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German Pages 246 Year 2016
Hallesche Beiträge zur Europäischen Aufklärung Schriftenreihe des Interdisziplinären Zentrums für die Erforschung der Europäischen Aufklärung Martin-Luther-Universität Halle-Wittenberg
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Christoph Willmitzer
Der Frühling Ewald Christian von Kleists Themen und Poetologie im Kontext des Gesamtwerks
De Gruyter
Herausgeber: Thomas Bremer, Daniel Cyranka, Elisabeth De´cultot, Jörg Dierken, Robert Fajen, Daniel Fulda, Wolfgang Hirschmann, Yvonne Kleinmann, Heiner F. Klemme, Andreas Pecˇar, Jürgen Stolzenberg, Heinz Thoma, Sabine Volk-Birke Wissenschaftlicher Beirat: Wolfgang Adam, Gunnar Berg, Reinhard Brandt, Lorraine Daston, Laurenz Lütteken, Jean Mondot, Alberto Postigliola, Peter Hanns Reill Gedruckt mit großzügiger Unterstützung der Hirzel-Familienstiftung Zürich. Zugl.: Berlin, Humboldt-Univ., Diss., 2013 Redaktion: Ricarda Matheus
ISBN 978-3-11-050078-3 e-ISBN (PDF) 978-3-11-051690-6 e-ISBN (EPUB) 978-3-11-051539-8 ISSN 0948-6070 Library of Congress Cataloging-in-Publication Data A CIP catalog record for this book has been applied for at the Library of Congress. Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.dnb.de abrufbar. 쑔 2017 Walter de Gruyter GmbH, Berlin/Boston Druck und Bindung: CPI books GmbH, Leck 앝 Gedruckt auf säurefreiem Papier 앪 Printed in Germany www.degruyter.com
Danksagung Die vorliegende Publikation bildet die grundlegend überarbeitete Fassung meiner im Februar 2013 an der Philosophischen Fakultät II der HumboldtUniversität zu Berlin verteidigten Dissertation „Hoffnung auf ,Ruhe‘ in ,sanfter‘ Natur. Eine Interpretation des Frühlings Ewald Christian von Kleists im Kontext seines Gesamtwerks.“ Bei den Herausgebern der „Halleschen Beiträge zur Europäischen Aufklärung“, namentlich Prof. Dr. Daniel Fulda, möchte ich mich für die Aufnahme in die Reihe bedanken. Prof. Dr. Steffen Martus danke ich für die ernsthafte, immer verlässliche und nicht zuletzt geduldige Erstbetreuung der Dissertation. In den Doktorandencolloquien meines Zweitbetreuers Prof. Dr. Ernst Osterkamp habe ich Grundlegendes über die Literatur- und Kulturgeschichte des 18. Jahrhunderts gelernt. Prof. Dr. Andrea Polaschegg hat mich seit dem ersten Semester in meinem Germanistikstudium inspiriert. Auf dem Weg zur Drucklegung haben Gerhard Horriar, Mareike Giertler und Vivien Bruns das Manuskript zu seinem Besten verbessert. Die überarbeitete Fassung hätte nicht ohne die Ruhe der Bibliothek des DLA Marbach entstehen können. Ich danke außerdem Dr. Frank Grunert. Alle erwähnten Archive gestatteten freundlicherweise den Abdruck der neuen Dokumente. Hier geht ein besonderer Dank für langjährige Unterstützung an die Leiterin des Gleimhauses Halberstadt, Dr. Ute Pott. Der Druck der Dissertation wurde durch die Hirzel-Familienstiftung Zürich großzügig unterstützt. Ich möchte diese Arbeit meinen Eltern widmen. Es gäbe dieses Buch nicht ohne Avi Feldman. Dresden/Berlin, im Sommer 2016
Christoph Willmitzer
Inhalt 1 Einleitung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1.1 Methodik und Gliederung der Arbeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1.2 Forschungsüberblick . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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2 Natur I: Initiation (V. 1 – 45) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2.1 Natur-Lob durch Natur-Inspiration (V. 1 – 12) . . . . . . . . . . . . . . . 2.2 „Rührende“ Beschreibung: Dreifach-dramatischer Frühlings-Auftritt (V. 13 – 45) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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3 Lob des Landlebens (V. 45 – 78, 95 – 154) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3.1 Begrenzung und Einhegung: Landlob im Frühling im Kontext vom ,rechten Maß‘ und (Neo-)Stoizismus (V. 45 – 78) . . . . . . . . 3.2 Häusliche Sicherheit, Tugend und Hofkritik (V. 95 – 154) . . . . .
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4 Tugend und Laster: Moralphilosophische Anspielungen (V. 87 – 94, 155 – 165) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4.1 Die optimale Gesellschaft des Frühlings (V. 87 – 94) . . . . . . . . . 4.2 Exkurs: ,Tugend‘ in Kleists Werk . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4.3 ,Laster‘ im Frühling und in anderen Werken Kleists (V. 155 – 159) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4.4 Das optimale Individuum im Frühling (V. 160 – 165) . . . . . . . . . 4.5 Überleitung: Zwischen Un-Glückseligkeit und Affektcalmierung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5 Bilder der Melancholie: Zweifel und Katastrophen (V. 166 – 275, 79 – 86 etc.) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5.1 ,Der melancholische Autor‘ – Probleme biografistischer Kleistforschung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5.2 Zweifelndes Ich (V. 166 – 210) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5.3 Melancholische Phantasie I: Zerstörerische Natur (V. 211 – 239) 5.4 Melancholische Phantasie II: Katastrophen des Kriegs und der Affekte (V. 79 – 86) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5.5 Liebesunglück (V. 240 – 275) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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63 65 74 81 89 92
99 102 108 113 126 138
VIII
Inhalt
6 Natur-Lob als Gotteslob? Religiöse Implikationen (V. 276 – 307) . . 6.1 Spuren der religiösen Biografie Kleists . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 6.2 Gott ist alles (V. 276 – 287) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 6.3 Gott in allem (V. 287 – 293) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 6.4 Natürliches Gotteslob (V. 294 – 300) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 6.5 Sprachloses Ich (V. 301 – 307) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
142 146 149 153 159 166
7 Natur II: Synthese (V. 308 – 398) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 7.1 Harmonische Natur, glückliches Ich (V. 308 – 373) . . . . . . . . . . . 7.2 Exkurs: Kleists Frühling und das „Goldene Zeitalter“ der Seasons 7.3 Religiöse Naturidentifikation (V. 374 – 398) . . . . . . . . . . . . . . . . .
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8 Neue Dokumente . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 8.1 Bisher unveröffentlichte Gedichtfassungen . . . . . . . . . . . . . . . . . 8.1.1 „Wie? Geßner noch in Zürch?“ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 8.1.2 Der Blumist und der Schweitzer . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 8.1.3 Görgen aus Zürich und Belidor . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 8.1.4 Christoph und Adelgunde . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 8.1.5 Filinde vor dem Nachtisch . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 8.1.6 Auf den Tod eines großen Mannes . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 8.2 Briefe . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 8.2.1 An Hans Caspar Hirzel vom 18. 1. 1753 . . . . . . . . . . . . . . . 8.2.2 An Salomon Gessner vom 4. 12. 1753 . . . . . . . . . . . . . . . . . 8.2.3 An Salomon Gessner o.D., vermutlich April/Mai 1754 . . 8.2.4 An Johann Wilhelm Ludwig Gleim vom 18. 2. 1755 . . . . . 8.2.5 An einen Commerzienrat vom 2. 6. 1757 . . . . . . . . . . . . . . 8.2.6 An Johann Wilhelm Ludwig Gleim vom 12. 10. 1757 . . . . 8.2.7 An Johann Wilhelm Ludwig Gleim vom 31. 12. 1757 . . . . 8.2.8 An Franz Kasimir von Kleist vom 6. 12. 1758 . . . . . . . . . .
195 195 196 196 196 197 197 197 198 198 199 202 203 205 206 207 209
9 Zusammenfassung und Ausblick . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 211 Literaturverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Abgekürzt zitierte Literatur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Autografen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Kleists Werke und Briefe . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Primärliteratur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Sekundärliteratur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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Personenregister . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 237
1 Einleitung Denn welche Phantasie wird nicht […] bei […] diesen […] Versen Hier ist der Grazien Lustplatz, Hier irrt am Zügel des Himmels […] Die Ruh, hier rieselt Entzückung Mit hellen Bächen heran. sich alle Wonnen des lieblichsten ländlichen Aufenthaltes vorgestellet haben.1
Diese Sätze, inklusive ihrer – relativ freien2 – Zitate aus dem Frühling Ewald Christian von Kleists, sind den gartentheoretischen Ausführungen3 Friedrich Ludwig Karl Graf von Finckensteins (1745 – 1818) entnommen. Dieser kunst- und literaturaffine preußische Adelige war vielleicht einer der größten Verehrer Kleists im 19. Jahrhundert. Finckensteins Ansichten zur Gartentheorie spiegeln sich in seinen allgemeinen Ansichten zu Kunst und Ästhetik wider, wie er sie auch im Vorwort einer eigens von ihm besorgten Ausgabe des Frühlings dargelegt hat.4 Finckenstein wandte seine 1
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Friedrich Ludwig Karl Graf von Finckenstein: Madlitzer Konvolut II: Beschreibung meiner Gartenanlage. In: Melanie Gräfin Finckenstein, Clemens Alexander Wimmer u. Georg Graf Wallwitz (Hg.): So ist die Anmuth gestaltet. Graf Friedrich Ludwig Karl Finck von Finckenstein und sein Madlitz. Berlin 1998, S. 109 – 155, hier S. 139. Im Anschluss an die erste Nennung wird jeder Titel dieser Arbeit nur in Kurzform unter Angabe von Verfasser, Titel, Seiten-, sowie ggf. Vers- bzw. Spaltenangabe zitiert. Gesonderte Abkürzungen sind in Fußnoten wie Literaturverzeichnis angegeben. Direkte Zitate, Titel sowie zentrale Begriffe im Fließtext werden in „doppelte“ Anführungszeichen gesetzt; ,einfache‘ Anführungszeichen haben distanzierenden Charakter. Vgl. Ewald Christian von Kleist: Ewald von Kleist’s Werke. Erster Theil. Gedichte. – Seneca. – Prosaische Schriften. Hg. u. mit Anm. begleitet v. Dr. August Sauer. Berlin 1880. Reprint Bern 1968, S. 199, V. 373 – 375, S. 228, V. 318 – 320. Im Nachfolgenden: „W I“, die Briefbände lauten im Folgenden auf „W II“ bzw. „W III“. In Bezug auf Anmerkungen Sauers wird jeweils hinzugefügt, ob sich seine Anmerkung auf einen bestimmten Text insgesamt (dann anhand seiner Nummerierung: „Nr.“) oder eine bestimmte Zeile eines Texts („Anm. V.“) bezieht. Vgl. etwa Finckenstein: Madlitzer Konvolut II, S. 109 – 155. Ewald Christian von Kleists Frühling. Kritisch bearb. v. Friedrich Ludwig Karl Graf von Finckenstein. Berlin 1804.
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1 Einleitung
Gartentheorie ebenfalls praktisch an, als er versuchte, einen Teil seines (heute wieder rekonstruierten) Schlossgartens in Alt Madlitz nach den Eindrücken, die er durch die Lektüre von Kleists Frühling erhielt, zu gestalten. Der Garten stellt damit wohl eines der interessantesten Rezeptionszeugnisse des literarischen Schaffens Ewald Christian von Kleists dar. Zugleich treten mit dem Madlitzer Garten und diesem kuriosen Beispiel von Kleist-Verehrung implizit die Probleme eines Großteils der übrigen Kleist-Rezeption hervor. Immerhin ging es in Finckensteins Garten und Gartentheorie tatsächlich um die Texte Kleists, nicht um seine Person. Letztere bildete indes im Laufe der Rezeptionsgeschichte das vielleicht größte Hindernis für die Beschäftigung mit seinen Werken. So schreibt schon August Sauer: „Durch ausführliche Betrachtung und Beschreibung seines Lebens, durch genaueste Schilderung aller Details seines ruhmvollen Todes, durch monumentale Ausschmückung seiner Grabstätte, endlich durch Gedichte an und über ihn suchte man das zu ersetzen, was die gleichzeitige Kritik versäumt hatte.“5 Vielleicht wie nur selten in der Germanistik lässt sich am Beispiel Kleists studieren, wie eine unscharfe Trennung von Autor und Text den Blick jeder Interpretation verstellen kann (vgl. Kap. 5.1).6 Denn bereits im Moment seines Todes rückten Kleists Texte gänzlich in den Hintergrund eines um seine Person betriebenen Kults. Paradigmatisch lässt sich hier kritisch Thomas Abbt aus seinem Vom Tode für das Vaterland zitieren: Wie weit läßt, aus diesem Gesichtspunkt betrachtet, der sterbende Krieger den unsterblichen Dichter hinter sich! Seine Werke dienen jetzt als Lorbeern, die er um sein Grab pflanzt: aber wenn dieses Grab nicht den Patrioten einschlösse: würden diese Lorbeern wohl so schön grünen?7
Zunächst stand also Kleists vermeintliches Heldenopfer im Dienst des preußischen Patriotismus im Zentrum eines alles einnehmenden Interesses – nach Hans Christoph Buch in Teilen bis in die 1970er Jahre hinein.8 Dabei war Kleists grausame Verletzung im Schlachtfeld – er starb ohnehin erst 5 6
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W I 17. Der germanistische Konsens, dass der Autorfunktion bei der Analyse von Texten eine nicht zu vernachlässigende Rolle zukommt, soll damit nicht in Frage gestellt werden. Vgl. etwa Fotis Jannidis u. a. (Hg.): Rückkehr des Autors. Zur Erneuerung eines umstrittenen Begriffs. Tübingen 1999. Thomas Abbt: Vom Tode für das Vaterland. In: Johannes Kunisch (Hg.): Aufklärung und Kriegserfahrung. Klassische Zeitzeugen zum Siebenjährigen Krieg. Frankfurt a.M. 1996, S. 589 – 650, hier S. 621. Vgl. Hans Christoph Buch: Ut Pictura Poesis. Die Beschreibungsliteratur und ihre Kritiker von Lessing bis Lukács. München 1972, S. 116.
1 Einleitung
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qualvolle Tage später in Frankfurt an der Oder – weder sonderlich heroisch, noch damals ein Einzelfall, wie Christopher Clark zeigt.9 Wie sehr „Preußens Historie […] die Todeslust aus Lebensüberdruß“ Kleists zum heroischen Soldatentod transformierte10, lässt sich auch in wissenschaftsgeschichtlicher Perspektive, an der Hochkonjunktur der Kleistforschung zum Ende des 19. Jahrhunderts, erkennen.11 Auf die Indienstnahme Kleists als preußischer Märtyrer folgte eine neue Interpretation seines Todes als Quasi-Suizid. Dies ergab eine neue Möglichkeit, Werk wie Leben des Dichters zusammen zu denken: Beide wurden nun – nicht ohne die obligatorische Ausschmückung einer unglücklichen Liebe12 – unter das Signum der „Melancholie“ gestellt.13 Unwiderstehlichen Reiz für die Literaturwissenschaft hatte hierbei der sich mitunter aufdrängende Eindruck, Kleist hätte den bevorstehenden Schlachtentod in seiner Poesie vorweggenommen. Verschiedenen seiner Texte wurde im Laufe der Forschungsgeschichte eine solche Intention unterstellt.14 Inwiefern bei alledem Kleist selbst seinem Ruf auf die eine oder andere Weise nachgeholfen hat, ist nicht einfach zu klären. Oft aber ging, wie bereits angedeutet, mit der Forschung zu Kleist eine mitunter problematische Vermischung der Kategorien von „Autor“ und „Text“ einher: Bereits die ,poetische Inititiationsszene‘ Kleists, bei der dieser angeblich durch Gleims Vortrag eines anakreontischen Gedichts so ins Lachen geriet, dass eine Wunde geheilt und Kleist auf diese Weise lebenslang zum Dichten bestimmt wurde, erwies sich als überaus fruchtbar für die Verkitschung von Werk und Autor.15
9 Christopher Clark: Preußen. Aufstieg und Niedergang 1600 – 1947. München 2008, S. 249. 10 Vgl. Gerhard Wolf: Ewald Christian von Kleist. Im melancholischen Hain. In: Ewald Christian von Kleist: Ihn foltert Schwermut, weil er lebt. Sämtliche Werke und ausgewählte Briefe. Hg. u. mit einem Nachwort v. Gerhard Wolf. Berlin u. Frankfurt a.M. 1982, S. 291 – 315, hier S. 296. 11 Vgl. etwa Heinrich Pröhle: Friedrich der Große und die deutsche Literatur. Mit Benutzung handschriftlicher Quellen. Berlin 1872; siehe außerdem für August Sauers Forschungsinteressen an Kleist, Gleim, Ramler u. a. die im Literaturverzeichnis dieser Arbeit erwähnten Publikationen. 12 Vgl. Anm. 123 in Kap. 5.5. 13 Vgl. Beispiel einer biografistischen Literaturwissenschaft zu Kleist in Kap. 5.1. 14 Vgl. ebd., Anm. 27. 15 Vgl. etwa W I XX f.
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1 Einleitung
1.1 Methodik und Gliederung der Arbeit Die vorliegende Arbeit möchte das gezeichnete Dilemma vermeiden und sich Kleist auf zwei Weisen nähern. Zum einen wird das lyrische Hauptwerk Kleists, der Frühling, einer ausführlichen Interpretation unterzogen. Dabei wird, ausgehend von einer abschnittweisen Unterteilung des Frühlings in verschiedene Hauptthemen, das schriftstellerische Schaffen Kleists in verschiedene kulturhistorische Kontexte seiner Zeit wie „Philosophie“, „Religion“ oder „Anthropologie“ gestellt. Primärer Gegenstand der Arbeit ist also der Text, und nur ausgehend von der Textanalyse, nicht durch einen biografistischen Kurzschluss, werden die verschiedenen Thesen der Untersuchung entwickelt. Auch die Entwicklungs-, Editions-, Wirkungs- oder Forschungsgeschichte des Frühlings spielen in der vorliegenden Arbeit nur eine Rolle, insofern sie analyserelevante Kriterien der Interpretation des literarischen Werks selbst bilden.16 Der Frühling wurde als Ausgangspunkt der vorliegenden Untersuchung nicht nur deshalb ausgewählt, weil Kleist vor allem mit diesem Text in die Literaturgeschichte Eingang gefunden hat und angesichts der großen Desiderata der Kleist-Forschung (s. u. zum Forschungsstand) eine Interpretation dieses Gedichts zunächst am zwingendsten erscheint. Vielmehr, so eine der Thesen der Analyse, lassen sich vom Frühling ausgehend die Themen des Gesamtwerks Kleists optimal entfalten: „Auf dieses Hauptwerk hin – und von ihm her – liest sich ein Großteil seiner [Kleists, C. W.] poetischen Texte wie dessen Variation und Kommentar.“17 Diese werden gerade in Bezug auf Werkgruppen, die bisher kaum oder überhaupt nicht von der Forschung beachtet wurden (z. B. Kleists Gedanken über verschiedene Vorwürfe oder seine Aufsätze für ein geplantes Zeitschriftenprojekt18), in die vergleichende Analyse des Frühlings miteinbezogen. Die Fassung letzter Hand des Frühlings, welche seit der noch von Kleist selbst beauftragten Werkausgabe von 1756 vorliegt19, bildet den Ausgangspunkt der Interpretation. Diese Fassung wird jedoch mit sämtlichen anderen Fassungen des Gedichts, natürlich vor allem mit der Erstauflage von 174920 und dem
16 Zudem sind sie ausführlich dargestellt in W I 135 – 170. 17 Hans-Georg Kemper: Deutsche Lyrik der frühen Neuzeit. Bd. 5/II. Frühaufklärung. Tübingen 1991, S. 165. (Im Nachfolgenden: „Kemper FA“.) 18 Vgl. W I 299 – 326. 19 Ewald Christian von Kleist: Gedichte von dem Verfasser des Frühlings. Berlin 1756. 20 Ewald Christian von Kleist: Der Frühling. Ein Gedicht. Berlin 1749.
1.1 Methodik und Gliederung der Arbeit
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einzigen erhaltenen Manuskript des Texts21 verglichen – die ,gefälschte‘ Ramler-Ausgabe, auf die mitunter noch in der Forschung verwiesen wird, bildet keinen Untersuchungsgegenstand.22 Zahlreiche unedierte Bestände, vor allem aus dem Kleist-Nachlass des Gleimhauses Halberstadt, sind im Rahmen der vorliegenden Arbeit für die Analyse herangezogen worden.23 Insbesondere die mehr als 500 Seiten des dicht beschriebenen Notizhefts Kleists (Collectaneen) stellen eine bislang unausgeschöpfte Quelle für die Interpretation seines Werks dar, die in der vorliegenden Arbeit erstmals extensiv für die Analyse des Frühlings ausgewertet wird.24 Hieraus ergibt sich ein umfassender Einblick in die literarischen Vorbilder und Einflüsse Kleists. Auch der bereits größtenteils edierte Briefwechsel Kleists wird erstmals systematisch im Kontext seiner literarischen Werke ausgewertet. Bei jedem Kapitel soll auf diese Weise das ,Wissen‘ der jeweiligen Quellen – und hierzu zählen dann ggf. auch biographische Informationen – für die Werke bzw. deren Interpretation genutzt werden. Für die literaturhistorische Einordnung Kleists spielen in der vorliegenden Arbeit außerdem die Dichtungen anderer zeitgenössischer Dichter eine große Rolle. Von zentralem Einfluss für Kleist sind hierbei vor allem Übersetzungen Brockes’ aus dem Englischen.25 Neben den Seasons James Thomsons26 betrifft dies den Essay On Man Popes27, die Kleist beide 21 Samuel Gotthold Lange: Das Landleben, von Kleist. Nach einer eigenen Urschrift desselben, welcher er einem Freunde gab. In: Gottlob Benedict Schirach (Hg.): Magazin der deutschen Critik. Bd. 2., Teil 2. Halle 1773, S. 18 – 52. Vgl. Sauers Anmerkungen in W I 173 – 206. 22 Ewald Christian von Kleist: Des Herrn Christian Ewald [sic!] von Kleist sämtliche Werke. Erster Theil. Zweiter Theil. Hg. v. Karl Wilhelm Ramler. Berlin 1760. 23 Vgl. Kleists Collectaneenheft (Signatur 119 des Kleist-Nachlasses im Gleimhaus Halberstadt, im Nachfolgenden: „CO“, jeweils zitiert mit Seiten- und ggf. Spaltenangabe); Kleists Philosophische Skripte Cursus philosophicus (Signatur 118 des Kleist-Nachlasses, im Nachfolgenden: „CP“); Kleists Mathesis-Skripte (Signatur 117 des Kleist-Nachlasses); Manuskript des Frühlings (Signatur 82 des Kleist-Nachlasses). 24 Sauer verwandte sie für seine historisch-kritische Ausgabe nur sporadisch, vgl. dazu jeweils den unteren Abschnitt seiner Anmerkungen in W I. 25 Vgl. W I 151 f. 26 Barthold Heinrich Brockes: B. H. Brockes aus dem Englischen übersetzte Jahreszeiten des Herrn Thomson. Mit einer Einleitung v. Ida M. Kimber. Reprint New York u. London 1972. (Im Nachfolgenden: „BrTh“.) Da in BrTh nur die englische Fassung mit Versen bezeichnet ist, können bei Zitaten aus Brockes’ Übersetzung die Angaben von Verszählung und -anzahl differieren, da die Versanzahl der Übersetzung Brockes’ nicht immer mit der Thomsons übereinstimmt.
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1 Einleitung
nachweislich nicht im englischen Original, sondern in der Fassung Brockes’ las.28 Die intensive Arbeit mit diesen Quellen ermöglicht gleichzeitig einen übersetzungsphilologischen Blick auf Brockes’ Schreiben.29 Durchgehend wird bei der Interpretation des Frühlings neben den in den Collectaneen genannten literarischen Vorlagen außerdem auf die eigene Lyrik der Zeitgenossen Brockes30 sowie Albrecht von Hallers Bezug genommen, die Kleist ebenfalls nachweislich rezipierte.31 Inhaltlich baut sich sich der Text des Frühlings über verschiedene Abschnitte auf, in denen sich gleichzeitig die Haupttopoi des Dichtens Kleists widerspiegeln – so eine der Thesen der vorliegenden Untersuchung. Diese umfassen die Frage nach „Natur“ (Kap. 2 und 7 dieser Arbeit), dem „Lob des Landlebens“ (Kap. 3), „Moralphilosophie“ (Kap. 4), „Melancholie“ (Kap. 5) sowie „Religion“ (Kap. 6). Auf diese Weise unterzieht die vorliegende Interpretation zum einen zwar die Verse des Frühlings einer konsekutiven Analyse, stellt zum anderen aber anhand der genannten Stichworte immer wieder den Bezug zum Gesamtwerk Kleists her. Bereits die Gliederung der Arbeit veranschaulicht diese Vorgehensweise, bei der die Interpretation von konkreten Textausschnitten ausgehend entfaltet 27 Barthold Heinrich Brockes: Aus dem Englischen übersetzter Versuch vom Menschen, des Herrn Alexander Pope, Esq. nebst verschiedenen anderen Uebersetzungen und einigen eigenen Gedichten. Nebst einer Vorrede und einem Anhange von Briefen, worinnen die Einwürfe des Hrn. C… wider den Essay on Man beantwortet werden, aus der History of the Works of the Learned übersetzet von B. J. Zinck. Hamburg 1740. (Im Nachfolgenden: „BrPope“.) 28 Sauer schreibt, dass Kleist „[I]n allen Einzelheiten des Stiles und Ausdruckes“ (W I 156) von der Fassung Brockes abhängig sei. 29 Vgl. v. a. Kap. 5.4 sowie Kap. 7.2, Anm. 93/94, 22. Vgl. außerdem Gotthardt Frühsorge: „Kosmologischer Zentralismus“. Bemerkungen zur „Zueignung“ der ,Seasons‘-Übersetzung des Barthold Heinrich Brockes von 1745. In: Colloquium der Arbeitsstelle 18. Jahrhundert Wuppertal: Die vier Jahreszeiten im 18. Jahrhundert. Heidelberg 1986, S. 30 – 38. 30 V. a. Barthold Heinrich Brockes: Irdisches Vergnügen in Gott. 9 Bde. Hamburg 1721 – 1748. (Im Folgenden: „Brockes IVG“.) In der vorliegenden Arbeit wird jedoch, wenn möglich, aus der leichter zugänglichen Auswahlausgabe zitiert: Barthold Heinrich Brockes: Irdisches Vergnügen in Gott. Naturlyrik und Lehrdichtung. Ausgew. u. hg. v. Hans-Georg Kemper. Stuttgart 1999. 31 D. Albrechts von Haller […] Versuch Schweizerischer Gedichte, Achte Aufl. der siebendten gleichförmig. Göttingen 1753. Angesichts der vielen Überarbeitungen seiner Texte durch Haller selbst wurde jedoch in Teilen auch die am einfachsten zugängliche Ausgabe verwandt: Albrecht von Haller: Die Alpen und andere Gedichte. Auswahl und Nachwort v. Adalbert Elschenbroich. Stuttgart 1965. (Im Nachfolgenden: „HA“.)
1.1 Methodik und Gliederung der Arbeit
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wird, die davon abgeleiteten Kapitel dann aber die dazugehörigen allgemeinen Themen des Kleist’schen Gesamtwerks abbilden. Die Herausbildung der Themen des Frühlings folgt dabei einer doppelten Bewegung. Der Text bildet einerseits die Entwicklung eines einzelnen Individuums ab, das zu Beginn des Gedichts den Wunsch äußert, von der Natur aufgenommen zu werden, um ein glücklicherer und d. h. bei Kleist vor allem „ruhigerer“ Mensch zu werden. Um ein solches ausgeglichenes Individuum sein zu können, betont der Frühling immer wieder die Rolle der Naturanschauung und damit gleichzeitig – in einem poetologisch-innertextuellen Verweis – die Funktion der naturbeschreibenden Dichtung (Kap. 2 und 7). Das Verhältnis von Ich und Natur wird in komplexen, interaktiven Kommunikationsmodellen immer wieder neu evoziert. Dieser offensichtliche ,Handlungsstrang‘ des Spaziergangs eines lyrischen Ich32 durch die Natur bildet jedoch nur die ,Folie‘, vor welcher der Text Positionen zu verschiedenen, zum Beispiel moralphilosophischen oder religiösen, Fragestellungen entwickelt. Zentral durchläuft den ganzen Text dabei etwa eine Dichotomisierung „sanfter“ versus „wilder“ Eigenschaften (s. u.). Diese wird anhand der für den Frühling typischen Darstellungsweise einer hohen Verweisdichte der Motive untereinander sukzessive aufgebaut. Im ersten Kapitel bildet die Jahreszeit des Frühlings selbst einen Teil dieses Kontrasts, wenn dieser zu Beginn des Gedichts im Gegensatz zum zerstörerischen Winter gestellt wird. Bereits hier ist die Charakterisierung des Frühlings als „sanft“ und „zart“ von zentraler Bedeutung, da sie wichtige, spätere Positionen des Textes vorbereitet und initiiert. Das lyrische Ich des Texts steht hier noch ganz am Anfang seines Wegs und bittet die Natur darum, es offen aufzunehmen, um von ihr lernen zu können. Der Text entwirft dann anhand des literarhistorischen Topos des glücklichen Landlebens (Kap. 3) das Ideal einer ,gezähmten‘, zivilisierten Landschaft und führt dies anhand vieler Beschreibungen eingehegter Naturszenen vor. Im Folgenden, die bisher entwickelten Motive in ,abstrakterer‘ Weise aufgreifend, stellt der Text das moralphilosophische Ideal eines ausgeglichenen affektcalmierten Individuums (Kap. 4) vor. Dieses vereint nun in 32 In der vorliegenden Arbeit wird aus rein pragmatischen Gründen der bekanntere Begriff des „lyrischen Ich“ anstelle neuerer Termini wie ,artikuliertes‘ oder ,Sprecher-Ich‘ verwandt. Dies ist also nicht direkt als ,Rehabilitation‘ des Begriffs in einem emphatischen Sinne (etwa in Anlehnung an Käte Hamburger) zu verstehen. Vgl. einführend mit weiteren Literaturhinweisen Dieter Burdorf: Art. Lyriktheorie. In: Gerhard Lauer u. Christine Ruhrberg (Hg.): Lexikon Literaturwissenschaft. Hundert Grundbegriffe. Stuttgart 2011, S. 212 – 215, hier S. 213 f.
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1 Einleitung
sich die bisher im Text dargestellten positiv konnotierten Eigenschaften von „Sanftheit“ oder „Zartheit“, wobei Kleist gleichzeitig das Ideal eines idealen Menschen und eines Zusammenlebens in einem gesellschaftlichen Verbund beschreibt. Auch der Begriff der „Ruhe“ nimmt dabei im Kleist’schen Ideenkosmos eine zentrale Position ein (vgl. Kap. 4.5). Die im Text ausgedrückten melancholischen Phantasien (Kap. 5) bilden dann ein Hindernis, um die zuvor aufgezeigten individuellen wie sozialen Utopien zu erreichen. Insbesondere anhand der Metaphern der Naturkatastrophe, des Kriegs und heftiger Affekte wird hier die Melancholie als Gegenbild des im Frühling evozierten Ideals – sei es im Hinblick auf die bloße Jahreszeit, idyllische Imaginationen des Landlebens oder das ideale Individuum – entworfen. Eine spezifische Rolle in Kleists Text spielt zum Abschluss die Religion (Kap. 6), welche als einziges Element im Gedicht in der Lage ist, die sonst so dominante Dichotomisierung von „sanft“ versus „wild“ aufzulösen. Hier deutet sich eine Lösung für die Zweifel und Zerrissenheit des Ich im Text an, die nur durch die religiöse Aufladung der empfohlenen Naturanschauung zu erreichen ist. Am Ende scheint es (Kap. 7), dass das im Text geschilderte Individuum seine ersehnte „Ruhe“ gefunden hat, ebenso wie sich die Natur nun friedlich ausgeglichen zeigt. Parallelen zur Idee des „Goldenen Zeitalters“ zu Kleists Frühling, insbesondere in den Seasons (Kap. 7), weisen mit ihrem utopischen Charakter zum Ende der Arbeit noch einmal nachdrücklich auf die im Symbol des „Frühlings“ für Kleist angelegte Bedeutungsvielfalt hin. Poetologisch wird, zum Teil durchaus paradox-kontrastiv zur oben beschriebenen Programmatik der „Ruhe“, der Frühling in der vorliegenden Untersuchung immer wieder in das Umfeld frühaufklärerischer Strategien literarischer Affekterzeugung eingeordnet (Bodmer/Breitinger, G. F. Meier). Hierbei kommt gerade der Beschreibung als literarischer Technik eine wichtige Funktion zu – was das Urteil einer philosophischtrockenen, deskriptiven Lehrdichtung der Frühaufklärung differenzieren kann.33 Kleist versucht dabei, etwa über extreme Metaphern von Natur33 In seiner Vorrede zur Erstauflage des Frühlings setzt Kleist sich explizit vom Beschreibungsdiskurs ab und ordnet sich stattdessen unter die „mahlenden“ Dichter ein: „Gegenwärtiges Gedicht ist nicht so wohl eine ausführliche Beschreibung des Frühlings, seiner Abwechslungen und Wirkungen auf die Thiere, Gewächse, u.d.gl. als vielmehr eine Abbildung der Gestalt und Bewohner der Erde, wie sie sich an einem Tage ohngefähr in der Mitte des Frühlings des Verfassers Auge dargebothen. Er hat diesen Weg zu erwählen nöthig gehalten, um was Neues zu sagen; denn auf erstere Weise haben schon viele, und zwar Thomson
1.2 Forschungsüberblick
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katastrophen Affekte bzw. „Rührung“ im Leser zu erzeugen und gleichzeitig innertextuell die Calmierung von Affekten als unabdingbares Element einer jeden „Diät“ aufzuzeigen, um ein ausgeglichener Mensch zu werden. Die vorliegende Arbeit weist dabei der Zürcher Aufklärung34 in mehreren Perspektiven eine wichtige Funktion für das Schreiben Ewald Christian von Kleists zu: neben seiner (auch literarischen35) Rezeption Bodmers/Breitingers kann sie das Wirken des ,Kultur-Netzwerkers‘ Hans Caspar Hirzel36 im Kontext der publikationsgeschichtlichen sowie außerdem der landwirtschaftstheoretischen und anthropologischen Diskurse der literarischen Frühaufklärung aufzeigen (vgl. Kap. 3.2 und 5).
1.2 Forschungsüberblick In Kapitel 7 der vorliegenden Arbeit werden mit sechs bislang unveröffentlichten Fassungen von Gedichten Kleists sowie acht Briefen insgesamt 14 neue Dokumente publiziert. Dies macht bereits auf die Desiderate der Kleistforschung aufmerksam. Zwar liegt mit der Ausgabe August Sauers eine historisch-kritische Edition von Kleists Werken und Briefen vor. Auch existiert im ReclamVerlag eine lesefreundliche Ausgabe der Texte des Autors.37 Die beiden Ausgaben datieren jedoch von 1880 bzw. 1971 und enthalten weder alle
34 35 36 37
unnachahmbar, diese Jahrszeit besungen.“ (W I 138.) Vgl. hierzu: „Wir denken heute bei ,Beschreibungen‘ in der Poesie leicht an ein langatmiges und wohl auch langweiliges Aufzählen von Einzelheiten. Genau das ist hier nicht gemeint, weder in der traditionellen evidentia noch in der ,poetischen Mahlerey‘ der Schweizer.“ (Hans Peter Herrmann: Naturnachahmung und Einbildungskraft. Zur Entwicklung der deutschen Poetik von 1670 bis 1740. Bad Homburg v.d.H., Berlin u. Zürich 1970, S. 170); sowie zuletzt ebenfalls positiv über deskriptive Literatur Heinz Drügh: Ästhetik der Beschreibung. Poetische und kulturelle Energie deskripter Texte (1700 – 2000). Tübingen 2006. Vgl. Anett Lütteken u. Barbara Mahlmann-Bauer (Hg.): Bodmer und Breitinger im Netzwerk der europäischen Aufklärung. Göttingen 2009. Zur intensiven Rezeption der literarischen Werke Bodmers durch Kleist siehe den im Anhang publizierten Brief an Salomon Geßner vom 4. 12. 1753 (Kap. 8.2.2). Hier ist stets Hans Caspar Hirzel „der Ältere“ (1725 – 1803) gemeint. Dieser wird in den Literaturangaben mitunter ebenfalls „Johann“ bzw. „Kaspar“ geschrieben, vgl. in den Anmerkungen und im Literaturverzeichnis. Ewald Christian von Kleist: Sämtliche Werke. Hg. v. Jürgen Stenzel. Stuttgart 1971. (Im Nachfolgenden: „SW“.)
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Briefe38 noch Werke Kleists: in Sauers Ausgabe fehlen Filinde sowie Einladung an Daphnen im Früling, bei Jürgen Stenzel das Gemälde einer großen Überschwemmung 39, zudem druckt Stenzel die Texte größtenteils ohne jegliche Angabe der Varianten ab.40 Sauer wie Stenzel edieren mitunter ungenau im Hinblick auf die Interpunktion der Werke und Briefe.41 Manche der Texte Kleists liegen sogar nach wie vor nur auf unzuverlässiger Quellenbasis vor, so etwa seine Gedanken über verschiedene Vorwürfe lediglich auf Basis der ,verfälschenden‘ Überarbeitungen Ramlers, Kleists anakreontisches Rollengedicht An Damon nur nach dem Abdruck der Neuen Beiträge zum Vergnügen des Verstandes und Witzes.42 Selbst das einzige erhaltene Frühlings-Manuskript ist, von der Forschung ohnehin wenig wahrgenommen, nur in einer unzuverlässigen und leserfreundlichen Edition durch Samuel Gotthold Lange 1773 im Magazin der deutschen Critik publiziert (obwohl schon Sauer dessen fehlerhafte Transkription kritisierte) und wurde zudem nie wieder an einem zugänglicheren Ort reproduziert. Für die vorliegende Arbeit ist hingegen wie erwähnt Einblick in das Halberstädter Manuskript genommen worden. Auch die Biographie Kleists enthält neben den bereits erwähnten, oft nicht wahrheitsgemäß „liebevoll ausgemalten Höhepunkten“43, die dennoch zur bereits angedeuteten, mitunter grob verzerrenden Kleistrezeption führten, noch große Lücken, wie etwa die Zeit von Kleists Studium an der Universität Königsberg von 1731 bis 1735 oder seine erste militärische Station in Dänemark von 1736 bis 1740. Zur religiösen
38 Vgl. die Briefe Kleists an Ramler, Clodius und Hirzel in: August Sauer: Neue Mittheilungen über Ewald von Kleist. In: Vierteljahrsschrift für Litteraturgeschichte 3 (1890), S. 457 – 483; die Briefe Kleists an Geßner in: Paul Leemann-Van Elck: Salomon Geßners Freundschaft zu Ewald von Kleist. Zürich 1937; verschiedene dienstliche Briefe Kleists im Kontext seines Aufenthalts in der Schweiz in: Ewald von Kleist: Drei unveröffentlichte Schreiben 1752/53. Hg. v. Martin Winter. In: Lothar Jordan (Hg.): Ewald von Kleist. Zum 250. Geburtstag. Würzburg 2010, S. 87 – 89. 39 Vgl. die ganz besondere Editionsgeschichte dieses Texts: Kap. 5.2. 40 Vgl. zu Filinde Georg Witkowski: Ein Gedicht Ewald von Kleists. In: Vierteljahrsschrift für Litteraturgeschichte 3 (1890), S. 251 – 254; zu Einladung an Daphnen im Früling Bruno Hirzel: Briefe von Christian Ewald [sic!] von Kleist an Johann Kaspar Hirzel. In: Euphorion 18 (1911), S. 228 (im Nachfolgenden: „KaH“); zum Gemälde einer großen Überschwemmung vgl. SW. 41 Vgl. indes zur wichtigen Funktion der Satzzeichen im Kontext der Interpretation von Literatur Alexander Nebrig u. Carlos Spoerhase (Hg.): Die Poesie der Zeichensetzung. Studien zur Stilistik der Interpunktion. Bern u. a. 2012. 42 Vgl. W I 320, Anm. zu Text Nr. 102; W I 71, Anm. Nr. 20. 43 Vgl. SW 273.
1.2 Forschungsüberblick
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Sozialisation in seiner Kindheit und Jugend liegen in dieser Arbeit erstmals detailliertere Informationen vor.44 Auch im Blick auf die Sekundärliteratur stand Ewald Christian von Kleist (1715 – 1759) in den letzten Jahren sicherlich nicht im Zentrum der germanistischen Forschung. Erst anlässlich seines 250. Todestages 2009 erschien erstmals ein Sammelband.45 Einzelne Studien liegen von Barbara MahlmannBauer, Silvia Bonacchi oder Anke-Marie Lohmeier vor.46 Die wenigen aktuelleren Forschungen legen ihren Fokus oft auf Kriegs- oder Männlichkeitsaspekte in Kleists Werk, hier sind mit extensiveren Forschungen vor allem Martin Kagel und Michael Gratzke hervorgetreten.47 Als herausragend sind die Forschungen von Hans-Georg Kemper zur Deutschen Lyrik der Frühen Neuzeit zu nennen, den die vorliegende Arbeit vor allem in seinen umfassenden Bänden zur Frühaufklärung sowie zu Literatur und Pietismus entscheidende Einsichten verdankt, nicht weniger seiner Studie zu Gottebenbildlichkeit und Naturnachahmung.48 Auch waren die Überlegungen 44 S. Kap. 6.1. 45 Jordan (Hg.): Kleist. 46 Barbara Bauer: Ewald Christian von Kleist, der Dichter des Frühlings, ein klassischer Nationalautor? In: Wilhelm Kühlmann u. Horst Langer (Hg.): Pommern in der Frühen Neuzeit. Literatur und Kultur in Stadt und Region. Tübingen 1994, S. 621 – 647; Silvia Bonacchi: Ewald Christian von Kleist und J. M. R. Lenz im Kontext der Rokokolyrik. In: Matthias Luserke, Reiner Marx u. Reiner Wild (Hg.): Literatur und Kultur des Rokoko. Göttingen 2001, S. 177 – 195; Anke-Marie Lohmeier: Arte aut Marte. Über Ewald Christian von Kleist, Dichter und Soldat. In: Luserke, Marx u. Wild (Hg.): Rokoko, S. 121 – 133. 47 Michael Gratzke: „Wer kann mit Blut und Feu’r die Worte färben?“ Natur, Gewalt und die Erfindung von Männlichkeit bei Ewald von Kleist. In: Beiträge zur KleistForschung 15 (2001), S. 163 – 211; Ders.: Fire and blood. Modernization, individuation and violence in German war literature. In: Helen Chambers (Hg.): Violence, culture and identity. Essays on German and Austrian literature, politics and society. Oxford u. a. 2006, S. 225 – 240; Martin Kagel: „Wie ein Strom, im frühen Lentz […], so rauscht die wilde Schaar Athens daher“. Kriegserfahrung und Katastrophenmetaphorik in Ewald Christian von Kleists Cißides und Paches. In: Gerhard Lauer u. Thorsten Unger (Hg.): Das Erdbeben von Lissabon und der Katastrophendiskurs im 18. Jahrhundert. Göttingen 2008, S. 466 – 481; Michael Gratzke: Blut und Feuer. Heldentum bei Lessing, Kleist, Fontane, Jünger und Heiner Müller. Würzburg 2011. 48 Hans-Georg Kemper: Deutsche Lyrik der frühen Neuzeit. Bd. 5/I. Aufklärung und Pietismus. Tübingen 1991 (im Folgenden: „Kemper AP“); Kemper FA; Hans-Georg Kemper: Gottebenbildlichkeit und Naturnachahmung im Säkularisierungsprozeß. Problemgeschichtliche Studien zur deutschen Lyrik in Barock und Aufklärung. Bd. 1. Tübingen 1981 (im Folgenden: „Kemper GE“). Auch ist Kleists Werk bei Hans Christoph Buch Gegenstand einer umfassenderen Studie geworden, vgl. Buch: Pictura.
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1 Einleitung
Steffen Martus’ zur Poesie Friedrich von Hagedorns oft ein ungemein fruchtbarer Anknüpfungspunkt für die vorliegende Arbeit.49 Die letzten Monografien zu Ewald Christian von Kleist datieren indes von 1947 bzw. 1949.50 Germanistische Einführungsbände offerieren schon angesichts der groben Epochenzuordnung von Kleists Dichten ein Bild gravierender Unstimmigkeiten: Die Epochenbegriffe, unter denen Kleist subsumiert wird, umfassen hier vom „Barock“ über das „Rokoko“ und die „Empfindsamkeit“ bis hin zur „Aufklärung“ sowie der „friderizianischen Epoche“ so ziemlich alle historischen Schemata, welche für diese Zeit kursieren: Gehörte nach Gottsched Ewald von Kleist noch eindeutig dem Bunde der Barock-„Schwülstigen“ an51, wird der Dichter andernorts der (Rokoko-) Anakreontik zugerechnet.52 Wenn Gerhard Kaiser von der „Gedankendichtung“ Kleists spricht53, Peter-André Alt indes den „didaktischen Ernst“ seiner „räsonierenden Lehrgedichte“ oder die „betrachtende Naturlyrik“ Kleists beschreibt54, fällt dieser unter das Schlagwort der „Aufklärung“. Rasch schreibt, dass Kleist „in seiner Lyrik ja meist im Anakreontischen befangen“ bliebe.55 Ähnlich verhält es sich mit der schillernden Gattungseinordnung des Frühlings. 56 Angesichts des „dichterischen Welterfolgs“57 gerade des Frühlings mit seinen vielfachen Auflagen, Raubdrucken und Übersetzungen im 18. Jahr49 Steffen Martus: Friedrich von Hagedorn – Konstellationen der Aufklärung. Berlin u. New York 1998. 50 Heinrich Stümbke: Ewald Christian von Kleist. Krieger, Dichter, Denker. Diss. masch. Göttingen 1949; Hans Guggenbuehl: Ewald von Kleist. Weltschmerz als Schicksal. Zürich 1947. 51 Vgl. Peter-André Alt: Aufklärung. 2., durchgesehene Auflage. Stuttgart u. Weimar 2001, S. 154. 52 Vgl. Richard Newald: Die deutsche Literatur vom Späthumanismus zur Empfindsamkeit. München 1951, S. 468. 53 Gerhard Kaiser: Aufklärung, Empfindsamkeit, Sturm und Drang. Tübingen u. Basel 1996, S. 150. 54 Vgl. Alt: Aufklärung, S. 148. 55 Vgl. Wolfdietrich Rasch: Freundschaftskult und Freundschaftsdichtung im deutschen Schrifttum des 18. Jahrhunderts. Vom Ausgang des Barock bis zu Klopstock. Halle a. d. Saale 1936, S. 219. 56 Vgl. Kemper FA 158. 57 Hugo Aust: Ewald von Kleist. In: Deutsche Dichter des 18. Jahrhunderts. Ihr Leben und Werk. Unter Mitarbeit zahlreicher Fachgelehrter hg. v. Benno von Wiese. Berlin 1977, S. 98 – 114, hier S. 102. Vgl. eine Auswahl der Reaktionen von Wieland, Klopstock, Spalding, Bodmer, Herder oder Sulzer sowie erste Nachdichtungen in W I 157 – 165, zu Übersetzungen ebd. 165 – 168 und aktueller Gabriella Catalano: „Primavera“: Kleists italienischer Frühling. In: Jordan (Hg.): Kleist, S. 161 – 170; Alex-
1.2 Forschungsüberblick
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hundert sowie des nachhaltigem Einflusses Kleists auf die deutsche Literaturgeschichte58 bildet dies einen unbefriedigenden Umstand, der mit der vorliegenden Arbeit geändert werden soll.
ander Nebrig: Der Frühling im ,goût classique‘. Zur französischen Perspektive auf Ewald von Kleist als Dichter der ,descriptio‘. In: Jordan (Hg.): Kleist, S. 171 – 187. 58 Vgl. an dieser Stelle exemplarisch Hallers Hinweis auf den Frühling: „Wir stimmen mit dem Hrn. Gottsched nunmehr überein, und finden, Deutschland habe endlich auch seine Dichter deren sich kein Land zu schämen hätte […].“ (Albrecht von Haller: Rezensionen von E. C. v. Kleists „Frühling“. In: Göttingische Zeitungen von gelehrten Sachen 13 (1751), S. 982), oder Schiller in der Anthologie auf das Jahr 1782: „Möchten sich doch unsere jungen Dichter […] ihren bescheidenen Kleist, Uz und Gellert wieder zur Hand nehmen […]!“ (Friedrich Schiller: Schillers Werke. Nationalausgabe. Begründet v. Julius Petersen. Fortgeführt v. Liselotte Blumenthal u. Benno von Wiese. Hg. im Auftrag der Stiftung Weimarer Klassik und des SchillerNationalmuseums in Marbach v. Norbert Oellers. Bd. 22. Vermischte Schriften. Hg. v. Herbert Meyer. Weimar 1958, S. 134.) Ulrich Joost schreibt im Killy Literaturlexikon, dass „K. doch mit gewaltigen Schritten aus der noch ganz kalkuliert wirkungsästhetisch bestimmten Lehrdichtung der frühen Aufklärungspoetik herausgetreten“ sei „in ein empfindsames, vom Dichter empfundenes Erleben“, „das Handwerk der Dichtung“ bereichert habe, „bewiesen zumal, dass das Deutsche als poetische Sprache poetisch genug war, mit anderen Kultursprachen mitzuhalten“ sowie neben dem frühen Gebrauch des Hexameters „half, den Blankvers in Deutschland zu verbreiten […]“. (Ulrich Joost: Art. Ewald Christian von Kleist. In: Wilhelm Kühlmann u.a. (Hg.): Killy Literaturlexikon. Autoren und Werke des deutschsprachigen Kulturraumes. 2., vollständig überarbeitete Aufl. Bd. 6. Huh–Kräf. Berlin u. New York 2009, S. 457, Sp. 1–S. 459, Sp. 2, hier S. 458, Sp. 1 f.) Vgl. zu den allerdings mehr auf die Person Kleists rekurrierenden Rezeptionszeugnissen (etwa, dass Thomas Abbt Kleist in seinem Tod fürs Vaterland lobt, Lessing ihn als Empfänger seiner Briefe die neueste Litteratur betreffend und in der Figur des Tellheim in seiner Minna von Barnhelm verewigt und schließlich Schiller die Bestattung Max Piccolominis in Wallenstein nach dem Vorbild von Kleists Begräbnis gestaltet haben soll) ebd., S. 459, Sp. 1.
2 Natur I: Initiation (V. 1 – 45) Die Verse des Frühlings, die im ersten Kapitel der Arbeit im Zentrum stehen, gliedern sich in zwei Teile. Die ersten zwölf Verse des Frühlings bestimmen bereits einige der zentralen Themen des Gedichts und setzen sie in Bilder: neben der heilsamen Wirkung der Naturanschauung werden etwa die moralphilosophischen Implikationen sowie der laus ruris-Topos des Texts vorgestellt (vgl. Kap. 3 u. 4). Dabei führt sich zunächst der Dichter selbst in den Text ein, indem das lyrische Ich den Wunsch artikuliert, die Natur besingen zu wollen (Kap. 2.1). Hier entwirft der Frühling ein kompliziertes Interaktionsverhältnis von „Ich“ und „Natur“, bei dem das lyrische Ich die Natur um innere Ruhe und Zufriedenheit bittet, um im Gegenzug die Natur „singend“ bzw. dichtend loben zu können. Im Anschluss an diese ersten zwölf Verse werden der (einsetzende) Frühling und die Natur beschrieben (Kap. 2.2). Programmatisch werden in diesem ersten Teil des Gedichts also die beiden Hauptelemente des Frühlings – (lyrisches) Ich und Natur – zueinander in Beziehung gesetzt. Auffällig ist im Vergleich zu anderen Topoi und Abschnitten des Frühlings, dass der Themenkomplex „Natur“ (zumindest als so explizit bezeichneter) weder in den Collectaneen noch in den Briefen Kleists eine signifikante Rolle spielt.
2.1 Natur-Lob durch Natur-Inspiration (V. 1 – 12) „Empfang mich, schattichter Hain, voll hoher grüner Gewölbe!“ (W I, 206, 11) Mit der Bitte, vom Hain „empfangen“ zu werden, äußert Kleists lyrisches Ich gleich im ersten Vers den Wunsch, in ein intensives Austauschverhältnis mit der Natur zu treten. Dies geschieht in dialogischer Form, bei 1
Die der Interpretation zugrunde liegende Fassung von 1756 (W I 174 – 233) wird im Fließtext (wie auch in den Anmerkungen) nur unter Angabe der jeweiligen Verse zitiert, d. h. ohne zusätzliche Seitenangabe. Auf diese Weise wird das Nachvollziehen anhand verschiedener Ausgaben ermöglicht. Bei allen anderen Fassungen des Frühlings erfolgen in Text wie Anmerkungen die Seiten- und Versangabe (immer in Bezug auf „W“).
2.1 Natur-Lob durch Natur-Inspiration (V. 1 – 12)
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der das lyrische Ich in direkter „du“-Anrede die Bitte an den Hain formuliert, „empfangen“ zu werden. Damit könnte Kleist auf die erste Figur affekterzeugender Tropen nach Georg Friedrich Meier referieren, auf die im Laufe dieser Arbeit als Referenz mehrmals eingegangen wird. Die erste affekterzeugende Trope umfasst laut Meier „die Anrede (apostrophe) wenn man Dinge, die abwesend sind, und die man als gegenwärtig vorstelt [sic!], anredet, es mögen nun Personen oder leblose Dinge seyn.“2 Die Frage, auf welche Weise abwesende ,Dinge‘ zum Zweck der Affekterzeugung von der Vorstellungskraft als gegenwärtig imaginiert werden könnten, nimmt in den ästhetischen Überlegungen der Frühaufklärung3 breiten Raum ein, was im Rahmen der vorliegenden Arbeit noch extensiver erläutert werden soll.4 Hans Caspar Hirzel bezieht sich auf diese Debatten, wenn er in der Vorrede der von ihm herausgegebenen Zürcher Frühlings-Ausgabe 1754 über Kleist schreibt: [Der Verfasser] schildert die Dinge, die ihm begegnen, mittelst der Beschreibung solcher Umstände, welche eine Person von wolgeartetem Gemüth in die Augen oder die Sinnen fallen würden, wenn sie gegenwärtig vor ihr stünden. […] So fern ist es, dass das Wesen der Poesie in hohen Figuren oder geschmükten Redensarten bestehe. Nein, es bestehet allein darinn, dass man den rechten Eindruk [sic!] auf die Einbildungskraft mache; daher giebt ein einziges Wort, welches dieses thut, den gemeinsten Gedanken ein poetisches Ansehen. […] Ich will hiemit den figürlichen Ausdrüken ihren Werth nicht absprechen, aber das dunkt mich gewiss, dass dieselben ihre poetische Gestalt nicht daher empfangen, weil sie figürlich sind, sondern daher, weil sie in dem Gemüthe ein sinnliches Bild einer Sache oder Handlung hervorbringen.5
Kleist ist laut Hirzel also in der Lage, die rhetorischen Strategien der Evidenzerzeugung optimal umzusetzen. Und direkt der zweite Vers des Frühlings wiederholt den Aufruf des Beginns als bloßes „Empfang mich!“ (2). Die in der ersten Person Singular gehaltenen, im dialogischen „du“ die Natur ansprechenden Gedichtverse simulieren den rhetorischen Eindruck 2 3 4 5
Georg Friedrich Meier: Anfangsgründe aller schönen Wissenschaften. Teil 1. Halle 1748, S. 497. Vgl. einführend Gabriele Dürbeck: Einbildungskraft und Aufklärung. Perspektiven der Philosophie, Anthropologie und Ästhetik um 1750. Tübingen 1998. Alexander Nebrig betont die Rolle der rhetorischen Erzeugung von Evidenz bei Kleist ebenfalls und weist auf die Verbindungen zur antiken Rhetorik hin. Vgl. Nebrig in: Jordan (Hg.): Kleist, S. 172, 178 u. 181. Hans Caspar Hirzel: Vorrede. In: Ewald Christian von Kleist: Der Frühling. Ein Gedicht. Nebst Einem Anhang einiger anderer Gedichte von demselben Verfasser. Verbesserte Aufl. Zürich 1754, S. 3 – 11, hier S. 6 – 8.
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2 Natur I: Initiation (V. 1 – 45)
einer persönlichen Ansprache in Dialogform. Eine solche kommunikative Struktur zeichnet den ganzen Frühling aus. Das lyrische Ich verknüpft in Bezug auf den erwünschten engen Kontakt mit der Natur bestimmte Hoffnungen: […] Fülle mit Ruh’ und holder Wehmuth die Seele! Führ mich in Gängen voll Nacht zum glänzenden Throne der Tugend, Der um sich die Schatten erhellt! […] (2 – 4)
Diese Hoffnungen betreffen in allererster Linie seinen Gemütszustand. Wenn es heißt: „Fülle mit Ruh’ und holder Wehmuth die Seele!“ (2), wird zum einen schon hier der oft ambivalente, durch ,gemischte Empfindungen‘ charakterisierte Ton („holde Wehmuth“) deutlich, der den gesamten Frühling dominant bestimmt (vgl. Kap. 5 zur „Melancholie“, bes. 5.1). Vor allem aber benennt der Text eine der spezifischen Hauptfunktionen, die im Frühling der Natur zugeschrieben werden, nämlich die sittliche Vervollkommnung oder „feyerliche […] Erhöhung“6 des eigenen Ich.: „Das Anschauen des in den Naturphänomenen gegenwärtigen Numinosen hat zugleich einen sittlichen Effekt in der Reinigung der Leidenschaften“, wie Hans-Georg Kemper schreibt. Durch die Anschauung der (vorbildlichen) Natur hofft es, zu einem affektcalmierten („Ruhe“) und ausgeglichenen Menschen werden zu können.7 Im Begriff der „Ruhe“ zeigt sich hier die Entwicklung der frühaufklärerischen Naturpoesie u. a. aus naturrechtlichen Vorstellungen und Thomasius’ Moralphilosophie (vgl. Kap. 4), in denen das Vorbild einer optimalen Natur das Individuum zu einer ebensolchen Perfektionierung des eigenen Ich anhalten sollte.8 Insbesondere der Beschreibung als literarischer Technik kam hierbei eine entscheidende Funktion zu, da „das auszuwählende Objekt der Nachahmung dem Kriterium ethischer Vorbildlichkeit als Voraussetzung für die Vervollkommnung des Nachzuahmenden“ genügen sollte.9 6 7 8
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Johann Georg Sulzer: Allgemeine Theorie der Schönen Künste in einzeln, nach alphabetischer Ordnung der Kunstwörter auf einander folgenden, Artikeln abgehandelt. Zweyter Theil. Von K bis Z. Leipzig 1774, S. 653. Kemper FA 12. „Damit gelangt […] die enge Verquickung des naturrechtlichen Liebes-Affekts mit dem Begriff und Phänomen der (Natur-)Nachahmung in den Blick, und zwar hier in seiner anthropologischen und sozialen Bedeutung, von der her sich erst die poetologische Diskussion um die Nachahmung auch im Blick auf die ,Naturmaler‘ in ihrer aufklärerischen Funktion angemessen erschließt.“ (Kemper FA 99.) Vgl. Kemper FA 99/106; sowie zugespitzter Steffen Martus: „Der Poet liebt nicht irgendeine Natur, sondern die perfekte Natur.“ (Martus: Hagedorn, S. 447); „Die
2.1 Natur-Lob durch Natur-Inspiration (V. 1 – 12)
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Der Frühling formuliert neben den erwähnten Hoffnungen auch sofort die moralische Funktion10, die der Naturanschauung zukommt: Wenn das lyrische Ich im dritten Vers darum bittet, in „Gängen voll Nacht“ zum „glänzenden Throne der Tugend“ geführt zu werden, erhofft es sich eine ethische Läuterung, welche in den Worten der hier gewählten Lichtmetaphorik mögliche Schatten im Ich wie in der Natur „erhellen“ soll.11 Im Frühling wird in den folgenden Versen das Verhältnis, in das sich das Ich zur Natur setzen will, noch genauer bestimmt. Dabei verdeutlicht sich vor allem, welche Gegenleistung das Ich für die in die Natur gesetzten Hoffnungen als Dank erbringen möchte: […] Lehr mich den Widerhall reizen Zum Ruhm verjüngter Natur! Und Ihr, Ihr lachenden Wiesen, Ihr holde Thäler voll Rosen, von lauten Bächen durchirret, Mit Euren Düften will ich in mich Zufriedenheit ziehen Und, wenn Aurora Euch weckt, mit ihren Strahlen sie trinken. (4 – 8)
Die enge Verbindung zwischen Ich und Natur symbolisiert im Vorliegenden schon der Versbau. Den Hexameter (mit Vorsilbe), dessen erstmaliger Verwendung in einem größeren Gedicht der Frühling nicht zuletzt seine Position in der deutschen Literaturgeschichte zu verdanken hat12, nutzt Kleist in bestimmter Weise, über die er am 16. 11. 1755 an Nicolai im Kontext von dessen Briefen über den izigen Zustand der schönen Wissenschaften in Deutschland schreibt: Ich weiß wohl, daß, wenn schon Jemand vor mir in Hexametern geschrieben hätte, ich diese Versart nicht würde gewählt haben; ich hätte alsdenn ihren Uebelklang zu gut eingesehen. So aber wollte ich eine Probe in dem lateinischen Silbenmaße machen, und ob ich gleich, nachdem ich ein paar Seiten verfertiget hatte, wohl einsah, daß sie hart und nicht gut zu scandiren sein würde, so gefielen mir doch die Gedanken, die ich niedergeschrieben, und die Eigenliebe nebst dem Enthousiasme über meine Materie, darin ich war, (ausgewählte) Natur und ihre (auswählende) Wahrnehmung kann damit zum Exempel für die menschliche Selbstformung werden.“ (Ebd., S. 487); sowie zur „mitgelieferten moralischen Interpretation“ des Spiegelbildes dessen, der in die Landschaft blickt ebd., S. 449. 10 Nach Bodo Lecke übernimmt die Natur bei Kleist die Funktion „eines erbaulichen, aber intensiv moralpädagogisch wirkenden, positiven Gegenbildes der Tugend, Vertrautheit, Reinheit und Geborgenheit.“ (Bodo Lecke: Das Stimmungsbild. Musikmetaphorik und Naturgefühl in der dichterischen Prosaskizze 1721 – 1780. Göttingen 1967, S. 52.) 11 Vgl. Kemper FA 91, 106. 12 Uz hatte ihn zuvor bereits in seiner Frühlingsode (s. u.) verwandt.
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2 Natur I: Initiation (V. 1 – 45)
machte, daß ich fortfuhr. Ich verwerfe zwar nicht alle hexametros, es ist das allervortrefflichste Silbenmaß, wenn der Abschnitt in der Mitte immer männlich ist; wenn aber entweder gar kein gewisser Abschnitt, wie in Bodmer, Klopstock und Wieland, oder bald ein weiblicher, bald ein männlicher, wie in meiner Kleinigkeit ist, so taugt es nichts im Deutschen. (W II 303)
Kleist nutzt die erwähnten „Abschnitte“ in programmatischer Weise: Während die erste Hälfe des vierten Verses noch der Beschreibung des „Tugend-Throns“ dient („Der um sich die Schatten erhellt!“, s. o.), wird der zweite Teil des Hexameters nach der Mittelzäsur dann bereits dazu genutzt, die „Gegengabe“ des lyrischen Ich auszuführen. „Lehr mich den Widerhall reizen / Zum Ruhm verjüngter Natur!“ (4 f.). Diese Verbindung von zwei verschiedenen Gegenstandsbereichen, die durch einen gemeinsamen Hexametervers in Bezug zueinander gesetzt werden, wendet Kleist im gesamten Frühling an.13 An dieser Stelle ist die ab der zweiten Hexameterhälfte beschriebene Tätigkeit des Ich symptomatisch: es möchte selbst in einen Austausch mit der Natur treten, die just im ersten Teil des Verses beschrieben wurde. Wenn Kleist dazu mit dem „Widerhall“ (4) das im Frühling zentrale Motiv des Echos nutzt, wird deutlich, wie zentral die Topoi des „Austauschs“ und der „Kommunikation“ in der Beschreibung des Verhältnisses von Natur und Ich bei Kleist sind und wie er sie mit dem Stilmittel der geteilten Hexameter sprachlich umsetzt. Der Blick auf einen weiteren Text des Autors unterstützt diese These: In der Sehnsucht nach Ruhe heißt es, wenn sich das Ich direkt an den Bach wendet: „Kein güldner Sand, Dein Murmeln reizt mich nur“ (W I 47, 147). Hier wird die Hoffnung auf eine Verständigung mit der Natur („reizendes Murmeln“) mit einer Personifikation des „Bachs“ zusätzlich unterstrichen, was sich zudem abermals mit einer der Definitionen der nach Meier affekterzeugenden Tropen in Worte fassen zu lassen scheint: „3.) Die Personen=Dichtung (Prosopopeia) wenn man so gar Dinge reden läßt, die leblos oder unvernünftig sind.“14 Personifikationen bzw. Anthropomorphisierungen von Bestandteilen der Natur sind im Frühling durchgängig als stilbildende Elemente anzutreffen. Im Frühling möchte das Ich vor allem ein Echo der Natur bilden können, womit die frühaufklärerische Funktion der naturgemäßen Abbildung und Nachahmung der Natur ver13 Vgl. zu Kleists ,inhaltlich abgeteilten‘ Versen kritisch Lucie Schädle: Der frühe deutsche Blankvers unter besonderer Berücksichtigung seiner Verwendung durch Chr. M. Wieland. Eine versstilistische und literarhistorische Untersuchung. Göppingen 1972, S. 66 – 72. 14 Meier: Anfangsgründe, S. 499.
2.1 Natur-Lob durch Natur-Inspiration (V. 1 – 12)
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anschaulicht wird.15 Denn wenn es dem lyrischen Ich gelingt, ein adäquates Echo der Natur abzubilden und von dieser somit praktisch nicht mehr unterscheidbar zu sein, ist eine höchstmögliche Form der Nachahmung und Annäherung an die Natur erreicht. Die beschriebene Annäherung erfüllt im Frühling vor allem den Zweck, die Natur loben zu können – und zwar ist im vorliegenden Kontext damit die „verjüngte“, d. h. die neu erblühende Natur der Jahreszeit des Frühlings gemeint („Zum Ruhm verjüngter Natur!“, 5). Eine wechselseitige Abhängigkeit baut sich auf: Das lyrische Ich sieht sich als Echo („Widerhall“) der Natur, ist aber gleichzeitig auf eine genügende Inspiration durch die Natur angewiesen („Lehr mich […]“, 4), um die Natur überhaupt loben zu können. Ein ähnliches Verhältnis von Gottesdank und Gotteslob gestaltet Kleist später in den religiösen Versen des Frühlings aus, was bereits hier auf die religiöse (Ersatz-) Funktion der Naturwahrnehmung in der Frühaufklärung hinweist (vgl. Kap. 6.4). Das enge Wechselspiel des zuvor zitierten Verses (4 f.) zwischen Ich und Umgebung war im zitierten Vers dabei im Manuskript noch deutlicher herausgestellt, als noch vom „horchenden Widerhall“ (Hervorh. C. W.) die Rede war.16 Gleichzeitig spiegelt dies die poetologische Überlegung der Frühaufklärung wider, nach der das dichterische Ich sich von seiner Dichtung selbst immer ebenso affektiert zeigen müsse, wie es hofft, seine Leser im Gegenzug zu affizieren.17 Bodmer und Breitinger schreiben etwa in ihren Überlegungen zur „natürlichen Affekt-Rhetorik“18 : „Solche Redner / die von einer Leidenschaft entzündet werden / lassen das Hertze reden […]: Sie zwingen uns alsdann eben dieselben Affecte anzunehmen / von denen sie gerührt werden […].“19 Ebenso wie sich das lyrische Ich im Frühling begeistert von 15 Zur religiösen Herschreibung des „Echo“-Motivs gerade im pietistischen Kontext vgl. Kap. 6. 16 W I 174, Anm. V. 10. 17 Vgl. Kemper in Bezug auf Brockes als Beispiel für die naturmalende Poesie der Frühaufklärung, bei welcher das „lyrische Ich sich […] selbst in jenem affektiven Zustand zeigt, den es auch beim Adressaten hervorrufen möchte […].“ (Kemper FA 100.) 18 Dietmar Till: Transformationen der Rhetorik. Untersuchungen zum Wandel der Rhetoriktheorie im 17. und 18. Jahrhundert. Tübingen 2004, S. 395 f. 19 Johann Jakob Bodmer u. Johann Jakob Breitinger: Vernünfftige Gedancken und Urtheile von der Beredsamkeit. Von dem Einfluß und Gebrauche der Einbildungs-Krafft: Zur Ausbesserung des Geschmackes: Oder Genaue Untersuchung Aller Arten Beschreibungen, Worinne Die außerlesensten Stellen Der Berühmtesten Poeten dieser Zeit mit gründlicher Freyheit beurtheilet werden. Frankfurt u. Leipzig 1727, S. 118. Vgl. Dürbeck über Bodmers/Breitingers Ge-
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2 Natur I: Initiation (V. 1 – 45)
der Natur zeigt, hofft es, die Leser des Texts in Bann zu ziehen. Die beschriebenen poetologischen Positionen der Frühaufklärung wie Kleists Adaption derselben kann nicht ohne Horaz’ kanonischen Hinweis in der Ars Poetica gedacht werden: „[S]i vis me flere, dolendum est / primum ipsi tibi […]“20, nach der die Wirkung rührender literarischer Passagen affektrhetorisch nur dann beglaubigt werden kann, wenn der Autor selbst um die Gefühle starker Traurigkeit weiß.21 Im Abschluss an den ersten Teil der Initiationsverse des Frühlings wird jedoch zunächst noch einmal in drei Versen expliziert, dass und wie das Ich die bereits zuvor apostrophierte „Ruhe“ durch die Natur in sich erzeugen will. Dabei baut der Text den durch das Motiv des Echos aufgerufenen Kommunikationsraum zwischen Ich und Natur weiter aus, indem einzelne Bestandteile der Natur anthropomorphisiert werden („lachende Wiesen“), mit denen das Ich in einen sich verstehenden Austausch treten kann. Außerdem betont der Text auf diese Weise, wie sehr der Austausch mit der Natur dem Ich dazu dient, sich glücklicher zu fühlen (zur frühaufklärerischen Philosophie des Glücks vgl. Kap. 4.1): […] Und Ihr, Ihr lachenden Wiesen, Ihr holde Thäler voll Rosen, von lauten Bächen durchirret, Mit Euren Düften will ich in mich Zufriedenheit ziehen Und, wenn Aurora Euch weckt, mit ihren Strahlen sie trinken. (5 – 8)
Im Kontakt mit zwei Elementen der Natur will das Ich hier Zufriedenheit22 erlangen: durch die Düfte der Rosentäler (vgl. 6 f.)23 und durch die
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danken: „Bei der Rezeption geschieht eine Übertragung der Affekte, die von der Intensität der Leidenschaften des Autors abhängt.“ (Dürbeck: Einbildungskraft, S. 80.) Hier zit. nach Horaz: Episteln. Lateinisch und Deutsch. Übers. u. erl. v. C. M. Wieland. Bearb. u. hg. v. Gerhard Wirth. Reinbek b.H. 1963, S. 257. Vgl. Jürgen Stenzel: „Si vis me flere…“ – „Musa iocosa mea“: Zwei poetologische Argumente in der deutschen Diskussion des 17. und 18. Jahrhunderts. In: Deutsche Vierteljahrsschrift für Literaturwissenschaft und Geistesgeschichte 48 (1974), S. 650 – 671, bes. S. 651 f. Zum Begriff der „Zufriedenheit“ bei Kleist vgl. Kap. 4.2. In Uz’ Frühling ist, stärker anakreontisch inspiriert und zudem rein monologisch gehalten, noch die berauschende Wirkung des Weins nötig, um die Natur besingen zu können. Vgl.: „Ich will, vom Weine berauscht, die Lust der Erde besingen, / Ich will die Zierde der Auen erhöhn, / Den Frühling, welcher anitzt, durch Florens Hände bekränzet, / Siegesprangend unser Gefilde beherrschet.“ (Johann Peter Uz: Sämtliche poetische Werke. Hg. v. August Sauer. Stuttgart 1890, S. 13.)
2.1 Natur-Lob durch Natur-Inspiration (V. 1 – 12)
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Strahlen der Morgensonne (8).24 Auch treten die verschiedenen Elemente der Natur untereinander in einen kommunikativen Austausch, wenn die Täler anthropomorphisiert werden und der Text sie dann wiederum durch die „Strahlen der Aurora“ aufwachen lässt (vgl. 8). In der Hoffnung auf eine heilsame Wirkung der Natur haben Kleists Verse hier Ähnlichkeit mit dem Beginn eines impliziten „Jahreszeiten“-Zyklus, der sich in in Brockes’ Irdischem Vergnügen in Gott (Band VIII) versteckt25 : Gefild’ und Wälder! meine Zuflucht, aus der mühselgen Welt voll Pein, Voll Gram und Sorgen! nehmt mich ein In euer ruhig Heiligthum! begünstiget mein einsam Leben! Da ich mich, von Zufriedenheit, von einem ernsten Ueberlegen Und von Betrachtungen begleitet, will, aus der Stadt zu euch begeben!26
Hier ist allerdings die noch stärker im Zeichen traditioneller laus-rurisTopoi stehende Symbolik („Gram und Sorgen“ in der Stadt, vgl. hier V. 2/4) auffällig, mit welcher der Wunsch verbunden wird, dass das lyrische Ich durch die Aufnahme in die Natur mehr „Ruhe“ und „Zufriedenheit“ (3/4) fühlen kann. Auch gestalten sich alle Verse weniger sinnlich-reizend als vielmehr von ernster Stimmung dominiert. Das Wechselverhältnis von Ich und Natur ist im Frühling freier und weniger topisch formuliert. Hier kündigt das Ich abschließend den Dank in kommunikativer Form eines Lobgesangs und damit intratextuell gleichzeitig das folgende Gedicht des Frühlings selbst an, wobei es sich wie in einem locus amoenus 27 positioniert: „Gestreckt im Schatten, will ich in güldne Saiten die Freude, / Die in Euch wohnet, besingen.“ (9 f.) Die Bedingungen für ein solches Singen werden durch drei Verse noch einmal benannt, bevor dann die eigentliche Naturbeschreibung im Anschluss tatsächlich einsetzt: […] Reizt und begeistert die Sinnen, Daß meine Töne die Gegend wie Zephyrs Lispeln erfüllen Und wie die rieselnden Bäche! (10 – 12) 24 Vgl. hierzu auch in Kleists Brief an Gleim vom 22. 6. 1747: „[…] die Wälder und Bäche sollten mein Apoll sein.“ (W II 79.) 25 Vgl. Lothar Jordan: Was war neu an Ewald von Kleists Der Frühling? In: Ders. (Hg.): Kleist, S. 93 – 108, hier S. 98. 26 Brockes IVG VIII. Hamburg 1746, S. 3. 27 Vgl. in der Studie Klaus Garbers etwa das Beispiel Opitz’. Klaus Garber: Der Locus Amoenus und der Locus Terribilis. Bild und Funktion der Natur in der deutschen Schäfer- und Landlebendichtung des 17. Jahrhunderts. Köln u. Wien 1974, S. 206.
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Das Ich erbittet wiederum die Inspiration durch die Natur („reizt und begeistert die Sinnen“, 10), um sie besingen zu können. Im Band VII des Irdischen Vergnügens, der der vollständigen, oben erwähnten SeasonsÜbersetzung vorangeht,28 findet sich eine Vorarbeit zur Auseinandersetzung Brockes’ mit dem englischen Dichter. Die ersten Verse dieser Abermahlige[n] Betrachtung des Frühlings, insbesondere der darinn überall verspührten Fruchtbarkeit und Triebe zur Vermehrung. Nach Anleitung einiger Gedanken aus Mr. Thomson Season [sic!] weisen in Bezug auf die Position des lyrischen Ich eine noch viel größere Ähnlichkeit zu Kleists Frühling auf: Mein Herz, laß izt zur Frühlings=Zeit in dir ein Freuden=Feur entglimmen! Beschaue, zu des Schöpfers Preise, die, von Ihm Selbst, geschmückte Welt! Bemühe dich, zu Dessen Ruhm, Der alles schaffet und erhält, In einer fleißigen Betrachtung, ein frohes Danklied anzustimmen.29
In diesen Versen sind viele Elemente der Initiationsszene des Kleist’schen Frühling enthalten: das Ich, hier als „Herz“ angerufen, hofft, dass sich seine Stimmung bessere („laß izt […] in dir ein Freuden=Feur entglimmen!“), verweist auf die „geschmückte Welt“ und sieht dieses Lob als Gegengabe („Danklied“) für die erhoffte Inspiration. Allerdings wird bei Brockes der „Schöpfer“ selbst direkt angerufen, zu dessen „Preise“ auch das Lob angestimmt werden soll. Dies ist ein Element, das bei Kleist erst im Verlauf des Texts expliziter auftritt (vgl. Kap. 6) und zum Schluss hin ebenfalls eine der Bedingungen der Entwicklung des glücklichen und ausgeglichenen Ich im Frühling darstellt. Eine weitere Auffälligkeit ist indes an den letzten zitierten Versen Kleists signifikant: Denn wenn es dem Ich im Frühling gelingt, ein angemessenes Echo der Natur zu bilden (vgl. Kap. 5), zeigt sich diese mimetische Funktion tatsächlich in Tönen, die „wie Zephyrs Lispeln“ oder „wie die rieselnden Bäche“ (11 f.) klingen.30 Wie en passant gibt der Frühling in seinen ersten, programmatischen Versen eine Poetikanleitung zur Umsetzung des aufklärerischen Programms der sich anverwandelnden Naturbeschreibung: das Ich kann sich und seine Kommunikation nun in Metaphern der (anthropomorphisierten) Natur ausdrücken.
28 Die ersten Verse der vollständigen Brockes-Übersetzung der Seasons Thomsons dienten hier anscheinend weniger als Vorlage, vgl. BrTh 3, 1 – 4. 29 Brockes IVG VII. Hamburg 1743, S. 34. 30 Vgl. Martus: Hagedorn, S. 477.
2.2 „Rührende“ Beschreibung: Dreifach-dramatischer Frühlings-Auftritt
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2.2 „Rührende“ Beschreibung: Dreifach-dramatischer Frühlings-Auftritt (V. 13 – 45) In den ersten Versen des zweiten im vorliegenden Kapitel im Mittelpunkt stehenden Teils des Frühlings (13 – 30) beginnt der Text zum ersten Mal mit der Schilderung eines Geschehens in der Natur, wobei das lyrische Ich in direkter Rede zunächst gar nicht zu Wort kommt. Das Gedicht ist somit weniger durch das Element der dialogischen Ansprache und stärker durch das der Beschreibung bestimmt. Jetzt beginnt erst die zuvor als Gesang auf die Natur in den ersten Zeilen angekündigte Passage (vgl. 1 – 12), die das Einsetzen der neuen Jahreszeit beschreibt. Diese besteht zunächst in letzten, immer wieder aufwallenden Kämpfen des Frühlings mit dem ausklingenden Winter (13 – 24), um dann in eine Verkündung der erfolgreichen Ankunft der ersten Jahreszeit zu münden (25 – 30). Die Kontrastierung der beiden Jahreszeiten erlaubt die Einführung der für das gesamte Gedicht so zentralen Dichotomisierung ,sanfter‘ versus ,wilder‘ Eigenschaften (vgl. Kap. 3, 4, 5 und 7). In äußerst „malerischen“ und „sanften“ Beschreibungen fasst Kleist den allerersten ,Auftritt‘ des Frühlings gleich zu Beginn der zweiten Sequenz des Gedichts. „Auf rosenfarbnem Gewölke, bekränzt mit Tulpen und Veilchen“31 (13) tritt die titelgebende Jahreszeit zum ersten Mal in das Blickfeld des Lesers. Der Frühling sinkt, in schönsten Farben gezeichnet und geschmückt, „vom Himmel“ (vgl. 14). Wie einen Engel oder gar als erlösenden Messias selbst scheint der Text hier die erste Jahreszeit darzustellen.32 Durch zarte Attribute wie die Farbe Rosa und ihn bekränzende Tulpen und Veilchen wird der Frühling als ,sanft‘ in Szene gesetzt (vgl. 13). Dann beschreibt der Text das Abschmelzen des letzten winterlichen Eises, womit zunächst die letzten Reste des Winters im Text abgebaut werden: […] Aus seinem Busen ergoß sich Die Milch der Erden in Ströhmen. Schnell rollte von Hügeln und Bergen Der Schnee in Haufen herab, und Felder wurden zu Seeen [sic!]. – – – (14 – 16) 31 Hier hat Kleist die Unschuld wie Tod bedeutenden, symbolisch ambivalenten „Lilien“ durch die weniger ,riskanten‘, Verjüngung symbolisierenden Frühlingsblumen der „Veilchen“ ausgetauscht, vgl. W I 207, Anm. V. 13; Bauer: Kleist, S. 629 f. 32 Bereits Barbara Bauer bezeichnet Kleists Darstellung der Jahreszeiten als „Personifizierung“, vgl. ebd., S. 627. Im Brief Kleists an Gleim vom 21. 3. 1747 wird der Einsatz des Frühlings ebenfalls als „vom Himmel gleitend“ beschrieben: W II 70 f.
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2 Natur I: Initiation (V. 1 – 45)
Kleist stellt mit dem durch seine Milch nährenden „Busen“ (14) und den bewässerten Feldern (vgl. 16) schon hier Fruchtbarkeit als eine der zentralen Eigenschaften des Frühlings heraus – diese Konnotation wird im Text an verschiedenen Stellen wiederholt. In den früheren Versionen des Frühlings war im Text das Eintreten der Flut sogar noch stärker an das Bild des Busens geknüpft, wenn es in Vers 17 hieß: „Der Boden trank endlich […]“ bzw. „Bald trank der Boden die Fluth.“ (vgl. W I 207, Anm. V. 17) Die Überflutung ist jedoch bald beendet, wenn die Flut versiegt (vgl. 17) und die Landschaft sich ändert: „[…] Von eilenden Dünsten und Wolken / Flohn junge Schatten umher.“ (17 f.). Die kurze Schilderung der Überschwemmung und ihr unmittelbar folgendes Ende ergibt im Text die Möglichkeit, ein zweites Mal den „Auftritt“ des Frühlings in Szene zu setzen, was nun mit stärker religiös konnotierten Metaphern einhergeht: „Es schien der Himmel erweitert / Und war voll Schimmer und Strahlen.“ (18 f., vgl. Kap. 6) Die sich äußernden Anklänge an zeitgenössische Ästhetiken des Erhabenen zeigen sich zum ersten Mal (s. u.). Hier könnten, auch wenn sie nicht direkt über seine Collectaneen nachgewiesen werden können, René Rapins Du Grand Ou Du Sublime, die Übersetzungen Bodmers von Milton oder Bodmers Beschäftigung mit Addisons Aufsätzen über Milton für Kleist einflussreich gewesen sein, in denen etwa die „Schönheit kühner Metaphoren“ gepriesen wird.33 Auch bei PseudoLonginos Peri hypsous/ Vom Erhabenen heißt es bereits: „… das Aufgreifen des Äußersten und seine Zusammenballung zu einem Ganzen haben diese einzigartige Vollkommenheit bewirkt. In solcher Weise scheint mir auch Der [sic!] Dichter bei der Schilderung der Stürme aus den
33 René Rapin: Du Grand Ou Du Sublime Dans Les Moeurs Et Dans Les Différentes Conditions Des Hommes: Avec quelques observations sur l’Éloquence des Bienséances. Amsterdam 1686. (Rapins Hortorum wird bei Kleist erwähnt, s. u.); Johann Miltons Episches Gedichte von dem Verlohrnen Paradiese. Faksimiledruck der Bodmerschen Übersetzung von 1742. Mit einem Nachwort v. Wolfgang Bender. Stuttgart o.D.; die Addison-Aufsätze über Milton sind Bodmers Critischer Abhandlung angehängt, vgl. Johann Jacob Bodmer: Critische Abhandlung von dem Wunderbaren in der Poesie. Faksimiledruck nach der Ausgabe von 1740. Mit einem Nachwort v. Wolfgang Bender. Stuttgart o.D., S. 251 – 261, hier S. 256. Vgl. zum Einfluss der genannten Schriften auf den deutschen Erhabenheitsdiskurs Jörg Heininger: Art. Erhaben. In: Karlheinz Barck u. a. (Hg.): Ästhetische Grundbegriffe.Historisches Wörterbuch in sieben Bänden. Bd. 2. Dekadent–Grotesk. Stuttgart u. Weimar 2001, S. 275 – 310, bes. S. 282, Sp. 1; S. 286, Sp. 1 f.
2.2 „Rührende“ Beschreibung: Dreifach-dramatischer Frühlings-Auftritt
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Begleiterscheinungen das Gewaltigste herauszugreifen.“34 Ebenfalls in der Beschreibung verschiedener Redner greift Pseudo-Longinos zu Metaphern aus der Natur(katastrophik), die im Verlauf des Frühlings noch so zentral wird: [W]ährend der Grieche [Demosthenes, C. W.], weil er durch seine Gewaltsamkeit, dazu durch Schnelligkeit, Kraft und Übermaß alles zu entzünden und hinzureißen vermag, einem Gewittersturm oder Blitz verglichen werden kann, ist Cicero nach meiner Meinung wie eine weit hingedehnte Feuersbrunst, alles erfassend und aufgreifend, mit viel und stets anhaltender Glut, die einmal hierhin und einmal dorthin zerteilt, unablässig sich nährt. […] Am glücklichsten stellt sich der demosthenisch hochgespannte erhabene Stil im Überwältigenden und in den heftigen Leidenschaften dar und dort, wo es gilt, die Hörer zutiefst zu erschüttern, der breite Erguß aber dort, wo man sie mitschwemmen muß.35 Doch die neue, in ihrer Darstellung eher die friedvolle Spielart des Erhabenen betonende Jahreszeit erscheint im Frühling nur kurz und wird, gerade in ihrem als sanft akzentuierten Charakter („Schimmer“ etc.), gleichzeitig als bedroht geschildert und gegenüber den wilden Eigenschaften der Überschwemmung kontrastiv abgesetzt (vgl. Kap. 5.3). Denn nun verteidigt der Winter noch einmal sein angestammtes Revier und der Frühling tritt wieder zurück, indem nach den kurzen Beschreibungen der Überflutung den letzten, ,aufzuckenden‘ Elementen des Winters eine längere Schilderung gewidmet ist: […] Zwar streute der weichende Winter Noch oft bei nächtlicher Umkehr von den geschüttelten Flügeln Reif, Eis und Schauer von Schnee; noch ließen wüth’rische Stürme Die rauhe, dumpfichte Stimm’ aus Islands Gegend ertönen, Durchstreiften klagende Klüfte, verheerten taumeldne Wälder Und bliesen Schrecken und Furcht herum, Verderben und Kälte. (19 – 24)
Die Darstellungen des Winters bereiten hier spätere Charakterisierungen im Frühling vor, bei denen der Winter durch Naturkatastrophen (wie oben bei Pseudo-Longinos erwähnt), Krieg oder heftige Affekte dargestellt wird (vgl. Kap. 5.3). Die Position des Winters wird zu Beginn der Kämpfe allerdings sogleich als bereits verlorene charakterisiert, indem Kleist den Versen das Wörtchen „zwar“ (vgl. 19) voranstellt und die geschilderte 34 Hier zit. nach: Die Schrift vom Erhabenen. Dem Longinus zugeschrieben. Griechisch und deutsch. Hg. u. übers. v. Renata von Scheliha. Berlin 1938, S. 49/51. 35 Ebd., S. 55.
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2 Natur I: Initiation (V. 1 – 45)
Jahreszeit als „weichend“ bezeichnet (vgl. ebd.). Dennoch bricht der Winter in starkem Gegensatz zum milden Frühling mit viel stärkerer Gewalt über den Text hinein. Die nächtlichen Einlassungen des Winters werden dabei sowohl in meteorologischer als auch geographischer Hinsicht klar verortet: Die „wüth’rischen Stürme“ (21) kommen mit „Islands Gegend“ aus dem Norden, was den Kontrast zum frühlingshaften Westwind des „Zefirs“ vor Augen führt. Auch der Winter wird von Kleist personifiziert bzw. anthropomorphisiert, da die Jahreszeit neben der dunkel-nächtlichen Charakterisierung („dumpficht“, 22) über Eigenschaften des ,Wilden‘ („rauh“, „wüth’risch36 ; 21/22) belegt wird. Der Text charakterisiert den Winter also vor allem als zerstörerisches Element. In den nächsten beiden Versen wird der Winter zudem mit „Schrecken und Furcht“ assoziiert, wenn die wütenden Stürme „[D]urchstreiften klagende Klüfte, verheerten taumelnde Wälder / Und bliesen Schrecken und Furcht herum, Verderben und Kälte.“ (23 f.) Kleist treibt hier sowohl seine Strategie der Anthropomorphisierung als auch die Anwendung der Affektrhetorik Bodmers/Breitingers37, als erstes poetologisches Ziel durch die Beschreibung eindrücklicher Szenen starke Affekte im Leser erzeugen zu wollen, auf eine Spitze: Schrecken und Furcht werden als leibgewordene Affekte von den Stürmen umhergeblasen, ebenso wie das „Verderben“. Damit wird deutlich, dass die Beschreibungen hier dem wirkungsästhetischen Zweck der ,Rührung‘ dienen,38 was wir immer wieder im Frühling sehen werden (vgl. v. a. Kap. 5). Mit „Furcht“ und „Schrecken“ zitiert Kleist gleichzeitig zentrale Begriffe der zeitgenössischen Ästhetik des Erhabenen39, deren Programm er mit der Nennung der „taumelnde[n] Wälder“ anschaulich in seinem Text umsetzt. Kurz zuvor hatte Kleist mit dem „sich erweiternden Himmel“ (vgl. 18) eine ,positive‘ Spielart einer ebensolchen Ästhetik im Text benannt. Er kontrastiert Frühling und Winter somit auch über das zeitgenössische Ensemble der ästhetischen
36 Dies findet sich, gerade im Zusammenhang mit Winter und Stürmen, bereits oft in Brockes’ Seasons: Vgl. hier W I 208, Anm. V. 21. 37 Vgl. etwa ein Beispiel für Bodmers/Breitingers Verteidigung gerade auch des Gebrauchs „mutiger Bilder“ als affektsteigerndes Mittel der Literatur, die dann auch ,unrealistischen Charakter‘ haben dürfen: Johann Jakob Bodmer: Critische Betrachtungen über die Poetischen Gemählde der Dichter. Mit einer Vorrede v. Johann Jakob Breitinger. Zürich u. Leipzig 1741, S. 323. 38 Vgl. zum Begriff der „Rührung“ Kemper FA 102. 39 Vgl. einführend Carsten Zelle: Angenehmes Grauen. Literaturhistorische Beiträge zur Ästhetik des Schrecklichen im achtzehnten Jahrhundert. Hamburg 1987.
2.2 „Rührende“ Beschreibung: Dreifach-dramatischer Frühlings-Auftritt
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Theorie, indem er den Winter der schrecklichen und den Frühling der euphorischen Spielart der Rhetorik des Erhabenen zuordnet. Für die zeitgenössischen Frühlings-Gedichte ist der hier geschilderte „Kampf“ zwischen den Jahreszeiten durchaus typisch.40 Er dient der Spannungssteigerung im Text und erlaubt Kleist eine volle Entfaltung seiner ,rhetorischen‘ Fähigkeiten, wenn er mit immer stärkerer Emphase den Beginn des Frühlings ausrufen kann. Vor allem in Brockes’ Übersetzung der Seasons Thomsons findet sich der Kampf zwischen Winter und Frühling ähnlich differenziert ausgestaltet: Nachdem das lyrische Ich hier zu Anfang den Frühling auffordert zu beginnen („Komm, holder Lenz […] / [G]ehüllt in einem [sic!] Rosen=Regen“; BrTh 3, 1/4), nutzt Thomson nach dem Lob einer großzügigen Mäzenin den dritten Abschnitt seines Gedichts, um die noch andauernden Präsenz des Winters zu beschreiben: Bemerke, wie der strenge Winter jetzt allenthalben von uns flieht, Aus unsrer Gegend sich verlieret, und, da er sich nach Norden zieht, Den räubrischen Stürmen ruft: Die Stürme folgen ihm, und eilen, Die Hügel, wo sie wütend heulen […] (ebd. 2, 10 – 13)
Der Winter wird hier ebenfalls mit dem „Norden“ sowie „räubrischen Stürmen“ konnotiert. Den im Anschluss vorsichtig einbrechenden Frühling („indeß, daß sänftre Lüfte kühlen“; ebd. 2, 15) unterbricht prompt nochmals der Winter, der „seine Schaar [D]es Abends wieder rückwerts ruft“ (ebd. 5, 20 f.). Zusätzlich symbolisiert der Winter die Dunkelheit (vgl. ebd. 5, 23) und den Abend. „Doch endlich rollt die güt’ge Sonne vom Widder weg“, heißt es enthusiastisch in Vers 27 über ein abermaliges Einsetzen der ersten Jahreszeit, was über 58 Verse bis Vers 85 anhält, die einen neuen Frühlingsbeginn schildern: „Von den getränkten Wiesen an, durch einen kühlen Wind geleitet, / Rennt gleichsam über braune Hügel ein lebend Grün, das sich verbreitet […]“ (ebd. 13, 85 f.). Diese doppelte Bejahung scheint angebracht, da in den Seasons der Winter eine (noch) omnipräsente Bedrohung darstellt, auch wenn der Winter dann nur noch theoretisch aufgerufen wird („Wofern aus Rußlands Wüsteney nicht streng’ und scharfe Winde rasen“; ebd. 15, 112). Hiervon geht der Text im Anschluss zu einer Schilderung biblischer Plagen über (vgl. ebd. 17, 118). „Der Nord=West höret auf zu rasen“, heißt es zuletzt (ebd. 21, 169), womit sich im anschließenden Vers („[D]er feucht’ und sanfte Süd erwärmt den 40 Vgl. Bauer: Kleist, S. 627; ebd., Anm. 23.
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2 Natur I: Initiation (V. 1 – 45)
hohlen Kreis der Lüfte“) der Frühling endgültig durchgesetzt hat. Thomson lässt sich die beiden Jahreszeiten also noch häufiger als Kleist miteinander abwechseln, wodurch der Text jedoch auch an Spannung verliert. Für den späteren Verlauf der Interpretation sind im vorliegenden Kontext vor allem die ähnlichen Zuschreibungen der Seasons in Bezug auf den Winter, etwa über ungezügelte Affekte, aufschlussreich. Kleist verkündet im Gegensatz zu den Seasons bereits im 25. Vers des Frühling den endgültigen Sieg seiner Jahreszeit. Hiermit gestaltet der Text zum dritten Mal das Einsetzen des Frühlings rhetorisch aus. „Doch endlich siegte der vor noch ungesicherte Frühling.“ (25) Dieses Mal hat der Frühling das „rosafarbne Gewölk“ (vgl. 13) wie den Himmel (18) gänzlich verlassen und ist auf der Erde angekommen. Nach wie vor ist er jedoch immer noch durch seine zerbrechliche Erscheinung charakterisiert: Die Luft und die Töne werden sanfter (26 f.), Kälte und die „raue, dumpfichte Stimm’“ (22) des Winters sind verflogen. Im Gegensatz zu diesem scheint der Frühling nicht durch Gewalt und Einschüchterung überzeugen zu wollen. Der Text nimmt hier gleichzeitig eine metaphorische Vorwegnahme des moralphilosophischen Programms des Frühlings vorweg, in dem das Individuum zu heftige „Affekte“ ebenfalls ,calmieren‘ und zügeln soll, um zu einem tugendhaften und ausgeglichen handelnden Menschen zu werden (vgl. Kap. 4.4). Selbst in der im Frühling visionierten optimalen Gesellschaftsform sind die Machthaber in starkem Maße darüber charakterisiert, dass sie nicht durch brutales Regieren zu überzeugen versuchen, was an die hier vorgenommenen Zeichnungen von Winter bzw. Frühling erinnert (vgl. 4.1). Zur Beschreibung der neuen Jahreszeit wählt Kleist nicht mehr die temporale Eingrenzung der Nacht, sondern den Übergangszeitraum der „Dämm’rung“ (28) oder den anbrechenden Morgen (vgl. 30). Die Jahreszeit des Frühlings wird also auch in Bezug auf Tageszeiten mit Symbolen identifiziert, die metaphorisch für Übergang und Aufbruch stehen.41 Mit dem letzten Vers des endgültigen Sieges des Frühlings betritt auch der Mensch die Szene – entsprechend der im 18. Jahrhundert einflussreichen Idee der „Kette der Wesen“ (vgl. Kap. 6.3) wird im Frühling immer wieder der Mensch die Nennung verschiedener Tiere krönend abschließen (vgl. Kap. 6.3). „Und Echo höret’ im Grunde die frühe Flöte des Hirten.“ (30), heißt es hier, und ähnlich den ersten zwölf Versen des Frühlings, in denen sich das lyrische Ich in der Natur und im 41 Dies ist durchaus eine topische Beschreibung des Frühlings, vgl. etwa Guido Naschert: Art. Frühling. In: Günter Butzer u. Joachim Jacob (Hg.): Metzler Lexikon literarischer Symbole. Stuttgart u. Weimar 2008, S. 117 f., Sp. 1 – 2.
2.2 „Rührende“ Beschreibung: Dreifach-dramatischer Frühlings-Auftritt
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Text positioniert, wird auch hier der Mensch sofort über die Austauschfunktion des „Echo“ (vgl. V. 4) in ein produktives Verhältnis mit der Natur gesetzt, indem die umgebende Landschaft durch den Widerhall „im Grunde“ vom Flötenspiel des Hirten „hört“. Eine gelungene Kommunikation und ein funktionierender Austausch wie diese, welche grundlegende Elemente eines optimalen Verhältnisses von Natur und Ich im Frühling bilden, werden bei Kleist immer nur in Szenen vollkommener Harmonie verwandt, wie im Folgenden aufzuzeigen sein wird – währenddessen der Lärm von Krieg und Naturkatastrophen jegliches (akustisches wie mentales) Verständnis unmöglich machen (vgl. Kap. 5.2 u. 5.3). Der in den zitierten Versen ins Blickfeld tretende Mensch bildet gleichzeitig den Übergang zu einer Passage des Gedichts, in der auch auf inhaltlicher Ebene ein ,persönlicher‘ Ausdruck vorherrscht, wenn sich der Text nun in 14 Versen in einer direkten Anrufung an ein imaginiertes „ihr“ wendet. Hier tritt das lyrische Ich nach den langen Beschreibungen der Natur wieder direkt in erster Person Singular in den Text ein, wobei Kleist die im Frühling-Winter-Kampf aufgebauten Analogien aufgreift und fortsetzt. Es klingt wie eine Art Aufruf an die Menschen, dem Dichter bei seiner zuvor angekündigten Naturerkundung (vgl. 1 – 12) zu folgen, wenn es nun heißt: Ihr, deren zweifelhaft Leben gleich trüben Tagen des Winters Ohn’ Licht und Freude verfließt, die Ihr in Höhlen des Elends Die finstern Stunden verseufzt, betrachtet die Jugend des Jahres! (31 – 33)
Abermals wird der Winter auf explizit metaphorischer Ebene („gleich trüben Tagen des Winters“) über „Ähnlichkeitsketten“42 mit Dunkelheit und „Dumpfheit“ identifiziert (vgl. 19 – 25), in denen die Menschen sitzen, die sich noch nicht vom Frühling haben begeistern lassen. Der moralphilosophische Anspruch des Texts wird auch hier deutlich, über die Anschauung der Natur die Menschen aus ihrem „zweifelhaft Leben“ heraus zu besseren Exemplaren ihrer Gattung werden zu lassen. Kleist benutzt neben „finstern Stunden“ auch die „Trübheit“ des Lichts, um den Winter vom Frühling abzusetzen. Zudem führt er dann im Verlauf der zitierten Verse die Jahreszeiten-Metaphorik, die vorher mit Eigenschaften wie Schnee und Frost den Winter darstellte, noch ausdrücklicher in eine Beschreibung von Menschheitszuständen ohne jegliches „Licht und Freude“ über: In „Höhlen des Elends“ verbringen die bemitleidenswerten Adressaten des Texts ihr „zweifelhaft“ Leben „gleich trüben Tagen des 42 Vgl. Martus: Hagedorn, S. 447.
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2 Natur I: Initiation (V. 1 – 45)
Winters“. Um ihrem grauenhaften Leben zu entfliehen, sollen sie den Frühling „[B]etrachten“, der abermals als „Jugend des Jahres“ apostrophiert wird (vgl. die „verjüngte Natur“ in V. 5), womit Kleist nach der Dämmerung als Tageszeit des Übergangs nun auf ein Lebensalter des Übergangs zurückgreift, um die erste Jahresezeit zu charakterisieren. Kleist setzt das mit dem Verb „betrachten“ in der zweiten Hälfte des 33. Verses geöffnete Wortfeld des Sehens fort, wenn er auf die „Anschauung“ setzt, durch die sich die Lage der elenden Menschheit bald verbessern soll: „Dreht jetzt die Augen umher, laßt tausend farbichte Scenen / Die schwarzen Bilder verfärben!“43 (34 f.) Wenn im Text hier von „Scenen“ und „Bildern“ die Rede ist (vgl. an dieser Stelle auch Thomsons „scenes“ bzw. Brockes’ „Scenen“44), anstatt die anzuschauenden Elemente der Landschaft selbst zu benennen, zeigt sich zum einen ein Beispiel für die bei Kleist typischen „Reflexionen der Verbildlichung“45 im eigenen Textprozess. Zum anderen greift er mit den genannten Versen auf die im zeitgenössischen ästhetikgeschichtlichen Kontext prominente Idee zurück, allein durch schöne „Vorstellungen“ seiner Traurigkeit und Melancholie Herr zu werden. In den paradigmatischen Pleasures of Imagination Joseph Addisons heißt es hierzu: We might here add, that the Pleasures of the Fancy are more conducive to Health, than those of the Understanding, which are worked out by Dint of Thinking, and attented with too violent a Labour on the Brain. Delightful Scenes, whether in Nature, Painting or Poetry, have a kindly Influence on the Body, as well as the Mind, and not only serve to clear and brighten the Imagination, but are able to disperse Grief and Melancholy, and to set the Animal Spirits in pleasing and agreeable motions.46
Kleist möchte uns in den zuvor zitierten Versen zur praktischen Ausübung ebendieser aufrufen: „[T]o disperse Grief and Melancholy“ bzw. um „die schwarzen Bilder [zu] verfärben“ (35), sollen auch im Frühling „tausend farbichte Scenen“ der Imagination helfen. „Pleasing and agreeable motions“ könnte als Beschreibung ebenso für die von Kleist evozierten Bilder 43 Steffen Martus vertritt die These, dass durch solche expliziten Blickführungen in der poetischen Natur strukturell „natürliche Geselligkeit“ abgebildet wird: „Daher stehen die Natur, der Blick auf die Natur, der Blick im Gedicht auf die naturbetrachtenden Menschen und die Erziehung des Sehsinns in einer Reihe.“ (Martus: Hagedorn, S. 451.) 44 BrTh 21, 160. 45 Martus: Hagedorn, S. 477. 46 Joseph Addison, Richard Steele u. a. (Hg.): The Spectator. In Four Volumes. Volume Three. Edited by Gregory Smith. London 1958, S. 278.
2.2 „Rührende“ Beschreibung: Dreifach-dramatischer Frühlings-Auftritt
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des zarten, milden Frühlings passen. In einem nächsten Schritt projiziert Kleist nun wieder moralische Zuschreibungen auf die Fröhlichkeit erzeugenden „Scenen“ des Frühlings sowie „schwarzen Bilder“ des Winters: Denn wenn die Angerufenen dem Imperativ des Texts folgen und den Winter durch den „farbichten“ (34) Frühling „verfärben lassen“ (vgl. 34 f.), ganz wie es Addison fordert, so mögen „[…] die niedrige Ruhmsucht, / Die schwache Rachgier, der Geiz und seufzender Blutdurst sich härmen“ (35 f.)!47 Ruhmsucht oder Geiz bilden dabei mehrere der als am verwerflichsten beschriebenen Laster bei Kleist (vgl. Kap. 4.3). Kleist sieht im Bekenntnis zum Frühling also eine Bewegung zur moralischen Besserung der Welt – ähnlich dem lyrischen Ich ganz zu Beginn des Frühlings, das vom „schattichten Hain“ zum „glänzenden Throne der Tugend“ (vgl. 1/3) geführt werden wollte. Deutlich wird abermals die enge Anbindung gerade der deskriptiven ,Malerei‘ der Frühaufklärung an philosophische und naturrechtliche Diskurse (vgl. Kap. 4).48 In der naturnachahmenden Poesie werden „mit der ,bloßen Beschreibung‘ […] die höchsten moralischen und religiösen Zwecke“ beabsichtigt.49 Kleist blendet dabei die meteorologischen Eigenschaften der Jahreszeiten (Kälte/Aufblühen der Natur) mit charakterlichen (Klage/Freude) und moralischen Zuschreibungen (Ruhmsucht etc./Tugend) ineinander, wobei der Winter in Kleists Topologie50 für das Alte, zu Überkommende, der Frühling hingegen für den Neubeginn steht. Schon in den untersuchten Eingangsszenen wird im Text dabei insbesondere an literarische Topoi der laus-ruris-Tradition angeschlossen, wenn der moralisch verkommene Winter mit „güldnen Kerkern der Städte“ (41) parallelisiert wird, welchen die Menschen entfliehen sollen. Dies wird im Fortgang des Texts von Kleist noch weiter ausgebaut (vgl. Kap. 3). „Ihr seid zur Freude geschaffen!“ (37), ruft der Text schließlich 47 In ironischer Überspitzung findet sich eine ähnliche Sequenz in der Eingangspassage von Hallers Alpen: „Versuchts, ihr Sterbliche, macht euren Zustand besser, / Braucht, was die Kunst erfand und die Natur euch gab; […] Umhängt die Marmor-Wand mit persischen Tapeten“ (HA 3, 1 f./5). Wenige Verse später heißt es dann: „Wohl dir, vergnügtes Volk!“ (HA 3, 41); vgl. „Ihr seid zur Freude geschaffen!“ bei Kleist (s. o.). 48 „Von daher erscheint die poetische Nachahmung im Sinne deskriptiver ,Malerei‘ als Medium, durch das beim Adressaten der naturrechtliche Affekt zum Objektbereich hervorgerufen werden soll […].“ (Kemper FA 100.) 49 Kemper (hier über Brockes) in Kemper FA 106. 50 Kleist knüpft hiermit an literarische Traditionen an, vgl. Guido Naschert: Art. Winter. In: Butzer u. Jacob (Hg.): Symbole, S. 425, Sp. 2.
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2 Natur I: Initiation (V. 1 – 45)
aus, „der Schmerz schimpft Tugend und Unschuld“ (ebd.). Wer also – dies legt der letzte Halbvers nahe – tugendhaft lebt, der wird glücklicher leben, und seine Zeit nicht mehr „gleich trüben Tagen des Winters / Ohn’ Licht und Freude“ verfließen lassen (31 f.). Analog zum Auftakt des Gedichts rät Kleist nun den Lesern, es dem lyrischen Ich gleichzutun: Auch ihnen empfiehlt er, sich ins grüne Tal zu setzen und „Lust und Anmuth“ in sich zu „saugen“ (vgl. 38 f.). Hier setzt er nun den Frühling selbst und seine „Bilder“ in eins („Und Ihr, Ihr Bilder des Frühlings, / Ihr blühenden Schönen […]“, 39 f.) – auch die „Bilder“ des Frühlings selber sollen nun „den Athem=raubenden Aushauch / Von güldnen Kerkern der Städte“ fliehen (40 f.): „Kommt, kommt in winkende Felder!“ (41) Kleist fordert also den Frühling auf, dem ,Frühlings-Programm‘ zu folgen und in der Natur gewissermaßen sich selbst zu genießen – wie es das lyrische Ich zu Anfang getan hat und die Menschen der moralisch verkommenen Welt es nun ebenso tun sollen. Dabei fordert er, ähnlich wie später bei der expliziten Nennung bestimmter Affekte im Text, welche ebendiese im Leser erzeugen sollen, nun die „Bilder“ des Frühlings selbst auf, „Lust und Anmuth“ in sich zu saugen, womit er Addisons ästhetische Kuren (s. o.) noch einmal praktisch wortwörtlich zitiert und gleichzeitig „explizite Hinweise auf das Verfahren“ des Dichtens im Frühling gibt.51 Da es ursprünglich die Bilder waren, die im Menschen zur Zufriedenheit führen sollten, arbeitet Kleist hier mit einer Form paradoxaler Verdopplung – wie zu Anfang des Gedichts, als das Ich Zufriedenheit aus der umgebenden Landschaft in sich zieht, um dann am nächsten Morgen abermals Zufriedenheit aus den Strahlen der Aurora zu trinken, die gerade erst selbst durch die Natur zum Leben erweckt worden war.52 Gleichzeitig wird so aber das Ich erst Teil der Natur, die Natur Teil des Ich. Am Ende ist unklar, wo im Text die Beschreibung der Landschaft aufhört und an welcher Stelle der Text sie selbst evoziert – eben so, wie hier der Frühling am Ende zu sich selbst finden soll. Einen ersten Hinweis hatten hierauf zu Beginn schon die Verkopplung von Innen- und Außenmetaphern in der Beschreibung der Natur gegeben, wenn es etwa gleich im ersten Vers hieß, dass der Hain „voll hoher grüner Gewölbe“ (1) das lyrische Ich des Texts empfangen soll53 oder ein „Teppich“ (26) die Felder deckte.54 Auch in 51 Martus: Hagedorn, S. 477. 52 Vgl. auch im Lob der Gottheit, wo das lyrische Ich zum Gotteslob den Pinsel in die „Farbe“ der Flammen tauchen will: W I 28, 10. 53 In den ersten vier Frühlings-Versionen war sogar noch von den „Wohnungen süßer Entzückung“ die Rede, vgl. W I 206, Anm. V. 1 f.
2.2 „Rührende“ Beschreibung: Dreifach-dramatischer Frühlings-Auftritt
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Kleists Sehnsucht nach Ruhe heißt es, dass sich dem Ich die „teppichgleiche Flur“ zeigen soll (W I 46, 145). Eine solche Beschreibung der Natur mit Metaphern des häuslichen Kontexts hat in der zeitgenössischen Dichtung zwar Tradition55 (auch die „Gänge voll Nacht“ könnten in diesem Sinne interpretiert werden, vgl. 3). Im Frühling erscheint sie nun aber insbesondere deshalb konsequent, weil so nicht nur in inhaltlicher, sondern auch metaphorischer Weise Innen- und Außenraum des Dichtens und somit Natur und lyrisches Ich in Beziehung gesetzt und aufeinander bezogen werden. „Die Natur wird nicht mehr nur beobachtend beschrieben, sondern in der Deskription empfunden, in der Empfindung ästhetisiert und subjektiviert und damit zum Stimmungsträger der psychischen Disposition des Subjekts, und dieses wiederum avanciert zum poetischen Kohärenzpunkt der wahrgenommenen Naturerscheinungen […]“56, wie Hans-Georg Kemper schreibt. Die oben genannten Dopplungsfiguren werden in den letzten Versen des Aufrufs dann noch deutlicher ausgeführt, wenn es in einem weiteren Spiegelmotiv heißt: „Seht Euch in Seen und Bächen, gleich jungen Blumen des Ufers! / Pflückt Morgentulpen voll Thau und ziert den wallenden Busen!“ (43 f.) Schließlich sind es immer noch die „Bilder des Frühlings“ (vgl. 39, Hervorh. C. W.), die hier angesprochen werden – sie sollen sich nun im Wasser bespiegeln, um auszusehen wie die „jungen Blumen“ (43) und sich dann mit sich selbst schmücken, indem sie Morgentulpen voll Thau (in dem man sich wieder selbst spiegeln kann!) an ihren Busen heften – und aus einem Busen hatte sich 30 Verse zuvor (vgl. 14) doch erst der Frühling selbst über die Welt „ergossen“. Die zitierten Verse deuten zugleich eine mögliche Annäherung von Natur und Individuum an, wenn die Angesprochenen sich tatächlich bereits in „Seen und Bächen“ sehen können (vgl. Kap. 7). In jedem Fall dient wieder ein Spiegelmotiv als Symbol der empfohlenen – und intensiven – Auseinandersetzung von Mensch und Umwelt bzw. hier sogar des Frühlings mit sich selbst. Auch im zweiten Teil der Exposition seines Gedichts führt Kleist somit auf eindringliche Weise vor, welche In-eins-Setzung von Ich und Umgebung, Mensch und Natur, 54 Dieser war ebenfalls in den ersten vier Frühlings-Versionen sogar noch „geschmückt mit Ranken und Laubwerk / Von Büschen und Klee“ (s. W I 208, Anm. V. 26). 55 Steffen Martus spricht davon, dass auf diese Weise „Innen- und Außenräume in einem gestuften und durchlässigen Verhältnis zueinander stehen.“ (Martus: Hagedorn, S. 462; sowie insgesamt zur „Natur als Innenraum“ ebd., S. 458 – 466; S. 462 auch explizit zu Kleists Frühling.) 56 Kemper FA 167 f.
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2 Natur I: Initiation (V. 1 – 45)
Poesie, Welt und Religion er im Frühling zu explizieren gedenkt. Programmatisch nimmt Georg Friedrich Meier auf die Ineinanderblendung von Natur und wechselnden „Gemüthslagen“ Bezug, wenn er in seiner Rezension des Frühlings im Geselligen etwa schreibt: „Der Dichter fällt auf diese Betrachtung ganz natürlich. Er sieht die Hofnung [sic!] des Landmannes, und dieses führet ihn auf den die Saaten verwüstenden Krieg, den er in dieser Betrachtung sehr schön mit einem verderblichen Hagelwetter vergleicht.“57 Kleist äußert sich gegenüber Gleim am 26. 4. 1750 zwar kritisch über Meiers Rezension, die ihn „lachen macht“ (W II 170), befolgt manche der Anmerkungen wie die zu Kleists neuen Wortschöpfungen aber dennoch, wie August Sauer gezeigt hat (W I 218, Anm. V. 158). Im nächsten Abschnitt werden die genannten Ideen anhand eines beliebten literaturgeschichtlichen Topos weiterentwickelt und ausgebaut: der laus ruris.
57 Georg Friedrich Meier: Beurtheilung des Gedichts, der Frühling genannt. In: Der Gesellige, eine moralische Wochenschrift. Neu hg. u. mit einem Nachwort vers. v. Wolfgang Martens. 5. Theil, 211. Stück. Zürich u. a. 1987, S. 225 – 238, hier S. 225.
3 Lob des Landlebens (V. 45 – 78, 95 – 154) Das literaturgeschichtlich beliebte Motiv der laus ruris bildet im Frühling einen Übergang von den eingangs explizierten Naturbildern zu im Text geäußerten moralphilosophischen Überlegungen. Vor allem wird das „Lob des Landlebens“ in den Versen 45 – 78 und 95 – 154 gesungen und variiert, weshalb diese im vorliegenden Kapitel bevorzugt analysiert werden. In beiden Passagen zeichnet sich das Landleben in starkem Maße über Metaphern der Begrenzung, Einhegung und Sicherung und den Kontext (familiärer) Häuslichkeit aus. Das impliziert, dass Kleist das Landleben vor allem als ein ,zivilisiertes‘ Landleben darstellt.1 Im Folgenden werden die verschiedenen Funktionen der laus ruris innerhalb des Gedichts anhand eines textnahen Zugangs analysiert, da das „Lob des Landlebens“ der Vorbereitung späterer, ,abstrakterer‘ Positionen im Frühling dient (vgl. Kap. 4 und 5).
3.1 Begrenzung und Einhegung: Landlob im Frühling im Kontext vom ,rechten Maß‘ und (Neo-)Stoizismus (V. 45 – 78) Durch die im Frühling formulierte Aufforderung, aus den goldenen Kerkern der Städte in die winkenden Felder zu fliehen (vgl. 39 – 41), wurde die erste zentrale laus-ruris-Passage des Texts in den Versen 45 – 78 bereits vorbereitet. In Vers 45 befindet sich das lyrische Ich nun in der erwünschten Natur: Hier, wo der spitzige Fels, bekleidet mit Sträuchen und Tannen, Zur Hälfte den bläulichen Strom, sich drüber neigend, beschattet, Will ich ins Grüne mich setzen auf seinen Gipfel und um mich 1
Die Idyllen Kleists werden nicht in die Analyse miteinbezogen. Ich beziehe mich hier auf die Definition Anke-Marie Lohmeiers von „Landlobliteratur“ in der Abgrenzung von Georgik, Idylle und Bukolik; vgl. ihre Studie auch als allgemeine Einführung zum laus-ruris-Motiv. Anke-Marie Lohmeier: Beatus ille. Studien zum ,Lob des Landlebens‘ in der Literatur des absolutistischen Zeitalters. Tübingen 1981, S. 19 – 107, bes. S. 61 – 76. Vgl. außerdem zur Definition der Idylle Renate Böschenstein-Schäfer: Idylle. Stuttgart 1977.
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3 Lob des Landlebens (V. 45 – 78, 95 – 154)
Thal und Gefilde beschauen. […] (45 – 48)
Der locus amoenus, der hier im Text evoziert wird, zitiert mit Blick auf Kleists Notizheft eine der topischen Vorlagen jeder Landlebendichtung. Unter den insgesamt sechs verschiedenen Einträgen in Kleists Collectaneen zum Thema Landleben findet sich auf S. 246 des Hefts ein lateinisches Zitat aus Vergils Georgica: […] o ubi campi Spercheosque et virginibus bacchata Lacaenis Taygeta, o qui me gelidis convallibus Haemi sistat et ingenti ramorum protegat umbra!2
Die Verse beschreiben ganz ähnlich den Eingangsversen der ersten lausruris-Passage des Frühlings einen Wunsch des lyrischen Ich, sich in den griechischen „Gefilden“ unter anderem im Schatten der Bäume auszuruhen. Kleist fügt in seinem Collectaneenheft unter dem zitierten Ausschnitt eine Bemerkung an, dass die gesamte Versfolge aus dem Vergil „bis zum 540. Vers“ zu beachten sei.3 Die hier von Kleist genannte und zitierte Passage aus Vergils Georgica gehört zusammen mit der 2. Epode des Horaz4 zu den klassischen Vorlagen jeder Landlobdichtung – die topischen Vergilverse setzen lediglich bereits etwas früher ein als von Kleist zitiert, ab Vers 458.5 Sie bilden eine der drei Lobreden, die dem Lehrgedicht vom Landbau, hier das Landleben behandelnd, integriert sind.6 Bei Kleist fällt im Folgenden auf, dass die Natur gleich von Beginn an die Funktion innehat, trotz der vermeintlich weiten Aussicht vom Gipfel die Landschaft einzugrenzen und Perspektiven zu beschränken: So erscheint der „spitzige“ Fels, den der Text zu Anfang der Passage erwähnt, als 2
3 4 5 6
Vgl. CO 246. Hier zit. nach Vergil: Landleben. Bucolica. Georgica. Catalepton. Hg. v. Johannes u. Maria Götte. Vergil-Viten. Hg. v. Karl Bayer. Zürich 1995, S. 140, V. 486 – 489. In der deutschen Übersetzung: „[…] Wo seid ihr, Gefilde / Griechenlands? Wo du, von bakchantischen Mädchen durchschwärmtes / Waldgebirge? O wer mich in kühle Täler des Haemus / Brächte und mich tief bärge im schattigen Dunkel der Zweige!“ (Ebd., S. 141, V. 486 – 489.) Vgl. CO 246. Vgl. etwa Lohmeier: Beatus, S. 77 u. 80; Horaz: Sämtliche Werke. Teil I. Oden und Epoden. München 1960, S. 227 – 231. Vgl. Lohmeier: Beatus, S. 80. Kleist notiert in seinen Collectaneen erst den Ausschnitt ab Vers 486, vgl. CO 246. Vgl. einführend Werner Suerbaum: Art. Vergilius. In: Hubert Cancik u. a. (Hg.): Der Neue Pauly. Enzyklopädie der Antike. Bd. 12/2. Ven–Z/Nachträge. Stuttgart u. Weimar 2002, Sp. 46.
3.1 Begrenzung und Einhegung: Landlob im Frühling im Kontext
37
„bekleidet mit Sträuchen und Tannen“ (45). Er ist also nicht wild, unbewachsen und frei, sondern wird insbesondere durch das der Beschreibung eines Innenraums entliehene Adjektiv als „bekleidet“ und somit auch als zivilisiert dargestellt. Wie sehr diese Charakterisierungen schon den späteren Entwurf eines sittsam „calmierten“ Individuums vorbereiten, wird im Verlauf des Texts und der Analyse noch deutlich werden. Der erwähnte Fels sorgt für angenehm-sanfte Licht- und Lebensverhältnisse, wenn er den unter ihm fließenden „bläulichen Strom“ (46) beschattet, wodurch er gleichzeitig den Fluss einhegt.7 Wie in den ersten Versen (vgl. Kap. 2) erfreut die Natur das betrachtende Ich: „O, welch ein frohes Gewühle / Belebt das streifichte Land!“ (48 f.) Die hier genannte „Freude“ koppelt sich im nächsten Vers an eine positive Eigenschaft, wenn es heißt: „Wie lieblich lächelt die Anmuth / Aus Wald und Büschen hervor!“ (49 f.) Die Natur wird wieder mit bestimmten Zuschreibungen aufgeladen – und sie ist vor allem ein Element, das (in räumlicher Hinsicht) klar umrissen und eingehegt ist und somit nicht zu wilden Extremen und Auswüchsen neigt. Kleists Beschreibung des „Zauns“ macht dies noch deutlicher: […] Ein Zaun von blühenden Dornen Umschließt und röthet ringsum die sich verlierende Weite, Vom niedrigen Himmel gedrückt. […] (50 – 52)
Vor allem eine „begrenzte“ Natur wird hier also als vorbildliche Natur vorgestellt. Denn im Bild der „blühenden Dornen“, aus welchen der Zaun besteht, muss die hinter diesen Bildern stehende moralische Vorstellung mitgedacht werden: Nur wer sich an klare Begrenzungen oder gar Strafen für Regelverstöße hält („Dornen“) und somit einem Ideal tugendhaften Verhaltens folgt, „blüht“ umso schöner. Auf ebendiese Weise verurteilt der Text zu extreme Affekte der menschlichen Natur (vgl. Kap. 5, bes. 5.4). Die gezeichnete Landschaft ist hier sogar von zwei Seiten eingegrenzt: zum einen durch den „niedrigen Himmel“ in horizontaler Perspektive, welcher eine religiöse Dimension und Begrenzung in den Text einbringt und auf Gott als letztes Gesetz allen Lebens verweist (vgl. Kap. 6). Diesen Aspekt hat Kleist im Verlauf der Fassungsgeschichte allerdings abgemildert – im Manuskript des Frühlings war noch anstelle des „Zauns von Dornen“ von einem stärker christlich konnotierten „Dornenkranz“ die Rede, den Kleist 7
Im Manuskript der ersten Version war der Fluss noch eindeutiger „blau“ gewesen, nicht „bläulich“. Vgl. W I, 178, Anm. V. 75.
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3 Lob des Landlebens (V. 45 – 78, 95 – 154)
dann später durch den „Zaun“ ersetzte.8 Wichtiger waren Kleist hier die eingezogenen Begrenzungen in vertikaler Perspektive, sodass das Bild einer „sich verlierenden Weite“ (vgl. 51) nur evoziert wird, um es durch den Zaun sogleich wieder zu relativieren. Kleist wiederholt diese Anordnung der Natur gleich im nächsten Vers: „[I]ns Ferne“ laufen da zunächst die Beete aus „bunten Mohnblumen“ (52 f.), nur um dann gleich doppelt durchbrochen zu werden, nämlich „[D]urchkreuzt von blühendem Flachs“ und „[M]it grünem Weizen versetzt“ (vgl. auch das „streificht“ davor, 49). Die Mohnblumen werden außerdem immer „schmäler“, je weiter sie sich ziehen (54 f.). Es sollen also keine Bilder von unendlichen roten Blumen oder sich verlierender landschaftlicher Weite entworfen werden; jene dienen stattdessen lediglich dazu, sie in einer rhetorischen Volte direkt im Anschluss wieder zu negieren. Dies wird auch auf syntaktischer Ebene deutlich, indem die Verse durch diverse Einschübe unterbrochen sind (vgl. z. B. 52 – 54). Nach dem „Zaun“ wählt Kleist ab Vers 54 abermals eine sehr deutliche Metapher, um sein moralisches Anliegen zu veranschaulichen, wenn „Feldrosen=Hecken“ und Schlehstrauch den Teich „umkränzen“9 – dabei aber zugleich nur wieder umso schöner „in Blüthen gehüllt“ (vgl. 55) sind, ähnlich den davor genannten „Dornen“. Schönheit und damit auch Tugend entstehen also nur innerhalb klarer Regeln. Das Bild der eingehegten Natur wird gleichzeitig in einen anderen, bei Kleist zentralen Motivkomplex überführt, wenn der erwähnte Teich als „Spiegel“ bezeichnet wird. Dieses knüpft an die bei Kleist beliebte Echosemantik im Rahmen eines kommunikativen Naturaustauschs an (vgl. Kap. 2). Die den Teich umgebenden Hecken und Büsche „sehn sich drinnen“ (56), spiegeln sich also im Teich. Kleist erweitert dieses Bild um weitere Wasser- und Lichtmotive, welche gleichzeitig Begrenzungen in das beschriebene Ensemble von Teich und Umgebung schlagen: „[…] Zur Seite blitzt aus dem grünlichen Meere / Ein Meer voll güldener Strahlen durch Phöbus’ glänzenden Anblick.“ (56 f.) In den Teich, hier als „grünliches Meer“ bezeichnet, fällt ein Sonnenstrahl, den Kleist neuerlich in die Metapher des „Meers“ (voll güldener Strahlen) fasst. Der Frühling führt hier eine ,Bespiegelung‘ ähnlicher Elemente also nicht nur in inhaltlicher Hinsicht, sondern gleichsam in ähnlicher Benutzung der Metaphern vor, wenn Wasser und Licht über gleiche Wortfelder ineinander geblendet werden („Meer“/ „Meer“). Kleists „hohes Maß an kompositioneller Ver8 9
Vgl. W I 178, Anm. V. 79. Vgl. das Motiv jedoch auch in anderen Texten Kleists, etwa in seiner Sehnsucht nach Ruhe den „Kranz von fernen blauen Hügeln“ (W I 41, 8).
3.1 Begrenzung und Einhegung: Landlob im Frühling im Kontext
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knüpfung in Aufbau und Motivgestaltung“10 lässt sich also bereits an dieser frühen Stelle des Texts zeigen. Heißt es anschließend: „Und Lieb’ und Freude durchtaumelt in kleiner Fische Geschwadern / Und in den Riesen des Wassers die unabsehbare Fläche.“ (60 f.), scheint Kleist hier mit der „unabsehbaren Fläche“ zum ersten Mal einen unbegrenzten Teil der Landschaft zu präsentieren. Diese kann jedoch nur in der Spiegelung des „Himmels“ geschehen, ist also in letzter Konsequenz wieder an Gott gebunden, was der physikotheologischen Topik des Teichmotivs entspricht und die religiösen Passagen des Frühlings vorbereitet (Kap. 6). Kemper schreibt zum „Spiegel-Motiv“: Die genaue Betrachtung der Schöpfungs-Schönheiten reproduziert sich in der Phantasie des Lesers und erweckt von da aus notwendigerweise angenehme Empfindungen und Affekte, damit auch „brünst’ge Liebe“ zu dem Dargestellten („Sehen machte Sehnen!“) und über dieses zum Urheber des Angeschauten. Und dadurch wiederum wird der menschliche Wille angetrieben, das sinnlich Wahrgenommene bzw. Imaginierte als Schönes und Gutes nachzuahmen, sein Wesen ethisch zu vervollkommnen und sich so dem göttlichen liebend-nachahmend anzugleichen und „GOTTES Willen zu erfüllen.“11
Doch auch die oben erwähnten umkränzenden Hecken und eingrenzenden Büsche bei Kleist spiegeln sich im Teich, womit wieder ein Bild des Begrenzten erzeugt wird. Dies ist insbesondere im Hinblick auf die moralischen Kategorien der Liebe und Freude (vgl. 59) signifikant: Ebenso wie das lyrische Ich zu Beginn der Passage Freude und Anmut nur in der klar geregelten Natur erblicken konnte, braucht auch hier eine moralisch vorbildliche Haltung eindeutige Begrenzungen, wie etwa Hecken, Zäune oder Dornen. Die lobende Beschreibung des Lebens auf dem Land beinhaltet (nicht nur bei Kleist) also immer moralische (wie religiöse) Konnotationen.12 10 Kemper FA 168. 11 Vgl. im Kontext des ,Gottes-Spiegel-Motivs‘ etwa Kemper FA 105; sowie allgemeiner in diesem Zusammenhang in Bezug auf Brockes, bei dem die Selbstbespiegelung der Natur „in eine progressive Reflexionsreihe […] bis hin zur Selbstbespiegelung Gottes“ übergeht, Martus: Hagedorn, S. 441; außerdem August Langen: Der Wortschatz des deutschen Pietismus. Tübingen 1954, S. 319 – 333. 12 „Mit ihrer augenscheinlichen Anmutigkeit dient die Landlebendichtung traditionell als Kulisse für politische, ethische und zeitgeschichtliche Reflexionen.“ (Stefanie Stockhorst: Ethische Aufrüstung. Zur Konvergenz von Landlebendichtung und Neustoizismus im Zeichen des Dreißigjährigen Krieges am Beispiel von J. G. Schottelius’ Lamentatio Germaniae Exspirantis (1640). In: Euphorion
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3 Lob des Landlebens (V. 45 – 78, 95 – 154)
Eine solche in den Glücksansprüchen bescheidene, sich durch Begrenzung und Maß auszeichnende Lebenshaltung13, wie wir sie bei Kleist gestaltet finden, bezeichnet Anke-Marie Lohmeier im Kontext ihrer Untersuchung der Landlobdichtung als „Ideologie des Mittelstands“. Hier wird das „Glück der ,goldenen Mitte‘, des gemäßigten verfeinerten Genusses, das weder Überfluß noch Mangel kennt“, als „zentrales Identifikationsmodell und Wahrzeichen des Mittelstands kenntlich gemacht.“14 Dieses bietet sich als Vorlage für Kleist optimal an, um seine späteren Überlegungen zur Affekttheorie vorzubereiten (vgl. Kap. 3 und 4, bes. 4.3). Die Idee einer solchen aurea mediocritas stammt ebenfalls schon von Horaz.15 In Hallers Alpen gibt es zum geschilderten „Lob des Mittelmaßes“ noch ausdrücklichere Beispiele als bei Kleist, wenn Haller etwa die Menschen angreift, die „das stille Glück des Mittelstands“ verschmähen (vgl. HA 21, 445). Haller verknüpft die Vorstellung des richtigen „Maßes“ stärker mit bestimmten Idealisierungen eines einfachen Lebens: Als aber ihm das Maß von seinem Reichtum fehlte, Trat bald der schwächste Feind den feigen Stolz in Graus. Du aber hüte dich, was Größers zu begehren. Solang die Einfalt daurt, wird auch der Wohlstand währen. (HA 5, 47 – 50)
Hierbei wird eine Kritik des Hochmuts, wie sie auch oft bei Kleist zu finden ist (vgl. Kap. 4.3), zudem politisch konnotiert, wenn Haller eine in allem maßvolle Haltung in den Kontext eines möglichst freien Lebens (auf dem Land) stellt: „Die Freiheit teilt dem Volk, aus milden Mutter-Händen, / Mit immer gleichem Maß Vergnügen, Ruh und Müh.“16 (HA 6, 77 f.) Im „Frühling“ werden jetzt hingegen die ersten Tiere in den Text eingeführt und damit auch ein Gefahrenszenario der bislang in dieser
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105/1 (2011), S. 1 – 18, hier S. 1.) Vgl. außerdem grundlegend Lohmeier: Beatus, hier bes. S. 87 – 107. Auch Gerhard Sauder weist im Kontext des Neostoizismus darauf hin, dass hier allein Tugend ,rechte Apathie‘ verleihe. Vgl. Gerhard Sauder: Empfindsamkeit. Bd. 1. Voraussetzungen und Elemente. Stuttgart 1974, S. 103. Lohmeier: Beatus, S. 423. Vgl. ebd., S. 425. Die Abwesenheit jeglichen staatlichen Einflusses betont Haller in den Alpen mehrmals ähnlich explizit. So heißt es in Vers 121: „Denn hier, wo die Natur allein Gesetze gibet, / Umschließt kein harter Zwang der Liebe holdes Reich.“ (HA 8, 121 f.) sowie sechs Verse später in einer Vermischung von topischer Eitelkeitskritik und einem leicht antipatriotischen Unterton: „Die Staatssucht macht sich nicht zur Unglückskupplerin: / Die Liebe brennt hier frei und scheut kein Donnerwetter, / Man liebet für sich selbst und nicht für seine Väter.“ (HA 8, 128 – 130.)
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Passage so eingehegten und zivilisierten Natur eröffnet. Zunächst bedrohen die „Sümpfe“ Tugend und Anstand, die hier durch die Tiere symbolisiert werden: […] Gefleckte Kühe durchwaten, Geführt vom ernsthaften Stier, des Meierhofs büschichte Sümpfe, Der finstre Linden durchsieht. […] (63 – 65)
Schließlich waren die Sümpfe zur Zeit der Frühaufklärung noch nicht in den Kreis der nobilitierten loci terribili aufgenommen worden, sondern erschienen als dunkle Orte mit vermodernder Vegetation und verwesenden Tierkadavern. Gerade auch aufgrund ihrer halbamphibischen Bewohner galten sie als bedrohlich und symbolisierten das „Pandämonium der Natur“.17 Die „finsteren Linden“ rufen gleichzeitig die Licht- und Tageszeiten-Metaphern Kleists auf, in denen der Winter mit Dunkelheit und den ungeordneten Affekten gleichgesetzt wird (vgl. ausführlicher Kap. 5). Ein Zeichen der ,Zivilisation‘ leuchtet jedoch auch aus den dunklen Sümpfen auf (vgl. 65): Zusammen mit den Nutztieren (vgl. neben den Kühen auch die Pferde, 61 – 63) erscheint der „Meierhof“ (64) als Element in der Szenerie des Frühlings, das eindeutig einer bewohnten menschlichen Zivilisation angehört. Der Meierhof verspricht Rettung in den von Kleist gezeichneten Bedrohungen in der Natur – und zu diesem müssen die Kühe, umschlossen von Sümpfen und anderen dunklen Orten, von einem „ernsthaften“ (!) Stier „geführt“ werden. Ebenso wie in der freien Natur klare Grenzen unerlässlich waren, benötigen die Tiere also einen Führer. Dies entspricht in gesellschaftstheoretischer Hinsicht den Vorstellungen eines „aufgeklärten Absolutismus“, wie sie sich später in Kleists politischen Ausführungen im Frühling zeigen werden (vgl. Kap. 4.1). Der Hort der Zivilisation, der „Meierhof“, kann denn auch nur durch einen (begrenzten) „Gang“ von Bäumen („Espen und Ulmen“, vgl. 65) erreicht werden. Dieser erinnert fast wortwörtlich an den Gang zu Beginn des Frühlings, durch den das Ich von der Natur geführt werden wollte. Von diesem hieß es: „Führ mich in Gängen voll Nacht zum glänzenden Throne der Tugend“ (vgl. 3). Der beschriebene Gang zum Meierhof (vgl. 64) wird ähnlich den „streifichten“ Elementen der zuvor geschilderten Natur wieder von einem Bach unterbrochen, der ihn „durchblinkt“ (66). Den Tieren, die der Text 17 Vgl. David Blackbourn: Die Eroberung der Natur. Eine Geschichte der deutschen Landschaft. München 2007, S. 63 f.
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erwähnt, droht im Gegensatz zu den Kühen aber keinerlei Gefahr, sie werden im Text aber auch sogleich als ,zivilisiert‘ beschrieben: Indem Reiher und Schwäne den Bach „bewohnen“ (vgl. 67), nutzt Kleist neuerlich eine Metapher aus dem häuslichen Bereich, um eine (bereits zivilisierte) Natur noch stärker als solche zu charakterisieren – und damit auch auf die spätere Etablierung eines solchen Individuums als vorbildlich hinzuwirken. Kleist lässt die Landschaft nach den Verweisen auf den Fels und dessen Gipfel (vgl. 45/47) sowie den „niedrigen Himmel“ (52) neben den zahlreichen vertikalen Limitierungen ein weiteres Mal horizontal begrenzen, wenn er in Vers 67 f. betont, dass die gesamte beschriebene Landschaft durch Gebirge eingehegt ist. Diese „[S]tehn fröhlich um ihn herum“ (68), ihnen wird also – abseits der zeitgenössischen erhabenen Bedeutungszuschreibungen der Berge oder Alpen – explizit der Schrecken genommen, nicht zuletzt in der Form eines typischen Kleist’schen Vergleichsbilds, wenn Berge mit einer mütterlich-fruchtbaren Funktion verbunden werden: als „Brüste der Reben“18 (67). Falls dies, wie so oft in den zitierten Passagen, über einen Einschub in die Versstruktur geschieht, erzeugt Kleist auch in metrischer bzw. formaler Ebene ein verschachteltes, nach allen Seiten hin begrenztes und austariertes Textgefüge. Mit dem „ackernden Landmann“ betritt nun der Mensch und gleichzeitig ein klassisches Element der laus-ruris-Motivik die Szene des Frühlings. 19 Stoisch-zufrieden (s. u.) geht dieser seiner Arbeit nach, begleitet von „Krähen und Elstern“ (75), und zieht in der bei Kleist omnipräsenten Wassermetaphorik20 „braune Wellen ins Erdreich“ (74). Im Kontext der arbeitenden Menschen finden wir im nächsten Vers eine neue Variante der Frühlingsbeschreibungen, die sich von unbegrenzten oder zu exzessiven Bildern absetzt. Auch bei der Beschreibung des Gangs des Bauern betont der Text dessen Tempo des ausgeglichenen, mittleren Maßes: „Der Säemann schreitet gemessen / Und wirft den Samen ihm nach.“ (75 f.)21
18 Ramler ignoriert diese Konnotation in seiner späteren Bearbeitung. Vgl. das sich emporhebende „Rebengebirg […] mit Thyrsusstäben bepflanzt“ (W I 339). 19 Eine sensible Naturauffassung, wie sie in Übereinstimmung mit Lohmeier im Frühling als zentrales Element anzusehen ist, bedingt also nicht notwendigerweise den Verlust der Vorstellung vom Landmann als Landwirt, wie Lohmeier behauptet. Vgl. Lohmeier: Beatus, S. 417. 20 Vgl. Kap. 5.3; Kemper GE 383; Kemper FA 169. 21 Hier gibt es übrigens eine auffallend ähnliche Stelle in Brockes’ ThomsonÜbersetzung, die Kleist als Vorbild gedient haben könnte: „Der Sämann […] schleicht, mit gemeßnem Schritt; er giesset / In einem gleichsam trocknen Regen
3.1 Begrenzung und Einhegung: Landlob im Frühling im Kontext
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Entwürfe einer moralisch vorbildlichen Haltung werden im weiteren Verlauf mit den Versuchungen der realen Welt kontrastiert und im gleichen Vers (76) wird das kleine Glück des Sämanns seinem insgesamt unfreien Leben gegenübergestellt. In einem emotionalen Ausruf klagt der Text an: „O, daß der mühsame Landwirth / Für sich den Segen nur streute!“ (76 f.) Ein autonomes22, autarkes Leben erscheint hier in diesen Versen als Ideal, das dem ohnehin schon mühsamen Leben des Bauern in der Realität Kleists Meinung nach nicht ermöglicht wird. Wenn Kleist das Wunschideal eines bäuerlichen Lebens vor allem in der Befreiung von allen außerhalb des Ich liegenden Einflüssen sieht, knüpft der Text an in der Landlobdichtung tradierte Ideale römisch-stoischer Lebenskunst an23 : Auch diese propagieren die individuelle Autonomie im Gegensatz zur sklavischen Unterwerfung des Menschen unter fremdbestimmende Mächte wie fatum oder fortuna. 24 (Neo-)Stoizistische Ideen (schließlich verfasste Kleist auch das Drama Seneca 25) und Topoi der Landlebendichtung überschneiden
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die Saat, und wirft, mit milder Hand, / Das Korn in den getreuen Busen der Erd’ […].“ (BrTh 7, 44 – 46.) „Kein Knecht der Krankheit mischt für ihn Gerichte, / Unschuld und Freude würzt ihm Milch und Früchte, / Kein bang Gewissen zeigt ihm Schwerdt und Strafe / Im süssen Schlafe.“, heißt es im Gedicht mit dem Titel Das Landleben. An Herrn Rammler (W I 62, 45 – 48). Auch in einem Brief äußert sich Kleist zum Stoizismus. Er schreibt am 5. 3. 1787 aus Zittau an Gleim: „Mir Unglücklichen [sic!] muß Alles begegnen, was mir unerträglich ist. Bald werde ich ein Stoiker und glaube das Fatum. ,Alligetur canis curris, si ibit, simul et trahetur et ibit; si non ibit, tanen trahetur,‘ sagten sie, um ein Gleichnis vom fato zu geben, und ich finde, daß es ungemein richtig ist.“ (W II 387.) Letztendlich zeigt sich Kleist hier jedoch nur dem Schicksals- bzw. Leidensbegriff des Stoizismus gegenüber skeptisch, was sich in seiner Dichtung (zumindest bis auf den 39. Gedanken, W I 325) auch so widerspiegelt. Vgl. auch die neostoizistisch inspirierte Haltung, jegliches Elend zu ertragen, im 3. Stück der projektierten Aufsätze Kleists für den Auffseher, wo Catilina auf Charons Frage, ob er in Sünde gelebt habe, antwortet: „Du scherzest. Ich war aus Gründen wollüstig, wie Du gehört hast. Allein meine Neigung zur Wollust hinderte nicht, daß ich nicht Kälte und Hitze, Hunger und Durst und alles Elend, trotz Jemandem, ertragen konnte, sobald es nöthig war.“ (W I 307.) Vgl. zum allgemeinen Forschungshintergrund Lohmeier: Beatus, S. 92; zum Zusammenhang von Landlobliteratur und (Neo-)Stoizismus außerdem Thorsten Fitzon: Von müßigen Geschäften und freiheitlichem Stand. Stoische Tradition in der Landlebendichtung des 17. und 18. Jahrhunderts. In: Barbara Neymeyr u. a. (Hg.): Stoizismus in der europäischen Philosophie, Literatur, Kunst und Politik. Eine Kulturgeschichte von der Antike bis zur Moderne. Bd. 2. Berlin u. New York 2008, S. 833 – 851. Vgl. W I 273 – 292.
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sich hier.26 Dies lässt sich in Kleists Collectaneen nachverfolgen, wenn zwei seiner „Landleben“-Einträge vor allem die stoizistische Beständigkeit als Hauptmotiv der laus ruris erscheinen lassen. So zitiert Kleists eine erste, längere Notiz zum entsprechenden Eintrag Canitz’ Satire Von dem Hof=Stadt= und Land=Leben, welche die Flucht des lyrischen Ich vor einer „räuberschaar“ aus den „wälle[n] und basteyen“ schildert: —–Und Schutzwehr meiner Lust, Bey dir ist mir ja nichts von allem dem bewust; Hier aber, seh ich wohl, in Wällen und Basteyen Ist keine Sicherheit vor solche Rasereyen; Und der, dem dieser Zwang und Weise nicht gefällt, Wird, als ein Wunder=Thier, zum Schau=Spiel aufgestellt. Fort, Kutscher, folge mir! ich will am lezten Garten, Der in der Vorstadt liegt, zu Fusse deiner warten. Hernach so soll es frisch, in vollem Trabe, gehn, Biß wir den spitzen Thurm in unserm Dorffe sehn. Und solte mich auch dort die Räuber=Schaar entdecken, So wird mich Wald und Busch vor ihrer Wuth verstecken.27
Die „Rasereyen“ und die „Wuth“ (vgl. abermals zur Rolle der Affekte bei Kleist Kap. 5.3) werden hier mit der Stadt verbunden, denen man zur „Sicherheit“ ins „Dorff“ entflieht. Ähnlich benennt Senecas Über das glückliche Leben vor allem verlässliches und unveränderliches Denken als Bedingung für die vita beata. 28 Gerade die Pracht und der Glanz des weltlichen Lebens, welche in der Landlebenliteratur mit der Stadt identifiziert werden, bedeuten eine Gefahr für die Seelenruhe, heißt es bei ihm.29 Auch ein betrachtender Spaziergang in der Natur, welcher nicht zur Selbstinszenierung, sondern zur Reflexion diene – und wie ihn der Frühling exemplarisch abbildet – wird bei Seneca als Beispiel einer gelungen Lebensgestaltung hervorgehoben.30 In Kleists Collectaneen bezieht ein Zitat aus der zweiten Szene des ersten Akts von Pierre Corneilles Titus und
26 Lohmeier: Beatus, S. 97; vgl. außerdem Fitzon: Landlebendichtung, S. 833. 27 Hier zit. nach: Des Freyherren von Caniz Gedichte mehrentheils aus seinen eigenhändigen Schriften verbessert und vermehret. Leipzig u. Berlin 1727, S. 111, V. 13 – 24. Vgl. CO 244, 1. Anmerkungen nicht übernommen. 28 „Glücklich ist also ein Leben, in zutreffendem und verläßlichem Denken gegründet und unveränderlich.“ (Seneca: Philosophische Schriften. Lateinisch und deutsch. Bd. 2. Dialoge VII–XII. Lateinischer Text von A. Bourgery und R. Waltz. Hg. v. Manfred Rosenbach. Darmstadt 1971, S. 15.) 29 Vgl. ebd, S. 197. 30 Ebd., S. 171.
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Berenice außerdem den Krieg als eines der Elemente mit ein, die das Leben in der Welt als unsicher erscheinen lassen: Mon nom par la victoire est si bien affermi Qu’on me croit dans la paix un lion endormi Mon réveil incertain du monde fait l’étude, Mon repos en tous lieux jette l’inquietude Et tandis qu’en ma Cour les aimables loisirs, Ménagent l’heureux choix des jeux et des plaisiers, Pour envoyer l’effroi de l’un à l’autre Pôle, Je n’ai qu’à faire un pas et hausser la parole.31
Auch hier ist die „inquietude“ das zu Fliehende, dem ein Lebensentwurf auf dem Land abhelfen soll – dass Kleist im Anschluss an diese Passage als erste Gefahr für den Landmann eine schreckliche Kriegsbeschreibung einschiebt, erscheint nur konsequent (vgl. 79 – 86). Der Krieg, als unbeständig charakterisiert, dient Kleist dann als eine der Hauptmetaphern, die ein zerrissen-melancholisches Ich der Hoffnung auf eine beständige Identität gegenüberstellen (vgl. Kap. 5.4). Zunächst aber führt der Text noch die Hoffnung aus, dass nur den Bauern „die Weinstöcke tränkten“ (77). Selbst die Anschauung der Natur soll für ihn da sein und seine Autonomie verstärken: „Und in den Wiesen für ihn nur bunte Wogen sich wälzten!“ (78) Dieses Glück wird dem Menschen aber nur dann vergönnt, wenn er sich maßvoll in seinen Wünschen und seiner Lebenshaltung beschränkt („schreitet gemessen“, 75). Auch eine der von Kleist notierten Collectaneen zum Thema „Landleben“ betont, dass nur der glücklich sei, der bescheiden lebe. Denn neben den antiken Zitaten spielen auch Dokumente der Horazrezeption32 des 16. sowie französische Dramen des 17. Jahrhunderts für das Thema „Land31 Vgl. Pierre Corneille: Oeuvres de Pierre Corneille. Tome IX. Paris 1759, S. 285; CO 246 f. Vgl. auch Kleists Brief an Gleim vom 19. 6. 1749 (W II 151). 32 So findet sich in Kleists Notizheft ein Horazzitat des neulateinischen Schriftstellers und französischen Gelehrten René Rapin (1621 – 1687), vgl. CO 246, 1 (zit. mit Seite und Spalte). Am 7. 10. 1746 kündigt Gleim Kleist an, ihm bald Rapins Hortorum libri IV (Paris 1665) zuzuschicken (W II 55). Wichtig war Rapin nicht zuletzt für die Popularisierung der Erhabenheitsthematik im 17. und 18. Jahrhundert. Weitere Werke Rapins waren u. a. seine Observations sur les poètes d’Homère et de Virgile (Paris 1669); das (im Manuskript nur schwer in Gänze lesbare) erwähnte Zitat könnte auch Rapins Schrift Réfléxion sur la poétique d’Aristote et sur les ouvrages des poètes anciens et modernes (Paris 1674) entnommen sein. Auch Horaz behandelt selbst immer wieder eine abzulehnende Unsicherheit des Lebens sowie die wechselhafte „Fortuna“ in seinen Schriften (vgl. Anm. 58 in Kap. 4.2).
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leben“ in seinen Notizen eine Rolle, weshalb in Kleists Collectaneen auch ein Ausschnitt aus Racines Iphigenie zitiert wird: Heureux qui satisfait de son humble fortune, Libre du joug superbe où je suis attaché, Vit dans l’état obscur où les Dieux l’ont caché !33
Seneca empfiehlt ebenfalls, dass man sich nicht den „zerfleischenden Angriffen“ ständig wechselnder Wünsche ergeben soll, die ganz im Gegensatz zur erstrebten Beständigkeit den Charakter des Menschen „unbeständig und unrastig“ machen würden: „[…] es kann glücklich genannt werden, wer weder begehrt noch fürchtet dank der Vernunft […]“, heißt es in De vita beata und De tranquillitate animi. 34 Jegliche schädlichen Affekte sollen eliminiert werden. Ebenso zeichnet sich das optimale Land, das im Frühling entworfen wird, vor allem durch gegenseitige Begrenzung und Kontrolle, durch wohlgeordnete Proportionen anstelle jeglichen Übermaßes und Exzesses aus.
3.2 Häusliche Sicherheit, Tugend und Hofkritik (V. 95 – 154) Im zweiten Teil des Frühlings, der im vorliegenden Kapitel im Kontext der Landlob-Motive bei Kleist untersucht werden soll (95 – 154), ruft das lyrische Ich zu Beginn aus: „Wohin verführt mich der Schmerz!“ (95) Dem Topos der laus ruris entsprechend, war den beiden hier untersuchten Passagen eine Reflexion über Krieg und Grauen in der Welt eingeschoben worden (vgl. Kap. 5.3). Auf diese beziehen sich die Verse – und so kann der Kontrast zum friedlichen Landleben nur umso stärker aufgebaut werden. Denn durch die Worte „wohin verführt“ wird eine räumliche Dimension im Text evoziert, die einen Hinweis auf den in diesen Versen verhandelten idealen Ort, das Leben auf dem Land, gibt. Die räumliche Rhetorik setzt sich fort, wenn im nächsten Abschnitt der ausgelöste „Schmerz“ (95) handgreiflich „weggeschoben“ werden soll: „Weicht, weicht, [I]hr traurigen Bilder!“ (ebd.), heißt es in Bezug auf die imaginierten negativen Gedanken. Die mögliche Gegenwelt zur moralisch verkommenen Welt der Politik, die hier „weggeschoben“ werden soll, bietet das Landleben: 33 Hier zit. nach Jean Racine: Iphigénie. Tragédie. Hg. v. Jean Dubu. Paris 1986, I, i, 10 – 12. Vgl. CO 246. Sauer verweist auf einen möglichen gemeinsamen Theaterbesuch einer Iphigenie-Inszenierung mit einem Text Villatis nach Racine im Januar 1749 in Berlin: W II/Brief Kleists an Gleim vom 20. 7. 1749. 34 Vgl. Seneca: Philosophische Schriften 2, S. 15, 113, 13.
3.2 Häusliche Sicherheit, Tugend und Hofkritik (V. 95 – 154)
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Komm, Muse, laß uns die Wohnung und häusliche Wirthschaft des Landmanns Und Viehzucht und Gärte betrachten! […] (96 f.)
Die Idee, sich harmonischen und Harmonie spendenden Ansichten zu widmen, um traurige Bilder vergessen zu können, ähnelt dem Verfahren der „Pleasures of Imagination“, die Joseph Addison im Spectator beschreibt. Er setzt hier ,reale‘ Anschauungen mit den Vorstellungen von Bildern praktisch gleich: It is this Sense which furnishes the Imagination with its Ideas; so that by the Pleasures of the Imagination or Fancy […] I here mean such as arise from visible Objects, either when we have them actually in our Views, or when we call up their Ideas into our Minds […]. We cannot indeed have a single Image in the Fancy that did not make its first Entrance through the Sight; but we have the Power of retaining, altering and compunding those Images, which we have once received, into all the Varieties of Picture and Vision that are most agreeable to the Imagination; for by this Faculty a Man in a Dungeon is capable of entertaining himself with Scenes and Landskips more beautiful than any that can be found in the whole Compass of Nature.35
Ähnlich den Menschen, die zu Beginn des Frühlings ihre dunklen Höhlen verlassen sollten (vgl. 32, 41), und dem oben beschriebenen „Man in a Dungeon“ möchte auch das Ich in den oben zitierten Versen dunkle Gedanken vergessen und sich deshalb „Images […] which are most agreeable to the Imagination“, vorstellen. Um solche „Secondary Pleasures“ geht es Kleist hier: […] Secondary Pleasures of the Imagination which flow from the Ideas of visible Objects, when the Objects are not actually before the Eye, but are called up into our Memories, or formed into agreeable Visions of Things that are either Absent or Fictitious […]36.
Auffällig dabei ist vor allem der Wunsch des lyrischen Ich, sich „ins Grüne“ setzen zu „wollen“ (vgl. 47/Kap. 3.1). In einem der topischen „Landleben“Zitate, die sich Kleist in seinen Collectaneen notiert, ist es ebenfalls die Form der hoffnungsvollen Anrufung, in der das Ich sich in seinen locus amoenus hineinträumt: Im Ausschnitt aus Horaz’ sechster Satire37 des
35 Addison u. Steele (Hg.): Spectator, S. 277. 36 Ebd. 37 Horaz: Sämtliche Werke. Teil II. Satiren und Briefe. München 1960, S. 113 – 121. Zur Satire gehört u. a. die Fabel Stadtmaus und Landmaus. Vgl. hierzu kurz
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zweiten Buchs, die Kleist auch als Motto vor sein Gedicht Das Landleben (W I 59 – 62) setzen wird, heißt es: O rus, quando ego te adspiciam quandoque licebit nunc veterum libris, nunc somno et intertibus horis ducere sollicitae iucunda oblivia vitae?38
Hier vermisst „das Auge“ des lyrischen Ich die imaginierte Ideallandschaft, es erträumt sich „süßes Vergessen“ unter anderem aus den „Büchern der Alten“ als hoffnungsvolle Zukunft. Eine vergleichbare Konstellation zu den oben zitierten laus ruris-Versen des Frühlings liegt also vor. Schon Kleists Vergilzitat aus der Georgica (s. o.) hatte die Vorstellung in Form einer fragenden Anrufung gefasst, sich selber freudig in die Natur zu begeben. Diese antiken Vorlagen bilden neben Meiers Trope der Anrede (s. o.) eine weitere wirkmächtige Vorlage für die im Frühling gestalteten Ausrufsformen. Kleists zitierte Verse greifen auch insofern auf tradierte Motive der literarischen Landlobtopik zurück, als der „Landmann“ erwähnt wird, dessen Leben – durch den ebenfalls häufig gebrauchten Imperativ des „Komm“ vermittelt – abseits der Stadt „betrachtet“ (!) werden soll (96 f.). Mit der „häusliche[n] Wirthschaft“, der „Viehzucht“ sowie den „Gärten“ werden allerdings explizit unter menschlichem Einfluss stehende Elemente des Landlebens genannt – anstatt etwa wild gewachsene Blumen, Bäume oder zumindest Felder anzuführen. Das Landleben bei Kleist ist also auch hier ein bereits zivilisiertes, ebenso wie die Natur in diesem Kontext von Anfang an als eingehegt und begrenzt dargestellt wurde. Zu den zentralen Bestandteilen der laus-ruris-Dichtung gehört dabei immer auch der Verweis auf den negativen Kontrast des geschilderten Landlebens, wie im Folgenden „Marmor“ und „Schlösser“ symbolisieren: […] Hier steigt kein Marmor aus Bergen Und zeuget Kämpfer; kein Taxus spitzt sich vor Schlössern […]. (97 f.)
einführend Bernhard Kytzler: Art. Horatius Flaccus. In: Cancik u. a. (Hg.): Pauly, Sp. 722. 38 Hier zit. nach Horaz: Werke II, S. 116, V. 60 – 62. Deutsche Übersetzung ebd., S. 117, V. 60 – 63: „Geliebte Flur da draußen, wann wird mein Auge dich schauen? Wann darf ich nach unruhvollem Leben süßes Vergessen schlürfen, jetzt aus Büchern der Alten, jetzt im Schlummer und in Stunden der Muße?“
3.2 Häusliche Sicherheit, Tugend und Hofkritik (V. 95 – 154)
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Die Texte des 18. Jahrhunderts ähneln hierbei in vielerlei Hinsicht den lausruris-Entwürfen des 16. Jahrhunderts.39 In der Entwicklung des LandlobMotivs in der deutschen Literaturgeschichte wurde die negative Kontrastfolie bei den laus-ruris-Dichtungen des 17. Jahrhunderts dann sogar so wichtig, dass sie zum Teil das einzige Thema der Texte war. Anke-Marie Lohmeier spricht von der „Definition ex negatione“ der Landlobliteratur.40 Der Gegenentwurf insbesondere des städtischen Alltags sowie die moralphilosophische Kontextualisierung im Rahmen von Überlegungen zur Affektcalmierung bildeten sich dabei schon im Rahmen der neulateinischen encomia vitae rusticae als zentrale Elemente der Texte aus: Gewinnsucht zerreißt dem Stadtbürger das Herz, vor allem aber rauben ihm Ängste und Sorgen – sei es um den Erwerb, sei es um den Erhalt der gewonnenen Güter oder um die Machenschaften der Konkurrenten – jede Ruhe und machen ihn zu einem Spielball der Affekte. Wer einem solchen Konkurrenzkampf und dessen Gefahren für Leib und Seele aus dem Weg gehen will und sich folglich mit dem, was er hat, bescheiden muß, dem bleibt nur die Möglichkeit der räumlichen Entfernung von den Wirkungsbereichen dieser Normen: das Landleben.41
In diesem Kontext ist wohl auch das folgende Zitat aus dem zweiten der Gedanken Kleists zu sehen: „Diejenigen, die abwechselnd Schmerz und Vergnügen fühlen, sind nicht so glücklich als Die, welche wegen vieler Geschäfte oder vermöge ihrer Gemüthsart Beides nicht fühlen. […] Wie glücklich ist der Landmann, dem seine Tage über seiner Arbeit dahinstreichen!“ (W I 320) Gerhard Sauder macht bei der Stoizismusrezeption des 18. Jahrhunderts zusätzlich auf Ähnlichkeiten von Epikureismus und Stoizismus bzw. Stoizismuskritik aufmerksam: gerade in ihrer Ablehnung von Exzess und starken Gefühlen würden sich Epikureismus und (Neo-) Stoizismus überschneiden. Sanftes Empfinden und gemäßigte Handlungen ziehen sich als Leitmotive durch Kleists Frühling und werden in der Epi39 Besonders bei Kleist könnte die „Landleben“-Notiz zu René Rapin (s. o.) ein weiterer Hinweis für den stärkeren Einfluss der neulateinischen laus-ruris-Konzeptionen des 16. Jahrhunderts auf sein Landlobverständnis sein. Vgl. Lohmeier: Beatus, S. 139, s. u. 40 Lohmeier: Beatus, S. 135. Kleist scheint dieses Konzept im Fragment seiner Schäferwelt umzusetzen, in der über zehn Verse lang der glückliche Schäfer lediglich nur ein einziges Mal erwähnt wird. Vgl. W I 65 Nr. 17, bes. V. 10. 41 Lohmeier: Beatus, S. 139. Lohmeier betont im Hinblick auf Kleist und das 18. Jahrhundert dann außerdem die neu hinzugetretene moralphilosophische Deutung, jegliches Übermaß wie Reichtum oder Macht und Ehre nun auch als Verletzung des Naturgesetzes zu interpretieren (vgl. Kap. 4). Vgl. Lohmeier: Beatus, S. 425.
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3 Lob des Landlebens (V. 45 – 78, 95 – 154)
kureismusrezeption des 18. Jahrhunderts mit dem gefühllosen Stoiker kontrastiert. Gerade in der anakreontischen Dichtung des 18. Jahrhunderts und damit auch in seinem engeren Umfeld erfuhr der Epikureismus eine starke Rezeption. Zudem verteidigte Thomasius in seinen Monatsgesprächen Epikur (vgl. Kap. 4), LaMettrie schreibt in Potsdam, dass man „zart“ und „froh“ sein solle. 42 Bei Kleist sind indes mit den „Schlössern“ (98) auch Bestandteile einer Kritik an verwerflichen Zuständen am Hof vorhanden, die durch den „Marmor“ mit Verschwendungssucht und unverantwortlichem Verhalten charakterisiert werden. Die Kritik einer falschen Orientierung an Ruhm und Eitelkeit (vgl. Kap. 4), die ein wichtiges Motiv in der laus-ruris-Literatur bildet, deutet bei Kleist die „Zeugung von Kämpfern“ (98) an, die beeinflusst durch schlechte Einflüsse nur noch selbstsüchtig für ihre eigenen Interessen und Ziele kämpfen. Mit der Kritik am Hof- wie Stadtleben bilden sich bei Kleist zwei der klassischen negativen Kontrastbilder fast jeder Landlobliteratur parallel aus.43 Hier ist Helmuth Kiesels Forschungsperspektive aufschlussreich, der für Kleists Zeit einen fast „unübersehbar breiten Strom“44 der Hofkritik ausmacht. So heißt es bei Kiesel: […] kaum eine in der gesellschaftlichen Hierarchie so hoch oben rangierende Personengruppe war in der Literatur vom Mittelalter bis zum Ende des 18. Jahrhunderts ununterbrochen ähnlich scharfen Angriffen ausgesetzt wie die der Höflinge, und mehr Kontinuität und Traditionsbewußtsein in der Behandlung eines literarischen Themas ist fast nicht vorstellbar.45 42 Vgl. Sauder: Empfindsamkeit, S. 97 – 100. Der Stoizismus wurde währenddessen nach Sauder in zahlreichen Satiren auch kritisiert, er kann somit nicht immer nur als Folie jeder Landlebendichtung angesehen werden. Vgl. ebd.; siehe auch Fitzon: Landlebendichtung, S. 833. 43 Vgl. auch die Kritik an Eitelkeit und Galanterie im 1. Stück des Neuen Auffsehers (W I 299 f.), an Monarchen im Gedicht Ein Gemälde (W I 106, vgl. auch die Anmerkungen Kleists auf W II 438). Kleist scheint sich also nicht zu stark mit dem eigenen Stand zu identifizieren, was Anke-Marie Lohmeiers plakative These in Frage stellt, Kleist dichte ohnehin nur, um die Schmach über den verlorenen hohen Adelsstand zu vergessen. Vgl. Lohmeier in: Luserke, Marx u. Wild (Hg.): Rokoko, S. 130. 44 Kiesel macht dies besonders an den Moralischen Wochenschriften fest. Vgl. Helmuth Kiesel: „Bei Hof, bei Höll“. Untersuchungen zur literarischen Hofkritik von Sebastian Brant bis Friedrich Schiller. Tübingen 1979, S. 263. 45 Vgl. als weiteres Beispiel den Einstieg von Brockes’ Vergnügen in Blumen: „Laß andre, mit geschwollnen Trieben, / Des Hofes schimmernd Elend lieben / Und immer, um sich zu erhöhn, / Auf einem glatten Fall-Brett stehn […]“ (Brockes: Vergnügen, S. 42, V. 1 – 4.) In den folgenden Versen taucht hier auch der
3.2 Häusliche Sicherheit, Tugend und Hofkritik (V. 95 – 154)
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Auch im Rahmen der literarischen Hofkritik war das private Pendant zur politischen Gesellschaftsutopie immer die Landidylle. Das höchste Ansehen als Person verdiente demnach der „vernünftige und moralisch denkende Landedelmann“.46 Es handelt sich bei Kleists Einlassungen über das Leben auf dem Land also um eine Mischung von laus-ruris- und Hofkritikmotiven.47 Die Präsenz von Motiven der Hofkritik in seinen Texten lässt sich mit Rückgriff auf private Äußerungen Kleists in Teilen auch mit der engen Verknüpfung seiner Lebensumstände mit dem preußischen Hof erklären: So findet sich zum einen in einem Brief an Gleim im privaten Kontext die exakte Gleichsetzung von Hofleben und Unehrlichkeit, die sich auch in Kleists Frühling erkennen lässt: „Ich bin Ihnen […] viel Dank schuldig, daß Sie meine Bekanntschaft mit dem General Stille veranlasset haben […]. Er ist meiner Meinung nach ein sehr braver und, ob er gleich ein Hofmann ist, ein sehr ehrlicher Mann.“ (W II, 105) Zum anderen äußert sich gleich Kleists allererster Collectaneen-Eintrag „Appanage“ kritisch zu übermäßigen Abfindungen, die an nichtregierende Mitglieder des Adels vergeben werden (vgl. CO 1,1). Das Element ex negatione der laus-ruris-Literatur findet sich in weiteren Stellen des Frühlings, die nicht explizit das Landleben behandeln. So schreibt Kleist, sich begrifflich an laus-ruris-Dichtungen vorheriger Jahrhunderte anlehnend, in den Versen 173 – 176: […] Dann gönnt’ ich Berge von Demant Und goldne Klüfte dem Mogul; dann möchten krieg’rische Zwerge Felshohe Bilder sich hauen, die steinere Ströme vergössen; Ich würde sie nimmer beneiden. […] (173 – 176)
In anderen Texten Kleists spielt die Gegenüberstellung eines glücklichen Lebens auf dem Land mit dem Zwängen unterworfenen Stadt- oder Hofleben ebenfalls eine Rolle. Kriegerische Helden werden dabei in einem Kriegsheld als Antitopos auf, vgl. ebd., S. 42, V. 12. Kiesel sieht im Übrigen die grundlegenden Denk- und Argumentationsmodelle von Hofkritik bereits in der humanistischen Literatur des 15. und 16. Jahrhunderts voll ausgebildet. Vgl. Kiesel: Bei Hof, S. 264. 46 Vgl. ebd., S. 266. 47 Dies gilt nur mit der Einschränkung, dass sich (trotz seiner eigener Herkunft aus dem Landadel) der „Landedelmann“ in Kleists Texten nicht findet und auch die nach Kiesel zentralen Überlegungen zum „Hof-Theater“ des sich verstellenden Rollenspiels sowie der Vergleich des Hofs mit einem gefährlichen Meer ebensowenig dominant in Kleists Texten auftauchen. Vgl. ebd., S. 267 f.
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„Herrn Rittmeister Adler“ gewidmeten Gedicht kontrastierend einem gelungenen Lebensentwurf gegenübergestellt: Freund, flieh der Waffen Geräusch, jetzt ist die Zeit des Vergnügens?; Fühl jetzt in Wäldern die Luft, die Held und Höfling nicht kennt! Was hilft’s, mit freudigem Blick, vom Dunst der Ehre betrunken, Mit Ordensketten beschwert, gekrönte Henker zu scheun? (W I 49, 9 – 12)
Der „Waffen Geräusch“ soll der angesprochene „Freund“ fliehen, um eine Freude zu fühlen, die weder Höfling noch Krieger kennt. Wie An Herrn Rittmeister Adler handelt auch das Gedicht Das Landleben. An Herrn Rammler (W I 59 – 62) vom Aufruf an den Freund, „Getümmel und schwirrend Eisen“ (vgl. W I 59, 2) zu verlassen – durch die Voranstellung des „O rus […]“-Horazzitats (s. o.) schreibt sich Kleist hier explizit in die Tradition der Landlobdichtung ein.48 Neben dem in den Collectaneen zitierten Canitz finden sich auch in Brockes’/ Thomsons Seasons nach dem Verweis auf „der Felder Freund, Vergil“ (BrTh 9, 59) verschiedene Passagen, die klassische Landlobmotive übernehmen, wenn es etwa heißt: „Nun will ich aus der Stadt […] / Oft in bethaute Felder wandern“ (BrTh 15, 99/101). Hallers Alpen führen die Auseinandersetzung mit dem Landleben sogar im Fußnotenapparat weiter und betonen die moralische Komponente noch mehr als Kleist – gerade in Absetzung vom Hof(adel): Man sieht leicht, daß dieses Gemälde auf die vollkommene Gleichheit der Alpenleute geht, wo kein Adel und sogar kein Landvogt ist, wo keine möglichen Beförderungen eine Bewegung in den Gemütern erwecken und die Ehrsucht keinen Namen in der Landsprache hat. (HA 7, Anm. V. 100)
Gerade die Vorstellung einer „völligen Gleichheit“ der Land-, hier der Alpenbewohner, ist indes ein Element, das sich in dieser (politisch-utopischen) Idealisierung weniger stark ausgeprägt bei Kleist findet (vgl. Kap. 4.1).49 48 Vgl. außerdem im gleichen Text „Freund, laß uns Golddurst, Stolz und Schlösser hassen / Und Kleinigkeiten Fürsten überlassen! / Mein Lange ruft uns, komm zum Sitz der Freuden, / In seine Weiden!“ (W I 62, 49 – 52) oder die Verse in Einladung aufs Land. An Daphnen im Früling: „Flieh Daphne! jetzt die Stadt / die keinen Reitz mehr hat / Besieh der Gegend Pracht / die um mein Landgut lacht, / das man anitzt, versteckt / in Blüthen, kaum entdeckt.“ (SW 228, 1 – 4.) 49 Gegen den Adel werden bei Haller u. a. auch Inzestargumente (vgl. HA 10, 168) vorgebracht, während der auf Seiden herrschende ,Ekel‘ in Kontrast zur auf dem Gras herrschenden „wahre[n] Liebe“ (vgl. HA 9, 150) gesetzt wird. Letztere Vorstellung findet sich dafür jedoch durchaus ähnlich in Kleists An Wilhelminen: „Doch dieses Volk, das Ehr’ und Purpur schmückt, / Ist oftmals leer an Geist und
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Die oben ausführlich zitierte Passage wechselt kontrastiv im folgenden Vers wieder in die Beschreibung des auch in moralischer Hinsicht gesünderen Lebens fernab von Stadt und Hof. Die Entwicklung eines Konzeptes ex re des Landlobes anstelle der jahrhundertelangen topischen Tradition, das Lob des Landlebens nur ex negatione über Distanzierung vom Stadtleben funktionieren zu lassen, bildet ein Kennzeichen der Fortentwicklung der laus-ruris-Dichtung im 18. Jahrhundert50 – obgleich Kleist die Gegenbilder zur ländlichen Idylle durchaus detailliert schildert.51 Auch der Umstand, dass in der Forschung moralische Funktionen in der Landlobdichtung des 18. Jahrhunderts als wichtiger denn je gelten52, lässt sich anhand der interpretierten Verse aus Kleists Dichtung bestätigen. Bei ihm dienen, wie bereits ausgeführt, die laus-ruris-Schilderungen im Frühling gerade dazu, in bildlicher Form moralische Exempel vorbereitend zu statuieren, die der Text später explizit ausformuliert. Die im Frühling nun folgende, bereits angekündigte idyllische Szenerie ex re des Landlebens zeichnet sich dabei vor allem durch milde, mittlere Adjektive der Beschreibung und die Abwesenheit jeglicher Extreme in der Darstellung aus – in dieser Charakterisierung erfüllt sie abermals ähnliche Funktionen, die der Frühling mit seiner sanften Natur, etwa in der Einleitung, als Gesamtsymbol für Kleist übernimmt. So „beschatten“ hier nun Baumwipfel das Haus (100), auf dessen Situierung in einer mittleren, weder zu heißen noch zu kalten Wetterlage durch den „wölkichten“ Himmel (vgl. 99) hingewiesen wird. Schon die Alliteration der „wölkichten Wipfel“, die sich zusätzlich gegenseitig „verschränken“, unterstützt die kontinuierliche Einhegung und Beschränkung offener Perspektiven im Text53 – das Gedicht entwickelt (neo)stoizistisch inspirierte Szenen, die sich durch Beständigkeit auszeichnen. „Verschränkt“, „wölkicht“, Wipfel“, „beschatten“, „umkriechende Reben“ (100), und schließlich befestigender „Dorn“ und „Hecken“ (101): überall wird gesichert, begrenzt, umschlossen und eingehegt. Zentral ist hier vor allem das zuletzt erwähnte „befestigt“,
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wahrer Liebe. / Ich habe nichts, das Aug’ und Sinn entzückt, / Jedoch ein Herz voll edelmüth’ger Triebe, – / […]“ (W I 34, 61 – 64.) Lohmeier: Beatus, S. 425. Lohmeier behauptet das Gegenteil. Vgl. ebd., S. 410. Ebd., S. 409. Steffen Martus schreibt zum Zusammenhang von visueller Leserführung und eingehegten Landschaftsbildern hierzu ähnlich in Bezug auf Friedrich von Hagedorns Naturbeschreibungen: „Nur die kontrollierte Natur, auf deren vielleicht überraschende, niemals aber gefährliche Ansicht man vertrauen kann, bietet dem Blick derart unbesorgt einen Bewegungsraum […].“ (Martus: Hagedorn, S. 434.)
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das nicht nur auf die räumliche Befestigung des Hauses, sondern vor allem die sittliche Stabilität seiner Bewohner hinweist – was nicht zuletzt auch dem stoizistischen Ideal der constantia entspricht.54 Dies fügt sich in den Gesamteindruck, dass Kleist Bilder der laus ruris nutzt, um (neo)stoizistische Topoi bildlich darzustellen. Ab Vers 101 wird abermals (vgl. 55) der Teich als religiöses Symbol in den Text eingeschaltet: Im Hof des Hauses „glänzt“ dieser, aus dessen „scheinbarer Tiefe / Des Himmels Ebenbild blinkt.“ (101 – 103) Die Wasseroberfläche korrespondiert mit dem ersten im Gedicht erwähnten Teich, der im Kontext des „Landlob“-Motivs bei Kleist stand und ein zentrales Motiv physikotheologischer Religionsüberzeugungen zitierte. Die (ähnlich der ersten Erwähnung eines Teichs) unterhalb der Wasseroberfläche „wimmelnde“ Vielfalt der Tiere verweist wieder auf die Unermesslichkeit der göttlichen Schöpfung, die im Teich das Spiegelbild Gottes bildet (103). Zudem wird mit dem nahen Teich das von den Menschen bewohnte Haus als religiös befestigt dargestellt. Im Anschluss an die zivilisierten Bilder des Landlebens sowie die Vielfalt begrenzter und eingeschränkter Perspektiven auf das Haus der Landbewohner eröffnet sich nun zusätzlich ein Blick auf eine Vielfalt mild gestimmter Lebewesen: „Er [der Teich, C. W.] wimmelt von zahmen Bewohnern.“ (103) Der Text verengt nun die Perspektive und beschreibt einzelne Tiere in einer Art Nahaufnahme. Wenn die „Henne jammert ums Ufer und ruft die gleitenden Entchen“ (104), diese sich also um die möglicherweise in der Freiheit bedrohten Kinder sorgt, lässt gleich das erste der vorgestellten Tiere die dominante Charakterisierung des gesamten Gedichtabschnitts über das Motivfeld der „Sicherheit“ hervortreten. Schließlich hatte sie über diese als Mutter einstmals beschützend „gebrütet“ (105). Etwaige Absetzbewegungen der Küken sind hier nur im Rahmen leichten Spiels denkbar, wenn sich auch als „Entchen“ bezeichnete Kinder der Henne „plätschernd“ (vgl. 105) durchs Wasser bewegen. Sie werden (im Gegensatz zu den von Sümpfen umgebenen Kühen, vgl. 64) jedoch in ihrer harmonischen Szenerie nie als wirklich bedroht dargestellt – eine Anordnung, welche die Schlussverse des Texts abgewandelt wieder aufgreifen (vgl. Kap. 7/V. 326 – 329). „Starke Flügel“ (vgl. 108) werden in Bezug auf das nächste Tier erwähnt: Sie gehören zum Schwan, der unweit der Küken ebenfalls im Teich 54 Diese wurde im Gegensatz zur tranquillitas animi in der Stoizismus-Rezeption seit dem 16. Jahrhundert jedoch mehr und mehr der öffentlichen, nicht privaten Sphäre zugeordnet. Vgl. Lohmeier: Beatus, S. 90 f.
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schwimmt. Alle folgenden Schilderungen wie die des Schießhundes (108) oder weiterer Tierkinder (ebd.) dienen mit ihrer Situierung in der idyllischen Szenerie dazu, das vorgestellte Panorama zivilisierter Sicherheit zu bekräftigen. Es scheint hier von keinerlei Seite Gefahr zu drohen (vgl. die sorglosen Wasservögel in 109 f.). Die „starken Flügel“ greifen außerdem auf Kleists Gesellschaftskonzept voraus, bei dem sich die Bevölkerung vertrauensvoll ihren (vernünftig regierenden) Herrschern untergeben soll (vgl. Kap. 4.1). Der Leserblick wird nun weiterhin über die lokale Deixis „dort“ (110, siehe auch 114), gelenkt – zunächst, wenn zum ersten Mal ein als Individuum auftretender Mensch die Szene des Gedichts betritt: […] Dort läuft ein munteres Mädchen, Sein buntes Körbchen am Arm, verfolgt von weitschreitenden Hühnern. (110 f.)
Indem das Mädchen die Hühner füttert (112 f.), zeigen sich Mensch und Tier in Harmonie. Mit den erwähnten Hühnern und dem „Schießhund“ (108) rücken konsequenterweise wieder vor allem Nutz- bzw. Haustiere in den Fokus der Kleist’schen Schilderungen der nützlichen und zivilisierten Natur. Im Thomson-Brockes’schen „Frühling“ der Seasons gibt es eine Szene, die stark Kleists Versen ähnelt. Unter anderem in ihrer Darstellung einer häuslichen Szene des Landlebens, der Bekräftigung ihres harmonischen Gesamtcharakters durch kurzzeitige Irritationen, der persönlich gehaltenen Leseransprache sowie der Nennung vor allem von Nutztieren könnte sie eine inspirierende Vorlage für Kleists Frühling gebildet haben: Nun laßt uns zu des Landmanns , wo alte Knoten=reiche Eichen Und dunkle Schatten schwätzgen Elstern, sie lockend, Nest und Nahrung reichen Um in derselben Feder=Vieh, die kluge Wirthschaft anzusehn, Und ihre mannigfache Schönheit, gemach, mit sanften Schritten gehn. Die Henne, voller süsser Sorgen, beruft ihr tzirpendes Geschlecht, Mit stetem Glucken, um sich her. Der Hahn, stets fertig zum Gefecht, Nährt und vertheidigt sie beherzt. Man hört ihn oft, voll Argwohn, krähn, Inzwischen, daß wir auf den Teichen die buntgefleckten Enten sehn Vor ihren Jungen schnatternd schwimmen. Auch schwimmt auf dieser glatten Bahn, […] der weisse Schwahn […] Und beisset, seine Zucht beschützend, uns öfter weg von unserm Ort […] (BrTh 85 – 87, 711 – 720, 726)
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Abgesehen vom direkten Einbezug des Lesers in das Geschehen („beisset […] uns öfter weg“, 726) gleicht die zitierte Passage sonst oft bis aufs Wort („Wirthschaft“, „gemach“, „sanften Schrittes“) dem Frühling Kleists.55 Im Frühling werden indes in der Schilderung des auftretenden Kaninchens wieder Metaphern von Innenräumen zur Schilderung von Elementen der Natur übernommen und die Tiere damit anthropomorphisiert. Wenn das Kaninchen dem Treiben der anderen Tiere „in dunkeler Höhle“ (114) lauscht und in der Folge das Lachtäubchen sogar „[A]us seines Wohnhauses Fenster“ sieht, wird die Zivilisation einer domestizierten Natur hier mit Bildern menschlicher Häuslichkeit noch stärker gezeichnet. Nach einem kurzen Abschweifen zu den Vögeln am Himmel wird im Anschluss der Fokus zurück auf die Erde gelenkt, wo ein „schimmernder Garten“ das Bild bestimmt. Dieser dient wieder dazu, die zivilisierte, von Menschen eingerichtete Natur zu beschreiben.56 Anhand der laus ruris des Frühlings lässt sich der Befund, dass sich in der Landlebendichtung des 18. Jahrhunderts der Schauplatz der Texte vom Bauernhof in das Landhaus verlagert57, bestätigen. Allerdings spielt die Idee der Geselligkeit – entgegen den meisten wissenschaftlichen Beobachtungen in diesem Kontext – bei Kleist im laus-ruris-Zusammenhang58 keine große Rolle – im Kontrast 55 Thomson schildert u. a. an der folgenden Stelle jedoch auch einmal ein nichtharmonisches Verhältnis zwischen Mensch und Tier: Die Ausnutzung der Ochsen durch den Menschen und ihren gleichfalls un-autonomen Lebensstatus kritisierend, schreibt er: „Ach! sollt ihr euer Blut vergiessen, / Und unter der barbarschen Hand / Des Bauern, den ihr nährtet, winseln? und dies vielleicht vom Erndte=Fest, / Das eure Arbeit ihm gewann, und ihn vergnügte feyren läßt, / Den Ueberfluß nur vermehren?“ (BrTh 51, 416 – 420.) 56 Zur Metaphorik und Kulturgeschichte des Gartens vgl. klassisch Christian Cay Lorenz Hirschfeld: Theorie der Gartenkunst. 5 Bde. in 2 Bde. Reprint Hildesheim 1996; außerdem Ulrich Johannes Schneider (Hg.): Kulturen des Wissens im 18. Jahrhundert. Berlin u. New York 2008, S. 533 – 570; zu möglichen Deutungsoptionen des Zusammenhangs von Naturlyrik und Blickführung bei Kleist im Kontext von Landschaftsdarstellungen in Malerei und Literatur im ,langen‘ 18. Jahrhundert im Allgemeinen vgl. Annette Graczyk: Das literarische Tableau zwischen Kunst und Wissenschaft. München 2004, S. 268 – 274, sowie Martus: Hagedorn, S. 435. 57 Lohmeier: Beatus, S. 407. 58 Siehe hierzu ebd., S. 418. Auch Helmuth Kiesel betont, dass sich das Land im Gegensatz zum Hof dadurch auszeichne, dass im höfischen Kontext keine Freundschaft möglich sei. Vgl. Kiesel: Bei Hof, S. 217. In Kleists Sehnsucht heißt es denn auch: „Ein wahrer Mensch muß fern von Menschen seyn.“ (W I 40, 120) – ein Gedanke, der von neostoizistischen Einsamkeitskonzeptionen angeleitet sein könnte.
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zum seinem sonstigen Denken, Leben und Dichten. Hier geht es ihm stattdessen um die Darstellung privaten Familien- und Liebesglücks. Im Hinblick auf den Garten werden als Erstes wieder Perspektiven beschränkt – etwa, wenn nun von sich kreuzenden, also überschneidenden Gängen die Rede ist: „Von blühenden Fruchtbäumen schimmert / Der Garten, die kreuzende Gänge mit rother Dunkelheit füllen […]“ (121 f.). Explizit in moralische Kategorien wird die Schilderung der Natur überführt, wenn der Text darauf verweist, dass im beschriebenen Garten keine exotischen Pflanzen blühen, da dies der moralisch verwerflichen Kategorie des Hochmuts entsprechen würde. Bescheidenheit gilt hier wiederum als höchste Tugend: […] Zwar hat hier Wollust und Hochmuth Nicht Nahrung von Mohren entlehnt und sie gepflanzet; nicht Myrten Nicht Aloen blicken durch Fenster. […] (124 – 126)
An einer späteren Stelle stellt die hier untersuchte Passage verschiedene Blumen vor (131 – 138), bei denen in moralphilosophischer Absicht hervorgehoben wird, dass ihre Schönheit immer auch eine Schönheit der Tugend und keinesfalls der Eitelkeit sei: Ein Bildnis großer Gemüther, die nicht gleich prahl’rischen Kämpfern Der Kreis von Zuschauern reizt, die tugendhaft wegen der Tugend, In der Verborgenheit Schatten Gerüche der Wohlthaten streuen. (139 – 141)
Die „Fürstin der Blumen“, die Tulpe (vgl. 131), in Farbe schwelgende Aurikel (132) oder „Maiblumen“ und „Silberglöckchen“ (133) werden vorab beschrieben.59 Diese werden als „hold“ (133, 135) charakterisiert, lediglich „manche Rose“ möchte in nicht ausreichender Zügelung ihrer Leidenschaften ungeduldig „schon die Knospe durchbrechen“ (vgl. 134). Die Vorwegnahme expliziter moralphilosophischer wie anthropologischer Positionen in Bezug auf milde oder heftige Affekte im Frühling ist hier offensichtlich. Eine Beeinflussung aller Sinne durch die Blumen wird betont (135) – dabei wird als letztes eine Nachtviole genannt. Diese kann, weniger stolz als die anderen Blumen (vgl. 137), nun aber den größten Auftritt von allen haben, zeichnet sie sich mit ihrem „Edelmuth“ doch als moralisch besonders vorbildlich aus:
59 Vgl. die noch stärker am Gattungsideal des Lehrgedichts orientierten verschiedenen Aufzählungen in BrTh, hier zu Blumen auf 59 – 61, 490 – 505.
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[…] Die Nachtviole läßt immer Die stolzern Blumen den Duft verhauchen; voll Edelmuth schließt sie Ihn ein im Vorsatz, den Abend noch über den Tag zu verschönern, – (136 – 138)
Gänzlich uneigennützig, nur um den schönen Tag noch zu verlängern (vgl. 138), handelt diese Blume. Kontrastierend lässt Kleist im Anschluss an die sieben Blumenverse nun ein Tier auftreten, das stark mit der verwerflichen Eitelkeit assoziiert wird: den Pfau. Nach der ,inscriptio‘ der Pflanzenverse über die „Tugend der Tugend wegen“, die im Verborgenen für Wohltaten sorgen (s. 139 – 141, s. o.), heißt es: Seht hin, wie brüstet der Pfau sich dort am farbichten Beete! Voll Eifersucht über die Kleidung der fröhlichen Blumen stolzirt er, Kreis’t rauschend den gründlichen Schweif voll Regenbögen und wendet Den Farben=wechselnden Hals. (142 – 145)
Der Pfau dient hier als Gegenbeispiel, der den tugendhaften Blumen ihre Schönheit neidend60 voll „Stolz“ (142) und „Eifersucht“ (145) auf- und abläuft. Das moralisch negative Exemplum wird durch den in seinen Farben wechselnden Hals verstärkt, der in einer Reihe mit der (ja schon im Neostoizismus angelegten) abwertenden Konnotation des „Wechsels“ im Gegensatz zur Beständigkeit im Hinblick auf Jahreszeiten, Naturkatastrophen oder wechselnde Affekte steht (vgl. Kap. 5).61 Bei der oben zitierten Passage, welche die Bescheidenheit der heimischen, „nicht den Mohren entlehnten“ Pflanzen betont, kommt eine weitere Bewertungskategorie ins Spiel: Falls die Blumen doch einmal ganz untugendhaft-uneigennützig erfreuen, darf dies nur in praktischer Hinsicht geschehen: „Das nutzbare Schöne vergnüget / Den Landmann und etwan ein Kranz.“ (126 f.) Alle Schönheit im Kontext des Landlebens soll sich also letztendlich nützlichen Motiven unterordnen.62 Im folgenden Vers wird betont, dass sich durch all diese Natur letztlich immer auch der Himmel zeige. […] Durch lange Gewölbe von Nußstrauch Zeigt sich voll laufende Wolken der Himmel und ferne Gefilde
60 Der Neid wird später im Frühling, an Thomasius anschließend, eines der „ErzLaster“ sein, vgl. Kap. 4.3. 61 Diese könnten in moralphilosophischer Hinsicht auch die wechselnden Fürstenlaunen symbolisieren, welche dem stoizistischen Ideal der constantia widersprechen: Vgl. Lohmeier: Beatus, S. 100. 62 Vgl. hierzu auch Martus: Hagedorn, S. 478.
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Voll Seen und büschichte Thäler, umringt mit blauen Gebirgen. (127 – 129)
Das Gedicht vollzieht also eine Bewegung der vertikalen Blickführung, um auf die Verbundenheit von allem (v. a. moralisch vorbildlichen) Leben auf der Erde und dessen endgültiger Absicherung durch Gott aufmerksam zu machen. Mehrmals wird („Gewölbe“, „umringt“) die Natur in einhegender und beschützender Funktion beschrieben. Dass es vorbildlicher ist, das Glück in der Bescheidenheit und somit metaphorisch im lokal Naheliegenden zu suchen, anstatt nach Hohem zu streben, macht der nächste Vers implizit moralphilosophisch deutlich: „Das Auge durchirret den Auftritt, bis ihn ein näherer schließet.“ (130) Brockes’ Übersetzung des Thomson’schen Frühling gibt einen ähnlichen Ratschlag: Allein, warum so weit gereist? Wozu ist das Entfernen nütze? Da nahe bey, auf blühnden Beeten […] Die schöne Hand des holden Frühlings so manche Lieblichkeit formirt. (BrTh 59, 486 f./489)
Die Passage des Frühlings über das glückliche Leben auf dem Land und in der Natur endet wieder mit dem Blick zum Menschen, zugleich erscheint abermals eine Orientierung am Ideal der Nützlichkeit: Wenn „der Herr des Gartens Zweige von Kirschen / Durchsägten Schlehstämmen“ einimpft (148), wird der Vater der nun beschriebenen Familie während einer sehr praktischen Tätigkeit im Garten beschrieben. Hieran erinnert die zehnte Strophe in Das Landleben. An Herrn Rammler, in welcher der selige Mann gepriesen wird, der abseits von „Getümmel“ (W I 59, 2) in den Wäldern seiner freien Betätigung nachgehen kann, bevor er abends nach Hause zurückkehrt (vgl. W I 61, 33/41 – 44): Jetzt propft er Bäume, leitet Wassergräben, Schaut Bienen schwärmen, führt an Wänden Reben; Jetzt tränkt er Pflanzen, zieht von Rosenstöcken Schattende Hecken. […] (W I 61, 37 – 40)
Interessant ist an diesen Textpassagen, dass Kleist die Gattung der Landlobdichtung durch die genaue Beschreibung gärtnerischer und landwirtschaftlicher Tätigkeiten um Bestandteile der Georgik bzw. „Ökonomie“ erweitert. Dass Kleist einer Vermischung und Öffnung von Gattungskonventionen grundsätzlich offen gegenüberstand, ohne dabei
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den Grund der antiken Autoritäten zu verlassen63, zeigt nicht zuletzt sein Vorbericht zur Werkausgabe von 1758: Dem Verfasser hat immer gedünkt, daß die Franzosen die Idylle dadurch zu sehr eingeschränkt haben, daß sie den Stoff dazu allein aus dem Schäferleben entlehnt. Das Landleben ist überhaupt dazu geschickt, und es kommt nur darauf an, daß man niedrige und ungesittete Ideen aus derselben entfernt, um sie gefällig zu machen. So hat Theokrit Hirten- und Fischer-Idyllen, und Bion eine Vogelsteller-Idylle mit vielem Beyfall verfertiget […]. (W I LXXXVIII)64
Die ,ökonomische Gattung‘ wurde im 18. Jahrhundert insbesondere durch die Gattungen der ,Hausväterliteratur‘ sowie Schriften der Volksaufklärung ins 18. Jahrhundert weiterentwickelt. Mit Hans Caspar Hirzel hatte Kleist einen agrartheoretisch interessierten Freund, der 1761 mit der Wirthschaft eines Philosophischen Bauers eine der wichtigsten Schriften
63 Dementsprechend kann man Kleist andererseits auch nicht unterstellen, mit dem Frühling ein landwirtschaftstheoretisches Lehrbuch vorlegen zu wollen. Vgl. seinen Brief an Gleim vom 19. 8. 1748, in dem er den Freund bittet, auf Folgendes in einer möglichen Vorrede zur Erstveröffentlichung des Frühlings hinzuweisen: „[…] Sie müssen aber darin absolut […] erwähnen etwann, daß des Verfassers Endzweck nicht sei, den Ackerbau, sondern nur das Vergnügen zu beschreiben, welches er [hier wurde der Einschub „bei einer Lustreise oder Aufenthalt“ im Original gestrichen, C. W.] auf dem Lande empfunden […].“ (W II 124 f.) 64 Im Hinblick auf die zitierten Verse sowie die enge Verbindung Kleists zu Hirzel kann also die allzu kategorische Definition von Landlobliteratur durch AnkeMarie Lohmeiers abgemildert werden, welche die georgisch-ökonomische, realistisch-idyllische, bukolische sowie laus bukolis-Literatur in ihrer grundlegenden Studie streng von der laus ruris-Literatur schied. Vgl. Lohmeier: Beatus, S. 61 – 76. Klaus Garber kritisiert die in Teilen zu enge Gattungsdefinition Lohmeiers bereits 1986 und weist zudem auf „Mischmodelle“ einer laus-ruris-Literatur im 18. Jahrhundert hin. Vgl. Klaus Garber: Anke-Marie Lohmeier: Beatus ille. Studien zum ,Lob des Landlebens‘ in der Literatur des absolutistischen Zeitalters. Tübingen 1981 (Rezension). In: Daphnis 15 (1986), S. 194 – 209, bes. S. 194 f. Vgl. in der aktuelleren Forschung: „Denn es ist das Wesen dieser Gattung [hier in Bezug auf „Pastoralpoesie“, C. W.], dass sie sich in Beziehung zu den anderen […] selbst setzt und entsprechend von den Theoretikern ihrerseits gerückt wird.“ (Klaus Garber: Pastorale Aufrichtigkeit. Ein Blick in Philipp Harsdörffers und Johann Klajs Pegnesisches Schäfergedicht. In: Claudia Benthien u. Steffen Martus (Hg.): Die Kunst der Aufrichtigkeit im 17. Jahrhundert. Tübingen 2006, S. 191 – 206, hier S. 191 f.) Auch Thorsten Fitzon kritisiert, wenn auch im Hinblick auf eine Erweiterung um Landlobliteratur mit „überindividuellen Kontexten“, die zu enge Gattungsdefinition Lohmeiers. Vgl. Fitzon: Landlebendichtung, S. 836.
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der agrarwissenschaftlichen Volksaufklärung verfasste65, die vor allem aufgrund der rasch erfolgten französischen Übersetzung schnell gesamteuropäische Bekanntheit erreichen sollte.66 Das Thema einer Optimierung der Landwirtschaft hatte Hirzel spätestens seit 1743 interessiert, als er Mitglied der Wachsenden Gesellschaft Bodmers wurde, in der er verschiedene Vorträge zur Agrartheorie hielt.67 Ab 1746 wurde Hirzel außerdem Mitglied in der Ökonomisch(-Landwirtschaftlichen) Kommission Zürichs. Im gleichen Jahr lernten sich Hirzel und Kleist in Potsdam kennen. Hirzel wurde zu einem der engsten Begleiter des Entstehungsprozesses des Frühlings. So schreibt Gleim an Bodmer am 29. 4. 1747: „Hirzel hat das Vergnügen, dem Wachsthum desselben von Tage zu Tage zuzusehen und sich zu wundern, dass das Geräusch der Waffen die ruhige Muse nicht hindert.“68 Der oben zitierte Frühlings-Vers über den „Herr[n] des Gartens“ wird indes wieder moralisch aufgeladen, wenn der Text über die Frau spricht: „Das Bild der Anmuth, die Hausfrau / Sitzt in der Laube von Reben, pflanzt Stauden und Blumen auf Leinwand“. (150 f.) Eine ähnliche Szene schildern die Alpen, in der eine Hirtenfamilie am Abend zusammenkommt, wobei Haller die Einfachheit der Verhältnisse in einer besonderen Mischung aus Idealisierung und Realismus beschreibt: Die Hirtin grüßt den Mann, der sie mit Lust erblicket, Der Kinder muntrer Schwarm frohlockt und spielt um ihn, Und ist der süße Schaum der Euter ausgedrücket, So sitzt das frohe Paar zu schlechten Speisen hin. Begierd und Hunger würzt, was Einfalt zubereitet, Bis Schlaf und Liebe sie umarmt ins Bett begleitet. (HA 11, 195 – 200)
65 Hans Caspar Hirzel: Die Wirthschaft eines Philosophischen Bauers. Zürich 1761. Der Philosophische Bauer erschien bis 1785 in zwei weiteren überarbeiteten Auflagen: Ders.: Die Wirthschaft eines Philosophischen Bauers. Neue, vermehrte Aufl. Zürich 1774; Ders.: Neue Prüfung des Philosophischen Bauers, nebst einigen Blicken auf den Genius dieses Jahrhunderts und andere den Menschen intreßierende Gegenstände. Zürich 1785. 66 Johann Caspar Hirzel: Le Socrate rustique ou Description de la conduite économique et morale d’un paysan philosophe. Traduit par Jean Rodolphe Frey. Zürich 1762. 67 Diese sind sämtlich einzusehen im Nachlass der Familie Hirzel in der Zentralbibliothek Zürich (Signatur FA Hirzel). 68 Briefe der Schweizer Bodmer, Sulzer, Geßner. Aus Gleim litterarischem Nachlasse hg. v. Wilhelm Körte. Zürich 1804, S. 52 f.; vgl. W I 157.
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Die moralischen Forderungen und Implikationen bilden die zentrale Funktion der laus ruris-Motive des Frühlings. Mit ihnen wurden weitreichende Positionen des Texts wie die Bescheidung auf ein maßvolles Leben sowie Aufrufe zu tugendhaftem Verhalten vorbereitet. In den folgenden Versen des Gedichts wie im nächsten Kapitel stehen dementsprechend die moralphilosophischen Positionen Kleists im Fokus des Interesses.
4 Tugend und Laster: Moralphilosophische Anspielungen (V. 87 – 94, 155 – 165) Am 30. 6. 1759 schreibt Kleist Gleim über einen Besuch in Weißenfels bei der Gräfin Solms: Ich reisete hin und fand an ihr, ihren Töchtern und noch drei andern Gräfinnen (zwei von Solms und einer Lottom) die unvergleichlichsten Damen von der Welt. (Ich würde dies nicht wichtig genug halten, es Ihnen zu schreiben, wenn es nicht eine große Rarité wäre, Menschen zu treffen. Ich habe diesen Winter auf unsern Balls und Picknicks den ganzen Adel dieser Gegend kennengelernt, aber Ihnen nichts davon geschrieben; denn ich fand nur Menschengesichter.) (W II 570)
Kritik am Adel wurde im Frühling bereits im Kontext der laus-ruris-Motivik thematisiert (vgl. Kap. 3). Was Kleist hier mit dem Gegensatz „Mensch“ versus „Menschengesichter“ umschreibt, soll im Folgenden anhand seines moralphilosophischen Systems analysiert werden. Dabei stehen zwei ausgewählte Passagen des Gedichts, die Verse 87 – 94 und 155 – 165, im Zentrum der Analyse. Hier wird die Frage, was einen guten Menschen ausmache, behandelt: sowohl in sozialer Perspektive – im Hinblick auf ein funktionierendes Zusammenleben in einem Staat – als auch individueller Perspektive. Kleists Verständnis von Tugend und Laster und die Möglichkeiten eines ,guten Lebens‘ stehen dabei im Zentrum der Ausführungen. Abschließend wird auf die in Kleists Texten artikulierten Zweifel, ob die vorgestellten Maximen einer optimalen Lebensführung überhaupt realistisch sind, eingegangen, was zugleich den Übergang zum Kapitel 4 zur Frage von Kleists Melancholie bildet. Die philosophischen Lehrveranstaltungen, die Kleist während seines Studiums von 1731 bis 1735 an der Universität Königsberg besuchte1, scheinen auf den ersten Blick in seinen Überlegungen zu Tugend, Laster oder Glückseligkeit kaum Spuren hinterlassen zu haben. Kleists auf lateinisch geführte Skripte Cursus philosophicus, die nach der Logik und 1
Vgl. W I XIVf.; Rüdiger Frommholz: Art. Ewald Christian von Kleist. In: Neue Deutsche Biographie. Hg. v. der Historischen Kommission bei der Bayerischen Akademie der Wissenschaften. Bd. 12. Kleinhans–Kreling. Berlin 1980, S. 10, 11, Sp. 1.
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4 Tugend und Laster: Moralphilosophische Anspielungen
Metaphysik unter anderem Ontologie, „psychologische Philosophie“ und Praktische Philosophie umfassen, behandeln das, was am Gros der deutschsprachigen Universitäten in Philosophie damals gelehrt wurde: So herrschte an der Philosophischen Fakultät der Königsberger Universität bis in die 1730er Jahre noch ein durch die Professoren Gregorovius und Krypke vertretener Aristotelismus und Eklektizismus.2 Die von Kleist mitgeschriebenen Vorlesungen korrespondieren mit dem unter anderem geometrischen und mathematischen Schwerpunkt seines zweiten universitären Skriptheftes, Mathesis 3, in ihrem stark rationalistisch geprägten Inhalt. Am Rand ist das Stichwort „Leibnitzium“ notiert (vgl. CP 20). Kleist besuchte unter anderem Vorlesungen bei Karl Andreas Christiani, der den Lehrstuhl für praktische und Moralphilosophie inne hatte (allerdings war dieser erst im Wintersemester 1735/36 an die Universität gekommen) und beim vom Leibniz und Wolff geprägten Rationalisten Martin Knutzen4, der zwischen frühaufklärerischen und pietistischen Ansätzen zu vermitteln suchte.5 Im Folgenden wird deutlich, dass von diesen frühen universitären Einflüssen vermutlich die Gedanken Christian Thomasius’ den stärksten Einfluss auf die philosophischen Standpunkte Kleists hatten (s. u.)6 : allerdings sind abermals vor allem die Überlegungen in den Collectaneen von Bedeutung, die sich neben weiteren Texten Kleists und anderer zeitgenössischer Dichter stützend für die Analyse des Frühlings heranziehen lassen. Außerdem spielen erstmals Kleists eigene aphoristische Gedanken über verschiedene Vorwürfe (W I 320 – 326) für die Interpretation eine zentrale Rolle.
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Dies wird deutlich bei einem Blick in die Geschichte der Philosophischen Fakultät an der Universität Königsberg. URL: http://www.staff.uni-marburg.de/~stark/ albert.ine/al_phil.htm [03. 03. 2016] Signatur 117 des Kleist-Nachlasses im Gleimhaus. Vgl. Friedbert Holz: Art. Martin Knutzen. In: Neue Deutsche Biographie 12, S. 231, Sp. 2–S. 232, Sp. 2; W I XIV. Vgl. zu den Vorlesungen, welche die oben genannten Dozenten Kleists in seiner Studienzeit gegeben haben Michael Oberhausen u. Riccardo Pozzo (Hg.): Vorlesungsverzeichnisse der Universitaet Königsberg (1720 – 1804). Teilband 1. Stuttgart-Bad Canstatt 1999, S. 89, 92, 95, 98. Dass Kleist in jedem Fall, vermutlich nach seinem Studium, mit den zeitgenössischen Strömungen der Philosophie in Kontakt gekommen sein muss, belegt auch eine Wendung in einem Brief an Clodius. Diese lässt auf die Rezeption etwa der Ästhetik Baumgartens schließen: „Die untern Kräfte, die Einbildungskraft etc..“ (Ediert in ??, S. 287.)
4.1 Die optimale Gesellschaft des Frühlings (V. 87 – 94)
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4.1 Die optimale Gesellschaft des Frühlings (V. 87 – 94) Christian August Clodius zufolge hatte Kleist „tiefe […] Kenntnisse des Natur- und Völkerrechts“ und der „weisen Politik“7 – die erste in diesem Abschnitt zu analysierende Passage des Frühlings entwickelt denn auch Überlegungen zu einem optimalen Zusammenleben von Menschen in einem gesellschaftlichen Verbund. Die Verse finden sich im Anschluss an eine gekürzte Kriegspassage (vgl. Kap. 5.3), welche mit der Erwähnung einer „flammenden Sündfluth“ (86) schließt. „Flammen und Blut“ finden sich in der zweiten Zeile dieses Abschnitts zur politischen Herrschaft8 wieder, womit auch auf der semantischen Ebene der Bogen vom Kriegsabschnitt zur Politik geschlagen und beide in einen gemeinsamen Kontext gestellt werden. Der Krieg als Symbol für ein affektbeherrschtes, unausgeglichenes Individuum (vgl. Kap. 5.3) wird hier in politischer Perspektive als negatives Gegenbild zu einem friedlichen Leben (vgl. Kap. 3) unter guten Herrschern entworfen. In einem emotionalen Anruf wendet sich der Frühling hier zu Beginn der Passage an die Herrscher der Welt: Ihr, denen zwanglose Völker das Steuer der Herrschaft vertrauen, Führt Ihr durch Flammen und Blut sie zur Glückseligkeit Hafen? Was wünscht Ihr, Väter der Menschen, noch mehrere Kinder? Ist’s wenig, 7 8
Vgl. die Auszüge seines Briefs vom 15. Juni 1759 an den Grafen Reuß in: Sauer: Mittheilungen, S. 286. Auf die zentrale Stellung politischer Überlegungen in Verbindung etwa mit u. a. den moralphilosophischen Fragen der Aufklärung gerade bei den zeitgenössischen Literaten wies Hans Erich Bödeker bereits 1987 hin: „Zweifellos war ihre Einwirkung auf das politisch-soziale Bewußtsein der Aufklärer beträchtlich, wenn auch keineswegs immer direkt. […] Durch eine sich angleichende Lektüre kam es zur Ausbildung übergreifender Denkformen und eines Konsensus gemeinsamer politischer Grundüberzeugungen, deren Medium vor allem die Literatur war.“ (Hans Erich Bödeker: Prozesse und Strukturen politischer Bewußtseinsbildung der deutschen Aufklärung. In: Ders. u. Ulrich Herrmann (Hg.): Aufklärung als Politisierung – Politisierung der Aufklärung. Hamburg 1987, S. 10 – 31, hier S. 10 f.); vgl. zuletzt außerdem Steffen Martus: Transformationen des Heroismus. Zum politischen Wissen der Tragödie im 18. Jahrhundert am Beispiel von Schlegels Canut. In: Thorsten Burkard (Hg.): Politik – Ethik – Poetik. Diskurse und Medien neuzeitlichen Wissens. Berlin 2011, S. 15 – 42, sowie Hans Erich Bödeker u. Etienne Francois (Hg.): Aufklärung/Lumières und Politik. Zur politischen Kultur der deutschen und französischen Aufklärung. Leipzig 1996. Speziell zum „Staatszweck der Glückseligkeit“ bei Thomasius vgl. Frank Grunert: Normbegründung und politische Legitimität. Zur Rechts- und Staatsphilosophie der deutschen Frühaufklärung. Tübingen 2000, S. 231 – 241.
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Viel’ Millionen beglücken? Erfordert’s wenig Mühe? O, mehrt Derjenigen Heil, die Eure Fittiche suchen, Deckt sie gleich brütenden Adlern, verwandelt die Schwerter in Sicheln, Laßt güldne Wogen im Meer, fürs Land, durch Schifffahrt sich thürmen, Erhebt die Weisheit im Kittel und trocknet die Zähren der Tugend! (87 – 94)
Mit „Flammen und Blut“ wird auf die wilden Zeiten von Krieg und Unglück hingewiesen, durch welche die Machthaber ihre Völker führen müssen – „zur Glückseligkeit Hafen“ (88).9 Hier finden sich Anklänge an die zeitgenössischen Diskussionen um das Naturrecht.10 Die Glückseligkeit der Bevölkerung ist dabei eines der Ziele guten Regierungshandelns – was im Kontext der literarischen wie philosophischen11 Frühaufklärung nicht weiter überrascht.12 So erhob Christian Thomasius die „innerweltliche Glückbestimmung“ zur öffentlichen, ständeübergreifenden Aufgabe 9 „Die Lehre von der Glückseligkeit der Bürger als Staatszweck ist der Bereich, der – im Gegensatz zu sonstigen Fragen der vorkantischen Ethikkonzeptionen in ihrer Ausrichtung auf Glückseligkeit – bereits seit Längerem in der Forschung Aufmerksamkeit gefunden hat.“ (Cornel Zwierlein: Das Glück des Bürgers. Der aufklärerische Eudämonismus als Formationselement von Bürgerlichkeit und seine Charakteristika. In: Hans-Edwin Friedrich, Fotis Jannidis u. Marianne Willems (Hg.): Bürgerlichkeit im 18. Jahrhundert. Tübingen 2006, S. 71 – 113, hier S. 72.) Vgl. außerdem zur vorkantischen Glückskonzeption, gerade im Hinblick auf die Verknüpfung von Glück, Tugend und Gemütsruhe Frank Grunert: Die Objektivität des Glücks. Aspekte der Eudämonismusdiskussion in der deutschen Aufklärung. In: Ders. u. Friedrich Vollhardt (Hg.): Aufklärung als praktische Philosophie. Werner Schneiders zum 65. Geburtstag. Tübingen 1998, S. 351 – 368. 10 Vgl. Sandra Pott: Reformierte Morallehren und deutsche Literatur von Jean Barbeyrac bis Christoph Martin Wieland. Tübingen 2002, S. 89; Simone Zurbuchen: Naturrecht und natürliche Religion. Zur Geschichte des Toleranzbergriffs von Samuel Pufendorf bis Jean-Jacques Rousseau. Würzburg 1991. 11 Dabei entwickelte sich das moralphilosophische Programm der Frühaufklärung – trotz vermeintlicher Frontstellungen – in starkem Maße aus christlichen Vorstellungen heraus; vgl. Kemper über die konkreten Handlungsdeterminanten von Wolffs Deutscher Politik: „Eine Vielzahl von ihnen ist den kirchlichen Sittenlehren zum Verwechseln ähnlich und durch Bibelverweise auch auf sie bezogen.“ (Kemper FA 83.) Im Gegenzug sind die aufklärerischen Vorstellungen von der Funktion der Religion vielerorts auf die bloße Moralvermittlung reduziert, vgl. Kap. 6; Kemper FA 65, 67, oder Günter Gawlick: Der Deismus als Grundzug der Religionsphilosophie der Aufklärung. In: Hermann Samuel Reimarus (1694 – 1768), ein „bekannter Unbekannter“ der Aufklärung in Hamburg. Vorträge gehalten auf der Tagung der Joachim Jungius-Gesellschaft der Wissenschaften in Hamburg am 12. und 13. Oktober 1972. Göttingen 1973, S. 15 – 43, bes. S. 34 f. 12 Vgl. auch Grunert: Objektivität, S. 352.
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auch im natur- und völkerrechtlichen Kontext13 und legitimierte sie als Ausdruck naturrechtlicher Selbstbestimmung des Menschen.14 Bei Kleist finden sich hierzu passend insgesamt neun Einträge in den Collectaneen, welche die Frage nach „Glück“ behandeln, womit dieses Lemma eines der meisterwähnten in seinen Aufzeichnungen ist. Die „aufklärerische Vorstellung“, nach der „insgesamt ganz einmütig Glückseligkeit als das seiner Natur eingepflanzte Ziel bzw. die Bestimmung des Menschen schlechthin dargestellt wird, und zwar hier schon auf Erden“, spiegelt sich wider.15 Schon die Stellen, an denen das Stichwort „Glück“ nur nebensächlich im Kontext eines anderen Eintrags genannt wird, geben einen ersten Hinweis auf die Bedeutung dieses Begriffs in Kleists Ideenwelt: An einer Stelle wird „Großmut“ (s. u.) als „Zufriedenheit mit Glück“ definiert. An anderer Stelle ist „Glück“ durch ein „=“-Zeichen völlig ineins mit „Klugheit“ gesetzt (CO 144, Sp.1), was einen konkreten Eindruck vom Nachwirken der Schriften Christian Thomasius’ gibt16, die seit dem Studium – wenn meist auch nur implizit – Kleists Überlegungen zu einem ,guten Menschen‘ in der Gesellschaft wie als Individuum beeinflusst haben. Gerade Kleists Lektüre der Übertragungen Popes und Thomsons durch 13 Vgl. ebd., S. 364. 14 Vgl. Kemper FA 98; außerdem Till: Transformationen, S. 292, sowie Sauder: Empfindsamkeit, S. 73 f.; zum religionshistorischen Kontext des Glücksbegriffs in der Frühaufklärung zusätzlich Kemper FA 82; zum philosophischen Hintergrund Christian Thomasius: Einleitung zur Sittenlehre. Vorwort v. Werner Schneiders. Hildesheim u. a. 1995, S. 52 – 115; Werner Schneiders: Vorwort. In: Thomasius: Einleitung, S. V–XI, bes. S. Vf., XIII; Ders.: Leibniz – Thomasius – Wolff. Die Anfänge der Aufklärung in Deutschland. In: Ders.: Philosophie der Aufklärung – Aufklärung der Philosophie. Gesammelte Studien. Zu seinem 70. Geburtstag hg. v. Frank Grunert. Berlin 2005, S. 167 – 182, bes. S. 168; zum naturrechtlichen Kontext bei Pufendorf Friedrich Vollhardt: Selbstliebe und Geselligkeit. Untersuchungen zum Verhältnis von naturrechtlichem Denken und moraldidaktischer Literatur im 18. Jahrhundert. Tübingen 1999, S. 37. 15 Vgl. Zwierlein: Glück, S. 80. Vgl. zu den Traditionen dieser Vorstellungen u. a. aus der christlichen Ethik des 16. Jahrhunderts heraus: ebd., S. 81 f. 16 Das eigene Lemma „Klugheit“ in Kleists Collectaneen, das vielleicht auch ein Thomasius-Zitat beinhalten könnte, lautet „Nullium nomen abeit“ (nicht weiter leserlich, vgl. CO 221, 1). Auch unter dem Lemma „THOMAS.“ findet sich der Begriff „Klugheit“ (CO 221, 1) und zwei Seiten später ein Zitat aus der Tragödie Catilina Prosper Jolyot Crébillons: „L’hôme prudent voit trop, l’îllusion le guit, / L’întrepide voit mieux, et le fantome fuit.“ (Hier zit. nach Prosper Jolyot Crébillon: Catilina. Tragédie. La Haye 1749, S. 49); vgl. CO 223, 1. Zusätzlich könnte der Eintrag „Mitteldinge“ der Collectaneen einen Hinweis auf Thomasius enthalten, war jedoch im Original nur schwer leserlich: vgl. CO 270.
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Brockes bildet eine Spur seiner Thomasiusrezeption.17 Zwar hatte seit den zwanziger Jahren Christian Wolff Thomasius als bestimmenden Philosoph der deutschen Frühaufklärung abgelöst. Thomasius’ Theorie des Lasters in Form seiner Affektenlehre, die er in der Ausübung der Sittenlehre 18 entfaltet hatte, sollte sich das 18. Jahrhundert hindurch aber insbesondere in breiten bürgerlichen Schichten unverändert als überaus wirkmächtig erweisen.19 Dieser Teil der Philosophie Thomasius’ ist es denn auch, der sich am stärksten in Kleists literarischem Werk widerspiegelt (vgl. u. a. Kap. 5.3). Kleist hatte auch Thomasius’ Werk ebenfalls schon während seines Studiums kennengelernt, zumindest belegen das die Vorlesungsverzeichnisse20 der Universität Königsberg.21 Im Hinblick auf die Bedeutungen, mit denen die „Glückseligkeit“ in Kleists Notizen belegt wird, gibt es noch viele weitere Passagen: Auch die bescheidene Beschränkung auf das Landleben (CO 246, 1) findet sich in Verbindung mit diesem Begriff (vgl. Kap. 3). Hier zeigen sich die enge Verschränkung und Korrespondenzen der für Kleist zentralen Begriffe untereinander, wenn er Glück etwa auch über Großmut oder Klugheit definiert, die gleichzeitig selbst wichtige Stichworte seiner moralphilosophischen Überlegungen bilden (s. u.). Die fünf Einträge, welche „Glück (-seligkeit)“ nicht nur einfach durch einen anderen Begriff definieren, zitieren mit Horaz und Seneca (vgl. CO 142, 2) zwei der immer wieder auftauchenden Autoritäten der Notizen Kleists. Der Ausschnitt aus Horaz’ neunter Ode des vierten Buchs definiert Glück als eine Haltung aus bescheidener (gottergebener) Demut und endet mit einem etwas unvermittelt wirkenden Appell, für das Vaterland zu sterben: Non possidentem multa vocaveris Recte beatum; rectius occupat Nomen beati, qui deorum Muneribus sapienter uti Duramque callet pauperiem pati Peiusque leto flagitium timet, 17 Zum ,Thomasianer Brockes‘ vgl. Vollhardt: Selbstliebe, S. 287. 18 Christian Thomasius: Ausübung der Sittenlehre. Vorwort v. Werner Schneiders. Hildesheim u. a. 1999. 19 Vgl. etwa Vollhardt: Selbstliebe, S. 229 – 249; Till: Transformationen, S. 277 – 296. 20 Vgl. Oberhausen u. Pozzo (Hg.): Vorlesungsverzeichnisse, S. 80, 83, 86. 21 Zum genannten philosophiegeschichtlichen Hintergrund vgl. exemplarisch Vollhardt: Selbstliebe, S. 170 – 173; Schneiders in Thomasius: Einleitung, S. X; speziell zur Politiktheorie Thomasius’: Martin Kühnel: Das politische Denken von Christian Thomasius. Staat, Gesellschaft, Bürger. Berlin 2001, bes. S. 279 – 295; Grunert: Normbegründung, S. 169 – 288.
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Non ille pro caris amicis Aut patria timidus perire.22
Hier ruft der Text, wie in Kleists Landlobversen, zur Abkehr von materiellem Reichtum auf und proklamiert eine neostoizistisch inspirierte Fügung in das Schicksal („[D]er glücklich die Gottesgabe / Richtig zu nutzen versteht mit Weisheit“23). Wahres Glück liege in einer Abkehr von „Frevel“ und somit in einem tugendhaften Leben, womit auch das „Armut harter Los“ in Kauf genommen werden müsse. In einem Zitat aus der Tragödie Catilina des Dramatikers Prosper Jolyot Crébillon in den Collectaneen Kleists wird vor allem zur Mäßigung ermahnt, will man Glück erleben: „Fortune des héros, ce n’est pas sur les coeurs / Que l’on te vit toujours mesurer tes faveurs“, heißt es dort in der sechsten Szene des fünften Akts24, was an die (neo)stoizistische ,Ideologie des Mittelmaßes‘ (vgl. Kap. 3) anschließt. Der Frühling selbst statuiert hingegen zunächst, dass die Glückseligkeit des Volks nur durch verantwortungsbewusste Regierende erreicht werden kann, wie bereits deutlich wurde (87 – 90), was hier wiederum Anklänge an das Denken Christian Wolffs zeigt, der philosophiegeschichtlichen Entwicklung der Zeit durchaus entsprechend (s. o.).25 Auffällig ist hier, dass Kleist das Verhältnis von Herrschern und Beherrschten in starkem Maße als auf Vertrauen basierend ansieht: im ersten Vers spricht er davon, dass die Völker ihren Machthabern das „Steuer“ der Regierungsausübung „anvertrauen“ (87). Er betont die Freiwilligkeit dieser Entscheidung noch zusätzlich, indem er auf die „Zwanglosigkeit“ der genannten Völker hinweist. Sie haben keine Regierung nötig, sondern geben aus eigenem Willen Kompetenzen ab – aus dem Wissen heraus, dass es sich, wie in Kleists Allegorien des Landlebens, unter (vernünftiger) 22 Hier zit. nach Horaz: Werke I, S. 204, V. 45 – 52. In der deutschen Übersetzung lautet der Textausschnitt: „Nicht wer des Reichtums Fülle besitzt, ist dir / Wahrhaft beglückt, mit größerem Rechte heißt / Der glücklich, der die Gottesgabe / Richtig zu nutzen versteht mit Weisheit, // Der harter Armut Los zu ertragen weiß, / Vor Frevel mehr noch als vor dem Tod sich scheut: / Ihm bangt es nicht, für teure Freunde oder das heimische Land zu sterben.“ (Ebd., S. 205, V. 45 – 52.) – Kleist schreibt die Versanfänge des lateinischen Originals jeweils klein. 23 Vgl. hierzu auch Kleists Fabel Der gelähmte Kranich: W I 105 f., bes. V. 29 – 34. 24 Crébillon: Catilina, S. 61. Vgl. auch Kleists Lucianisches Gespräch zwischen Charon und Catilina im dritten der Stücke für seine projektierte Moralische Wochenschrift Der Neue Auffseher: W I 306 f. 25 „Unter den Anhängern Wolffs wird es üblich, die individuelle Glückseligkeit zur Bedingung für das Gemeinwohl zu erheben.“ (Pott: Morallehren, S. 96.)
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Anleitung besser leben lässt.26 Glück auf individueller Ebene ist hier immer an einen gesellschaftlichen Zusammenhang inklusive gerechter Herrschaft gekoppelt. Diese Argumentation wurde in den vielen Motiven von Pflanzen, Natur und Tieren im laus-ruris-Kontext zuvor vorbereitet. Dass Ideen einer umfassenden Souveränität des Volks bei Kleist somit keinerlei Rolle spielen, ist im breiteren politiktheoretischen Kontext der Frühaufklärung und in der Zeit des aufgeklärten Absolutismus nicht überraschend. Wie Hans Erich Bödeker schreibt, wurde der Bürger durchgehend „weniger als selbstständiges Rechtssubjekt denn als Objekt obrigkeitlicher Fürsorge verstanden.“27 Haller setzt in den Alpen die Freiwilligkeit der Bevölkerung, die Regierungsgewalt an Herrscher abzugeben, als allgemeine Freiheit einer Gesellschaft in Beziehung zu ihrer Gleichheit: „Hier herrscht kein Unterschied, den schlauer Stolz erfunden, / Der Tugend untertan und Laster edel macht […] / Die Freiheit teilt dem Volk, aus milden Mutter-Händen, / Mit immer gleichem Maß Vergnügen, Ruh und Müh.“ (HA 6, 71 f., 77 f.) Gleichheit und Freiheit in der Gesellschaft werden in denselben Kontext gestellt (ohne die Herrschenden zu thematisieren). Ähnlichkeit zu Kleists Tugendkonzept (bei allen Unterschieden der politischen Systeme der Schweiz und Preußens, in denen Haller und Kleist lebten), auf das im vorliegenden Kapitel später noch eingegangen wird, zeigt vor allem Hallers Beschreibung, wie sich in einem solchen Staat Leben und Landschaft verschönern würden: „Dann, wo die Freiheit herrscht, wird alle Mühe minder, / Die Felsen selbst beblümt und Boreas gelinder.“ (HA 5, 59 f.) Das „immer gleiche Maß“, wie es bei Haller heißt, spielt auch in Kleists Glücksdefinitionen eine zentrale Rolle (vgl. auch hierzu Kap. 3.1).28 Unter dem Stichwort „Übermäßigkeit“ notiert er sich das folgende Horazzitat in 26 Auf die Zusammenhänge von Vertrags- und Naturrechtslehren der Aufklärung und der politischen Erscheinungsform des ,aufgeklärten Absolutismus‘ weist Hans-Georg Kemper hin: Kemper AP 4. 27 Bödeker führt aus, dass auch „die Theorieelemente vom Naturzustand und vom Sozialvertrag keineswegs Antizipationen liberaler Vorstellungen [waren]; vielmehr kam den Untertanen kein Freiheitsbereich durch eigenes Recht gegenüber dem Herrscher zu. Es ging nicht um die Rechte des Bürgers im Staat, die Rechte des Menschen blieben vielmehr auf den Naturzustand bezogen. Damit wurden dem staatlich verfaßten Menschen wesentliche Teile seiner natürlichen Rechte abgesprochen und ihm nur ein residualer Kern ursprünglicher Freiheit zugebilligt. Der Bürger wurde weniger als selbstständiges Rechtssubjekt denn als Objekt obrigkeitlicher Fürsorge verstanden.“ (Bödeker: Prozesse, S. 23.) 28 Vgl. den Eintrag „Mitteldinge“ in Kleists Collectaneen, der einen expliziten Verweis auf Thomasius enthält: CO 270, 1.
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sein Collectaneenheft: „insani sapiens nomen ferat, aequus iniqui, / ultra quam satis est virtutem si petat ipsam.“29 Der Weise wie der Gerechte, der ebenfalls eine zentrale Kategorie in Kleists Regierungsverständnis einnimmt, soll also „selbst im sittlichen Eifer“ immer Maß halten – was neben dem Bezug auf die neostoizistischen Kontexte bereits stark mit zeitgenössischen Theorien der Affektcalmierung korrespondiert (vgl. Kap. 4.5 und 5). Die freiwillige Abgabe der Regierungsgewalt an die Herrscher von Seiten der Bevölkerung, so könnte man interpretieren, korrespondiert hier mit einer freiwilligen Selbstverpflichtung der Machthaber, mit der Macht verantwortungsbewusst umzugehen. Im Frühling wird wie in den Collectaneen besonders darauf hingewiesen, dass die Machthaber es als eine freiwillige Verpflichtung ansehen sollten, ihr Regierungsamt verantwortungsbewusst auszuführen. Aus einem inneren Drang zu moralisch vorbildlichem Verhalten heraus sollen sie sich selber dazu zwingen, die Menschen gut zu regieren.30 Die Aufgaben, die sich hiermit verbinden, sind schwierig genug: „Ist’s wenig, / Viel’ Millionen beglücken? Erfordert’s wenig Mühe?“, heißt es in den Versen 89 f. Kleist ruft die Verantwortlichen deshalb dazu auf, sich den zunächst gegebenen Aufgaben zu stellen, anstatt maßlos nach größerem Machteinfluss zu dürsten. Diese Kritik gliedert sich in seine moralischen Vorstellungen ein, die im Frühling bereits geäußert wurden: Stets wird der Hochmut, immer größere Rollen einnehmen zu wollen, kritisiert (s. u. in Kap. 4.3). Bescheidenheit gilt stattdessen als größere Tugend31 und ist damit Kern verantwortlichen Regierungshandelns. Maßvolles Handeln in vernünftigen Grenzen war im Frühling ja bereits zuvor als ideales Verhalten propagiert worden (vgl. Kap. 3.1). Der Text referiert hier dabei zunächst auf den ungebremsten Machthunger von Herrschenden: „Was wünscht Ihr, Väter der Menschen, noch mehrere Kinder?“ (89) Hier wird, neben dem Kontext der merkantilistischen Bevölkerungspolitik und „Peuplierung“ unter Friedrich II. nicht 29 Horaz: Werke II, S. 150, V. 15 f. „Unvernünftig hieße der Weise, ungerecht der Gerechte, wenn er zu weit ginge, selbst im sittlichen Eifer.“ (Ebd., S. 151, V. 15 f.) Vgl. CO 458, 1. 30 Hätte der Machthaber eine solche Selbstbindung an den Herrschaftsvertrag aufgehoben, wäre im zeitgenössischen Common Sense die Grenze von der als Gesetzesstaat verstandenen Monarchie zur Despotie überschritten worden. Vgl. Bödeker: Prozesse, S. 24. 31 Vgl. hierzu auch in Hallers Alpen: „Versuchts, ihr Sterbliche, macht euren Zustand besser, / Braucht, was die Kunst erfand und die Natur euch gab; / Belebt die Blumen-Flur mit steigendem Gewässer […].“ (HA 3, 1 – 3.)
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zuletzt vermutlich auch Kritik an dessen Eroberungskriegen geübt. Die entsprechende Passage war bereits in der Frühlings-Version von 1749 enthalten32 – der Vers schien Kleist auch politisch verklausuliert genug, um ihn ungleich der ursprünglich längeren Kriegspassage (W I 180, 109 ff.) und der immer monarchiefreundlicheren Tendenz in seinem Werk im Text zu belassen. Das Verhältnis von Herrschern und Beherrschten beschreibt Kleist hierbei als eine Art Schutzgarantie, welche die Politiker ihrer Bevölkerung geben sollen: So spricht er in den letzten vier Versen des oben zitierten Abschnitts von den Menschen, welche die „Fittiche“ der Machthaber suchen (vgl. 91), sowie davon, dass die Herrscher ihre Bevölkerung „gleich brütenden Adlern“ decken sollen (92). Diese Beschreibungen rufen die im laus-ruris-Kontext noch anschaulicheren Darstellungen des die Herde führenden Stiers oder der „Entchen“ auf, die sich immer nur spielend von der Mutter zu entfernen wagen. Hier ist es nun explizit das Volk eines Landes, das sich den Machthabern anvertraut, um die Garantie eines friedlichen Lebens zu erhalten. Der zentralen Rolle der Sicherheit sind wir bereits bei den eingehegten Naturbildern im Landleben Kleists begegnet (vgl. Kap. 3.2). Eine ähnliche Vorstellung einer freiwilligen Schutzvereinbarung in politischer Hinsicht findet sich auch in seinem Grablied, wenn im Text die Utopie einer idealen Welt entworfen wird: „Du wirst nicht sehn, daß ein Tyrann / Die Ferse frei gebornem Volk / In den gebognen Nacken setzt, / Das ihm Tribut und Steu’r bezahlt, / Nicht für den Schutz, nein, für die Luft.“33 (W I 114, 23 – 27) Zwar wird hier primär Kritik geübt an Machthabern, die sich lediglich für die „Luft“ von der Bevölkerung bezahlen lassen. Gleichzeitig wird aber auch die grundsätzliche Freiheit aller Menschen34 und die damit verbun32 Vgl. W I 182, 130. 33 Der Begriff des „Tyrannen“ wird in den Seasons im Hinblick auf das „Goldene Zeitalter“ ebenfalls verwandt, um schlechte Herrscher zu typisieren. Der gute Souverän (hier ist die Herrschaft jedes Menschen über die Erde gemeint) wird von Brockes hingegen als „Regierer“ (im Original „Lord“) bezeichnet: „Des Menschen Speis’, als er annoch der sanften Unschuld sich ergeben, / Und lange güld’ne Jahre zählte, wie seine Kost annoch kein Blut, / Wie ihm die wilde Art zu leben noch unbekannt, auch Tod und Wut, / Raub, Morden, Trunkenheit und Unglück, und was sonst unsern Stand vergällt, / Wie er noch ein Regierer war; nicht aber ein Tyrann der Welt.“ (BrTh33, 261 – 266.) Vgl. Kap. 7.2. 34 Gerhard Sauder weist hier zusätzlich auf den Neostoizismus als eine mögliche Einflussquelle hin: „Im Vertrauen auf die Vernunft, an der alle Menschen Anteil haben, wagt die deutsche Rezeption der jüngeren Stoa vorsichtig darauf hinzuweisen, daß Standes- oder Staatszugehörigkeit keine Grenzen sind, die ein natürliches Gesetz vorschreibt […].“ (Sauder: Empfindsamkeit, S. 102 f.)
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dene freiwillige Entscheidung, sich regieren zu lassen, betont – und auch der „Schutz“ nimmt eine zentrale Funktion im geschilderten Regierungskonzept ein, obgleich dieser in der Kritik des Grablieds von den Machthabern nicht erfüllt wird. In seinen Briefen schließlich fasst Kleist diese Schutzfunktion in seinem Bild von Friedrich II. zusammen, wenn er am 17. 9. 1756 über den König an Gleim schreibt: „Bei seinen großen und unendlich vielen Geschäften ist er niemals mürrisch; er spricht mit Jedem und fertigt Jeden leutselig ab und gehet mit seinen Soldaten um wie mit Kindern.“ (W II 338) Hier illustriert Kleist die Aufgaben des Königs in einem Bild des Herrschers als Vater seines Volks. Eine zweite zentrale Funktion aller Herrschaftsausübung lässt Kleist zwar nachgeordnet, aber dennoch nicht unerwähnt: Regierungen sollen immer auch das Wohl ihrer Völker mehren – was nicht zuletzt in materieller Hinsicht gemeint ist. „O, mehrt Derjenigen Heil, die Eure Fittiche suchen“ (91) heißt es, sowie „Laßt güldne Wogen im Meer, fürs Land, durch Schifffahrt sich thürmen“ (93). Auf einen Wohlstand, der auch und gerade in einer Verbesserung der landwirtschaftlichen Erträge liegen könnte, wird zudem durch das mit biblischen Motiven spielende „verwandelt die Schwerter in Sicheln“ (92) angespielt – nicht in Kriege, deren katastrophale Folgen Kleist zuvor erst geschildert hatte (und die er symbolisch gegen die neostoizistisch bzw. affekttheoretisch inspirierte Preisung von Beständigkeit oder Landlebenidyllen ausspielt), sollen sich die Machthaber verstricken, sondern in friedlicher Art und Weise das Wohl der sich ihnen anvertrauenden (s. 87) Menschen mehren.35 „Vielleicht was baares noch, ist wahre Herrschafts=Kunst, / Die hebt uns aus dem Staub, und zwingt des Schicksals Gunst.“36, heißt es in Hallers Mann nach der Welt über die optimale Regierung. „Erhebt die Weisheit im Kittel und trocknet die Zähren der Tugend!“ (94) klingt denn auch der letzte Vers der Passagen, in denen Kleist sein politisches Konzept erläutert, das hier noch einmal kurz zusammengefasst werden soll: Im Frühling wie in anderen Texten sieht Kleist das Verhältnis zwischen Herrscher und Beherrschten als ein auf gegenseitigem Vertrauen basierendes Verhältnis an, dem eine ,Austauschvereinbarung‘ zugrunde liegt – die Bevölkerung gibt freiwillig 35 Ganz ähnlich erbittet Gleim am 7. 12. 1756 von Kleist Ideen für ein Gedicht „handelnd von den Pflichten der Könige, daß nicht die die größesten wären, die das menschliche Geschlecht verringerten und verwüsteten, sondern die, so es vermehrten und glücklich machten etc.“ (W III 167.) 36 Vgl. Haller: Gedichte (1753), S. 126. Das genannte Gedicht ist in HA nicht enthalten.
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einen Teil ihrer Autonomie an die Regierenden ab, um neben Schutz und materieller Sicherheit vor allem ein beständig-glückseliges wie tugendhaftes Leben in einem ebensolchen Staat garantiert zu bekommen. Der Begriff der „Tugend“ in Kleists Texten insgesamt sowie das genaue Verhältnis von Tugend und Glück soll im folgenden Exkurs deutlicher entfaltet werden.
4.2 Exkurs: ,Tugend‘ in Kleists Werk Wenn die geschilderten Ausführungen Kleists am Ende vor allem darauf hinauslaufen, die „Tränen der Tugend“ zu trocknen, bildet die „Tugend“ neben der „Glückseligkeit“ einen der zentralen Begriffe des Kleist’schen Nachdenkens über gutes (Regierungs-) Handeln. Im Geburtslied verknüpft Kleist das Herrscherlob explizit mit dem Selbstzweck eines moralerfüllten Lebens – in einem guten Staat lohnt es sich demnach, ein rechtschaffenes Leben zu führen: „Auch Tugend ist / Noch nicht verschwunden aus der Welt, / Und Friedrich lebt, der sie belohnt, / Und sie ist selbst ihr reicher Lohn.“ (W I 123, 77 – 80) Im Geburtslied wird es sogar als anthropologische Grundkonstante definiert, für ein tugendhaftes Leben mit dem Gefühl höchster Glückseligkeit belohnt37 zu werden: Wirkt Freud’, und Freude nur ist Glück. Fühl Tugenden, so fühlst du Glück! (W I 123, 83 f.)
Diesem Gedanken sind wir in Kleists Collectaneen bereits im Zusammenhang mit einem bescheidenen Leben auf dem Land sowie dem von Kleist angefertigten Auszug aus Horaz’ 9. Ode begegnet. Dass durch tugendhaftes Handeln persönliches Glück empfunden werden könne, bildet eine Überlegung, die sich im Kontext der Frühaufklärung oft findet38 – hier 37 Eine solche anthropozentrische Emanzipation des Glücks von der Tugend tritt im Kontext der deutschsprachigen philosophischen Frühaufklärung erstmals mit Thomasius’ Denken auf, während die Glückseligkeit etwa bei Leibniz noch dem Glück der Menschheit und der Ehre Gottes zugleich zu dienen hatte. Vgl. Schneiders in Thomasius: Einleitung, S. VIII–X, sowie Schneiders: Leibniz, S. 173; allgemeiner zum emanzipativ-säkularisierenden Gehalt der frühaufklärerischen „Glücksphilosophie“ vgl. Kemper FA 82. 38 Zur „progressiven Selbstperfektionierung als Glückseligkeit“, bei der auch „ganz traditionell Tugendtaten als Wegbereiter zur Glückseligkeit anempfohlen“ werden, vgl. Zwierlein: Glück, S. 92 – 99, hier S. 98.
4.2 Exkurs: ,Tugend‘ in Kleists Werk
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spielt nicht zuletzt die durch Shaftesbury vermittelte Moral Sense-Theorie eine große Rolle.39 Im Geburtslied stellt Kleist diese Überlegung ganz ohne staatstheoretischen Bezug40 dar, wobei Glück außerdem mit dem Begriff der „Freude“41 gleichgesetzt wird. Ähnlich findet er sich in Popes Essay On Man, den Kleist wie die Seasons in der Übersetzung Brockes’ rezipierte: Nimm diese Wahrheit denn in acht (die auch für uns genug zu wissen:) Daß wir, für unser wahres Glück, nur bloß die Tugend halten müssen. 42
Das Gefühl des Vergnügens erlangt im sechsten der Kleist’schen Gedanken über verschiedene Vorwürfe 43, wer sich tugendhaft verhält: „Es ist unmöglich, daß ein Mensch von gutem Charakter nicht sollte vergnügter sein als ein anderer von einem schlechten Charakter.“ (W I 321) Vergnügen ist also an ein tugendhaftes Leben gekoppelt.44 Wie das Leben in einem gut regierten Staat kann auch die individuelle tugendhafte Lebensführung 39 Vgl. Sauder: Empfindsamkeit, S. 73, 75, sowie Kemper FA 98. Im empfundenen Glück als Konsequenz tugendhaften Handelns lassen sich außerdem Parallelen zur zeitgenössischen Metaphysik Wolffs finden – vgl. neben Kemper FA 82 Werner Schneiders, der schreibt, dass diese wie die Ansätze Thomasius’ einer praktischen Philosophie zur Grundlage dienen sollen, „da Glück auf Tugend und Tugend auf Erkenntnis beruht […].“ (Schneiders: Leibniz, S. 178.) Dass dieser Gedanke – und damit abermals Thomasius’ Denken – im 18. Jahrhundert sehr stark verbreitet war, zeigt auch der kursorische Blick auf die Kapitel einer der meistrezipierten Moralphilosophien der Aufklärung, Christian Fürchtegott Gellerts Moralische Vorlesungen. Schon die fünfte Vorlesung der ersten Abteilung des ersten Bands handelt davon, „[I]n wie fern die Tugend der Weg zur Glückseligkeit sey, und worinnen das Wesen der Tugend bestehe“ (C. F. Gellerts Moralische Vorlesungen. Erster Band, nach des Verfassers Tode hg. v. Johann Adolf Schlegeln u. Gottlieb Leberecht Heyern. Leipzig 1770, S. 109 – 130). 40 Dass im Umkehrschluss Glück ohne Tugend moralisch verwerflich ist, wird im 3. Stück des Neuen Auffsehers (am Beispiel der „Wollust“) vorgeführt: Vgl. W I 307. 41 Vgl. zum Begriff der „Freude“ in der Aufklärung Martus: Hagedorn, S. 51 – 89, bes. S. 51 – 60. 42 BrPope 117, 299 f. Die englische Vorlage lautet hier: „Know then this truth (enough for man to know) / VIRTUE alone is Happiness below […].“ (Ebd., S. 116, 299 f.) Vgl. zu Brockes’/ Popes Einflüssen auf Kleist W I 149 – 151. 43 Auch wenn uns diese nur aus der Ramler’schen Ausgabe von Kleists Werken überliefert sind: Vgl. W I 320, Anm. 102. 44 Hier zeigt sich eine ironischere Haltung Kleists in seinen Briefen. Am 28. 2. 1752 schreibt er an Gleim in Anspielung auf ein Zerwürfnis mit dem ebenfalls im Regiment des Prinzen Heinrich dienenden Offizier Colongue: „Wie glücklich ist man doch, wenn [man] tugendhaft ist! Was vermeidet man nicht vor schrecklichen chagrin! Ich sehe dieses aus seinem Exempel. Ich will nun ein rechter bigot in der Tugend werden und meinen größten Favoritleidenschaften absagen.“ (W II 207.)
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4 Tugend und Laster: Moralphilosophische Anspielungen
glücklich machen.45 Auch in den Gedanken 35 und 36 wird ausgeführt, dass „Tugend […] allein uns glücklich“ und „angenehmer und leutseliger […] im Umgange“ macht.46 (vgl. W I 321) Selbst der Umgang mit tugendhaften Freunden „ist uns ein wahrer Trost und Labsal des Lebens und wird uns ohne Wein47 und ohne Spiel mit Freuden überhäufen“, heißt es im 6. Stück des Neuen Auffsehers. 48 (W I 314) Außerdem befördere Tugend49 die Harmonie in der Welt und leite die Menschen an, sich glücklich in ihr Schicksal zu fügen, anstatt ,unstoizistisch‘ über den „Zufällen des Lebens“ zu verzweifeln.50
45 Hierzu noch einmal Gerhard Sauder im Kontext des Moral Sense-Begriffs: „Wird Tugend dergestalt als ein unabhängiges, unveränderliches und ewiges Gut verstanden, ist sie nur ihrer inneren Schönheit wegen anzustreben – ohne Erwartung künftiger Belohnung oder Bestrafung. Einzige Belohnung tugendhaften Handelns soll die unmittelbare Befriedigung sein: Diese garantiert die einzige ursprüngliche Glückseligkeit des Menschen.“ (Sauder: Empfindsamkeit, S. 75); vgl. zur Verortung der glücklichmachenden Tugend im Pietismus in Verknüpfung mit Pope Kemper AP 49. 46 Vgl. auch den bereits erwähnten Zusammenhang von Glück, Tugend und Gemütsruhe bei Thomasius: „Die schädlichen Affekte der Narren werden nicht ausgeschaltet, sondern mit Hilfe der Aussicht auf Glückseligkeit gedämpft und – in modifizierter Form – schließlich befriedigt. Die befriedigte äußerliche Glückseligkeit wirkt zurück auf die innerliche: der in seinen Aspirationen befriedigte Mensch erlangt über diesen von innen nach außen und wieder zurück nach innen führenden Weg seine Gemütsruhe.“ (Grunert: Objektivität, S. 364.) 47 Zu Kleists flexiblen Positionierungen gegenüber der anakreontischen Stilrichtung siehe Anm. 67 in Kap. 4.2. 48 Vgl. ähnlich Hirzel im gemeinsamen Brief mit Kleist am 2. 11. 1746 an Samuel Gotthold Lange: „Ihre Klugheit wird hierbei das Meiste zu thun haben, mich vor allzu großer Eigenliebe zu verwahren, ohne dadurch mich des unschuldigen Vergnügens zu berauben, womit mich Ihre Liebe überschüttet. Verringern Sie ja diese nicht, sonst berauben Sie mich des kräftigsten Antriebs zur Tugend, da ich dieses Vergnügen vor eine Belohnung der Tugend ansehe.“ (W II 57.) 49 In Bezug auf die „Unzufriedenheit der Menschen“ betont Kemper noch einmal, dass bei Kleist gerade die Selbstkontrolle neben der Tugend entscheidend zur Glückserlangung sei. Vgl. Kemper FA 163. 50 „Ein Tugendhafter kann durch nichts erschüttert werden; Alles, was außer ihm ist, hat keine Macht über ihn. Will das Glück, daß er herrschen soll, wird er sich dieses Zufalls bedienen, wie er muß; soll er dienen, wird er gleich groß und beim Hirtenstabe ebenso glücklich wie beim Zepter sein. Nur Bösewichter sind unglücklich; nur Die verzweifeln bei widrigen Zufällen des Lebens.“ (W II 321.) Diese Ansichten stehen in Gegensatz zu Mitteilungen in Briefen Kleists, wo er sich in Bezug auf einen neostoizistisch inspirierten Schicksalglauben kritisch äußert. Vgl. W II 387.
4.2 Exkurs: ,Tugend‘ in Kleists Werk
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Was genau aber versteht Kleist unter „Tugend“? In seinem Geburtslied stellt er im Kontext der bereits zitierten Verse einen Katalog mit Beispielen auf: Mitleiden, Großmuth, Dankbarkeit, Und Menschenlieb’ und Edelmuth […] Fühl Tugenden, so fühlst du Glück! (W I 123, 81 f., 84)
Eine im sechsten Gedanken zusammengestellte Definition, was ein ,gutes Gemüth‘ ausmache, ergibt eine ähnliche Zusammenstellung.51 Vergleicht man die beiden Sammlungen, werden „Gutthätigkeit“ und „Freundschaft“ jeweils einmal im sechsten Gedanken genannt52, während „Liebe“ als „Menschenliebe“ auch im Geburtslied erwähnt wird53, „Dankbarkeit“ und „Mitleiden“ an beiden Stellen von Kleist als Tugenden genannt werden. Außerdem taucht die „Großmuth“ als „Edelmuth“ (81 f./s. o.) doppelt auf. Diese beiden Eigenschaften werden unabhängig von Kleists omnipräsenter ,Austauschlogik‘ ähnlich definiert, wenn selbst der Adelung die „Großmut“ als Unterart des „Edelmuts“ fasst. Dabei wird Großmut, ähnlich den Tugendausführungen Kleists in den Gedanken, in starkem Maße als Ergeben- bzw. Erhabenheit dem Schicksal gegenüber beschrieben.54 Mit fünf Erwähnungen gehört „Großmuth“ bei Kleist zu den am häufigsten verzeichneten Einträgen in seinen Collectaneen.55 Außerdem spielen dort zwei Charaktereigenschaften eine zentrale Rolle, die in den zitierten Tugendkatalogen Kleists nicht auftauchen: Hier
51 „Es ist unmöglich, daß ein Mensch von gutem Charakter nicht sollte vergnügter sein als ein anderer von einem schlechten Charakter. Freundschaft, Liebe und Gutthätigkeit, Mitleiden, Dankbarkeit, Großmuth, die ein gutes Gemüth wechselweise fühlt, sind viel zu angenehme Empfindungen, als daß sie es traurig lassen sollten.“ (W I 321.) 52 Vgl. ebd. 53 Vgl. W I 321/123, 82. 54 Vgl. Johann Christoph Adelung: Grammatisch-kritisches Wörterbuch der hochdeutschen Mundart. Bd. 1. A–E. Wien 1811, S. 1637 f.; sowie: „Die Gelassenheit wird zur […] Großmuth, wenn wir die Übel des Lebens um des höhern Gutes der Seele willen freywillig zu übernehmen berufen werden […] Sein Unglück großmüthig ertragen.“ (Ebd., Bd. 2, F–L, S. 818.) URL: http://lexika. digitale-sammlungen.de/adelung/online/angebot [03. 03. 2016] 55 Neben Montaigne (vgl. CO 166, Sp. 1) zitiert Kleist dabei aus einer Fabel: vgl. CO 166, 1 f., außerdem die beiden weiteren Einträge auf CO 148, 1.
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4 Tugend und Laster: Moralphilosophische Anspielungen
bestimmt Kleist „Zufriedenheit mit dem eigenen Glück“56 als weitere zentrale Tugend, was angesichts des Umstands, dass auch das tugendhafte Leben glücklich macht, wieder die enge Bezugsdichte und das „hohe […] Maß an kompositioneller Verknüpfung in Aufbau und Motivgestaltung“57 des Kleist’schen Schreibens wie Denkens verdeutlicht. Nach den „Großmuts“-Definitionen des Adelung sowie der Gedanken kann indes die zentrale Stellung der Idee einer „Zufriedenheit mit dem Glück“ ohnehin nicht mehr stark überraschen. Auch waren wir der „Glückseligkeit“ bereits im Frühling begegnet. „Zufriedenheit“ (mit seinem Glück) wird unter anderem in Kleists Collectaneen mit der 29. Ode des dritten Buchs Horaz’ erklärt: Fortuna saevo leta negotio et Ludum insolentem ludere pertinax Transmutat incertos honores, Nunc mihi nun alii benigna. Laudo manentum: si celeres quatit Pinnas, resigno quae dedit et mea Virtute me involvo, probamque Pauperiem sine dote quaero. Non est meum, si mugiat Africis Malus procellis, ad miseras preces Decurrere, et votis pacisci, Ne Cypriae Tyriaeque merces Addant avaro divitias mari: Tunc me biremis praesidio scaphae Tutum per Aegaeos tumultus Aura feret, geminusque Pollux.58
56 CO 145, 2. Vgl. zur zentralen mentalitätsgeschichtlichen Stellung dieser Idee Sauder: Empfindsamkeit, S. 129, zum Zusammenhang von „Zufriedenheit“ und Abwehr starker Affekte (s. u.) ebd., S. 130. 57 Kemper FA 168. 58 Horaz: Werke I, S. 174, V. 49 – 64. „Fortuna freut des grausamen Handelns sich / Und nimmer rastend spielt sie ihr höhnisch Spiel: / Heut mir geneigt, dem andern morgen, / Wechselt sie stets mit den eitlen Ehren. // Wohl, wenn sie treu bleibt: hebt sie die Fittiche / zur Flucht, entsag’ ich ihren Geschenken gern. / Ich hülle mich in meinen Wert und / Wähl’ ohne Mitgift die brave Armut. // Ein andrer mag wohl, wenn von des Südens Wut / Erkracht der Mastbaum, greifen zu niedrem Flehn, / Mag sich erhandeln durch Gelübde, / Daß ihm die Tyrer, die Cyprer Fracht nicht / Mit neuem Reichtum fülle die gier’ge See / Ich nimmermehr: im Schoße des kleinsten Kahns / Trägt sicher mich durch Meeressturm ein / Günstiger Wind und der Zwilling Pollux.“ (Ebd., S. 175, V. 49 – 64.)
4.2 Exkurs: ,Tugend‘ in Kleists Werk
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„Fortuna“ wird hier als grausam wechselmütiger Charakter beschrieben, dem man sich besser nicht hingeben und stattdessen seinen Stolz bewahren sollte.59 Schon bei Horaz werden, wie oft in Kleists Werk, die Eigenschaften des Eifers und Hohns mit einem wechselhaften Charakter60 verbunden und moralisch abgewertet. Der Tendenz der bereits zitierten „Glücks“-Definitionen Horaz’ und Crébillons aus Kleists Collectaneen folgend, wird dazu geraten, seine Begehren einzuschränken und lieber ein armes, aber in seinen Werten beständiges Leben zu führen.61 – Als letzten der in Kleists Werk erwähnten ,Wege zur Glückseligkeit‘ soll auf die Idee einer harmonischen Vermittlung von Vernunft und Herz62 eingegangen werden, die in Kleists Texten neben der starken Betonung der Tugend steht. Kleists Ideen zeigen, wie sehr seine Texte und die ihnen zugrunde liegenden moralphilosophischen wie anthropologischen Grundannahmen „ein interessantes Übergangsphänomen zwischen Frühaufklärung und Empfindsamkeit“ bilden.63 Die Haltung einer Vermittlung von Vernunft und Sinnlichkeit zeichnet sich dabei etwa im folgenden Schreiben Kleists an Gessner vom 16. 5. 1753 ab: Der Witz und die Autorschaft ist mir, seit ich einige nichtswürdige Autors kenne, ganz verächtlich. Wie viel ist ein ehrliches Herz mehr werth als Alles dieses? Wie unendlich hoch schätze ich Sie diesentwegen! Ich werde Sie immer aufs Zärtlichste lieben, wenn Sie auch niemals mehr Autor werden sollten, als Sie sind. (W II 234 f.)
Auch in Kleists Collectaneen gibt es lediglich einen einzigen Eintrag zum „Verstand“64 ; er schreibt auch am 17. 9. 1756 über sich selbst an Gleim, dass er selber kaum Witz, aber ein gutes Herz habe.65 59 Wie sehr Kleist dieses Gefühl aus dem beruflichen Armeealltag kannte, zeigt ein Brief an Gleim vom 20. 3. 1757: „Was soll man sich den [sic!] aus der Gunst und Ungunst der großen Herren machen!“ (W II 393), schreibt Kleist angesichts der manchmal als willkürlich empfundenen Zustände im preußischen Heer. 60 Vgl. den engen Bezug zwischen Beständigkeit und Glück schon bei Wolff und Gottsched in: Zwierlein: Glück, S. 86. 61 Vgl. auch die Selbstverteidigung Catilinas gegenüber Charon im Neuen Auffseher: „Allein […] hinderte nicht, daß ich nicht Kälte und Hitze, Hunger und Durst und alles Elend, trotz Jemandem, ertragen konnte, sobald es nöthig war.“ (W I 307.) 62 Vgl. Sauder: Empfindsamkeit, S. 125 – 132, spezieller im Kontext von Thomasius: Kemper FA 96 – 100. 63 Kemper FA 166. 64 Vgl. CO 486, 2. 65 „Sie wissen ohnedem Alle, daß ich nicht viel Witz habe […]. Daß ich ein gutes Herz habe, das weiß ich und Sie […].“ (W II 339.)
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4 Tugend und Laster: Moralphilosophische Anspielungen
Im Gegensatz zu den obigen sensualistischen Äußerungen Kleists wird im zehnten der Gedanken dann dann jedoch der Verstand dem Herz vorgeordnet, auch wenn hier ebenfalls beide Seiten des Menschen korrespondieren: „Je mehr Verstand Jemand hat, je besser wird sein Herz sein. Was ist ein guter Gemüthscharakter anders als gute Begriffe von Schönheit, Tugend, Glückseligkeit, von dem, was edel und groß ist und die Harmonien der Welt befördert? Uebel gesinnt sein, heißt übel denken.“66 (W I 321 f.) Ein „gute[r] Gemüthscharakter“ ist hier also nur über gute „Begriffe“ zu erhalten. Die nächsten Verse aus dem anakreontisch inspirierten Lied An Damon wiederum scheinen diesem Rationalismus zu widersprechen und stehen zumindest einem Vernunfts-Rigorismus kritisch gegenüber: Doch die kluge Miene zeigt, Wenn Dein blasser Mund gleich schweigt, Daß die Weisheit, die Dich quälet, Dich für Sinnlichkeiten stählet. Weiser Damon, dessen Haupt Lorbeer um und um belaubt, Muß die Weisheit immer sitzen Und das Haupt voll Unmuth stützen? (W I 71, 9 – 17)
Die „Weisheit“ quält hier lediglich, dient aber zumindest dazu, den Angesprochenen für „Sinnlichkeiten“ zu stählen.67 Auch wenn Kleist sich also 66 Vgl. hierzu auch die Anleihen bei der Philosophie Wolffs, welcher dem Menschen insgesamt Vernunft konzedierte. Wilhelm Schmidt-Biggemann: Praktische Philosophie als Provokation. Christian Wolffs Philosophie in der Ideenpolitik der Frühaufklärung. In: Aufklärung 21 (2009), S. 147 – 160, bes. S. 157. 67 Der Text liegt allerdings nur auf Überlieferungsbasis des Abdrucks in den Neuen Beyträgen zum Vergnügen des Verstandes und Witzes vor. Vgl. W I 71, Anm. Nr. 20. Offensichtlich wird am Zitat jedoch trotzdem vor allem eines: wie sicher Kleist im Umgang mit den Gattungskonventionen ist und wie er mit ihnen spielen kann – die oben geschilderte Weisheitsabwehr ist Ausdruck einer Anpassung an das anakreontische Literaturprogramm und keiner tatsächlichen völligen Priorisierung von Sinnlichkeit und Herz, ohne jegliches Ausschließen der Vernunft. Vgl. Kleist flexible Positionierung gegenüber anakreontischen Gattungskonventionen am 12. 9. 1745 an Gleim: „Gewiß denken Sie allemal bei meinen Liedern, daß sie außer der Versart nicht anakreontisch sind, weil Anakreon sich niemals über die Sprödigkeit seines Mädchens beschwert. Allein mein Vorsatz ist eben auch nicht, in diesem Geschmack zu schreiben; ich bediene mich nur der kurzen Versart, weil sie mir gefällt.“ (W II 15.) Zehn Jahre später schreibt er am 24. 9. 1755 selbstkritisch an Gleim: „Das Anakreontische ist nicht mein genus; das ist nur Ihnen eigenthümlich.“ (W II 299.) Vgl. zu letztem Zitat bereits Kleists
4.3 ,Laster‘ im Frühling und in anderen Werken Kleists (V. 155 – 159)
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unterschiedlich zum genauen Verhältnis von Kopf und Herz äußert: ein Zusammendenken beider findet sich immer wieder bei ihm, ebenfalls in privaten Äußerungen Kleists, etwa wenn er am 6. 6. 1751 an Gleim über den gemeinsamen Freund Uz schreibt: „Er ist der unglücklichste unter unsrer ganzen Bande von Freunden, weil er Ihren Umgang am Wenigsten hat. Wie bedaure ich ihn, den armen, den redlichen, den großen Kopf, das große Herz!“ (W II 198) Und über ein ihm zugeschicktes Bildnis Gleims schreibt er an seinen Freund am 12. 1. 1751: „Herr Hempel hat Sie ungemein gut getroffen und ziemlich gemalt. Man sieht aus den Augen des Bildes, daß das Urbild ein gutes Herz und viel Verstand haben müsse.“ (W II 191) Für einen guten Charakter war also die Kombination eines guten Herzens und Verstandes maßgeblich – und sie wird sogar an den so zentralen Begriff der Tugend bei Kleist zurückgebunden. Dies ist nicht zuletzt auch über den Kontext der naturrechtlichen Pflichtenlehre zu erklären.68 Von diesem hat sich zwar in Kleists Schreiben die Glückseligkeit emanzipiert (ebenso wie Verstand nicht mehr ohne „das Herz“ zu denken ist), die verschiedenen Tugenden wie Zufriedenheit mit seinem Glück und Großmut spielen jedoch in Kleists Texten nach wie vor eine große Rolle.
4.3 ,Laster‘ im Frühling und in anderen Werken Kleists (V. 155 – 159) Ähnlich dem ersten wird auch der zweite Abschnitt des Frühlings, der im vorliegenden Kapitel analysiert werden soll, mit einem Ausruf eingeleitet – nun geht es allerdings um das „Volk“ im Singular, welches Kleist als „dreimal selig“ zunächst mit christlicher Konnotation als glückliches Volk überlieferten Erstling Imitation d’Anacréon, in dem – für die Gattung eher ungewöhnlich – das lyrische Ich seine Heiterkeit ausgerechnet aus den Tränen seiner Phillis zieht (W I 21, 11 – 15) sowie den anakreontischen Versuch Vorbereitung zum Treffen, in dem das lyrische Ich nur küssen, lachen und tändeln kann, weil der eigene Tod bevorsteht (W I 93). 68 Friedrich Vollhardt schreibt über die auch bei Kleist erwähnte Selbstliebe: „Von den frühaufklärerischen Wochenschriften bis zu den spätesten Zeugnissen der Gattung nach der Jahrhundertmitte waren sich die Autoren einig, daß die natürliche und daher prinzipiell zu bejahende Selbstliebe, die kein singulärer Affekt ist, zum Ursprung aller zerstörerischen Leidenschaften werden kann, sobald die pflichtsetzende Vernunft die Kontrolle über sie verliert; also ist die Herstellung eines solchen Ausgleichs zu fördern.“ (Vollhardt: Selbstliebe, S. 246.) Vgl. zu den Leidenschaften Kap. 4.5.
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4 Tugend und Laster: Moralphilosophische Anspielungen
einführt (vgl. 155). Überlagert wird diese Glückseligkeitskonzeption von mehreren Elementen des glücklich machenden locus amoenus, wenn dem Volk vor allem in „einsamen Gründen“ die Tage „[w]ie sanfte Weste“ verfliegen (155 f.). Ähnlich der Verwendung einer negativen Kontrastfolie im laus-ruris-Kontext verweist der Text nun im Gegensatz zum seligen Volk vor allem auf ruhmsüchtige Menschen, deren Etikettierung an die bei Kleist zuvor beschriebenen Eigenschaften schlechter Machthaber erinnert (vgl. Kap. 4.1): […] Laß Andre, dem Pöbel, der Dächer Und Bäum’ ersteiget, zur Schau, in Siegeswägen sich brüsten, Von Elephanten gezogen; laß sie sich mit Heeren von Schiffen Untreue Wellen bedecken und Japan in Westen versetzen! (156 – 159)
Interessant ist hier zunächst die Entgegensetzung des seligen „Volks“ mit den moralisch unter ihm stehenden Herrschsüchtigen, die hier „in Siegeswägen sich brüsten“. Konzepte des „Vernunftadels“ und der einfachen „Weisen auf dem Lande“ klingen an. In den zitierten dreieinhalb Versen nutzt Kleist wieder einmal die Zäsur des Hexameters, um inhaltliche Gegensätze im gleichen Vers auch metrisch zu kontrastieren: die erste Hälfte bildete die Imagination des glücklichen Volks, im zweiten Teil geht es um die „Anderen“ sowie den „Pöbel“, der diese für oberflächliche Eigenschaften bewundert. Die „Anderen“ werden in dreifacher Hinsicht aufgrund ihrer Ruhmsucht kritisiert: Sie brüsten sich in Siegeswägen „zur Schau“, bedecken mit ihren Schiffen „untreue Wellen“ und „versetzen Japan im Westen“. Das Emporsteigen ist dabei ein beliebter Topos bei Kleist, um verwerfliche menschliche Eigenschaften zu verbildlichen – hier bewundert der „Pöbel“, auf Dächer und Bäume kletternd, das falsche Vorbild der „Anderen“.69 Ebenso sind die „untreuen Wellen“ hier gerade als negative Metapher im Kontext von Kleists Kriegs- und Katastrophenmetaphorik 69 Interessant ist hier ein Blick auf Kleists An den König, wo das hoch Verortete mit Kritik am Herrschenden verbunden wird: der Versuch, ein Lob des Herrschers mit dessen Eigenschaft „hoch fliegender“ Tapferkeit (W I 47 f., 2 f., 7) zu plausibilisieren, bleibt zumindest editionsgeschichtlich Fragment, da es laut Ramler „seines großen Vorwurfs nicht würdig war“ (ebd., Anm. zu Text Nr. 9). Kleist konnte seine eigenen moralphilosophischen Maximen hier wohl nicht zum poetologischen Zweck des Lobes Friedrichs II. ablegen, wie es einer (im Übrigen seiner einzigen!) Ode an den Monarchen angemessen gewesen wäre. Sein kritischer Impetus gegenüber dem Hof und Machthabern im Allgemeinen wird auch deutlich im Sinngedicht Ein Gemälde, W I 106.
4.3 ,Laster‘ im Frühling und in anderen Werken Kleists (V. 155 – 159)
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nicht überraschend, wo im Frühling doch Elemente des Wechsels durchgehend negativ konnotiert werden (vgl. das folgende Kap. 5). Interessanter ist die abermalige Verbindung des militärischen Helden mit der oberflächlichen Sucht nach Anerkennung im öffentlichen Leben (verdeutlicht durch das „zur Schau“, 157) – auch dies ist jedoch im Hinblick auf den Kleist’schen Werkkontext, zum Beispiel im Kontext der negativen Kontrastfolien von laus-ruris-Imaginationen als fast topisch anzusehen (vgl. Kap. 3). Im Rahmen des obigen Zitats scheint der Verweis auf den exotischen Raum („Elefanten“, „Japan“) bzw. eine Kritik an der Orientierung an fernen Moden („Japan im Westen versetzen“) ungewöhnlich. Diese Argumente bilden jedoch nur eine neue Variante Kleists, dem Lob der lokalen (Land-)Nähe und der damit verbundenen moralischen Bescheidung auf ,naheliegende‘ Lebensmaximen verwerfliche, hochmütige Lebensentwürfe gegenüberzustellen. Konzepte von Beständigkeit und Bescheidenheit, nicht emporsteigenden Ziele und Träume (s. o.) werden also auch hier als erste Maximen guter Lebensführung ausgegeben.70 Die anderen und der „Pöbel“ werden bei Kleist auch über die Syntax charakterisiert: Im Gegensatz zur zuvor klar gegliederten Beschreibung des seligen Volks sind die nachfolgenden Verse mit einem längeren, in sich nochmals verschachtelten Einschub („Laß Andre, dem Pöbel, der Dächer / Und Bäum’ ersteiget, zur Schau […]“, 156 f.) äußerst umständlich formuliert und verdeutlichen so zusätzlich die hier entworfenen, unerreichbaren Lebensziele. Bevor der Frühlings-Text zur Darstellung eines glückseligen Individuums wechselt, lohnt es sich, im Kontext der hier kritisierten Lebensentwürfe einen Blick auf die in Kleists Collectaneen und Gedanken genannten „Laster“ zu werfen. Hier ergibt sich, ähnlich seiner Tugendkonzeption, ein recht einheitliches Bild. Im 13. der Gedanken werden die verwerflichen von den vorbildlichen Eigenschaften zunächst scharf von der Tugend abgegrenzt: Eine gewisse Art Leute, die viel Vernunft haben wollen, die sie nicht haben, und die ihrer heftigen Leidenschaften und ihrer Laster wegen unglücklich sind, schieben die Ursache ihres Unglücks immer auf die Vernunft. Thörichter Selbstbetrug! Macht uns nicht die Tugend glücklich? Und ist tugendhaft handeln und vernünftig handeln nicht einerlei? (W I 322) 70 Vgl. in diesem Kontext auch die bei Brockes negativ konnotierte Unbeständigkeit: „Wie unstät doch der Mensch, wie unvergnügt sein Wille, / Wie sehr vergnügt hingegen und wie stille / Ein Herz, das im Geschöpf an Schöpfer denket, sey; / Fiel ihm, voll Andacht, folgends bey […].“ (Brockes: Vergnügen, Dritte Cantate, S. 98.)
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4 Tugend und Laster: Moralphilosophische Anspielungen
Die bei Kleist zentrale Überlegung, dass Tugend glücklich mache, wurde im vorliegenden Kapitel bereits erläutert. Hier wird sie „Lastern“ und „heftigen Leidenschaften“ (s. Kap. 5.4) entgegengesetzt, die nun laut Kleist „eine gewisse Art Leute“ unglücklich machen. Im Gedicht Die Unzufriedenheit der Menschen. An Herrn Professor Sulzer führt Kleist aus, dass dem Menschen ein andauernd lasterhaftes Leben geradezu körperliche Schmerzen bereiten könne.71 So heißt es hier über einen Hochmütigen: „Bald dünkt er sich selber zu schwach und tadelt die Schöpfung. / Das Feuer haucht Plagen für ihn; ihm blüht auf Auen das Unglück / Und eilt mit Fluthen heran; die Wind’ umwehn ihn mit Schmerzen.“72 (W I 235, 7 – 9) Wenn Kleist dann ähnlich seinem oben dargestellten Tugendkatalog nun einzelne verwerfliche Eigenschaften definiert, erinnert dies stark an Thomasius’ Hauptlaster73 Ehrgeiz, Geldgeiz und Wollust.74 Die Abhängigkeit von dessen Katalog wird vor allem75 offensichtlich im 6. Stück seiner für den projektierten Neuen Auffseher geschriebenen Stücke, wo es gleich einleitend heißt: Es ist ein Glück für das menschliche Geschlecht, daß bei denen unter ihm eingerissenen Lastern die Neigung zur Wollust viel allgemeiner ist als [sic!] 71 Den Umkehrschluss, dass Tugend gesund mache, verortet auch Georg Braungart bei Thomasius. Vgl. Georg Braungart: Sprache und Verhalten. Zur Affektenlehre im Werk von Christian Thomasius. In: Friedrich Vollhardt (Hg.): Christian Thomasius (1655 – 1728). Neue Forschungen im Kontext der Frühaufklärung. Tübingen 1997, S. 365 – 375, bes. S. 369. 72 In einem Brief an Gleim vom 25. 2. 1758 überträgt Kleist den Hochmut nationaltypologisch auf Frankreich, wenn er schreibt: „Der Himmel gebe seinen milden Segen, daß der Hochmuth und die Raserei der närrischsten Nation, die jemals existiert hat, ihren verdienten Lohn empfange!“ (W II 479.) 73 Friedrich Vollhardt macht auf die Verknüpfung dieser zum Naturrecht aufmerksam: „Die Triade bildet den Kern des Naturrechts. Sie gibt der ,Neigung zur Erhaltung unser Selbst‘ wie der geselligen Vervollkommnung des Individuums eine ,Richtschnur‘ […], die zugleich den Zweck der (staatlichen) Gemeinschaftsbildung vorschreibt.“ (Vollhardt: Selbstliebe, S. 237.) 74 Diese bilden die „drei Gegen-Arten“ der vernünftigen Liebe; vgl. exemplarisch den ersten Satz von Thomasius’ Einleitung zum 7. Hauptstück „Gegeneinanderhaltung der vier Haupt-Leidenschafften / Vernünfftiger / Ehr-Geld -und Wohllust-Liebe“ der Ausübung der Sittenlehre: „Wir haben im vorhergehenden gesagt / daß die vernünfftige Liebe ein guter Affect sey / die Wollust aber / Ehrund Geld-Geitz böse Affecten. […] Warumb [sic!] nun eben drey Haupt-Neigungen der unvernünfftigen Liebe seyn / haben wir allbereit kurtz zuvorhero […].“ (Thomasius: Ausübung, S. 158. Vgl. ingesamt ebd., S. 157 – 173; zu den einzelnen Lastern ebd., S. 183 – 302. 75 Vgl. auch Kleists Gedicht Der Vorsatz W I 57, 1/9 – 16.
4.3 ,Laster‘ im Frühling und in anderen Werken Kleists (V. 155 – 159)
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Neigung zum Geld und zum Ehrgeiz, so daß man wol hundert Wollüstige (deren Hauptneigung die Wollust ist) gegen zwanzig Ehrgeizige und gegen einen Geldgeizigen (deren Hauptleidenschaft der Ehr- und Geldgeiz ist) unter ihm antrifft. (W I 312 f.)
Hier gibt es erste Hinweise auf einzelne Laster, die Kleist in seinen Texten erwähnt: Dabei wird der „Ehrgeiz“ meist als „Hochmut“ benannt76 und nimmt die prominenteste Position ein.77 So benennt Kleist an einer Stelle in seinen Notizen „Hochmut“ schlicht als „Laster“ per se (vgl. CO 245, 1). Der „Hochmut“ beinhaltet konsequenterweise mit drei eigenen Einträgen auch die häufigsten Nennungen der in den Collectaneen beschriebenen Laster und wird dabei wiederum vor allem von Horaz prominent definiert. Aus der dritten Ode des ersten Buchs notiert Kleist: „Nil mortalibus ardui est. / Caelum ipsum petimus stultitia, neque / per nostrum patimur scelus / iracunda Iovem ponere fulmina.“78 Schon hier ist also die Verbindung des „Hochmuts“ mit Bildern des nach oben, zu Gott Stürmenden angelegt, was sich bei Kleist ebenfalls sehr häufig finden lässt.79 Ein praktisches Beispiel für Hochmut gibt Kleist zudem im 14. seiner Gedanken: Ich kenne einen Mann, der sich viel zu sein glaubt, aber so wenig ist, daß er Schriften, worin nur etwas gedacht ist, und besonders Poesien, wenn sie auch leicht sind, nicht versteht. Dieser sagte mir einmal, da Jemand von der Poesie sprach, im Vertrauen ins Ohr, daß alle Poeten nicht wüßten, was sie schrieben, und daß alle Diejenigen, die vorgäben, daß sie Poesien verstünden, solches aus Eitelkeit thäten. So geneigt ist man, eher der ganzen Welt den Verstand abzusprechen, als zuzugeben, daß Andere mehr sind wie wir. (W I 322)
Auf geschickte Weise beschreibt Kleist hier ein Tugendproblem (vgl. unten zum Einfluss von Moralisten wie zum Beispiel Bellegarde etc.): nur durch die extreme Eitelkeit eines anderen wäre man gezwungen, hochmütig zu werden; eine andere Rechtfertigung kann es bei ihm nicht geben. Die 76 Dass diese beiden Termini für Kleist bedeutungsgleich sind, belegt auch die Anmerkung im Manuskript der 2. Hymne, bei der „Hochmut“ durch „Ehrgeiz“ überschrieben ist: vgl. W I 129, Anm. Ged. Nr. 85, V. 7. 77 Vgl. auch bei Brockes: „[ARIA:] Künftger Zeiten Kummer / Stört nicht unsern sanften Schlummer; / Ehrgeiz hat uns nie besiegt. / Mit dem unbesorgten Leben, / Das der Schöpfer uns geben, / Sind wir ruhig und vergnügt. Da Capo“ (Brockes: Vergnügen, Dritte Cantate, S. 98); sowie „Das Kind des Hochmuths“ in Der vernuenftige Gottesdienst (ebd., S. 221). 78 Horaz: Werke I, S. 14, V. 37 – 40. „Nichts dünkt Sterblichen allzu hoch: / Auf den Himmel im Wahn stürmen wir frevelnd ein! / Einzig will es nur unsre Schuld, / Wenn der zürnende Gott strafende Blitze zuckt.“ (Ebd., S. 15, V. 37 – 40.) Vgl. CO 167, 2. 79 Vgl. etwa W I 22, 6 – 8.
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4 Tugend und Laster: Moralphilosophische Anspielungen
Verachtung der Laster ist unter anderem an eine zu große Liebe zu materiellen Dingen gekoppelt, was im Horazzitat der Collectaneen bereits angedeutet war und im folgenden Gedanken Kleists ebenfalls beschrieben wird: „Wer verlangt, daß man ihn seines Reichthums wegen verehre, der hat auch Recht zu verlangen, daß man einen Berg verehre, der Gold in sich hat.“ (W I 322) Allerdings wird nicht nur in materieller Hinsicht Eigennützigkeit verurteilt. Bereits der dritte „Hochmut“-Eintrag in Kleists Collectaneen kritisiert mit Horaz’ 28. Ode des ersten Buchs ebenfalls jegliches irdisches Gewinnstreben: „[…] nec quicquam tibi prodest aerias temptasse domos animoque rotundum percurrisse polum morituro.“80 Im 16. Gedanken Kleists wird dann ebenfalls der nur eigennützig denkende Mensch kritisiert und in eine Reihe mit den von anderen Lastern geplagten Zeitgenossen gestellt: Wer sich über Undankbarkeit beschwert, ist ein Taugenichts, der niemals aus Menschlichkeit, sondern aus Eigennutz Andern gedienet hat. Wenn man es für eine Schuldigkeit hält, zur Glückseligkeit der Menschen, so viel man kann, beizutragen, so wird man sich nicht darum bekümmern, was die Gutthaten für eine Wirkung auf der Andern Gemüther in Absicht unser hervorbringen. Ein ehrlicher Mann kann den bloßen Gedanken nicht leiden, daß Jemand gegen ihn undankbar sei. (W I 322)
Eine solche zu starke „Eigenliebe“ bildet auch ein immer wiederkehrendes Thema in den Reflexionen über Freundschaft und (Literatur-)Kritik, die Kleist und Gleim in ihren Briefen austauschen.81 Am 24. 3. 1748 schreibt Kleist an Gleim: 80 Horaz: Werke I, S. 50, V. 4 – 6. „[…] zu keinem Gewinne gereicht dir’s, // Daß du die Räume des Äthers erforscht und im Geiste des Weltalls / Rund durchflogst, da der Tod doch dein Los war.“ (Ebd., S. 51, V. 4 – 6.) Ein Zitat aus einer Schrift des von Seneca beeinflussten religiösen Gelehrten Cartaud de Villate bildet den dritten „Hochmut“-Eintrag: „Tu vois en moi seule & le fer et la flamme, / Et la terre, & la mer, et l’enfer, & les cieux, / Et le septre des rois, & la foudre des dieux.“ (Hier zit. nach Francois Cartaud de la Villate: Essai historique et philosophique sur le gout. Première partie. London 1751, S. 2 f.) Kleist benutzte die Pariser Ausgabe von 1737, vgl. CO 167, 1. 81 Vgl. Kleist an Gleim am 11. 12. 1745: „Mich überführte nachher dieses, daß man oft von Sachen seiner Freunde wider Willen ein allzu gütiges Urtheil fällen kann. Die Eigenliebe verführt uns mit. Man liebt sich in seinen Freunden.“ (W II 20.) Als Prinz Heinrich ihn nach Gleims Fabeln fragt, lautet Kleists Urteil: „Ich sagte, der Verfasser wäre mein Freund, und ich könnte leicht zu vortheilhaft urteilen […].“ (W II 325.) Vgl. außerdem Kleist an Lange in W II 57 sowie zum Wert von gegenseitig geübter Kritik in der Freundschaft Gleim an Kleist in W III 40; zur Kritik an Eigenliebe in Kleists Briefen außerdem: „Verzeihen Sie mir diesen Eclat von Eigenliebe!“ (W II 373.)
4.3 ,Laster‘ im Frühling und in anderen Werken Kleists (V. 155 – 159)
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Ich kann es sonst nicht übers Herz bringen, Ihre Briefe zu zerreißen; ich heb sie alle auf wie meinen größten Schatz; nur die, worin ich zum heiligen und angenehmen Kleist gemacht werde, verursachen mir ohne Figur eine Uebelkeit, und ich muß sie absolut verbrennen. Warum haben Sie mir nicht die ganze Ode des H. Ramler’s von der Freundschaft statt der einen Stelle geschickt? Das hätte mir gewiß mehr Vergnügen verursacht; Sie werden sie doch darum nicht zurückhalten, weil sie vielleicht an Ihnen [sic!] gerichtet ist; ich werde Ihnen solches vor keine Eigenliebe auslegen. (W II 107, Brief Nr. 5882)
Fast aggressiv grenzt sich Kleist von der Eigenliebe ab – selbst wenn man das übliche Maß empfindsamer Freundschaftsrhetorik abzieht. Es gibt jedoch neben dem „Hochmut“ und der „Eigenliebe“, die in Kleists Reflexionen oft miteinander verbunden werden, noch weitere einzelne Laster, die in seinen Texten eine Rolle spielen. In den Collectaneen sind hier der „Neid“83 sowie die „Rache“ zentral, zu der Kleist aus einer Schrift des Jesuiten und religiösen Dichters Jean Baptiste Morvan de Bellegarde (1648 – 1734) zitiert.84 Als „die Sünde“ schlechthin benennt Kleist das alphabetisch letzte Laster: die „Wollust“. Einer der wenigen italienischen Einträge seiner Collectaneen findet sich bei diesem Zitat aus Guarinis Il pastor fido: Se’l peccar è si dolce E’l non peccar si neccessario, o troppo Imperfetta natura Che ripugni alle legge;
82 Unterstreichungen im handschriftlichen Original werden hier kursiv abgedruckt. 83 CO 293, 1. 84 „[…] Il y a la faiblesse à se vanger, cela marque vôtre defaite & la victoire de votre ennemis, au lieu qu’une maniere fort fiere de se vanger; c’est de ne pas faire semblant de vous appercevoir qu’il vous offense, ou que votre courage vous met aus dessus de ses insultes. […] Je vous diray sur cela une belle pensée de Seneque: la vangeance, dit ce philosophe, est une marque de la douleur que l’on restent; & il n’y a que les esprits faibles, qui se laissent gourmander par cette passion: Ultis doloris consersio est, non est magnus animus quem meurvat injuria. Il y a mème je ne seay [sic!] quoy de ridicule & de puerile dans la manière ordinaire de se vanger; parce qu’un homme vous à offensé, dites-vous; vous ne luy parlerez plus: Vous vous déchainez par tout contre luy; & quoy-que vous en filliez de grands éloges il y a huit jours; cet homme n’a plus d’esprit ni de mérite, si l’on vous en croit & toutes les vertus se sont evanoüies ce retour me parut ridicule[…].“ (Jean Baptiste Morvan de Bellegarde: Réflexions sur ce qui peut plaire, ou déplaire dans le commerce du monde. Amsterdam 1691, S. 40 – 42.) Vgl. CO 374, 1.
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4 Tugend und Laster: Moralphilosophische Anspielungen
O troppo dura legge, que la natura offendi!85
Die in Kleists Texten zentrale Frage, wie es möglich sei, im Alltag ein tugendhaftes Leben aufrechtzuerhalten (vgl. auch Kap. 4.5), wird hier aufgegriffen. Im zwölften der Gedanken Kleists wird die Wollust stärker verurteilt: „Wollüstige Menschen haben gemeiniglich nur so viel Verstand, als sie zu ihrer Wollust gebrauchen.“ (W I 322) Kleist spricht den wollüstigen Menschen also nicht jeglichen Verstand ab, sondern sieht das Ganze viel eher als ein ,vermischtes‘ Verhältnis an. Manchmal wird sogar in Bezug auf Laster insgesamt eine flexiblere Position eingenommen: „Verstellung ohne Noth ist ein Laster und eine Niederträchtigkeit. In der Noth, wenn man sich und Andere dadurch erhält oder glücklicher macht, ist sie eine Tugend“, heißt es im 20. der Gedanken. (W I 323) Die „Verstellung“ bildet denn auch das letzte der Laster, die hier aus Kleists Perspektive vorgestellt werden sollen. Auf Kleists Kritik an der Verstellungskunst zu Hof ist bereits eingegangen worden. Auch wenn er sie nicht in seinen Collectaneen nennt, geht er doch an verschiedenen Stellen seines Werks auf sie ein. Kleist stellt die Verstellung dabei in engen Kontext mit den anderen in seinem Werk eingekreisten Untugenden. So schreibt er im Grablied: „Kein Narr, kein Höfling wird dich mehr / Mit dummer Falschheit peinigen, / Und keine Rachsucht sieht auf Dich / Mit scheelen Blicken eines Wolfs.“ (W I 113, 28 – 30) Über die Verstellungskünste der höfischen Gesellschaft schreibt er auch an verschiedenen Stellen der Sehnsucht nach Ruhe, wo es etwa – wenn auch etwas naiv in Bezug auf die „großen Geister“ – heißt: „Ein großer Geist muß niemals Andre loben. / Wer küßt und drückt und lästert, ist verschmitzt; / Wer höhnisch blinkt, der hat sich selbst genützt.“ (W I 40, 100 – 102) Die bei Kleist genannten Laster von Hochmut, Eigenliebe, Neid, Wollust und Verstellung spielen lediglich ex negatione, nämlich durch Abwesenheit, eine Rolle, wenn es Kleist um das optimale Leben des Individuums geht.86 85 CO 400, 1. Hier zit. nach Battista Guarini: Il pastor fido. Glasgow 1763, S. 115. Übersetzung ins Deutsche: „Ist sündigen so süß, nicht sündgen so nothwendig, / Warum erhältst du denn, Natur, so mangelhaft, / Den Trieb in unsrer Brust lebendig / Den das Gesetz als Sünde bestraft?“ (Ders.: Der treue Schäfer. Ein Schäferspiel, nach dem Italiänischen des Baptistan Guarini. Mietau u. Hafenpoth 1773, S. 132.) Vgl. zur „Wollust“ bei Kleist außerdem den französischsprachigen Eintrag auf CO 513, 2 f. (die Herkunft war nicht eindeutig zu klären). 86 Im Hinblick auf einen indes eher anekdotischen Zugang zu „Tugend“ wie „Laster“ im Werk Kleists sind schon aus gattungstypologischer Hinsicht seine
4.4 Das optimale Individuum im Frühling (V. 160 – 165)
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4.4 Das optimale Individuum im Frühling (V. 160 – 165) Im Folgenden sind somit sehr ähnliche Konzeptionen zu den in Kapitel 3.1 erläuterten, im Frühling ausgeführten Gedanken zu einem optimalen Verhältnis von Gesellschaft und Herrschenden zu erkennen: in den Versen 160 – 165 wird dargestellt, was die im Frühling zuvor formulierten Vorstellungen von einem optimalen Zusammenleben in Gesellschaft in Bezug auf ein einzelnes Leben bedeuten können. Hier geht es zunächst um einen Menschen, der in der Lage ist, konkret wie metaphorisch abseits von Lastern und Untugenden ein glückliches Leben zu führen: Der ist ein Liebling des Himmels, den fern von Lastern und Thorheit, Die Ruh’ an Quellen umschlingt. Auf ihn blickt immer die Sonne Von oben lieblich herab, ihm braust kein Unglück in Wogen, Er seufzt nicht eitele Wünsche, ihn macht die Höhe nicht schwindelnd, Die Arbeit würzt ihm die Kost, sein Blut ist leicht wie der Aether, Sein Schlaf verfliegt mit der Dämm’rung, ein Morgenlüftchen verweht ihn.87 (160 – 165)
Explizit scheinen diese Verse („Der ist ein Liebling des Himmels“) eine Anleitung zu geben, was ein erfülltes Dasein auf Erden ausmacht: Dieses befindet sich in jedem Fall abseits unmoralischer Eigenschaften, von „Lastern und Thorheit“ und an einem klassischen Ort individueller Naturempfindsamkeit: den ruhigen Quellen (vgl. 161). Abermals werden hier wie bei den einleitenden „sanften Westen“ (s. o.) Elemente des locus amoenus christlich aufgeladen (s. o. „dreimal selig“; in V. 160 wird hingegen der „Himmel“ eingespielt). Die Ferne der Laster rekurriert gleichzeitig auf die positiv besetzte „Nähe“ im Frühling. So wie sich vorbildliche Menschen durch Beständigkeit in Wesen wie Leben auszeichnen, wird der „Liebling des Himmels“ durch eine Konstanz guter Lebens- und Wetterumstände belohnt: Mild-„lieblich“ scheint auf ihn immer die Sonne, wobei er durch keinerlei Naturkatastrophen gestraft wird („ihm braust kein Unglück in Wogen“, 162; vgl. Kap. 5.3). Bei Albrecht von Haller findet sich ebenfalls eine solche Akzentuierung des „Sanften“ in der Beschreibung eines glücklichen Lebens, was zudem an die politischen Konzeptionen Kleists (s. o.) erinnert: „So sagt sie, was sie fühlt, und tut, wornach sie strebt; / Dann zarte Regung dient den Schönen nicht zum Hohne, / Die aus der Anmut zahlreichen Sinngedichte und Fabeln ebenfalls von Interesse, vgl. etwa Marforius, W I 85. 87 Vgl. mit BrTh 125 f., 1060 – 1078.
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4 Tugend und Laster: Moralphilosophische Anspielungen
fließt und durch die Tugend lebt“ (HA 8, 136 – 138), heißt es in den Alpen im Kontext der Beschreibung einer Liebesszene. Ähnlich dem Auftakt des Frühlings, wo Naturinspiration und Naturlob sich gegenseitig bedingen, stellt Kleist in den oben zitierten Beschreibungen des Frühlings auch seine Überlegungen zu tugendhaftem Verhalten als Austauschverhältnis dar: So wie der vom Himmel Begünstigte etwa ewig von der Sonne beschienen wird, so gibt er ein moralisch einwandfreies Leben an den „Himmel“ zurück: Weder Eitelkeit88 (vgl. 163) noch ebenso schädlicher ambitio ist er erlegen, was wieder in Bildern nach oben gerichteter Bewegung gefasst wird: „[i]hn macht die Höhe nicht schwindelnd.“ (163) Mit der Wetter- und Tugendmetaphorik sind somit mehrere der topischen Motive Kleists vorhanden. Auch ist uns eine positive Konnotation von glücklich und genügsam verrichteter Arbeit bereits im Frühling begegnet (vgl. Kap. 3): „Die Arbeit würzt ihm die Kost“ (164), heißt es nun im nächsten Vers, ähnlich den Alpen Hallers, die den „Reiz in jeder Pflicht“ (vgl. HA 9, 156) betonen und wie der Frühling ein Ausgleichsverhältnis von Vergnügen und Arbeit veranschlagen, das zur Glückseligkeit führen soll: „Die Arbeit füllt den Tag und Ruh besetzt die Nacht“ (HA 6, 74). Haller äußert sich in den Alpen noch dezidierter über tugendhaftes Verhalten im Allgemeinen, welches Mühe erst schön und angenehm mache: „Wer mißt den äußern Glanz scheinbarer Eitelkeiten, / Wann Tugend Müh zur Lust und Armut glücklich macht?“ (HA 4 f., 34 f.) Bei Kleist spielt indes der Ausgleich von „Ruhe“ und „Mühe“ eine größere Rolle, womit im 9. der Gedanken über verschiedene Vorwürfe einmal sogar Kritik an übermäßigem Arbeiten geübt wird: „Niemand lebt, der nicht einmal ruhig zu sein gedenket. Auch Diejenigen, die mit der größten Heftigkeit Tag und Nacht arbeiten, ihr Glück zu machen, haben diesen Vorsatz. Der Tod übereilt sie aber oft.“ (W I 321) Nachdem das glückselige Individuum als abseits der Laster, sanft-affektcalmiert und fleißig charakterisiert wurde, wird abschließend bei Kleist darauf hingewiesen, dass sich der „Liebling des Himmels“ dadurch auszeichne, dass er schon am frühen Morgen gern und leicht den Tag beginne:
88 Vgl. hierzu auch in Kleists Gedanken über verschiedene Vorwürfe: „Leute, die bei der ersten Bekanntschaft, die man mit ihnen macht, all ihr Wissen auskramen, sind gemeiniglich schlechte Gesellschafter. Mit eigenem Witz leiden sie gemeiniglich Mangel, und weil sie den fremden verschwendet haben, sind sie hernach Figuranten in der Gesellschaft.“ (W I 322 f.)
4.4 Das optimale Individuum im Frühling (V. 160 – 165)
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[…] sein Blut ist leicht wie der Aether, Sein Schlaf verfliegt mit der Dämmerung, ein Morgenlüftchen verweht ihn. (164 f.)
Dies gilt bereits in den Seasons als ein Bestandteil optimaler Lebensführung, wenn es in der Brockes’schen Übersetzung über das „Goldene Zeitalter“ heißt: „Der frohe Morgen weckte damals die froh= und frommen Menschen auf, / Nicht schaamroht, in den heilgen Strahlen, den faul= und schwehren Schlaf zu sehen.“89 (BrTh, 267 f.; vgl. Kap. 7.2) Auch hier werden die „frommen“ Menschen in ihrer Tugendhaftigkeit mit dem ersten Sonnenstrahl wach, wobei der Morgen als Tageszeit des Aufbruchs und Übergangs mit dem „Frühling“ als erster Jahreszeit korrespondiert: Ihr leichter Schlummer flohe schnell, als schien die Luft ihn wegzuwehen. Sie richteten sich auf so munter, als selbst die Sonn’ in ihrem Lauf, Bald zu dem Bau der willigen, nicht widerstehnden, weichen Erde, Bald zu dem frohen Dienst der Heerde. (BrTh 33, 269 – 273)
Bei Kleist jedoch ist jedoch mit dem Verweis auf das „leichte Blut“ (164) ein weiteres Bedeutungsfeld eröffnet: das der ,Melancholie‘.90 Er spielt auf eine der zentralen zeitgenössischen Definitionen der Melancholiker an, sie verfügten über „schweres Blut“ (vgl. hierzu ausführlich Kap. 5). Mit der „Dämmerung“ als Tageszeit des Übergangs wird zusätzlich die „Milde“ der Lebensumstände des Glücklichen betont, was durch das (Morgen-)„Lüftchen“ noch zusätzlich mit einem locus-amoenus-Versatzstück belegt wird (165). Denn natürlich ist der „Liebling des Himmels“ frei von Sorgen, nämlich vor allem von wechselnden, heftig-stürmischen Leidenschaften: diese sollen als Affekte ,calmiert‘ werden. In der Realität des Lebens lässt sich die zur Glückseligkeit führende Tugend nämlich nicht immer so leicht einhalten, wie im nächsten Abschnitt, als Hinführung zum 4. Kapitel, ausgeführt wird.
89 In Brockes’ eigenen Texten wird hingegen der glückliche Umstand eines ruhigen Schlafs religiös verknüpft. Vgl. sein Morgen-Gebeth: „O Gott, der du durch deine Macht / Dieß große Rund geschaffen, / Ich habe diese ganze Nacht / So ruhig können schlafen; / Ich bin vergnüget aufgewacht […]“ (Brockes: Vergnügen, S. 82.) 90 Vgl. auch im 2. Stück des Neuen Auffsehers, wo anhand des Beispiels Antiphilus’ ebenfalls Schwermut und Schlaflosigkeit in einen Kontext gestellt werden: „Er überließ sich hierauf einige Monate dermaßen dem Schmerz, daß er zuletzt keine Speise mehr zu genießen vermochte, daß der Schlaf ihn floh […].“ (W I 304.)
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4 Tugend und Laster: Moralphilosophische Anspielungen
4.5 Überleitung: Zwischen Un-Glückseligkeit und Affektcalmierung Die Ausführungen zu Tugend und Laster bilden einen Teil der moralphilosophischen Reflexionen in den Texten Kleists. Das Verhältnis von Tugend und Laster scheint für ihn dadurch gekennzeichnet zu sein, dass ein ,optimales Leben‘ nur schwer zu führen bzw. der Weg zu Tugend und Glückseligkeit nicht einfach einzuhalten ist. Dies bedeutet zum einen einen pessimistischen Blick der Texte Kleists auf die Verwirklichung mancher moralphilosophischer Maximen und steht zum anderen bereits im Zusammenhang der Diskursivierung von Melancholie in seinem Werk (vgl. Kap. 5).91 Wenn etwa im Grablied die Vorzüge eines schnellen Todes gegenüber einem längeren Leben angeführt werden, lautet gleich der erste Grund: „Allein, Du wirst auch nicht mehr sehn, / Daß sich der Tugendhafte quält […]“ (W I 114, 17). Das moralisch einwandfreie Verhalten scheint auch nicht gegen die Verehrung materieller Güter immun zu machen, wenn der Tugendhafte sich nämlich „[…] seiner Blöße schämt und darbt / Und seine Lebenszeit verweint.“ (W I 114, 20 f.) Zweifel, ob die tugendhafte Armut die richtige Wahl des Lebenswegs war, bestehen weiter – ,lohnt‘ es sich immer, ethischen Maximen zu folgen? Vor allem angesichts des Umstands, dass zur gleichen Zeit „in Seid’ und Gold / Der Bösewicht stolziert und lacht […]“, scheint der Schluss des Grablieds folgerichtig: „Wohl Dir, daß Du gestorben bist!“ (W I 114, 41) Um die Ungerechtigkeit der Welt nicht länger ertragen zu müssen, legt das Gedicht seinen Lesern zur Ablehnung der korrumpierten (Hof-)Welt einen sorgenfreieren Umgang mit dem eigenen Tod nahe, um so nicht an der immanenten Ungerechtigkeit der Welt zu leiden. Im konträr zum Grablied aufgebauten Geburtslied heißt es fast noch klarer: „Nicht Wissenschaft, nicht Tugend ist / Ein Bollwerk für der Bosheit Wuth, / Die dich bestürmen wird.“ (W I 121, 4 – 6) Auch der Gelehrtheit wird hier also nicht als Mittel gegen Zweifel angesichts eigener moralischer Lebensführung vertraut, und im Anschluss äußert sich der 91 „Glückseligkeitssemantik bringt die optimistische Grundmentalität der Aufklärung bei der Entstehung des modernen Bürger- und Individualitätsbegriffs auf den Nenner. Demgegenüber scheinen die insbesondere in Literatur, Philosophie, aber auch in allen anderen Semantikbereichen dominant eher später sich radikalisierenden fundamentalen Zweifel, Krisen- und Unlösbarkeitsevokationen die Mentalitätsmatrix des bürgerlichen Individuums lediglich um die spezifische zweite, ,leidende‘ Seite zu ergänzen.“ (Zwierlein: Glück, S. 74.)
4.5 Überleitung: Zwischen Un-Glückseligkeit und Affektcalmierung
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Text dann auch regierungs- bzw. monarchiekritisch: „Verdienst / Beleidiget die Majestät.“ (W I 121, 6 f.92) Über 50 Verse lang beschreibt Kleist im Geburtslied alle Übel, Laster und Sünden auf Erden wie etwa die im laus-ruris-Kontext prominente Verstellung (14 – 20), die Wollust (32 – 34) oder zu starken Zorn (24 f.). Sarkastisch kritisiert der Text, dass calmierte Affekte (s. u.) in einer sittlich verdorbenen Welt als mangelnder „Heldenmut“ (24 – 26) ausgelegt werden (dabei liegt die Entstehung des Texts mitten im Siebenjährigen Krieg!93), was an die negative Konnotation des Kriegs bei Kleist erinnert (vgl. Kap. 5.3). Außerdem kommentiert das Geburtslied den hohen Stellenwert eitlen Hochmuts und der Wollust in einer ungerechten Welt: Wenn Du nicht spielst und viel gewinnst, Bis Der, mit dem Du spielst, erwacht, Wenn Wollust unter Rosen nicht Dich in die geilen Arme schlingt: So fehlt Dir Witz, so fehlt Dir Witz. (W I 121, 30 – 34)
En passant scheint Kleist in den zitierten Versen hier kritische Distanz sowohl gegenüber galanter Lebenslust („unter Rosen in geilen Armen“) als auch Positionen der Frühaufklärung („Witz“, s. o.) einzunehmen. Nach einer versöhnlichen zweiten Strophe (hier auch strophisch entgegengesetzt zum Aufbau des Grablieds, s. o.), in der die Freuden der sanften Naturansicht gepriesen werden (vgl. Kap. 2; W I 122, 51 – 77), gleitet das Geburtslied dann hinüber in eine versöhnliche Gegenwartsbeschreibung der preußischen Zustände unter „Friedrich“ (W I 123, 79), der sogleich über den Begriff der „Tugend“ eingeführt wird (77). In einem nun im Text evozierten privaten Freundschaftsumfeld – zusätzlich beglaubigt durch Klarnamen realer Bekannter Kleists – ist dann auch eine ehrliche Fortführung eines sogar an Witz geschulten Lebensideals möglich: „Und mancher Freund wird Dich durch Witz / Und Liebe – wie mein Lange mich – / Beseligen und sein Dein Trost […].“ (85 – 87) Nach wie vor jedoch bedroht Falschheit das angesprochene „du“ des Texts mit Verderben (W I 123, 88), und „Neid und niedre Raben schrein […]“ (89).
92 Die erste Erwähnung des Gedichts datiert Sauer auf Dezember 1757, was den Eindruck etwas abmindert, Kleist hätte im Laufe seines Lebens obrigkeitskritische Positionen zugunsten der Bewunderung Friedrichs II. aufgegeben. Vgl. W I 120, Anm. Nr. 79. 93 Vgl. ebd.
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4 Tugend und Laster: Moralphilosophische Anspielungen
In seinem Text Sehnsucht nach Ruhe entwirft Kleist ein sich ganz ähnlich entwickelndes Panorama – bezeichnenderweise kommt hier einmal mehr der Krieg als erstes Beispiel sündhaften Verhaltens auf der Erde zum Tragen. Dabei schildert Kleist, wie sehr der Mensch selbst sich als „Wolf unter Wölfen“ verhält: „So wüthet Mars. Und hört sein Wüthen auf, / So drehn wir selbst das Schwert in unsre Leiber. / Ja, Gott des Streits, hemm Deiner Waffen Lauf! / Was braucht es Krieg, wir sind uns selber Räuber.“ (W I 43 f., 85 – 88) In den folgenden elf Strophen gestaltet Kleist, ähnlich dem ersten des Geburts- bzw. zweiten Teil des Grablieds die Versuchungen, Gefahren und Realitäten realer wie gedachter Welten ausführlich aus. Im Gegensatz zu den anderen beiden Gedichten fehlt dem Text jedoch eine Glück versprechende Wendung: „Ja, Welt, Du bist des wahren Lebens Grab.“ (W I 45, 115) heißt ein bereits zu Beginn des zweiten Drittels vorweggenommenes Fazit des Gedichts. Dem gesamten Ensemble der in Collectaneen wie den Gedanken über verschiedene Vorwürfe, dem Frühling und anderen Texten Kleists zusammengestellten Tugenden wird im Angesicht der Übermacht der Laster nur eine kurze Lebenszeit auf Erden prophezeit, sodass am Ende selbst die einsame Naturempfindsamkeit der „teppichgleichen Flur“ (vgl. W I 46 f., 145 – 150) nicht mehr zu helfen vermag.94 Hier erinnert Kleists Text geradezu an den Kulturpessimismus der Alpen Hallers.95 In Brockes’ Vergnügen in Blumen wird etwa ein größerer Optimismus sichtbar, wenn nach 28 Versen, die Kleists ,zivilisationskritischen‘96 Schilderungen durchaus ähneln („Laß andre […] Des Hofes schimmernd Elend lieben“97), es zuletzt auf Gott vertrauend heißt: „Ich will mich an den bunten Schätzen / Der bildenden Natur ergetzen / Und, GOtt zum Ruhme, Blumen sehn.“98 94 Ähnlich wird im „Spring/ Frühling“ Thomsons von der Wut „wilde[r] Thiere“ zum ruhigen Schäfer auf dem sanften grünen Hügel übergeleitet: BrTh 91 f., 768 – 93, 786. In Kleists Sehnsucht wird die Ruhe der Naturempfindsamkeit an anderer Stelle auch mit Hofkritik verbunden: „Ein ruhig Herz im Thal, wo Zephyr rauscht, / Sei nimmermehr für Flittergold vertauscht!“ (W I 46, 143 f.) 95 Vgl. etwa Adolf Frey über Hallers Dichtung (in Kontrast zu Thomsons Seasons): Haller, „der vielmehr die Grossartigkeit seiner heimathlichen Berge und die sittliche Einfachheit ihrer Bewohner betont und dabei mit der knappesten Form eine ausgesprochene praktisch moralische Tendenz verbindet […].“ (Adolf Frey: Albrecht von Haller und seine Bedeutung für die deutsche Literatur. Leipzig 1879, S. 25.) 96 Vgl. Anett Lütteken: Idylle mit Schusswaffen – Ewald von Kleist in der Schweiz. In: Jordan (Hg.): Kleist, S. 43 – 58, hier S. 50. 97 Brockes: Vergnügen, S. 42. 98 Ebd., S. 43.
4.5 Überleitung: Zwischen Un-Glückseligkeit und Affektcalmierung
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Die Lösung, welche in Kleists Texten immer wieder formuliert wird, um den Versuchungen der großen Laster zu entrinnen, läuft auf die im zeitgenössischen mentalitätshistorischen Kontext prominente Idee der ,Calmierung von Affekten‘99 hinaus. In zeitgenössischen Anthropologien bzw. ,Diätregeln‘ „stehen diejenigen, die die Gemütsbewegungen bzw. Affekte betreffen, an erster Stelle.“100 Bei Kleist heißt es etwa in Die Unzufriedenheit der Menschen. An Herrn Professor Sulzer unmissverständlich klar: „Sei deiner Neigungen Herr, so wirst Du das Unglück beherrschen; / Der Schöpfer ist Liebe und Huld, nur die sind Deine Tyrannen.“ (W I 237, 30101) An zwei Stellen geht Kleist auch in seinen moralphilosophischen Gedanken über verschiedene Vorwürfe auf diesen Aspekt ein. Hier avanciert der Begriff der „Ruhe“ (abermals in Anlehnung an Thomasius102) zum erstrebenswerten Lebensideal, was sich auch an anderen Stellen des Kleist’schen Werks niederschlägt, wenn die Ruhe mit Glück in einen Kontext gestellt103 oder Traurigkeit als Störung von Ruhe beschrieben wird.104 Kleist schreibt im 99 Vgl. Kemper FA 100 – 106. Außerdem lassen sich ähnliche Überlegungen bereits in zeitgenössischen Überlegungen zum Kopf-Herz-Gleichgewicht finden, vgl. Sauder: Empfindsamkeit, S. 126. Vgl. nochmals Gellerts Moralische Vorlesungen, hier die sechste Regel der neunten Vorlesung: „Wehre den Eindrücken der Sinne, den Blendwerken der Einbildungskraft, mäßige deine Neigungen, wenn sie an und für sich erlaubt sind, halte die unerlaubten zurück, und begegne den unrichtigen Vorstellungen, die den Affecten das Leben geben, durch den Verstand.“ (Gellert: Vorlesungen, S. XXXVI.) Siehe auch in Kleists Brief an Gleim vom 20. 12. 1749: „Ich merke aus dem gewissen Gruß, den Sie nicht haben bestellen wollen, daß Ihnen meine Aussönung mit C[olongue] nicht gefällt. Sie haben Recht, ich sehe selber wohl, daß die Passion nicht gut bei ihm zu dämpfen ist.“ (W II 161.) 100 Carsten Zelle: Klopstocks Diät – das Erhabene und die Anthropologie um 1750. In: Kevin Hilliard u. Katrin Kohl (Hg.): Wort und Schrift – Das Werk Friedrich Gottlieb Klopstocks. Tübingen 2008, S. 101 – 127, hier S. 108. 101 Vgl. ähnlich bei Thomson: BrTh 897 – 909. 102 Dieser definiert sogar die auch für Kleist so zentrale „Glückseligkeit“ als „eine ruhige Belustigung, welche darinnen besteht, daß der Mensch weder Schmertzen noch Freude über etwas empfindet, und in diesem Zustande sich mit andern Menschen die eine dergleichen Gemüths-Ruhe besitzen, zu vereinigen trachtet.“ (Thomasius: Einführung, S. 85 f.) 103 Vgl. Sehnsucht nach Ruhe: „Bald bringet uns ein Schurk’ um Ruh’ und Glück […]“ (W I 44, 91). 104 Vgl. An Damon: „Störer Deiner eignen Ruh’, / Damon, warum trauerst Du?“ (W I 71, 1 f.) Vgl. außerdem im 6. Stück der Auffseher-Aufsätze: „Wir sind nicht nur zum Fühlen, sondern auch zum Denken und Wirken erschaffen, und nur durch Arbeitsamkeit und vernünftige und tugendhafte Handlungen gelangen wir zu einer wahren und dau’rhaften Gemüthsruhe.“ (W I 314.)
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4 Tugend und Laster: Moralphilosophische Anspielungen
Gedicht Sehnsucht nach Ruhe: „Ein ruhig Herz im Thal, wo Zephyr rauscht, / Sei nimmermehr für Flittergold vertauscht!“ (W I 46, 143 f.) und identizifiziert das glückliche Landleben also mit der Ruhe. In Cissides und Paches wird diese Zuschreibung abermals neostoizistisch aufgeladen, da der Held Cissides stoisch ruhig dem Lärm der Feinde trotzt.105 Außerdem wird die Ruhe dem Krieg entgegen- bzw. dem Glück, das ein Schurke gestohlen hat, gleichgesetzt.106 Somit könnte gerade Kleists Sehnsucht nach Ruhe nicht nur einen Suizidwunsch des lyrischen Ich ausdrücken (vgl. W I 47, 161 f.), wie in der Forschung zum Teil vorschnell ausgeführt wird107, sondern die erhoffte Erlösung aus wechselnden Launen in ein affektcalmiertes und dadurch vor allem stetiges Glück formulieren. Auffällig ist in diesem Kontext zudem, dass Gleim im Frühlings-Manuskript seines Freundes in den ersten Versen das Wort „Ruh’“ (vgl. W I 173, 6) unterstrichen hat.108 Der Begriff der „Ruhe“ ist auch abermals in Thomasius’ Moralphilosophie von Bedeutung, welche Ruhe als glückseliges Kennzeichen des vernünftig liebenden109, 105 „Der Widerhall brüllt von den Felsen auch, / Und jede Höhle brüllt. – Doch Cissides / Blieb ruhig und ward nicht betäubt vom Lärm […].“ (W I 256, 150 – 152.) 106 Vgl. W I 41 – 44, 19 – 90; 44, 91. 107 Vgl. Kap. 5.1. Hans Christoph Buch ist die Deutungsvielfalt des Begriffs der „Ruhe“ aufgefallen, der schließlich auch keineswegs nur im Sehnsucht nach Ruhe betitelten Gedicht des Autors eine zentrale Rolle spielt. Vgl. Buch: Pictura, S. 117. 108 Nr. 82 des Kleist-Nachlasses im Gleimhaus. Die Anmerkungen Gleims im erhaltenen Frühlings-Manuskript sind in den bisherigen Editionen Langes wie Sauers nicht erfasst. Auch in der Rara-Abteilung der Bibliothèque Nationale Paris gibt es eine ganze Ausgabe der Gedichte des Verfassers des Frühlings, welche mit hoher Wahrscheinlichkeit handschriftliche Anmerkungen Gleims enthalten. 109 Vgl. Thomasius: Einleitung, S. 52 – 115, Schneiders’ Vorwort ebd., S. VI; s. außerdem Vollhardt: Selbstliebe, S. 36: „Für die Gemütsruhe, die quies interna, durch Mäßigung der Affekte zu sorgen, ist für Thomasius ein ,summum bonum.‘“ Sauder verweist lediglich auf eine Quelle, in der im empfindsamkeitstheoretischen Diskurs der Zeit so prominent über Ruhe gesprochen wird. Vgl. Sauder: Empfindsamkeit, S. 129. In der Literatur hingegen erscheinen Gemütsruhe, Zufriedenheit und Glückseligkeit außerdem bei Brockes als Zentraltermini, vgl. ebenso zum Begriff der „Ruhe“ in den Moralischen Wochenschriften z. B. Sauder: Empfindsamkeit, S. 130; außerdem Kemper AP 96, sowie zur Prominenz der „Ruhe“ im pietistischen Kontext Kap. 6. Die Interpretation der Texte Kleists durch Heinrich Kurz erwähnt zwar den Begriff, wendet ihn aber zu zu simpel an: „Das erregte Gefühl sehnt sich nach Ruhe, wie ein von der Wanderung ermüdeter Körper.“ (Heinrich Kurz: Geschichte der deutschen Literatur mit ausgewählten Stücken aus den Werken der vorzüglichsten Schriftsteller. Mit vielen nach den besten Originalen und Zeichnungen ausgeführten Illustrationen in Holzschnitt. Bd. 2. Leipzig 1864, S. 586.)
4.5 Überleitung: Zwischen Un-Glückseligkeit und Affektcalmierung
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Unruhe hingegen als Seelenzustand jenes Menschen ausmacht, der seiner ,schlechten‘ Affekte nicht Herr wird.110 Der 39. der Gedanken betont bei Kleist ebenfalls, dass mäßige Gemütsregungen wahres „Glück“ versprechen – womit wir zum ersten in diesem Kapitel bei Kleist untersuchten Begriff zurückkehren. Wer sich zu „heftigen Leidenschaften“ hinreißen lässt, wird Freude wie Leiden allzu extrem spüren: Ein Mensch von gutem Temperament und der ohne heftige Gemüthsbewegungen ist, darf sich nur leidend verhalten, um glücklich zu sein. Die Natur bietet ihm tausend Annehmlichkeiten dar, die ihn nicht lange mißvergnügt lassen können. Aber wehe Dem, der sich heftigen Leidenschaften überläßt! Er kann nicht glücklich sein, und eine unfehlbare Verzweifelung ist endlich, über lang oder kurz, das Ende seines Unglücks. Die Schönheiten des Gebäudes der Welt sind zu sanft für ihn, als daß er sie fühlen sollte. Für ihn rieseln keine Bäche und duften keine Blumen. Die Sonne färbt ihm keine Wolken. Für ihn ist die Schöpfung todt. (W I 325 f.)111
Aufschlussreich sind hier ebenfalls Ausblicke auf Kleists Naturästhetik, die sich – nicht zuletzt im Anschluss an Addisons Überlegungen – aus diesem Gedanken ergeben: Auch um die Natur „fühlen“ und mit ihr in ein produktives Verhältnis treten zu können („[F]ür ihn rieseln keine Blumen“), bedarf es einer sanften Affektcalmierung.112 Denn wer seine Affekte nicht ausreichend kontrolliert, verliert jegliches sensibles Verständnis der Natur (W I 325 f.). Nur auf diese Weise kann die Schöpfung wieder lebendig und geradezu anthropomorphisiert werden und das komplexe wechselseitige Inspirationsverhältnis, das Kleist am Anfang des Frühlings skizziert (W I 206, 1 – 12/vgl. Kap. 2), sich überhaupt erst konstituieren. Dann wird die allumfassende Kommunikation in und mit der Natur, wie sie allerorts im Frühling geübt wird, möglich. Die grundsätzliche Überlegung des 39. Gedankens, dass zu starke Freude zu heftige Enttäuschung nach sich zieht, begegnet uns auch im 110 Gerhard Sauder perspektiviert den Begriff der „Ruhe“ außerdem mentalitätsgeschichtlich im Hinblick auf die politische Ordnung der Zeit (s. Kap. 4.1): „Der absolutistische Staat konnte sich keine bessere Stabilisierung wünschen – in Oden auf die Zufriedenheit kritisierte die bürgerliche Moral ,blutigen Ruhm‘, ,glänzendes Gold‘ und ließ die personifizierte Seelenruhe am ,Pallast schwelgender Könige‘ und an ,Sklaven der Leidenschaft‘ mit ,gleichgültigem Schritt‘ vorbeigehen.“ (Sauder: Empfindsamkeit, S. 130.) 111 Im Text Die Seefahrt führt die tugendhafte Verachtung der Leidenschaften dazu, dass Daphnis sich aus ,vernünftigen‘ Gründen dazu entscheidet, Selinde sterben zu lassen, weil er sie (nur) leidenschaftlich liebt. Vgl. W I 127 f. 112 Vgl. auch Kemper FA 100 – 104.
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4 Tugend und Laster: Moralphilosophische Anspielungen
siebten der Aufsätze für eine von Kleist projektierte Moralische Wochenschrift: […] so ist Niemand unglücklicher als Diejenigen, die nichts als angenehme Empfindungen und ihr Glück am Eifrigsten suchen. […] Gehabt Euch denn wohl, angenehme Empfindungen! (W I 313)
Selbst zu starke Freude kann also zu Problemen führen. Dass ein tugendhaftes Leben nicht nur schwierig zu führen ist, sondern dass auch in Kleists Schreiben ein Einbruch melancholischer Stimmungen für eine mangelnde Affektkontrolle verantwortlich gemacht wird113, verdeutlicht das folgende Zitat (29. Gedanke): Auf übermäßige Freude muß nothwendig, der menschlichen Natur nach, Traurigkeit folgen. Die Freude macht das Blut zu wallend, und dieses verursacht eine unangenehme und schmerzhafte Empfindung, welche Traurigkeit wirken muß. Wer heftiger Leidenschaften fähig ist, wird wissen, daß er mitten in starker Freude schon Mißvergnügen gefühlt habe. Eben diese Bewandniß hat es mit allen übrigen heftigen Leidenschaften. Ein Beweis, daß Tugend allein glücklich macht, die in der Mittelstraße besteht. (W I 324)
Eine starke Emotion löst also geradezu gezwungermaßen einen nächsten starken Affekt aus. Die Tugend bildet einen Weg zur Regulierung zu starker Leidenschaften. Der Wunsch nach Mäßigung und vor allem danach, „Ruhe“ zu verspüren, steht in engem Zusammenhang mit Kleists Gefühl, ebendiese Hoffnungen selber nicht erfüllen zu können – und führt damit zum Thema des nächsten Kapitels, Kleists „Melancholie“.
113 „Das traditionell schlechte Image bietet überdies die günstige Möglichkeit, im Melancholiker alle gesellschaftlichen Untugenden zu vereinigen. […] Das gilt für den größten Teil der Temperamentenlehren des 18. Jahrhunderts […].“ (HansJürgen Schings: Melancholie und Aufklärung. Melancholiker und ihre Kritiker in Erfahrungsseelenkunde und Literatur des 18. Jahrhunderts. Stuttgart 1977, S. 46.)
5 Bilder der Melancholie: Zweifel und Katastrophen (V. 166 – 275, 79 – 86 etc.) Kleist verfügte in Fragen der „Melancholie“ über ein großes Expertenwissen. Dies belegen seine Briefe, in denen er sein körperliches und seelisches Wohlbefinden sowie die angesetzten Therapien intensiv beschrieb und analysierte. Häufig berichtete Kleist Gleim oder Hirzel, wenn es wieder einmal zum „Aderlass“ ging oder er in ein Kurbad fuhr, um „aus dem Brunnen zu trinken“.1 Dass sich Kleist selbst mit den zeitgenössischen medizinischen Diskursen zu Melancholie und Hypochondrie auseinandersetzte, zeigt sein Brief an Gleim vom 15. 2. 1756. Hier erwähnt er eine Zeitschrift, in der sein Krankheitsbild seiner Meinung nach exakt dargestellt werde: Wenn Sie wissen wollen, wie mir zu Muthe ist, lesen Sie die gesellschaftlichen Erzählungen zum Nutzen der Naturlehre, Medicin etc., imfall Sie sie etwan haben, die in Hamburg 1752 etc. herausgekommen sind, und zwar die Abhandlung von der Hypochondrie im zweiten Theil. Es ist darin fast keine Zeile, die nicht auf mich paßt. (W II 311)
Im Artikel, auf den sich Kleist bezieht2, werden Hypochonder vor allem immer wieder in Bezug auf zwei Eigenschaften charakterisiert: sie neigten zu starken Empfindungen und zeichneten sich durch einen in höchstem Maße unsteten Charakter aus. Gerade die Diagnose eines raschen Wechsels von Körper- und Gefühlszuständen findet sich im Großteil der zeitgenössischen Melancholietheorien wieder.3 Im von Kleist zitierten Artikel heißt es über den typischen Gefühlswandel eines unter Hypochondrie leidenden Menschen: Es reißt, spannt, drückt, sticht, preßt, hammert, bohret und brennt; die Ohren sausen und klingen, oder verlieren die Empfindung; die Augen sehen Funken, Fliegen, Haare; der Schwindel überfällt den Kopf, und stürzt den 1 2 3
Vgl. W II 99, 173, 258, 276 f., 279, 311, 319, 330 f., 343, 350, 366 – 368, 395, 413, 505 f.; KaH 19 (1912), 95, 97, 98 f., 105. Vgl. Johann August Unzer (Hg.): Gesellschaftliche Erzählungen für die Liebhaber der Naturlehre, der Haushaltungs=Wissenschaft, der Arzney=Kunst und der Sitten. Zweyter Theil. Hamburg 1753, 40. Stück. Vgl. Schings: Melancholie, S. 49.
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5 Bilder der Melancholie: Zweifel und Katastrophen
Kranken auch wohl zu Boden; der Schlaf ist voll unruhiger ängstlicher Träume.4
Der Hypochonder würde in einem Moment lachen, im nächsten Augenblick weinen und könnte vor allem nie einen gesunden Mittelweg einhalten bei den vielen „Thorheiten“, die er anstellt. „Ich weiß einen Mann, der in einer Stunde einst drey ganze widrige Affecte hatte, die ihn ganz ausser sich selbst rissen“, berichtet der anonyme Autor weiter. „Solche seltsame Abwechselungen leidet das Gemüth eines Hypochondriaci.“5 Weitere Fallbeispiele der unsteten und unter extremen Gefühlsausbrüchen leidenden Hypochonder werden ausführlich dargestellt: Sie könnten etwa in schneller Folge weinen, ungewöhnlich lange beten und dabei gleichzeitig schluchzen und heulen, einen „anakreontischen Text singen“, um dann wechselweise von Bestürzung, Verworrenheit, „endlicher Treuherzigkeit“ erfüllt zu sein, die abschließend wieder in ein Weinen überginge, vermischt mit der Angst, dass die eigene Familie von alledem erfahren könne.6 Gerade ein Hang zu „hemmungsloser Traurigkeit“ findet sich in den meisten Beschreibungen von Hypochondern im 18. Jahrhundert.7 Nach der Beschreibung des „beängstigenden Schlafs“, der „ausschweifenden Einbildungskraft“8 und anderer Charakteristika wird in den Gesellschaftlichen Erzählungen abermals betont: „Kurz, ein Hypochondriacus ist ein ungewisser Mensch […].“9 Die hier so zentrale Stellung der „Hypochondrie“, nicht der „Melancholie“10, lässt sich mit Hans Jürgen Schings als weiteres Indiz für die Kennzeichnung der Werke Kleists als literaturhistorisches Übergangsphänomen von der Aufklärung zur Empfindsamkeit11 deuten, wenn Schings die Hypochondrie sogar als die „medizinische Umschreibung von Empfindsamkeit“ bezeichnet.12 Nicht zuletzt wurde sie im 18. Jahrhundert als typisches Merkmal den Menschen am Hof zugeordnet,
4 Unzer (Hg.): Erzählungen, S. 215. 5 Ebd., S. 215. 6 Ebd.; vgl. zu Kleists Angst, die Öffentlichkeit könnte von seiner „Hypochondrie“ bzw. „Melancholie“ erfahren, Anm. 20 in diesem Kapitel. 7 Vgl. Schings: Melancholie, S. 49. 8 Unzer (Hg.): Erzählungen, S. 214, 216. 9 Ebd., S. 218. 10 Im vorliegenden Kapitel wird aus rein pragmatischen Gründen im Hinblick auf den heutigen Bedeutungskontext von Hypochondrie trotzdem größtenteils der Begriff „Melancholie“ verwandt. 11 Vgl. Kemper FA 166. 12 Vgl. Schings: Melancholie, S. 49.
5 Bilder der Melancholie: Zweifel und Katastrophen
101
was einen weiteren Hintergrund von Kleists laus ruris-Topik bilden könnte.13 In Bezug auf Kleists melancholisches Wissen erscheint zudem der Umstand aufschlussreich, dass sein Freund Johann Caspar Hirzel studierter Mediziner war – selbst wenn der Briefwechsel Kleists und Hirzels das Leiden Kleists nicht über seine üblichen Berichte (s. o.) hinaus behandelt.14 Hirzel hatte sich 1746 an der Universität Leiden bei Hieronymus David Gaubius, einem Schüler Hermann Boerhaaves15, mit einer (proto-) psychiatrischen Arbeit zum Einfluss der Fröhlichkeit auf die Gesundheit der Menschen (!) promoviert.16 Direkt im Anschluss an seine Ausbildung absolvierte Hirzel für ein Jahr seine Famulatur in Potsdam bei einem Schwiegersohn Georg Ernst Stahls, dem Hofrat Arndt, wo er dann auch Kleist kennenlernte.17 In seiner Dissertation wirbt Hirzel unter anderem dafür, den melancholischen Patienten in seinem Leiden immer ernst zu nehmen, um ihn „durch einfache, sanfte und einfühlende […] Betreuung aus dem Leiden herausführen zu können.“18 Gerade die Kategorie des „Sanften“ wird in Kleists Natur- wie Affektallegorien immer wieder positiv besetzt. In seiner Beschreibung der Melancholie betont Hirzel, dass die Seele „keine Ruhe“ finde, „keinen Trost, sie wird von Ängstlichkeit beinahe erdrückt […]. Sie findet für sich stets von neuem traurige Vorstellungen, welche sie umso weniger auszurotten vermag, je mehr in dieser Zeit die Urteilskraft noch
13 Vgl. ebd. 14 Sauer ist dennoch überzeugt, dass Hirzels „seelendiätetische[n] Ermahnungen auf den damals schon hypochondrischen Kleist eine gute Wirkung ausgeübt haben[…].“ (W I XXX.) 15 Vgl. Heinz Oskar Hirzel: Vom Einfluss der Fröhlichkeit auf die Gesundheit des Menschen. Stadtarzt Johann Caspar Hirzel, der Ältere, 1725 – 1803. Zürich 2006, S. 111 – 118, 278; Boerhaave gilt als einer der wichtigsten Mediziner des 18. Jahrhunderts. Vgl. etwa Carsten Zelle im Kontext von Friedrich Hoffmann: „Ey, was hat der Arzt mit der Seele zu thun?“ Physiologie und Psychologie bei Albrecht von Haller und Johann Gottlob Krüger. In: Tanja van Hoorn u. Yvonne Wübben (Hg.): „Allerhand nützliche Versuche“. Empirische Wissenskultur in Halle und Göttingen (1720 – 1750). Hannover 2009, S. 21 – 40, S. 23, Anm. 7. 16 Johann Caspar Hirzel: Animi laeti et erecti eficacia in corpore sano, et aegro, speciatim grassantibus morbis epidemicis. Leiden 1746. Die Dissertation liegt seit 2006 von Charlotte Bretscher ins Deutsche übertragen vor in H. Hirzel: Einfluss, S. 119 – 166. 17 Vgl. W I XXIX–XXXI. 18 H. Hirzel: Einfluss, S. 241.
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5 Bilder der Melancholie: Zweifel und Katastrophen
vorhanden ist.“19 All dies sind Darstellungselemente, die uns später in Kleists Diskursivierung von Melancholie wieder begegnen werden. Die einzige genauere Darstellung von Kleists eigener Psyche liegt aus Amateurshand vor: Christian Gottfried Krause beschreibt in einem Brief an Gleim vom 9. 2. 1748 den gemeinsamen Freund ebenfalls ausführlich als „Hypochonder“. Ähnlich dem von Kleist zitierten Zeitschriftenaufsatz erscheint auch hier die „Melancholie“ als eine Steigerungsform der Hypochondrie. Vor allem aber verdeutlicht Krauses Beschreibung eindrucksvoll die große Furcht Kleists, von anderen und insbesondere im preußischen Heer als „Melancholiker“ diagnostiziert zu werden: In einigen Tagen kriegt der H. v. Kleist entsetzliche Verstopfung; der Regiments=Feldscher kommt zu ihm, und der, als von seinem prätendirten Zustande schon instruirt, sagt auch, das käme von der Melancholie her. Der H. v. Kleist will es nicht glauben […]. Dies alles bestärket seine Krankheit in der Leute Meinung. […] Darüber grämet er sich nun noch entsetzlich. Er sagt, seine Reputation sei verloren; mit einem melancholischen Menschen wolle Niemand was zu thun haben.20
Der Bericht gibt Hans-Jürgen Schings’ These Recht, dass die Melancholie in der Aufklärung die Rolle eines „Stigmas“ einnahm, das alle Tendenzen auszeichnete, die sich der fortschreitenden Aufklärung widersetzten.21 Inwiefern sie zu einem bestimmenden Movens der Rezeptionsgeschichte Kleists wurde, soll im folgenden Exkurs kurz dargelegt werden.
5.1 ,Der melancholische Autor‘ – Probleme biografistischer Kleistforschung Wie bereits mehrmals angedeutet, wurden unter dem Stichwort der „Melancholie“ Person und Werk Kleists immer wieder gemeinsam abgehandelt. Kleist gab dieser Interpretation geradezu Vorschub – etwa wenn
19 J. Hirzel: Einfluss, S. 143. 20 Vgl. W II 101 f., Anm.1. 21 Schings: Melancholie, S. 39. Hierbei vereinigte, so Schings, das ,gesellschaftliche Negativbild‘ des Melancholikers im ersten Drittel des 18. Jahrhunderts insbesondere die Eigenschaft des Geizes, welche für Kleist selbst im Anschluss an Thomasius ebenfalls eines der Hauptlaster war (vgl. Kap. 4.3). Vgl. Schings: Melancholie, S. 46; s. auch Kemper AP 68.
5.1 ,Der melancholische Autor‘ – Probleme biografistischer Kleistforschung
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er die Melancholie seine Muse nennt22 oder in einem Brief an Hirzel vom 23. 5. 1759 seinen Gesundheitszustand in einen Kontext mit der Einbildungskraft stellt23 : Ich befinde mich jetzo ziemlich beßer. Im Winter hatte ich die fließenden hemorhoiden fast beständig, dieß machte mir so viel echauffement (weil immer viel Blut abging, und das wenigere in den Adern stärker circuliren konnte) daß ich mit Hülfe meiner Einbildungs=Kraft immer Angst und bange war.24
In fast jedem von Kleists Gedichten lassen sich Belege finden, die einem biografischen Kurzschluss von lyrischem Ich auf melancholischen Autor genügend Fundament geben könnten.25 So schreibt Kleist etwa in Die Unzufriedenheit der Menschen: „Der Glücklichste stirbt unter Menschen; ein Tropfen Kummers verbittert / Ihm ganze Meere von Freude.“ (W I 235, 2) In der Sehnsucht nach Ruhe heißt es: „Ja, Welt, Du bist des wahren Lebens Grab.“ (W I 45, 115) Bekannt geworden ist vor allem der Schlussvers des Grablieds: „Wohl Dir, daß du gestorben bist!“ (W I 114, 41), der in umgekehrter Aussage am Anfang des Geburtslieds wiederzu22 KaH 18 (1911), 665. Vgl. auch Kleist an Gleim am 24. 3. 1748, als Kleist beschreibt, dass er seiner Meinung nach „die kleine Ode das ,Landleben‘ […] mitten in der Melancholie“ recht gut ausgebessert habe (W II 108 f.). 23 Zum Zusammenhang von Einbildungskraft und Melancholie im 18. Jahrhundert vgl. Sauder: Empfindsamkeit, S. 153; zur Verbindung von Einbildungskraft und Affekten auch Gellert: Vorlesungen, S. XXXVI. 24 KaH 19 (1912), 106 f. 25 Manchmal gibt es sogar wortwörtliche Überschneidungen zwischen Kleists Beschreibung depressiver Schübe in seinen Briefen und bestimmten Passagen seiner Gedichte, welche ebenfalls eine „melancholische Phantasie“ darstellen. So schreibt Kleist etwa am 31. 1. 1748 an Gleim: „Ich muß es Ihnen nur sagen, mein Allerliebster, weil Sie es doch erfahren: ich bin 2 Tage lang melancholisch gewesen und habe nichts als Gräber und Leichen gesehen.“ (W II 100.) Wenn dann in Kleists Gedicht Die Unzufriedenheit der Menschen. An Herrn Professor Sulzer an einer Stelle durchgehend Hochmütige wie Melancholiker als Beispiele undankbarer bzw. sündhafter Lebensführung beschrieben werden, heißt es dort dann in großer Ähnlichkeit: „Was […] [V]erdammt Euch, jahrelang nichts als nasse Gräber zu sehen / Und in den Wolken den Tod? […] Vor meines Unsinns Vergnügen, jetzt mir erschreckliche Bilder, / Ihr Leichen voll Wunden und Blut, weicht, weicht aus diesen Revieren! / Kehrt eure Blicke von mir […]!“ (W I 237 f., 32 – 34, 55 – 57.) In den Seasons gibt es interessanterweise eine Passage, in welcher der zitierten Briefstelle wiederum ähnlich beschrieben wird, wie „SchreckensBilder“ das Gemüt des Menschen angreifen: „Dann fressen tausend Schrecken=Bilder, die sein Gemüht, so wild, als leicht / Formirt, […] ihn auf, mit Feuer=reicher Quaal / Und einer ihn verzehrnden Pein.“ (BrTh 119, 1009 – 1012.)
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5 Bilder der Melancholie: Zweifel und Katastrophen
finden ist: „Weh Dir, daß Du geboren bist!“ (W I 120, 1; vgl. Kap. 4.5) Diese und ähnliche Passagen scheinen im Zusammenhang mit Briefen wie dem vom 9. 5. 1757 an Gleim nur allzu sinnfällig zu sein: Es geschieht uns immer das, wornach wir nicht viel fragen, und was uns lieb wäre, geschieht nicht. Ich glaube, daß ich einmal noch im Himmel ein Sklave sein und nicht werde hinreisen können, wo ich will […]. (W II 492)
Selbst in Kleists Collectaneen – jegliche rhetorische Wirkungsabsicht kann hier im Gegensatz zu seinen Texten wie Briefen wohl ausgeschlossen werden – heißt es eher pessimistisch unter dem Eintrag „Hoffnung“ in einem Zitat aus Popes Versuch: „Es wird der Mangel unsers Glück, durch unser Hoffen, stets ersetzt […].“26 Dabei wird jedoch übersehen, dass Kleists Texte sich gleichzeitig positiv über Melancholie äußern: So heißt es im Lob der Gottheit etwa: „Selbst das Unglück ist uns nützlich und beseligt unser Leben.“ (W I 30, 38) Im ersten von Kleists entworfenen Aufsätzen für den Neuen Auffseher wird ein Melancholiker aufgrund seiner Tugendhaftigkeit in den Himmel aufgenommen (vgl. W I 301 f.), und in Kleists überliefertem Erstling Imitation d’Anacréon empfindet das lyrische Ich die Mischung aus Schmerz und Freude beim Abschied der Geliebten geradezu als Lust (vgl. W I 1 – 15, bes. 12 – 15). Trotzdem wurde gerade die Frage nach einem etwaigen Suizidwunsch Kleists eines der Hauptthemen der Forschung.27 Diese setzte am 6. 9. 1759 mit Lessings Verdikt bereits Tage nach Kleists Tod ein: „Er hat sterben wollen […].“28 Passagen der literarischen Werke Kleists, die eine solche Deutung zu unterstützen schienen, gab es wiederum genug, so etwa in Kleists Gedicht An Wilhelminen die Zeilen „Ich bin der Qual, ich bin des Unglücks Sohn; / Der Tod allein kann meinen Kummer lindern […]“ (W I 36, 2 f.), was in die ungleich martialischeren Verse mündet: So höre Du, o Tod, nimm Deinen Zoll! Soll nur Dein Pfeil die Glücklichen entleiben? 26 BrPope 57, 267; vgl. auch W I 190, Anm. 248; CO 167, 2. 27 Johannes Kunisch zitiert hier sogar falsch, wenn er die Verse „Der Tod fürs Vaterland ist ewiger Verehrung / werth! – Wie gern sterb’ ich ihn auch, / den edlen Tod, wenn mein Verhängniß ruft!“ (hier zit. nach W I) fälschlicherweise der Grabschrift auf den Major von Blumenthal zuordnet, wobei er zudem die philologisch unbrauchbare Kleist-Ausgabe Ramlers verwendet. Vgl. Kunisch (Hg.): Aufklärung, S. 649 bzw. Kunischs Kommentar ebd., S. 1006. Die Verse stammen vielmehr aus Kleists Cissides und Paches, W I 266, 111 – 113. 28 Hier zit. nach Gotthold Ephraim Lessing: Lessings sämtliche Schriften. Bd. 17. Hg. v. Karl Lachmann. Dritte, auf’s neue durchgesehene und vermehrte Aufl., besorgt durch Franz Muncker. Leipzig 1904, S. 170.
5.1 ,Der melancholische Autor‘ – Probleme biografistischer Kleistforschung
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Hier ist die Brust, er öffne mir das Herz! […] Bei Gräbern und in schreckenvollen Gründen […] Da will ich Dich, im Fall Du säumest finden. (W I 38, 69 – 71, 74/76)
Gerade der Kleists’sche Menalk wurde als literarisches alter ego des melancholischen Autors angesehen – so wenn dieser etwa über den Tod Amynts äußert: „Er ist, dacht’ ich, zuerst der Nichtigkeit entbunden / Und schaut Dir jetzt vielleicht von oben glänzend zu […]“.29 (W I 63, 12 f.) Eine ähnliche Intention scheint der Ausruf Pompejas in Kleists Seneca zu verfolgen, wo es heißt: Das Leben ist mir zur Last, und der Tod hat Wollust für mich. […] Ach, unmöglich kann ich nun das Leben länger vertragen. Ich fühle schon die Schauer des Todes in meinen Adern. (W I 278 f.)
Auch bei der Frage nach einer möglichen Suizidneigung Kleists stützten manche Briefe des Autors eindeutige Lesarten. Im Brief vom 17. 10. 1750 an Gleim geht es auch um Menschen, die wie Pompeja zu fühlen scheinen: Warum müssen doch Die sterben, die gerne lebten und werth sind, daß sie leben, und warum sterben Die nicht, [mit dem Siegel ausgerissen]tes Glück der Tod wäre!30 (W II 184)
Am 25. 1. 1757 schreibt Kleist dann noch weniger missverständlich: Sie werden aber meinen Tod viel ehe [sic!] ertragen können, weil Sie nicht so viel verlieren als ich, weil Sie ein besseres Temperament haben, und weil Sie bedenken müssen, daß mich der Tod glücklich macht. Ich freue mich bei meinem elenden Leben oft so auf den Tod, wie ein Schiffer nach Sturm und Ungewitter auf den Hafen […]. (W II 367 f.)
Hier zeichnet sich bereits ab, dass Kleist für die Diskursivierung von „Melancholie“ Metaphern der Naturkatastrophe bevorzugt, wie hier die
29 Hier argumentiert Jürgen Stenzel leicht biografistisch: „Ob die Zeitgenossen aufmerksam darauf geworden sind, daß etwa in der Liebesklage des Menalk […] nicht mehr nur die galant-konventionelle Rolle des verschmähten Liebhabers gespielt, sondern private Erfahrung ausgedrückt wurde, wissen wir nicht […].“ (SW 275.) 30 Angesichts der hier zitierten Briefstelle von 1750 liegt Anke-Marie Lohmeier falsch mit ihrer Annahme, Lebensüberdruss habe bei Kleist „wohl erst im letzten Lebensjahr und auch da nur phasenweise eine Rolle […]“ gespielt. Vgl. Lohmeier in: Luserke, Marx u. Wild (Hg.): Rokoko, S. 129.
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5 Bilder der Melancholie: Zweifel und Katastrophen
erwähnten „Sturm und Ungewitter“ (vgl. hierzu die folgenden Kap. 5.2 u. 5.3). Am 7. 8. 1758 wird Kleist im Brief an Gleim noch konkreter: Ich verhehle Ihnen so wenig, was ich thu’ und denke, daß ich vielmehr capable bin, Ihnen offenherzig zu gestehn, daß ich den „Cissides“ bald zu Ende bringen will, weil ich par raisonnement große Lust habe, mich nachher todtschießen zu lassen. Dies sage ich aber nur Ihnen und nicht der Welt. NB […] Ich werde niemals lustiger sein, als den Tag, wenn ich werde sterben können; denn ich sehe voraus und habe leider immer vorausgesehen, daß ich lebenslang elend sein und meine angeerbten Zufälle immer wieder bekommen werde. (W II 505 f.)
Die Konstruktion eines schwermütigen Dichters setzte auf der Rezeptionsebene denn auch bald nach Kleists Tod ein – nicht zuletzt mit Schillers Diktum in Ueber naive und sentimentalische Dichtung, wo dieser über Kleist schreibt: „Was er fliehet, ist in ihm, was er suchet, ist ewig außer ihm; nie kann er den üblen Einfluß seines Jahrhunderts verwinden.“31 In der Forschung findet sich eine vorschnelle Synthese von Werk und Autor in besonderer Konzentration zum Beispiel bei Hans Christoph Buch, der über den Autor des Frühlings schreibt: Ewald von Kleist stammt aus einer erblich vorbelasteten [sic!] Familie. Seine Mutter […] vermachte ihm einen Hang zu Schwermut […]. Es wäre unnötig, diese biographischen Fakten hier zu erwähnen, hätten sie nicht in Kleists Werk deutliche Spuren hinterlassen, die ohne den Rekurs auf die Biographie des Dichters nicht voll verstanden werden können.32
In der letztpublizierten Ausgabe der gesammelten Werke Kleists wird dann ein melancholischer Vers Kleists sogar dem ganzen Band als Motto vorangestellt: „Ihn foltert Schwermut, weil er lebt […]“33, lautet der einem Vers des Geburtslied entnommene Titel. Bis in aktualisierte Auflagen literaturwissenschaftlicher Standardwerke werden dabei in diesem Kontext sogar ahistorische Wertungen wie die Ansicht, Kleists Poesie sei „frühes Beispiel einer Weltschmerzdichtung“, fortgeschrieben.34 31 Hier zit. nach Schiller: Werke, Bd. 20. Philosophische Schriften. Erster Teil. Unter Mitwirkung v. Helmut Koopmann hg. v. Benno von Wiese. Weimar 1962, S. 454. 32 Buch: Pictura, S. 132. Vgl. auch Sauers psychologisierende Beschreibung einer stoß- und ruckartigen Produktionsästhetik Kleists, welche sich „nur zu gewissen Zeiten, gleichsam wie eine elementare Gewalt in rascher, beinahe fieberhaft erregter“ Art und Weise Luft machte. (W I 9.) 33 Vgl. Ewald Christian von Kleist: Ihn foltert Schwermut, weil er lebt. Sämtliche Werke und ausgewählte Briefe. Hg. u. mit einem Nachwort v. Gerhard Wolf. Berlin u. Frankfurt a.M. 1982. (Vgl. W I 121 f., 39 – 50.) 34 Joost: Kleist, S. 458, Sp. 1.
5.1 ,Der melancholische Autor‘ – Probleme biografistischer Kleistforschung
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Um der in Teilen stark psychologisierenden Forschung zu Kleists Melancholie einen neuen Akzent hinzuzufügen, will sich das vorliegende Kapitel wiederum ganz bewusst auf die Evokation „melancholischer Stimmungen“ in den Texten Kleists konzentrieren und aus diesen heraus die metaphorischen Felder aufzeigen, anhand derer Melancholie bei Kleist vorzugsweise dargestellt wird. Dabei wird von den Versen 166 – 275 des Frühlings ausgegangen, in denen sich ein entscheidender Wandel im Text vollzieht: Sämtliche zuvor aufgebauten Maximen eines guten und glücklichen Lebens, die der Text bislang entwickelt hatte, werden nach und nach vom lyrischen Ich angezweifelt – beispielsweise das in der Eingangsszene beschriebene glückliche Verhältnis von Natur und Ich oder die moralphilosophischen Glückseligkeitskonzepte der Frühaufklärung (vgl. hierzu schon 4.5). Der Frühling erscheint hier gleichzeitig wie ein Kommentar auf verschiedene zeitgenössische Melancholie- und Imaginationskuren. Die grundsätzlichen Zweifel des Ich werden im Folgenden vor allem über verschiedene Bilder von Naturkatastrophen (211 – 239)35 in Szene gesetzt (Kap. 5.2). Diese werden im Anschluss als zentraler Metaphernkomplex Kleists insbesondere durch die Erstfassung des Frühlings (1749) sowie sein gesamtes Werk hindurch verfolgt – vor allem im Hinblick auf die Darstellung von Kriegsszenen und die metaphorische Beschreibung in Aufruhr geratener Affekte (Kap. 5.3). Denn mit den zahlreichen Katastrophenmetaphern in seinem Werk geht es Kleist nicht primär um Umsetzungen einer Erhabenheits- oder Theodizee-Ästhetik, vielmehr handelt es sich bei den zahlreichen Umschlägen „von Freude in ,Trauer‘“ in seinen Texten um eine Literarisierung der zeitgenössischen Diskurse zu Melancholie und Melancholietherapie: Hierbei versucht die Studie eine Deutung der Idylle Irin durch Hans-Georg Kemper weiterzuentwickeln.36 Kemper schreibt in Rekurs auf das Shafteburysche Kalokagathie-Ideal, es gehe Kleist „nicht in erster Linie um die Evokation des ,angenehmen Grausens‘“, vielmehr enthülle sich in seinen Texten wiederum seine „depressive Phantasie, der die poetische Selbstmedikation und Melancholietherapie immer wieder durch zwanghaften Umschlag von Freude in ,Trauer‘ mißlingt.“ (Kemper FA 165) Gerade Kleists Text Sehnsucht nach Ruhe könnte in diesem Analyserahmen auch als literarische Schilderung des Kampfs 35 Zum Kontext der Katastrophe im 18. Jahrhundert vgl. Gerhard Lauer u. Thorsten Unger: Angesichts der Katastrophe. Das Erdbeben von Lissabon und der Katastrophendiskurs im 18. Jahrhundert. In: Dies. (Hg.): Erdbeben, S. 13 – 43, z. B. S. 16 f. 36 Von diesem ist auch der Begriff der „melancholischen Phantasie“ entlehnt, s. o.
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5 Bilder der Melancholie: Zweifel und Katastrophen
eines ,melancholischen Ich‘ mit den es heimsuchenden Phantasien gedeutet werden, vgl. etwa die Verse: „O Silberbach, der vormals mich vergnügt, / […] Wenn wird von mir Dein bunter Schmuck erblickt! / […] Jetzt fliehet mich die vor empfundne Lust; / Zeig du Dich mir, o teppichgleiche Flur, / […] So sehn’ ich mich, o grüne Finsterniß / […] Nach Eurem Reiz […]!“ (W I 40, 1; 41, 12; 41, 19; 46, 145; 47, 157; 47, 159) Im vorliegenden Kapitel steht deshalb nicht im Zentrum des Interesses, wie der Krieg selber bei Kleist beschrieben wird (vgl. dazu Kap. 3), sondern, wie Kleist den ,Krieg im Inneren‘ durch die Metapher der Naturkatastrophe oder des Kriegs als Ausdruck von Melancholie in seinen Texten darstellt. Im Kontext des Affekttopos weisen Kleists Texte zusätzlich auf einen blinden Fleck der affektrhetorischen Poetologien des 18. Jahrhunderts hin: die Frage, „wie ein Dichter im Affekt und zugleich ,vernünftig‘ schreiben soll“.37 Mit der Affektenlehre positioniert sich Kleist hier abermals zu einem der zentralen Elemente rhetorisch-anthropologischer Theorie im 18. Jahrhundert (vgl. Kap. 4.1 und 4.5).38 Das zweite Motiv (240 – 275), mit dem Kleist im Frühling Melancholie bzw. den Ausdruck melancholischer Stimmungen durch ein lyrisches Ich verbindet, umfasst die Schilderung von Liebesleid bzw. eines einsam oder unglücklich Liebenden (Kap. 5.4). Kleists Texte stellen bei alledem für die Frage nach der Diskursivierung von Melancholie im 18. Jahrhundert ein privilegiertes Untersuchungsobjekt dar, da in ihnen der künstlerische Ausdruck ,melancholischer Positionen‘ von einem Autor unternommen wird, der selbst über ein hohes Melancholie- bzw. ,Hypochondrie‘-Wissen verfügte.
5.2 Zweifelndes Ich (V. 166 – 210) „Ach, wär’ auch mir es vergönnt, in Euch, Ihr holden Gefilde […] Hinfort mir selber zu leben […]!“ (166/168) setzt die ,melancholische Passage‘ des Frühlings abermals mit einem direkten Anruf ein. Dass dieser Ausruf nicht wie sonst im Imperativ, sondern plötzlich im Konjunktiv gehalten ist, deutetet schon auf grammatikalischer Ebene die Änderung der Stimmung des Gedichts an.39 Auf diese Weise wird ein Gegenentwurf zum Auftakt des 37 Hierauf hat Dietmar Till am Beispiel Bodmers/Breitingers aufmerksam gemacht. Vgl. Till: Transformationen, S. 423. 38 Vgl. im Kontext von Thomasius: Till: Transformationen, S. 285. 39 Kleists An Wilhelminen enthält eine Szene, die in ihrer rhetorischen Struktur der zu analysierenden Frühlings-Passage ähnelt. Auch hier wird zunächst kurz eine
5.2 Zweifelndes Ich (V. 166 – 210)
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Frühlings (vgl. 1 – 12) und den affirmativen Beschreibungen des „Lieblings des Himmels“ (vgl. 160) in den Versen zuvor ausgebildet, in denen Idealbilder irdischer Glückseligkeit verhandelt worden waren (vgl. Kap. 4). Außerdem artikuliert der Frühling nun Zweifel an zeitgenössischen Imaginationskuren, wie etwa den „Pleasures of Imagination“, bei denen schließlich nicht zuletzt der Bekämpfung der Melancholie eine zentrale Rolle zukam.40 Einerseits wird zwar vom lyrischen Ich hier eine „delightful scene in nature“41 imaginiert: in den Schatten am Bach hingestreckt (167), möchte es so vom leichten Wind gekühlt werden. (169) Auch Hirzel schreibt in seiner Dissertation, dass Fröhlichkeit durchaus durch „gesundes Nachdenken“ erlangt werden könne.42 Wie als praktische Umsetzung der Addison’schen Anleitung erscheint es im Frühling, wenn nun „Leid und niedrige Sorgen“ der „vorrüberrauschenden Luft“ zugestreut werden sollen. (168 f.) Aber andererseits macht die Formulierung des Frühlings im Konjunktiv erste Zweifel an der therapeutischen Wirkung der (Natur-) Imagination deutlich. Dieser Eindruck wird sich im Verlauf der weiteren Lektüre verstärken. Eindeutig als Phantasie werden die Gedanken des Ich gekennzeichnet, wenn nun in Vers 169 eine Frauengestalt und Freunde kurzzeitig die Szenerie betreten: […] Ach, möchte Doch Doris die Thränen in Euch von diesen Wangen verwischen, Und bald Gespräche mit Freunden in Euch mein Leiden versüßen, Bald redende Todte mich lehren, bald tiefe Bäche der Weisheit Des Geistes Wissensdurst stillen! […] (169 – 173)
Das Ich wünscht sich, glücklich sein zu können: als neue Kur gegen seine Melancholie erhofft es eine „Doris“43 und Geselligkeit mit Freunden.44 Die
40 41 42 43 44
idyllische Szenerie mit einem glücklich verliebten Hirtenpaar beschrieben (W I 36, 1 – 16), bevor das Ich seine eigene Situation dieser Idylle gegenüberstellt: „Ach, fühlt’ ich doch bei allgemeiner Lust / Der Freude Reiz nur auch in dieser Brust!“ (W I 36, 17 f., weiter 19 – 78.) Hier wird das Ganze allerdings vor dem Hintergrund des Liebesunglücks behandelt (vgl. Kap. 5.4). Vgl. Addison u. Steele (Hg.): Spectator, S. 278. Ebd.; vgl. auch Dürbeck: Einbildungskraft, S. 68. Vgl. H. Hirzel: Einfluss, S. 132 f. Vgl. auch in Menalk, wo sich Doris ebenfalls in der Natur zeigt: W I 63, 19 – 22. Vgl. Kleists Eintrag in den Collectaneen unter dem Eintrag „Über die Abwesenheit eines Freundes“: CO 223, 1; in den Briefen W II 101, 277, 279 f., sowie Kemper FA 160 – 162.
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5 Bilder der Melancholie: Zweifel und Katastrophen
Liebe (vgl. zum Liebesunglück Kap. 5.4), freundschaftliche Geselligkeit45 und die (Anschauung der) Natur bilden weitere Inhalte der imaginativen Strategien des lyrischen Ich, sich seiner Sorgen zu entledigen. Die alleinige Absage an alle weltlichen Reichtümer, die zuvor noch einen der Wege zur Glückseligkeit bildete (vgl. Kap. 4.3), überzeugt das Ich hier nur noch bedingt. Dies zeigt der Versverlauf durch das einleitende konditionale „Dann“ an (vgl. 173 f.). Sämtliche vorangegangenen Setzungen gelten mit Einsatz der hier zitierten Verse nur noch bedingt und werden in Frage gestellt. Zwar hält der Frühling an einer Setzung von Glückseligkeit als oberstem Lebenziel fest, die hierfür notwendig zu erfüllenden Bedingungen sind allerdings andere geworden. Das Suchen und Imaginieren glückseliger Szenen für die eigene seelische Gesundheit wird nun immer unruhiger. Hiermit nimmt der Text bereits implizit auf Kleists hypochondrisches Wissen, das den Kranken als wechselhaften Charakter zeichnete (s. o.), Bezug. Abermals formuliert das Ich zwar seinen Wunsch nach glücklicher Ruhe46 : „O Quelle des Glückes, o Himmel, / Du Meer der Liebe, o tränkte mich doch Dein Ausfluß!“ (176 f.) Doch offenbart sich eben vor allem der inständige Wunsch, von der „Quelle des Glückes“ getränkt zu werden. Dominanter scheint die Ansicht, dass dies nicht in Erfüllung gehen, sondern das eigene Leben stattdessen „wie eine Blume verblühen“ (vgl. 178) werde. Selbst der als „du“ angesprochene Gott vermag dem lyrischen Ich nur kurzzeitig „ruhige Hoffnung“ (179) und „Trost und Labsal“ (180) zuzusprechen, welche doch unter anderen die Hauptzwecke der Imaginationskuren nach Addison bilden.47 Im Folgenden zeigt sich der abermalige Umschwung in der Suche nach möglichen Kuren für die Seele des lyrischen Ich sogar im Wechsel zu einem rascheren Metrum, wenn es nun plötzlich heißt: Die finstre Decke der Zukunft wird aufgezogen; ich sehe Ganz andre Scenen der Dinge und unbekannte Gefilde. (181 f.) 45 Dies entspricht den zeitgenössischen Melancholietheorien des 18. Jahrhunderts, in denen dem Melancholiker nicht zuletzt ein Hang zur Misanthropie nachgesagt wurde. Vgl. Schings: Melancholie, S. 46. 46 Im Kontext der Frage nach einer ,melancholischen Autorschaft‘ und dem Begriff von „Ruhe“ vgl. auch Hallers zu Lebzeiten unveröffentlichtes Gedicht Die Gemütsruh in: Albrecht von Haller: Versuch Schweizerischer Gedichte. Neunte, rechtmäßige, vermehrte und veränderte Aufl. Bern 1969, S. 291 – 293. (Das Gedicht ist in den anderen zitierten Ausgaben nicht enthalten.) Vgl. zum Konzept der „Gemüthsruhe in Gott“ Kap. 6. 47 Vgl. Dürbeck: Einbildungskraft, S. 75.
5.2 Zweifelndes Ich (V. 166 – 210)
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Hiermit gleitet der Text über in einen Traum, was nach Liebe, Freundschaft und Religion nun als vierte, bereits völlig der Realität entzogene Möglichkeit für das Ich erscheint, noch Glück zu verspüren. Abermals wird „Doris“ nun als Erstes in explizit traumhaft-„andren Scenen“ (182) erblickt, wo sie „aus Rosengebüschen“ (183) in die „Schatten“ des von dunklen Sorgen bestimmten Ich kommt. Dabei spielt der Frühling intertextuell auf das zuvor noch unhinterfragte Moralsystem an: „So tritt die Tugend einher, so ist die Anmuth gestaltet.“ (185) Wenn die Liebe zu Beginn der Melancholie-Passage des Frühlings mehrmals die theoretische Möglichkeit darstellt, der Melancholie zu entfliehen, erscheint es konsequent, dass Kleist im Gegenzug ab Vers 240 Liebeskummer als ein Hauptmovens von Melancholie darstellt (vgl. Kap. 5.5).48 Immer rascher ruft der Text nun verschiedenste Topoi auf (186 – 196). Der Glaube an die Flucht aus der Melancholie ist also nicht sonderlich stark ausgeprägt. Wenn als Nächstes Gleim angerufen wird, dem Ich Gesellschaft zu leisten, ordnet Kleist im Text mit dem „Hämus“ die Heimat des mythischen Sängers Orpheus dem Freund zu, und verortet ihn zugleich poetologisch, indem er Gleim mit den „Tejischen Saiten“ (190) Musikinstrumente aus Teos zuspricht, dem Herkunftsort Anakreons. Hierdurch wird der phantastische Charakter der Szene noch deutlicher. Das lyrische Ich bittet darum, dass diese Traumelemente auch bald Bestandteile seines wahren Lebens werden mögen:49 […] Komm bald in meine Reviere, Komm, bring die Freude zu mir, beblüme Triften und Anger, O Paar, Du Trost meines Lebens, Du milde Gabe der Gottheit! (194 – 196)
Mit „meinen Revieren“ (vgl. 194) sind die realen Welten außerhalb des Traums gemeint: Es fällt dem lyrischen Ich des Texts schwer, die geschilderten frohen Imaginationen in die Lebenswelt zu transportieren – womit endgültig eine der zentralen zeitgenössischen Melancholietherapien, die wiederholte Imagination fröhlicher Szenen, bei ihm fehlschlägt. Dies wird deutlich in den folgenden Versen, die abermals die Diskrepanz zwischen Wunsch und der Wirklichkeit erkennen lassen, welche das Ich im Text nur 48 Diese Verbindung zieht sich durch Kleists ganzes Werk, s. Anm. 123 in Kap. 5.5. 49 Der wortwörtliche Verweis auf einen Traum ist hier interessant, da Meier den ,fastwirklichen‘ Status seiner drei präferierten Tropen, welche Abwesendes vergegenwärtigen sollen, ebenfalls immer wieder mit einem „Traum“ umschreibt. Vgl. Zelle: Klopstocks Diät, S. 121.
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5 Bilder der Melancholie: Zweifel und Katastrophen
schwerlich überbrücken kann. Es gelingt ihm nicht, die zuvor künstlich erzeugte fröhliche Stimmung aufrechtzuerhalten: Doch wie, erwach’ ich vom Schlaf ? Wo sind die himmlischen Bilder? Welch ein anmuthiger Traum betrog die wachenden Sinnen? Er flieht von dannen; ich seufze: Zu viel, zu viel vom Verhängniß Im Durchgang des Lebens gefodert! Hier ist statt Wirklichkeit Hoffnung! (197 – 200)
„Hier ist statt Wirklichkeit Hoffnung“: was das Ich sich als Wirklichkeit wünscht, kann für das Ich des Frühlings nur Hoffnung bleiben oder im Traum ausgemalt werden. Alle Versuche einer Therapie scheitern, vielmehr zeigt sich das für den Hypochonder symptomatische Umschlagen von Fröhlichkeit in Trauer. Das Ich gibt sich selbst die Schuld, zu viel vom Leben erwartet zu haben (vgl. 199 f.), und ist sich sicher, nie mehr Freude am eigenen Leben empfinden zu können (vgl. 201). „Des Wirklichen Schatten“ (201) wird ihn seiner Meinung nach nicht mehr beglücken. Den steten Wechsel von Hoffnung und Enttäuschung im Text fortführend, versucht das Ich des Texts, sich ein letztes Mal aus den bedrückenden Sorgen zu „reißen“ – nun ist es nicht ein Traum, der dem Ich glückliche Illusionen verspricht, sondern die Gegenwart: Anstatt der quälenden Sorgen, die als „Zukunftssorgen“ gekennzeichnet werden, will es versuchen, den Moment zu genießen, was mit der Sprunghaftigkeit der gesamten Blickführung des Frühlings korrespondiert (s. Kap. 2 und 6): „Allein, was quält mich die Zukunft? Weg, Ihr vergeblichen Sorgen! / Laß mich der Wollust genießen, die jetzt der Himmel mir gönnet […].“ (202 f.) Hierbei setzt der Text jetzt zum einen auf die Freuden des Landlebens (204), zum anderen wieder auf den klassischen locus amoenus des Bachs, an dem das Ich mit der Nachtigall singen und sich an Zephyrs Tönen ergötzen möchte (205 f.). Damit ist der Text in einem Kurzdurchlauf gewissermaßen wieder ,rückwärts‘ bei seinen ersten Versen angelangt. Das lyrische Ich relativiert nun allerdings – wie zu Beginn der „Melancholie-Passage“ – auch das Glücksversprechen des Landlebens. Denn dieses wird durch Kontraste von hell und dunkel charakterisiert, die auf Prozesse des Denkens und Erkennens hinweisen: […] Ihr dichten Lauben, von Händen Der Mutter der Dinge geflochten, Ihr dunkeln einsamen Gänge, Die Ihr das Denken erhellt, Irrgärte voller Entzückung und Freude, seid mir gegrüßt! (206 – 209)
5.3 Melancholische Phantasie I: Zerstörerische Natur (V. 211 – 239)
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Zum ersten Mal referiert Kleist hier mit der „Mutter der Dinge“ (207) auf die Natur als Form einer Gottesvorstellung (vgl. Kap. 6, bes. 6.4).50 Auffällig ist jedoch mehr und mehr die starke Ambivalenz der beschriebenen Szenen: Waren es in den ersten Versen des Frühlings noch „Gänge der Nacht“, die durch den „glänzenden Throne der Tugend“ erhellt wurden (vgl. 3 f.), können hier nun auch „dunkle einsame Gänge“ das Denken „erhellen“ (vgl. 207 f.) und Irrgärten Entzückung verheißen (vgl. 208). Vorherige Setzungen des Frühlings werden hier also nicht nur bezweifelt, sondern auch in ihrer Bedeutung umgekehrt. Hierzu strukturanalog folgen aus den angeschauten Dingen nun auch nicht nur mehr „Ruh und sanftes Gefühl“ (vgl. 210), sondern ein „angenehme[s] Leiden“ (vgl. 20951). Neben dem Ich, das alle Möglichkeiten, Glückseligkeit zu erreichen, nun plötzlich hinterfragt, zeigt sich in der Darstellung vermischter Empfindungen also eine zweite Strategie Kleists, den Ausdruck melancholischer Stimmungen in den Text einzuführen. Die weiteren zentralen Metaphern, deren Kleist sich zur Bebilderung melancholischer Szenen in seinen Texten bedient, sollen nun in den Abschnitten 4.2 und 4.3, auch über den Frühling hinausgehend, eingehender dargestellt werden.
5.3 Melancholische Phantasie I: Zerstörerische Natur (V. 211 – 239) Im Frühling wechselt die Artikulation der Empfindungen des Ich im Text nun zunächst über in eine genaue Darstellung der Natur, die es umgibt. Zunehmend unbeteiligt wird diese geschildert (vgl. das unbeteiligte Ich in V. 45 – 78/95 – 154; s. auch Kap. 231 und 3.2) – wobei zum Beispiel in der zeitgenössischen Ästhetik Meiers (im Gegensatz zu der Gottscheds) auch der reinen Beschreibung affekterregende Züge zugeschrieben wurden, wenn dem Leser dadurch abwesende Dinge begreiflich dargestellt werden konnten (vgl. Kap. 2.1). Das lyrische Ich und seine Empfindungen ziehen sich im Text zurück, und die im Gegenzug stärker beschriebene Landschaft entfaltet sich als Bergszenerie, wenn weit unterhalb des Hirten (vgl. 219) Ziegen an „jähen Wänden von Stein“ klettern (220). Die der Passage eingeschriebene Latenz von Gefahr wird bestätigt52, wenn Ziegen „reißen 50 Vgl. etwa zur „Vergottung durch Natur-Betrachtung“ Kemper FA 121 – 127 (am Bsp. Brockes’); Kap. 6.4. 51 Vgl. im Manuskript noch „anmuthig Leiden“: W I 190, Anm. V. 256. 52 Vgl. diese These in Bezug auf den gesamten Frühling: Kemper GE 384.
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5 Bilder der Melancholie: Zweifel und Katastrophen
an bitterm Gesträuche“ (220), die am bereits erwähnten gefährlich steilen Abhang fressen. Der Text führt hier also das Bild einer ambivalenten Natur wie in den „dunklen erhellenden Gängen“ (vgl. 207) fort. Zudem spielen starke Gefühlsregungen nun eine Rolle, wenn Pferde „[G]ereizt vom Frühling zur Liebe […] den Wald mit flatternden Mähnen“ (224 f.) durchstreichen, sodass ihre „Zweige der Adern“ hervortreten und der Boden zittert und tönt (226). Nun wird also auch explizit auf das Thema der Affekte angespielt: Wenn Kleist die brünstigen Rösser mit „Wollust und Hitze“ (227) sowie einem „verwilderten Schweif“ (ebd.) zeichnet, scheint er neben der „Beschreibung“ (s. o.) Elemente der Affektästhetik Bodmers/ Breitingers anzuwenden: „Ausgangs- und Zielpunkt der Darstellung sind wahrnehmbare Realität von Handlungen, Begebenheiten und ,Charakteren‘ sowie reale Affekte; Movens ist die affektive Einbildungskraft; sprachliche Mittel sind die ,Beschreibung‘ sowie Tropen und Figuren […], die aber nicht mühselig erlernt, vielmehr als unmittelbarer Affektausdruck angewendet werden sollen […].“53 Bodmer selbst zeigt sich denn auch in seiner Rezension des Frühlings in den Freymüthigen Nachrichten von den „[…] lebhaftesten Bildern und […] kühnsten Figuren die der Poet anbringt“ angetan und kritisiert diejenigen, die Kleist „zu dunkle Bilder“ vorwerfen würden.54 Sowohl die „Beschreibung“ als auch die Darstellung realer Affekte nutzt Kleist hier also dazu, dem literarischen Zweck nachzukommen, durch die Affekterregung im Text seine Leser ebenfalls zu Affekten hinzureißen. Da er aber auf der inhaltlichen Ebene das Calmieren zu starker Affekte – gerade als Mittel gegen Melancholie – propagiert hatte (vgl. Kap. 4.5), hinterfragt er nun gleichzeitig indirekt diese poetologische Anweisung. Im Frühling signalisiert an dieser Stelle das den gesamten Versverlauf über gleichmäßig beibehaltene Versmaß bereits auf metrischer Ebene, dass die aufgeheizte Stimmung anhalten wird, wenn die Pferde immer noch erregt vom schnellen Lauf nun „wiehern aus Wolken herab“ (231), was mit den „segelnde[n] Dünste[n]“ (vgl. 230) im nächsten Vers korrespondiert, durch die sie nun auf die unter ihnen liegende Landschaft blicken können. Ganz ähnlich betritt auch die nächste Tiergruppe die Felsen, deren leidenschaftliche Inbrunst der Text schon dadurch anzeigt, dass ihr Auftritt, über den gesamten Hexameter springend, den Halbvers der „wiehernden Wolken“ abschließt: 53 Vgl. Dürbeck: Einbildungskraft, S. 80 f. 54 Vgl. Johann Jakob Bodmer: Kritik des „Frühling“. In: Freymüthige Nachrichten von Neuen Büchern und zu andern zur Gelehrtheit gehörigen Sachen 7 (1750), S. 126 f.
5.3 Melancholische Phantasie I: Zerstörerische Natur (V. 211 – 239)
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[…] Jetzt eilen Stiere vorüber; Aus ihren Nasen raucht Brunst, sie spalten mit Hörnern das Erdreich Und toben im Nebel von Staub. – – – (231 – 233)
Die Bilder der Wolken und segelnden Dünste greift Kleist abermals auf, wenn es auch aus den Nasen der Stiere raucht55 – ähnlich der Wollust und Hitze, welche die Pferde zuvor „schnaubten“ (vgl. 227), benennt der Text hier jedoch mit der „Brunst“ als Rauch (vgl. 232) gleich das Element selbst, für das die Metapher des Rauchs stehen soll. Damit macht Kleist explizit, dass es in den geschilderten Szenen vor allem um eine Darstellung leidenschaftlicher Affekte gehen soll. Auch die Form der Gewalt, welche durch die Tiere ausgeübt wird, ist mit den Stieren, die „mit Hörnern das Erdreich“ spalten (232), ausgestellt. Die Stiere „toben“ (233), und Kleist setzt im Gedicht drei Auslassungszeichen. Bis zur überarbeiteten Version von 1756 folgten im Anschluss an die im Staub tobenden Stiere noch zwei Verse, in denen die Tiere sogar von den Klippen stürzten, „dumpficht“ brüllten und ob ihrer Sinnesvergessenheit in Höhlen taumelten.56 Allerdings sind die von Kleist häufig verwandten Auslassungszeichen, welche hier später im Text eingesetzt wurden, gleichzeitig nach Meier eine der Vergegenwärtigungsfiguren, die „ausrufend“ und „vergrößernd“ besonders gut das Überwältigtsein vom eigenen Affekt anzeigen können. Diese von Kleist hier benutzte Zeichensetzung kann also ebenfalls Teil seiner affekttheoretischen Strategie in diesem Teil des Frühlings sein.57 Signifikant ist in der gesamten geschilderten Szene die Situierung in schwindelnder Höhe, die nicht wie bei Haller der Verdeutlichung einer idealen Lebensweise in den Alpen dient58, sondern von Anfang an den gefährlichen Schauplatz schafft, den Kleist benötigt, um die extremen Affekte der Tiere anzudeuten.59 Schließlich blickten bereits zu Beginn die wilden Rösser von oben hinab auf den locus amoenus des Hains, womit eine hochmütige Sicht auf das bescheiden-empfindsame Leben in der Natur 55 56 57 58
Vgl. auch den „Schaum“ in V. 237. Vgl. W I 222, Anm. V. 233. Vgl. Zelle: Klopstocks Diät, S. 121 f. In den Alpen ist ein angenehmes Schwindelgefühl Ausdruck eines Gefühls der Erhabenheit bei den – an Kleists positive Frühlingskonnotationen anschließenden – ersten Augenblicken eines neuen Tages: „Ein sanfter Schwindel schließt die allzu schwachen Augen […].“ (HA 16, 329.) 59 Vgl. zum religiösen Ich, das sich ebenfalls in unerreichbare Höhen „schwingen“ will und bei welchem in Kleists Frühling dann sogar jegliche Kommunikation aussetzt, als es Gott zu nahe zu kommen versucht, Kap. 6.5.
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impliziert wird. Die verwerfliche Eigenschaft des „Hochmuts“ (vgl. Kap. 4) war schließlich im Frühling wie in anderen Werken Kleists durch die Metapher verbildlicht worden, immer „nach oben“ streben zu wollen. Dies korrespondiert mit den sich offensichtlich unvernünftig verhaltenden, nur den leidenschaftlichen Affekten folgenden Tieren. Das „wilde Getümmel“ setzt sich im nächsten Vers nun mit dem Fluß fort (vgl. 234), der ähnlich der eingangs im Text geschilderten Frühlingsüberschwemmung „mit sich Stücke von Felsen“ reißt und „entblößete Wurzeln der untergrabenen Bäume“ durchrauscht (235 f.). Nachdem die Wurzeln beschrieben wurden, die sich nun nur noch „bücken und wanken“ (237), heißt es: Die grünen Grotten ertönen und klagen darüber. Es stutzt ob solchem Getöse das Wild und eilet von dannen. Sich nahende Vögel verlassen, im Singen gehindert, die Gegend Und suchen ruhige Stellen […]. (238 – 241)
Schon durch die zwei abgeschlossenen Hauptsätze in den Versen 238 und 239, welche für die Versgestaltung im Frühling äußerst ungewöhnlich sind, deutet sich die herrschende Irritation an: „Es stutzt ob solchem Getöse“ hier nicht nur das Wild, sondern der gesamte Text angesichts der anderen, zerstörerischen Natur, die sich hier plötzlich so dominant aufgebaut hat. Auch ist die für das Naturverständnis Kleists essentielle Kommunikation zwischen Elementen der Natur sowie zwischen Natur und Ich durch den alles dominierenden Krach nicht mehr möglich: „im Singen gehindert“ (240) verlassen die Vögel den Ort des zerstörerischen Wassers, der extremen und moralisch verwerflichen Affekte von Wollust und Brunst.60 Die verheerenden Zerstörungen in Wasser und Land passen nicht in das bislang so idyllische Naturbild im Frühling. Es scheint indes kein Zufall zu sein, dass eine destruktive Natur sich ausgerechnet in der Passage findet, in der das lyrische Ich Zweifel an bisher aufgestellten Idealen äußert.61 Zumindest wird auch in Kleists einziger Collectanee zum Eintrag „Unglück“ in einem Haller-Zitat unter anderem das Bild einer Naturkata-
60 Martin Kagel macht im Kontext des durch die Naturkatastrophen bei Kleist ausgelösten Lärms noch einmal den Bezug zur Erhabenheitsästhetik in seinen Texten deutlich. Vgl. Kagel in: Lauer u. Unger (Hg.): Erdbeben, S. 479. 61 Vgl. zu Katastrophen und Naturereignissen bei Kleist bereits Kemper GE 383 – 385.
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strophe verwandt, um persönliches Leiden in Worte zu fassen.62 Das Bild der Naturkatastrophe figuriert dabei im zeitgenössischen Kontext des „Erhabenen“ zudem als vorbildliches Exempel, die Seele in Angst und Schrecken zu versetzen.63 Kleist zitiert die folgende Passage aus Hallers Sehnsucht nach dem Vaterlande 64 : Bald schleicht ein Weh durch meine matten Glieder, Bald schadet mir ein Blut-verwandter Feind: Bald fällt der Bau der schwachen Hoffnung nieder, Bald sterben die, die es noch gut gemeint. Bald reißt die Flut durch Schutt zerrißner Dämmen,* Womit der Todt an unsre Wälle schwimmt; Bald will uns Mars mit Flammen überschwemmen, Davon der Tacht schon in der Asche glimmt. *Da eben in Holland eine grosse Überschwemmung war65, und die Zeitläuffe für sehr gefährlich angesehen wurden.66
Verschiedene Übel werden hier aufgezählt. Neben körperlichen Beschwerden („schleicht ein Weh durch meine matten Glieder“) erwähnt das Gedichtexzerpt auch niederträchtige Menschen („schadet mir ein Blutverwandter Feind“), die den „Bau der schwachen Hoffnung“ des eigenen Ich „niederfallen“ lassen können. Das Verb „reißen“ (oben im fünften Vers67) – Kleist wählt in seiner Abschrift aus dem Variantenapparat der Haller’schen Ausgabe bewusst dieses Verb aus68 – bildet im Frühling das wichtigste Verb zur Beschreibung unkontrollierter Stimmungsschwan-
62 Kleists fünfter Gedanke fasst den Schmerz der Seele ebenfalls in das Bild einer Flutkatastrophe: „Oft ertragen wir großes Unglück und mäßigen uns in heftigem Zorn; bald darauf reißt uns ein kleiner Unglücksfall, eine geringe Beleidigung aus allen Schranken. Die Seele ist schon vorher voll von Schmerz gewesen, der, nur um ein Weniges vermehrt, wie ein Strom aus seinen Ufern schwillt und die Schleusen durchbricht.“ (W I 321.) Interessant ist hier angesichts der in Kleists Werken transportierten Affektenlehre die vorgestellte Möglichkeit, durch den negativ belegten Zorn zu verhindern, in die anscheinend als noch negativer empfundene Melancholie abzugleiten. 63 Vgl. Dürbeck: Einbildungskraft, S. 79; Schings: Melancholie, S. 263. 64 CO 458, 1; vgl. auch W I 8. 65 Haller könnte sich auf eine Sturmflut an der Nordsee im Jahr 1717 beziehen. Vgl. Francois Walter: Katastrophen. Eine Kulturgeschichte vom 16. bis ins 21. Jahrhundert. Stuttgart 2010, S. 355. 66 Haller: Gedichte (1753), S. 5/299, Anm. d, f. 67 Diese Ausgabe beinhaltet keine Verszählung. 68 Haller: Gedichte (1753), S. 5, Anm. f; CO 458, 1.
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kungen.69 Das niedergeschlagene Ich wird bei Haller nicht nur in Bildern einer Wasserflut (oben fünfter Vers), sondern auch in doppelter Metaphorisierung als Flut aus Flammen beschrieben: „Bald will uns Mars mit Flammen überschwemmen […].“ (oben siebter Vers) Diese Ausdrucksform persönlichen Leidens in Phantasien von Flutkatastrophen, die dann in einem zweiten Schritt auf andere Gegenstandsbereiche wie flammende Vulkanausbrüche oder einen Kriegsausbruch übertragen werden, findet sich auch in vielen anderen Texten Kleists wieder, wie im Folgenden aufgezeigt werden soll. Es lässt sich hier die These aufstellen, dass Kleist die Metapher der Naturkatastrophe vor allem nutzt, um in Unruhe gebrachte menschliche Affekte darzustellen – zum Teil sogar über ,doppelte‘ Metaphern, wenn die Affekte mit Bildern des Krieges beschrieben werden, die wiederum in Metaphern der Naturkatastrophe Ausdruck finden (vgl. Kap. 5.4). Die Katastrophensemantik des 18. Jahrhunderts vor 175570 und ihre literarischen Einflüsse lassen sich hier wieder exemplarisch an Kleists Collectaneen ablesen71: Denn schon in weiteren Einträgen aus den Collectaneen Kleists werden unter dem Lemma „Ungewitter“ zwei Flutkatastrophen beschrieben.72 Neben einem eine ganze Seite füllenden Auszug 69 Selbst in einem Brief Kleists an Gleim vom 27. 9. 1747 über die Freundschaft zu Gleim und Sulzer dient es dieser Funktion: „In der That schätze ich Viele hoch und hege gegen Viele Frendschaft par reflexion; so aber bin ich noch niemals hingerissen worden, ich habe niemals so viel gefühlt als bei der Bekanntschaft mit ihnen Beiden.“ (W II 85); s. zur motivgeschichtlichen Prominenz des Verbs „reißen“ bzw. vielmehr „gerissen-werden“ im pietistischen Kontext Langen: Wortschatz, S. 377/s. auch Anm. 120 in Kap. 6.5. 70 Der inkorrekte Gemeinplatz der Forschung, die Darstellung von Naturkatastrophen in der Literatur des 18. Jahrhunderts spiele erst nach dem Erdbeben von Lissabon eine signifikante Rolle, wurde zuletzt fortgeschrieben von Talib M. Ibrahim: Die Darstellung von Naturkatastrophen in der Literatur des 18. und 19. Jahrhunderts. Marburg 2011. Vgl. hingegen Christoph Weber: Vom Gottesgericht zur verhängnisvollen Natur. Darstellung und Bewältigung von Naturkatastrophen im 18. Jahrhundert. Hamburg 2015. 71 Eine umfassende Geschichte der literarischen Naturkatastrophen ist noch ungeschrieben, wie Martin Kagel im Kontext von Kleists Cissides feststellt. Vgl. Kagel in: Lauer u. Unger (Hg.): Erdbeben, S. 478. Zuletzt erfährt das Thema im Rahmen neuerer Forschungsansätze wie des ecocriticism jedoch größere Aufmerksamkeit. 72 Am 7. 10. 1746 schickt Gleim Kleist außerdem den Ausschnitt einer Ungewitterbeschreibung Marcus Pacuvius’, über die sie sich wohl zuvor unterhalten hatten, vgl. W III 25. Der von Gleim notierte Ausschnitt beschreibt u. a. das in der antike Literatur beliebte Motiv eines „Nachtsturms“ am Firmament: „Interea prope iam occidente sole inhorrescit mare, / Tenebrae conduplicantur, noctisque et nimbum
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aus Bodmers73 Colombona 74 notiert sich Kleist aus dem ersten Buch der Aeneis, was Vergil zum Schiffbruch und der Landung in Karthago „bespricht“ [sic!].75 Auffällig ist, dass der Aeneis-Ausschnitt wie das bereits vorgestellte Haller-Zitat schon stilistisch Gemeinsamkeiten mit Kleists Texten aufweisen. Denn so wie die leitmotivischen „dann“ der Sehnsucht nach dem Vaterlande (vgl. o.) an viele, auf diese Weise temporal gegliederte Passagen des Frühlings erinnern, konstituieren im von Kleist notierten Aeneis-Zitat die Attribute „hi“ und „his“ eine Ästhetik des gebrochenen Blicks, die an die Landschaftsbeschreibungen76 der Texte Kleists erinnert: „hi summo in fluctu pendent, his unda dehiscens / terram inter fluctus aperit.“77 Verschiedene Unglücksbeschreibungen, die ebenfalls herkömm-
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obcaecat nigror, / Flamma inter nubes coruscat, coelum tonitru contremit, / Grando mixta imbri largifico subita praecipitans cadit, / Undique omnes venti erumpunt, saevi existunt turbines, / Fervit aestu pelagus.“ (Zit. nach W III 25, vgl. auch Petra Schierl: Die Tragödien des Pacuvius. Ein Kommentar zu den Fragmenten mit Einleitung, Text und Übersetzung. Berlin u. New York 2006, S. 496.) Kleist hatte seiner Antwort nach indes auch schon „stärkere Beschreibungen“ (W II 55) gelesen. Trotz seiner in Teilen kritischen Äußerungen (vgl. Kap. 6) könnte Kleists Lektüre von Bodmers Noah ebenfalls durch sein Interesse für Naturkatastrophen bedingt sein. Johann Jakob Bodmer: Die Colombona. Ein Gedicht in fynf Gesaengen. Zyrich 1753. Kleist notiert sich fünf Seiten des Texts (S. 19 – 25), der u. a. eine stürmische Schifffahrt auf dem Meer schildert. Gerade der spezielle Charakter einer religös gefärbten Erhabenheit macht das Besondere der Schilderung aus: „Alles verkyndigt den kommenden sturm bevor er gefyhlt wird. / Izt war die himmelsfeste mit festlichem dunkel umgeben, / Mit verderben umhaengt und furchtbegleitendem schauer. / Vor erwarten der zukunft verstummten die muthigsten Männer. / Lange war yber dem haupt die traurige decke gehangen, / Als der sturmwind mit ungestymem brausen herabfällt, / Wie wenn ein damm am Himmel geborsten wäre, so bryllt’ er / Durch die segeltycher und stangen; sein schweres gefieder / Dryckte zuerst die flut darnieder, hernach als er wilder / Wytet und bryllt, so bäumen sich die wellen in haufen sich aufwärts / Und antworten dem sturmwind mit heischerm bryllen entgegen. / Von dem beschäumten dach enstyrzte das wasser und formte / Schäumende schleussen und catarakten im schallenden falle.“ (Ebd., S. 20/ CO 458, 2 – 459, 2.) Kleist hatte selbst den Plan, ein episches Gedicht Columbus zu verfassen, vgl. W I 5. Vgl. CO 458, 1. Vgl. ebenfalls den „schnellen Blick“ im Kontext von Hagedorns Landschaftsdarstellungen Martus: Hagedorn, S. 487. CO 458, 1. „Hier hängt hoch auf Fluten ein Schiff, dort öffnet die Woge / klaffend andern den Boden des Meers. Sturm wütet im Sande.“ (Original und Übersetzung zit. nach Vergil: Aeneis. Lateinisch-Deutsch. München 1971, S. 12, V. 106 f./S. 13, V. 105 f.)
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liche Wahrnehmungsmuster zu sprengen suchen, könnten ebenfalls zentralen Einfluss auf Kleists Darstellungsformen gehabt haben. Immer geht es darum, etwas nicht in einem Bild Fassbares wiederzugeben: „Alles steht im Zeichen des ,hier‘; kein fester Beobachterstandpunkt ist auszumachen, wo der Blick simultan bei den verschiedensten Momenten des Unglücks ist […]“78, schreibt Monika Schmitz-Emans über die Ästhetik der Katastrophendarstellung.79 Bilder klaffender Wogen und stürzender Schiffe finden sich zudem leitmotivisch immer wieder, wie in der Vergil-Collectanee, bei Kleist. Denn die eingangs dieses Abschnitts analysierte disharmonische Natur bildet bei Weitem nicht die erste Passage katastrophischer Schilderungen im Frühling – insbesondere, wenn der Editionsgeschichte des Texts ein genauerer Blick gewidmet wird. Die erste große Katastrophenszene des Gedichts begegnet uns in der Fassung letzter Hand von 1756 bereits nach den ersten zehn Versen (vgl. Kap. 2.2). Hier schildert der Text eine einsetzende Flut. Sie wird jedoch nach vier Versen sofort wieder abgemildert: Auf rosenfarbnem Gewölke, bekränzt mit Tulpen und Veilchen, Sank jüngst der Frühling vom Himmel. Aus seinem Busen ergoß sich Die Milch der Erden in Strömen. Schnell rollte von Hügel und Bergen Der Schnee in Haufen hinab und Felder wurden zu Seen. – – – – Allmählich versiegte die Fluth. […] (13 – 17)
78 Hier in Bezug auf Heinrich von Kleists Das Erdbeben in Chili Monika SchmitzEmans: Literarische Echos auf Lissabon 1755. Über Katastrophen als Produkte ihrer Deutung und die Konkurrenz zwischen Deutungsmustern. In: Solvejg Nitzke u. Mark Schmitt (Hg.): Katastrophen. Konfrontationen mit dem Realen. Essen 2012, S. 17 – 44, hier S. 30. Vgl. über die „Fragmentierung des Blicks“ als literarische Strategie der Katastrophenbewältigung außerdem ebd., S. 29, 32. 79 Gerade angesichts des in Kleists Collectaneen so dominanten Horaz sollte die Prominenz von Katastrophendarstellungen in Horaz’ Oden an dieser Stelle nicht unerwähnt bleiben, vgl. exempl. Horaz: Werke I, S. 9, V. 1 – 4/9 – 12/ 17 – 20; S. 27, V. 25 – 32; S. 177, V. 3 f. Volker Riedel und Viktor Pöschl weisen auf die Gestaltung von Katastrophen in Horaz’ Werk hin. Vgl. Volker Riedel: Zwischen Ideologie und Kunst. Bertolt Brecht, Heiner Müller und Fragen der modernen HorazForschung. In: Helmut Krasser u. Ernst A. Schmidt (Hg.): Zeitgenosse Horaz. Der Dichter und seine Leser seit zwei Jahrtausenden. Tübingen 1996, S. 392 – 423, bes. S. 399; Viktor Pöschl: Die Aktualität des Horaz. In: Krasser u. Schmidt (Hg.): Zeitgenosse, S. 20 – 35, bes. S. 34. Explizit nennt Kleist diese genannten Stellen der Oden in den Collectaneen jedoch nicht.
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Eine mithin lediglich angedeutete Flutkatastrophe („ergoß sich […] in Strömen“/ „Felder wurden zu Seen“) versiegt bereits wieder in Vers 17.80 Durch den Hinweis, dass sich „[D]ie Milch der Erden“ aus dem Busen des „Frühling[s] ergoß“ (vgl. 14 f.), stellt Kleist die titelgebende Jahreszeit in einen konstitutiven Zusammenhang mit dem Topos der Überflutung. Die zitierte Szene gehört zu den Passagen des Frühlings, die den stärksten Überarbeitungen bzw. Kürzungen im Rahmen seiner Entstehungsgeschichte unterlagen – zwei der drei größten Kürzungen umfassen dabei katastrophische Schilderungen der genannten Überschwemmung bzw. einer längeren Kriegspassage (s. u.). Sauer deutet dies abwertend dahingehend, dass Kleist „die wilden Schößlinge seiner üppigen Phantasie“ in seinen weniger produktiven Jahren energisch beschneide81, während Samuel Gotthold Lange in der Vorrede seiner Veröffentlichung des einzigen erhaltenen Frühlings-Manuskripts der Meinung ist, die ursprünglichen Versionen des Frühlings hätten „offenbar mehr Handlung“ gehabt.82 Mit den Auslassungszeichen in Vers 16 (s. o.) weist Kleist auf die Kürzungen aus dem Text hin, die er für die Zürcher Frühlings-Edition bei Salomon Gessner 1754 vornahm83 und die Lange sehr bedauert, da sie gegen die 80 Anders als etwa Brockes’ Die auf ein starckes Ungewitter erfolgte Stille wird die Flut bei Kleist jedoch nicht anhand eines christlichen Deutungsmusters aufgelöst. Vgl. Brockes: Vergnügen, S. 54 – 61. Vgl. außerdem im Kontext weiterer (gemäßigter) Katastrophendarstellungen in der Lyrik der Frühaufklärung Carsten Zelles physikotheologische Interpretation derjenigen Gedichte Brockes’ wie Das Wasser, welche nach der Darstellung einer zerstörerischen Natur ab der zweiten Gedichthälfte nur noch harmonische Naturbilder präsentieren. Carsten Zelle: Das Erhabene in der deutschen Frühaufklärung. Zum Einfluß der englischen Physikotheologie auf Barthold Heinrich Brockes’ „Irdisches Vergnügen in Gott“, in: arcadia 25 (1990), S. 225 – 240. Wolfram Mausers These, dass Brockes „in seinem ganzen Werk die Darstellung von Naturkatastrophen“ vermeide, ist somit falsch. (Wolfram Mauser: Irdisches Vergnügen in Gott – und am Gewinn. Zum Gedicht Die Elbe von B. H. Brockes. In: Lessing-Yearbook XVI (1984), S. 151 – 178, hier S. 169.) Zwar kritisiert Carsten Zelle Mausers These bereits 1987, vgl. Zelle: Grauen, S. 221, Anm. 81; Mauser ändert sie jedoch in einer Neuausgabe „erheblich überarbeiteter Aufsätze“ (S. 15) nicht, vgl. Wolfram Mauser: Konzepte aufgeklärter Lebensführung. Literarische Kultur im frühmodernen Deutschland. Würzburg 2000, S. 77. 81 Vgl. zur auch von Kleist angewandten „Verbesserungsästhetik“ Steffen Martus: Die Entstehung von Tiefsinn im 18. Jahrhundert. Zur Temporalisierung der Poesie in der Verbesserungsästhetik bei Hagedorn, Gellert und Wieland. In: Deutsche Vierteljahrsschrift für Literaturwissenschaft und Geistesgeschichte 74 (2000), S. 27 – 43. 82 W I 10; Lange: Landleben, S. 20. 83 Kleist: Frühling (1754).
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,eigentliche‘ Intention des Gedichts verstießen.84 Kleist möchte die gekürzten Verse jedoch als eigenständigen Text85 unter dem Titel Gemälde einer großen Überschwemmung veröffentlichen, wie er am 2. 3. 1753 an Gessner schreibt: Die „Ueberschwemmung“ muß ausgeschaltet werden; doch können Sie sie hintenan drucken. […] Der Titel der Ueberschwemmung kann heißen: Gemälde einer großen Ueberschwemmung. / – – – – Schnell glitte […] u.s.w. bis – – in schlagenden Wogen versanken. (W II 223 f.)
Auch für die Eingliederung des Gemäldes hatte Kleist konkrete Vorstellungen: „Es kann vor der ,Sehnsucht nach Ruhe‘ gedruckt werden.“ (W II 224, Hervorh. C. W.) Diese Notiz gibt einen weiteren Hinweis auf den engen Konnex der Darstellung von Katastrophen und des Ausdrucks von Melancholie in Kleists Werk – ist der Begriff der „Ruhe“ in seinen Texten doch häufig Umschreibung für eben jenen Gemütszustand, der die depressiven Phantasien von Chaos und Zerstörung ablösen sollte (s. u., vgl. auch Kap. 4.5 und 6.2). Die Katastrophe figuriert also als zentrales Symbol für ein Subjekt, das sich in einem unruhigen, nicht ausgeglichenen und somit melancholischen Zustand befindet. Gessner ignorierte den Wunsch für die Reihenfolge der abgedruckten Gedichte Kleists jedoch86, was den Auftakt zu einer langen Editionsgeschichte des unaufmerksamen Umgangs mit dem Gemälde bildet.87 84 Lange schreibt, Kleist habe ursprünglich, dem ersten Gedichttitel entsprechend, das Landleben im Allgemeinen und somit weder die vier Jahreszeiten noch den „Anblick“ eines Frühlingstages beschreiben wollen: „Das Gedicht selbst zeigt, daß die schöne Stelle von der Ueberschwemmung aus ihrem rechten Orte herausgerissen, und als ein Fragment gedruckt worden ist, blos der Idee seiner [Kleists, C. W.] Kunstrichter zu Folge, daß das Gedicht den Anblick eines einzigen Frühlingstages enthalten sollte, von dessen Gegenteil doch Spuren genug übrig blieben.“ (Lange: Landleben, S. 19 f.) Vgl. W I 173, Anm. V. 89. 85 W II, S. 223 f. 86 Vgl. Kleist: Frühling (1754), S. 81 f. 87 Lediglich als Teil der ersten Frühlingsversion ist die Überschwemmungsszene der Forschung bekannt; bereits in der nächsten Werkausgabe von 1756 und somit zu Kleists Lebzeiten taucht das Gedicht nicht mehr auf. Einlassungen von Kleist sind hierzu nicht überliefert. In sämtlichen posthumen Kleist-Ausgaben wird der Text ignoriert, nur August Sauer druckt in seiner Ausgabe das Gemählde im Anhang zu beiden Frühlings-Versionen ab. Jürgen Stenzel hat sich bei der Herausgabe der Sämtlichen Werke 1971 unkommentiert gegen den Abdruck entschieden – im Gegensatz zu sämtlichen anderen in den ursprünglichen Frühlings-Versionen enthaltenen Texten wie die Unzufriedenheit der Menschen, die mitabgedruckt sind.
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Die längere Flutpassage der ersten Frühlings-Publikationen, das spätere Gemälde, schildert insbesondere die katastrophalen Folgen einer Flut, eröffnet aber auch positive Perspektiven auf das Geschehen (zur Ausfaltung dieser Perspektiven in religionsgeschichtlicher Hinsicht siehe Kap. 6.3). Kleist lässt die Verse mit der Beschreibung einer Vorstufe der Überschwemmung beginnen, wobei lediglich der Schnee (jetzt allerdings in „Bergen“, nicht mehr in „Haufen“) an die oben zitierte spätere Frühlings-Version erinnert: […] Schnell glitt von murmelnden Klippen Der Schnee in Bergen herab; des Winters Gräber, die Flüsse, Worin Felshügel von Eis mit hohlem Getöse sich stießen, Empfingen ihn, blähten sich auf voll ungeduldiger Hoffnung, Durchrissen nagend die Dämme, verschlangen frässig das Ufer; Wald, Feld und Wiese ward Meer. Kaum sahn die Wipfel der Weiden Im Thal draus wankend herfür. (W I 174 f., 20 – 26)
Die Darstellung schildert zunächst das Ende des Winters (vgl. Kap. 2.2), was sich durch das Abschmelzen des Eises und die dadurch ergebende Flut zeigt. Der Schnee gleitet „in Bergen herab“ (W I 174, 21) von den „murmelnden Klippen“ (ebd., 20), hinein in die bildlich als „Winters Gräber“ (ebd., 21) bezeichneten Flüsse. Der Winter wird somit zu Grabe getragen, von der Natur lange erhofft, wie es in den Versen 23 und 24 (W I 175) zum Ausdruck kommt: Schließlich „blähten sich“ die Flüsse „auf voll ungeduldiger Hoffnung“ (ebd., 23), während „Felshügel von Eis mit hohlem Getöse sich stießen“ (W I 174, 22), was an die unverständliche Geräuschkulisse der in Kapitel 4.1 beschriebenen katastrophischen Szenen erinnert. Bereits hier wird die Darstellung der Überflutung somit indirekt mit (zu) starken Affekten verknüpft, was nicht zuletzt im zeitgenössischen Verständnis (s. o.) eines der Hauptcharakteristika eines melancholischen bzw. hypochondrischen Menschen bildete, der seine Gefühlsregungen nicht ,vernünftig‘ unter Kontrolle hat. Nach der Vereinigung von Schnee und Flussbett „verschlingen“ die Flüsse „frässig das Ufer“ und durchreißen „nagend die Dämme“ (W I 175, 24).88 Mit der vereinigenden Wirkung der Überflutung in Bezug auf die verschiedenen Bestandteile der Natur („Wald, Feld und Wiese ward Meer“; 25) ist der Zustand des völligen Chaos erreicht – diese Natur ist nicht mehr ordentlich genug, um wie in den Landlob-Passagen des Frühlings ein sittsam vervollkommnetes Ich wi88 Auf das bei Kleist durchgehend beliebte „gefräßig“ weist Sauer hin: W I 175, Anm. V. 24.
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derspiegeln zu können (vgl. Kap. 3). „Kaum sahn die Wipfel der Weiden / Im Thal draus wankend herfür“ (W I 175, 25 f.), heißt es hier etwa. Kleist schildert nun die einzelnen Leidtragenden der Katastrophe, wobei er vor allem auf verschiedene Tiere eingeht: […] Gefleckte Täucher und Enten Verschwanden, schossen herauf und irrten zwischen den Zweigen, Wo sonst für Schmerzen der Liebe im Laube die Nachtigall seufzte. Der Hirsch, von Wellen verfolgt, streift’ auf unwirthbare Felsen, Die traurig die Fluth übersahn. Ergriffene Bären durchstürzten Das anfangs seichte Gewässer voll Wuth; sie schüttelten brummend die um sich gießenden Zotten. Bald sank der treulose Boden. Sie schnoben, schwammen zum Wald, umschlangen Tannen und Eichen Und huben sich träufelnd empor. Hier hingen sie ängstlich im Wipfel, Von reißenden Winden, vom Heulen der Flüsse=speienden Klippen Und untern Tiefe gescheucht. (W I 175, 26 – 36)
Hierbei hebt der Text zunächst darauf ab, dass selbst „Täucher“ und „Enten“ (W I 175, 26), also Wasservögel, die an Umstände von Überschwemmungen gewöhnt sein sollten, „heraufschossen“ und zwischen den Zweigen „umherirrten“ (vgl. W I 175, 27); auf mehreren Ebenen werden also bestehende Ordnungen hinterfragt und angegriffen. Auch hier (vgl. o.) dient die Nachtigall als zentrales Symbol, um die Melancholie im Text zu belegen („Wo sonst für Schmerzen der Liebe im Laube die Nachtigall seufzte“; W I 175, 28), und selbst der starke und mächtige Hirsch „streift’ auf unwirthbare Felsen“, die ebenfalls „traurig die Flut übersahn“ (ebd. 29 f.). Unter anderem erblicken die beiden Tiere von der Erhabenheit der Szene „[e]rgriffene Bären“, welche „durchstürzten / Das anfangs seichte Gewässer voll Wuth“ (ebd. 30 f.). Während der Text also, wieder den dramaturgischen Empfehlungen der Affektrhetorik Bodmers/Breitingers folgend, eine dramatische Szene schildert und die Affekte des Lesers erregen will, werden gleichzeitig die ,rührenden‘Affekte der dabei beschriebenen Protagonisten („ergriffen“, „Wuth“) dargestellt und in gewisser Hinsicht ,verdoppelt‘, indem Kleist sie ausdrücklich benennt. Der Frühling berichtet als Nächstes, wie die Bären von einem stärker ansteigenden Wasserspiegel überrascht werden (vgl. ebd. 32) und nun „ängstlich im Wipfel / Von reißenden Winden, vom Heulen der Flüsse=speienden Klippen / Und untern Tiefe gescheucht“ hängen (ebd. 34 – 36). Die als „[D]er Büsche versammlete Sänger“ metaphorisierten Singvögel betrachten wie die Bären „traurig und stumm“ (vgl. ebd. 36 f.) die Landschaft. Sie sind also nicht nur traurig, sondern auch noch stumm, womit sie als Singvögel ihre identifizierende Eigenschaft abgege-
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ben haben und eine Situation der Katastrophe abermals mit einem Aussetzen jeglicher Möglichkeiten der Kommunikation in der Natur identifiziert wird.89 Nach indirekten Verweisen Kleists auf die Ideen eines „Goldenen Zeitalters“ und der Sintflut (vgl. Kap. 7.2) taucht zum Schluss wieder der Mensch in der überschwemmten Szenerie auf. Ein „trostlose[r] Hirt“ (W I 176, 43) findet sich inmitten umherschwimmender Giebel und Kähne (ebd. 42) sowie untergehender Gemsen (ebd. 44) wieder, bevor die noch ungekürzte Passage mit dem auch später beibehaltenen Vers „Der Boden trank endlich die Fluth“ abschließt (ebd. 45). Damit ist die später ausgeschiedene, erste große Katastrophenszene des Frühlings beendet, die in den wirkmächtigen ersten Auflagen von 1749, 1750 und 175190 einen großen Teil des Frühlings-Auftakts ausmachte. Den ersten Abschnitt zur Funktion der „katastrophischen Metaphern“ bei Kleist abschließend, zeigt sein Geburtslied noch einmal den zentralen Stellenwert dieses Bildes für die Illustration der Melancholie in seinen Texten auf. Mit der Naturkatastrophe91 werden, über die zentralen Eigenschaften von ,Heftigkeit‘ und ,Chaos‘ charakterisiert, verschiedenste Zuschreibungen der Melancholie als zu heftiger Aufruhr der Affekte verdeutlicht. Das folgende Zitat aus dem Geburtslied bietet sich hier an, da es noch nicht – wie im nachfolgenden Kapitelabschnitt ausgeführt – die Metapher der Naturkatastrophe in einen doppelten Kontext mit der Katastrophe des Kriegs oder den menschlichen Katastrophen wilder Affekte stellt: […] und die See Ergießt sich wild, Verderben schwimmt Auf ihren Wogen und der Tod. Ein unterird’scher Donner brüllt; Die Erd’ eröffnet ihren Schlund, Begräbt in Flammen Feld und Wald, Und was im Feld und Walde wohnt. – – Und fast kein tugendhafter Mann Lebt ohne Milzsucht, lahmen Fuß Und ohne Buckel oder Staar; Ihn foltert Schwermuth, weil er lebt. – Dies Alles wirst du sehn und mehr. (W I 121 f., 39 – 50) 89 Vgl. auch Kagel in: Lauer u. Unger (Hg.): Erdbeben, S. 477. 90 Kleist: Frühling (1749); Ewald Christian von Kleist: Der Frühling. Ein Gedicht. Nebst einem Anhang. Berlin 1750; Ders.: Der Frühling. Ein Gedicht. Nebst einem Anhang. Zürich 1751. 91 Vgl. zur Naturkatastrophe bei Kleist auch schon Gratzke: Blut und Feu’r.
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Mit der Metaphorisierung einer mörderischen See (vgl. ebd. 40 f.) durch andere verheerende Naturereignisse wie Flammen und Donner bei Kleist schließt sich hier der Kreis zur am Beginn dieses Abschnitt zitierten HallerCollectanee.92
5.4 Melancholische Phantasie II: Katastrophen des Kriegs und der Affekte (V. 79 – 86) Wenn man die Darstellung des im Frühling geschilderten Unglück weiterverfolgt, zeichnet Kleist im ersten Drittel des Texts das Panorama einer weiteren Katastrophe: Wieder bricht, wie in einer melancholischen Phantasie, über die hier beschriebene Landschaft plötzlich ein Krieg herein, der den Alltag der Menschen wie die Landschaft, in der sie leben, völlig zerstört: Allein der fräßige Krieg, vom Zähne=bleckenden Hunger Und wilden Schaaren begleitet, verheert oft Arbeit und Hoffnung. Er stürmet rasend einher, zertritt die nährenden Halmen, Reißt Stab und Reben zu Boden, entzündet Dörfer und Wälder Für sich zum flammenden Lustspiel. […] (79 – 83)
Anthropomorphisierend charakterisiert der Text den „fräßigen Krieg“ als unersättliches Monstrum, der „Zähne=bleckend“ (vgl. 79) Arbeit und Hoffnung der Menschen auffrisst. In den Seasons verwendet Thomson eine Darstellung von „insect-armies“93 (s. u.), die ganz ähnlich klingt: „Der Hunger folgt unmittelbar / Dem fräßigen, verzehrnden Zug, vernichtet und verderbt das Jahr.“ (BrTh 17, 121 f.) Wenn die „wilden Schaaren“ des Kriegs Arbeit und Hoffnung „verheeren“ (vgl. 80), weist Kleist im Frühling 92 Abschließend sei auch auf eine positiv belegte Flutmetapher in Kleists Werk hingewiesen, nämlich das rauschende Meer als Spiegelung Gottes im Geburtslied, vgl. W I 120, 52 – 55. Vgl. außerdem insgesamt zum bei Kleist sehr dominanten Wassermotiv, hier sogar ebenso in Bezug auf die idyllische wie kriegerische Welt, in der Sehnsucht nach Ruhe: „Dort bot die Flur, der Bach mir Freude dar; / Hier wächst der Schmerz, hier fließet die Gefahr.“ (W I 41, 23 f.), sowie den „Thränenbach“ (W I 42, 35), der in der Sehnsucht ebenfalls das Gesicht der Braut angesichts der versammelten Kriegsgräuel benetzt, den „Kupferfluß“ (W I 43, 64), der von Häuserdächern aufgrund von Bombeneinschlag zusammenfließt. Siehe auch Kemper FA 168 – 170. 93 Vgl. „Insekten, gräßliche Armeen“ in Brockes’ Übersetzung: BrTh 17, 119 (englisches Original ebd. 16, 119).
5.4 Melancholische Phantasie II: Katastrophen d. Kriegs u. d. Affekte 127
auch in seiner Wahl der Verben auf das Thema des Kriegs hin.94 Außerdem beschreibt er den Krieg mit dem Bild einer zerstörerischen Natur: Der Krieg „stürmet (!) rasend einher“ (vgl. 81). In den ersten drei Versionen des Frühlings war der Vergleich noch unmissverständlicher: „Gleich Hagelgüssen und Sturm zerbricht er nährende Halmen“ heißt es hier mit noch deutlicherem Verweis auf naturkatastrophische Ereignisse. (W I 180, 111) Der Krieg und die Naturkatastrophe werden also parallelisiert. Nachdem der Krieg bislang im Frühling vor allem als moralisch verwerfliches Gegenbild zu laus-ruris-Idyllen gedient hatte (vgl. Kap. 3), wird ihm damit eine neue Bedeutungskomponente hinzugefügt. Im vorliegenden Textausschnitt zerstört der Krieg die Ernährungsgrundlage der Landbewohner, was nicht nur die Arbeit der Menschen, sondern mit den herangewachsenen und sprießenden Pflanzen gleichzeitig auch das Werk des Frühlings vernichtet (vgl. 13 f./Kap. 2.1). Dadurch wird bei Kleist der Krieg als ein den Frühling bedrohendes Element identifiziert, wofür im Text bisher der Winter stand (vgl. Kap. 2.2).95 Dies war im Frühling schon durch vorige Charakterisierungen des Winters über Bilder 94 Schon der Begriff „Schaar“ war für Kleist vielleicht militärisch aufgeladen, da Brockes in seinen Seasons an einer Stelle Thomsons „driving fleets“ mit „Schaar“ übersetzt (BrTh 4 f., 20). Die Annahme eines engen Konnex zwischen den Worten „Heer“ und „Schaar“ für Kleist (s. auch Frühlings-Ausschnitt im Fließtext) würde auch belegt durch eine Änderung in der Version des Lobs der Gottheit von 1756, wo Kleist „Alles ist durch Dich. Dies Heer ungeheurer Sphären liefe […]“ ersetzt hat durch das für ihn offenbar synonyme: „Alles ist durch Dich. Die Schaaren ungeheurer Sphären liefen […].“ (W I 28, 17, Anm. V. 17.) Vgl. auch die „wilde Schaar Athens“ bei ihrem Angriff auf die Makedonier in Cissides und Paches (W I 251, 20). Für Brockes’ Seasons-Übersetzung schien die enge Bedeutungskorrelation von „Heer“ und „Schaar“ in jedem Fall gegeben zu sein, verwendet er diese Begriffe doch an zwei Stellen zur Beschreibung der zerstörerischen Leidenschaften (!): vgl. „Es hat der Leidenschaften Heer / Die Schranken überall zerrissen.“ (BrTh 41, 330; im Original lediglich „the Passions all“, ebd. 40, 330) sowie: „[W]ill er, dem nichts an Schönheit gleicht, / […] So schändlich sich herabwerts neigen, / Und der so wilden, fräßigen, ergrimmt= und räuberischen Schaar / Sich zugesellen […].“ (BrTh 49, 400, 402 f.; im Original „herd“, ebd. 48, 402.) Beachte außerdem die hier „fräßige“ Schaar, welche den fräßigen Krieg Kleists mit seinen „Schaaren“ beeinflusst haben könnte (s. o.). 95 Für die Bedeutung des „Winters“ im Zusammenhang des Gesamtkapitels ist der Brief Kleists an Gleim vom 30. 6. 1759 aufschlussreich, in dem er im privaten Kontext Winter und Melancholie parallelisiert: „Doch seit einiger Zeit bin ich ohnedem ziemlich vergnügt gewesen, wenigstens mehr als den Winter durch, in dem ich grausam hypochondre gewesen bin und mehr ausgestanden habe als jemals ein Mensch, ob ich gleich nicht geklagt habe.“ (W II 569.) Zur politischen Konnotation des Winters vgl. auch Frühsorge in: Colloquium: Jahreszeiten, S. 36.
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von Katastrophen vorbereitet worden (19 – 24) – beide werden über die Konnotationen von ,wild‘ oder ,heftig‘ dargestellt.96 Diese Bedeutungszuweisung lässt sich genauso in den Seasons beobachten, wenn die Schilderung der Insektenplage (s. o.) ebenfalls dem „feuchten Nord“ (Winterwind) und damit dem Winter zugeordnet wird. Letzterer bedroht auch hier den Frühling: Da des Frühlings Blüht’ in allen Blättern schrumpft, entstehn Getrübte Wüsten überall. Gar oft, erzeugt vom feuchten Nord, Erscheinen viele Millionen Insekten, gräßliche Armeen, In seinem giftgen Hauch erzielt, und fressen immer sich fort […] (BrTh 17, 116 – 11997)
Kleist stellt die Zerstörung des mit Fruchtbarkeit konnotierten Frühlings im folgenden Vers weiter dar, wenn mit dem phallischen „Stab“ und den weiblich konnotierten „Reben“98 noch mehr mit Fruchtbarkeit und Sexualität belegte Elemente niedergerissen werden. Ein somit im übertragenen Sinne nicht mehr der Fortpflanzung dienendes, sondern nur noch rein den spontanen Affekten folgendes „Lustspiel“ (vgl. 83) beginnt „der Krieg“ in diesen Versen, wenn er Dörfer und Wälder „entzündet“ (82). Kleist greift im nächsten Vers nun auch zum expliziten Vergleich mit einer Naturkatastrophe, um den Lesern das im Text sich vollziehende Geschehen eindringlicher zu vergegenwärtigen: Denn der Krieg wütet nun vollends, […] Wie wenn der Rachen des Aetna Mit ängstlich wildem Geschrei, daß Meer und Klippen es hören, Die Gegend um sich herum, vom untern Donner zerrüttet, Mit Schrecken und Tod überspeit und einer flammenden Sündfluth. (83 – 86)
Auch in der Sehnsucht nach Ruhe nutzt Kleist Bilder eines Vulkans für die Darstellung einer Kriegsszene: „Des Himmels Raum erbebt und schallt vor Leide. / Er wird mit Schutt und Leichen überschneit, / Als wenn Vesuv und Hekla Steine speit.“ (W I, 43, 76 – 78) Im Frühling greift Kleist noch 96 Vgl. auch Kemper: „Der Frühling indessen ist die Jahreszeit, in der die fruchtbare Schöpfungskraft die Oberhand über die Destruktionsgewalt (des Winters) gewinnt.“ (Kemper FA 170.) 97 Zur negativen Konnotation eines Insektenheers vgl. außerdem den Brief Gleims an Kleist vom 6. 1. 1758 im Kontext des Siebenjährigen Krieges, wo Gleim über „seinen Grenadier“ schreibt: „Ein neuer Tyrtäus, sollte er seine Landsleute aufwiegeln, das Heuschreckenheer vom deutschen Boden zu jagen.“ (W II 273.) 98 Vgl. die „Brüste der Reben“ in Vers 67. Ramler streicht diese Anspielung, s. sein „Rebengebirg […] mit Thyrsusstäben bepflanzet“ (W I 339, 57).
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ausdrücklicher zu den Mitteln der doppelten Affektdramaturgie (s. o.), wenn er nicht mehr von „Hunger“ oder „Feuer“ schreibt, um die Szene zu schildern, sondern direkt „Schrecken und Tod“ (vgl. 86) benennt, die der „Ätna“ nun ausspuckt. Auch im Cissides und Paches erwähnt Kleist anstelle konkreter Objekte deren metaphorische Bedeutungen, welche auf der Wasseroberfläche zu finden sind: „[…] so floß in der Burg / Der Feuerregen in ein Feuermeer / Zusammen; Tod und Schrecken schwamm darauf.“ (W I 259, 13 – 15). In der Überblendung verschiedener Katastrophenbilder mit solchen leibgewordenen Affekten und Krieg entstehen im Frühling mitunter auch oxymorale Metaphern von Wasser und Feuer, wenn etwa „Meer und Klippen“ das Feuer des Vulkans hören oder, noch deutlicher, der Text von einer „flammenden Sündfluth“ (84/86, s. u.) spricht. Auch die als zweite Katastrophe in der Endfassung des Frühlings vorgestellten acht Verse bilden indes lediglich den Rumpf einer ursprünglich viel größeren Katastrophenbeschreibung.99 In den ersten drei Editionen des Frühlings umfasste diese im Anschluss an das Bild vom „flammenden Lustspiel“ (83/s. o.) weitere dreizehn Verse, die ebenfalls seit der Zürcher Ausgabe von 1754 fehlen. Im folgenden Textausschnitt sind es lediglich die Verse 125 und 127, die Kleist in der Überarbeitung übernommen hat, den Vers 126 hat er leicht verändert und den Rest gestrichen. In der Erstfassung werden ähnliche Bilder von Affekten wie der „Schrecken speiende Ätna“ (s. o.) fortgeführt: „[…] Denn fliegt ein mörd’risch Gethöne / Und Tod und Jammer herum“ (W I 180 f., 113 f.), heißt es im Anschluss an das auch später übernommene „flammende Lustspiel“. Kleist verweist also auf die akustische Dimension des Kriegs, und nutzt mit dem „Jammer“ ähnlich dem „ausgespeiten Schrecken“ (dieser folgt nun etwas später, s. W I 182, 127) die rührungspoetische Wirkung verdinglichter Affekte.100 Bei Kleist zeigt sich immer wieder die offene Frage der zeitgenössischen affekterregenden Ästhetikprogramme, wie ein Dichter vernünftig und zugleich vom Affekt ergriffen schreiben soll (s. o.). Denn mitunter ist es in seinen Texten nur schwer differenzierbar, inwiefern das 99 Michael Gratzke stellt die hier besprochenen verschiedenen Frühlings-Varianten auch in einen Zusammenhang mit Kleists sich wandelnder Haltung zum Krieg. Vgl. Gratzke: Blut und Feuer, S. 43 f.; Ders.: Die Performanzen des Dichters und Offiziers Ewald von Kleist. In: Jordan (Hg.): Kleist, S. 189 – 208, hier S. 196 – 199. 100 Auch in der Emotionsphysiologie Johann Gottlob Krügers wird darauf hingewiesen, dass die Lebhaftigkeit der Einbildungskraft noch gesteigert werden könne, wenn man sich die Dinge mit einem Affekt vorstelle. Vgl. hier Dürbeck: Einbildungskraft, S. 126.
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stete Umschlagen von harmonischen Naturidyllen in destruktive Katastrophenphantasien eine Diskursivierung bzw. Kritik zeitgenössischer Melancholietheorien ist, bei der es nicht gelingt, die erregten Affekte im Anschluss wieder zu bändigen, und wann Kleist an Ästhetiken der rhetorischen Affekterzeugung anknüpfen möchte.101 Der Frühling setzt indes die Beschreibung der vom Krieg gezeichneten Landschaft noch weiter fort: […] Die Thäler blitzen von Waffen; Es wälzen sich Wolken voll Feu’r aus tiefen Schlünden der Stücke Und füllen die Gegend mit Donner, mit Gluth und Saaten von Leichen Das Feld voll blutiger Furchen gleicht einem wallenden Blutmeer […] (W I 181, 114 – 117)
Wenn in den „Thälern“ nun nicht mehr, wie sonst üblich, die Tautropfen, sondern die „Waffen blitzen“ (vgl. W I 181, 114), wird das Bild des Chaos und Grauens, das Kleist zeichnet, nur umso effektvoller mit Elementen einer ländlichen Idylle überblendet.102 Auch hier werden Metaphern aus dem Bereich der Natur zur Beschreibung des Kriegs verwandt, wenn sich „Wolken“ voll Feuer „wälzen“ (W I 181, 115) und die Gegend mit Donner und „Saaten“ von Leichen füllen (vgl. W I 181, 116). Die Fruchtbarkeitsund Saatmetaphorik wird aufgegriffen, wenn im Folgenden vom „Feld voll blutiger Furchen“ die Rede ist, das „einem wallenden Blutmeer“ gleicht (W I 181, 117).103 Ähnlich der ausgekoppelten Überschwemmungsszene (s. o.) gerät auch hier wieder die Natur selbst vor Furcht in Panik: Ein Heer der furchtbarsten Thiere, durch laufende Flammen geängstigt, Stürzt sich mit hohlem Gebrüll in Ufer=fliehende Ströme; Der Widerhall selber erschrickt und klagt; es zittern für Grauen Die wilden Felsen und heulen. Des Himmels leuchtendes Auge Schließt sich, die Grausamkeit scheuend; mit blauer Finsterniß füllen Sich aufwärts drehende Dämpfe gleich dickem Nebel den Luftkreis, Der oft vom Widerschein blitzt, – wie wann der Rachen des Aetna Mit ängstlich wildem […] (W I 181, 118 – 125)
„Ein Heer der furchtbarsten Thiere, durch laufende Flammen geängstigt, / Stürzt sich mit hohlem Gebrüll in Ufer=fliehende Ströme“ (W I 181, 118 f.) – wieder ergreifen sogar die stärksten, eigentlich selbst furchterregenden 101 Vgl. Kemper FA 165 bzw. Zelle: Klopstocks Diät, S. 120. 102 In der Sehnsucht nach Ruhe schildert Kleist aus persönlicher „Ich-Perspektive“ und noch ausführlicher den Umschlag eines locus amoenus in den Schauplatz schrecklichster Kriegsgräuel, vgl. W I 41 f., z. B. V. 18 – 32. 103 Vgl. ähnlich die „Blut trinkende Wiese“ (W I 43, 59) in der Sehnsucht nach Ruhe.
5.4 Melancholische Phantasie II: Katastrophen d. Kriegs u. d. Affekte 131
Tiere die Flucht und stürzen sich in rettende Flüsse. Kleist wendet Metaphern des Wassers in kurzer Folge sowohl auf den Krieg („Blutmeer“) als auch auf die Hoffnung spendende Natur104 an („Ufer=fliehende Ströme“). Selbst das Echo, bei Kleist sonst zentrales Motiv für die omnipräsente Kommunikation sowie den Austausch von Gott und Ich in der harmonischidyllischen Natur105, „erschrickt und klagt“ (W I 181, 120); „es zittern für Grauen / Die wilden Felsen und heulen“ (W I 181, 120 f.). Indem der Frühling eine verängstigte Natur zeigt, sollen beim Leser die eben beschriebenen Affekte erregt werden – und zur gleichen Zeit benennt Kleist diese beschriebenen Affekte abermals im Text („Schrecken“, „Grauen“ etc.). Die belebte und sprechende Natur („heulende Felsen“) bildet ein zentrales Element dieser explizit gemachten Affektdramaturgie. Vom geschilderten Schrecken ist nun selbst alles Über-Irdische eingeschüchtert: „Des Himmels leuchtendes Auge / Schließt sich die Grausamkeit scheuend […]“ (W I 181, 121 f.). Die Sonne als kosmologisches Element verhüllt das Geschehen vor sich selbst: „Sich aufwärts drehende Dämpfe gleich dickem Nebel“ (W I 181, 123) füllen „mit blauer Finsterniß“ (W I 181, 122) den Luftkreis (vgl. W I 181, 123), eine Kommunikation wird verwehrt. Hiermit endet die später ausgeschiedene Kriegspassage der ersten Auflage des Frühlings. Signifikant für das Erkenntnisinteresse des vorgestellten Zusammenhangs ist also die Darstellung des Krieges über Metaphern von Naturkatastrophen.106 Letztere, zum Beispiel Fluten, spielen damit also nicht so 104 Vgl. bereits Anm. 92 in Kap. 5.3 zu positiven Flut- bzw. Wassermetaphern bei Kleist. 105 Vgl. z. B. im Frühling W I 227, 297 f. 106 Vgl. hierzu jüngst: „Wie so viele Kriegslyriker vor und nach ihm, favorisiert auch Kleist die Strategie, die Bewegungen des Krieges durch Naturvergleiche und mythologische Verweise zu veranschaulichen, statt sie […] sachlich präzise zu schildern.“ (Johannes Birgfeld: Krieg und Aufklärung. Studien zum Kriegsdiskurs in der deutschsprachigen Literatur des 18. Jahrhunderts. 2 Bde. Hannover 2012, Bd. 2, S. 577); außerdem Gratzke: Blut und Feuer, S. 43. Am eingehendsten hat sich mit Kleists privilegierter Nutzung naturkatastrophischer Metaphern bisher Martin Kagel am Beispiel des Cissides und Paches beschäftigt. Vgl. Kagel in: Lauer u. Unger (Hg.): Erdbeben, S. 474 – 481; Ders.: „Er hat sterben wollen“. Poesie und Politik bei Ewald von Kleist. In: Ders. (Hg.): Ewald Christian von Kleist: Cißides und Paches in drey Gesängen. Hannover-Laatzen 2006, S. 41 – 65, hier S. 64. Kagels Einschätzung, Kleist habe die Metapher der Naturkatastrophe benutzt, um den Krieg als unvermeidlich darzustellen (vgl. Kagel in: Lauer u. Unger (Hg.): Erdbeben, S. 477), lässt sich bei einer Einbeziehung des Frühlings sowie des restlichen Werks Kleists jedoch nicht halten.
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sehr in ihrer eigentlichen Bedeutung in den Kleist’schen Texten eine Rolle (wenn es etwa um eine Frühlingsüberschwemmung geht, wie in Kap. 5.2 dargestellt), sondern dienen vor allem als zentrale metaphorische Darstellungsmittel, um andere katastrophische Ereignisse wie den Krieg zu beschreiben. Zweitens war bereits in den interpretierten Ausschnitten des Frühlings die Rolle der Affekte von Interesse, diese bilden oft die Metapher ,zweiten Grades‘: wurden sie doch immer personalisiert, um als Bestandteile etwa des speienden Vulkans in den katastrophischen Ereignissen der Kleist’schen Texte „umhergeworfen“ zu werden. Der Zusammenhang von Natur- und Kriegskatastrophen sowie den wilden Affekten findet sich auch in anderen Texten Kleists.107 So beschreibt Cissides und Paches den ersten Angriff des feindlichen griechischen Heers folgendermaßen: […] Wie ein Strom im frühen Lenz, Von Regengüssen und geschmolznem Schnee Geschwollen, rauscht und aus den Ufern dringt, Die Flut zum Meere macht und Wohnungen Des Landmanns, Bäum’ und Stein’ fortrollt und tobt, Daß Fels und Wald erschrickt und drüber klagt: So rauscht’ die wilde Schaar Athens daher, Verheert’ und überschwemmt’ Thessalien. (W I 251, 14 – 21)
Explizit wird hier die „daherrauschende wilde (!) Schaar Athens“ mit einer jährlichen Frühlingsüberschwemmung verglichen, die, ähnlich der ungekürzten Flutdarstellung des Frühlings, ebenfalls die Flüsse schwellen lässt (W I 251, 16), „tobt“ (W I 251, 18) und die Natur „erschrecken“ und „darüber klagen“ (W I 251, 19) macht. Ganze Passagen, die Naturkatastrophen als Metaphern verwenden, wurden von Kleist außerdem zwischen verschiedenen Texten bzw. Textentwürfen hin- und hergeschoben, woran ebenfalls deutlich wird, welche zentrale Position der Sinnkomplex der „Katastrophe“ in allen seinen Texten potentiell einnehmen konnte: So finden sich die Verse „Wie wenn der Sturm aus Aeol’s Höhle fährt / Und Wolken Staub im Wirbel heulend drehet“ (W I 41, 25 f.) aus einer Schlachtbeschreibung der Sehnsucht nach Ruhe in einer fast wortgleichen Beschreibung im Cissides und Paches wieder, die sogar noch expliziter das Bild einer Flut wiederaufgreift: 107 Vgl. auch in der Frühlings-Rezension Georg Friedrich Meiers im Geselligen die Übertragung der Kleist’schen Parallelisierungen durch Meier, wenn dieser von den „Stürmende[n] Leidenschaften eines Stolzes und Geizes“ schreibt. (Meier: Beurtheilung, S. 230.)
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[…]. Wenn Sturm Aus Aeol’s Höhle fällt wie Wasser aus Der Schleus’ und drückt den Wald […] So auch erwacht’ im ganzen Heer Athen’s Schnell Aufruhr. (W I 264, 47 – 49/55 f.)
Schon aufgrund der einleitenden „Wie“-Vergleiche, die sich leitmotivisch in Kleists Katastrophenschilderungen finden und deren metaphorischen Charakter zusätzlich vor Auge führen, ist die Ähnlichkeit der Passagen auffällig. Blickt man wiederum in die Editionsgeschichte der Texte, gibt es noch eine zweite Überschneidung fast wortgleicher Katastrophendarstellungen. Eine später verworfene Strophe der Ode an die preußische Armee lautete zunächst: So tobt ein Flammenmeer, das aus Vesuvens Wunde Sich donnernd in das Feld ergießt, Mit dem Furcht und der Tod in Städt’ und Dörfer fließt; Das Wasser flieht das Land und kocht auf heißem Grunde! (W I 100, Anm. V. 12)
Diese scheint später ebenfalls in Kleists Cissides eingegangen zu sein, wo die Beschreibung eines Vulkans und die Metapher vom „Feuermeer“ wieder auftauchen: […] – Wie, wenn Vesuv Sein brennend Eingeweid’ hoch durch die Luft Umherspeit, mit erschrecklichem Geräusch Der Feuerregen in ein Feuermeer Im Thal zusammenfließt und weit das Feld Mit laufenden und rothen Wellen deckt, Daß sich das Wasser in den Seen scheut Und vor dem Lande flieht, daß Fels und Meer Erschrickt und jammert […] (W I 259, 5 – 13)
Der Gedankenstrich macht abermals in Anlehnung an die Tropentheorie Meiers die Absicht deutlich, auch schon über die Ebene der Zeichensetzung einer hohen Affekterregung Ausdruck verleihen zu wollen. Metaphern „reißender“ Flut108 oder des „Sturms“109 finden sich noch in vielen weiteren Gedichten Kleists. 108 Vgl. in der Sehnsucht nach Ruhe: „Vom reißenden Gewühle / Fließt hier Gehirn, liegt dort ein Rumpf gestreckt; / Hier raucht Gedärm; so ist der Grund bedeckt.“ (W I 43, 70 – 72.)
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Im Geburtslied offenbart sich abermals, dass Kleist den Krieg (wieder in Charakterisierung über das „Feuermeer“110 und die „See“) in Zusammenhang mit der ,Eigenschaft‘ der Toren sieht, wenn es heißt: Nichts, nichts als Thorheit wirst du sehn Und Unglück. Ganze Länder fliehn, Gejagt vom Feuermeer des Kriegs, Vom bleichen Hunger und der Pest, Des Kriegs Gesellen; und die See Ergießt sich wild […] (W I 121 f., 35 – 40)
Schon hier werden die ,wilde Thorheit‘, der wilde Krieg und die wilde See in Gegensatz zu sanften Eigenschaften gestellt, wenn später die Vorzüge des Lebens mit dem Argument eingeleitet werden, dass „Allein Du wirst auch die Natur / Voll sanfter Schönheit sehn. […]“ (W I 122, 51 f.) Die negativ codierten Affekte unterstützen als Kontrast umso mehr Kleists Ziel einer sittsamen Charaktermilderung durch die Anschauung harmonischer Naturszenen. Der Kampf gegen Laster und für eine Regulierung der Affekte muss immer wieder neu geführt werden111, da mögliche negative Konsequenzen sich nur allzu deutlich abzeichnen: „Der sich solchermaßen der Natur verschließende Mensch wird Opfer seiner in Unordnung geratenen Affekte, die Geist und Willen zum Bösen bestimmen, weil das aus der Natur-Anschauung in Sinnen und Seele fließende und die Leidenschaften reinigende göttliche ,Licht der Natur‘ nicht mäßigend zu wirken vermag […]“112, schreibt Hans-Georg Kemper. In An Wilhelminen (vgl. auch Kap. 5.4) heißt es etwa negativ über insbesondere wechselhafte (!) und leidenschaftliche Charaktereigenschaften: „Nein, Doris soll die Meine nimmer sein; / Du Wankelmuth, dies macht Dein Zorn allein!“ (W I 33, 36). Hier ist es signifikant, dass gerade die melancholische Passage des Frühlings sich durch einen solch starken „Wankelmuth“, ein wechselhaftes Beschwören verschiedenster Elemente, 109 Vgl. etwa die Beschreibung eines Angriffs durch Paches in Cissides und Paches: „Wie ein gewalt’ger Sturm den Hain ergreift, / Auf Eichen Eichen [sic!] stürzt und eine Bahn / Sich durch die Wohnung der Driaden macht, / So machte Paches auch sich eine Bahn / Durch Feindes Lager, würgt’ und tödtete […].“ (W I 255, 113–117.) 110 Vgl. außerdem in der Sehnsucht nach Ruhe: „Die Felder hat ein Feuermeer erfüllt, / Das um sich reißt, von keiner Macht gehemmet, / Wie, wenn die See aus ihren Ufern schwillt, / Durch Dämme stürzt und Länder überschwemmet […].“ (W I 42, 43 – 46.) 111 Vgl. auch Kemper AP 100. 112 Vgl. Kemper FA 106.
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auszeichnet – was dem eingangs vorgestellten hypochondrischen Wissen Kleists mit der Charakterisierung des Hypochonders als äußerst wechselhaft entspricht. Die heftigen Eigenschaften stehen zudem im Gegensatz zum Ideal eines ausgeglichenen Menschen mit sanftem Charakter (vgl. Kap. 4.4). Dies ist umso signifikanter, da als eine der Hauptursachen für Melancholie im 18. Jahrhundert das entstehende Bewusstsein dafür angesehen wird, dass das eigene Ich das Haupthindernis bildet, um den Vollkommenheitsvorstellungen der Zeit zu entsprechen.113 Die Dominanz von Schilderungen katastrophischer Szenen oder heftiger Charaktereigenschaften in Kleists Texten spiegelt diesen Befund wider. Die gedankliche wie metaphorische Verweisstruktur von Naturkatastrophen, Krieg und zerstörerischen Leidenschaften bzw. wilden Affekten als Ausdruck melancholischer Phantasie wird deutlicher, wenn im Grablied, entgegengesetzt zum Geburtslied, am Ende des Texts die primären Übel zusammengestellt werden, denen der nun glücklich Gestorbene auf der Erde mit seinem Tod entronnen ist: Und keine Rachsucht sieht auf Dich Mit scheelen Blicken eines Wolfs. Nicht Ungewitter, Pestilenz Und Erderschütterung und Krieg Erschreckt Dich mehr. (W 114, 30 – 34)
„Rachsucht“ (W I 114, 30), „Ungewitter“ (W I 114, 32) „[U]nd Erderschütterung und Krieg“ (W I 114, 33) stehen hier lokal wie argumentativ in einem direkten Zusammenhang als Verkörperung ein und derselben Sache: Der niedrige Affekt findet sich direkt neben zwei Naturkatastrophen und dem Krieg. Die negative Besetzung der Rachsucht erinnert dabei explizit an das durch Kleist entwickelte moralphilosophische Programm (vgl. Kap. 4). Es wird auch deutlich, warum im Gegenzug eine als sanft charakterisierte Jahreszeit wie der Frühling für Kleist so viel leisten konnte, um den Entwurf eines optimalen affektcalmierten Individuums bzw. die Abwertung zu heftiger Leidenschaften zu transportieren. Abermals ist es nicht zuletzt die „Ruhe“, die im Grablied den negativen Affekten entgegengesetzt wird, wobei wieder zwei zerstörerische Naturereignisse als 113 Vgl. Wolfram Mauser: Glückseligkeit und Melancholie. In: Ders.: Konzepte, S. 211 – 243, bes. S. 216. Vgl. auch Kemper, der Hallers melancholische Gedichte im Zeichen eines „nicht einlösbaren und deshalb utopischen aufklärerischen Versprechen[s] einer glückhaften Selbstbegründung und –verwirklichung im Diesseits […]“ (Kemper FA 156) sieht.
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Gegensatz genannt werden: „[…] Sturm Und Donner ruft weit unter Dir, / Und Ruh und Freude labt Dein Herz / In Gegenden voll Heiterkeit.“ (W I 114, 37 – 39) Bei den verschiedenen Formen der Doppel- bzw. Dreifachmetaphorisierung werden nicht nur der Krieg, sondern oft auch die Affekte selbst über Bilder des Sturms oder anderer Naturkatastrophen dargestellt. In Cissides und Paches etwa beschreibt Kleist eine dem Feldherren gegenüber feindliche Grundstimmung des Heers ebenfalls zunächst in Bildern einer wilden Flut: Wenn, vom Orkan gepeitscht, des Meeres Fluth, Die mit den sinkenden Gewölken sich Hoch in der finstern Luft zu mischen schien, Gleich Berg und Felsen im Erdbeben, fällt Und wieder steigt und fällt, daß Alles heult Und Alles Donner wird, und schnell Neptun Den mächtigen Trident mit starkem Arm Aus Wasserbergen hebt; wie dann der Sturm Verstummt, die Flügel nicht mehr regt und Meer Und Himmel ruhig wird, daß Phöbus lacht, Und jeder Strahl von ihm im Meer blitzt: So legte sich der Schaar Unwille schnell, Nachdem der Feldherr dies zu ihr gesagt, Und Hoffnung flößte Lust den Tapfern ein. (W I 253 f., 82 – 95)
Klug kann der Kriegsherr die Unruhe in der Armee wieder beruhigen – die ganze Szene mit den sämtlichen in ihr geschilderten Gefühlsregungen wie „Unwille“ und anderen wird über eine einzige Flutmetapher dargestellt [„Wenn vom Orkan gepeitscht…“].114 Gleich zu Beginn des Geburtslieds heißt es: „Nicht Wissenschaft, nicht Tugend ist / Ein Bollwerk vor der Bosheit Wuth, / Die Dich bestürmen wird.“115 (W I 121, 4 – 6, Hervorh. C. W.) Nur wenige Verse später werden dann negative menschliche Ei-
114 Vgl. hierzu auch die folgenden Verse aus dem von Kleist notierten ColombonaAusschnitt, wo die Motivation von Matrosen mit einem Unwetter in Verbindung gebracht wird: „FREUNDE, so rief er, o welche trägheit umfasset die glieder? / Aber ihr habet mit mir schon mehr gewitter bestanden, / Euch ist ein sturm nichts neues; auch der wird glycklich vorbeigehn […].“ (Bodmer: Colombona, S. 20.) Zur zitierten Szene aus dem Cissides vgl. auch Kagel in: Lauer u. Unger (Hg.): Erdbeben, S. 480 f. 115 In der ersten Frühlings-Auflage war an einer Stelle auch noch von den „bestürmter Tugenden Häfen“ die Rede, vgl. W I 187, 213.
5.4 Melancholische Phantasie II: Katastrophen d. Kriegs u. d. Affekte 137
genschaften – gerade ein dominant-unbeherrschtes Auftreten – ebenfalls in deutliche Bilder gefasst: Wenn Du nicht wie der Sturmwind sprichst, Nicht säufst, wie da die Erde säuft, Wo sich das Meer in Strudeln dreht, Wenn kein Erdbeben Deinen Leib Zu rütteln scheint, indem Du zürnst: So mangelt’s Dir an Heldenmuth. (W I 121, 21 – 26)
Gerhard Sauder weist im allgemeinen Kontext von Sittenlehren des 18. Jahrhunderts darauf hin, dass zumindest die „Rechtfertigung der sanften, von der Ruhe der Seele nur geringfügig differierenden Empfindungen“ hier oft mit einer „Ablehnung der starken Affekte und Leidenschaften“ einher ging, die dann „mit ,Sturm und Ungewitter‘ verglichen werden.116 Im obigen Zitat hingegen drückt sich abermals ein pessimistischer Blick auf die Welt im Urteil aus, dass hier ,katastrophisch-unbeherrschte‘ Charaktere dominierten, die Erfolg hätten.117 Für Kleist spielen also in zweierlei Hinsicht Affekte in seinem Werk eine Rolle: Zwar befolgt er zum einen in poetologischer Hinsicht Strategien der Affekterzeugung in literarischen Werken. Andererseits läuft das moralphilosophische Programm, das aus seinen Texten spricht, in starkem Maße auf eine Calmierung der Affekte zu, was paradoxerweise mit ebendiesen (Gegen-) Bildern von Naturkatastrophen anschaulich gemacht wird. Kleists Gedichte können so aber gleichzeitig, diese praktisch ad absurdum führend, einen kritischen Kommentar zeitgenössischer Melancholietheorien und -therapien ausbilden. Worunter das melancholische Ich in der Welt nach Kleist außerdem vor allem zu leiden hatte, soll der letzte Abschnitt dieses Kapitels zum Liebesunglück zeigen.118
116 Sauder: Empfindsamkeit, S. 130, vgl. auch das abgebildete Schema ebd., S. 129. 117 Vgl. Kap. 4.5. In der aus dem Frühling ausgekoppelten Unzufriedenheit der Menschen heißt es ebenfalls an einer Stelle kritisch: „Und Ihr, Ihr Helden, was eilt Ihr ins Ungewitter des Treffens […]“ (W I 237, 38.) 118 Im Lob der Gottheit bilden die Katastrophen auch einmal Elemente eines strafenden Gottesbildes, vgl. W I 29, 23 f., W I 30 f., 41 – 56. Vgl. hierzu Kap. 6. Schings weist darauf hin, dass der Glaube an einen strafenden Gott im 18. Jahrhundert dem Melancholiker zugerechnet wurde. Vgl. Schings: Melancholie, S. 51 f.
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5 Bilder der Melancholie: Zweifel und Katastrophen
5.5 Liebesunglück (V. 240 – 275) Wenn nach den Exkursen in den Kapiteln 4.3 und 4.4 der Blick zum letzten Mal auf die Diskursivierung von Melancholie im Frühling selbst gerichtet werden soll, zeigt sich ausführlicher der zweite Topos, mit dem sie immer wieder verbunden wird: die Figuration des unglücklichen, einsam Liebenden. Im Text verlässt der Leser dabei zunächst mit den Singvögeln die chaotische Natur zu „ruhige[n] Stellen“, wo sie ihre Verliebtheit „entdecken“ können (vgl. 242). Unter Verwendung von im Frühling so häufig verwandten lokalen Deiktika („dort“) setzt Kleist diesen Ort nun klar vom zuvor geschilderten Chaos ab: Dort will ich lauschen und sie sich freu’n und liebkosen hören. Fließ sanft, unruhiges Flüßchen! Still, ächzende Zephyrs im Laube, Schwächt nicht ihr buhl’risches Flüstern! […] (244 – 246)
Abermals wird hier also die ästhetische Theorie Addisons kommentiert: durch den Wechsel in eine harmonische, sanftere Natur will das lyrische Ich die zuvor evozierten zerstörerischen Gedanken vergessen. Dort will das lyrische Ich lauschen und hören, um wieder in das für den Frühling grundlegende Kommunikations- und Austauschverhältnis mit der Natur treten zu können (vgl. bes. 246 – 249), was zuvor im Chaos der Katastrophe nicht möglich war. In einer der wenigen Verse des Frühlings, die den katalogisierenden „Lehrgedichts“-Darstellungen der Seasons ähneln119, geht der Text nun im Einzelnen auf die verschiedenen Vögel ein: Fink, Stieglitze, Zeisig und Amsel werden in Wipfeln und Laub nachverfolgt (249 – 254), ihre Lieder werden dabei als „hell“ (250), „fröhlich“ (252) oder „flötend“ (vgl. 253) und „geflügelt“ (254) beschrieben und in ihrer Leichtigkeit vom Dröhnen der vorhergehenden Szene abgesetzt. „Die ganze Gegend wird Schall“ (249), heißt es dort dann auch in Bezug auf die jetzige Kommunikationssituation im Gedicht. Kaum eine Passage im Frühling ist jedoch wie diese durch stetige Wechsel gekennzeichnet: Nun tritt auch hier nach einer langen harmonischen Szene mit dem klagenden Zeisig (252 f.) und der Nachtigall wieder ein Element in die Naturdarstellung ein, das die Harmonie aus dem Gleichgewicht bringt. Abermals werden im Text Zweifel an der Mög119 Ramler ordnet dennoch den gesamten Frühling (in antiker Tradition) dieser Gattung zu, wie auch die spätere Forschung, vgl. Sauer: Mitteilungen, S. 264 (Brief Ramlers an Gleim vom 4. 10. 1749).
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lichkeit einer bloßen Empfindung von Freude und Ausgeglichenheit in der Landschaft laut. Eingeleitet mit einer moralischen Kritik an der „Ruhmsucht“ (255) der Nachtigall, aufgrund deren sie die Gruppe der übrigen Vögel verlassen muss, folgt der Frühling ihr in „einsame Gründe“ (255). Hierhin haben sich alle Schatten verzogen, „als sie Auroren entwichen“ (258). Es ist die Rede von „der Traurigkeit ewige[r] Wohnung“ (256), die mit den erwähnten Schatten und durch „dicke Wipfel umwölbt“ (256) vor allem über ihre Dunkelheit charakterisiert wird. Ein klassischer locus terribilis wird nun zum Schauplatz des Frühlings, wo dann lediglich „ein finsterer Teich rings um sich Weidengebüsche“ tränkt (vgl. 260) – in diesem Teich kann sich also nicht einmal die Schöpfung spiegeln. Im Kontext der bisherigen Verwendungen dieses Motivs bei Kleist verweist dies auf keine starke Präsenz Gottes in dieser Szene. Die Nachtigall beginnt ein Lied, das sich wiederum in Ton und Ausdrucksart durch heftige Wechsel auszeichnet: Auf Aesten wiegt sie sich da, lockt laut und schmettert und wirbelt, Daß Grund und Einöde klingt. So rasen Chöre von Saiten. Jetzt girrt sie sänfter und läuft durch tausend zärtliche Töne, Jetzt schlägt sie wieder mit Macht. […] (261 – 264)
So wie sich die Nachtigall im finsteren Teich nicht spiegeln konnte, fällt bei ihrem jetzigen improvisierenden Singen vor allem eines auf: ein Ansprechpartner bzw. jeglicher Resonanzboden oder Echo fehlen, lediglich „Grund und Einöde“ antworten (262). Hilflos bietet die Nachtigall die verschiedensten Töne und Mittel auf, bis in der zweiten Hälfte des letzten zitierten Verses der mögliche Grund für ihre Einsamkeit entdeckt wird: ihre „Gattin“ (264), mit dem „Vorwitz“ wie ihr ruhmsüchtiger Ehemann (255) ebenfalls mit einem Laster geschlagen (vgl. 264/255), wurde Opfer ihrer Neugier und in einem Vogelkäfig gefangen, was das endgültige Urteil auszusprechen scheint: „dann ruhn die Lieder voll Freude […]“. (266) Die Nachtigall will aber die Hoffnung nicht aufgeben und beginnt wieder ein Wechselspiel von abwechselndem Bangen und Resignation: sie „fliegt ängstlich umher“ (267), ruft „ihre Wonne“ (vgl. 267) und bekommt abermals keine Antwort. Ihr fortgesetztes Seufzen und Jammern nimmt ein vorläufiges Ende, wenn sie vor Wehmuth zuletzt halbtodt zur Hecken herabfällt, Worauf sie gleitet und wankt mit niedersinkendem Haupte. (269 f.)
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5 Bilder der Melancholie: Zweifel und Katastrophen
Bis in die Körpersprache des niedersinkenden Kopfes, verdoppelt durch den gesamten auf die Hecke fallenden Vogelkörper, finden wir nun die Botschaft verdeutlicht, dass sämtliche Hoffnung verloren ist. Die Klage wird dennoch fortgesetzt (vgl. 271), und mit dem Tod und dem blutigen und wunden Anblick der Gattin (271 f.) imaginiert das Nachtigallenmännchen mögliche Schicksale der verlorenen Frau.120 Immer wieder setzt das Klagen an („Bald tönt ihr Jammerlied wieder“, 272), sodass zum Ende der Passage sogar wieder Kommunikation mit und in der Natur stattfindet – aber eben nur in niedergeschlagenem Ton: „Die nahen strauchichten Hügel, / Hiedurch zum Mitleid bewogen, erheben ein zärtlich Gewinsel.“ (274 f.) Auch in anderen Texten Kleists wird der Ausdruck von Melancholie oft mit Umständen von Liebeskummer oder Einsamkeit verbunden (vgl. schon in Kap. 5.1 zur fehlenden „Doris“ im Frühling).121 In seinen Collectaneen notiert sich Kleist dementsprechend unter dem Stichwort „Liebe“ auch einen Ausschnitt aus Günthers An Leonore, in dem ebenfalls die Einsamkeit eines Liebenden thematisiert wird.122 Außerdem transkribiert er an einer anderen Stelle Verse aus Gressets La Chartreuse, die stilbildend für Kleists eigene Formulierungen von Liebesleid gewirkt haben könnten.123 Unter dem Lemma „Klage über den Verlust des Vergnügens“ heißt es hier: Je ne fuis plus dans ces bôcages, Où, plein de riantes images, J’aimais souvent à m’egarer; Je n’ai plus ces fleurs, ces ombrages, Ni vous même pour m’inspirer.124
120 In der Erstauflage des Frühlings von 1749 war diese noch von Menschen gefangen gewesen, vgl. W I 195, 315 f. 121 Dieses Thema primär behandeln außerdem An Wilhelminen (W I 36 – 38), Emire und Agathokles (W I 66 – 68), Galathee (W I 90), Amynt (W I 73 f./74 f.), Menalk (W I 62 – 64), das Fragment gebliebene Von den Schmerzen der Liebe (W I 239 – 241) sowie die Figur Pompejas in Seneca (ab W I 278 – 289). 122 Vgl. CO 245, 1. 123 Auch hier gibt es eine biographische Parallele, die immer wieder gern gezogen wird, nämlich die tragische Liebesgeschichte Kleists und Wilhelmine von der Goltz’, vgl. W I XVII–XXVII. Vgl. hier etwa nochmals biografistisch Hans Christoph Buch, der schon in Bezug auf die Verse 169 – 188 (s. o.) schreibt, diese seien „mehr als konventionelle Rhetorik; dahinter steht Kleists unerfüllte Liebe zu Wilhelmine von Goltz, die, poetisch verkleidet als ,Doris‘, zusammen mit dem Freunde Gleim vom Himmel herabsteigt […].“ (Buch: Pictura, S. 130.) 124 Hier zit. nach Jean Baptiste Louis de Gresset: La Chartreuse. Epitre a M. D. D. N. In: Ders.: Ouevres de Monsieur Gresset, de l’Academie Francaise. Nouvelle
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Auch hier hat das Ich des Texts jegliche Lust verloren, sich an der Natur zu erfreuen und durch diese inspiriert zu werden – was gerade im Frühling doch zu Beginn des Texts als optimales Verhältnis zwischen Ich und Welt gesetzt wurde. Die Melancholie als Topos hat also nicht nur die Funktion inne, bislang aufgestellte Ideale in Frage zu stellen. Gerade über die Metaphorisierung durch Naturkatastrophen kontrastiert sie das Ideal des Frühlings, das doch in der Zeichnung sanfter, harmonischer Landschaften und einem Glück versprechenden ,Mehrwert‘ der Natur(anschauung) liegt. Wenn Kleist dabei immer wieder zu heftige Affekte in eindrücklichen Bildern darstellt, werden diese gerade auch durch die Konnotation mit Wechselhaftigkeit125 charakterisiert. Hierbei zeichnet sich neben dem Angebot der neostoizistischen Philosophie (vgl. Kap. 3), der es noch um die Eliminierung der Affekte ging, der Übergang zu neueren anthropologischen Ansätzen des 18. Jahrhunderts ab, bei denen die Affektmodulierung nun stärker im Vordergrund stand. In den folgenden Versen des Frühlings vertraut der Text dann allerdings doch noch auf eine letzte Melancholietherapie, welche einen Ausweg aus den Zweifeln des Ich verheißen könnte: die Religion.
Edition. Revue, corrigée, & considérablement augmentée. Tome premier. Amsterdam u. Leipzig 1755, S. 67. Vgl. CO 222, 2 – 223, 1. 125 Vgl. hierzu auch Gabriele Dürbeck über Shaftesburys Ansatz, mit einem „,Regimen or Discipline of the Fancy‘ nicht die Abtötung der Einfälle und Ideen, sondern Selbstfindung, Entscheidungssicherheit und – bei allen wechselnden Wünschen und Meinungen – eine Garantie der Einheit der Person in der Zeit zu erreichen.“ (Dürbeck: Einbildungskraft, S. 59.)
6 Natur-Lob als Gotteslob? Religiöse Implikationen (V. 276 – 307) Das einzige private Zeugnis, das über den Glauben Ewald von Kleists Auskunft gibt, ist eine Quelle aus zweiter Hand. Am 17. 9. 1759 beschreibt der Frankfurter Philosophieprofessor Gottlob Samuel Nicolai seinem Bruder Christoph Friedrich in Berlin die letzten Stunden Kleists in seinem Haus, wobei er den Dichter als überzeugten Christen erscheinen lässt: „Er war sehr andächtig, er rief unzählige mahl: ,ach Gott, ach Gott erbarme dich meiner, Jesus mein Heiland, mein Erlöser, erbarme dich meiner.‘“1 Das Angebot, mit einem Pfarrer zu sprechen, lehnte Kleist jedoch ab. „Nachmittags hatte ich schon gefragt, ob er einen Prediger verlange. Er sagte aber – Warum denn? Es sey ihm einerlei.“2 Eine solche Glaubenshaltung, welche für die eigene Religionsausübung die Autorität der Kirche nicht mehr benötigt, scheint zwar dem Bild von Religion im Zeitalter der Aufklärung fast idealtypisch zu entsprechen. Trotzdem stand ,die Religion Kleists‘ nie im Zentrum des Interesses der Forschung3 ; über bestimmte Allgemeinplätze wie die Beschreibung mancher seiner Texte als „Theodizeedichtung“ geht die Beschäftigung der Sekundärliteratur mit diesem Thema nur selten hinaus.4 Die beschriebene Form der Rezeption lässt sich schon in der unmittelbaren Zeitgenossenschaft Kleists bei Lessing beobachten.5 Georg 1 2 3 4 5
August Sauer: Briefe über den Tod Ewald von Kleists. In: Archiv für Litteraturgeschichte 11 (1882), S. 457 – 483, hier S. 468. Ebd. Vgl. selbst Kemper GE 381 – 391, wo Kemper der religiösen Verortung der Gedichte Kleists weit weniger Raum einräumt als der Hallers oder Brockes’. Allenfalls der ursprünglich aus einem Frühlings-Manuskript stammenden [Die] Unzufriedenheit der Menschen. An Herrn Sulzer (W I 235 – 329) würde man damit vielleicht gerecht, vgl. Kap. 7. Joachim Jacob bemerkt dies, wenn er in Bezug auf Lessings Laokoon oder: über die Grenzen der Malerei und Poesie schreibt, dass „Lessing bei seiner kritischen Analyse […] Albrecht von Hallers, Barthold Heinrich Brockes’ oder Ewald von Kleists […] die in allen deren Werken manifeste theologische Dimension“ völlig ausblende. (Joachim Jacob: Analysis of Beauty. Zur Aufklärung des Schönen zwischen theologischer und materialer Ästhetik. In: Hans-Edwin Friedrich u. a.
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Friedrich Meier urteilt indes differenzierter und weist in seiner hymnischen Rezension des Frühlings im Geselligen auf die zentrale Rolle Gottes im Frühling hin.6 Dabei hebt er darauf ab, dass Kleist – im Gegensatz zu vielen anderen Dichtern – Gott angemessen darstellen könne. Meier schreibt über die „würdigsten Gedanken, die in diesem ganzen Gedicht anzutreffen sind“: Ihr Gegenstand ist das göttliche Wesen; die Vorstellung dessen erfüllet unser Herz voll heiliger Ehrfurcht, und zeiget die gröste Stelle des Dichters. Die meisten der heutigen Dichter vermeiden die Erwehnung GOttes; oder sie gedenken seiner so kaltsinnig, trocken und gezwungen, daß man merkt, daß sie nie zu der Erhebung des Gemüths gelanget sind, die erfordert wird, wenn man GOtt für einen würdigen Gegenstand der Dichtkunst halten soll. 7
Deutlich wird anhand der Formulierung „heilige[r] Ehrfurcht“ abermals die ästhetikgeschichtliche Nähe Meiers und Kleists bzw. Meiers Verortung des Frühlings in einem affekterregenden Erhabenheitsdiskurs8. In welcher Form Kleist in seinen Texten „Gott erwehnt“, bildet die zentrale Fragestellung des folgenden Kapitels.9 Ein Blick auf weitere Gedichte Kleists, die bereits durch ihre Titel eine Zugehörigkeit zur „geistlichen Dichtung“ signalisieren, gibt dem Befund von Meiers Rezension Recht, dass die religiösen Fragen eine nicht zu vernachlässigende Größe in Kleists Schreiben darstellen. Schließlich bilden Kleists Lob der Gottheit von 1744 als erster überhaupt veröffentlichter Text und seine beiden Hymnen, die er kurz vor seinem Tod in den Schlachten des Siebenjährigen Krieges 1758 bzw. 1759 schrieb, in chronologischer Hinsicht geradezu eine Klammer des Gesamtwerks.10 Im
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(Hg.): Literatur und Theologie im 18. Jahrhundert. Konfrontationen – Kontroversen – Konkurrenzen. Berlin u. New York 2011, S. 176 – 198, hier S. 191.) Im Blick auf Irin entgeht jedoch zumindest Sauer die Religiosität Kleists nicht: „Er vertiefte die Idylle, indem er es auch hier nicht unterließ, seine religiöse Gesinnung mit einfließen zu lassen.“ (W I 16.) Meier: Beurtheilung, S. 230. Zur erhabenen Sprache im religiösen Kontext bei Pyra vgl. Joachim Jacob: Heilige Poesie. Zu einem literarischen Modell bei Pyra, Klopstock und Wieland. Tübingen 1997, S. 12. In Kleists Collectaneen belegen dabei bereits die Einträge zu „Aberglaube“, „Fürsehung“ oder „Religion“ und „Schöpfung“ ein grundsätzlich vorhandenes Interesse des Autors für verschiedene Aspekte von Spiritualität. Vgl. CO 3, 2; 120, 1; 377, 1; 403, 1 – 403, 2. Vgl. zusätzlich den im Verlauf des Kapitels ebenfalls zu analysierenden, am 11. 12. 1745 von Kleist an Gleim übersandten Lobgesang der Gottheit. Fragment (W I 53 – 57).
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6 Natur-Lob als Gotteslob? Religiöse Implikationen (V. 276 – 307)
Frühling kommt den Versen, in denen die Frage nach Gott und der Religion im Vordergrund steht, ebenfalls eine Schlüsselstellung zu: hatte das lyrische Ich in der Passage zuvor sämtliche bis dahin vorgestellten Möglichkeiten eines glückseligen Lebens plötzlich in Zweifel gezogen (vgl. Kap. 5/V. 166 – 275), erscheint in den anschließenden Versen die Hinwendung zu Gott nun als einzige Lösung aller vom Ich zuvor noch empfundenen Probleme. Hier wird auch noch einmal die Frage nach der ,Theodizee-Funktion‘ dieses und des vorangehenden Teils des Frühlings virulent, wenn die religiös gestimmten Verse nicht zuletzt auch an die vorigen katastrophischen Naturschilderungen anschließen (vgl. Kap. 5). Kleist räumt der vorgestellten ,Option‘ der Religion mit knapp dreißig Versen dementsprechend auch deutlich mehr Platz ein, als es dem unruhigen Durchlauf verschiedenster Kuren bei immer extremeren Stimmungswechseln des Ich im Text zuvor möglich gewesen war. Diese These bestätigt sich anhand von vier Versen des Lobes der Gottheit, in denen Kleist schreibt, dass „des Menschen Seele […] durch Dich“ (Gott, C. W.) „Tod und Grab“ fliehen kann (W I 30, 36) – just der Komplex von Metaphern, den Kleist in Briefen und Gedichten verwandte, um den melancholischen bzw. hypochondrischen Phantasien Ausdruck zu verleihen (vgl. Kap. 5, Anm. 5). Die so lange erwünschte Mäßigung der Leidenschaften im Zeichen der Tugend sowie die damit verbundene Errettung aus den melancholischen Phantasien, wie in den vorigen Versen und beiden Kapiteln expliziert, kann hier endlich durch eine religiöse Anschauung der Natur vollzogen werden – so eine der Hypothesen des vorliegenden Kapitels. Dies spiegelt sich auch im Befund wider, dass in den ,religiösen Versen‘ des Frühlings die für den ganzen Text strukturbildende Gegenüberstellung von wilden (Winter, Naturkatastrophen, Krieg, zu starke Affekte) und sanften Elementen (Frühling, harmonische Natur, friedliches Leben, ausgeglichenes Ich) nicht mehr fortgeführt wird: der Glaube löst sämtliche Konflikte auf. Meine Deutung geht dabei im Folgenden von vier Hauptkennzeichen der religiösen Implikationen in Kleists Dichtung aus: Erstens entwirft Kleist ein Gottesbild, das diesen als allumfassenden, omnipräsenten Schöpfer zeichnet (Kap. 6.2) und ihn sich zweitens gleichzeitig in sämtlichen Erscheinungen der Natur zeigen lässt (Kap. 6.3). Drittens werden bei Kleist sämtliche Lebewesen auf der Erde dadurch charakterisiert, dass sie permanent und durch sämtliche Tätigkeiten Gott und seine Schöpfung loben (Kap. 6.4). Letzteres ist (viertens) dem Ich des Texts jedoch nur selten möglich, da sich dessen Gottesbezug vor allem dadurch beschreiben lässt, Gott sprachlich wie ,rational‘ niemals völlig erfassen bzw. lobpreisen
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zu können (Kap. 6.5). Die genannten weiteren geistlichen Gedichte Kleists (s. o.) sollen dabei primär zur vergleichenden Analyse neben der ausgewählten Frühlings-Passage herangezogen werden. Außerdem spielen neben den Seasons Brockes’/ Thomsons als Vergleichstexte und mögliche literarische Einflüsse in diesem Kapitel insbesondere Brockes’ Übersetzung des Versuchs Popes sowie die biblischen Psalmen bzw. die Psalmdichtung eine Rolle. Bei der historischen Einordnung der verschiedenen, in Kleists Texten formulierten Gottesbilder und der damit verbundenen religiösen Überzeugungen wird versucht, die in der Forschung zum Teil verwirrende Überlappung der Begriffe wie „natürliche Religion“, „Vernunftreligion“, „Naturreligion“ oder „Neologie“ zu vermeiden: In Kapitel 5.2 und 5.3 wird in Anlehnung an Hans-Georg Kemper vor allem der Begriff des „Deismus“ als vereinendes Konzept verwandt, um die ,progressiveren‘ religionshistorischen Diskursmerkmale im Zeitalter der Aufklärung darzustellen11 – selbst dann, wenn der Deismus in Teilen Merkmale mit einer als ,pantheistisch‘ zu bezeichnenden Religionsauffassung gemeinsam hat.12 Die Grundannahme einer fruchtbaren Koexistenz von Aufklärung und Religion sowie insbesondere Aufklärung und Pietismus liegt dabei sämtlichen Textanalysen zugrunde.13
11 Vgl. Kemper FA 62; vgl. zum Deismus als der dominanten „Religionsphilosophie der Aufklärung“ in der ersten Hälfte des 18. Jahrhunderts: Ernst Troeltsch: Aufsätze zur Geistesgeschichte und Religionssoziologie. Tübingen 1925, S. 429; Gawlick: Deismus, S. 37. 12 Vgl. Kempers Pantheismusdefinition im Kontext von Brockes’ Lyrik: „Wenn aber die Welt unendlich ist, dann ist auch kein Raum denkbar, in dem sie nicht – und in dem nicht zugleich Gott selbst – wäre: Damit ist der Schritt zum Pantheismus vollzogen. Gott ,umringt‘ und ,erfüllt‘ schlechthin alles […].“ (Kemper FA 58.) 13 Vgl. zum Zusammenspiel von Aufklärung und Kirche Kemper GE 13; von Aufklärung und Pietismus Kemper AP z. B. 13; spezifischer zum Verhältnis von Kunst und Pietismus Wolfgang Schmitt: Die pietistische Kritik der Künste. Untersuchungen über die Entstehung einer neuen Kunstauffassung im 18. Jahrhundert. Diss. masch. Köln 1958; zum epochebestimmenden Einfluss des Pietismus auf die Literaturgeschichte Hans-Jürgen Schrader: Die Literatur des Pietismus – Pietistische Impulse zur Literaturgeschichte. Ein Überblick. In: Geschichte des Pietismus. Im Auftrag der Historischen Kommission zur Erforschung des Pietismus hg. v. Martin Brecht u. a. Bd. 4. Glaubenswelt und Lebenswelten. Hg. v. Hartmut Lehmann. Göttingen 2004, S. 386 – 403, bes. 388.
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6.1 Spuren der religiösen Biografie Kleists Ein Blick auf Kleists religiöse Biografie zeigt, wie sehr er sich immer in einem Feld multipler christlicher Einflüsse bewegte, was ein Verständnis der religiösen Position Kleists zu einer schwierigen Aufgabe macht. Eine kurze biografische Einleitung soll deshalb, zur besseren Einordnung des religiösen Wissens Kleists, den Textanalysen vorangestellt werden. Kleists Heimat Hinterpommern, wo er am 9. 3. 1715 von Pfarrer Anton Schein in Curow getauft wurde14, war damals stark pietistisch geprägt.15 Einfluss auf die schulische wie religiöse Erziehung des Kindes hatte in den ersten Jahren allerdings vor allem die von Manteuffel’sche Verwandtschaft Kleists mütterlicherseits, die aus der lutherisch-orthodox geprägten polnischen Enklave Groß-Poplow stammte.16 Hier hatte der Pietismus bislang noch nicht Einzug halten können. Die wichtigste Rolle spielte dabei der Groß-Poplower Pfarrer Johann Heinrich Garbrecht17, der als Hauslehrer bei Kleists angestellt wurde und selbst zwischen orthodoxen und pietistischen Positionen lavierte: Garbrecht hatte größtenteils an der lutherischorthodoxen Fakultät der Universität Wittenberg und nicht im pietistischen Halle studiert und konnte daher nach der Anordnung Friedrich Wilhelms von 1736 zunächst nicht für den preußischen Teil Hinterpommerns als Pfarrer zugelassen werden.18 Erst als Garbrecht 1739 plötzlich behauptete, auch zwei Semester Theologie in Halle studiert zu haben, durfte er auch im nicht-polnischen Teil Groß-Poplows als Pfarrer arbeiten.19 Für Kleist scheint sich auf den ersten Blick im Anschluss ein ungewöhnlicher Bruch in seiner religiösen Biografie zu ergeben, da er von 1724 bis 1729 eine Jesuitenschule in Polnisch-Krone besuchte20 – allerdings war 14 Vgl.: Die Evangelischen Geistlichen Pommerns von der Reformation zur Gegenwart. Auf Grund des Steinbrück’schen Manuskriptes bearb. v. Ernst Müller. Teil 2. Der Regierungsbezirk Köslin. Die reformierten Gebiete Pommerns. Die Generalsuperintendenten. Stettin 1912, S. 47. 15 Vgl. Hellmuth Heyden: Kirchengeschichte Pommerns. Bd. 2. Von der Annahme der Reformation bis zur Gegenwart. Zweite, umgearbeitete Aufl. Köln-Braunsfeld 1957, S. 134, 138; Norbert Buske: Pommersche Kirchengeschichte in Daten. Schwerin 2001, S. 22. Gleichfalls war die Hauptwirkungsphase des Pietismus in Brandenburg-Preußen seit der Thronbesteigung Friedrichs II. beendet, vgl. Kemper AP 57. 16 Vgl. etwa W I XIII. 17 W I XII. 18 Vgl. etwa Heyden: Kirchengeschichte, S. 140. 19 Vgl. Evangelische Geistliche Pommerns, S. 19 f. 20 Vgl. W I XIIIf.
6.1 Spuren der religiösen Biografie Kleists
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dies im 18. Jahrhundert unter wohlhabenderen oder adeligen Familien nichts Ungewöhnliches, da das jesuitische Bildungssystem den besten Ruf hatte.21 Auffallend viele Zitate jesuitischer Gelehrter des 16. und 17. Jahrhunderts wie René Rapin oder Jean Baptiste Morvan de Bellegarde, die sich in Kleists Collectaneenheft finden lassen, bilden eine besondere Spur dieser frühen Station in Kleists religiöser Biografie.22 Als sich Kleist 1731 an der Universität Königsberg immatrikuliert, setzt sich indes sein Kontakt mit dem Pietismus fort: Dozenten wie Christiani und von Ammon versuchten in ihren wissenschaftlichen Ansätzen, zwischen diesem und der aufklärischen Gedankenwelt zu vermitteln (vgl. Kap. 4). Kleists erste militärische Station von 1736 bis 1740 führte ihn dann zu einer Zeit nach Kopenhagen, als sich Dänemark in einem regelrechten ,Religionskampf‘ zwischen lutherischer Orthodoxie, pietistischen Priestern Hallescher Prägung und dem Laienpietismus Herrnhuter Prägung befand, aus dem heraus sich später die erste europäische Konstruktion eines offiziellen ,Staatspietismus‘ entwickeln sollte.23 Kleist befand sich in den ersten Jahrzehnten seiner Biografie also mitten im Spannungsfeld der verschiedenen zeitgenössischen Strömungen des religiösen Mitteleuropa, wobei insbesondere dem Pietismus ein dominanter Einfluss auf Kleists christliche Sozialisierung zuzuschreiben ist.24 In seinen lyrischen Werken 21 Angesichts des im 18. Jahrhundert grassierenden (wenn auch erst in der zweiten Jahrhunderthälfte sich verstärkenden) Antijesuitismus ist der Schulbesuch Kleists aber in jedem Fall bemerkenswert. Vgl. Christine Vogel: Der Untergang der Gesellschaft Jesu als europäisches Medienereignis (1758 – 1773). Publizistische Debatten im Spannungsfeld von Aufklärung und Gegenaufklärung. Mainz 2006; Pierre-Antoine Fabre u. Catherine Maire (Hg.): Les Antijésuites. Discours, figures et lieux de l’antijésuitisme à l’époque moderne. Rennes 2010; zum Ansehen der jesuitischen Schulen im 18. Jahrhundert Peter Claus Hartmann: Die Jesuiten. München 2008, S. 70. 22 Dass Kleist der katholischen Religion gegenüber dennoch skeptisch eingestellt war, könnte eine Collectanee „Finsterniß“ belegen, welche als erstes ausführt, dass vor der Reformation noch Finsternis geherrscht habe, vgl. CO 122,1. Gabriella Catalano deutet gleichwohl die Erscheinung des Frühlings bei Kleist (vgl. Kap. 2) als katholisch inspirierte, weiblich konnotierte und geradezu madonnenähnliche Erscheinung. Vgl. Catalano in: Jordan (Hg.): Kleist, S. 166. 23 Zum weitgehend unerforschten Aufenthalt Kleists in dieser nach Klaus Bohnen „in Europa einzigartigen Staatsform“ vgl. Klaus Bohnen: Ewald von Kleist im dänischen Kontext. Politik – Militär – Kultur. In: Jordan (Hg.): Kleist, S. 19 – 29, hier S. 25; sowie Louis Bobé: Ewald von Kleist in dänischen Diensten. In: Vierteljahrschrift für Litteraturgeschichte 3 (1890), S. 295 – 297. 24 Dies barg für Kleist u. U. durchaus Konfliktpotential in Auseinandersetzung mit Zeitgenossen und Teilen seiner eigenen philosophischen Sozialisation, stand doch
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6 Natur-Lob als Gotteslob? Religiöse Implikationen (V. 276 – 307)
lassen sich viele pietistische Topoi auf der Motivebene finden (s. u.) – zudem oder obgleich Kleist bald auch in Kontakt zum pietismuskritischen Dichterkreis um Gleim geriet.25 Andere zeitgenössische religionshistorische Diskurse haben sich auf thematischer Ebene jedoch nachhaltiger ausgewirkt. Der pietistische Hintergrund Kleists soll trotzdem im vorliegenden Kapitel gerade angesichts der orthodoxen Bestandteile seiner Gedichte (vgl. Kap. 6.5) immer mitreflektiert werden.26 Nicht zuletzt in Bezug auf Kleists Diskursivierung der Melancholie sind zwei pietistische Konzepte besonders anschlussfähig: zum einen die Idee der tristitia spiritualis 27, die den von Kleist beschriebenen Gefühlszuständen ähnlich ist, zum anderen der als Erlösung aus dieser Gemütsstimmung in seinen Texten oft wirkmächtig artikulierte Wunsch nach ,Ruhe‘, der sich übereinstimmend ebenfalls oft in pietistischen Buß- und Bekenntnistexten findet (s. u.). Wie bereits oben angedeutet, kommt im
die „frühaufklärerische Ausbildung von Ästhetik und Anthropologie in Frontstellung zu stoischer Philosophie und pietistischer Frömmigkeit“, wie Carsten Zelle schreibt. (Carsten Zelle: Zur Idee des ,ganzen Menschen‘ im 18. Jahrhundert. In: Udo Sträter (Hg.): „Die Neue Kreatur“ – Pietismus und Anthropologie. Beiträge zum II. Internationalen Kongreß für Pietismusforschung 2005. Tübingen 2008, S. 45 – 61, hier S. 51.) 25 Vgl. im Briefwechsel der beiden Freunde die kirchen- bzw. pietismuskritischen Briefe Gleims an Kleist vom Oktober 1745 (u. a. in Bezug auf Lange) vom 9./10. 10. 1745, 6. 4. 1747 und 8. 8. 1747: W III 11, 38 f., 50. Zum Verhältnis von Anakreontik und Pietismus vgl. Theodor Verweyen: „Halle, die Hochburg des Pietismus, die Wiege der Anakreontik.“ Über das Konfliktpotential der anakreontischen Poesie als Kunst der „sinnlichen Erkenntnis“. In: Norbert Hinske (Hg.): Zentren der Aufklärung I. Halle – Aufklärung und Pietismus. Heidelberg 1989, S. 209 – 238, sowie Ernst Fischer: „Er spielt mit seinen Göttern.“ Kirchen- und religionskritische Aspekte der anakreontischen Dichtung im 18. Jahrhundert. In: Jean Mondot (Hg.): Les lumières et leur combat/Der Kampf der Aufklärung. Kirchenkritik und Religionskritik zur Aufklärungszeit. Berlin 2004, S. 71 – 85. 26 Zum allgemeinen Einfluss des Pietismus (und hier insbesondere seines Liedguts) auf die Entwicklung einer empfindsamen, „herzrührenden“ Schreibweise und der Lyrik als poetische Form eines individuellen Ausdruck gebenden Schreibens vgl. etwa Kemper AP 38. 27 Zur Argumentation, dass im Pietismus ohne Welt und Kirche das Individuum selbst zum Erlösungsgaranten avanciert vgl. Kemper AP 30; zum MelancholieVorwurf gegenüber dem Pietismus ebd., S. 68 – 78, Schings: Melancholie, S. 50 – 52, 73 – 96.
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Textaufbau des Frühlings der Religion eine besondere Funktion in der Bekämpfung der Melancholie zu.28
6.2 Gott ist alles (V. 276 – 287) Im ausgewählten Ausschnitt des Frühlings wird der Stimmungswechsel des Gedichts zu einer zuversichtlicheren Haltung, der durch die religiösen Verse ausgelöst wird, durch das einleitende „[a]llein“ der Passage signalisiert. Dieses setzt die Verse in Kontrast zum davor noch so pessimistisch gestimmten Teil: Allein, was kollert und girrt mir hier zur Seiten vom Eichstamm, Der halb vermodert und zweiglos von keinem Geflügel bewohnt wird? Teuscht mich der Einbildung Spiel? Sieh, plötzlich flattert ein Täubchen Aus einem Astloch empor mit wandelbarem Gefieder; Dies zeugte den dumpfichten Schall im Bauch der Eichen. Es gleitet Mit ausgespreiteten Flügeln ins Thal, sucht nickend im Schatten Und schaut sich vorsichtig um, mit dürren Reisern im Munde. (276 – 282)
„Allein“: Es gibt sogar hier noch Leben, im Bauch eines abgestorbenen (vgl. 277) Baumstamms, der vermodert und zweiglos nicht mehr bewohnt ist29, und damit erste Hinweise auf die pantheistischen theologischen Vorstellungen (vgl. Kap. 562), die Kleist verfolgt. Das Leben in der Natur wird hier über die Verben „kollern“ und „girren“ in einen Kontext mit den Kommunikationstopoi des gesamten Frühlings gestellt (vgl. Kap. 6.3); im Gegensatz zu den zerstörerischen Naturbildern der vorangegangenen Passage ist hier aber eine funktionierende Verständigung zu beobachten. Die „Einbildung teuscht“ in starkem Kontrast zu den vorigen Phantasien des Ich nun nichts mehr vor, denn tatsächlich fliegt ein Vogel aus einem Astloch heraus: Es erhebt sich also 28 Vgl. hierzu Kempers Beschreibung der pietistischen „Selbstbearbeitung“ einer unsicheren Identität hin zu einer sichereren Identität: Kemper AP 71. 29 Ganz ähnlich wird auch in den Seasons auf Gott verwiesen, wenn betont wird, dass überall in der Natur Leben herrscht: „Die Natur / Ist ganz erfüllt, und schwärmt von Leben. Es dünstet, dampft und haucht nicht nur / Der trügliche Morast, im faulen und blauen Nebel, Gift und Pest; / So gar in unterirdscher Höhle […] Erhebt sich die belebte Erde. Auch nicht das grüne Laub einmahl / Ist leer von lebenden Bewohnern.“ Auch hier wird auf das allgegenwärtige Leben gerade im Gegensatz zum etwa „faulen […] Nebel“ hingewiesen. (BrTh 19, 136 – 139/141 f.; vgl. bis V. 168.)
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Leben aus dem abgestorbenen Baumstamm – und der Vogel ist hier sogar in der Lage, mit Lauten durch ein Echo30 kommunikativ in eine Beziehung mit seiner Umwelt zu treten (280). Dieser Vogel, genau der Nachtigall der Melancholie-Passage entgegengesetzt, verlässt das Tal aber nicht (vgl. 255), sondern gleitet „[M]it ausgespreiteten Flügeln […]“ in es hinab (281). „Nickend“ bejaht auch „das Täubchen“ die jetzige, sie umgebende Zivilisation (vgl. 281) und räumt sämtliche Zweifel des Texts wie des lyrischen Ich am Leben in der Welt aus dem Weg. Der Frühling fragt hier: Wer oder was ist für diesen Umschwung in der Stimmung des Gedichts verantwortlich? Wer lehrt die Bürger der Zweige, voll Kunst sich Nester zu wölben Und sie für Vorwitz und Raub voll süßen Kummers zu sichern? Welch ein verborgener Hauch füllt ihre Herzen mit Liebe? (283 – 285)
Ähnlich heißt es im „Frühling“ der Seasons: Was ist denn doch der mächt’ge Hauch, Der, in so wunderbarer Sprache, die mehr gefühlt wird, als gehört, Die schnellen Vögel in der Luft, und jedes Thier den süssen Brauch, Die holde Kunst der Liebe lehrt? (BrTh 95, 795 – 798)
Hier wird inbesondere auf den „Hauch“ (vgl. 285) Gottes31 Bezug genommen.32 Dieser äußert sich in solch „wunderbarer Sprache“ (796), dass diese „mehr gefühlt als gehört“ werden kann (vgl. hierzu im Kap. 6.5), und, wie im Zitat des Frühlings, die Vögel vor allem die Liebe lehren soll. Die rhetorische Reihung von Versen, die mit dem Fragepronomen „wer“ beginnen, um auf die Existenz Gottes hinzuleiten, erinnert an die
30 Dieses bildet ja auch in pietistischen Texten ein beliebtes Motiv für die Präsenz Gottes, vgl. Langen: Wortschatz, S. 319; siehe zur weiteren Prominenz dieses Motivs bei Kleist z. B. die Sehnsucht nach Ruhe W I 41, 10, sowie ebd. 41, 13, wo suggeriert wird, dass der gesamte Gesang des Gedichts durch den „Widerhall“ erzeugt wird. Zur mystischen Deutung des Spiegelmotivs Kemper FA 105. 31 Vgl. zur Diskussion um die „Beseeltheit“ von Tieren im 18. Jahrhundert Stefan Borchers: Die Erzeugung des ,ganzen Menschen‘. Zur Entstehung von Anthropologie und Ästhetik an der Universität Halle im 18. Jahrhundert. Berlin u. New York 2011. 32 In Brockes’ Übersetzung des Versuchs vom Menschen Popes findet sich eine ganz ähnliche Gottesbeschreibung. Vgl. BrPope 67, 100 – 108; vgl. auch 5, 23 – 32.
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„wiederholende Monotonie“33 der Psalmdichtung. Sie findet sich neben der eben zitierten Frühlings-Passage auch in anderen Texten Kleists. So heißt es etwa in der Fassung letzter Hand des Lobs der Gottheit: Wer heißt tausend tausend Sonnen prächtig, majestätisch glänzen? Wer bestimmt den Wunderlauf’ unzählbarer Erden Grenzen? Wer verbindet sie zusammen? Wer belebet jeden Kreis? […] Sagt, wer donnert in den Wolken? Sagt, wer brauset in den Stürmen? Zweifler, sprich, wer schwingt die Fluthen, die sich wie Gebirge thürmen?34 (W I 28, 13 – 15; 31, 53 f.)
Die Fragen nach dem Wesen Gottes formulieren Inhalte in abstrakterer Form, als sie anhand der Alltagsbeschreibungen von Singvögeln möglich wären. So etwa, wenn die Frage nach dem Urheber des „Wunderlaufs unzählbarer Grenzen“ oder dem, der „jeden Kreis belebet“, aufgeworfen wird. Gott ist verantwortlich für sämtliche Vorgänge, die auf der Erde geschehen. Dies bestätigt sich, wenn man den Versgang der religiösen Passage des Frühlings weiterverfolgt und der Text die Antwort auf die zuvor an sich selbst gerichtete Frage gibt: Durch Dich ist Alles, was gut ist, unendlich wunderbar Wesen35, Beherrscher und Vater der Welt!36 (286 f.)
Gott ist „alles“ bzw. alles ist „durch ihn“: Diese Beschreibung Gottes und seine rhetorische Fassung in mit dem Pronomen „wer“ beginnende Fragen, die dann enthusiastisch beantwortet werden, ist das erste der vier Merkmale, die Gott in den religiösen Anspielungen Kleists immer wieder zugeschrieben werden. Auch im Lob der Gottheit heißt es ganz ähnlich im Anschluss an die „wer“-Fragen (s. o.): „Alles ist durch Dich.“ (W I 28, 17). Gerade das „dialogische Preisen der Transzendenz“ zeigt hierbei abermals 33 Vgl. im Kapitel „Psalmen und Aufklärung“ in: Inka Bach u. Helmut Galle: Deutsche Psalmendichtung vom 16. bis 20. Jahrhundert. Untersuchungen zur Geschichte einer lyrischen Gattung. Berlin u. New York 1989, S. 239. 34 In der ersten Version des Lobes der Gottheit gab es noch zwei weitere, ähnliche gestaltete Strophen, vgl. W I 23, 17 – 24. 35 Nach der Manuskript-Edition Langes gab es hier noch ein Fragezeichen am Schluss des Verses, welches Sauer nicht verzeichnet, vgl. Lange: Landleben, S. 41. Sauer jedoch kritisiert die Edition Langes als ungenau, vgl. W I 173, Anm. zu Gedicht Nr. 89. 36 Hier brachte Kleist in der Fassung von 1749 noch eine weitere Innenmetapher ins Spiel: vgl. die Tapeten auf W I 198, 347.
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die psalmischen Einflüsse auf die Dichtungen Kleists.37 Als Beispiel der Allmacht Gottes wird hier ausgeführt, dass Gott alle Sinne rühre, den Menschen Gesundheit und den Feldern Fruchtbarkeit gebe (W I 29, 25 – 28).38 Neben den bereits erwähnten Psalmen ergibt sich eine weitere literaturhistorische Spur abermals durch Kleists Collectaneen. Denn unter dem Lemma „Gott“ führt Kleist die folgenden zwei Strophen aus Hallers Morgen=Gedanken auf 39 : Du hast der Berge Talg aus Thon und Staub gedrehet, Der Schachten Erz aus Sand geschmelzt; Du hast das Firmament an seinen Ort erhöhet, Der Wolken Kleid darum gewelzt. Dem Fisch, der Ströme bläst und mit dem Schwanze stürmet40, Hast Du die Adern ausgehöhlt; Du hast den Elefant aus Erden aufgethürmet Und seinen Knochen=Berg beseelt.41
Lediglich dieser Textverweis findet sich in Kleists Notizen zum Stichwort „Gott“.42 In den zitierten Versen geht es – wenn auch metaphorischer auf die grundlegenden Fragen von Leben und Tod zielend („Beseelung des Knochen=Berges“, s. o.) – um einen allumfassenden Charakter, der dem Schöpfer zugeschrieben wird. In den Strophen zuvor wurde in einer dem dialogisch aufgebauten Frühling ähnlichen „du“-Anrede ausgeführt, dass Gott dem Menschen etwa die Fackel des Mondlichts geschenkt habe.43 Die Idee, dass Gott ,alles‘, allgegenwärtig und allumfassend sei, verbindet sich gerade bei Kleist jedoch mit dem Topos seiner Gedichte, dass ebendieser 37 Vgl. Bach u. Galle: Psalmendichtung, S. 239. 38 Wieder heißt es ähnlich im „Frühling“ der Seasons: „Durch Dich!!! ziehn alle Zweig’ und Kräuter, gehüllet in ein Blätter=Kleid, / Bedeckt von löcheriger Haut, die Himmels=Luft, und trinken Thau. / Durch Dich stehn, als in Hochzeit=Betten, die Pflanzen in der Erden Bau.“ (BrTh 63, 514 – 516.) 39 Diese werden im Übrigen von Bach/Galle auch als symptomatisches Beispiel für die Psalmendichtung im 18. Jahrhundert interpretiert. Vgl. Bach u. Galle: Psalmendichtung, S. 238. 40 Auf den Vorlagencharakter dieser Verse für Kleists Lob der Gottheit weist auch Adolf Frey hin. Vgl. Frey: Haller, S. 154. 41 Vgl. die leicht fehlerhafte Abschrift Kleists in CO 145, 2/W I 6; Haller: Gedichte (1753), S. 3. 42 Unter dem Eintrag „Was ist Gott“ wird jedoch noch auf die Namen „Brockes“ und „Canitz“ verwiesen, vgl. CO 166, 1 f. 43 Vgl. Haller: Gedichte (1753), S. 2. Vgl. auch in Brockes’ Zweyter Cantate: „Flammende Rose, Zierde der Erden, / Glänzender Gärten bezaubernde Pracht! / Augen, die deine Vortrefflichkeit sehen, / Müssen, vor Anmuth erstaunet, gestehen, / Daß dich ein Göttlicher Finger gemacht.“ (Brockes: Vergnügen, S. 97.)
6.3 Gott in allem (V. 287 – 293)
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Gott dann gleichfalls in sämtlichen Erscheinungen der Natur präsent zu finden ist. Dies wird im nächsten Abschnitt 5.2 zu zeigen sein. Symptomatische Bedeutung für eine Verortung dieser Kleist’schen Gottesdarstellung in den religionshistorischen Diskursen der Aufklärung kommt dabei der Frage zu, ob es sich um einen Schöpfer handelt, der als Allverantwortlicher permanent in alles Leben auf der Erde eingreift oder ob die von Gott bestimmte Welt bei Kleist eine bereits perfekt abgeschlossene ist, in der dann alles ohne göttlichen Eingriff ,funktionieren kann‘.
6.3 Gott in allem (V. 287 – 293) Der Beschreibung eines omnipotenten Gottes wird im nächsten FrühlingsVers also ein omnipräsenter Charakter Gottes zur Seite gestellt: […] Du bist so herrlich im Vogel, Der niedrig in Dornstauden hüpft, als in der Feste des Himmels, In einer kriechenden Raupe, wie in dem flammenden Cherub. (287 – 289)
Dies bildet das zweites Merkmal, mit dem Gott in Kleists Dichtung immer wieder belegt wird: Gott zeigt sich immer und überall in sämtlichen Erscheinungen der Erde.44 Wie zum Beispiel in den Gedichten Brockes’ Das Grosse und das Kleine oder Vergnügen in Blumen, wird Gott dabei vor allem in der Natur vorgestellt.45 Im obigen Zitat wird diese Idee dabei anhand des im Pantheismus beliebten Arguments46 einer scheinbar hierarchischen Kette verfolgt, in der Gott von den niedrigen Vögeln und Raupen bis zur „Feste des Himmels“ und dem Cherub (287 – 289) verortet wird. Die Idee einer solchen Kette findet sich mehrmals in Kleists Dichtung. So spricht er etwa in der ursprünglich dem Frühlings-Manuskript angehörigen, später ausgekoppelten Die Unzufriedenheit der Menschen vom „Stufengefolge“ aller „Arten der Bewohner“ der Erde (vgl. W I 236, 17; Kap. 7). An deren 44 Auf den „Wechsel der Perspektive“, dass Gott zunächst „durch“ etwas wirksam ist, um im Anschluss „in“ den Phänomenen präsent zu sein, weist Steffen Martus anhand von Kleists Lob der Gottheit hin, vgl. Martus: Hagedorn, S. 362 f. Vgl. indes zur „Naturordnung“ als „Heilsordnung“ bereits hier Jacob: Heilige Poesie, S. 173. 45 Vgl. auch BrTh 61, 497 – 508; Brockes: Vergnügen, S. 30 – 35, bes. S. 34, sowie auch im Gedicht Vergnügen in Blumen, ebd., S. 43. 46 Vgl. Kemper GE 386.
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oberen Ende, als Spitze der „Leiter der Dinge“ (ebd. 20), stehe der Thron der Gottheit (ebd.) und der Mensch solle sich davor hüten, diese „Weltkette“ zu brechen (W I 236, 24). Anstelle der Frage, warum er kein „Seraphim“ sei, solle sich der Mensch lieber glücklich schätzen, keine „Milbe“ bzw. „Made“ geworden zu sein (vgl. ebd., 23 f.; Anm. V. 24). In Kleists Texten wird außerdem auf die „Schwachheit eines Wurmes“ verwiesen, der ganz am unteren Ende einer solchen Kette stehe (vgl. im Lob der Gottheit W I 31, 58). Auch der immer wiederkehrende rhetorische Aufbau des Frühlings, in verschiedenen Szenen stets zuerst die in einer Passage beteiligten niederen Tiere, wie etwa Vögel, zu beschreiben und die Menschen nur zuletzt zu nennen, illustriert diese Ansicht (vgl. z. B. 30). Für die „Kette der Wesen“ lieferte im 18. Jahrhundert Pope in seinem Essay On Man die prägnanteste Formulierung.47 Dass Kleist Popes Schrift neben anderen auch in theologischen Fragen konsultierte, ist aus seinen Collectaneen zu ersehen, in denen sich unter dem Lemma „Gottheit“ eine Passage aus der Brockes’schen Übersetzung des Versuchs vom Menschen finden lässt.48 In der Pope-Rezeption Fontenelles49 stand dabei im Kontext der Idee der „Kette der Wesen“ die Überlegung im Zentrum, dass Gott die Erde als perfekt ,nutzeroptimierte‘ Welt erschaffen habe, in die im Folgenden nicht mehr einzugreifen sei.50 Kleist bezieht sich auf diesen Gedanken, wenn er in seiner ersten Hymne von 1758 von den durch Gott eingerichteten „Rädern der Natur“ schreibt, die der Mensch mit dem ihm von Gott gegebenen Geist verstehen müsse (vgl. W I 125, 29 – 32). Die beschriebenen Räder referieren auf ein Welt- und Gottesbild, in das Letzterer nicht mehr
47 Vgl. BrPope 5 f., 33 f.; 23, 199 – 202; sowie einführend: Arthur Oncken Lovejoy: Die große Kette der Wesen. Geschichte eines Gedankens. Frankfurt a.M. 1993. 48 Vgl. CO 400, 1 – 400, 2; zur Einordnung des Versuchs als deistisch-spinozistisch Kemper FA 68 f. Interessant ist der Spinozismusvorwurf gegenüber diesem zentralen Referenztext Kleists nicht zuletzt in Hinsicht auf die ähnliche Darstellung des Verhältnisses des dichterischen Schöpfers zur Natur und zu Gott im Frühling, s. u. 49 Vgl. Lovejoy: Kette, S. 159 – 162. 50 Bernard Le Bouvier de Fontenelle: Auserlesene Schriften, nämlich von mehr als einer Welt, Gespräche der Todten, und die Historie der heydnischen Orakel; vormals einzeln herausgegeben, nun aber mit verschiedenen Zugaben und schönen Kupfern vermehrter ans Licht gestellet, von Johann Christoph Gottscheden. Bd. 2. Leipzig 1751, S. 91; vgl. auch Jacob: Heilige Poesie, S. 174; Kemper FA 52, siehe ebd. 151 in Bezug auf das physikotheologische Verständnis des menschlichen Körpers.
6.3 Gott in allem (V. 287 – 293)
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eingreifen muss51 und für dessen Schöpfung lediglich „erhaltende Naturgesetze“ denkbar sind, was gleichzeitig eine der Grundmaximen des Deismus bildet.52 Es zeigen sich in dieser Passage des Frühlings und anhand der vorgestellten Metaphern also inbesondere diejenigen Seiten der Kleist’schen Poesie, welche die Kenntnis der ,progressiveren‘ religionshistorischen Diskurse der Aufklärung widerspiegeln. Ein sich in allen Elementen der Natur zeigender Gott bildet einen festen Bestandteil vieler Texte weiterer zeitgenössischer Dichter. In Popes Versuch findet sich der Schöpfer vom Seraphim bis zu dem, der „die Hände ringet, / Und sich beklaget, seufzt und jammert“, wieder: […] Er ist nicht weniger Vollkommen, in der zarten Bildung von einem Haar, als im Formieren, Von unserm Herzen, so vollkommen in einem, der die Hände ringet, Und sich beklaget, seufzt und jammert, als im entzückten Seraphim, Der anders nichts, als Lieb und Lob, und der mit nimmer müder Stimm’ Ein unaufhörlich Lob=Lied singet. (BrPope 29, 267 – 270)
Die Idee der „Kette der Wesen“ überschneidet sich in diesem Textausschnitt auf charakteristische Weise mit dahinter stehenden pantheistischen Überzeugungen. „See sonder Ufer und Grund!“ (290) heißt es indes im Fortgang des Frühlings – womit der Text die Idee des allumfassenden Gottesbilds in neuer Weise entfaltet (vgl. Kap. 6.1), wie Kemper in Bezug auf die Lyrik Brockes’ ausführt.53 Bei Kleist wird weiter in Bildnissen des Wassers beschrieben, wie Gott alles Existierende gibt und enthält: „Aus Dir quillt Alles; / Du selber hast keinen Zufluß“ (290 f.). Auch dieser Gedanke lässt sich in anderen zeitgenössischen Texten finden – abermals hatte Pope hier auf die religiösen Ideen Kleists besonderen Einfluss, heißt es doch in Brockes’-Popes Versuch unter anderem: „Für Ihn ist nichts erhaben, niedrig, nichts groß, u. nichts ist für Ihn klein, / Er füllet, Er umschränket alles, und schliesset alles in Sich ein.“54 Bei Haller ist in den Morgen=Gedanken von der „allgemeine[n] 51 „Eine vollkommene Welt macht ein Handeln Gottes nicht gerade plausibel.“ (Martus: Hagedorn, S. 359.) 52 Vgl. Art. Deism. In: Peter Hanns Reill u. Ellen Judy Wilson (Hg.): Encyclopedia of the Enlightenment. New York 1996, S. 106, Sp. 1–S. 107, Sp. 2., hier S. 106 f. Für die bei Kleist geäußerte Gottesvorstellung ist inbesondere die Idee des „watchmaker God“ zentral, vgl. ebd. Siehe zum „deistisch-mechanistischen Uhrmacher-Gott“ auch Kemper GE 19. 53 Kemper FA 58. 54 BrPope 31, 271 f.
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Welt, begränzt nur durch sich selber“55 die Rede – womit wie bei Kleist betont wird, dass die Grenzen Gottes lediglich durch ihn selbst bestimmt werden können.56 Im Frühling baut Kleist einen Vergleich zu anderen kosmologischen Elementen auf und führt seine Gedanken in Verhältnissen von Größe und Relation fort: „Die Feuermeere der Sterne / Sind Widerscheine von Pünktchen des Lichts, in welchem Du leuchtest“, lautet der folgende Vers 291 f., um die verschwindende Größe etwa der Planeten57 im Vergleich zu Gott zu verdeutlichen58 – und gleichzeitig abermals darauf hinzuweisen, dass Gott in allem enthalten ist bzw. in allem „leuchtet“.59 Bei den Texten Brockes’ bildet eine ähnliche Metapher geradezu ein Leitmotiv, wenn etwa in Kirschblüthe bey der Nacht das Weiß einer Kirschblüte als Ausdruck der herrlichen Schöpfung zum Beginn des Texts auch deshalb ausführlich gelobt wird, um es am Ende rhetorisch in Kontrast zur noch helleren Farbe Gottes zu setzen.60 Im religionshistorischen Kontext weisen die analysierten Verse Kleists außerdem auf ein weiteres Merkmal der pantheistisch-deistischen Diskurse der religiösen Aufklärung hin. Parallel zu den Entwicklungen in Philosophie und Naturrechtslehre (vgl. Kap. 4) waren etwa Fénelon und William Derham davon überzeugt, dass auch das Christentum in Abkehr von den Offenbarungswahrheiten der Bibel sämtliche Überzeugungen im „Buch der Natur“, und somit in den für jeden empirisch sichtbaren Erscheinungen der Erde finden könne.61 Die in Kleists Texten geäußerte Ansicht, dass sich noch in jeder Welle des Ozeans oder Furche im Acker 55 Haller: Gedichte (1753), S. 3. 56 Nochmal in Brockes’ Das Firmament: „So nur aus Gott allein, ohn’ End und Anfang, stammen.“ (Brockes: Vergnügen, S. 22) und Der gestirnte Himmel: „Der Himmel ward hiedurch von Duft und Dunst geläutert, / Das Grentzen-lose Reich des Luft-Raums ausgeheitert, […]“ (ebd., S. 24.) 57 Dass Kleist tatsächlich im Plural von „Sternen“ schreibt, könnte abermals auch einen Hinweis auf seine Rezeption Fontenelles sein, der nicht zuletzt mit seinem Argument der Vielzahl von Welten für Aufruhr gesorgt hatte. Vgl. Fontenelle: Schriften. 58 Vgl. die ähnliche Beschreibung des winzigen Ich im Angesicht Gottes in Brockes’ Das Firmament, welche ebenfalls das Bild des „Puncts“ nutzt. Brockes: Vergnügen, S. 22. 59 Auch dieser Vers könnte von den Seasons inspiriert sein: „Die Sonn’ und Mond, ob jene scheinet / Des Tages, oder mit dem Schatten der Mond den sanften Glanz vereinet, / Sind nichts, als blos ein Strahl von Ihm.“ (BrTh 97, 805 – 807.) 60 Vgl. Brockes: Vergnügen, S. 27 f. 61 Vgl. Kemper FA 49 f.
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Gott finden lasse, scheint dem Recht zu geben – insbesondere die genaue Naturbetrachtung und -deskription der frühaufklärerischen Lehrdichtung bildeten einen solchen „adamitischen Gottesdienst“.62 Der revolutionäre und im Blick der kirchlichen Orthodoxie gefährliche Gehalt dieser Meinungen lag gerade darin begründet, dass der Mensch plötzlich in der Lage zu sein schien, allein und eigenständig „das gantze Weltgebäude mit denen darinnen befindlichen Geschöpfen“ zu verstehen, wie es in Jacob Georg Walchs Deismus-Definition heißt.63 Die eklektizistische Zwischenstellung der religiösen Position Kleists lässt sich bereits hier an seiner folgenschweren Kritik64 an Bodmers Noah zeigen. Am 20. 6. 1750 schreibt er an Gleim: Ich habe mein Urtheil H. Sulzern sehr offenherzig gesagt […]. Ich war davon ganz entzückt; nur die Satire auf die lebenden Nationen choquirte mich, wie auch einige andere Kleinigkeiten, und daß Gott nicht wußte, was auf der Erde vorging, und deswegen einen Engel mit Noah reisen ließ. […] Nur Gott läßt er an einem Ort mit Witz und Metaphern sprechen; dies kann ich nicht wol leiden, der muß pur Verstand sprechen; er sagt aber: „sie sind Helden in üppigen Kammern“ etc., imgleichen daß Gott unter den Bäumen spaziert. Dies ist nicht activ genug vor Gott; in der Bibel steht: er wandelt, welches mehr sagen will. Aber dieses sind Kleinigkeiten […]. (W II 175 f.)
Hier wird Gott zum einen darüber charakterisiert, dass er ,reinen Verstand‘ sprechen muss, was der „Vernunftreligion“ des Deismus entspräche. Andererseits aber schockierte Kleist, dass bei Bodmer „Gott nicht wußte, was auf der Erde vorging“ und „nicht activ genug“ gezeichnet werde, was der deistischen Position einer perfekten Welt, in die Gott nicht mehr eingreifen muss, fundamental zu widersprechen scheint. Zudem bezieht sich Kleist in seiner Äußerung darauf, was „in der Bibel“ und damit eben nicht nur im „Buch der Natur“ steht. Trotzdem lassen sich in Kleists Texten viele Kennzeichen der „natürlichen Religion“ der Aufklärung wiederfinden. So geht mit ihnen in neo62 Kemper FA 106. 63 Johann Georg Walch: Historische und theologische Einleitung in die ReligionsStreitigkeiten außer der Evangelisch-Lutherischen Kirche. Bd. 5, Teil 2. StuttgartBad Canstatt 1985, S. 176; vgl. auch Kemper FA 62 f., 53 f. 64 Kleists Kritik am Noah war einer der Gründe für das vom ersten Treffen an nicht spannungsfreie Verhältnis Kleists mit Bodmer, obgleich – oder gerade weil – Kleist anfangs nicht wusste, wer der Verfasser des Noahs war. Vgl. etwa Aust: Kleist, S. 100. Vgl. zur sich anschließenden Diskussion um die geäußerte Kritik zwischen Kleist, Gleim und Sulzer auch Kleists Brief an Hirzel vom 4. 11. 1750 (W II 186).
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logischer (wie übrigens ebenfalls in pietistischer!65) Hinsicht eine Aufwertung der menschlichen Stellung im Kosmos einher: Der Mensch steht, wie bereits im Kontext der „Kette der Wesen“ ausgeführt, im Zentrum der Religiosität. Und so heißt es bei Kleist in der 1758er-Hymne am Ende einer langen Aufzählung verschiedenster Lebewesen der Erde über den Menschen, dass dieser von Gott besonders gesegnet worden sei: „Dich hat er mehr als Alles sonst beglückt.“ (W I 125, 29) In für die Zeit symptomatischer ,Vergottung des Menschen‘66 heißt es dann, dass der Mensch durch Gott einen Geist bekommen habe, „durch den Bau des Ganzen“ zu dringen und „die Räder der Natur“ zu kennen67 (W I 125, 30 – 32) – hier kennt also nicht nur der Schöpfer selber den Plan der Welt, sondern auch der Mensch.68 Die ,progressiven‘ religiösen Elemente der Texte Kleists werden oftmals auch über die Fragestellung deutlich, wieviel der traditionellen Offenbarungsreligion in Kleists Äußerungen zu Gott nicht mehr enthalten ist. „Von christlicher Religion – und speziell von Christus – findet sich keine Spur in Kleists christlichem Werk.“69 In der Tat ist von Jesus im gesamten Werk Kleists kein einziges Mal die Rede. „[B]ei ihm ist die Natur in Christi 65 Vgl. Kemper AP 48. 66 Vgl. Kemper FA 121 – 127. 67 Ob Kleist tatsächlich die letzte Konsequenz des Deismus verfolgt und, wie Tindal, den Menschen praktisch mit Gott gleichsetzt, bleibt angesichts der sich ebenfalls stark in seinen Texten äußernden orthodoxen Ansichten fraglich (vgl. Kap. 6.5). Vgl. Kemper FA 68. 68 Das in der Forschungsliteratur mitunter kolportierte Gerücht, Kleist sei Mitglied einer Freimaurerloge gewesen, könnte eine weitere Verbindungslinie zum Deismus herstellen, vgl. zum Deismus und den Freimaurern: Art. Deism in Reill u. Wilson (Hg.): Encyclopedia, S. 106 f.; zum von der Frankfurter Freimaurerloge aufgestellten Kleist-Denkmal in Frankfurt a. d.O. vgl. WI LXX, sowie Ingrid Patitz: Ewald von Kleists letzte Tage und sein Grabdenkmal in Frankfurt an der Oder. Frankfurt a. d.O. 1994. Am DLA Marbach ist ein Erinnerungsstück aus dem 19. Jahrhundert erhalten, das diesen Kontext aufgreift: Vgl. Marbacher Magazin 56: Erinnerungsstücke. Von Lessing bis Uwe Johnson. Hg. v. Michael Davidis u. Gunther Nickel unter Mitwirkung v. Sabine Fischer u. Ulrike Weiß. Photographien v. Mathias Michaelis. Marbach 2001. 69 Kemper FA 171. Vgl. hier auch Wolfgang Breidert über Popes Versuch: „Selbst nach dem Urteil einiger seiner Freunde ging Pope darin zu wenig auf die christliche Offenbarung ein. Tatsächlich zieht Pope zwar Gott und Engel wiederholt heran, während er Jesus oder überhaupt die Offenbarung mit keiner Silbe erwähnt. Er mußte also […] auch auf den Deismus- oder Spinozismusvorwurf gefaßt sein.“ (Wolfgang Breidert: Einleitung. In: Alexander Pope: Vom Menschen. Essay on Man. Übersetzt v. Eberhard Breidert. Mit einer Einleitung hg. v. Wolfgang Breidert. Hamburg 1993, S. VI–XXVII, hier S. XI.)
6.4 Natürliches Gotteslob (V. 294 – 300)
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Erlösungsfunktion eingetreten.“70 Es ist nicht mehr nötig und auch nicht mehr angebracht, sämtliche Wahrheiten der Offenbarungsreligion zu zitieren.71 Wie die spezifische Ausformung einer Transformation von Funktionen Gottes auf das neue „Heiligtum der Natur“ bei Kleist aussieht, soll im nächsten Abschnitt deutlich werden, in dem gezeigt wird, wie das im Frühling bisher geäußerte Lob der Natur sich in eine Danksagung an Gott transformiert.
6.4 Natürliches Gotteslob (V. 294 – 300) So verweist der Frühling nach den oben zitierten Versen (287 – 293) abermals auf die Allmacht Gottes (vgl. Kap. 561): diese könne sowohl den Stürmen befehlen zu schweigen als auch entgegegengesetzt Berge dazu bringen, Rauch auszustoßen (s. 293).72 Der Text beschreibt dann exemplarisch verschiedene Formen des Gotteslobs und -danks: Das Heulen aufrührischer Meere, die zwischen wässernen Felsen Den Sand des Grundes entblößen, ist Deiner Herrlichkeit Loblied. Der Donner, mit Flammen beflügelt, verkündigt mit brüllender Stimme Die hohen Thaten von Dir. Vor Ehrfurcht erzittern die Haine Und widerhallen Dein Lob. In tausend harmonischen Tönen, Von dem Verstande gehört, verbreiten Heere Gestirne Die Größe Deiner Gewalt und Huld von Pole zu Pole. (294 – 300)
Hier greift Kleist mit den „aufrührerischen Meeren“ (vgl. 294) Stürme aus dem vorigen Vers auf und bezeichnet ihr Heulen als „Deiner Herrlichkeit Loblied“ (295).73 Der Donner bringt ebenfalls Gott seine Huldigung dar, wenn er durch sein Brüllen Gottes Taten Rechnung trägt (296 f.). Bezeichnend für Kleists Schreiben ist hier, dass eben nicht nur das Ich oder 70 Kemper FA 171. 71 Vgl. Kemper FA 66 f., hier auch Tindals Definition der natürlichen Religion auf 67. 72 Es handelt sich hierbei um ein fast wortwörtliches Zitat des Psalm 104, 32. Vgl. Bach u. Galle: Psalmendichtung, S. 242. Ein Seasons-Zitat (welches ebenfalls das Vorbild Kleists gewesen sein könnte) ähnelt diesem in hohen Maße: „Er rührt die Felsen, und sie rauchen.“ (BrTh 97, 814.) 73 Vgl. noch ganz anders in den Seasons die strafenden Stürme, welche noch nicht selbst durch ihre Tätigkeit loben: „Die Stürme zeigen Seine Kraft, / Entwurzeln den verwachsenen Wald, und kehren selbst das Welt=Meer um. / Es ist der Blitz Sein schnelles Rache=Schwerdt, der laute Donner Seine Stimm.“ (BrTh 97, 810 – 812.)
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andere Menschen Gott loben können, sondern dass im Rahmen der allumfassenden Anthropomorphisierung des Frühlings jegliche Natur, d. h. auch der Ozean oder Gewitter, zu Kommunikationsmedien werden und eine Stimme haben (vgl. 296), um Gott zu loben. Auch die überhaupt nicht an akustische Sinneswahrnehmungen gekoppelte ,Tätigkeit‘ der Meere, „den Sand des Grundes zu entblößen“ (294), bildet hier einen Teil der Lobpreisung Gottes. Die verschiedenen, Gott lobenden Elemente der Natur treten auch untereinander in Austausch, wenn ab Vers 297 angesichts des brüllenden Donners die Haine „[V]or Ehrfurcht erzittern“, um dann ebenfalls in den Gesang einzustimmen. Dies nimmt bei ihnen auch die Gestalt der – ja ohnehin schon religiös konnotierten (s. o.) – Echofunktion des gehörten Gotteslobs an, wenn die Haine „widerhallen Dein Lob“ (298) und dies gleichfalls als Gotteslob fungiert. Auch in der Hymne von 1758 fordert das lyrische Ich die Natur auf, Gott zu loben. Hier wird insbesondere deutlich, wie bereits die bloße Existenz der jeweiligen Natur ein Gotteslob bildet, ohne dass dabei tatsächlich eine vokale Form des Gotteslobs (preisen, rufen) beschrieben wird: Für Gott sollen hier die Sonnenheere „flammen zu seinem Ruhm“ (W I 125, 15), die Meere „sein Lob brausen“ (vgl. W I 125, 17), die Zedern und jeder Wald sollen sich verneigen (W I 125, 19 f.). Selbst das Echo wird wieder angesprochen, Gott zu loben (vgl. W I 125, 25). So wie nun die Felsen seinen Altar bilden (vgl. W I 125, 23), soll ihr Dampf den Gott lobenden Weihrauch ausmachen (W I 125, 24; zu orthodox konnotierten Elementen in Kleists Gottesbegriff vgl. ausführlicher Kap. 6.5). Kleists Lob der Gottheit schafft eine ganz besondere Verbindung von zwei Motiven religiöser Anspielungen. Nachdem der Text darauf hingewiesen hat, dass „Sternenheere“ und „Himmelskreise“ Gott loben, geht er auch auf „Meere, Berge, Wälder, Klüfte“ ein, die „Posaunen seiner Macht“ seien: Tausend Sternenheere loben meines Schöpfers Macht und Stärke; Aller Welten Himmelskreise preisen seiner Weisheit Werke. Meere, Berge, Wälder, Klüfte, die sein Wink hervorgebracht, Sind Posaunen seiner Größe, sind Posaunen seiner Macht. (W I 27 f., 1 – 4)
Hier verdeutlicht der Text die Funktion der Natur als Medium74 des Gotteslobs durch das christlich konnotierte Bild der „Posaunen der 74 Vgl. ähnlich Kleists Selbstbeschreibung als Herausgeber der projektierten moralischen Wochenschrift Der neue Auffseher in einem Brief an Gleim: „Ich will eine Trompete sein, die zur Schlacht bläst, aber selber nicht schlägt.“ (W II 556.)
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Macht“, die „Meere, Berge, Wälder, Klüfte“ sind (vgl. Kap. 5).75 Außerdem wird darauf abgehoben, dass diese erst durch Gottes Wink entstanden seien – zum einen ist also nichts ohne Gott (vgl. das erste Motiv der religiösen Dichtung Kleists in Kap. 6.2), zum anderen bildet die gesamte Schöpfung durch ihr bloßes Sein immer automatisch ein Gotteslob. Dies wird von Uwe-Karl Ketelsen dahingehend gedeutet, dass sich auch hier Kleists pantheistische Überzeugung zeige.76 Signifikant ist an sämtlichen in diesem Kontext vorgestellten Passagen der Texte Kleists, wie exakt das hier aufgezeigte Verhältnis von Gott und Ich dem bei Kleist gerade zu Beginn des Frühlings ausgestalteten Inspirationsverhältnis von Natur und Ich ähnelt.77 Denn wenn das lyrische Ich zu Beginn des Frühlings noch jegliche Kraft und Inspiration aus der Natur gezogen hatte, um diese dann lobend besingen zu können (vgl. Kap. 2.1), wird nun im religiösen Kontext bei Kleist ein ähnliches Bezugsverhältnis im Hinblick auf Gott und seine Schöpfung aufgebaut. Auch hier bedankt sich sämtliche Schöpfung fortwährend durch Lobgesang bei Gott für die bloße Existenz – just ebenso, wie das lyrische Ich zu Beginn des Texts sich durch einen Lobgesang dafür erkenntlich gezeigt hatte, dass die Natur ihn überhaupt erst zur Inspiration bringe. Poesie, Religion und Natur werden bei Kleist also auf verschiedenen Ebenen systematisch in Bezug zueinander gesetzt (vgl. hierfür Kap. 6.5, außerdem zusammenfassend Kap. 7). Auf kleinstem Raum deutlich wird diese wechselseitige Inspirationsbeziehung etwa am folgenden Vers aus dem Lob der Gottheit: „Der Himmel sei mein Lied! Mein Lied der Herr!“78 (W I 29, 4) Noch ohne eine solche (explizit) religiöse Einfärbung lautet die Passage, welche die allerersten Verse des Frühlings abschließt: „Reizt und begeistert die Sinnen, / Daß 75 Die Beschreibung findet sich auch in Kleists Lobgesang der Gottheit, wo sämtliche Werke Gottes auf Erden als Posaune „Deiner weisen Stärke“ beschrieben werden: „O, laß uns fern von Glanz und Kreisen / Dich, Herr, auf unsrer Erden preisen, / Der Du auch hier fürtrefflich bist! / Ja, hier sind tausend, tausend Werke / Posaunen Deiner weisen Stärke, / Die über unsre Sinnen ist.“ (W I 54, 10 – 15.) 76 Ketelsen weist dabei auf die Ähnlichkeit zu Gellerts Die Ehre Gottes aus der Natur hin. Vgl. Uwe-Karsten Ketelsen: Die Naturpoesie der norddeutschen Frühaufklärung. Poesie als Sprache der Versöhnung: alter Universalismus und neues Weltbild. Stuttgart 1974, S. 57. 77 Vgl. abermals zur harmonischen Vermittlung von Natur- und Heilsgeschehen bzw. der Anwendung des Begriffs der „Heiligen Poesie“ auf die Dichtung Wielands: Jacob: Heilige Poesie, S. 14. 78 Vgl. ähnlich Anna Louisa Karschs: „Zu deinem Ruhm! mein Gesang sei er!“ in An den Schöpfer. An ihrem Geburtstage den 1ten des Weinmonats 1761. In: Jörg Löffler u. Stefan Willer (Hg.): Geistliche Lyrik. Stuttgart 2006, S. 116.
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meine Töne die Gegend wie Zephyrs Lispeln erfüllen / Und wie die rieselnden Bäche!“ (10 – 12) Es zeigt sich hier die spezifische Kleist’sche Ausprägung des aufklärerischen „natürlichen Gottesdienstes“79, welche mehr als anderes (vgl. Kap. 6.2 und 6.3) das Heraustreten aus lutherischorthodoxen Denkformen symbolisiert.80 Indem in der „natürlichen Religion“ empirisch vorgebenene Tatsachen der Natur an die Stelle überlieferter Wahrheiten der christlichen Offenbarung gesetzt werden, dient den Autoren des frühen und mittleren 18. Jahrhunderts nun die Naturbeschreibung zur Verwirklichung ihrer religiösen Anliegen.81 Bei Kleist lässt sich anhand eines Beispiels sogar die Transformation pietistischer Glaubensformeln in neue naturreligiöse Anspielungen aufzeigen, wenn im Frühling die Rede von den „Segen spendenden Reben“ (vgl. z. B. W I 211, 67) ist, die sich hier – (scheinbar) säkularisiert – auf das befruchtende Verhältnis von Natur und Mensch beziehen, während in pietistischen Texten dasselbe Bild eine häufig benutzte Metapher für das Verhältnis von Gott und seinen Menschen bildet.82 Auch bei anderen zeitgenössischen Dichtern83 ist indes im Kontext religiöser Topoi das permanente Gotteslob aller Schöpfung ein dominantes Thema.84 In Brockes’ Gedichten finden sich neben der bei ihm dominanten genauen Beschreibung noch unauffälligster Begebenheiten der Natur, die das lyrische Ich dann in ein Lob der von Gott geschaffenen Schöpfung 79 80 81 82
Vgl. z. B. Kemper FA 69, 106. Vgl. Kemper GE 10. Vgl. ebd. 12. Vgl. Langen: Wortschatz, S. 379. Auffällig ist außerdem die Transformation pietistischer Metaphern im (Kleist nahestenden) Kreis um Pyra, S. G. Lange oder auch Gleim in einen säkularisiert-empfindsamen Freundschaftskult, wenn sich etwa die eigene Seele nicht mehr in Gott, sondern im Freund „entschüttet“. Vgl. als exemplarische Texte August Sauer (Hg.): Freundschaftliche Lieder von Immanuel Jacob Pyra und Samuel Gotthold Lange. Stuttgart 1885. Vgl. ähnlich, aber noch stärker christlich konnotiert Friedrich Carl von Moser: Der Christ in der Freundschaft. Frankfurt u. Leipzig 1754. 83 Vgl. zum Echo des Danks in der Natur bei Wieland: Jacob: Heilige Poesie, S. 197. 84 Vgl. etwa in den Seasons: „Lob sey dir, allgemeine Seele des Himmels und der Erden! Wesen, / Das mächtig und allgegenwärtig! Nur Dir sey Ehre, Lob und Preis!“ (BrTh 61, 509 f.) oder Brockes’ Die uns zur Andacht reitzende… (Brockes: Vergnügen, S. 99 – 101), das Mittags-Gebeth (ebd., S. 83), Vergnügen in Blumen (ebd., S. 43); auch den Gegensatz des gefühllosen Menschen, der die Schöpfung nicht bewundert in Erinnerung einiger Umstände (ebd., S. 73). Siehe auch die textimmante Aufforderung des Brockes’schen Der vernünftige Gottes-Dienst an das Ich des Texts: „Such’, in Bewundrung Seiner Werke, den großen Schöpfer zu erheben.“ (Ebd., S. 221.)
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ummünzt (vgl. hierzu auch Kap. 6.4)85, jedoch noch ,konservativere‘ (Verb-) Formen des Gotteslobs: „loben“ und „singen“. In Brockes’ Die uns zur Andacht reitzende / Vergnügung des Gehörs / im Frühlinge, / in einem Sing-Gedichte beginnen etwa die Vögel gleich morgens „[D]es Schöpfers Wunder zu erzehlen“, bis die ganze Schar „[D]em grossen Schöpfer […] jubiliert.“86 Zudem findet sich bei Kleist eine Besonderheit des Gotteslobs in der Natur, wenn in seinen Texten auch zerstörerische Begebenheiten in solches umgewandelt werden können, ohne dabei auf das traditionelle Bild eines strafenden Schöpfers zu verweisen. Im Lobgesang der Gottheit etwa baut Kleist seine Argumentation zunächst in ganz ähnlicher Weise wie oben beschrieben auf: Der Text stellt dar, wie Gott auf Erden hohe Wellen entstehen lässt (W I 54, 16 – 21). Dabei wird im Anschluss explizit betont, dass schon durch die bloße Existenz von Leben auf der Erde (hier von Blitzen) Gott ,bewiesen‘ werde: „Und zeigen nebst des Sturmes Heulen / Herolden gleich Dein Dasein an.“ (W I 54, 20 f.) Ebendiese Elemente der Natur anthropomorphisierend, hebt die nächste Strophe dann in den üblichen Gotteslobformeln darauf ab, wie die Elemente der Natur ihrem Urheber ,dankbar sind‘: Die Meere, die sich von den Stürmen Bis an die Wolken brausend thürmen, Lobsingen Dir mit hohlem Klang; Des starken Donners brüllend Knallen, Der Klippen heulend Widerhallen Ist Deines Namens Lobgesang. (W I 54, 22 – 27)
Die Erde lobt Gott hier durch expliziten ,Lobgesang‘ (W I 54, 24), gleichzeitig ist aber auch des „Donners brüllend Knallen“ oder der „Klippen heulend Widerhallen“ (vgl. W I 54, 25 f.) automatisch ein Lob Gottes. Diese ,Tätigkeiten‘ der Natur zeigen wie die dem Erhabenheitsdiskurs zugehörigen Metaphern aus dem letztzitierten Ausschnitt des Frühlings (vgl. „erzittern“, „Gewalt“, 297/300; s. o.) die Reste des Konzepts eines strafenden Gottes im Religionsbegriff der Frühaufklärung bei Kleist an, der schrittweise in die neue Idee eines gütigen Schöpfers übergegangen ist.87 Mit den deistischen Grundüberzeugungen seiner Dichtung verquickt, 85 Vgl. etwa Kirsch-Blüthe bey der Nacht, Die Heerde Kühe, Ein klares Tröpfgen oder Die kleine Fliege in: Brockes: Vergnügen, S. 27 f., S. 62 – 64, S. 26 f., S. 23 f. 86 Ebd., S. 100. 87 Steffen Martus schreibt im Kontext der religiösen Dichtung der Frühaufklärung: „Von den drei von der religiösen Dichtung zu beweisenden Attributen Gottes –
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bilden die Katastrophen hier zudem den Bestandteil einer Welt, in der bereits alles perfekt voraus geplant ist, sodass auch von ihnen keine wirkliche Bedrohung eines Grundvertrauens mehr ausgehen kann. In einer Passage der ersten Hymne ist indes ein strafendes Gotteskonzept noch dominant88 : Er sieht mit gnäd’gem Blick von seiner Höh’ Zur Erd’ herab; sie lacht. Er schilt, und Feuer fährt von Felsen auf, Des Erdballs Achse bebt. (W I 125, 9 – 12)
In Reinform zeigt sich das traditionellere Gottesbild, das Kleists beeinflusst hat, in den Seasons, wenn es dort etwa heißt: […] Die Stürme zeigen Seine Kraft, Entwurzeln den verwachsenen Wald, und kehren selbst das Welt=Meer um. Es ist der Blitz Sein schnelles Rach=Schwerdt, der laute Donner Seine Stimm.89
Im Großteil der Texte Kleists jedoch gibt es auch den huldvollen Gott (vgl. bereits oben „gnädig“ in W I 125, 9) – auch wenn dieser im oben zitierten Ausschnitt der Hymne bald an Dominanz verliert, um im Anschluss in Form eines solch verheerenden Feuers die Erde zu bestrafen, dass „[D]es Erdballs Achse bebt.“ (W I 125, 12) Von einem deistischen Gott, der aufgrund einer (von ihm) optimal gestalteten Welt nicht mehr in das Schöpfungsgeschehen eingreifen muss, findet sich hier keine Spur. Auch im Lob der Gottheit wird der strafende Gott sogar als Zeichen für zweifelnde Gläubige in den Text eingeführt (vgl. W I 31, 53 – 56). Die Entscheidungen zugunsten eines Gottesbilds sind in den verschiedenen Texten also in höchstem Maße unklar. So entwickelt Kleist im aus der ersten Überschwemmungsszene des Frühlings ausgekoppelten Gemälde einer Überpotentia, providentia und sapientia – lassen sich die beiden ersten nur noch in der hebräischen Metaphorik des Richtergottes darstellen, der in einer katastrophischen Welt regiert. Seit den 40er Jahren verdrängt ein hymnischer Lobpreis der göttlichen Schöpfung die detaillierte Auseinandersetzung mit dem Diesseits in der Tradition der Brockesschen Naturdichtung.“ (Martus: Hagedorn, S. 362); vgl. auch Jacob: Heilige Poesie, S. 174. 88 Dass diese Vorstellung für Kleist noch von Interesse ist, geht auch aus seinen Collectaneen hervor, wo es einen mit „Strafe Gottes“ betitelten Eintrag gibt, in dem Passagen aus Racines La Thebaide zitiert werden, vgl. CO 400, 1. Auch ein Haller-Eintrag zu „Zum Lobe Gottes“ könnte auf das Bild eines strafenden Gottes referieren, vgl. CO 145, 1. 89 BrTh 97, 810 – 812.
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schwemmung (vgl. die ausführliche Interpretation des Texts in Kap. 5.2) den ganzen Text hindurch abwechselnd verschiedene Perspektiven auf die Flutkatastrophe. Dies geschieht in Rekurs auf Symbole, die der biblischen Offenbarung entlehnt sind und betonen entweder die zerstörerischen Aspekte dergleichen oder unter Verweis auf einen huldvollen Gott den egalisierenden Charakter des Ereignisses.90 Auch in den hier im Zentrum der Analyse befindlichen religiösen Versen des Frühlings stehen die beiden Konzepte eines strafenden Gottes91 und eines aufklärerisch-gnädigen Gottes scheinbar deutungsoffen nebeneinander. So soll in der religiösen Passage des Frühlings die „Größe der Gewalt“ Gottes „von Pole zu Pole“ verbreitet werden – gleichzeitig aber auch dessen Huld (vgl. W I 227, 300): Hier findet sich in einem Vers der traditionell-strafende mit dem modernhuldvollen Gott zusammengedacht.92 Im Lobgesang der Gottheit scheint das ,modernere‘ Gottesbild eindeutig favorisiert: Gott gebe den Menschen Auen und Wälder (W I 29, 21 f.), in denen „aus Felsen wüthend sich ein Naß ergießt […]“, schreibt Kleist. (W I 29, 23) Diese Wut wird aber dann sofort abgemildert, wenn sich das Wasser „endlich blitzend schlängelt und in Muscheln rieselnd fließt“.93 (W I 29, 24) Das Neue und Besondere des Übergangscharakters des Kleist’schen Gottesbildes liegt gerade darin, dass sich ein huldvoller Schöpfer auch in den Katastrophen zeigen kann – schließlich sind diese wie Stürme und Meeresfluten bei Kleist gleichfalls zur Kommunikation fähig (s. o.) und können ebenso Teil des deistischen Gotteslobs bilden.94 Die Reste des 90 Vgl. W I 233 f. 91 Vgl. hierzu auch Kemper GE 386 f. 92 Vgl. auch „den gewaltigen, den gnäd’gen Herrn“ in der Hymne von 1758 (W I 125, 13). 93 Ramler versucht diese Stelle in den Überarbeitungen seiner eigenen Ausgabe der Kleist’schen Werke interessanterweise zu harmonisieren, wenn er nur noch von einem „hellen Naß, das sich durch Blumen ergießt“, schreibt und die „Wut“ hier somit völlig gelöscht ist (W I 29, Anm. V. 23). In völlig neu formulierten Strophen für den Lobgesang setzt Ramler diese vereindeutigenden Eingriffe fort. So heißt es hier dann über Gott: „Um des Sturmes Macht zu hemmen und zugleich zur Lust der Sinnen / Thürmen Berge sich, von ihnen lässest Du Gesundheit rinnen“ (W I 29, Anm. V. 25 – 27.) Die Ambivalenz und den eklektizistischen Charakter der religösen Positionierung Kleists löscht Ramler damit aus. 94 Nach Kemper könnte man dieses Deutungsangebot indes auch physikotheologisch begründen: „Die Welt war endlich, also kontingent, und mußte von daher eine ewige und notwendige Ursache, nämlich Gott, haben […].“ (Kemper FA 48.) Die Welt ist also (,noch‘) nicht, wie im Deismus, absolut müstergültig durchgeplant, Gott aber nichtsdestoweniger bereits ein „mit Absicht, Weisheit und Güte handelnder Schöpfer“ (ebd.).
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strafenden Gotteskonzepts95 machen jedoch gleichzeitig auf die Spuren orthodoxer Religionsideen bei Kleist aufmerksam96 und führen damit zur letzten Auffälligkeit der religiösen Bestandteile seiner Texte: der Sprachlosigkeit des sich in direktem Gotteslob übenden lyrischen Ich.
6.5 Sprachloses Ich (V. 301 – 307) Das vierte und letzte Element des Kleist’schen Gottesbilds beschließt die religiöse Passage des Frühlings: Immer wieder wird in Kleists Texten ausgestaltet, dass dem Ich ein Lob oder eine angemessene Beschreibung Gottes verwehrt bleibe. Dies ist ein ebenfalls häufig in der Psalmendichtung97 wie in der Konfiguration der „Heiligen Poesie“98 anzutreffendes Motiv. Kleists Gedichte verhalten sich hiermit völlig anders als die Poesie Brockes’, in der das lyrische Ich immer wie selbstverständlich in der Lage ist, Gott (in der ersten Person Singular) zu loben.99 Bei Brockes wird zwar ebenfalls oft eine nonverbale Erschütterung im Angesicht Gottes postuliert100, das Erfassen der Unbegreifbarkeit Gottes führt dann jedoch häufig zur eigenen Selbsterhöhung.101 Der beschriebene ,Unsagbarkeits-Topos‘ wird dabei in Kleists Dichtung oft inhaltlich wie auf der Zeichenebene 95 Vgl. auch in Johann Christian Günthers Die Zuversicht des Geistes zu Gott: „Ich seh gleichwohl daraus des Vaters Gegenwart, / Des Vaters, der mich nicht aus blindem Eifer schläget, / Nein, sondern nur dadurch zu Reu und Leid beweget. / Wer weiß, zu was es dient! […]“ (in: Löffler u. Willer (Hg.): Geistliche Lyrik, S. 112.) 96 Vgl. auch orthodox anmutende Elemente in Brockes’ Das Firmament: „Es schlug des Abgrunds Raum, wie eine dicke Fluht / Des Boden-losen Meers auf sinckend Eisen thut, / In einem Augenblick, auf meinen Geist zusammen.“ (Brockes: Vergnügen, S. 22); in seinem Gedicht Die auf ein starckes Ungewitter erfolgte Stille: „So wie des Donners Grimm die Probe Seiner [Gottes] Kraft.“ (ebd., S. 61) oder in seiner Betrachtung der Gestalt der Erde bey dem Ende des Winters den Umstand, dass selbst hässliche Leichen noch dem Gotteslob dienen können (ebd., S. 68 f.). 97 Vgl. Bach u. Galle: Psalmendichtung, S. 240. 98 Vgl. hier auch gerade zur Frage, wie die erhabene Sprache sowohl die sich sprachmächtig bewegende Entfaltung als auch das Scheitern der poetischen Artikulation im religiösen Zusammenhang bewirken kann: Jacob: Heilige Poesie, S. 237. 99 Vgl. etwa in der ersten Frühlings-Cantate in Brockes: Vergnügen, S. 92, 94, in der Zweyten Cantate ebd., S. 95, in Die uns zur Andacht … ebd., S. 100 f. 100 Vgl. in der Frühlings-Cantate in Brockes: Vergnügen, S. 94. 101 Vgl. Kemper FA 57 f.
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umgesetzt, womit das Prinzip der ,Kommunikabilität‘ hier in emphatischem Sinne an seine Grenzen kommt. Die letzten sieben Verse der Religionspassage des Frühlings lauten: Doch wer berechnet die Menge von Deinen Wundern? Wer schwingt sich Durch Deine Tiefe, o Schöpfer? Vertraut Euch Flügeln der Winde, Ruht auf den Pfeilen des Blitzes, durchstreicht den glänzenden Abgrund Der Gottheit, Ihr endlichen Geister, durch tausend Alter des Weltbaus: Ihr werdet dennoch zuletzt kein Pünktchen näher dem Grunde Als bei dem Ausfluge sein. Verstummt denn, bebende Saiten! So preist ihr würd’ger den HERRN. – (W I 227, 301 – 307)
Die Verse greifen die Fragen nach der Allmacht Gottes („Wer […]?“, vgl. Kap. 6.1) wieder auf: in rationalen Annäherungen („berechnet“, 301) sowie in einem Hinweis auf den unbegrenzten Charakter Gottes (vgl. 290 f.), der abermals den Topos des Hochmuts bei Kleist bemüht („aufschwingen“, 302), stellt der Text verschiedene Möglichkeiten vor, Gott zu erfassen. Dabei ist den „endlichen Geistern“ (vgl. 304), also den Menschen, theoretisch jegliche Möglichkeit freigestellt („Vertraut Euch Flügeln der Winde […]“, 302), die „Tiefe“ sowie den ambivalent geschilderten „glänzenden Abgrund“ (303) Gottes zu erfahren. Denn eins steht ohnehin fest – man wird Gott kaum nahekommen und vor allem seinen Charakter niemals in irgendeiner Form in Worte fassen können: „Ihr werdet dennoch zuletzt kein Pünktchen näher dem Grunde / Als bei dem Ausfluge sein“ (305 f.) heißt es hier, womit der Text den Lichtvergleich der „Pünktchen“ aufgreift, der 14 Verse zuvor bereits die nur verschwindend geringe Bedeutung aller Wesen der Erde im Vergleich zu Gott aufgezeigt hatte.102 Am Ende rät der Text, völlig zu verstummen (306): Dies sei das „würdigste“ Lob Gottes (307). Diese Anweisung wird gleichzeitig mittels Metrik und Zeichensetzung ausgeführt, indem ein nach der Hälfte abgebrochener Hexameter den letzten Vers bildet, der das geforderte Schweigen mit einem lang gesetzten Gedankenstrich auch auf grafischer Ebene ins Bild setzt. Kleist hat diesen Eindruck indes erst im Verlauf der Fassungsgeschichte des Frühlings auf diese Weise verstärkt; in der Erst102 Dies ist ebenfalls ein in Psalmen wie Psalmendichtung beliebtes Motiv, s. Bach u. Galle: Psalmendichtung, S. 240. Dass der Mensch klein und im Angesicht Gottes vor allem bescheiden sein soll, findet sich auch in den später aus dem Frühling ausgekoppelten Versen Kleists über die Unzufriedenheit der Menschen, interessanterweise auch im Kontext der im 18. Jahrhundert deistisch interpretierten Idee von der „Kette der Wesen“, vgl. bes. W I 235, 10, W I 236, 21 und W I 236, 22 – 24.
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ausgabe des Frühlings 1749 war der genannte Gedankenstrich noch nicht enthalten. Im Manuskript war das Wort „HERR[N]“ nicht einmal in Großbuchstaben gesetzt.103 Zudem brach der Vers hier nicht nach der Hälfte ab, sondern ließ anderthalb weitere Verse folgen, die das Gebot des Verstummens jeglicher Kommunikation im Angesichts Gottes jedoch ebenfalls bestätigten: „Laßt mich des Himmels Gebieter / Forthin in stiller (!) Entzückung ob seinen Werken verehren.“ (vgl. W I 199, Anm. V. 362 f.) Auch in Kleists Lobgesang der Gottheit von 1745 wird die Sprachlosigkeit des Ich gleich zu Beginn auf der Zeichenebene verdeutlicht, indem der gesamte erste Vers, der Gott beschreiben soll, lediglich aus Auslassungspunkten besteht.104 Der abschließende Ratschlag des Texts, am besten „schweigend den Herrn zu preisen“ (vgl. W I 57, 93), wird zwei Verse zuvor abermals durch Auslassungszeichen formal ausgedrückt (W I 57, 91). Interessant ist an dieser Stelle eine Bitte in den Briefen Kleists, dass Gleim sein Gedicht an den pietistischen Pfarrer und Dichter Samuel Gotthold Lange in Laublingen übersenden sollte, bei dem Kleist angesichts der religiösen Formeln wohl auf eine positive Reaktion hoffte.105 Das Lob der Gottheit, das im Folgenden auch gerade im Hinblick auf seine verschiedenen Fassungen ausführlicher analysiert werden soll, verknüpft das Thema der Unsagbarkeit Gottes mit moralphilosophischen Fragen. Gleich zu Beginn heißt es im Text: „Soll ich denn allein verstummen? Soll ich ihm kein Loblied bringen?“ (W I 28, 5), wobei das lyrische Ich in Kontrast zu anderen Bewohnern der Erde gesetzt wird, die zuvor ohne Probleme in der Lage waren, Gott zu loben (vgl. W I 28, 1 – 4). Die Möglichkeit, sprachlich das Herrscherlob zu artikulieren, wird hierbei verbunden mit der Frage der potentiellen (lokalen) Annäherung an Gott: Nein, ich will des Geistes Flügel auch zu seinem Throne schwingen; Und wenn meine Zunge stammelt, o, so sollen nur allein Dieser Augen milde Bäche Zeugen meiner Ehrfurcht sein. (W I 28, 6 – 8)
Anhand des Symbols des Emporschwingens (s. o.) wird hier die bloße Möglichkeit, sich durch ein Gotteslob in die Höhen des Herrschers emporzuheben (W I 28, 6), sofort wieder verworfen.106 Ganz ähnlich wird auch im Lobgesang Gottes, wo zu Beginn des Gedichts kurz zur Beschreibung 103 Vgl. W I 199, 362, Anm. V. 362. 104 Dies ist hier wohl auch dem gattungstypologischen Umstand geschuldet, dass der Text Fragment blieb, vgl. W I 53, Untertitel Nr. 13. 105 Vgl. W II 20. 106 Nicht so z. B. in Brockes’ Der gestirnte Himmel, vgl. Brockes: Vergnügen, S. 25.
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Gottes angesetzt wird, das Ich gleich wieder „[V]erwirrt und mit zitterndem Gefieder“ aus den himmlischen Sphären zurückgeholt: „Stürz’ ich aus diesen Höhen nieder […]“. (W I 53, 4 f.) Das Lob der Gottheit hingegen betont im Anschluss an das verworfene „Aufschwingen“ nochmals die Unsagbarkeit Gottes, da die Zunge des lyrischen Ich lediglich unartikuliert stammeln kann (W I 28, 7) und nichts genügt, um Gott ausreichend zu beschreiben oder ihm gar zu danken.107 Typisch für die zeitgenössischen Diskurse der Empfindsamkeit weicht das lyrische Ich hier dementsprechend auf eine nonverbale Ausdrucksweise aus, die aber nur umso mehr die Rührung im Angesicht Gottes anzeigt: Tränen, „[D]ieser Augen milden Bäche“ (vgl. W I 28, 8), sollen nun die Funktion des Gotteslobs erfüllen. Den Sternen des Frühlings ähnlich (s. o.), die nur Pünktchen im Vergleich zum Licht Gottes sind, und den dort ebenfalls explizierten Versuchen, sich „pünktchenweise“ einer Darstellung Gottes zu nähern, heißt es nun in der nächsten Strophe: Ja, sie stammelt; sieh o Schöpfer, meines Herzens Altar rauchen! Könnt’ ich gleich den blöden Pinsel in der Sonne Flammen tauchen, O, so würd’ von Deinem Wesen doch durch ihn kein Strich gemacht! Dir ward selbst von reinen Geistern nur ein schwaches Lob gebracht. (W I 22, 9 – 12)
„Noch kein Zug“ oder Strich ward gemacht, selbst wenn das Ich die Strahlkraft und Farben der Sonne zur Verfügung hätte, um Gottes Herrlichkeit darzustellen. Auch „reine Geister“ können Gott nur ein schwaches Lob bringen (W I 22, 12). Alle Mittel und Personen, die Gott nahe oder gleich zu kommen versuchen, müssen versagen.108 In der ersten Fassung des Lobes der Gottheit hieß es im 12. Vers sogar, dass Gott selbst „von David’s Munde“ nur ein schwaches Lob dargebracht wurde (vgl. W I 22, 12). Dieser kritische Verweis auf eine der – im 18. Jahrhundert gerade im Kontext der Psalmendichtung109 – zentralen Autoritäten der Bibel war Kleist aber später vielleicht zu bibelkritisch,antiorthodox‘, sodass er ab dem Abdruck des Lobes der Gottheit in den 107 Ähnlich erscheint die Zeichnung eines im Angesicht Gottes schwach erscheinenden Ich bei Pope: „Verlangst du eingebildter Mensch, daß dein Verstand den Grund ermißt, / Warum du doch so schwach, so klein, so blind alhier formiret bist?“ (BrPope 7, 35 f.) 108 In Hallers Morgen=Gedanken heißt es, dass die ,endlichen menschlichen Seelen‘ nicht in der Lage wären, die Taten des „dreymal grosse[n] Gott[es]“ zu erzählen. Vgl. Haller: Gedichte (1753), S. 3. 109 Vgl. Bach u. Galle: Psalmendichtung, S. 246 – 252.
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gesammelten Gedichten vom Verfasser des Frühlings 1756 fehlt.110 Ähnlich der beabsichtigten Versendung an Lange scheint es sich also auch hier um einen Umgang mit religiösen Symbolen in den Gedichten zu handeln, der gleichzeitig bewusst die Positionierung im literarisch-politischen Feld der Zeit miteinbezieht.111 In den im Laufe der Publikationsgeschichte ebenfalls gekürzten ersten Versen des Gedichts hieß es noch im Manuskript: „Herr, wer kann durchs tieffste Forschen Deines Wesens Meer ergründen? / Wenn wir Dich betrachten wollen, muss Vernunft und Sinn verschwinden.“112 (vgl. W I 23, Anm. V. 9 – 12) Ein ,über-sinnliches‘ Erfassen Gottes empfiehlt der Text also als angemessene Erfahrung des Herrschers.113 Die übersinnliche Stärke Gottes findet sich ebenso im Lobgesang der Gottheit (W I 54, 15). Auch in den Seasons heißt es an einer Stelle über den Zusammenhang zwischen dem Sprechen über Gott sowie der (Un-)Möglichkeit eines kognitiven Erfassen desselben: Kann unser Sinn die holde Schöpfung und schönen Farben wohl erreichen? […] Kann wohl ein Mensch die Art der Handlung und ihre Wirkungen ergründen? […] Wie kann es doch die Sprache thun? Wo nimmt man immer Worte her, Gefärbt mit solchen schönen Farben? (BrTh 53, 431/434, 440 f.)
Hier wird ebenfalls darauf abgehoben, dass insbesondere die „Sprache“ (s. o.) versagen muss, um die Herrlichkeit Gottes auszudrücken. 110 Vgl. W I 28, 12. 111 Eine solche Haltung scheint – analog zur Druckgeschichte des Frühlings – ebenfalls für eine spätere Setzung des Wortes „HERR“ in Großbuchstaben im Gedicht zu gelten, welche ebenfalls noch nicht Teil der ersten Publikation des Lobes 1744 in den Belustigungen des Verstandes und des Witzes bildete, vgl. W I 23, 16/28, 16. 112 Kleist indessen kürzte in der oben genannten Belegstelle des Lobes der Gottheit die vernunft- und sinn-kritischen Verweise vor dem Abdruck in den Gottschednahen Belustigungen und lässt den Text dann nur noch von den „reinen Geistern“ sprechen, vgl. W I 23, Anm. V. 9 – 12. Vgl. die noch viel stärker deistischen Grundsätzen verpflichtete Gleichsetzung von Gott und Ordnung in Gellerts Die Ehre Gottes aus der Natur: „Vernimm’s und siehe die Wunder der Werke, / Die die Natur dir aufgestellt! / Verkündigt Weisheit und Ordnung und Stärke / Dir nicht den Herrn, den Herrn der Welt?“ (Löffler u. Willer (Hg.): Geistliche Lyrik, S. 114 f., hier S. 115.) Zu den Kleist nicht gefallenden Überarbeitungen Schwabes in den Belustigungen bzgl. An Wilhelminen vgl. W II, 14. 113 Vgl. den als „deutlich“ und „klar“ sich „vor Augen stellenden“ Gott in Brockes’ Unnütze Mühe einen Atheisten zu bekehren in Brockes: Vergnügen, S. 203 f.
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Die literarische Figuration eines im Angesicht Gottes verstummenden Ich lässt sich im Gefüge der religionshistorischen Diskurse des 18. Jahrhunderts weniger deistischen oder physikotheologischen Überzeugungen zuordnen als vielmehr einem orthodoxen Gottesbild.115 Völlig überraschend ist dies für Kleists Dichtung nicht, finden sich in seinen Texten doch durchaus Verse, die explizit – und affirmativ – auf Elemente der kirchlichen Orthodoxie anspielen. So heißt es in der Hymne: 114
Ihr Löwen, brüllt zu seiner Ehr’ im Hain! Singt ihm, Ihr Vögel, singt! Seid sein Altar, Ihr Felsen, die er traf! Eu’r Dampf sei Weihrauch ihm! (W I 125, 21 – 24)
Neben einem katholisch konnotierten Motiv wie dem hier angeführten „Weihrauch“ lassen sich im Frühling verschiedene Verse einem ,unaufklärerischen‘ und sogar mystisch-orthodoxen Hintergrund zuordnen, so etwa die Vorstellung, dass aus Gott „alles quelle“ und Gott selber „keinen Zufluß“ (290 f.) habe, wie im Zusammenhang hermetischer Anleihen in der Lyrik Brockes’ aufgezeigt werden kann.116 Am ehesten lassen sich die orthodoxen Elemente in Kleists religiöser Lyrik allerdings vor dem Hintergrund der Sprachformeln pietistischer Sach- und Belletristiktexte des 17. und 18. Jahrhunderts verorten, womit wir zum Beginn des vorliegenden Kapitels zurückkehren (vgl. Kap. 6.1). Ein Beispiel ist hier die aus der Unsagbarkeit Gottes folgende Konsequenz, dass das lyrische Ich sich von Tränen überwältigt fühlt, was sich als ähnliche Subjektkonstitution immer wieder in pietistischer Literatur findet.117 Die Formulierung, dass das Ich sich „zu etwas aufschwinge“, die in Kleists Gedichten ebenfalls häufig auftaucht, lässt sich ebenfalls pietistisch verorten.118 Auch wird dieses Verb bei Kleist dazu genutzt, den scheiternden Versuch einer Annäherung an Gott zu beschreiben. Die in pietistischen Texten oft diskutierte Fähigkeit und Evidenz des ,Gerührtwerdens‘ im Angesicht Gottes können hier zusätzlich als mögliche Vorlage für die orthodoxen Bestandteile des 114 In der Hymne von 1758 heißt es auch, dass Gott ohnehin kein Lob brauche, vgl. W I 125, 34. 115 Anhand der Gegenüberstellung von Brockes und Pascal bei Kemper ließen sich bei einem solchen sogar jansenistische Bestandteile ausmachen, auch wenn dies Kleist wohl kaum zuzurechnen wäre, vgl. Kemper FA 60. 116 Vgl. Kemper FA 116. 117 Vgl. Langen: Wortschatz, S. 173 zum Stillschweigen im Angesicht Gottes, S. 173 f. zur Unaussprechbarkeit. 118 Ebd., S. 294, 377.
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Kleist’schen Gottesbilds veranschlagt werden.119 Dies lässt sich sogar auf poetologischer Ebene im an der Ästhetik Bodmers/Breitingers geschulten Konzept der „Rührung“ wiederfinden. Die Einordnung von Kleists Gottesbild in einen orthodoxen Kontext120 ergänzt andere Befunde der Analyse des vorliegenden Kapitels fruchtbar: Bereits der im Kontext der Katastrophensemantik partiell als strafender Herrscher charakterisierte Gott passte ganz offensichtlich nicht zu einem deistischen Weltbild, in dem alles bereits perfekt gefügt ist und der Schöpfer in seine Schöpfung nicht mehr eingreifen muss. Auch in einem physikotheologischen Religionsverständnis bräuchte es einen solchen personal gezeichneten und vor allem in das Weltgeschehen eingreifenden Gott nicht mehr.121 Neben der bereits zitierten Briefstelle in Bezug auf Bodmers Noah äußert sich Kleist ein weiteres Mal über die ,religiöse Literaturproduktion‘ seiner Freunde: Am 23. 5. 1759 schreibt er an Hirzel aus dem Lager bei Hof, dass sich auch Gessner in seinem Abel mehr an den ästhetischen Maximen der Natürlichkeit und Vorlagentreue hätte orientieren sollen. Wie in seinen Anmerkungen zum Noah 122 kritisiert Kleist neben dem „vielen Dunkel und Wolken“ die „häufigen Metaphern“, jetzt allerdings mit der Begründung, dass sie „zu künstlich sind als daß die ersten Menschen sie gesprochen haben könten […]“.123 Eine quasi wortwörtliche Orientierung an Offenbarungswahrheiten der Bibel geht also einher mit aufklärerischen poetologischen Prinzipien von Klarheit, Natürlichkeit und logischer Nachvollziehbarkeit und bildet so einmal mehr den spezifischen Übergangscharakter der religiösen Poetologie Kleists ab, in dem neben deistischen oder naturreligiösen Einflüssen zum Beispiel pantheistischen Aus119 Vgl. Schmitt: Kritik, S. 50 f., bes. S. 52. 120 Vgl. außerdem das bei Langen erwähnte und bei Kleist ähnlich umschriebene „überfallen werden“ der Seele durch Gott, Langen: Wortschatz, S. 54. Ein weiteres Beispiel für eine Entlehnung von Beschreibungen (nicht-autonomer) Subjektkonstitutionen ist die in Kleists Texten immer wieder auftauchende Formulierung, dass das Subjekt des Gedichts wie von außen bestimmt „zu etwas gerissen würde“ („Wohin reißt mich mein Blick“, „Wohin reißt mich mein Gefühl“ etc.); vgl. Kap. 5. Im pietistischen Kontext bezeichnet das gleiche Verb häufig die ebenso zentrale Frage nach Gottes Einwirkung auf die menschliche Seele, vgl. Langen: Wortschatz, S. 377. 121 Kemper GE 14. Vgl. auch zur religionshistorischen Verortung Hallers in Kemper FA 145. 122 Vgl. weiter zu Kleists Reaktion auf den Noah Lütteken in: Jordan (Hg.): Kleist, S. 48, Anm. 22. 123 Vgl. KaH 19 (1912), 106.
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drucks sich auch Elemente orthodox-pietistischen oder sogar mystischen Ursprungs finden lassen. Diese Beobachtungen können nun noch nachhaltiger als zuvor (vgl. Kap. 5) zur Deutung der Kleist’schen Diskursivierung von Melancholie dienen: Noch zu wenig war Kleist von den neuen emanzipierenden Philosophie- und Religionstheoremen überzeugt, als dass er an ein ,irdisches Vergnügen‘124 glauben konnte.125 Es brauchte noch eine letzte Hilfe der Religion, um das gewünschte ausgeglichene Ich zu finden. In säkularisierter Form finden die Buß- und Betkämpfe der Pietisten sowie ihr ,Reuezwang‘ mit Hoffnung auf ein seliges Leben im Jenseits Eingang in die religiösen Konstellationen der Texte Kleists, in denen sich seine melancholischen Phantasien sowie die religiös konnotierte Hoffnung nach „Ruhe“ als (auch natürlicher) Gottesdienst in Überwindung der zu starken Laster und Leidenschaften artikulieren. Die orthodoxen ,Reste‘ in den Werken Kleist sollten indes auch nicht zu stark gewichtet werden. Dies wird vor allem deutlich, wenn man einen letzten, chronologisch perspektivierten Blick auf das Phänomen des ,verstummenden Ich‘ wirft. Denn in den beiden Hymnen von 1758 und 1759 scheint sich eine Entwicklung anzudeuten, die das Ich selbstbewusster zeichnet. So äußert sich das lyrische Ich gleich zu Beginn der Hymne von 1758 zum ersten Mal in direkter Rede im Gotteslob, scheint also ein Gotteslob auf der Sprecherebene artikulieren zu können: Groß ist der Herr! Die Himmel ohne Zahl Sind seine Wohnungen, Sein Wagen Sturm und donnernde Gewölk’ Und Blitze sein Gespann. (W I 124, 1 – 4)
Der Impetus, das lyrische Ich möglichst klein im Spiegel Gottes erscheinen zu lassen („Groß ist der Herr!“, vgl. W I 124, 1), ist hier jedoch noch unverkennbar. Und auch nachdem das Ich die Natur aufgefordert hat, Gott zu loben (W I 125, 13 – 28), preist es Gott zunächst wieder durch einen in erhabenen Bildern ausgedrückten Zustand des religiösen Überwältigtseins: „Durch heil’gen Schau’r will ich, ohnmächtig sonst, / Dich preisen ewiglich.“ (W I 126, 55 f.) Passend jedoch zum Duktus des Gedichts fehlt die in den sonstigen Gedichten ausgesprochene Überzeugung, dass eine 124 Vgl. Kemper FA 146. 125 Vgl. Mauser: Konzepte, S. 216.
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wahre Artikulation des Gotteslobs unmöglich sei und dieses eigentlich am überzeugendsten im Schweigen realisiert werde.126 Diese Entwicklung setzt sich in der zweiten Hymne Kleists von 1759 fort, wo sich das Ich dann tatsächlich erstmals auch in himmlische Höhen schwingen kann, ohne gleich wieder dem moralphilosophischen Hochmutsverdacht anheimzufallen: „Mein Geist soll sich dem Tand der Erde kühn entschwingen“ (W I 129, 3), heißt es, und diese Bewegung wird in der nächsten Strophe affirmativ fortgeführt: „Wohin, wohin reißt mich der Andacht Gluth?“ (W I 129, 5) Dem falschen Ehrgeiz wird das Ich nun gerade durch sein Aufschwingen in den Himmel „entrissen“ (ebd.). Ähnlich dem lyrischen Ich, das zu Beginn des Frühlings Zufriedenheit aus der Natur in sich zieht und diese „trinkt“ (W I 129, 8), heißt es nun, dass das Ich „froh schon andrer Sonnen Gluth“ (ebd.) trinke, wenn es sich in himmlischen Sphären befindet. Auch hier könnte man eine Parallelisierung von Natur und Gott sehen. Dem Ich scheint es nun zu glücken, sich mehr und mehr in die Nähe Gottes zu imaginieren und „[D]ie Welt“, die es „voll Qual befunden“ (vgl. W I 129, 10) sowie alle falschen Verlockungen dieser (vgl. W I 129, 9) hinter sich zu lassen. In großer Langsamkeit wird im Gedicht diese Bewegung des Emporschwingens beschrieben, wenn es in der dritten Strophe über die Welt heißt: „Verschwindet unter mir – ist unter mir verschwunden“ (W I 129, 11). Ein das Ich entzückendes „himmlisch Licht“ (W I 129, 12) verheißt die erste Ankunft im Himmel. Die ebenfalls für die religiösen Gedichte Kleists zentrale Frage, wer Gott genug erfassen könne, wird nun lediglich abgemildert ausgedrückt in dem Vers: „Welches Auge siehet ganz / Die Herrlichkeit, die Dein umgeben […]?“ (W I 130, 13 – 15) Ebenso wie das lyrische Ich Gott in diesem Gedicht insgesamt näher gekommen ist, verwandelt sich der sonst übliche „Wink“127 Gottes nun konsequenterweise in einen „Ruf“ und damit in eine verständliche Form der Kommunikation – ungleich dem Frühling, wo der Verweis auf Gott sogar das Versschema des Hexameters durchbrach und empfindlich um die Hälfte kürzte (W I 227, 307). Ähnlich dem Menschen, der in der ersten Hymne von 1758 „ganz in Harmonien zerfließt“ (vgl. W I 125, 27 f.), sind im Folgetext auch „der Schaaren Seraphim“ (W I 130, 21) in fröhlichem Gewimmel entzückt – eine Umschreibung, die Kleist sonst nur für das Gesamte der Schöpfung auf Erden verwendet. Nun sind diese „ganz 126 Vgl. zum „aufschwingen“ im Kontext poetischer Einbildungskraft auch Jacob: Heilige Poesie, S. 181. 127 In den Seasons heißt es: „Nur bloß Dein Meister=Finger weiß / Dies grosse Ganze zu formiren in solcher Vollkommenheit.“ (BrTh 62 f., 512 f.)
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Gesang und strömen durch den Himmel“ (W I 130, 23). Auch auf dieser Ebene hat also eine egalisierende Annäherung von Gott und Ich stattgefunden; Seraphim werden neben gewöhnliche Lebewesen gestellt, während sie an anderer Stelle in Kleists Werk noch das obere Ende der „Kette der Wesen“ bildeten, die mit dem einfachen Wurm begann.128 Die gezeichnete chronologische Entwicklung lässt sich außerhalb der beiden analysierten Gedichte jedoch nicht in allen literarischen wie privaten Äußerungen Kleists so eindeutig belegen und kann keine finale Aussage über die religionshistorische Verortung seiner Texte bilden. Vielmehr erscheint eine bewusst gewählte eklektizistische Position129 Kleists am wahrscheinlichsten – was für die literarische Frühaufklärung alles andere als ungewöhnlich wäre.130 Die Zusammenstellung verschiedenster religionshistorischer Positionen, aus denen sich Kleist in seinen Gedichten bedient, ergibt schon im Hinblick auf seine biographischen Prägungen Sinn (s. o.). Und wenn man dem folgenden Brief an Gessner Glauben schenkt, ist bei Kleist ohnehin nicht von einem offenen Umgang mit religiösen Themen in seiner Dichtung auszugehen. Am 19. 1. 1755 schreibt Kleist aus Potsdam im Kontext einiger an Gessner übersandter Epigramme (s. die hier erstmals gedruckten Varianten im Anhang, Kap. 8): Ich habe aus Spas […] auch einige Singedichte131 in dem selben Thon gemacht, davon ich ein paar Ihnen aufschreiben will. Sie sollen aber niemahls gedruckt werden. So viel Tugend und Gottheit als ich sonst gepriesen habe, schickt sich mit Käse nicht gut zusammen.132 128 Hierin ähnlich mit Carl Friedrich Drollingers Lob der Gottheit, welches ebenfalls zunächst eine scheiternde (herunterstürzende), dann am Ende gelingende Bewegung des Ich zu Gott zeigt und sogar auch Naturkatastrophen behandelt. Vgl. Herrn Carl Friedrich Drollingers, weiland Hochfürstlich=Baden=Durlachischen Hofrahts und geheimen Archivhalters, Gedichte, samt andern dazu gehörigen Stücken, wie auch einer Gedächtnißrede auf denselben, ausgefertiget von J. J. Sprengen, D. G. W. der deutschen Beredsamkeit und Poesie öffentlichem Lehrer zu Basel, wie auch der D. G. in Leipzig und Bern Mitglide. Mit Königl. Polnisch= und Chur=Sächsischer Freyheit. Frankfurt a.M. 1745, S. 5 – 16. 129 Siehe im Vergleich zum Eklektizismus der religiösen Poetologie Wielands: Jacob: Heilige Poesie, S. 208. 130 Vgl. Kemper AP 29 f., in Bezug auf das bei Kemper am ausführlichsten behandelte Beispiel Brockes’ z. B. Kemper FA 49. 131 Sauer ediert hier allerdings falsch und übersieht den nach rechts gerutschten Doppelüberstrich des „n“. Vgl. Hs-3315 aus der Autografensammlung des Freien Hochstifts Frankfurt am Main, Bl. 2; Sauer: Mittheilungen, S. 283. 132 Ebd.
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Die genannten Texte wollte Kleist nicht publizieren, weil sie nicht zu dem Bild passten, das er von sich im literarischen Feld ,entworfen‘ hatte. Dies entspricht den verschiedenen Fassungen des Lobes der Gottheit nach dem Abdruck in den Belustigungen (vgl. o. in Kap. 6.4) oder Kleists strategischen Überlegungen, wer wem welches seiner Gedichte am besten zukommen lassen sollte (ebd.) – und all dies zeigt, wie sehr Kleist die Positionierung seiner Texte bis hin zu ihren elementarsten Fragestellungen wie „Tugend und Gottheit“ plante. Kleists erste Veröffentlichung, die sich mit religiösen Fragen beschäftigt, legt jedoch auch einen anderen Grund für seine vorsichtige Publikationstaktik nahe. Noch während seines Studiums in Königsberg hatte Kleist 1734 nur des „Spaßes“133 halber eine theologische Dissertation über die Wiederaufstehung in einem anonymen Brief kritisiert, den er von seinem Kommilitonen Berndt später in einer theologischen Zeitschrift in aller Ernsthaftigkeit widerlegt fand. Kleist war sich unsicher, ob er eine nochmalige Erwiderung wagen sollte, und erwähnte dabei im Brief an Gleim den Fall des „bekannten Naturalisten“ und „Epicurers“134 Edelmann, der kurz zuvor erfolglos bei Friedrich II. um Asyl „wider die Nachstellungen der Geistlichen“ ersucht hatte. Kleist schreibt in diesem Zusammenhang am 13. 1. 1749: Ich mag nicht solche Sachen in die Welt schreiben, die Aergerniß geben können; sonst, deucht mich, sollte es mir ein Leichtes sein, meinen damaligen Spaß gegen die gewaltigen Widersacher H. Simonetti [den Herausgeber der Zeitschrift, C. W.] und Berndt zu behaupten. Vielleicht aber thue ich es doch noch zum Spaß, aber unter einem andern Namen, damit man mich nicht zu einem Edelmann mache, und lateinisch, damit man den Pöbel nicht ärgere. (W II 137)
Somit sind seinen Texten später hinzugefügte Setzungen wie „GOTT“ oder das Kürzen kritischer Verweise gegenüber „David’s Munde“ nicht nur einem Autorbewusstsein geschuldet, welches im literarischen Feld ggf. schnell die Koalitionen wechselt, um etwa die ersten Gedichte in einer einflussreichen Zeitschrift wie den Gottsched’schen Belustigungen 135 unterzubringen. Vielmehr bot sich sich bekanntermaßen beim Schreiben 133 Vgl. W I XV. Leider sind Kleists Brief und jegliche Angaben zur Zeitschrift mit der Gegenreplik nicht mehr erhalten. 134 Vgl. W II 81 f. 135 Obgleich der direkte Einfluss Gottscheds zu dieser Zeit bereits abgemildert war, vgl. Christel Matthias Schröder: Die „Bremer Beiträge“. Vorgeschichte und Geschichte einer deutschen Zeitschrift des achtzehnten Jahrhunderts. Bremen 1956.
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über religiöse Fragen auch in der Zeit der Frühaufklärung nicht die gleiche künstlerische Freiheit wie bei anderen Themen. Der für das „religiöse Bewusstsein“ der Aufklärung so typische eklektizistische Charakter, welcher sich im vorliegenden Kapitel exemplarisch am Frühling Kleists gezeigt hatte, ist damit nicht zuletzt auch aus den geistigen Unfreiheiten heraus zu verstehen, denen dieser Topos im literarischen Feld des 18. Jahrhunderts noch unweigerlich ausgesetzt war.
7 Natur II: Synthese (V. 308 – 398) Im Anschluss an die religiöse Passage des Texts begibt sich das lyrische Ich wieder in die Naturszenerie des Frühlings. Es kehrt damit zurück zum Ort des Anfangs des Gedichts. Die letzten neunzig Verse dienen dazu, die entwickelten Positionen und Argumentationen in zum Teil starker Übereinstimmung der bisherigen Motive noch einmal aufzurufen und das Finale des Frühlings einzuläuten.
7.1 Harmonische Natur, glückliches Ich (V. 308 – 373) „Ein Fluß von lieblichem Duft, den Zephyr mit säuselnden Schwingen / Von nah’ gelegener Wiese herbeiweht, nöthigt mich zu ihr“ (308 f.), heißt es zu Beginn. Dass das Ich des Texts von der Natur „genötigt“ wird, sich abermals an seinen locus amoenus zu begeben, zeigt eine Veränderung im Verhältnis zwischen Subjekt und Umgebung an: Das Ich muss um eine Aufnahme in die Natur nun nicht flehen (vgl. 1 f.,) oder lediglich Absichtserklärungen abgeben (vgl. 9 f., 45 – 48), vielmehr gibt es für die Kommunikation zwischen Ich und Natur keinerlei Hindernisse mehr. Das lyrische Ich versteht die Natur sofort. Eine gelungene Kommunikation zwischen Natur und Ich war, wie gesehen, eine der Voraussetzungen für ein glückliches Individuum, was sich nun im Text konstituiert hat. Analog zur Initiationsszene des Texts (vgl. 7) tritt das Ich nun wieder mittels des „Dufts“ in Kontakt mit der Natur: „Da will ich an schwirrendem Rohr, in ihrer Blumenschooß ruhend, / Mit starken Zügen ihn einziehn.“ (310 f.) Systematisch wird die Schlusspassage des Frühlings hier in mehrerlei Hinsicht an den Anfang des Gedichts zurückgebunden, nun ist die absolute Mimesis möglich. Nach der Melancholie-Passage bringt der Text (vgl. 171, 189) zum zweiten Mal Freunde und Geselligkeit als Therapeutica1 für das Wohl1
Vgl. hierzu auch einen Brief Gleims an Kleist vom 17. 9. 1746, in dem er die beruhigende Wirkung von Freundschaft beschreibt, die noch stärkere therapeutische Wirkung als die Natur hätte, vgl. W III 23. Siehe zudem Kemper über Kleist, Kemper FA 160 – 162.
7.1 Harmonische Natur, glückliches Ich (V. 308 – 373)
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befinden des Ich ins Spiel. Nach dem Verweis auf Gleim in Vers 189 werden andere „Freunde der Weisheit“ jetzt jedoch noch ausführlicher angerufen und in das lyrische ,Setting‘ miteinbezogen: […] Kommt zu mir, Freunde der Weisheit, Mein Spalding und Hirzel, durch die jüngsthin der Winter mir grünte, Von deren Lippen die Freude zu meinem Busen herabströmt, Kommt, legt Euch zu mir und macht die Gegend zur himmlischen Wohnung! (311 – 314)
Indem der Frühling als heilsame Jahreszeit und Freunde als heilsam für die Seele des lyrischen Ich gezeichnet werden, parallelisiert Kleist hier Frühling und Freundschaft: So wie zu Anfang des Frühlings das Ich Zufriedenheit aus den Düften der „Thäler voll Rosen“ trank (6 f.), strömt nun von den Lippen der Freunde Spalding und Hirzel „Freude“ direkt in den „Busen“ des Ich (vgl. 313). Damit wird nochmals die Idee des Frühlings ausformuliert, aus der Natur(anschauung) Glücksgefühle ziehen zu können. Wenige Verse später wird diese Parallelisierung noch deutlicher: „Laßt Eures Mundes Gespräche / Mir sein Düfte von Rosen!“ (318) Auf diese Weise kann die Erde mit Natur und Freunden für das Ich des Texts zum wahrhaft „irdischen Paradies“ werden, das die Freunde anruft: „Kommt, legt Euch zu mir und macht die Gegend zur himmlischen Wohnung!“ (314) Wieder verdeutlichen Metaphern des natürlichen Innenraums die Verschränkung von Natur und Ich. Wie im ersten Teil verabschiedet der Frühling einen ethisch verwerflichen Lebensentwurf: „Und spotten, mit ihnen geschmückt, des trägen Pöbels im Purpur!“ (316), und greift dabei auf Konzepte der laus ruris zurück. „Besingt die Schönheit der Tugend!“, heißt es (317), womit der Text ein dem ersten Teil des Frühlings ähnliches, wechselseitiges Interaktionsschema zwischen Ich und Natur aufruft. Nach dem Rekurs auf die Kritik am im doppelten Sinne ungesunden Stadtleben und der abermaligen Einbettung in den laus-rurisKontext (vgl. Kap. 3/V. 45 – 78/95 – 154) wird mit der „schönen Tugend“ außerdem auf die im Frühling geäußerten moralphilosophischen Vorstellungen Bezug genommen (vgl. Kap. 4/V. 87 – 94/155 – 165). Die Tugend, die glücklich macht (vgl. Kap. 4.2), ist hier gleichzeitig als „schön“ charakterisiert. In vielfacher Hinsicht ruft der Text – im Gegensatz zur melancholischen Frühlings-Passage vor der religiösen Erhebung nun jedoch in affirmativer Bezugnahme – die verschiedenen Themen des Gedichts nochmals auf. Kleist hebt hier expliziter als zuvor die Tugendhaftigkeit der Natur hervor, wenn die schöne Tugend in der Natur des hier evozierten
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locus amoenus angeschaut werden soll. Dieser locus amoenus zeichnet sich wieder insbesondere durch als „sanft“ charakterisierte Attribute aus: […] Hier ist der Grazien Lustplatz; Kunstlose Gärte durchirrt hier die Ruh’, hier rieselt Entzückung Mit hellen Bächen heran. […] (318 – 320)
„Ruh’“, „Entzückung“ und „helle Bäche“: auch im Anschluss schildert der Text vor allem die „zerstreuten“ (vgl. 321), „holden“ (ebd.), „unsichtbaren“ (322) oder explizit „lauen“ (323) Eigenschaften der Szenerie2, die wieder jegliche heftigen oder extremen Charakteristika vermissen lassen (vgl. Kap. 5). Wie stark diese sanften Charakterisierungen auf das optimale, affektcalmierte Individuum rekurrieren, ist im Verlauf der Analyse (Kap. 4.4 und 5) dargestellt worden. Mit dem Verweis auf die „tausend Bewohner“ (323), durch welche die „bunte Gegend belebt“ ist (324), vervollkommnet sich mit der theologischen Dimension die Synthetisierung der verschiedenen vorher entfalteten Positionen im Text. Erneut fokussiert sich die Blickregie des Gedichts und es werden einzelne Tiere, insbesondere Vögel, vorgestellt. Hier ist wie in der Melancholiepassage des Frühlings sämtlichen Schilderungen eine latente Gefahr immer präsent. So wird zunächst der Storch, der nach Nahrung sucht, als „begierig blickend“ charakterisiert (vgl. 325), womit der Text indirekt schon auf die von ihm für andere, potentielle Beute bildende Lebewesen, ausgehende Bedrohung hinweist. In Parallelisierung zu den Darstellungen latenter Gefahr im Landlebenkontext (45 – 78/95 – 154) wird dann als Nächstes ein Kiebitz beschrieben, der seine Kinder im „Neste“ (327) von einem herannahenden „müssigen Knaben“ (326) bedroht sieht (vgl. 326), diesen aber durch ein Ablenkungsmanöver ins Feld locken und seine Kinder retten kann. Hier macht Kleist intratextuelle Anleihen zur Landleben-Passage (vgl. 104 – 106), wo sich die Henne ebenfalls in Sorge um ihre „Entchen“ befindet, die dann aber jeglicher Gefahr entgehen. Ähnlich dieser Szene, in der das Mädchen den Entenkindern vortäuschte, ihnen Essen zuzuwerfen (vgl. 112), spielt auch beim Kiebitz eine scherzhafte List eine Rolle, wenn er mit dem vorgespielten Hinken den für seine Kinder gefährlichen Jungen ins Feld lockt, um ihn von der eigenen Familie zu entfernen (vgl. 328). Moralphilosophische Implikationen bestimmen die nächsten Verse der eingehenden Naturschilderung: „Zerstreute Heere von 2
Vgl. die frappierenden Ähnlichkeiten zu Elementen der Naturbeschreibung in der sogenannten Rokoko-Literatur nach Alfred Anger: Landschaftsstil des Rokoko. In: Euphorion 51 (1957), S. 151 – 191.
7.1 Harmonische Natur, glückliches Ich (V. 308 – 373)
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Bienen“ (329) betreten die Bühne des Texts, um Blumen zu befruchten („Durchsäuseln die Lüfte, sie fallen auf Klee und blühende Stauden“, 330), womit der Fruchtbarkeitstopos vom Anfang neuerlich aufgerufen wird (vgl. 14 – 16). Der Text zeichnet die Bienen als vorbildliche Exempel emsigen Fleißes und kluger „Weisheit“: Dann eilen sie wieder zur Stadt, die ihnen im Winkel des Angers Der Landmann aus Körben erbaut, – rechtschaff’ner Weltweisen Bildniß, Die sich der Heimath entziehn, der Menschheit Gefilde durchsuchen Und dann heimkehren zur Zelle, mit süßer Beute beladen, Und liefern uns Honig der Weisheit. […] (332 – 336)
Hier nutzt Kleist das Stilmittel der Anthropomorphisierung (die Bienenstöcke werden als „Stadt“ bezeichnet, vgl. 332), um die Bienen als menschliches Vorbild zu zeichnen. Ganz ähnlich dem „Liebling des Himmels“ in den moralphilosophischen Passagen des Frühlings, dem auch „die Arbeit die Kost würzte“ (vgl. 164), werden die Bienen über die Eigenschaft des „Fleißes“ charakterisiert. Hier besteht die Vorbildfunktion zudem darin, sich in der Welt so weit als möglich zu bilden, dabei wohlbekannte Orte bzw. Wissensbereiche zu verlassen und sich dem Neuen zu stellen („sich der Heimath entziehen“, 334), um zu einem wahren „Weltweisen“ auf der Erde zu werden. Dies ist eine neue normative Formulierung eines Menschenbildes, die im Frühling zuvor noch nicht geäußert worden war und in der Endfassung des Gedichts auch nur noch in abgemilderter Form enthalten ist. Sie wird jedoch offensichtlicher im Rückgriff auf das erhaltene Frühlings-Manuskript, in dem sich noch folgende Passage an den zweiten Vers (s. o.) anschloss. Der Text richtete sich abermals direkt „an die Menschen“ und explizierte das Beispiel der welterkundenden Insekten weiter: Folgt doch, Ihr Philosophen, dem Beispiel der kleinen Chymisten Entflieht den Schatten der Heimath, verbreitet Euch über den Erdball Durchsucht der Menschlichkeit Feld, mit Disteln und Blumen bewachsen Dringt durch die himmlischsten Wege, wagt Euch auf fruchtbare Felsen Und in der Abgründe Nacht. Mit süßer Beute beladen Kehrt denn in Eure Zellen und liefert uns Honig der Weisheit! (W I 201, Anm. V. 391 – 394)
An die „Philosophen“ wendet sich der Frühling hier noch – sie sollen, um der Menschheit Weisheit zu liefern, sämtliche Abgründe derselben untersuchen (dies ist auch mit den Standorten „fern der Heimath“ gemeint, s. o.), um wahre Weisheit, hier als „Honig“ apostrophiert, zu liefern. Dass es Kleist in der hier zitierten Szene darum ging, in Anlehnung an die im
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Frühling explizierte ,Arbeitsmoral‘ (vgl. Kap. 3) ziel- und zweckgerichtete Tätigkeiten zu beschreiben, macht die weitere Editionsgeschichte des Frühlings deutlich: Vier Verse über eher zweckfrei umherflatternde Würmchen wurden später wieder gestrichen, die bis zur Frühlings-Version von 1756 noch Teil der Schilderungen von Kiebitz und Bienen bildeten: […] Unzählbare schimmernde Würmchen Umflattern freudig den Schilf; theils laufen sie unten im Grase Durch Labyrinthe von Blumen in rothen und güldnen Schatten Und glauben in Hainen zu irren. […] (W I 229, vgl. Anm. V. 329)
Für die Frühlings-Überarbeitung von 1756 strich Kleist diese Verse. Es blieb nur noch der Verweis auf die Bienen, die ihre Heimat verlassen und mühevolle Arbeit verrichten, um dann die „süße Beute“ (vgl. 335) mitzubringen. Die Fassung letzter Hand des Frühlings stellt im Anschluss die Landschaft dar, welche die Tiere umgibt: Hierbei beschreibt der Text zunächst einen kleinen See in der Mitte der Wiese, in dessen Zentrum sich eine Insel befindet (335 f.). Wieder wird ein Szenario von Sicherheit und potentieller Gefahr entfaltet (vgl. Kap. 3), der sich die Natur aber standhaft wiedersetzt: „Mit Bäumen und Hecken gekrönt“ (338) wehrt sich das Eiland gegen widrige Umstände, wenn es heißt, dass es „wie vom Boden entrissen, / Scheint gegen die Fluthen zu schwimmen.“ (339) Die Symbolik der von Bäumen und Hecken „gekrönten“ Insel erinnert an die zahlreichen Charakterisierungen von Natur und Pflanzen im Landleben-Kontext, deren Schönheit auch immer über ihre wehrhafte Abschirmung gegen mögliche schädliche Einflüsse betont wurde (vgl. etwa die „Dornen“ in V. 50 – 52). Eine leicht traumhafte oder zumindest unrealistische Anlage der Darstellung wird durch die „holde Verwirrung“ (339) antizipiert und gänzlich offensichtlich, wenn auf der Insel nun neben „Hanbutten“, „Holunder“ und „Wachholder“ auch „sich umarmende Palmen“ (vgl. 340 f.) wachsen.3 Brandenburgischen Spaziergängen allein, wie in der Sekundärliteratur gern behauptet4, hat Kleist das Naturpanorama des Frühlings 3 4
Auf das Einsprengsel der exotischen Palmen weist Hans Christoph Buch hin, vgl. Buch: Pictura, S. 128 f. Darauf macht schon Ramler in einem undatiertem Brief an Gleim vom September 1749 aufmerksam: „Er [Kleist, C. W.] schreibt an Sulzern, dass er […] zum wenigsten die Freyheit erhalten hätte vor das Thor zu gehen […]. Also hat er den Früling nicht in den schönen Gegenden um Potsdam gemacht, sondern in vier weissen Wänden?“ (Sauer: Mittheilungen, S. 264.) Zu den Allgemeinplätzen der
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also ganz gewiss nicht entnommen. Neben dem gegen die Fluten schwimmenden Eiland befindet sich hier auch die Gefühlswelt der Pflanzen in Bewegung, schmiegt sich doch auch „[D]as Geisblatt […] am Zweige der wilden Rosenbüsche“ (342), und junge Blüthen „küssen einander“ aus Wollust und „hauchen“ affektvoll „mit süßem Athem sich an“. (343 f.) Nachdem abermals moralische Exempla in der Natur statuiert werden, wenn der stolze Hagedorn sich eitel im Wasser spiegelt (vgl. 344 – 346 mit dem stolzen Pfau auf 142 – 145), wechselt das Gedicht mittels des Ausrufs wiederum in in einen persönlicher gehaltenen Duktus: „O Schauplatz, der Du die Freude / In’s Herzens Innerstes malt […]!“ (vgl. 346 f.) Addisons Pleasures of Imagination funktionieren hier (im Anschluss an die religiöse Aufladung des Frühlings) nun tatsächlich, wenn ein so offensichtlich der Phantasie bzw. Imagination entnommener Ort wie die mit Palmen bewachsene Insel dem Ich euphorische Gefühle bescheren kann. Anhand einer ausführlich geschilderten Regenszene wird in den folgenden 26 Versen auf einer weiteren Ebene gezeigt, dass sich die im Verlauf des Texts artikulierten Ansprüche in den abschließenden Versen zu erfüllen scheinen. Das lyrische Ich hofft hierbei zunächst vor allem darauf, dass die Schönheit des „Schauplatzes“ erhalten bleibe, und sieht eine Gefahr in der andauernden Hitze (zumal als anderer extremer Wetterlage), welche die Natur völlig austrocknen könne: […] ach, daß die Wärme, die annoch, Seitdem der Winter von uns entflohn, kein Regen gemildert, Dich sammt Gefilden und Gärten, die nach Erfrischung sich sehnen, Doch nicht der Zierde beraubte und seiner Hoffnung den Landmann! (347 – 350)
Da bislang „kein Regen“ die Wärme der im Frühling geschilderten Erde „gemildert“ habe (vgl. 347 f.), hofft das Ich, dass die Natur nicht bald ihrer Forschung z. B. noch etwas objektiver Stenzel: „Erinnerungen vom Gutshof der Jugend, Beobachtungen Potsdamer Spaziergänge, aber natürlich auch die Bilderjagd in antiker und modernen Landleben-Dichtung liefern die Stoffe.“ (Jürgen Stenzel: Ewald Christian von Kleist. In: Gunter E. Grimm u. Frank Rainer Max (Hg.): Deutsche Dichter. Leben und Werk deutschsprachiger Autoren. Bd. 3. Aufklärung und Empfindsamkeit. Stuttgart 1988, S. 95 – 100, hier S. 98.) Wirkliche Anhaltspunkte in den Quellen für die vorgestellte These sind nur wenige zu finden, wie etwa Kleists Brief an Gleim vom 18. 3. 1750: „Ich kann Ihnen diesesmal nicht mehr schreiben, der Fr[ühling] ruft mich ins Feld, ich muß ihn begrüßen.“ (W II 168 f.) Es könnte sich hier allerdings auch um schriftstellerische (Selbst-)Inszenierungspraktiken im Zusammenhang der Landlobdichtung handeln.
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„Zierde beraubt“ werde (vgl. 350) bzw. alle Pflanzen absterben. Mit dem „entflohenen Winter“ (vgl. 348) wird hier in den letzten Versen des Texts abermals auf den Anfang zurückverwiesen, als sich der Frühling erst nach mehreren Kämpfen mit dem „Revierverteidiger“ seinen Platz hatte sichern können (vgl. 19 – 25/Kap. 2.2). Nun besteht eine neue Bedrohung des Frühlings in einer zu lange währenden Trockenheit. Mit dieser Metapher wird wieder jeglicher Ausschlag ins Extreme – sei es hier zu lang anhaltende Kälte oder Hitze – verurteilt, um die Wahl eines „glücklichen Mittelwegs“ zu propagieren. Dies war im Gedicht bereits über den Entwurf des optimalen, ausgeglichenen Menschen und die Ablehnung zu heftiger Affekte auf verschiedenen Ebenen vorbereitet worden. Der Wunsch nach einem Fruchtbarkeit spendenden Schauer wird dabei mit dem in seiner Hoffnung bedrohten Landmann (vgl. 350) verbunden, der aufgrund einer zu trockenen Witterung um seine Ernte bangen muss. Der Frühling scheint hier intratextuell auf eine andere den Landmann bedrohende Gefahr zurückzuverweisen: „Allein der fräßige Krieg“ hatte in einer der Katastrophenevokationen des Gedichts zuvor „Arbeit und Hoffnung verheert“ (vgl. 79 f.), war zudem wie eine Feuerkatastrophe dargestellt (vgl. ebd.) und mit einem ähnlichen Ausruf eingeleitet worden: „O, daß der mühsame Landwirth / Für sich den Segen nur streute!“ (76 f.)5 Der erhoffte „Segen“ tritt schon bald zu Tage. Er wird jedoch grundlegend anders inszeniert als die meisten anderen Wassermetaphern im Frühling (s. Kap. 5.2) – schon etwa dadurch, dass er ein erwünschtes Ereignis bildet.6 Der Regen wird bei Kleist auch wieder auf der Ebene der Zeichengebung mit zwei Auslassungsstrichen angekündigt: Erquick sie, gnädiger Himmel, und überschütte von oben Mit Deiner Güte die Erde! – – Er kommt, er kommt in den Wolken Der Segen […] (351 – 353)
Durch den „gnädigen Himmel“ wird deutlich, dass dieser Regen tatsächlich ein Segen ist und nichts mehr gemein hat mit den im Text zuvor oft 5
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Im Manuskript war der Landmann (vgl. V. 350) noch als undankbarer gegenüber dem eigenen Schicksal (wie der Hitze) dargestellt worden und dieser Darstellung folgte eine das Thema der Theodizee aufgreifende Textpassage, welche Kleist schon zur Erstveröffentlichung des Frühlings aus dem Text auskoppelte. Hier wurde dazu aufgerufen, mit Gottes Wirken und dem eigenen Leben zufrieden zu sein, was gleichzeitig die moralphilosophischen Maximen des Frühlings nochmals entfaltete. Vgl. Die Unzufriedenheit der Menschen, W I 235 – 239. Auch Kemper bemerkt den jetzt nur noch segnenden Frühlingsregen und stellt ihn in Kontext zur neu gewonnenen Mäßigung des Ich, vgl. Kemper GE 387.
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geschilderten zerstörerischen Naturkatastrophen (vgl. Kap. 5). So wie das Verhältnis von lyrischem Ich und Natur sich hier durch Harmonie und funktionierende Kommunikation auszeichnet (s. o.), stellt sich auch die Natur selbst als harmonisch dar. Der Regen symbolisiert nur noch die positiven, fruchtbaren Eigenschaften der Überflutung, die sich im Frühlingsbeginn (13 f.) wie im ursprünglich dem Frühling zugehörigen Gemälde einer Überschwemmung (vgl. Kap. 5.2) mit den zerstörerischen Folgen zu starken Regens die Waage hielten. Über den sanft-lieblichen „Zefir“ charakterisiert („[S]chon streicht der Westwind voran“, 354) und damit als dem Frühling harmonisch inhärentes Element gekennzeichnet7, ist dieser Regen zunächst vor allem „schwärmend“ (vgl. 354), „baumwollähnlich“weich (356) oder „[G]emach“ (357) und wird lange angekündigt, bevor er wirklich in Gestalt tritt. Geradezu unsichtbar-sanft taucht er im Text zunächst nach dem ihn ankündigenden Westwind in den aufgewirbelten Saatkörnern auf (vgl. 355), ist dann an der verschwindenden Sonne zu erkennen (vgl. 355) sowie den Kreisen, die sich auf der Wasseroberfläche des Sees bilden (vgl. 358 f.). Zunächst wird der Regen also nur durch die von ihm ausgelösten „Echos“, allerdings selbst „noch nicht sichtbar“ (vgl. 359).8 Erst die Formulierung „[J]etzt fällt er häufiger nieder“ (360) macht ex post deutlich, dass zu diesem Zeitpunkt im Text der Regen bereits eingesetzt haben muss, so sanft hat er eingesetzt. Im Anschluss wird der Schauer stärker und heftiger: Die Erle kann das lyrische Ich kaum vor den „rauschenden Güssen“ schützen (361) und fast alle Tiere bringen sich ebenfalls in Sicherheit („Feld, Luft und Höhen sind öde“, 365); der Schauer nimmt aber nie die zerstörerischen Dimensionen früherer Naturkatastrophen im Frühling oder in anderen Texten Kleists an. Ebenso wie der nun eintretende Regen schon durch den ihn ankündigenden Westwind als dem Frühling zugehöriges Element eingeführt wurde (s. o.), verbindet der Text den Niederschlag mit der ihn umgebenden Natur durch Verweise im Text: so etwa, wenn der Regen als „sich wie Gewebe durchkreuzend“ beschrieben (vgl. 360) wird, was an die sich verschränkenden Darstellungen optimaler, abgesicherter Natur im laus-ruris-Kontext erinnert (vgl. Kap. 3) und als Bild wenig später mit den sich versteckenden Schafen variiert wird: als „Wollenheerde“, die sich „[I]m Lindenthal drängt sich in 7 8
Zur mythologisch-symbolischen Verbindung des Westwinds mit dem Frühling vgl. Naschert: Art. Frühling, in: Butzer u. Jacob (Hg.): Symbole, S. 117, Sp. 2. Die in der Fassung von 1756 abgedruckten zwei Gedankenstriche waren in der Fassung von 1749 noch nicht enthalten, in Vers 352 hatte es lediglich ein Auslassungszeichen gegeben, vgl. W I 203, 419 und 412.
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Kreisen, / Vom Dach der Zweige bedeckt, […] um Stämme.“ (363 f.) Es ist also wirklich guter Regen. Die hier genannten „Kreise“ korrespondieren mit den silbernen „Zirkeln“ des Regens (vgl. 358), welche dieser auf die Oberfläche des Sees geworfen hatte. Eine „erhabene Stimmung“ wird im Text erzeugt9, wenn der Regen abebbt und somit der Abschluss des Gedichts vorbereitet wird (366 – 371): Als „Augenlider des Himmels“ (vgl. 366 f.) werden die Dünste beschrieben, die nun aufsteigen und eine „funkelnde Bühne“ (vgl. 368) voller Tautropfen hinterlassen. „[E]s lachen die Gründe voll Blumen, und Alles freut sich, ob flösse / Der Himmel selber zur Erden“ (370 f.), wird der Regen freudig begrüßt. Der „Segen“ löst eine Kommunikation mit der Natur bzw. den Tieren aus und wird als „vom Himmel selber herunterfließend“ dargestellt. In fast wortwörtlicher Übereinstimmung mit dem endgültigen Sieg des Frühlings über den Winter zu Beginn des Texts heißt es über das Ende dieses Regens: „Auch die vergießen sich endlich“ (374), während Vers 25 lautete: „Doch endlich siegte der noch ungesicherte Frühling“. Der „Frühling“ wie der Frühling haben erst ganz zum Ende des Texts eine perfekte Form gefunden – jedoch nicht nur in Form einer Jahreszeit, sondern auch im Bild eines erreichten perfekten Zustands im Verhältnis zwischen Individuum und Natur sowie des Individuums zu sich selbst.10
7.2 Exkurs: Kleists Frühling und das „Goldene Zeitalter“ der Seasons Für die Beantwortung der Frage, welche Kraft dem Bild des Frühlings bei Kleist gerade in symbolischer Hinsicht innewohnt, verspricht ein Vergleich mit der Idee des „Goldenen Zeitalters“ Aufschluss.11 Hier stammen die topischen literarischen Vorlagen von Vergil und Ovid12, die folgende Analyse wird jedoch vor allem auf die Schilderung des „Goldenen Zeit9 Vgl. auch die Formulierung „Ich fühl’ sie [die Gerüche, C. W.] voll anmuth’gen Schauers“, welche ursprünglich ebenfalls zur Abschlusspassage des Frühlings gehörte (W I 200, Anm. V. 378). 10 Vgl. die Schilderung eines ähnlich segnenden Regens im „Sommer“ der Seasons: BrTh 229 – 237, 828 – 902. 11 Vgl. aus literaturwissenschaftlicher Perspektive einführend in das Thema HansJoachim Mähl: Die Idee des Goldenen Zeitalters im Werk des Novalis. Studien zur Wesensbestimmung der frühromantischen Utopie und zu ihren ideengeschichtlichen Voraussetzungen. Tübingen 1994, S. 11 – 252; Garber: Locus. 12 Vgl. Vergil: Landleben, S. 83 – 209; Ovid: Metamorphosen. Zürich 2004.
7.2 Exkurs: Kleists Frühling und das „Goldene Zeitalter“ der Seasons 187
alters“ der Seasons Bezug nehmen. Nachdem Brockes/Thomson über lange Strecken die Natur und den in die Landschaft einbrechenden Frühling geschildert haben, geht eine Formel religiöser Dichtung („Doch, wer erklärt uns ihre Kräfte?“, BrTh 33, 259) über in die Schilderung einer zurückliegenden Zeit. Hier heißt es: Des Menschen Speis’, als er annoch der sanften Unschuld sich ergeben, Und lange güld’ne Jahre zählte, wie seine Kost annoch kein Blut, Wie ihm die wilde Art zu leben noch unbekannt, auch Tod und Wut, Raub, Morden, Trunkenheit und Unglück, und was sonst unsern Stand vergällt, Wie er noch ein Regierer war; nicht aber ein Tyrann der Welt. (BrTh, 33, 261 – 266)
Gerade im 18. Jahrhundert besaß der Mythos vom „Goldenen Zeitalter“, den die Seasons in den Versen 259 – 396 beschreiben, besondere Prominenz.13 Diese „lange[n] güld’ne[n] Jahre“ (BrTh 33, 262) bezeichnet der Text als eine Welt, in der die „Kost“ des Menschen „annoch kein Blut“ kannte und ihm „die wilde Art zu leben noch unbekannt“ war (BrTh 33, 262 f.). Wie in Kleists Frühlingsbeschreibungen14 (Kap. 2) scheinen ins-
13 Im Kontext der Frühaufklärung überschneidet sich die Idee des „Goldenen Zeitalters“ zum einen mit der Vorstellung eines „Arkadien“ in Bukolik und lausruris-Dichtung, zum anderen lieferte in mentalitätsgeschichtlicher Perspektive der Stoizismus entscheidende Impulse zur Popularisierung des „Goldenen Zeitalters“. Vgl. Mähl: Idee, insbes. zum 18. Jahrhundert S. 145 – 166 und S. 232 – 245. Vgl. außerdem im weiteren zeitgenössischen Umfeld Kleists Haller, der in seinen Alpen sehr viel expliziter als Kleist gleich zu Beginn seines Gedichts auf das „Goldene Zeitalter“ Bezug nimmt: „Beglückte güldne Zeit, Geschenk der ersten Güte, / Oh, daß der Himmel dich so zeitig weggerückt! / Nicht, weil die junge Welt in stetem Frühling blühte / Und nie ein scharfer Nord die Bluemen abgepflückt; / Nicht, weil freiwillig Korn die falben Felder deckte / Und Honig mit der Milch in dicken Strömen lief; / Nicht, weil kein kühner Löw die schwachen Hürden schreckte / Und ein verirrtes Lamm bei Wölfen sicher schlief; / Nein, weil der Mensch zum Glück den Überfluß nicht zählte, / Ihm Nothdurft Reichtum war und Gold zum Sorgen fehlte!“ (HA 4, 21 – 30.) Gerade im Kreis der „Berliner Aufklärer“ um Ramler oder Bernhard Rode war die Idee des „Goldenen Zeitalters“ in Malerei wie Dichtung von großem Einfluss. Vgl. das Gemälde Rodes Das goldene Zeitalter nach Jesaja, welches Ramlers Dichtungen beeinflusste, in: Jens Christian Jensen u. Frank Büttner (Hg.): Kunst im Dienste der Aufklärung. Radierungen von Bernhard Rode (1725 – 1797). Mit einem Gesamtverzeichnis aller Radierungen des Künstlers im Besitz der Graphischen Sammlung der Kunsthalle zu Kiel. 17. Dezember 1986 bis 18. Januar 1987. Kiel 1986, S. 24. 14 Sauer ist in Bezug auf die späten Texte Kleists von 1757 – 1759 überzeugt, sie seien, gerade im Kontrast zum Kleist real umgebenden Kriegsgrauen, charakterisiert
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besondere wilde Affekte in dieser Welt nicht zu existieren, „Wut“, „Raub“, „Morden“, sogar sämtliches „Unglück“ (BrTh 33, 263 f.) waren ausgeschaltet (vgl. hierzu bei Kleist auch Kap. 5). Auch ist in den Seasons in einer Beschreibung der im „Goldenen Zeitalter“ lebenden Menschen von „zärtlich geblasenen jungen Seufzern“ (vgl. BrTh 33, 277) die Rede. „Nur sanfte Güte, nur Verstand, / War ihr Gesetze“ (BrTh 35, 280 f.), heißt es dort. In einer intratextuellen Schleife, in der Thomson berichtet, wie „die Dichter“ später oft von der „güldenen Zeit“ erzählten (vgl. BrTh 37, 296 ff.), betont der Text zudem die Abwesenheit jeglicher starker Affekte, um wie Kleist die Entwicklung eines optimalen Individuums als oberstes Ziel zu verdeutlichen: „Nichts war geschickt, was zu verletzen. Die wilde Seele, die noch nicht / Ins Herz des Tiegers schien gegossen, / Entzündete nicht sein Gedärm.“ (BrTh 39, 318 – 320) In der im Kontrast zum „Goldenen Zeitalter“ konturierten ,Jetztzeit‘ hingegen sind nach Brockes/ Thomson wechselnde Affekte an der Tagesordnung („Allein, von dieser Pracht, / Von allen dem, was uns die fast zu schöen geputzten Tafeln weisen, / […] [I]st leider nichts vorhanden in dieser unsrer Zeit von Eisen […].“ (BrTh 39, 324/326) Das menschliche „Gemüht“ (BrTh 39, 327) habe nun die „holde Harmonie verlohren“ (BrTh 39, 328) – „[W]as eigentlich des Glückes Seele“, ist nicht mehr einholbar: „In ihr ist alles jetzo schwehr.“ (vgl. BrTh 41, 329) Die Gegenwart habe bei den Menschen „der Leidenschaften Heer15 / Die Schranken überall zerrissen.“ (BrTh 41, 330 f.) Im Folgenden erstellt Thomson einen Katalog solch negativer Affekte und nennt dabei unter anderem den „stürmenden (!) Zorn“ (vgl. BrTh 41, 333), „Neid“ (BrTh 41, 335), „die weibische die weiche Furcht“ (vgl. BrTh 41, 336) oder „Eigenliebe“ (BrTh 43, 347) und „krumme Tücke“ (BrTh 43, 348). Die hier genannten Affekte entsprechen also in hohem Maße den auch bei Kleist ausgemachten Lastern (vgl. Kap. 4). Die wechselnden Leidenschaften werden in der von den Seasons konturierten Gegenwart dann auch in der Natur gesehen: „Es scheint selbst die Natur entbrannt / Und zornig“ (BrTh 43, 353 f.). Auch hier werden also zu heftige Affekte mit extremen Wetterlagen indirekt parallelisiert. Auf vielen Ebenen entspricht die Zeichnung des „Goldenen Zeitalters“ in den Seasons also zentralen Merkmalen des Frühlings und insbesondere dem utopischen Charakter desselben (welcher der Idee des durch ihre „idyllische[n] Friedensstimmung und Spiel mit den Phantasien eines goldenen Zeitalters […].“ (W I 15.) 15 Vgl. zur Bedeutung des Begriffs „Heer“ in übersetzungsphilologischer Hinsicht bei Thomson und Brockes sowie zum Einfluss bei Kleist Anm. 94 in Kap. 5.4.
7.2 Exkurs: Kleists Frühling und das „Goldene Zeitalter“ der Seasons 189
„Goldenen Zeitalters“ inhärent ist16): Sogar die Fähigkeit des leichten Aufstehens am Morgen findet sich in den Charakterisierungen der Menschen bei Brockes/Thomson, die bei Kleist einen Teil der Diskursivierung von Melancholie bildet (vgl. 165): „Der frohe Morgen weckte damahls die froh= und from=men Menschen auf […] / Ihr leichter Schlummer flohe schnell […].“ (BrTh 33, 267/270), heißt es in den Seasons (vgl. Kap. 4.4). Auch betonen Brockes/Thomson, dass ein „Regierer“, kein „Tyrann der Welt“ in der beschriebenen goldenen Vor-Zeit herrschte (vgl. BrTh 33, 266), was stark an Kleists Formulierungen eines optimalen Regierungskonzepts (vgl. Kap. 4.1) erinnert. Schon in den Imaginationen des „Goldenen Zeitalters“ in der Renaissance war der Bestandteil einer Freiheit von Gesetz und Zwang zentral, was abermals Verbindungslinien zum Kapitel 3 schlägt, nämlich in Hinsicht auf Theoreme des Naturrechts.17 Symptomatisch erscheint die naturrechtliche Konnotation des Goldenen Zeitalters zumal im pietistischen Kontext (vgl. Kap. 6) für die Zentralstellung der Gerechtigkeit, die den Menschen „wie im Paradiese […] ins Herz gesenkt“ wird.18 Zudem ist im Hinblick auf den Frühling der Hinweis der Seasons aufschlussreich, dass sich das „Goldene Zeitalter“ auch durch ein immer sanftes Klima und somit die Nichtexistenz jeglicher Naturkatastrophen ausgezeichnet habe: […] Ein’ ebne Stille Regierte stets und überall, […] Denn damahls war kein Sturm geschickt, mit aufgebrachter Wut zu blasen, Kein Nord und kein Ocean zu rasen. Der Schall des Wassers schläfert ein. Den Himmel sah man nie verdunkeln Durch einen dicken Schwefel=Dampf. Man sahe keine Blitze funkeln. (BrTh, 369 – 374)
Auch hier also zeigt sich, dass die Metapher der Naturkatastrophe auf breiter Front im 18. Jahrhundert dazu diente, in Unruhe gebrachte Affekte und gesellschaftliches Chaos auszudrücken (vgl. Kap. 5.2 und 5.3). Insbesondere die Lektüre der folgenden Verse legt nahe, dass die Idee des „Goldenen Zeitalters“ – und damit ein in der Jahreszeit des „Frühlings“ angelegter utopischer Gehalt – eine Inspiration für Kleists Gedicht gebildet haben könnte. Ab Vers 306 f. beschreiben Brockes/Thomson einen Dornstrauch: 16 Vgl. Mähl: Idee, bes. S. 11 – 102. 17 Vgl. ebd., S. 125. 18 Vgl. ebd., S. 241.
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,[…] Der Dornstrauch, der nie beschnitten, streuete Oft einen Regen=Schaur von Früchten auf den, der unter ihm im Klee Und buntgefärbten Bluhmen saß, frey von der Arbeit schweren Joch, Da er des milden Himmels Gabe bald pflücket’ und bald sammlete. (BrTh 37, 306 – 310)
Diese Passage macht zum einen auf den speziellen antik-christlichen „Mischcharakter“19 der Überlieferungsgeschichte des „Goldenen Zeital-
19 Ernst Robert Curtius hat darauf hingewiesen, daß „die Elysiumsschilderung Vergils bei den christlichen Dichtern in deren Paradiesschilderungen fortlebt. Diese sind die semitisch-christliche Entsprechung zum antiken aetas-aureasMythos und zur Elysiumsvorstellung.“ (Garber: Locus, S. 219 sowie Ernst Robert Curtius: Rhetorische Naturschilderung im Mittelalter. In: Romanische Forschungen 56 (1942), S. 219 – 256, hier S. 249 f.; Ders.: Europäische Literatur und Lateinisches Mittelalter. Bern 1954, S. 206.) In den Seasons gibt es konkrete Hinweise, wie Brockes/ Thomson individuell die Idee vom „Goldenen Zeitalter“ in Abhängigkeit von biblischen Vorlagen gestalten. Die beiden Verse „Der frohe Morgen weckte damals die froh= und frommen Menschen auf, / Nicht schaamroht, in den heilgen Strahlen, den faul= und schwehren Schlaf zu sehen.“ (BrTh 33, 267 f.) etwa deuten mit dem Adverb „[N]icht schaamroht“ auf eine nachparadiesische Zeit, in der sich die Menschen nach dem Biss vom Apfel des Baumes der Erkenntnis ihrer zu schämen begannen; somit würden die „güldenen Jahre“ dann hier ebenfalls auf die Zeit des Paradieses referieren. Außerdem gibt es an verschiedenen Stellen explizite Verweise auf die JesajaPassage des Alten Testaments (so auch in Rodes Gemälde, s. o.), in welche schließlich vor allem, insbesondere durch die Vermittlung hellenistischer Geschichtstheorien (v. a. Hesiods) mit jüdischen Vorstellungen des „Elysiums“ bzw. Paradieses, die Idee des „Goldenen Zeitalters“ Eingang in die Bibel fand. So heißt es bei Jesaja an einer zentralen, den friedlichen Charakter der vorgestellten Utopie betonenden Stelle (die auch von Rode dargestellt wird, s. o.), dass die „Wölfe bei den Lämmern wohnen und die Panther bei den Böcken lagern. Ein kleiner Knabe wird Kälber und junge Löwen und Mastvieh miteinander treiben.“ (Jes 11, 6). In den Seasons wird diese Darstellung dann geschickt auf für das 18. Jahrhundert typische Landleben-Idyllen übertragen, wenn es heißt: „Da dann die Rinder, mit den Schafen vermengt, von Furcht und Sorgen leer, / In Sicherheit und Ruhe spielten“ (BrTh 35, 287 f.) – die Wölfe und Lämmer werden bei Thomson lediglich durch das im georgischen Kontext passendere Nutzvieh ersetzt. „Es war der Erden erste Zeit.“ (BrTh 37, 295) heißt es abschließend, womit der Verweis auf das adamitische Paradies eindeutig formuliert und auch hier der Bogen von christlichen zu antiken Paradiesvorstellungen geschlagen ist. Wenn es direkt im Anschluss heißt: „Dies gab vordem den Dichtern Anlaß, von einer güldnen Zeit zu singen“ (BrTh 37, 296), wird noch einmal bestätigt, dass bei Brockes/Thomson „der Erden erste Zeit“ also gleichzeitig die „güldene“ ist.
7.2 Exkurs: Kleists Frühling und das „Goldene Zeitalter“ der Seasons 191
ters“ aufmerksam.20 Zum anderen ähnelt die zitierte Schilderung derjenigen Frühlings-Szene nach der ersten „sintflutartigen“ (vgl. W I 173, 43) Überschwemmung aus der ersten Fassung des Gedichts, in der sich die Vögel erinnern, wie sie einst im nun überschwemmten Tal in einer glücklichen Vorzeit (!) „[I]m Dornstrauch Speise vertheilt.“21 (W I 176, 39) So wie in Brockes’/Thomsons gesamten „Goldenen Zeitalter“ „nichts geschickt war zu verletzen“ (s. o./BrTh 39, 318), wird der Dornstrauch in beiden Texten als nährendes Element, seine eigentliche Funktion sozusagen ,umgedreht‘, beschrieben. Dass der Dornbusch nach der einzigen expliziten Nennung der „Sündfluth“ im Frühling ins Spiel kommt, ist wiederum im Blick auf die Funktion, welche die Sintflut im Kontext des „Goldenen Zeitalters“ bei Brockes/Thomson einnimmt, signifikant: Hier spielt sie in einem in den Seasons in der zitierten Passage entworfenen Geschichtsmodell von „Goldenem Zeitalter“ und gegenwärtiger „Zeit von Eisen“ (vgl. BrTh 39, 326) eine zentrale Rolle, weil sie es ist, die das „Goldene Zeitalter“ durch ihre katastrophalen Verwerfungen endgültig auslöscht.22 Da die Menschen nach Brockes/Thomson das Paradies des „Goldenen Zeitalters“ vor langer Zeit freiwillig verlassen haben (vgl. BrTh 43, 354) – hier werden abermals die Parallelen zur biblischen Paradiesschilderung 20 Schon der Dornstrauch als Symbol selbst wird zudem seit dem Alten Testament (Gen 3, 18) mit der Sünde und Strafe sowie dem Verlust des Paradieses gleichgesetzt. 21 Auch hier gibt es in den im direkten Anschluss folgenden Versen über die Lerche (W I 176, 39 – 41) ebenfalls Anzeichen, dass in der im Gedicht beschriebenen Zeit ein gewisser „perfekter Zustand“, ähnlich dem „Goldenen Zeitalter“, verloren gegangen ist. Kleist nutzt (nach der Nachtigall, die ebenfalls das Tal verlassen hat, vgl. W I 175, 28) nun mit der Lerche einen ebenfalls stark christlich konnotierten Vogel, welcher die Erhebung zu und die Suche nach Gott symbolisiert und lässt sie nach einem Blick über die „Wasserwüste“ (W I 176, 40) die Szenerie fliehen und „verlassne Gefilde“ suchen (W I 176, 41). 22 Hierbei ist für die Rezeption durch Kleist in übersetzungsphilologischer Perspektive abermals interessant, dass die „Sündfluht“ als Begriff erst durch Brockes’ Übersetzung in den Text Eingang findet – Brockes benutzt den Begriff ohnehin häufig für verschiedenste Begriffe des englischen Originals, welche von Thomson selbst nicht mit dieser explizit biblischen Bedeutung ausgestattet waren. Vgl. zum Zitat außerdem Thomsons „a torrid gleam“, aus der Brockes „eine heisse Sündfluht“ macht (BrTh 173, 346); aus dem „deluge“ der Seasons wird „[V]on tönendem, gepressten Hagel stürzt eine Sündfluht dann herab“ (BrTh 233, 862); vgl. außerdem „the pale deluge“, welche zur „bleiche[n] Sündfluht“ wird (BrTh 395, 993); außerdem auch „a brown deluge“, die Brockes als „braune Sündfluht“ übersetzt (BrTh 439, 77), vgl. auch W I 212, Anm. 86.
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7 Natur II: Synthese (V. 308 – 398)
deutlich (s. Anm. 19 in diesem Kap.) – folgt die Bestrafung für das Leben in Sünde in der Beschreibung der Seasons auf dem Fuße: Daher erzehlet man vor Alters, daß eine Sündfluht einst entstanden, Da das zerborstne Rund der Erde, das die gefangne Tief’ umschloß, Mit einem Sturz, der unbegreiflich, auf einmahl in den Abgrund schoß. (BrTh 43, 355 – 357)
Die Konsequenzen, die in den Seasons aus dem Anbruch der neuen Zeit folgen, sind wiederum für den Frühling Kleists von Interesse: „Seithero sind die Jahres=Zeiten […]. / Der scharf= und strenge Winter goß Verwüstungen von Schnee und Schlossen verderblich aus […].“ (BrTh 43 f., 362; 364) Die wechselnden Jahreszeiten der Erde sind nach Brockes’ Thomsons Modell also erst mit der göttlichen Strafe der Sintflut für die Menschen entstanden – ebenso wie wechselnde Affekte und unruhige klimatische Bedingungen erst Folge der nun herrschenden „Zeit von Eisen“ sind. Dies fügt der negativen Konnotation des Wechsels bei Kleist in moralphilosophischer wie affekttheoretischer Hinsicht eine neue Facette hinzu, wenn es moralisch abwertend in den Seasons heißt: „Seithero sind die Jahres=Zeiten, wie uns die graue Welt erzehlet, / Mit stetem Unbestand und reger Aenderung vermählet.“ (BrTh 43, 362 f.) Der Wechsel der Jahreszeiten wird hier also als Strafe für das Verlassen des paradiesischen „Goldenen Zeitalters“ gedeutet und existiert erst seit der ,Zeit aus Eisen‘. Außerdem benennen die Seasons das „Goldene Zeitalter“ explizit als „ewige[n] Frühling“. „Der grosse Frühling grünt vorher / Das ganze lange Jahr hindurch.“ (BrTh 45, 365 f.) Diese Zuschreibung bildet ebenfalls eines der festen Topoi in der Symbolgeschichte des „Goldenen Zeitalters“23 (hierbei entspricht in den Seasons die vorangehende Zeichnung des verwüstenden Winters zudem der Charakterisierung desselben im Frühling, vgl. hier BrTh 45, 364 f.). Gleichzeitig wird aber die besondere Fruchtbarkeit des (ewigen) Frühlings als Symbol für eine In-Bild-Setzung sanfter, affektcalmierter oder zarter Charaktereigenschaften deutlich, wie sie bei Kleist zum Ausdruck kommt.24 23 Vgl. auch in der Odyssee Homers: Naschert: Art. Frühling, in: Butzer u. Jacob (Hg.): Symbole, S. 117, Sp. 1 f. Vgl. auch das Zitat aus Hallers Alpen, Anm. 13 in diesem Kapitel. 24 Georg Friedrich Meier verkündet in seiner Rezension im Geselligen angesichts seiner Lektüre des Kleist’schen Frühlings auch sofort den Anbruch eines „Goldenen Zeitalters“: „Wir sehen bereits den Anbruch der güldenen Zeit, in welcher die Musen Ehre von ihren Verehrern verlangen werden, die sie mit anderer Ehre wieder ersetzen.“ (Meier: Beurtheilung, S. 226.)
7.3 Religiöse Naturidentifikation (V. 374 – 398)
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7.3 Religiöse Naturidentifikation (V. 374 – 398) In den Abschlussversen des Frühlings ist Gott in einer durch den oben beschriebenen „Regen“ gesegneten Natur nun immer explizit präsent – auch dies ist ein neues Element der nun im Frühling geschilderten Natur und weiteres Zeichen für die Harmonisierung25, die zum Schluss im Text eintritt: Nach letzten euphorischen Naturbeschreibungen („güldne Strahlen“, „grüner Hauptschmuck“; vgl. 374 f.) heißt es „[E]in Regenbogen umgürtet den Himmel und sieht sich im Meere“ (377) und später erheben „[G]etränkte Halmen […] / Froh ihre Häupter und scheinen die Huld des Himmels zu preisen“ (387 f.) Diese setzen damit exakt um, was der Text in den ,religiösen Versen‘ (vgl. Kap. 6.4) gefordert hatte. Die letzten Verse des Frühlings scheinen zu signalisieren, dass Natur – wie lyrisches Ich – „Glück(-seligkeit)“ und einen erwünschten, optimalen Zustand erreicht haben: Beide kommunizieren ohne Hindernisse („lächelnd […] / Sehn die Gefilde mich an“, 378 f.). „Der ganze Himmel ist Duft“ (387) heißt es nun, und das lyrische Ich kann ausrufen: „Grünt nun, Ihr holden Gefilde! Ihr Wiesen und schattichte Wälder / Grünt, seid die Freude des Volks!“ (389 f.)26 Vor allem wird auf das Neue, das Hoffnung spendende der eintretenden Situation hingewiesen – in der das Ich hofft, seine „Unschuld“ (390) bzw. die nun erreichte Position bewahren zu können. Abermals betont der Text das enge Austauschverhältnis von lyrischem Ich und Natur und weist auf die therapeutische Wirkung derselben hin, wenn der laue Westwind Zephyr „durch Blumen und Hecken noch öfter / Ruh’ und Erquickung“ direkt ins Herz wehen soll (392 f.). Dass die Hinwendung zu Gott nun geglückt ist, wird mehrmals formuliert: Das Ich möchte den „Vater des Weltbaus“ verehren, wenn es sich an der Natur erfreut (vgl. 393 – 395), wobei es sich mit den seinem Lob sogleich „antwortenden Sternen“ (396) auch hier wieder in einer alles umfassenden, alles anthropomorphisierenden und endlich vollständig funktionierenden Kommunikationssituation befindet. Das Ich hat durch die funktionierende Naturanschauung seinen ,Frieden gefunden‘, wenn die ersehnte Ruhe als 25 Auch Hettner bemerkt den beruhigten Charakter des letzten Abschnitts des Frühlings. Vgl. Hermann Hettner: Geschichte der deutschen Literatur im achtzehnten Jahrhundert. Bd. 1. Berlin u. Weimar 1979, S. 407. 26 Die Farbe „grün“ symbolisiert nach dem verjüngenden Charakter der Frühlingslandschaft noch einmal die Zeichnung dieser über sanfte Attribute. Im Manuskript war durch den „Morgen“ noch ein weiteres Symbol des Frischen, gerade Anbrechenden im Text enthalten gewesen: „So lacht aus nächtlichen Schatten / Der junge Morgen.“ (W I 205, Anm. V. 450.)
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7 Natur II: Synthese (V. 308 – 398)
Symbol des ausgeglichenen, affektcalmierten Ich nochmals betont wird: „Dann sei mir endlich in Euch die letzte Ruhe verstattet“, heißt es in Vers 398. Selbst die Angst vor dem Tod (vgl. zur Melancholiediskursivierung Kap. 5) kann so überwunden werden. Im Manuskript hieß es hier noch, dass sich das Ich durch eines „Thores Gewölbe“ wagen will, „vom Meißel / Der Mutter der Dinge gehauen […]“ (vgl. W I 205 f., Anm. V. 455 – 458). Alles scheint von Vorfreude geprägt zu sein, womit das Ich am Ende eines durch den Frühling hindurch entwickelten Prozesses angekommen ist. Dies weist, gerade im Kontext des vorher ausgeführten Exkurses zum „Goldenen Zeitalter“, darauf hin, dass im Frühling nicht vorrangig eine Jahreszeit, sondern ein darüber hinausgehender, utopischer Gehalt des Symbols „Frühling“ dargestellt wird. Kleist verbindet in seinem Text tradierte literaturhistorische Motive wie das „Lob des Landlebens“ mit Entwürfen eines optimalen Individuums, die er im zeitgenössischen Kontext der Moralphilosophie und Affekttheorie des 18. Jahrhunderts weiter ausformuliert. Gerade die Eigenschaften des sanften, linden Frühlings als erster Jahreszeit nutzt Kleist, um sie auf den Entwurf eines bescheidenen, ruhigen und affektcalmiert-ausgeglichenen Menschenbilds zu applizieren. Auch utopische Modelle einer optimalen Gesellschaft, eines ausgeglichenen Verhältnisses von Herrschern und Beherrschten beschreibt Kleist in seinem Gedicht. Durch die extensive Diskursivierung von „Melancholie“ im Text und die Hinzunahme der religiösen Konnotation des Frühlings zeigt sich der ganz individuelle Weg Kleists zu den von ihm formulierten Themen, die durch das Raster der frühaufklärerischen Naturidealisierung und -nachahmung vermittelt werden. Von der Entwicklung der Tradition antiker Muster, wie sie gerade durch Kleists Collectaneenhefte deutlich werden, bis zur intensiven Rezeption zeitgenössischer Autoren und Philosophen zeigt sich die ganz besondere Übergangsstellung Kleists im literarischen Feld des deutschsprachigen mittleren 18. Jahrhunderts. All dies beweist eindruckvoll, wie der Frühling Ewald Christian von Kleists viel mehr ist als der Naturspaziergang eines Individuums an einem bestimmten Tag der ersten Jahreszeit.
8 Neue Dokumente Im Folgenden werden Gedichtvariationen, die erstmals auf Basis der Originalmanuskripte ediert werden konnten, auch dann abgedruckt, wenn sie sich von bisher publizierten Dokumenten nur in der Interpunktion unterscheiden – dies gilt für Filinde vor dem Nachtisch (Nr. 8.1.5) und Auf den Tod eines großen Mannes (Nr. 8.1.6). Auf den Abdruck des Testaments bzw. Briefs Kleists vom 12. 5. 1759 (unter falschem Datum abgedruckt auf W II 559 f.), die ebenfalls erstmals auf Orginalbasis vorlägen (Autografensammlung des Archivs im Kleist-Museum, Frankfurt an der Oder) wurde hingegen verzichtet, da es sich hier ebenfalls nur um Differenzen in Interpunktion bzw. Ortographie handelte – unter diesen editorischen Gesichtspunkten wäre eine sämtliche Neuauflage aller Werke und Briefe Kleists nötig (vgl. Perspektiven der Forschung in 7).
8.1 Bisher unveröffentlichte Gedichtfassungen 8.1.1 – 8.1.3: Kleists militärische Werbeversuche am Rande der Legalität mündeten in ein fluchtartiges Verlassen der Schweiz.1 Vielleicht mag diese Erfahrung zum Verfassen seiner Schweizer Epigramme beigetragen haben, von denen im Folgenden drei Gedichte in bislang unabgedruckten Varianten erstmals publiziert werden. Ihrer Bewertung durch August Sauer als „grob“ bzw. Anett Lüttekens als „allenfalls […] mindere Poesien“ bzw. „auf (eher fade) nationale Stereotype“ zurückgreifende Texte ist nichts hinzuzufügen. 2
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Vgl. ausführlich Martin Winter: Ewald von Kleist. Seine preußische Offizierskarriere und sein Werbeaufenthalt in Zürich 1752/53. In: Jordan (Hg.): Kleist, S. 59 – 85; Ewald Christian von Kleist: Drei veröffentlichte Schreiben 1752/53. Hg. v. Martin Winter. In: Jordan (Hg.): Kleist, S. 87 – 89. So jedenfalls Lütteken in: Jordan (Hg.): Kleist, S. 49.
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8 Neue Dokumente
8.1.1 „Wie? Geßner noch in Zürch?“3 Wie? Geßner noch in Zürch? Wo nichts als Grobheit gillt Und wo von Stolz der Geist, der Leib von Käse schwillt, Und Bodmer auch? Den einst die späte Nachwelt preiset! Ihr Zürcher die sind werth, daß ihr Sie Lands verweiset.
Vgl. W I 81, Nr. 34. Hier abgedruckte Variation in: Autografensammlung des Freien Deutschen Hochstifts Frankfurt am Main, Hs-3315, 3. Blatt (Brief Kleists an Gessner vom 19. 10. 1755). Vgl. Sauers Edition des Briefs, der die Variante nicht mitpubliziert und lediglich auf W I 81, Nr. 34 verweist. Sauer: Mitteilungen, S. 283.
8.1.2 Der Blumist und der Schweitzer Ein Blumenkenner pries der Blumen Schönheit sehr Ein Schweitzer kam dazu, und rühmte sie noch mehr. Durch sie, sprach ersterer, durch sie fühl ich mein Leben! Ich auch, sprach letzterer, weil sie mir Käse geben.
Vgl. W I 80, Nr. 30. Hier abgedruckte Variation in: Autografensammlung des Freien Deutschen Hochstifts Frankfurt am Main, Hs-3315, 4. Blatt (Brief Kleists an Gessner vom 19. 10. 1755). Vgl. Sauers Edition des Briefs, der die Variante nicht mitpubliziert und lediglich auf W I 80, Nr. 30 verweist. Sauer: Mitteilungen, S. 283.
8.1.3 Görgen aus Zürich und Belidor Berlin, sprach Belidor, ist aller Künste Sitz Es ist galant und fein, voll Pracht und voller Witz = = = Mit aufgesperrtem Mund, und aufmerksamen Sinnen Hört’ Görgen zu, und rief: Giebt’s denn auch Käse drinnen?
Vgl. W I 82, Nr. 35. Hier abgedruckte Variation in: Autografensammlung des Freien Deutschen Hochstifts Frankfurt am Main, Hs-3315, 4. Blatt (Brief Kleists an Gessner vom 19. 10. 1755). Vgl. Sauers Edition des Briefs, der die Variante nicht mitpubliziert und lediglich auf W I 82, Nr. 35 verweist. Sauer: Mitteilungen, S. 283.
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Im Original ohne Titel.
8.1 Bisher unveröffentlichte Gedichtfassungen
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8.1.4 Christoph und Adelgunde Der folgende Text bezieht sich vermutlich auf Johann Christoph Gottsched. Chr: Du lose Adelgunde! Die Leinwand ist zu theuer Es giebt ja Weber genug, was kauffst du von dem Schreyer Adelg: Mein lieber süßer Christoph! Ich sah des Garnes Stärke, und dann, bedenk einmal, liebt er doch deine Werke!
Vgl. W I 81, Nr. 32 sowie Anm. ebd. Hier abgedruckte Variation in: Autografensammlung des Freien Deutschen Hochstifts Frankfurt am Main, Hs-3315, 4. Blatt (Brief Kleists an Gessner vom 19. 10. 1755). Vgl. Sauers Edition des Briefs, der die Variante nicht mitpubliziert und lediglich auf W I 81, Nr. 32 verweist. Sauer: Mitteilungen, S. 283. 8.1.5 Filinde vor dem Nachtisch4 Zur Vermischung anakreontischer Motive und Anzüglichkeiten vgl. auch Nr. 8.2.4. Ihr Reitze nahet euch! Filind’ ist schon erwacht Ihr Liebesgötter schlüpft in ihre Morgentracht! Naht euch ihr Jünglinge! doch nehmet euch in acht daß euch der Gott der aus dem Busen lacht Wie mir, nicht tiefe Wunden macht!
Vgl. W I 87, Nr. 45. Hier abgedruckte Variation in: Staats- und Universitätsbibliothek Hamburg, Autografen der Hamburger Theatersammlung, AHT: 33 (Brief Kleists an Gleim vom 18. 2. 1755, vgl. Nr. 8.2.4). Das einzige Originalmanuskript dieses Texts liegt hier zum ersten Mal in gedruckter Form vor. Vgl. jedoch auch Kleists Anmerkung zum Text in Nr. 8.2.4.
8.1.6 Auf den Tod eines großen Mannes Als Kleist das folgende Gedicht verfasste, war C. F. Gellert so sehr „an einem Fieber“ erkrankt, dass der behandelnde Arzt angeblich sogar den 4
Das Epigramm trägt in sämtlichen anderen Fassungen den Titel Philinde vor dem Nachttisch. Es ist also stark davon auszugehen, dass Kleist hier unbeabsichtigt ein „t“ unterschlagen hat. Ein Wort (vielleicht „an“) hat Kleist vor „Filinde“ durchgestrichen.
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Bruder über den bevorstehenden Tod informiert hatte (vgl. Nr. 8.2.6). Kleist verfasste vorauseilend einen Nachruf. Als jüngst des Todes Pfeil o Gellert! Dich getroffen Klagt ich und weint’ und sah den Himmel plötzlich offen, Auch den belebten Raum der weiten Welt sah ich Die Erde weinete, der Himmel freute sich.
Vgl. W I 107, Nr. 70. Hier abgedruckte Variation in: Autografensammlung der Staatsbibliothek zu Berlin – Preußischer Kulturbesitz, Nachlass 141 (Sammlung Adam), Nr. 65 (Brief Kleists an Gleim vom 12. 10. 1757, vgl. Nr. 8.2.6). Das einzige Originalmanuskript dieses Texts liegt hier zum ersten Mal in gedruckter Form vor.
8.2 Briefe5 8.2.1 An Hans Caspar Hirzel vom 18. 1. 1753 Die Bedeutung Hans Caspar Hirzels für das Werk Ewald Christian von Kleists im Kontext Zürichs als Ort der Aufklärung und damit für die deutschsprachige Literaturgeschichte des mittleren 18. Jahrhunderts insgesamt ist nicht genügend erforscht.6 Im folgenden Brief wird das enge Vertrauensverhältnis Kleists und Hirzels in Bezug auf die Schwierigkeiten Kleists bei seiner Schweizer Soldatenwerbung deutlich, in deren Kontext Hirzels Einfluss als Politiker eine Rolle spielt. Mein liebster Freund Ich habe an den Herrn Stadthalter Füsli geschrieben, und ich möchte gar zu gerne wißen, was dieses vor Wirkung gehabt hat. Seyn Sie so gütig und melden Sie mir es doch. Solte man meiner Hardes Los geben, bitte ich Sie mir mit erster Post zu schicken, ich habe gar nichts [ausgerissen] mir. Ich 5
6
Seitenumbrüche werden durch „/“ angezeigt; Anmerkungen zur Beschaffenheit der Dokumente in eckigen Klammern im Text, ggf. erläuternde Kommentierung in Fußnoten. Die Absätze in den Briefen werden original wiedergegeben, der Zeilenumbruch hier nicht. Vgl. exemplarisch den Eintrag in der neuen Auflage des Killy-Literaturlexikons, welcher weder Hirzels Dissertation und damit seine anthropologischen oder agrartheoretischen Tätigkeiten vor der Veröffentlichung des Philosophischen Bauers noch seine publizistische Tätigkeit überhaupt erwähnt. Christoph Siegrist/ Red.: Hans Caspar Hirzel. In: Wilhelm Kühlmann u. a. (Hg.): Killy Literaturlexikon. Bd. 5. Har–Hug. Berlin u. New York 2009, S. 461, Sp. 1 f.
8.2 Briefe
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bin so glucklich daß ich 2 hübsche Recruiten [ausgerissen] und nun mit meiner Werbung ganz fertig bin, [ausgerissen] fehlt mir noch an Gelde. Ich umarme Sie mein liebster [etwas ausgerissen] und bin nach ergebenster Empfehlung an die Frau Gemahlin und unsere Freunde Ihr Kleist
Schaffhausen den 18 t Jan: 53
Autografensammlung der Zentralbibliothek Zürich, Hirzel-Familiennachlass, Signatur FA Hirzel 237.45
8.2.2 An Salomon Gessner vom 4. 12. 1753 8.2.2 – 8.2.3: Das enge Vertrauensverhältnis Kleists zu Gessner und Hirzel wird durch beide hier edierte Briefe (Nr. 8.2.2 und 8.2.3) weiter angezeigt: neben dem gemeinsamen publizistischen Vorhaben der Zürcher FrühlingsAusgabe geschieht dies in Nr. 8.2.2 inbesondere durch die Bitte Kleists um das Weiterschicken der Briefe Husers (s. u.). Kleists Verhältnis zu Bodmer zeichnet sich hier durch eine Trennung Bodmers in die literarische und private persona aus. Schon bei seinem Zürichbesuch hatte Kleist Bodmer als unangenehmen Zeitgenossen empfunden. Die hier durch Kleist avisierte Lektüre von Bodmers Noah, aus der eine schwere Kritik resultierte, die für das Verhältnis beider schwerwiegende Folgen haben sollte, spiegelt sich hier bereits leicht in Kleists Äußerungen über den mangelnden Wohlklang anderer Texte Bodmers. Mit seiner Stellungsnahme gegenüber seinem Text An Damon lässt Kleist abermals seine Vorbehalte bzw. Abwendung von anakreontischer Lyrik erkennen. Über die Funktion der Rollenlyrik der Frühaufklärung gibt außerdem der Satz Aufschluss, dass Kleist „[I]m Frül. […] den nahmen Doris verändert [habe], weil er mir über die Mengen Dorißen die alle Poeten haben, zum Ekel war. Allein wenn es nach Zeit ist, so laßen Sie ihn immer stehen.“ (alles Nr. 8.2.2) Die Einsamkeit Kleists in Potsdam sowie Aspekte von Militär- und Freundschaftskult werden in Nr. 8.2.3 im Zusammenhang der Klage über den Verlust des befreundeten Hauptmanns Levin Friedrich Donopp deutlich. Potsdam den 4 t Dec: 1753. Ich bin beschämt mein liebster Freund daß ich Ihnen so oft Unkosten verursachen muß. Mein recruit Huser bittet mich alle Augenblick ihm
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8 Neue Dokumente
Briefe an seinen Vater zu bestellen, und damit Sie desto sicherer7 ankommen muß ich sie den schon an einen meiner Freunde addressiren. Ich wünschte nichts mehr als daß ich Ihnen wieder einmahl angenehme Dienste leisten könnte. Was macht ihr großer Bodmer? befindet er sich noch woll? Sie müßen mir die letzte Frage mit ja beantworten, wenn Sie mir die angenehmste Nachricht von der Welt geben wollen. Ich bin so entzückt über die unvergleichlichen und unsterblichen Gedichte dieses Mannes, der die Ehre Deutschlands und der Schweiz ist, und der in 1000 Jahren seines gleichen nicht haben wird, daß ich es nicht beschreiben kan. Ich habe seine Colombona, Joseph und Julika, Jacobs Wiederkunft von Haran, Dina und Sichem, den Parcival und fast alles gelesen, was er vorige Meße heraus gegeben hat, und es ist alles göttlich. [Einschub:] NB denn über Wohlklangsünden moquire ich mich etwas. [Ende Einschub] Ich will nun auch den Noah lesen, davon ich nur die 3 ersten Gesänge kenne, ich war auf der Werbung wie er ganz heraus kam, und ich hatte meinen Kopf so voller Sorgen, daß ich zu nichts Lust hatte. Warum will doch dieser große / Mann sich vertheidigen? Mich deucht wer seine Werke nicht goutirt muß ein Dummkopf seyn, und ist keiner Widerlegung werth. Doch es scheint als wenn die Verteidigung nun woll nicht heraus kommen wird, und es ist sehr gut. Es wären Leute darin angegriffen worden, die H Bodmern recensiren. Gleim und Rammler [ein Verb durchgestrichen, ersetzt durch:] bewundern, wie Sie mir geschrieben haben, seine Größe, wie ich. Ich schreibe Ihnen dieß alles nicht, mein liebster Geßner, daß Sie es widersagen sollen. Nein, Sie erzeigen mir eine Freundschafft wenn Sie es nicht thun. Herr Bodmer schreibt mir einen Brief der so impertinent ist wie möglich, und daraus ich genug sehe daß er nicht mein Freund ist. Ich mag weder seine noch Herr Wielands Freundschafft erbetteln, ich schreibe dieß als ein ehrlicher Mann aus Uberzeugung, der auch seinen Freunden Gerechtigkeit widerfahren läßt. Vermuthlich habe ich es sowoll bei ihm als bey Herr Wieland verdorben, daß ich mich meiner Freunde annahm, und daß ich nicht rühmte, was ich nicht gelesen hatte und was ich nicht Zeit hatte zu lesen. Bin ich kein Genie wie sie, so habe ich so viel Tugend wie sie, und halte mich deßwegen eben so ehrenwerth. Sie können mich haßen oder lieben, [zwei Worte durchgestrichen] wie es / ihnen einfallen wird. Wären 7
Der Bestandteil „sich“ von sicherer ist hier mit der gleichen Tinte unterstrichen, mit der später im Briefverlauf ein Verb durchgestrichen und durch „bewundern“ ersetzt wird.
8.2 Briefe
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Sie beyde an meiner Stelle, so zweifele ich sehr ob Sie, statt ihrer jetzigen in 4to, auch nur eine Zeile würden geschrieben haben. Schicken Sie mir doch ihr Schäfergedichte, daß mir Herr Bodmer fest [ausgerissenes Siegel], und dadurch Sie ihn wegen Ihrer Nacht versöhnt haben. Er hat eine gute Idée von Ihnen, und erwartet von Ihrer Fähigkeit viel Gutes, wie billig. Machen Sie sich diese gute Meynung zu nutzen, und verderben Sie es nicht mit ihm, wie ich. Er ist doch ein unvergleichlicher Mann, man muß sein Genie bewundern, seine Sachen sind eines Homers und Virgils würdig. Ich habe mir alle Mühe in der Welt gegeben ihn mit Klopstock auszusöhnen, was es fruchten wird, muß die Zeit lehren. Küßen Sie doch die crito-Gesellschaft und alle unsere Freunde in meinem Nahmen. Ich bin allemahl mit der allergrößten Zärtlichkeit Ihr Kleist. [Quer auf der linken Seite:] Unser Hirzel, den ich tausendmahl umarme, schreibt mir daß mein credit in der Schweiz wieder steige. Sagen Sie ihm doch nur daß mich dieses lachen gemacht hat. [Einschub:] Er hat nur Ursache [?] nicht fällen [?] können. [Ende Einschub.] Ich hette mich nur Boßheiten entehrt, und nicht durch Schwachheiten, und durch Fehler, vor die ich nicht kann. / N.S. Können Sie nicht Herrn Bodmer überreden, daß er seine Opera omnia herausgibt, und daß Sie sie verlegen? Sie würden häufig abgehen. Man hätte so fast seine ganze critische, moralische und poetische Bibliotheck zusammen. Ich habe Herr Hirzeln den paar Lieder geschickt, die bey dem Frl.8 bey gedruckt werden können. Doch ich überlasse es Ihrem Urtheil ob Sie sie so viel werth halten. Mir dünken sie zwar beyde gut genug, allein: an damon dementirt [Siegel] einigermaßen meinen character.9 Es soll auf Sie ankommen, ob Sie sie drucken wollen. Im Frül. habe ich den nahmen Doris verändert, weil er mir über die Mengen Dorißen die alle Poeten haben, zum Ekel war. Allein wenn es nach Zeit ist, so laßen Sie ihn immer stehen. Herr Ramler und Ewald10 emp-
8 Hiermit ist der Frühling gemeint. 9 Vgl. W I 71 f, zum Verhältnis Kleists zur Anakreontik s. Anm. 67 in Kap. 4.2. 10 Johann Joachim Ewald (1725 bis nach 1762; verschollen in Italien), Epigrammatiker und Verfasser von Kasuallyrik im Umkreis der „Berliner Aufklärer“.
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fehlen sich Ihnen, ersterer hat mich vor einiger Zeit besucht. Er continuirt sein Schachspiel11, das sehr schön werden wird. Handschriftenabteilung der Zentralbibliothek Zürich, Signatur Ms V 521a. III 64.a.
8.2.3 An Salomon Gessner o.D., vermutlich April/Mai 1754 Hirzels Einfluss in literaturhistorischer Hinsicht wird hier nicht zuletzt abermals dadurch deutlich, dass er, zusammen mit Salomon Gessner, den Druck der Zürcher frühen Auflagen von Kleists Frühling verantwortete. Die Vorbehalte Kleists gegenüber der übrigen Schweizer Bevölkerung sind hier abermals erkennbar. Mit Werthmüllers Stufen des Alters tritt eine neue Einflussquelle Kleists in den Blick, die weder über August Sauer noch über Kleists Exzerpte erschließbar ist. Mein allerliebster Freund Ich habe Ihren Daphnis ihr unvergleichliches Geschenk erhalten, wie auch die Exemplare vom Frül. und bin Ihnen für beydes höchstens verbunden. Ihr Daph[-]nis ist so mahlerisch, so rührend und dabey so wollklingend [sic!], daß man Sie dieses letzteren wegen nicht für einen Schweitzer halten wird. Er wird Ihnen wahrhaftig bey allen Kennern die größte Ehre machen, und ich werde Ihnen aufrichtig der hiesigen schönen Geister Urtheile überschreiben, so bald ich sie weiß. Herrn Werthmüllers Stufen des menschlichen Alters12 sind auch sehr schön, und so rührend daß man sie ohne Thränen nicht lesen kann. Küßen Sie ihn in meinem Nahmen, und entschuldigen Sie mich / daß ich auf sein letzteres noch nicht antworte (wol habe ich es woll erhalten), wir haben Übermorgen Revüe, und ich habe 100 Geschäfte.
11 Karl Wilhelm Ramler: Das Schachspiel. Ein Heldengedicht. Arma virumque cano. O.O. 1753. 12 Johann Rudolf Werdmüller: Die vier Stufen menschlichen Alters. Zürich 1753.
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Einliegenden Brief bitte ich ergebenst, so gleich nach Waltenschwil zu besorgen, es ist viel daran gelegen. Ehestens werde ich mehr schreiben. Empfehlen Sie mich allen unseren Freunden, ich lebe und sterbe Ihr aufrichtigster treuester Kleist. / Küßen Sie Hirzeln, und sagen Sie ihm doch daß Donop als Major seinen Abschied gesucht und erhalten hat, und beklagen Sie mich beyde zusammen daß ich wieder einen edlen, redlichen Freund verliere, die mir anfangen hier immer naher zu werden. Ich wollte hertzlich gern mein avancement gemißt haben, (welches so gut gehet daß ich nur noch 2 Capitaines zum Major vor mich habe) wenn ich ihn nur behalten hätte. Autografensammlung des Freien Deutschen Hochstifts Frankfurt am Main, Hs-10296.
8.2.4 An Johann Wilhelm Ludwig Gleim vom 18. 2. 1755 Die sexuellen Zweideutigkeiten der Autoren um Gleim13 werden hier etwa mit einem angedeuteten „Kuß von Sauce“ abermals offensichtlich. Dass es selbst in diesem Brief kaum Kritik an Friedrich II. zu entdecken gibt, kann mit Kontexten von Zensur zusammenhängen. Der bedrückende Alltag in der Potsdamer Kaserne wird dennoch deutlich. Liebster Gleim Ich hätte Ihre Antwort voraussehen, und Ihnen die Mühe ersparen sollen mir Lobrede zu machen; allein es ist mir doch so angenehm von Ihnen gelobt zu werden, daß ich mir es vergebe so närrisch gewesen zu seyn, und Ihnen meine Meynung allzu offenherzig gesagt zu haben. Aber genug hievon! Hier haben Sie ein Epigramme, oder _ _14 wie Sie es nennen wollen 13 Albrecht Koschorke: Die Verschriftlichung der Liebe und ihre empfindsamen Folgen. Zu Modellen erotischer Autorschaft bei Gleim, Lessing und Klopstock. In: Paul Goetsch (Hg.): Lesen und Schreiben im 17. und 18. Jahrhundert. Studien zu ihrer Bewertung in Deutschland, England, Frankreich. Tübingen 1994, S. 251 – 264. 14 Sämtliche Auslassungsstriche sind aus den Briefen übernommen.
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von mir 40 Jahrigen galanten Junggesellen: [Anmerkung links quer:] Es ist Rousseaus idée, und nur meine franz. Übersetzung. [!] – vgl. Filinde vor dem Nachtisch (Nr. 8.1.5) – Nein, mir soll er wahrhafftig keine tiefen Wunden mehr / machen. Ich Poet lüge wie alle Poeten. Ich bin nun in Ernste bald 40 Jahr, und den wäre es zu lächerlich Liebeswunden zu haben. Aber Verse von Liebe zu machen habe ich noch nicht abgesagt, denn man weiß doch nicht daß ich schon so alt bin. Ewald umarmt Sie und küßt Sie mit einem Kuß von Sauce. Madame Tagliazucchi und ihr Mann15 ist jetzo bey ihm, und wird 8 Tage bey ihm bleiben, sonst würde er einen Brief an Sie dem meinigen einschließen. Er hat ein sehr schalkhafftes Epigramme auf die Schweitzer gemacht, fast toller wie all die meinigen. Ungefehr ist es so: Ein kluger Schweitzer kam jüngsthin nach Amsterdam und sahe Käse zubreiten Er kostet’ ihn mit eitlem Zahn, und rief: Was will man lange streiten daß mein Land jedes Land an Witz und Wissenschaft besiege! Verstand ist hier noch in der Wiege !
/ Der Kuß von Sauce auf der vorigen Seite, ist nur Spaß und keine malice, ich liebe ihn von Herzen, er ist die Ehrlichkeit und Munterkeit selber. Sie wißen aber daß er seine Lippen, indehm er sie zu kosten gibt, mit Sauce begießt. Mons: Tagliazucchi hat mir heute die angenehmste Zeitung von der Welt gesagt, neml. daß d. H. v. Aderkass16 Rentmeister von einer gewißen Kammer mit 1500 rthl pension, gewesen sey. Ich war wirklich vor Freuden im Himmel als ich es hörte, so sehr liebe ich Aderkass. Allein mit einmahl war ich wieder auf der Erde, da der Sohn von dem General Retzow mir versicherte, es sey ein falsches bruit. Warum muß doch dieser brave Mann so lange auf sein Glück warten, daß er so sehr wie jemand verdient! Der König ist zu gerecht und zu gnädig als daß es gar ausbleiben solte, er wird nur ihn noch nicht recht zu plais[i]ren wißen, oder es muß ihn ihn nicht / 15 Giampetro Tagliazucchi, Übersetzer und Librettist am Hof Friedrichs II. Zu seiner italienischen Übersetzung des Frühlings vgl. Catalano in: Jordan (Hg.): Kleist, S. 161 – 170. 16 Offizier im preußischen Heer.
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genug können [sic!]. Von Rammler habe ich lange keine Nachricht, aber durch meine Schuld, denn ich habe ihm nicht geschrieben. Ponickau17 hat Urlaub nach Sachsen, und hofft sich mit seinem Vater auszusöhnen, worüber ich mich sehr freue. Ich wolte Ihnen noch einen längern Brief schreiben, aber ich habe ein wenig das catarral-fieber, weil ich mich diesen Nacht, da 4 Mann von meiner Compag. ein complot gemacht hatten zu desertiren, welches ich aber entdeckte, erhitzt und den wieder erkältet habe. Ich kranke immer, werde ich nicht einmahl auskranken? Leben Sie woll, ich bin ewig Ihr Potsdam den 18.t Febr: 1755 Treuster Kleist Staats- und Universitätsbibliothek Hamburg, Autografen der Hamburger Theatersammlung, AHT: 33. Vgl. jedoch die allerdings nur auf einer Notiz Wilhelm Körtes beruhende und zudem fragmentarische Edition Sauers: W I 282, Nr. 161. 8.2.5 An einen Commerzienrat18 vom 2. 6. 1757 Der folgende Brief gibt Hinweise auf den in der Forschung weitgehend unerforschten kosmopolitischen Lebensabschnitt J. J. Ewalds, der ab 1757 in London lebte. Der hier von Kleist ausgeübte ,Kanzleistil‘ und seine damit deutlich werdende Virtuosität als Briefsteller, etwa im Vergleich zu seinen freundschaftlichen oder familiären Briefen (s. u.), wird ebenfalls deutlich. Hochedelgebohrner Herr Insbesonders hochzuehrender Herr Commercien-Rath Herr Ewald schreibt mir aus London daß Ew Hochedelg. die Gütigkeit haben würde, Gelde die an Sie für denselben geschickt würden, ihm par Wechsel zu übermachen. Ich ersuche also Ew Hochedelgeb. ganz ergebenst beykommende 50 rth. ihm in London auszahlen zu laßen. Seine Adresse 17 Offizier im preußischen Heer. 18 Der genaue Adressat konnte nicht ermittelt werden.
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stehet auf einliegendem Briefe, und vermuthlich werden Ew Hochedelg sie ohnedehm schon wißen, und auch ein Schreiben von ihm erhalten haben. Ich bin mit aller ersinnlicher Consideration Ew Hochedelgeb Leipzig den 2 t Jun: ganz ergebenster Diener 1757. ECvKleist Kleist-Familiennachlass des Stadtarchivs Hamm, Nr. E 62.
8.2.6 An Johann Wilhelm Ludwig Gleim vom 12. 10. 1757 Der hier vorliegende Brief steht vielleicht in Zusammenhang mit der Besetzung Halberstadts, von der Gleim Kleist am 10. 10. 1757 berichtete.19 Im Zorn Kleists über die Zerstörung des Gartens seines Freundes verdeutlicht sich nicht zuletzt eine wenig bekannte Brutalität Kleists im Sprechen über den militärischen Feind. Interessant ist hierbei die Verschränkung der Imagination von Landlebenidyllen mit der politisch unverblümt ausgedrückten Kriegsrealität. Zudem, gerade im Hinblick auf das Gleimhaus als frühes deutsches Literaturarchiv, ist die frühe – und explizite – Beauftragung Gleims als Archivar Kleists aufschlussreich. Auch hier finden Suizidgedanken Kleists abermals Ausdruck. Mein liebster Freund Ich fühle das Unglück daß Sie betrifft mit Ihnen. Ach die bösen Feinde warum haben sie meinen Gleim und seinen Garten, sein eintziges Vergnügen, nicht geschont! Ich habe noch nichts verharrt und geraubt, warum muß ich in Ihrer [Einschub:] Persohn [Ende Einschub] anjetzo beraubt werden, denn nun werde ich auch nicht mehr bei Ihnen auf Rasen liegen und die Nachtigallen hören könen, und was meinen Leander betrift, betrift mich mit. Der Himmel gönne mir nur das Glück, daß ich mit diesen Herren einmahl was zu thun bekome, ich will meinen Gleim gewiß rächen, und bey jeder Salve die ich ihm geben will, sagen: daß ist vor meinen Gleim, und das ist vor seinen Garten pp. Der brave Gellert liegt auf dem Lande bey Weißenfels / an einem Fieber tödlich krank. Sein Arzt hat an den Fechtmeister Gellert den Bruder des Prof: geschrieben daß er herüber kommen solte, wenn er seinen Bruder 19 Vgl. W III 242 – 245, bes. 242 f.
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noch lebendig sehen wolte. Ich habe Herrn Gellert so lieb, und dieß rühret mich so, daß ich gestern den ganzen Tag mit dem Gedanken von seinem Tode geplagt war. Ich machte schon seine Grabschrift die Sie aber wen der ehrliche Mann beym Leben bleiben sollte, niemand zeigen müßen. – vgl. Auf den Tod eines großen Mannes (8.1.6) – Ich habe bey meiner jetzigen vielen Arbeit, noch einige Kleinigkeiten gemacht, aber ich kann Sie jetzo / nicht abschreiben. Wenn das, was ich Ihnen zuweilen schicke, gut ist, so heben Sie es doch auf. Bey den Umständen darin ich bin, kan ich leicht um meine Sammlung kommen, die doch nach und nach wächst. Bald sollen Sie einen ganzen Haufen von mir zu lesen bekommen. Ich bin fleißig weil ich immer des Lebens sehr müde bin. Ich will noch was gutes [Tintenfleck:] schreiben und den sterben. [mit Bleistift von anderer Hand nachgezogen:Leb]en Sie glücklich mein allerliebster, und [Tintenfleck; mit Bleistift von anderer Hand nachgezogen:] lieben Sie Ihren Leipzig den 12.t Oct: 1757 ehrlichen Selin. Handschriftenabteilung der Staatsbibliothek zu Berlin – Preußischer Kulturbesitz, Nachlass 141 (Sammlung Adam), Nr. 65. Vgl. jedoch die allerdings auf einer Abschrift Gleims beruhende und zudem fragmentarische Edition Sauers: W II 441 f., Nr. 242.
8.2.7 An Johann Wilhelm Ludwig Gleim vom 31. 12. 1757 In diesem Brief werden die berüchtigten Kriegslieder Gleims verhandelt, dabei geht es nicht zuletzt auch um die in der Forschung kontrovers diskutierte Herausgabe der Kriegslieder Gleims durch Lessing, dessen projektierte Vorrede („auch mir wird er eine machen“) erwähnt wird. Mein allerliebster Gleim Ihr Siegeslied auf die Bataille von Lowositz ist sehr fürtreflich, und das Lied an die Kayser-Königin nach der Wieder Eroberung zu Breßlau, gleichfals. In ersterem scheint mir der Held auf der Trommel ein wenig
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comisch, und könte Ihnen Affaires machen. In lezterem ist d: größerer Krieg nicht nach meinem Sinn. Das übrige ist ganz unvergleichlich. Sie werden nun bald ein Bändchen zusammen haben, und H. Lessing denkt schon an die Vorrede. Ich werde auch bald ein Bändchen Kleinigkeiten zusammen haben, und ich schreibe jetzo 100 Verse stans pede in uno. H. Lessing wird mir auch eine Vorrede machen. Die Änderung als aber Keith drauf vor uns her pp taugt nicht20, und die Ihrige ist beßer. Die Ihrige soll auch in dem Bändchen abgedruckt werden. Mir Dummen fiel eben nichts beßeres ein. Vielleicht wäre es beßer gewesen: als aber Keith vor uns einher, der pp der kann sich um / alles bekümmern __ __ . Lignitz ist über. Wir haben 1000 Gefangene darin gemacht. Der König hat es dem Prinzen Heinrich überschrieben. Diese Nacht kam der Kourier an. Er schreibt daß er jetzo 36000 gesunde Gefangene und 1000 Officiers hätte, daß Ziethen noch 2 Generals eingebracht und daß die Österreichische Armee schon bey Zsaslau [schwer lesbar] wäre.21 H. Lessing wird Ihnen Exemplare ihres Liedes22 schicken. Es findet überall großen Beyfall, nur der Prinz Heinrichsche Hof rühmet es nicht. Der Graf Henckel wird es eben nicht goutieren, daher habe ich es ihm nicht geschickt. Est gens – – Mad. Ponickau ist meines wißens in Magdebg. Ich bedauere sie sehr, die arme Frau. Von Ponickaus Vater wird sie sich nichts zu versprechen haben, der ist ein absurder Mann. Morgen ist Neujahr. Ich habe Lust Ihnen nichts zu / wünschen. Sie wissen doch daß ich Ihnen Gutes gönne. Leben Sie wohl, und lieben Sie Ihren getreuen Leipzig den 31 t Dec 1757
Kleist
Historisches Archiv des Germanischen Nationalmuseums Nürnberg, Autografen K. 21.
20 Dies scheint sich auf Änderungsvorschläge Kleists für Gleims Siegeslied nach der Schlacht bei Roßbach Gleims zu beziehen, vgl. seinen Brief an Gleim vom 19. 12. 1757 (W II 465) und Gleims Brief an Kleist vom 6. 1. 1758 (W III 273). 21 In diesem ersten Absatz des 2. Blattes sind verschiedene Anführungszeichen gesetzt, die jedoch von fremder Hand zu stammen scheinen. 22 Auch hier geht es um Gleims Siegeslied nach der Schlacht bei Roßbach, vgl. Gleims Brief an Kleist vom 6. 1. 1758 (W III 273).
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8.2.8 An Franz Kasimir von Kleist vom 6. 12. 1758 Im Folgenden wird einer der seltenen Briefe Kleists aus dem Familienkontext ediert, verfasst von Ewald Christian von Kleist am Nikolaustag 1758. Der Siebenjährige Krieg wird hier aus einer persönlicheren Perspektive geschildert, die angeberische Nennung der Zahlen von Opfern der preußischen Armee vermisst man völlig. Auch im Ausdruck der Anteilnahme am Tod des geliebten Onkels wird die lange so dominante Charakterisierung Kleists als „Menschenfreund“ deutlich. Dennoch zeigt auch dieser Brief negative Aspekte allzumenschlicher Familienbande, etwa wenn es um den gemeinsam mit dem Bruder ausgetragenen Streit um das familiäre Erbe nach dem Tod des Onkels geht. Hochwohlgebohrner Herr Hochzuehrender und liebwerthester Herr Bruder Endlich sind wir wieder einmahl in den Winterquartieren, nachdehm wir einen sehr sauren Herbst gehabt. Unser kleines Corps von höchstens 13000 Mann, ward mit einmahl in der Gegend von Kesselsdorff von mehr als 70000 Mann umringt. Wir fanden aber ein Loch, und gingen uber die Elbe, und setzten uns unter die Canonen von Dreßden. Unser Regiment führte der Himmel darauf in [sic!] Dresden und wir haben die Bloquade ausgestanden, und / 10 Tage und Nächte, nebst noch 13 Bataillons, auf den Wällen, bey großer Kälte gelegen. Endlich kam der König und der Feind verließ Dresden und lief allenthalben, und wir haben nun wieder ganz Sachsen besetzt. Wir sind nach Zwickau an der böhmischen Grenze in die Winterquartiere gekommen. Man muß vorlieb nehmen wie es sich fügt, Leipzig wäre sonst beßer gewesen. Bey der Retraite der Feinde haben wir ihnen viel abbruch gethan. Nur noch vor 3 Tagen, machten wir 134 Mann zwischen Zwickau und Reichenbach zu Kriegsgefangenen. Unser Regiment war dabey, wir verlohren aber nur 1 Mann und hatten 2 blessierte. Doch ich mag Ihnen nicht viel kriegerische Neuigkeiten schreiben, den Sie / erfahren doch alles eben so gut aus den Zeitungen. Uber das unglückliche Ende unsers lieben Oncles aus Poplow23, werden mein geliebtester H. Bruder woll so bestürzt, wie ich, gewesen seyn. Ich habe ihn als meinen Vater verehret, und kann ihn nicht aus den Gedanken bekommen. Die Unmenschen! einen so ehrwürdigen Greis zu massacriren! Ich glaube daß ihn ein Wolf respectirt hätte, nur kein Ruße. Ich bin etliche Tage lang 23 Vgl. W I XIII.
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untröstlich gewesen, und kann mich noch der Thränen nicht enthalten wenn ich an ihn denke. Ich werde ihn zeit lebens nicht vergeßen. Aber wird es nun nicht Zeit seyn, unsere uns von Gott und Rechtswegen zukommende Erbschaft von diesen, und so vielen andern verstorbenen Mutterbrüdern zu fodern? Wenn mein liebster Herr Bruder es gut finden, so / will ich [unleserlich wg. eines Rußflecks] an den H General_Major v Manteuffel in aller unser Geschwister Nahmen schreiben. Wiewoll er sich vielleicht ehe in der Güte dazu erklärte, an Sie selber nebst dem H Bruder aus Lohsen [schwer leserlich], schreiben, da er weiß daß Sie vor Ihre Kinder zu sorgen Ursache haben. Leben Sie glücklich, und empfehlen Sie mich Julchen und der lieben Familie. Ich bin lebenslang Ew. Hochwohlgeehrter Meines hochzuehrenden und liebwerthesten Herrn Bruder Zwickau d 6 t Dec. 1758 Ganz ergebenster Bruder und Diener ECvKleist [Anmerkung links quer:] Zu Groß=Poplow wohnt ja jetzo woll der Sohn des Generals v Manteuffel. Wen hat er doch geheyrathet? Fräntzchen befindet sich, so viel ich weiß, wohl, und avancirt etwas [nur schwer leserlich]. Handschriftenabteilung der Zentralbibliothek Zürich, Signatur Autogr Bebler D 270.
9 Zusammenfassung und Ausblick Auf Basis einer breiten Reihe bislang unerschlossener Quellen und einer erstmaligen systematischen Aufarbeitung der kulturhistorischen Kontexte konnte in der vorliegenden Arbeit auf gesicherter Basis eine nach 66 Jahren erstmals wieder dem Forschungsstand angemessene und umfassende Interpretation des Frühlings Ewald Christian von Kleists vorgenommen werden. Bereits im ersten Teil des Gedichts werden programmatisch die beiden Hauptelemente des Frühlings, Ich und Natur, zueinander in Beziehung gesetzt. Schon die ersten zwölf Verse des Frühlings bestimmen einige der zentralen Themen des Gedichts und setzen sie in Bilder. Auch wird eine der Hauptfunktionen, die im Frühling der Natur zugeschrieben werden, nämlich die sittliche Vervollkommnung des eigenen Ich, in Kombination mit der Idee der Affektcalmierung hier angelegt. Es entwickelt sich ab dem 1. Vers des Gedichts ein kompliziertes Interaktionsverhältnis von „Ich“ und „Natur“, bei dem das lyrische Ich die Natur um innere Ruhe und Zufriedenheit bittet, um im Gegenzug die Natur „singend“ bzw. dichtend loben zu können. Im Frühling möchte das Ich vor allem ein Echo der Natur bilden können, womit die frühaufklärerische Funktion der naturgemäßen Abbildung und Nachahmung der Natur veranschaulicht wird. Denn wenn es dem lyrischen Ich gelingt, ein adäquates Echo der Natur abzubilden und von dieser somit praktisch nicht mehr unterscheidbar zu sein, ist eine höchstmögliche Form der Nachahmung und Annäherung an die Natur erreicht. Diese mimetische Funktion zeigt sich dann in Tönen, die „wie Zephyrs Lispeln“ oder „wie die rieselnden Bäche“ klingen. Eine solch gelungene Kommunikation und funktionierender Austausch, die grundlegende Elemente eines optimalen Verhältnisses von Natur und Ich im Frühling bilden, werden bei Kleist immer in Szenen vollkommener Harmonie verwandt, während der Lärm von Krieg und Naturkatastrophen im späteren Verlauf des Texts jegliches (akustisches wie mentales) Verständnis unmöglich machen. Wie en passant gibt der Frühling in seinen ersten, programmatischen Versen so eine Poetikanleitung zur Umsetzung des aufklärerischen Programms der sich anverwandelnden Naturbeschreibung: das Ich kann sich und seine Kom-
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munikation nun in Metaphern der – oftmals anthropomorphisierten – Natur ausdrücken. Im zweiten Teil des ersten Abschnitts des Frühlings und damit im zweiten Teil der vorliegenden Studie zeigen sich Anklänge an zeitgenössische Ästhetiken des Erhabenen bei Kleist (bei denen vermutlich ihr Popularisierer René Rapin eine nicht zu unterschätzende Rolle spielte) zum ersten Mal. In den auf- und abflammenden Kämpfen zwischen Winter und Frühling, die anhand des allmählich schmelzenden Flusses beschrieben werden, bereitet Kleist zum einen mit unterschiedlichen Charakterisierungen der beiden Jahreszeiten den Kontrast von ungezügelten Affekten versus ,calmiertem Ich‘ später im Text weiter vor. Die in Anlehnung an Theoreme von Bodmer und Breitinger schon hier zum Teil ,leibgewordenen‘ Affekte dienen zudem dem wirkungsästhetischen Zweck der „Rührung“. Durch Setzungen vom Frühling als „Jugend des Jahres“, die zudem mit Tageszeiten wie etwa dem anbrechenden Morgen in eins gesetzt werden, bereitet Kleist, etwa durch die parallele Identifizierung des Winters mit den ,dumpfen Städten‘, gleichzeitig die Topoi des zweiten Kapitels vor. Die Verhandlungen des Frühlings zum „Lob des Landlebens“ (Kap. 3) haben nicht zuletzt im Gedichttext die Funktion eines Übergangs von den eingangs explizierten Naturbildern zu im Text dann später geäußerten moralphilosophischen Überlegungen. Das Landleben bei Kleist zeichnet sich dabei in mehreren Dimensionen über Metaphern der Begrenzung, Einhegung und Sicherung aus: sei es in Beschreibungen von Landschaften (Kap. 3.1), bei denen Eindrücke von Weite nur evoziert werden, um sie gleich wieder auf mehreren Ebenen einzuhegen, oder sei es in Szenen familiärer Häuslichkeit (Kap. 3.2). Dies impliziert, dass bei Kleist das Landleben immer ein schon zivilisiertes ist bzw. sein soll. Gleichzeitig wird aber dennoch das ungesunde Stadtleben dem ethisch vorbildlichen Landleben entgegengesetzt, auf Vergils Georgica Bezug genommen oder ein ex re-Konzept von Landlob entwickelt. Kleist führt hier gleicheitig also auch topische Linien der laus-rurisDichtung fort. Immer müssen hier bereits moralische Vorstellungen mitgedacht werden: Nur wer sich etwa bereits in der Natur an klare Begrenzungen hält oder gar Strafen für Regelverstöße („Dornen“) akzeptiert und somit einem Ideal tugendhaften Verhaltens folgt, „blüht“ zum Beispiel als Blume dann auch umso schöner. Eine Kleist’sche Diätetik des „Mittleren“ und eine Ästhetik des „Sanften“ gegen alle extremen Ausschläge, sei es in Fragen der Schönheit oder des Charakters, ist hier schon angedeutet.
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Ebenso wie in der freien Natur klare Grenzen unerlässlich waren, benötigen dann auch die hier von Kleist beschriebenen Tiere einen Führer. Dies entspricht in gesellschaftstheoretischer Hinsicht bereits den Vorstellungen eines „aufgeklärten Absolutismus“, wie sie später im Text weiter ausgeführt werden. Immer wieder erscheinen im Frühling Motive des Echos oder der Spiegelung, wie etwa auf einer Teichoberfläche. Auf stilistischer Ebene zeichnet der Frühling in den hier interpretierten Versen eine ,Bespiegelung‘ ähnlicher Elemente nicht nur in inhaltlicher Hinsicht, sondern gleichsam in ähnlicher Benutzung von Metaphern vor, wenn zum Beispiel Wasser und Licht über gleiche Wortfelder ineinandergeblendet werden („Meer“/ „Meer“). Kleists hohes Maß an kompositioneller Verknüpfung in Aufbau und Motivgestaltung ist hier für jede Interpretation Verlockung und Herausforderung zugleich. Im Frühling kommen hier (ästhetikgeschichtlich von Interesse) außerdem Ideen der „Pleasures of Imagination“ Addisons zum Tragen, wenn das lyrische Ich sich mitunter durch schöne Vorstellungen ungünstigen Realitäten entziehen möchte. Ideale römischstoischer Lebenskunst werden als Inspirationen im zweiten Teil des zweiten Kapitels in ihrer Anwendung durch Kleist deutlicher, wenn im familiären Kontext etwa die räumliche Befestigung des Hauses vor allem auf die sittliche Stabilität seiner Bewohner hinweisen soll. Nach den schon moralisch aufgeladenen Blumen wird hier nun in anderen Kontexten eine abwertende Konnotation jeglicher Art des „Wechsels“ eingeführt, welche gleichzeitig immer mit der Verabschiedung ethisch verwerflicher Lebensentwürfe einhergeht. Ungewöhnlich für die deutschsprachige Literatur dieser Zeit ist, dass Kleist die Gattung der Landlobdichtung durch die genaue Beschreibung gärtnerischer und landwirtschaftlicher Tätigkeiten um Bestandteile der Georgik bzw. „Ökonomie“ erweitert. Das dritte Thema, welches im Frühling auf die bisherigen Abschnitte im Textverlauf aufbauend nun eingeführt wird, umfasst die Frage, was einen guten Menschen ausmache (Kap. 4): Anhand der Begriffe von Tugend und Laster erklärt die Studie sowohl in sozialer als auch individueller Perspektive, wie der Frühling ein gutes Leben definiert. Die im Text jedoch immer wieder angemeldeten Zweifel, ob ebensolche Maximen überhaupt umzusetzen sind, führt über zu den Diskursivierungen von Melancholie im vierten Kapitel der vorliegenden Arbeit. Bereits die philosophischen Lehrveranstaltungen, die Kleist an der Universität Königsberg besuchte, zeigen Christian Thomasius als den Denker auf, der, vor allem durch seine Affektenlehre, den stärksten Einfluss auf sein Denken hatte. Auch Kleists Collectaneen mit ihren Einträgen
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zu Glück oder Großmut waren jedoch eine wichtige Quelle dieses Kapitels, in dem die philosophiegeschichtlichen Kontexte des Frühlings systematisch expliziert werden. Eine enge Verschränkung und dichte Korrespondenzen zentraler moralischer Begriffe untereinander, wie etwa anhand von Kleists ,doppelten Metaphern‘ oft stilistisch ausgeführt, lassen sich auch hier erkennen. Im Hinblick auf seine staatstheoretischen Äußerungen (Kap. 4.1) sieht der Frühling das Verhältnis von Herrschern und Beherrschten in starkem Maße als auf Vertrauen basierend an. Dieses Vertrauen ist eine freiwillige Entscheidung der Beherrschten, die in diesem Gesellschaftsentwurf aus eigenem Willen Kompetenzen abgeben – aus dem Wissen heraus, dass es sich (wie in den bereits ausgeführten Allegorien des Landlebens im Frühling) unter vernünftiger Anleitung besser leben lasse. Dass dabei auch die Herrscher wie bei ihren zentralen Aufgaben von Schutz- und Friedenswahrung für die Bevölkerung selbst immer Maß halten sollen, erwähnt Kleist ebenfalls. Neben der Naturanschauung in ihrer moralischen Funktion ist uns die hier ebenfalls wieder ausgeführte Idee der Mäßigung als Weg zur Glückseligkeit bereits in anderen Passagen des Frühlings begegnet. Für das Individuum wird nun vor allem tugendhaftes Verhalten (Kap. 4.2) als Weg zur Glückseligkeit vorgeschlagen. Für alles lasterhafte Verhalten wie Eigenliebe, Neid und Rache sowie die an Hofkritik erinnernde Verstellung als negatives Element (Kap. 4.3) werden gerne Bilder des ruhmsüchtigen Emporsteigens sowie Elemente verwandt, die an Thomasius’ Hauptlaster von Ehrgeiz, Geldgeiz und Wollust erinnern. Auch hier werden wieder Elemente des Wechsels anstelle der auszuzeichnenden Beständigkeit im charakterlichen Verhalten negativ konnotiert. Der glückliche Mensch erscheint bei Kleist als menschlich wie lokal fern aller beschriebenen Laster und zeichnet sich durch seine sanften, milden Eigenschaften aus. Schon hier wird der glückliche, tugendhafte Mensch (Kap. 4.4) von der Melancholie abgegrenzt. Wie aber bereits angedeutet, ist im Frühling das abschließende Verhältnis von Tugend und Laster trotz aller moralphilosophischen Maximen vor allem dadurch gekennzeichnet, dass ein ,optimales Leben‘ bzw. der Weg zu Tugend und Glückseligkeit nur schwer umsetzbar sind. Vor allem wird bezweifelt, dass moralisches Verhalten zu Erfolg im Leben verhelfen kann (der Freundschaft wird diese Fähigkeit hier noch zugesprochen). Die Lösung, welche in Kleists Texten immer wieder formuliert wird, um den Versuchungen der großen Laster zu entrinnen, begegnet uns hier nach den motivischen und metaphorischen Vorbereitungen auf verschie-
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densten Ebenen des Frühlings dann auch explizit: die im zeitgenössischen Kontext prominente Idee der ,Calmierung von Affekten‘. Sie nimmt im Frühling eine kaum zu unterschätzende Stellung ein. Die „Ruhe“ der Seele ist das angestrebte Lebensideal, das über die Spannung von Maximen und realen Umständen auf der Erde hinweghelfen soll und kann – viele Lesarten der Texten Kleists als unmissverständlicher Suizidwunsch sind somit zu relativieren. Die erhoffte Erlösung aus wechselnden Launen in ein affektcalmiertes Ich und stetiges Glück ist eng an die Diskursivierung von Melancholie im Frühling und Kleists Werk im Allgemeinen gekoppelt, was eng an die zeitgenössischen Debatten um ebendiese rückgebunden ist. Denn Ewald von Kleist verfügte im Bereich der sogenannten „Melancholie“ bzw. „Hypochondrie“ über ein großes Expertenwissen, was etwa die von ihm konsultierten Zeitschriften belegen. Schon in diesen waren die sogenannten ,Gemütskrankheiten‘ über zu starke Gefühle bzw. den schnellen Wechsel von Stimmungen bei den ,Betroffenen‘ charakterisiert worden, was an Motive der Dichtung Kleists erinnert. Der Frühling erscheint hier somit gleichzeitig oft wie ein kritischer Kommentar zu verschiedenen zeitgenössischen Melancholie- und Imaginationskuren. Vom Boerhaave-Schüler Hans Caspar Hirzel, über Einflüsse der Fröhlichkeit auf die Gesundheit des Menschen promoviert, wissen wir zudem aus Briefen nachweislich, dass er die Entstehung des Frühlings eng begleitete. Im Gegensatz zu mannigfachen biografistischen Kurzschlüssen der bisherigen Ewald-Forschung, die sich gerade im Kontext seiner vermeintlichen ,Melancholie‘ konstituierte (Kap. 5.1), versucht die Arbeit, sich auf die Diskursivierung bzw. Schilderung ,melancholischer Stimmungen‘ innerhalb der Texte Kleists zu konzentrieren und dann, wie im ganzen Verlauf der Arbeit angewandt, lediglich aus diesen heraus die metaphorischen Felder aufzuzeigen, anhand deren Melancholie bei Kleist vorzugsweise dargestellt wird. Hierbei fällt im Frühling auf, dass sämtliche insbesondere positiv besetzten Maximen und Themen im Durchgang nun im Licht der eintretenden Melancholie angezweifelt werden (Kap. 5.2). Im Verlauf des Texts werden sogar immer schneller sämtliche ,Therapeutica‘ der Seele wie die heilsame Naturanschauung, Freunde oder Geselligkeit etc. ad acta gelegt. Zentral wird die Diskursivierung des zeitgenössischen Wissens über „Melancholie“ und verschiedene Melancholie-Kuren durch die Metapher der Naturkatastrophe angewandt. Das Katastrophische in Naturdarstellungen der frühen Aufklärung bildet dabei mit dem Blick auf Kleist gleichzeitig eine völlig neue Perspektive auf das Bild der Natur vor 1750.
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Denn mit den zahlreichen Katastrophenmetaphern in seinem Werk geht es Kleist nicht primär um Umsetzungen einer Erhabenheits- oder TheodizeeÄsthetik, vielmehr schildert Kleist auf metaphorischer Ebene die ,den Melancholischen‘ immer wieder heimsuchenden Umschläge von Harmonie und Glücksgefühl in Unglück und Zerstörung durch die permanent sein (gesamtes) Werk durchziehenden unheimlich eindrücklichen Darstellungen von Naturkatastrophen, und insbesondere Fluten – was im Frühling natürlich wie von vornherein angelegt scheint und mit dem abschmelzenden Fluss ja auch in den ersten Versen umgesetzt wird (Kap. 2.2). Neben der Erweiterung der Facetten von Naturdarstellungen in der deutschsprachigen Literatur der Frühaufklärung um die elementare Schilderung der Katastrophe bei Kleist weist der Frühling zugleich ästhetikgeschichtlich auf eine Leerstelle der affektrhetorischen Poetologien des 18. Jahrhunderts hin: nämlich die Frage, wie der Autor einerseits nach Bodmer, Breitinger und anderen „affektiert“ und gleichzeitig dabei aber „vernünftig“ schreiben soll. Sogar im Frühling selbst ist die Differenzierung einer (mitunter kritischen) Diskursivierung zeitgenössischer Melancholietheorien und eines vielleicht einfach nicht wieder zu bändigenden Anschlusses an Ästhetiken der rhetorischen Affekterzeugung manchmal nur schwer zu treffen. Wenn es in Kleists Naturbeschreibungen nun immer eine latente Gefahr zu be(ob)achten gibt (Kap. 5.3), folgt er einerseits dem rhetorischen Programm, durch die metaphorische und ,reale‘ Darstellung von Affekten die Leser zu ebensolchen ,hinzureißen‘. Dies kollidiert mit dem auf inhaltlich-moralischer Ebene so stark propagierten Calmieren von Affekten. Auch bei der Darstellung von Naturkatastrophen (Kap. 5.4) finden wir eine gestörte Kommunikation von Ich und Natur als Zeichen einer ,Schieflage‘ der Welt. Kleist verwendet hier stilistisch bestimmte Formen ,doppelter Metaphorisierung‘, wenn er bestimmte Elemente seiner Naturdarstellungen, in Anlehnung an immer wieder angewandte Gedanken G. F. Meiers und dessen Ästhetik, anthropomorphisiert, oder nicht zuletzt etwa manche Elemente der Flutkatastrophen wiederum etwa mit Kriegsmetaphern beschreibt. Von der Behandlung des zentralen Motivs der Naturkatastrophe geht die Studie dann in die Behandlung des Kriegs bei Kleist über, die wir in seinem Werk durch das Bild der Naturkatastrophe dargestellt finden. Durchgängig lassen sich dabei negative Bedeutungskomponenten des Kriegs ausmachen, wenn dieser mit anderen zerstörerischen Elementen wie dem Winter oder unkontrollierten Affekten in Kleists Poetologie gleichgesetzt wird.
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Im Gegensatz zu den zerstörerischen Katastrophen der Natur und des Kriegs im Frühling, bei denen im Rahmen der Studie nicht nur die fassungs-, sondern auch die editions- bzw. druckgeschichtliche Entwicklung des Frühlings in den Blick genommen wird, figuriert nun mehr als zuvor der Begriff der „Ruhe“ abermals als positiver Gegenentwurf. Dies zeigt nicht zuletzt hier die Entwicklung der frühaufklärerischen Naturpoesie unter anderem aus naturrechtlichen Vorstellungen und Thomasius’ Moralphilosophie (vgl. Kap. 4) und relativiert einen vermeintlichen Suizidwunsch in Texten wie im Leben Kleists abermals. Im Hinblick auf Kleists Werkästhetik ist interessant, dass er, so nämlich etwa im Hinblick auf Metaphern von Naturkatastrophen, ganze Passagen seiner Texte als variable Bausteine zwischen verschiedenen Werk(entwürfen) kontinuierlich hin- und herschob – wenn auch dies natürlich abermals die von Kleist als natürlich gesetzte Omnipräsenz ebendieser Metaphernkomplexe von Krieg und Naturkatastrophe zeigt. Schon hier wird deutlich, was im Schluss des Texts so beeindruckend zur Geltung kommt: warum der „Frühling“ als sanft charakterisierte Jahreszeit für Kleist so viel leisten konnte, um den Entwurf eines optimalen affektcalmierten Individuums bzw. die Abwertung zu heftiger Leidenschaften, hier metaphorisiert durch das zentrale Bild der (Natur-)Katastrophe, zu transportieren. Als eine der Hauptursachen für Melancholie im 18. Jahrhundert wird psychologiegeschichtlich das entstehende Bewusstsein dafür angesehen, dass das eigene Ich das Haupthindernis bildet, um den Vollkommenheitsvorstellungen der jeweiligen Zeit zu entsprechen. Dies erscheint im Blick auf Kleists Texte aufschlussreich, auch wenn Umstände von Liebeskummer oder Einsamkeit bei ihm ebenfalls einen weiteren Kontext der Diskursivierung von Melancholie bilden (Kap. 5.5). Im Gegensatz zum pejorisierenden Schleier, der sich durch die Melancholiethematik über alle bis dahin entwickelten Themen des Frühlings gelegt hatte, kommt dem nun einsetzenden Abschnitt des Texts die Funktion zu, vor der Folie der Religion wiederum Hoffnung in Bezug auf zuvor aufgezeigte Dilemmata zu geben. Die so lange erwünschte Mäßigung der Leidenschaften im Zeichen der Tugend sowie die damit verbundene Errettung aus den melancholischen Phantasien, wie in den vorigen Versen und beiden Kapiteln expliziert, kann hier endlich durch eine religiöse Anschauung der Natur vollzogen werden. Dabei wird zunächst (Kap. 6.1) zum ersten Mal in der Forschung die religiöse Biographie Kleists in ihrer ganzen Vielfalt der Einflüsse und Strömungen umfassender nachvollzogen. Dementsprechend eklektizistisch ist auch das Bild, das sich
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im Zugriff auf verschiedenste religionshistorische Deutungsmodelle im lyrischen Werk Kleists bietet. Die vier Hauptkennzeichen religiösen Diskurses im Frühling sind ein allumfassender wie in allen Dingen omnipräsenter Gott, ein auf die Natur bezogenes Gotteslob sowie ein verstummendes Ich (Kap. 6.2 – 6.5). Diese gliedern das mit den entsprechenden Teilen des Frühlings korrespondierende Kapitel. Im ersten Abschnitt zeigt sich dabei als stilistisches Merkmal nicht zum ersten Mal ein dialogischer Aufbau, hier auf das „du“ Gottes bezogen. Die Frage, ob es sich um eine perfekte Welt handelt oder Gott in ebendiese noch, oftmals dann strafend, eingreift, ist neben der Kette der Wesen eine der großen theologischen bzw. metaphysischen Debatten, welche die religiösen Passagen des Frühlings durchziehen. Dabei zeigt sich im Gedanken, dass Gott in allen Naturerscheinungen präsent sei, eine typische Widerspiegelung der Naturanschauung und -beschreibung in Form eines frühaufklärerischen Gottesdienstes in und an allen Elementen der Schöpfung (Kleist erwähnt hingegen Jesus im Frühling nie). Frappant sind die Parallelen eines von allen Wesen der Erde ausgeführten Gotteslobes nun mit dem zu Anfang des Frühlings so exakt beschriebenen Verhältnis der Kommunikation zwischen Ich und Natur: Zieht das lyrische Ich dort jegliche Kraft und Inspiration aus der Natur, um diese dann lobend besingen zu können, transformiert der religiöse Zusammenhang dieses Verhältnis exakt im Hinblick auf Gott und seine Schöpfung. Ein immer noch präsenter strafender Gott im Religionsbegriff der Frühaufklärung ist indes, nicht nur angesichts der geschilderten Naturkatastrophen, bei Kleist noch vorhanden, was die Übergangsstellung seiner erst schrittweise in die neue Idee eines gütigen Schöpfers übergegangenen religionshistorischen Position deutlich vor Augen führt (Kap. 6.5). Ein sprachloses Ich verdeutlicht die ersteren Positionen, auch wenn bei einem genauen Blick auf manche chronologischen Entwicklungen in Kleists Gesamtwerk die Favorisierung und Entwicklung hin zu frühaufklärerischen ,emanzipierenden‘ Postionen etwas deutlicher hervortritt. Die letzten knapp hundert Verse des Frühlings binden systematisch alle Fragestellungen des Texts zusammen und rufen sämtliche Topoi des durchlaufenen Gedichts noch einmal synthetisierend auf. Deutlich wird nun, dass es auch für das symbolisch so bedeutsame Naturverständnis von Seite des Menschen aus eines ,mittleren‘ bzw. gemäßigten Zugangs bedarf. In den abschließenden Versen des Frühlings, gerade nach der Transzendierung durch die religiöse Aufladung alles vorher Gesagten, funktioniert diese Kommunikation mit der Natur durch das Ich nun ohne Widerstände. Augenscheinlich wird dies in Rückgriff auf die wirkmächtigste Metapher
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des Texts, die Naturkatastrophe: ein im letzten Abschnitt einsetzender Regen wirkt durch seinen eben sanften, ,affektcalmierten‘ Charakter nun nämlich nicht mehr zerstörerisch, sondern nur noch im für Kleist so zentralen linden Maße befruchtend und erfreuend. Eine mythologiehistorische Analogie macht im Folgenden (Kap. 7.2) noch deutlicher, weshalb gerade die Jahreszeit des Frühlings für die poetologischen wie moralphilosophischen, melancholiediskursivierenden wie religiös motivierten Argumentationen eine so fruchtbare Ausgangsposition bot. Denn auch in der Vorstellung des „Goldenen Zeitalters“, auf die Kleist, nicht zuletzt im so oft gewählten Einfluss der Brockes-Übersetzung von Thomson Seasons zurückgreift, ist eine Abwesenheit starker Affekte, extremer Wetterlagen oder der Melancholie kennzeichnend, ebenso wie eine Präsenz naturrechtlicher Vorstellungen, was sich sämtlich bis hin zu den biblischen Vorlagen der Idee des „Goldenen Zeitalters“ hineinverfolgen lässt. Der Ausgang aus dem paradiesischen Goldenen Zeitalter resultierte in der Brockes-Übersetzung Thomsons nicht zuletzt in dem erst jetzt einsetzenden System der verschiedenen Jahreszeiten und damit des Frühlings, als Bestrafung für die Beendigung des himmlischen Zustands auf Erden. Der utopische Gehalt, der mit dem Frühling vermittelt werden soll, wird somit nochmals deutlicher. Neben der einzelnen Entwicklung des Gedichts über verschiedene Themen und Abschnitte, wie sie sich auch im Aufbau der Studie widerspiegeln, gibt es verschiedene Kennzeichen, die den Text kontinuierlich durchziehen. Sie wurden bislang noch nicht in der Zusammenfassung der Ergebnisse erwähnt, da sie nicht immer in direktem Kontext zur bislang eher inhaltlich geschilderten Konstellation des Frühlings stehen. Ein Ton der ,persönlichen‘ Ansprache, gerade bei den schon erwähnten dialogisch gehaltenen Teilen (oft kontrastierend abwechselnd eingesetzt mit Teilen der reinen Beschreibung äußerlicher Umstände, etwa der Natur), findet sich immer wieder im analysierten Werk Kleists. Ähnlich gelagert, und ebenfalls im Kontext der verschiedenen ästhetikgeschichtlichen Anknüpfungen Kleists schon erwähnt, ist das Stilmittel der Anthropomorphisierung, wie es im Frühling gern auf Tiere, Pflanzen oder etwa das „Wimmern“ des Bachs angewandt wird. Den Hexameter als Versform, mit der Kleist in der deutschsprachigen Literaturgeschichte nachhaltig verbunden wird, nutzt er im Frühling oft, um gegensätzliche Gegenstandsbereiche auch über den Versbau zu kontrastieren. Neben den in der bisherigen Zusammenfassung bereits beschriebenen Passagen, die dem Zweck der Affekterregung dienen, wurde noch nicht erwähnt, dass Kleist hierfür oft schon allein die Zeichensetzung einsetzt – bis in die Benutzung
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von Auslassungspunkten aus Ausdrucksmittel von Sprachlosigkeit eines lyrischen Ich findet dieses Stilmittel hin Anwendung. Paradigmatisch ist Kleists Schreiben für die Bedeutung eines Verständnisses von deskriptiver Aufklärungslyrik als affekterregender und somit nicht mehr im abwertenden Sinne nur ,trocken‘-deskriptiver Dichtung. Immer findet sich die enge Bezugsetzung von Natur und Ich sowie Natur und Zivilisation auch in den stilistisch ähnlichen Darstellungen von Innen- und Naturräumen. Schon in der Einleitung sind in Teilen die Forschungsdesiderata bzw. Perspektiven einer zukünftigen Forschung zu Ewald von Kleist angedeutet worden. Dies beginnt ganz bei den Grundlagen, da es an einer den aktuellen wissenschaftlichen Standards genügenden historisch-kritischen Edition der Texte und Briefe Kleists fehlt (vgl. 7). Zumindest das einzige noch erhaltene Frühlings-Manuskript sollte einer neuen Publikation unterzogen werden. Die Person Hans Caspar Hirzels ist mit der vorliegenden Arbeit erstmals überhaupt in einen erweiterten Fokus im Kontext der deutschsprachigen Aufklärung des mittleren 18. Jahrhunderts gerückt. Der Rolle Hirzels als Wegbegleiter anthropologischer, agrarhistorischer, psychiatriegeschichtlicher und publizistischer Entwicklungen in der Kulturgeschichte um 1750 sollte durch die Forschung mehr Beachtung geschenkt werden. Die Rolle der Naturkatastrophe als wirkmächtiger Metapher in der Literatur der deutschsprachigen Literatur der ersten (!) Hälfte des 18. Jahrhunderts ist ebenfalls bislang kaum in den Fokus der Forschung gerückt – auch ganz abseits von Diskursivierungen der Melancholie, als die sie bei Kleist fungiert. Seine Gattungserweiterung der Landlobdichtung um Elemente der Georgik bzw. agrarwissenschaftlicher „Ökonomie“ hat ebenfalls weitere Mitstreiter gefunden. Die symptomatische Übergangsstellung der Texte Ewald Christian von Kleists im Kontext der deutschsprachigen Literatur des mittleren 18. Jahrhunderts verdient insgesamt, von der Grundlagenforschung bis hin zu literaturtheoretischen Ansätzen, in der Zukunft größere Aufmerksamkeit als bisher.
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Personenregister* Addison, Joseph 24, 31 f., 47, 97, 109 f., 138, 183, 213 Adelung, Johann Christoph 77 f. Alt, Peter-André 12 Bauer, Barbara 11 Bodmer, Johann Jakob 8 f., 12, 19, 24, 26, 61, 108, 114, 119, 124, 136, 157, 172, 196, 199–201, 212, 216 Bonacchi, Silvia 11 Borchers, Stefan 150 Breitinger, Johann Jakob 8 f., 19, 26, 108, 114, 124, 172, 212, 216 Brockes, Barthold Heinrich 5 f., 19, 21 f., 26 f., 30 f., 39, 42, 50, 52, 55, 59, 68, 72, 75, 83, 85, 91, 94, 96, 113, 121, 126 f., 142, 145, 150, 152–156, 162–164, 166, 168, 170 f., 175, 187–192, 219 Buch, Hans Christoph 2, 106 Canitz, Friedrich Rudolph Ludwig von 44, 52 Cartaud de la Villate, Francois 86 Clark, Christopher 3 Corneille, Pierre 44 f. Crébillon, Prosper Jolyot 67, 69, 79 Drollinger, Carl Friedrich Ewald, Johann Joachim
175 201, 204 f.
Finckenstein, Friedrich Ludwig Karl Graf von 1 f. Fontenelle, Bernard Le Bouvier de 154, 156 *
Gellert, Christian Fürchtegott 13, 75, 95, 103, 121, 161, 170, 197 f., 206 f. Gessner, Salomon 9 f., 61, 79, 121 f., 172, 175, 196 f., 199 f., 202 Gleim, Johann Wilhelm Ludwig 3, 21, 23, 34, 43, 45 f., 51, 60 f., 63, 73, 75, 79–81, 84, 86, 95 f., 99, 102– 106, 111, 118, 127 f., 138, 140, 143, 148, 157, 160, 162, 168, 176, 178 f., 182 f., 197 f., 200, 203, 206–208 Gottsched, Johann Christoph 12 f., 79, 113, 170, 176, 197 Gratzke, Michael 11 Gresset, Jean Baptiste Louis de 140 Haller, Albrecht von 6, 13, 31, 40, 52, 61, 70 f., 73, 89 f., 94, 101, 110, 115–119, 126, 135, 142, 152, 155 f., 164, 169, 172, 187, 192 Hirzel, Hans Caspar 9 f, 15, 60 f., 76, 99, 101–103, 109, 157, 172, 179, 198 f., 201–203, 215, 220 Horaz, d. i. Quintus Horatius Flaccus 20, 36, 40, 45, 47 f., 52, 68 f., 70 f., 74, 78 f., 85 f., 120 Kagel, Martin 11 Kaiser, Gerhard 12 Kemper, Hans-Georg 11, 16, 33, 39, 104, 107, 134, 145, 155 Ketelsen, Uwe-Karsten 161 Kiesel, Helmuth 50 Körte, Wilhelm 205 Lange, Samuel Gotthold 5, 10, 52, 76, 86, 93, 96, 121 f., 148, 151, 162, 168, 170
Bei Sekundärliteratur werden hier nur die Nennungen im Haupttext erwähnt.
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Personenregister
Lessing, Gotthold Ephraim 2, 11, 13, 104, 121, 142, 158, 203, 207 f. Lohmeier, Anke-Marie 11, 40, 49 Lütteken, Anett 195 Martus, Steffen 12 Meier, Georg Friedrich 8, 15, 18, 34, 48, 111, 113, 115, 132 f., 143, 192, 216 Milton, John 24 Morvan de Bellegarde, Jean Baptiste 85, 87, 147 Ovid, d. i. Publius Ovidius Naso 186 Pope, Alexander 5 f., 67, 75 f., 104, 145, 150, 154 f., 158, 169 Pseudo-Longin 24 f. Racine, Jean 46, 164 Ramler, Karl Wilhelm 3, 5, 10, 42, 75, 82, 87, 104, 128, 138, 165, 182, 187, 201 f. Rapin, René 24, 45, 49, 147, 212 Sauder, Gerhard
49, 137
Sauer, August 2, 9 f., 34, 121, 195– 197, 202, 205, 207 Schiller, Friedrich 106 Schings, Hans-Jürgen 100, 102 Schmitz-Emans, Monika 120 Seneca, d. i. Lucius Annaeus Seneca 1, 44, 46, 68, 86 Stenzel, Jürgen 10 Sulzer, Johann Georg 12, 16, 61, 118, 157, 182 Thomasius, Christian 16, 50, 58, 64– 68, 70, 74–76, 79, 84, 95 f., 102, 108, 213 f., 217 Thomson, James 5, 8, 22, 27 f., 30, 42, 52, 55 f., 59, 67, 94 f., 126 f., 145, 187–192, 219 Unzer, Johann August 99 f. Uz, Johann Peter 13, 17, 20, 81 Vergil, d. i. Publius Vergilius Maro 36, 48, 52, 119 f., 186, 190, 212 Werdmüller, Johann Rudolf 202 Wolff, Christian 64, 66–69, 75, 79 f.