtenen Achselstück gewonnene Titulierung „Raupenschlepper“ für höhere Offiziere. Diese Rangabzeichen heißen übrigens auch „Merinken“ und „Allerheiligenstritzel“, erscheinen also durchaus genießbar, wobei die zitierte Süßigkeit kaum als kulinarische Kategorie gemeint sein dürfte, – so wenig wie die Lieblichkeit als Merkmal in der Bezeichnung „Vergißmeinnicht“ für das Notizbuch des Hauptfeldwebels rechnet. Aus dem verschimmernden Sinn bezieht der Soldat diejenige Drastik, die ihm das Leben innerhalb einer vollkommenen Gemeinschaft vorzustellen pflegt: sie kommt darin „zu Worte“. egw.

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68 Dolf Sternberger [5. Juli 1942] Die Darumwisser. Was wissen Sie von den Würmern? Oder: Was wissen Sie über Lessing? So wird im Examen gefragt, und wenn der Prüfling Rede steht und etwas Handfestes vorbringt von den Würmern oder über Lessing, so kann man ihm bescheinigen, daß er etwas gelernt hat und also etwas weiß. Und das ist tüchtig, nötig, nützlich, ja unerläßlich, etwas zu wissen, gründlich und sicher über eine Sache Bescheid zu wissen. Daran wollen wir nicht deuteln und nicht deuteln lassen, und davon soll nichts weggenommen werden. Wissen (und Können) ist zwar nicht selbst schon Macht, wie ein veraltetes Sprichwort meinte, aber es bedeutet doch schon eine ganze Menge. Aus solchem Wissen, wird es von der Leidenschaft des Wissenwollens oder der Wißbegierde angetrieben und fortbewegt, baut sich die Wissenschaft auf. Wissenschaft bringt es freilich niemals zur Allwissenheit. Denn unser Wissen ist Stückwert, auch das muß man wissen. Und am Ende aller menschlichen Wissenschaft steht, ohne sie indessen aufzuheben, der ironische Satz des Sokrates: ich weiß, daß ich nichts weiß. Da beginnt die Weisheit. Natürlich gibt es auch ein „bloßes“ Wissen, nämlich eine stumpfe teilnahmslose Art des Verwahrens im Bewußtsein. Aber man kann nicht folgern, daß darum alles Wissen schlechthin „bloßes Wissen“ sei – wie gleichwohl gelegentlich in Bausch und Bogen gemeint wird. Was ist denn mehr als Wissen? Von welcher Höhe kann man denn auf das bloße Wissen herabsehen? Man hat Wissen und Glauben einander entgegengesetzt und das Problem ihrer Vereinbarkeit zu lösen gestrebt. Aber mit dieser Alternative hat es eine sonderbare Bewandtnis, womöglich ist sie überhaupt falsch gestellt: im eigentlichen Glauben, in der „Gewißheit“ des Glaubens ist, wie diese Wendung schon anzeigt, Wissen auch enthalten, daher es auch im Kirchenliede heißt „ich weiß, an wen ich glaube“. Oder ist das Ahnen dem Wissen überlegen? „Ahnung und Gegenwart“ heißt ein romantischer Roman, und darin scheint das Ahnen als eine tiefere Fähigkeit des Menschen zu figurieren, die näher zur Wahrheit, näher zum Urgrund führe (wie man hier wohl sagen muß) als das Wissen. Jedoch, wenn es ein ungewisses Schweifen und taumelndes Suchen bleibt, so ist auch das Ahnen gleichgültig; erst dann, wenn es etwas trifft, wenn es innere Kraft hat und seiner selbst „gewiß“ wird, sich auszudrücken vermag – und sei es in der Dichtung – , wenn es sich also ausspricht und nicht im Busen verschlossen bleibt, erst dann gewinnt das Ahnen Rang und Würde, erst dann wird es interessant. Gerade dann aber ist es selbst eine Art Wissen geworden oder doch ein Organ der Erkenntnis. Auch das Ahnen hat (schon grammatisch) sein Objekt: ich ahne nicht bloß irgendwie, sondern ich ahne etwas. Ich ahne etwas; ich weiß etwas (oder nichts); ich weiß, daß ich nichts



Die Darumwisser. 

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weiß; ich erkenne dich – und ich glaube an wen oder was. Das sind allemal klare Verhältnisse oder Beziehungen, in der Sprache wie in der Wirklichkeit. Nun aber gibt es nicht bloß Wissende und Weise, nicht nur Besserwisser und Nichtwisser, sondern auch Darumwisser. Es gibt sie nicht erst seit gestern, sondern schon eine ganze Weile lang, vielleicht ungefähr seit zwei Jahrzehnten, aber sie scheinen sich noch immerfort zu vermehren. Sie „wissen um“ die tiefsten Dinge, um die letzten Dinge – dieser blasseste Sammelpunkt stellt sich in solchem Fall besonders gern und häufig ein – oder auch um irgendwelche tiefinnerlichen Zusammenhänge, sagen wir: zwischen Mensch und Natur, sie wissen um das Geheimnis der Liebe oder um Geheimnisse des Daseins schlechthin, einer weiß um die Seele, um den Schmerz, um die Sehnsucht eines Anderen oder, häufiger, einer Anderen und so fort. Man findet die Darumwisser keineswegs nur unter den Lyrikern, dort vielleicht sogar am seltensten, sondern unter Betrachtern, Rezensenten, – kürzlich war es sogar in einem Kriminalroman zu finden. Und man findet sie vor allem jetzt auch unter Leuten, die gar nichts schreiben, sondern nur sprechen, ja unter solchen und sogar vor allem unter solchen, die nicht einmal sprechen oder doch nicht viel, sondern nur fühlen, unter den Wortkargen. Was steckt nicht alles hinter dieser Wendung! Ein Anspruch tieferen, freilich auch unaussprechlicheren Wissens, als es das Etwas-Wissen oder Daß-Wissen jemals sein könne, eine still beiseite blickende Verachtung für den Akkusativ und das heißt für alles direkte Begreifen und Erkennen eines Objekts, einer bestimmten Sache, eines bestimmten Dings. Wiederum kann sich der Darumwisser aber auch nicht zum Glauben entschließen, zum Glauben an wen oder was. Er meidet die Erkenntnis und scheut das Bekenntnis, er hält sich in der Mitte auf, aber in keiner guten, sondern in einer trüben Mitte. Er ist nach der einen Seite nicht mutig genug, nach der anderen nicht bescheiden genug. Was für eine seltsam schummrige Klangfarbe hat dieses „um“! Es umgeht – buchstäblich – das Objekt, es führt darum herum. Und meint es doch gerade in seiner ganzen Tiefe nicht nur zu umfassen, sondern anzueignen, zum innersten Besitz zu machen. Das Darumwissen ist ein Geheimwissen, und wenn ein Rezensent einem Autor bescheinigt, daß er um die Dinge wisse, so wird zugleich der Leser schmeichelhaft ins Vertrauen gezogen, für einen Augenblick in die Gemeinschaft der Eingeweihten aufgenommen. Da es doch vielmehr allen dreien obliegt, die tiefen Dinge, die ja nicht bekannt sind, zuerst zu erkennen. Dieses Wissen will nicht Stückwerk sein, das ist sein Geheimnis. Sapienti sat. Wer Bescheid weiß, dem genügt das. d. st.

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69 Dolf Sternberger [19. Juli 1942] Führung und Sorge. Nicht nur die Gruppe, die Partei, das Volk, die Wehrmacht und in dieser wiederum die geschlossenen „Einheiten“ der Kompanie, des Regiments oder des Bataillons – nicht nur solche Gebilde leben in und von Autoritätsverhältnissen, wie sie sich bei den angeführten Beispielen in den Formen der Führung und Gefolgschaft, in Befehl und Gehorsam, Anordnung und Ausführung darstellen und stetig vollziehen: auch der einzelne Mensch in seiner individuellen Existenz lebt, akut oder mindestens latent, doch immer inmitten von Autoritäten. Wir meinen jetzt nicht die Autorität überpersönlicher Forderungen, Gesetze, Parolen, moralischer Grundsätze, sondern die ganz persönlichen, nämlich in lebendigen Personen sich darstellenden Autoritäten, in Personen, mit denen wir umgehen oder umgehen können, mit denen wir sprechen können, nicht also in fernen Vorbildern. Diese persönlichen und individuellen Autoritätsverhältnisse sind heute bisweilen in Gefahr, von den größeren Gestalten und Beziehungen verdeckt, aus dem Bewußtsein verdrängt zu werden, doch sind sie gleichwohl immer wirksam. Unter solche Instanzen nimmt der Arzt eine besondere Stellung ein. Was ist ein Arzt, woraus leitet sich seine Autorität her? Der Arzt verordnet und behandelt, er heilt, hilft und rät. Führt er auch? Das hervorstechende Kennzeichen der Medizinalpolitik im nationalsozialistischen Staat ist der Name und der Sachverhalt der „Gesundheitsführung“. Worunter sich in erster Linie die umfassenden organisatorischen Einrichtungen und Maßnahmen begreifen, die den ärztlichen und die anderen helfenden und pflegenden Berufe betreffen, zugleich aber auch die Mittel, die ihnen zur Verfügung gegeben werden. Kürzlich sind verschiedene Stellen, die sich mit der Erforschung und Bekämpfung des Krebses befassen, zu einem „Reichsausschuß für Krebsbekämpfung“ zusammengeschlossen worden, der nun die größeren Mittel zugleich rationeller anzuwenden vermag: Das ist eine typische Maßnahme der Gesundheitsführung, und sie ist auch vom Reichsgesundheitsführer (Dr. Conti*) veranlaßt und bewerkstelligt worden. In Hannover ist ein „Gaugesundheitswerk“ gegründet worden, ebenfalls eine Vereinigung verschiedener Aemter, Ausschüsse und Dienste, die eine rationelle Arbeitsteilung, auch eine Stärkung der Gesamtposition, bezweckt. Aehnliches hat der Gauleiter von Niederdonau, Dr. Jury, veranlaßt, der selbst Arzt ist. Das sind Vorgänge, die das Wesen der Gesundheitsführung sichtbar machen: es liegt in der Organisation und Lenkung der Mittel, die in irgendeiner Weise der allgemeinen Gesundheit dienlich sind. Es macht sich aber bei solchen Unternehmungen noch ein anderer Zug bemerkbar. Unter den Aufgaben des Gaugesundheitswerkes in Hannover wurde auch die Einrichtung einer



Führung und Sorge. 

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„Beratungsstelle für kinderlose Ehepaare“ genannt. Das Interesse der Staats- und Volksführung, das aus dieser Absicht spricht, ist deutlich: es ist das Interesse am Kinderreichtum, an der Vermehrung des Volkes, welche zugleich eine Vermehrung seiner Arbeitskraft, seiner Zahl und Macht meint, also das bevölkerungspolitische Interesse. Es verlangt die Bekämpfung der Unfruchtbarkeit (worüber, wie hier berichtet, kürzlich auch in der Berliner Medizinischen Gesellschaft verhandelt worden ist). Die Gesundheitsführung kann zu diesem Ende eine Instanz, eine Stelle eröffnen und sie mit Männern (und Frauen) besetzen, die gerade diesem Bezirk ihre Aufmerksamkeit widmen. Es ist ein sehr intimer, ja der intimste Bezirk. Und ebendarum wird solche Beratung selbst, wie sie sich im konkreten Fall von Person zu Person abspielt, nicht mehr als Führung schlechthin zu verstehen sein. Zwischen Scham und Bekenntnis, Reden und Schweigen, Abwehr und Verständnis – wie immer sich ein solches Beratungsgespräch vollziehen mag: es kann nur einen Sinn haben, wenn es eine Art von weltlichem Beichtgespräch und wenn die ärztliche Haltung diejenige einer weltlichen Seelsorge (und freilich zugleich auch Leibsorge) ist oder wird. An diesem Ort müßte sich also Führung zur Sorge wandeln. Der ratgebende, sorgende Arzt müßte sogar, will er der Individualität und Intimität eigentlich gerecht werden, will er etwas Wesentliches erfahren und ein so bedeutsames Vertrauen gewinnen, das Interesse der Führung, das sein Amt ins Leben gerufen hat, hier gleichwohl beiseite lassen und sich ganz und gar für sein Gegenüber bereithalten. Die Autorität kann hier, wiewohl das paradox erscheinen mag, nur aus der Aufopferung des Führungsanspruches entstehen oder sich begründen. (Vorigen Sonntag ist an dieser Stelle von der „Erziehung zum Führen“ die Rede gewesen und davon, daß diese Maxime nicht für alle Berufe und Bereiche des Volkslebens ausschließliche Geltung beanspruchen kann: hier haben wir ein deutliches Beispiel dafür.) Auch mit der „Betreuung“ ist es hier nicht getan, es könnte sonst der Augenblick kommen, da sich der Betreute verschlösse oder auch entwischte, und dann wäre alles vergebens. Sobald also die Gesundheitsführung dahin strebt, sich zugleich eine Art weltlicher Seel- und Leibsorge einzufügen, wird man beim Gedanken an die Praxis einsehen, daß die persönliche Autorität des Arztes gegenüber der Person des Patienten oder Ratsuchenden (und auch er ist ja ein Patient, ein Erleidender) ihre besondere Art und ihren besonderen Grund hat. „Nicht ergreifen, aber ergriffen werden“ – sagt Viktor von Weizsäcker*, ein Arzt. d st.

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 Texte aus der Frankfurter Zeitung

70 Gerhard Storz [7. August 1942] Volkhaft, volklich, völkisch. Ein Kapitel über Nachsilben. Sagen „volkhaft“, „volklich“ und „völkisch“ dasselbe? Schwerlich. Aber schwerer ist es, die Richtung der Unterschiede zu bestimmen.1 Die Sprachgeschichte hilft uns nicht eben viel: „haft“ und „lich“ sind alte Hauptwörter, jenes hängt mit „haben, halten“ zusammen, dieses mit „gleich“, das wieder mit „Leich“ (das ist: Körper) zusammengehört – entsprechend dem englischen „like“. Ehe wir vergleichen, ist es nötig, sich über jede der Bildungen gesondert zu unterrichten: gütlich, dümmlich, kläglich, herzlich, löblich, trüglich, unsäglich. Daraus erhellt, daß sich „lich“ an Haupt-, Eigenschafts- und Zeitwort in gleicher Weise anfügen kann, ferner daß der Umlaut die Folge solchen Anschlusses ist. Der Umlaut entspricht in diesem Falle dem allgemeinen Lautgesetz, wonach mindestens im zweisilbigen Wort die Stammsilbe umlautet, wenn in der Nachsilbe ein i dahinter tritt. Dieser Umlaut scheint nicht nur für den Laut, sondern für die Bedeutung der lich-Wörter im Laufe der Zeit nicht ohne Einfluß geblieben zu sein. Darauf weisen auf der einen Seite bläßlich, bläulich, schwärzlich gegenüber blaß, blau, schwarz; auf der andern Seite dümmlich, gütlich und vielleicht fröhlich gegenüber dumm, gut, froh („klügeln“ neben „klug“): Wie der Umlaut das klare a, u, o dämpft, verdünnt und auch verwischt, so tut es das „lich“, die Ursache jener Schwächung, vielleicht auch an der Bedeutung des Wortkernes. Vielleicht ist es kein Zufall, daß man den gesetzhaften Umlaut in „volklich“ unterließ? Die haftReihe (tugendhaft, dauerhaft, heldenhaft, mangelhaft) zeigt, daß diese Silbe nur an Hauptwörter gefügt werden kann, und daß der Bestand der „haft“-Bildungen wohl kleiner ist als der mit -lich. Auffällig ist außerdem das Ueberwiegen des sittlichen Bereiches. Sehr wenige Stämme tragen endlich beide Silben zugleich: lästerlich und lasterhaft, schauerlich und schauderhaft, stattlich und statthaft, männlich und mannhaft. Die ersten drei Paare erlauben keinen Schluß: „lästerlich“ geht auf „lästern“, nicht auf „Laster“ zurück und hat in die Schriftsprache keinen Eingang mehr. „Schauderhaft“ ist gleichfalls in die Umgangssprache abgesunken, womit sich eine Schwächung verbunden hat: es bezeichnet weniger das Grauen als das ärgerliche Unbehagen. „Statthaft“, in älterer Zeit mit „stattlich“ gleichbedeutend, beschränkt sich ebenso wie „wohnhaft“ auf die Amtssprache, wodurch sich eine Bedeutungsverschiebung ergab. Wirklich vergleichbar ist also nur das letzte Paar unserer Reihe: „mannhaft“ betont stärker als das im Umfang weitere „männlich“. 1 Ueber bildende Nachsilben sind hier früher von demselbenn Verfasser zwei Aufsätze erschienen: “Gedankenbahnen in der Sprache” am 13. April und “Schließung, Schluß, Schließe” am 2. Mai.



Volkhaft, volklich, völkisch. Ein Kapitel über Nachsilben. 

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Aus alledem darf wohl gefolgert werden: Ursprünglich drückte „haft“ nichts aus, was nicht auch „lich“ hätte ausdrücken können (männlich – mannhaft, gebrechlich – bresthaft), „lich“ war jedoch bequemer zu handhaben (Anschluß an alle Wortgattungen). Sehr früh wurde unsere Silbe überdies zur Bildung des Adverbs benützt, und in „weislich“ neben „weise“, „klüglich“ neben „klug“ unterscheidet sich noch heute das Adverb vom Adjektiv – eine Unterscheidung, die unserer Sprache sonst schon seit bald zweihundert Jahren verloren gegangen ist. Aus all diesen Ursachen vermehrten sich die „lich“-Formen gewaltig, bekamen unter den Adjektivbildungen den Vorrang, drängten die entsprechenden mit „haft“ in entferntere Bedeutungen ab (zur Amts- und Umgangssprache) oder ganz zur Seite. Aber nicht weiter in solchem Darwinismus: Was an „haft“-Bildungen blieb oder neu hinzukam, ist wohl, wie im umgekehrten Sinne viele „lich“-Wörter, durch den kernigen Klang des „haft“ bestimmt, der den Begriffen Mann, Ehre, Wehr, Volk entspricht. In „volkhaft“ liegt also eine redende und erwünschte Bildung vor: sie hat den Begriff Volk als hohes Gut vor Augen. „Volklich“ hingegen setzt keinen Wert, entbehrt der Richtung und bleibt abstrakt: es entspricht nicht einer bestimmten Vorstellung, sondern einem Bedürfnis der Grammatik, nämlich dem, für den Satzbau über die Bequemlichkeit eines Eigenschaftswortes zu verfügen. Es ist also ein Zugehörigkeitswort wie „kaiserlich“ zu „Kaiser“. Man kann in Sätzen sprechen, und man kann sie bauen: im ersten Falle wirken die unbewußten Kräfte der Sprache unbehindert, im zweiten Fall werden sie vom Denken gesteuert. Wer diktiert, hebt die förderliche Unbewußtheit auf, ohne der Kraft des Denkens voll Ansatz zu gewähren. Die Folge ist, daß an Stelle des Wortflusses und des Satzbaues die Wörterkoppelung tritt: Sie bedarf vor allem des Eigenschaftswortes und der Präposition, weil diese ohne Einfluß auf die Struktur des Satzes bleiben. Sobald also viel diktiert wird, wächst das Bedürfnis nach den richtungslosen, abstrakten Zugehörigkeitswörtern, und ihm empfiehlt sich das „lich“ durch die Bequemlichkeit seiner Anfügung. Daher die Wolke von Neubildungen: baulich, sportlich, wirtschaftlich, pflanzlich und so weiter. Aber in der Richtungslosigkeit liegen Vorzug und Gefahr zugleich: Was versteckt sich in dem Ausdruck „bauliche Schwierigkeiten“, – etwas oder nichts? Man könnte also sagen, je schärfer und schmaler sich der Begriff abgrenzt, an den sich das „lich“ fügt, desto sauberer ist die Ableitung: kaiserlich, päpstlich, herrlich, sportlich. Umgekehrt, desto kunturloser: Solche Wirkung steigert sich, wenn sich das „lich“ nicht an den Stamm, sondern an eine so verallgemeinernde Endung wie „heit“ anschließt. „Einheitlich“ ist nur deshalb möglich, weil „Einheit“ häufig genug in concreto begegnet (im militärischen Sinn). „Ganzheitlich“* jedoch erscheint unerträglich: das „lich“ fügt sich an einen sehr umfassenden und oft recht unbestimmten Begriff neueren Philosophierens, und die Neubildung geht nun vollends ins Ziellose, aber Anspruchsvolle.

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 Texte aus der Frankfurter Zeitung

Wie steht es mit „völkisch“? Kein Silbenbereich gliedert sich so klar und geschlossen wie der des „-isch“. Hier sind die Gruppenbezeichnungen: badisch, bayerisch, hessisch, französisch – soviel Völker, so viel -isch; theologisch, philosophisch, juristisch, physikalisch, chemisch, lyrisch, episch, dramatisch – nicht weniger „isch“ als Fakultäten oder Disziplinen. Dort die isch-Bildungen (sie schließen nur an Hauptwörter an), die mit Heftigkeit tadeln oder loben: diebisch, lügnerisch, räuberisch, verräterisch, mörderisch, hündisch, dämonisch, höllisch und bombastisch. Die Gegenüberstellungen von weiblich und weibisch, kindlich und kindisch, bubig (schwäbisch für jugendhaft) und bübisch machen die Wirkung dieser Silbe recht anschaulich. So wie das „sch“ hinter dem dünnen, steilen i breit und ungezügelt verzischt, so geht es hier ums Maßlose oder Verbotene. Aber es können auch Grenzen des Vollkommenen überschritten werden, der scharfe Tadel wandelt sich in begeistertes Lob: himmlisch, paradiesisch, elysisch, künstlerisch, schöpferisch, heldisch, kämpferisch. Ihnen schließt sich „völkisch“ der Lautform (Umlaut) wie der Bedeutung nach passend an: wird durch „volkhaft“ auf das Volk als einen Wert hingedeutet, so zielt das „isch“ auf die Zugehörigkeit zum Volk und erhebt sie zu einer Tugend. „Völkisch“ vollzieht die Wertsetzung leidenschaftlicher als „volkhaft“. „Volkhafte Kräfte“ und „völkische Bestrebungen“ unterscheiden sich hier aber auch insofern, als dort der objektive, hier der subjektive Bezug überwiegt. Beachtenswert ist in gleicher Weise die geringere Zahl wie – abgesehen von „himmlisch“ – das geringere Alter der lobenden „isch“-Wörter. Unter ihnen findet man – die Behauptung ist wohl nicht zu gewagt – die vorbildlichen Gestalten und die gültigen Tugenden der Gegenwart. “Fliegerisch“ gehört nicht zuletzt in ihre Reihe. Aber man kann nach dem Gesagten wohl von fliegerischer Haltung und Entsprechendem, nicht aber von fliegerischer Organisation sprechen. Hingegen paßt „schulisch“ nicht in diesen Kreis: „schulische Belange“ weisen weder auf Laster noch ohne weiteres auf Tugend, sie überschreiten kein Maß (die regelmäßige Form müßte übrigens „schülisch“ lauten). Auch grenzt sich die Schule gegen keine andere „-isch“-Gruppe ab, es sei denn, man bilde „volksschulisch, oberschulisch, hochschulisch“. Auch dem „gestalterisch“ muß wohl mit Vorbehalt begegnet werden: das Hauptwort „Gestalter“ wäre Voraussetzung. Aber hat es nicht damit die sonderbare Bewandtnis als mit einem Hermaphroditen zwischen Künstler und Organisator, Schöpfer und Schaffer? Das „isch“ gäbe freilich den kräftigen Ausschlag nach der einen Seite, sicherte dem Betriebsamen den Olymp und bezeugte den Umgang des Geschäftigen mit dem Höheren oder Hehren. Ist übrigens das „isch“ in malerisch, künstlerisch, dichterisch nicht von physiognomischem Werte, was gewisse Sachverhalte des neunzehnten Jahrhunderts – der Blütezeit dieser Wortbildungen – angeht? Auch „genießerisch“ trägt sein Suffix nicht umsonst, und ebenso auf dem Ausdruck wie auf die Herkunft unserer Silbe

Zwischenmenschlich. 

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wird am richtigsten mit diesen beiden Bildungen gedeutet: „wichtigtuerisch“ und „genießerisch“. Es leuchtet ein, daß dieselbe Silbe mit der gleichen Leidenschaft tadelt und lobt. Was aber hat solche Funktion und die ihr zugeordnete, sie gewissermaßen begründende Lautwirkung mit den Gruppenbezeichnungen (preußisch, philosophisch) zu tun? Geht es ihnen nicht um eine sachliche Feststellung? Man könnte sich vorstellen, daß gerade sie die älteren seien. Möglicherweise ist in dem „isch“ die alte Silbe „isk“ (in tiudisk gleich volkstümlich), ihre lateinische form „iscus“ (theotiska, francisca lingua: Deutsch, Französisch) und die lateinische Silbe „icus“ zusammengewachsen. Denn die Bezeichnungen für fremde Völker, Fakultäten und Disziplinen waren lange Zeit Bedürfnis doch wohl nur für die lateinische Schriftsprache. Die Theologen werden dann dementsprechend „himmlisch“ und „höllisch“ gebildet und zunächst nur als Zuweisung an Gruppen und Bereiche verstanden haben. Mit dieser für das Mittelalter wichtigsten Scheidung konnte sich die dringliche Wertsetzung gar leicht verbinden und später nach beiden Seiten hin verweltlicht werden. Aber genug der Vermutungen – was man von Sprachentwicklung weiß, lädt nicht eben dazu ein: Vollzieht sich das Werten nicht immer durch die Zuweisung an Gruppen? Und geht die Abtrennung von Heimischem und Fremdem so ganz ohne Leidenschaft vor sich? Daß der vordem zwar bekannte, aber noch wertfreie Partner nun zu einer Gruppe gewiesen und damit als Einzelwesen aufgehoben wird – bedeutet dies nicht immer einen pathetischen Akt? a—o.

71 Gerhard Storz [15. September 1942] Zwischenmenschlich. Wenn im Tagesschrifttum oder in Büchern vom Zusammenleben der Menschen, von ihren Beziehungen zueinander die Rede ist, wird neuerdings oft das Eigenschaftswort „zwischenmenschlich“ geschrieben. Die Bildung „zwischenstaatlich“ ist ihm vorangegangen, und sie entstand durch wörtliche, allzu wörtliche Uebersetzung des Fremdwortes „international“. Befremdet jener Neuling nur durch seine Neuheit? Kaum, denn von der Sache her läßt sich dagegen folgendes einwenden; Wenn von Beziehungen zwischen Menschen die Rede ist, dann geht der Gedanke doch eher in der Richtung des „mit“ als des „zwischen“. Auch die Feindschaft stellt ja eine Verbindung dar. Wohl wird sich in wirklichen Sätzen über das menschliche Zusammenleben immer wieder das „zwischen“ einstellen, aber wo ein Zeitwort Satzgegenstand und Aussage verbindet, bleibt das „zwischen“, was es ist, nämlich eine Präposition: es verlangt wenig Betonung durch die sprechende Stimme, vom Gedanken her ruht wenig Gewicht darauf. Das neu-

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 Texte aus der Frankfurter Zeitung

gebildete Adjektiv aber ersetzt eine solche Verbindung eines Subjekts und einer Aussage, es ersetzt also einen Satz über menschliche Gemeinschaft – das ist ja eben seine verkürzende Funktion –, und da erscheint es fast als widersinnig, daß die Betonung jenes Eigenschaftswortes das „zwischen“ zur Hauptsache macht. Auf sich gestellt, läßt diese Präposition jedoch eher an Trennung als an Verbindung denken. Daß derselbe Sachverhalt im Gebrauch von „international“ weder uns noch den Trägern anderer Sprachen bewußt wurde, lag daran, das „inter“ nur dem Römer etwas sagte, nicht aber dem Sprachgefühl des Deutschen, Franzosen, Engländers. Dieser Ueberlegung wird vielleicht mancher nur unter dem Vorbehalt zustimmen wollen, daß nun auch für das angefochtene Adjektiv ein besseres vorgeschlagen werde. Des Uebels Kern liegt aber gerade im Adjektiv, das heißt in dem Versuch, einen Gedankengang, der bald in diesem, bald in jenem Sinn auf die Beziehungen unter Menschen zielt, durch eine Art von Sigel ein für allemal verkürzen zu wollen. In der Stenographie einerseits, in der Mathematik und Logistik andererseits sind solche Zeichen berechtigt, nicht aber in der Sprache: niemals dehnt man ungestraft das Recht einer Ordnung in die andere hinüber. Einen Gedanken sorgsam auszudenken und zu Ende zu sprechen, bedeutet weder Zeitverlust noch Langeweile: es liegt am Denken, sich nicht zu wiederholen. Das Denken aber vertieft sich durch Genauigkeit, und der Ausdruck im Wort wird durch Sorgsamkeit klar und leicht. Eine sonderbare Rechnung scheint es zu sein, welche die Fanatiker der Zeitersparnis und der Vereinfachung aufmachen: Dem Leser oder dem Zuhörer liefern sie Geschwätz oder schwer verständlichen Schwulst, und für sich behalten sie die bare Zeit, in der dann freilich Gelegenheit wäre nachzuholen, was sie beim Sparen unterließen: Das genau vor das Bewußtsein zu bekommen, was sie sprechend oder schreibend nur wähnten. a—o.

72 [26. September 1942] Umbetreuungen? In dem wehrwirtschaftlichen Abschnitt*, der diesem Krieg vorausging, war es als zweckmäßig erschienen, die gewerbliche Wirtschaft unter die Betreuung zweier verschiedener Verwaltungen zu stellen, sie also in zwei Gruppen zu teilen. Die Trennung wurde auch in der Kriegswirtschaft beibehalten. Es handelt sich einmal um die Rüstungsbetriebe (R-Betriebe), die für die Wehrmacht unmittelbare „Endfertigung“ an Munition, Waffen und Gerät zu leisten haben und deshalb der militärischen Rüstungsverwaltung unterstehen, also dem Wehrwirtschafts- und Rüstungsamt, der Rüstungsinspektion und dem Rüstungskommando. Zum anderen

Umbetreuungen? 

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sind es die sogenannten W-Betriebe, auch wehrwirtschaftlich wichtige Betriebe genannt, welche die übrige Produktion betreiben und der staatlichen, das heißt der zivilen Wirtschaftsverwaltung unterstellt sind, also dem Reichswirtschaftsministerium, dem Landeswirtschaftsamt und der Industrie- und Handelskammer. Der Lauf der Kriegswirtschaft brachte es mit sich, daß manche Betriebe ihre Produktion ganz oder zum Teil auf die unmittelbare Fertigung für die Wehrmacht umstellten, daß aber auch ganze Wirtschaftszweige, die üblicherweise zum zivilen Bereich rechnen, ohne sonderlichen technischen Betreibswandel fast nur für die Wehrmacht produzieren, so große Teile der Schuh-, Textil- und Bekleidungsindustrie. Mit den Umstellungen war, besonders in der eisen- und metallverarbeitenden Industrie, oft auch ein entsprechender Wechsel in der betreuenden Verwaltung verbunden. Es hat Zeiten gegeben, wo manche Firmen darauf aus waren, aus dem Bereich der zivilen Wirtschaftsverwaltung in die militärische Rüstungsverwaltung hinüberzuwechseln, also etwa in der Unterstufe von der Industrie- und Handelskammer zum Rüstungskommando. Sie versprachen sich wohl von der Ernennung zum Rüstungsbetrieb ein größeres Ansehen und von der militärischen Rüstungsverwaltung einen stärkeren Arm in Fragen bei der Sicherung von Arbeitskräften, der Bereitstellung von Treibstoff und ähnlichem. Selbstverständlich waren aber, von oben gesehen, solche Bewegsgründe niemals maßgeblich für einen etwaigen Betreuungswechsel. Mit der Zeit sind die Unterschiede in der Art der Aufträge an R- und W-Betriebe immer geringfügiger geworden. Das trifft sogar für die Eisen- und Metallverarbeitung zu. Auf der anderen Seite sind gerade auch Industriezweige, wie etwa die Schneidwaren- und Besteckungsindustrie, die zunächst als weniger wichtig galten und infolgedessen lebhaft „ausgekämmt“ wurden, in hohem Maße kriegswichtig geworden, ohne daß eine Umbetreuung eintrat. Allgemein geht wohl die Erkenntnis dahin, daß ein Betreuungswechsel während des Krieges nicht zweckmäßig ist. Es kommt darauf an, daß alle in Frage stehenden Dienststellen eng zusammenarbeiten und daß ein Unternehmen, auch wenn es gleichzeitig für die Rüstung und für andere Zwecke arbeitet, möglichst nur mit einer Stelle zu tun hat. Obwohl der Krieg keine günstige Gelegenheit zum vollständigen Zusammenschluß von Behörden bietet, bemüht man sich sehr, aus den Leitern der Behörden Gremien zu bilden, die auch in der wichtigen Arbeit der mittleren Stufe eine gemeinsame Steuerung betreiben. Versuche dieser Art liegen auf verschiedenen Verwaltungsebenen vor. In dem Bereich des Arbeitseinsatzes haben sich die Prüfungskommissionen in den Wehrkreisen einen besonderen Namen gemacht. Sie sind beschickt von dem zuständigen Rüstungsinspekteur, dem Wehrkreisbeauftragten des Munitionsministers, dem Leiter des Landwirtschaftsamtes und dem Präsidenten des Landesarbeitsamtes, von denen meist mehrere beteiligt sind. Die Entwicklung geht offenbar auf eine umfassendere Ausgestaltung dieser Kom-

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 Texte aus der Frankfurter Zeitung

missionen. Da die Rüstungsverwaltung mit dem Rüstungsamt in der Spitze nun auch dem Munitionsministerium untergestellt ist, hat sich das Schwergewicht auf dieses Ministerium verlagert. In den Prüfungskommissionen wurden die Vorsitzenden bisher, von Wehrkreis zu Wehrkreis wechselnd, von den verschiedenen Verwaltungskategorien, hauptsächlich aber aus den Reihen der Wehrkreisbeauftragten und Rüstungsinspekteure, gestellt. Neue Organisationsformen, die inzwischen entstanden sind, wie etwa die Ausschüsse und Ringe des Munitionsministeriums, sind zwar durchaus nicht als neue Behörden gedacht, bei ihnen ist aber doch auch die Zweckmäßigkeit einer Vertretung in regionalen Gremien der Mittelstufe anzuerkennen. Das letzte Jahr hat dann eine besondere Betonung der wirtschaftlichen Eigenverwaltung (im regionalen Gebiet bei den Gauwirtschaftskammern) und außerdem des Einflusses der Parteistellen gebracht, so der Gauwirtschaftsberater. Wenn alle diese Kräfte und Stellen in Gremien zusammengefaßt werden, die eine verständige Zusammenarbeit mit den Reichsverteidigungskommissaren finden, wenn dazu Verwaltungsbezirke geformt werden, die Ueberschneidungen möglichst vermeiden, dann kann die Trennung in der Behördenorganisation im Arbeitseffekt weitgehend überwunden werden. Die Zusammenarbeit in der Zentrale ist selbstverständliche Voraussetzung dafür. Mit solcher Zusammenfassung zu einheitlicher regionaler Steuerung ist dann auch am ehesten eine exakte Arbeitsteilung zu erreichen, die Doppelarbeit vermeidet, das heißt eine genaue Verteilung der Arbeiten an den Rüstungsinspekteur, den Wehrkreisbeauftragten, die regional zusammengefaßten Ringe und Ausschüsse, die Landwirtschaftsämter und die Landesarbeitsämter. Insgesamt handelt es sích um eine Dezentralisation, die bei der steigenden Intensität der Verwaltung und der Zunahme des zu verwaltenden Raumes beinahe in der Luft liegt. Natürlich bedeuten zusammenfassende Gremien wie Prüfungskommissionen oder allgemeine Rüstungskommissionen nur eine innere Verwaltungskoppelung, sie sind keine Instanz, an die sich eine Firma im einzelnen Falle wenden könnte. Wenn das einzelne Unternehmen aber das Gefühl hat, daß nicht allzu weit von ihm, nicht erst in Berlin, ein Ausgleich zwischen den verschiedenen Verwaltungskompetenzen möglich ist, dann wird es ein erhöhtes Gefühl der Sicherheit bekommen, so daß Gedanken an eine Umbetreuung gar nicht erst aufkommen werden.

73 Heddy Neumeister [20. Oktober 1942] Leistung. Das Wort „Leistung“ hat sich in den letzten Jahren stark ausgebreitet. Abgesehen von den Fällen, wo dieser eigentümlich umfassende – nämlich geistige und körperliche Fähigkeiten umfassende, zugleich qualifizierende und quanti-

Leistung. 

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fizierende, statische und dynamische Elemente vereinigende – Begriff ganz an seinem Platze ist, etwa bei den Leistungen der Soldaten, hat man ihn doch auch für vielerlei Dinge und Vorgänge geringerer oder anderer Bedeutung gebraucht, so daß bisweilen eine gewisse Entwertung des Wortes befürchtet werden kann. So ist der alte „Akkordlohn“ (mit allen seinen Vorzügen und Nachteilen) vielfach umbenannt worden in „Leistungslohn“, womit eine bestimmte, genau umrissene Sache, nämlich die Bezahlung nach der Quantität, leicht einen etwas zu allgemeinen Charakter bekommt. Auch die „Leistungssteigerung“ in der Industrie bedeutet vielfach nichts anderes als einfach Rationalisierung, und so ist auch hier ein allgemeiner Oberbegriff an die Stelle eines bestimmten Sachbegriffes gesetzt worden. Die Entwicklung wird dadurch noch komplizierter, daß dem Wort „Leistung“ nicht nur, wie noch im wesentlichen vor etwa einem Jahrzehnt, eine entschieden materielle Bedeutung innewohnt, sondern daß zugleich gerade seine neue außerordentliche Verbreitung einem Element der Gesinnung zuzuschreiben ist. Von daher betrachtet, sind Leistungslohn und Leistungssteigerung in der Tat etwas ganz anderes als Akkordlohn und Rationalisierung vordem, obgleich die Materie jeweils dieselbe geblieben ist. Von dieser Ausweitung und breiten Verwendung des Wortes Leistung geht eine bemerkenswerte Untersuchung aus, die Dr. Adolf Weizsäcker* vom „Deutschen Institut für Psychologische Forschung und Psychotherapie“ in der Zeitschrift „Arbeit und Betrieb“ veröffentlicht. In einer philologischen Untersuchung mit dem Titel „Der ursprüngliche Sinn der Leistung“ sucht der Verfasser den Weg zurückzufinden von dem trotz dem Gesinnungselement immer noch wesentlich materiell bestimmten Leistungsbegriff zu dem alten, deutschen Sinn des Wortes „Leistung“. Seit etwa hundertfünfzig Jahren hat, so sagt Weizsäcker, das Wort „Leistung“ eine Neubelebung erfahren: die Verbindungslinie zum Beginn des sogenannten kapitalistischen Zeitalters ist leicht gezogen. Vorher, im Mittelalter, war der Begriff erstarrt. Das „Leisten“ gehörte wesentlich der Rechtssprache an und hatte den (auch heute noch neben dem gewissermaßen dynamischen, neuen Inhalt gültigen) gleichsam statischen Sinn: einer rechtlichen Verpflichtung nachkommen. Ganz anders fungiert aber das Wort „Leistung“, das vor diesem juristischen Begriff liegt, aus der dieser freilich wohl hervorgegangen ist – nämlich als: „ein Weihewort der kultischen Magie, der Volks- und Handwerksweisheit und der heiligen Sippen- und Gefolgschaftsordnung im Germanentum“. Jenes juristische „Nachkommen“ bedeute – so wird dargelegt – ursprünglich im wörtlichen Sinne: Nachfolgen, Nachgehen mit eigenen Füßen; im Gotischen aber bedeute „laists“: Fuß, Fußbekleidung, Fußspur. Ein tiefer Zusammenhang des modernen Wortes mit den in der germanischen Frühgeschichte wirkenden sozialen Formen der persönlichen Nachfolge – zwischen Führer und Gefolgschaft, zwischen Ahnen und Nachkommen – ist damit angedeutet. „Dieser großen altgültigen Schau des Men-

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 Texte aus der Frankfurter Zeitung

schendaseins verdankt das Wort ‘Leisten’ seine Würde: sich wissend einreihen in diesen ewigen Zug, als treuer Gefolgsmann, am gewesenen Ort – das heißt in Wahrheit: leisten.“ Das mit „Leisten“ wurzelgleiche englische Zeitwort „to last“ („dauern“) gehört in denselben Zusammenhang, weil es sich offenbar entwickelt hat über die Sinnstufen: nachfolgen – dabeibleiben – durchhalten – dauern. Der Begriff des Leistens ist also, nach Weizsäckers Untersuchung, untrennbar mit dem Begriff eines sozialen Verbandes verknüpft; darauf weist auch eine nähere Untersuchung altdeutscher Fuß- und Schuh-Symbolik hin, die stets das SichEinfügung [sic] in eine bestimmte Form darstellt. („Leiste“ im Sinne von Rahmen gehört ebenfalls in diesen Zusammenhang.) Von hier aus tut die Untersuchung noch weitere Ausblicke in die „magische Bedeutung jeder Art von Spur, die der Mensch seiner Umwelt einprägt“. Leider läßt es die Untersuchung bei dieser Erhellung der Wortgeschichte bis in die vor-bewußten Bereiche der Sprachbildung bewenden. Ebenso interessant wäre eine Verfolgung der Entwicklungslinie von jenem Augenblick der Neubelebung vor hundertfünfzig Jahren bis in unsere Gegenwart. Damals kam eben jener Leistungsbegriff auf, den man im Unterschied zu jenem älteren, traditionalistischen vielleicht als dynamischen bezeichnen könnte; auch dieser kam (es sei an die Forschungen von Max Weber* erinnert) aus einer religiösen Wurzel, wurde aber schließlich in jener tragischen Umkehrung der protestantischen Ethik zu einem materiellen Begriff, für dessen Anwendung die physikalische „Leistung“ der Maßstab wurde. In der ersten Hälfte des neunzehnten Jahrhunderts beginnt die Verwendung des Wortes in der sportlichen und gewerblichen Reklame. Diesen eigentümlichen Doppelsinn hat das Wort noch heute. Es ist ein Verdienst der Weizsäckerschen Untersuchung, an jenen andächtigen, sich-bescheidenden, jenen qualitativen und geistigen Sinn des Wortes erinnert zu haben, der über dem beunruhigenden quantifizierenden Inhalt bisweilen vergessen worden ist. H. N.

74 Gerhard Storz [25. Oktober 1942] Der Laie und das Fachwort. Ein Verzeichnis von Neubildungen der deutschen Sprache, ausgedehnt über die letzten zehn Jahre, enthielt von den Bezeichnungen für neue Geräte und Stoffe abgesehen, vor allem Eigenschaftswörter: die meisten würden die einfachste Bildungsweise zeigen, die an ein Hauptwort angehängte Bildungssilbe „lich“. Die nachdenkliche Durchsicht eines solchen Verzeichnisses müßte freilich die Freude über die sprachschöpferische Kraft der Zeitgenossen etwas dämpfen. Denn dort wäre unter mancherlei Befremdlichkeiten zu lesen: betrieblich, bodlich, farblich, kundlich, luftlich, städtebaulich – das heißt, je nachdem der Landwirt vom



Der Laie und das Fachwort. 

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Boden, der Kaufmann von seinem Betrieb, kurz, wann immer der Fachmann in irgendeinem Zusammenhang von seinen Sachen spricht, dann liebt er, sie auf die gezeigte Weise in ein Adjektiv umzusetzen. Darf er denn das nicht? Spricht etwa die Grammatik dagegen? Oder ist vielleicht der Zwang von Sache und Praxis hier stärker als das Sprachgesetz? Sind denn „wörtlich“, „handlich“, „wohnlich“ nicht gute deutsche Wörter? Freilich wird man nicht übersehen dürfen, daß „wörtlich“ nicht so viel ist wie „alles, was mit dem Wort zu tun hat“, daß „handliche Arbeit“ und „Handarbeit“ recht verschiedene Dinge sind, daß „wohnlich“ sich keineswegs mit „bewohnbar“ deckt. Das soll heißen: Mit dem bloßen Anhängen des „lich“ an ein Hauptwort ist es nicht getan. Vor allem sollte bedacht werden, welche Richtung dem Hauptwort innewohnt, aus dem ein neues Eigenschaftswort gebildete werden soll: eine subjektiv-aktive (zum Beispiel dem „Wohnen“ in „wohnlich“ oder eine objektiv-passive (zum Beispiel dem „Wort“ in „wörtlich“). Erst die Verbindung mit einem derart zielenden Sinn – es gibt deren noch andere – verleiht dem Eigenschaftswort Bestimmtheit und Grenze, und sie bedeuten doch gerade für Wörter des Fachgebrauchs besonders viel: nur die neue Bedeutung oder die größere Schärfe rechtfertigen eine Neubildung. Die Liebhaber von „bodlich“, „betrieblich“ und ähnlichem werden vielleicht auf gültige Bildungen verweisen, die durch allgemeine Reichweite und ziemliche Richtungslosigkeit gekennzeichnet sind (menschlich, männlich, weiblich), und gerade darin einen Vorzug erblicken: Solche Eigenschaftswörter passen immer, in welcher Hinsicht nun auch vom Betrieb, vom Boden und so weiter die Rede ist. Außerdem werden sie die zeitsparende Handlichkeit ihrer Schöpfung ins Feld führen, wenn sie sich nicht gar jeder Verteidigung begeben mit dem Bemerken, es handele sich hierbei eben um fachliche Dinge und um das dem Fachmann unentbehrliche Rüstzeug. Immerhin wird die Frage erlaubt sein, ob solche Universalität ein wirklicher Vorzug sei, und ob sich die Praxis solcher Kürze nicht immer wieder einmal in die Länge verwandle von der Art, wie sie Mephisto* im Auge hat: „...wo Begriffe fehlen, da stellt ein Wort zu rechter Zeit sich ein.“ Ferner, ob sich der Laie übernehme, wenn er sich anheischig macht, mit einer Wendung, worin „Betrieb“ oder „Boden“ vorkommt, ebenso kurz und viel simpler zu sagen, was mit „betrieblich“ und „bodlich“ gemeint ist. Damit sind wir aber zum Kern der Sache gekommen, der nicht eigentlich gemütlicher Art ist. Die meisten und – man darf wohl sagen – die besonders befremdenden Neubildungen stellen sich als Fachwörter praktischer Berufe dar. So unscharf sie sind, so ziehen sie doch eine Grenze sehr genau: Der Betrieb, der Boden, das Bauen, die Farbe soll von der Sache, die sich der Laie unter diesen Wörtern vorstellt, als Erfahrungs- und Forschungsgebiet des Kundigen nachdrücklich unterschieden werden. Der Laie hat freilich eine durchaus zutreffende Vorstellung: Es ist wirklich die Rede vom Boden, aus dem das Korn wächst, vom

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 Texte aus der Frankfurter Zeitung

Betrieb, in dem gearbeitet und verwaltet wird, von der Farbe, mit der man malt. Aber gerade dieses Mitwissen des „bloßen“ Laien ist anscheinend manchen Fachleuten unangenehm; ihr Fach erscheint ihnen bei solcher Teilhabe als zu leicht, zu wenig gelehrt und geehrt, kurz – eben als zu wenig Fach. Seit mehr als einem Menschenalter wächst unter Wissenden und Weisen die Klage darüber, daß sich jede Wissenschaft teils durch die verwickelte Beschaffenheit ihres Gegenstandes, teils durch die Mannigfaltigkeit der Gesichtspunkte und Erkenntniswege in immer weitere Teilgebiete aufspalte. Viele Forscher sehen die Möglichkeit bedroht, der wissenschaftlichen Welt ihre Ergebnisse noch zugänglich zu machen. Kann doch etwa der Physiker von gewissen Erkenntnissen nur in Bild und Gleichnis reden. Es besteht also wahrlich keine Gefahr, daß sich die Grenze zwischen Kundigen und Laien verwischen könnte, die Notwendigkeit für das genau zielende und berechtigte Fachwort nimmt leider durchaus nicht ab. Wozu aber geheimnisvoll tun, wo kein Geheimnis ist? Wenn die Freunde des unscharfen, aber bedeutsamen Fachwortes darüber traurig sein sollten, so darf man ihnen vielleicht zur Aufmunterung Namen wie Goethe, Jacob und Wilhelm Grimm, Jakob Burckhardt, Viktor Hehn ins Gedächtnis rufen. Sie schrieben über recht verwickelte Gegenstände fachwissenschaftliche Werke, deren Wert von späterer Berichtigung in der Sprache unangefochten bleibt. Sie schrieben sie, ohne die Sprache ihrer Zeit um Neubildungen zu bemühen, jedermann konnte sie und kann sie lesen, und deshalb wurden sie klassisch. a—o.

75 Dolf Sternberger [1. Dezember 1942] „Brot kosten Geld.“ Keine Arbeit kann völlig stumm vonstatten gehen (diejenige des – erfundenen – Robinson ausgenommen). Man arbeitet nicht allein, zumal in einer Fabrik, und also muß man sich untereinander verständigen. Gebärden genügen dazu nicht in solcher Umwelt, also sprechen wir, denn darum ist uns Sprache verliehen. Wir haben aber nicht nur eine einzige Menschensprache, sondern viele Völkersprachen – seit dem legendären babylonischen Turmbau, welcher übrigens auch ein großes Arbeitsvorhaben war. Die vielen Ausländer, die heute in Deutschland arbeiten, müssen Deutsch lernen, damit man sich mit ihnen bei der Arbeit und für die Arbeit verständigen kann. Das ist gegenwärtig der erste und nächste Sinn einer Verständigung zwischen den europäischen Völkern. Die Aufgabe ist nicht so einfach, wie es zunächst scheinen mag. Ein regelrechter Unterricht in der deutschen Sprache, der den Fremden einführte in ihren Satzbau und in ihre Grammatik, welche ja zum Satzbau (und wir sprechen in Sätzen, nicht oder selten in bloßen Wörtern) unerläßlich ist, also in die Natur



„Brot kosten Geld.“ 

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dieser Sprache und in den Geist, der darin waltet oder walten kann – ein solcher Unterricht brauchte lange Zeit, Monate und Jahre. Die Arbeit muß aber sogleich aufgenommen werden und wird auch sogleich aufgenommen. Bei der Zusammensetzung vieler industrieller Belegschaften wird man mit Dolmetschern kaum auszukommen hoffen können. Man will andrerseits auch vielfach auch nicht abwarten, bis sich die Verständigung von selbst einstellt – in der Art, wie das auf dem Lande etwa zwischen den deutschen Bauern und den Kriegsgefangenen zugeht (mit „nix kompri“ und dergleichen Brocken, in denen doch so viel wechselseitige Bemühung steckt) – man möchte Münder und Ohren ungern ganz sich selbst überlassen. In dieser Lage hat man in einem süddeutschen Werk, das ebenfalls zahlreiche Arbeiter verschiedener Nationalität und Sprache beschäftigt, den Entschluß gefaßt, dennoch zu unterrichten: aber nicht eigentlich die deutsche Sprache zu lehren, sondern bloß deutsche Wörter, fürs erste ein paar Hauptwörter, aber ohne Artikel und Geschlecht und ohne jede Beugung: ein paar Verben, aber nur die nackten Infinitive ohne jede Konjugation; ein paar Eigenschaftswörter, ein paar Pronomina und die Zahlwörter. Gewissermaßen eine Serie von ausgesuchten sprachlichen Bauklötzchen, die sich auf manche Weise nicht zu eigentlichen Gebäuden, aber zu rohen Notbrückchen zusammensetzen lassen. Fünfzig Wörter (die Zahlwörter ungerechnet), jedes in einer eignen kleinen Lektion samt der Uebersetzung in fetten Blockbuchstaben vorgeführt, dazu jeweils eine phonetische Wiedergabe, die der betreffenden fremdsprachlichen Rechtschreibung angepaßt ist (Beispiel: „camp“ – „Lager“ – „lâguér“), machen diese erste und eiserne Ration eines Wortschatzes aus. Liest man diesen ersten Teil der Ausländer-Fibel, die das Werk für seinen Gebrauch gedruckt hat, so tritt die Welt dieser Industriarbeiter, die Arbeitswelt sehr drastisch vors Bewußtsein – der Eindruck gleicht einem Bild in rauher Holzschnitt-Technik. Fabrik, Lager, Werkzeug, Brot, Geld: das sind die Haupt-Wörter (im doppelten Sinn). Machen und gehen, essen und arbeiten, brauchen und kriegen, haben und bezahlen, wollen und müssen: das sind die nötigsten Tätigkeitswörter, die hier aufgeführt sind (sie sind schon beinahe vollzählig), und es sind in der Tat auch die wichtigsten Tätigkeiten solchen Arbeitslebens. Dazu kommt noch das „ich“ und „du“, „groß“ und „klein“, „wo“ und „wieviel“, „bitte“ und „sofort“ – und das erste Vokabular ist fast schon beieinander. Nicht zu vergessen allerdings das Universalwort „kaputt“, das so viele Bedeutungen annehmen oder ersetzen kann und das wir aus dem Jargon der Kriegsgefangenen seit langem kennen. Es steht in dieser Fibel für vier französische Wörter, und man kann „Sätze“ damit bilden wie „Werkzeug kaputt“, aber auch „Brot kaputt“. „Lernen Sie diese Wörter gründlich, und Sie werden imstande sein, sich in Deutschland verständlich zu machen!“ – so steht über dem zusammenfassenden Wörterverzeichnis. Das Heft, das noch ein umfänglicheres

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Bildwörterbuch mit sehr prägnanten Zeichnungen, also einen orbis pictus der nötigsten Dinge und ihrer Namen enthält, soll mit seinen 56 Seiten nicht nur zum Selbststudium, sondern eben auch zu einem sehr einfachen Unterricht – Vorlesen und Nachsprechen im Chor und einzeln – dienen, und man veranschlagt für jenen ersten Grundstock der fünfzig Wörter und ihrer Kombinationen eine Lernzeit von ungefähr zwölfmal zwanzig bis dreißig Minuten. Es sind Ingenieure, die diese Methode „entwickelt“ haben, freilich unter Mitwirkung von Philologen. Sie fassen sie gleichsam als ein RationalisierungsErgebnis auf: es werden Zeit, Kraft und Lehrpersonal gespart. Der Versuch ist höchst interessant, aber man muß sich darüber im klaren sein, daß hier nicht eigentlich Sprechen, sondern Radebrechen gelehrt wird. Es sind starke Gesten und Akzente nötig, den „Brocken“ denjenigen Sinn zu geben, der in der Sprache durch Beugung und Bildung gelenkig erreicht wird. Aber auch Notbrücken oder rohe Floße erscheinen zweckdienlich, wenn man eilig über den Strom gelangen muß. d. st.

76 Dolf Sternberger [6. Dezember 1942] Moralische Tests. Die Aufgabe eines praktischen Psychologen, wo immer er tätig sein mag, wird – wenn er nicht zugleich Arzt ist – im allgemeinen darin gesehen, daß er die Menschen, die ihm vor Augen kommen, entweder nach ihrer Eignung für bestimmte Zwecke oder auch schlechthin nach ihrer seelischen Konstitution und nach ihren Anlagen zu prüfen habe. So gibt er Gutachten über Menschen ab, beim Arbeitsamt, in Betrieben oder auch in der Fürsorge. „Dr. A., Fachpsychologe“, steht an der Tür im Fürsorgeamt, und hinter dieser Tür macht sich Dr. A. jeweils in der Sprechstunde ein Bild von der Geistes- und Wesensart der jugendlichen Menschen, für die aus irgendeinem Grunde von diesen öffentlichen Instanzen gesorgt werden muß. Unter anderem auch „prüft“ er auch die moralischen Vorstellungen des Knaben , der – eher zart und durchaus willig – neben ihm am Tische sitzt. Zum Beispiel legt er ihm zwei Bilder vor, die, sehr handgreiflich und starkfarbig nach Bilderbuchmanier folgende Szenen zeigen: auf dem einen sieht man einen Tisch mit Tischdecke, darauf ein umgeworfenes Tintenfaß, in der Stube einen bösen Buben und ein harmloses Mädchen; wie der dazugehörige Text mitteilt, hat es der Bub verbrochen, aber er antwortet auf die Frage der Mutter, wer’s gewesen sei: „Die Grete“. Auf dem andern Bild handelt es sich um eine eingeworfene Fensterscheibe, und hier antwortet der Uebeltäter auf die gleiche Frage: „Ich weiß es nicht“. Zwei Lügen also. Welche ist schlimmer?



Moralische Tests. 

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„Die mit dem Tintenfaß,“ sagt der kleine Prüfling nach kurzem Besinnen, und damit hat er sicher recht. Aber weiter – „Warum?“ fragt Dr. A., und jetzt kommt die Ueberraschung. „Weil man die Tinte nicht mehr herausbringt, aber die Fensterscheibe kann man ersetzen.“ Wenn man’s streng als Test nähme, so könnte der Psychologe diese Antwort nun mit kühler Miene zur Kenntnis und zu Buche nehmen, aber er läßt es doch glücklicherweise nicht dabei – in irgendeinem Sinne wäre der Prüfling sonst betrogen oder doch im Stich gelassen –, sondern er gibt ihm noch einmal, zweimal die Chance. Zuerst muß klar unterschieden werden, daß es nicht auf den Streich, sondern auf die Lüge als solche ankomme, und erst danach geht dem Kind ein Licht auf: die erste Lüge ist schlimmer, weil sie eine falsche Beschuldigung enthält. Der moralische Test hat sich derart zu einem zwar minutiösen, aber doch bedeutsamen Akt der Erziehung entwickelt, und dies ist, wie uns scheint, auch seine Rechtfertigung. Noch zwei Bilder. Auf dem einen stehlen Kinder Aepfel, und auf dem anderen reißen sie einem Schmetterling die Flügel aus. Was ist schlimmer? „Das hier, das ist Tierquälerei*, das macht man nicht, das ist genau so, als wenn man jemand die Arme ausreißt.“ (Das kommt ganz rasch, man merkt, daß diese moralische Vorschrift sicher sitzt, auch der immerhin anspruchsvolle Begriff „Tierquälerei“.) Nun kommt ein drittes Bild dazu: einer stiehlt einem schlafenden lahmen Mann seine Krücke. Was ist nun schlimmer? Der Junge besinnt sich, schaut hin und her. Endlich gibt er die politische Antwort: „Das ist jetzt gleich“ (nämlich das zweite und das dritte Exempel). Dr. A.: „Ich hab’ gemeint, der Mann wäre ein bißchen mehr wert als so ein Schmetterling?“ Der Junge: „Eigentlich ja.“ Er zögert und betrachtet noch einmal das Bild des lahmen Alten. Dann bringt er dies vor: „Der Mann kann nicht mehr so viel arbeiten …“ – aber er fällt sich sogleich wieder in die eigene Rede und bessert: „aber er ist genau so ein Mensch wie ein anderer.“ In Summa: „Man kann’s schlecht sagen.“ Wieder entsteht der Moment, wo man den Jungen nicht allein lassen, nicht nur begutachten, sondern doch gleich erziehen, wo man, heißt das, das Rechte aus ihm herausziehen möchte. Der Prüfer tut es und bringt ihn durch allerlei Beispiele schließlich zu der allgemeinen Einsicht, daß der Mensch „mehr wert“ sei als ein Schmetterling, oder sonst ein Tier. Nun aber geht es wieder auf die Gründe. Warum? „Weil er mehr arbeiten kann, er versteht Handwerke. Er kann auch schreiben.“ (Zum bequemeren Vergleich hat man ihm eine Kuh als Beispiel ins Gedächt-

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nis gerufen.) Man sieht, das ist ein kleiner Pragmatist. So auch bei der Antwort auf die weitere Frage: „Was fehlt der Kuh, was der Mensch hat?“ „Die Hände.“ (Das ist eine gute Antwort, die einem Anthropologen Ehre machte, aber sie genügt hier nicht.) So geht die Wechselrede lange weiter: Die Kuh hat kein Gedächtnis, kann nicht rechnen, auch nicht sprechen, und endlich kommt es: sie kann überhaupt nicht denken. Das also zeichnet den Menschen von dem Tier aus. (Animal rationale.) Der moralische Test hat sich fast zu einem kleinen sokratischen Dialog entwickelt, und in dieser Sitzung im Fürsorgeamt ist die elementarste und die höchste Frage der Moral und der Philosophie erörtert worden. Das Elementarste ist das Höchste. d. st.

77 Gerhard Storz [10. Dezember 1942] Ein neues Wort. Zwar gibt es Neubildungen genug, von denen bei der ersten Begegnung sogar das Auge stutzt, aber nicht von ihnen, sondern von der Erkenntnis soll die Rede sein, daß manchmal ein ganz geläufiges Wort sich anschickt, seine Atmosphäre zu ändern. Wörter haben ja, wie vor kurzem hier bemerkt wurde, nicht nur ihre „Bedeutung“, die nach Begriff und Sache abgegrenzt werden kann, sondern auch ihren Klang, ihre rhythmische Figur, ihre Reizwirkung auf die Phantasie, und diese Eigentümlichkeiten eines Wortes lassen sich eher, wie es im Kochbuch heißt, abschmecken als definieren. Ist zum Beispiel „Griff“ und „Zugriff“ dasselbe? Von der Grammatik her wäre nur der Unterschied zu entdecken, daß die zusammengesetzte Bildung ausschließlich aktiven Sinn (von Zugreifen) hat, während dem Griff daneben noch eine passiv-zuständliche Bedeutung eigen ist (Griff des Degens). Einer Verwechslung jedoch zwischen aktivem und passivem Verstand des Wortes beugt der Satzzusammenhang vor. Wenn aber heute vom Räuber die Rede ist, der nach der Brieftasche seines Opfers greift, vom Eindringling, der fremdes Land an sich reißt, von der Polizei, die kühn ein Verbrechernest aushebt, – dann lesen wir nie vom Griff, sondern vom Zugriff. Die Vorsilbe „Zu“ scheint in diesem Falle dem Wort weniger eine neue Bedeutung zu verleihen als es mit größerer Heftigkeit zu laden. Hinter „Zugriff“ flackert Verwegenheit, Schnelle, Wagemut – oder Ruchlosigkeit. So wenig sich einsehen läßt, weshalb solche Wirkung gerade von jener Vorsilbe ausgeht, so deutlich ist sie, und andere Beispiele für Dramatisierung, die durch Vorsilben erzeugt wird, fehlen nicht: „durchführen“ erscheint heftiger als „ausführen“, „abschießen“ schlimmer als „schießen“ und „erschießen“ (daß „abschießen“ aus der Jägersprache stammt,



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entkräftet das Beispiel keineswegs). Die Vorliebe freilich, deren sich der „Zugriff“ heute gegenüber dem „Griff“ erfreut, macht es nicht leicht, sinnvollen Neugebrauch der angedeuteten Art von gedankenloser Nachahmung zu unterscheiden. Nicht immer und überall, wo gegriffen wird, bedarf es der pathetischen Steigerung. Wenn im Verlangen nach dem Heftigen und Dramatischen ein Zug der heutigen Denk- und Lebensart sichtbar wird – daher eben jene Neubildungen –, so wird gerade ein solches Menschentum die Verzerrung ins Lächerliche, wohin es bekanntlich vom Pathetischen nicht weit ist, sich verbitten müssen. a—o.

78 Dolf Sternberger [25. Dezember 1942] Über die Nachahmung. Von Dolf Sternberger

Beim Exzerpieren eines lateinischen Folianten aus dem siebzehnten Jahrhundert bemerkte ich eines Sommer-Nachmittags plötzlich, daß mir unversehens ein neuer Buchstabe in meine eigene Handschrift geraten war. Es war ein langes „∫“ und es fiel mir allerdings sogleich auf, als mein Blick wieder vom Buche zum Heft herüberglitt, um die Hand beim Schreiben des nächstfolgenden Satzes oder Wortes zu lenken und zu bewachen. Es fiel mir auf, denn bis dahin hatte ich immer nur kurze runde „s“ geschrieben. Es ist schwer auseinanderzusetzen, was alles in diesem Augenblick beschlossen war, da ich dem Neuling mit wachem Bewußtsein begegnete. Keineswegs ein Sturm von Gefühlen, aber die stillen Veränderungen sind ja viel schwerer ans Licht zu bringen als die stürmischen. Es war kein Zweifel, daß das neue Zeichen mir gefiel – das ist ein schwaches Wort: – daß es mir wohltat, und zwar nicht nur des Anblicks wegen, nicht nur als Bild einer schönen, schlanken, zugleich einfachen und in sich vollendeten Gestalt ohne Schnörkel und ohne Stachel und Härten, ohne Beiwerk überhaupt (wodurch es das kleine runde „s“ mit seiner Gedrungenheit, die sich dem Federzug so häufig widersetzt, ersichtlich in den Schatten stellte), sondern daß ich auch an den kaum beendigten Schriftzug selber, den sinnlichen Vorgang seiner Erzeugung eine durchaus angenehme Erinnerung bewahrte. Obwohl ich diesen Vollzug nicht bemerkt hatte. Aber war denn das überhaupt möglich? Zwar geht das Schreiben gewiß überwiegend automatisch vor sich, aber ebenso gewiß doch nur insoweit, als wir die gewohnten Zeichen aufs Papier setzen, die wir eben „auswendig“ können. Der Neue hatte sich eingeschlichen, aber doch unmöglich ohne mein Zutun. Gerade daß er mir so angenehm war, bewies ja, wenn auch nach­­träglich, mein Zutun: ich hatte ihn gewollt, das konnte ich mir nicht verhehlen, – gewollt, ohne es selber zu merken. Augenscheinlich hatte ich mir selber ein Schnippchen geschlagen. Wie er nun auf dem Papier stand, war er aber nicht

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 Texte aus der Frankfurter Zeitung

bloß angenehm, sondern im gleichen Atemzug auch höchst fatal. Denn er war nachgeahmt. Es war dasselbe lange „∫“, das der Kursivdruck der Vorlage zeigte, und die vergleichsweise träumerische Tätigkeit des Abschreibens, wobei der Blick fortwährend, aber ruhevoll hin und her wandert, mochte die Verführung begünstigt haben, deren sichtbare Frucht mich nun beschämte. Was für eine Schwäche, einem Eindruck, einer Impression, einem momentanen Augenreiz, gar einem unbewußten, sofort nachzugeben bis zu dem Punkte, daß ich einen langgewohnten, durch viele Jahre geübten Schriftzug im Nu fahren ließ und durch einen neuen ersetzte – bloß weil er mir gefiel! Was für eine Unselbständigkeit! Dieses kleine gedrungene, manchmal etwas knorpelige runde „s“ war doch einmal das meinige. Mußte ich ihm nicht die Treue wahren? Ihm? – nein: mir selbst hätte ich sie wahren müssen (denn nun war es ja schon geschehen, der Verrat begangen und perfekt). Wahrhaftig, was bleibt noch viel von mir übrig, wenn ich meine Schrift als etwas mir Äußerliches, Beliebiges und Vertauschbares auffasse, wenn ich sie ablege und verstoße, wenn ich sie nicht verantworte? (Das Wort ist freilich ein wenig hart oder ethisch anspruchsvoll, es zeigt gleichsam zuviel stirnrunzelnde Anstrengung – man müßte ein geschmeidigeres finden, das jenem doch an Bestimmtheit nichts nachgäbe.) Heißt nicht „Schrift­zug“ im Griechischen „Charakter“? und hat der Charakter nicht sein Wesen in der Schrift; oder ist er nicht selber Schrift? Ich hätte das kleine runde „s“ mitsamt seiner Knorplichkeit selbstverständlich nicht aufgegeben, nicht verlassen dürfen – das eben wäre Charakter gewesen. (Spricht man doch sogar vom „knorrigen“ Charakter – warum also sollte er nicht ein klein wenig knorplig sein?: einem Cha­rak­ter kommt Schönheit nicht wesentlich zu, sein ästhe­tischer Man­gel ist seine moralische Signatur.) Ich bin charakterlos ge­we­sen, indem ich so leichtherzig, leichtsinnig und leicht sinnlich nach­ahmte. Derart verband sich dem Wohlgefallen das Gefühl der Reue, und es war mir, als müßte ich von dem schönen langen „∫“ sogleich wieder Abschied nehmen. Auch schien es mir, wie es da auf dem Papier stand, ein unverwischbares Zeichen der Eitel­keit zu sein: dies war ja nicht die unschuldige Nachahmung derer, die den Autoritäten folgen, weil sie sich selbst in ihrer Einfalt nichts Originales zuzutrauen wagen; vielmehr eine durchaus schuldhafte Nachahmung, der ein Trieb zum Selbstgenuß innewohnte, eine Lust, es sich bei sich selbst wohl sein zu lassen, Schuldhaft erschien sie mir zumal darum, weil ihr Muster einer ganz fremden Sphäre zugehörte, einem Druck und einem alten obendrein, weil es aber nicht gehörig ist, dem unscheinbaren Anzug des Erlernten, der der allgemeinen und heutigen Gepflogenheit entspricht, einen schimmernden historischen Flicken einzusetzen. Man macht eben heute kein solches langes „∫“ mehr, und darum kommt mein Schnippchen, meine unbemerkte Treulosigkeit, meine eitle Nachahmung überdies auf eine widerrechtliche Aneignung hinaus. So etwa läßt sich die Empfindung auseinanderlegen, die mich in jenem Augenblick des



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Innehaltens kurz nach der Entdeckung des Eingeschmuggelten erfüllte, und ich tat alsbald Buße, indem ich im Weiterschreiben bei jedem abgeschriebenen „∫“ die wiederkehrende Anwandlung verscheuchte und sorglich den angestammten Charakter des kleinen runden „s“ hinsetzte, wieder einsetzte. So ging das Geschäft für eine Weile wieder seinen ruhevollen Gang. Meine Aufmerksamkeit war vollkommen von dem Text in Anspruch genommen, und auch jene Überlegungen hatten sich ja nur im Dunkel des innersten Selbstgesprächs geregt. Aber es waren nur ein paar Zeilen, in denen das kleine „s“ sein voriges und neu bestätigtes Recht behauptete – gleichsam eine Herr­schaft der hundert Tage. Dann tauchte der kaum vertriebene angenehme Neue wieder auf, beide stritten sich eine Zeitlang mit wechselndem Erfolg und einiger Verwirrung, wobei auch Versuche mit „∫ch“ und anderen Zusammensetzungen gemacht wurden, und schließlich wurde ein Friede geschlossen auf der Grundlage, daß das kleine „s“ die Position an den Wortanfängen dem schönen langen einräumte, dieses aber auf die Teilnahme an zusammengesetzten Zeichen in jedem Falle Verzicht leistete. (Es ist kaum parabolisch, wenn ich den Vorgang auf diese politische Weise beschreibe – dergleichen spielt sich in der Tat nicht viel anders ab, die Zeichen haben Existenz, ja Macht und Recht). Gleichwohl war diese Rückkehr, dieser Zwist und diese Versöhnung doch nicht ganz über meinen Kopf hinweg, sondern auch ein wenig in ihm. Was soll mir diese Askese? sagte ich mir ungefähr, nachdem ich sie für eine kleine Weile geübt hatte. Gewiß, das lange „∫“ glich, als rein ästhetisches Element, einem blinden Passagier, der mit einem Male auf Deck des sonst mora­lischen Schiffs erschienen war, aber er war gern gesehen, zudem das Schiff in Fahrt und auf See – warum ihn nicht der altgeübten Mannschaft beigesellen! Sehen wir uns doch diese anderen einmal näher an: sie waren keineswegs alle von Anfang an beieinander, sind längst nicht mehr dieselben, wie sie aus der Schule kamen, manche von diesen sind verschollen, neue sind an deren Stelle getreten und zu recht verschiedenen Zeiten. Einigen merke ich ihre verhältnismäßige Neuheit noch an – es ist noch ein kleiner, angenehmer Aufwand darin, wenn ich sie schreibe –, manche unter den ganz Alten haben sich übrigens bis zum heutigen Tage nicht vollkommen einbequemt, sperren sich zuzeiten immer noch ein wenig, und wenn ich sie alle vor mir vorüberziehen lasse, sehe ich, daß sie, buch­stäblich, aus aller Herren Ländern stammen. Denn ich habe die Buchstaben ja nicht selbst erfunden. Vielmehr sind sie im letzten Grunde allesamt nachgeahmt, sei es durch Erlernung oder durch handschriftlichen Umgang mit Freunden und Meistern, sei es auch durch Angewöhnung beim Lesen. Nichts Einzelnes davon ist mein eingebrachtes Gut, alles vielmehr Aneignung. Und was ihre moralische Qualität anbetrifft: ist nicht auch sie erst geworden, ein Schein oder Unschein des Alters und der Bewährung? Wer weiß, wie lange dieses neue „∫“ den Jugendglanz bewahren wird; eines Tages wird auch an ihm die Tüchtigkeit

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hervortreten und die Schönheit vergessen sein. Selbst die ältesten unter seinen jetzigen Gefährten danken nicht allein der Pflicht ihr Dasein, denn auf der Schule wurde uns nicht das Schreiben schlechthin, sondern das Schönschreiben gelehrt. Schon damals wurde nicht ohne Behagen nachgeahmt. Und sollte dem Erwachsenen ganz verwehrt sein, wozu das Kind ange­halten wurde? Derart zerfällt mir vor den Augen, was das Eigentümlichste zu sein schien – die Handschrift –, in lauter Nachahmung, teils anbefohlene, teils selbstgewollte, teils ab­sichts­­volle, teils unwillkürliche, aber freilich nie ganz wahllos. „Der Nachahmer ist ohne Charakter“, sagt aber Kant – in der „Anthropologie“* (einem wunderbar hellen und reichen Buche), dort allerdings, wo er vom Sittlichen spricht. Ein scharfes Wort bei aller Kühle, und es wird kaum durch die Beifügung gemildert, daß der Vernunftmensch wiederum auch nicht Sonderling sein dürfe. Ein absoluter Charakter, der so „steif“ und „halsstarrig“ wäre, von allem Anfang an überhaupt nichts anzunehmen, überhaupt nichts nachahmen zu wollen, der bliebe nicht bloß Analphabet, sondern eine leere Hülse, ein dürres Gras, eine anarchische Null. (Das ist noch keine Kritik an Kant, denn er hat weislich die „Gründung“ des Charakters nicht in den Lebensanfang, sondern erst ins vierte Jahrzehnt verlegt; überdies bezieht sich der Begriff nicht auf das Festhalten schlechthin, sondern auf das Festhalten sittlicher Prinzipien.) Der Nachahmer ist ohne Charakter, und doch lebt auch der wirkliche Charakter immerfort von der Nachahmung, ob sie ihm auch verborgen bleibt. Von einer Nachahmung, die erst allmählich original geworden ist – wenn man sich hier so paradox ausdrücken darf. Nicht nur in seiner Handschrift, nicht nur in seiner Sprache und Sprechweise, sogar in dem „Wie er sich räuspert, und wie er spuckt“*, obwohl doch diese Art Nachahmung des vorgeblich „äußeren“ Gehabens einer Autorität am tiefsten von den Charakteren oder von den auf Charakter furchtsam Versessenen verachtet wird. (Das Wort stammt aus „Wallensteins Lager“ und ist dort gleichsam der erste ferne Ausdruck von Abfall und Revolte: wo die Nachahmung auf­hört, fängt der Aufruhr an.) Über die Nachahmung der hohen Muster in der Kunst und Literatur – von der man heute fast nur den Namen vergessen hat, und auch dies nicht einmal zu unserem Vorteil – und in allen Arten von Technik will ich hier gar nicht reden. Ohne Nachahmung müßte die menschliche Gesellschaft zerfallen, gäbe es keine Geschichte und keine Überlieferung. Nach­ahmung ist menschlich, nur Nachäffung ist äffisch. Wer sich nicht zu verlieren vermag, kann sich nicht gewinnen.



Unbegrenzte Fähigkeiten? 

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79 Gerhard Storz [14. Februar 1943] Unbegrenzte Fähigkeiten? Ein Leser schickt uns die folgende sprachkritische Bemerkung, die lebhaft zu weiterem Nachdenken reizt: Die Vertauschung oder Vermischung von passivischen oder aktivischen Wendungen, von Formen des Leidens und Formen des Tuns, läßt in der Sprache zugleich eine Vertauschung oder Vermischung des wirklichen Leidens und wirklichen Tuns, des Verhaltens erkennen – denn es gibt ja keine bloßen „Sprachdummheiten“. Hierunter folgt an erster Stelle die Zuschrift des Lesers, hernach die Aeußerung unseres sprachkritischen Mitarbeiters. * „Wie man Amerika das Land der unbegrenzten Möglichkeiten genannt hat, so könnte man den Menschen vielleicht als das Tier der unbegrenzten Fähigkeiten bezeichnen. Immerhin, eine Grenze gab es da bislang noch: Man konnte in guter Sprache wohl sagen, ein Mensch sei wieder fähig zu essen, nicht aber, er sei fähig gegessen zu werden. Nicht etwa, daß grundsätzlich an der Eßbarkeit des Menschen Zweifel bestünden: diese Eignung hat der Kannibalismus zur Genüge erwiesen. Eher schon deswegen nicht, weil man das Verzehren von Menschenfleisch nicht gerade „essen“ nennt, sondern mit einem härteren Ausdruck belegt, den der höfliche Däne nicht einmal mehr bei Tieren gebraucht, – diese läßt er „essen“, während die dänischen Menschen stets „speisen“. Vor allem aber deshalb nicht, weil man unter einer Fähigkeit nur ein aktives Können versteht, nicht aber ein passives Geeignetsein. Freilich kamen immer schon einmal in Protokollen „nicht mehr genußfähige Lebensmittel“ vor, wenn gemeint war, daß die betreffenden Lebensmittel sich nicht mehr zum Genusse eigneten. Darüber ging man mit einem Lächeln hinweg oder fragte höchstens den Betreffenden privatim, ob er sich nicht etwa einen alten Herrn denken könne, der selbst noch durchaus genußfähig, für andere aber schon nicht mehr recht genießbar sei. Seit einiger Zeit handelt es sich jedoch um ein öffentliches Uebel, und es vergeht einem das Lachen, wenn man fast überall auf „gebrauchsfähig“ statt „brauchbar“ „verwendungsfähig“ statt „verwendbar“, „auswechslungsfähig“ statt „auswechselbar“ und dergleichen trifft. Man sage nicht, die Sprache sei ständig in Entwicklung, und hier handele es sich um einen Teil solcher Entwicklung. Wie überall, so gibt es auch bei der Sprache Fehlentwicklungen, die man zu verhindern suchen muß.“ *

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 Texte aus der Frankfurter Zeitung

Innerhalb des Bereiches von „Können“ will sich die Abgrenzung in Aktiv und Passiv nicht so glatt vollziehen lassen: Daß ein Mensch etwas kann, schließt neben den nach außen wirkenden Tätigkeiten doch wohl auch die Möglichkeit ein, daß er mit, an und in sich selbst etwas geschehen lassen kann: die in den antiken Sprachen bedeutsame Zwischenstufe zwischen Aktiv und Passiv, das Medium, schiebt sich hier ein. Und so bedeutet „Fähigkeit“ vielleicht nicht nur ein Können, das sich in einem Tun „aus“wirkt, sondern zudem wahrscheinlich dasselbe wie „Eignung“: Eignung sowohl dafür, einen Zustand herbeizuführen, wie dafür, in einen solchen versetzt zu werden („leidefähig“). Die Grammatik kann meines Erachtens gegen das richtig gebildete „verwendungsfähig“ nichts einwenden. Freilich daran ist nicht zu zweifeln, daß der gute Sprachgebrauch die vom Einsender deutlich gemachte Zweiteilung klar erkennen läßt: Das Bildungssuffix „fähig“ ist das aktive Gegenstück zum passivischen „bar“. Aber es darf vielleicht daran erinnert werden, daß Bildungssilben mit verschiedener, aber einander zugeordneter Funktion im Laufe der Zeit immer wieder kreuzweise – also fehlerhaft – füreinander eintreten. Das ergab sich auch bei den hier erörterten Nachsilben „lich“, „isch“ und „ig“ und „heit“ und „tum“. So ist „dienstfähig“ notwendig geworden neben dem (sozusagen fälschlich) aktiven „dienstbar“; „haftfähig“ muß das ältere „haftbar“ in einer neuen Richtung ergänzen. Dasselbe geschieht in „vernehmungsfähig“ neben älterem „vernehmbar“ und „vernehmlich“. Gleichwohl ist es bedauerlich, wenn eine halbwegs klare Unterscheidung zwischen Silbenfunktionen ohne Not verwischt wird („genußfähig“ steht wirklich zu Unrecht für „genießbar“), und der Einsender beklagt den Uebelstand zu Recht. Die Wurzel des Uebels scheint das in der (vom Leben der Sprache aus geurteilt) ungesunden Vorliebe für Hauptwörter, im substantivischen Denken zu stecken, dessen Wesen und Ergebnisse hier schon einige Male erörtert wurden: „fähig“, als ein Eigenschaftswort, muß mit dem Genitiv eines Hauptwortes zusammengesetzt werden, und auf diesem Wege entstehen schwerfällige, ein wenig gespreizte und nicht eben wohllautende Bildungen, wie die vom Einsender getroffene Gegenüberstellung. Wer sich gern des Zeitwortes bedient und also verbal, sozusagen eher bewegt als starr, denkt, der wird eher die ans Zeitwort anschließenden Bildungen mit „bar“ ergreifen und der Versuchung, den Gebrauch von „fähig“ ins Falsche zu überdehnen, eher widerstehen. a—o.



Bekochen und beschirmen. 

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80 Walter Dirks [25. August 1943] Bekochen und beschirmen. „Die Insassen des Heims werden von der Gemeindeschwester bekocht.“ „Das Wandertheater hat fünf Städte zu bespielen“. Es gibt sprachliche Entwicklungen, die sich zum mindesten für einen nicht sehr tief eindringenden Blick im reinen, vom Leben abgelösten Bereich der Sprache selbst zu vollziehen scheinen, – soweit es einen solchen Bereich überhaupt gibt. Andere Entwicklungen haben offenbar unmittelbarer mit den Wandlungen des Lebens zu tun. Sie verdienen besondere Beachtung. Spiegeln sich in ihnen Tendenzen des Lebens, so wird man annehmen dürfen, daß sie nach dem Gesetz der Wechselwirkung ins Leben hinein zurückwirken. Also wird man sie unter Kontrolle halten, sie fördern oder bekämpfen, je nachdem jene Tendenz des Lebens zu fördern oder zu bekämpfen ist. „Die Gemeindeschwester kocht für die Insassen des Heims“. „Das Wandertheater hat in fünf Städten (oder für die Einwohner von fünf Städten) zu spielen“. So etwa hätte man sich früher ausgedrückt. Der Vorgang, der aus „für jemand kochen“, „in einer Stadt spielen“ jene neueren Bildungen „jemand bekochen“, „eine Stadt bespielen“ gemacht hat, hat zunächst den Charakter einer Vereinfachung. Reichere Bildungen, in denen bestimmte inhaltlich ausgeprägte Beziehungen durch Präpositionen wie „für“ und „in“ (die Beispiele ließen sich natürlich vermehren) ausgedrückt werden, weichen einer Einheitsform: sie werden aus einem anschaulichen, differenzierten Präpositionalobjekt in das beinahe abstrakte, schematisch angewandte Akkusativ-Objekt verwandelt. Die Vorsilbe be- hat ja die Zauberkraft, alle möglichen und vielfältig gestuften Beziehungen in die jenes Objekts zu vereinfachen. Aus „ich schenke dir“ wird „ich beschenke dich“, aus „ich rate dir“ „ich berate dich“, aus „ich klebe (etwas) auf das Papier“ „ich beklebe das Papier“. Diese Einheitsform hat obendrein den Vorteil, daß sie sich leichter in das Passiv versetzen läßt als jene reicheren Bildungen. Es gibt eine Menge guter alter Verben mit be-, und es hieße das Kind mit dem Bade ausschütten, wollte man diese Bildung an sich schlecht machen. Der König belehnt seine Vasallen, der Armenvorsteher betreut seine Schützlinge, der Mächtige beschirmt den Schwachen. Das ist in Ordnung, und es ist auch nichts dagegen zu sagen, wenn neue Bildungen solcher Art entstehen, vorausgesetzt, daß sie die Sprache sinnvoll bereichern. Freilich wird man dabei die geheime Bedeutung jener Zaubersilbe be- im Auge behalten müssen. Sie macht mit ihren Einheits-Akkusativobjekten nicht viel Federlesens, sie stempelt sie sehr entschieden zu „Objekten“ auch im allgemeineren Sinne. Die Sprache unterscheidet sehr genau zwischen „jemand etwas schen-

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 Texte aus der Frankfurter Zeitung

ken“ und „jemand beschenken“, – der Dativ sichert eine persönliche Beziehung, die in diesem Akkusativ verlorengeht: man beschenkt nicht seine Braut (das tut höchstens Herr Raffke*), sondern man schenkt seiner Braut etwas: Objekt ist das Geschenk, nicht der Mensch. Wohl aber darf man zu Weihnachten seine Kinder beschenken, da geht es eben ohnehin etwas in Bausch und Bogen zu. „Jemand etwas lehren“ unterscheidet sich merklich von „Jemand belehren“. „Jemand dienen“ von „jemand bedienen“. Sieht man sich daraufhin die oben zusammengestellten guten Bildungen mit be- an, so wird man finden, daß in ihnen allen das Akkusativ-Objekt zwar Menschen bezeichnet, aber diese Menschen sind durchaus in der Rolle des Objekts: sie müssen stillhalten, wenn sie belehnt, betreut, beschirmt, belehrt werden, so wie das Papier stillhalten muß, wenn es beklebt wird. Wo das grammatische Objekt diese Be-handlung verträgt, wo es mit Fug und Recht stillzuhalten und nichts als stillzuhalten hat, da ist die Bildung mit be- in Ordnung. So behandelt der Arzt den Patienten, so beruft der König den Minister. Den Insassen des Heimes aber wäre wohler, wenn für sie gekocht würde, – welche Kraft enthält das positive Wörtchen „für“! Und die Stadt wäre mehr respektiert, wenn in ihr oder wiederum für sie Theater gespielt würde. Wer die neueren Bildungen gebraucht, hat gewiß nicht im Sinne, jene Insassen des Heimes oder jene fünf Städte zu vergewaltigen. Er steht vermutlich nur im Bann der Organisation, die ja dazu neigen muß, es mit Objekten zu tun zu haben. Aber gerade weil die Organisation eine so wichtige, eine notwendige, ja manchmal eine förmlich lebensrettende Funktion gewonnen hat, sollte man alles tun, sie so persönlich zu halten, wie es eben möglich ist. Das Bewußtsein, das sie von sich selbst hat, spiegelt sich in der Weise, wie sie von sich spricht. Nicht die Organisation, die jemand bekocht, ist die beste, sondern die, die für jemand kocht. Mag sie immerhin in der Weise der Mutter, die ihr Kind aus lauter Liebe zum bloßen Stillehalten zwingt, damit sie es mit Hilfe und Sorge überschütten könne, dann von ihren Schützlingen sagen, sie be-treue sie. dks.

 Texte aus anderen Publikationen

81 Dr. Alexander Matschoß Religion, Natur, Kultur – soll und kann man solche Hochbegriffe verdeutschen? Muttersprache 51 (1936), H. 1, Sp. 3—5. Wir Deutschen haben uns daran gewöhnt, gerade die höchsten Begriffe mit fremden Namen zu nennen. Nicht alle, aber doch einige der wichtigsten. Gott und Seele, Geist und Gemüt, Weltall und Wesen, Himmel und Hölle, Erde und Sonne, Kunst und Wissenschaft, Vernunft und Glaube, Liebe und Leben, Recht und Sitte, Freiheit, Ehre, Vaterland, Volk und Sprache sind Gott sei Dank deutsche Wörter, d.h. sie sagen auch dem einfachsten Volksgenossen etwas, heimeln ihn an und klingen ihm vertraut, während Wörter wie Religion und Moral, Natur und Kultur, Pathos und Ethos, Theater und Politik, Patriotismus und Heroismus, Sozialismus und Humanität, Energie und Charakter, Idealismus und Genie, Philosophie und Theologie, Sympathie und Humor, Renaissance und Reformation, Optimismus und Pessimismus, Nation und Dialekt usw. ihn kalt lassen, im tiefsten Grunde ihm fremd und unverständlich bleiben. Damit dürfte die Frage, ob es wünschenswert sei, solche Begriffe dem Deutschen zurückzuerobern, mit Ja entschieden sein, auch wenn Ewald Geißler in seiner schönen Vorrede zum Duden (Stilwörterbuch) gerade sie für unentbehrlich erklärt. Er schreibt wörtlich: „Die unentbehrlichen Fremdwörter: Religion und Moral, Natur, Nation, Musik, Genie, Phantasie, Politik, Humor; in wissenschaftlicher Fachsprache (aber nicht in allgemeiner Sprache) Idee, Idealismus, Theorie, Subjekt usw. Gegen diese paar hundert ereifert sich niemand, und gäbe es nur sie, so hätten wir keine Fremdwörterfrage.“ Ich bin andrer Meinung. Nur im eignen Sprachboden können alle diesen hohen Geistesgüter und Hochziele wirklich Wurzel fassen. Bleibt die Frage, ob man sie verdeutschen kann, ob Aussicht besteht, daß auch hier die Entwicklung allmählich den Abfall und Schutt fremder, toter Sprachen beiseite räumen wird, daß einmal die eisernen Klammern fallen werden, mit denen römischer Geist deutsches Seelenleben lange genug unterjocht hat. Daß es sich hier wirklich um eine Aufgabe handelt, hat ganz neuerdings Rudolf Ibel bewiesen in seinem Aufsatz „Bildgeheimnis und Wirkung der Sprache“.1

1 Zeitschrift für Deutschkunde, Heft 7, 1935.

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 Texte aus anderen Publikationen

Nach ihm richten gerade diese 20 oder 100 „Unentbehrlichen“ einen „h e i ll o s e n S p r a c h – u n d B e g r i f f s w i r r w a r r a n, d e r i n s e i n e n l e t zt e n A u s w i r k u n g e n d e n B e s t a n d e i n e s V o l k e s g e f ä h r d e, wenn nicht eine sehr ursprüngliche und lebenskräftige R a s s e d i e s e s S p u k s H e r r w e r d e“.2 Nun, die in unsrer Sprache wirkende rassische Lebenskraft hat schon an vielen Stellen und immer aufs neue den Fremdwortpanzer zu sprengen vermocht, der das blutvolle Sprachleben zu ersticken drohte. Die Geschichte des Fremdworts und der Sprachreinigung lehrt es.3 Wie ist Fichte 1808 in seiner 4. und 5. Rede an die deutsche Nation gegen die „drei berüchtigten Wörter Humanität, Popularität, Liberalität angegangen, zugleich aber gegen die welschen Wörter und – Sprachen überhaupt, denen er die ganze Höhe und Würde der deutschen als der eigentlich ursprünglichen und lebendigen Sprache gegenüberstellt! Wie hat Jahn 1810 das häßliche „Nationalität“ in Grund und Boden gestampft und dafür sein deutsches „Volkstum“ aufgepflanzt!4 Und wie hat August Winnig 1930 dem volksfremden „Proletariat“ den verdienten Fußtritt versetzt und dafür das ehrlich deutsche Wort „Arbeitertum“ zu Ehren gebracht! So gibt es noch manches Beispiel für den Sieg des deutschen Wortes: für Ideal hört und liest man immer häufiger Wunschbild, Hochziel; für Idealismus Opfermut, Aufopferungsfähigkeit; für Kultur Gesittung, Lebenshöhe u.a.m. Wie steht es aber mit den beiden höchsten Begriffen Religion und Natur? Sollen sie in alle Ewigkeit hinausschreien dürfen, daß der Germane erst von Rom her die höchste Weihe empfangen, daß ihm das Göttliche von Haus aus gefehlt habe? Ich glaube, je mehr der Deutsche zurückfindet zur artgemäßen Frömmigkeit, zu deutschem, lebensbejahendem Glaubensmut, um so mehr wird der an sich schon starre Begriff religio erstarren, um schließlich als lebensunbrauchbar abgeschüttelt zu werden. Und Natur? Es ist ja wahr, solche Worte sind uns in gewissem Sinne durch unsre größten Geister geadelt und geheiligt. Sie haben für alle Zeiten eine geschichtliche Größe. Auch haben sie sich durch unzählige Ableitungen und Zusammensetzungen 2 Von mir gesperrt. 3 Eine kurze geschichtliche Übersicht von Notker und Meister Eckhart über Zesen, Wolff, Lessing, Campe, Goethe bis zur Gegenwart mit vielen Beispielen gibt Oskar Händel, Unsere Muttersprache, 4. Aufl., 1926, S. 115 bis 122. 4 Jahn, Deutsches Volkstum, Reclam. S. 30f.



Religion, Natur, Kultur – soll und kann man solche Hochbegriffe verdeutschen? 

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in unser Sprachleben eingekrallt und eingefilzt. Aber sie sind tot, bringen die deutsche Seele nicht zum Schwingen wie Gotteswelt, Unendlichkeit, Weltall, All, Lebensstrom. „So sitz’ ich am sausenden Webstuhl der Zeit und wirke der Gottheit lebendiges Kleid“ das ist Natur auf deutsch ausgdrückt. Oder man nehme die nordische Vorstellung vom Welten- und Lebensbaum! Ist es nicht der reine Hohn, daß gerade das deutsche Volk, das Volk des Gemüts und der Seelentiefe, hier sprachliche Anleihen bei den Römern (!) machen muß, die in dieser Beziehung wie vielleicht kein zweites Volk auf Gottes Erdboden armselig und von allen guten Geistern verlassen waren! Selbst Wendungen unsrer Alltagssprache wie „ich gehe ins Freie, schlafe bei Mutter Grün“ atmen mehr wirkliche Erdverbundenheit, Weltinnigkeit und Gottesnähe als alle noch so schönen Zusammensetzungen mit Natur. Auf die Dauer läßt sich die deutsche Seele, die immer nach dem Lebendigen, Wahrhaften, Innigen strebt, nicht unterdrücken. Überschauen wir noch einmal den augenblicklichen Stand in diesem nimmer ruhenden geistigen und sprachlichen Ringen: Einige der eingedrungenen Wörter sind eingedeutscht, werden nicht mehr als fremd empfunden – Schule und Kirche, Staat und Post, Engel und Teufel, Kaiser und Papst, Bischof und Pfarrer, Bibel und Segen. Andre sind so gut wie erledigt. Wer sagt heute noch Humanität, Patriotismus, Passion, Enthusiasmus statt Menschlichkeit, Vaterlandsliebe, Leidenschaft, Begeisterung? Ähnlich steht es mit Zivilisation, Altruismus, Universum, Monotheismus und vielen andern. Das läßt uns hoffen, daß auch die dritte Gruppe der vielleicht heute noch Unentbehrlichen mehr und mehr ins Wanken geraten wird, je stärker der deutsche Sturmwind zu wehen beginnt. Keine Haft oder krampfhafte Vergewaltigung! Aber freuen wollen wir uns über jeden neuen Klang, den ein Berufener unsrer Muttersprache ablauscht, über jeden Schritt, den er dem Begriffsnebel der Fremdwörter abtrotzt. So sagt Watzlik für Mystiker Gottesgrübler, für Paradies Urgarten, für Chaos Urwirrwarr5, Karl Schneider Pflege für Kultur6, August Winnig bildet Rückgefühl für Ressentiment7 und Hitler Rückwärtse für Reaktionäre8. Das sind nur einige Beispiele, die die Richtung anzeigen. Hat der Deutsche einst wirklich seelisch und sprachlich heimgefunden, dann wird er nicht mehr 5 O Böhmen! S. 168 und 294. 6 Was ist gutes Deutsch? 1930. S. 203. 7 Vom Proletariat zum Arbeitertum, S. 54. 8 Rede in Nürnberg 6. September 1934.

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 Texte aus anderen Publikationen

begreifen, wie er sich solange mit toten Wörtern und nichtssagenden Begriffshülsen abquälen und herumschleppen konnte. So wollen wir mit der germanischen Seherin der festen Hoffnung sein: „Schläft der Deutsche gerne lange, nimmer beugt er sich dem Zwange schlummernd mag er sich wohl strecken, schläft er, wird ein Gott ihn wecken9“ Waldenburg (Schles.) Dr. Alexander Matschoß

82 V. Reytmeyer Fremdwort, Deutschheit und Schrifttumsgeschichte Muttersprache 52 (1937), H. 4, Sp. 141—143. Für jeden mit seinem sprachlichen Gewissen ausgestatteten Beurteiler eines sprachlichen Kunstwerks gilt als besonderer Maßstab selbstverständlich auch der Gebrauch von Fremdwörtern. An ihm wird sichtbar, wie tief der Verfasser sich in das Grundgesetz des deutschen Sprachlebens – Gestaltung aus arteigener Seelenhaltung – eingelebt hat und wie weit er der Forderung deutscher Sprachpflege nachgekommen ist. Wir sind uns dabei durchaus bewußt, daß bei der Gesamtwertung der Gehalt des beurteilten Werkes an erster Stelle steht, räumen doch der sprachlichen Formung keinen geringen Rang ein. Wir sehen darin, zumal nach dem Umbruch deutschen Lebens, einen bedeutsamen Ausdruck deutscher Volksgesinnung; die sehen wir jetzt, im Gegensatz zur weltbürgerlichen Zeit, ja auch wieder als edelsten Vorwurf eines Schriftwerks an. Der Einklang besten deutschen völkischen Gehalts und reiner sprachlicher Kunstform sichert erst die Zuerkennung eines Hochwerts. Leider müssen wir bei dem augenblicklichen Sprachstand gestehen, daß dieser Forderung nur eine recht kleine Zahl von Werken genügt. Wir müssen deshalb in bezug auf sprachliche Reinheit meist mehr oder minder große Zugeständnisse machen. Das fordert einerseits unser eigener Werdegang, da wir alle ja durch eine fremdwortgesegnete Ausbildung hindurchgegangen sind, anderseits aber die Tatsache, daß noch heute auch maßgebliche Leute den Gebrauch von Fremdwörtern nicht nur entschuldigen, sondern sogar fordern. Es ist zu befürchten, daß die Befürworter des Fremdworts nicht aussterben werden; dafür werden aber auch immer wieder leidenschaftliche Vorkämpfer für Sprachreinheit erstehen. Wir bedauern, daß auch Menschen bester deutscher Volksgesin9 Simrock, Drusus Tod.



Fremdwort, Deutschheit und Schrifttumsgeschichte 

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nung in der Fremdwörterei befangen bleiben, lehnen es aber entschieden ab, den Gebrauch des Fremdworts zum Maßstab vaterländischer Gesinnung zu machen. Es erscheint uns durchaus denkbar, daß ein Schriftsteller von leidenschaftlichem völkischem Wollen erfüllt ist, aber sich nicht bewußt ist, daß er mit übermäßigem Fremdwortgebrauch einem strengen Anspruch völkischer Ausdrucksform nicht entspricht; oder wir müssen auch gelten lassen, daß er sich mit dem oben genannten Grunde zu entschuldigen sucht, wenn ihm eine Ahnung seiner widervölkischen Haltung in seiner Sprachgebarung aufgeht. So können wir uns nicht damit einverstanden erklären, daß die Wissenschaft der Schrifttumsgeschichte etwa die Sprachreinheit oder den mehr oder minder großen Grad von Fremdwörterei zum Maßstab der Deutschheit eines deutschsprachigen Schreibers macht. Die vergangene Zeit mit ihrer Überfremdung durch das Judentum hat uns ja eine immer steigende Zahl jüdischer Schriftsteller und gar „Dichter“ deutscher Zunge gebracht, denen auch erst die zu klarstem Deutschbewußtsein erwachte Zeit der nationalsozialistischen Erhebung aus ihrer rassischen Grundeinstellung heraus die Zugehörigkeit zum deutschen Volke und damit die „Deutschheit“ ihrer Schriftwerke abgesprochen hat. Dabei hatte die Verkehrung des Volkstumsbegriffs die merkwürdige Tatsache gezeitigt, daß neben vielen Deutschblütigen auch ein recht rühriger Jude sich zum Hüter des Heiligtums deutscher Sprache glaubte aufwerfen zu dürfen. Es gibt von ihm eine in zahlreichen Auflagen herausgekommene und demnach weit verbreitete Deutsche Literaturgeschichte, es gibt von ihm weiterhin eine Anzahl Kampfschriften für die Reinheit der deutschen Sprache, die als solche gewiß ziemlich bedeutungsvoll sind und im Kampfe um die Reinheit unserer Sprache ihre Rolle gespielt haben. Das war früher ja durchaus möglich, als zwischen Deutschblütigen und deutsch redenden Juden kein Unterschied gemacht wurde und die große Masse des deutschen Volkes ja gar nicht einmal wußte, ob dieser oder jener Schriftsteller eigentlich ein Jude war. So konnte auch ein Eduard Engel dem blinden deutschen Volke als guter Deutsche erscheinen, zumal da er sich durch seinen Kampf für die Sprachreinheit als guter Deutsche gebärdete. Wir lehnen es heute aus unserer rassischen Haltung grundsätzlich ab, von einem deutsch redenden und deutsch schreibenden Juden über deutsche Schrifttumsgeschichte belehrt zu werden; wir gestehen ihm nicht das Recht zu, über Werke deutschblütiger Menschen zu urteilen, weil ihn letztlich die Fähigkeit abgeht, sich in deutsches Wesen in seiner Tiefe einzufühlen. Gerade Eduard Engel gibt uns dafür den beispielhaften Beweis in seiner Schrifttumsgeschichte. Seit langem schon hat Adolf Bartels in seinen Schriften, so besonders in seiner Zeitschrift „Deutsches Schrifttum“, E. Engel als Beurteiler deutscher Schrifttumswerke bekämpft. In umfassender Weise hat sich kürzlich ein jüngerer Vorkämpfer für die deutsche Erneuerung, Gerhard Baumann, aus dem Geiste

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 Texte aus anderen Publikationen

der Hitler-Jugend diese Aufgabe gesetzt in seiner Schrift „Jüdische und deutsche Literaturwissenschaft“ 10. In ihr hat Baumann nachgewiesen, daß Engel keine klare Vorstellung vom Wesen des Völkischen besitzt und deshalb in seinen Wertungen zwischen völkischer Zielsetzung und Menschheitsbildung hin und her pendelt. So kann er uns kein maßgeblicher Beurteiler deutscher Schrifttumswerke sein. Ferner hat die genannte Schrift gezeigt, daß Engel die Fremdwortfrage rein äußerlich aufgefaßt und sie somit zu Unrecht zum Maßstab der „Deutschheit“ gemacht hat. Das ist nach den obigen Ausführungen sachlich nicht gerechtfertigt, dazu ist Engel aber besonders als Jude nicht befugt. Damit fällt ein neues Licht auf seine Kampfschriften für die Reinhaltung der deutschen Sprache. Es sei dem Verfasser der genannten Streitschrift gedankt, daß er uns darüber die Augen geöffnet hat. Wir fühlen uns mit ihm auch dem greisen Vorkämpfer „deutscher“ Schrifttumswissenschaft zu Dank verpflichtet, der sich lange Zeit als einziger für die Alleingeltung rassisch begründeter Volkstumswerte im deutschen Schrifttum eingesetzt hat. Allerdings können wir dabei ein leises Bedauern nicht unterdrücken: gerade aus rassischer Einstellung missfällt uns seine leider ziemlich weitgehende Fremdwörtelei. Wir lehnen die hierfür gegebene Begründung – in Übereinstimmung mit den bedeutendsten lebenden deutschen Rasseforschern – ab. Wir hoffen aber von der Zukunft, daß unsere ja noch in den Anfängen stehende völkische Schrifttumsgeschichtswissenschaft sich den Standpunkt bester Sprachpflege auch im Sinne größter Reinhaltung unserer Sprache zu eigen macht und damit bei der Wertung der Sprachform in steigendem Maße der Forderung größtmöglicher Sprachreinheit Gewicht verleiht. Denn wir meinen, daß einem tief deutsch fühlenden Schriftsteller ein Zug zum allumfassenden Ausdruck deutscher Volksart fehlt, er sich nicht enschieden zum Gebrauch bestgepflegter, also auch möglichst reiner deutscher Sprache bekennt. Berlin-Charlottenburg 4 V. Rehtmeyer

10 Gerhard Baumann, Jüdische und völkische Literaturwissenschaft. Verlag Franz Eher Nachf., München 1936. 117 S. 1,20 RM.

Gerhard Storz. Laienbrevier über den Umgang mit der Sprache. 

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83 Dr. Heinz Sacher Gerhard Storz. Laienbrevier über den Umgang mit der Sprache. Societäts-Verlag, Frankfurt am Main, 137 Seiten, Leinen, 2,80 RM. Muttersprache 52 (1937), H. 6, Sp. 251—252. Der Verfasser hebt (S. 19) hervor, daß sich sein Buch an Laien wende und „einem Laien aus der Beschäftigung mit der Sprache erwachsen“ sei. In Wahrheit wird dem Laien in dem Büchlein kein Dienst getan. Storz ist nicht daran gelegen, den Leser wohlwollend und einfühlend zu unterweisen. Dem, der in das Wesen der Muttersprache eindringen will, empfiehlt er das Erlernen der alten Sprachen, und er schmückt beispielgebend seine Darstellungen mit lateinischen und französischen Schönheitspflästerchen. Was hat der Laie von dem französischen Dichter Paul Claudel? Storz erzählt im nachlässigen Plauderton, der oft das Sprachgefühl verletzt, reißt den gesponnenen Faden häufig ab, weil ihm gerade etwas anderes in den Sinn kommt, und spinnt ihn an einer anderen Stelle ebenso zufällig weiter. Soll etwa diese Planlosigkeit ein Zugeständnis an den Laien sein? In der Fremdwortfrage kann Storz dem Laien nichts bieten. Der Deutsche Sprachverein wird nicht erwähnt; aber man fühlt, daß der Verfasser ihm schaden will, indem er fernmündlich als „Scheußlichkeit“ bezeichnet und zur Bekämpfung des Worts „Interesse“ nicht die „Bequemlichkeit eines Verzeichnisses“ dulden will (S. 87, 91). Als letzten Schluß empfiehlt er, daß man den Satz, in den sich Fremdwörter einschleichen, neu baue (S. 90). Warum hat er in seinem Buche die Fremdwörter stehen lassen, Wörter wie Vakuum, Archaismen, Autor, Poet, Adressat, präsentisch? Ich frage den Verfasser: Das Fremdwort darf wohl bleiben, wenn es der „rhythmischen Durchformung“ des Satzes nicht im Wege steht? (S. 132). Die Fremdwörter in der Sprachlehre erkennt er an, weil sie kürzer seien als die deutschen und das Erlernen der Fremdsprachen erleichtern. Ich lehne das Buch ab: es spricht nicht zum Laien, sagt ihm nicht das, was er wissen will und wissen soll, und sagt es nicht so, wie er es hören möchte. Dr. Heinz Sacher

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 Texte aus anderen Publikationen

84 Ewald Geißler Neu! Flugschrift Nr. 1 Sprachpflege als Rassenpflicht von Prof. Dr. Ewald Geißler

Muttersprache 52 (1937), H. 6, Sp. 258. Eine Leseprobe: „A n t r i e b e f ü r d i e e i g e n e S p r a c h g e s t a l t u n g werden diese Erkenntnisse durch die Tatsache, die kürzlich Wilhelm Stapel aufwies: die anderthalb Jahrzehnte jüdischer Vorherrschaft, die das deutsche Schrifttum – nicht das schöpferische, aber das vermittelnde – hinter sich hat, erstrebten nicht nur die Anähnelung (Assimilation) des jüdischen Geistes an den deutschen, sondern erreichten weithin schon umgekehrt das ersehnteste Ziel: die Anähnelung des deutschen Geistes an den jüdischen. Die spielige, flache, unverpflichtende, natürlich das Fremdwort als das „Welt“wort preisende, weil jedem deutschen Urklang ferne, ja feindliche Sprachhandhabung ... all diese Sprache hatte auch der Deutsche, ob er wollte oder nicht, einfach täglich mit einatmen müssen, wie Giftkeime in einer verpesteten Luft. Nachdem die Luft selbst wieder rein geworden ist – wie wir laut zu bekennen haben, n i c h t durch uns Sprachbetreuer mit all unserm zornmütigen Predigen in Schriften, Vereinen und Hörsälen, sondern durch die politische Macht, die damit das Entscheidende tat –, haben nun wir diese Keime auch aus unserm Sprachkörper wieder hinauszuwerfen. Wir stehn als Mahner: auch mit dem echtesten Wortleib hat noch niemand Echtheit des Wortgeistes gepachtet, denn die will im täglichen Ringen neu erobert werden! Wir haben einmal ein Deutsch gehabt, das g e h e i m e s L a t e i n war: das „Cäsar, nachdem er“ schlechter Schulübersetzungen, das vom „Gebildeten“ auch in Volkskreise sickerte, die nie mit Latein zu tun hatten. Es ist überwunden und fristet sich nur noch verachtet auf einigen letzten Amts- und Lehrstühlen. Wir haben auch einmal ein Deutsch gehabt, das g e h e i m e s F r a n z ös i s c h war: von der „Prosa des guten Verstandes“ im 18. Jahrhundert, die der Sturm und Drang wegfegte, bis auf Heinrich Mann, der seine Lebensbeschreibung mit dem Bekenntnis anhebt: „Meine Lehrer waren französische Romane“, und der einen Aufsatz über „Das junge Geschlecht“, als dessen Wegbereiter er sich fühlte, mit den Worten schloß, aus denen jeder sofort den Tonfall des Französischen hört: Eure Grundempfindung des Lebens, Zwanzigjährige, wird die Gewißheit des Glückes sein. Ihr werdet euch nicht scheuen, es für erreichbar zu halten. Niemand wird euch vortäuschen, es widerstreite dem inneren Gesetz, das



Das unvermeidbare Schmarotzerwort. 

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nicht Glück von uns wolle, sondern Pflicht ... Eure Pflicht, Zwanzigjährige, wird das Glück sein. Auch dieser Franzose mitten in Deutschland, der sich nur leider deutscher Wörter bediente, weilt jetzt dort, wo er hingehört – auch innerlich überwunden von einem d e u t s c h e n Deutsch, aus neuen Dichtern und Rednern. Nun, so werden wir auch fertig werden mit dem Deutsch, das g e h e i m e s J ü d i s c h war!“ Die Flugschrift wird umsonst abgegeben.

85 Dr. Karl Friedrich Baberadt Das unvermeidbare Schmarotzerwort. Dr. Karl Friedrich Baberadt

Deutsche Presse 31 (1941), Nr. 1 (4. Januar 1941), S.16. Sind es wirklich die überflüssigen Fremdwörter, die aus der deutschen Sprache ausgemerzt werden müssen, wie kürzlich an dieser Stelle verlangt wurde? Gilt es nicht vielmehr auch, streng darauf zu achten, daß die deutsche Sprache nicht von innen her vermorscht und deutsche Schmarotzerwörter sich ungebührlich breit machen? Solche Wörter sind genau so überflüssig und vermeidbar wie Fremdwörter, und dennoch werden sie tagaus, tagein gebraucht. Diese Sprachsünde gehört gewiß nicht zu den läßlichen Sünden, sondern zu denen, die aus Bequemlichkeit, Nachlässigkeit, Denkfaulheit, Fahrlässigkeit begangen werden und darum nicht zu verzeihen sind. Der Kampf gegen sie ist also mindestens so wichtig und notwendig wie der gegen die Fremdwörter. Drei Schmarotzer vor allem sind es, die in geradezu erschreckendem Umfang in unsrer Sprache wuchern und ihr, wenn man so sagen darf, das Mark aus den Knochen saugen: durchführen, stattfinden und erfolgen. Es gibt freilich noch einige mehr, jedoch unterliegen diese mehr der Mode und pflegen über kurz oder lang von selbst zu verschwinden – die drei schlimmsten Gesellen aber, die wir nannten, sind, wie es scheint, unausrottbar. Da ist zuerst das fürchterliche und, ach so bequeme d u r c h f ü h r e n! Ist es wirklich notwendig, zu sagen: „... ihre Ausmerzung durchführen“ oder klingt es nicht besser, einfach zu sagen: „… sie ausmerzen“? Muß „eine Suchaktion durchgeführt werden“ oder genügt es, schlicht jemanden zu „suchen“? Statt einen „Angriff durchzuführen“, sollte man nur „angreifen“? All diese Kautschukwendungen, die leider „Eingang in die Presse gefunden haben“ (statt „eingedrungen sind“!), lassen sich, ob sie nun mit „durchführen“ gebildet sind oder nicht, mit einigem Überlegen leicht vermeiden. Oder ist „in Aussicht genommen“ schöner als „vorbereitet“ oder „geplant“, klingt „einer Kritik unterzogen“ besser als „kri-

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 Texte aus anderen Publikationen

tisiert“, ist es nicht vorzuziehen, wenn sich ein Übel einfach bessert, als daß es eine „Besserung erfährt“? Aber bleiben wir bei „durchführen“. Man „macht leider die Beobachtung“ (beobachtet), daß dieses Wort sehr viel „im Gebrauch steht“ (gebraucht wird), es muß deshalb „Ablehnung finden“ (abgelehnt werden) – genau so wie ein überflüssiges Fremdwort. Denn es gibt ein gutes Dutzend vortrefflicher Zeitwörter, die dafür „sich in Anwendung bringen“ (einsetzen) lassen, wie zum Beispiel: beenden, ausführen, ausarbeiten, einschalten, veranstalten, ansetzen, ausrichten, vortragen, bringen, leisten, ausschreiben, einsetzen, vermitteln, geben. Jedes dieser Wörter darf „Anspruch darauf stellen“ (beanspruchen), das „durchführen“ voll und gut ersetzen zu können. Nicht minder groß ist die Auswahl, um „s t a t t f i n d e n“ durch ein besseres Wort zu ersetzen: sich begeben, sich ereignen, sich zutragen, verwirklichen, einräumen, bewilligen und viele, viele andere gute und bildhafte Zeitwörter, ja sogar das echte, schlichte „sein“ sind geeignet, das verwachsene, aufgeschwemmte, unechte „stattfinden“ bei jeder Gelegenheit zu vertreten. Unausrottbare Hilfeleistung aber leistet den Kautschukwendungen die großartige Erfindung des Wortes „e r f o l g e n“. Früher starb zum Beispiel ein Mensch ganz einfach – heute „erfolgt sein Tod“ dann und dann; früher begrüßte man einen Gast schlicht – heute muß „seine Begrüßung erfolgen“; man bezahlt nicht mehr, sondern „Bezahlung erfolgt“; früher zeigte man ein frohes Ereignis freudig an – heute muß „seine Anzeige erfolgen“; man reist nicht mehr ab, sondern „die Abreise erfolgt“; kein Beamter wird mehr ernannt oder versetzt, sondern seine Ernennung oder Versetzung muß „erfolgen“; so wird auch kein Werk mehr begonnen, sondern seine „Inangriffnahme erfolgt“; man lernt nichts mehr kennen, sonder es „erfolgt Kenntnisnahme oder Einsichtnahme“ und so weiter, und so weiter. Kein Zeitwort ist so leicht zu ersetzen wie „erfolgen“, dennoch macht es sich sprach-gemeingefährlich breit. Wird den schreibenden Deutschen denn wirklich nicht die Tragödie bewußt, an der sie mitwirken und die sie stündlich sich vor aller Augen abspielen lassen? Das allgemeine Sprachgefühl ist bereits so geschwächt, daß es den Schmarotzern möglich ist, immer weiter in die Spalten der deutschen Zeitungen, in Zeitschriften und Büchern vorzudringen. Das V e r a n t w o r t u n g s g e f ü h l der Sprache gegenüber darf aber nicht so abstumpfen, daß aus Bequemlichkeit nicht auch in der Sprachübung auf die S a u b e r k e i t gesehen wird, auf die Menschen von Kultur und geistiger Haltung sonst so viel Wert legen. Wenn wir in Wahrheit eine Volksgemeinschaft sein wollen, dann muß dazu vor allem die Achtung vor unserem Eigensten, der deutschen Sprache, wesentlich beitragen.

 Anhang

Editorische Notiz Im Textteil dieses Bandes sind die Texte so weit wie möglich originalgetreu wiedergegeben, allerdings ohne dass sie, wie überwiegend im Original, in Fraktur gesetzt sind. Ansonsten sind außer den wenigen offensichtlichen Druckfehlern, die stillschweigend korrigiert wurden, Schreibung und typographisches Erscheinungsbild (Sperr- und Kursivdruck) beibehalten. Kursivdruck wurde auch für Ausdrücke in fremden Sprachen benutzt, die in den in Fraktur gesetzten Texten in Antiqua standen. Hinter den Titeln und Untertiteln in der Frankfurter Zeitung stand mehrheitlich, aber nicht immer, ein abschließender Punkt. Diese unterschiedliche Praxis in der Interpunktion wird in dem Textteil dieses Bandes originalgetreu widergespiegelt. In der Textliste am Anfang des Bandes stehen die Titel jedoch, aus Gründen der Übersichtlichkeit, ohne abschließenden Punkt. Fußnoten im Textteil dieses Bandes wurden im Original vom jeweiligen Verfasser gesetzt. Anmerkungen des Herausgebers zu den Texten werden durch ein Sternchen markiert, das auf eine Erläuterung des Herausgebers in den Anmerkungen zu den Texten am Ende dieses Bandes verweist. Dort findet der Leser die entsprechende Erläuterung nach dem mit dem Sternchen gekennzeichneten Wort und einem Doppelpunkt. Ein Personenregister und ein Register der sprachkritisch behandelten bzw. thematisierten Ausdrücke, Strukturen und Begriffe befinden sich am Ende des Buchs.

Auflösung der Kürzel a.—o. Gerhard Storz (auch in Abwandlungen dieses Motifs) b—k. Ernst Benkard dks. Walter Dirks d. st. Dolf Sternberger egw. Erik Graf Wickenburg F.K. Fritz Kraus Kln Hans Kallmann H.N. Heddy Neumeister RK Rudolf Kircher Folgende Kürzel konnten nicht eindeutig aufgelöst werden: ds.; G.W.; h.k.; lg; m.—l. Ein gern vermuteter Hinweis im letztgenannten Kürzel auf Mechtilde Lichnowsky konnte nicht nachgewiesen werden. Als wichtige Quelle über die Tätigkeit eines Redakteurs wurde das Verzeichnis der Redaktionsmitglieder der Redakteure und Mitarbeiter in den Jahren 1933—1943, die 1956 im Sonderheft der

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 Anmerkungen zu den Texten

Gegenwart erschienen ist, zugrunde gelegt.1 Allerdings ist dieses Gegenwart-Verzeichnis, wie Fritz Sänger bemerkt, „leider lücken- und fehlerhaft“.2

Anmerkungen zu den Texten Texte aus der Frankfurter Zeitung Dieses Register enthält Angaben zu der Ausgabe der Zeitung, nach der der Wiederabdruck erfolgt, sowie weitere einschlägige Informationen zu den Texten. Die Angabe identifiziert die Ausgabe (meist in der Reihenfolge: Reichsausgabe der Zeitung (RA), Wochentag, Datum, Ausgabenummer, Seite, Spalte bzw. Spalten (Sp.), in der bzw. in denen der Artikel erschien. Auf frühere Wiederabdrucke wird auch verwiesen. Sigel: RA: Reichsausgabe Mo.: Montag (usw.) Sp.: Spalte 1. Beseitigung des Wortes „Arbeitsmarkt“: RA Sa. 24.2.1934 (99/100), S. 2, Sp. 2. Zu dem neuen Gesetz vgl. den Artikel „Die Arbeitsbedingungen nach dem 1. Mai“ (S. 3, Sp. 4) in derselben Ausgabe, und „Ein Gesetz und seine Gesinnung“, von Kln gezeichnet, im Literaturblatt vom Sonntag, 25.2.1934 (S. 17, Sp. 1—2). Zwischen dem 1. April 1934 und dem 31. Dezember 1938 wurde der Reichs-Arbeitsanzeiger von der Reichsanstalt für Arbeitsvermittlung und Arbeitslosenversicherung herausgegeben. Ab dem 1. April 1934 wurde der Titel in Arbeit und Arbeitslosigkeit, ab dem 1. April 1938 in Der Arbeitseinsatz im Deutschen Reich umbenannt. Der Titel wurde dann vom Reichsarbeitsministerium übernommen.3 * VdZ: vermutlich ein Verzeichnis der Zeitschriften. Die genaue Angabe konnte nicht ermittelt werden. 2. Der Volksname „deutsch“: RA Di. 18.9.1934 (474/475), S. 9 (Feuilleton), Sp. 1—2. Die im Original in Antiqua (Times) stehenden Wörter werden hier kursiv gesetzt. * Dove: Alfred Dove (1844—1916), deutscher Historiker. * Bonifatius: Wynfreth (um 673—um 755), Missionserzbischof und päpstlicher Legat für Germanien, wurde 746 Bischof von Mainz. 1 Brück 1956a, S. 56f. 2 Sänger 1977, S. 278. 3 Lorenz 1963, S. 33.



Texte aus der Frankfurter Zeitung 

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* Rosenstock: Eugen Rosenstock-Huessy (1888—1973), deutscher Historiker, Sozialphilosoph und Sprachphilosoph jüdischer Herkunft, war der erste Leiter der Akademie für Arbeit in Frankfurt (an dem Ernst Michel arbeitete). Er war 1933 in die USA emigriert. * Weißenburg: Otfrid von Weißenburg (um 790—875), althochdeutscher Dichter. * Tassilo: Tassilo von Bayern (um 741—um 796), Herzog von Bayern, geriet wegen eines Bündnisses mit den Langobarden mit seinem Vetter, Karl dem Großen, in Konflikt. 3. Sprache und Stil: RA So. 23.9.1934 (484/485), S. 1, Sp. 1—2. * Naumann: Der Politiker Friedrich Naumann (1860—1919) war als Befürworter einer Demokratisierung der deutschen Verfassungsinstitutionen („Der Kaiser im Volksstaat“, 1917) für Kircher, wie für Theodor Heuss, eine wichtige Figur. Er war im Kaiserreich die Stimme des evangelischen Sozialismus im liberalen Bürgertum, und damit Antipode des politisch konservativen Theologen und  Politikers Adolf Stoecker, des „Hofpredigers“ Willhelms II. Naumann schrieb 1910 ein programmatisches Buch über „Demokratie und Kaisertum“, gab die Zeitschrift Die Hilfe heraus. Heuss war sein Assistent und Redakteur. Beide standen in enger Beziehung zu Max Weber und traten dessen „Nationalsozialem Verein“ bei. Damit war auch die Nähe zur Fortschrittspartei und einem Mann wie Hugo Preuß gegeben, dem ersten Innenminister Friedrich Eberts und Autor  des Entwurfs der Weimarer Verfassung. Naumann war „Patriot“ wie Preuß, im Sinne des parlamentarischen Verfassungsstaates, christlich-sozialer Reform und einer antiimperialistischen Außenpolitik. 1917 hatte er  zu den Unterstützern der „Friedensresolution“ der Parteien der Mitte und der Sozialdemokraten im Reichstag gehört. 1919 war er gegen die Unterzeichnung des Versailler Vertrages. Naumann war Mitglied des Deutschen Reichstags 1907—1912, 1913—1918, 1910 Mitbegründer der „Fortschrittlichen“ Volkspartei, Vertreter der neugegründeten Deutschen Demokratischen Partei in der Weimarer Nationalversammlung und Mitglied des Verfassungsausschusses.4 * „Deutsch sein heißt klar sein“: Dieser beliebte Spruch Hitlers wird auch in Sternbergers Bericht über Hitlers Eröffnungsrede im Haus der deutschen Kunst (19.7.1937) zitiert und in „Ein guter Ausdruck“ (22.8.1937) ironisch kommentiert. Unmittelbarer Anlasss zu Kirchers Überlegungen im vorliegenden Aufsatz war wohl Hitlers Rede auf dem Parteitag am 15.9.1934 bzw. auf der der Kulturtagung der NSDAP am 5.9.1934 in Nürnberg.5

4 Heuss 1960, S. 46f; Mitteilung Günther Gillessens an den Herausgeber. 5 Brenner 1962, S. 40; Das Neue Tagebuch, H. 37/2 (15.09.1934), S. 886.

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 Anmerkungen zu den Texten

* Treitschke: Heinrich von Treitschke (1834—1896), deutscher Historiker und Publizist, Mitglied des Reichstags 1871—1874, prägte den Spruch „Die Juden sind unser Unglück“. Treitschke war zusammen mit Heinrich von Sybel Begründer der „borrusischen Schule“ der deutschen Geschichtschreibung nach 1866, die die „kleindeutsche“ Lösung Bismarcks im Konflikt mit Österreich historisch zu legitimieren suchte. Er wird hier nicht nur als Antisemit zitiert, sondern wohl auch als Spötter über den Hurrah-Patriotismus der deutschen Turnerschaften.6 4. Das arme C.: RA Do. 9.1.1936 (15/16), S. 3, Sp. 3. 5. Man nehme: RA Di. 11.2.1936 (76/77), S. 3, Sp. 2. (Druck in: Sternberger, Schriften, Bd. XI, S. 243f.). * Artikel: Siehe den Artikel von Matschoß im Textanhang dieses Bands. 6. Vademecum für den Gebrauch von Sprichwörtern: Gebrauch von Sprichwörtern: RA So. 15.3.1936 (138/139), S. 6 (Feuilleton), Sp. 4. Druck in: Sternberger, Schriften, Bd. IX, S. 35—37. 7. I: Das heiße Essen: RA So. 15.3.1936 (138/139), S. 6 (Feuilleton), Sp. 4. Druck in: Sternberger, Schriften, Bd. IX, S. 37—39. * Nietzsche. Das Zitat ist aus den nachgelassenen Fragmenten der 1880er Jahre. Vgl. Nietzsche 1974, S. 221. 8. II: Krähen untereinander: RA So. 22.3.1936 (151/152), S. 7 (Feuilleton), Sp. 4. Druck in: Sternberger, Schriften, Bd. IX, S. 39—41. 9. III: Blick der Liebenden: RA So. 5.4.1936 (177/178), S. 7 (Feuilleton), Sp. 4. Druck in: Sternberger, Schriften, Bd. IX, S. 41—43). 10. IV: Zwischen A und B: RA So. 28.4.1936 (216/217), S. 10 (Feuilleton), Sp. 1. Druck in: Sternberger, Schriften, Bd. IX, S. 43—45. 11. V: Das Asyl der Wahrheit: RA So. 3.5.1936 (238/239), S. 8, Sp. 4. Druck: Sternberger, Schriften, Bd. IX, S. 46—48. 12. Nötige Bemerkung zum Gebrauch von Sprichwörtern: RA So. 10.5.1936 (238/239), S. 8 (Feuilleton), Sp. 4. Druck in: Dodd 2007, S. 308f. 13. VI: „Ende gut, alles gut“: RA So. 10.5.1936 (238/239), S. 8 (Feuilleton), Sp. 4. Druck in: Sternberger, Schriften, Bd. IX, S. 48—50. 14. VII: Der stolze Dumme und der dumme Stolze: RA So. 24.5.1936 (263/264) S. 6, Sp. 3. Druck in: Sternberger, Schriften, Bd. IX, S. 50—52. 6 Günther Gillessen sei für diese Einsichten gedankt.



Texte aus der Frankfurter Zeitung 

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15. VIII: Aller Tage Abend: RA So. 7.6.1936 (287/288), S. 7 (Feuilleton), Sp. 4. Druck in: Sternberger, Schriften, Bd. IX, S. 53—55. 16. IX: Frucht und Wespe: RA Di. 30.6.1936 (329/330) S. 11 (Feuilleton), Sp. 1. Druck in: Dodd 2007, S. 310f. * ein Dichter: Das Zitat ist dem Gedicht „Trost“ von Gottfried August Bürger (1747— 1794) entnommen: „Wann dich die Lästerzunge sticht,/ So laß dir das zum Troste sagen:/ Die schlechtesten Früchte sind es nicht,/ Woran die Wespen nagen.” 17. Das Wort: RA So. 3.5.1936 (225/226) S. 3, Sp. 2—3. Dieser Beitrag erscheint in diesem Band ausnahmsweise nicht in der chronologischen Reihenfolge, damit die Einheit der „Vademecum“-Serie bewahrt wird. 18. Kuriose Heilswege: RA So. 19.7.1936 (365), S. 3, Sp. 2. 19. Der übertrumpfte Superlativ: RA Mi. 1.8.1936 Abendblatt und erstes Morgenblatt (389), S. 3, Sp. 2. 20. Vom Ablaut: RA Do. 10.9.1936 (463), S. 3, Sp. 3. * Imelmann: Johannes Imelmann (1842—1917), Lehrer am Joachimsthalschen Gymnasium, Berlin. 21. Ablativus absolutus: RA Do. 31.12.1936 (666/667), S. 3, Sp. 1—3. 22. Lateinisches C = K?: RA Sa. 1.5.1937 (220/221), S. 3, Sp. 2—3. Die Identität des Autors (m.—l.) konnte nicht ermittelt werden. Die Buchstaben ließen auf Mechtilde Lichnowsky spekulieren, dafür gibt es jedoch keine festen Anhaltspunkte. * Reform von 1937: Vermutlich ein Verweis auf die Bemühungen des Reicherziehungsministeriums unter der Leitung von Bernhard Rust, eine Rechtschreibreform durchzuführen. Allerdings soll der erste Versuch Rusts schon 1936 eingestellt worden sein. Seit 1933 hatte es solche Bemühungen gegeben, z.B. eine von Theodor Steche, dem Vorsitzenden des Rechtschreibvereins, geleitete Kommission zur Verbesserung der Rechtschreibung.7 23. „Frontabschnitt Wissenschaft“: RA Sa. 8.5.1937 (230/231), S. 3, Sp. 3. * Zeitung: Organ des NSDStB war die Deutsche Studentenzeitung. 24. Vom Gebrauch der deutschen Sprache: RA So. 9.5.1937 (232/233), Literaturblatt, S. 1, Sp. 1—2. 25. Der Mensch hat das Wort: RA So. 16.5.1937 (245/246), S. 5 ganz (Sp. 1—4). Die Einleitung ist nicht gezeichnet. Nach welchen Quellen hier zitiert bzw. montiert

7 Vgl. Birken-Bertsch/ Markner 2000, S. 28, 46; Simon 1989, S. 64.

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 Anmerkungen zu den Texten

wurde, kann nur gemutmaßt werden. In einigen Fällen handelt es sich um (nicht markierte) Zusammenfügungen von getrennten Textstellen. Vom Ursprung des Wortes: Bei diesem Text handelt es sich um eine Montage verschiedener Stellen. Der erste Absatz entspricht Hamann 1999, S. 27; der zweite 1999, S. 32; der dritte 1999, S. 41. Der vierte ist den „Sybillischen Blättern des Magus“ (Abschnitt „Ueber den Styl“) entnommen. Der letzte Absatz ist ein Auszug aus dem Brief an Gottlob Immanuel Lindner vom 9. August 1759.8 Im ersten Absatz fehlt eine Parenthese, die nach den Wörtern „der alma mater Natur sind“ beginnt und lautet: „(mit der unsre starken Geister eine abgeschmacktere und lästerlichere Abgötterei treiben, als der Pöbel des Heidenthums und Papstthums)“. * Bileams Esel: Vgl. das 4. Buch Mose, Kapitel 22—34. Dichtung der Giganten: Die zu Grunde gelegte Übersetzung, obwohl auf ganze Strecken fast identisch, scheint nicht nach Auerbachs Auswahlübersetzung von 1924 zu sein. Vgl. Die neue Wissenschaft über die gemeinschaftliche Natur der Völker. Nach der Ausgabe von 1744. Übersetzt und eingeleitet von Erich Auerbach, Walter de Fruzter & Co., Berlin/ Leipzig, o.J.. Jugend und Alter: Vgl. Herder, Sämmtliche Werke, Hg. von Bernhard Suphan, Berlin 1877—1913, Bd. 1, S. 152—155. Der Text ist dem achten Kapitel entnommen, „Ueber die neuere Deutsche Literatur. Eine Beilage zu den Briefen, die neueste Literatur betreffend. 1766. 1767. Erste Sammlung von Fragmenten“. Auch in: ten Holder, o.J. (das als wichtige Quelle für diese Sammlung gelten dürfte), S. 109f.. Die dort wiedergegebene Passage entspricht Herder, Sämmtliche Werke, Bd. 27, Berlin 1877, „Von den Lebensaltern einer Sprache“, S. 151ff. Die ideelle Ganzheit: Vgl. „Über das vergleichende Sprachstudium in Beziehung auf die verschiedenen Epochen der Sprachentwicklung“, gehalten in der Berliner Akademie der Wissenschaften am 29.6.1810, abgedruckt in: Wilhelm von Humboldt, Schriften zur Sprachphilosophie (Werke in 5 Bänden, hg. Von A. Flitner/ K. Giel, Bd. 3, Darmstadt, Wissenschaftliche Buchgesellschaft, 4. Nachdruck, 1972, S. 1—25. Vgl. Storz’ Aufsatz „Gedankenbahnen in der Sprache“ (18.4.1942), der an Humboldts Wort von einem „Gesetz“, das „die Funktionen der Denkkraft bedingt“, erinnert. Sprache und Musik: Der Text ist dem ersten Teil von Kierkegaards Werk Entweder/ Oder. Ein Lebensfragment entnommen, zitiert nach der 1933 bei Eugen Diederichs in Jena erschienenen deutschen Ausgabe (mit einem Nachwort von Christoph Schrempf).9 Im „Ersten Stadium“ der „Nichtssagenden Einleitung“ zu dem Textteil „Die unmittelbar-erotischen Stadien oder das Musikalisch-Erotische“ untersucht Kierkegaard das Verhältnis zwischen Sprache und Musik an Hand von 8 Hamann. 1999, S. 27, 32, 41; Hamann 1823, S. 461; Hamann 1955, S. 393f. 9 Kierkegaard 1933, S. 62f.



Texte aus der Frankfurter Zeitung 

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Mozarts Oper Don Giovanni. Der hier veröffentlichte Passus entspricht den Seiten 62—63 der Vorlage, überspringt allerdings nach den ersten zwei Sätzen den Rest des Absatzes (beginnend: „Dieser Umstand ist wiederum eine Negation des Sinnlichen. ...“), knüpft unmittelbar an den Beginn des folgenden an und folgt dann dem Original getreu. Die zitierten Zeilen geben also der Sprache als Medium der Vernunft den Vorrang vor der Musik als dem Medium der sinnlichen Verführung. Gebilde der Freiheit: Der erste und zweite Absatz entsprechen Fragment Nr. 141 in: Novalis, Schriften, hg. von Hans Joachim Mähl et al., Darmstadt, Wissenschaftliche Buchgesellschaft, Carl Hanser Verlag, München 1991, S 347. Der dritte Absatz ist einem Monolog entnommen. Schriftstellerei und Stil: Der Text erweist sich als eine Kompilation von fünf Textstellen in dem Essay „Über Schriftstellerei und Stil“ (in Parerga und Paralipomena). Legt man die Brockhaus-Ausgabe der Sämtlichen Werke von 1939 zugrunde, so ergibt sich für jeden Absatz folgender Befund: (1) entspricht dem Anfang des zweiten Absatzes des § 289a (S. 586), wobei nach dem Wort „meine“ der Satz nach einem Semikolon weitergeht („wie es Die machen, welche den Casum nicht bezeichnen [...]“). (2) entspricht den ersten drei Sätzen des § 282 (S. 547). (3) entspricht dem Anfang des sechsten Absatzes des § 283 (S. 554), wobei nach den Worten „ungewöhnliche Dinge“ der Satz nach einem Doppelpunkt weitergeht: „aber sie machen es umgekehrt“. (4) stammt aus der Mitte des dritten Absatzes des § 283 (S. 551). (5) entspricht dem ganzen neunten Absatz des §283 (S. 555). Das Werkzeug: Es handelt sich um Auszüge aus Blätter und Steine, Hamburg 1934, S. 8f. Nicht auszuschließen ist, dass auch hier ten Holders Die deutsche Sprache. Wesen und Deutung als Vorlage diente, da diese Passage sich auch dort befindet (Ernst Klett Verlag, Stuttgart o.J (1930?), S. 267). 26. Verschriebene Schreiber: RA So. 6.6.1937 (282/283), S. 3, Sp. 3. Druck in: Sternberger, Schriften, Bd. XI, S. 311–313. * Achthundertjahrfeier: Die Stadt Tiefenort (Thüringen) feierte im September 1937 ihr 800-jähriges Bestehen. Vgl. http://tiefenort.de (30.06.2013). (Johannes Ortner sei für diesen Hinweis gedankt.) 27. Der Eifer für die Sprache: RA So. 13.6.1937 (295/296), S. 3, Sp. 4; S. 4, Sp. 1. Wie in der Einleitung zu diesem Band gezeigt wurde, enthält dieser Artikel eine Erwiderung auf Ewald Geißler und im weiteren Sinne auf verschiedene Beiträge in dem soeben erschienenen Juni-Heft der Muttersprache (Jg. 52, Heft 6). Siehe hierzu die in dem Anhang wieder abgedruckten Texte aus dem einschlägigen Heft. Ewald Ludwig Geißler (1880—1946) war Vertreter der deutschen Sprachund Redekunst und wurde 1932 außerplanmäßiger Professor für deutsche

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 Anmerkungen zu den Texten

Sprachkunst an der Universität Erlangen. Als sein Hauptwerk gilt Erziehung zur Hochsprache (2 Bände, 1925/34).10 28. Tempel der Kunst: RA Mo. 19.7.1937 Morgenblatt (362), Titelseite, Sp. 1—2. Druck In: Dodd 2007, S. 313f. * „deutsch sein heißt klar sein“: Siehe die Anmerkung zu „Sprache und Stil“ (23.9.1934). Der Spruch kam auch 1936 in einem Vortrag Heinz Steguweits im Institut für Zeitungswissenschaft der Universität Köln vor, „Lebendiges Feuilleton“.11 Über die Identität des „großen Deutschen“, der auch in der Rede vom 5.9.1934 apostrophiert wurde, herrscht allerdings Unklarheit.12 29. Ein guter Ausdruck: RA So. 22.8.1937 (425), S. 1, Sp. 1—2; S. 2, Sp. 2—3. Druck In: Dodd 2007, S. 314–319. * Schule des Schreibens: Ein „Lehrgang der Stilbildung für die deutschen Schulen“ von dem in Stuttgart tätigen Oberstudienrat Fritz Jahn.13 * Schmidt-Vogt: Die Identität des Verfassers konnte nicht ermittelt werden. 30. Im Dickicht der Sprache: RA So. 19.9.1937 (477/478), S. 25 (Literaturblatt), Sp. 1—2. * Storfer: Adolf Josef Storfer (1888—1944), der Verfasser von zwei bedeutenden Studien zur deutschen Sprache: Wörter und ihre Schicksale (1935) und Im Dickickt der Sprache (1937) war ein Schüler und einstiger Mitarbeiter Sigmund Freuds. Aus Im Dickickt der Sprache wurde ein Kapitel, „Von einsilbigen Wörtern und deren Überhandnehmen“, in der Frankfurter Zeitung gedruckt (FZ, 11.9.1936). Nach dem Einmarsch der Wehrmacht in Österreich ist er ausgewandert, nach Schanghai und Melbourne, wo er 1944 verstarb. In Schanghai gab er die Gelbe Post heraus. Für eine Bekanntschaft mit Gerhard Storz gibt es einige Indizien. Siehe den ersten Abschnitt der Einleitung zu dem vorliegenden Band.14 * Weinheber: Josef Weinheber (1892—1945), österreichischer Lyriker und Erzähler. 31. Verlorene Sprache: RA So. 28.11.1937 (606/607), S. 3, Sp. 2. * Reichsbauernführer: Wilhelm Darré. 32. „Schlanke Linie“ in der Sprache: RA Fr. 28.1.1938 (27/28), S.3, Sp. 2. * Aus dem Kreise der Reichsjugendführung: Reichsjugendführer war Baldur von Schirach (1907—1974).

10 Vgl. Weithase 1964. 11 Hillesheim/ Michael 1993, S. 424. 12 Hillesheim/ Michael 1993, S. 40; Das Neue Tagebuch, H. 37/2 (15.9.1934), S. 886. 13 Jahn 1938. 14 Kalmer 2005; Danckwardt 2005; Henneberg 2003.



Texte aus der Frankfurter Zeitung 

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33. Für die Sprache: RA So. 13.3.1938 (131/132), S. 27 (Literaturblatt), Sp. 4—5. * Oskar Jancke (1892—1957) war der Autor mehrerer sprachkritischer Publikationen in den dreißiger Jahren. Von ihm stammt außer dem hier besprochenen Restlos erledigt? auch Und bitten wir Sie (1936). Verfasser einer dreiteiligen Serie zum „Nazideutsch“ beim Bayerischen Rundfunk 1947. Anreger, Gründungsmitglied, und erster Geschäftsführer (1949—1953) der Deutschen Akademie für Sprache und Dichtung. Interessant ist an Storz’ Bemerkungen in der vorliegenden Besprechung seine angedeutete Distanz gegenüber einer als Jux konstituierten sprachkritischen Tradition nach Wustmann, zu der er Jancke noch (zum Teil?) zählt.15 34. Sprachform und Sprachsinn: RA Fr. 2.9.1938 (446/447), S. 11 (Feuilleton), Sp. 3—4. 35. Vox humana: RA So. 9.10.1938 (515/516), S. 5, Sp. 2—3. Der Aufsatz ist der einleitende Text zur ganzen Seite, sein Titel gilt auch der ganzen Seite, die die Beiträge 36–39 enthält: * lose ansitzt: Zitiert aus den Aphorismen (Sudelbüchern), Kapitel 6 (1775—1776): „Eine schädliche Folge des allzu vielen Lesens ist, daß sich die Bedeutung der Wörter abnutzt, die Gedanken werden nur so ohngefähr ausgedrückt. Der Ausdruck sitzt dem Gedanken nur los an. Ist das wahr?”. 36. Ton und Wort. Von Wilhelm Furtwängler: Sp. 1. 37. Philologie. Von Karl Reinhardt: Sp. 2—3. * Uralinda-Chronik: Die Ura-Linda-Chronik war eine um 1860 entstandene literarische Fälschung über „effeminierte“ Juden und „männliche“ Jüdinnen.16 * Walther: Vermutlich Walther von der Vogelweide. * Heraklit: Der vorsokratische Philosoph Heraklit von Ephesos. Die Stelle lautet: „Richtiges Bewusstsein ist die größte Tugend, und Weisheit (ist es), Wahres zu sagen und zu handeln nach der Natur, auf sie hinhörend“.17 38. Sangbarkeit der Sprachen. Von Karl Voßler: Sp. 3. 39. Ueber Gleichnisse. Von Rudolf Alexander Schröder: Sp. 4. 40. Die deutsche Sprache: RA So. 9.10.1938 (515/516), S. 27 (Literaturblatt), Sp. 1—2.

15 Assmann/ Heckmann (Hgg.) 1999, v.a. S. 15ff., Schiewe 2010, der auf die Quellensammlung von Böttiger/ Dittrich 2009 zurückgreift. 16 Simon o.J.: „Himmlers Bibel“. 17 Bremer 1996, S. 91.

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 Anmerkungen zu den Texten

* ten Holder: Clemens ten Holder (1903—1952). Übersetzer von Malcolm Lowrys Roman Under the Volcano. Die Auswahl in ten Holders Buch scheint eine große Relevanz zu haben für den Sprachdiskurs in der Frankfurter Zeitung. Siehe z.B. den Kommentar zu „Der Mensch hat das Wort“ (16.5.1937). * Heinrich Federer: (1866—1928). Schweizerischer katholischer Schriftsteller und Priester, Verfasser von Erzählungen (Von Heiligen, Räubern und von der Gerechtigkeit, 1929), Romanen (Berge und Menschen, 1911) und Gedichtsbänden (Ich lösche das Licht, 1930). * Theodor Haecker: (1870—1945). Katholischer Schriftsteller und Kulturkritiker, Übersetzer von Vergil, Kierkegaard und John Henry Newman, Verfasser von meherern Beiträgen in Der Brenner und Hochland, mit dessen Herausgeber Carl Muth er bekannt war. Als entschiedener Gegner des Regimes bekam er 1936 ein Rede- und Publikationsverbot. * Reinmar von Zweter: (Um 1200—nach 1248) Vertreter der Sangspruchdichtung, von den Meistersingern zu einem der zwölf Begründern der Meisterkunst gezählt. * Grimm: Das Zitat von Jakob Grimm ist S. 191 in ten Holders Sammlung entnommen. Der Beleg des Herausgebers lautet: „Geschichte der deutschen Sprache. Erster Band. Leipzig 1848. Zeitalter und Sprachen, S. 5.“18 41. Volkssprache: RA Fr. 14.10.1938 (524/525), S. 3, Sp. 2. * Zeitschrift: der Titel konnte nicht ermittelt werden. 42. „ortografi”?: RA So. 25.6.1939 (318/319), S. 3, Sp. 3. Das von Berhard Rust (1883—1945) geleitete Ministerium für Wissenschaft, Erziehung und Volksbildung versuchte zweimal, 1939 und 1944, eine Rechtschreibreform mit gemäßigter Kleinschreibung und „deutscher“ Schreibweise einzuführen.19 Zu Bernhard Rust siehe auch den Beitrag vom 1.5.1937. 43. Ueber die Sprache: RA So. 12.11.1939 (578/579), Literaturblatt S. 1. 44. Weiter nichts? Über die Verständigung in der Sprache: RA So. 26.11.1939 Abendblatt/ Erstes Morgenblatt (604), S.1, Sp. 1—4; S. 3, Sp. 1. Auch: RA So. 26.11.1939 (604/605) S.6 (Feuilleton), Sp. 1—4; S. 7, Sp. 1. Druck in: Dodd 2007, S. 319–323. * In einem Buch: Vgl. Reifferscheidt 1939, S. 44. * Karl Valentin (1882—1948) und Lisl Karlstadt (1892—1960) wirkten 1913—1939 als berühmtes Komikerduo des deutschen Kabaretts.

18 ten Holder 1936, S. 191, 293. 19 Vgl. Nagel 2012.



Texte aus der Frankfurter Zeitung 

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* Jedes Wort legt uns fest: Diese Passage nimmt vieles in Sternbergers Einleitung zu der Glossenserie „Aus dem Wörterbuch des Unmenschen“ im November 1945 in der Monatsschrift Die Wandlung vorweg.20 45. Noch einmal: Ueber die Sprache. Verständigung und Ausdruck: RA Fr. 5.1.1940 (6: Abendblatt/ Erstes Morgenblatt) S. 1, Sp. 1—4; S. 2, Sp. 1—2. * Friedrich Gentz: Das erweiterte Zitat lautet: „Wenn Wahrheitsscheu, Verfolgung, Stupidität den menschlichen Geist unterdrücken, so müssen die Besten ihrer Zeit für die Kultur bis zum Märtyrerthum arbeiten. Wenn hingegen, wie in unserm Jahrhundert, Zerstörung alles Alten die herrschende, die überwiegende Tendenz wird, so müssen die ausgezeichneten Menschen bis zur Halsstarrigkeit altgläubig werden“.21 46. Wer spricht?: RA Fr. 5.1.1940 (6: Abendblatt/ Erstes Morgenblatt) S. 2, Sp. 1—4. Druck in: Dodd 2007, S. 324–327. * Tempel: Vgl. Sternbergers ironischen Gebrauch dieser Metapher in „Tempel der Kunst“ (FZ, 19.7.1937). * Schatzsucher: Vgl. Sternbergers Aufsatz „Der Schatz hinter dem Ofen“, FZ, 23.9.1934. * Ontologie: An mehreren Stellen dieses Sprachdiskurses scheint eine Kritik an Heidegger durchzuschimmern, wie sie Sternberger in seiner Doktorarbeit Der verstandene Tod geübt hatte.22 47. Das Universalverbum: RA So. 28.1.1940 (49: Abendblatt/ Erstes Morgenblatt) S. 3, Sp. 2—3. Druck in: Sternberger, Schriften, Bd. XI, S. 314f. 48. „Räume“: RA Di. 9.4.1940 (179/180), S. 3, Sp. 2—3. 49. Menschen als Material: RA So. 21.4.1940 (202/203), S. 3, Sp. 2—3. Druck in: Sternberger, Schriften, Bd. XI, S. 316f. * Professor von Baeyer: Gemeint ist vermutlich Walter Ritter von Baeyer (1904— 1987), Sohn des Münchener Professors für Orthopädie Hans Ritter von Baeyer (1875—1941), Enkel des Nobel-Preisträgers 1905 für Chemie Professor Adolf von Baeyer (1835—1917). Er wurde 1934/35 als Stipendiat Wissenschaftlicher Mitarbeiter an der Genealogischen Abteilung der Deutschen Forschungsanstalt für Psychiatrie in München unter Ernst Rüdin. Er war 1935—1945 Sanitätsoffizier bei der Wehrmacht, z.T. bei der 16. Armee an der deutsch-sowjetischen Front. Die Habilitation an der Universität München wurde ihm 1944 nach Einspruch der NSDozentenschaft verwehrt. Nach dem Krieg wurde er Stadt-Obermedizinialrat in

20 Siehe hierzu Dodd 2007, S. 198f. 21 Gentz 1838, S. 50. 22 Sternberger 1934.

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 Anmerkungen zu den Texten

Nürnberg, außerplanmäßiger Professor in Erlangen, und Direktor der Psychiatrischen und Neurologischen Universitätsklinik in Heidelberg. Sein Vater Hans wurde 1934 von seiner Heidelberger Professur für Orthopädie als „Nichtarier“ entlassen.23 50. Für und gegen den „Raum“: RA So. 5.5.1940 (225/226), S. 3, Sp. 4. Die Identität des hinter dem Kürzel ds stehenden Briefschreibers konnte nicht ermittelt werden. Nicht auszuschließen ist ein in der Redaktion (Sternberger) entstandener fingierter Brief. 51. Soldatengespräche im Bus: RA So. 2.6.1940 (276/277), S. 5, Sp. 1—2. 52. Das Ausrufzeichen: RA Sa. 31.8.1940 (443/444), S. 3, Sp. 2—3. 53. Der Elsaß im Kampfe um Sprache und Volkstum: RA So. 1.9.1940 (445/446), S. 6 (Feuilleton), Sp. 1—3. Am Ende des Textes steht der Hinweis: „Ein zweiter Aufsatz folgt.“ * Renan: Ernest Joseph Renan (1823—1892), französischer Historiker und Archäologe, ist der Verfasser der Abhandlung „Was ist eine Nation?“ (1882), die den Nationalstaat als vorübergehende Erscheinung betrachtet. * Die Generale: Jean Baptiste Kléber (1753–1800), Jean Rapp (1771–1821), Michel Ney (1769–1815), François Christophe de Kellermann, 1. Duc de Valmy (1735–1820), Francois Étienne de Kellermann, 2. Duc de Valmy (1770–1835). * Arndt: Ernst Moritz Arndt (1769—1860) wurde während der Befreiungskriege gegen Napoleon als deutschnationaler, stark antifranzösischer Schriftsteller bekannt. 1848 war er Abgeordneter der Frankfurter Nationalversammlung. * Görres: Johann Joseph von Görres (1776—1848), einstiger Befürworter der Französischen Revolution, später Kritiker der Politik Napoleons und Verfasser deutschnational politischer Schriften während der Befreiungskriege. 1814 gründete er den gegen Napoleon gerichteten Rheinischen Merkur. * Friedrich Rückert: (1788—1866) Deutscher Dichter, Übersetzer und Orientalist. * Tulla: Johann Gottfried Tulla (1770—1828). Badischer Ingenieur, der die Verkürzung (Begradigung) und Schiffbarmachung des Oberrheins durchführte. * Pasteur: Louis Pasteur (1822—1895), französischer Mikrobiologe, dessen Entdeckungen zu der modernen Praxis der Impfung entscheidend beitrugen. 54. Das Gesetz des Schweigens: RA Di. 24.9.1940 (487/488), S.3, Sp. 1—3 (Leitartikel). * Laurent: Jean Fernand Laurent (1889—1949), bis 1940 Abgeordneter (député de la Seine) der Nationalversammlung, war Herausgeber der Zeitschrift Le Jour 23 Drüll 1986, S. 9f.; Drüll 2009, S. 88f.; Dörner (Hg.) 2000, S. 76; Klee 2005, S. 25.



Texte aus der Frankfurter Zeitung 

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– Echo de Paris, die 1940 in den unbesetzten Süden Frankreichs (zone libre) evakuiert wurde. Die Zeitschrift galt als englandfreundlich, Vichy-feindlich, wurde gelegentlich für einige Tage suspendiert (im November 1941 für fünf Tage wegen Abdruck eines Briefs von Clemenceau zum Thema der „gestohlenen“ Gebiete des Alsace-Lorraine). Im Mai 1941 musste Laurent die Herausgeberschaft aufgeben, im März 1942 wurde der Jour eingestellt.24 * Sorgen des Marschalls: Gemeint ist Marschall Philippe Pétain (1856—1951). Staatschef des Vichy-Regimes. Sein Händedruck mit Hitler zu Montoire am 24. Oktober 1940 besiegelte die französische Kapitulation. * Gambetta: Léon Gambetta (1838—1882), französischer Advokat, Redner, Politiker, Kritiker des französischen Kaiserreichs. Nach dem Thronverzicht Napoleons III. Innen-, Finanz- und Kriegsminister. 1871 stimmte er gegen den Frieden mit Deutschland. Das Zitat ist ein berühmter Spruch aus einer Rede im Jahr 1871: gemeint ist die Revanche gegen Deutschland nach der Niederlage von 1870. 55. Das historische Präsens: RA So. 29.9.1940 (497/498), S. 3, Sp. 4; S. 4, Sp. 1. * Norne: Schicksalbestimmende Frauen in der nordischen Mythologie, zum Teil von Göttern abstammend. Während die Menschen von den Göttern geschaffen würden, würden den Menschen ihre Geschicke von Nornen zugeteilt. 56. Das Wort als Lebenszeichen: RA So. 17.11.1940 (588/589), Literaturblatt S. 1, Sp. 1—2. * Fritz Klatt: Der deutsche Pädagoge und Schriftsteller (1888—1945) wurde 1930 Professor für Pädagogik an der Pädagogischen Hochschule zu Hamburg und gab von 1930 bis 1933 gemeinsam mit Paul Tillich und Eduard Heimann die Neuen Blätter für den Sozialismus heraus.25 * Egon Fenz: (1907—1972) Österreichischer Psychologe und Schriftsteller (Der Herr Lipaneder und andere Gedichte (1932)). Laut Christoph Fackelmann bekam Laut. Wort. Sprache und ihre Deutung eine ablehnende Notiz vom „Amt Rosenberg“, das dann Josef Weinheber aufforderte, eine Gegenrezension zu schreiben. Weinheber sei dieser Aufforderung jedoch nicht gefolgt.26 * „thesei“ oder „physei“: die philosophische Frage, ob der Zusammenhang zwischen Form und Inhalt eines Ausdrucks physischer oder geistiger Natur sei. 57. Sprachgeister: RA So. 8.12.1940 (627/628), Literaturblatt, S. 1, Sp. 1—2. * Süskind: Wilhelm Emanuel Süskind (1901—1970), Übersetzer, Erzähler, Journalist, wirkte ab 1928 als Lektor bei der Deutschen Verlagsanstalt in Stuttgart, bei

24 UK Foreign Office 1943. Martyn Cornick sei für diesen Hinweis gedankt. 25 Hoffmann 2008. 26 Fackelmann 2005, S. 834 (N 127/ dok.).

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 Anmerkungen zu den Texten

dem der Erzählband Tordis erschien. In den 1920er Jahren publizierte er Prosawerke im Neuen Merkur und in der Neuen Rundschau. Von 1933 bis zu ihrer Einstellung 1943 gab er die Zeitschrift Die Literatur heraus. Süskind hat mehrere Beiträge über Kunst, Literatur, und Übersetzungsfragen in der Frankfurter Zeitung veröffentlicht, in der auch sein Buch Vom ABC zum sprachlichen Kunstwerk (1940) weitgehend vorabgedruckt wurde. Süskind wurde mit Dolf Sternberger und Gerhard Storz Mitautor der Glossenserie „Aus dem Wörterbuch des Unmenschen“ in der von Sternberger mitherausgegebenen Monatsschrift Die Wandlung (1945—1949). 1949 wurde er leitender Redakteur der Süddeutschen Zeitung. 1963 erschien Die Mächtigen vor Gericht, das er aus seiner Berichterstattung über die Nürnberger Prozesse schöpfte.27 * Bemerkung Hamanns: Vgl. die Anmerkung zu „Der Mensch hat das Wort“ (16.5.1937). 58. Haben und besitzen sind nicht synonym: RA Do. 9.1.1941 (15/16), S. 3, Sp. 4: S. 7, Sp. 1—2. Nachdruck: Lichnowsky 1949, S. 89—94. Dort befindet sich auch eine „Unter Beweis stellen“ betitelte Glosse, die nicht identisch ist mit dem gleich betitelten Beitrag vom 9.5.1942 im vorliegenden Band. Zu den Zusammenhängen des vorliegenden Aufsatzes mit dem Werk von Karl Kraus siehe Emont 2009, S. 454—457. * der erste von einigen: Zu weiteren Aufsätzen der Lichnowsky gehören „Worte über Wörter“ (FZ 19.11.1941) und „Nur mehr und nur noch“ (FZ 18.12.1941). 59. Der „Angeber“: RA Di. 25.3.1941 (154/155), S. 3, Sp. 2—3. Druck: Dodd 2007, S. 311f. 60. Deutsch reden: RA Do. 19.6.1941 (307/308), S. 3, Sp. 1—3 (Leitartikel). * Deutsche Akademie: Die Akademie, 1923 in München als Teil einer in den 1920er Jahren aufkommenden „auswärtigen Kulturpolitik“ gegründet, wurde im Zweiten Weltkrieg zur größten kulturpropagandistischen Institution des Reiches mit mehr als 250 Sprachschulen im Ausland. In einer Aktion der Selbstgleichschaltung bot der Kleine Rat der Akademie 1933 Rudolf Hess und dem nationalsozialistischen Bayerischen Ministerpräsidenten Ludwig Siebert die Mitgliedschaft an und annullierte die Mitgliedschaft der Senatoren Thomas Mann und Konrad Adenauer und anderer nichtnazistischer Mitglieder. 1939 hatte Siebert die Präsidentschaft der Akademie übernommen28 * Schirach: Sternberger hatte über das Weimarer Zeltlager der HJ und von dieser Rede von Schirachs berichtet, in „Zwei Lager?“ (RA Do 16.6.1938 (301/302) S. 3, Sp. 4; S. 4, Sp. 1—2). Als zweites Lager verwies er auf die Inszenierung von Wal27 Vgl. Kühlmann (Hg.) 2011a, S. 391. 28 Michels 2004, S. 207, 220.



Texte aus der Frankfurter Zeitung 

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lensteins Lager in der Stadt. Esoterischen Lesern sollte aber der Konnex mit dem nahe gelegenen Konzentrationslager einleuchten. * Lichtenberg: Siehe die Anmerkung zu „Vox humana” (9.10.1938). 61. „Menschlich“: RA So. 22.6.1941 (313/314), S. 3, Sp. 3. Druck in: Sternberger, Schriften, Bd. XI, S. 318–320. 62. Die neue „deutsche Normalschrift“: RA Sa. 13.9.1941 (467/468), S. 2, Sp. 4. Dieser und die beiden folgenden Artikel berichten von der überraschenden Entscheidung der Regierung, die „deutsche“ Frakturschrift zugunsten der jetzt für „normal“ ausgegebenen romanischen „Antiqua-Schrift“ abzusetzen. 63. Hand-Schrift: RA So. 14.9.1941 (469/470), S. 3, Sp. 2. 64. Antiqua statt Fraktur: RA So. 5.4.1942 (174/175), S. 3, Sp. 3. 65. Gedankenbahnen in der Sprache: RA Sa. 18.4.1942 (196/197), S. 3, Sp. 2—3. * „als stünden ...“: Das Zitat ist Faust, 1. Teil, Kapitel 11 (Abend. Ein kleines reinliches Zimmer) entnommen. 66. „Unter Beweis stellen“: RA Sa. 9.5.1942 (233/234), S. 3, Sp. 2—3. * Zeitschrift: Deutsches Recht. Zentralorgan des National-Sozialistischen Rechtswahrerbundes erschien zwischen 1931 und 1945. * ein gescheiter Mann: wahrscheinlich ein Verweis auf Schopenhauer, vgl. „Der Mensch hat das Wort“ (16.5.1937). 67. Soldatenausdrücke: RA Di. 2.6.1942 (275/276), S. 3, Sp. 4. * August Miller. Der Beitrag in den Schriften der Deutschen Akademie konnte nicht ermittelt werden. 68. Die Darumwisser: RA So. 5.7.1942 (337/338), S. 3, Sp. 4. Druck in: Sternberger, Schriften, Bd. XI, S. 321–323. 69. Führung und Sorge: RA So. 19.7.1942 (363/364), S. 3, Sp. 4. * Dr. Conti: Leonardo Conti (1900—1960) war seit 1939 Reichsgesundheitsführer. * Viktor von Weizsäcker: Der von Sternberger verehrte Heidelberger Ordinarius für Neurologie gilt als der Begründer der anthropologischen Medizin. In seinem Hauptwerk Der Gestaltkreis (Leipzig 1940), der auch in der Zeitung von Sternberger besprochen wurde („Der Mensch ist kein Ding“, FZ, 7.5.1940), geht es Weizsäcker um die Überwindung des Mechanismus und Materialismus in der ärztlichen Heilkunde. Weizsäcker betrachtete die Krankheit nicht als Defekt, sondern als einheitlichen Prozess von somatischen, emotionalen und kognitiven Vorgängen sinnhafter Natur. Dieser „christlich orientierte Pionier einer Humanisierung der Medizin“ (Condrau) hatte einen beträchtlichen Einfluss auf Sternber-

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 Anmerkungen zu den Texten

ger und dessen antinazistischen Diskurs über das Wesen des Menschen, z.B. in dem Artikel „Der Wert des Menschen“ (FZ, 26.1.1941) und in dem im vorliegenden Band wiederabgedruckten Beitrag „Menschen als Material“ (FZ, 21.4.1940).29 70. Volkhaft, volklich, völkisch. Ein Kapitel über Nachsilben: RA Fr. 7.8.1942 (398/399), S. 4, Sp. 1—2. * ganzheitlich: Man kann nur mutmaßen darüber, was mit dem neueren Philosophieren gemeint ist. Zu untersuchen wäre aber ein Seitenhieb auf Heideggers Existenzialontologie, mit dem sich auch Sternbergers Sprachkritik dieser Jahre auseinandersetzt.30 71. Zwischenmenschlich: RA Di. 15.9.1942 (470/471), S. 3, Sp. 3. 72. Umbetreuungen?: RA Sa. 26.9.1942 (491/492), S.3, Sp. 1—3 (Leitartikel). * Abschnitt: Gemeint ist der Vierjahresplan 1936—1940. 73. Leistung: RA Di. 20.10.1942 (535/536), S. 3, Sp. 4. * Weizsäcker: Der Psychologe Adolf Weizsäcker (1896—1975) war Mitglied des Verwaltungsrats des Deutschen Instituts für psychologische Forschung und Psychotherapie in Berlin (unter der Leitung von Professor M. H. Göring). Weizsäcker war ein Vertreter der Psychologie C. G. Jungs.31 * Max Weber: Der deutsche Soziologe Maximilian Carl Emil Weber (1864—1920). 74. Der Laie und das Fachwort: RA So. 25.10.1942 (545/546), S. 3, Sp. 4. * Mephisto: Das erweiterte Zitat lautet: „Denn eben wo Begriffe fehlen,/
 Da stellt ein Wort zur rechten Zeit sich ein./ Mit Worten läßt sich trefflich streiten,/ Mit Worten ein System bereiten,/ An Worte läßt sich trefflich glauben,/ Von einem Wort läßt sich kein Jota rauben“ (Faust I, Kapitel 7 (Studierzimmer)). 75. „Brot kosten Geld“: RA So. 1.11.1942 (558/559), S. 3, Sp. 4. 76. Moralische Tests: RA So. 6.12.1942 (623/624), S. 3, Sp. 4. * Tierquälerei: An anderer Stelle nimmt Sternberger das am 1.1.1934 erlassene Tierschutzgesetz zum Anlass eines ironischen Kommentars über den Opportunismus des Regimes.32 77. Ein neues Wort: RA Do. 10.12.1942 (630/631), S. 3, Sp. 3.

29 Killy (Hg.) 1992, Bd. 12, S. 234; Kühlmann (Hg.) 2011b, S. 272; Sternberger 1987 (Schriften, Bd. 8), S. 157—162. 30 Sternberger 1934. Vgl. hierzu Dodd 2007, S. 82—90. 31 Vgl. Lockot 1985, S. 193, 197f. 32 “Gibt es noch Vivisektion?” (FZ, 1.10.1938). Vgl. Sternberger 1938, S. 229 (1981, S. 274).



Texte aus anderen Publikationen 

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78. Über die Nachahmung: RA Fr. 25.12.1942 (658/659), S. 6, Sp. 2—3. Druck: Sternberger 1956, S. 181–185. Auf S. 248 wird dort das Erscheinungsdatum irrtüm­ licherweise als 15.12.1942 angegeben. * „Anthropologie“: Das Zitat ist der Anthropologie in pragmatischer Hinsicht entnommen („Von den Eigenschaften, die blos daraus folgen, daß der Mensch einen Charakter hat oder kein Charakter ist“, Absatz 1).33 * „Wie er sich räuspert [...]“: Das Zitat ist Schillers Wallensteins Lager (1. Aufzug, 6. Auftritt) entnommen. Diese Worte der gerade in Wallensteins Lager eingetroffenen Jäger lassen Zweifel aufkommen an dem „Genie“ des Generals, aber auch an der Blindheit der Gefolgschaft, die ihn bis in die Körpersprache hinein nachahmt. Das erweiterte Zitat lautet: „Wie er sich räuspert, und wie er spuckt,/ Das habt ihr ihm glücklich abgeguckt;/ Aber sein Schenie, ich meine, sein Geist/ Sich nicht auf der Wachparade weist.“ 79. Unbegrenzte Fähigkeiten?: RA So. 14.2.1943 (82: Abendblatt/ Erstes Morgenblatt) S. 3, Sp. 4. 80. Bekochen und beschirmen: RA Mi. 25.8.1943 (431), S. 3, Sp. 4. Faksimile: Gillessen 1986, S. 368. * Herr Raffke: Ein wohl aus dem Berlinischen Dialekt stammender, in der Weimarer Republik kursierender Name für einen raffgierigen Menschen.34

Texte aus anderen Publikationen 81. Religion, Natur, Kultur – soll und kann man solche Hochbegriffe verdeutschen?: Muttersprache 51 (1936), H. 1, Sp. 3—5. Der ursprüngliche Text wurde in Fraktur gesetzt, die hervorgehobenen Fremdwörter in Antiqua (Times). Die Fußnoten gehören zu dem ursprünglichen Artikel. 85. Das unvermeidbare Schmarotzerwort: Karl Friedrich Baberadt (auch Karlfriedrich Baberadt) war der Deckname des Frankfurter Schriftstellers und Literaturhistorikers Karl B. Friedrich (1880—1943), der laut dem Gegenwart-Verzeichnis seit 1920 Redakteur bei der Frankfurter Zeitung war und im April 1943 aus der Redaktion ausgeschieden ist. Er war also noch Mitarbeiter der Zeitung, als diese Glosse in der Zeitschrift der Propagandakompanien Deutsche Presse erschien. Zu seinen Veröffentlichungen in dieser Zeit gehört Das Frankfurter Anekdoten-Büchlein (1939).35 33 Vgl. Kant 1833, S. 261. 34 Schlobinski 1986, S. 151. 35 Brück 1956a, S. 56; Lüdtke (Hg.) 1943, S. 25; Peschke 2005, S. 144.

Anmerkungen zu den Autoren Ernst Benkard (1883—1946) wird im Gegenwart-Verzeichnis nicht aufgeführt, wirkte aber als Korrespondent, Kunsthistoriker und Erzähler am Feuilleton und an der Frauenbeilage der Frankfurter Zeitung mit. Nach dem Studium in Leipzig, München, Berlin und Heidelberg wurde er 1907 Voluntär-Assistent am Städelschen Kunstinstitut in Frankfurt am Main. Zu seinen kunsthistorischen Schriften gehören Städelsches Kunstinstitut: Rembrandt (1912) und Die Städelsche Kunstschule 1817—1942 (1942). Er verfasste „mit kaum verhohlener Ironie“ (Gillessen) einen Bericht über die „große deutsche Kunstausstellung“ in München (FZ, 19. und 27.7.1937). Er war auch der „Informant“, der auf die Entfernung eines Gemäldes Vinzent van Gochs 1937 aus dem Städel-Museum in Frankfurt aufmerksam machte. Er war 1946 einer der Gründer (mit Benno Reifenberg) der Zeitschrift Die Gegenwart.1 (Text 52.) Walter Dirks (1901—1991), nach eigener Einschätzung „Katholik mit marxistischer Prägung“, studierte zwischen 1920 und 1923 Theologie in Paderborn und Münster und von 1928 bis 1933 Soziologie und Philosophie in Frankfurt und Gießen. Auf Vermittlung des Religionsphilosophen Romano Guardinis kam Dirks 1924 an die neugegründete linkskatholische Rhein-Mainische Volkszeitung in Frankfurt, deren Feuilleton er bis zu ihrer Schließung durch die Nationalsozialisten Anfang 1934 leitete. Nach mehrwöchiger „Schutzhaft“ im Sommer 1933 und zeitweiligem Schreibverbot erhielt er 1935 eine Anstellung im Lokalteil, später im Feuilleton der Frankfurter Zeitung. Nach der Einstellung der Zeitung 1943 wurde ihm eine weitere Ausübung des Berufs untersagt (siehe die Anmerkung zu Fritz Kraus). 1946 gründete er mit Eugen Kogon und Clemens Münster die Frankfurter Hefte, in denen er 1950 den Aufsatz „Der restaurative Charakter der Epoche“ veröffentlichte, in dem er aus einer Position des christlichen Sozialismus den „restaurativen Charakter“ der Bundesrepublik kritisierte. Zwischen 1948 und 1957 war er innenpolitischer Kommentator bei dem Süddeutschen Rundfunk und freier Mitarbeiter verschiedener Tageszeitungen. Anfang der fünfziger Jahre beteiligte er sich an Untersuchungen des Frankfurter Instituts für Sozialforschung und gab zusammen mit Theodor W. Adorno die Frankfurter Beiträge zur Soziologie heraus. Zwischen 1956 und 1966 leitete er die Hauptabateilung Kultur des Westdeutschen Rundfunk in Köln.2 (Text 80.) Wilhelm Furtwängler (1886—1954), eine durchaus kontroverse Figur der „inneren Emigration“, wurde 1922 Chefdirigent der Berliner Philharmoniker und 1933 auch Leiter der Berliner Staatsoper und Vizepräsident der Reichsmusikkammer. Ein Bekannter Heinrich Simons, des 1934 emigrierten Vorsitzenden der Redaktionskonferenz der Frankfurter Zeitung, unterhielt er gute Beziehungen zu der Zeitung. Ein offener Briefaustausch mit Goebbels in dem Berliner Tageblatt im April 1933 zum „Trennungsstrich zwischen Juden und Nichtjuden“ im Musikleben („Nur einen Trennungsstrich erkenne ich letzten Endes an: den zwischen guter und schlechter Kunst“) wurde in der Frankfurter Zeitung nachgedruckt (FZ, 12.4.1933), sowie im November 1934 seine Verteidigung des Komponisten Paul Hindemith in der Deutschen Allgemeinen Zeitung gegen Angriffe 1 Klötzer (Hg.) 1994, S. 58; Gillessen 1986, S. 333f., 355, 360, 371, 523; „Benkard, Ernst“, in: Hessische Biografie http://www.lagis-hessen.de/de/subjects/idrec/sn/bio/id/901 Stand: 14.3.2013 (17.4.2013). 2 Vgl. Kühlmann (Hg.) 2008, S. 44f; Klimt (Hg.) 1999, S. 115; Mitteilung Ulrich Bröcklings an den Herausgeber.

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 Anmerkungen zu den Autoren

der NS-Kulturgemeinde (FZ, 26—30.11.1934). Danach musste Furtwängler seine Ämter aufgeben, gastierte aber weiter bei den Berliner Philharmonikern.3 (Text 36.) Albrecht Goes (1908—2000) studierte am Tübinger Stift Theologie, Germanistik und Geschichte und wurde 1930 ordiniert. Den Zweiten Weltkrieg erlebte er als Soldat, dann als Lazarett- bzw. Gefängnispfarrer. Bis 1953 war er Gemeindepfarrer in Baden-Württemberg. Als Lyriker trat er schon in der Weimarer Republik mit seinem ersten Gedichtband (Verse, Stuttgart 1932) hervor, publizierte 1934 einen weiteren Gedichtband (Der Hirte, Leipzig) und 1938 eine Studie über Mörike. Nach 1945 ist er als Autor von Erzählungen international bekannt geworden („Unruhige Nacht“, 1950; „Das Brandopfer“, 1954), die Themen aus der Kriegs- und nationalsozialistischen Zeit behandeln. Im engen Kontakt mit Martin Buber wirkte Goes nach 1945 als Befürworter der christlich-jüdischen Verständigung.4 (Text 40.) Hermann Herrigel (1888—1973), Bibliothekar und Essayist, ist als Redaktuer der Zeitung vor 1943 ausgeschieden. Er veröffentlichte über Fragen der Theologie, Philosophie und der Erwachsenenbildung in mehreren Zeitschriften, u.a. in Die Literarische Welt, Die Kreatur, Deutsche Monatshefte, Neue Rundschau, Das innere Reich. 1928 erschien ein von ihm mitverfasster Beitrag in einer Festgabe für Martin Buber.5 (Text 34.) Theodor Heuss (1884—1963), Politiker, Journalist und Biograf, studierte Nationalökonomie und Literatur in München und Berlin, und promovierte in Nationalökonomie. Als enger Mitarbeiter des liberalen Politikers Friedrich Naumann (1860—1919) leitete Heuss dessen Wochenschrift Die Hilfe zwischen 1905 und 1912. Er wurde anschließend Chefredakteur der Neckar-Zeitung, Schriftleiter der Zeitschrift März (von Ludwig Thoma und Hermann Hesse herausgegeben) und (mit Axel Schmidt) der Wochenschrift Deutsche Politik, 1923 Redakteur der Zeitschrift Die deutsche Nation (mit Harry Graf Kessler). Heuss war 1918 Mitbegründer der Deutschen Demokratischen Partei und 1924—1928 und 1930—1933 Reichtagsabgeordneter der DDP bzw. der Deutschen Staatspartei. Trotz öffentlicher Kritik an dem deutschen Faschismus (z.B. in seinem Buch Hitlers Weg (Stuttgart 1932)) stimmte Heuss aufgrund des Fraktionszwangs als Reichstagsabgeordneter dem Ermächtigungsgesetz zu. Sein Reichtagsmandat wurde ihm anschließend entzogen und seine Bücher von dem NS-Studentenbund öffentlich verbrannt. Obwohl der hier wieder abgedruckte Beitrag gezeichnet ist, soll Heuss nach Fritz Sänger häufiger und in den Nazijahren heimlicher Mitarbeiter der Frankfurter Zeitung gewesen sein. Beiträge von ihm sind ab Dezember 1941 unter dem Kürzel r.s. oder unter dem Decknamen Thomas Brackheim erschienen. Er hatte auch schon 1918/19 als Verfechter des parlamentarischen Rechtsstaats in der FZ Beiträge veröffentlicht. 1948 wurde Heuss erster Vorsitzender der FDP, 1949 Bundespräsident der neu gegründeten Bundesrepublik.6 (Text 24.) Hans Kallmann (1899—1950) war laut Gillessen „der Temperamentvollste in der Redaktion von 1933, der im Kapp-Putsch auf der ‚falschen’ Seite gestanden hatte und Ende der zwanziger Jahre Geschäftsführer des Reichsbundes der Deutschen Jungdemokraten gewesen war“. Der Jurist Kallmann gilt als Erfinder der Rubrik „Kurze Meldungen“ aus Provinzzeitungen, mit denen ab 3 Geissmar 1947, S. 89—217; Gillessen 1986, S. 39, 126, 230f. 4 Vgl. Kühlmann (Hg.) 2009a, S. 276. 5 Klimt (Hg.) 1999, S. 249; Schulz 1969, S. 7—19. 6 Vgl. Kühlmann (Hg.) 2009b, S. 388f.; Sänger 1978, S. 51; Gillessen 1986, S. 18.



Anmerkungen zu den Autoren  

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Februar 1934 die Redaktion den nationalsozialistischen Alltag zu entlarven suchte. Als jüdischer Mitarbeiter musste er 1936 aus der Redaktion ausscheiden. Er emigrierte in die Vereinigten Staaten und kehrte 1945 als „Intelligence“-Offizier in amerikanischer Unform nach Berlin zurück.7 (Text 19.) Rudolf Kircher (1885—1954) war von 1912 bis August 1943 Redakteur der Zeitung, nach 1920 Londoner Korrespondent und 1930—1938 Leiter des Berliner Büros. Kircher hatte in Heidelberg, Berlin, München und Freiburg Jura studiert und wurde in Heidelberg 1909 promoviert. Er gilt als starker Charakter und Einzelgänger in der Redaktion und laut Gillessen „der einzige, der Ansprüche der Zeitung gegenüber Gauleitern und anderen Parteifunktionären einschüchternd-herrisch vorzutragen vermochte“, allerdings nicht immer mit der Unterstützung seiner Frankfurter Kollegen. Am 1. Januar 1934 übernahm er, obwohl weiter in Berlin tätig, die Rolle des „Hauptschriftleiters“ der Zeitung im Sinne des Schriftleitergesetzes. Diese Rolle habe er, Benno Reifenberg zufolge, immer inter pares ausgeübt und bei Kriegsausbruch 1939 den Kollegen in der Redaktion das Geständnis gemacht, seine Politik sei jetzt gescheitert. Kirchers Gebiet war die Politik. Wegen seiner Beziehungen zu hohen Politikern wie z.B. von Schleicher soll er sich nach den politischen Morden am 30. Juni 1934 („Röhm-Putsch“) in Lebensgefahr gewähnt haben. Die Redaktion versandte Kircher 1938 nach Rom nach einem homosexuellen Zwischenfall, der von dem Regime jedoch nicht gegen ihn und die Zeitung genutzt wurde.8 (Text 3.) Fritz Kraus (1903—1960) war seit 1934 Redaktionsmitglied der Frankfurter Zeitung. Im Oktober 1943, als die Redakteure nach der Einstellung der Zeitung an andere Blätter verstreut werden sollten, wurde gegen Kraus und sieben weitere Redakteure (darunter Walter Dirks) ein von der Frankfurter Gauleitung initiiertes Vermittlungsverfahren eingeleitet, zum Entzug der Berufserlaubnis wegen „politischer Unzuverlässigkeit“. Kraus konnte dennoch (anders als Dirks) seine Stellung auf der Berufsliste behalten. Nach 1945 lebte er als freier Journalist am Bodensee und veröffentlichte mehrere Aufsätze zur deutschen Literatur.9 (Text 32.) Mechtilde (Fürstin) Lichnowsky, geborene Gräfin von Arco-Zinnenberg (1879—1958), Lyrikerin, Erzählerin, Dramatikerin und Sprachkritikerin; Ururenkelin Kaiserin Maria Theresas (1717— 1780); heiratete 1904 Karl Max Fürst Lichnowsky (1860—1928), der zwischen 1912 und 1914 Deutscher Botschafter in London war. Zu ihren bekanntesten Werken zählen die Satire Der Kampf mit dem Fachmann (1924), das autobiographische Buch Kindheit (1934), und die sprachkritische Sammlung Worte über Wörter (1949). 1936 ging sie mit dem ins österreichische Exil gehenden Teil des S. Fischer Verlags nach Wien; ihre Bücher konnten bis zum Anschluss, im März 1938, nach Deutschland importiert werden. Als Gottfried Bermann Fischer seinen Verlag nach Schweden rettete, versuchte die durch ihre Heirat mit ihrem früheren Verlobten, Ralph Harding Peto (1877—1945), einem britischen Offizier, seit 1937 zum Untertan der britischen Krone gewordene Autorin mit ihrem Werk zum Berliner S. Fischer Verlag unter Peter Suhrkamp zurückzukehren. Der Versuch, Worte über Wörter 1939 in Deutschland herauszubringen, misslang. Einen Tag vor dem Beginn des Zweiten Weltkriegs musste Suhrkamp der Autorin mitteilen, „dass wegen der Verbindung zum Bermann Fischer Verlag nicht gewünscht wird, dass unser Verlag wieder Dinge 7 Gillessen 1986, S. 106, 187, 218—221, 260, 285. 8 Gillessen 1986, S. 70, 168, 213, 290, 306—308, 327; Reifenberg 1954; Frei/ Schmitz 1989, S. 154— 159. 9 Gillessen 1986, S. 497—499.

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 Anmerkungen zu den Autoren

von dort übernimmt“. Mechtilde Lichnowsky kehrte von Cap d’Ail, wo sie seit 1930 lebte, auf die Schlösser Grätz (bis 1943) und Kuchelna (bis 1945) zurück. Die Geheime Staatspolizei verhinderte ihre Ausreise nach England. Nach Auskunft von W. Sternfeld vom 28.2.1948 weigerte sie sich schriftlich, der Reichsschrifttumskammer beizutreten, konnte aber, wie der hier wieder abgedruckte Aufsatz zeigt, doch noch gelegentlich veröffentlichen. Ab 1941 standen ihre Werke auf der „Liste des schädlichen und unerwünschten Schrifttums“. Ein von ihr „für die Schublade“ verfasster Kommentar zu Hitlers Mein Kampf ist im Deutschen Literaturarchiv in Marbach aufbewahrt. Ihre Sprachkritik lässt den Einfluss Karl Kraus’ (1874—1936) erkennen, zu dessen Bekanntenkreis sie gehörte .10 (Text 22(?), 58.) Ernst Michel (1889—1964), reformkatholischer Publizist und Sozialwissenschaftler, Autor der linkskatholischen Rhein-Mainischen-Zeitung, für die er 1924 Walter Dirks als Leiter des Feuilletons warb, studierte in Heidelberg und München Germanistik, Geschichte und Kulturgeographie. Seit 1921 war er Dozent an der Akademie der Arbeit an der Universität Frankfurt, wo er 1931 zum Honorarprofessor für soziale Betriebslehre und Sozialpolitik ernannt wurde. Nach seiner Zwangspensionierung 1933 auf Grund des „Gesetzes zur Wiederherstellung des Berufsbeamtentums“ publizierte er gegen die Rassenideologie gerichtete Artikel in der Frankfurter Zeitung und der von Carl Muth herausgegebenen Zeitschrift Hochland.11 (Text 2.) Heddy Neumeister (1901—1977) studierte Philosophie, Germanistik und Volkswirtschaft in Bonn, Göttingen, Münster und Berlin, und wurde 1931 an der Universität Münster mit einer Arbeit über „Geistlichkeit und Literatur: zur Literarsoziologie des 17. Jahrhunderts” promoviert. Sie war 1930—1932 bei der Kölnischen Zeitung, dann freie Journalistin, kam 1936 in das Berliner Büro der Zeitung als Korrespondentin für die Sozialpolitik. In der Frankfurter Zeitung war 1934 von ihr der Beitrag „Studentin 1934“ in der Frauenbeilage erschienen (FZ, 25.2.1934). Zu ihren Fachgebieten gehörten die Mode und Themen der Arbeitswelt, eine Sozialreportage von ihr im Jahr 1936 wurde in der SS-Zeitschrift Das Schwarze Korps attackiert. Sie veröffentlichte auch in anderen Zeitschriften, z.B. 1943, im Reichsarbeitsblatt, Beiträge zur Sozialpolitik und Arbeitsleben.12 Nach 1945 wirkte sie bei der Wirtschaftszeitung und ab 1952 bei der Frankfurter Allgemeinen Zeitung. Sie ist die Verfasserin mehrerer Studien zur Sozialpolitik (z.B. Organisierte Menschlichkeit? Grenzen des sozialen Fortschritts (1962)).13 (Text 73.) F. M. Reifferscheidt war der Deckname des Schriftstellers und Sprachpflegers Friedrich Mayer (1900–1957), des Verfassers von Josef Ponten oder Über die Sprachkunst (1925), Deutsche Spottund Streitschriften (1939), Deutsche Sinngedichte (1940), Wölfe (1948), und einer Über­set­zung Platons, Die Verteidigung des Sokrates (1947). Mit Sternberger scheint ihn als Autor in den Jahren 1927–1943 einiges zu verbinden. Er tritt in den meisten Jahrgängen der Deutschen Republik 10 Vgl. Kühlmann (Hg.) 2010, S. 396; Pfäfflin/ Dambacher 2001; Emonts 2009, S. 63; Hemecker 1993, S. 72; DLA Lichnowsky/ Verschiedenes/ Konv. Anmerkungen zu einem Buch [...]. 11 Lowitsch 1994. 12 Zum Beispiel: „Das Buch in der Fabrik: Gegenwart und Zukunft der Werkbüchereien“. In: Reichsarbeitsblatt. Amtsblatt des Reichsarbeitsministeriums, des Reichsversicherungsamts und der Reichsversicherungsanstalt für Angestellte, Bd. 23, Nr. 5 (1943), p. 202—204. (Website der Ilmenauer Universitätsbibliothek. http://find.bibliothek.tuilmenau.de/Author/Home?author=Neumeister%2C%20Heddy (17.4.2013). 13 Habel (Hg.) 1970, S. 913; Bertschik 2005, S. 276, 319; Gillessen 1986, S. 32, 267.



Anmerkungen zu den Autoren  

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als Verfasser von iro­nischen Berichten und (auch nach der Macht­übergabe an die Nationalsozialisten) von Sprach­glos­sen auf, publizierte nach 1933 in mehreren Zeit­schriften wie Deutsche Rundschau, Germania, Katholische Kultur­kritik, und der katholischen Kulturzeitschrift Hochland sprach- und kultur­­kritische Beiträge. Reifferscheidts Buch Über die Sprache (1939) löste die hier wiederabgedruckte Auseinandersetzung mit Sternberger aus. Auch als Positions­bestimmung Stern­bergers, die wesentliche Aussagen des 1945 von ihm initiierten, mit Storz und Süskind mitherausgegebenen Wörterbuchs des Unmenschen vorweg­nimmt, besitzt dieser Streit aus den Jahren 1939/ 1940 eine hohe Relevanz.14 (Text 45.) Karl Ludwig Reinhardt (1886—1958) war klassischer Philologe in Bonn und Berlin, u.a. bei Ulrich von Wilamowitz-Moellendorf. a.o. Professor in Marburg 1916, ordentlicher Professor in Hamburg 1919, in Frankfurt/Main 1923, in Leipzig 1942. Er ist Autor von Publikationen über griechische Philosophie und Dichtung, u.a. Poseidonios (1921), Platons Mythen (1927), Nietzsches Klage oder Ariadne (1935), Aischylos als Regisseur und Theologe (1949).15 (Text 37.) Franz Schnabel (1887—1966): Der Verfasser von Deutsche Geschichte im neunzehnten Jahrhundert (4 Bände, 1929—1937) war ordentlicher Professor der Geschichte an der Technischen Hochschule Karlsruhe von 1924 bis 30.9.1936, wo er „mit Entschließung des Führers und Reichskanzlers vom 9. Juni 1936 auf Grund von § 4 des Gesetzes über die Entpflichtung und Versetzung von Hochschullehrern aus Anlaß des Neuaufbaues des deutschen Hochschulwesens vom 21. Januar 1935 mit Ende September 1936 von den amtlichen Verpflichtungen entbunden“ wurde. Damit bekam er auch für weitere Bände seiner Geschichte (die bis 1848 vorgedrungen war) Publikationsverbot. Von 1937 bis 1945 lebte er zurückgezogen als Privatgelehrter in Heidelberg, der gelegentlich in der Frankfurter Zeitung publizierte. Am 5. September 1945 wurde er zum Landesdirektor der Abteilung Kultus und Unterricht, Landesregierung Nordbaden ernannt und übernahm an der TH Karlsruhe nur noch Lehraufträge.16 (Text 53.) Rudolf Alexander Schröder (1878—1962) war Dichter, Übersetzer, Literaturtheoretiker, und Architekt. Er studierte Architektur, Musik und Kunstgeschichte in München, war 1899 Mitbegründer der literarischen Monatsschrift Die Insel, aus der der gleichnamige Verlag hervorging. In dem Ersten Weltkrieg, den er 1914 in Gedichtsbänden wie Heilig Vaterland begrüßte, arbeitete er als Zensor in Brüssel. Seine protestantische Frömmigkeit führte ihn nach 1933 zur Bekennenden Kirche. 1935 bekam er Auftrittsverbot, 1936 übersiedelte er nach Chiemsee als bewusster Schritt in eine „innere Emigration“. Neben Predigten wirkte er nach 1942 als Lektor der ev. Landeskirche in Bayern. In diesen Jahren beschäftigte er sich insbesondere mit der Gattung Kirchenlied. Seine vom Bundespräsidenten Theodor Heuss unterstützte „Hymne an Deutschland“ konnte sich 1950 nicht gegen die von Konrad Adenauer vorgeschlagene dritte Strophe des „Deutschlandlieds“ als Nationalhymne der Bundesrepublik durchsetzen.17 (Text 39.) Dolf (Adolf Georg) Sternberger (1907—1989) studierte bei Karl Jaspers in Heidelberg und bei Martin Heidegger in Freiburg i. Breisgau Philosophie, promovierte 1932 bei Paul Tillich mit einer 14 Schuder (Hg.) 1973, S. 440. Vgl. Dodd 2007, S. 196—206; Knobloch 2005, S. 84f. 15 Killy/ Vierhaus 1998, S. 219f; Hildebrandt 1958; Gadamer 1958. 16 Hockerts (Hg.) 2007, S. 273f.; Website der Karlsruher Institut für Technologie: http://www. geistsoz.kit.edu/franz_schnabel.php. (17.3.2011) 17 Hockerts (Hg.) 2007, S. 574—576.

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 Anmerkungen zu den Autoren

kritischen Studie über Heidegger (Der verstandene Tod, 1934), stand auch in der Zeit von 1930 bis zu seiner Schließung durch das NS-Regime dem Frankfurter Institut für Sozialforschung und Theodor Adorno nahe. 1930 heiratete er Ilse Blankenstein (geb. Rothschild). 1934 wurde er als einer der letzten jungen Redakteure der Frankfurter Zeitung eingestellt. Am 5. Mai 1943 musste er (mit zwei anderen „jüdisch versippten“ Kollegen – Wilhelm Hausenstein und Otto Suhr) – das Haus unverzüglich verlassen und ist mit Hilfe von Freunden mit seiner Frau bis Ende des Kriegs „untergetaucht“. 1938 erschien sein Buch Panorama oder Ansichten des 19. Jahrunderts (Henri Goverts, Hamburg). Sternberger gilt als der heute prominenteste Redakteur, der die sprachkritische Richtung der Frankfurter Zeitung bestimmte. Im Herbst 1945 bekam er von der amerikanischen Besatzungsbehörde eine Lizenz für die Monatsschrift Die Wandlung (mit Jaspers, Alfred Weber und Werner Krauss als Mitherausgebern), in der er die Glossenserie „Aus dem Wörterbuch des Unmenschen“ zusammen mit Gerhard Storz und W. E. Süskind verfasste. Es folgten 1957 und 1968 Buchausgaben, in denen die Glossenserie in teils abgeänderter Form fortgeschrieben wurde. 1945 widmete er sich einer akademischen Laufbahn als Politikwissenschaftler und wurde 1960 ordentlicher Professor für die Wissenschaft von der Politik. Bekannt wurde er vor allem durch seine Prägung des Begriffs „Verfassungspatriotismus“.18 (Texte 4—18, 23, 26, 28, 29, 31, 35, 42, 44, 46, 47, 49, 57, 61, 68, 69, 75, 76, 78.) Ein von Sternberger zusammengestelltes (im Deutschen Literaturarchiv in Marbach aufbewahrtes) „Register“ seiner Veröffentlichungen in der FZ nennt ferner die Texte 21, 60, 62 und 63. Gerhard Storz (1898—1893), Literaturwissenschaftler, Pädagoge und Kulturpolitiker, erlebte den Ersten Weltkrieg als Soldat. Er studierte Klassische Philologie und Germanistik in Tübingen und wirkte in den 1920er Jahren als Schauspieler und Regisseur. 1932 wurde er Gymnasiallehrer für Alte Sprachen und Deutsch in Biberach und Schwäbisch Hall. Seine erste Glosse in der Frankfurter Zeitung erschien 1935. Zu seinen Buchveröffentlichungen im „Dritten Reich“ gehören das Laienbrevier über den Umgang mit der Sprache (1937), Das Drama Friedrich Schillers (1937), und Gedanken über die Dichtung (1941). Storz war mit Dolf Sternberger und W. E. Süskind Mitautor der Glossenserie „Aus dem Wörterbuch des Unmenschen“ in der von Sternberger mitherausgegebenen Monatsschrift Die Wandlung (1945—1949). Von 1958 bis 1964 war er Kultusminister des Landes Baden-Württemberg und von 1966 bis 1972 Präsident der Deutschen Akademie für Sprache und Dichtung.19 (Texte 27, 30, 33, 43, 55, 56, 59, 65, 70, 71, 74, 77, 79.) Karl Voßler (1872—1949), Romanist, Sprachphilosoph und Übersetzer, war einer der prominentesten deutschsprachigen Sprachwissenschaftler in der ersten Hälfte des zwanzigsten Jahrhunderts. Nach einer Promotion und Habilitierung in Heidelberg wurde er ordentlicher Professor 1909 in Würzburg und 1911 in München. In dem Aufsatz „Positivismus und Idealismus in der Sprachwissenschaft“ (1904) wandte er sich gegen den Empirismus der Junggrammatiker. Sein Denken über die Sprache stand in produktiver Auseinandersetzung mit dem Werk Benedetto Croces, dessen Schriften er ins Deutsche übersetzte. 1914 war er einer der dreiundneunzig Unterzeichner des propagandistischen „Aufrufs an die Kulturwelt“ zu Beginn des Ersten Weltkriegs. Als Rektor der Münchener Universität lud er Hugo von Hofmannsthal 1926 zu dessen Rede „Das Schrifttum als geistiger Raum der Nation“ ein. Im „Dritten Reich“ äußerte sich Voßler gegen den Antisemitismus an deutschen Hochschulen, wurde 1937 seiner Rechte an der Universität enthoben. Zu seinen Veröffentlichungen im „Dritten Reich“ gehören Einführung in die spanische 18 Gillessen 1986, S. 481; Kühlmann (Hg.) 2011a, S. 252f.; Waldmüller 1988; Dodd 2007. 19 Vgl. Storz 1973, Kühlmann (Hg.) 2011a, S. 313f; Klimt (Hg.) 1999, S. 606f.



Anmerkungen zu den Autoren  

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Dichtung des Goldene Zeitalters (1934), Poesie der Einsamkeit in Spanien (1940), und eine Übersetzung von Dantes Divina Commedia (Zürich 1942).20 (Text 38.) Erik Graf Wickenburg war das Pseudonym für den österreichischen Schriftsteller und Journalisten Robert (von den) Steinen (1903—1998), den Verfasser u.a. von den Romanen: Farben zu einer Kinderlandschaft (1934), Salzburger Gloria, der Tag einer Landschaft (1938), Florian (1940). Er studierte ohne Abschluss in München und Wien Germanistik und wurde 1928 Feuilletonredakteur der Frankfurter Zeitung. 1942 wurde er einberufen. 1945 wurde er Chefredakteur des „International Service Branch“ in Salzburg, wirkte 1946 bei der Wiener Bühne, leitete ab 1949 das Feuilleton der Stuttgarter Zeitung, und wurde 1951 österreichischer Korrespondent der Welt. Von 1980 bis 1988 war er Präsident des österreichischen PEN.21 (Texte 48, 50, 51, 67.)

20 Vieraus (Hg.) 2008, S. 317f.; Kühlmann (Hg.) 2011b, S. 32—34. 21 Vieraus (Hg.) 2008, S. 594; Klimt (Hg.) 1999, S. 664; Killy (Hg.) 1992, S. 290.

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Personenregister Aesop 20, 94 Alexander der Große 155 Amann, Max 11 Andersen, Hans Christian 75 Antäus 133 Aristoteles 25 Arndt, Ernst Moritz 135, 168, 250 Attikus 123

Ehrke-Rotermund, Heidrun X, 19, 20 Engel, Eduard 42, 43, 94, 229, 231, 232, 265

Baberadt, Karl Friedrich 41, 42, 52, 235, 255, 264 Baeyer, Hans Ritter von 157, 249 Bauer, Gerhard 4, 5, 15, 32, 264 Baumann, Gerhard 231, 232 Beethoven, Ludwig von 126, 127 Benkard, Ernst 14, 39 Betz, Werner 41, 52, 264 Beumelburg, Werner 31, 83, 84 Bismarck, Otto von 15, 242 Böhme, Jakob 176 Bonifatius 57, 240 Bosch, Carl 8 Breitkopf, Gottlieb Immanuel 191 Broszat, Martin 3, 5, 6, 264 Brück, Max von 7, 13, 42, 240, 264 Burckhardt, Jakob 212 Buttmann, Rudolf 44

Gambetta, Léon 170 Geißler, Ewald XIII, 44, 227, 234, 245, 270 Gillessen, Günther VII, X, 7, 8, 11, 12, 14, 16, 20, 21, 24, 241, 242, 257, 258, 259, 260, 262, 265 Goebbels, Joseph 7, 9, 10, 11, 13, 16, 28, 31, 42, 43, 63, 257, 265 Goes, Albrecht 47, 135, 136, 258 Goethe, Johann Wolfgang von 87, 92, 114, 127, 135, 136, 178, 212, 228 Goffmann, Erving 4, 32, 265 Görres, Joseph 168, 250 Grimm, Brüder 137 Grimm, Jakob 57 Grimm, Reinhold 2, 3, 57, 86, 87, 136, 137, 141, 168, 192, 212, 248, 265 Grimm, Wilhelm 212 Gröber, Gustav 131

Campe, Joachim Heinrich 228 Cäsar, Julius 89, 90, 234 Christus, Jesus 134 Cicero 90, 123 Conti, Leonardo 200, 253

Haecker, Theodor 47, 51, 136, 248, 266 Hamann, Johann Georg 25, 95, 135, 136, 180, 244, 252, 266 Händel, Oskar 228 Hausenstein, Wilhelm 11, 13, 21, 262 Hebel, Johann Peter 183 Hehn, Viktor 212 Heidegger, Martin 46, 249, 261, 262 Heinrichsdorff, Wolf 16, 17, 34, 266 Hepp, Fred 7, 14, 266 Herder, Johann Gottfried von 25, 99, 135, 176, 244, 266 Herrigel, Hermann 124 Heuss, Theodor VIII, 18, 39, 43, 47, 241, 258, 261, 266

Danckwardt, Joachim 1, 246, 264 Darré, Walther 31, 246 Dietrich, Otto 10, 11, 12 Dirks, Walter VIII, 24, 40, 223, 239, 257, 259, 260 Donisch, Max 135 Dove, Alfred 57, 58, 240 Eckart, Dietrich 12 Eckhart, Meister 228

Fichte, Johann Gottlieb 135, 194, 228 Frei, Norbert 7, 8, 9, 28, 29, 53, 259, 265 Freud, Sigmund 1 Fritzsche, Hans 11 Furtwängler, Wilhelm 26, 125, 247, 257, 258

272 

 Personenregister

Hitler, Adolf 6, 9, 12, 18, 22, 28, 29, 30, 31, 32, 39, 49, 53, 61, 63, 110, 115, 185, 229, 232, 241, 251, 258, 260, 264, 266, 268 Holder, Clemens ten 47, 135, 136, 245, 248 Hölderlin, Friedrich 130, 143, 146, 147, 148, 149 Homer 134, 135 Humboldt, Wilhelm von 25, 101, 135, 176, 244 Imelmann, Johannes 86, 243 Jahn, Friedrich Ludwig 228, 246, 266 Jancke, Oskar 47, 119, 120, 247 Jaspers, Karl 25, 46, 261, 262, 266, 270 Jünger, Ernst 25, 104, 136 Kallmann, Hans 39, 85, 239, 258 Kant, Immanuel 155, 220, 255, 266 Karl der Große 58, 59, 60, 191 Karlstadt, Lisl 145, 248 Keller, Gottfried 90, 193 Kellermann, Francois-Etienne und François Christoph de 167 Kierkegaard, Søren 25, 102, 244, 248, 267 Kircher, Rudolf VIII, 6, 15, 16, 21, 22, 25, 27, 28, 29, 30, 31, 33, 53, 60, 239, 241, 259, 268 Kléber, Jean Baptiste 167, 250 Klemperer, Victor 51, 267 Knobloch, Clemens 45, 46, 261, 267 Kraus, Fritz 31, 39 Kraus, Karl 31, 41, 252, 260, 264, 268 Küsel, Herbert 12 Laurent, Fernand 48, 169, 170, 250, 251 Lessing, Gotthold Ephraim 89, 141, 149, 198, 228 Lichnowsky, Mechtilde 180, 239, 243, 252, 259, 260, 265, 266, 267, 268 Lichtenberg, Georg Christoph 27, 30, 111, 124, 141, 186, 253 Ludwig XIV. 165 Luther, Martin 135, 137, 184 Mann, Heinrich 234 Mann, Thomas 21 Matschoß, Alexander 43, 227, 230, 242

Mauthner, Fritz 23, 267 Michel, Ernst 15, 252, 268 Miller, August 33, 196, 253 Mozart, Wolfgang Amadeus 126 Napoleon Bonaparte 167, 168, 250, 251 Naumann, Friedrich 30, 61, 241, 258, 266 Nietzsche, Friedrich 68, 104, 242, 268 Notker 228 Novalis (Hardenberg, Friedrich von) 25, 103, 245 Ossietzky, Carl von 47 Ovid 90 Papen, Franz von 6, 269 Pasteur, Louis 168, 250 Pechel, Rudolf VIII, 19 Platon 129, 134, 176 Polenz, Peter von 31, 32, 33, 37, 39, 41, 43, 49, 268 Pörksen, Uwe 52 Protagoras 94 Quintilian 19 Rapp, Jean 167, 250 Reifenberg, Benno 7, 13, 257, 259, 268 Reifferscheidt, Friedrich Mayer 44, 45, 46, 140, 146, 153, 248, 260, 261 Reinhardt, Karl 26, 27, 125, 128, 247, 261, 265, 266 Renan, Ernest 48, 166 Rey, Elisabeth 167 Rey, Michel 167 Richelieu, Armand 165 Riegel, Hermann 42 Röhm, Ernst 16, 259 Rosenstock, Eugen 58, 60, 241 Rotermund, Erwin X, 16, 19, 20, 265 Rückert, Friedrich 168, 250 Rück, Peter 49, 192, 268 Sacher, Heinz 44, 233 Sänger, Fritz 7, 9, 10, 12, 15, 16, 18, 130, 131, 132, 148, 240, 258, 268 Schiller, Friedrich 92, 127, 137, 194, 255, 262

Personenregister 

Schirach, Baldur von 31, 185, 246, 252 Schmitz, Johannes 7, 8, 9, 28, 29, 36, 44, 53, 259, 265, 269 Schnabel, Franz 47, 48, 165, 261 Schneider, Karl 229 Schopenhauer, Arthur 25, 26, 28, 39, 52, 53, 103, 253, 269 Schröder, Rudolf Alexander 26, 125, 132, 247, 261 Schubert, Franz 127 Seidel, Eugen 37, 51, 269 Seidel-Slotty, Ingeborg 37, 51, 269 Shakespeare, William 133 Siebert, Ludwig 31, 33, 185, 252 Simon, Heinrich 9, 243, 247, 269 Sokrates 198, 260 Sonnemann, Leopold 7 Sösemann, Bernd 8, 9, 10, 13, 21, 28, 269 Stapel, Wilhelm 234 Sternberger, Dolf VII, VIII, IX, X, 2, 6, 7, 11, 14, 17, 18, 20, 21, 22, 23, 24, 25, 27, 29, 30, 31, 32, 33, 34, 36, 39, 40, 41, 42, 43, 44, 45, 46, 47, 50, 52, 53, 64, 65, 66, 68, 69, 71, 72, 73, 74, 75, 77, 78, 79, 80, 81, 83, 84, 91, 104, 110, 111, 117, 124, 138, 142, 146, 147, 148, 149, 150, 154, 156, 177, 180, 186, 198, 200, 212, 214, 217, 239, 241, 242, 243, 249, 250, 252, 253, 254, 255, 260, 261, 262, 264, 269, 270 Sternberger, Ilse 34 Stöber, Rudolf 8, 12, 21, 22, 32, 47, 269 Storfer, Adolf 1, 2, 38, 47, 116, 246, 264, 266, 270 Storz, Gerhard VIII, 2, 6, 33, 34, 36, 37, 38, 39, 40, 41, 43, 44, 46, 47, 52, 53, 92, 93, 106, 116, 117, 119, 139, 141, 171, 173, 177, 183, 191, 202, 205, 210, 216, 221, 233, 239, 244, 246, 247, 252, 261, 262, 264, 269, 270

 273

Suhr, Otto 11, 262 Süskind, Wilhelm Emanuel 2, 25, 33, 39, 41, 46, 47, 52, 178, 179, 180, 251, 252, 261, 262, 264, 269, 270 Tacitus 89, 90 Tassilo von Bayern 58, 60, 241 Toepser-Ziegert, Gabriele 9, 10, 11, 12, 13, 264, 270 Treitschke, Heinrich von 63, 242 Troost, Frau 110 Tulla, Johann Gottfried 168, 250 Valentin, Karl 145 Vergil 90, 173, 248 Vico, Giambattista 25, 98 Voltaire 167 Voßler, Karl 26, 125, 130, 247, 262 Wagner, Adolf (Gauleiter von München) 110 Wagner, Richard 127, 128 Wallenstein, Albrecht 220 Watzlik, Hans 229 Weber, Max 210 Weisgerber, Leo 37 Weißenburg, Otfried von 58, 241 Weizsäcker, Adolf 209, 210 Weizsäcker, Viktor von 201, 253 Wickenburg, Erik Graf VIII, 33, 35, 155, 157, 161, 196, 239, 263 Wilhelm II. 61 Winnig, August 228, 229 Wolff, Christian 228 Wolf, Hugo VII, 16, 127, 266 Zesen, Philipp von 176, 228

Sprachkritisches Register Aufgenommen sind die in dieser Studie sprachkritisch thematisierten Ausdrücke, STRUKTUREN, INSTITUTIONEN und BEGRIFFE. (ALLGEMEINER) DEUTSCHER SPRACHVEREIN 37, 42—44, 65, 233 abschießen 217 AKKUSATIVOBJEKT (Der Mensch als) 39, 223, 224 Allerheiligenstritzel 33, 197 an sich 120 Angeber 6, 34, 35, 37, 53, 183, 184, 252 Arbeitsmarkt 15, 57, 240 Artheit 194 Arttum 109 194 Assimilierung 116 Aufartung 43, 44, 52, 109 AUFBLÄHUNG/ SCHWULST/ POMP 29, 39, 62, 63, 78, 119, 137, 169, 194, 195, 206, 217 auskämmen 207 ausmerzen 42, 47, 65, 108, 116, 235 AUSSPRACHE 89—91, 131 BABYLONISCHER TURMBAU 184, 212 be- (Verbalpräfix) 40, 52, 206—208, 223, 224, 255 beinhalten 93 Betreuung/ betreuen 35, 40, 52, 201, 206—208, 223 benötigen 14 betrieblich 210 bodlich 210 Brot kosten Geld. (SPRACHE DER ZWANGSARBEITER) 212f. Charakter 218 Denunziant 37, 38, 183, 184 deutsch 57—60 DEUTSCHE AKADEMIE 33, 185, 252, 253 Deutsch sein heißt klar sein. 29, 31, 32, 61—63, 111, 115, 241, 246 Deutschheit 41, 193, 194, 230—232 Deutschtum 49, 193, 194

Dummheit und Stolz wachsen auf einem Holz. 78f. durchführen 32, 35, 40—42, 52, 85, 105, 154, 155, 216, 235, 236, 268 Eindringling 43, 65 Eine Krähe hackt der anderen kein Auge aus. 69—71 einmalig 14 Ende gut, alles gut. 77f. Endfertigung 206 Entwesung 108 erfolgen 40, 113, 154, 155, 235, 236 erlesen 14 erstklassig 36, 157 Es ist noch nicht aller Tage Abend. 80f. Es sind die schlechtesten Früchte nicht, woran die Wespen nagen. 81—83 Es wird nichts so heiß gegessen, wie es gekocht ist. 68f. Ewig/ Ewigkeit 111, 120, 192 EXPANSIONSGEFAHR (AUSBREITUNG/ AUSWEITUNG) 14, 29, 30, 33, 39, 53, 154, 157, 185, 209 farblich 210 fernmündlich 93 FREMDWORT 42—46, 65, 66, 93, 108, 109, 121, 176, 193, 205, 227—236 Frontabschnitt (Wissenschaft) 35, 91, 243 ganzheitlich 37, 204, 254 Geist der Zeit 85 geistiger Facharbeiter 91 Gemeinschaft 59, 60, 64, 118, 128, 197 genießerisch 204f. gestalten/ Gestaltung 40, 105, 154, 156, 204 gestalterisch 204 Gesundheitsführung 200f.



GEWALT der Sprache 25, 52, 70, 72, 83, 92, 105, 118, 119, 129, 133, 139, 165, 173, 194, Grenzzone 159 Groß- 120 grundsätzlich 120 -haft 202—205 HANDSCHRIFT 50, 189, 190, 217—220 -heit 192—194 -isch 202—205 Kapo 197 Kinder und Narren sagen die Wahrheit. VII, 17, 18, 74f. knacken 196 KONJUNKTIV 87, 92, 178, 179 Krankengut 36, 156, 157 Krankenmaterial 36, 156, 157 kultürlich 109 kundlich 210 Kürzungsbedürfnis 92 Leistung/ leisten 35, 208—210, 254 LENKUNGSPOTENZIAL VON SPRACHE 40, 112, 147, 153, 160, 166, 191—194, 202 -lich 202—205 Liebe macht blind 71f. luftlich 210 Material (Menschen als) 6, 35, 36, 43, 52, 106, 156, 157, 249 Mensch/ menschlich/ Menschlichkeit 6, 17, 21, 22, 24—27, 33—36, 43, 45—47, 52, 67—83, 91, 94—103, 105—108, 111, 112, 124, 125, 130, 134—144, 147—157, 165—167, 169, 173—176, 178, 179, 180—187, 190, 193, 194, 198—200, 205, 206, 210—212, 215—217, 220, 221, 224, 229—232, 253—255 Merinken 197 MISSBRAUCH der Sprache 35, 44, 45, 120 121 157—159, 194, 195

Sprachkritisches Register 

 275

NACHAHMUNG 35, 39, 40, 50, 53, 95, 98, 103, 144, 176, 182, 217—220, 255 NACHSILBEN 36, 40, 191—194, 202—205, 222, 254 naturgemäß 120 NOMINALSTIL („SUBSTANTIVITIS“) 39—42, 87, 92, 123, 137, 149f., 182, 195, 222, 235, 268 ORTHOGRAPHIE 13, 39, 138f. PASSIVITÄT (des Menschen) 36, 39, 68, 105, 211, 216, 221, 222, 223, 224 Quintessenz 47, 116 RASSE 17, 34, 35, 44, 46, 51, 52, 61, 104, 166, 228, 231, 232, 234, 242, 247, 257, 260 Raum/ Räume 2, 35, 52, 155, 156, 157—161, 249 Raupenschlepper 33, 197 REDEWEISE 13, 138f. restlos erledigt 47, 120, 247 Riesenkundgebung (große …) 86 Sargmobil 196 SATZ ALS SINNEINHEIT 32, 72, 76—78, 92, 103, 107, 111—113, 120, 122, 123, 129, 130, 178, 179, 181, 184—186, 203, 212, 295, 206, 212, 216, 233 SCHRIFT(ART) 49, 50, 65, 138, 187—191, 217—220, 239, 268 Schrifttum 193 SCHWEIGEN 25, 28, 29, 47, 49, 60, 112, 113, 144, 169, 170, 174, 201 Schwer auf Draht 196 Sinnenhaftigkeit 93 Soldaten der Sprache 33, 185 SOLDATENSPRACHE 33, 161—164, 196f. Spitzel 34, 38, 51, 53 SPRACHE UND DEUTSCHHEIT 43, 44, 49, 141, 166, 193, 194, 228—235 SPRACHLOSIGKEIT VIII, XI, 3—6, 18, 21, 22, 25, 28, 32, 34, 35, 43, 46, 51, 53, 54, 83 SPRICHWORT V, 17, 24, 34, 66—83, 151, 198, 242 städtebaulich 210

276 

 Sprachkritisches Register

stattfinden 40, 86, 235, 236 stellen 40 SUPERLATIV 86f. technisch 120 transportieren 36, 157 Trete ein in die NSV! 39, 87 -tum 193—194 Umbetreuung 35, 206—208, 254 unbedingt und endgültig 91 unerhört 14 UNIVERSALVERBUM 39, 40, 42, 154, 155 unter Beweis stellen 40, 41, 92, 195, 252, 253 Verein für deutliche Aussprache 33, 196 VERGEWALTIGUNG der Sprache 107

Verlautbarkeit 93 volkhaft 36, 52, 202—204, 254 völkisch 35—37, 52, 57, 202—204, 254 volklich 36, 202—204, 254 Volksgemeinschaft 29, 61, 63, 118, 236 VORSILBEN 179, 192, 216, 223 Weltanschauung 135 Wer A sagt, muss auch B sagen. 72f. Wesenheit 134, 194 wissen um 14, 198f. Wortaufartung 43, 44, 52, 109 zackig 196 Zugriff 35, 216, 217 zwischenmenschlich 205f.

Über den Autor William J. Dodd ist seit 2005 Professor of Modern German Studies an der University of Birmingham, England. Er war 2000–2002 Leverhulme Major Research Fellow, 2010–2011 Senior Fellow des Alfried-Krupp-Kollegs, Greifswald. Seine Forschungsinteressen gelten der deutschen Sprach- und Literaturwissenschaft mit dem Schwerpunkt im zwanzigsten Jahrhundert. Er ist Mitglied des wissenschaftlichen Beirats der Zeitschrift Aptum und Autor von mehreren Publikationen zur modernen Sprachkritik, zu Kafka (u.a. Kafka and Dostoyevsky: The Shaping of Influence), und zur Literatur der „inneren Emigration“ der Nazizeit. Seine Monographie über den Werdegang des Sprachkritikers Dolf Sternberger (Jedes Wort wandelt die Welt) erschien 2007.