"... da ihr ja träge geworden seid an den Ohren": Zur textpragmatischen Situierung des Hebräerbriefes 9783170400382, 9783170400399

Gewöhnlich wird davon ausgegangen, dass sich der Hebräerbrief an eine Gemeinde richtet, die Ermüdungserscheinungen im Gl

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German Pages 288 [289] Year 2021

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Impressum
Inhalt
Vorwort
0 Einleitung
1. Der Hebr – einleitungswissenschaftliche Vorbemerkungen
1.1 Abfassungsort und Abfassungszeit
1.2 Die Gliederung des Hebr
1.3 Die Adressaten des Hebr – Juden- oder Heidenchristen102?
2. Die textpragmatische Situierung des Hebr – Sichtung der Forschungspositionen und Entwicklung eines neuen Ansatzes
2.1 Der Hebr als theoretische Reflexion
2.2 Die sog. 'relapse'-Theorie
2.3 Der Hebr als Kampfschrift gegen eine Rückwendung
zu jüdischen Wurzeln und die Installation eines quasi-levitischen Kultes
2.4 Der Hebr als „Zwei-Fronten-Kampfschrift“
2.5 Der Hebr als Korrektur innerchristlich-theologischer Fehlentwicklungen
2.6 Der Hebr als identitätsstiftendes und stabilitätssicherndes Mahnschreiben
2.7 Zusammenfasssende Bewertung und eigener Neuansatz
3. Die Analyse von Hebr 5,11–6,12
3.1 Hebr 5,11–141
3.2 Die paränetischen Abschnitte in Hebr 1,1–5,10 als Neuansatz rezeptionsästhetische Einwände
3.3 Hebr 6,1–3
3.4 Hebr 6,4–12
3.5 Zusammenfassung und Folgerungen im Blick auf die rhetorische Situation der Adressaten
4. Die Analyse von Hebr 6,13–20
5. Hebr 10,19–25.26–311.32–392
6. Die Analyse von Hebr 12
7. Die Analyse von Hebr 131
8. Ertrag
9. Die textpragmatische Situierung des Hebr – Übersicht über Forschungslage und eigene Positionierung
Literatur (in Auswahl)
Register
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"... da ihr ja träge geworden seid an den Ohren": Zur textpragmatischen Situierung des Hebräerbriefes
 9783170400382, 9783170400399

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Beiträge zur Wissenschaft vom Alten und Neuen Testament Herausgegeben von Walter Dietrich Ruth Scoralick Reinhard von Bendemann Marlis Gielen Band 230

Thomas Witulski

„... da ihr ja träge geworden seid an den Ohren“ Zur textpragmatischen Situierung des Hebräerbriefes

Verlag W. Kohlhammer

1. Auflage 2021 Alle Rechte vorbehalten © W. Kohlhammer GmbH, Stuttgart Gesamtherstellung: W. Kohlhammer GmbH, Stuttgart Print: ISBN 978-3-17-040038-2 E-Book-Format: pdf: ISBN 978-3-17-040039-9 Für den Inhalt abgedruckter oder verlinkter Websites ist ausschließlich der jeweilige Betreiber verantwortlich. Die W. Kohlhammer GmbH hat keinen Einfluss auf die verknüpften Seiten und übernimmt hierfür keinerlei Haftung. Dieses Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwendung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechts ist ohne Zustimmung des Verlags unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und für die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen.

Inhalt Vorwort ..........................................................................................................

7

0. Einleitung ..............................................................................................

9

1. Der Hebr – einleitungswissenschaftliche Vorbemerkungen .............................................................................. 12 1.1 Abfassungsort und Abfassungszeit .....................................................

12

1.2 Die Gliederung des Hebr ........................................................................

19

1.3 Die Adressaten des Hebr – Juden- oder Heidenchristen? .............

26

2. Die textpragmatische Situierung des Hebr – Sichtung der Forschungspositionen und Entwicklung eines neuen Ansatzes ......................................... 38 2.1 Der Hebr als theoretische Reflexion ..................................................

38

2.2 Die sog. ‚relapse‘ - Theorie ....................................................................

40

2.3 Der Hebr als Kampfschrift gegen eine Rückwendung zu jüdischen Wurzeln und die Installation eines quasi-levitischen Kultes ....... 43 2.4 Der Hebr als „Zwei-Fronten-Kampfschrift“ ......................................

44

2.5 Der Hebr als Korrektur innerchristlich-theologischer Fehlentwicklungen ..................................................................................

45

2.6 Der Hebr als identitätsstiftendes und stabilitätssicherndes Mahnschreiben .........................................................................................

48

2.7 Zusammenfassende Bewertung und eigener Neuansatz ..............

61

3. Die Analyse von Hebr 5,11–6,12 ................................................. 66 3.1 Hebr 5,11–14 .............................................................................................

66

3.2 Die paränetischen Abschnitte in Hebr 1,1–5,10 als mögliche argumentationslogische oder rezeptionsästhetische Einwände 126 3.2.1 Hebr 2,1–4 ................................................................................... 129

6

Inhalt

3.2.2 3.2.3 3.2.4

Hebr 3,1–6 ................................................................................... 144 Hebr 3,(7–11.)12–4,13 ................................................................ 146 Fazit ............................................................................................. 158

3.3 Hebr 6,1-3 .................................................................................................. 161 3.4 Hebr 6,4-12 ................................................................................................ 177 3.5 Zusammenfassung und Folgerungen im Blick auf die rhetorische Situation der Adressaten ................................................ 209

4. Die Analyse von Hebr 6,13–20 .................................................... 211 5. Die Analyse von Hebr 10,19–25.26–31.32–39 ..................... 217 6. Die Analyse von Hebr 12 ................................................................ 238 7. Die Analyse von Hebr 13 ................................................................ 258 8. Ertrag ....................................................................................................... 269 9. Die textpragmatische Situierung des Hebr – Übersicht über Forschungslage und eigene Positionierung ............ 274 Literatur ......................................................................................................... 275 Register ........................................................................................................... 281

 

Vorwort Die vorliegende Studie beschäftigt sich mit der Frage nach der textpragmatischen Situierung des Hebräerbriefes. Diese Frage wird nach einer Zeit der intensiven exegetischen Auseinandersetzung in der Gegenwart meist weitgehend konsensual beantwortet: Dieser Brief richte sich an aktuell glaubensmüde und ihrer Heilsgewissheit verlustig gegangene Christen der dritten Generation. Auf den hier vorgelegten Seiten wird ein neuer Versuch der Beantwortung dieser Frage entwickelt, ein neuer Versuch, der sich in Sonderheit auf eine umfangreiche Exegese der Passage Hebr 5,11–6,12 stützt. Dieses Vorwort gibt Gelegenheit, all denjenigen den ihnen gebührenden Dank abzustatten, die an der Entstehung dieses Buches ihren in keinem Falle zu unterschätzenden Anteil hatten: Ein herzlicher Dank geht zunächst an meine Assistentin Frau Jasmin Leopold, M.A., die sich in souveräner Gründlichkeit der Mühen des Korrekturlesens des Textes unterzog. Ebenfalls danke ich meiner Hilfskraft Frau Julia Krettek für ihre Hilfe bei der Beschaffung der zu Rate gezogenen Sekundärliteratur. Für zahlreiche hilfreiche Gespräche und so manchen guten Rat danke ich den Mitgliedern der Bielefelder neutestamentlichen Sozietät, allen voran hier meinem Kollegen Andreas Lindemann, mit dem mich eine freundschaftliche Kollegialität verbindet. Den für die neutestamentlichen Beiträge der Reihe BWANT verantwortlichen Kollegen Marlis Gielen und Reinhard von Bendemann sei herzlich gedankt zunächst für die Bereitschaft, meine Studie in die von ihnen verantwortete Reihe aufzunehmen, dann aber auch für eine Reihe weiterführender Hinweise, die Eingang in dieses Buch gefunden haben. Last but not least gebührt den Mitarbeitern und Mitarbeiterinnen des Verlages Kohlhammer – explizit genannt seien hier Herr Dr. Sebastian Weigert und Herr Florian Specker – ein großer Dank für deren umsichtige Hilfe und Rat bei der Erstellung der Druckvorlage und der Herstellung dieses Buches. Billerbeck, im Frühjahr 2021 Thomas Witulski

0

Einleitung

In seiner 1996 erschienenen Habilitationsschrift „Der neue Bund und das Werden der Kirche“ stellt Knut Backhaus fest, dass die – für die Gesamtinterpretation dieser wie auch jeder anderen Schrift wichtige1 – Frage der „textpragmatische[n] Situierung“2 des Hebr, d.h. die Frage, auf welche (rhetorische) Situation seiner Adressaten der Verfasser des Hebr mit seinem λόγος τῆς παρακλήσεως3 (Hebr 13,22) zu reagieren und was der Verfasser des Hebr mit seiner Epistel4 bei jenen zu bewirken beabsichtigt, gegenwärtig „zu den am meisten umstrittenen Feldern der Hebr-Exegese“5 zu rechnen ist. Diese Feststellung, die auch in der Gegenwart bleibende Gültigkeit hat, rechtfertigt es, die diese Fragestellung betreffende, innerhalb der exegetischen Forschung geführte Debatte nachzuzeichnen und hier, wenn möglich, einen neuen und eigenständigen Diskussionsbeitrag zu entwickeln. Dabei sind zumindest vom Grundsatz her folgende Fragehinsichten in den Blick zu nehmen: (a) Wie lassen sich die unmittelbaren Adressaten des Hebr näher charakterisieren? (b) Daran anschließend und darauf aufbauend: Wie schätzte der auctor ad Hebraeos die aktuelle Situation seiner Adressaten ein?, bzw.: Wie stellte sich ihm

Vgl. hierzu etwa D.G. Peterson, Situation, 14: „One of the most important preliminary questions to be answered by an interpreter of the ,Letter to the Hebrewsʻ is that relating to the condition or situation of the original recipients“. 2 Neuer Bund, 275. Eine durchaus hilfreiche Explikation des Begriffs ,Textpragmatikʻ bietet S. Alkier, Neues Testament, 145: „Die Syntagmatik fragt nach der Zusammenordnung der Zeichen, die Semantik nach der Bedeutung der einzelnen Zeichen im Rahmen der syntagmatischen Ordnung und die Pragmatik nach der Beziehung zwischen Text bzw. Zeichenkomplex und Zeichenverwender“. Konkret geht es dabei um die Fragen: „Welche Adressatensituation veranlasste den Autor des Hebr, einen λόγος τῆς παρακλήσεως ... zu schreiben?“ (U. Schnelle, Einleitung, 446), bzw.: Welche Adressatensituation hatte der auctor ad Hebraeos vor Augen, als er seinen Brief verfasste?, schließlich auch: In welche Richtung wollte der Verfasser des Hebr seine Adressaten verändern? 3 Das literarische Genus des Hebr ist in der Forschung umstritten; vgl. hierzu U. Schnelle, Einleitung, 450, der exemplarisch folgende Gattungsbestimmungen nennt: „Epistel, Predigt, Homilie, Mysterienrede, Traktat, theologische Meditation, ‚epideictic oration‘, Buch“. Die hier eingeführte Gattungsbezeichnung „Mahnrede“ entspricht dem vom Verfasser des Hebr selbst verwendeten Terminus λόγος τῆς παρακλήσεως (Hebr 13,22). Im Rahmen der vorliegenden Studie wird der Hebr – letzten Endes eher formal und zumindest zunächst probehalber – als eine „zum Brief gewordene Predigt“ (F. Dibelius, Verfasser, 13) im Sinne einer zu einem Brief gewordenen Rede bzw. Ansprache wahrgenommen; vgl. zu dieser gattungskritischen Klassifizierung insbesondere auch O. Michel, Hebr, 21–29; 550–552. 4 Der Begriff der Epistel wird in der vorliegenden Studie insgesamt nicht auf die spezifische Briefgattung der Epistel bezogen, sondern lediglich unspezifisch verwendet. 5 K. Backhaus, Neuer Bund, 275. 1

 

10

Die textpragmatische Situierung des Hebr - Forschungspositionen

die aktuelle Situation derjenigen Christen, die er mit seiner Epistel ansprechen wollte, dar?, und schließlich (c) Welchen neuen Impuls wollte der Verfasser des Hebr jenen vermitteln?, oder: Was wollte er mit seinen Einlassungen bei jenen verändern? Aus dem in dieser Weise skizzierten Vorhaben ergibt sich der Aufbau der vorliegenden Studie. Zunächst werden in einem auf die Forschungsgeschichte zurückblickenden Teil die unterschiedlichen Antworten, die in der Forschung zur Frage nach der textpragmatischen Situierung des Hebr vorgelegt werden, sowohl im Blick auf den jeweils gewählten methodischen Zugang als aber auch inhaltlich konstruktiv-kritisch reflektiert. Diese konstruktiv-kritische Sichtung schließt einerseits mit der aus dieser sich ergebenden, zunächst jedoch hypothetisch und vorläufig eine Antwort auf die Frage nach der textpragmatischen Situierung des Hebr konturierenden Definition von entsprechenden Eckpunkten, andererseits mit Erwägungen zur Methode der in einem daran anschließenden textanalytischen Teil dann durchzuführenden Exegese von im Blick auf die Frage nach der (rhetorischen) Situation seiner Adressaten und den auf diese (rhetorische) Situation bezogenen Zielen seines Verfassers aussagekräftigen Textabschnitten des Hebr. Aus dieser Exegese wird dann eine neue bzw. zumindest neu akzentuierte Antwort auf die Frage nach der textpragmatischen Situierung dieser Epistel zu entwickeln sein. Der Versuch, die rhetorische Situation der Adressaten und die auf diese reagierenden (theologischen) Absichten des Verfassers des Hebr auszugestalten und zu konkretisieren, darf sich nicht lediglich auf die Analyse der paränetischen Abschnitte seines Schreibens beschränken. Vielmehr müssen gerade auch die theologisch-argumentativen Partien des Hebr und die in ihnen ausgeführte theologische Argumentation zumindest mitberücksichtigt werden6, da kaum davon auszugehen ist, dass der Verfasser des Hebr die in seinem Schreiben vorliegende theologische Gesamtkonzeption in dieser Weise entwickelt und ausgeführt hätte, wenn er hätte davon ausgehen können, dass diese theologische Grundkonzeption bei seinen Adressaten bekannt ist und von ihnen geteilt wird7. Dies gilt insbesondere, wenn mit H.-F. Weiß, Hebr, 45 davon ausgegangen wird, dass „die ‚Lehre‘ ... im Hebr grundlegende Bedeutung, als Basis nämlich für das Anliegen des Hebr als ‚Trost- und Mahnrede‘“ hat. Weiß führt darüber hinaus aus: „Die Streitfrage, worauf im Hebr eigentlich der Akzent liegt – auf der ‚Lehre‘ oder auf der ‚Paränese‘ – ist damit endgültig entschieden, und zwar nicht im Sinn einer Alternative, sondern im Sinn der Zueinanderordnung: Die ‚Lehre‘ ist auf die ‚Paränese‘ ausgerichtet, und die letztere ist nichts anderes als Schlußfolgerung aus der ersteren“ (45f.). In diesem Sinne auch A. Vanhoye, Art. Hebräerbrief, in: TRE 14, 498: „Ohne die Bedeutung der paränetischen Absicht einer seelsorgerlichen Schrift abzuschwächen, bleibt doch festzustellen, daß die Paränese des Hebr sich auch seinem theologischen Anliegen einfügt, denn sie zielt vor allem auf die Annahme der Glaubensbotschaft“. Ähnlich auch J. Moffatt, Hebr, xxvii. 7 Vgl. hierzu auch, wenn auch mit einem etwas anderen Akzent, K. Backhaus, Bund, 70f.: „Zur Predigt gehört es indes, daß auch die nicht unmittelbar praktisch-zweckorientierten Passagen am Ende auf eine Veränderung des Deutungshorizonts und damit zugleich der Handlungsperspektive der Textadressaten gerichtet sind. Ferner können prima facie ‚theoretische‘ 6

Der Hebr als theoretische Reflexion

11

Vor der eigentlichen Textanalyse sind aber – im Rahmen einleitungswissenschaftlicher Vorklärungen – die Fragen nach Abfassungsort und Abfassungszeit dieser Epistel, die Frage nach ihrer Gliederung und ihrem Aufbau und, da es für die Frage nach ihrer textpragmatischen Situierung zumindest von Belang sein könnte8, insbesondere die – in der Forschung durchaus umstrittene – Frage nach der vorchristlich-religiösen Prägung der vom Verfasser des Hebr angeschriebenen Christen zu klären. Im Rahmen dieser letzten Fragestellung ist auch konkret zu untersuchen, ob es sich bei den Adressaten des Hebr um Juden- oder aber um Heidenchristen handelt.

Aussagen durchaus im unmittelbaren Dienst seelsorgerlicher Persuasion stehen. ... Praktische Schwäche ist durch theologische Besinnung zu meistern“. 8 Vgl. hierzu U. Schnelle, Einleitung, 447: „Wer hingegen die Frage nach der Herkunft der Gemeindeglieder [d.h. der Adressaten des Hebr] für nicht relevant hält, unterschätzt die Voraussetzungen für eine Rezeption der Theologie des Hebr auf Seiten der Adressaten“.

 

1.

Der Hebr – einleitungswissenschaftliche Vorbemerkungen

1.1

Abfassungsort und Abfassungszeit

Insbesondere aufgrund der Einlassungen des auctor ad Hebraeos in Hebr 13,23f. – hier v.a. aufgrund des mitgeteilten Grußes bzw. Grußauftrages ἀσπάζονται ὑμᾶς οἱ ἀπὸ τῆς Ἰταλίας in Hebr 13,24b – plädiert eine durchaus nicht unbeträchtliche Anzahl von Exegeten für die Abfassung des Hebr in Rom1, eine These, für die immer wieder auch die mögliche Aufnahme von Hebr 1,3–5.7.13 in 1Clem 36,2–52 und die Bezeichnung der Gemeindevorsteher als ἡγουμένοι bzw. προηγουμένοι (Hebr 13,7.17.24; 1Clem 1,3; 21,6), einem Terminus, der „in kirchlich-titularem Sinn … nur in Rom“3 belegt sei, ins Feld geführt werden4. Allerdings scheint die o.cit. Wendung eher eine römische Adresse des Hebr als einen römischen Abfassungsort dieser Epistel zu indizieren5, da auffällig ist, dass der auctor ad Hebraeos, schriebe er aus Rom, dann im Rahmen seines Grußauftrages dieses nicht auch explizit zum Ausdruck brächte, also etwa formulierte: ἀσπάζονται ὑμᾶς οἱ ἀπὸ τῆς Ῥώμης6. In jedem Falle indiziere sie jedoch „eine wie auch immer geartete Beziehung des Hebr zu Italien“7. Der Gruß oder Grußauftrag ἀσπάζονται ὑμᾶς οἱ ἀπὸ τῆς Ἰταλίας lässt sich nun allerdings durchaus unterschiedlich interpretieren8: (a) Diese Wendung stelle einen Gruß Vgl. hierzu etwa U. Schnelle, Einleitung, 445, A. 8. E. Gräßer, Hebr I, 22 macht insgesamt folgende Bezüge zwischen 1Clem und Hebr namhaft: 1Clem 36,2–5 – Hebr 1,3–5.7.13; 1Clem 36,1 – Hebr 2,18; 3,1; 1Clem 17,5;43,1 – Hebr 3,2.5; 1Clem 56,2–3.16 – Hebr 12,4–11. 3 K. Backhaus, Hebräerbrief, 198. Backhaus verweist hier auf 1Clem 1,3; 21,6 und Herm vis II 2,6; III 9,7. 4 Vgl. zu diesen Argumenten U. Schnelle, Einleitung, 445. 5 Vgl. hierzu K. Backhaus, Hebräerbrief, 197; vgl. hierzu auch m.R. U. Schnelle, Einleitung, 445: „Der Anspruch des Hebräerbriefes, in Rom geschrieben zu sein, kann auch als Indiz für einen anderen Herkunftsort gewertet werden, etwa aus dem Osten des Reiches“. 6 Vgl. hierzu bereits T. Zahn, Einleitung II, 147f.: „Aber befremdlich bleibt es in diesem Fall, dass er [d.h. der Verfasser des Hebr] die Christen seiner Umgebung nicht entweder als die um ihn befindlichen Brüder oder Heiligen oder als die Gemeinde des Orts, wo es sich aufhält [!] …, sondern stattdessen nach ihrer Herkunft als Leute aus Italien bezeichnet“. Zahn verweist in diesem Zusammenhang auf 1Petr 5,13. Diese Beobachtung Zahns gewinnt, wie der weitere Verlauf der Studie zeigt, durchaus einen erheblichen argumentationslogischen Wert (vgl. hierzu ausführlich u. 125f.) 7 K. Backhaus, Hebräerbrief, 197. 8 Vgl. hierzu auch, allerdings deutlich weniger ausdifferenziert, U. Schnelle, Einleitung, 445, A. 7. 1 2

Abfassungsort und Abfassungszeit

13

einer in Rom oder auch in der Ἰταλία ansässigen Gruppe dar, zu der der Verfasser des Hebr selbst ebenfalls zu zählen sei, eine Interpretation, die implizierte, dass der Verfasser des Hebr ebenfalls in Rom ansässig gewesen wäre und seine Epistel ebendort verfasst hätte. (b) Die Wendung sei zu verstehen als Grußauftrag einer in Rom oder auch in der Ἰταλία ansässigen Gruppe, zu der der Verfasser des Hebr, selbst ebenfalls in Rom oder der Ἰταλία zu verorten, unmittelbar allerdings nicht zu rechnen sei. Auch diese Deutung stütze die These einer römischen oder aber zumindest einer italischen Provenienz des Hebr. (c) Die Wendung müsse interpretiert werden als Gruß entweder einer in der Fremde ansässigen, ursprünglich jedoch aus Rom oder der Ἰταλία stammenden oder aber einer römischen bzw. italischen, zur Zeit der Abfassung des Hebr aber auf Reisen befindlichen Gruppe inclusive des Verfassers des Hebr, gerichtet an römische, italische9 oder aber auch gänzlich anderswo zu verortende Adressaten. Eine solche Interpretation trüge für die Frage nach dem Abfassungsort des Hebr nichts aus. (d) Die Wendung beschreibe einen Grußauftrag einer entweder aus Rom oder auch der Ἰταλία stammenden, nun aber in der Fremde ansässigen oder aber einer römischen oder italischen, sich zur Zeit der Abfassung des Briefes jedoch auf Reisen befindlichen Gruppe, den der Verfasser des Hebr, selbst nicht Mitglied derselben, an römische, italische oder aber gänzlich anderswo wohnhafte Adressaten ausrichte. Ein solches Verständnis hülfe im Blick auf die Frage nach dem Abfassungsort des Hebr ebenfalls nicht weiter.

Die übrigen o. bereits angesprochenen traditionsgeschichtlichen und sprachlichen Beobachtungen10 vermögen die Annahme der Lokalisierung der Adressaten in Rom in gleicher Weise zu untermauern wie auch Überlegungen zur äußeren Bezeugung des Hebr11, zu seiner textgeschichtlichen Überlieferung12 und zur Sozialstruktur der in ihm angeschriebenen Christen13. Daher steht – trotz hier letzten Endes natürlich nicht zu gewinnender letzter Sicherheit14 – durchaus mit

In diese Richtung denkt neben anderen etwa K. Backhaus, Hebräerbrief, 197: „Schon immer wurde beobachtet, dass der Gruß 13,24 am ehesten verständlich wird, wenn die ‚οἱ ἀπὸ τῆς Ἰταλίας‘ als profilierte Gruppierung, also wohl in der Fremde, ihre Landsleute in der italischen Heimat grüßen“. Zugunsten dieser separativen Deutung dieses Syntagmas verweist etwa K. Backhaus als weitere neutestamentliche Belege noch auf Mt 21,11; Joh 12,21 und Apg 6,9 (vgl. 197). 10 Über das bereits Ausgeführte weist K. Backhaus, Hebräerbrief, 198f. darauf hin, dass die in Hebr 6,10 vorfindliche captatio benevolentiae in ähnlicher Weise in „anderen nach Rom gerichteten Schreiben“ (196) wie etwa IgnRöm, Herm sim IX 27 und dem Brief des Dionysius von Korinth, überliefert bei Eusebios, hist.eccl. IV 23,9f., belegt ist. 11 Vgl. hierzu K. Backhaus, Hebräerbrief, 197f. 12 K. Backhaus, Hebräerbrief, 198 weist hier auf die in P46 bezeugte Einordnung des Hebr hinter den Röm und vor die beiden Korintherbriefe hin. 13 Vgl. hierzu K. Backhaus, Hebräerbrief, 199: „Soziokulturell ist jedenfalls angesichts des von Hebr vorausgesetzten Bildungsstandards an eine von großstädtischer Kultur beeinflusste Gemeinde zu denken“. 14 Vgl. hierzu nur die Ausführungen von A. Vanhoye, Art. Hebräerbrief, in: TRE 14, 496f. und die diesen Abschnitt beschließende Aufzählung. 9

14

Der Hebr – einleitungswissenschaftliche Vorbemerkungen

Grund zu vermuten, dass „der Hebr … mit hoher Wahrscheinlichkeit an die Gemeinde bzw. eine Gemeindegruppe in Rom gesandt worden“15 sei16. Bei alledem wird vorausgesetzt, dass der Verfasser des Hebr – zumindest in der primären Kommunikationssituation – einen konkreten Adressatenkreis im Blick gehabt hat17. Die Annahme, der Verfasser habe mit seinem Schreiben nicht nur eine konkrete Gemeinde oder Gemeindegruppe18, sondern die gesamte Kirche19 anreden wollen, scheitert nicht zuletzt an den auf eine konkrete Adressatenschaft bezogenen Ausführungen in Hebr 5,11–6,1220 und 13,22–2521.

Im Blick auf die Datierung dieser Epistel gehen die meisten Exegeten heute von einem Datum am Ende des ersten nachchristlichen Jahrhunderts aus, wobei der

K. Backhaus, Hebräerbrief, 196, der dies hier als These formuliert; diese These wird etwa akzeptiert von P. Pokorný/U. Heckel, Einleitung, 687. 16 Zu Hebr 10,32–34 und den dort thematisierten Bedrängnissen der Gemeinde, die der Annahme einer römischen Adresse des Hebr entgegenstehen könnten, vgl. K. Backhaus, Hebräerbrief, 199. Ob Hebr 10,32–34 auf die neronische Verfolgung zu beziehen ist, muss doch mehr als fraglich bleiben. Konkrete Textsignale lassen sich zugunsten dieser Annahme in jedem Falle nicht anführen. 17 Zur in dieser Studie zugrundegelegten gattungskritischen Einordnung des Hebr vgl. bereits o. 9 A. 3. 18 Vgl. hierzu W.L. Lane, Hebr I, liii: „The communication in Hebrews was prepared for a specific local group, who are distinguished from their leaders and from others with whom they form a Christian presence in that social setting“. Ähnlich H.-F. Weiß, Hebr, 75. Vgl hierzu auch ausführlich u. 121–123. 19 Vgl. hierzu neben anderen etwa M. Dibelius, Kultus, 161f.: „Der Verfasser blickt also bei seiner Mahnung nicht auf eine Gemeinde, deren besonderes Schicksal ihm am Herzen läge; er blickt auf das, was alle oder die meisten Gemeinden regelmäßig erleben: er blickt auf die K i r c h e “. 20 Zu diesem Abschnitt des Hebr vgl. etwa A. Strobel, Hebr, 130: „Der Verfasser hatte offenbar über den wenig erfreulichen Zustand der ihm näher bekannten Gemeinde Nachricht erhalten“. 21 M. Karrer, Hebr I, 99 stellt im Blick auf die Formulierung μεθ’οὖ [d.h. Timotheus] ἐὰν τάχιον ἔρχεται ὄψομαι ὑμᾶς Hebr 13,23 fest: „Die Kommensankündigung 13,23 löst im 1. Jh. nicht die vordringliche Erwartung eines einzelnen Adressatenortes aus, sondern ergibt sich aus der Konvention, ein schriftlicher Kontakt vertrete die direkte Begegnung, die folgen solle“. Selbst wenn dies zutrifft, so lässt doch der Hinweis ἀπάζονται ὑμᾶς οἱ ἀπὸ τῆς Ἰταλίας Hebr 13,24 kaum einen Zweifel daran, dass der Verfasser des Hebr bei der Abfassung seines Schreibens zumindest primär eine konkrete Adressatengruppe im Blick gehabt hat. Vgl. hierzu etwa H.-F. Weiß, Hebr, 38, der mit Blick auf Hebr 13,22–25 formuliert: „Dementsprechend ist der Hebr insgesamt als eine schriftlich fixierte ... ‚Rede‘ zu bezeichnen, die der Autor einem bestimmten Leserkreis zugesandt hat“. Zum Zusammenhang von Hebr 13,22–25 mit dem Rest des Hebr vgl. H. Hegermann, Hebr, 2: „Demnach ist der Hebr ein Brief, ein urchristlicher Verkündigungsbrief nach Art der Paulusbriefe“. U. Schnelle, Einleitung, 451 sieht in Hebr 13,22–25 ein „briefliches Begleitschreiben“, nach K. Backhaus, Hebräerbrief, 194–196 verweist Hebr 13,22–25 auf Kontakte zwischen dem Autor des Hebr und seinen Adressaten, H.-F. Weiß, Hebr, 761 sieht in diesem Abschnitt ein persönliches Begleitwort des Verfassers des Hebr. 15

Abfassungsort und Abfassungszeit

15

Hebr offensichtlich vor dem zwischen 96 und 100 n.Chr. datierten 1Clem22 entstanden sei23. Diese Datierung wird immer wieder mit dem vom Verfasser des Hebr betonten zeitlichen Abstand zwischen ihm und den Anfängen der Jesusüberlieferung24, mit der im Hebr angesprochenen „Erinnerung an die verstorbenen Gemeindeglieder“25 wie auch mit für die zweite Generation der Christen durchaus typischen Ermüdungserscheinungen26 begründet. Weitgehende Einigkeit besteht darüber hinaus darin, dass fehlende Hinweise auf die Zerstörung des Jerusalemer Tempels27 kaum als Beleg für eine Datierung des Hebr in die Zeit vor 70 n.Chr. gewertet werden können, da der Verfasser des Hebr in seiner Argumentation nicht auf die „kultische. Praxis, sondern … [lediglich deren] theologische. Deutung“28 abhebe und allein an der „abstrahierte[n] Reflexion“29, nicht aber am Jerusalemer Kultzentrum und dem dort praktizierten Opferkult als einer bestehenden Größe interessiert sei. Für die vorliegende Studie ist die Frage nach der präzisen Datierung des Hebr eher von geringerer Bedeutung; mit der Mehrheit der Forschung wird dessen Entstehung in die Zeit zwischen 80 und 90 n.Chr. angenommen30, wobei natürlich auch dessen noch spätere Ansetzung durchaus denkbar bleibt. Immerhin nämlich lassen sich die o. aufgelisteten traditionsgeschichtlichen Parallelen zwischen Hebr einer- und 1Clem und Herm andererseits31 durchaus auch vice versa interpretieren, d.h. im Sinne einer traditionsgeschichtlichen Abhängigkeit des Hebr von 1Clem und Herm, eine Annahme, die es erforderte, die Abfassung des Hebr später zu datieren als diejenigen von 1Clem und Herm.

Zu dem (möglichen) traditionsgeschichtlichen Zusammenhang zwischen beiden Schreiben, konkret zwischen Hebr 1,3f. und 1Clem 36,2–5 vgl. bereits o. 12. Immerhin schränken P. Pokorný/U. Heckel, Einleitung, 687, A. 236 ein: „Wenn es kein Zitat sein sollte, handelt es sich zumindest um eine gemeinsame Tradition“. Damit aber wäre auch eine spätere Datierung der Hebr ermöglicht. 23 Vgl. hierzu P. Pokorný/U. Heckel, Einleitung, 688 und auch U. Schnelle, Einleitung, 446. Anders hier F.F. Bruce, Hebr 22; A. Vanhoye, Art. Hebräerbrief, in: TRE 14, 497 und A. Strobel, Hebr, 11, die die Epistel vor bzw. um 70 n.Chr. datieren. In diese letzte Richtung denkt neuestens auch G. Gäbel; vgl. hierzu u. 24 Vgl. hierzu P. Pokorný/U. Heckel, Einleitung, 688, die in diesem Zusammenhang auf Hebr 2,3 verweisen. 25 P. Pokorný/U. Heckel, Einleitung, 688 mit Verweis auf Hebr 13,7. 26 Vgl. hierzu P. Pokorný/U. Heckel, Einleitung, 688. 27 M. Karrer, Hebr I, 97 sieht Hebr 8,13 als einen möglichen Hinweis auf die Zerstörung des Jerusalemer Heiligtums. 28 P. Pokorný/U. Heckel, Einleitung, 688. 29 M. Karrer, Hebr I, 97. 30 In diesem Sinne auch U. Schnelle, Einleitung, 446. 31 Vgl. hierzu o. 12. 22

16

Der Hebr – einleitungswissenschaftliche Vorbemerkungen In neuerer Zeit votiert G. Gäbel im Rahmen seiner kulttheologischen Interpretation des Hebr32 unter Hinweis auf Hebr 9,9f.33; 13,7–1734 für die Datierung der Abfassung des Hebr in die Zeit vor der Zerstörung des Jerusalemer Tempels und vor dem Ende des an ihm praktizierten Kultus, d.h. in die Zeit vor 70 n.Chr., wird in diesen beiden Texten doch ein „kritische[r] Bezug auf den irdischen Opferkult als eine bestehende Größe, die der Heilsaneignung durch Teilnahme am himmlischen Kult entgegensteht“, entwickelt35. Zunächst stellt Gäbel im Blick auf Hebr 9,9f. fest, dass hier mit dem καιρὸς ἐνεστηκώς und dem καιρὸς διορθώσεως zwei „gleichsam überlappende Zeiten geschildert [würden], in denen die Adressaten – als auf Erden lebende Menschen einerseits, als im himmlischen Jerusalem hinzugetretene Kultteilnehmer andererseits - existierten“36. Diese Argumentation setze angesichts der Bedeutung des irdischen Heiligtums und dessen στάσις für den Kult der πρώτη διαθήκη und den durch diesen bestimmten καιρὸς ἐνεστηκώς „den Bestand des irdischen Heiligtums und Kults voraus“37. Gegen die von G. Gäbel im Blick auf Hebr 9,9f. vorgelegte Deutung spricht – und dies unabhängig von der Frage, ob die Syntagmata καιρὸς ἐνεστηκώς und καιρὸς διορθώσεως, so wie Gäbel es vorschlägt, zwei überlappende oder zwei aufeinanderfolgende Zeitsegmente bzw. Äonen bezeichnen38 –, dass die Ausführungen in Hebr 9,8–10 insgesamt nun offensichtlich gerade nicht vom Jerusalemer Tempel und auch nicht von der Stadt Jerusalem als solcher, sondern von der Stiftshütte, der πρώτη σκηνή39, und dem an ihr praktizierten Kult sprechen. Diesen Einwand versucht Gäbel zu kontern, indem er einerseits darauf hinweist, dass die Textpragmatik des Hebr die Annahme eines zur Zeit der Abfassung desselben noch existierenden Jerusalemer Tempelkultes erfordere, der durchaus eine gewisse Anziehungskraft auf dessen Adressaten ausübe40. Andererseits macht er gelten, dass im Rahmen der von ihm untersuchten frühjüdischen tempel- und kulttheologischen Diskurse „der Rückgriff auf die Gründungszeiten des Kults ... ein[en] verbreitete[n] Topos der Kritik am je zeitgenössischen Jerusalemer Tempel und Kult [darstelle], wobei dieser Tempel und Kult selbst häufig nicht ausdrücklich erwähnt“41 würden. Schließlich erschlösse sich der Sinn der im

Vgl. zur Position von Gäbel auch U. Schnelle, Einleitung, 446, A. 11. Vgl. hierzu Kulttheologie, 485f. 34 Vgl. hierzu Kulttheologie, 486. 35 Kulttheologie, 485. 36 Kulttheologie, 485. 37 Kulttheologie, 485; im Anschluss formuliert Gäbel: „Die Rede von der στάσις des irdischen Heiligtums und des ihm entsprechenden irdischen Opferkults als Signatur des καιρὸς ἐνεστηκώς wäre nach der Zerstörung des Jerusalemer Tempels nicht möglich“ (485f.). 38 In letzterem Sinne etwa E. Gräßer, Glaube, 161f. und auch G. Theißen, Untersuchungen, 69f.; Theißen formuliert: „Man merkt, daß der Verfasser auf eine ganz bestimmte Deutung zusteuert. Ein Nebensatz spricht sie aus: das erste Zelt ist παραβολὴ εἰς τὸν καιρὸν τὸν ἐνεστηκότα, Symbol des gegenwärtigen Äons, der bald vergehen wird, um dem καιρὸς διορθώσεως Platz zu machen“ (69). 39 Auf diesen Sachverhalt ist immer wieder hingewiesen worden; vgl. hierzu etwa E. Gräßer, Hebr I, 25 und U. Schnelle, Einleitung, 446, ähnlich auch P. Pokorný/U. Heckel, Einleitung, 688. 40 Vgl. hierzu Kulttheologie, 486f.; mit diesem Hinweis scheint Gäbel zugleich andeuten zu wollen, dass die Adressaten des Hebr in der Gefahr stehen, wieder zu ihren jüdischen Wurzeln zurückkehren zu wollen. Dies hieße, dass der Abfassungszweck des Hebr darin bestünde, die Adressaten vor einer ‚jüdischen relapse‘ (vgl. hierzu auch u. 40–42) zu bewahren. 41 Kulttheologie, 487. 32 33

Abfassungsort und Abfassungszeit

17

Hebr vorliegenden Argumentation erst dann, „wenn man sie in den Kontext [der] ... frühjüdischen Tempel- und Kultkritik stellt“42. Dieser Konter muss aber letzten Endes ins Leere laufen, weil die diesem zugrundeliegende Argumentation voraussetzt, dass es sich bei den Adressaten des Hebr nahezu vollständig um eine jüdisch geprägte christliche Gruppe oder Gemeinschaft handele, „die [offensichtlich noch dazu unmittelbar] unter dem Eindruck irdischer opferkultischer Praxis stehen“43, somit also am wahrscheinlichsten in Jerusalem zu verorten wäre. Dieser Annahme widerraten jedoch einerseits die Verortung des Hebr in Italien bzw. in Rom und eben gerade nicht in Palästina44, andererseits auch die Ausführungen in Hebr 6,1bf.; 9,14, die sich, wenn überhaupt, so nur mit großer Mühe vor einem judenchristlichen Hintergrund interpretieren lassen45 und letzten Endes wohl das Postulat einer zumindest in ihrer Mehrheit heidenchristlich geprägten Adressatenschaft des Hebr erfordern46. Im Blick auf Hebr 13,7–17 möchte Gäbel den Begriff der παρεμβολή als Argument zugunsten der von ihm vorgeschlagenen Datierung des Hebr in Anschlag bringen. Dieser Terminus bezeichne „in frühjüdischer und rabbinischer Kulttheologie ... [den] Jerusalemer Tempel bzw. die Stadt Jerusalem“47, was bedeute, dass in dieser Passage des Hebr die παρεμβολή der Wüstenzeit mit dem Jerusalemer Tempel bzw. Jerusalem selbst gleichgesetzt werde, was seinerseits die Behauptung widerlege, „Hebr beziehe sich rein schriftgelehrt auf Traditionen über die Kultgründungszeit Israels, ohne auf das zeitgenössische Jerusalem als Kultort Bezug zu nehmen48“. Darüber hinaus sei in Hebr 13,9 auf die Teilnahme an irdischen Kultmählern, die offensichtlich mit dem Jerusalemer Tempel in Verbindung stehend zu denken seien, gedacht49. Kritisch gegenüber den Ausführungen Gäbels ist – unabhängig von der Frage, inwieweit die von ihm angeführten Nachweise zur Interpretation des Terminus παρεμβολή diese wirklich zu tragen vermögen – zunächst anzumerken, dass sich in Hebr 13,9 Kulttheologie, 487. Kulttheologie, 488; Gäbel selbst räumt ein, dass „diese Annahme ... in der Hebr-Exegese der letzten Jahrzehnte (zumindest in der deutschsprachigen), ..., nur mehr selten vertreten worden“ (488) sei. 44 Vgl. hierzu bereits o. 12–14. 45 Auch diesem Einwand versucht Gäbel zu begegnen, indem er vorschlägt, das Tun der ἔργα νεκρά als Abkehr von Gott zu interpretieren (Kulttheologie, 488), ein Vorschlag, der allerdings durch die Ausführungen in Hebr 9,14 ausgehebelt wird; hier nämlich wird die Vorstellung der Reinigung des Gewissens von den ἔργα νεκρά verknüpft mit dem Gedanken des unmittelbar an diese Reinigung anschließenden und aus dieser erwachsenden Dienstes für den θεὸς ζῶν. Diese Charakterisierung des nun neu zu verehrenden Gottes als ζῶν lässt das vorherige und nunmehr überwundene Tun der ἔργα νεκρά in einem heidnischen Licht erscheinen; vgl. hierzu auch ausführlich u. 26–37. Bemerkenswert ist, dass Gäbel in seinen Ausführungen auf Hebr 9,14 gerade nicht eingeht. 46 Vgl. hierzu auch ausführlich u. 26–37 und etwa U. Schnelle, Einleitung, 447, der auf weitere Vertreter dieser These verweist, selbst allerdings zur Vorsicht rät und für die Annahme einer gemischt heiden- und judenchristlich geprägten Adressatenschaft votiert: „Die Gemeinde setzte sich wahrscheinlich aus Heidenchristen und hellenistischen Judenchristen zusammen, für deren Glauben offenbar der im Hebr entfaltete Rückbezug auf das Alte Testament und dessen jüdisch-hellenistische Auslegungstraditionen von großer Bedeutung waren“. In diese Richtung denken auch P. Pokorný/U. Heckel, Einleitung, 687. 47 Kulttheologie, 486. 48 Kulttheologie, 486. 49 Vgl. hierzu Kulttheologie, 486. 42 43

18

Der Hebr – einleitungswissenschaftliche Vorbemerkungen keinerlei Textsignale finden lassen, die das hier Ausgeführte auch nur im Ansatz mit am Jerusalemer Tempel abgehaltenen oder auf diesen in irgendeiner Form bezogenen Kultmahlzeiten in Verbindung bringen könnten. Allenfalls ließe sich Hebr 13,1050, dann aber lediglich via negativa, in diesem Sinne interpretieren; hier geht es nämlich nicht um einen Opferaltar im Jerusalemer Tempel, sondern um das θυσιαστήριον der christlichen Adressaten des Hebr51. Darüber hinaus erforderten die Ausführungen in Hebr 13,13 – hier werden die Adressaten des Hebr aufgefordert, die παρεμβολή zu verlassen: τοίνυν ἐξερχώμεθα πρὸς αὐτὸν ἔξω τῆς παρεμβολῆς τὸν ὀνειδισμὸν αὐτοῦ φέροντες –, sollen sie, wie die von Gäbel propagierte Interpretation des παρεμβολή-Begriffs es notwendig macht, wörtlich und nicht metaphorisch verstanden werden, die Annahme, die Adressaten des Hebr, sämtlich Judenchristen, hielten sich in Jerusalem auf, eine These, die sich letzten Endes in Sonderheit auch in dieser extremen Zuspitzung nicht aufrechterhalten lässt und auch in der Literatur nicht vertreten wird52. Schließlich ist keinesfalls mit Notwendigkeit anzunehmen, dass sich der in Hebr 13,11.13 begegnende Terminus παρεμβολή mit Notwendigkeit auf die real existierende Stadt Jerusalem und einen noch real existierenden Tempel beziehen muss. Durchaus denkbar ist, diese Aufforderung metaphorisch oder metonymisch im Sinne einer „Scheidung von der irdischen Welt und dem irdischen Wesen überhaupt“53 zu verstehen Die Diskussion der von G. Gäbel formulierten Erwägungen zur Datierung der Abfassung des Hebr hat gezeigt, dass eine Datierung der Abfassung dieser Epistel in die Zeit vor 70 n.Chr. und der Bezug der in ihm vorfindlichen Aussagen auf einen zur Zeit seiner Abfassung noch real existierenden und bedeutsamen Jerusalemer Tempelkult einerseits mit der Annahme einer explizit jüdisch-kultisch geprägten und interessierten Adressatenschaft des Hebr54, andererseits mit der Annahme von Jerusalem als Aufenthaltsort eben dieser Adressatenschaft einhergehen muss55, zwei Annahmen, die sich aus durchaus unterschiedlichen Gründen kaum aufrechterhalten lassen. Das aber heißt, dass sich die These einer Abfassung des Hebr vor 70 bzw. – eigentlich – vor 66 n.Chr. letzten Endes kaum wahrscheinlich machen lässt.

Zur Hebr 13,10 als einem gegenüber Hebr 13,9 entwickelten argumentationslogischen Neuansatz vgl. etwa H.-F. Weiß, Hebr, 732, A. 58 mit Verweis auf J.E.L. Oulton. 51 Vgl. hierzu etwa H.-F. Weiß, Hebr, 722: „Als solche aber haben sie nicht die Vollmacht, von dem (Opfer-)Altar zu essen, den ‚wir‘, die Christen, ‚haben‘“. 52 Vgl. hierzu o. 12–14. 53 H. Windisch, Hebr, 119; Windisch formuliert im Vorgang zu dem o. Zitat: „Der Verfasser meint aber weder die Auswanderung aus Jerusalem ... noch Trennung von der jüdischen Gemeinde, insbesondere von ihren Mahlgemeinschaften, ...“. Vgl. hierzu auch u. 26–37. 54 Vgl. zu diesem Gesichtspunkt auch G. Gelardini, Herzen, 88–91, die auf der Basis der Einbettung des Religionsbegriffs in einen Ethnizitätsdiskurs im Blick auf die Adressaten des Hebr von Angehörigen einer jüdisch-christlichen Ethnie ausgeht, eine These, mit der sie auf die Frage, ob es sich bei jenen um Juden- oder Heidenchristen handelte, allerdings letzten Endes eine Antwort schuldig bleiben muss. 55 Dies hat derjenige, der dem Hebr die inscriptio πρὸς Ἑβραίους voranstellte, durchaus richtig erkannt; zu dieser inscriptio vgl. auch ausführlich u. 28 und etwa H.-F. Weiß, Hebr, 67–69. 50

Die Gliederung des Hebr

1.2

19

Die Gliederung des Hebr

In der exegetischen Forschung der Gegenwart wird der Hebr allermeist in drei oder aber in fünf Hauptteile untergliedert. Ein Beispiel für die Dreiteilung des Hebr bietet der von H.-F. Weiß vorgelegte Gliederungsvorschlag56. Der erste Hauptteil, der nach Weiß Hebr 1,1–4,13 umfasst, hat ihm zufolge „die Funktion einer Grundlegung und Hinführung der Leser zum eigentlichen Thema“57. Innerhalb dieses ersten Hauptteils unterscheidet Weiß folgende Einzelabschnitte: Hebr 1,1–4 als das Exordium, Hebr 1,5–14 als dessen Entfaltung in eine bestimmte Richtung, Hebr 2,1–4 als eine an die Leser gerichtete kurze Ermahnung, Hebr 2,5–18 als eine „erste lehrhafte Darlegung, an deren Ende zum ersten Mal der Titel des ‚Hohenpriesters‘ auftaucht“58, Hebr 3,1–6 als eine an diese Darlegung im Sinne einer Schlussfolgerung anschließenden, nun zweiten Paränese, die dann in Hebr 3,7–4,13 in die Aufforderung zum Festhalten am Bekenntnis und zum Hören auf das Wort Gottes einmünde. Hebr 4,14–16 versteht Weiß als einen „Schlüsseltext“59, der einerseits an die Paränese Hebr 3,1–6 anknüpfe, andererseits aber auch zum folgenden zweiten Hauptteil überleite60. Im zweiten Hauptteil seines Briefes, dem Abschnitt Hebr 5,1–10,18, greife der Verfasser des Hebr nach Weiß die in Hebr 4,14–16 zugespitzt formulierte Thematik auf und führe hier aus, „was das heißt, ‚einen großen Hohenpriester zu haben‘ ([Hebr] 4,14)“61. Im Einzelnen gliedert Weiß diesen zweiten Hauptteil

56 Zu diesem Gliederungsvorschlag vgl. insgesamt H.-F. Weiß, Hebr, 42ff. In der deutschsprachigen exegetischen Forschung wird mehrheitlich die Dreiteilung des Hebr vertreten; vgl. hierzu etwa auch E. Gräßer, Hebr I, 28–30 und U. Schnelle, Einleitung, 448–450. 57 Hebr, 49. Hierbei versteht Weiß Hebr 1,1f. und 4,12f. als inclusio des gesamten ersten Hauptteils. 58 Hebr, 49. 59 Hebr, 49; vgl. hierzu auch 48: „Für die Frage nach der Komposition des Hebr hat sich somit der Ansatz bei [Hebr] 4,14–16 ... als fruchtbar für ein Gesamtverständnis des Hebr als ‚Trost- und Mahnrede‘ im Sinne von Hebr 13,22 erwiesen“. Der Passage Hebr 4,14–16 korrespondieren nach Weiß einerseits die Perikope Hebr 3,1–6 und andererseits der Abschnitt Hebr 10,19ff; in Hebr 3,1–6 „finden sich in auffälliger Häufung bestimmte Stichwörter, die auch für [Hebr] 4,14–16 und 10,19ff bestimmend sind“ (48). 60 Hebr, 50. Nach Weiß zeichnet sich „in der Abfolge [Hebr] 3,1–6 – 4,14–16 – 10,19ff ein ganz bestimmtes Vorgehen des Autors des Hebr ab, und zwar in dem Sinne, dass er sich der Auslegung des (überlieferten) Bekenntnisses im Sinn der im zweiten Hauptteil entfalteten Hohenpriester-Christologie gleichsam schrittweise annähert: über 3,1ff hin zu 4,14–16, um dann endlich im dritten Teil (10,19ff) auf des Basis der zuvor erfolgten Aktualisierung des traditionellen Gemeindebekenntnisses die Adressaten zum Festbleiben im Glauben (und damit auch zum Festhalten am Bekenntnis!) aufzurufen“ (49). 61 Hebr, 50.

20

Der Hebr – einleitungswissenschaftliche Vorbemerkungen

folgendermaßen: Hebr 5,1–10 stelle eine erste lehrmäßige Grundlegung62 dar, auf die dann in Hebr 5,11–6,20 eine ausführliche Paränese folge. In Hebr 6,19f. greife der Verfasser des Hebr dann sein Hauptthema, die Hohepriester-Christologie, wieder auf und entfalte sie in Hebr 7,1–10,18, der „zentralen Sektion“63 des gesamten Schreibens. Diese „zentrale Sektion“ Hebr 7,1–10,18 gliedert Weiß im Inhaltsverzeichnis64 seines Kommentars zunächst in zwei Unterabschnitte auf: Hebr 7,1–28: Der Hohepriester ‚nach der Ordnung des Melchisedek‘, und: Hebr 8,1–10,18: Der Priesterdienst der neuen Heilsordnung. Diese beiden Unterabschnitte werden dann noch weiter unterteilt: Hebr 7,1–3: Vorstellung der Gestalt des Melchisedek, Hebr 7,4–10: Die Überlegenheit des Priestertums ‚nach der Ordnung des Melchisedek‘ gegenüber Abraham und dem levitischen Priestertum, Hebr 7,11–19: Die Nutzlosigkeit des aaronitisch-levitischen Priestertums, Hebr 7,20–28: Die Überlegenheit des neuen Priestertums, bzw.: Hebr 8,1–6: Der alte und der neue Priesterdienst (Exposition), Hebr 8,7–13: Die alte und die neue Heilsordnung, Hebr 9,1–10: Heiligtum und Priesterdienst der ersten Heilsordnung, Hebr 9,11–14: Grundlegung und Ertrag der neuen Heilsordnung, Hebr 9,15–23: Die Notwendigkeit des Todes des Mittlers der neuen Heilsordnung, Hebr 9,24–28: Perspektiven des Priestertums am himmlischen Heiligtum, Hebr 10,1–18: Die endgültige Wirksamkeit des Opfers Christi65.

Im dritten Hauptteil des Hebr, den Kapiteln Hebr 10,19–13,21, entfalte der Verfasser des Hebr im Anschluss an seine die Lehre betreffenden Ausführungen in Hebr 7,1ff. dann deren paränetische Konsequenzen, konkret die Mahnung zum Glauben. Hebr 10,19–12,29 seien zunächst auf „die besondere Glaubensanfechtung“66 seiner Adressaten ausgerichtet, in Hebr 13,1ff. handele er über Aspekte einer „generell-grundsätzliche[n] Paränese“67. Dieser dritte Hauptteil werde durch eine Doxologie, Hebr 13,20f., abgeschlossen, auf die dann mit Hebr 13,22– 25 noch ein „stilgerechter Briefschluß“68 folge. Gleichsam zusammenfassend folgert Weiß: „Mit alledem ergibt sich für die drei Hauptteile des Hebr in ihrer Abfolge ein bestimmtes Gefälle, das dem traditionellen Schema der ‚Mahnrede‘ bzw. ‚Mahnpredigt‘ insofern entspricht, als dadurch die Adressaten erneut zum Hören von Gottes Wort ([Hebr] 1,1–4,13), weiter zum rechten Bekennen des

62 Nach H.-F. Weiß wird in dieser Grundlegung „das überlieferte Bekenntnis zum ‚Sohn Gottes‘ in eine Beziehung zu seiner Auslegung in Gestalt einer ‚Hohenpriester‘-Christologie gesetzt“ (Hebr, 50). 63 Hebr, 50. 64 Vgl. zum Folgenden Hebr, 8f. 65 Der Abschnitt Hebr 10,1–18 wird von H.-F. Weiß noch weiter untergliedert: Hebr 10,1–4: Das Unvermögen der auf dem Nomos basierenden Kultordnung, Hebr 10,5–10: Der christologische Grund der Negation des alten Opferkults, Hebr 10,11–18: Das einmalige Opfer Christi und seine für immer gültige Wirkung (vgl. Hebr, 9). 66 Hebr, 50. 67 Hebr, 50. 68 Hebr, 50.

Die Gliederung des Hebr

21

Glaubens (5,1–10,18) und auf dieser Grundlage schließlich zur Bewährung des Gehorsams des Glaubens (10,19–13,21) veranlaßt werden sollen“69. Dem Inhaltsverzeichnis seines Kommentars70 zufolge setzt sich dieser dritte Hauptteil nach Weiß aus folgenden Unterabschnitten zusammen: Hebr 10,19–39: Einleitung der Glaubensparaklese, Hebr 11,1–40: Das Glaubenszeugnis der Alten, Hebr 12,1–29: Ausführungen der Glaubensmahnung, Hebr 13,1–17: Die Gestalt des gottwohlgefälligen Gottesdienstes, Hebr 13,18–25: Der Briefschluss. Diese vier Unterabschnitte werden dann noch weiter ausdifferenziert: Hebr 10,19–25: Aufforderung zur Wahrnehmung der ‚im Blut Jesu‘ begründeten παρρησία, Hebr 10,26–31: Warnung vor dem Zornesgericht Gottes, Hebr 10,32–39: Erinnerung an den früheren Glaubensstand, Hebr 11,1f.: Das Wesen des Glaubens (Einleitung), Hebr 11,3–7: Die Glaubenszeugen der Urzeit, Hebr 11,8–22: Das Glaubenszeugnis der Patriarchen, Hebr 11,23– 31: Das Glaubenszeugnis in der Geschichte des Mose und des Volkes Israel, Hebr 11,32–40: Das Glaubenszeugnis der Alten und die Vollendung des Gottesvolkes, Hebr 12,1–3: Glaube als Geduld im Leiden – unter christologischem Aspekt, Hebr 12,4–13: Glaube als Geduld im Leiden – unter weisheitstheologischem Aspekt, Hebr 12,14–17: Mahnung zur Wahrnehmung der Verantwortung füreinander, Hebr 12,18–24: Der Heilsstand der Christen (Sinai-Zions-Typologie), Hebr 12,25–29: Anwendung der Sinai-Zions-Typologie im Stile einer Gerichtsparänese, Hebr 13,1–6: Generelle Mahnungen für das Verhalten der Christen, Hebr 13,7–17: Christologische Vertiefung der Mahnung zum gottwohlgefälligen Gottesdienst, Hebr 13,18–21: Mahnung zu Fürbitte und Segenswunsch71, Hebr 13,22–25: Persönliches Begleitwort.

Kritisch gegenüber dem von Weiß vorgelegten dreiteiligen Gliederungsvorschlag ist anzumerken, dass er die Tendenz enthält, den außerordentlich differenzierten literarischen Aufbau des Hebr gliederungsschematisch einzuebnen. So vermag er etwa dem Sachverhalt, dass der Verfasser des Hebr bereits im ersten Hauptteil in paränetischen Abschnitten von durchaus signifikantem Umfang, nämlich in Hebr 2,1–4; 3,1–6 und auch 4,1–13, seine Leser zum Glaubensgehorsam ermahnt72, nicht angemessen gerecht zu werden73. Als Beispiel für eine Fünfteilung des Hebr mag der in der exegetischen Forschung zum Hebr vielbeachtete Gliederungsvorschlag A. Vanhoyes dienen, der

Hebr, 49; hierbei verweist Weiß explizit u.a. auf W. Nauck, Aufbau, 204–206. Vgl. hierzu Hebr, 9f. 71 Hier zeigt sich eine Inkongruenz innerhalb der von Weiß vorgelegten Gliederungssystematik. Während er im Rahmen der Diskussion seines Gliederungsvorschlags die Doxologie Hebr 13,20f. als separates Element nennt (vgl. hierzu o. 20), wird sie in seinem Inhaltsverzeichnis unter dem Stichwort: „Hebr 13,18–21: Mahnung zur Fürbitte und Segenswunsch“ subsumiert (vgl. hierzu o. 19, A. 56). 72 Vgl. hierzu bereits E. Gräßer, Hebr I, 28. 73 Zu dieser Kritik vgl. auch M. Karrer, Hebr I, 72; nach Karrer scheint das etwa von H.-F. Weiß und auch W. Nauck vertretene dreiteilige Gliederungsschema des Hebr „manchmal doch zu zielgerichtet“. Ähnlich auch H.W. Attridge, Hebr, 15: „A more serious problem with a simple tripartite scheme is that it does little to illuminate the complex interrelationships of sections within the text“. 69 70

22

Der Hebr – einleitungswissenschaftliche Vorbemerkungen

letzten Endes auf fünf von ihm zuvor benannten literarischen Kriterien basiert74. Nach Vanhoye folgt auf die Einleitung Hebr 1,1–4 der erste Hauptteil Hebr 1,5– 2,18, in dem der Vergleich Jesu mit den Engeln im Vordergrund steht. Daran schließt sich der zweite Hauptteil, Hebr 3,1–5,10, an; hier handelt der Verfasser des Hebr in einem ersten Unterabschnitt, Hebr 3,1–4,14, über die Treue Jesu, in einem zweiten Unterabschnitt, Hebr 4,15–5,10, über Jesus als den mitleidenden Hohenpriester. Der dritte Hauptteil des Hebr, Hebr 5,11–10,39, wird eingeleitet von einer „exhortation préliminaire“75 (Hebr 5,11–6,20) und beschlossen von einer „exhortation finale“76 (Hebr 10,19–39). Zwischen diesen beiden „exhortations“ verzeichnet Vanhoye drei Abschnitte, Hebr 7,1–28, Hebr 8,1–9,28, den s.E. zentralen Teil des Briefes insgesamt, und Hebr 10,1–18, in denen es um die Heilswirksamkeit und das Heilshandeln des ἀρχιερεύς Jesus geht. Der vierte Hauptteil umfasst Hebr 11,1–12,13 und besteht nach Vanhoye aus zwei Unterabschnitten, Hebr 11,1–40, lehrhaften Ausführungen über den Glauben der Väter, und Hebr 12,1–13, einem paränetischen Abschnitt über die Notwendigkeit zur Standhaftigkeit. In seinem fünften Hauptteil, Hebr 12,14–13,19, handelt der Verfasser des Hebr über die „fruit pacifique de justice“77. Abgerundet wird das Corpus des Briefes durch eine „conclusion de l’épître“78 Hebr 13,20f., auf die dann noch ein „finale épistolaire“79 (Hebr 13,22–25) folgt. Bemerkenswert ist nun, dass Vanhoye sowohl die fünf Hauptteile als auch deren jeweilige Unterabschnitte nicht einfach als aufeinander folgend und in Reihe aneinander anschließend, sondern im Rahmen einer „symétrie concentrique“80 verbunden und chiastisch aufeinander bezogen sieht. Folgende von Vanhoye selbst entwickelte tabellarische Übersicht81 vermag seine Sicht der Dinge zureichend zu verdeutlichen: Vgl. hierzu Structure, 37: „… en vue de déterminer avec plus de sûreté les grandes divisions, nous nous proposons d’examiner l’Épître d’un bout à l’autre, méthodiquement, et de réunir un grand nombre d’indices littéraires identifiés avec précision“; als Kriterien gibt Vanhoye konkret folgende an: „l’annonce du sujet, qui précède et prépare un développement à venir“, „les mots-crochets, qui, formant suture, marquent la fin du développement en cours et le début du nouveau développement“, „le genre (exposé ou parénèse), qui impose sa tonalité à l’ensemble du développement“, „les termes caractéristiques, qui lui confèrent sa physionomie distincte“, und „les inclusions ..., ce procédé qui consiste à reprendre à la fin d’un passage donné un terme ou une formule utilisés en son début et qui indique donc de manière très concrète les limites du développement“. Zur allgemeinen Verbreitung dieser Kriterien in der antiken Literatur vgl. 37, A. 1. 75 Structure, 59. 76 Structure, 59. 77 Structure, 59. 78 Structure, 217. 79 Vgl. hierzu Structure, 219: „Après l’amen qui met un point final au discours [d.h. Hebr 13,20f.], le ton change complètement; de la solennité du style oratoire, nous passons à la simplicité du style épistolaire“. 80 Vgl. hierzu Structure, 60ff. 81 Zu dieser tabellarischen Übersicht vgl. Structure, 59. 74

Die Gliederung des Hebr

division a I II

A

II

B

III

p

III A III

Hebr 1,1–4 Hebr 1,5– 2,18 Hebr 3,1– 4,14 Hebr 4,15– 5,10 Hebr 5,11– 6,20 Hebr 7,1–28

B Hebr 8,1– 9,28 III C Hebr 10,1–18 III f Hebr 10,19– 39 IV A Hebr 11,1–40 IV B Hebr 12,1–13 V Hebr 12,14– 13,19 z Hebr 13,20f.

sujet introduction le nom bien autre que celui des anges Jésus, fidèle

genre dominant

23

section homologue

doctrine

z V

parénèse

IV B

doctrine

IV A

parénèse

III f

Jésus, grand-prêtre selon l’ordre de Melchisédech arrivé à l’accomplissement

doctrine

III C

doctrine

centre

cause d’un salut éternel exhortation finale

doctrine parénèse

III A III p

la foi des anciens l’endurance nécessaire le fruit pacifique de justice

doctrine parénèse parénèse

II B II A I

Jésus, grand-prêtre compatissant exhortation préliminaire

conclusion

a

Dieser sehr weitgehend ausdifferenzierte Gliederungsvorschlag A. Vanhoyes wird den „complex interrelationships of sections within the text“82 offensichtlich weit besser gerecht als das dreigliedrige Gliederungsschema, enthält jedoch seinerseits auch deutliche Schwächen: (a) Es bleibt zu fragen, ob diese „höchst artifizielle Komposition für den normalen – um nicht zu sagen: naiven – Leser aus dem Hebr tatsächlich ohne Schwierigkeiten ablesbar war“83. (b) Die von Vanhoye vorgenommene Aufspaltung des Abschnitts Hebr 4,14– 16 lässt sich angesichts des inhaltlich-sachlichen Zusammenhangs dieser Verse exegetisch nur schwerlich nachvollziehen84. Werden nun beide Gliederungsvorschläge miteinander verglichen, so ergibt sich trotz aller Differenzen zumindest eine signifikante Gemeinsamkeit: Sowohl innerhalb des etwa von Weiß vorgeschlagenen dreigliedrigen Gliederungsschemas85 als auch im Rahmen der etwa von Vanhoye entwickelten Fünfteilung des Vgl. hierzu H.W. Attridge, Hebr, 15; vgl. auch bereits o. 21, A. 73. H.-F. Weiß, Hebr, 46. 84 Zur Kritik an dem Einschnitt zwischen Hebr 4,14 und 4,15 vgl. etwa M. Karrer, Hebr I, 73: „[Hebr] 4,14–16 sind schwer auseinanderzureißen und korrespondieren 10,19ff.; die Einteilung des 2. und 3. Teils im fünfgliedrigen Schema wird fraglich“. Diese Kritik hat etwa H.W. Attridge, Hebr, 17 aufgenommen; er ändert die Einteilung des zweiten Teils in Hebr 3,1–4,13 und 4,14– 5,10. 85 Vgl. hierzu o. 19f. 82 83

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Der Hebr – einleitungswissenschaftliche Vorbemerkungen

Hebr nimmt der lehrhafte Teil Hebr 8,1–9,28 die zentrale Position innerhalb des gesamten Briefes ein86. Damit aber scheint – und dies sei hier in aller Vorsicht angemerkt – indiziert zu sein, dass es dem Verfasser des Hebr keinesfalls nur oder primär darum gegangen ist, seine Adressaten zu ermahnen und Defizite innerhalb der ethischen Praxis ihres Glaubenslebens zu korrigieren. Vielmehr kam es ihm offensichtlich zunächst entscheidend darauf an, ihnen neue Lehrinhalte zu vermitteln, aus denen natürlich dann auch paränetische bzw. glaubenspraktische Konsequenzen abzuleiten sind87. Dies wiederum bestätigt die o. im Rahmen der Einleitung bereits formulierte Forderung88, dass innerhalb der Frage nach der textpragmatischen Situierung des Hebr nun eben nicht nur dessen im engeren Sinne paränetische Abschnitte, sondern gerade auch dessen lehrhafte bzw. dessen über die Lehre und deren Inhalte metatheoretisch reflektierende Partien, im Grunde genommen allein schon die Tatsache der bloßen Existenz derselben, von erheblicher Relevanz zu sein scheinen89. Diese Beobachtung wird bestätigt durch von K. Backhaus vorgelegte Überlegungen zur rhetorischen Disposition des Hebr. Backhaus sieht im Hebr folgende rhetorische Struktur: das exordium umfasse Hebr 1,1–4, Hebr 1,5–4,13 bilde den ersten Teil, die narratio, die argumentatio beginne in Hebr 4,14 und bestehe aus der propositio (Hebr 4,14–16), einem thematischen Abschnitt, der sich mit der Menschlichkeit des Hohenpriesters Jesus beschäftige (Hebr 4,14–5,10), einem daran anschließenden paränetischen Exkurs (Hebr 5,11–6,20), einem zweiten thematischen Abschnitt, in dem es um das Amt des Hohenpriesters Jesus gehe (Hebr 7,1–28), sowie einem dritten thematischen Block, dem κεφάλαιον, in dem der Verfasser des Hebr über den Dienst des Hohenpriesters Jesus handele (Hebr 8,1–10,18). Auf die argumentatio folge in Hebr 10,19– 13,21 dann die peroratio, in der der Aspekt der ‚Frucht des Glaubens‘ reflektiert werde.

86 Ähnlich etwa auch H. Hegermann, Hebr, 5: „Die eigentliche Lehre für Gereifte folgt nun in Hebr. 7,1–10,18“; auch H.W. Attridge, Hebr, 18 spricht im Blick auf Hebr 7,1–10,18 vom „central movement of Hebrews“. 87 Dies nötigt dazu, das Votum O. Michels, Hebr, 27: „Die Spitze des theologischen Gedankens liegt in den paränetischen Teilen, die den Hörer zum Gehorsam aufrufen und die Gemeinde zum Leiden bereit machen“, zumindest zu relativieren. 88 Vgl. hierzu o. 19. 89 Vgl. hierzu auch deutlich A. Vanhoye, Structure, 256: „Ce n’est donc pas l’exposé qui dépend de la parénèse, mais la parénèse qui s’appuie sur l’exposé“. Mit dieser Feststellung ist auch die von E. Gräßer, Hebr I, 28 zur Frage der Gliederung des Hebr vermerkte Problematik, wenn nicht vorentschieden, so doch zumindest in eine bestimmte Richtung aufgelöst; Gräßer merkt an: „Strittig war und ist dagegen noch immer die Abgrenzung der einzelnen Gedankenkreise innerhalb des Gesamtaufrisses wie das die kunstvolle Komposition bestimmende Prinzip überhaupt. Bei dieser Frage stehen dann theologische Entscheidungen von beträchtlichem Gewicht an, sofern mit der jeweiligen Antwort über die theologische Absicht des Hebr als Ganzen befunden wird“. Wenn nun davon ausgegangen werden kann, dass Hebr 7,1–10,18 bzw. Hebr 8f. das Zentrum des Hebr bzw. der in ihm entwickelten Argumentation darstellen, folgt daraus im Blick auf die theologische Absicht des Verfassers, dass er nicht nur die Glaubenspraxis seiner Adressaten korrigieren, sondern auch deren theologisch-theoretisches Fundament zumindest entscheidend ergänzen wollte.

Die Gliederung des Hebr

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Abgeschlossen werde der Brief von einem Postskript (Hebr 13,22–25)90. Nach Backhaus liegt „das Zentrum der Reflexion ... in der sorgfältig komponierten Beschreibung des hohepriesterlichen Heilswerks Jesu [Hebr] 8,1–10,18“91; auch die von Backhaus vorgelegten Überlegungen zur rhetorischen Disposition des Hebr weisen der lehrhaften Passage Hebr (7)8–10,18 demzufolge eine zentrale Bedeutung für den Hebr insgesamt zu.

Im Blick auf die in der vorliegenden Studie zu untersuchende Fragestellung lässt in Sonderheit der von A. Vanhoye vorgelegte Gliederungsvorschlag klar und eindeutig erkennen, dass der Passage Hebr 5,11–6,20, mit der ihm zufolge der dritte Hauptabschnitt des Hebr beginnt92 und die von ihm mit gutem Grund mit dem Titel „exhortation préliminaire“, „[auf den Brief insgesamt] vorbereitende Ermahnung“ versehen worden ist93, womöglich zwar nicht für argumentationslogische Struktur der theologischen Konzeption des auctor ad Hebraeos in ihrer Gesamtheit – deren Zentrum sieht A. Vanhoye in Hebr 8,1–9,28 –, sehr wohl aber für die Frage der textpragmatischen Situierung dieser Epistel augenscheinlich eine entscheidende Bedeutung zukommt. Das aber heißt: Eine unter der Frage nach dessen textpragmatischer Situierung vorzunehmende Analyse des Hebr nähme sinnvollerweise ihren Anfang mit der Exegese und der Interpretation eben dieser „exhortation préliminaire“94, dieser „[auf den Brief insgesamt] vorbereitenden Ermahnung“ Hebr 5,11–6,20. Diese Annahme wird gestützt durch eine nach rhetorischen Gesichtspunkten durchgeführte Gliederung des Hebr, die C.R. Koester vorgelegt hat. Nach Koester sei Hebr wie folgt zu gliedern: Das exordium umfasse Hebr 1,1–2,4, die propositio Hebr 2,5–9, die argumentatio Hebr 2,10–12,27, die peroratio schließlich Hebr 12,28–13,21. Hebr 13,22– 25 stelle ein briefliches postscriptum dar95. Die argumentatio untergliedere sich in drei Argumentationsreihen; die erste umfasse die Passage Hebr 2,10–6,20 und sei überschrieben mit „Jesus received glory through faithful suffering – a way that others are called to follow“96, die zweite umfasse den Abschnitt Hebr 7,1–10,39 und trage den Zu der von Backhaus entwickelten rhetorischen Disposition vgl. insgesamt Neuer Bund, 55–64, zusammenfassend 63. 91 Neuer Bund, 64. 92 Vgl. hierzu auch die Strukturanalyse von C. Marcheselli-Casale, Hebr, 87f., der, hier A. Vanhoye durchaus entsprechend, den dritten Hauptabschnitt des Hebr mit Hebr 5,11–6,12 beginnen lässt; ähnlich hier auch L. Dussaut, Histoire, 5–13. 93 Vgl. zu dieser herausgehobenen Position der Passage Hebr 5,11–6,20 auch die Gliederung von E. Gräßer, Hebr I, 29; Gräßer zufolge stelle diese Passage „die Vorbereitung auf den [mit Hebr 7,1 beginnenden] Christus-Logos dar. Das aber heißt: Wenn überhaupt irgendwo im Hebr, dann wird die rhetorische Situation seiner Adressaten sicherlich in dieser digressiven (vgl. zum rhetorischen Topos der παρέκβασις bzw. digressio ausführlich u. 142f.) Passage thematisiert. Gräßer hier durchaus ähnlich C.R. Koester, Hebr, 83–86, in Sonderheit 84f.; Koesters rhetorisch akzentuierter Gliederung zufolge bestehe die innerhalb des Hebr vorliegende demonstratio (Hebr 2,10–12,27) aus drei Argumentationsreihen, deren erste mit Hebr 5,11–6,20 abgeschlossen werde. Vgl. hierzu auch die von K. Backhaus vorgelegte Disposition des Hebr o. 94 Vgl. hierzu auch u. 66. 95 Vgl. hierzu Hebr, ix–xii. 96 Hebr, ix. 90

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Der Hebr – einleitungswissenschaftliche Vorbemerkungen Titel „Jesus‘ suffering is the sacrifice that enables others to approach God“97, die dritte umfasse dann die Sektion Hebr 10,39–12,27 und sei zu betiteln mit „God’s people persevere through suffering to glory by faith“98. An herausgehobener Stelle, nämlich am Schluss der ersten Argumentationsreihe finde sich nach Koester die erste, von Hebr 5,11–6,20 reichende „Transitional digression: Warning and encouragement“99, die erste digressio100 also, in der der auctor ad Hebraeos aus seiner argumentationslogischen Struktur ausschert und in einem Exkurs die Adressaten seiner Epistel unmittelbar anspricht. Auch diese nach rhetorischen Gesichtspunkten durchgeführte Gliederung lässt somit die die Ausnahmestellung der Ausführungen in Hebr 5,11–6,20 und damit zugleich auch deren Bedeutsamkeit für die in der vorliegenden Studie verhandelte Frage nach der textpragmatischen Situierung des Hebr klar erkennen101.

1.3

Die Adressaten des Hebr – Juden- oder Heidenchristen102?

In der exegetischen Forschung des 20. und 21. Jahrhunderts wird immer wieder die These vertreten, dass es sich bei den Adressaten des Hebr entweder um eine judenchristliche Gemeinde oder zumindest doch um eine judenchristliche Gruppe innerhalb einer größeren Gemeinschaft handele103. Zugunsten dieser Annahme werden im wesentlichen folgende Argumente angeführt104: (a) Der Inhalt des Hebr ließe darauf schließen, dass dessen Adressaten eine profunde Kenntnis

Hebr, x. Hebr, xi. 99 Hebr, xi. 100 Vgl. zu diesem Begriff ausführlich u. 142f. 101 Vgl. hierzu auch D.A. DeSilva, Hebr, 210, der davon spricht, dass die in Hebr 5,11–6,20 vorliegende digressio (vgl. hierzu ausführlich u. 142f.) in ihrer Gesamtheit als „nevertheless central to the author’s rhetorical purpose“ einzustufen ist. 102 Vgl. zu dieser Frage generell etwa U. Schnelle, Einleitung, 446f. und P. Pokorný/U. Heckel, Einleitung, 687. 103 Vgl. hierzu etwa E. Riggenbach, Hebr, XXVf., der entsprechend formuliert: „Die judenchristliche Adresse des Briefes [d.h. des Hebr] ist nicht ein alter Irrtum, sondern eine neuerlich verkannte Wahrheit, zu der man durchaus zurückkehren muß, wenn man nicht auf ein geschichtliches Verständnis des Briefes verzichten will“. Vgl. hierzu zuletzt auch G. Gäbel, Kulttheologie, 488. 104 Dass aus der inscriptio πρὸς Ἑβραίους keinerlei Schlüsse auf die Adressaten des Hebr gezogen werden können, merkt etwa F.F. Bruce, Hebr, 4f. an: „If the title ‚To (the) Hebrews‘ is an editorial label attached to the work for convenient reference, and not an original designation, we should not be greatly influenced by it in endeavoring to establish the identity of the addressees“. 97 98

Die Adressaten des Hebr – Juden- oder Heidenchristen?

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des Alten Testaments eignete. Dies ließe sich am ehesten unter der Voraussetzung erklären, dass sie Judenchristen gewesen seien105. (b) Dass der Verfasser des Hebr das Alte Testament als Argumentationsbasis benutzen könne, da dessen Autorität offensichtlich sowohl von ihm selbst als auch von seinen Lesern anerkannt werde, weise ebenfalls auf die „Bestimmung des Hb für Judenchristen“106 hin107. (c) Drittens spreche der Charakter des im Hebr vorliegenden Argumentationsduktus, der Heidenchristen gegenüber „keinen Eindruck gemacht“108 hätte109, für die Annahme seiner judenchristlichen Adresse110. (d) Die Hebr 13,13 formulierte Aufforderung, „das Lager Israels zu verlassen“111, mache nur gegenüber ehemals jüdischen Christen Sinn112.

So etwa E. Riggenbach, Hebr, XXIV: „Weit stärker noch ... fällt für die judenchristliche Adresse der Gesamtcharakter des Briefes ins Gewicht. Allenthalten ist die genaueste Bekanntschaft mit den Schriften des AT vorausgesetzt. Der Vf darf annehmen, die Leser seien nicht bloß mit den wichtigsten Persönlichkeiten und Ereignissen der atl Geschichte, sondern auch mit den gottesdienstlichen Einrichtungen und dem Ritual des atl Kultus bis ins Kleinste hinein vertraut“. In diesem Sinne in der Gegenwart auch U. Schnelle, Einleitung, 447: „Will der Autor sein Ziel der Glaubensstärkung und -erneuerung erreichen, so müssen den Hörern nicht nur das Alte Testament und der jüdische Kultus vertraut gewesen sein, auch die subtile exegetische Argumentation des Hebr … muss für sie verständlich gewesen sein“. 106 E. Riggenbach, Hebr, XXIV. 107 Vgl. hierzu F.F. Bruce, Hebr, 6: „Again, our author’s appeals to the Old Testament scriptures reflect his confidence that his readers, even if their loyalty to the gospel is wearing thin, will recognize their authority. This they would indeed do if they were Jews“. Zu diesem Argument auch R. Kampling, Rätsel, 25f. 108 E. Riggenbach, Hebr, XXV. 109 Hier verweist E. Riggenbach, Hebr, XXV insbesondere auf die Vorstellungen von Jesus als dem wahren Hohenpriester und dem wahren Opfer, die ehemals heidnischen Christen unverständlich gewesen wären. 110 Vgl. hierzu E. Riggenbach, Hebr, XXV: „Auch die Art der Beweisführung ist nur Judenchristen gegenüber verständlich“. In diesem Zusammenhang weist Riggenbach darauf hin, dass in der ur- und frühchristlichen Literatur der Schriftbeweis nicht nur in der Auseinandersetzung mit Juden und Judenchristen, sondern auch in der theologischen Argumentation gegenüber Heidenchristen und Heiden Verwendung gefunden habe, die Art und Weise der Verwendung der Schrift aber jeweils eine andere gewesen sei (vgl. XXV). Vgl. hierzu auch F.F. Bruce, Hebr, 6, der im Blick auf Hebr 7,11, einen Kommentar zu den Ausführungen in Ps 110,4, festhält: „This argument suggests that the people addressed took it for granted (rightly) that the Levitical priesthood was instituted by divine authority, and also might be inclined to take it for granted (wrongly) that it represented the final stage in this aspect of God’s provision for them. Converts from paganism would not be so assured of the divine institution of the Levitical priesthood, and to the author’s argument ‚if perfection were attainable through the Levitical priesthood ...‘ their answer would naturally be: ‚We never thought it was‘“. 111 E. Riggenbach, Hebr, XXIV. 112 Vgl. hierzu auch F.F. Bruce, Hebr, 7 und auch bereits o. 18 und u. 32. 105

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Der Hebr – einleitungswissenschaftliche Vorbemerkungen In der gegenwärtigen Forschung herrscht weitgehende Einigkeit darüber, dass die inscriptio des Briefes, πρὸς Ἑβραίους113, die sehr früh, allerdings offensichtlich noch nicht von dem Abschreiber des um 200 n.Chr. zu datierenden114 P46 115, mit dem Brief verknüpft und überliefert worden ist116, für die Frage nach den religiösen Verhältnissen seiner Adressatenschaft keinerlei unmittelbare Bedeutung hat117. Mittelbar gilt allerdings, dass diejenigen, die dem Hebr diese inscriptio voranstellten, davon ausgegangen sind, dass er ursprünglich an – wohl in Palästina zu verortende – Juden bzw. Judenchristen gerichtet gewesen ist118. W.L. Lane spezifiziert die These einer judenchristlichen Adresse des Hebr dahingehend, dass er die Adressaten des Hebr im Milieu der hellenistisch-jüdischen Synagoge ansiedelt119. Neben dem Verweis auf die angesichts des Inhalts des Hebr bei dessen Adressaten notwendige weitreichende Kenntnis der Schrift führt Lane zugunsten seiner Sicht in Sonderheit folgende Argumente an: (a) In der Eröffnungspassage des Hebr werde der transzendente Sohn Gottes in den Kategorien göttlicher Weisheit eingeführt. Die Formulierungen des Verfassers des Hebr in Hebr 1,1–4 entsprächen insgesamt der Tradition hellenistisch-jüdischer Weisheit; insbesondere das in Hebr 1,3 verwendete außergewöhnliche Vokabular zeige, dass für die Adressaten des Hebr weisheitlich geprägte theologische Motive, wie sie etwa in Sap 7,24–27 in schriftlicher Form vorliegen, von normativer Bedeutung gewesen sein müssen. Dies ließe sich am ehesten denken in einer christlichen Gemeinde „that has been significantly

C. Spicq, Hebr I, 231 sieht eine über den hebräischen Begriff ‫ חׇ בֵ ר‬ermittelte Verbindung des in der inscriptio begegnenden Terminus Ἑβραῖοι mit den etwa Hebr 3,14 genannten μέτοχοι und folgert u.a. daraus im Blick auf die Adressaten dieser Epistel: „Les destinataires de Hébr. constituent un groupe de compagnons d’infortune vivant ensemble, partageant les mêmes épreuves, telle cette ‚bande de prêtres‘, victimes du pillage dans Os. VI, 9, et surtout unis dans leur commune profession de foi au Christ“. 114 Vgl. hierzu NTG 27, 686. 115 Anders hier offensichtlich E. Gräßer, Hebr I, 41.45. 116 Vgl. hierzu etwa H.-F. Weiß, Hebr, 67, A. 32, der auf T. Zahn, Einleitung II, 113 verweist: „… es fehlt auch jede Spur davon, daß der Hb jemals in einem Teil der Kirchen einen anderen Titel ... getragen hätte“. 117 Vgl. hierzu etwa F.F. Bruce, Hebr, 4f.: „If the title ‚To (the) Hebrews‘ is an editorial label attached to the work for convenient reference, and not an original designation, we should not be greatly influenced by it in endeavoring to establish the identity of the addresses. This must be established, as far as possible, on the basis of internal evidence“. Zu dieser Einschätzung vgl. ähnlich H.-F. Weiß, Hebr, 69, anders allerdings O. Michel, Hebr, 41: „Die Überschrift πρὸς Ἑβραίους, die Judenchristen oder Juden meint, die entweder in Palästina zu Hause sind oder in der Diaspora von hellenistischer Umgebung sich absetzen, hat für sich, daß sie sehr alt und sowohl im kirchlichen Osten (bei den Alexandrinern) als auch im kirchlichen Westen (Tertullian) beachtet wird“. 118 Vgl. hierzu E. Gräßer, Hebr I, 44: „Für unsere Überschrift kommen zwei Möglichkeiten in Betracht. Erstens, ihr Erfinder wollte entweder das Schriftstück als ein Manifest deklarieren, das Paulus in ökumenischem Geiste an alle Juden richtete. Oder zweitens, er dachte an einen Zusammenschluß von aus Palästina kommenden Juden, die inzwischen Christen geworden waren“. 119 Vgl. hierzu Hebr I, lv: „The cumulative weight of the evidence points to men and women who participate in a small house fellowship, loosely related to other house churches in an urban setting, whose theological vocabulary and conceptions were informed by the rich legacy of hellenistic Judaism“. Ähnlich an dieser Stelle auch F.F. Bruce, Hebr, 9. 113

Die Adressaten des Hebr – Juden- oder Heidenchristen?

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influenced by the hellenistic synagogue both in theological conception and vocabulary“120. (b) Auch die Hebr 2,2 den Engeln zugeschriebene Rolle als „mediators of the old revelation“121 spreche nach Lane dafür, dass es sich bei den Adressaten des Hebr um aus dem hellenistischen Judentum stammende Christen handele, da insbesondere im hellenistischen Judentum die Überzeugung verbreitet gewesen sei, dass die Engel bei der Übermittlung des νόμος eine Mittlerrolle eingenommen hätten122. (c) Schließlich deute die Bedeutung, die der Person des Mose im Rahmen der Argumentation des Hebr zukomme, auf hellenistisch-jüdisch geprägte Adressaten, da Mose gerade in diesem Milieu eine hohe Wertschätzung genoss123. Allerdings ist auch die Argumentation Lanes keineswegs zwingend: (a) Wie ein Vergleich der Texte Sap 7,24–27 und Hebr 1,(1.)2–4 zeigt, beschränken sich die Übereinstimmungen zwischen ihnen im wesentlichen darauf, dass der υἱός in Hebr 1,3 in gleicher Weise wie die σοφία in Sap 7,26 als ἀπαύγασμα Gottes bzw. φωτὸς ἀϊδίου bezeichnet wird:

Sap 7,24–27

πάσης γὰρ κινήσεως κινητικώτερον σοφία διήκει δὲ καὶ χωρεῖ διὰ πάντων διὰ τὴν καθαρότητα (25) ἀτμὶς γάρ ἐστιν τῆς τοῦ θεοῦ δυνάμεως καὶ ἀπόρροια τῆς τοῦ παντοκράτορος δόξης εἰλικρινής διὰ τοῦτο οὐδὲν μεμιαμμένον εἰς αὐτὴν παρεμπίπτει (26) ἀπαύγασμα γάρ ἐστιν φωτὸς ἀϊδίου καὶ ἔσοπτρον ἀκηλίδωτον τῆς τοῦ θεοῦ ἐνεργείας καὶ εἰκὼν τῆς ἀγαθότητος αὐτοῦ (27) μία δὲ οὖσα πάντα δύναται καὶ μένουσα ἐν αὑτῇ τὰ πάντα καινίζει καὶ κατὰ γενεὰς εἰς ψυχὰς ὁσίας μεταβαίνουσα φίλους θεοῦ καὶ προφήτας κατασκευάζει (24)

Hebr 1,2b–4

ὃν ἔθηκεν κληρονόμον πάντων, δι᾽ οὗ καὶ ἐποίησεν τοὺς αἰῶνας· (3) ὃς ὢν ἀπαύγασμα τῆς δόξης καὶ χαρακτὴρ τῆς ὑποστάσεως αὐτοῦ, φέρων τε τὰ πάντα τῷ ῥήματι τῆς δυνάμεως αὐτοῦ, καθαρισμὸν τῶν ἁμαρτιῶν ποιησάμενος ἐκάθισεν ἐν δεξιᾷ τῆς μεγαλωσύνης ἐν ὑψηλοῖς, (4) τοσούτῳ κρείττων γενόμενος τῶν ἀγγέλων ὅσῳ διαφορώτερον παρ᾽ αὐτοὺς κεκληρονόμηκεν ὄνομα (2b)

Ob diese Übereinstimmung aber die Annahme, dass es sich bei den Adressaten des Hebr um Judenchristen handele, die von den theologischen Traditionen der hellenistisch-jüdischen Synagoge geprägt sind, zu tragen vermag, muss mehr als fraglich bleiben, da auch bei Heidenchristen durchaus ein hohes Maß an Kenntnis der Schrift vorausgesetzt werden kann124. (b) Gal 3,19 legt die Annahme nahe, dass die Vorstellung, Engel hätten bei der Vermittlung bzw. der Verordnung des νόμος eine wichtige Funktion ausgeübt, bereits Hebr I, liv. Hebr I, liv. 122 Vgl. hierzu Hebr I, liv: „Sometime prior to the first century, the conviction spread, especially among hellenistic Jews, that angels had played a mediatorial role in the transmission of the law“. 123 Vgl. hierzu Hebr I, liv: „This proposal [d.h. die Annahme einer hellenistisch-jüdischen Prägung der Adressaten des Hebr] is congruent with the centrality of Moses in the development of Hebrews .... It is difficult to exaggerate the significance of Moses in hellenistic Judaism and the veneration with which he was regarded“. 124 Vgl. hierzu u. 37. 120 121

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Der Hebr – einleitungswissenschaftliche Vorbemerkungen lange vor der Abfassung des Hebr125 in der Kommunikation mit einer überwiegend heidenchristlichen Gemeinde126 verwendet werden konnte und auch verwendet worden ist. Das aber bedeutet, dass solche Ausführungen wie etwa Hebr 2,2, in denen den Engeln eine Vermittlerrolle bei der Offenbarung des νόμος zugeschrieben wird, keinesfalls mit Notwendigkeit die Annahme einer judenchristlichen Adresse des Hebr zu begründen vermögen. (c) Inwieweit im Hebr eine hohe Wertschätzung des Mose ihren Ausdruck findet, muss dahingestellt bleiben. Zwar wird Mose in Hebr 3,5 als πιστὸς ἐν ὅλῳ τῷ οἴκου θεοῦ; seine Funktion ist aber lediglich die eines θεράπων gewesen, wohingegen Christus, in dieser Hinsicht über die Bedeutung der Figur des Mose weit hinausreichend127, als υἱὸς θεοῦ gilt. Dem Verfasser des Hebr geht es in Hebr 3,1–6 also nicht darum, eine etwaige Hochschätzung des Mose zu formulieren, sondern dessen heilsgeschichtliche Überbietung durch den am Ende der Zeit (Hebr 1,1) gekommenen Χριστός Gottes anzuzeigen128. Gleiches gilt im Blick auf Hebr 8,3–5: Die Ausführungen des Verfassers des Hebr an dieser Stelle haben lediglich den Sinn, „die Abwertung und Relativierung des irdischen Priester- und Opferdienstes vermittels des Urbild-Abbild-Schemas“129 herauszuarbeiten130. Eine explizit formulierte Hochschätzung der Gestalt und der Funktion des Mose klingt demgegenüber deutlich anders131, wie etwa die Ausführungen Philons in quis div. her. 182 belegen. Hier wird Mose immerhin als ἀρχιερεύς bezeichnet, ein Titel, der im Hebr ausschließlich Christus vorbehalten bleibt: θαυμαστὴ μέντοι καὶ ἡ τοῦ τῶν θυσιῶν αἵματος ἴση διανομή, ἣν ὁ ἀρχιερεὺς

U. Schnelle, Einleitung, 111–113.407f. datiert den Gal in die Zeit um 55 n.Chr., den Hebr dagegen in die Zeit zwischen 80 und 90 n.Chr. 126 Nach U. Schnelle, Einleitung, 116 waren die Galater „überwiegend Heidenchristen“. 127 In Hebr 3,5 verwendet der Verfasser des Hebr nicht von ungefähr die Partikel μέν und δέ,, um die Überbietung der Gestalt des Mose durch diejenige des υἱὸς θεοῦ zu explizieren. Vgl. hierzu H.-F. Weiß, Hebr, 247.249. 128 So m.R. E. Gräßer, Hebr I, 172: „Auch diese typologische Denkstruktur [d.h. die Gegenüberstellung von Mose zu Christus] setzt Hebr zur Gewißmachung der Glaubenden ein. Wie der präexistente Sohn a se allen außermenschlichen ... und menschlichen Wesen ... überlegen ist, so ist auch die Vollendung des von ihm verbürgten Heils um so sicherer gewährleistet“. 129 H.-F. Weiß, Hebr, 438. 130 Noch deutlicher E. Gräßer, Hebr II, 90, der formuliert, dass der Verfasser des Hebr mit seinen Ausführungen in Hebr 8,5 beabsichtige, „alle Werke des Mose bzw. alle Geräte der priesterlichen Liturgie ... als minderwertig“ zu disqualifizieren. Dies schließt Gräßer aus dem Sachverhalt, dass der Verfasser des Hebr das in Hebr 8,5 verwendete Zitat aus Ex 25,40 um ein aus Ex 25,9LXX übernommenes πάντα ergänzt: 125

Ex 25,40 Hebr 8,5c ὅρα ποιήσεις κατὰ τὸν τύπον τὸν δεδειγμένον ὅρα γάρ φησιν, ποιήσεις πάντα κατὰ τὸν τύπον τὸν δειχθέντα σοι ἐν τῷ ὄρει σοι ἐν τῷ ὄρει Nach Gräßer hat der Verfasser des Hebr diese Textänderung bewusst vorgenommen; unwahrscheinlich sei s.E., dass der Verfasser des Hebr hier einer besonderen Version des LXX-Textes folge. Ähnlich auch H.-F. Weiß, Hebr, 438, dem zufolge der Verfasser des Hebr gemeinsam mit Philon an einer exegetischen Tradition partizipiere, in der Ex 25,40 in „einer eigentümlich ‚hellenistisch-dualistischen‘ Weise gelesen und rezipiert wird“. 131 Das Votum W.L. Lanes, Hebr I, lv: „In the hellenistic-Jewish tradition, Mose is the supreme exemplar of perfection in the sense of immediacy and access to God“, lässt sich im Blick auf Hebr 3,1–6 gerade nicht durchhalten.

Die Adressaten des Hebr – Juden- oder Heidenchristen?

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Μωυσῆς φύσει διδασκάλῳ χρησάμενος διένειμε132. Aus alledem folgt: Die von W.M. Lane vorgetragenen Argumente sind kaum geeignet, seine Hypothese, die Adressaten des Hebr seien Christen gewesen, die dem hellenistischen Judentum entstammten, mit Notwendigkeit zu beweisen. Eine weitere Spezifikation der judenchristlichen Adresse des Hebr wurde von Y. Yadin und H. Kosmala vorgelegt. Sie formulierten die These, dass es sich bei den Adressaten des Hebr um eine Gruppe von Qumran-Essenern, die mit Hilfe der theologischen Argumentation des Hebr zu Anhängern Jesu gemacht werden sollten133, handele134. Kosmala beruft sich zugunsten seiner Annahme – überraschenderweise – insbesondere auf die Ausführungen in Hebr 6,1f. Zunächst weist er darauf hin, dass in ihnen „auf kein einziges spezifisch christliches Glaubensstück Bezug“135 genommen wird. Vielmehr enthielten diese sechs genannten Aspekte „die grundlegenden Prinzipien der eschatologischen und messianischen Erwartung“136, die „nicht auf das Frühchristentum beschränkt gewesen“137 sei, sondern in gleicher Weise zu den Grundlehren der essenischen Gemeinschaft gehört habe138. Daran anschließend analysiert Kosmala die Wendung βαπτισμῶν διδαχή Hebr 6,2. Zunächst sei auffällig, dass dieser Begriff gänzlich neutral formuliert sei, was dafür spräche, dass „von einer Taufe ‚auf den Namen Jesu‘ oder unter einer anderen christlichen Formel hier nicht die Rede“139 sei, sondern vielmehr auf „‚Waschungen‘ in einem ganz positiven und unpolemischen Sinne“140 rekurriert werde. Dem entspräche, dass in dieser Wendung nicht der Singular βάπτισμα bzw. βαπτισμός, sondern der Plural βαπτισμοί verwendet werde141. Solche Waschungen, „Reinigungen, die das messianische Leben erfordert“142, hätten auch die Essener praktiziert143. Der v.a. von Kosmala vorgeschlagene Bezug der Wendung βαπτισμῶν διδαχή Hebr 6,2 ist allerdings kaum so eindeutig144, 132 Zu weiteren Belegen für die Bezeichnung des Mose als ἀρχιερεύς vgl. etwa W.L. Lane, Hebr I, livf. 133 Vgl. hierzu H. Kosmala, Hebräer, 1–43, in Sonderheit 30–38. Ähnlich auch Y. Yadin, Dead Sea Scrolls, 36–55, der in den Adressaten des Hebr „ehemalige Essener oder wenigstens durch essenisches Milieu beeinflußte ehemalige Juden“ (H. Feld, Hebr, 11) sieht. 134 In diese Richtung denkt auch C. Spicq, Hebr I, 255ff., der die Adressaten des Hebr als Judenchristen priesterlicher Herkunft beschreibt; vgl. hierzu auch ders., L’Épître aux Hébreux, 365ff. 135 Hebräer, 31. 136 Hebräer, 31. 137 Hebräer, 31. 138 Vgl. Hebräer, 31f. und dann 32–38. 139 Hebräer, 33. 140 Hebräer, 33. 141 Vgl. hierzu Hebräer, 33. 142 Hebräer, 33. 143 Vgl. hierzu Hebräer, 33. Diese Waschungen seien nach Kosmala „von entscheidender Bedeutung für ihre [d.h. die essenische] eschatologische Heiligkeits- und Geisteslehre“ (33) gewesen. Die weiteren Beobachtungen, die nach Kosmala im Rahmen seiner Ausführungen für seine These einer essenischen Adresse des Hebr sprechen, können hier vernachlässigt werden, da sie keine positiven Argumente liefern, sondern lediglich augenscheinliche Inkongruenzen erklären. 144 Vgl. hierzu m.R. E. Gräßer, Hebr I, 342. Zu den unterschiedlichen Erklärungen der Verwendung der pluralischen Wendung βαπτισμῶν διδαχή in der Geschichte der Hebr-Auslegung vgl. 341f.

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Der Hebr – einleitungswissenschaftliche Vorbemerkungen dass er so weitreichende Folgerungen im Blick auf die Frage nach den Adressaten des Hebr zu tragen vermöchte.

Dieser Argumentation zugunsten einer judenchristlichen Adresse des Hebr gegenüber ist einschränkend zu bemerken, dass der Hinweis auf den Inhalt des Hebr und dessen schriftgelehrte Argumentation nicht zwingend zu beweisen vermag, dass es sich bei den Adressaten des Hebr um ehemalige Juden und nunmehrige Judenchristen gehandelt haben muss145. Einerseits nämlich stand das Alte Testament als heilige Schrift im gesamten Urchristentum in hohem Ansehen, andererseits setzen auch andere ur- und frühchristliche, zumindest auch an Heidenchristen gerichtete Schriften bei ihren Adressaten ein hohes Maß an Schriftkenntnis voraus146. Allerdings lässt sich die im Hebr vorliegende Intensität der Bezugnahme auf die Schriften des Alten Testaments bei keinem der übrigen Autoren des Neuen Testaments auch nur annähernd vergleichbar ausmachen, was zunächst belegt, dass der Verfasser des Hebr selbst in hohem Maße schriftgelehrt gebildet gewesen sein muss und seine Darlegungen bewusst als Schriftauslegung gestaltet hat147. Da aber zugleich auch vorauszusetzen ist, dass er davon ausgegangen ist, dass die Adressaten seiner Epistel den Duktus seiner Argumentation nachvollziehen können und sich von ihr überzeugen lassen, ist nur schwer vorstellbar, dass es sich bei diesen nicht auch um mit den Schriften des Alten Testaments und der jüdischen Form der Schriftgelehrsamkeit zumindest außerordentlich vertraute Gesprächspartner gehandelt hat. Das wiederum scheint letzten Endes allerdings dann doch für einen jüdischen bzw. judenchristlichen Hintergrund der Adressaten des Hebr zu sprechen. In Hebr 13,13 muss keinesfalls mit Notwendigkeit von einem „Lager Israels“, das es zu verlassen gilt, die Rede sein. Die entsprechende Wendung ἐξέρχεσθαι πρὸς αὐτὸν ἔξω τῆς παρεμβολῆς kann im Sinne einer interpretatio christiana durchaus etwa auch auf „die Scheidung von der irdischen Welt und dem irdischen Wesen überhaupt“148, die die Christen zu leisten haben, gedeutet werden149. Gleiches gilt für den Hinweis Vgl. hierzu etwa H.-F. Weiß, Hebr, 71. Dies räumen selbst diejenigen Exegeten ein, die die Hypothese einer judenchristlichen Adresse des Hebr vertreten; vgl. hierzu F.F. Bruce, Hebr, 5: „Yet all this in itself does not require either the author or the people addressed to be Jewish; we have known Gentile Christians who were thoroughly familiar with the Old Testament, accepted it as sacred and authoritative Scripture, and manifested a lively interest in the details of the Mosaic tabernacle and the Levitical offerings, in which they found a remarkably full adumbration of the gospel“. Mit einem anderen Akzent M. Karrer, Hebr I, 100: „Vielleicht nimmt der Hebr sogar durch sein umfangreiches Zitieren der Schriften Israels auf Adressaten aus den Völkern Rücksicht“. 147 Zu letzterem vgl. etwa C.-P. März, Hebr, 7: „Vf gestaltet seine Schrift in Anlehnung an den Lehrvortrag der jüdisch-hellenistischen Synagoge, versteht seine Ausführungen somit nicht als freie theologische Spekulation, sondern als Schriftauslegung“. 148 H. Windisch, Hebr, 119. 149 In diesem Sinne auch E. Gräßer, Hebr III, 386: „Überflüssig zu sagen, daß der Exodus aus dem ‚Lager‘ das Verlassen des Judentums gar nicht meinen kann“; zu weiteren gegenüber dieser Annahme skeptischen Auslegern vgl. A. 25. 145 146

Die Adressaten des Hebr – Juden- oder Heidenchristen?

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auf Hebr 8,10 und die dort vorliegende Ankündigung eines neuen Bundesschlusses mit dem οἶκος Ἰσραήλ; schon die Tatsache, der der auctor ad Hebraeos hier ein Zitat aus Jer 31,33 aufnimmt, verbietet es – zumal in Verbindung mit dem Gedanken der interpretatio christiana –, diesen Terminus als ein Indiz für eine zumindest teilweise judenchristlichen Adressatenschaft des Hebr zu werten150. Auch aus den Ausführungen in Hebr 13,9f. kann kaum auf eine judenchristliche Adresse des Hebr geschlossen werden. In diesen Versen geht es nämlich weniger um die Frage von Rein und Unrein151, sondern um den Aufweis „der Nutzlosigkeit der alten, irdischen und für die Christen vergangenen Heils- und Kultordnung“152, ein Hinweis, der, zumal er nicht auf eine unter den Adressaten konkret virulente Irrlehre Bezug nimmt153, zumindest nicht unmittelbar, sondern wenn, dann nur vermittelt über das Faktum der schriftgelehrten Argumentation insgesamt, eine judenchristliche Adressatenschaft zu indizieren scheint.

Gegen die Annahme einer judenchristlichen Adresse des Hebr sprechen nun offensichtlich aber die Ausführungen seines Verfassers in Hebr 6,1ff., hier insbesondere in Hebr 6,1b. In Hebr 6,1a macht er deutlich, mit seinen nun folgenden Darlegungen auf die seinen Adressaten in der Vergangenheit bereits verkündigten Grundlagen154 des christlichen Glaubens nicht mehr eingehen zu wollen: διὸ ἀφέντες τὸν τῆς ἀρχῆς τοῦ Χριστοῦ λόγον ἐπὶ τὴν τελειότητα φερώμεθα155. Zu diesen in Hebr 6,1f. aufgeführten Glaubensgrundlagen gehören nach Hebr 6,1b zunächst die μετάνοια ἀπὸ νεκρῶν ἔργων und die πίστις ἐπὶ θεόν156. Mit diesem Begriffspaar, das sich grundlegend auf den Vollzug der Hinwendung zum Christentum bezieht157, rekurriert der Verfasser des Hebr auf die in der Vergangenheit von seinen Adressaten geleistete „Abkehr von der Verehrung heidnischer In diesem Sinne aber U. Schnelle, Einleitung, 447. So U. Schnelle, Einleitung, 447. 152 H.-F. Weiß, Hebr, 721. 153 Vgl. hierzu H.-F. Weiß, Hebr, 721: „Der Kontext … weist eindeutig darauf hin, daß der Autor des Hebr an dieser Stelle [d.h. Hebr 13,9–11] nicht auf eine bestimmte, für die Gegenwart der Adressaten des Hebr aktuelle ,Irrlehreʻ Bezug nimmt, sondern (zunächst) auf bestimmte biblische Sachverhalte“. 154 H.-F. Weiß, Hebr, 71 spricht in diesem Zusammenhang von „Topoi der christlichen Elementarbelehrung“. 155 Nach H.-F. Weiß, Hebr, 336 bringt der Verfasser des Hebr in Hebr 6,1a den „Verzicht auf eine erneute eingehende Darlegung der ‚Grundlehren‘ des Glaubens ... durch eine gebräuchliche literarisch-rhetorische Wendung zum Ausdruck“. 156 Zu diesem Begriffspaar vgl. G. Schunack, Hebr, 78: „In [Hebr 6,] V. 1c.2 wird die Grundlegung des Christseins inhaltlich spezifiziert; angeführt werden sechs Sachverhalte, die einander paarweise zugeordnet, aber nicht einfach gleichrangig sind, wie aus den unterschiedlichen Genitivkonstruktionen hervorgeht. Das erste Genitivpaar ... ist Näherbestimmung von themelios, ...“. 157 So deutlich C. Spicq, Hebr II, 147; ihm zufolge bezieht sich dieses Begriffspaar „à l’entrée dans l’Église, sous son double aspect négatif et positif“. Ähnlich auch G. Schunack, Hebr, 78: „Insofern besteht zwischen dem ersten Paar und den beiden folgenden ein qualitativer Unterschied, weshalb es auch unzutreffend ist, von sechs katechetischen Lehrstücken zu reden. Fundament des Christseins sind nicht zwei Lehrstücke über den Abkehr von toten Werken und den Glauben an Gott als ‚Norm christlichen Wandels‘, sondern der Vollzug der Sache selbst“. 150 151

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Der Hebr – einleitungswissenschaftliche Vorbemerkungen

Götter“158. Diese Annahme wird durch die Ausführungen des Verfassers des Hebr in Hebr 9,14159 nahegelegt: Dort spricht er davon, dass das Blut Christ das Gewissen des Menschen von den ἔργα νεκρά zu reinigen vermag, damit dieser befähigt werde εἰς τὸ λατρεύειν θεῷ ζῶντι. Die explizite Charakterisierung des christlichen (und jüdischen) Gottes als ζῶν spricht dafür, das Tun der zuvor angesprochenen ἔργα νεκρά wesentlich als die Verehrung nicht lebendiger, toter heidnischer Gottheiten zu interpretieren160. Dem korrespondiert, dass in der LXX dem von den Juden verehrten θεὸς ζῶν die als Götzen verehrten heidnischen εἴδωλα kontrastierend gegenübergestellt werden161. Bemerkenswert ist hier ein Blick auf die Ausführungen in 1Thess 1,9. Der Apostel kommt hier auf die in der Vergangenheit erfolgte Hinkehr der Thessalonicher zum Christentum zu sprechen und formuliert: καὶ πῶς ἐπεστρέψατε πρὸς τὸν θεὸν ἀπὸ τῶν εἰδώλων δουλεύειν θεῷ ζῶντι καὶ ἀληθινῷ. Just diese Formulierung in 1Thess 1,9 wird in der Forschung immer wieder angeführt, um zu belegen, dass es sich bei den Christen in Thessaloniki zumindest mehrheitlich um Heidenchristen handelt162. Die Parallelität der Formulierung des Paulus in 1Thess 1,9 zu der des Verfassers des Hebr in Hebr 9,14163 legt es nahe, auf der Grundlage der Ausführungen in Hebr 9,14 im Blick auf die Frage nach dessen Adressaten zu ähnlichen Schlussfolgerungen zu gelangen.

E. Gräßer, Hebr I, 339. Ähnlich auch H.-F. Weiß, Hebr, 337: „Μετάνοια ist in dieser Verbindung ein spezifisch missionstheologischer Terminus, bezeichnet also die ‚Umkehr‘ bzw. ‚Abkehr‘ ... weg ‚von den toten Werken‘ (sc.: des Götzendienstes) und – damit zugleich – die Hinwendung zur Verehrung des wahren und einen Gottes“. 159 Die Möglichkeit, der Interpretation der Ausführungen in Hebr 6,1b mit Hilfe derer in Hebr 9,14 auf die Spur zu kommen, übersieht R. Kampling, Rätsel, 26: „Für Leser aus den Völkern trägt insbesondere Hebr 6,1–2 die Last der Beweisführung“. 160 Vgl. hierzu E. Gräßer, Hebr I, 338: „Dort [d.h. in Hebr 9,14] wird ... vom Gegenteil her, vom λατρεύειν θεῷ ζῶντι, vom Kult des lebendigen Gottes also, deutlich, dass die νεκρὰ ἔργα den Götzendienst meinen und nicht ganz allgemein die vorchristlichen Vegehen“. Ähnlich auch H. Braun, Hebr, 271. 161 Vgl. hierzu Dan 5,23: καὶ ᾐνέσατε πάντα τὰ εἴδωλα τὰ χειροποίητα τῶν ἀνθρώπων καὶ τῷ θεῷ τῷ ζῶντι οὐκ εὐλογήσατε. Ähnlich auch Bel 5Theod.: καὶ εἶπεν αὐτῷ ὁ βασιλεύς διὰ τί οὐ προσκυνεῖς τῷ Βηλ ὁ δὲ εἶπεν ὅτι οὐ σέβομαι εἴδωλα χειροποίητα ἀλλὰ τὸν ζῶντα θεὸν τὸν κτίσαντα τὸν οὐρανὸν καὶ τὴν γῆν καὶ ἔχοντα πάσης σαρκὸς κυριείαν. E. Gräßer, Hebr I, 186 verweist in diesem Zusammenhang darüber hinaus noch auf Jer 10,10–17. 162 Vgl. hierzu etwa U. Schnelle, Einleitung, 63: „Vornehmlich schlossen sich Heidenchristen der Gemeinde in Thessalonich an (vgl. 1Thess 1,9 [!] ...)“. 163 Diese Parallelität ist augenfällig: 158

1Thess 1,9 Hebr 9,14 καὶ πῶς ἐπεστρέψατε πρὸς τὸν θεὸν ἀπὸ τῶν καθαριεῖ τὴν συνείδησιν ἡμῶν ἀπὸ νεκρῶν εἰδώλων δουλεύειν θεῷ ζῶντι καὶ ἀληθινῷ ἔργων εἰς τὸ λατρεύειν θεῷ ζῶντι. Durch sie ist offensichtlich auch die von einigen Abschreibern vorgenommene Einfügung eines καὶ ἀληθινῷ in Hebr 9,14 motiviert; vgl. hierzu den entsprechenden textkritischen Apparat im Novum Testamentum Graece.

Die Adressaten des Hebr – Juden- oder Heidenchristen?

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Wenn nun aber in Hebr 9,14 der Terminus ἔργα νεκρά auf die pagane Götzenverehrung zu beziehen ist, muss insbesondere angesichts der Tatsache, dass er im NT nur in Hebr 6,1; 9,14 belegt ist164, auch für das Begriffspaar μετάνοια ἀπὸ νεκρῶν ἔργων – πίστις ἐπὶ θεόν Hebr 6,1 ein solcher Deutungshintergrund angenommen werden165. Daraus aber folgt, dass der Verfasser des Hebr an dieser Stelle auf die Abwendung der Adressaten seines Schreibens auf ihren vorchristlichen Götzendienst Bezug nimmt166, was wiederum bedeutet, dass es sich bei ihnen zumindest in ihrer übergroßen Mehrheit um Heidenchristen gehandelt hat167. Unter der Voraussetzung, der Hebr sei an Judenchristen geschrieben, ließe sich eine solche Einlassung nicht erklären168. E. Riggenbach als einer derjenigen Forscher, die eine judenchristliche Adresse des Hebr befürworten, deutet den Terminus ἔργα νεκρά Hebr 6,1; 9,14 allgemein im Sinne von „solchem ..., was das Bewußtsein um unser Verhältnis zu Gott trübt und befleckt“169 bzw. von „in der Entfremdung von Gott vollbrachten Handlungen“170. Mit dieser Deutung aber wird Riggenbach der Tatsache, dass in Hebr 9,14 Gott näherhin

164 Vgl. hierzu E. Gräßer, Hebr I, 338 mit A. 173. Diese Wendung ist weder in der LXX noch in der Qumranliteratur belegt; bei den Apostolischen Vätern begegnet sie lediglich in Herm sim. IX 21,2. 165 Vgl. hierzu etwa H.-F. Weiß, Hebr, 470: „Stehen dabei an dieser Stelle [d.h. Hebr 9,14] die ‚toten Werke‘ im Gegensatz zur Verehrung des ‚lebendigen Gottes‘, so dürfte bei ihnen – wie auch schon bei der Gegenüberstellung ‚tote Werke‘ – ‚Glaube an Gott‘ in [Hebr] 6,1 – zunächst an den Götzendienst gedacht sein“. 166 So G. Theißen, Untersuchungen, 54 zu Hebr 9,14 im Zusammenhang mit dem in Hebr 6,1 Gesagten: „Könnte es nicht sein, daß hier wahrer Gottesdienst und Götzendienst gegenübergestellt werden“? 167 In diese Richtung denkt neben anderen etwa E. Brandenburger, Pistis, 195: „Die unterschiedliche urchristliche Missionspraxis läßt sich ... folgendermaßen charakterisieren. ... Der Heide muß ‚zum Glauben kommen‘. Für den Juden war das nach traditioneller Sprachregelung ... nicht vorgesehen“. 168 Vgl. hierzu H. Braun, Hebr, 160: „Die Hörer [des Hebr] waren vorchr[istlich] also nicht Juden“ und H.W. Attridge, Hebr, 163f.: „The formula [d.h. Hebr 6,1b] thus probably represents a programmatic summary of the gospel for the Gentile world“. Neuestens ähnlich M. Karrer, Hebr I, 100f. An diesem Punkt außerordentlich unklar E. Riggenbach, Hebr, XXIII: „Ebenso ließe sich der Aufzählung der zu erneuter Grundlegung im Christentum dienlichen Stücke (6,1f.) ein Gegenstand gegen jüdische Herkunft der Leser nur entnehmen, wenn es des Vf’s Absicht wäre, hier die Unterscheidungslehren zwischen Christentum und Nichtchristentum namhaft zu machen“. Gerade aber dies ist doch zumindest indirekt der Fall. Die Auskunft einiger Kommentatoren, dass der Gegensatz zwischen Juden- und Heidenchristen für den Verfasser des Hebr keine Rolle mehr spiele, dass er sein Schreiben vielmehr an Christen „ohne Rücksicht auf ihre [religiöse] Herkunft“ (E. Gräßer, Hebr I, 24; ähnlich auch H.-F. Weiß, Hebr, 71) richte, mag durchaus zutreffen; die Frage, ob es sich bei den Adressaten des Hebr um Heiden- oder um Judenchristen handelt, wird damit aber nur indirekt berührt. 169 Hebr, 266, A. 21. 170 Hebr, 266. Ähnlich auch F.F. Bruce, Hebr, 218: „They [d.h. die ἔργα νεκρά] are those practices and attitudes which belong to the way of death, which pollute the soul and erect a barrier between it and God“.

36

Der Hebr – einleitungswissenschaftliche Vorbemerkungen als ζῶν charakterisiert wird, nicht gerecht. Dementsprechend legt Riggenbach in seiner Auslegung dieser Charakterisierung keinerlei Bedeutung bei171.

Über die zugunsten einer heidenchristlichen Adresse des Hebr aufgeführten Belege Hebr 6,1f. und 9,14 hinaus verweisen einige Exegeten noch auf Hebr 3,12172; hier fordert der Verfasser des Hebr seine Leser auf, darauf zu achten, nicht vom θεὸς ζῶν abzufallen. So sehr sicherlich zutreffend bemerkt worden ist, dass dieser Beleg darauf hinzudeuten scheint, dass die Adressaten des Hebr „nicht in der Gefahr eines ‚Rückfalls‘ in ihre jüdische Vergangenheit, sondern in der Gefahr des Abfalls vom Glauben überhaupt“173 stehen, so sehr ist dennoch nicht auszuschließen, dass der auctor ad Hebraeos mit dem hier explizierten ,Abfall vom Glauben überhauptʻ den Gedanken der Abwendung von christlichen, christologisch geprägten und die Hinwendung zu jüdischen Glaubensvorstellungen zu beschreiben beabsichtigte174. Die entsprechende Formulierung ließe sich insbesondere im Kontext von Hebr 3,7–4,10 durchaus im Sinne einer solchen nun eben nicht als ,Rückfallʻ, sondern aufgrund der heidenchristlichen Vergangenheit der Adressaten des Hebr als ,Abfallʻ zu definierenden Glaubenswandlung deuten175, eine Interpretation, die sich immerhin auf die Ausführungen des Paulus in Gal 4,8–11 berufen könnte. Schließlich identifiziert der Apostel hier, zumindest traditioneller Deutung zufolge, die φύσει μὴ ὄντες θεοί mit dem jüdischen νόμος176. Zu fragen ist nun, wie dieser in sich disparate Befund zu erklären ist und welche Schlussfolgerungen im Blick auf die Frage nach den Adressaten des Hebr daraus gezogen werden können. Der offenkundige Sachverhalt, dass sich Argumente sowohl für eine judenchristliche als auch für eine heidenchristliche Adresse des Hebr aufweisen lassen, legt auf dem Hintergrund der Tatsache, dass sich eine doppelte Frontstellung, einerseits gegen Heidenchristen, andererseits gegen Judenchristen, im Text selbst nicht erkennen lässt177, folgende Annahme In seinen Ausführungen zu Hebr 9,14 erwähnt Riggenbach diese Charakterisierung nicht; vgl. hierzu Hebr, 266f., entsprechend F.F. Bruce, Hebr, 218. 172 Vgl. hierzu etwa W.G. Kümmel, Einleitung, 353 und H.-F. Weiß, Hebr, 71. 173 H.-F. Weiß, Hebr, 71. 174 Vgl. in diesem Sinne u.U. O. Michel, Hebr, 188: „Abfall von Christus als dem eschatologischen Handeln Gottes an uns ist Abfall vom ,lebendigen Gottʻ“, und C.-P. März, Hebr, 33: „Die ,Verirrung des Herzensʻ wird als ,Abfall vom lebendigen Gottʻ im Hinblick auf sein Handeln in Jesus Christus verstanden“. 175 Vgl. hierzu etwa F.F. Bruce, Hebr, 100: „But a relapse from Christianity into Judaism would be comparable to the action of the Israelites when they ‚turned back in their hearts to Egypt‘“. Bruce verweist in diesem Zusammenhang auf Apg 7,39. 176 Vgl. hierzu etwa H.D. Betz, Gal, 377: „Paulus‘ Beweis überzeugt nur dann, wenn man seine Ansicht teilt, daß ,unter der Toraʻ zu sein das gleich ist wie ,unter den Naturmächten der Weltʻ zu sein“. 177 Vgl. hierzu etwa D. Guthrie, Introduction, 703 mit Verweis auf B.F. Westcott: „But Westcott rejected the notion of a mixed community on the grounds that the letter betrays no such mixture, nor does it touch on points of heathen controversy“. Anders hier U. Schnelle, Einleitung, 409: „Dennoch wird man die Adressaten nicht als eine rein heidenchristliche Gemeinde 171

Die Adressaten des Hebr – Juden- oder Heidenchristen?

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nahe: Bei den Adressaten des Hebr handelt es sich um Christen, die als ehemalige Heiden entweder in ihrer vorchristlichen Vergangenheit oder aber – was wahrscheinlicher ist – in ihrer christlichen Gegenwart intensiv mit den Schriften des Alten Testaments, mit der Praxis ihrer Auslegung und auch mit den Traditionen des Judentums in Berührung gekommen sind. Im ersten Falle will die Annahme nicht unmöglich scheinen, dass jene entweder als Proselyten oder aber als Gottesfürchtige in näheren Umgang mit der lokalen jüdischen Gemeinde gekommen und so mit dem Alten Testament, dessen Auslegung und den Glaubenstraditionen dieser jüdischen Gemeinde und des Judentums insgesamt vertraut geworden sind. Angezogen durch die christliche Missionsverkündigung, wären sie als solche dem Judentum Nahestehende dann zu Christen geworden. Im zweiten Falle wäre etwa denkbar, dass es sich bei den im Hebr angeschriebenen Christen um solche handelt, die womöglich von Missionaren wie etwa Apollos für das Christentum gewonnen worden sind. Apollos als ein ἀνὴρ λόγιος, δυνατὸς ὢν ἐν ταῖς γραφαῖς (Apg 18,24)178 wird im Rahmen seiner Missionsverkündigung sicherlich großen Wert auf die Schriften des Alten Testaments und deren Auslegung gelegt haben.

bezeichnen können“; in gleicher Weise auch P. Pokorný/U. Heckel, Einleitung, 687: „Bei den Adressaten handelt es sich um Christen sowohl heidnischen als auch jüdischen Ursprungs“. 178 H. Conzelmann, Apg, 118 bezeichnet Apollos nicht zu Unrecht als einen „eminente[n] Schriftgelehrte[n]“. E. Haenchen, Apg, 485 hält Apollos für jemanden, dem „die Gabe des Geistes, welcher den verborgenen christlichen Sinn des Alten Testaments entdeckt“, eignet.

2.

Die textpragmatische Situierung des Hebr – Sichtung der Forschungspositionen und Entwicklung eines neuen Ansatzes

Auf den folgenden Seiten soll es zunächst darum gehen, die unterschiedlichen in der Forschung entwickelten Theorien zur textpragmatischen Situierung des Hebr und die die jeweilige Theorie jeweils fundierende Argumentation kritischkonstruktiv zu sichten1. Am Ende dieser Sichtung stehen dann eine zusammenfassende Bewertung der in ihr aufgewiesenen Forschungsergebnisse und, auf dieser Bewertung basierend, die Formulierung eines im Blick auf die Beantwortung der Frage nach der textpragmatischen Situierung des Hebr eigenständigen neuen methodischen und analytischen Ansatzes, auf dessen Grundlage dann, methodisch reflektiert, mit der Analyse einzelner ausgewählter Passagen dieses Schreibens begonnen werden kann.

2.1

Der Hebr als theoretische Reflexion

Den Vertretern dieser These zufolge verfolgte der Verfasser des Hebr mit seinem Schreiben weder polemische noch apologetische, sondern ausschließlich theoretisch-hermeneutische Interessen2. Ihm sei es aus gleichsam ‚akademischenʻ Erwägungen lediglich darum gegangen, das Heilswerk Christi in Form eines himmlischen Kultmysteriums neu zu interpretieren; diese Neuinterpretation sei nicht durch die aktuelle Situation der Adressaten seiner Epistel, sondern nur durch sein eigenes theologisches Interesse motiviert gewesen3. Begründet wird Im Rahmen dieser kritisch-konstruktiven Sichtung bleiben diejenigen Forschungspositionen unberücksichtigt, die eine nichtchristliche Adresse des Hebr voraussetzen; vgl. hierzu m.R. auch K. Backhaus, Neuer Bund, 275, A. 952. 2 Sowohl P. Vielhauer als auch R. Bultmann, zwei wichtige Vertreter dieser These, verhandeln die Frage nach der textpragmatischen Situierung en passant, Vielhauer im Rahmen von Ausführungen zur Theologie des Hebr (vgl. herzu Geschichte, 245–248), Bultmann im Rahmen der Erörterung des Verhältnisses des frühen Christentums zum Judentum und zum Alten Testament (vgl. hierzu Theologie, 113f.). 3 Vgl. hierzu etwa P. Vielhauer, Geschichte, 248: „Glaubt man, aktuelle Anlässe für die Darstellung des Heils in Form eines Kultmysteriums negieren zu müssen, dann muß man annehmen, daß die aufwendige Argumentation mit kultischen Kategorien in der schriftstellerischen Individualität des schriftgelehrten Autors begründet, also rein ‚akademisch‘ ist“. Ähnlich auch R. Bultmann, Theologie, 113f., der einen situativen Bezug der theologischen Argumentation des Verfassers des Hebr gar nicht in den Blick bekommt: „Wozu die ganze Veranstaltung einer 1

Der Hebr als theoretische Reflexion

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diese These insbesondere mit dem Hinweis darauf, dass die theologische Argumentation des Verfassers des Hebr über die aus den paränetischen Abschnitten sich ergebenden praktischen Notwendigkeiten augenscheinlich weit hinausreiche4. In der Tat lässt sich schlechterdings nicht bestreiten, dass der Verfasser des Hebr der theologisch-theoretischen Reflexion in seiner Epistel breiten Raum einräumt und paränetische Erwägungen wenn nicht am Rande, so doch eher in zweiter Linie zu diskutieren scheint5. Ob diese Beobachtung allerdings ausreicht, die Motivation zur Abfassung des Hebr ausschließlich im – ausschließlich auf sich selbst bezogenen – theologischen Eigeninteresse seines Verfassers zu fundieren, muss mehr als zweifelhaft bleiben. Vielmehr scheint der auctor ad Hebraeos seine theoretisch-theologischen Reflexionen letzten Endes doch mit der Abzweckung formuliert zu haben, die Glaubenserkenntnis sowohl als aber auch die Glaubenspraxis seiner Adressaten zu korrigieren und weiterzuentwickeln6, eine Annahme, in deren Richtung insbesondere auch diejenigen Textpassagen wiesen, in denen der auctor ad Hebraeos seine Rezipienten unmittelbar anspricht7. Auf dem Hintergrund der Annahme einer für den Hebr grundlegenden persuasiven Strategie ist allerdings zu fragen, in welcher textpragmatischen Relation jene zu den theologisch-reflexiven Abschnitten des Hebr stehen: Handelt es sich bei den paränetisch geprägten Einlassungen um durch die Verhältnisse innerhalb der Adressaten des Hebr unmittelbar evozierte Mahnungen, die jener zuvor, um hier argumentative Sicherheit zu gewinnen, aber ausführlich theologisch-theoretisch zu begründen beabsichtigte, somit also um ethisch-aktuelle8 Vorabbildung des Heilswerkes Christi, die in der Zeit vor Christus ja niemand verstehen konnte, eigentlich geschehen sei, würde man den Verfasser, der sich seiner Interpretation freut, wohl vergeblich fragen“. Zu weiteren Vertretern dieses textpragmatischen Ansatzes vgl. K. Backhaus, Neuer Bund, 275, A. 954. 4 Vgl. hierzu P. Vielhauer, Geschichte, 243: „Aber die Behauptung, der Skopus des Hebr liege ‚in den paränetischen Teilen‘, bagatellisiert in unzulässiger Weise die theologischen Anstrengungen des Verfassers, deren es in diesem Ausmaß zu paränetischen Zwecken nicht bedurft hätte“. 5 Vgl. hierzu bereits W. Wrede, Rätsel, 17, der zur Beschreibung des Verhältnisses von theologischer Reflexion und Paränese das Bild eines kleinen Aufbaus auf einem großen Sockel verwendet und zu formulieren vermag: „Genug, daß das Theoretische die aus ihm gewonnene praktische Anwendung stark überwiegt“. 6 Vgl. hierzu wiederum W. Wrede, Rätsel, 19: „Es ist unbestreitbar, der Verfasser verfolgt nicht eine, sondern zwei Absichten, und keine darf man auf Kosten der andern vergewaltigen: es ist ihm das ernsteste Anliegen, zur Standhaftigkeit aufzurufen in schwerer Zeit, aber ebenso sicher will er auch Gnosis, Schriftgnosis vortragen über sein Lieblingsthema“. In diese Richtung auch K. Backhaus, Neuer Bund, 275: „Insofern sich diese Argumentation primär gegen die Annahme einer polemisch-apologetischen Textfunktion wendet, erscheint sie als tendenziell sachgerecht; sie vermag jedoch die persuasive Strategie des Hebr nicht hinreichend zu erklären“. 7 Vgl. hierzu ausführlich u. 66–126. 8 Vgl. zu dieser Begrifflichkeit ausführlich u. 127–129.

40

Die textpragmatische Situierung des Hebr – Forschungspositionen

Mahnungen9? Oder stellen jene ,lediglichʻ ethisch-potentielle Konsequenzen10 vorgängiger theologisch-theoretischer Reflexion dar und haben somit mit der Situation der Adressaten nur mittelbar, d.h. vermittelt eben über die vorherige theologisch-theoretische Aufklärung, etwas zu tun haben? M.a.W.: Stehen die ethisch-aktuelle Ermahnung oder aber die theologisch-theoretische und, damit weitaus enger zusammenhängend, die ethisch-potentielle Reflexion im Mittelpunkt des Verfasserinteresses? Die umfassenden theologisch-theoretischen Ausführungen des Verfassers des Hebr scheinen – natürlich vorbehaltlich einer umfassenden Analyse der entsprechenden Textpassagen des Hebr – doch eher letzteres zu indizieren. Vereinzelt wird in der Hebr-Exegese im Blick auf dessen Abzweckung auch die Annahme vertreten, diese Schrift sei „zur Gattung der theoretischen Auseinandersetzung mit der [jüdischen] Synagoge“11 zu rechnen. Die inhaltliche Schwierigkeit dieser Hypothese besteht in zwei Aspekten: (a) Der Verfasser des Hebr verfolgt zumindest in der Konsequenz seiner Darstellung nicht eine theoretische, sondern eine praktische Zielsetzung, die auf die Theologie und die Lebenspraxis seiner Adressaten rekurriert12. (b) Von einer Auseinandersetzung mit einem jüdischen Gegenüber, sei es mit der Institution einer Synagoge, sei es mit jüdischen oder judaistischen Irrlehrern, fehlt in den Ausführungen des Verfassers des Hebr jegliche Spur13.

2.2

Die sog. ,relapseʻ-Theorie

Zahlreiche Forscher insbesondere der älteren deutschen und der gegenwärtigen angelsächsischen Hebr-Forschung14 vertreten die These, dass der Verfasser des In diese Richtung denkt etwa K. Backhaus, Neuer Bund, 275f.: „Was ihn [d.h. den Verfasser des Hebr] bekümmert, ist die Glaubenspraxis der Textadressaten“. Die theologischen Reflexionen seinen nach Backhaus lediglich ein „theoretischer Zwischenschritt [...], der zu einer ausgesprochen praktischen Vergewisserung führen soll: Wir haben die βεβαίωσις“! Ähnlich auch H.F. Weiß, Hebr, 51f.: „[...], so ist es ein durchaus praktisch-theologisches, d.h. auf die Glaubenspraxis der Adressaten zielendes Grundanliegen, das den Hebr bestimmt – mit einem Wort: ein pastoral-seelsorgerliches Grundanliegen“. 10 Vgl. zu dieser Begrifflichkeit ausführlich u. 127–129. 11 H. Conzelmann, Heiden, 239; ähnlich auch E. Gräßer, Bund, 105, A. 430. Conzelmann weist m.R. darauf hin, das im Hebr „das empirische Israel und sein Geschick kein Thema des Glaubens“ (239) ist. 12 Vgl. hierzu bereits das o. zur im Hebr selbst erkennbaren persuasiven Strategie des auctor ad Hebraeos Ausgeführte. 13 Vgl. hierzu F.F. Bruce, Hebr, 6, A. 13: „There is nothing in the argument to suggest that the readers were Gentile Christians exposed to judaizing propaganda like those to whom the Epistle to the Galatians was addressed“. 14 Vgl. hierzu den Überblick bei K. Backhaus, Neuer Bund, 276, A. 955. Backhaus weist darauf hin, dass die „relapse“-Theorie in der gegenwärtigen deutschsprachigen Hebr-Exegese weitgehend abgelehnt wird. 9

Die sog. ‚relapse‘-Theorie

41

Hebr mit seinem Schreiben beabsichtige, einen drohenden Rückfall seiner größtenteils judenchristlicher Leserschaft in ihre vorchristlich-jüdische Vergangenheit abzuwenden15. Die von ihnen vor ihrer Hinwendung zum Christentum gelebte jüdische Religion sei ihnen in ihrer christlichen Gegenwart „als faszinierende Alternative zu einem nicht mehr motivierenden Christentum“16 erschienen. Der Hebr sei somit in apologetischer bzw. polemischer Absicht und Zielsetzung verfasst worden. Diese These zur textpragmatischen Situierung des Hebr scheitert zunächst zumindest in ihrer zugespitzten Form schlicht daran, dass es sich, wie o. gezeigt17, bei dessen Adressaten nicht um Juden-, sondern um Heidenchristen handelt18, was heißt, dass ein ,Rückfallʻ in eine vorchristlich-jüdische Vergangenheit eo ipso ausgeschlossen werden muss. Darüber hinaus lassen sich für eine solche Annahme keinerlei Textsignale finden, die, ähnlich etwa den eindeutigen Formulierungen des Paulus in Gal 4,8–1119, einen solchen Rückfall andeuten würden20. Schließlich ist festzuhalten, dass die im Hebr vorliegende Argumentation einen dem Judentum sich zuwendenden Judenchristen oder einen Juden kaum überzeugt haben wird, geht sie doch unhinterfragt von Prämissen aus, die für jüdisches oder auch judenchristliches Denken keineswegs selbstverständlich gewesen sind, ein Sachverhalt, der zu dem Schluss führt, dass „die Argumentation … [des auctor ad Hebraeos] … nur denkbar [ist] gegenüber einer nicht spezifisch judenchristlich geprägten Gemeinde“21. In diesem Zusammenhang weist K. Backhaus auf folgende einzelne Beobachtungen hin: (a) Für einen Judenchristen oder Juden sei die im Hebr ausgeführte „,Zwangsläufigkeitʻ eines Wechsels des levitischen Priesterums oder der gesamten mit ihm verbundenen Heilsdisposition“ in keinem Falle in einer Weise einsichtigt, dass es dafür keiner – vom Verfassers des Hebr nun aber gerade unterlassenen – ausführlichen Begründung bedurft hätte22.

Vgl. hierzu in der Gegenwart etwa S.D. Toussaint, Eschatology, 67f.; ähnlich auch A. Strobel, Hebr, 82, der festhält, dass nach Hebr 6,1ff. „die Gefahr der Leser nicht eigentlich als Abfall gesehen wird, sondern als Rückfall in die frühere Zeit des unvollkommenen Wissens, der leidigen Buße und der toten Werke“. 16 K. Backhaus, Neuer Bund, 276. 17 Vgl. hierzu o. 26–37. 18 Vgl. hierzu bereits o. 36f.; vgl. zu diesem Argument etwa auch K. Backhaus, Neuer Bund, 279. 19 Zu Gal 4,8–11 vgl. bereits o. 36; vgl. hierzu auch J. Rohde, Gal, 180: „Die erneute Bekehrung zu dem ,anderen Evangeliumʻ … der Gesetzesbeobachtung ist nichts anderes als Rückfall [!] hinter schon Erreichtes“. 20 Vgl. hierzu etwa D. Guthrie, Introduction, 689: „…, but there is no hint that any had as yet fallen a prey to this temptation“. 21 K. Backhaus, Neuer Bund, 278. 22 Hier verweist Backhaus auf die lediglich enthymemischen Begründungen in Hebr 7,11f.; 8,7.13 (vgl. Neuer Bund, 279). 15

42

Die textpragmatische Situierung des Hebr – Forschungspositionen (b) Die den νόμος betreffenden Ausführungen in Hebr 7,14–19 seien „im Rahmen einer Auseinandersetzung mit jüdischer Theologie schlechterdings dysfunktional“23. (c) Die Interpretation der Gestalt Jesu durch kultische Kategorien und durch das Melchisedek-Motiv erschlossen sich jüdischem Denken keinesfalls mit Notwendigkeit24.

Festzuhalten bleibt jedoch, dass es dem Verfasser des Hebr im Rahmen seiner Argumentation augenscheinlich – zumindest auch – darum zu tun ist, „die Überlegenheit Christi und die Erfüllung des jüdischen Kultus durch ihn“25 zu zeigen26 und damit diesen und die jüdische Tradition insgesamt in ihrer soteriologischen Qualität zu relativieren27. K. Backhaus wertet die im Hebr vorliegende konkurrierende und kontrastierende Darstellung zwischen dem levitischen Kult auf der einen und dem Christuskerygma auf der anderen Seite als ein „Mittel rhetorischer Kontrastierung und damit Aufwertung, nicht aber Mittel apologetisch-polemischer Abwehr“28; der Verfasser des Hebr hebe mit seiner Darstellung„nicht so sehr [!] auf eine Relativierung jüdischer Tradition als vielmehr auf eine Intensivierung des – im Grundzug als selbstverständlich vorausgesetzten – Christus-Kerygmas“29 ab. In diesem Zusammenhang relativiert Backhaus die etwa in Hebr 7 aufweisbaren antithetischen Parallelismen, für die er konstatiert: „Das sachliche Gewicht liegt keineswegs auf der ersten, durch Konzessivpartikel eingeleiteten Satzhälfte, sondern auf dem zweiten, mit Adversativpartikel gekennzeichneten Teil“30. Ohne hier die Ergebnisse der im Verlauf der vorliegenden Studie noch vorzunehmende Untersuchung dieser Passagen vorwegzunehmen, wird sich doch grundsätzlich kaum bestreiten lassen, dass solche kontrastierenden, letzten Endes antithetischen Parallelisierungen – zumindest implizit – wenn möglicherweise auch nicht den Gedanken „apologetisch-polemischer Abwehr“, so aber doch immer auch die Vorstellung der Diminution bzw. des Dysphemismus des definiens, mit dessen Hilfe der – hier soteriologische – Gehalt des definiendum abgegrenzt werden soll, transportieren.

Neuer Bund, 279. Vgl. hierzu Neuer Bund, 279. 25 H. Feld, Hebr, 19. 26 Vgl. hierzu auch B. Kowalski, Rezeption, 60f.; sie weist darauf hin, dass im Hebr „die Vergangenheit Israels [...] als Antizipation der gegenwärtigen Kirche verstanden“ (60) wird. Allerdings sei die typologische Darstellung im Hebr „mehr durch Kontrast als durch Erfüllung charakterisiert“ (61). Vgl. in diesem Sinne auch M.E. Isaacs, Space, 74. 27 Vgl. hierzu etwa J. Moffatt, Hebr, xxxii, der, wenn auch vielleicht etwas zu pointiert, aber im Grundsatz durchaus nicht unbegründet feststellt: „His [d.h. des Verfassers des Hebr] aim primarily is to discredit the levitical priesthood of bygone days“. Ob das Wort „primarily“ hier zurecht fällt, muss dahingestellt bleiben; die zumindest unterschwellige Absicht, das levitische Priestertum zu diskreditieren, scheint allerdings kaum negiert werden zu können. Vgl. hierzu auch D. Guthrie, Introduction, 689: „In spite of the fact that some scholars have disputed the traditional interpretation, it does at least account for the main drift of the argument and, in this respect, has much to commend it“. 28 Neuer Bund, 277. 29 Neuer Bund, 277f. 30 Neuer Bund, 277. 23 24

Der Hebr als Kampfschrift gegen eine Rückwendung zum Judentum

2.3

43

Der Hebr als Kampfschrift gegen eine Rückwendung zu jüdischen Wurzeln und die Installation eines quasi-levitischen Kultes

Eine modifizierte Form der ,relapseʻ-Theorie wird, innerhalb einer Studie zur διαθήκη-Konzeption des Hebr, von S. Lehne entwickelt. Anknüpfend an R.E. Brown31 sieht sie die Adressaten des Hebr in einer „dangerous situation“32, die durch Glaubensmüdigkeit und den Verlust von Hoffnung gekennzeichnet ist33. Diese Glaubenskrise werde nun verschärft durch das Auftreten konservativer Judenchristen, die eine engere Anbindung des christlichen Glaubenslebens der Adressaten des Hebr an ihre jüdischen Wurzeln propagierten34 und danach strebten, unter ihnen eine an den levitischen Kult angelehnte Kultpraxis zu installieren35. Wiewohl die These Lehnes vor allem die theologisch-theoretischen Passagen innerhalb der Argumentation des auctor ad Hebraeos durchaus plausibel zur erklären in der Lage wäre, sprechen, ergänzend zu den o. gegen die ,relapseʻTheorie insgesamt ins Feld geführten Argumenten, insbesondere zwei Erwägungen deutlich gegen sie: (a) Der Hebr enthält keinerlei Hinweis darauf, dass dessen Verfasser sich polemisch mit zumindest aus seiner Sicht konservativ-judenchristlichen Irrlehrern auseinandersetzt36. Vgl. hierzu R.E. Brown/J.P. Meier, Antioch and Rome, 152–158. New Covenant, 103. 33 Vgl. New Covenant, 103: „They [d.h. die Adressaten des Hebr] are certainly weary and aimless in their journey, and lacking in hope and παρρησία (‚boldness‘)“. 34 Lehne spricht in diesem Zusammenhang von einer „nostalgia for their [d.h. der Adressaten] Jewish heritage“ (New Covenant, 16f.). 35 Vgl. hierzu New Covenant, 103: „But in addition to this ‚malaise‘, and perhaps because of it, their faith is being threatened by a group (or groups) of conservative Jewish-Christians from within (or from without) their number. It is plausible that these people are busy arguing from the OT that Christianity continues the Levitical heritage, and that they are hoping for (or already practising) a kind of visible replacement of Levitical cult“. In diesem Sinne neuestens auch L. Stolz, Höhepunkt, 36f.: „Der Verfasser richtet sich mit seinem Mahnschreiben sehr wahrscheinlich an eine Hausgemeinde in Rom, die mehrheitlich aus Judenchristen besteht und aus der einige (nicht alle!) in Gefahr stehen, das christliche Bekenntnis aufzugeben und ihre Hoffnung (wieder) auf das alttestamentliche Opferwesen und die jüdische Glaubenspraxis zu setzen. Wichtig ist dabei zu bemerken, dass der Verfasser den gefährdeten Teil der Adressaten nicht als bereits Abgefallene sieht“. 36 Dieses Argument behält seine Gültigkeit trotz des von P. Vielhauer, Geschichte, 248 gegebenen Hinweises auf den Eph, dessen Verfasser sich mit Heidenchristen ebenfalls auf unpolemische Weise auseinandersetze. Wird der Hebr allerdings expressis verbis als ,Kampfschriftʻ interpretiert, nimmt ein Fehlen solcher Polemik doch wunder. Vgl. hierzu m.R. K. Backhaus, Neuer Bund, 281: „Schließlich ist von affirmativen Aussagen, auch wenn sie mit besonderem Nachdruck vorgetragen werden, noch keineswegs via contradictionis auf antagonistische Geltungsansprüche zu schließen“. 31 32

44

Die textpragmatische Situierung des Hebr – Forschungspositionen

(b) Die Annahme, der Verfasser des Hebr wolle mit seinem Schreiben die Einrichtung eines quasi-levitischen Kultes unter seinen Adressaten verhindern, wirkt eher konstruiert und lässt sich weder am Text des Hebr belegen noch angesichts ihres theologischen und bildungssoziologischen Hintergrundes wahrscheinlich machen37.

2.4

Der Hebr als „Zwei-Fronten-Kampfschrift“38

Im Rahmen seiner Untersuchungen zur Christologie des Hebr entwirft W.R.G. Loader im Blick auf die Frage nach dessen textpragmatischer Situierung die Konzeption einer doppelten Frontstellung39. Einerseits gehe es seinem Verfasser konkret um die „Entwertung des alten Bundes“40, womit er „gegen den Anspruch jüdischer Vorstellungen in der Welt der Gemeinde“41 polemisieren wolle42, an-

Vgl. hierzu, noch grundsätzlicher, K. Backhaus, Neuer Bund, 281f.: „Lehne [...] [vertritt] die Hypothese von einem quasi-levitischen Kult innerhalb der christlichen Gemeinde, für den man vergeblich nach einem Textbeleg oder einer plausiblen traditions- oder religionsgeschichtlichen Stütze sucht. Damit erscheint ihre Hypothese als sehr ungesichert. [...]. [...] [Darüber hinaus] scheint die Adressatengemeinde des Hebr theologisch und bildungssoziologisch markant profiliert zu sein [...]. Daß die ausgerechnet durch die metaphysischen Differenzierungen des Hebr angesprochene Gemeindeformation eigentümliches Interesse am levitischen Kult gehabt hat, erscheint nicht plausibel“. 38 Zu diesem Begriff vgl. K. Backhaus, Neuer Bund, 280. 39 Vgl. hierzu Sohn, 173; ähnlich auch 258: „Die Leser sind in der Gefahr, in ihrer Standhaftigkeit als Christen nachzulassen. Sie sind außerdem in ihrem Glauben durch jüdische Lehren verunsichert. Unmittelbar vor ihnen lauert offenbar heftige Verfolgung. Das verschärft die Versuchung, sich dem Judentum anzuschließen und sich so der Verfolgung zu entziehen“. Damit liegt in der These Loaders im Grunde eine Kombination der o. unter 2.1. und 2.2. dargestellten Ansätze vor; in diesem Sinne auch K. Backhaus, Neuer Bund, 280. 40 Sohn, 257. 41 Sohn, 248. Nach Loader geht es dem Verfasser des Hebr darum, „hervorzuheben, daß die Christen den neuen und gültigen Bund haben: Die Juden können keinen Anspruch darauf erheben“ (248). S.E. nimmt der Verfasser des Hebr in Hebr 9,8ff. Bezug auf „konkrete. Handlungen einer jüdischen Gruppe oder jüdischer Gruppen, [...], aus denen die Versuchung für die Leser entstanden ist“. 42 Dies macht Loader insbesondere an der im Hebr vorliegenden Hohepriestervorstellung fest: „Von der Hohenpriestervorstellung auch entwickelt er [d.h. der Verfasser des Hebr] also einen Gegensatz zum alten Bund als Ganzem“ (Sohn, 248). Ähnlich hier S. Lehne, Covenant, 16f., der zufolge konservative judenchristliche Kreise die christliche Gemeinde angesichts einer Ermüdung des christlichen Gemeinde- und Glaubenslebens auf ihre jüdischen Wurzeln zurückverwiesen haben: „It is plausible that these people are busy arguing from the OT that Christianity continues the Levitical heritage, and that they are hoping for (or already practising) a kind of visible replacement of Levitical cult“ (vgl. bereits o. A. 35). Die Annahme der Praxis eines quasi-levitischen Kultes unter den Adressaten des Hebr ist durch den Text dieses 37

Der Hebr als Korrektur innerchristlich-theologischer Fehlentwicklungen

45

dererseits stelle er, hier dem Hebr durchaus eine „binnengemeindlich-parakletische Textfunktion“43 zuschreibend, „die Beibehaltung einer Kontinuität zwischen Gottes Handeln im AT und seinem Handeln durch Jesus“44 heraus. Zunächst fällt auf, dass die Ausführungen Loaders letzten Endes einen logischen Widerspruch beinhalten, der seine These insgesamt unwahrscheinlich erscheinen lässt: Wie soll nämlich zusammengedacht werden, dass der Verfasser des Hebr die πρώτη διαθήκη einerseits entwertet, andererseits die Kontinuität der in Jesus gestifteten καινὴ διαθήκη mit dieser herausstellt45? Darüber hinaus lassen sich für die Annahme, dass der Verfasser des Hebr sich in seinem Schreiben polemisch gegen jüdische oder judaistische Einflüsse bzw. Ansprüche wendet, die von jüdischen Kreisen an die Gemeinde herangetragen werden, keinerlei Textsignale finden46.

2.5

Der Hebr als Korrektur innerchristlichtheologischer Fehlentwicklungen

G. Theißen zufolge beabsichtige der auctor ad Hebraeos mit seiner Schrift, die bei seinen Adressaten beobachtbare Hinwendung zu einer Form christlicher Mysterienfrömmigkeit, somit also eine innerchristliche theologische (Fehl-)Entwicklung zu korrigieren47. So sehr der Gedanke einer auf innerchristliche VerhältSchreibens aber in keiner Weise gedeckt; so m.R. K. Backhaus, Neuer Bund, 281f. Darüber hinaus scheitert die These Lehnes daran, dass es sich bei den Adressaten des Hebr mit großer Wahrscheinlichkeit um Heidenchristen handelt (vgl. hierzu o. 26–37). 43 K. Backhaus, Neuer Bund, 281. 44 Sohn, 248. 45 Vgl. hierzu K. Backhaus, Neuer Bund, 281; nach Backhaus erscheint die These Loaders unwahrscheinlich, weil er im Rahmen seines Ansatzes mit „der Aporie konfrontiert [werde], Hebr postuliere die Kontinuität zu einem von Gott gestifteten ‚Bund‘, den er gleichzeitig polemisch herabzusetzen suche“. Darüber hinaus stellt Backhaus die von Loader dem Hebr unterstellte zweifache Textfunktion aus argumentationslogischen und argumentationsökonomischen Gründen in Frage: „Eine Hypothese wird um so unwahrscheinlicher, je mehr Hilfsannahmen sie erforderlich macht. Der Zwei-Fronten-Krieg ist eine unökonomische Hilfsannahme, weil der gleiche Textbefund mit der Annahme einer einzigen … Textfunktion ausreichend erklärt wird“ (281), bzw. wenn der gleiche Textbefund mit der Annahme einer einzigen Textfunktion erklärt werden kann.. 46 Wie solche Formulierungen aussehen könnten, zeigen etwa Gal 1,6–9 hier insbesondere Gal 1,7: εἰ μή τινές εἰσιν οἱ ταράσσοντες ὑμᾶς καὶ θέλοντες μεταστρέψαι τὸ εὐαγγέλιον τοῦ Χριστοῦ, und Kol 2,8: βλέπετε μή τις ὑμᾶς ἔσται ὁ συλαγωγῶν διὰ τῆς φιλοσοφίας καὶ κενῆς ἀπάτης κατὰ τὴν παράδοσιν τῶν ἀνθρώπων, κατὰ τὰ στοιχεῖα τοῦ κόσμου καὶ οὐ κατὰ Χριστόν. 47 Vgl. hierzu Untersuchungen, 9. Vgl. hierzu auch C. Iacubovici-Boldisor, Mysterienkulte, 220: „Die Anhänger der noch bestehenden christlichen Mysterienkulte oder -frömmigkeit belehrt er, daß Christus der ewige Hohepriester ist, der durch sein Kreuzesopfer ein für allemal

46

Die textpragmatische Situierung des Hebr – Forschungspositionen

nisse und Entwicklungen rekurrierenden textpragmatischen Ausrichtung des Hebr und, angesichts der umfassenden theologischen Darlegungen des Hebr, auch derjenige des Hebr als einer Schrift, mit der theologische Fehlentwicklungen korrigiert werden sollen, durchaus Beachtung verdienen, so sehr lässt die konkrete These Theißens – unabhängig von der methodischen Frage, ob der von Theißen eingeschlagene traditionsgeschichtliche Weg grundsätzlich überhaupt zielführend sein kann48 – unerklärt, warum der Verfasser des Hebr, wenn er sich inhaltlich von einer Form christlicher Mysterienfrömmigkeit absetzen möchte, im Rahmen seiner theologischen Argumentation, etwa in Hebr 7–9, so explizit auf den Kontrast zwischen der πρώτη διαθήκη und der καινὴ διαθήκη abhebt. Darüber hinaus ließe sich, wenn denn die Adressaten des Hebr einer Form christlicher Mysterienfrömmigkeit folgten, die Theissen zufolge „vom Sakrament das Heil erwartet, deren Eschatologie stark präsentisch und deren Stimmung enthusiastisch [!] ist“49, der etwa in Hebr 12,350 vorliegende ermutigende Zuspruch seitens des auctor ad Hebraeos kaum plausibilisieren; gegenüber Christen, die eine enthusiastische Frömmigkeit an den Tag legen, scheinen solche Ermutigungen gänzlich unnötig. Schließlich fehlen grundsätzlich Textsignale, die eine aktuell virulente Auseinandersetzungen mit Vertretern einer wie auch immer zu beschreibenden christlichen Mysterienfrömmigkeit indizierten. Angesichts des Sachverhalts, dass im Hebr die theologischen Darlegungen einen breiten Raum einnehmen und die Argumentationslogik insgesamt in erheblichem Maße theologisch geprägt ist, scheint der Gedanke, dass der auctor ad Hebraeos mit seiner Schrift theologische Fehlentwicklungen zu korrigieren gedachte, jedoch grundsätzlich nicht von vornherein völlig ausgeschlossen. Aller-

die Erlösung gebracht, die Christen von Sünden befreit hat, daß sie selbst sein heiliges Haus darstellen … und somit keine Mysterienpriester und -kultstätten mehr nötig haben“. Darüber hinaus muss die von Iacubovici-Boldisor angenommene ionische Adresse des Hebr (vgl. etwa 218) doch mehr als in Zweifel gezogen werden (vgl. hierzu o. 12–14). 48 Ein solcher traditionsgeschichtlicher Zugang macht nur Sinn, wenn anzunehmen ist, dass die vom auctor ad Hebraeos aufgenommenen Traditionsstücke seinen Rezipienten tatsächlich bekannt gewesen sind. Im Blick auf die Hohepriestertradition setzt Theißen diese Bekanntheit voraus; sie seien „den Angeredeten gewiß bekannt“ (Untersuchungen, 16) gewesen. Fraglich bleibt jedoch, ob der Bekanntheitsgrad soweit reichte, dass sie die vom Verfasser des Hebr vorgenommenen Veränderungen der Tradition in der notwendigen Extensität wahrzunehmen in der Lage gewesen sind. Methodisch kaum haltbar scheint der methodische Ansatz Theißens allerdings im Blick auf die Melchisedektradition; hier geht er davon aus, dass diese Tradition für die Adressaten des Hebr etwas Neues darstellt. Unter dieser Voraussetzung lässt sich dann aber kaum methodisch abgesichert eruieren, „warum er [d.h. der Verfasser des Hebr] sie übernommen hat und in welchem Sinne er sie verwendet, unter Umständen gegen die Anschauungen, die er bei den Angeredeten voraussetzt“ (15). 49 Untersuchungen, 9. 50 Vgl. hierzu H.-F. Weiß, Hebr, 642: „Die akute Gefahr ihrer Situation sind ,Ermattungʻ (κάμνειν) und Mutlosigkeit (ἐκλυόμενοι)“.

Der Hebr als Korrektur innerchristlich-theologischer Fehlentwicklungen

47

dings müsste dieser dann auf der Basis der Analyse der entsprechenden Passagen aus dem Hebr weitaus umfassender begründet werden, eine Aufgabe, die die Studie Theißens somit als Forschungsdesiderat erkennen lässt. Innerhalb einer Diskussion der „Hauptthemen der Theologie des Hebräerbriefes“51 interpretiert M. Rissi den Hebr ebenfalls als einen Versuch, innerchristlich-theologische Fehlentwicklungen zu korrigieren. Anders als zahlreiche andere Exegeten sieht er die Adressaten des Hebr nicht in einer Glaubens- oder gar in einer Identitätskrise52; bei jenen handele es sich vielmehr um Christen, denen „die starken charismatischen Erlebnisse der Anfangszeit, die ihre ganze Haltung und ... ihre Theologie geformt haben, ... in mancher Hinsicht zur Versuchung geworden [sind], die notvolle Situation zwischen den Zeiten mit dem Bewußtsein zu überspielen, schon die ganze Herrlichkeit der Verheißung in der Verbindung mit dem himmlischen Hohenpriester zu besitzen“53. Die Adressaten des Hebr seien der Ansicht, über alles das, was zum Heil notwendig ist, bereits zu verfügen; dies habe sie gleichgültig gegenüber der auch ihnen zu Gehör gebrachten christlichen Verkündigung werden lassen54. Die ‚Verinnerlichung‘ ihres Glaubensbesitzes habe zudem dazu geführt, dass ihre „Fürsorge für die Mitchristen, besonders für die Gesamtgemeinde, ... geschwächt“55 worden sei und dass sie sich „in das Ghetto der Gleichgesinnten zurückgezogen und den Konflikt mit der Welt vermieden“56 hätten. Dieser These von Rissi, die – und dies sei durchaus positiv vermerkt – ebenfalls den Gedanken eines innerchristlichen Bezugs des Hebr stark zu machen sucht, widerraten allerdings zunächst die Ausführungen des Verfassers des Hebr in Hebr 6,10, die weder die Annahme, die Adressaten des Hebr hätten sich von ihren Glaubensgenossen und der Welt isoliert, noch die Hypothese, sie hätten in ihrer christlichen Nächstenliebe und Fürsorge nachgelassen, zu stützen vermag. Vielmehr belegen sie gerade, dass es im Blick auf das karitative Engagement der im Hebr Angeredeten offensichtlich nichts zu bemängeln gibt57. Darüber hinaus Vorwort zu Theologie; Rissi beabsichtigt, im Rahmen seiner Rekonstruktion der Theologie des Hebr den „Anlaß des Schreibens in Erinnerung … [zu rufen], der den Verfasser bestimmte, so und nicht anders mit seinen Lesern zu sprechen“ (Vorwort). 52 Vgl. hierzu das Vorwort zu Theologie: „Was seit langem als ausgemacht gilt, daß die Leserschaft [des Hebr] im Glauben erschlafft und gleichgültig geworden sei, wird hier [d.h. in der Studie von Rissi] bezweifelt und nach einem überzeugenderen Grund gesucht, der die Art der Paränese und Theologie des Hebr zu erklären vermag“. 53 Theologie, 23f. 54 Vgl. hierzu auch Theologie, 114: „In diesen [...] Versen [d.h. in Hebr 6,4–6; 10,26–31 und 12,12 – 17] beschäftigt sich der Verfasser nicht mit irgendwelchen, moralischen Defekten oder mit bewußtem und willentlichem Abfall, sondern mit dem Hauptproblem der Leser, der Unwillligkeit, auf das Wort vom Erdenwirken und Tod des Christus-Hohenpriesters zu hören“. 55 Theologie, 24. 56 Theologie, 24. 57 Vgl. zur Diskussion dieses Verses u. 194–196. Im Blick auf Hebr 6,9f. spricht Rissi von der „einstmals eingenommene[n] Haltung“ der Adressaten des Hebr (Theologie, 2). Hebr 6,10 51

48

Die textpragmatische Situierung des Hebr – Forschungspositionen

lassen insbesondere die Einlassungen des Verfassers in Hebr 5,11–14; 6,1–3 die Vermutung plausibel erscheinen, dass den Adressaten des Hebr das Wissen um Christus als des ἀρχιερεὺς κατὰ τὴν τάξιν Μελχισέδεκ und die mit dieser Vorstellung verbundenen theologischen Implikationen und Konsequenzen gerade fehlt58. Damit aber wird der Grundthese Rissis, die Adressaten des Hebr gingen davon aus, „schon die ganze Herrlichkeit der Verheißung in der Verbindung mit dem himmlischen Hohenpriester zu besitzen“59 und „schon alles zu haben, was zum Heile dient“60, der Boden entzogen. Nichtsdestotrotz vermag auch der forschungsgeschichtliche Anstoß Rissis, der, wie derjenige Theißens, darauf abzielt, den Hebr als den Versuch zu interpretieren, innerchristliche theologische Fehlentwicklungen zu korrigieren, zumindest im Grundsatz eine Spur zu legen, der es, allerdings auf der Basis umfassender Analysen der entsprechenden Passagen des Hebr, nachzugehen lohnt. Die Verwendung des Begriffs ἀρχιερεύς in Hebr 2,17; 3,1; 4,14 vermag kaum zu belegen, dass den Adressaten des Hebr „die Hohepriesterlehre als solche ... bekannt“61 gewesen wäre. Allenfalls kann aufgrund dieser Belege angenommen werden, dass sie, möglicherweise aus homologischen Traditionen, um die Bezeichnung Christi als ἀρχιερεύς wussten. Offensichtlich aber fehlte ihnen das Vermögen, diesen Titel auf dessen theologische, präziser: christologische Implikationen hin zu interpretieren. Das Dictum Rissis: „Der Abschnitt [Hebr] 5,11–6,20 ist nicht eine Einführung in eine neue Geheimlehre, die nur Fortgeschrittene verstehen könnten, sondern ein Mahnwort, den himmlischen Hohenpriester nicht ohne seinen Dienst auf Erden zu verstehen“, geht am Text und am Argumentationsduktus dieser Passage vorbei62.

2.6

Der Hebr als identitätsstiftendes und stabilitätssicherndes Mahnschreiben

Nach K. Backhaus, der sich im Rahmen einer Studie zum διαθήκη-Konzept des Hebr dem Problem der textpragmatischen Situierung dieser Epistel widmet, sieht der Verfasser des Hebr seine Adressaten in einer existentiellen Glaubensund Orientierungskrise63, die im Wesentlichen daraus resultierte, dass sie als

belegt, daß sie diese Haltung auch noch in der Gegenwart der Abfassung des Hebr einnehmen (vgl. hierzu u. 195f.). 58 Vgl. hierzu u. 66–126.161–176 und etwa die Ausführungen von G. Theißen, Untersuchungen, 16 (vgl. hierzu o. 45f.). 59 Vgl. hierzu o. 47. 60 Theologie, 24. 61 Theologie, 9. 62 Theologie, 69f.; zur ausführlichen Exegese dieser Passage vgl. u. 66–216. 63 Backhaus definiert diese Glaubenskrise näherhin als die „eines Christentums [...], das sich seiner jüdischen Herkunft nicht mehr bewußt ist, ohne doch schon selbst eine eigene

Der Hebr als identitätsstiftendes und stabilitätssicherndes Mahnschreiben

49

zweite bzw. dritte christliche Generation „einerseits die Anfangsdynamik [der Entwicklung des Christentums] nicht mehr erlebt“64 hätten, andererseits aber „noch nicht über den inneren Halt einer vertieften und institutionell abgesicherten Gruppenüberlieferung samt dem damit verbundenen geschichtlich fundierten Selbstverständnis“65 verfügten. Insofern liege das Problem der Adressaten des Hebr „erheblich tiefer als das der Parusieverzögerung“66; es bestehe letzten Endes „in der virulenten frühchristlichen Urerfahrung einer Spannung zwischen der äußerlich oder innerlich, also in Glaubenspraxis oder Glaubensreflexion, als notvoll empfundenen faktischen Lebenssituation und dem in der Homologie vorgegebenen eschatologischen Heilsbewußtsein“67. Dies hätte unter ihnen Unsicherheit und Zweifel gegenüber den ihnen in der Vergangenheit verkündigten Grundlagen des christlichen Glaubens und gegenüber dem jeweils eigenen persönlichen Heilsstatus entstehen lassen und so eine „verheißungsgeschichtliche Unsicherheit“68 evoziert69. Der Verfasser des Hebr unternähme den geschichtliche Identität entwickelt und damit auch seine theologische Legitimität begründet zu haben“ (Neuer Bund, 265). 64 Neuer Bund, 265. 65 Neuer Bund, 265. Vgl. hierzu auch 270: „Die Textadressaten des Hebr leben spirituell im ‚Niemandsland‘ zwischen Urkirche und Frühkirche“. 66 Neuer Bund, 265. 67 Neuer Bund, 265. Die aus dieser nicht ausgehaltenen Spannung resultierende Grundhaltung sei nach Backhaus – hier unter Verweis auf O. Kuss - die der ‚geistlichen Anämie‘, die ‚den Organismus für jede Art von Infektion besonders anfällig macht‘“. 68 Vgl. hierzu die prononcierte Zusammenfassung Neuer Bund, 264f.: „Sie [d.h. die Adressaten des Hebr] sind sich der Dignität ihres jetzigen Heilsstatus nicht ausreichend bewußt, setzen zu geringes Vertrauen in die Basis dieses Status, mithin in die Unverbrüchlichkeit der christlichen Heilsordnung und die Relevanz des Wirkens Jesu, namentlich seines Kreuzestods. Dem entspricht es, daß ihre theologische Deutung der Heilstat Jesu aus der Sicht des Verfassers oberflächlich bleibt; auch die Bedeutung des durch diese Heilstat ausgelösten verheißungsgeschichtlichen Äonenwechsels erfassen sie seiner Auffassung nach nicht angemessen. All dies läßt sich zusammenfassen in der These: Die Textadressaten des Hebr leiden unter einer verheißungsgeschichtlichen Unsicherheit“. 69 Ähnlich auch H.-F.Weiß, Hebr, 72: „Ganz offensichtlich sehen sich die Adressaten getäuscht und enttäuscht in den Erwartungen, die sie einst, in den ‚früheren Tagen‘, in ihren Glauben gesetzt hatten. Zweifel an der Gültigkeit der Verheißungen Gottes werden laut ([Hebr] 10,23.36)“. Vgl. hierzu auch, wenn auch in sehr allgemeiner Formulierung, E. Gräßer, Hebr I, 26: „Die Kraft des Anfangs hat sich verbraucht. Darum sinnt unser Verf[asser]. auf Reaktivierung ermatteter Glaubenshoffnung“. Vgl. darüber hinaus auch F. Laub, Bekenntnis, 44: „Es [d.h. das Bekenntnis] ist jetzt eine das Leben der Glaubenden bestimmende Größe und als solche in Gefahr, in der gegenwärtigen Situation der Anfechtung und Glaubensmüdigkeit von den Adressaten nicht mehr verstanden zu werden und aus ihrem Blickfeld zu verschwinden“. Auf dem hinteren Klappentext seines Buches fasst F. Laub den zur Zeit des Erscheinens seiner Studie, d.h. im Jahr 1980, gültigen Forschungsstand zur Frage nach der textpragmatischen Situierung des Hebr folgendermaßen zusammen: „In der Hebräerbriefexegese herrscht weitgehend Übereinstimung darin, daß der Hebr-Verfasser von der Intention geleitet ist, einem von Glaubensmüdigkeit und Abfall bedrohten Adressatenkreis das ‚Bekenntnis‘ neu und gewinnend auszulegen“.

50

Die textpragmatische Situierung des Hebr – Forschungspositionen

Versuch, mit Hilfe einer „eigentümliche[n] metaphysisch-soteriologische[n] Grundkonzeption“70 diese „verheißungsgeschichtliche Unsicherheit“ zu überwinden71, das Vertrauen seiner Adressaten in die ihnen verkündigte neue Heilsordnung zu stabilisieren und somit die „christliche Existenz verheißungsgeschichtlich [neu] zu situieren“72. Diese von Backhaus postulierte theologische „Identitätskrise“73 zeige sich konkret in vier Aspekten: (a) Die Adressaten des Hebr zweifelten an ihrem Heilsstatus und stellten sich die Frage, ob es sich überhaupt noch lohne, Christ zu sein und zu bleiben74. (b) Angesichts der fehlenden Anciennität der eigenen Religion erwuchsen bei den Adressaten des Hebr gleich in zwei Hinsichten Zweifel an der eschatologischen Dignität des von ihnen praktizierten Glaubens. Einerseits nämlich standen sie vor dem Hintergrund einer in ihrer damaligen Umwelt „eo ipso suspekten Wandelhaftigkeit des Religiösen“75 vor der – vor allem aus paganer Sichtweise sich ergebenden – Aufgabe, ihre ‚neue‘ christliche Religion als ein grundlegend eschatologisches und nicht lediglich religionsgeschichtliches Phänomen zu rechtfertigen76. Andererseits – und hier rückt die jüdische Herkunft des Christentums in den Blick – habe der Verfasser des Hebr seine Adressaten mit der

Neuer Bund, 265. Vgl. hierzu auch Neuer Bund, 274: Der Verfasser des Hebr versuche, „in parakletischer Absicht die innere Festigkeit christlicher Existenz zu stärken und die praktische Orientierung der Gemeinde zu leiten“. 72 Neuer Bund, 265; vgl. hierzu auch ders., Gottesvolk, 313: „Statt um die polemische Herabsetzung des Jüdischen geht es dem Verfasser um die theologische Relativierung des Irdischen“. 73 Neuer Bund, 265. 74 Vgl. Neuer Bund, 266; Backhaus verweist in diesem Zusammenhang auf A. Schlatter, dem zufolge sich die Adressaten des Hebr die Frage stellten, ob es überhaupt noch „der Mühe wert [sei], Christ zu sein“ (Hebr, 221). 75 Neuer Bund, 266. 76 Vgl. hierzu Neuer Bund, 266f.: „Antikes Denken stand der Vorstellung einer Veränderung der religiösen Grundlagen weitgehend mißtrauisch gegenüber [...]. Der Vorwurf der ‚Neuheit‘ spielte in der paganen Christentumskritik von Anfang an [...] eine entscheidende Rolle und fand um 180 n.Chr. im Ἀλητὴς λόγος des Celsus den am frühesten belegten systematischen Niederschlag [...]. Die erste literarische Kritik am Christentum empfand gerade dies als nicht nachvollziehbar, daß die Christen die Heilstat Christi und die ihr voraufgehende Offenbarungen, historische Fakten relativ junger Vergangenheit also, zum Kern und zum Angelpunkt ichrer αἵρεσις machen. [...] [Das Christentum] mußte seine Legitimität nachweisen, – und darum konnte es auch Hellenen gegenüber gar nicht auf die Berufung auf das AT verzichten‘ [...]. Erst recht mußte eine monotheistische Offenbarungsreligion wie das Judentum dem Gedanken einer Veränderung der religiösen Ordnung fremd gegenüberstehen, denn hier lag der letzte Grund für die Unveränderlichkeit der Gottesordnung in der Selbigkeit des offenbarenden Gottes“. Die Kritik an der Neuheit des Christentums sieht Backhaus bereits im Hintergrund der Logoschristologie Justins: „Es dürften daher Einwände gegen das Christentum als Produkt der Wandelhaftigkeit gewesen sein, die – nicht lange nach dem Hebr – Justin zu seinem geschichtstheologischen Entwurf vom λόγος σπερματικός ebenso inspiriert haben wie zu dem ‚Altersbe70 71

Der Hebr als identitätsstiftendes und stabilitätssicherndes Mahnschreiben

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„prinzipiellen Verlegenheit“77 konfrontiert gesehen, wie denn die neue Verkündigung des endzeitlichen Heils in Christus „angesichts des Zeugnisses der ‚heiligen Schrift‘ über die Erwählung Israels ... zu rechtfertigen“78 sei79? Konkret vermochten die Adressaten des Hebr das theologische Problem, „wie [...] die in der ‚Schrift‘ bezeugte Heilsordnung durch das Auftreten Jesu desavouiert worden sein“80 konnte, hermeneutisch81 nicht zu bewältigen. (c) Die Adressaten des Hebr fragten angesichts einer „äußerlich wie innerlich, also sozial wie theologisch unsicheren Lebenssituation“82, inwiefern der überlieferte Glaube ihnen noch „existentielle Sicherheit“83 garantieren und verbürgen könne. (d) Schließlich sei ihnen der „existentielle. Ertrag“84 der Verkündigung von Jesus zweifelhaft geworden, da für sie als „christliche. Übergangsgeneration“85

weis durch Schriftzeugnis‘. Die weitere frühchristliche Apologetik hat sich bemüht, die Reklamation des Alters für das Christentum näher zu begründen“. Vgl. hierzu auch B. Studer, Ansatz, 436: „Die Frage nach dem Justin in seiner Logos-Christologie persönlich bedrängenden Anliegen kann wohl am besten dahin beantwortet werden, daß damit zwei Einwände gegen den christlichen Glauben widerlegt werden sollten, die um 150 den Gläubigen anscheinend am meisten zu schaffen machten. Wie kann das Christentum, das nur ‚von gestern‘ stammt, die wahre Religion sein?. Und, wie kann Jesus Christus der Erlöser aller Menschen sein, da er doch erst vor anderthalb Jahrhunderten erschienen ist? Auf diese zwei herausfordernden Einwände, die im Grunde zusammengehören, gab es für Justinus nur eine Antwort. Christus hat zu allen Zeiten gesprochen und so allen Menschen die Möglichkeit gegeben, im Glauben an ihn das Heil zu finden“. 77 Vgl. zu diesem Ausdruck Neuer Bund, 268. 78 Neuer Bund, 266. 79 Backhaus spricht in diesem Zusammenhang davon, dass die im Hebr angeschriebenen Christen ihrer christlichen Identität ungewiss geworden seien und sich fragten, ob sie sich und ihr Christsein „mit einer Art ‚Leihidentität‘“ (Neuer Bund, 266) definierten. 80 Neuer Bund, 268. 81 Vgl. hierzu auch Neuer Bund, 268: „In der textpragmatischen Erschließung von [Hebr] 8,7–13 hat sich gezeigt, in welcher Hinsicht sich auch die Gemeinde des Hebr mit dieser hermeneutischen Aporie auseinandersetzen mußte: Die eigene Heilsordnung ist in der ‚eigenen‘ heiligen Schrift nicht bezeugt, die ‚eigene‘ heilige Schrift – ein ‚Neues Testament‘ existiert noch nicht – bezeugt eine im Ansatz überwundene Heilsordnung. So mußten die Christen – auch zur Verwunderung ihrer Kritiker [...] – für sich in Anspruch nehmen, die heiligen Schriften der Juden besser zu verstehen als diese selbst“. Im Blick auf die hier genannten Kritiker verweist Backhaus auf Origenes, contra Celsum 2,4; 5,65; 6,29, auf Tertullianus, apol. 21,1f. und auf Eusebios, praep.ev. I 2,5. 82 Neuer Bund, 269. 83 Neuer Bund, 269. 84 Neuer Bund, 269. 85 Neuer Bund, 270.

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einerseits das empirische Wirken Jesu einer vergangenen Zeit angehöre, andererseits „die Parusieerwartung an Brisanz verloren“86 habe87. In gewissem Sinne lässt sich die These, der Hebr stelle ein identitätsstiftendes und stabilitätssicherndes Mahnschreiben dar, durchaus auch als eine Form der Korrektur innerchristlich-theologischer Fehlentwicklungen88 begreifen. Im Blick auf ihre Hintergründe ist diese These von der Annahme zu unterscheiden, dass der auctor ad Hebraeos mit seiner Epistel innerchristlich-theologische Fehlentwicklungen zu korrigieren beabsichtigte, jedoch deutlich zu unterscheiden: Während den – aus der Perspektive des Verfassers des Hebr zu korrigierenden – unterschiedlichen ‚innerchristlich-theologischen Fehlentwicklungen‘ allermeist jeweils bewusst getroffene Entscheidungen für oder gegen die Akzeptanz einer konkreten theologische Programmatik zugrundeliegen – ohne dass dabei die Entscheidung gegen die Akzeptanz eines theologischen Programms gleich unmittelbar dessen konfrontative Ablehnung implizieren muss, sondern auch lediglich Desinteresse diesem gegenüber dokumentieren kann –, ist die Abfassung des Hebr als eines identitätsstiftenden und stabilitätssichernden Mahnschreibens evoziert durch den eher unbewussten Prozess eines schleichenden Plausibilitätsverlustes des überkommenen christlichen Kerygmas und der überkommenen christlichen Traditionen. Denjenigen Christen, die ein identitätsstiftendes und stabilitätssicherndes Mahnschreiben zugesandt bekommen, ist ihr Christsein fraglich geworden. Sie benötigen daher eine poimenisch ausgerichtete, positive (Glaubens-)Erfahrungen aus der Vergangenheit thematisierende und Hilfen für die gegenwärtige Krise aufzeigende, eben auf die Stabilisierung ihrer christlichen Identität abhebende Ansprache. Diejenigen Christen hingegen, deren theologische Entwicklung als zu korrigierende Fehlentwicklung gebrandmarkt wird, werden restriktiv angesprochen, polemisch-argumentativ mit ihrer theologischen Entscheidung konfrontiert und auf die letztendliche Ausweglosigkeit des von ihnen eingeschlagenen theologischen Weges hingewiesen. Das aber heißt: Eine poimenisch ausgerichtete, die aktuell virulente theologisch-programmatische Position der Adressaten stärkende Argumentationslogik vermag die Annahme zu stützen, der Hebr stelle ein identitätsstiftendes und stabilitätssicherndes Mahnschreiben dar, eine restriktiv oder gar polemisch ausgerichtete, die aktuell virulente theologische Programmatik derselben kritisierende hingegen die Annahme, der Hebr sei verfasst worden, um innerchristlich-theologische Fehlentwicklungen zu korrigieren, Fehlentwicklungen, die sich entweder in einer – zumindest in den Augen des auctor ad Hebraeos – unzulänglichen oder aber gleich vollständig irrigen Theologie konkretisieren können.

Eine kritische Prüfung der von Backhaus dargelegten Überlegungen führt aber zu gleich mehreren Anfragen bzw. Einwänden: (a) Gegen die Annahme, den Adressaten des Hebr seien Zweifel an ihrem Heilsstatus erwachsen, die unter ihnen eine Glaubens-, Vertrauens- und Orientierungskrise evoziert hätten, spricht, Neuer Bund, 269. Vgl. hierzu ergänzend Neuer Bund, 269f.: „Zwangsläufig mußte sich der dritten christlichen Generation das Problem des ‚Vergangen-Seins‘ Jesu in dem Maße stellen, in dem das ‚Voraus-Sein‘ seines ‚zweiten Kommens‘, die Parusie, an gelebter Glaubensrelevanz einbüßte. Das Jesus-Kerygma drohte in dem Graben zu versinken, der die Jetztzeit der Gemeinde von der Zeit des Anfangs bei Jesus [...] trennte“. 88 Vgl. hierzu o. 45–48. 86 87

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dass der der Verfasser des Hebr den von ihm angeschriebenen Christen, zumindest was deren karitatives Engagement89 gegenüber den ἅγιοι, den bekannten oder aber womöglich auch unbekannten Glaubensgenossen90 angeht, ein außerordentlich gutes Zeugnis ausstellt91. In Hebr 6,10b nämlich bescheinigt er ihnen, dem ὄνομα θεοῦ ihre Liebe erwiesen zu haben92, indem sie ihren Schwestern und Brüdern in der Vergangenheit zu Diensten gewesen sind und auch in der Gegenwart noch dienen: διακονήσαντες τοῖς ἁγίοις καὶ διακονοῦντες [!]93. Wenn nun aber die geschwisterliche (Glaubens-)Praxis unter den Adressaten – und die Ausführungen des Verfassers des Hebr lassen dies zumindest hoch wahrscheinlich erscheinen – offensichtlich intakt gewesen ist, verliert die Annahme, dass jene ihre gegenwärtige (fundamental-)theologisch-theoretische Situation als krisenhaft empfunden haben und Zweifel an der ihnen in ihrem Glauben vermittelten „existentiellen Sicherheit“94 hegten, erheblich an Plausibilität: Warum nämlich sollten die im Hebr angeschriebenen Christen offensichtlich in kontinuierlicher Weise gegenüber Christen die christliche Diakonie praktizieren, wenn ihnen ihre Existenz als Christen nicht mehr plausibel erschienen wäre? Die von A. Schlatter formulierte und von K. Backhaus akzeptierte Auskunft, dass sich die Adressaten des Hebr die Frage gestellt hätten: „Ist es [noch] der Mühe wert, Christ zu sein?“95, scheint sich durch die Ausführungen des Verfassers des Hebr in Hebr 6,10 nicht nur als nicht gedeckt, sondern als nachgerade nicht haltbar zu erweisen. Aufgrund der Ausführungen des Verfassers des Hebr in Hebr 6,10–12 differenzieren einige Kommentatoren zwischen dem ‚Werkeifer‘ und dem ‚Glaubenseifer‘ seiner Adressaten. Während sie sich einerseits guter Werke befleißigten, sei es in der Wahrnehmung des Verfassers um die Stabilität ihres Glaubens weit weniger gut bestellt; 89 Vgl. hierzu m.R. H. Windisch, Hebr, 57: „Doch ist das Liebeswerk [...] noch jetzt im Schwange [...]; hieran fehlt es also nicht oder nicht ganz“. 90 Zu dieser umfassenden Deutung des Terminus ἅγιοι vgl. etwa H. Hegermann, Hebr, 135f. Auch nach H.-F. Weiß, Hebr, 354 bezeichnet dieser Begriff „die Christen generell“; Weiß verweist hierbei noch auf Hebr 3,1 und 13,24. Gegen einen Bezug dieses Begriffs auf die Christen in Jerusalem bereits E. Riggenbach, Hebr, 164: „Der Sprachgebrauch gibt [...] keinen Anlaß, speziell an die Christen in Jerusalem zu denken“. 91 Vgl. hierzu etwa E. Gräßer, Hebr I, 365; nach Gräßer kann der Verfasser des Hebr „den Angeredeten testieren [...]: Ihr habt nachweislich etwas vorzuweisen, nämlich die dem Namen Gottes erwiesene Liebe“. 92 Vgl. hierzu auch C.-P. März, Hebr, 44: „Denn sie [d.h. die Adressaten des Hebr] können auf vielfache Übungen tätiger Liebe verweisen“. März verweist in diesem Zusammenhang auf Hebr 10,32 als inhaltliche Parallele. 93 H.W. Attridge, Hebr, 174 spricht im Blick auf Hebr 6,10 von einer captatio benevolentiae, die sich ähnlich auch in anderen urchristlichen Schriften findet. Attridge verweist dabei auf 1Thess 1,3, auf Apk 2,19 und das Proömium des von IgnRöm. Im Unterschied zu Hebr 6,10 kommt diesen captationes allerdings sämtlich eine einen Brief bzw. ein Sendschreiben einleitende Funktion zu. 94 Vgl. hierzu o. 48–52. 95 Hebr, 221; vgl. hierzu bereits o. 50, A. 74.

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Die textpragmatische Situierung des Hebr – Forschungspositionen auf die Notwendigkeit, diese zu stärken, weise er mit seinen Ausführungen in Hebr 6,10–12 hin96. Solche und ähnliche Differenzierungsversuche verkennen, dass der Verfasser des Hebr seinen Adressaten ausdrücklich testiert, dass sie ihre Liebe dem ὄνομα θεοῦ erwiesen haben, bzw. dass ihre Liebesdienste an den ἅγιοι immer auch Liebesdienste gegenüber dem ὄνομα θεοῦ waren und sind97. Wenn an dieser Stelle für den Verfasser des Hebr nun aber „‚Werk‘, ‚Liebe‘ und beider bekennendes Bezogensein auf den ‚Namen‘ Gottes eng zusammen [gehören]“98, so sind die Liebestaten der Adressaten des Hebr als „gelebtes Bekenntnis“99 und sie selbst als „Bekenner“100 zu charakterisieren. Haben die Adressaten des Hebr nun aber auch in der Gegenwart der Abfassung der Epistel noch als „Bekenner“ zu gelten, so verbietet sich die künstliche Differenzierung zwischen ihrem offensichtlich enormen und auch kontinuierlich sichtbar werdenden ‚Werkeifer‘ und ihrem angeblich defizitären ‚Glaubenseifer‘.

(b) Die Annahme, der Verfasser des Hebr habe seine Epistel verfasst, weil seinen Adressaten als Christen einer „Übergangsgeneration“ der „existentielle Ertrag“ des Kerygmas von Jesus zweifelhaft geworden sei, da einerseits das historische Wirken Jesu immer mehr zu einem Element der Vergangenheit geworden, andererseits aber zugleich auch die Erwartung seiner Parusie verblasst sei, lässt sich schon aus theologiegeschichtlichen Gründen kaum wahrscheinlich machen. Die Briefe des Paulus lassen nämlich erkennen, dass bereits der Apostel, für den „die bevorstehende Ankunft des gekreuzigten und auferstandenen Jesus Christus ... bis zum Ende seines Lebens ... ein prägendes Element seiner Sinnwelt“101 gewesen ist, neben diese Erwartung der kollektiven Parusie Christi die individuelle Erwartung des mit dem eigenen Sterben sich realisierenden ἐκδημῆσαι ἐκ τοῦ σώματος καὶ ἐνδημῆσαι πρὸς τὸν κύριον (2Kor 5,8)102 gestellt hat103. Dieses Theologumenon aber, das in der urchristlichen Literatur häufig belegt ist104 und

96 In diesem Sinne etwa E. Gräßer, Hebr I, 366: „Die guten Werke füllen das Glaubensdefizit auf, [...]. [...] Nur darf sich die Gemeinde bei diesem Zustand nicht beruhigen. Mit dem Werkeifer soll der Glaubenseifer auf einer Höhe liegen. Das ist das Thema von [Hebr 6, ] V 11f.“. Ähnlich auch C.-P. März, Hebr, 44f. 97 Vgl. hierzu E. Riggenbach, Hebr, 163: „Ihre Liebe hat nicht nur den Menschen gegolten, sie hatte im letzten Grund Gott selbst zu ihrem Gegenstand und ist in seinen Angehörigen ihm selbst erzeigt worden“. 98 H. Hegermann, Hebr, 135. 99 H. Hegermann, Hebr, 135. 100 Vgl. hierzu E. Riggenbach, Hebr, 163. 101 U. Schnelle, Paulus, 667. 102 Vgl. hierzu auch Phil 1,23. 103 Vgl. hierzu U. Schnelle, Paulus, 675: „Hatte Paulus in 1Thess 4,13–18 und 1Kor 15,51ff seine Stellung im Endgeschehen als noch Lebender sehr genau durch das Personalpronomen ἡμεῖς [...] angegeben, so rechnet er in 2Kor 5,1–10 erstmals mit seinem eigenen Tod vor der Parusie. Diese einschneidende Veränderung der Situation des Apostels spiegelt sich in einem Zurücktreten der apokalyptischen Elemente bei der Schilderung der Endereignisse und damit verbunden der Aufnahme hellenistischer Begrifflichkeit und der Tendenz zum Dualismus und zur Individualisierung wider“. 104 Vgl. hierzu N. Walter, Hellenistische Eschatologie, 342–351.

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daher sicherlich auch den Adressaten des Hebr geläufig gewesen sein wird105, vermochte auf die von Backhaus den Adressaten des Hebr unterstellte Frage nach dem „existentiellen Ertrag“ des überlieferten Jesus-Kerygmas angesichts der verblassenden Erwartung einer kollektiven Parusie eine nun zwar auf das einzelne Individuum zielende, dennoch aber schlüssige Antwort zu geben106. (c) Bezeichnend ist, dass Backhaus für die auf die Neuheit der christlichen Religion abhebende Kritik des Christentums als eines „Produkt[es] der Wandelhaftigkeit“107 nur literarische Belege beibringen kann. Hinzu kommt, dass der früheste mögliche Beleg für eine an diesem Punkt ansetzende Christentumskritik, die erste Apologie des Justinus, um 150 n.Chr. zu datieren ist108. Mit diesem und weiteren Belegen nun aber begründen zu wollen, dass zur Abfassungszeit des Hebr109, also bereits ca. 60–70 Jahre zuvor, den Christen ihre eigene religiöse Überzeugung angesichts der relativen Neuheit jener fragwürdig geworden wäre, was dann dazu geführt hätte, dass die so Kritisierten ihre eigenen Religion nur mehr als religionsgeschichtliches und nicht mehr als eschatologisches Phänomen eingeordnet hätten, erscheint doch recht konstruiert, zumal sich im Hebr

Dies zeigen schon die Ausführungen in Hebr 10,39, die belegen, dass der Verfasser des Hebr „nicht nur begrifflich, sondern auch sachlich der hellenistischen Eschatologie folgt“ (E. Gräßer, Hebr III, 83). Da er dieses auf das Individuum abzielende und aus hellenistischer Eschatologie deduzierte Theologumenon hier in Hebr 10,39 ausführt, ohne darauf näher einzugehen, ist anzunehmen, dass dies auch seinen Lesern geläufig gewesen ist. 106 Vgl. hierzu auch G. Strecker, Theologie, 226f., der zu 2Kor 5,1–10 formuliert: „Rechnet Paulus mit der Möglichkeit, daß er selbst vor der Parusie sterben wird, so bedeutet das ein ‚aus der Fremde heimkehren‘ (V. 8 [...]). Das Nachlassen der Parusienaherwartung beendet die eschatologische Hoffnung nicht [!]“. 107 Neuer Bund, 267. 108 Vgl. hierzu o. 50, A. 76; ähnlich auch B. Studer, Ansatz, 439: „In den Auseinandersetzungen des Justinus mit den Heiden, wie sie in der an die Vertreter der römischen Tradition gerichteten Apologie aufscheinen, taucht denn auch tatsächlich zum ersten Mal die Frage nach dem Alter der christlichen Religion auf. Vorher ist wohl die Neuheit des Christentums festgestellt, auf die nova superstitio hingewiesen worden. Doch erst aus der gegen 150 abgefaßten Apologie des Justinus wird klar ersichtlich, daß die Heiden angefangen haben, diese Neuheit den Christen zum Vorwurf zu machen, und daß somit diese Neuheit für die Christen selbst zum Problem geworden ist“; zur Datierung der ersten Apologie des Justinus vgl. C.P. Vetten, Art. „Justin der Märtyrer“, in: LACL3, 411–414, hier 412. Ob bereits die Ausführungen des Suetonius in Nero 16: afflicti suppliciis Christiani, genus hominum superstitionis nouae ac maleficae (Text nach J.C. Rolfe, Suetonius II, 110), eine Kritik des Christentums aufgrund seiner Neuheit intendieren, muss mehr als fraglich bleiben. In erster Linie wirft Suetonius den Christen doch offensichtlich vor, mit ihrem Glauben eine staatsgefährdende superstitio zu betreiben; das Christentum ist eine neue superstitio, die zeitlich nach anderen superstitiones aufgetreten ist, nicht aber eine superstitio, weil es sich bei ihm um ein neues religiöses Phänomen handelt ist. 109 Der Hebr wird von den meisten Exegeten in die 80er bzw. 90er Jahre des ersten Jahrhunderts n.Chr. datiert; vgl. hierzu etwa E. Gräßer, Hebr I, 25. 105

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keinerlei Textsignale zugunsten einer solchen Hypothese aufweisen lassen110. Weder finden sich Anzeichen dafür, dass die Adressaten des Hebr einer solchen Kritik ausgesetzt gewesen wären noch lässt sich zeigen, dass der Verfasser des Hebr versucht hätte, dieser Kritik und der von ihr bei seinen Adressaten bewirkten „verheißungsgeschichtlichen Unsicherheit“ entgegen das hohe Alter der christlichen Religion nachzuweisen111. Stattdessen scheint er diese καινὴ διαθήκη eher als „Ausdruck von Gottes freier, aber zielgerichteter, nämlich nach Heilsvollendung drängender Initiative“112 darzustellen113 und insofern diese διαθήκη der πρώτη διαθήκη des Judentums antithetisch zu kontrastieren114. Bei Justinus könnte ein solches, sich auf die Neuheit des Christentums beziehendes explizites Textsignal immerhin in 1apol. 46,1 vorliegen, auch wenn hier letztlich zweifelhaft bleiben muss, ob hinter diesen Ausführungen zwingend die von paganer Seite geäußerte Kritik an der Neuheit des Christentums stehen muss: ἵνα δὲ μή τινες ἀλογιςταίνοντες εἰς ἀποτροπὴν δῶν δεδιδαγμένων ὑφ’ ἡμῶν εἴπωσι πρὸ ἐτῶν ἑκατὸν πεντήκοντα γεγεννῆσθαι τὸν Χριστὸν λέγειν ἡμᾶς ἐπὶ Κυρηνίου, δεδιδαγχέναι αὐτὸν ὕστερον χρόνοις ἐπὶ Ποντίου Πιλάτου, καὶ ἐπικαλῶσιν ὡς ἀνευθύνων ὄντων τῶν προγεγενημένων πάντων ἀνθρώπων, φθάσαντες τὴν ἀπορίαν λυσόμεθα115. Dass diese Problematik in der „akademischen“ und literarischen Diskussion der frühen Kirche mit ihren paganen Kritikern eine Rolle gespielt hat, mag zutreffen. Dass sie aber auch in alltäglichen Lebenszusammenhängen geführt worden sei und innerhalb einer christlichen Gemeinde oder bei einer christlichen Gruppe religiöse Verunsicherungen oder gar drohenden Glaubensabfall hervorgerufen hätte, lässt sich nicht belegen und erscheint kaum wahrscheinlich. 111 Einen solchen Nachweis führt etwa – zumindest implizit – Tertullianus in apol. 21,1: Sed quoniam edidimus antiquissimis Iudaeorum instrumentis sectam istam esse suffultam, quam aliquanto novellam, ut Tiberiani temporis, [...] (Text nach C. Becker, Tertullian, 126; „Weil wir jedoch behauptet haben, daß diese unsere Religionsgesellschaft - welche zwar noch ziemlich neu ist, wie alle wissen und auch wir bekennen, nämlich im tiberianischen Zeitalter entstanden ist - …“; Übersetzung nach K.A.H. Kellner/G. Esser, Tertullian II, 96). Inwieweit Tertullianus mit dieser Einlassung den „christlichen Rekurs auf die antiquissima Iudaeorum instrumenta [problematisiert]“ (K. Backhaus, Neuer Bund, 267, A. 931), erscheint kaum einsichtig. 112 Neuer Bund, 270. 113 Vgl. hierzu bezeichnenderweise auch K. Backhaus, Neuer Bund, 271: „Die verheißungsgeschichtliche μετάθεσις ist also keineswegs theologisch auszuschließen, sondern muß gerade in theozentrischer Perspektive postuliert werden: Gott kann souverän in die Geschichte eingreifen, um unter Absehung vom Alten das Neue wirkmächtig zu schaffen; seine neue Tat kann seine alten Taten ohne weiteres aufheben“. 114 Zur antithetischen Gegenüberstellung von πρώτη διαθήκη und καινὴ διαθήκη im Hebr vgl.u. 57. Damit entspricht der Hebr eher dem in den Kerygmata Petri ausgeführten Denken; vgl. hierzu H. Conzelmann, Heiden, 262: „Die Christen verzichten trotz der Berufung auf die Schriften auf eine heilsgeschichtliche Kontinuität. Aus der Perspektive des neuen Bundes rücken Heiden und Juden als ‚alt‘ zusammen. Im Begriff des neuen Bundes liegt der Ton ganz auf neu, auf der Diskontinuität“, und P. Pilhofer, Presbyteron Kreitton, 227–231: „Wer sagt: τὰ γὰρ Ἑλλήνων καὶ Ἰουδαίων παλαιά und dem entgegensetzt: ὑμεῖς δὲ οἱ καινῶς αὐτὸν [sc. τὸν θεὸν] τρίτῳ γένει σεβόμενοι Χριστιανοί, der führt keinen Altersbeweis, weil das Alte für ihn erledigt ist “ (231). 115 Text nach M. Marcovich, Apologiae, 97; „Unverständige werden, um unsere Lehren zurückweisen zu können, vielleicht einwenden: Da nach unserer Behauptung erst von 150 Jahren 110

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Ein mögliches Textsignal zugunsten der These, dass es dem Verfasser des Hebr um den Nachweis des Alters des Christentums gegangen ist, könnte in Hebr 8,7–13, hier konkret in der Verwendung des alttestamentlichen Schriftzitats aus Jer 31,31–34 in Hebr 8,8–12 vorliegen116. Hier rekurriert der Verfasser des Hebr auf die göttliche Verheißung eines neuen Bundes, die dann – im Sinne des Nachweises des Alters des Christentums – in Christus ihre Erfüllung gefunden hätte. Allerdings stellt der Verfasser des Hebr diese Verheißung in einen argumentativen Kontext hinein, in dem es nicht um deren Erfüllung in Christus, sondern um den mit dieser Verheißung explizierten Tadel an der πρώτη διαθήκη und deren Repräsentanten geht (Hebr 8,7f.)117. Ein Altersbeweis des Christentums im Sinne der Erfüllung einer ‚alten‘ Verheißung Gottes in Christus ist in Hebr 8,7–13 nicht intendiert118. Gleiches gilt auch für die Aufnahme von Jer 31,33f. in Hebr 10,15–17. Hier hebt der Verfasser des Hebr wenn überhaupt, dann nur sehr indirekt auf die Erfüllung der Verheißung der καινὴ διαθήκη in Jesus Christus ab. Vielmehr verwendet er hier die Worte Jeremias als Schriftbeweis119 für die These, dass die Wirkung des einmaligen Opfers Christi für immer gültig bleibe120. Auch mit seiner Charakterisierung des Hohenpriestertums Christi als κατὰ τὴν τάξιν

Christus unter Quirinius geboren worden ist und da er das, was wir als seine Lehre ausgeben, noch später unter Pontius Pilatus gelehrt hat, so seien alle Menschen, die vorher lebten, der Verantwortung enthoben. Darum wollen wir im voraus diese Bedenken lösen“; Übersetzung nach G. Rauschen, Apologien, 59. 116 Vgl. hierzu K. Backhaus, Neuer Bund, 271, der zu Hebr 8,7–12; 10,15–17 formuliert: „Eben so erweist sich das Neue durch seinen Verheißungscharakter [...] als das je schon Vorgegebene und das auch vom Alten schon immer ‚Angezielte‘“. 117 Vgl. hierzu H.-F. Weiß, Hebr, 446: „Was ihn [d.h. den Verfasser des Hebr] hier zunächst interessiert, ist lediglich der im Jeremia-Zitat ausgesprochene ‚Tadel‘ am Verhalten der ‚Väter‘ wie auch an der alten bzw. ersten Heilsordnung selbst“. Zu dem hier implizierten Tadel am Verhalten der Israeliten vgl. explizit C. Spicq, Hebr II, 240: „Ce n’est pas que l’alliance, instituée par Dieu même, eût des défauts [...]. Mais l’usage déficient qu’en firent les Israélites révéla son impuissance et donc son imperfection relative au peuple qu’elle devait éduquer et acheminer vers Dieu“. Vgl. auch K. Backhaus, Neuer Bund, 178: „Er [d.h. der Abschnitt Hebr 8,7–13] dient dazu, die Notwendigkeit des verheißungsgeschichtlichen Wechsels plausibel zu machen“. 118 So m.R. H.-F. Weiß, Hebr, 446: „Obwohl der Autor des Hebr die Verheißung von Jer 31 [...] selbstverständlich in einer christologischen Perspektive liest, steht das Thema der ‚Erfüllung‘ dieser Verheißung an dieser Stelle noch nicht zur Diskussion“. 119 Dies ergibt sich schon aus der Verwendung des Verbums μαρτυρεῖν in Hebr 10,15; vgl. hierzu etwa H.-F. Weiß, Hebr, 515: „Das Zeugnis der Schrift wird in [Hebr 10,] V. 15 als ein μαρτυρεῖν gekennzeichnet, als eine rechtsgültige Bestätigung also (des zuvor Ausgeführten), die ‚auch der Heilige Geist‘ (in der Schrift) gibt“; ähnlich auch E. Riggenbach, Hebr, 309f.: „μαρτυρεῖν steht absolut und charakterisiert den Inhalt des Schriftwortes als feierlichen und autoritativen Anspruch des hl. Geistes“. 120 In diesem Sinne auch H. Windisch, Hebr, 90: „Noch einmal wird Jer 38 (31),33 herangezogen [...], zum Beweis, daß wirklich durch die neue Stiftung Generalamnestie erlassen, also das Opferinstitut erledigt ist“. Der von Backhaus in den Passagen Hebr 8,7–12; 10,15–17 gesehene „Verheißungscharakter“ (Neuer Bund, 271; vgl. hierzu auch o. 49f.) lässt sich somit weder aus der einen noch aus der anderen mit Notwendigkeit aufweisen.

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Die textpragmatische Situierung des Hebr – Forschungspositionen Μελχισέδεκ Hebr 5,9f. u.ö. zielt der Verfasser des Hebr nicht auf das Alter des Hohenpriestertums Christi und somit auf das Alter der christlichen Religion ab121. Vielmehr geht es ihm mit dieser Charakterisierung darum, die Art und Weise dieses Hohenpriesterums möglichst präzis zu erfassen; dies ergibt sich schon daraus, dass er selbst die Wendung κατὰ τὴν τάξιν Μελχισέδεκ in Hebr 7,15 im Sinne von κατὰ τῆν ὁμοιότητα Μελχισέδεκ interpretiert122. Wie anders in der urchristlichen Literatur das Kommen Jesu als Erfüllung alttestamentlicher Verheißungen aufgewiesen werden konnte, zeigen beispielhaft die Ausführungen des Lukas in Apg 13,32f.: καὶ ἡμεῖς ὑμᾶς εὐαγγελιζόμεθα τὴν πρὸς τοὺς πατέρας ἐπαγγελίαν γενομένην, (33) ὅτι ταύτην ὁ θεὸς ἐκπεπλήρωκεν τοῖς τέκνοις [αὐτῶν] ἡμῖν ἀναστήσας Ἰησοῦν ὡς καὶ ἐν τῷ ψαλμῷ γέγραπται τῷ δευτέρῳ· υἱός μου εἶ σύ, ἐγὼ σήμερον γεγέννηκά σε. Dass der Verfasser des Hebr solche deutlichen Formulierungen nicht gebraucht, legt die Annahme nahe, dass es ihm nicht darum ging, das Erscheinen Jesu als Erfüllung alttestamentlich belegter Verheißungen zu charakterisieren und auf diesem Wege das hohe Alter der christlichen Religion zu beweisen. Dem entspricht durchaus, dass mit der Begriff ἐπαγγελία κτλ., der im Hebr in Hebr 4,1; 6,12f.15.17; 8,6; 9,15; 10,23.36; 11,9.11.13.17.33.39 belegt ist, niemals auf die Person Jesu als deren Erfüllung, sondern immer auf die wie auch immer zu definierende „endgültige Inbesitznahme ... dessen, was den Inhalt der Verheißungen Gottes ausmacht“123 bezogen ist.

In gleicher Weise fehlen im Hebr Textsignale, die darauf hindeuten würden, dass der Verfasser des Hebr bei den Adressaten seiner Epistel hermeneutische Probleme im Blick auf die interpretatio christiana des Alten Testaments zu bewältigen suchte. Vielmehr lässt gerade die Selbstverständlichkeit, mit der er etwa in Hebr 1 im Rekurs auf das Alte Testament das Verhältnis Jesu Christi zu den Engeln begründet, darauf schließen, dass sowohl er als auch seine Adressaten jenes wie selbstverständlich als „heilige Schrift“ der Christen in Anspruch genommen und gelesen haben124, eine Annahme, die durch die – offensichtlich hermeneutisch gänzlich unproblematische – Verwendung zahlreicher alttestamentlicher Zitate

121 Anders hier dann allerdings K. Backhaus, Neuer Bund, 271: „Nicht eine neue oder nur die Person Jesu betreffende Priester-τάξις postuliert Hebr, sondern die ‚alte‘, sogar vorlevitische [...] ‚Ordnung des Melchisedek‘. Entsprechend ist eine ‚Strukturidentität‘ zwischen alter und neuer Ordnung zu konstatieren. Die Strukturen des Heils waren stets vorhanden, sie finden im Christus-Ereignis gewissermaßen zu sich selbst [...] und verbürgen nunmehr definitiv das vorausliegende Heil“. 122 Vgl. hierzu etwa H.-F. Weiß, Hebr, 320, A. 70; vgl. hierzu auch H. Braun, Hebr, 211, der die Wendung κατὰ τὴν ὁμοιότητα Μελχισέδεκ im Vergleich zu κατὰ τὴν τάξιν Μελχισέδεκ als „formal, nicht inhaltlich variierend“ beschreibt. 123 H.-F. Weiß, Hebr, 356. 124 Vgl. hierzu bereits die Ausführungen zu Hebr 10,15–17 o. 57; in diesem Sinne auch H.-F. Weiß, Hebr, 515: „Ist das Zeugnis der Schrift als solches zugleich Zeugnis des Hl. Geistes, so versteht es sich für den Autor des Hebr von selbst, daß dieses Zeugnis ‚uns‘ [...] gilt, also unmittelbar auf die Christen zu beziehen ist“. Aus diesem Votum von Weiß zu Hebr 10,15–17 nun entnehmen zu wollen, daß die Adressaten des Hebr Probleme mit der christlichen Interpretation des Alten Testaments hatten, weil diese für sie eine „someone else’s mail“ darstellte, erscheint ausgeschlossen.

Der Hebr als identitätsstiftendes und stabilitätssicherndes Mahnschreiben

59

im Hebr bestätigt wird. Darüber hinaus lässt sich durchaus wahrscheinlich machen, dass sich unter den Adressaten des Hebr als Angehörigen der zweiten bzw. dritten christlichen Generation bereits ein Verständnis der Schrift im Horizont des εὐαγγέλιον etabliert hatte, innerhalb dessen diese hermeneutisch nicht mehr als „someone else’s mail“125, sondern als γραφὴ δι’ ἡμᾶς126 betrachtet worden ist127. Angesichts dieser Perspektive lässt sich das von Backhaus an dieser Stelle postulierte hermeneutisch-interpretatorische Problem für die Abfassungszeit des Hebr historisch kaum mehr plausibiliseren. (d) Schließlich lässt sich auf dem Hintergrund der von Backhaus vertretenen Annahme, die Adressaten des Hebr ständen vor einem Rückfall in die religiösen Vorfindlichkeiten ihrer heidnischen Umwelt, nur schwerlich erklären, warum der Verfasser des Hebr in seiner Argumentation gegenüber heidenchristlichen Lesern128 auf die auf den Sinaibund gründenden Heilsordnung des (biblischen) Volkes Israel Bezug nimmt, um deren „verheißungsgeschichtliche Unsicherheit“ zu überwinden. Wenn sich, wie er selbst zugesteht129, die Leser des Hebr der jüdischen Herkunft des Christentums nicht oder nicht mehr bewusst sind, bleibt zu fragen, wie gerade ein solcher Rekurs auf zentrale Inhalte der jüdischen Glaubenstradition zu dem von ihm angestrebten Ziel hätte führen können130. Wäre es demgegenüber im Blick auf seine Adressaten nicht wesentlich angemessener, wenn der Verfasser des Hebr versucht hätte, deren neues Heil in Christus im Gegenüber zu der Machtlosigkeit der in paganer Vergangenheit verehrten heidnischen Gottheiten neu zu fundieren131? So P.M. van Buren, Reading, 604. Vgl. hierzu D.-A. Koch, Schrift, 322f. mit Verweis auf 1Kor 9,10. 127 D.-A. Koch weist darauf hin, dass nach 2 Kor 3,18 „Verstehen und Nichtverstehen der Schrift mit der Zugehörigkeit bzw. Nichtzugehörigkeit zum κύριος zusammenfallen“ (Schrift, 338); vgl. zur Analyse von 2Kor 3,12–18 insgesamt Schrift, 331–341. Nach Koch erweist sich für Paulus, der ca. 25–35 Jahre vor der Abfassung des Hebr wirkte und schrieb, „das εὐαγγέλιον περὶ Ἰησοῦ Χριστοῦ [...] als die sachgemäße Verstehensvoraussetzung der Schrift“ (340). Da, wie K. Backhaus einräumt, „Hebr und die paulinischen Schriften [...] in einem Traditionskontinuum stehen“ (Neuer Bund, 67), ist durchaus mit Grund anzunehmen, dass das 2Kor 3,12–18 von Paulus entwickelte Schriftverständnis zum Traditionsbestand sowohl des Verfassers der Hebr als auch seiner Adressaten zu rechnen ist. Dieses Argument gewinnt besondere Brisanz, wenn angenommen wird, dass der Hebr an Christen in Rom adressiert gewesen ist; zu dieser Annahme vgl. gerade K. Backhaus, Hebräerbrief, 196: „Der Hebr ist mit hoher Wahrscheinlichkeit an die Gemeinde bzw. eine Gemeindegruppe in Rom gesandt worden“. Für die Annahme, dass dieses Schriftverständnis bei den Adressaten des Hebr erschüttert worden wäre, bietet die Epistel selbst keinerlei Anzeichen. 128 Vgl. hierzu o. 26–37. 129 Vgl. hierzu o. 48f. 130 Vgl. hierzu durchaus m.R. D. Guthrie, Introduction, 709: „… it is difficult to believe that the detailed and elaborate argument based on levitical ritual would have convinced Gentile Christians of the absolute character of Christianity“. 131 Ein solcher Versuch liegt in der paulinischen Briefliteratur etwa vor in Gal 4,8–20, insbesondere in Gal 4,8f.: ἀλλὰ τότε μὲν οὐκ εἰδότες θεὸν ἐδουλεύσατε τοῖς φύσει μὴ οὖσιν θεοῖς· (9) 125 126

60

Die textpragmatische Situierung des Hebr – Forschungspositionen Auch die von Backhaus an anderer Stelle gegebene Auskunft, dass es dem Verfasser des Hebr in seinem Schreiben nicht um „die polemische Herabsetzung des Jüdischen ... [, sondern] um die theologische Relativierung des Irdischen“132 gehe, hilft hier nicht weiter. Diese „Relativierung des Irdischen“ würde dann nämlich nur für die πρώτη διαθήκη Gottes mit dem biblischen Volk Israel, nicht aber für die übrigen irdischen Vorfindlichkeiten wie etwa die paganen Gottheiten, den kultisch-religiös verehrten römischen Kaiser u.ä. erwiesen. Warum dies nicht geschieht, ließe sich gerade angesichts dieser hier von Backhaus geäußerten Überlegungen nicht erklären.

(e) Die von K. Backhaus angestellten, letzten Endes durchweg eher allgemeinen und im Detail wenig konkreten Überlegungen133, scheinen insgesamt eher die in der gegenwärtigen Hebr-Exegese Platz greifende Mehrheitsmeinung aufzunehmen als auf eigenständig durchgeführten Textanalysen zu beruhen. Diese Beobachtung zeigt, dass mit der hier vorliegenden Studie in der Tat ein forschungsgeschichtlich noch nicht wirklich erschlossenes Terrain betreten wird. Fazit: Die in seinem Brief vorliegenden Ausführungen des Verfassers des Hebr nötigen keinesfalls zu der Annahme, dessen Adressaten seien von einer sowohl aus sozialen Problemen als auch aus theologischen Unsicherheiten resultierenden „außergewöhnlich akut[en]“134 Glaubenskrise oder einer „verheißungsgeschichtlichen Unsicherheit“ betroffen. In Sonderheit die Ausführungen in Hebr 6,10 lassen die Annahme wahrscheinlich erscheinen, dass die Adressaten des Hebr auch – noch – zur Zeit der Abfassung dieser Epistel als eine durchaus stabile Größe fest in der Organisation der – vorzugsweise in Rom verorteten – christlichen Gemeinschaft verankert gewesen sind. Das lässt einerseits die Hypothese, bei dieser Epistel handele es sich um ein eher seelsorgerlich akzentuiertes und die christliche Identität sicherndes und den christlichen Glauben stabilisierendes Mahnschreiben, zumindest fraglich werden, öffnet andererseits,

νῦν δὲ γνόντες θεόν, μᾶλλον δὲ γνωσθέντες ὑπὸ θεοῦ, πῶς ἐπιστρέφετε πάλιν ἐπὶ τὰ ἀσθενῆ καὶ πτωχὰ στοιχεῖα οἷς πάλιν ἄνωθεν δουλεύειν θέλετε;, und in 1Kor 8,5f.: καὶ γὰρ εἴπερ εἰσὶν λεγόμενοι θεοὶ εἴτε ἐν οὐρανῷ εἴτε ἐπὶ γῆς, ὥσπερ εἰσὶν θεοὶ πολλοὶ καὶ κύριοι πολλοί, (6) ἀλλ᾽ ἡμῖν εἷς θεὸς ὁ πατὴρ ἐξ οὗ τὰ πάντα καὶ ἡμεῖς εἰς αὐτόν, καὶ εἷς κύριος Ἰησοῦς Χριστὸς δι᾽ οὗ τὰ πάντα καὶ ἡμεῖς δι᾽ αὐτοῦ. Vgl. hierzu auch D. Guthrie, Introduction, 693: „But the most damaging criticism of this hypothesis is the absence of any reference to pagan rites or mysteries or to tables and cups of demons, as for instance, are suggested by Paul’s treatment of the Corinthian situation“. 132 Gottesvolk, 313. 133 Auch E. Gräßer, Hebr I, 26 bewegt sich auf einem eher allgemeinen Terrain, wenn er im Blick auf die Situation der Adressaten des Hebr formuliert: „Trotz gelegentlicher direkter Anrede und auch konkreter Anspielungen ... stehen damit gleichwohl nicht die Probleme einer bestimmten Ortsgemeinde, sondern die typischen Verhaltensweisen einer allgemeinen Christlichkeit am Ende des 1. Jh.s vor Augen, denen unser Verf[asser]. weniger mit gezielten als mit ‚typischen‘ Aussagen zu begegnen sucht, wie sie ‚in (etwa) der dritten christlichen Generation ... für viele Gemeinden von Belang sind‘“. 134 K. Backhaus, Hebräerbrief, 200.

Zusammenfasssende Bewertung und eigener Neuansatz

61

insbesondere angesichts der umfassenden theologischen Darlegungen innerhalb des Hebr, zugleich aber auch den Raum für die Annahme, dass der auctor ad Hebraeos eine von ihm bei seinen Adressaten wahrgenommene theologische Fehlentwicklung korrigieren möchte135. Diese Fehlentwicklung ließe sich dann aber nicht als Konsequenz eines sukzessive und eher schleichend unter den Adressaten des Hebr sich ausbreitenden Plausibilitätsverlustes der eigenen christlichen Tradition, sondern womöglich als evoziert durch eine bewusste theologische Entscheidung derselben erklären.

2.7

Zusammenfasssende Bewertung und eigener Neuansatz

Die kritisch-konstruktive Sichtung der unterschiedlichen in der Forschung vorgelegten Antworten auf die Frage nach der textpragmatischen Situierung des Hebr zeitigen folgende Ergebnisse: (a) Die Forschung ist in dieser Frage von einem Konsensus mehr als weit entfernt136, auch wenn in der Gegenwart die These, der Hebr kämpfe gegen einen möglichen oder bereits tatsächlichen Rückfall seiner Adressaten in eine vorchristlich-jüdische Frömmigkeit, an Befürwortern zu verlieren scheint. Gegenwärtig scheint sich die Annahme zur Mehrheitsmeinung zu entwickeln, dass der auctor ad Hebraeos mit seiner Schrift eine in einer Glaubenskrise gefangene und unter Glaubensmüdigkeit und -armut leidende Gemeinde zu revitalisieren trachtete, indem er ihnen neue theologische Einsichten vermittelte – eine Annahme, die im wesentlichen der von K. Backhaus formulierten und o. skizzierten These zur Frage der textpragmatischen Situierung des Hebr entspricht. (b) Die in der exegetischen Forschung bis dato dargebotenen Vorschläge zur Beantwortung der Frage nach der rhetorischen Situation der Adressaten des Hebr, auf die dessen Verfasser entsprechend reagiert, scheinen sämtlich einer kritischen Überprüfung nicht standhalten zu können. Dies indiziert – im Verein mit ihrer zumindest z.T. vollständigen Unvereinbarkeit – ein methodisches Grundproblem, das letzten Endes bei allen Antwortversuchen zu beobachten ist. Die jeweiligen Exegeten entwickeln ihre Antworten in der Regel im Rahmen der Diskussion unterschiedlicher im Hebr virulenter theologischer Themen und appendizieren diesen dezidiert theologischen Erörterungen dann – im Sinne eines ,mirror-readingʻ137 – Erwägungen zu seiner textpragmatischen Situierung. Nur

135 136 137

Vgl. hierzu o. 43f. und o. 45–48. Vgl. hierzu bereits das in der Einleitung Ausgeführte o. 9–11. Zu den methodischen Problemen eines solchen ‚mirror-reading‘ vgl.u.

62

Die textpragmatische Situierung des Hebr – Forschungspositionen

selten wird diese Fragestellung als eigenständiges Problem gesehen und in einem eigenständigen Diskurs methodisch reflektiert diskutiert. In den wenigen Fällen, in denen dies dann aber expressis verbis beabsichtigt ist, werden einerseits eine notwendige vorgängige gattungskritische Besinnung darüber, welche Textabschnitte aus dem Hebr zur Antwort auf die Frage nach seiner textpragmatischen Situierung in welcher Weise herangezogen werden können, entweder gar nicht oder nur sehr lückenhaft geleistet138, werden andererseits die zugrundegelegten Textabschnitte nicht im Zusammenhang des entsprechenden Argumentationsduktus, sondern nur ,schlagwortartigʻ exegesiert. Damit sind gleichsam via negativa der inhaltlich-sachliche Ausgangspunkt und der methodische Ansatz der vorliegenden Studie skizziert: Um eine methodisch reflektierte und belastbare Antwort auf die Frage nach der textpragmatischen Situierung des Hebr zu gewinnen, ist es zunächst notwendig, diese Frage unabhängig von anderen exegetischen Problemen und eigenständig zu diskutieren. In der vorliegenden Studie geht es also ausdrücklich und ausschließlich um folgende, in der Einleitung bereits vorgezeichnete Fragenkomplexe: (a) Wie schätzte der auctor ad Hebraeos die aktuelle Situation seiner Adressaten ein?, bzw.: Wie stellte sich ihm die aktuelle Situation derjenigen Christen, die er mit seiner Epistel ansprechen wollte, dar?139, und (b) Welchen neuen Impuls wollte der Verfasser des Hebr jenen vermitteln?, oder: Was wollte er mit seinen Einlassungen bei jenen verändern140? Um diese Fragen zu beantworten, sind – gänzlich unabhängig von ihrem womöglich eher theoretisch-reflektierenden oder aber praktisch-paränetischen Charakter – diejenigen Textpassagen des Hebr zu exegesieren, in denen der auctor ad Hebraeos explizit auf seine Adressaten und deren Vergangenheit, insbesondere aber auf deren gegenwärtige [!] (rhetorische) Situation, so wie sie sich ihm darstellt, Bezug nimmt, da nur eine vorgängige Analyse solcher Textpassagen methodisch gesicherten Aufschluss über die rhetorische Situation der Adressaten des Hebr, d.h. über deren theologische oder ethische Positiva wie Negativa, zu vermitteln vermag. Eine unter diesen methodischen Kautelen auf der Suche nach geeigneten Textpassagen vorgenommene – zunächst nur oberflächliche –

Vgl. hierzu etwa die entsprechenden Ausführungen von E. Riggenbach, Hebr, XXIII–XXVI, J. Moffat, Hebr, xiiiff. und – in neuerer Zeit – C.R. Koester, Hebr, 64ff. 139 Zu den methodischen Problemen eines solchen Rekonstruktionsversuches vgl. J.M.G. Barclay, Mirror-Reading, passim, in Sonderheit aber 74–79. Die von Barclay im Blick auf eine „polemical letter“ wie den paulinischen Gal geäußerten Erwägungen treffen mutatis mutandis auch auf eine augenscheinlich nicht-polemische Schrift wie Hebr zu. 140 Vgl. zu diesen Fragenkomplexen bereits o. 10. 138

Zusammenfasssende Bewertung und eigener Neuansatz

63

Lektüre des Hebr führt unmittelbar zu Hebr 5,11–6,20141, einem in der Sekundärliteratur durchaus m.R. annähernd unisono142 als ,metakommunikativem Zwischenstückʻ143 charakterisierten Textabschnitt144, in dem der auctor ad Hebraeos – im gesamten Schreiben erstmalig zugleich und ausschließlich – die gegenwärtige rhetorische Situation seiner Adressaten thematisiert, deren theologisches und ethisches ,Soll und Habenʻ ausleuchtet und über die Absicht, die er mit seiner Epistel verfolgt, Auskunft gibt, daran anschließend zu Hebr 10145,19–25.26–31.32–39146 und schließlich dann zu Hebr 12147. Auf eine ausführliche Diskussion der Ausführungen in Hebr 13 kann angesichts des Zur grundlegenden Bedeutung von Hebr 5,11–6,12 im Blick auf die Frage nach der Situation der Adressaten dieses Schreibens vgl. etwa D.G. Peterson, Situation, 14. 142 Zu der in der neueren Forschung geäußerten – allerdings kaum überzeugenden – Kritik gegenüber dieser Interpretation von Hebr 5,11–6,20 vgl. u. 68f. 143 Vgl. zu diesem Begriff u. 66f. 144 Vgl. hierzu G. Schunack, Hebr, 75: „In der kommentierenden Erläuterung [Hebr 5,11–6,12. 13–20] vergegenwärtigt der Verf.[asser] die Situation, die ihn zu seinem Schreiben veranlasst“. Daraus folgert Schunack dann m.R.: „Insofern ist dieser Abschnitt aufschlussreich für das Verständnis des ganzen Schreibens, vor allem aber der Darlegung des hohepriesterlichen Seins und Werks Jesu Christi in [Hebr] 7,1–10,18“. Vgl. hierzu auch die – in diesen Zusammenhang durchaus passende – Beobachtung von O. Michel, Hebr, 230f.: „In keinem anderen Abschnitt unseres Briefes tritt der Redecharakter so hervor wie in 5,11–6,20“. H. Windisch, Hebr, 46 sieht hier eine „Unterbrechung des Traktats“, d.h. des Argumentationsduktus des Hebr. A. Strobel, Hebr, 130 formuliert im Blick auf Hebr 5,11ff.: „Der Verfasser hatte offenbar über den wenig erfreulichen Zustand der ihm näher bekannten Gemeinde Nachricht erhalten. Vielleicht auch um ein ,Wort der Ermahnungʻ gebeten, wie es Brauch war, geht er nach sorgfältiger Vorbereitung und nicht ohne ständige Bindung an seine biblische Grundlage nun auf die dortigen Verhältnisse ein“. Vgl. hierzu auch das zu dem von A. Vanhoye vorgelegten Vorschlag zur Gliederung des Hebr Ausgeführte o. 21–26. 145 Vgl. zu dieser Unterteilung der Passage Hebr 10,19–39 etwa H.W. Attridge, Hebr, 283–304, darüber hinaus etwa auch H.-F. Weiß, Hebr, 519. 146 Zu Hebr 10,32–39 als einer als ἀνάμνησις zu qualifizierenden Textpassage, in der der Verfasser des Hebr die (christliche) Vergangenheit seiner Adressaten und, daran anknüpfend, die offensichtlichen Herausforderungen ihrer gegenwärtigen Situation zum Thema macht, vgl. H.F. Weiß, Hebr, 543: „Wenn der Autor des Hebr … nunmehr eine Erinnerung der Adressaten an ihren früheren Glaubensstand folgen läßt, so entspricht er damit … dem in der antiken Rhetorik geläufigen εἶδος πρακτικόν der ,Gedächtnisauffrischungʻ (ἀνάμνησις). Ganz im Gegensatz zu der vorangehenden … Drohrede hat diese Erinnerung an das einstige Verhalten der Adressaten ermunternden Charakter: Die einst in einer Bewährungssituation bewiesene Standhaftigkeit des Glaubens und der Geduld soll auf diese Weise gleichsam reaktiviert werden“. Vgl. hierzu auch D.G. Peterson, Situation, 14. 147 Zu dem argumentationslogischen Neueinsatz in Hebr 10,19 vgl. etwa G. Schunack, Hebr, 144: „Deutlich ist ... der kommunikative Übergang von der lehrhaften Darlegung des hohepriesterlichen Seins und Werks Jesu Christi zur personalen Zuwendung an die Adressaten und zur Wahrnehmung des Dargelegten in gemeinschaftlicher Paraklese, erkennbar an der erneuten Anrede ‚Brüder‘, an den parakletischen Aufrufen im kohortativen, gemeindlichen ‚Wir‘ und an der nun insgesamt vorherrschenden Kommunikationsform ermahnenden, warnenden, erinnernden und ermutigenden Zuredens“. 141

64

Die textpragmatische Situierung des Hebr – Forschungspositionen

weitgehend usuellen148 Charakters der in diesem Kapitel enthaltenen Paränesen in der vorliegenden Studie verzichtet werden149, ohne dass das hier Beschriebene allerdings vollständig aus dem Blick geraten sollte. Die Diskussion von Hebr 13 wird daher auf einige wichtige, möglicherweise auf die konkrete Situation der Adressaten rekurrierende Passagen beschränkt. Vor diesem ‚metakommunikativen Zwischenstück‘ scheint der Verfasser des Hebr noch in Hebr 2,1–4; 3,12–14 und 4,1.11, sämtlich paränetische Ausführungen, auf die aktuelle Situation der Adressaten seiner Epistel einzugehen. Angesichts des unzweifelhaft herausgehobenen Charakters des ‚metakommunikativen Zwischenstücks‘ Hebr 5,11–6,20150 soll die Textanalyse jedoch mit diesem beginnen, auch wenn die Analyse von 2,1–4; 3,12–14 und 4,1.11 dann letzten Endes nachklappt bzw. nachklappen muss. Auf dem Hintergrund der Ergebnisse derselben werden die hier aufgelisteten paränetischen Abschnitte analysiert. In Sonderheit soll hier der Frage nachgegangen werden, ob und inwieweit sie, dem ‚metakommunikativen Zwischenstück‘ 148 Unter dem Begriff der usuellen Paränese sei hier die Paränese verstanden, „die nicht unmittelbar situationsbezogen ist, sondern generelle Bedeutung hat, um jeweils in konkreter Lage Anwendung zu finden“ (F. Hahn, Theologie des Neuen Testaments II, 691). 149 Vgl. hierzu etwa G. Schunack, Hebr, 218: „Kap. 13 hebt sich im Stil, im Ton und in der kommunikativen Gestaltung von den vorangehenden, thematisch und kompositorisch anspruchsvollen Darlegungen des ‚homiletischen Traktats‘ deutlich ab. Mahnungen vielfältiger Art erscheinen lose aneinander gereiht und gleichen in dieser Anordnung der paränetischen Intention urchristlicher Gemeindebriefe. ‚Usuelle‘ Formen urchristlicher ethischer Unterweisung werden aufgenommen ..., Motive brieflicher Gemeindeparänese klingen an ... und konstitutive Elemente eines Briefschlusses werden artikuliert“. Vgl. in diesem Zusammenhang auch E. Gräßer, Hebr III, 343: „Das vom übrigen Hebr nach Form und Inhalt deutlich abgesetzte c. 13 vor allen war es, das Wrede einst ... Anlaß gab, vom ‚Rätsel des Hebräerbriefes‘ zu reden. Prima vista scheint mit 12,29 die Homilie zu einem fulminanten Abschluß gebracht zu sein und mit 13,1 ein anderes literarisches Genus zu beginnen, womit die Frage nach der Integrität des Hebr aufgeworfen ist“, und H.-F.Weiß, Hebr, 697f.: „Der Übergang von Hebr 12 zu Hebr 13 erscheint somit wie der Übergang in ein anderes literarisches Genus. An die Stelle einer ‚Homilie‘ tritt nunmehr der Stil eines ‚Briefes‘“. Neben Weiß spricht K. Backhaus, Hebr, 454 davon, dass sich die in Hebr 12,28f. eingeforderte Ethik in Hebr 13 konkretisiert. Vgl. zu Hebr 13 neuestens auch L. Stolz, Höhepunkt, 437–439. 150 Vgl. hierzu ausführlich u. 66-126.161-176; vgl. darüber hinaus auch C.R. Koester, Hebrews, 102–123, der in seiner Studie innerhalb des Hebr insgesamt drei digressiones, also drei Exkurse (zum Begriff der digressio vgl. ausführlich u. 142f.) ausmacht, zunächst Hebr 5,11–6,20, dann Hebr 10,26–39 und schließlich Hebr 12,25–27. Die Ergebnisse der rhetorischen Analyse Koesters vermögen das im Rahmen der vorliegenden Studie gewählte methodische Vorgehen durchaus abzusichern. In seinem Kommentar zum Hebr erkennt Koester innerhalb der argumentationslogischen Struktur dieser von ihm kommentierten neutestamentlichen Schrift zwei ‚transitional digressions‘, nämlich einerseits Hebr 5,11–6,20 und andererseits Hebr 10,26–39 (vgl. hierzu Hebr, ix–xii). Auch diese mit offensichtlich im Detail anders akzentuierten Ergebnissen aufwartende rhetorische Analyse stützt deutlich das in der vorliegenden Studie gewählte Vorgehen, im Rahmen der Textanalyse mit der Perikope Hebr 5,11–6,20 zu beginnen. Vgl. in diesem Sinne auch K. Backhaus, Bund, 63, der in der tabellarischen Zusammenfassung seiner Erwägungen zur rhetorischen Disposition des Hebr lediglich Hebr 5,11–6,20 als „paränetische[n]. Exkurs“ definiert und darüber hinaus keinerlei Passagen, die womöglich Exkurscharakter tragen könnten, namhaft macht.

Zusammenfasssende Bewertung und eigener Neuansatz

65

vergleichbar, tatsächlich auf aktuelle Vorfindlichkeiten und Verhältnisse unter den Adressaten des Hebr rekurrieren. Bemerkenswert ist, dass sowohl das ,metakommunikative Zwischenstückʻ Hebr 5,11– 6,20 als auch die ἀνάμνησις Hebr 10,32–39 als eigenständige Texteinheiten in der bisherigen Forschung zur Frage nach der textpragmatischen Situierung des Hebr kaum eine Rolle gespielt haben151, eine Beobachtung, die die o. formulierte methodische Grundsatzkritik an den in der Forschung zu dieser Frage bis dato vorgelegten Antwortversuchen ergänzt und zugleich auch untermauert.

Die methodische Form der in der vorliegenden Studie vorzunehmenden Analyse der Textpassagen Hebr 5,11–6,20; 10,19–25.26–31.32–39; 12 lässt sich begrifflich durchaus zutreffend als intratextuelle, d.h., die Argumentationsstruktur und die Aussageabsicht dieses Textes betreffende, in diesem Sinne also systemimmanente152 Textanalyse beschreiben, innerhalb derer extratextuelle Aspekte wie etwa die theologischen, kirchlichen oder auch sozialen Strukturen des – möglichen – Adressatenkreises des Hebr153 nur im Einzel- und Ausnahmefall Berücksichtigung finden sollen. Solche extratextuellen Aspekte müssten dann in einer an die vorliegende Studie anschließende und auf derselben aufbauenden Folgeuntersuchung thematisiert werden.

Ausweislich der jeweiligen Stellenregister wird dieser Text weder in der Arbeit von S. Lehne, M. Rissi, K. Backhaus und G. Theissen, geschweige denn in den zur Frage der textpragmatischen Situierung des Hebr sich äußernden Einleitungen im Zusammenhang exegesiert. Ähnliches gilt analog für Hebr 10,32–39. W.R.G. Loader hebt in seiner Arbeit zwar auf Hebr 5,11–14; 6,1f. ab, analysiert aber letzten Endes nur die Semantik der hier begegnenden Begriffe und diskutiert traditionsgeschichtliche Fragestellungen (vgl. Sohn, 84ff.), ohne die Argumentation als ganze zur Kenntnis zu nehmen und in Hinsicht auf die Frage nach der rhetorischen Situation der Adressaten des Hebr und der auf diese reagierenden Intention seines Verfassers auszuwerten. Ein besonders deutliches Beispiel der Nicht-Berücksichtigung von Hebr 5,11– 6,20; 10,32–39 im Blick auf die Frage nach der textpragmatischen Situierung des Hebr liefert W.G. Übelacker; Übelacker entwirft ein Bild der Situation der Adressaten des Hebr und der Zwecksetzung des Schreibens selbst lediglich ausgehend von dem Syntagma λόγος τῆς παρακλήσεως Hebr 13,22 (vgl. Hebräerbrief, 36–40). 152 Vgl. hierzu S. Alkier, Neues Testament, 150: „Die intratextuelle Analyse erforscht die syntagmatischen, semantischen und pragmatischen Zeichenbeziehungen des Textes im Rahmen seines spezifischen Diskursuniversums unter weitgehender methodischer Ausblendung seiner enzyklopädischen Beziehungen“, oder, etwas griffiger formuliert: „Die intratextuelle Analyse fragt … nur danach, was und wie erzählt oder argumentiert wird“ (150). 153 Vgl. hierzu o. 26–37. 151

3.

Die Analyse von Hebr 5,11–6,12

3.1

Hebr 5,11–141

Mit Hebr 5,11 beginnt, im Anschluss an den Hinweis auf Jesus als einen ἀρχιερεὺς κατὰ τὴν τάξιν Μελχισέδεκ Hebr 5,6.102, ein bis Hebr 6,20 reichendes3, als „Vorbereitung auf den Christus-Logos“4 in den Argumentationsduktus eingeschobenes und diesen unterbrechendes5 „metakommunikatives Zwischenstück“6, das in der Forschung im Allgemeinen in zwei Unterabschnitte, Hebr 5,11–6,12 und Hebr 6,13–20, untergliedert wird7. Dieser Aufteilung soll in der nun folgenden Zu den zu diesem Text entwickelten formkritischen Hypothesen vgl. etwa H. Löhr, Umkehr, 164, der in seiner Diskussion dieser Passage durchaus m.R. darauf verzichtet, dieselbe formgeschichtlich näher zu definieren. Dieser für die Frage nach der textpragmatischen Situierung des Hebr entscheidend wichtige Text spielt etwa in der Untersuchung von F. Laub überhaupt keine Rolle; vgl. hierzu Bekenntnis, V–VII. 2 Auffällig ist, dass diese argumentationslogische Struktur derjenigen nicht nur ähnelt, sondern derjenigen entspricht, die M. Fabius Quintilianus, wie er in seinen Ausführungen über die παρέκβασις bzw. die digressio, d.h. den Exkurs innerhalb einer Rede, berichtet, in einer Rede über die Leistungen des Gnaeus Pompeius beobachtet hat: pro C. Cornelio popularis illa virtutum Cn. Pompei commemoratio: in quam in ille divinus orator, veluti nomine ipso ducis cursus dicendi teneretur, abrupto quem inchoaverat sermone devertit actutum (inst.orat. IV 3,13; vgl. zu diesem Text ausführlich u. 142f.). 3 Zu dieser Unterteilung etwa G. Schunack, Hebr, 74 und H.-F. Weiß, Hebr, 327; Weiß überschreibt diesen Abschnitt mit dem Titel „Vorbereitung der Rede für die ,Vollkommenenʻ“. 4 E. Gräßer, Hebr I, 317. 5 Vgl. hierzu auch E. Riggenbach, Hebr, 139: „Man könnte erwarten, der V[er]f[asser] werde sich jetzt eingehend über das melchisedekische Hohepriestertum Christi aussprechen. Diese Erwartung entspricht auch seiner Absicht. Allein indem er sich anschickt, diesen Gegenstand zu behandeln, empfindet er, wie wenig Verständnis die Leser bei ihrer gegenwärtigen geistigen Verfassung seinen Ausführungen entgegenbringen. So unterbricht er sich selbst und richtet an sie ein scharfes Mahnwort, um sie durch den Vorhalt ihrer geistigen Unreife und ihrer gefährdeten Lage 5,11–6,8 aus ihrer Stumpfheit aufzurütteln. Im Unterschied von 2,1–4; 3,1f. und selbst 3,7–4,13 bringt diesmal die Paränese nicht die praktische Anwendung der vorausgehenden lehrhaften Entwicklung. Nichts in 5,11–6,20 weist auf den Inhalt von 4,14–5,10 zurück. Würde man den Abschnitt streichen, so wäre nicht die leiseste Störung im Gedankenfortschritt zu erkennen“. 6 G. Schunack, Hebr, 74. 7 Vgl. hierzu etwa H.-F. Weiß, Hebr, 328.329f.357f.; Weiß verweist in diesem Zusammenhang auf den sowohl Hebr 5,11 als auch 6,12 begegnenden Terminus νωθρός, der ihm zufolge als inclusio zu verstehen ist (vgl. hierzu 328 mit A. 4 und dem dortigen Verweis auf A. Vanhoye). Vgl. zu diesem Gesichtspunkt auch E. Gräßer, Hebr 1, 318. Zum Zusammenhang dieser beiden Texte vgl. aber G. Schunack, Hebr, 74f.: „Gleichwohl gehört auch 6,13–20, obgleich etwas abgesetzt, zu dem metakommunikativen Zwischenstück. Denn es wird nicht nur der Grund dafür 1

Hebr 5,11–14

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Analyse Rechnung getragen werden: Zunächst wird der Argumentationsgang von Hebr 5,11–6,12 nachvollzogen, daran anschließend der mit jenem zweifellos verknüpfte, aber doch eigenständige von Hebr 6,13–20. In diesem ‚metakommunikativen Zwischenstück‘ verlässt der auctor ad Hebraeos die Ebene der ausschließlich sachbezogenen theologischen Argumentation und wendet sich den Adressaten, hier einer digressio durchaus vergleichbar, unmittelbar zu, ein Sachverhalt, der vermuten lässt, dass diesem ‚metakommunikativen Zwischenstück‘ im Blick auf die die vorliegende Studie leitende Frage nach der textpragmatischen Situierung des Hebr eine erhebliche Relevanz zukommen könnte8. Da ein angegeben, dass ‚wir eine kraftvolle Paraklese haben‘ (6,18), nämlich die beiden unumstößlichen Tatsachen, bei denen es unmöglich ist, dass der verheißene Gott lügt; die metakommunikative Verständigung mit den Adressaten kommt in 6,20 auch wieder bei dem Thema an, das schon in 5,10 als die Sache der ‚langen und schwer zu vermittelnden Rede‘ genannt worden ist: ‚Jesus, Hoherpriester in Ewigkeit nach der Weise Melchisedeks‘“. Vgl. darüber hinaus auch C.R. Koester, Hebr, 306: „Hebrews 5:11–6:20 is a transitional digression that concludes the first series of arguments and prepares listeners for the next major section“. Gegen diesen weitgehenden Forschungskonsens möchten R. Guzmán und M.W. Martin v.a. unter Rückgriff auf die antike Rhetoriktheorie lediglich Hebr 5,11–14 als ein solches ‚metakommunikatives Zwischenstück‘ begreifen: „This study addresses the issue by examining the passage in light of ancient rhetorical theory concerning digressio [zum Begriff der digressio vgl. ausführlich u. 142f.]. The study argues that the majority of 5:11–6:20, including the difficult materials of 6:1ff., should not be interpreted as a digression either in the contemporary sense of the term or in the technical sense of digressio, since the unit plays a crucial role in the continuation of a pattern of argumentation established across the length of the composition, and since it thereby fails to conform in this and multiple other ways to the theorists‘ description of the digressio and its customary use in arrangement“ (Disgression, 297). Dieser Annahme, die, wie die Autoren selbst einräumen, die übergroße Mehrheit der Forschung entgegensteht (vgl. hierzu Disgression, 295, A. 1), widerraten folgende Überlegungen: (a) Um ihre These zu untermauern, berufen sich R. Guzmán und M.W. Martin im wesentlichen auf die Definitionen von digressio, die in der antiken Rhetorikliteratur geboten werden. Dies ist methodisch jedoch außerordentlich fragwürdig, da doch keinesfalls ausgeschlossen werden kann, dass der auctor ad Hebraeos diese Definitionen entweder nicht gekannt oder aber bewusst unberücksichtigt gelassen hat. Ohne klare Textsignale aus Hebr selbst lässt sich eine solche These kaum zureichend begründen. (b) Wie in der exegetischen Literatur häufig beobachtet, begegnet der Begriff νωθροί als Charakterisierung der Adressaten dieser Epistel einerseits in Hebr 5,11, andererseits in Hebr 6,12 und inkludiert somit diesen Abschnitt in seiner Gesamtheit. Das aber bedeutet, dass zumindest Hebr 5,11–6,12 vom auctor ad Hebraeos als zusammenhängender Abschnitt konzipiert worden ist und der Intention dessen zufolge auch in dieser Weise verstanden werden soll. (c) Gleiches gilt für den Namen und die Person des Μελχισέδεκ, die in Hebr 5,10 die Argumentation der Passage Hebr 1,1–5,10 abschließen und auf die in Hebr 6,20; 7,1 dann wieder rekurriert wird. Das aber heißt doch, dass der Faden der Argumentation, der in Hebr 5,10 an sein vorläufiges Ende gekommen ist, in Hebr 6,20; 7,1 wieder aufgenommen wird. Das wiederum heißt, dass der gesamte Abschnitt Hebr 5,11–6,20 – wenn auch sicherlich durchaus mit inhaltlichen Abstufungen – als Exkurs bzw. als digressio zu betrachten ist, auch dann, wenn er den in antiken Rhetoriklehrbüchern gebotenen Definitionen einer digressio u.U. nicht oder nicht vollständig zu entsprechen vermag. 8 Vgl. hierzu bereits o. 19–26.

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Die Analyse von Hebr 5,11–6,12

erster Argumentationsgang dieses ‚metakommunikativen Zwischenstückes‘ mit Hebr 6,3 endet, soll die Analyse von Hebr 5,11–6,12 in einem ersten Schritt zunächst bis zu diesem Vers durchgeführt werden, um daran anschließend dann die Argumentation von Hebr 6,4–12 näher zu untersuchen9. In der exegetischen Literatur wird immer wieder die Frage aufgeworfen, ob der Verfasser des Hebr in diesem ‚metakommunikativen Zwischenstück‘ – zumindest aus seiner Sicht – auf unter den Adressaten seiner Epistel tatsächlich Platz greifende Vorfindlichkeiten zu sprechen kommt oder hier nur eine rhetorische, in der Realität letzten Endes nicht verifizierbare Situation thematisiert, die mit denselben nur in begrenztem Maße zu vergleichen bzw. zu parallelisieren sei10. Der Sachverhalt, dass der Verfasser des Hebr in diesem ‚metakommunikativen Zwischenstück‘ in Richtung seiner Adressaten jedoch explizite und auch sehr konkrete Vorwürfe erhebt11, lässt die Annahme, dass in jenem unter diesen – zumindest aus seiner Perspektive und womöglich in hyperbolischer Weise12 – tatsächlich vorhandene Defizite anspricht, mehr als wahrscheinlich erscheinen13. Dass der auctor ad Hebraeos, um diesen unter

9 Vgl. zu dieser Aufteilung der Passage Hebr 5,11–6,12 etwa H.W. Attridge, Hebr, 155–165. 166–177. Ähnlich auch K. Backhaus, Hebr, 212–224.225–244. Backhaus überschreibt den ersten Abschnitt „Die Glaubensmündigkeit der Adressaten angesichts der Vollkommenheitsrede“ (212), den zweiten titelt er „Die Adressaten zwischen Gefahr und Hoffnung“ (225). 10 In diesem Sinne etwa E. Gräßer, Hebr I, 317: Gräßer zufolge dienten die Ausführungen in Hebr 5,11–6,20 „einem doppelten pädagogischen Zweck: der Prüfung der Hörbereitschaft und Weckung der Wißbegierde einerseits, der Hervorhebung des Mysteriumcharakters der folgenden Offenbarung andererseits“. Ähnlich im Blick auf Hebr 5,11–14 auch H.W. Attridge, Hebr, 157: „While the author thus attributes the difficulty in presenting his account to the ‚sluggishness‘ of his hearers, this attribution is probably a rhetorical move, an ironic captatio benevolentiae“ (vgl. zu diesem Zitat auch u. 17, A. 28). Belege zugunsten seiner Interpretation gibt Attridge allerdings nicht an. 11 Vgl. hierzu ausführlich u. 71–75. 12 Vgl. zum Begriff der Hyperbel ausführlich u. 160f. 13 Vgl. hierzu etwa C.-P. März, Hoherpriester, 247f.: „Hebr 5,11–6,20 reflektiert, bevor der V[er]f[asser]. die Hohepriester-Christologie entfaltet, die Situation der Adressaten. Auch wenn der Abschnitt durchaus die rhetorische Absicht verfolgt, dem nachfolgenden ‚Logos‘ die nötige Aufmerksamkeit zu verschaffen, so vermittelt er doch einen Eindruck davon, wie der V[er]f[asser]. den Glaubensstand [und auch den Wissensstand] der Adressaten einschätzt: Seiner Meinung nach können sie zwar auf einen respektablen innergemeindlichen Zusammenhalt verweisen (6,9f), doch viele sind müde geworden, haben die erste Begeisterung verloren und sich auf Elementarlehren zurückgezogen (5,12 – 14). Sie sind ‚stumpf geworden in den Ohren‘ (5,11) und so sehr von einer Gesinnung des Zurückweichens bestimmt, dass der V[er]f[asser]. sich sogar genötigt sieht, die Möglichkeit des Glaubensabfalls anzusprechen (6,4–8 ...). Er vergleicht sie mit ‚Unmündigen‘ und spricht ihnen mit einem gängigen Bild der antiken Pädagogik die Reife zu prüfender Entscheidung ab (5,14). Ihr Glaubensstand ist seiner Meinung nach von einem ‚Defizit‘ bestimmt, ‚das mit einer Wiederholung der Anfangslehre nicht zu beheben ist‘ und nach einer besonderen, über das Basiswissen hinausgehenden Belehrung verlangt“. Ob den Ausführungen von C.-P. März in jedem Detail zuzustimmen ist, muss die nun folgende Analyse ergeben; richtig erkannt ist in jedem Falle, dass dem Abschnitt Hebr 5,11–6,20 im Rahmen der Frage nach der textpragmatischen Situierung des Hebr eine große Bedeutung zukommt.

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seinen Adressaten real nachweisbaren Defiziten abzuhelfen, in diesem ‚metakommunikativen Zwischenstück‘ mit rhetorischen Mitteln bzw. einer rhetorischen Strategie arbeitet, bleibt natürlich nichtsdestoweniger fraglos14.

In Hebr 5,11a knüpft der Verfasser des Hebr an das zuvor Gesagte an und führt aus, dass den Adressaten περὶ οὗ ein πολὺς λόγος15 καὶ δυσερμήνευτος λέγειν, also eine ,lange und schwierig zu verstehende16 Redeʻ, zu halten sei17. In der exegetischen Forschung werden sowohl die präpositionale Wendung περὶ οὗ als auch das Syntagma πολὺς ὁ λόγος καὶ δυσερμήνευτος λέγειν in der Regel auf die in Hebr 5,6.10 bereits anklingende und dann in Hebr 7,1ff., im Anschluss an das ‚metakommunikative Zwischenstück‘ Hebr 5,11–6,20, entfaltete Thematik der Person Jesu als eines ἀρχιερεὺς κατὰ τὴν τάξιν Μελχισέδεκ bezogen18. Dabei sind zwei unterschiedliche Akzentsetzungen zu beobachten: Einige Forscher fassen die Wendung περὶ οὗ maskulinisch und verstehen das in Hebr 5,11a Ausgeführte als Ankündigung einer Rede „über Jesus als den ‚Hohenpriester nach der Ordnung des Melchisedek‘“19. Andere deuten demgegenüber die Wendung περὶ οὗ neutrisch und sehen in Hebr 5,11a den Hinweis auf eine nun folgende Rede über das Priestertum melchisedekischer Art im allgemeinen20. Vgl. hierzu dann auch u. 71–75. Zur Definition des Terminus λόγος vgl. R.C. Sauer, Reexamination, 93; Sauer spricht hier von „a written discourse which contains a definite subject matter and is used for instruction“. Dem bestimmten Artikel ὁ schreibt Sauer u.a. die Funktion zu, eine „particular exposition“ zu bezeichnen, also die Explikation eines von anderen entsprechenden Themen deutlich zu unterscheidenden theologischen Aspekts; vgl. hierzu auch ausführlicher u. 86f. 16 Zu dieser Interpretation des Syntagma δυσερμήνευτος λέγειν vgl. N. Walter, Art. ἑρμενεύω/δυσερμήνευτος, in: EWNT2 II, 137 mit Hinweis auf O. Michel; deutlich wird in den Ausführungen Walters, dass dieser Begriff auf die inhaltliche Verstehbarkeit der jeweils verhandelten Sachverhalte zielt. 17 Diese Deutung von Hebr 5,11a setzt voraus, dass der Infinitiv λέγειν ausschließlich auf das Adjektiv δυσερμήνευτος und nicht auf das Substantiv λόγος zu beziehen ist; in diesem Sinne etwa R.C. Sauer, Reexamination, 99, der den Infinitiv λέγειν als „complimentary or defining (epexegetical) infinitve dependent on δυσερμήνευτος“ verstehen möchte und dessen Bezug auf das Syntagma πολὺς ἡμῖν ὁ λόγος schon aufgrund der Wortstellung für „improbable“ (98) hält; in diese Richtung scheinen etwa auch F. Blaß/A. Debrunner/F. Rehkopf, Grammatik, § 394.5, 324 und E. Gräßer, Hebr I, 320 zu denken. 18 So explizit etwa H. Braun, Hebr, 150: „... weil auf [Hebr] 7,1–10,18 bezogen“. Ähnlich auch H. Hegermann, Hebr, 126: „περὶ οὗ weist zurück auf ihr in 5,10 soeben genanntes Thema, das Melchisedek-Priestertum Jesu. Dieses wird sich als sehr inhaltsschwer erweisen und den Autor zu einer umfangreichen Lehrausführung nötigen“. 19 H.-F. Weiß, Hebr, 330; ähnlich auch E. Riggenbach, Hebr, 140. Nach Weiß verweist der Verfasser des Hebr mit dieser Einlassung zugleich auch auf Hebr 7,1ff. voraus (vgl. 330, A. 10). R.C. Sauer, Reexamination, 92 verweist explizit auf die Person des Μελχισέδεκ als diejenige, auf die der Verfasser des Hebr mit dem Pronomen οὗ Bezug nehmen wollte. 20 So etwa H.W. Attridge, Hebr, 156, der dafür plädiert, diese Wendung hier neutrisch zu deuten und auf „the whole subject of the priesthood according to Melchizedek“ zu beziehen; zu dieser neutrischen Deutung vgl. auch H. Braun, Hebr, 150 und E. Gräßer, Hebr I, 320. Die von Gräßer darüber hinaus erwogene maskulinische Deutung der Wendung περὶ οὗ auf die Person 14 15

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Die Analyse von Hebr 5,11–6,12

Diesen beiden, letzten Endes in gleicher Weise vorwärts gewandten und auf die kommenden Darlegungen hinzielenden Deutungsansätzen entgegen wäre die Annahme zumindest zu erwägen, dass der Verfasser des Hebr sowohl die präpositionale Wendung περὶ οὗ als auch das Syntagma πολὺς λόγος καὶ δυσερμήνευτος nicht auf die in Hebr 7,1ff. folgenden, sondern auf die Gesamtheit der in Hebr 1,1–5,10 bereits ausgeführten Darlegungen bezogen hat. Mit Hebr 5,11a hätte er, ein neutrisches Verständnis des Syntagma περὶ οὗ vorausgesetzt, demnach dann sagen wollen, dass die bisher behandelten theologischen Inhalte den Rezipienten seiner Schrift in einem πολὺς λόγος καὶ δυσερμήνευτος λέγειν darzulegen gewesen seien. Wird die präpositionale Wendung περὶ οὗ maskulinisch gedeutet und auf die Person Jesu bezogen, ließe sich Hebr 5,11a dahingehend interpretieren, dass der auctor ad Hebraeos hier hätte ausführen wollen, dass die in Hebr 1,1–5,10 dargelegten, durchaus auch bereits als soteriologisch zu qualifizierenden Aspekte der Person Jesu den Adressaten seiner Epistel in einem πολὺς λόγος καὶ δυσερμήνευτος λέγειν vermittelt worden seien. Zugunsten dieser nach rückwärts gewandten Interpretation von Hebr 5,11a lässt sich zunächst anführen, dass eine Partikel wie etwa οὖν, die – das bisher Gesagte zusammenfassend und somit abschließend – anzeigt, dass die entsprechende Darstellung bzw. Argumentation im Folgenden nun weitergeführt wird21, in Hebr 5,11a fehlt. Dies verdient insoweit Beachtung, als sich für die „konsekutive koordinierende Konjunktion“22 οὖν im Hebr immerhin zwölf bzw. dreizehn Belege nachweisen lassen23, ein Befund, der zunächst zu indizieren geeignet ist, dass der auctor ad Hebraeos diese Partikel im Rahmen seiner Darlegungen insgesamt durchaus bewusst verwendet hat. Dass diese Partikel durchaus auch eine im Rahmen des Duktus der jeweiligen Argumentation konsekutive und in diesem Sinne eine Weiterführung der bisherigen Ausführungen anzeigende Funktion ausüben kann, belegen etwa Hebr 4,1: φοβηθῶμεν οὖν, μήποτε καταλειπομένης ἐπαγγελίας εἰσελθεῖν εἰς τὴν κατάπαυσιν αὐτοῦ δοκῇ τις ἐξ ὑμῶν ὑστερηκέναι24, und Hebr 10,35: μὴ ἀποβάλητε οὖν τὴν παρρησίαν ὑμῶν, ἥτις ἔχει μεγάλην μισθαποδοσίαν25 . des Melchisedek (319f.) scheint angesichts der in Hebr 7,1ff. vorliegenden Argumentation unwahrscheinlich. 21 Vgl. hierzu F. Blaß/A. Debrunner/F. Rehkopf, Grammatik, § 451.1, 381: „Natürlich gibt es [d.h. die Partikel οὖν] nicht immer streng ursächliche, sondern auch in freier Weise eine zeitliche Verknüpfung an, leitet also die Erzählung fort, bzw. führt zum Hauptthema zurück“. 22 F. Blaß/A. Debrunner/F. Rehkopf. Grammatik, 381. 23 Vgl. hierzu W.F. Moulton/ A.S. Geden, Concordance, 1109; im einzelnen sind dies: Hebr 2,14; 4,1.6.11.14.16; 7,11; 8,4; 9,1.23 und 10,19.35. Das οὖν in Hebr 13,15 ist textkritisch umstritten, wird aber von den Herausgebern von NA28 immerhin in Klammern geboten. 24 Vgl. hierzu etwa E. Gräßer, Hebr I, 200: „Der Neueinsatz mit dem οὖν-paraeneticum macht deutlich, daß jetzt die Summe alles bisher Gesagten gezogen wird“. 25 Vgl. hierzu wiederum E. Gräßer, Hebr III, 70: „Die Folgerung, die jetzt mit eröffnendem οὖν-paraeneticum und coniunctivus prohibitivus μὴ ἀποβάλητε aus der commemoratio V.32– 34 gezogen wird, ist eindeutig“.

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Darüber hinaus scheint folgende sachlogische Überlegung die Annahme einer rückwärts gewandten, auf Hebr 1,1–5,10 bezogenen Interpretation von Hebr 5,11a zu indizieren: Angesichts der u. noch zu diskutierenden, offensichtlich – zumindest in den Augen des auctor ad Hebraeos – weitreichenden und grundlegenden theologisch-theoretischen Erkenntnisdefizite seiner Adressaten26 lässt sich kaum erklären, dass jener einerseits seine an das ,metakommunikative Zwischenstückʻ Hebr 5,11–6,20 anschließenden Darlegungen über die Hohepriesterschaft Christi κατὰ τὴν τάξιν Μελχισέδεκ (Hebr 7,1ff.) als einen für jene πολὺς λόγος καὶ δυσερμήνευτος λέγειν bezeichnen, andererseits aber offensichtlich zugleich davon ausgehen kann, dass jenen das in Hebr 1,1–5,10 Ausgeführte ohne Schwierigkeiten zu rezipieren möglich gewesen ist. Für in solcher Weise hinsichtlich ihrer theologisch-theoretischen Erkenntnis (noch oder wieder) Ungebildete müssen bereits die Ausführungen in Hebr 1,1–5,10 einen πολὺς λόγος καὶ δυσερμήνεθτος λέγειν dargestellt haben. Die Aussage Hebr 5,11a wird zunächst in Hebr 5,11b begründet27. Hier hält der Verfasser des Hebr seinen Adressaten in Hebr 5,11b vor, dass sie νωθροὶ ταῖς ἀκοαῖς geworden seien28. Im Blick auf die Frage nach der Bedeutung der Wendung νωθροὶ ταῖς ἀκοαῖς lassen sich in der exegetischen Forschung der Gegenwart zwei jeweils unterschiedlich akzentuierte Interpretationen ausmachen29: (a) Die Wendung νωθροὶ ταῖς ἀκοαῖς wird eher wörtlich etwa im Sinne von ‚schwerhörig‘ aufgefasst. Der Verfasser des Hebr wolle, ohne hier eine physische Schwerhörigkeit im Sinne zu haben, mit ihr in übertragenem Sinne auf eine unter den Adressaten seiner Epistel mittlerweile Platz greifende „mangelnde. Hörbereitschaft und Aufnahmefähigkeit der Adressaten“30 seiner Epistel anspielen31.

Vgl. hierzu u. 72–75. Vgl. hierzu den Anschluss mit ἐπεί Hebr 5,11b; zu den unterschiedlichen Möglichkeiten der Übersetzung dieser Konjunktion vgl. etwa H. Löhr, Umkehr, 165 mit A. 152 und M. Karrer, Hebr II, 30f. Beide lehnen deren Deutung im Sinne eines elliptischen ἐπεί ab. Vgl. hierzu auch ausführlich R.C. Sauer, Reexamination, 100ff. K. Backhaus, Hebr, 216 weist darauf hin, „dass die aufrüttelnde Schelte der Adressaten – etwa als faul im Sinn von intellektuell schneidlos und geistesstumpf – durchaus zum [antiken] Lehrbetrieb gehörte“; konkret verweist Backhaus hier auf entsprechende Darlegungen bei Musonius Rufus und Epictetus sowie in 2Clem 11,3. 28 Das Perfekt γεγόνατε kennzeichnet den in Hebr 5,11b beschriebenen Zustand des νωθρὸς ταῖς ἀκοαῖς als „Resultat einer vergangenen Handlung“ (F. Blaß/A. Debrunner/F. Rehkopf, Grammatik, § 318, 264). Dabei drückt das perfectum „die Dauer des Vollendeten“ (§ 340, 279) aus. H.W. Attridge, Hebr, 157 sieht in dieser Einlassung „probably a rhetorical move, an ironic captatio benevolentiae. The stance that ‚this material is difficult because you are slow-witted,‘ followed by the more positive remarks of 6:1–3 and 9–12, is designed to elicit the response, ‚no, we are not dullards, we are ready to hear what you have to say‘“. 29 Diese beiden unterschiedlichen Akzentsetzungen zusammenfassend R.C. Sauer, Reexamination, 105: „The readers are indolent in hearing and understanding“. 30 H.-F. Weiß, Hebr, 330f. 31 In diesem Sinne auch H. Hegermann, Hebr, 126: „Dabei werden die Hörer nicht als Unwissende kritisiert; vielmehr seien sie ‚stumpf geworden am Gehör‘, wörtlich: an den Ohren. 26 27

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Die Analyse von Hebr 5,11–6,12

(b) Die Wendung wird vollständig metonymisch im Sinne von ‚denkfaul‘ interpretiert32; mit ihr hebe der Verfasser des Hebr auf die mittlerweile an den Tag gelegte „Stumpfheit des geistigen Auffassungsvermögens“33 seiner Adressaten ab34. Zugunsten der wörtlicheren Deutung dieses Syntagmas wird in der Literatur immer wieder auf eine wörtliche Parallele zu der hier in Hebr 5,11b vorliegenden Wendung, nämlich auf Heliodoros, aethiopica V 1,5, verwiesen: ‚ἐγὼ μὲν οὐκ ᾐσθόμεν‘ ἔφη ὁ Καλάσιρις, ‚τάχα μέν που καὶ δι’ ἡλικίαν νωθρότερος ὢν τὴν ἀκοήν, νόσος γὰρ ἄλλων τε καὶ ὤτων τὸ γῆρας, ἴσως δὲ καὶ πρὸς τὴν διήγησιν ἠσχολημένος‘35. Dass hier bei Heliodoros die Wendung νωθρότερος τὴν ἀκοήν mit „schwerhörig“ im Sinne einerseits von hörunfähig, andererseits aber auch von hörunwillig wiederzugeben ist, kann kaum ernsthaft bezweifelt werden36. Allerdings weisen die Ausführungen des auctor ad Hebraeos in Hebr 5,11a, hier insbesondere die Bezeichnung des vorgetragenen λόγος als eines λόγος δυσερμήνευτος, – zumindest auch – in die Richtung einer metonymischen Interpretation von Hebr 5,11b; die gehaltene Rede ist – auch – deshalb ,schwer darzustellenʻ gewesen, weil die Adressaten denkfaul, d.h. denkunwillig oder aber auch denkunfähig, geworden sind und sich – nunmehr37 – intellektueller, ihren theologisch-theoretischen (Er-)Kenntnisstand erweiternder Arbeit verweigern38. Νωθρός ruft die Vorstellung mangelnder Aufmerksamkeit hervor bis hin zu stumpfsinniger Unansprechbarkeit“. 32 Vgl. hierzu E. Gräßer, Hebr I, 322 mit A. 44, wobei Gräßer auf J. Héring verweist: „Νωθρὸς ταῖς ἀκοαῖς heißt wörtlich: träge an den Ohren = schwerhörig. Die Wendung hat als Metapher für Denkfaulheit in der griechischen Paideia ihren festen Platz“. Ähnlich auch H. Braun, Hebr, 150, der im Blick auf diese Wendung von der „geistigen Trägheit“ der Adressaten des Hebr spricht, und M. Karrer, Hebr II, 30, der hier ein „träges Hören, das auf die Mühe von Arbeit verzichtet“, also letzten Endes eine Denkunwilligkeit bezeichnet sieht. 33 F. Bleek, Hebr, 242. 34 In diese Richtung scheint etwa auch K. Backhaus, Hebr, 216 zu tendieren, wenn er von einer „mangelhaften geistig-geistlichen Aufnahmefähigkeit“ der Adressaten des Hebr spricht. 35 Text nach R.M. Rattenbury/T.W. Lumb, Héliodore II, 37; „‚Ich habe nichts bemerkt‘, erwiderte Kalasiris. ‚Vielleicht hat das Alter mein Gehör geschwächt, das ja davon auch in Mitleidenschaft gezogen wird, vielleicht war ich auch ganz von meiner Erzählung in Anspruch genommen. …“ (Übersetzung nach H. Gasse, Heliodor, 119f.). 36 Vgl. hierzu auch E. Gräßer, Hebr I, 322. 37 Zur Interpretation des Prädikats γεγόνατε vgl. C.R. Sauer, Reexamination, 106: „Lexically, the verb here portrays the readers as those who changed their nature to indicate their entering a new condition. This fresh state is dullness in grasping theological doctrine“; dieses Prädikat „denotes a … present state which is the result of a process previously completed“. 38 Vgl. hierzu C.R. Sauer, Reexamination, 106f.: „The addressees, instead of progressing and developing their intellectual capacity to grater degrees of apprehension, have regressed“; zu weit gehend hier D.G. Petersen, Situation, 16: „There appears to be a certain unresponsiveness to the Gospel already received: an unwillingness to work out its deeper implications and respond with faith and obedience“. Diesem Urteil scheinen die Ausführungen des Verfassers des Hebr in Hebr 6,10 (vgl. hierzu u. 194–196) deutlich zu widerraten.

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Zugunsten der von ihm favorisierten Deutung der Wendung νωθροὶ ταῖς ἀκοαῖς im Sinne von „denkfaul“ verweist E. Gräßer demgegenüber auf von Arrianοs überlieferte Ausführungen des Epictetοs in diss. I 7,3039: τὶ ἔτι ἀργοὶ ῥᾴθυμοι καὶ νωθροί ἐσμεν καὶ προφάσεις ζητοῦμεν, καθ’ἃς οὐ πονήσομεν οὐδ’ ἀγρυπνήσομεν ἐξεργαζόμενοι τὸν αὐτῶν λόγον? Nach Gräßer werden hier die νωθροί als solche, „die ‚allerlei Vorwände‘ suchen, um ihre ‚Vernunft nicht auszubilden‘“40 bezeichnet. Selbst wenn dies zutreffen sollte, trägt diese Parallele jedoch für die Interpretation von Hebr 5,11b kaum etwas aus, da in ihr der Begriff νωθρός hier eben nicht, wie in Hebr 5,11b, mit dem Attribut ταῖς ἀκοαῖς bzw. τὴν ἀκοήν verknüpft ist.

Durchaus gut denkbar ist, dass der Verfasser des Hebr mit seiner Einlassung ἐπεὶ νωθροὶ γεγόνατε ταῖς ἀκοαῖς in Hebr 5,11b beide letzten Endes dann auch kaum voneinander zu trennende Aspekte anklingen lassen wollte: Er nimmt bei seinen Adressaten einerseits ihre mangelnde Bereitschaft, ihnen zuteil werdender Unterweisung überhaupt zuzuhören und jener ihre entsprechende Aufmerksamkeit zu widmen, andererseits zugleich ihre fehlende Bereitschaft und womöglich auch ihre – aus dieser fehlenden Bereitschaft und, damit zusammenhängend, aus fehlender Übung und fehlender Praxis resultierende – offensichtlich fehlende Fähigkeit, sich mit den Inhalten derselben intellektuell auseinanderzusetzen, wahr41. Die in Hebr 5,11b konstatierte Arbeitsverweigerung der Adressaten wird in Hebr 5,12a.b weitergeführt durch den Hinweis auf ihre Defizite an theologischtheoretischer Erkenntnis; jene, die διὰ τὸν χρόνον, „infolge der Länge der Zeit“42

Vgl. hierzu Hebr I, 322, A. 45. Hebr I, 322, A. 45. 41 Vgl. in diesem Sinne etwa die Ausführungen von W.L. Lane, Hebr I, 136: „Deafness or dullness in receptivity is a dangerous condition for those who have been called to radical obedience“. Darüber hinaus führt er aus: „What is implied is a lack of responsiveness to the gospel and an unwillingness to probe the deeper implications of Christian commitment and to respond with faith and obedience .... If this apathetic attitude was not checked, it would lead to spiritual inertia and the erosion of faith and hope“. Zumindest in gewisser Weise votiert auch K. Backhaus, Hebr, 216 für diese die zwei o. diskutierten Aspekte integrierende Interpretation der Wendung νωθροὶ ταῖς ἀκοαῖς, wenn er für die in Hebr 5,11 beklagten Schwierigkeiten des Verstehens zwei Ursachen ausmacht, einerseits nämlich eine „mangelhafte. geistig-geistliche Aufnahmefähigkeit“ (216; vgl. hierzu auch o. 72, A. 34) der Adressaten des Hebr, andererseits die der nachzuvollziehenden Materie selbst inhärenten intellektuellen Herausforderungen und Probleme. 42 E. Gräßer, Hebr I, 325; vgl. hierzu auch H.-F. Weiß, Hebr, 331: „Von der Dauer des Christseins der Adressaten her gesehen (seit ihrer Taufe also!) sollten sie sich eigentlich schon im fortgeschritteneren Stadium der Befähigung zum ‚Lehrer‘ befinden“, und H. Braun, Hebr, 151: „...; die Gemeinde existiert schon eine geraume Zeit“. In diesem Sinne auch R.C.Sauer, Reexamination, 111f., der darüber hinaus den materialen Aspekt dieser Wendung heraushebt: „Rather, the writer claims that the addressees should be capable of teaching others because they have had adequate time and indoctrination in order to have themselves obtained a ripe understanding of the faith“. 39 40

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Die Analyse von Hebr 5,11–6,12

eigentlich längst selbst hätten διδάσκαλοι43 sein sollen44, haben es wieder erneut nötig, von jemandem45 über die στοιχεῖα τῆς ἀρχῆς τῶν λογίων τοῦ θεοῦ unterrichtet zu werden (Hebr 5,12b). Die innerhalb dieses Syntagmas vorliegende Struktur einer sich immer weiter ins Elementare hinein entwickelnden Zuspitzung ,von rückwärtsʻ – zunächst wird die Gesamtmenge der λόγια τοῦ θεοῦ durch den vorangehenden Genitiv τῆς ἀρχῆς in Richtung auf deren ,ersteʻ und grundlegende Elemente zugespitzt, dann die Menge dieser ,erstenʻ und grundle-

Dieser Begriff wird in der exegetischen Literatur weitestgehend in allgemeinem Sinne gedeutet, d.h. etwa folgendermaßen paraphrasiert: „Denn ihr, die ihr (doch eigentlich) von der (Länge der) Zeit her gesehen (bereits) das Wissen und die Erkenntnis von Lehrern erworben haben müßtet, ...“ (Paraphrase angelehnt an H.-F. Weiß, Hebr, 329; vgl. hierzu auch 331: „Wird der gegenwärtige Glaubens- und Erkenntnisstand der Adressaten auf diese Weise beschrieben, so ist auch deutlich, daß διδάσκαλος und διδάσκειν nicht auf das spezielle Amt des ‚Lehrers‘ in den urchristlichen Gemeinden zu beziehen ist, sondern lediglich als oppositum zur in V. 13 erfolgenden Kennzeichnung der Adressaten als ‚unmündige Kinder‘ steht“); vgl. hierzu etwa O. Michel, Hebr, 235: „Es geht um die geistliche Lehrfähigkeit aufgrund des Wortes, nicht um die Ausfüllung eines kirchlichen Amtes“. In diese Richtung denken auch F.F. Bruce, Hebr, 135, A. 80, der diesen Terminus in einem „informal sense“ verstehen möchte, E. Gräßer, Hebr I, 324: „Wir haben es vielmehr mit einem hellenistischen, technisch-rationalen Wort zu tun, das hier mit ganz unspezifischer Bedeutung gebraucht wird“, H. Löhr Umkehr, 166: „Daß sich die Adressatengruppe als elitäre Gruppe von Lehrern innerhalb einer größeren Christengemeinde verstanden haben könnte, hat am Hebr insgesamt keinen Anhalt, erst recht nicht die Hypothese, man habe an den jüdischen ‫ מורה‬oder an den ‫ דבי‬zu denken. Die Diskussion darüber, ob ein Lehrer noch selbst des Unterrichtetwerdens bedürfe, ist dabei als antiker Gemeinplatz anzusprechen“, und K. Backhaus, Hebr, 218: „Nichts deutet darauf hin, dass es hier, wie mitunter vermutet wird, um eine stufenweise Einführung in gnostisches Geheimwissen geht oder der V[er]f[asser]. gar nur eine bestimmte Hausgemeinde aus angehenden christlichen Lehrern vor Augen hätte“, darüber hinaus auch D.G. Peterson, Situation, 16f. Noch anders hier D.A. DeSilva, Hebr, 211, der den Hinweis in Hebr 5,12a im Sinne von „the author suggests that they ought to have been teachers of each other“, eine Interpretation, die durch den Text in keiner Weise gedeckt erscheint. Vgl. zu den hier skizzierten Deutungen des διδάσκαλος-Begriffs aber kritisch und dann auch deutlich anders u. 104–111. 44 Nach E. Gräßer, Hebr I, 323 expliziert der Verfasser des Hebr in Hebr 5,12a den Vorwurf, „daß sich die Angeredeten der Verpflichtung zum theologischen Erkenntnisgewinn schuldhaft, ja töricht entzogen haben“. Zur Bedeutung des Partizips ὀφείλοντες Hebr 5,12a vgl. auch u. 129f. 45 Nach H.-F. Weiß, Hebr, 331, A. 15 ist in Hebr 5,12a ein enklitisches τινα als Subjekt zum Infinitiv διδάσκειν zu lesen. Ähnlich etwa auch E. Riggenbach, Hebr, 141 – nach Riggenbach ergibt sich dies aus dem Kontext von Hebr 5,11–14: „Nur so nämlich tritt der Kontrast mit voller Schärfe hervor, daß sie, die selbst Lehrer sein könnten, noch einen Lehrer brauchen und also immer noch von der Unterweisung anderer abhängig sind, anstatt sich selbst fortbilden zu können“, – und E. Gräßer, Hebr I, 326. Noch deutlicher hier R.C.Sauer, Reexamination, 118: „Τις is the focal point of several figures of speech. In saying that ,anyoneʻ can teach those who ought to be teachers, the author employs the indefinite pronoun as a vehicle of epitimesis, an expression of one’s feelings via reproach. The censure is intensified by meiosis, which diminishes the teacher (τις) to magnify by contrast the recipients’ acute need (χρεία)“. 43

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genden Elemente durch das Substantiv στοιχεῖα noch weiter auf die diesen inhärenten elementaren Aspekte46, somit also auf die „simplest of the fundamentals“47 – will in Hinsicht auf die Situation der Adressaten des Hebr zunächst die Annahme nicht unwahrscheinlich erscheinen lassen, dass diese in den Augen des Verfassers dieser Epistel, was ihren Bestand an theologisch-theoretischer Erkenntnis angeht, noch bzw. wieder auf der Stufe von Neubekehrten bzw. – und an dieser Stelle womöglich auch präziser – von Unwissenden48 stehen49, die, wie die Ausführungen in Hebr 6,1f.9f. belegen50, bis dato lediglich den Schritt von der paganen hin zur jüdisch-christlichen Gottesverehrung – diesen offensichtlich allerdings dann doch – gegangen sind, ohne jedoch die intellektuelle Dimension ihres nun neuen Glaubens in ihrer Gesamtheit auch nur im Ansatz erfasst zu haben. Angesichts des Sachverhalts jedoch, dass der auctor ad Hebraeos seinen Adressaten in Hebr 1,1–5,10 gerade einen πολὺς λόγος καὶ δυσερμήνευτος vorgelegt hat, scheinen die Ausführungen in Hebr 5,12b eines hyperbolischen Charakters nicht zu entbehren51; augenscheinlich übersteigert der Verfasser des Hebr an dieser Stelle im Rahmen eines „rhetorical move“ bewusst die νώθεια seiner Adressaten, um deren Aufmerksamkeit zu gewinnen und deren Hör- und Denkbereitschaft (neu) zu wecken52. 46 Vgl. hierzu E. Gräßer, Hebr I, 326, der in diesem Zusammenhang durchaus m.R. von „allerersten Anfangsgründe[n]“ spricht. 47 R.C. Sauer, Reexamination, 124, der darüber hinaus formuliert: „Στοιχεῖα here means the ,rudiments (elements)ʻ of a subject of study. And if this were not humiliating enough, the attributive genitive τῆς ἀρχῆς is appended to the ruling noun to strengthen it and express the inadequacy of reexamining merely ,the elementsʻ and to point out the need of mastering again ,the beginning elementsʻ of messianic doctrine. Τὰ στοιχεῖα τῆς ἀρχῆς, equivalent to τὰ πρῶτα στοιχεῖα (,the very first rudimentsʻ), means the simplest of the fundamentals of this knowledge“. 48 Zu der entsprechenden bildungstheoretischen Interpretation der Ausführungen in Hebr 5,11–14 vgl. dann ausführlich u. 116–120. 49 Vgl. hierzu H. Braun, Hebr, 152: „Die Gemeinde kann sich zu dieser Anfängerstufe [der Unterweisung] verschieden verhalten: in positiver Aufnahme und Fähigkeit zur Weitergabe oder im Rückschritt unter diese Stufe und somit in Bedürftigkeit nach erneuter Anfangsbelehrung“. 50 Vgl. hierzu u. 161–175 und u. 194–196. 51 Vgl. hierzu ausführlich u. 81–83; vgl. hierzu unmittelbar, wenn auch mit einem deutlich anderen Akzent, D.A. DeSilva, Hebr, 211: „The fact that the author will indeed go on to deliver the ‚long and difficult–to-understand‘ message (7:1–10:18), and that he immediately proposes pressing on without laying again the foundational teachings (6:1–2), demonstrates that he has used hyperbole in describing them as ‚having need of someone to teach them the fundamental rudiments of the oracles of God,‘ and requiring ‚milk and not solid food‘ (5:12)“. Vgl. hierzu auch M. Karrer, Hebr II, 26: „Der Autor widerspricht der von ihm zuvor ausgelösten Hörhaltung, die Schlimmstes (gravissimum) und bestenfalls noch Lehre für Anfänger erwartete. Die Antike kennt das als Rhetorik des Paradoxes, des Spannung lösenden Unerwarteten .... Die Leserinnen und Leser atmen auf. Fast mit einem befreienden Lachen gelangen sie zur Erkenntnis: ‚Die Hörerschelte ist rhetorisch, nicht wortwörtlich gemeint‘“. 52 Vgl. hierzu die entsprechenden Ausführungen von H.W. Attridge o. 71, A. 28.

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H. Löhr sieht die Inhalte dieser ,Anfangsunterweisungʻ in den Ausführungen in Hebr 6,1f. „präzisiert“53. Dieser Annahme scheint auf den ersten Blick allerdings die Beobachtung zu widerraten, dass der Verfasser des Hebr Hebr 6,1c zufolge54 seinen Adressaten gegenüber offensichtlich davon absehen kann, den θεμέλιος μετανοίας ἀπὸ νεκρῶν ἔργων καὶ πίστεως ἐπὶ θεόν55 neu zu fundieren56, eine Beobachtung, die zu indizieren scheint, dass jener die grundsätzliche Umkehr von der paganen zur jüdisch-christlichen Gottesverehrung gerade nicht unter die – scheinbar notwendig noch einmal zu unterrichtenden – στοιχεῖα τῆς ἀρχῆς τῶν λογίων τοῦ θεοῦ zu subsumieren gedachte. Die in den Begriffen μετάνοια ἀπὸ νεκρῶν ἔργων und πίστις ἐπὶ θεόν zum Ausdruck kommende grundsätzliche religiöse Wende scheint – zumindest dem Verfasser des Hebr zufolge – der Belehrung über die ,simplest of the fundamentalsʻ als grundlegende Erkenntnis und Entscheidung vorauszugehen57. Würde die in Hebr 5,12b beschriebene Realität jedoch in hyperbolischem Sinne interpretiert und als rhetorische Übersteigerung verstanden – eine Möglichkeit, die sich angesichts der argumentationslogischen Struktur des Hebr durchaus nahelegt58 –, so liefe der Verweis auf Hebr 6,1c ins Leere und die Annahme, das Syntagma στοιχεῖα τῆς ἀρχῆς τῶν λογίων τοῦ θεοῦ werde in Hebr 6,1f. inhaltlich präzisiert, ließe sich gänzlich zwanglos aufrechterhalten. Unter die στοιχεῖα τῆς ἀρχῆς τῶν λογίων τοῦ θεοῦ wären dann im wesentlichen diejenigen theologischen Aspekte zu subsumieren, die der auctor ad Hebraeos in Hebr 6,1c.2 auflistet, darüber hinaus auch, allerdings Umkehr, 167; vgl. hierzu auch H.-F. Weiß, Hebr, 331, A. 15. In diese Richtung denkt neben anderen auch D.A. De Silva, Hebr, 215, der die in Hebr 6,1f. aufgelisteten theologischen Aspekte allerdings als „values and wisdom of the Christian culture“ bezeichnet, ein Begriff, der deren eigentlich theologischen Implikationen nicht gerecht zu werden vermag. 54 Vgl. hierzu u. 161–169. 55 Zur entsprechenden Analyse von Hebr 6,1cf. vgl. u. 161–175. 56 Vgl. hierzu u. 169–175. 57 Würde der Begriff θεμέλιος auf die in Hebr 6,1c.2 aufgelisteten Inhalte in ihrer Gesamtheit bezogen (vgl. hierzu allerdings u. 161–167), dann dürften auch die vier in Hebr 6,2 genannten Lehrstücke nicht unter die στοιχεῖα τῆς ἀρχῆς τῶν λογίων τοῦ θεοῦ subsumiert werden. Die im Rahmen der vorliegenden Studie vertretene Interpretation von Hebr 6,1c.2 (vgl. hierzu u. 161–175) erlaubt allerdings – zumindest formal – deren Verknüpfung mit den στοιχεῖα τῆς ἀρχῆς τῶν λογίων τοῦ θεοῦ, ohne dass dabei jedoch an eine Identifikation zu denken wäre. 58 Vgl. hierzu o. 66–75. An dieser Stelle weniger überzeugend H. Löhr, Umkehr, 168, der das hier beschriebene Problem mit dem Hinweis darauf lösen möchte, dass „der mangelnden Erkenntnis ... durch fortschreitende Belehrung aufgeholfen [werden solle] nicht durch schulmeisterndes Wiederholen der Anfangsgründe des Glaubens. Der Hebr versteht die Darbietung seiner Hohenpriesterauffassung als neue Lehre, eine Vertiefung und Neufassung des Bekenntnisses“. Dieser Auffassung widerrät jedoch, dass dem Verfasser des Hebr zufolge der λόγος τῆς ἀρχῆς τοῦ Χριστοῦ inhaltlich zwar unter die στοιχεῖα τῆς ἀρχῆς τῶν λογίων τοῦ θεοῦ subsumiert, nicht aber einfach mit jenen identifiziert werden darf (vgl. hierzu u.). Das aber heißt wiederum, dass letztere nicht einfach als in einer vertiefenden christologischen Belehrung aufgehend gedacht werden dürfen, sondern – zumindest in den Augen des auctor ad Hebraeos – schon ein eigenständiges Dasein führen. 53

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als ein theologisch eigenständiger und von jenen inhaltlich zu unterscheidender Topos, die Grundlagen der Christologie, für die jener in Hebr 6,1a – sicherlich nicht ohne guten Grund – einen eigenen Begriff einführt, nämlich denjenigen des λόγος τῆς ἀρχῆς τοῦ Χριστοῦ59. In der exegetischen Forschung werden die Inhalte dessen, was der Verfasser des Hebr mit dem Syntagma στοιχεῖα τῆς ἀρχῆς τῶν λογίων τοῦ θεοῦ bezeichnen und benennen wollte, häufig nur schlagwortartig und formal beschrieben; so habe der auctor ad Hebraeos mit dieser Wendung auf die Inhalte des „Katechumenatsunterricht[s] bzw. ... [der] Taufunterweisung der Adressaten“60, auf die „Hauptkapitel des E. Gräßer, Hebr I, 327 beschreibt das Syntagma λόγος τῆς ἀρχῆς τοῦ Χριστοῦ als „Parallelbegriff“ zu der Wendung στοιχεῖα τῆς ἀρχῆς τῶν λογίων τοῦ θεοῦ, ein Begriff, der beide Termini womöglich zu eng miteinander verknüpft. In ähnlicher Weise vermag etwa R.C. Sauer, Reexamination, 120.127.170 beide Termini für Synonyme zu halten (vgl. hierzu auch die Verweise 127, A. 1); vgl. hierzu etwa auch E. Riggenbach, Hebr, 142, der davon ausgeht, dass mit der Wendung στοιχεῖα τῆς ἀρχῆς τῶν λογίων τοῦ θεοῦ sachlich ... dasselbe gemeint ist, was [Hebr] 6,1 ὁ τῆς ἀρχῆς τοῦ Χρ.[ιστοῦ] λόγος heißt“; in diesem Sinne auch O. Michel, Hebr, 236: „Die nähere Beschreibung der στοιχεῖα [5,12] findet sich in [Hebr] 6,1“, C. Spicq, Hebr II, der die Wendung λόγος τῆς ἀρχῆς τοῦ Χριστοῦ für „manifestement parallèle à v. 12 τὰ στοιχεῖα τῆς ἀρχῆς τῶν λογίων τοῦ θεοῦ“ hält, und J. Moffat, Hebr, 73: „In what follows, τὸν τῆς ἀρχῆς τοῦ Χριστοῦ λόγον is a variant for τὰ στοιχεῖα τῆς ἀρχῆς τῶν λογίων τοῦ θεοῦ“. In diese Richtung scheint auch C.R. Koester, Hebr, 303f. zu denken, wenn er formuliert: „Many of the teachings in 6:1–2 appear in the sermons of Jesus and his followers: repentance and faith (Mark 1:15par.; Acts 2,38; 20:21), resurrection and judgment (Mark 12:18–27par.; Matt 10:15; 12;36; Acts 17:31; Rom 2:16; 1John 4;17) Early Christians practiced baptism (Acts 2:41; Rom 6:3–4; Gal 3,27; 1 Pet 3:21) and the laying on of hands (Acts 8:17–18; 19:6)“. Dieser eher postulierten als mit einer echten Begründung vorgetragenen Annahme widerrät, dass die beiden Syntagmata doch zu sehr differieren, als dass hier eine glatte Synonymität vermutet werden könnte; zu fragen bleibt doch, warum der Verfasser des Hebr, wenn er beide Begriffe parallelisieren oder gar miteinander identifizieren wollte, dann einerseits von λόγια τοῦ θεοῦ, andererseits von einem λόγος τοῦ Χριστοῦ spricht. Deutlich näher am Text an dieser Stelle H.W. Attridge, der im Blick auf Hebr 6,1 darauf hinweist, dass die Wendung τὰ στοιχεῖα τῆς ἀρχῆς τῶν λογίων τοῦ θεοῦ im Sinne von „divine revelation“ (Hebr, 159) den Hebr 6,1 genannten λόγος τῆς ἀρχῆς τοῦ Χριστοῦ zwar einschließt, aber nicht auf diesen beschränkt werden kann (vgl. hierzu Hebr, 159: Diese Wendung „includes, but is not confined to, the ‚Christian message‘ mentioned in [Hebr] 6:1“; vgl. auch Hebr, 159, A. 56: „The author may have in mind baptismal instruction, ..., but his allusion can hardly be limited to this“). Inwieweit das semantische Spektrum der auf Zuspitzung und Elementarisierung abzielenden Wendung τὰ στοιχεῖα τῆς ἀρχῆς τῶν λογίων τοῦ θεοῦ allerdings – solchermaßen material umfassend – im Sinne einer vollständigen Widergabe der „divine revelation“ entschränkt werden kann, muss doch mehr als fraglich bleiben (vgl. zur Interpretation dieser Wendung o. 74f.). In die richtige Richtung geht auch eine – allerdings dann nicht durchgehaltene – an die Ausführungen von Hebr 6,2 anknüpfende Ahnung von H. Windisch, Hebr, 49: „…; fast scheint es, als rechnete der Verfasser die Predigt von der Würde und dem Werk Christi zur στερεὰ τροφή“. 60 H.-F. Weiß, Hebr, 332. Anders akzentuiert hier E. Gräßer, Hebr I, 326, der zunächst nur auf die Wendung λόγια τοῦ θεοῦ reflektiert: „Den elementaren Taufunterricht mit λόγια τοῦ θεοῦ zu umschreiben, ist ungewöhnlich, im pädagogischen Kontext des Hebr aber verständlich. Τὰ λόγια stellt das katechetische Moment stärker heraus, als es jeder andere Begriff ... getan hätte, und unterstreicht, daß ‚die Hauptartikel des grundlegenden Missionsunterrichts‘ repetiert 59

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Die Analyse von Hebr 5,11–6,12 grundlegenden Missionsunterrichts“61 oder aber auf die „Anfangsunterweisung vom göttlichen Wort, der göttlichen Offenbarung“62 abheben wollen63. Zuweilen wird versucht, den genauen Inhalt dieser λόγια τοῦ θεοῦ, bzw. präziser: der στοιχεῖα τῆς ἀρχῆς τῶν λογίων τοῦ θεοῦ im Sinne von „Christian truths about Jesus the Messiah which are drawn from the Old Testament“64 zu konkretisieren, ohne diese Konkretion allerdings aus dem Syntagma selbst ableiten zu können65. Das Problem sämtlicher solcher Versuche besteht darin, dass sie nicht reflektieren, inwieweit das Syntagma στοιχεῖα τῆς ἀρχῆς τῶν λογίων τοῦ θεοῦ aus den Ausführungen des Hebr selbst erklärt und interpretiert werden kann. In der vorliegenden Studie – und nicht nur in dieser – wird dieses methodische Problem dadurch entschärft, dass die Ausführungen in Hebr 6,1f. auf eben dieses Syntagma bezogen werden.

Die Ausführungen in Hebr 5,12.13a.b66 legen die Annahme nahe, dass der λόγος δικαιοσύνης nicht unter die στοιχεῖα τῆς ἀρχῆς τῶν λογίων τοῦ θεοῦ zu rechnen ist, im Kanon der Lehrunterweisung aber jenen nicht vorausgeht, sondern auf jene folgt; schließlich wird der μετέχων γάλακτος (Hebr 5,13a) Hebr 5,12 zufolge nämlich eben über die στοιχεῖα τῆς ἀρχῆς τῶν λογίων τοῦ θεοῦ belehrt, ist aber als solcher zugleich (noch) ἄπειρος λόγου δικαιοσύνης (Hebr 5,13b), eine Auskunft, die den λόγος δικαιοσύνης als gegenüber den στοιχεῖα τῆς ἀρχῆς τῶν

werden müssen“. Vgl. hierzu auch H. Braun, Hebr, 152, der in diesem Zusammenhang von der „chr[istlichen] Gottesunterweisung“ spricht. 61 H. Windisch, Hebr, 47; in diesem Sinne auch M. Karrer, Hebr II, 31f. 62 H. Löhr, Umkehr, 167. 63 Vgl. hierzu auch E. Plümacher, Art. στοιχεῖον, in: EWNT² III, 666: Diese Wendung beziehe sich auf die „Wiederholung der Katechumenenunterweisung“. 64 R.C. Sauer, Reexamination, 122; vgl. zu dieser Konkretisierung auch H. Löhr, Umkehr, 167, A. 170. Die Annahme, dass sich die στοιχεῖα τῆς ἀρχῆς τῶν λογίων τοῦ θεοῦ ausschließlich auf christologische Aspekte bezieht, fände u.U. Unterstützung in den Ausführungen des Paulus in 1Thess 1,9f.; hier kann der Apostel, offensichtlich im Rahmen seiner Zusammenfassung urchristlichen Missionskerygmas (vgl. hierzu u. 170f.), formulieren: πῶς ἐπεστρέψατε πρὸς τὸν θεὸν ἀπὸ τῶν εἰδώλων δουλεύειν θεῷ ζῶντι καὶ ἀληθινῷ (10) καὶ ἀναμένειν τὸν υἱὸν αὐτοῦ ἐκ τῶν οὐρανῶν, ὃν ἤγειρεν ἐκ [τῶν] νεκρῶν, Ἰησοῦν τὸν ῥυόμενον ἡμᾶς ἐκ τῆς ὀργῆς τῆς ἐρχομένης. Würde aus diesem zusammengefassten urchristlichen Missionskerygma das in 1Thess 1,9 Formulierte als θεμέλιος die Aspekte der μετάνοια ἀπὸ νεκρῶν ἔργων und der πίστις ἐπὶ θεόν (vgl. hierzu u. 163–165) herausgelöst, blieben als dann allerdings zwingend mit den στοιχεῖα τῆς ἀρχῆς τῶν λογίων τοῦ θεοῦ zu identifizierender Rest dieses Kerygmas nur noch christologische Aspekte übrig. Der Argumentationswert dieser auf 1Thess 1,9f. fußenden Überlegung im Blick auf die Frage nach den Inhalten der Hebr 5,12 genannten στοιχεῖα τῆς ἀρχῆς τῶν λογίων τοῦ θεοῦ ist allerdings außerordentlich gering. 65 Vgl. zu dieser Kritik zunächst die von C.R.Sauer formulierte Begründung seiner Interpretation (vgl. Reexamination, 121f.); die einzelnen von Sauer angeführten Argumente gehen jedoch, wenn überhaupt, dann nur sehr mittelbar auf den – oftmals nur weiteren - Kontext des Hebr ein; vgl. zu dieser Kritik darüber hinaus aber auch H. Löhr, Umkehr, 167, A. 170. Zu fragen wäre doch, warum der auctor ad Hebraeos dann nicht klarer und eindeutiger formulierte und etwa eine Wendung wie etwa στοιχεῖα τῆς ἀρχῆς τῶν λογίων, bzw.τοῦ λόγου τοῦ Χριστοῦ verwendete. 66 Zur Analyse von Hebr 5,12c.13 vgl.u. 83–101.

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λογίων τοὺ θεοῦ letzten Endes fortgeschrittenes, auf der Reflexionsebene bzw. der Erkenntnisstufe der στερεὰ τροφή67 zu vermittelndes Lehrstück deklariert68. Im Neuen Testament begegnet der Begriff λόγιον in Röm 3,2; Apg 7,38 und 1Petr 4,11, das Syntagma λόγια (τοῦ) θεοῦ nur in Röm 3,2 und 1Petr 4,11. Beide Belege scheinen dessen allgemeine Deutung im Sinne von „Sprüchen Gottes, mit denen er sich seinem Volk zuwendet“69, nahezulegen, ohne eine Beschränkung auf das Alte Testament als verschriftlichtes Wort Gottes zu indizieren70. Auf diesem Hintergrund erscheint die grundsätzliche Annahme sinnvoll, das Syntagma στοιχεῖα τῆς ἀρχῆς τῶν λογίων τοῦ θεοῦ in allgemeinem Sinne zu verstehen und eher formal denn material im Sinne von ,allererste Anfangsgründe der Worte Gottesʻ zu interpretieren71, wobei damit die christliche Interpretation des Alten Testaments durchaus mit eingeschlossen ist72.

Der Übersichtlichkeit halber sei hier eine – vorläufige und im weiteren Verlauf der Auslegung noch weiter zu entwickelnde73 – graphische Darstellung des sachlogischen Zusammenhangs der diversen an dieser Stelle diskutierten Begrifflichkeiten versucht74:

 

Vgl. hierzu die Ausführungen zu Hebr 5,13 u. 83–97. Vgl. hierzu auch R.C.Sauer, Reexamination, 140: „… the immature (νήπιος), knowledgeable only of elementary teaching (γάλα), …“. 69 E. Lohse, Röm, 116f. mit A. 5; Lohse verweist hier u.a. auf EpArist 177. Im Blick auf 1Petr 4,11 interpretiert L. Goppelt, 1Petr, 288 den Begriff λόγιον als Bezeichnung für einen „von der Gottheit ausgehenden Spruch“; im 1Petr werde dieser Terminus „dem ursprünglichen griechischen Wortsinn näher als der LXX“ (289). Vgl. zu 1Petr 4,11 auch H. Löhr, Umkehr, 167, der die Wendung λόγια τοῦ θεοῦ als Hinweis auf „Gott als Urheber dieser Worte“ interpretiert. 70 Dies räumt auch C.R. Sauer, Reexamination, 119 ein: „Τὰ λόγια have been employed to connote things other than the Jewish Bible“, wiewohl er zuvor feststellt: „Because τά λόγια were used in secular and sacred literature of ,divine sayingsʻ and in the Septuagint, New Testament, and other writings referred to the Hebrew scriptures, …“. Vgl. hierzu auch H. Löhr, Umkehr, 166: „Die These, τὰ λόγια τοῦ θεοῦ bezeichne das Gotteswort speziell der Schrift, ist aufgrund der Verwendungsbreite des Ausdrucks nicht haltbar“. 71 Vgl. hierzu auch H. Löhr, Umkehr, 167. 72 Vgl. hierzu m.R. E. Gräßer, Hebr I, 327. 73 Vgl. hierzu u. 171. 74 H.P. Owen, Stages, 244 möchte an die Stelle der hier vertretenen zweistufigen Reflexionsebene eine dreistufige setzen und dabei den λόγος δικαιοσύνης als eine eigene Reflexionsebene annehmen. Dies scheitert aber an dem Sachverhalt, dass in Hebr 6,1–3 deutlich nur zwei voneinander verschiedene Erkenntnisstufen bzw. Reflexionsebenen unterschieden werden; vgl. hierzu auch H. Löhr, Umkehr, 170, A. 184, 67 68

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die λόγια τοῦ θεοῦ Reflexionsebene/Erkenntnisstufe 2: στερεὰ τροφή

der λόγος δικαιοσύνης

Reflexionsebene/Erkenntnisstufe 1: γάλα

(a) einerseits die στοιχεῖα τῆς ἀρχῆς τῶν λογίων τοὺ θεοῦ und (b) andererseits der λόγος τῆς ἀρχῆς τοῦ Χριστοῦ

Diese Einschätzung des Niveaus des theologisch-theoretischen (Er-)Kenntnisstandes seiner Adressaten verdeutlicht der auctor ad Hebraeos in Hebr 5,12c75; hier beschreibt er jene als solche, die (noch einmal) der Milch bedürfen und (noch) nicht der festen Speise76. Auch wenn die eigenständige Wiederaufnahme des Prädikats χρείαν ἔχετε Hebr 5,12b in der Wendung γεγόνατε χρείαν ἔχοντες Hebr 5,12c anzeigt, dass der Verfasser auf diesen Halbvers offensichtlich durchaus ein eigenes Gewicht legt77, so kann doch Hebr 5,12c kaum anders als eine Parataxe zur Erklärung bzw. Verdeutlichung von Hebr 5,12ab aufgefasst Anders hier H. Löhr, Umkehr, 165, der Hebr 5,12c strukturell von Hebr 5,12ab trennt und Hebr 5,13f. zuschlägt. Dies lässt sich angesichts der Tatsache, dass mit Hebr 5,13 offensichtlich ein neuer Begründungszusammenhang beginnt (γάρ), kaum aufrechterhalten. 76 Zu dieser Formulierung, die in Hebr 5,13f. erläutert wird, vgl. H.-F. Weiß, Hebr, 332: „Bei alledem bedient der Autor des Hebr sich einer Redeweise, die in der pädagogischen Unterweisung der griechisch-hellenistischen Antike bereits zu einem feststehenden Topos geworden war. Dies gilt vor allem im Blick auf die metaphorische Gegenüberstellung von ‚Milch‘ und ‚fester Speise‘ in [Hebr 5,] V. 12b, mit der sich sogleich in den VV. 13/14 die ebenso traditionelle Gegenüberstellung der νήπιοι und der τέλειοι verbindet. Hier liegt ein fester Motivzusammenhang vor, der auch sonst im Neuen Testament seinen Niederschlag gefunden hat, in der besonderen Weise aber, in der er im Hebr aufgenommen worden ist, seine Herkunft aus dem Raum griechisch-hellenistischer Pädagogik noch deutlich erkennen läßt“. Zu entsprechenden Belegen vgl. 332, A. 20. Vgl. hierzu auch H. Löhr, Umkehr, 167f. 77 Vgl. hierzu auch H. Löhr, Umkehr, 165, der in Hebr 5,11b.12 drei Gegensatzpaare verhandelt sieht, die er in Hebr 5,11b, 5,12ab und 5,12c.13f. verortet; ähnlich auch R.C. Sauer, Reexamination, 124. 75

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werden78. Der Begriff γάλα Hebr 5,12c, mit dem „die Kindernahrung als mindere Stufe, über die es hinauszukommen gilt“79, bezeichnet wird, korrespondiert dabei dem Syntagma στοιχεῖα τῆς ἀρχῆς τῶν λογίων τοῦ θεοῦ80, über welche die Adressaten des Hebr – offensichtlich – erneut zu belehren sind81. In Hebr 5,11b. 12 tadelt der Verfasser des Hebr, wenn auch womöglich rhetorisch übersteigert, demnach die mangelnde Bereitschaft seiner Adressaten, an einer Erweiterung und Vertiefung ihrer theologisch-theoretischen Erkenntnisbasis zu arbeiten einerseits, deren – aus dieser mangelnden Bereitschaft resultierenden – unzureichenden theologisch-theoretischen (Er-)Kenntnisstand andererseits82. Zu fragen ist nun, in welchem Verhältnis die Ausführungen in Hebr 5,11b zu denjenigen in Hebr 5,12a.b stehen, konkret, wie das beide verknüpfende Syntagma καὶ γάρ aufzufassen ist. Wird dieses Syntagma im Sinne von etenim interpretiert, stellt Hebr 5,12a.b eine Begründung zu Hebr 5,11b dar; wird es hingegen als ἐπειδὴ καί gefasst, so bildet Hebr 5,12a.b eine Hebr 5,11b ergänzende Begründung zu den Ausführungen Hebr 5,11a83, was dann zu der Schlussfolgerung führt, dass der Verfasser des Hebr in Hebr 5,11b.12a.b zwei zwar durchaus miteinander in Verbindung stehende, aber inhaltlich doch voneinander zu trennende Begründungen für den in Hebr 5,11a explizierten Sachverhalt vorlegen wollte84. Die 78 In diesem Falle würde die die Ausführungen in Hebr 5,12b und 5,12c verknüpfende Partikel καί als epexegetisches καί zu deuten sein; vgl. hierzu F. Blaß/A. Debrunner/F. Rehkopf, Grammatik, § 442.6, 368. In diesem Sinne auch E. Gräßer, Hebr I, 327: „Der mit explikativem καί angeschlossene V 12c führt keinen neuen Gedanken ein, sondern ist als Verdeutlichung gemeint“. In diese Richtung auch R.C. Sauer, Reexamination, 124, der Hebr 5,12c als „connected … with the preceding main clause in 5:12b“ begreift. 79 H. Braun, Hebr, 152. 80 Vgl. hierzu R.C. Sauer, Reexamination, 127: „That τὰ στοιχεῖα τῆς ἀρχῆς ... is equivalent to γάλα ... seems certain inasmuch as 5:12c figuratively illustrates what 5:12b states plainly“. 81 Vgl. hierzu etwa E. Riggenbach, Hebr, 143; ähnlich auch H.W. Attridge, Hebr, 159. 82 Zu unpräzise hier etwa H. Windisch, Hebr, 47: „Die Not der Gemeinde ist allgemein religiöse Ermattung, nicht Hinneigung zu irgendeiner religiösen Irrlehre“. Durchaus m.R. spricht hingegen H. Koester, Auslegung, 97 von einem „höhere.[n] theologischen Wissen“, auf das der Verfasser des Hebr mit seinen Ausführungen in Hebr 5,11–14 abhebe. 83 Zu diesen beiden Möglichkeiten vgl. F. Blaß/A. Debrunner/F. Rehkopf, Grammatik, § 452.3, 382; ihnen zufolge ist die Wendung καὶ γάρ entweder im Sinne von „‚dennʻ (etenim) oder häufiger ohne innere Verbindung der beiden Partikeln … = denn auch‘, ‚– ja auch‘ (= ἐπειδὴ καί)“ zu deuten. F. Blaß/A. Debrunner/F. Rehkopf lassen die Entscheidung offen, weisen aber darauf hin, dass die Vulgata an dieser Stelle mit etenim, d.h. mit einem ganz abgeschwächtem καί übersetzt (vgl. 382f.). 84 Zu undifferenziert an dieser Stelle etwa H.-F. Weiß, Hebr, 311: „Um eine Feststellung hinsichtlich des gegenwärtigen Standes im Adressatenkreis handelt es sich dementsprechend auch in [Hebr 5,] V. 12“, oder auch M. Karrer, Hebr II, 31: Hebr 5, „12 malt den [in Hebr 5,11b formulierten] Tadel aus“. Träfe die zweite der hier formulierten Verhältnisbestimmungen von Hebr 5,11b zu Hebr 5,12a.b zu, wäre es, da der Verfasser des Hebr in Hebr 5,12 das mangelhafte theologische Wissen seiner Adressaten thematisiert und somit, wenn überhaupt, erst dort auf deren theologisch-intellektuelle Fähigkeiten zu sprechen kommt, plausibel, die Wendung νωθροὶ ταῖς ἀκοαῖς Hebr 5,11b nicht metonymisch im Sinne von „denkfaul“ oder „intellektuell

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Beobachtung, dass der Verfasser des Hebr in Hebr 5,11b seine Begründung mit der Konjunktion ἐπεί einführt, in Hebr 5,12a hingegen das Syntagma καὶ γάρ verwendet, indiziert das Verständnis eben dessen als eines etenim; der auctor ad Hebraeos will also Hebr 5,11b mit Hebr 5,12a.b begründen bzw. erklären: Die Adressaten seiner Epistel verweigerten und verweigern sich intellektueller Arbeit, denn ihre theologisch-theoretische Durchbildung in Fragen christlichen Glaubens und Denkens weist erhebliche und grundlegende Defizite auf. Wird der Konjunktion γάρ hier eine konsekutive Konnotation beigelegt85, ließen sich die Ausführungen in Hebr 5,12a.b. – was die Gesamtinterpretation von Hebr 5,11f. insgesamt womöglich noch schlüssiger erscheinen lässt – als Folge der Hebr 5,11b konstatierten Denkfaulheit interpretieren; die Verweigerungshaltung der Adressaten führte, was ihren Bestand an theologisch-theoretischer (Er-)kenntnis angeht, zu einem – rhetorisch übersteigerten – (Rück-)Fall auf das Niveau von Neubekehrten bzw. Unwissenden. Über die konkreten Ursachen für die mangelnde Bereitschaft seiner Adressaten zu einer theologisch-theoretischen Durchdringung und Vertiefung ihres christlichen Glaubens und deren – damit zusammenhängenden – defizitären theologischen Wissensstand schweigt sich der Verfasser des Hebr in Hebr 5,12 aus. Grundsätzlich sind hier folgende Szenarien denkbar: (a) Die intellektuellen Fähigkeiten der Adressaten des Hebr sind grundsätzlich als so gering einzustufen, dass sie der ihnen zuteil gewordenen theologischen Unterweisung geistig zu folgen von vornherein nicht in der Lage gewesen sind. Dem widerraten einerseits das Perfekt γεγόνατε in Hebr 5,11b, das doch impliziert, dass es vordem eine Zeit gegeben hat, in der die Adressaten des Hebr eben nicht νωθροὶ ταῖς ἀκοαῖς, sondern bereit und willens zu intellektueller Mit- und Weiterarbeit gewesen sind86, andererseits die Formulierung πάλιν χρείαν ἔχετε τοῦ διδάσκειν ὑμᾶς Hebr 5,12b, die sich unter der Voraussetzung einer geringen Basalintelligenz der Adressaten des Hebr kaum sinnvoll erklären lassen würde. (b) Die Adressaten des Hebr haben, weil sie ihres Christseins unsicher geworden sind87, ihre theologische Lehrbasis weitestgehend aufgegeben. Diese Annahme stehen die Ausführungen des Verfassers des Hebr in Hebr 6,10 entgegen; dort nämlich bescheinigt er seinen Adressaten, dem ὄνομα θεοῦ und ihren Mitchristen sowohl in der Vergangenheit als aber auch in der Gegenwart treu und zuverlässig zu Diensten gewesen zu sein88. Dieses Testat lässt kaum darauf schließen, dass die Adressaten des Hebr ihren christlichen Glauben bzw. ihr Christsein selbst in Frage gestellt hätten. Darüber hinaus vermag die Annahme, die vom Verfasser des Hebr in Hebr 5,11b.12a.b unzureichend“, sondern wörtlich im Sinne von „schwerhörig“ bzw. „nicht bereit zu hören“ zu interpretieren. In die Richtung der von M. Karrer vorgelegten Deutung weisen auch die Ausführungen von R.C. Sauer, Reexamination, 108, der das Syntagma καὶ γάρ im Sinne von nam etiam („for indeed“) verstehen möchte und dementsprechend formuliert: „He [d.h. der auctor ad Hebraeos] also expands his reprimand of the addressees and elaborates more fully upon their declining spiritual state in order to arouse them out of their apathy“. 85 Diese Möglichkeit wird immerhin vorgeschlagen von W. Bauer/B. Aland, Wörterbuch, s.v. γάρ, 305. 86 Vgl. hierzu o. 71 mit A. 28. 87 Vgl. hierzu o. 48–52. 88 Vgl. hierzu o. 52–54 und auch u. 194–196.

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konstatierten Defizite seiner Adressaten, deren mangelndes intellektuelles Engagement und deren niedriger theologisch-theoretischer Wissensstand, indizierten grundlegende Zweifel jener am christlichen Glauben oder eine „verheißungsgeschichtliche Unsicherheit“89, als solche nur schwerlich Plausibilität zu gewinnen. (c) Die Adressaten des Hebr haben ihre Katechumenatsunterweisung und möglicherweise auch noch darüber hinausgehende Belehrungen aufmerksam wahrgenommen und auch korrekt rezipiert. Im Laufe der Zeit aber sind sie, möglicherweise unmittelbar beeinflusst durch Lehrer, die in den Augen des Verfassers des Hebr theologisch unzulässige und in die Irre führende Inhalte vermittelt haben, die nun zu korrigieren sind, möglicherweise aber auch lediglich aufgrund ihres eigenen Desinteresses, in jedem Falle somit jedoch aus eigenem Antrieb von den ihnen vermittelten Inhalten mehr und mehr abgekommen, und haben, anstatt sie theologisch-theoretisch weiter zu entwickeln und zu vertiefen, diese immer weiter aus den Augen verloren90. Auf dem Hintergrund dieser Annahme macht einerseits der Vorwurf, sie seien νωθροὶ ταῖς ἀκοαῖς geworden, einen guten Sinn, lässt sich andererseits aber auch zwanglos plausibilisieren, dass der Verfasser des Hebr es für notwendig erachtet, dass seine Adressaten noch einmal über die στοιχεῖα τῆς ἀρχῆς τῶν λογίων τοῦ θεοῦ belehrt werden müssen.

Die Hebr 5,12 vorliegenden Ausführungen hinsichtlich des niedrigen theologisch-theoretischen (Er-)Kenntnisstandes seiner Adressaten, insbesondere seine Feststellung in Hebr 5,12c91, vertieft und konkretisiert der Verfasser des Hebr in Hebr 5,13f., zunächst insbesondere in Hebr 5,13, wobei er an ein Zweistufenschema hellenistischer Pädagogik anknüpft92. Werden die Einlassungen des auctor ad Hebraeos in Hebr 5,13 explikativ als Erklärung93 zu Hebr 5,12c oder gar konsekutiv als Fortführung oder Folge des dort Ausgeführten gefasst94, so ergibt Vgl. hierzu o. 48–52. Zum prozessoralen Charakter dieser Entwicklung vgl. etwa R.C. Sauer, Reexamination, 106 und auch bereits o. 72f. In diese Richtung denkt auch C.R. Koester, Hebr, 310: „Their experience of the Spirit confirmed the message (d.h. die verkündigte Botschaft), but continued reproach from society now contradicted it“. Allerdings ist an dieser Stelle Vorsicht geboten, da die Ausführungen des Verfassers des Hebr einen unmittelbaren negativen Einfluss von Seiten der paganen Umwelt nicht indizieren. 91 Vgl. hierzu R.C. Sauer, Reexamination, 120: „Rather, 5:13, carrying over the figure of γάλα and στερεὰ τροφή from 5:12c, is neither coordinate with nor bypasses 5:12 so as to justify 5:11, but connects with 5:12c and explicatively establishes the addressees’ need for ,milkʻ rather than ,solid foodʻ“. 92 Vgl. hierzu H.-F. Weiß, Hebr, 334: „Damit ergibt sich für unsere Stelle im Anschluss an jene Theorie griechisch-hellenistischer Pädagogik ein klares Zweistufenschema im Sinne des Fortschritts vom Stande des unmündigen Kindes zur Reife des ‚vollkommenen‘ Erwachsenen“. Zu der Hebr 5,13f. zugrunde liegenden pädagogischen Theorie vgl. etwa ders., Hebr, 333f. und E. Gräßer, Hebr I, 329–331. 93 E. Gräßer, Hebr I, 329, A. 100, möchte die Partikel γάρ am Beginn von Hebr 5,13 als γάρ explicativum verstehen; vgl. hierzu auch H.W. Attridge, Hebr, 159f.: „The next remark explains more fully the imagery adumbrated in the contrast between milk and solid food at the end of the preceding verse“. 94 Vgl. hierzu F. Blaß/A. Debrunner/F. Rehkopf, Grammatik, § 452, 382f. mit Verweis auf W. Bauer. 89 90

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sich folgender Argumentationszusammenhang: Die Adressaten des Hebr sind zu solchen geworden, die – zumindest im Grundsatz – offensichtlich Milch bzw. erneute Belehrung über die στοιχεῖα τῆς ἀρχῆς τῶν λογίων τοῦ θεοῦ nötig haben95, was konkret (u.a.) heißt, dass sie im Blick auf den λόγος δικαιοσύνης als unfähig96 bzw. präziser: unkundig oder unerfahren97 einzustufen sind98, da sie, eben aufgrund des (noch) notwendigen Milchgenusses (Hebr 5,12c.13a), noch zu den νήπιοι99 gerechnet werden müssen100. Der Hinweis, dass die Adressaten als solche, die Milch trinken, also über die στοιχεῖα τῆς ἀρχῆς τῶν λογίων τοῦ θεοῦ belehrt werden, als des λόγος δικαιοσύνης (immer noch) ἄπειροί einzustufen sind, indiziert, dass der λόγος δικαιοσύνης offensichtlich nicht unter die στοιχεῖα τῆς ἀρχῆς τῶν λογίων τοῦ θεοῦ zu subsumieren ist101. Für die Interpretation der Ausführungen in Hebr 5,11–14 – wie auch für diejenige des Hebr insgesamt – ist von erheblicher Bedeutung, wie die in Hebr 5,13 begegnende Wendung λόγος δικαιοσύνης zu verstehen ist102. In der exegetischen Literatur werden u.a. folgende Deutungsvorschläge vorgelegt: (a) Nach E. Riggenbach muss dieses Syntagma in allgemeinem Sinne verstanden Zu Hebr 5,13a als „indirect reference to the readers“ (R.C. Sauer, Reexamination, 129, A. 5) vgl. etwa F.F. Bruce, Hebr, 135f. und E. Gräßer, Hebr I, 331f. 96 Vgl. zu dieser Übersetzung von ἄπειρος etwa E. Gräßer, Hebr I, 329. 97 Vgl. zu dieser Übersetzung etwa H. Löhr, Umkehr, 165; in diese Richtung denkt offensichtlich auch C. Marcheselli-Casale, Hebr, 269, der diesen Terminus durchaus m.R. mit „inesperto“ wiedergibt. 98 Die These von R.C. Sauer, Reexamination, 129, der zufolge in Hebr 5,13a.b ein hysteron proteron vorliegt (akzeptiert von H. Löhr, Umkehr, 169, A. 179), würde die hier aufgewiesene Argumentationsstruktur umkehren: Nicht derjenige, der Milch trinkt, ist des λόγος δικαιοσύνης unkundig oder unerfahren, sondern derjenige, der des λόγος δικαιοσύνης unerfahren bzw. unkundig ist, trinkt Milch. Die Ausführungen in Hebr 5,12c widerraten allerdings der Annahme eines solchen hysteron proteron in Hebr 5,13a.b, lassen sie doch Hebr 5,13a zwanglos als Aufnahme und Weiterführung des in Hebr 5,12c Ausgeführten erscheinen. Durchaus zuzustimmen ist Sauer allerdings in seiner Ansicht, dass der Verfasser des Hebr, nicht zuletzt auch mit seiner elliptischen Auslassung des Prädikats ἐστιν, hinzuweisen beabsichtigt habe „upon the predicate ἄπειρος λόγου δικαιοσύνης in order to impress upon the hearers that such is the undesirable state of a believer on an mere liquid diet and … that such is their lot as seen in their inability to grasp the high doctrinal discussion of 5:11a“. 99 Kaum überzeugend hier C.R. Koester, Hebr, 309: „Contrasting those at the beginning of the process with those at the end, however, presses listeners to see themselves as one or the other so that they will want to move beyond being classed with the primary students in order to be considered mature“. 100 Das Votum von H. Löhr, Umkehr, 165: „Dem Status von Lehrer-Sein und Gelehrt-Werden sind also nicht einfach die Symbole von Milch und fester Speise zuzuweisen“, mag formal durchaus zutreffen; dass aber zwischen beiden ein Zusammenhang besteht, wird sich aufgrund der argumentativen Verknüpfung von Hebr 5,12b mit Hebr 5,12c einer- und von Hebr 5,12c mit Hebr 5,13 andererseits kaum bestreiten lassen. 101 Vgl. hierzu bereits o. 78f. 102 Zu den verschiedenen in der Literatur diskutierten Interpretationshypothesen vgl. etwa E. Gräßer, Hebr I, 329, A. 102 und W.L. Lane, Hebr I, 137f. 95

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werden; der Verfasser des Hebr wollte mit der Wendung ἄπειρος λόγου δικαιοσύνης jemanden bezeichnen, „der nicht imstande ist, richtige normale Rede, wie sie Erwachsenen bei ihrem Verkehr zur Verständigung dient, richtig aufzufassen und zu würdigen“103. Dabei fasst Riggenbach den Genitiv δικαιοσύνης als genitivus qualitatis104 und den Ausdruck λόγος δικαιοσύνης in einem weitgehend allgemeinen, keinerlei theologisch-inhaltliche Gesichtspunkte berührenden105 Sinne. Allerdings lassen einerseits der Gesamtkontext von Hebr 5,11–14, hier insbesondere das in Hebr 5,12b formulierte Urteil des auctor ad Hebraeos, seine Adressaten seien solche, die es wiederum erneut nötig hätten, τοῦ διδάσκειν ... τινὰ τὰ στοιχεῖα τῆς ἀρχῆς τῶν λογίων τοῦ θεοῦ106, andererseits grundsätzliche semantische Überlegungen – hätte der Verfasser des Hebr hier auf eine allgemeine Unfähigkeit zur Rezeption ,richtiger normaler Redeʻ anspielen wollen, hätte die Verwendung solcher Syntagmata wie etwa λόγος τέλειος oder ὀρθὸς λόγος erheblich näher gelegen107 Hebr, 144. Vgl. hierzu F. Blaß/A. Debrunner/F. Rehkopf, Grammatik, § 166.2, 137; R.C. Sauer, Reexamination, 131 beschreibt den genitivus qualitatis als einen attributiven Genitiv, der „an attribute or inherent quality to λόγος [expliziere], having the same force as would the adjectival form of the same word acting as a simple modifier“. 105 Anders, aber anhand der Einlassungen Riggenbachs kaum verifizierbar, hier R.C. Sauer, Reexamination, 132, der im Rahmen der Diskussion der Ausführungen Riggenbachs formuliert: „Thus, he who is ἄπειρος λόγου δικαιοσύνης is incapable of rightly understanding mature religious discussion“. 106 Die von R.C. Sauer, Reexamination, 132 dem Deutungsvorschlag Riggenbachs zugebilligte „suitability derived from the context [des Hebr]: as the individual of 5:13, who partakes only of the most elementary religious instruction, is unable to comprehend proper doctrinal disquisition“ trifft nur dann zu, wenn jenem, wie Sauer dies auch tut (vgl. hierzu o.) eine inhaltlich-theologische Komponente implementiert wird. Die Ausführungen Riggenbachs selbst aber vermögen nicht zu belegen, dass jener seiner Interpretation des Ausdrucks λόγος δικαιοσύνης eine solche inhaltlich-theologische Komponente beizulegen beabsichtigt hätte; s.E. spielt der auctor ad Hebraeos in Hebr 5,13 nicht auf die Unfähigkeit der Adressaten zur Rezeption theologischer Darlegungen, sondern auf deren grundsätzliche Unfähigkeit, einen von Erwachsenen geführten Diskurs überhaupt zu rezipieren, an. 107 Riggenbach selbst räumt ein, dass dem Terminus δικαιοσύνη im Alten und im Neuen Testament in der Regel die Bedeutung „,Gerechtigkeitʻ im juridischen oder ethischen Sinne, dagegen nie wie hier [in Hebr 5,13] ,rechte Beschaffenheitʻ oder ,Normalitätʻ“ (Hebr, 144, A. 81) zukomme; unter Berufung auf F. Passow verweist Riggenbach zwar auf Belege für die Bedeutung dieses Begriffs in dem von ihm skizzierten Sinn bei Galenos, ohne hier allerdings konkrete Belegstellen angeben zu können. Im Sinne des o. formulierten Einwandes etwa auch H. Windisch, Hebr, 48 und R.C. Sauer, Reexamination, 132: „Moreover, although the attributive genitive has parallels, the phrase λόγος δικαιοσύνης as ,proper discussionʻ still seems somewhat forced and less than au naturel; had the writer intended to say this, he would have probably used a more normal expression such as λόγος τέλειος or the term common to Philo and Marcus Aurelius, ὀρθὸς λόγος“. Die Interpretation Riggenbachs bliebe allenfalls denkbar unter der Voraussetzung, die semantischen Implikationen des Terminus δικαιοσύνη denjenigen des entsprechenden Adjektivs δίκαιος anzupassen (vgl. hierzu schon E. Riggenbach, Hebr, 144, A. 81 und auch R.C. Sauer, Reexamination, 132, A. 2). 103 104

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– eine in diesem Sinne allgemeine Deutung des Begriffs λόγος δικαιοσύνης kaum plausibel erscheinen108. Wie E. Riggenbach deutet auch F. Delitzsch den Genitiv δικαιοσύνης als genitivus qualitatis, möchte aber – im Unterschied zu jenem – den Begriff λόγος im Kontext der Wendung ἄπειρος λόγου δικαιοσύνης im Sinne von ,Spracheʻ bzw. ,Sprachfähigkeitʻ verstehen109 und diesem – und damit dem hier diskutierten Syntagma insgesamt – zugleich einen theologischen Impetus implementieren110. Dies und der Hinweis, der Terminus δικαιοσύνη sei in Hebr 5,13 als Synonym zu ἀλήθεια zu fassen111, führen Delitzsch zu der Annahme, der auctor ad Hebraeos habe mit dem Syntagma λόγος δικαιοσύνης bzw. der Wendung ἄπειρος λόγου δικαιοσύνης insgesamt seine Adressaten als solche beschreiben wollen, „die noch unkundig rechtbeschaffener, d.i. rechtlehriger oder rechtgläubiger Rede“112 seien. Dem von Delitzsch vorgelegten Interpretationsvorschlag widerraten folgende Überlegungen: (a) Der unmittelbare Kontext Hebr 5,11–14, hier insbesondere die Ausführungen in Hebr 5,12, lassen im Blick auf den Begriff λόγος eher die Bedeutung ,Lehrstückʻ bzw. ,Lehreʻ, nicht aber die – im Rahmen der von Delitzsch vorgelegten Argumentation einer zudem zumindest fraglichen etymologischen Ableitung des Begriffs νήπιος geschuldeten – Bedeutung ,Spracheʻ, bzw. ,Redeʻ plausibel erscheinen113. (b)

108 Vgl. hierzu auch R.C. Sauer, Reexamination, 132: „Moreover, although the attributieve genitive has parallels, the phrase λόγος δικαιοσύνης as ,proper discussionʻ still seems somewhat forced and less than au naturel; had the writer intended to say this, he would have probably used a more normal expression such as λόγος τέλειος or the term common to Philo and Marcus Aurelius, ὀρθὸς λόγος“. Zu weiteren Interpretationsvorschlägen, die den Genitiv δικαιοσύνης allesamt als einen attributiven Genitiv fassen, vgl. 133f. 109 Vgl. hierzu Hebr, 206: „Da νήπιος … den Sprachunfähigen, Unmündigen bed.[eutet], so hat λόγος in ἄπειρος λόγου δικαιοσύνης die Präsumtion für sich, die Sprachfähigkeit zu bed.[euten]“; für die Bedeutung von λόγος im Sinne von ,Spracheʻ verweist Delitzsch etwa auf Philo von Alexandria (207). 110 Vgl. hierzu Hebr, 207: „…, so ist λόγος hier nicht die natürliche Rede, sondern die Rede über geistliche Dinge und, mit δικαιοσύνης verbunden, solche Rede über geistliche Dinge, welche sich streng nach der Norm des Wahren richtet und alle Momente des Sachverhalts, ohne eins wegzulassen, gleichmässig beachtet, harmonisch verbindet“. 111 Vgl. hierzu Hebr, 207: „Δικαιοσύνη ist hier, wie öfter ‫צֶ ֶדק‬, ‫ישׁר‬, ֶ ‫ישׁ ִרים‬ ָ ‫מ‬, ֵ Syn[onym]. von ἀλήθεια, Gegens[atz]. von ψεῦδος (vgl. ψευδολογίας λόγοι Philo 2. 259,30)“. 112 Hebr, 207; weitere Vertreter dieser Deutung benennt R.C. Sauer, Reexamination, 133f. 113 Vgl. hierzu etwa R.C. Sauer, Reexamination, 133: „Because νήπιος, whose etymology supposedly comes from the negative prefix νη and ἕπος, ,word,ʻ ,speech,ʻ is assumed to signify one inept in speech, λόγος is mistakenly understood as ,power of speechʻ“. Zumindest diesem Problem entgeht D.C.T. Kuinoel, der das Syntagma λόγος δικαιοσύνης, ausgehend von einer auf den unmittelbaren Kontext von Hebr 5,13 semantischen Parallelisierung der Wendung στερεὰ τροφή, des Begriffs τελειότης und des Terminus δικαιοσύνη einer- (vgl. hierzu Hebr, 169: „Etenim λόγος δικαιοσύνης opponitur γάλακτι, στοιχείοις, atque idem valet quod τελειότης 6,1. Στερεὰ τροφή 5,14“; vgl. darüber hinaus R.C. Sauer, Reexamination, 134), der Termini τελειότης, τελείωσις und δικαιοσύνη (vgl. hierzu Hebr, 169: „promiscue usi sunt verbi τελειότης, τελείωσις et δικαιοσύνη“), andererseits, im Sinne einer institutio perfectior interpretieren möchte (Vgl. hierzu Hebr, 169f.: „Itaque λόγος δικαιοσύνης est institutio perfectior, quae versatur in tradendis doctrinis subtilioribus; quo pertinent doctrinae religionis christ. ex umbris V.T. deductae, doctrina de

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Eine etwaige, durch den Interpretationsvorschlag von Delitzsch allerdings geforderte Synonymisierung der Termini δικαιοσύνη und ἀλήθεια lässt sich anhand der entsprechenden, im Hebr gebotenen Belege für den δικαιοσύνη-Begriff nicht verifizieren114.

(b) Neben anderen deutet etwa H. Löhr diese Wendung in ethisch-moralischem Sinne als Unfähigkeit zur „Rede vom rechten Wandel“115, wobei er insbesondere auf Hebr 5,14 und die dort formulierte, den τέλειοι aufgrund ihrer ihnen aufgrund ihrer ἕξις zur Verfügung stehenden αἰσθητήρια γεγυμνασμένα eignende Fähigkeit zur διάκρισις καλοῦ τε καὶ κακοῦ abhebt116, eine Terminologie, die „auf populär- und popularphilosophische Hintergründe der geäußerten Auffassung, dass das Kennzeichen der Vollkommenheit, des ,Erwachsenseinsʻ vor allem in der sittlich geprägten Reife zur Unterscheidung von Gut und Böse liegt“117, verwiese118. Nun ist einerseits zwar durchaus zuzugestehen, dass das Sinnspektrum des Terminus δικαιοσύνη selbst, wie u. aufgewiesen119, im Hebr insgesamt deut-

sacerdotio Christi typis superstructa, comparatio meritorum et beneficiorum ipsius cum sacrificiis et ritibus Iudaicis, quo appareat religionis christianae praestantia et summa Christi auctoris illius dignitas“; vgl. hierzu auch R.C. Sauer, Reexamination, 134). Die – noch zu leistende – semantisch-kontextuelle Analyse der Belege des δικαιοσύνη-Begriffs im Hebr lässt allerdings erkennen, dass sich diese von Kuinoel postulierte semantische Parallelisierung und damit auch dessen Interpretation des Begriffs δικαιοσύνη im Sinne von τέλειος/perfectior nicht aufrechterhalten lassen (vgl. hierzu auch R.C. Sauer, Reexamnination, 134, der in seine Argumentation insbesondere den Kontext von Hebr 5,13 einbezieht: „…, it goes too far in identifying this phrase [d.h. λόγος δικαιοσύνης] with the nearby ,solid food,ʻ thus restricting it to higher teaching or ,institutio perfectiorʻ“). Andererseits scheint aber aufgrund des Zusammenhanges von Hebr 5,12 und Hebr 5,13; 6,1 zumindest grundsätzlich durchaus denkbar, dass der Verfasser des Hebr im Rahmen seiner Argumentation in Hebr 5,11–14; 6,1–3 zwar keine semantische, wohl aber eine inhaltlich-sachlogische Korrelation zwischen dem Syntagma λόγος δικαιοσύνης auf der einen und den Termini στερεὰ τροφή und τελειότης auf der anderen Seite herzustellen beabsichtigte. 114 Vgl. hierzu die entsprechende Analyse u. 90–97. 115 Umkehr, 170; in diesem Sinne auch E. Gräßer, Hebr I, 329, H. Braun, Hebr, 153 und W.L. Lane, Hebr I, 138, der von einer „basic moral weakness“ spricht. Nach C. Spicq habe der Verfasser des Hebr an dieser Stelle – auch – von einer „stagnation morale“ (Hebr II, 144) der Adressaten seiner Epistel sprechen wollen, die jenen „rend impossible ou difficile l’accès d’une théologie tant soit peu poussée“ (144). 116 Vgl. zu diesem Argument etwa auch H.-F. Weiß, Hebr, 334. 117 Umkehr, 169. Die Deutung der Wendung διάκρισις καλοῦ τε καὶ κακοῦ im Sinne einer „Unterscheidung rechter und falscher Lehre“ (169, A. 183) weist Löhr ab, ohne dies allerdings explizit zu begründen. Vgl. zu diesem Argumentationszusammenhang etwa auch H.-F. Weiß, Hebr, 334. 118 In diese Richtung scheint zumindest inhaltlich auch D.A. DeSilva, Hebr, 213 zu denken, wenn er formuliert: „Second, the author embeds his description of the mature believer in topics associated with the virtue of wisdom. one of the four cardinal virtues promoted by Platonists and Stoics, and which thus entered the mainstream of dominant cultural ethics. He even incorporates a definition of wisdom found almost verbatim in pagan sources, describing it as ‚the discernment of the good and the bad‘ (5:14)“. 119 Vgl. hierzu u. 90–97.

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lich ethisch-moralisch akzentuiert ist; darüber hinaus lässt sich andererseits sicherlich auch kaum bestreiten, dass zwischen den Ausführungen in Hebr 5,13 und denjenigen in Hebr 5,14 ein enger sachlicher Zusammenhang besteht. Wer aber den Begriff λόγος δικαιοσύνης ausschließlich von Hebr 5,14 her zu interpretieren sucht, übersieht den zumindest in gleicher Weise engen Zusammenhang zwischen Hebr 5,13 und Hebr 5,12. Insbesondere die Parallelität der Motive in den Ausführungen Hebr 5,12c.13a legt doch die Annahme nahe, dass der Verfasser mit der Diagnose der Unkundigkeit bzw. Unfähigkeit zum λόγος δικαιοσύνης Hebr 5,13b an den von ihm zuvor konstatierten Sachverhalt der defizitären theologisch-theoretischen Durchbildung seiner Adressaten anknüpfen wollte120. Dieses jenen anhaftende Manko scheint zugleich deren mangelhafte Kompetenz im Blick auf den λόγος δικαιοσύνης mit sich zu bringen und mit derselben einherzugehen, eine Beobachtung, die im Blick auf die Semantik dieses Syntagmas insgesamt zunächst eher eine theologisch-theoretische denn eine moralisch-praktische bzw. ethische Ausrichtung nahelegt121, auch wenn sich diese theologisch-theoretische Akzentuierung – möglicherweise – auf einen als moralisch-praktisch zu charakterisierenden Inhalt oder Gegenstand, eben die δικαιοσύνη, beziehen sollte122. Dass der Begriff δικαιοσύνη im Hebr durchaus ethisch-moralische bzw. sittliche Implikationen transportieren kann, zeigen zunächst die Ausführungen in Hebr 11,33. Hier hebt der auctor ad Hebraeos offensichtlich – in engerem Sinne – auf das rechte Tun und auf ein rechtlichen Normen entsprechendes Handeln123, damit natürlich

Anders E. Gräßer, Hebr I, 351, der einen sachlichen Zusammenhang zwischen Hebr 5,11f. und Hebr 5,13f. bestreitet: „Das nahtlose Hinüberschwenken vom theoretischen Aspekt in [Hebr] 5,11f zum praktisch-moralischen in V 13f könnte auffallen, darf uns aber nicht verwundern in einem Abschnitt, der von Rhetorik und Stilistik geprägt ist“. Dies lässt sich angesichts der begrifflichen Koinzidenz zwischen Hebr 5,12c und Hebr 5,13a einerseits, angesichts des Fehlens einer dieses ,nahtlose Überschwenkenʻ zumindest andeutenden Partikel wie etwa eines καί kaum aufrechterhalten. 121 Im Rahmen seiner Darlegung einer von ihm selbst allerdings nicht vertretenen möglichen Hypothese zur Erklärung des Begriffs λόγος δικαιοσύνης spricht W.L. Lane, Hebr I, 138 von einer „concentration of ethical vocabulary in [Hebr] 5:11–14“. Eine solche Einschätzung scheint kaum nachvollziehbar. Vgl. in diesem Sinne auch das Argument von R.C. Sauer, Reexamination, 135 zugunsten der Interpretation des Terminus λόγος δικαιοσύνης im Sinne einer „doctrine of justification“: „… in the context, which reckons the instruction on salvation among the elemental teachings … the very diet still needed by the readers since they are νήπιοι and do not yet fully comprehend the new Christ-wrought redemption“. 122 In diesem Sinne durchaus zutreffend H.-F. Weiß, Hebr, 335, der diesen Begriff im Sinne der Vorstellung von ,praktischer Vernunftʻ eher theoretisch auf das „sittliche Urteils- und Unterscheidungsvermögen“ der Adressaten des Hebr beziehen möchte. 123 Vgl. E. Gräßer, Hebr I, 329: „In der im NT sonst nicht mehr vorkommenden Wendung bezeichnet δικαιοσύνη dann wie 1,9; 11,33 und 12,11 die Rechtschaffenheit bzw. das Rechte“. Bemerkenswert ist, dass Gräßer in seiner Aufzählung Hebr 11,7 auslässt, vgl. zu diesem Beleg u. 120

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auch umfassender auf das Schaffen von Gerechtigkeit124 ab: οἳ διὰ πίστεως κατηγωνίσαντο βασιλείας, εἰργάσαντο δικαιοσύνην, ἐπέτυχον ἐπαγγελιῶν, ἔφραξαν στόματα λεόντων125. In eine ähnliche Richtung weisen sowohl der Melchisedek beigelegte Titel βασιλεύς δικαιοσύνης Hebr 7,2, der Melchisedek als einen „Regent[en], der Gerechtigkeit in seinem Herrschaftsbereich ,bewährt und verwirklichtʻ“126, als auch die Ausführungen in Hebr 1,9, in denen der Begriff δικαοσύνη im Rahmen der Aufnahme eines Zitats aus Ps 44,8LXX dem Begriff der ἀνομία entgegengesetzt wird127. Schließlich scheint auch Hebr 12,11 ein Verständnis des δικαοσύνη-Begriffs im Sinne des Tuns des Rechts bzw. des Rechten zu indizieren128; hier wird die δικαοσύνη immerhin als eine καρπὸς εἰρηνικός der παιδεία beschrieben129.

Darüber hinaus darf im Rahmen der Interpretation des Hebr 5,13 vorliegenden δικαιοσύνη-Begriffs nun aber nicht übersehen werden, dass der Verfasser des Hebr seinen Rezipienten zunächst in Hebr 6,9f. ausdrücklich bescheinigt, dem ὄνομα θεοῦ ihre Liebe erwiesen zu haben, indem sie ihren Schwestern und Brüdern in der Vergangenheit zu Diensten gewesen sind und auch in der Gegenwart noch dienen130, ihnen in Hebr 10,32 darüber hinaus dann immerhin attestiert, sie hätten in ihrer Vergangenheit einen „von außen auferlegte[n] Kampf“131 erfolgreich gemeistert132, zwei Beobachtungen, die einerseits der Hypothese, die Adressaten befänden sich aktuell im Blick auf ihr ethisch-moralisches Handeln in einer ,basic moral weaknessʻ oder einer ,stagnation moraleʻ, deutlich widerraten133, die andererseits aber auch die Annahme, jenen mangele es in der aktuellen Gegenwart der Epistel an praktischer Vernunft, also an sittlich-moralischem Urteilsvermögen, eher unwahrscheinlich erscheinen lassen.

Vgl. hierzu – womöglich etwas zu eng, aber in der Tendenz durchaus zutreffend – E. Gräßer, Hebr II, 195: „Der Sinn ist überall die praktische Rechtschaffenheit bzw. die von Gott gewollte, ihm entsprechende Gerechtigkeit“. 125 Vgl. hierzu H. Braun, Hebr, 392: „Gemeint ist die richterlich-regimentliche Gerechtigkeit“. 126 E. Gräßer, Hebr II, 16. 127 Vgl. hierzu H. Braun, Hebr, 40: „Jesus betätigt die königliche Haltung … der Gerechtigkeitsliebe, …. Er haßte gesetzwidriges Wesen“. 128 Vgl. hierzu H. Windisch, Hebr, 111: „Die Friedensfrucht der Gerechtigkeit ist die nach Beendigung des Leidenskampfes gewonnene gottwohlgefällige sittliche Tüchtigkeit“. Zur Interpretation der δικαιοσύνη als einer eschatologischen Heilsgabe vgl. O. Michel, Hebr, 446f. 129 Zur in diesen Ausführungen zu beobachtenden Übernahme weisheitlicher Traditionen vgl. etwa H.-F. Weiß, Hebr, 657f. 130 Vgl. hierzu o. 52–54 und u. 194–196. 131 H. Braun, Hebr, 326. 132 Vgl. hierzu auch H.-F. Weiß, Hebr, 546: „Dem Autor des Hebr ist bei alledem insbesondere die Grundeinstellung wichtig, die seine Adressaten einst in dieser Bewährungssituation unter Beweis gestellt haben: ,mit Freudeʻ, bereitwillig also, haben sie damals alle Bedrängnisse auf sich genommen“; vgl. zu diesem Text insgesamt auch u. 229–235. 133 Vgl. hierzu etwa R.C. Sauer, Reexamination, 137: „But the Letter’s recipients cannot be described as absolutely inexperienced in this doctrine or practice of life, and only with difficulty could they, perhaps, be relatively so portrayed, for 10:32–34 discloses their past piety and 124

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Die Analyse von Hebr 5,11–6,12 Hinzu kommt eine andere Überlegung: Werden unter der Voraussetzung, dass Hebr mit der christlichen Gemeinde in Rom in Verbindung stehend zu denken ist134, der Römerbrief des Paulus und der Hirt des Hermas, zwei ebenfalls den römischen Christen zuzuordnende Schriften, daraufhin befragt, wie in diesen denn – mögliche oder auch tatsächliche – moralische Defizite innerhalb der römischen Christenheit thematisiert werden, so fällt auf, dass sowohl Paulus als auch der Verfasser des Herm jeweils sehr konkret formulieren und konkrete, das Zusammenleben der Gemeinde insgesamt betreffende ethische Fragestellungen aufgreifen. Der Apostel kommt in Röm 12,1–15,13 u.a. auf die Problematik des Zusammenlebens von ‚Starken‘ und ‚Schwachen‘, auf Fragen des gemeinsamen Dienstes und auf das Verhältnis der Christen zum Staat zu sprechen135. In Herm wird der soziale Konflikt zwischen Armen und Reichen innerhalb der römischen Gemeinde nicht nur in sozialer, sondern auch in theologischer Hinsicht entfaltet136, wobei der Verfasser des Herm auf die Frömmigkeitsdefizite der Reichen stets in concreto und auch sehr detailliert zu sprechen kommt137. Eine abstrakt formulierte Kritik der ethisch-moralischen Verhältnisse innerhalb einer Gemeinde oder einer Gemeindegruppe lässt sich weder im Röm noch im Herm – noch überhaupt in den übrigen Schriften des frühen und des Urchristentums – belegen. Diese Beobachtung lässt die Annahme, der Verfasser des Hebr habe die Absicht verfolgt, mit seinen Ausführungen in Hebr 5,13, damit auch mit dem Syntagma λόγος δικαιοσύνης, lediglich in abstracto, ohne jeglichen Hinweis auf konkrete individuelle Verhältnisse und Vorfindlichkeiten, auf eine ,stagnation moraleʻ seiner Adressatenschaft abzuheben, eher unwahrscheinlich erscheinen.

(c) Schließlich wird in der Sekundärliteratur vorgeschlagen, die Wendung λόγος δικαιοσύνης und insbesondere den Terminus δικαιοσύνη auf die Gesamtheit der christlichen Lehre zu beziehen138. Dieser Vorschlag gewinnt – zunächst in seiner allgemeinen Ausprägung – durchaus an Plausibilität durch die dem Abschnitt Hebr 5,11–14 insgesamt inhärente Argumentationslogik, die aufgrund ihrer

6:10 both their previous and present righteous living. Surely this commendable behavior presupposes a corresponding knowledge of the doctrine of sanctification which produced such uprightness of conduct“. 134 Vgl. hierzu o. 12–14. 135 Vgl. hierzu zusammenfassend E. Lohse, Röm, 332f. 136 Vgl. hierzu P. Lampe, Christen, 71–78. 137 Vgl. hierzu nur die Hinweise bei P. Lampe, Christen, 72–74. 138 Vgl. hierzu etwa W.R.G. Loader, Sohn, 86 und R.C. Sauer, Reexamination, 140; Sauer zufolge würden die Adressaten des Hebr mit der Wendung ἄπειρος λόγου δικαιοσύνης als solche qualifiziert, die „incompetent in comprehending deeper theological truths, in distinguishing true teaching from false, and in the impartation of biblical verities to others“ seien (vgl. hierzu auch ausführlich u. 95–97); diese Deutung wird von H.W. Attridge, Hebr, 160 immerhin für möglich gehalten: „That it evokes in general the Christian message is possible, and this would conform to Hebrews‘ evocative use of illustrations elsewhere“ (Hebr, 160). Weitere Vertreter dieser Deutung listet W.L. Lane, Hebr I, 138 auf. In eine ähnliche Richtung tendierend C. Marcheselli-Casale, Hebr 269: „Questa formula, che è hapax legomenon nel NT, può avere il senso di parlare correttamente della propria fede“, und J. Héring, Hebr, 55, A. 4: „Λόγος δικαιοσύνης c’est l’enseignement religieux; c’est une manière de désigner la théologie, le mot θεολογία n’existant pas encore“.

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nachgerade enzyklopädischen Akzentuierung durchaus die Annahme zu indizieren vermag, das Syntagma λόγος δικαιοσύνης sei eben auf die Gesamtheit der Lehrinhalte der christlichen Unterweisung zu beziehen und nicht nur auf deren ethisch-moralische Aspekte einzugrenzen139. Dem immerhin entsprechend lassen sich zugunsten der Annahme einer inhaltlichen Begrenzung des Syntagmas λόγος δικαιοσύνης auf letztere in Hebr 5,11–14 keinerlei Textsignale namhaft machen. Werden im Rahmen der Interpretation des Syntagmas λόγος δικαιοσύνης darüber hinaus die Ausführungen in Hebr 5,12, hier insbesondere der Hinweis auf die vom Verfasser des Hebr konstatierte Notwendigkeit, die Adressaten seiner Schrift wieder erneut über die στοιχεῖα τῆς ἀρχῆς τῶν λογίων τοῦ θεοῦ zu belehren bzw. belehren zu müssen, im Rahmen des Versuchs der Interpretation des Syntagmas λόγος δικαιοσύνης mehr als in der Forschung sonst weitgehend üblich berücksichtigt, will die Vermutung nicht unwahrscheinlich erscheinen, dass der in Hebr 5,13b thematisierte λόγος δικαιοσύνης näherhin als λόγος δικαιοσύνης (θεοῦ) zu interpretieren sei; der Verfasser des Hebr hielte die μετέχοντες γάλακτος, nach Hebr 5,12c somit auch die Rezipienten seiner Epistel, also für unfähig bzw. unkundig des λόγος δικαιοσύνης (θεοῦ), d.h. der theologisch-theoretischen Einsicht in die (grundsätzliche und wesenhafte) Gerechtigkeit und in das streng gesetzeskonforme und rechtlichen Normen entsprechende, Gerechtigkeit wirkende und Recht schaffende Handeln Gottes140. Damit bekäme das Hebr 5,13b überlieferte Syntagma λόγος δικαιοσύνης letzten Endes einen auf die eigentliche Heilslehre zugespitzten soteriologischen Akzent. Der Bedeutungsgehalt des für die Interpretation des „metakommunikative.[n] Zwischenstück[es]“141 Hebr 5,11–6,20 insgesamt, insbesondere aber auch für das Verständnis der Ausführungen in Hebr 5,11–6,3 bedeutsamen Begriffs λόγος δικαιοσύνης wird – m.W. letztmalig142 – von R.C. Sauer im Rahmen seiner Dissertation umfassend diskutiert und analysiert. Im Zuge seiner Untersuchung definiert Sauer den Genitiv δικαιοσύνης als einen dessen nomen regens λόγος im Sinne einer „general righteousness“143 inhaltlich des näheren charakterisierenden, letzten Endes einen an Vgl. hierzu bereits o. und darüber hinaus etwa R.C. Sauer, Reexamination, 140f., der den Versuch unternimmt, die Interpretation des δικαιοσύνη-Begriffs bzw. des Syntagmas λόγος δικαιοσύνης insgesamt als einer Bezeichnung für die Gesamtheit der christlichen Lehre mit dem Verweis auf den Terminus νήπιος Hebr 5,13c zu begründen. Im Grundsatz ist Sauer durchaus darin zuzustimmen, dass „the immature (νήπιος) … is not proficient in the Word or truth as a whole“ (140). 140 In diesem Sinne durchaus zutreffend M. Karrer, Hebr II, 34, der auf Hebr 7ff. verweist und formuliert: „Sie [d.h. die Adressaten des Hebr] werden in der Besprechung des Hohenpriestertums Christis etwas über Recht erfahren, theologisch gelesen über das Recht, die Gerechtigkeit und Rechtsausübung Gottes [!]“. 141 G. Schunack, Hebr, 74. 142 Die Ausführungen etwa von E. Gräßer, Hebr I, 329–331 und W.L. Lane, Hebr I, 137f. bieten zwar u.a. einen knappen Überblick über die unterschiedlichen in der Forschung vertretenen Positionen zur Interpretation dieses Begriffs und die Explikation der jeweils eigenen Deutung, reichen aber schon in ihrem Umfang nicht an die Analysen Sauers heran. 143 Reexamination, 139. 139

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Die Analyse von Hebr 5,11–6,12 dieser Stelle ebenfalls möglichen Genitiv τοῦ θεοῦ ersetzenden144 „descriptive genitive“145 und begreift den Terminus λόγος als „a reference to the scriptures“146, d.h. als einen auf die Schriften des Alten Testaments bezogenen Begriff. Aufgrund dieser Kennzeichnungen vermag Sauer dann das Syntagma ἄπειρος λόγου δικαιοσύνης als Explikation einer mangelnden Kenntnis und eines mangelhaften Verständnisses der alttestamentlichen Schriften und der in ihnen transportierten theologischen Wahrheiten zu fassen: Der Verfasser des Hebr beschreibe den der γάλα Bedürftigen (Hebr 5,13a) als „incompetent in comprehending deeper theological truths, in distinguishing true teaching from false, and in the impartation of biblical verities to others“147. Diese Position Sauers geht zumindest im Blick auf ihren Impetus weitestgehend konform mit derjenigen, die in der vorliegenden Studie vertreten wird. Seine Position sucht Sauer näherhin mit folgenden Hinweisen und Erwägungen zu untermauern: (a) Unter Verweis auf W.M.L. de Wette interpretiert er die Wendungen ἄπειρος λόγου δικαιοσύνης, ὁ μετέχων γάλακτος und νήπιος kontextualisierend als semantische Parallelen und folgert dann, implizit die Ausführungen Hebr 5,12c verarbeitend: „The immature …, knowledgeable only of elementary teaching …, is not proficient in the Word or truth as a whole“. Die Interpretation des Begriffs λόγος im Sinne einer „denotation of the scriptures“148 sei durch die im unmittelbaren Kontext von Hebr 5,13 vorliegenden Wendungen τὰ στοιχεῖα τῆς ἀρχῆς τῶν λογίων τοῦ θεοῦ (Hebr 5,12b) und ὁ τῆς ἀρχὴς τοῦ Χριστοῦ λόγος (Hebr 6,1a) sowie die Begriffe γάλα und στερὲα τροφή (Hebr 5,12c.14) abgesichert149. (b) Eine solche Interpretation des Syntagmas ἄπειρος λόγου δικαιοσύνης werde der insbesondere durch die Partikel δέ in Hebr 5,14 explizierten Differenz zwischen den νήπιοι und den τέλειοι am besten gerecht150; letztere nämlich seien „so adept in the scriptures as to be able to digest higher instruction … and discern between true and false doctrine“151. (c) Diese Interpretation entspreche der Einschätzung der theologischen Fähigkeiten der Adressaten seines Schreibens, so wie der auctor ad Hebraeos diese wahrnehme und etwa in Hebr 5,11f. darstelle152. (d) Schließlich vermöge eine solche Deutung zu erklären, warum sich die Adressaten – womöglich wieder neu –

Vgl. hierzu Reexamination, 139: „That is, although the Missive’s writer could have written (ὁ) λόγος (τοῦ) θεοῦ, he prefers to represent the λόγος not by its Author but by the loose qualifying force of the descriptive genitive as that Word or revelation which is in accord with the divine norm and characterized by it“. 145 Vgl. hierzu Reexamination, 138: „In other words, the genitive describes and limits in some looser and broader way than the attribute its governing noun λόγος“. 146 Reexamination, 138. 147 Reexamination, 140. 148 Reexamination, 140. 149 Vgl. Reexamination, 140; in diesem Zusmmenhang schreibt Sauer den o.cit. Wendungen einen synekdochischen Charakter zu. 150 Vgl. hierzu Reexamination, 141. 151 Reexamination, 141. 152 Vgl. hierzu Reexamination, 141: „They [d.h. die Adressaten] are indeed unskilful in the Word as evidenced (1) in their inability to comprehend the advanced teaching (5:11) on the Melchizedek-like nature of the Lord’s priesthood, (b) in their unfitness to instruct others in biblical truth (5:12), (c) in their need to reacquaint themselves with the faith’s primary dogma (5:12b), and (d) in their failure to see from the Hebrew scriptures … Christianity’s preeminence over Judaism, thus necessitating the need for this truth to be demonstrated for them“. 144

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dem levitischen Kult und der innerhalb dessen praktizierten Form der Gottesverehrung zuzuwenden beabsichtigten153.

Ein solchermaßen soteriologisch geprägter δικαιοσύνη-Begriff lässt sich – unabhängig von dem o. Erwogenen – auch in Hebr 11,7 nachweisen; die entsprechenden Ausführungen zeigen, dass der Verfasser des Hebr denselben durchaus – zumindest auch – als Heils- und Verheißungsgut verstehen kann: In Hebr 11,7c wird Noah immerhin als τῆς κατὰ πίστιν154 δικαοσύνης κληρονόμος charakterisiert. Selbst wenn der Verfasser des Hebr sich hier nicht auf – die ihm womöglich doch nicht gänzlich unbekannte155 – paulinische Rechtfertigungstheologie und deren Begrifflichkeit bezogen haben sollte156, so lässt sich doch kaum bestreiten, dass mit dem Begriff der κατὰ πίστιν δικαιοσύνη hier ein Noah von Gott als Erbteil zugeeignetes, der σωτηρία durchaus äquivalentes157 (eschatologisches158) Heilsgut159 bezeichnet

Vgl. hierzu Reexamination, 141: Als „being incompetent in the Word and not yet perceiving the new covenant’s primacy over the old … they [d.h. die Adressaten] are in some way still attached to, or about to reidentify with, the Levitical worship and ritual“. 154 Sprachlich nicht unmöglich ist die Deutung der Wendung κατὰ πίστιν als einer „hellenistisch geläufigen[n] Umschreibung eines gen.poss.“ (vgl. hierzu H.-F. Weiß, Hebr, 581, A. 41 mit Verweis auf F. Blaß/A. Debrunner/F. Rehkopf, Grammatik, § 224.1, 181), was diese zu einem zumindest formalen Äquivalent zu dem von Paulus in Röm 4,11.13 verwendeten Syntagma der δικαιοσύνη πίστεως macht. 155 Trifft die Annahme einer römischen Adresse des Hebr zu (vgl. hierzu o. 12–14), ist eine Bekanntschaft des auctor ad Hebraeos mit paulinischer Theologie zumindest nicht eo ipso auszuschließen. Anders hier W.R.G. Loader, Sohn, 86: „Δικαιοσύνη im paulinischen Sinne zu verstehen, ist nicht überzeugend, weil wir damit eine gute Kenntnis der paulinischen Botschaft voraussetzen müßten, was gerade nicht zu beweisen ist“, und H.W. Attridge, Hebr, 160: „That it conveys a specifically Pauline sense of righteousness is quite unlikely“. 156 Dies vermutet offensichtlich immerhin C. Spicq, Hebr II, 346 mit Verweis auf Röm 4,11.13: „Noé est justifié …, plus exactement: il hérite, c’est-à-dire il acquiert et possède en propre … cette justice religieuse et morale que l’on n’obtient pas par les œuvres ou en vertu d’un système légal …, mais selon une norme, un régime original, celui de la foi, κατὰ πίστιν“. Dem gegenüber kritisch C.R. Sauer, Reexamination, 136: „…, the Epistle scarcely reflects any influence of righteousness being forensically imputed to man through faith in Christ“. 157 Vgl. zu dieser Parallelisierung – zumindest andeutungsweise – E. Gräßer, Hebr III, 119. Vgl. hierzu auch C. Marcheselli-Casale, Hebr, 493: „Chi crede attende che la salvezza … promessa da Dio si compia“. 158 Vgl. in diesem Sinne A. Strobel, Hebr, 214: „Dies will offenbar besagen, daß er [d.h. Noah] zu den herausragenden Gerechten der neuen Welt Gottes gehört“; im weiteren Verlauf seiner Darlegungen relativiert Strobel diese argumentative Spitze allerdings wieder. Ähnlich auch A. Schlatter, Hebr, 399: „Die Gerechtigkeit ist ein Erbe, weil Gott allein sie austeilt und dem verleiht, der in seinem Urteil und Gericht besteht“. 159 Vgl. hierzu etwa K. Kertelge, Art. δικαιοσύνη, in: EWNT² I, 795, der die δικαιοσύνη als ein Noah aufgrund seines Glaubens zukommendes Verheißungsgut definiert. In diese Richtung auch H.W. Attridge, Hebr, 320: „What Noah inherits, righteousness in accordance with faith, is more than the traditional righteousness that he had before receiving God’s oracle“, und C.R. Koester, Hebr, 477: „Noah was ,righteousʻ before the flood …, but here ,righteousnessʻ seems to mean the blessings that manifest God’s favorable judgment, which the faithful inherit“. 153

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ist160, das – und darauf weist schon die im Hebr belegte Verwendung des Terminus κληρονόμος und seiner Derivate161 – nicht auf lediglich sittlichmoralische Implikationen, d.h. etwa auf eine bloße göttliche Bezeugung oder endgültige göttliche Bestätigung zuvor bereits praktizierter noachitischer Rechtschaffenheit162, die hier in Hebr 11,7c im übrigen wenn überhaupt, dann durch den Begriff πίστις expliziert werden würde163, reduziert werden darf. Mit Hebr 11,7c wird das Sinnspektrum des Lexems δικαιοσύνη innerhalb des Hebr in jedem Falle über den Aspekt gesetzeskonformen, den ethisch-sittlichen Normen entsprechenden menschlichen Verhaltens hinaus entschränkt164 und in Richtung auf die δικαιοσύνη als ein von Gott zugeeignetes (eschatologisches) Heils-

Vgl. hierzu m.R. E. Riggenbach, Hebr, 353, der hier von einer „göttliche[n] Gabe“ spricht. In diesem Sinne durchaus auch G. Schunack, Hebr, 172: „Erbe der Gerechtigkeit zu sein, ist Heilsverheißung, die Noah zugeeignete Anwartschaft auf das Heil, nicht Innehaben des Heils“. Mit einem anderen Akzent hier C. Rose, Wolke, 201: „Durch den Glauben gelangte Noah in den bleibenden Besitz [!] des göttlichen Zeugnisses seiner Rechtschaffenheit, – einer Rechtschaffenheit, die Gott nur demjenigen zuspricht, der sich im gehorsamen Glauben bewährt hat“. 161 W. Foerster, Art. κλῆρος κτλ., in: ThWNT III, 785 rückt die Bedeutung des Verbums κληρονομεῖν im Hebr in die Nähe des eher unspezifischen ,bekommenʻ; selbst wenn dies zuträfe, lässt sich die o. formulierte These zwanglos aufrechterhalten. Nach W.F. Moulton/A.S. Geden, Concordance, 550f. sind das Verbum κληρονομέω in Hebr 1,4.14; 6,12; 12,17, das Substantiv κληρονομία in Hebr 9,15; 11,8 und das Substantiv κληρονόμος in Hebr 1,2; 6,17; 11,7 belegt. Besonders sprechend sind im o. diskutierten Kontext die Ausführungen in Hebr 9,15: καὶ διὰ τοῦτο διαθήκης καινῆς μεσίτης ἐστίν, ὅπως θανάτου γενομένου εἰς ἀπολύτρωσιν τῶν ἐπὶ τῇ πρώτῃ διαθήκῃ παραβάσεων τὴν ἐπαγγελίαν λάβωσιν οἱ κεκλημένοι τῆς αἰωνίου κληρονομίας. Vgl. zu diesem Vers – durchaus überraschend – E. Gräßer, Hebr II, 170: „Weil das Erbe Gegenstand eschatologischer Erwartung ist, wird von ihm ganz sachgemäß als von einer αἰώνιος κληρονομία geredet. Dabei ist mit αἰώνιος wiederum wie bei der ,ewigen Erlösungʻ … nicht so sehr die Dauer als vielmehr die Qualität betont“; vgl. hierzu auch J.H. Friedrich, Art. κληρονομέω κτλ., in: EWNT² II, 738: „In bes.[onderer] Weise wird die Wortgruppe auch im Hebr eschatologisch gebraucht“. Diese Ausführungen untermauern zugleich die o. formulierte Interpretation der δικαιοσύνη als eines eschatologischen Heilsgutes. 162 In diesem Sinne aber C. Rose, Wolke, 201 und auch H.-F. Weiß, Hebr, 581, der diese Deutung im Rahmen eines Verweises auf Hebr 11,4 anklingen lässt. 163 Vgl. hierzu E. Gräßer, Hebr III, 119: „Er [d.h. Noah] ist Erbe …, er ,bekommtʻ eine Rechtschaffenheit, wie sie dem Glauben, d.i. seinem Verhalten beim Arche-Bau gemäß ist“; ähnlich auch ders., Rechtfertigung, 82. 164 Somit gilt auch im Blick auf den Hebr die von K. Kertelge, Art. δικαιοσύνη, in: EWNT² I, 787 im Blick auf die neutestamentliche Verwendung des δικαιοσύνη-Begriffs formulierte Feststellung: „Im Überblick bestätigt sich hier die Annahme einer zweifachen Bedeutungs-dimension im ntl. Sprachgebrauch von δ.[ικαιοσύνη]: als theol.-soteriologischer Leitbegriff und als Ausdruck des sittlich rechten Verhaltens des Menschen“. Anders hier E. Gräßer, Rechtfertigung, 85: „Auch dieses Beispiel [d.h. Hebr 12,11] zeigt, dass man die δικαιοσύνη-Begrifflichkeit im Hebr ohne Rücksicht auf den Paulinismus interpretieren muss. Denn überall bezeichnet δικαιοσύνη die von Gott auf seiten des Menschen erwartete Verhaltensweise, welche dem Verhalten des Messias Jesus entspricht“. 160

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und Verheißungsgut erweitert165; in Hebr 11,7 beschreibt der Terminus δικαισύνη ein κατὰ πίστιν ererbbares (eschatologisches) Heilsgut, nämlich dasjenige der vor Gott geltenden und von Gott geschenkten Gerechtigkeit. Die Auffassung der δικαιοσύνη als eines eschatologischen Heilsgutes scheint auch in Hebr 10,38a durchzuschimmern; hier vermag der auctor ad Hebraeos in Aufnahme von Hab 2,4 zu formulieren: ὁ δὲ δίκαιός μου ἐκ πίστεως ζήσεται. Würde der Begriff πίστις, im Gegensatz zu dem in Hebr 10,38b begegnenden Verbum ὑποστέλλεσθαι, im Sinne von Glaubenstreue und Standhaftigkeit interpretiert166, legte sich im Blick auf das Syntagma δίκαιός μου eine adverbiale Deutung nahe, die weniger das sittlich-moralische Verhalten als vielmehr die eschatologische Qualifikation des hier angesprochenen δίκαιός μου in den Blick nimmt167, eine Deutung, für die immerhin die vom Verfasser des Hebr vorgenommene Neuakzentuierung der in Hab 2,4 vorliegenden Formulierung ὁ δὲ δίκαιος ἐκ πίστεώς μου ζήσεται sprechen könnte; derjenige ἐκ πίστεως168 wird als ,mein Gerechterʻ, als von mir mit dem Heilsgut der Gerechtigkeit Zugerüsteter, leben169. Nicht auszuschließen ist, dass auch das Syntagma δίκαιοι τετελειώμενοι in Hebr 12,23 einen eher eschatologisch-soteriologisch denn ethisch-moralisch konnotierten δικαιοσύνη-Begriff transportiert; die τετελειώμενοι wurden von Gott vollendet nicht wegen ihrer im ihrem Leben an den Tag gelegten δικαιοσύνη – zur Bezeichnung der Orthopraxie findet innerhalb des Hebr immer wieder der Begriff πίστις Verwendung –, sondern als δίκαιοι, als solche, die das göttliche Heilsgut der δικαιοσύνη zugesprochen bekommen, eine Interpretation, die auch im Blick auf Hebr 11,4 durchaus in Erwägung zu ziehen ist.

Werden nun die hier vorgelegte, aus ihrem unmittelbaren Kontext erschlossene Interpretation der Wendung λόγος δικαιοσύνης Hebr 5,13b mit dem semantischen Gehalt des δικαιοσύνη-Begriffs, so wie er in Hebr 11,7 begegnet, korreliert, ergibt sich im Blick auf die Bedeutung des Syntagmas λόγος δικαιοσύνης Hebr 5,13b, dass mit diesem auf das aufgrund des vorauslaufenden, seinem als ,Gerechtigkeitʻ zu charakterisierenden Wesen entsprechenden Handelns Gottes für den Glaubenden grundsätzlich – sofern jener denn seine πίστις durchhält – er-

Vgl. hierzu W.L. Lane, Hebr II, 341: „The concept of ,an heir of the righteousness according to faithʻ implies that others who respond to God with the faith that Noah demonstrated will share with him in the righteousness God bestows [!] upon persons of faith“; dem durchaus entsprechend R.C. Sauer, Reexamination, 138, der den Begriff δικαιοσύνη im Hebr in “two meanings” verwendet sieht. 166 Vgl. hierzu H.-F. Weiß, Hebr, 551: „Glaube also im biblisch-jüdischen Sinne des Festbleibens und Standhaltens – kurz: im Sinne der Treue des Glaubens, die den Gehorsam gegenüber dem Verheißungswort Gottes selbstverständlich einschließt“. In diesem Sinne auch E. Gräßer, Glaube, 63. Zu einer ausführlichen, eine solche Interpretation eher verneinenden Analyse des πίστις-Begriffs im Hebr vgl. aber u. 203–208. 167 Anders hier C.R. Koester, Hebr, 463: „The ,righteousʻ are those who exemplify faith“. 168 Nach H.-F. Weiß, Hebr, 550 „bezeichnet πίστις … die Art und Weise, in der der Mensch das eschatologische Heilsgut, die ζωή, gewinnen kann“. 169 Vgl. zu dieser Beobachtung H.-F. Weiß, Hebr, 550: „,Für meinen Gerechten gilt, daß er durch (seinen) Glauben das Leben erlangen wirdʻ“. 165

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reich- und ererbbare Heilsgut der δικαιοσύνη (θεοῦ), näherhin auf deren Entstehung, deren Qualität und deren heilsgeschichtliche Verankerung, Bezug genommen wird. Auf der Basis einer solchermaßen definierten Semantik des δικαιοσύνη-Begriffs ließe sich das Syntagma λόγος δικαιοσύνης Hebr 5,13b durchaus in einem soteriologischen Sinne als – rezeptiv zu verstehende und kreativ zu formulierende – ‚Lehre über das – von Gott geschaffene und für die Gläubigen vorläufig κατὰ πίστιν ererbbare – eschatologische Heilsgut Gerechtigkeit‘ verstehen. Vor diesem Hintergrund ist zumindest mit erheblicher Wahrscheinlichkeit anzunehmen, dass der λόγος δικαιοσύνης (θεοῦ) im wesentlichen soteriologische, damit aber zugleich auch christologische Inhalte transportierte, eine Annahme, die ihrerseits dazu führt, die Darlegungen in Hebr 7,1–10,18 als Konkretion eben dieses λόγος δικαιοσύνης (θεοῦ) zu interpretieren170. Nach H.-.F. Weiß spielt der Verfasser des Hebr mit seinen Ausführungen in Hebr 5,13f. nicht auf die konkrete Situation der von ihm angeschriebenen Adressaten an, sondern formuliert „vielmehr zunächst ... eine gleichsam allgemeine Wahrheit, die den Lesern des Hebr lediglich ihr Defizit an Verstehensvermögen vor Augen führen soll“171. Auf die konkrete Situation der Adressaten komme er erst in Hebr 6,1 zu sprechen172. Diese Hypothese, auf deren Basis eine sittlich-moralische Deutung des Begriffs λόγος δικαοσύνης Hebr 5,13173 und der Wendung διάκρισις καλοῦ τε καὶ κακοῦ Hebr 5,14 möglich wäre, wird im Text des Hebr aber durch nichts indiziert; jede vergleichende Partikel etwa, die einen Bezug zwischen einer Hebr 5,13f. formulierten

170 Vgl. hierzu etwa J.W. Thompson, Heb 5:11–14, 31.35: „In Hebrews, the λόγος δυσερμήνευτος is apparently the cultic section of 7:1–10:18. ... The λόγος δικαιοσύνης is the equivalent of the λόγος δυσερμήνευτος of 5:11“, und auch M. Karrer, Hebr II, 34: „Sie [d.h. die Adressaten des Hebr] werden in der Besprechung des Hohenpriestertums Christi etwas über Recht erfahren, theologisch gelesen über das Recht, die Gerechtigkeit und Rechtsausübung Gottes [!]“ (vgl. zu diesem Zitat bereits o. 91, A. 140); vgl. darüber hinaus auch K. Backhaus, Hebr, 218: „Doch auch hier löst der Kontext die Probleme: Das fortgeschrittene Stadium wird ja auf den beiden folgenden Stufen des Zentralteils (7,1–10,18) entfaltet, die der V[er]f[asser]. als Vollkommenheitslehre alsbald angehen wird, ‚wenn Gott es denn gestattet‘ (6,3). Anders gesagt: Es ist die Lehre über Christi Hohepriestertum“. Umso weniger verständlich will dann aber die Fortsetzung scheinen: „Was das Nomen [d.h. der Begriff δικαιοσύνη] hier meint, geht aus den kraftvollen Parallelen und Antithesen dieser Verse hervor: Werterfahrung, glaubenspraktische Urteilkraft, ethische Übung“ (218f.). Vgl. zu dieser Frage auch ausführlich u. 101f. 171 Hebr, 334, ähnlich auch erwogen von M. Karrer, Hebr II, 34. Tendenziell in diese Richtung geht auch H. Löhr, Umkehr, 167, A. 170, wenn er formuliert: „Und gerade in der geprägten Sprache von [Hebr] 5,11ff. wird man der diachron-semantischen Analyse besondere Beachtung schenken“. Dass die diachron-semantische Analyse bei der Interpretation von Hebr 5,11–14 grundsätzlich nicht vernachlässigt werden darf, ist selbstverständlich. Die Art und Weise der Rezeption geprägter Elemente bzw. deren Neuakzentuierung und Neukontextualisierung durch den Verfasser des Hebr lässt sich allerdings nur auf dem Wege der synchron-kontextuellen Analyse ermitteln. 172 H.-F. Weiß, Hebr, 335. 173 Vgl. hierzu die Deutung von H. Löhr u.a. o. 87–90.

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allgemeinen Wahrheit und den Adressaten und deren konkreter Situation hergestellt hätte, fehlt174. Darüber hinaus steht ihr der o. aufgewiesene175 enge argumentative Zusammenhang von Hebr 5,12b; 5,12c und 5,13 entgegen.

Über die mit diesem Syntagma zusammengefassten einzelnen Aspekte und Sachverhalte sind sich die Adressaten des Hebr als νήπιοι – zumindest in den Augen des Verfassers des Hebr – offensichtlich nicht im klaren. Den τέλειοι hingegen176 ist diese Einsicht bekannt, eignen ihnen als denjenigen, die στερεὰ τροφή zu sich nehmen, doch – infolge ihrer ἕξις, d.h. infolge ihrer intellektuellen Geübtheit bzw. ihren aus dieser Geübtheit resultierenden denkerischen Fähigkeiten177 – αἰσθητήρια γεγυμνασμένα, geübte Sinne bzw. ein geübter Verstand178 zur

Eine solche Vergleichspartikel liegt etwa vor in 1Kor 14,12; in diesem Vers bezieht Paulus eine zuvor in 1Kor 14,11 formulierte allgemeine Wahrheit konkret auf seine Adressaten: ἐὰν οὖν μὴ εἰδῶ τὴν δύναμιν τῆς φωνῆς, ἔσομαι τῷ λαλοῦντι βάρβαρος καὶ ὁ λαλῶν ἐν ἐμοὶ βάρβαρος. (12) οὕτως καὶ ὑμεῖς, ἐπεὶ ζηλωταί ἐστε πνευμάτων, πρὸς τὴν οἰκοδομὴν τῆς ἐκκλησίας ζητεῖτε ἵνα περισσεύητε. 175 Vgl. hierzu o. 83f. 176 Zu der in Hebr 5,13f. implizierten Gegenüberstellung der νήπιοι zu den τέλειοι vgl. etwa E. Gräßer, Hebr I, 329. 177 G. Schneider, Art. ἔξις, in: EWNT2 II, 17 spricht im Blick auf die Wendung διὰ τὴν ἕξιν von „Sinnesorganen, ‚die infolge der Gewöhnung ... geübt sind‘. J.A.L. Lee, ἝΞΙΣ, 166 gibt die Wendung διὰ τὴν ἕξιν mit ,wegen ihres Zustandesʻ wieder; vgl. zu diesem Terminus auch C. MarcheselliCasale, Hebr, 270, A. 25, H. Braun, Hebr, 155f. und R.C. Sauer, Reexamination, 148: „Therefore, the word here is the acquired disposition or character or state of skill and proficiency of one’s mental-spiritual faculty … which has been procured by the exercise of this intellectual power and which promotes its ready use“. E. Gräßer, Hebr I, 330 spricht in diesem Zusammenhang von „Übung und Gewöhnung“, hält aber die Bedeutung ,Zustandʻ für durchaus diskutabel; H. Menge, Handwörterbuch, 251, gibt über die Bedeutung ,Gewöhnungʻ hinaus noch die Bedeutungen ,Fähigkeitʻ und ,Vermögenʻ an. K. Backhaus, Hebr, 213 übersetzt die Wendung insgesamt mit „infolge des steten Gebrauchs“; zugleich vermag er sie mit der Sentenz „durch steten Gebrauch erworbene. Qualität oder Fertigkeit“ (219) zu umschreiben. Vgl. zu den semantischen Implikationen des Begriffs ἔξις in Sonderheit die o. bereits erwähnte ausführliche Studie von J.A.L. Lee, ἝΞΙΣ, 151–176; Lee sieht im Blick auf diesen Terminus die Bedeutung ‚Zustand‘ bzw. konkret „physical and/or mental state“ (166) als die einzig zutreffende an. Träfe dies zu, vermöchte dieser in Hebr 5,14b verwendete Begriff die in der vorliegenden Studie entwickelte These, die Adressaten des Hebr seien als eine in der Ausbildung befindliche Schülerschaft, die ihr ‚Klassenziel‘ nicht erreicht hat (vgl. hierzu u. 116–120), vorzustellen, durchaus zu stützen. Eine vermittelnde Position nimmt D.A. DeSilva, Hebr, 213 ein, wenn er vorschlägt, diesen Terminus mit „‚a constant state of being or practice‘“ wiedergibt. 178 H.-F. Weiß, Hebr, 333 notiert zu diesem Terminus: „Und daß αἰσθητήρια in diesem Zusammenhang weniger die ,Sinnesorganeʻ als vielmehr im übertragenen Sinne das (sittliche) Unterscheidungsvermögen (bei rechtem Gebrauch der Sinnesorgane!) meint, versteht sich angesichts der hier vorliegenden Beziehung auf die ,Unterscheidung von Gut und Böseʻ von selbst“. Vgl. zur Übersetzung von αἰσθητήριον im Sinne von ,Verstandʻ bzw. ,Vernunftʻ H. Menge, Handwörterbuch, 23. 174

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διάκρισις καλοῦ τε καὶ κακοῦ (Hebr 5,14)179. Aufgrund des Kontextes180, auch hier insbesondere aufgrund der Ausführungen in Hebr 5,12b.c.13, lässt sich diese Fähigkeit, will man die Rede von der διάκρισις καλοῦ τε καὶ κακοῦ nicht gänzlich im uneigentlichen Sinne bzw. als rhetorische Floskel verstehen, kaum anders fassen als eine – der Hebr 5,13 thematisierten Kenntnis des λόγος δικαιοσύνης korrespondierende, über diese zugleich aber auch hinausreichende – allgemeine und prinzipielle Befähigung zur Unterscheidung von rechter und falscher Lehre181 und, daraus resultierend, auch zur eigenständigen theologisch-theoretischen Entwicklung, Formulierung und didaktisch verantworteten Vermittlung christlicher Lehrstücke überhaupt182. Der in der Sekundärliteratur häufig begegnende Vorschlag, das in Hebr 5,14c Ausgeführte im Sinne einer – lediglich – Zugunsten einer ethisch-moralischen Interpretation dieses Syntagmas lässt sich nur „its usage in secular and biblical literature“ (R.C. Sauer, Reexamination, 150; vgl. hierzu auch E. Gräßer, Hebr, I, 331, der als Quelle für das Begriffspaar καλὸν καὶ κακόν auf die „durch die Gedanken stoischer Ethik geformte Vulgärsprache“ abhebt) anführen, ein Argument, dem gegenüber der synchron-kontextuellen Analyse allerdings hier nur sekundäre Bedeutung zukommen kann; vgl. hierzu auch K. Backhaus, Hebr, 219, der – zunächst – davon spricht, dass es in Hebr 5,14c „um die sittliche Option“ gehe (vgl. hierzu auch u.), um dann allerdings den Horizont deutlich zu weiten: „Vollkommen ist der gereifte Christ, der durch die geistliche Erfahrung, die ethische Praxis, die christliche Reflexion mündig geworden ist und in alldem Christus wahrzunehmen und die Christus-Beziehung zu realisieren vermag“ (219). Diese Aussage verwischt einerseits den Impetus des in Hebr 5,11–14 Ausgeführten, geht andererseits über das in diesen Versen Ausgeführte inhaltlich weit hinaus. 180 Vgl. hierzu etwa R.C. Sauer, Reexamination, 148: „Verification for this view lies in the immediate context and the Epistle as a whole“. 181 Zu den altkirchlichen Kommentatoren, die diese Auslegung der Wendung διάκρισις καλοῦ τε καὶ κακοῦ bieten, vgl. E. Riggenbach, Hebr, 146, A. 85. Zu weiteren Befürwortern dieser Interpretation vgl. R.C. Sauer, Reexamination, 149, A. 3 und H. Löhr, Umkehr, 169, A. 183. 182 W.R.G. Loader, Sohn, 85, A. 30 spricht hier – wenn auch womöglich zu konkret, aber doch durchaus in die richtige Richtung weisend – von der „Befähigung, einerseits diese Lehre anzunehmen, andererseits aber falsche Lehrer abzulehnen“. E. Riggenbach, Hebr, 145f. mit A. 85 sieht an dieser Stelle eine Anspielung auf die Fähigkeit zur Unterscheidung des Heilsamen vom Schädlichen: „Ebensowenig darf καλόν und κακόν auf das sittlich Gute und Schlechte statt auf das Heilsame und Schädliche bezogen werden“. O. Michel, Hebr, 237 denkt in diesem Zusammenhang an das „‚geistliche. Unterscheidungsvermögen‘“ der Adressaten des Hebr. In diese Richtung interpretiert auch, wenn auch anders akzentuiert, D.G. Peterson, Situation, 20 mit Verweis auf B.F. Westcott, Hebr, 136: „We would argue, however, that the context rather favours Westcott’s interpretation of the latter phrase as ‚without experience of the word of righteousness ... unprepared by past training to enter upon the discussion of the larger problems of Christian thought‘“. Bereits Westcott verweist zur Begründung seiner Argumentation auf die Ausführungen in Hebr 5,12 (vgl. Hebr, 138). H. Hegermann, Schöpfungsmittler, 128 sieht bei den Adressaten des Hebr eine fehlende Lehrerkompetenz. Vgl. in diesem Zusammenhang auch R.C. Sauer, Reexamination, 148: „Verification for this view [d.h. die ,doctrinal explanationʻ dieser Wendung]“ lies in the immediate context and the Epistle as a whole“. Gegen die von Sauer selbst favorisierte, eher künstlich stilisierte „doctrinal-moral explanation“ (151) dieser Wendung sprechen der Kontext sowohl als auch die Einlassungen in Hebr 6,9f. (vgl. zur Interpretation dieser Verse o. 52–54 und u. 194–196). Zu einer solchen ,doctrinal-moral 179

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sittlich-moralischen Unterscheidung bzw. Unterscheidungsfähigkeit zu interpretieren, muss an der Beobachtung scheitern, dass von einer solchen das Gebiet der Sittlichkeit betreffenden Unterscheidungsfähig- oder -unfähigkeit im Hebr bis dato nicht die Rede zu sein scheint, wohingegen das Problem der – fehlenden – Fähigkeit zum Durchdenken und zur Bewältigung theologischer Fragen und Lehrstücke sehr wohl diskutiert wird183. Insofern ist die Wendung διάκρισις καλοῦ τε καὶ κακοῦ hier weniger material-inhaltlich als vielmehr formal-strukturell184 und somit nicht als unmittelbarer Komplementärbegriff zu dem Hebr 5,13 eingeführten Syntagma λόγος δικαιοσύνης zu interpretieren. Dem Gedanken der kreativen Fähigkeit zur theologisch-theoretischen Entwicklung, Formulierung und auch Vermittlung christlicher Lehrstücke – an der es den Adressaten des Hebr offensichtlich allerdings gebricht185 – entspräche durchaus der semantische Gehalt des im Hebr verwendeten λόγος-Begriffes. Der Begriff λόγος ist im Hebr unter Absehung von Hebr 5,13 insgesamt noch elfmal belegt, nämlich in Hebr 2,2; 4,2.12f.; 5,11; 6,1; 7,28; 12,19 sowie 13,7.17.22, in der Kombination λόγος (τοῦ) θεοῦ zweimal, nämlich in Hebr 4,12 und 13,7. Während die in Hebr 2,2 begegnende Wendung λόγος ἀγγέλλων in der exegetischen Literatur aufgrund deren in der frühjüdischen Tradition bezeugter186 Vermittlung durch Engel inhaltlich weitgehend unisono auf die Sinaithora bezogen wird187, der Verfasser des Hebr mit Terminus λόγος an dieser Stelle also letzten Endes, wenn auch das Redegeschehen semantisch akzentuierend188, den νόμος bezeichnet189 – gleiches dürfte auch im Blick auf Hebr 12,19 gelten190, dort allerdings eher via negativa191 –, scheinen in Hebr 4,2 (λόγος τῆς explanationʻ vgl. auch C. Spicq, Hebr II, 145: „Selon l’acception biblique, le discernement du bien et du mal … résume la connaissance spéculative de la vérité et des principes de la moralité, l’adhésion de cœur à ces notions et leur mise en œuvre dans la vie pratique“, und J. Héring, Hebr, 55f.: „Ces deux termes ont un sens si général qu’ils s’appliquent non seulement au domaine intellectuel, mais aussi à celui de toutes les valeurs, notamment des valeurs morales“. 183 Vgl. hierzu in Sonderheit die Diskussion der semantischen Implikationen der Wendung λόγος δικαιοσύνης als λόγος δικαιοσύνης (θεοῦ) o. 84–97. 184 Vgl. hierzu A. Strobel, Hebr, 134: „Das Ziel ist also – mit einem Satz formuliert – der ,mündige Christʻ, der sich um die ganze Tiefe des Zeugnisses bemüht und es auch weiterzugeben in der Lage sein soll“. 185 Vgl. hierzu H. Hegermann, Hebr, 128. 186 Vgl. hierzu etwa E. Gräßer, Hebr I, 102: „Die frühjüdische Tradition ist einig in der Annahme, daß bei der Gesetzgebung am Sinai Engel beteiligt waren“. 187 Vgl. hierzu etwa H.-F. Weiß, Hebr, 185: „Daß dabei in V. 2 mit dem ,durch die Engel gesprochenen Wortʻ ursprünglich – vom Autor des Hebr freilich nicht eigens akzentuiert – das ,Gesetzʻ … gemeint ist, versteht sich aus der hier vorausgesetzten jüdischen wie auch urchristlichen Tradition von selbst“; vgl. zu dieser Tradition Hebr, 185, A. 13.. 188 Vgl. hierzu H. Braun, Hebr, 48: „…; statt seiner [d.h. νόμος] hier λόγος im Blick auf das λαλεῖσθαι 2,2f.“. 189 Vgl. hierzu etwa H.W. Attridge, Hebr, 64, A. 26. 190 Vgl. hierzu etwa H.-F. Weiß, Hebr, 672, der darauf hinweist, dass „die ῥήματα in [Hebr 12,] V. 19 sicherlich auf die Kundgabe der Gebote Gottes (Dtn 4,12) zu beziehen sind“, und E. Gräßer, Hebr III, 307. 191 Vgl. hierzu H.-F. Weiß, Hebr, 672: „Solche abwertende Tendenz ist im Sinne des Autors des Hebr auch bestimmend für das Wort- bzw. Redegeschehen am Sinai, das … in V. 19

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Die Analyse von Hebr 5,11–6,12 ἀκοῆς)192, Hebr 4,12 (λόγος τοῦ θεοῦ)193, Hebr 5,11194; 6,1195 und auch 13,22 (λόγος τῆς παρακλήσεως)196, wenn auch mit jeweils unterschiedlichem Inhalt, die Bedeutungen ,Predigtʻ bzw. ,Redeʻ oder ,Lehrvortragʻ durchzuscheinen. In Hebr 13,7 wird unter der Wendung λόγος (τοῦ) θεοῦ – allerdings eher unspezifisch und ohne nähere Kennzeichnung – das gepredigte Evangelium zu verstehen sein197, in Hebr 7,28 (λόγος τῆς ὁρκωμοσίας)198 bzw. Hebr 4,13199 und Hebr 13,17 verwendet der auctor ad Hebraeos den Terminus λόγος eher in juridischem Sinne, einerseits nämlich im Sinne von ,Eidʻ, andererseits im Sinne von ,Rechenschaft (ablegen)ʻ. Diese knappe Übersicht lässt im Blick auf die Frage nach dem Bedeutungsgehalt des Terminus λόγος im Hebr folgendes erkennen: (a) Der Verfasser des Hebr verwendet den Terminus λόγος in der Regel in funktional-formalem Sinne, d.h., um ein unmittelbares, an die jeweils Hörenden ergehendes Wortgeschehen oder einen konkreten – göttlichen oder aber auch menschlichen – Sprachakt zu kennzeichnen. (b) Der materialiter prinzipiell offene und im Hebr in unterschiedlichen Kontexten begegnende λόγος-Begriff200 wird häufig durch einen appositionellen Genitiv inhaltlich oder aber im Blick auf seinen Urheber – was einer inhaltlichen Profilierung durchaus gleichkommen kann – näher bestimmt201. Dieses im Hebr beobachtbare literarische Ver-

beschrieben wird“; in diesem Sinne auch E. Gräßer, Hebr III, 307: „Diese Unbestimmtheit der Ausdrucksweise … entspricht dem negativ vorgestellten Sinaigeschehen“. 192 Vgl. hierzu etwa H.W. Attridge, Hebr, 125: „The phrase resembles a Pauline expression for the gospel, where ἀκοή means the content of the hearing or ,message,ʻ or the act of ,preachingʻ by which the message is delivered“; zum hier vorliegenden Gedanken der Verkündigung des Evangeliums vgl. auch M. Karrer, Hebr I, 215. 193 Zur Deutung der Wendung λόγος τοῦ θεοῦ Hebr 4,12 im Sinne von ,Gerichtspredigtʻ vgl. etwa E. Gräßer, Hebr I, 228: „Die beredte Metaphorik und die poetische Personifikation des λόγος τοῦ θεοῦ dienen dazu, den Charakter der Predigt als Gericht eindrucksvoll ins Bild zu setzen “; vgl. hierzu auch 228, A. 18. 194 Im Blick auf Hebr 5,11 vgl. etwa H.-F. Weiß, Hebr, 330f. mit A. 11; hier verweist Weiß auf Apg 15,32; 20,2 als Belege für den Begriff λόγος im Sinne von ,Predigtʻ. 195 Im Anschluss an H. Braun übersetzt E. Gräßer, Hebr I, 333 die Wendung τὸν τῆς ἀρχῆς τοῦ Χριστοῦ λόγον mit „Anfangsunterweisung über Christus“; zu einem möglichen Verständnis des Genitivs τοῦ Χριστοῦ als eines genitivus subiectivus vgl.u. 166f. 196 Vgl. hierzu H.-F. Weiß, Hebr, 761: „Die Kennzeichnung des ganzen Schreibens als λόγος τῆς παρακήσεως zeigt … den Zusammenhang des Hebr mit dem geprägten Stil der hellenistischen Synagogenpredigt … an“; vgl. hierzu auch H. Hegermann, Hebr, 285. 197 Vgl. hierzu H.-F. Weiß, Hebr, 709, A. 5; Weiß charakterisiert das Syntagma λαλεῖν τὸν λόγον τοῦ θεοῦ als „feste. Wendung der urchristlichen Missionsverkündigung“; ähnlich auch E. Gräßer, Hebr III, 369, A. 21 und C.R. Koester, Hebr, 559. In eine ähnliche Richtung tendiert auch G. Kittel, Art. λέγω κτλ., in: ThWNT IV, 116f. 198 Vgl. hierzu etwa H. Hegermann, Hebr, 160 und C.R. Koester, Hebr, 362f.368. 199 Vgl. hierzu etwa H.-F. Weiß, Hebr, 289 und E. Gräßer, Hebr I, 239, der hier bereits auf Hebr 13,17 verweist: „Ans Ende dieser eindringlichen Paränese, welche potentielle Apostaten durch den Hinweis zurückhalten will, daß niemand unerkannt entkommt, paßt allein die Erinnerung an die unausweichliche Rechenschaftsablegung vor dem unbestechlichen Richter“. 200 Vgl. zur grundsätzlichen semantischen Bandbreite dieses Terminus etwa A. Debrunner, Art. λέγω κτλ., in: ThWNT IV, 73f. 201 Vgl. hierzu etwa die Ausführungen zum genitivus appositivus bei F. Blaß/A. Debrunner/F. Rehkopf, Grammatik, § 167.2, 138.

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fahren nötigt auf der Ebene der Interpretation in jedem Falle zu grundsätzlicher Vorsicht gegenüber einer vorschnellen, die jeweilige Aussageabsicht des auctor ad Hebraeos womöglich verwischenden Parallelisierung oder Synonymisierung der entsprechenden Genitivappositionen.

Fazit: In Hebr 5,11–14 charakterisiert der Verfasser des Hebr, möglicherweise in bewusster rhetorisch-hyperbolischer Absicht202, die Adressaten seiner Epistel als solche, denen aufgrund mangelnder Bereitschaft, mangelnder Übung und daher auch mangelnder Fähigkeiten, an einer Erweiterung und Vertiefung ihrer theologisch-theoretischen Glaubensbasis zu arbeiten, ein lediglich unzureichender theologisch-theoretischer (Er-)Kenntnisstand zukommt203. Als νήπιοι, die – wiederum – über die στοιχεῖα τῆς ἀρχῆς τῶν λογίων τοῦ θεοῦ belehrt werden müssen, sind sie insbesondere nicht in der Lage, den – fortgeschrittenen – λόγος δικαιοσύνης, d.h. das Lehrstück von der wesenhaften, das für den Glaubenden ererbbare Heilsgut der δικαιοσύνη schaffenden Gerechtigkeit Gottes, angemessen zu erfassen und eigenständig kreativ zu verarbeiten. Dabei bieten die Ausführungen von Hebr 5,11–14, zumindest für sich genommen, zunächst keinen Anlass, den Adressaten des Hebr Defizite im ethisch-moralischen Bereich oder gar eine grundlegende Orientierungs- oder gar Glaubenskrise zu unterstellen204. Vielmehr erscheinen sie – zumindest zunächst und ohne dass hier konkrete Gründe erkennbar würden – schlicht weder bereit noch fähig, sich mit den – aus der Perspektive des auctor ad Hebraeos – grundlegenden sowohl als auch mit den auf jene aufbauenden und jene weiterführenden theologisch-theoretischen Eckpunkten der christlichen Theologie auseinanderzusetzen, sich in diese einzuarbeiten und diese eigenständig zu formulieren und selbst zu vermitteln. M.a.W.: Vgl. hierzu o. 68f. Vgl. hierzu R.C.Sauer, Reexamination, 152: „The recipients of Hebrews are in a declining state of spiritual understanding. This is discernible in two ways: (1) the difficulty in expressing the proposed theological discourse of 5:11 is attributed neither to the speaker’s limitations nor to the advanced nature of the subject-matter, but to the listeners’ sluggish mental capacities; (2) their immediate need is to review the faith’s foundational doctrines in spite of the fact that they should -- due to long standing membership in the Christian community -- own a mature religious knowledge and be capable of teaching others“. 204 Vgl. hierzu etwa die Ausführungen von K. Backhaus o. 48–52 und darüber hinaus auch ders., Hebr, 27f.: „In der ihm eigenen Deutlichkeit sieht der V[er]f[asser]. die Adressaten im Glauben nicht tot, wohl aber unerwachsen, zwar nicht ganz taub, doch harthörig gegenüber dem Evangelium (5,11–14), daher innerlich ausgezehrt und im Glaubensleben ermattet (6,12; 12,3), in der Tatkraft erschlafft, im aufrechten Gang gelähmt. So bedarf es heilender Anstrengung (12,12f.), sollen sie nicht schließlich ‚vom lebendigen Gott‘ abfallen (3,12; vgl. 6,6; 10,29; 12,15f.). Die Christen, die der Brief vor Augen hat, sind eine erschöpfte Minderheit – schon zu ernüchtert, um Christsein als Gewinn zu erleben, noch zu entschlusslos, es fallen zu lassen“ (28). Träfen die Ausführungen von Backhaus zu, wäre zu fragen, warum der auctor ad Hebraeos dann hier in Hebr 5,11–14 nicht poimenisch, sondern in hohem Maße polemisch argumentiert (vgl. hierzu o. 52). Inwieweit nämlich der Vorwurf der νώθεια geeignet ist, einen Beitrag zur Überwindung der Glaubenskrise einer christlichen Gruppe zu leisten, muss doch sehr dahingestellt bleiben. 202 203

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Die Analyse von Hebr 5,11–6,12

Zumindest Hebr 5,11–14 zufolge treten die Adressaten des Hebr als solche in Erscheinung, die das ihnen offensichtlich vom auctor ad Hebraeos – warum sonst nämlich sollte er in seiner Epistel in Hebr 5,11–14 seine Adressaten gerade in der hier dokumentierten Weise ansprechen – vorgegebene theologisch-theoretische Bildungsniveau nicht erreicht haben. Sie scheinen in ihrem theologischtheoretischen (Er-)Kenntnisstand deutliche Defizite aufzuweisen und somit – zumindest aus der Sicht des auctor ad Hebraeos – nicht in der Lage zu sein, die eben für sein Dafürhalten entscheidenden Eckpunkte und Grundlagen der christlichen Theologie im systematischen Zusammenhang – für sich und für andere – zu formulieren. Daher seien sie – ohne dass dieses hier explizit angesprochen würde205 – auf dem Wege, sich einer in den Augen des Verfassers des Hebr unzulänglichen und damit dann letzten Endes irrigen Theologie zuzuwenden206. Zu fragen ist nun, ob die weitere Exegese des ‚metakommunikativen Zwischenstückes‘ Hebr 5,11–6,20 diesen ersten Eindruck zu bestätigen vermag oder zu einer Revision desselben nötigt. Das folgende Diagramm versucht, die bis dato im Blick auf die Gegenüberstellung der beiden hier angesprochenen Gruppen der νήπιοι und der τέλειοι gewonnenen exegetischen Ergebnisse zu visualisieren:

 

Vgl. hierzu dann aber die Exegese von Hebr 6,4–6 u. 177–189. In diese Richtung denkt D.A. DeSilva, Hebr, 214, allerdings mit einem deutlich anderen Akzent: „A community of ‚teachers‘ means a community of individual members reinforcing one another’s hold on the minority culture’s values and goals, precisely the sort of community the author must shape if they are to persist in their journey against the current (and frequently the blasts) of the dominant culture and arrive at their divinely appointed goal“. Von einem solchen von DeSilva hier vermuteten ‚Kampf der Kulturen‘ ist im Hebr nun allerdings in keiner Wiese die Rede; der Text dieser Epistel legt vielmehr die Annahme nahe, dass es hier um unterschiedliche dezidiert theologische, bzw. präziser: christologische Konzeptionen geht. D.A. DeSilva scheint zu dieser eher allgemein formulierten ‚Kulturkampf‘-These zu gelangen, weil er dem in Hebr 5,13b begegnenden Syntagma λόγος δικαιοσύνης im Rahmen der Gesamtargumentation eine zu geringe bzw. keinerlei erkennbare Bedeutung zumisst und dieses Syntagma, abgegrenzt gegen dessen Mißverständnis im Sinne einer Werkgerechtigkeit, im – eher schlichten – Sinne von „‚oracles of God‘“ (Hebr, 212, A. 6) interpretieren möchte.

205 206

Hebr 5,11–14 νήπιοι = Adressaten des Hebr

103 τέλειοι

νωθροὶ ταῖς ἀκοαίς - γάλα

- erneute Belehrung über στοιχεῖα τῆς ἀρχῆς τῶν λογίων τοῦ θεοῦ wäre notwendig - sind ἄπειροι λόγου δικαιοσύνης

- τροφὴ στερεά, - haben die Fähigkeit zur διάκρισις καλοῦ τε καὶ κακοῦ

Gesamtheit der Lehrstücke christlicher Theologie: - στοιχεῖα τῆς ἀρχῆς τῶν λογίων τοῦ θεοῦ - λόγος δικαιοσύνης - κτλ.

Von nicht unerheblicher Bedeutung für die in der vorliegenden Studie zu verhandelnde Frage nach der textpragmatischen Situierung des Hebr ist der in Hebr 5,12a begegnende Begriff διδάσκαλοι, mit dem der auctor ad Hebraeos die Rezipienten seiner Epistel tituliert: καὶ γὰρ ὀφείλοντες εἶναι διδάσκαλοι διὰ τὸν χρόνον, .... Der Begriff διδάσκαλοι wird in der exegetischen Literatur in der Regel in einem eher uneigentlichen bzw. unspezifischen Sinne verstanden: „However, the author does not mean to say that his readers are teachers in the strict, technical sense of the word. This statement must be taken cum grano salis; that is, 5:12 is highly figurative, and its entire contents cannot be understood in a purely literal manner“207. 207 R.C. Sauer, Reexamination, 108; dieser Deutung wird in der gegenwärtigen exegetischen Sekundärliteratur, sofern diese sich überhaupt der Interpretation des Begriffs διδάσκαλοι widmet, weitestgehend entsprochen. Als Beispiele seien hier nur genannt: C. Marcheselli-Casale, Hebr, 267, der zugleich aber auch – immerhin und vollständig m.R. – deutlich den Unterschied zu der sonst im NT beobachtbaren semantischen Füllung des διδάσκαλος-Begriffs hervorhebt: „Quanto al termine ‚maestri‘ (didaskaloi), mentre il NT ne fa uso per precise persone. Ebrei segue il comune modo di pensare, secondo cui coloro che hanno appreso sono anche in grado di insegnare“. Vgl. zur Diskussion der Interpretation dieses Begriffs bereits ausführlich o. 74, A. 43.

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Die Analyse von Hebr 5,11–6,12 In diese Richtung denkt auch A.F. Zimmermann, der seine unspezifische208 Deutung des διδάσκαλος-Begriffs in Hebr 5,12a mit dem Hinweis darauf begründet, dass der auctor ad Hebraeos in Hebr 5,12a.b mit der Synonymisierung der Wendung διδάσκαλος εἶναι mit dem Verb διδάσκειν arbeite, einer Synonymisierung, die sich in der griechischen Literatur auch sonst fände209 und signalisiere, dass „der Hebr ... nicht an einen engeren Kreis von Amtsträgern gerichtet“210 sei. Dieser Hinweis von Zimmermann vermag freilich kaum zu überzeugen, da sich aus einer solchen Synonymisierung ein unspezifischer Gebrauch des Terminus διδάσκαλος, selbst dann, wenn dieser in den von Zimmermann genannten Belegen vorliegen sollte, im Blick auf Hebr 5,12a in keinem Falle mit Notwendigkeit herleiten lässt.

Um diese Deutung überprüfen zu können, ist es, da der Begriff διδάσκαλος als Substantiv im Hebr ausweislich der Konkordanz nur in Hebr 5,12a belegt ist und die Derivate διδαχή, belegt in Hebr 6,2; 13,9, und διδάσκω, belegt in Hebr 5,12; 8,11, im Blick auf die Frage nach dem Verständnis dieses Begriffs nur wenig beizutragen vermögen, notwendig zu untersuchen, wie der διδάσκαλος-Begriff in den übrigen Schriften des NT und in den übrigen Schriften des Urchristentums insgesamt verstanden und verwendet worden ist. Dabei wird von erheblicher Bedeutung sein, in wieweit dem Begriff jeweils eine exklusive oder eine inklusive Dimension eignet, d.h. inwieweit dieser Begriff eine von der entsprechenden christlichen Gemeinde oder Gemeinschaft zu separierende Sondergruppe bezeichnet oder aber – wie dies die übergroße Mehrheit der Forschung im Blick auf Hebr 5,12a vorschlägt – die entsprechende christliche Gemeinde oder Gemeinschaft in ihrer jeweiligen Gesamtheit zu repräsentieren vermag. Vor diesem Hintergrund können diejenigen Belege, die im Blick auf den Terminus διδάσκαλος allgemeine Wahrheiten formulieren oder aber jenen auf eine konkrete und herausragende urchristliche Einzelpersönlichkeit wie etwa Jesus, Paulus oder auch Timotheus beziehen, unberücksichtigt bleiben, da ihnen eo ipso keinerlei inklusive, d.h. die gesamte Gemeinde oder Gemeinschaft miteinbeziehende Dimension zukommen kann. Vor diesem Hintergrund bleiben letzten Endes folgende Belege übrig, die einer näheren Analyse zu unterziehen sind: Apg 13,1; 1Kor 12,28f.; Eph 4,11; 2Tim 1,11; 4,3 und Jak 3,1. Dabei zeitigt die Einzelanalyse folgende Ergebnisse: (a) In Apg 13,1–3 berichtet Lukas von in der antiochenischen Gemeinde ansässigen προφῆται καὶ διδάσκαλοι, denen offensichtlich innerhalb der Gemeinde wenn schon nicht eine Leitungsfunktion, so doch eine sie von der übrigen Gemeinde separierende Funktion zukam211; immerhin wurden sie – und eben

Vgl. hierzu u. Vgl. hierzu Lehrer, 210; als konkrete Beispiele nennt Zimmermann hier Aischylos, Platon, Demokritos und schließlich auch Philo. 210 Lehrer, 210. 211 Vgl. hierzu etwa E. Haenchen, Apg, 336: „Diese Tradition über die führenden Männer der antiochenischen Gemeinde hat Lukas wohl schon in 4,36 verwertet“. G. Schille, Apg, 281 spricht hier von der „örtliche[n] Mitarbeitergruppe“ Antiochias. G. Schneider, Apg II, 114f. verneint die Bezeichnung der in Apg 13,1 aufgelisteten Personen als ‚Leitungsgruppe‘, formuliert aber 208 209

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nicht die gesamte Gemeinde – vom πνεῦμα ἅγιον autorisiert, Paulus und Barnabas zu dem für sie bestimmten Werk auszusondern und unter Auflegung ihrer Hände auszusenden: ἦσαν δὲ ἐν Ἀντιοχείᾳ κατὰ τὴν οὖσαν ἐκκλησίαν προφῆται καὶ διδάσκαλοι ὅ τε Βαρναβᾶς καὶ Συμεὼν ὁ καλούμενος Νίγερ καὶ Λούκιος ὁ Κυρηναῖος, Μαναήν τε Ἡρῴδου τοῦ τετραάρχου σύντροφος καὶ Σαῦλος. (2) λειτουργούντων δὲ αὐτῶν τῷ κυρίῳ καὶ νηστευόντων εἶπεν τὸ πνεῦμα τὸ ἅγιον· ἀφορίσατε δή μοι τὸν Βαρναβᾶν καὶ Σαῦλον εἰς τὸ ἔργον ὃ προσκέκλημαι αὐτούς. (3) τότε νηστεύσαντες καὶ προσευξάμενοι καὶ ἐπιθέντες τὰς χεῖρας αὐτοῖς ἀπέλυσαν. In Apg 13,1–3 wird der – womöglich mit dem Terminus προφῆται ineins zu setzende212 – Begriff διδάσκαλοι somit nicht inklusiv, sondern exklusiv, d.h. separierend und auf eine konkrete abgrenzbare Gruppe innerhalb der antiochenischen Gemeinde bezogen verwendet213. (b) In 1Kor 12,28–30 treten die διδάσκαλοι als eine von Gott eingesetzte besondere Gruppe innerhalb der korinthischen Gemeinde auf214: καὶ οὓς μὲν ἔθετο ὁ θεὸς ἐν τῇ ἐκκλησίᾳ πρῶτον ἀποστόλους, δεύτερον προφήτας, τρίτον διδασκάλους, ἔπειτα δυνάμεις, ἔπειτα χαρίσματα ἰαμάτων, ἀντιλήμψεις, κυβερνήσεις, γένη γλωσσῶν. (29) μὴ πάντες ἀπόστολοι; μὴ πάντες προφῆται; μὴ πάντες διδάσκαλοι; μὴ πάντες δυνάμεις; (30) μὴ πάντες χαρίσματα ἔχουσιν ἰαμάτων; μὴ πάντες γλώσσαις λαλοῦσιν; μὴ πάντες διερμηνεύουσιν; – damit werden jene auch an dieser Stelle als eine klar von der Gesamtgemeinde zu separierende Gruppe definiert, der Begriff διδάσκαλος somit exklusiv verwendet215, eine Verwendung, gleichzeitig: „Man hat sich wohl vorzustellen, daß dies [d.h. das in Apg 13,2 Beschriebene] anläßlich eines Gemeindegottesdienstes geschah, in dem die die Gruppe der Propheten und Lehrer ihre besondere Funktion hatte“ (114f.), d.h. auch er separiert die Gruppe der προφῆται καὶ διδάσκαλοι von der übrigen Gemeinde. 212 Vgl. hierzu G. Schneider, Apg II, 113: „Die Propheten sind offensichtlich generell mit den Lehrern identisch, das heißt: die V 1b Genannten sind im allgemeinen gleichzeitig Prophet und Lehrer“. 213 G. Schille, Apg, 281 spricht im Blick auf die Ausführungen in Apg 13,1–3 durchaus m.R. davon, dass hier „Antiochias Mitarbeiterstab ... ins Blickfeld getreten“ sei. Diese Aussage unterstützt die hier vorgelegte exklusive Interpretation des Begriffs διδάσκαλος Apg 13,1. Vgl. darüber hinaus auch G. Schneider, Apg II, 114f.: „Man hat sich wohl vorzustellen, daß dies [d.h. die in Apg 13,2 beschriebenen Ereignisse] anläßlich eines Gemeindegottesdienstes geschah, in dem die Gruppe der Propheten und Lehrer ihre besondere Funktion hatte“, schließlich A.F. Zimmermann, Lehrer, 135: „Damit ist einigermassen gesichert, dass die Bezeichnung der Fünf als Propheten und Lehrer ursprünglich, als man beide spezifischen Ämter noch kannte, zwei verschiedene Gemeindefunktionen bezeichnet haben“. 214 Vgl. hierzu nur H.-F. Weiß, Art. διδάσκω κτλ., in: EWNT2 I, 768, der in 1Kor 12,28f. den Begriff διδάσκαλος im Sinne der Bezeichnung des „urchristlichen Lehrerstandes“ verwendet sieht. Gleiches gilt nach Weiß im Blick auf Eph 4,11; Röm 12,7, 1Kor 14,6.26; Apg 13,1 und Jak 3,1. 215 Die Einschätzung von A.F. Zimmermann, Lehrer, 113, der zufolge sich ... „die [in 1Kor 12,28f. begegnende] Trias und ganz besonders der διδάσκαλος-Beleg 1Kor 12,28 als ‚ökumenisches‘ Zugeständnis des Paulus erwiesen [hat], [und sich damit] bestätig[e]., dass der Apostel an der Bezeichnung von Gemeindemitarbeitern als διδάσκαλοι kein eigentliches Interesse hat“, mag durchaus zutreffen (vgl. hierzu auch Lehrer, 114), tut dem in der vorliegenden Studie

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die letzten Endes auch in Röm 12,7b belegt ist: εἴτε ὁ διδάσκων ἐν τῇ διδασκαλίᾳ216. (c) Dies gilt in gleicher Weise auch für die weitgehend parallele Formulierung in Eph 4,11: καὶ αὐτὸς ἔδωκεν τοὺς μὲν ἀποστόλους, τοὺς δὲ προφήτας, τοὺς δὲ εὐαγγελιστάς, τοὺς δὲ ποιμένας καὶ διδασκάλους. Auch hier liegt ein exklusives Verständnis des διδάσκαλος-Begriffs im Sinne einer vor allen anderen Gemeindegliedern in besonderer Weise ausgezeichneten und mit besonderen Fähigkeiten ausgestatteten Gemeindegruppe offen zutage217. Im Gegensatz dazu möchte A.F. Zimmermann die Formulierung in Eph 4,11 nicht als Indiz für ein eigenständiges und in der Gegenwart der Abfassung des Eph – noch – wirkmächtiges διδάσκαλος-Amt verstehen218. Um seine These zu untermauern, führt er folgende Argumente an: (a) Zimmerman zufolge reflektiere Eph 4,11 den Gedanken eines kirchlichen Amtes oder einer kirchlichen Funktion nicht mehr, wie noch Röm 12 und 1 Kor 12, aus pneumatologischer, sondern aus christologischer bzw. ekklesiologischer Perspektive: „‚Die ekklesiologische Notwendigkeit des Amtes beginnt sich zu formieren‘“219, die Amtsträger und die von ihnen für ihren Dienst benötigten Fähigkeiten stellten „‚eine Institution Christi für die Kirche, die an dieser Vorgegebenheit nicht vorübergehen kann‘“220, dar. Diese von Zimmermann angestellten Erwägungen mögen durchaus zutreffen, beinhalten aber keinerlei Argument gegen die in der vorliegenden Studie vertretene These eines exklusiven Verständnisses des διδάσκαλοςBegriffs auch in Eph 4,11. (b) Die Ausführungen in Eph 4,11 stellten eine literarische Anknüpfung an 1Kor 12,28 dar, eine Annahme, die allerdings nicht dazu zu führen vermöchte, die gemeindliche Realität des in Eph 4,11 Ausgeführten bestreiten zu können. Mit dieser letzten Einlassung relativiert Zimmermann selbst den Wert dieses Arguments im Blick auf seine o.cit. These zur Realität des Amtes des διδάσκαλος innerhalb des Adressatenkreises des Eph.

skizzierten exklusiven Verständnis des διδάσκαλος-Begriffs allerdings keinen Abbruch. Immerhin gibt auch Zimmermann zu: „Erstaunlicherweise spricht Paulus nur an einer einzigen Stelle in den unbestrittenen authentischen Briefen von διδάσκαλοι als Inhabern eines christlichen Amtes [!]: 1Kor 12,28f.“. Zur ursprünglichen Verortung dieses ‚ökumenischen Zugeständnisses‘ in der Gemeinde von Antiochia vgl. Lehrer, 110f. 216 Bemerkenswert ist, dass A.F. Zimmermann, Lehrer, 92–113 diesen Beleg in seinen Darlegungen zum Begriff διδάσκαλος bei Paulus nicht berücksichtigt hat; zwar tritt dieser Begriff selbst hier nicht auf, die entsprechende Thematik wird allerdings sehr wohl berührt. Instruktiv hier O. Michel, Röm, 378: „Es folgen zwei weitere Glieder, die stilistisch enger miteinander verbunden sind, διδασκαλία und παράκλησις. Das Lehramt findet sich auch in 1Kor 12,29 nach Nennung der Apostel und Propheten und weist auf die Bewahrung der geschichtlichen und paränetischen Traditionen hin, die mit der Verkündigung verbunden sind. 217 Vgl. hierzu instruktiv etwa G. Sellin, Eph, 340f. 218 Vgl. hierzu Lehrer, 114–118. 219 Lehrer, 115, mit Verweis auf H. Merklein, Amt, 67. 220 Lehrer, 115, mit Verweis auf H. Merklein, Amt, 79.

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(c) Nach Eph 2,20; 3,5 erscheinen zwar die ἀπόστολοι und die προφήται, nicht jedoch die διδάσκαλοι als für die Existenz der Kirche konstitutive Größen221. Diesem Argument widerrät, dass die Gruppen der ἀπόστολοι und der προφήται, die nach Eph 2,20 den θεμέλιος der ecclesia darstellen, als in der Vergangenheit, nicht mehr jedoch zur Zeit der Gegenwart der Abfassung des Eph in Erscheinung tretende Amtsträger anzusehen sind222. Das aber heißt: Im Blick auf Eph 4,11 bleibt in jedem Falle folgende Annahme denkbar: Die ersten zwei der hier aufgeführten Amtsbezeichnungen beziehen sich auf Ämter, die in der Vergangenheit, in der Phase der Grundlegung der ecclesia, virulent gewesen sind, während die dritte und die vierte – werden die Termini ποιμένες und διδάσκαλοι auf zwei unterschiedliche Gruppen von Amtsträgern bezogen verstanden, dann auch noch eine fünfte223 – Amtsbezeichnung die in der Gegenwart und innerhalb der Gemeinschaft der Adressaten des Eph ausgeübten Ämter reflektieren. Darüber hinaus: Selbst dann, wenn die Gruppen der ἀπόστολοι und der προφήται als gegenwärtig wirkende Amtsträger zu interpretieren wären, wäre damit immer noch kein Argument gegen die Annahme, der Terminus διδάσκαλοι beziehe sich auf eine – wenn auch in Relation zu ersteren deutlich weniger grundlegende – Gruppe von Amtsträgern gewonnen. (d) Die Formulierung in Eph 4,11d subsumiere die διδάσκαλοι unter die Gruppe der ποιμένες224, was bedeute, dass der Verfasser des Eph mit ersteren „wenig anfangen zu können“225 scheint. Selbst dann, wenn dieses Urteil Zimmermanns zuträfe, führte immer noch kein Weg daran vorbei, die Gruppe der διδάσκαλοι als eine Gruppe von – wenn womöglich auch in den Augen des Verfassers des Eph weniger wichtigen und letztlich in die Gruppe der ποιμένες zu integrierenden – Amtsträgern zu begreifen. Fazit: Die Argumente von A.F. Zimmermann reichen keinesfalls zu, den in Eph 4,11d begegnenden Begriff διδάσκαλος nicht im Sinne einer Amtsbezeichnung zu interpretieren, selbst dann nicht, wenn die Bedeutung der solchermaßen Bezeichneten für die gegenwärtige Existenz der ecclesia deutlich geringer sein sollte als diejenige der ἀπόστολοι und der προφήται226.

Vgl. hierzu Lehrer, 116: „Es ist also wohl kaum zuviel gesagt, wenn man aus diesen Stellen schliesst, die Apostel und Propheten (keineswegs aber die διδάσκαλοι) seien für die Ekklesiologie des Eph geradezu konstitutiv“. 222 Vgl. hierzu etwa A.T. Lincoln, Eph, 153, der im Blick auf die Eph 2,20 inhärente Perspektive feststellt: „..., it is more likely that it represents the perspective of a follower looking back at the first generation of recipients of revelation“. 223 Vgl. zu dieser Diskussion A.F. Zimmermann, Lehrer, 116, A. 10. 224 Vgl. hierzu Lehrer, 116: „Zudem nimmt die Formulierung Eph 4,11 den διδάσκαλοι jede Selbständigkeit. Nicht nur werden sie durch καί mit den Hirten zu einer aus zwei Kreisen bestehenden Gruppe zusammengezogen, sondern sogar unter die Hirten subsumiert, wie das Fehlen des eigenen Artikels zeigt“. 225 Lehrer, 116. 226 Anders hier A.F. Zimmermann, Lehrer, 117: „... der Schluß ist unausweichlich: Eph 4,11 bezeugt, dass man über Funktion und Stellung der διδάσκαλοι zur Zeit des Εpheserbriefes ratlos geworden ist. Als eigenes charakteristisches Amt kommen die διδάσκαλοι offensichtlich nicht mehr in Betracht“. Wenn dem so wäre, bleibt zu fragen, warum der Verfasser des Eph diese Bezeichnung überhaupt aufgegriffen habe. Der Hinweis auf 1Kor 12,28 als der traditionsgeschichtlichen Wurzel dieses Begriffs (vgl. hierzu etwa Lehrer, 117) vermag diese Frage beileibe nicht zureichend zu beantworten. 221

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(d) Den Ausführungen in 2Tim 4,3f. zufolge steht zumindest zu befürchten, dass sich diejenigen, die dem vermeintlichen Adressaten dieses Briefes, dem Paulusmitarbeiter Timotheus, anbefohlen sind und denen er zu predigen hat, sich von der ihnen verkündigten ὑγιαινούση διδασκαλία ab- und anderen Lehrern zuwenden werden, die ihnen eine von dieser zu unterscheidende, letztlich in die Irre führende διδασκαλία offerieren: ἔσται γὰρ καιρὸς ὅτε τῆς ὑγιαινούσης διδασκαλίας οὐκ ἀνέξονται ἀλλὰ κατὰ τὰς ἰδίας ἐπιθυμίας ἑαυτοῖς ἐπισωρεύσουσιν διδασκάλους κνηθόμενοι τὴν ἀκοὴν (4) καὶ ἀπὸ μὲν τῆς ἀληθείας τὴν ἀκοὴν ἀποστρέψουσιν, ἐπὶ δὲ τοὺς μύθους ἐκτραπήσονται227. Deutlich werden auch in dieser Darstellung die hier in Rede stehenden διδάσκαλοι von den übrigen Gemeindegliedern geschieden und als gegenüber jenen deutlich herausgehobene Gruppe definiert. (e) In Jak 3,1a ruft der Verfasser des Jak seine Rezipienten dazu auf, dass in deren Kreis oder Umfeld die Anzahl der διδάσκαλοι beschränkt bleiben solle: μὴ πολλοὶ διδάσκαλοι γίνεσθε, ἀδελφοί μου, ein Hinweis, der mit Notwendigkeit ein exklusives Verständnis des διδάσκαλος-Begriffs im Sinne der Bezeichnung des „Lehrerberuf[es]“228, den innezuhaben den entsprechenden Inhaber von den übrigen Gemeindegliedern offensichtlich unterscheidet, erfordert229. (f) In 1Tim 1,7 kritisiert der Verfasser dieses Briefes falsche Gesetzeslehrer, νομοδιδάσκαλοι, die s.E. unfähig sind, die von ihnen beanspruchte Profession in rechter Weise auszuüben: ὧν τινες ἀστοχήσαντες ἐξετράπησαν εἰς ματαιολογίαν (7) θέλοντες εἶναι νομοδιδάσκαλοι, μὴ νοοῦντες μήτε ἃ λέγουσιν μήτε περὶ τίνων διαβεβαιοῦνται (1Tim 1,6f.). Mit diesem Begriff spielt jener auf in seinem Einzugsbereich auftretende, besonders herausgehobene Lehrergestalten an, die sich – aus seiner Sicht unangemessen – eine besondere Kompetenz in Sachen der Explikation des νόμος zugebilligt haben230.

Vgl. zu diesen Versen und ihrem argumentationslogischen Impetus etwa L. Oberlinner, 2Tim, 156f. 228 G. Hollmann/W. Bousset, Jak, 237; beide formulieren in diesem Zusammenhang: „Man drängte sich zum Beruf eines christlichen Lehrers. Es scheint eine besondere Wertschätzung der Erkenntnis und damit des Berufes, der sich vermittelt, um sich gegriffen zu haben“ (237). 229 Vgl. zu diesem Gesichtspunkt etwa A.F. Zimmermann, Lehrer, 206; Zimmermann fragt hier: „Warum hat der Verfasser [des Jak] ein so gebrochenes Verhältnis zum Stand der Lehrer [!], dem er doch selbst angehört“? Damit benennt Zimmermann die Ausführungen in Jak 3,1 explizit als einen Beleg für ein exklusives Verständnis der Terminus διδάσκαλος in den Schriften des Urchristentums. 230 Vgl. zu diesem Begriff J. Roloff, 1Tim, 71: „Das Wort νομοδιδάσκαλος ist eine sonst im NT nur noch bei Lukas vorkommende christliche Sonderbildung; mit ihm werden Vertreter eines typisch jüdischen Lehrens bezeichnet, das sich vom christlichen διδάσκειν unterscheidet“. 227

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(g) Auch die Ausführungen in Did 13,1f. legen ein solches exklusives Verständnis des Terminus διδάσκαλος nahe; Lehrer und Propheten, sämtlich offensichtlich Inhaber von zur Zeit der Abfassung von Did231 noch aktuellen Ämtern232, heben sich in der Darstellung deutlich von der Menge der Gläubigen einer christlichen Gemeinde oder Gemeinschaft ab und stellen jeweils besondere Berufsgruppen dar: πᾶς δὲ προφήτης ἀληθινὸς θέλων καθῆσθαι πρὸς ὑμᾶς ἄξιός ἐστι τῆς τροφῆς αὐτοῦ (2) ὡσαύτως διδάσκαλος ἀληθινός ἐστιν ἄξιος καὶ αὐτὸς ὥσπερ ὁ ἐργάτης τῆς τροφῆς αὐτοῦ233. Noch deutlicher zeigt sich ein solches exklusives Verständnis des Begriffs διδάσκαλος in Did 11,2: ἐὰν δὲ αὐτὸς ὁ διδάσκων στραφεὶς διδάσκῃ ἄλλην διδαχὴν εἰς τὸ καταλῦσαι μὴ αὐτοῦ ἀκούσητε εἰς δὲ τὸ προςθεῖναι δικαιοσύνην καὶ γνῶσιν κυρίου δέξασθε αὐτὸν ὡς κύριον234. (h) Ebenfalls deutlich wird ein solch exklusives Verständnis des διδάσκαλοςBegriffs in Barn 1,8: Ἐγὼ δέ οὐχ ὡς διδάσκαλος ἀλλ᾽ ὡς εἷς ἐξ ὑμῶν ὑποδείξω ὀλίγα δι᾽ ὧν ἐν τοῖς παροῦσιν εὐφρανθήσεσθε235. Der Verfasser des Barn möchte seinen Adressaten gerade nicht als ein sich von diesen deutlich abhebender und ihnen gegenüberstehender διδάσκαλος auftreten, sondern als εἷς ἐξ ὑμῶν, als jemand, der sich mit jenen auf die gleiche Stufe stellt236. (i) Auch die Ausführungen in Herm mand. IV 3,1 lassen die Existenz eines exklusiv zu verstehenden Lehrerstandes erkennen: Ἔτι φημί κύριε προσθήσω J.A. Draper, Apostolische Väter, 119–21 datiert die Abfassung von Did an das Ende des ersten nachchristlichen Jahrhunderts, als Abfassungsort votiert er – vorsichtig – für Syrien (vgl. 21). 232 Vgl. hierzu etwa A.F. Zimmermann, Lehrer, 142: „Trotzdem ist nicht zu verkennen, dass die Gemeinden der Didache noch ein von demjenigen der Propheten und Apostel unterschiedenes Amt von διδάσκαλοι kennen (13,2), das denn auch in 15,2 neben demjenigen der Propheten als speziell erwähnenswert erscheint. ... Da sie in stärkerem Masse als die Propheten ansässig gewesen sein müssen, werden sie wohl das Zwischenglied zwischen den charismatischen triadischen Aemtern und den Episkopen/Diakonen (15,1) gebildet haben. Die ganze Did kann gewiss als Produkt eines solchen διδάσκαλος gelten“. Noch deutlicher hier K. Niederwimmer, Did, 229: „Auch für den Lehrer gilt (in gleicher Weise wie für den Prophet), daß er ‚seiner Nahrung wert ist‘, d.h., daß die Gemeinde zur Sorge für seinen Lebensunterhalt verpflichtet ist“; vgl. darüber hinaus auch 230. 233 „Jeder wahrhaftige Prophet aber, der sich bei euch niederlassen will, ist seiner Nahrung wert. (2) Ebenso ein wahrer Lehrer: Auch der ist, wie der Arbeiter, seiner Nahrung wert“; Text und Übersetzung nach A. Lindemann/H. Paulsen, Apostolische Väter, 16f. 234 „Wenn aber der Lehrende selbst sich abwendet und eine andere Lehre lehrt, um (die rechte Lehre) aufzulösen, so hört nicht auf ihn; (lehrt er) hingegen, um zu vermehren Gerechtigkeit und Erkenntnis des Herrn, so nehmt ihn auf wie den Herrn“; Text und Übersetzung nach A. Lindemann/H. Paulsen, Apostolische Väter, 14f. 235 „Doch will ich nicht als Lehrer, sondern als einer von euch einiges aufzeigen, woran ihr unter den gegenwärtigen Verhältnissen Freude haben werdet“; Text und Übersetzung nach A. Lindemann/H. Paulsen, Apostolische Väter, 28f. 236 Vgl. hierzu F.R. Prostmeier, Barn, 160: „Die Geste macht also deutlich, daß die in 1,1–7 entworfene, spezifische und bindende Autorität des V[er]f[assers]. und damit auch seines Werkes eine Funktion jener Autorität ist, die die Sache aus sich selbst beansprucht“, und eben nicht eine Funktion einer Autorität, die aus dem Amt des διδάσκαλος resultiert. 231

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τοῦ ἐπερωτῆσαι Λέγε φησίν Ἤκουσα φημί κύριε παρά τινων διδασκάλων ὅτι ἑτέρα μετάνοια οὐκ ἔστιν εἰ μὴ ἐκείνη ὅτε εἰς ὕδωρ κατέβημεν καὶ ἐλάβομεν ἄφεσιν ἁμαρτιῶν ἡμῶν τῶν προτέρων237. (j) Ergänzend zu diesen Belegen für das herausgehobene ur- und frühchristliche Lehramt bzw. die ur- und frühchristliche herausgehobene Lehrerfunktion sei noch auf Joh 3,10 verwiesen; hier vermag der johanneische Jesus seinen Gesprächspartner Nikodemus als einen διδάσκαλος τοῦ Ἰσραὴλ zu bezeichnen: ἀπεκρίθη Ἰησοῦς καὶ εἶπεν αὐτῷ· σὺ εἶ ὁ διδάσκαλος τοῦ Ἰσραὴλ καὶ ταῦτα οὐ γινώσκεις? Im Kontext der Gesamtdarstellung wird klar ersichtlich, dass diese Bezeichnung die Person des Nikodemus aus der Judenschaft in ihrer Gesamtheit heraushebt und ihm eine exponierte Funktion im Gegenüber zu jener zuweist238. A.F. Zimmermann entwickelt in seiner Studie zu den urchristlichen Lehrern die These, „dass sich in der Urgemeinde bald nach Jesu Tod und Auferstehung ein judaistisch-pharisäischer Kreis von διδάσκαλοι gebildet hat, dass dessen Superioritätsansprüche aber bald einmal zurückgewiesen worden sind, da sie sich mit dem ausschließlich christokratischen Verständnis der Urgemeinde nicht vertrugen“239, eine Sicht, die sich in Sonderheit mit dem Hinweis auf „die explizite und implizite Wirkungsgeschichte der Gemeinderegel Mt 23,8f“240 fundamentieren ließe. Inwieweit diese im Einzelnen auf durchaus kontrovers zu diskutierende exegetische Erwägungen sich stützende These haltbar ist, kann im Rahmen der vorliegenden Studie nicht diskutiert werden. Für den hier vorliegenden Zusammenhang reicht die Feststellung zu, dass dieselbe der in der vorliegenden Studie vertretene Hypothese, dass der διδάσκαλος-Begriff im Urchristentum nicht inklusiv, sondern exklusiv, also auf eine bestimmte abgrenzbare Gemeindegruppe bezogen zu verstehen ist, nicht nur nicht widerrät, sondern jene letztlich sogar zu stützen vermag.

Fazit: Selbst eine nur oberflächliche Durchmusterung der entsprechenden in Frage kommenden neutestamentlichen und frühchristlichen Belegstellen lässt klar erkennen, dass der Terminus διδάσκαλος in der ur- und frühchristlichen Literatur in der Regel exklusiv verwendet wird, also eine besonders hervorgehobene (Berufs-)Gruppe oder aber besonders hervorgehobene Personen bezeichnet, die von der Menge der übrigen, nurmehr ‚gewöhnlichen‘ Gemeindeglieder zu unterscheiden sind. Zumal angesichts des Sachverhalts, dass der Terminus διδάσκαλος in Hebr 5,12a nicht mit einem vergleichenden und damit zugleich einschränkenden ὡς241 verwendet wird, indiziert dies, übertragen auf die Aus-

237 ‚Herr‘, sagte ich, ‚noch etwas anderes möchte ich dich fragen.‘ ‚Sprich‘, antwortete er. Ich sagte: ‚Herr, ich habe von einigen Lehrern gehört, daß es keine Buße gebe als jene von damals, da wir ins Wasser hinabstiegen und Vergebung unserer früheren Sünden empfingen‘; Text und Übersetzung nach A. Lindemann/H. Paulsen, Apostolische Väter, 384–387. 238 Vgl. zum Gesamtzusammenhang etwa J. Zumstein, Joh, 141. 239 Lehrer, 218f. 240 Lehrer, 219. 241 Vgl. hierzu F. Blaß/A. Debrunner/F. Rehkopf, Grammatik, § 453, 353f.; hier werden komparative Konjunktionen diskutiert.

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führungen in Hebr 5,12a, dass hier eben nicht cum grano salis und inklusiv, letztlich also metonymisch, von ‚gedachten‘ oder aber potentiellen und imaginierten Lehrern die Rede ist, sondern dass der auctor ad Hebraeos an dieser Stelle an eine besondere ur- und frühchristliche (Berufs-)Gruppe, eben diejenige der – sich von den übrigen und ‚gewöhnlichen‘ Gemeinde- oder Gemeinschaftsgliedern deutlich abhebenden – διδάσκαλοι, denkt242. Daraus nun wiederum folgt, dass sich der in der Einlassung Hebr 5,12a mitschwingende Vorwurf, dass die Adressaten des Hebr, obwohl sie es der Zeit nach bereits hätten müssen, eben noch nicht den Status von διδάσκαλοι erklommen haben, nicht als eine an eine ganze, in jedem Falle als ein intellektuelles corpus permixtum zu fassende ‚gewöhnliche‘ Gemeinde oder Gemeinschaft gerichtete Invektive begreifen lässt. Niemand nämlich hätte einer ‚gewöhnlichen‘ Gemeinde oder Gemeinschaft, deren einzelne Glieder sich intellektuell sicherlich auf unterschiedlichen Ebenen bewegen, ernsthaft den Vorwurf machen können, dass sich noch nicht alle ihre Glieder die exklusive Position eines ur- oder frühchristlichen διδάσκαλος erarbeitet haben, da diese Position innerhalb einer Gemeinde oder Gemeinschaft eben immer nur einzelnen und besonders begabten – oder sich für besonders begabt haltenden – Personen vorbehalten gewesen ist. Dieser Schlussfolgerung entginge nur: (a) Entweder derjenige, der den διδάσκαλος-Begriff Hebr 5,12a, wie in der gegenwärtigen Forschung weitestgehend vertreten243, eben cum grano salis und metonymisch interpretierte, eine Möglichkeit, der aufgrund der o. diskutierten Belege schon aus rezeptionsästhetischen Gründen – eine solche Interpretation des Terminus διδάσκαλος legte sich aufgrund der ur- und frühchristlichen Verwendung desselben für ebensolche Rezipienten eben gerade nicht nahe – kaum Wahrscheinlichkeit zuzukommen scheint. (b) Oder aber derjenige, der die Ausführungen in Hebr 5,12a hyperbolisch interpretierte, eine Deutungsmöglichkeit, die aber durch die Definition der Hyperbel, so wie sie etwa M. Fabius Quintilianus bietet244, letzten Endes ausgeschlossen scheinen will, da Quintilianus zufolge innerhalb einer hyperbolischen Darstellung der Übertreibung durchaus Grenzen gesetzt sind. Eine solche Grenze überträte der auctor ad Hebraeos allerdings, wenn er gegenüber einer ‚gewöhnlichen‘ Gemeinde oder Gemeinschaft die Anschuldigung erhöbe, dass ihre Glieder noch nicht in Gänze den Status von διδάσκαλοι erlangt hätten.

Vgl. zu dieser Argumentation im Grundsatz bereits D. Bornhäuser, Empfänger und Verfasser, 16f. In diesem Sinne auch A. Snell, Way, 83f.: „If it is right, the word ‚teachers‘ may be used of a definite office in the Church, as it is at Acts 13;1, ICor. 12:28, Eph. 4:11, James 3:1, and perhaps 2Tim. 4:3“. W.L. Lane, Hebr I, 137 geht durchaus in dieselbe Richtung, wenn er unter Verweis auf C. Spiq davon spricht, dass der Begriff διδάσκαλος in Hebr 5,12a „refers specially to an ability to communicate the faith to others“. 243 Vgl. hierzu o. 74, A. 43. 244 Zur Definition der Hyperbel nach M. Fabius Quintilianus vgl.u. 160f. 242

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(c) Schließlich derjenige, der annähme, die Adressatengemeinde des Hebr setze sich vollständig aus intellektuell Hoch- und Höchstbegabten zusammen245, eine Annahme, die zumindest im Prinzip in der wissenschaftlichen Forschung durchaus häufig vertreten wird246, die aber nur dann, wenn des näheren postuliert würde, bei dieser Gemeinde handele es sich um eine kleine und – womöglich innerhalb des römischen Gemeindeverbandes zu verortende – intellektuell eher exklusive und aus der Gesamtheit der römischen Christen im Blick auf ihre geistigen und auch geistlichen Fähigkeiten sich deutlich heraushebende Hauskirche, für sich Plausibilität beanspruchen kann. Neben anderen versucht etwa H.W. Attridge die von ihm präferierte allgemeine, letzten Endes topische Deutung des in Hebr 5,12a begegnenden Begriffs διδάσκαλος mit dem Hinweis zu untermauern, dass dieser Terminus in der antiken Literatur häufig im Sinne eines solchen „commonplace247“ verwendet werde. Als Belege verweist Attridge dabei auf Xenophonos, cyr. III 3,35; Platonos, symp. 189D; Philostratos, vit. Ap. I 17, L. Annaeus Seneca, ep. [IV] 33,9 und auf Epiktetos, ench. 51,1248. Im folgenden seien diese Belege im Blick auf die Frage überprüft, inwiefern sie ein Verständnis des διδάσκαλος-Begriffs cum grano salis tatsächlich zu befördern vermögen: (a) In cyr. III 3,34.35 wird folgende an die persischen ὁμότιμοι gerichtete Ansprache des Kyros überliefert: τῇ δ’ ὑστεραίᾳ πρῲ Κῦρος μὲν ἐστεφανωμένος ἔθυε, παρήγγειλε δὲ καὶ τοῖς ἄλλοις ὁμοτίμοις ἐστεφανωμένοις πρὸς τὰ ἱερὰ παρεῖναι. ἐπεὶ δὲ τέλος εἶχεν ἡ θυσία, συγκαλέσας αὐτοὺς ἔλεξεν·ἄνδρες, οἱ μὲν θεοί, ὡς οἵ τε μάντεις φασὶ καὶ ἐμοὶ συνδοκεῖ, μάχην τ’ἔσεσθαι προαγγέλλουσι καὶ νίκην διδόασι καὶ σωτηρίαν ὑπισχνοῦνται ἐν τοῖς ἱεροῖς. (35) ἐγὼ δὲ ὑμῖν μὲν παραινῶν ποίους τινὰς χρὴ εἶναι ἐν τῷ τοιῷδε κἂν αἰσχυνοίμην ἄν· οἶδα γὰρ ὑμᾶς ταῦτα ἐπισταμένους καὶ μεμελετηκότας καὶ ἀσκοῦντας διὰ τέλους οἷάπερ ἐγώ, ὥστε κἂν ἄλλους εἰκότως ἂν διδάσκοιτε. τάδε δὲ εἰ μὴ τυγχάνετε κατανενοηκότες, (36) ἀκούσατε· ...249. Dieser Beleg vermag die Annahme, der διδάσκαλος-Begriff in Hebr 5,12a sei in allgemeinem bzw. topischem Sinne zu interpretieren, letzten Endes kaum zu untermauern, und zwar aus folgenden Gründen: (1) Xenophononos verwendet in cyr. III 3,35 nicht das Substantiv διδάσκαλος, sondern das Verb διδάσκειν, dessen semantischer Gehalt einer allgemeinen bzw. topischen Interpretation weitaus leichter zugänglich ist als das dazugehörige Substantiv, das immer – zumindest auch – den Gedanken eines besonderen Lehram-

Vgl. hierzu ausführlich u. Vgl. hierzu bereits o. 36f. 247 Hebr, 158, A. 40. 248 Vgl. zu diesen Belegen Hebr, 158, A. 40.42. 249 „Am nächsten Tag setzte sich Kyros in aller Frühe einen Kranz auf und führte ein Opfer durch. Er forderte auch die Homotimen auf, mit Kränzen auf dem Kopf zu den Opferhandlungen zu erscheinen. Als das Opfer beendet war, rief er sie zusammen und sprach zu ihnen: ‚Männer, die Wahrsager behaupten, und auch ich bin davon überzeugt, daß uns die Götter einen baldigen Kampf ankündigen, den Sieg schenken und Glück verheißen. Das zeigen die Opfer. (35) Ich würde mich aber schämen, euch zu raten, wie ihr euch in einer solchen Lage verhalten solltet. Denn ich bin mir sicher, daß ihr es wißt, darin geübt seid, es gehört habt und ununterbrochen hört, wie ich selbst, so daß ihr es selbstverständlich auch anderen mitteilen könntet. Doch wenn ihr folgendes noch nicht bedacht haben solltet, dann hört mir bitte zu: …‘“ ; Text und Übersetzung nach R. Nickel, Kyrupaedie, 220f. 245 246

Hebr 5,11–14

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tes beinhalten kann. (2) Auch den hier von Kyros angesprochenen ὁμότιμοι wird aufgrund ihrer Erfahrungen in der Vergangenheit eine die offensichtlich anstehende Schlacht betreffende besondere Qualifikation zugebilligt, die den ἄλλους, ohne dass hier gesagt würde, wer mit jenen gemeint sei, augenscheinlich nicht zukommt. Das aber heißt: Auch in cyr. III 3,35 kommt – auch – dem Verb διδάσκειν eine trennende bzw. separierende Konnotation zu; mit dessen Hilfe unterscheidet Xenophonos die ὁμότιμοι als die in der Kunst der Führung einer Schlacht und eines Krieges Qualifizierten von denjenigen, die in derselben weniger oder gar nicht qualifiziert sind. (3) In cyr. III 3,35 wird das Verb διδάσκειν nicht in einem bildungstheoretischen Diskurs verwendet, was bedeutet, dass dieser Beleg schon aus methodischen Gründen nicht zugunsten der Annahme, der in Hebr 5,12a begegnende Terminus διδάσκαλος stelle einen bildungstheoretischen ‚commonplace‘ dar, angeführt werden kann. (b) Im Rahmen des platonischen συμπόσιον führt Aristophanes über die Macht des Ἔρως folgendes aus: ἐμοὶ γὰρ δοκοῦσιν ἅνθρωποι παντάπασι τὴν τοῦ ἔρωτος δύναμιν οὐκ ᾐσθῆσθαι, ἐπεὶ αἰσθανόμενοί γε μέγιστ’ ἂν αὐτοῦ ἱερὰ κατασκευάσαι καὶ βωμούς, καὶ θυσίας ἂν ποιεῖν μεγίστας, οὐχ ὥσπερ νῦν τούτων οὐδὲν γίγνεται περὶ αὐτόν, δέον πάντων μάλιστα γίγνεσθαι. ἔστι γὰρ θεῶν φιλαν (D) θρωπότατος, ἐπίκουρός τε ὢν τῶν ἀνθρώπων καὶ ἰατρὸς τούτων ὧν ἰαθέντων μεγίστη εὐδαιμονία ἂν τῷ ἀνθρωπείῳ γένει εἴη. ἐγὼ οὖν πειράσομαι ὑμῖν εἰσηγήσασθαι τὴν δύναμιν αὐτοῦ, ὑμεῖς δὲ τῶν ἄλλων διδάσκαλοι ἔσεσθε. δεῖ δὲ πρῶτον ὑμᾶς μαθεῖν τὴν ἀνθρωπίνην φύσιν καὶ τὰ παθήματα αὐτῆς250. Die Bemerkung des Aristophanes, dass die übrigen Teilnehmer dieses Gastmahles andere über die Macht des Ἔρως belehren mögen, nachdem sie von ihm belehrt worden sind, impliziert unmittelbar den Gedanken, dass die solchermaßen Angeredeten als solchermaßen Belehrte eine bzw. ihre Lehrfunktion dann auch ausüben können bzw. werden. Die übrigen Teilnehmer des Symposions werden zu ἄλλων διδάσκαλοι, d.h., sie üben als von den ἄλλοι aufgrund ihrer erworbenen Kompetenzen zu Unterscheidende und zu Separierende zwar womöglich kein institutionalisiertes Lehramt, sehr wohl allerdings die Funktion eines Lehrenden aus. Übertragen auf Hebr 5,12a hieße dies: Die Adressaten des Hebr werden vom Verfasser dieser Epistel belehrt, eben um ihr Wissen dann an andere weiterzugeben, um διδάσκαλοι zu werden, wenn nun womöglich auch nicht gemäß ihres Amtes, so aber doch gemäß ihrer Funktion. Das aber heißt: Symp. 189D stellt gerade nicht einen Beleg zugunsten einer allgemeinen oder topischen Interpretation des διδάσκαλος-Begriffes dar – dergestalt, dass der Verfasser des Hebr etwa hätte sagen wollen: „Ihr müsstet eigentlich schon ein Wissen haben, über das eigentlich sonst nur Lehrer verfügen“ –, sondern vermag im Gegenteil die Annahme zu stützen, dass die als potentielle διδάσκαλοι angesprochenen Adressaten des Hebr in der Zukunft wenn schon nicht ein institutionalisiertes Lehramt ausüben, so aber doch in der – gemeindlichen – Lehre und Ausbildung tätig sind bzw. sein werden.

189C.D; „Denn mir scheinen die Menschen durchaus der wahren Kraft des Eros nicht innegeworden zu sein. Denn wären sie es, so würden sie ihm die herrlichsten Heiligtümer und Altäre errichten und die größten Opfer bereiten, [D] und es wäre nicht wie jetzt gar nichts dergleichen für ihn geschehen, dem es doch ganz vorzüglich geschehen sollte. Denn er ist der menschenfreundlichste unter den Göttern, da er der Menschen Beistand und Arzt ist in demjenigen, aus dessen Heilung die größte Glückseligkeit für das menschliche Geschlecht erwachsen würde. Ich also will versuchen, euch seine Kraft zu erklären, und ihr sollt dann die Lehrer der übrigen sein. Zuerst aber müßt ihr die menschliche Natur und deren Begegnisse recht kennenlernen“; Text und Übersetzung nach G. Eigler, Platon III, 266f. 250

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Die Analyse von Hebr 5,11–6,12 (c) Über die Sprach- und Sprechgewohnheiten des Apollonios von Tyana führt Philostratos u.a. folgendes aus: λόγων δὲ ἰδέαν ἐπήσκησεν οὐ διθυραμβώδη καὶ φλεγμαίνουσαν ποιητικοῖς ὀνόμασιν, οὐδ’ αὖ κατεγλωττισμένην καὶ ὑπεραττικίζουσαν, ἀηδὲς γὰρ τὸ ὑπὲρ τὴν μετρίαν Ἀτθίδα ἡγεῖτο, οὐδὲ λεπτολογίᾳ ἐδίδου, οὐδὲ διῆγε τοὺς λόγους, οὐδὲ εἰρωνευομένου τις ἤκουσεν ἢ περιπατοῦντος ἐς τοὺς ἀκροωμένους, ἀλλ’ ὥσπερ ἐκ τρίποδος ὅτε διαλέγοιτο „οἶδα“ ἔλεγε καὶ „δοκεῖ μοι“ καὶ „ποῖ φέρεσθε;“ καὶ „χρὴ εἰδέναι.“ καὶ αἱ δόξαι βραχεῖαι καὶ ἀδαμάντινοι κύριά τε ὀνόματα καὶ προσπεφυκότα τοῖς πράγμασι, καὶ τὰ λεγόμενα ἠχὼ εἶχεν, ὥσπερ ἀπὸ σκήπτρου θεμιστευόμενα. ἐρομένου δὲ αὐτὸν τῶν στενολεσχούντων τινός, ὅτου ἕνεκα οὐ ζητοίη, „ὅτι“ ἔφη „μειράκιον ὢν ἐζήτησα, νῦν δὲ οὐ χρὴ ζητεῖν, ἀλλὰ διδάσκειν ἃ εὕρηκα.“ „πῶς οὖν, Ἀπολλώνιε, διαλέξεται ὁ σοφός;“ πάλιν ἐπερομένου αὐτὸν „ὡς νομοθέτης,“ ἔφη „δεῖ γὰρ τὸν νομοθέτην, ἃ πέπεικεν ἑαυτόν, ταῦτα ἐπιτάγματα ἐς τοὺς πολλοὺς ποιεῖσθαι.“ ὧδε αὐτῷ τὰ ἐν Ἀντιοχείᾳ ἐσπουδάζετο καὶ ἐπέστρεφεν ἐς ἑαυτὸν ἀνθρώπους ἀμουσοτάτους251. Ebenso wenig wie die Belege aus den Werken des Xenophonos und des Platonos vermag auch der Beleg vit. Ap. I 17 die u.a. von H.W. Attridge vertretene These, der διδάσκαλος-Begriff in Hebr 5,12a sei in allgemeinem oder in topischem Sinne zu interpretieren, zu untermauern. Außer Frage nämlich steht, dass Philostratos mit seinen Ausführungen an dieser Stelle auf eine tatsächliche Lehrtätigkeit des Apollonios von Tyana abheben möchte. In Hinsicht auf die Ausführungen in Hebr 5,12a folgte daraus, dass die dort Angeredeten als möglicherweise potentielle und zukünftige, in jedem Falle jedoch als Lehrer angesprochen würde, also solche also, von denen der Verfasser des Hebr annehmen musste, dass sie in Zukunft wenn nicht ein institutionalisiertes Lehramt ausüben, so doch in einer wie auch immer näher zu definierenden Lehrfunktion tätig werden. Somit vermögen die Ausführungen in vit. Ap. I 17 die Annahme, der Terminus διδάσκαλος rekurriere lediglich allgemein auf den einem διδάσκαλος entsprechenden oder entsprechen sollenden Wissensstand der Adressaten, die ansonsten als eine hauskirchlich organisierte Gemeinde vorzustellen wären, nicht nur nicht zu befördern, sondern sie verunmöglichen sie geradezu. (d) In dieser Passage seines 33. Briefes an Lucilius fordert L. Annaeus Seneca jenen auf, den Status eines Lernenden aufzugeben und stattdessen unmittelbar in die Position eines Lehrenden zu wechseln, letztlich also ein Lehrer zu werden: ‚Hoc dixit Zenon, hoc Cleanthes.‘ Aliquid inter te intersit et librum. Quousque disces? iam et praecipe.

I 17; „Der literarische Stil, den er pflegte, war weder dithyrambisch oder angeschwollen von poetischen Ausdrücken noch weither gesucht und übertrieben attisch. Alles, was über einen maßvollen Attizismus hinausging, hielt er für peinlich. Er gab sich nicht mit spitzfindigen Problemen ab und zog die Rede nicht in die Länge. Niemand hörte ihn je in einem ironischen Ton reden oder mit den Zuhörern methodisch argumentieren. Bei wissenschaftlichen Gesprächen pflegte er vielmehr wie vom Dreifuß herab zu sagen: ‚Ich weiß!‘ oder ‚Es scheint mir!‘ oder ‚Wohin geratet ihr?‘ und ‚Man muß wissen!‘. Seine Meinungen waren kurz und unerschütterlich gefaßt, seine Ausdrücke wirkungsvoll und gleichsam mit den Dingen verwachsen. Was er sagte, hatte einen Nachhall wie ein vom Thron herab gesprochenes Recht. Als ihn irgendein Wortklauber fragte, warum er nicht forsche, antwortete er: ‚Weil ich als Knabe geforscht habe und nun nicht mehr forschen muß, sondern nur noch lehren, was ich herausgefunden habe.‘ ‚Wie wird sich denn der Weise, mein Apollonios, wissenschaftlich unterhalten‘, fragte jener weiter. ‚Wie ein Gesetzgeber,‘ erwiderte Apollonios, ‚denn der Gesetzgeber muß das, wovon er sich selbst überzeugt hat, zu Geboten für die Menge machen.‘ Auf solche Weise beschäftigte er sich in Antiochia und machte die höchst ungebildeten Einwohner auf sich aufmerksam“; Text und Übersetzung nach V. Mumprecht, Philostratos, 52–55. 251

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Quid est quare audiam quod legere possum? ‚Multum' inquit 'viva vox facit.‘ Non quidem haec quae alienis verbis commodatur et actuari vice fungitur252. Der von H.W. Attridge zugunsten seiner These zur Interpretation des διδάσκαλος-Begriffs aus Hebr 5,12a angeführte Beleg aus den epistulae des L. Annaeus Seneca vermag, da es ihm schon aus methodischen Gründen an der entsprechenden argumentativen Beweiskraft mangelt – immerhin nämlich begegnen hier in ep. [IV] 33,9 weder das Substantiv magister oder ein anderes, dem griechischen Begriff διδάσκαλος möglicherweise entsprechendes Lexem noch ein äquivalentes Verb –, diese ihm von Attridge zugedachte Aufgabe kaum zu leisten. Darüber hinaus – und dem natürlich entsprechend – wird aus dieser Passage nicht ersichtlich, dass L. Annaeus Seneca hier etwa das Substantiv magister in einem allgemeinen oder topischen Sinne verwendet hätte. (e) Das gleiche interpretatorische Ergebnis zeitigt auch die Analyse der Ausführungen des Epiktetos in ench. 51,1: Εἰς ποῖον ἔτι χρόνον ἀναβάλλῃ τὸ τῶν βελτίστων ἀξιοῦν σεαυτὸν καὶ ἐν μηδενὶ παραβαίνειν τὸν αἱροῦντα λόγον; παρείληφας τὰ θεωρήματα· οἷς ἔδει συμβάλλειν συμβέβληκας. ποῖον ἔτι διδάσκαλον προσδοκᾷς, ἵνα εἰς ἐκεῖνον ὑπερθῇ τὴν ἐπανόρθωσιν ποιῆσαι τὴν σεαυτοῦ; οὐκέτι εἶ μειράκιον, ἀλλ’ ἀνὴρ ἤδη τέλειος. ἂν νῦν ἀμελήσῃς καὶ ῥᾳθυμήσῃς καὶ ἀεὶ ὑπερθέσεις ἐξ ὑπερθέσεων ποιῇ καὶ ἡμέρας ἄλλας ἐπ’ ἄλλαις ὁρίζῃς μεθ’ ἃς προσέξεις σεαυτῷ, λήσεις σεαυτὸν οὐ προκόψας, ἀλλ’ ἰδιώτης διατελέσεις (2) καὶ ζῶν καὶ ἀποθνῄσκων253. Auch in ench. 51,1 beschreibt der Terminus διδάσκαλος eine Person, die tatsächlich lehrt bzw. tatsächlich lehren soll. Damit können auch diese Ausführungen des Epiktetos die These, in Hebr 5,12a werden die Adressaten des Hebr lediglich allgemein bzw. topisch als – mögliche – Lehrer angesprochen nicht nur nicht verifizieren; sie stellen vielmehr sogar einen Gegenbeleg zu dieser Interpretation dar. Fazit: Die von H.W. Attridge angeführten Belege zugunsten einer allgemeinen oder topischen Interpretation des διδάσκαλος-Begriffs Hebr 5,12a vermögen diese Interpretation letzten Endes aus drei Gründen nicht zu tragen: (a) Die Menge der Belege reicht schlicht nicht zu, um den Nachweis zu führen, dasss in der auf bildungstheoretische Diskurse rekurrierenden paganen Literatur des ersten und des zweiten nachchristlichen Jahrhunderts der topische Gebrauch des Terminus διδάσκαλος einen ‚commonplace‘ darstellte. (b) Die Einzelanalyse der Belege hat gezeigt, dass keiner derselben auch nur im Ansatz zu einer topischen oder allgemeinen Interpretation des Terminus διδάσκαλος nötigte. Ep. [IV] 33,9; „‚Das sagte Zenon, das Kleanthes.‘ Es sollte etwas zwischen Dich und das Buch treten. Wie lange noch willst Du lernen? Nun belehre auch! Weshalb soll ich hören, was ich auch lesen kann? ‚Viel‘, sagte jemand, ‚bewirkt die lebendige Stimme.‘ Die freilich nicht, die man Worten anderer leiht, die nur den Dienst eines Nachbeters verrichtet“; Text und Übersetzung nach G. Fink, Epistulae I, 190f. 253 Ench. 51,1; Text nach H. Schenkl, Epicteti Dissertationes ab Arriani Digestae, 35*f.; „Wie lange willst du es noch hinausschieben, dich des Besten für wert zu halten und in keinem Falle die Vernunft außer acht zu lassen, die zwischen Gut und Böse Scheidet? Du hast Lehren bekommen, denen du zustimmen mußt, und du hast ihnen zugestimmt. Wartest du noch auf einen andern Lehrer, dem du deine Besserung übertragen willst? Du bist doch kein Knabe mehr, sondern ein reifer Mann. Wenn du also im Lässigen und Leichtsinnigen beharrst, immer nur gute Vorsätze faßt und einen Tag nach dem andern festsetztest, von dem an du auf dich achten willst, dann wirst du, ohne es recht zu merken, überhaupt keine Fortschritte machen, sondern dein Leben lang ein Laie bleiben, bis du stirbst“; Übersetzung nach H. Schmidt, Epiktet. Handbüchlein der Moral und Unterredungen, 49. 252

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Die Analyse von Hebr 5,11–6,12 (c) Methodisch gilt es zu fragen, ob der in Hebr 5,12a begegnende διδάσκαλος-Begriff nicht deutlich eher im urchristlichen Kontext als im paganen Kontext zu interpretieren sei. Träfe ersteres zu, ergäbe sich nachgerade mit Notwendigkeit das Postulat eines konkreten, auf das tatsächlich ausgeübte Lehramt oder die tatsächlich ausgeübte Lehrfunktion sich beziehenden Verständnisses desselben254. (d) Jenseits dieser kritischen Analyse der von H.W. Attridge zugunsten seiner topischen Interpretation des διδάσκαλος-Begriffs angeführten Belege gilt es zu bedenken, dass einer – der von Attridge vorgelegten Deutung sehr ähnlichen – rhetorischen Interpretation dieses Terminus im Sinne einer hyperbolischen Übersteigerung255 ebenfalls kaum Überzeugungskraft zuzukommen vermöchte. Vor dem Hintergrund der sozialen Struktur einer durchschnittlichen urchristlichen Gemeinde nämlich ginge eine solche Übersteigerung deutlich über das einer Hyperbel innewohnende Momentum der decens veri superiectio256 hinaus, da ernsthaft nicht zu erwarten wäre, dass jedes Mitglied einer durchschnittlichen urchristlichen Gemeinde die Profession eines διδάσκαλος anstrebte, ein Sachverhalt, der dazu führte, dass mit einer solchen als hyperbolisch zu bezeichnenden Übersteigerung weder Aufmerksamkeit geweckt noch Überzeugungskraft generiert werden könnte.

Vor dem Hintergrund insbesondere dieser letzten Erwägung will – gerade im Blick auf die Verhältnisse in Rom257 – im Blick auf die Frage nach der textpragmatischen Situierung des Hebr und nähere Charakterisierung seiner Adressatenschaft folgendes Szenario gut denkbar scheinen: Der auctor ad Hebraeos beabsichtigte, mit seiner Epistel eben solche Christen anzusprechen, die sich als innerhalb des römischen Gemeindeverbandes hauskirchlich organisierter Schülerkreis um einen theologischen διδάσκαλος versammelt hatten, die zugleich allerdings aktuell augenscheinlich – zumindest aus der Sicht des Verfassers des Hebr – aufgrund ihres defizitären theologisch-theoretischen (Er-)Kenntnisstandes die entscheidenden Eckpunkte des von ihm vertretenen theologischen Entwurfes zu verfehlen drohen und daher wieder zurück auf den rechten theologischen Weg geführt werden müssen258. Der in Hebr 5,12a verwendete διδάσκαλοςBegriff wäre dann auf den διδάσκαλος als Haupt einer Theologenschule bezogen zu verstehen: „Denn ihr, die ihr (doch eigentlich) von der (Länge der) Zeit her

Vgl. hierzu o. Vgl. zum Begriff der Hyperbel u. 160f. 256 Vgl. hierzu die u.cit. Ausführungen des M. Fabius Quintilianus u. 160f. 257 Zu einer – zumindest hoch wahrscheinlichen – Verortung des Hebr in Rom vgl. bereits o. 12–14. 258 Vgl. hierzu die Analyse der Argumentation in Hebr 6,1–3.4–12 u. 161–176 und u. 177–216. Vgl. hierzu auch D.A. DeSilva, Hebr, 213f.: „The goal of this section is to provoke the addressees to acquit themselves of the charge that they are not ready for mature instruction and to direct them forcefully toward behaviors in which they show themselves capable of taking on the responsibility of teaching what they have accepted as true rather than requiring further persuasion and instruction in the certainty of the gospel. The author wants them to see themselves as teachers, of course, so that they will become active participants in the maintenance of the counter-definitions and values of the Christian culture“. 254 255

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gesehen (bereits) selbst Schulhäupter sein müßtet, ...“259. Werden nun die Ausführungen Hebr 13,19.22–25, die erst den Hebr zu einer Epistel oder einer ‚versandten Predigt‘260 machen, als eine sekundäre Zutat angesehen261, so ist darüber hinaus denkbar, dass der Verfasser des Hebr selbst derjenige theologische διδάσκαλος gewesen ist, der – als ein überregional wirkendes Schulhaupt262 – Hebr 1,1–13,21\19 vor seinem eigenen Schülerkreis bzw. vor einer zu seinem Schülerkreis gehörigen, aber organisatorisch eigenständigen Gruppe als Lehrvortrag gehalten hat. Stellten Hebr 13,19.22–25 einen ursprünglichen Bestandteil des Hebr dar, ließe sich diese Schrift in ihrer Gesamtheit als ein einer organisatorisch eigenständigen Schülergruppe von dem auctor ad Hebraeos als ihrem theologischen Schulhaupt zugesandter Lehrvortrag definieren263. Träfe dieses Szena-

Diese Paraphrase nach H.-F. Weiß, Hebr, 329. P. Lampe, Christen, 299 weist darauf hin, dass im zweiten nachchristlichen Jahrhundert innerhalb der römischen Gemeinde auf einer dritten Stufe des innerchristlichen Bildungsprozesses „Vorlesungen freier Lehrer und Philosophen wie Justin oder Valentin, die Schülerkreise um sich versammeln und abseits der kirchlichen Amtsträger wirken“, nachweisbar sind. Keinesfalls undenkbar ist, dass die Adressaten des Hebr als ein solcher einem freien Lehrer oder Philosophen zuzuordnender Schülerkreis verfasst gewesen sind. Vgl. zu diesem Komplex auch noch einmal ausführlicher u. 270–273. 260 Vgl. hierzu E. Gräßer, Hebräerbrief, 23, der im Blick auf Hebr von einer „zugesandte[n] Predigt“ zu sprechen vermag; vgl. hierzu auch H. Löhr, Umkehr, 2. Zur Gattung des Hebr vgl. bereits o. 9, A. 3. 261 Vgl. zu Hebr 13,19 etwa A. Vanhoye, Structure, 220–222, darüber hinaus auch E. Gräßer, Hebr III, 398. Vgl. zu Hebr 13,22–25 sehr entschieden etwa E. Gräßer, Hebr III, 409f.: „Aber es ist kaum vorstellbar, daß unser dem Paulinismus völlig fernstehender Autor seiner ‚für den Gottesdienst bestimmten Ansprache‘ zuletzt den Anschein eines Paulusbriefes gegeben haben sollte. Nein! Hebr 13,22–25 ist ein Postscriptum von fremder Hand, das dem Hebr die Tür zum Kanon öffnen sollte und schließlich auch geöffnet hat“. 262 Vgl. hierzu etwa A. Strobel, Hebr, 252: „Wahrscheinlich befindet er [d.h. der auctor ad Hebraeos] sich auf einer größeren Reise, vermutlich – wofür der Gesamtzusammenhang spricht – als berühmter und begehrter Lehrer der Urchristenheit“. Vgl. hierzu auch K. Backhaus, Hebräerbrief, 183: „Dem Textbefund entspricht nicht das Bild vom theologischen Außenseiter, sondern eher das des διδάσκαλος ... oder ἡγούμενος ..., der in einer – wie auch immer sozial gearteten – ‚Schule‘ steht, die bemüht ist, das überkommene Bekenntnisgut zu wahren und – in Auseinandersetzung mit den jeweiligen Zeiterfordernissen – interpretativ zu entfalten“. Noch deutlicher hier H.-F. Weiß, Hebr, 36: „Ein ‚hinsichtlich der Rede Einfältiger‘ (2Kor 11,6) oder auch ein ἄνθρωπος ἀγράμματος im Sinne von Act 4,13 ist er jedenfalls nicht gewesen“. 263 Die Existenz eines solchen Szenarios und einer solchen Struktur kirchlich organisierter Lehre belegt etwa die Darstellung in Herm vis. II 4,2f. (vgl. hierzu auch u.): μετέπειτα δὲ ὅρασιν εἶδον ἐν τῷ οἴκῳ μου ἦλθεν ἡ πρεσβυτέρα καὶ ἠρώτησέν με εἰ ἤδη τὸ βιβλίον δέδωκα τοῖς πρεσβυτέροις ἠρνησάμην δεδωκέναι Καλῶς φησίν πεποίηκας ἔχω γὰρ ῥήματα προσθεῖναι ὅταν οὖν ἀποτελέσω τὰ ῥήματα πάντα διὰ σοῦ γνωρισθήσεται τοῖς ἐκλεκτοῖς πᾶσιν (3) γράψεις οὖν δύο βιβλαρίδια καὶ πέμψεις ἓν Κλήμεντι καὶ ἓν Γραπτῇ πέμψει οὖν Κλήμης εἰς τὰς ἔξω πόλεις ἐκείνῳ γὰρ ἐπιτέτραπται Γραπτὴ δὲ νουθετήσει τὰς χήρας καὶ τοὺς ὀρφανούς σὺ δὲ ἀναγνώσῃ εἰς ταύτην τὴν πόλιν μετὰ τῶν πρεσβυτέρων τῶν προϊσταμένων τῆς ἐκκλησίας („Danach sah ich ein Gesicht in meinem Hause. Die Greisin kam und fragte mich, ob ich das Schriftstück schon den Presbytern gegeben hätte. Ich verneinte. ‚Es ist gut so‘, sagte sie, ‚denn ich habe 259

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rio, das in jedem Falle am Text des Hebr selbst und anhand der diesen fundierenden argumentationslogischen Struktur noch überprüft und erhärtet werden muss, zu, wäre damit, wie o. schon angedeutet, zugleich auch ein erster Hinweis auf die Gattung des Hebr und auf die textpragmatische Situierung dieses Werkes gewonnen: Bei Hebr handele es sich um eine verschriftlichte, möglicherweise aus ursprünglich nicht zusammengehörigen einzelnen Segmenten zusammengesetzte Vorlesung, die an eine hauskirchlich organisierte Gruppe von Schülern gerichtet gewesen sei, die aufgrund ihres defizitären theologisch-theoretischen (Er-)Kenntnisstandes das von ihnen aus der Sicht des Verfassers des Hebr, ihres überregional wirkenden Schulhauptes, erwartbare Bildungsziel (noch) nicht erreicht haben, deshalb nicht in der Lage sind, zwischen rechter und falscher Lehre zu unterscheiden und – zumindest möglicherweise264 – in der Gefahr stehen, sich einer irrigen theologischen Programmatik zuzuwenden. Nicht unplausibel ist natürlich auch die Annahme, der Verfasser des Hebr wende sich mit seinen Einlassungen an eine konkrete, sich über ihre Funktion definierende Gruppe oder einen Teil derselben, deren Mitglieder innerhalb einer entsprechenden, hinter dieser Gruppe stehenden Dachorganisation einer Gemeinde oder eines Gemeindeverbandes eben die Funktion von διδάσκαλοι ausüben, d.h. konkret an eine innerhalb dieser – im Falle des Hebr somit der römischen265 – Gemeinde oder dieses Gemeindeverbandes aktive Gruppe von Kandidaten des gemeindlichen Lehramtes, die zumindest in den Augen des Verfassers des Hebr auf dem Weg ihrer Ausbildung die theologische Richtung verloren haben und daher wieder auf den rechten theologischen Weg geführt werden müssen. Der Terminus διδάσκαλος wäre dann wie folgt zu verstehen: „Denn ihr, die ihr (doch eigentlich) von der (Länge der) Zeit her gesehen (bereits) selbst in euren Gemeinden das Lehramt ausüben müßtet, ...“266. In Herm vis. II 4,3 begegnet in der Person der Γραπτή eine Frau, die von den römischen Christen mit der christlichen Unterweisung von Waisenkindern und Witwen

(noch einige) Worte hinzuzufügen. Wenn ich nun alle Worte vollendet habe, dann sollen sie durch dich allen Auserwählten kund werden. (3) Du sollst nun zwei Abschriften machen und eine dem Clemens, die andere der Grapte schicken. Clemens soll sie an die auswärtigen Städte senden, denn dies ist ihm aufgetragen. Grapte aber wird die Witwen und Waisen daraus lehren. Du selbst magst es in dieser Stadt vorlesen vor den Presbytern, die an der Spitze der Gemeinde stehen.‘“; Text und Übersetzung nach A. Lindemann/H. Paulsen, Apostolische Väter, 342f.). Vgl. hierzu auch P. Lampe, Christen, 298, A. 682: „Hermas übergibt deshalb ihr sein Büchlein, damit sie den Witwen und Waisen der Stadt die Hermas-Prophetie weiterverkündet. Grapte ist ein schöner früher Beleg für kirchlich organisierte Kinderlehre“. Übertragen auf Hebr hieße das: Ein überregional wirkender Lehrer habe dem Leiter eines lokal verhafteten Schülerkreises seinen Lehrvortrag – mit angehängten aktualisierenden Nachrichten, Hinweisen und Bemerkungen – gesandt, damit dieser jenen in diesem Schülerkreis vorläse bzw. vermittle. 264 Vgl. zu dieser Möglichkeit aber u. 177–194. 265 Vgl. zu Rom als Destination des Hebr o. 12–14. 266 Diese Paraphrase nach H.-F. Weiß, Hebr, 329.

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betraut wurde267: γράψεις οὖν δύο βιβλαρίδια καὶ πέμψεις ἓν Κλήμεντι καὶ ἓν Γραπτῇ πέμψει οὖν Κλήμης εἰς τὰς ἔξω πόλεις ἐκείνῳ γὰρ ἐπιτέτραπται Γραπτὴ δὲ νουθετήσει τὰς χήρας καὶ τοὺς ὀρφανούς σὺ δὲ ἀναγνώσῃ εἰς ταύτην τὴν πόλιν μετὰ τῶν πρεσβυτέρων τῶν προϊσταμένων τῆς ἐκκλησίας268. Zu fragen ist, wie und auf welchem Wege Γραπτή die Zurüstung für ihre Beauftragung erhalten hat. In Frage käme hier sicherlich eine von einer Gemeinde oder einem Gemeindeverband organisierte schulmäßige Unterweisung. Denkbar ist, dass der Verfasser des Hebr als Adressaten seiner Epistel eine Gruppe solcher Schüler bzw. eine solche ‚Schulklasse‘ im Sinn hatte. Der Terminus διδάσκαλος würde dann im Sinne der gemeindlichen Arbeit etwa der Γραπτή zu verstehen: „Denn ihr, die ihr (doch eigentlich) von der (Länge der) Zeit her gesehen (bereits) selbst in euren Gemeinden unterrichten müßtet, ...“269. Durchaus ähnliches könnte im Blick auf 1Tim 5,17 gelten; hier werden die πρεσβύτεροι als solche beschrieben, die in einer Gemeinde auch für die Lehre verantwortlich sind270: οἱ καλῶς προεστῶτες πρεσβύτεροι διπλῆς τιμῆς ἀξιούσθωσαν, μάλιστα οἱ κοπιῶντες ἐν λόγῳ καὶ διδασκαλίᾳ. Gut vorstellbar ist, dass diese Ältesten ihre Befähigung dazu im Rahmen einer schulmäßigen Unterweisung erworben haben271. Sollten dem Verfasser des Hebr solche presbyterialen Lehrer vor Augen stehen, wäre der διδάσκαλος-Begriff im gleichen Sinne zu fassen.

Schließlich wäre im Blick auf Hebr im Grundsatz, allerdings angesichts der Komplexität der dem Hebr inhärenten argumentationslogischen Struktur und in Sonderheit der Ausführungen von Hebr 10,32–34272, mit einer erheblich geringeren Wahrscheinlichkeit, auch der gemeindliche Katechumenenunterricht als Referenzrahmen vorstellbar273. Die Adressaten des Hebr stellten dann neu in die christliche Gemeinschaft, in diesem Falle in diejenige der Stadt Rom, Aufgenommene dar, deren Bildungs- und Ausbildungsfortschritt in den Augen des Verfas-

Vgl. hierzu P. Lampe, Christen, 298f. „Du sollst nun zwei Abschriften machen und eine dem Clemens, die andere der Grapte schicken. Clemens soll sie an die auswärtigen Städte senden, denn dies ist ihm aufgetragen. Grapte aber wird die Witwen und Waisen daraus lehren. Du selbst magst es in dieser Stadt vorlesen vor den Presbytern, die an der Spitze der Gemeinde stehen“; Text und Übersetzung nach A. Lindemann/H. Paulsen, Apostolische Väter, 342f. 269 Diese Paraphrase nach H.-F. Weiß, Hebr, 329. 270 Nach J. Roloff, 1Tim, 306–309 handelt es sich bei diesen πρεσβύτεροι um Glieder des Ältestengremiums einer Gemeinde, die für ihren Dienst „eine bescheidene Aufwandsentschädigung im Sinne eines Ehrensoldes“ (308) erhielten. Dieser Beleg markiere „auf alle Fälle ein Übergangsstadium zu festen, hauptamtlichen Diensten. Die Arbeit am Evangelium wird zum Beruf, durch dessen Ausübung man das Anrecht auf einen angemessenen Lebensunterhalt erwirbt“ (309). Wenn dem so ist, dann legt sich die Annahme nahe, dass solchermaßen Tätige zuvor eine adäquate Ausbildung durchlaufen und einen adäquaten Ausbildungsabschluss erworben haben müssen, im Blick auf die διδασκαλία dann eine solche in einer wie auch immer näher zu definierenden theologischen Schule. 271 Vgl. hierzu auch P. Lampe, Christen, 299, A. 683. 272 Vgl. zu dieser Passage ausführlich u. 229–237. 273 Zum Katechumenenunterricht im Gemeindeverband der Stadt Rom vgl. P. Lampe, Christen, 299: „Der Unterricht wird von Presbytern erteilt, die auch sonst das Gemeindevolk unterweisen“. 267 268

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sers des Hebr bis dato aber deutlich zu wünschen übrig lässt. Jener als ihr gemeindlicher Lehrer möchte mit seinem vor jenen gehaltenen Lehrvortrag diesem Manko Abhilfe schaffen. Der διδάσκαλος-Begriff wäre dann folgendermaßen zu fassen: „Denn ihr, die ihr (doch eigentlich) von der (Länge der) Zeit her gesehen (bereits) selbst in euren Gemeinden in der Unterweisung der Katechumenen tätig sein müßtet, ...“274. In eine der in der vorliegenden Studie eingeschlagenen durchaus ähnliche Richtung denkt C. Spicq, der die Adressaten des Hebr – allerdings vor einem judenchristlichen Hintergrund275 – schon aus inhaltlichen Gründen im priesterlichen Milieu verorten möchte: „Si le traitement approfondi d’un tel sujet suppose un auteur particulièrement averti (1), il est clair qu’il exige davantage encore un auditoire apte á le comprendre et surtout à s’y intéresser. Comment un profane, païen ou paysan juif, auraitil pu saisir la portée d’une telle doctrine? Seule des prêtres ont suffisamment l’intelligence et le goût de cette théologie du sacerdoce pour qu’on puisse leur écrite une épître exclusivement consacrée à ce thème. C’est à eux que l’on peut proposer pour objet de la foi: ‚Jésus notre grand Prêtre‘ (III, 1). L’Épître du sacerdoce s’adresse normalement à des mentalités sacerdotales“276. Spicq zweifelt sicherlich m.R. die Annahme an, dass ein argumentationslogisch derart komplexes Werk wie Hebr an eine ‚gewöhnliche‘, als intellektuelles corpus permixtum zu definierende christliche Gemeinde oder Gemeinschaft gerichtet gewesen sei. Ob der Textbefund aber ausreicht, mit Notwendigkeit eine priesterschaftliche Adresse dieser Epistel zu plausibilisieren, muss zumal angesichts des Sachverhalts, dass die Termini ἀρχιερεύς oder ἱερεύς als Bezeichnung für die Adressaten des Hebr an keiner Stelle innerhalb dieser Epistel belegt sind277, jedoch mehr als dahingestellt bleiben.

Die hier aus der Analyse des διδάσκαλος-Begriffs im Blick auf die Adressaten des Hebr gewonnene Hypothese lässt sich – zunächst und auf einer eher allgemeinen Ebene – durch zwei Beobachtungen untermauern: (a) Vielfach wurde darauf hingewiesen, dass den Adressaten des Hebr, um für die in dieser Epistel sichtbar werdende durchaus komplexe Argumentation empfänglich zu sein und diese angemessen rezipieren zu können, ein keinesfalls unbeträchtliches intellektuelles Niveau eignen müsse278. Dieser Hinweis nötigt zwar als solcher womöglich nicht 274 275 276 277

471f.

Diese Paraphrase nach H.-F. Weiß, Hebr, 329. Vgl. hierzu jedoch o. 26–37. Hebr I, 226. Vgl. hierzu W.F. Moulton/A.S. Geden, Concordance, s.v. ἀρχιερεύς, 111f. und s.v. ἱερεύς,

Vgl. hierzu etwa K. Backhaus, Hebr, 24f.: „Der Redestil, die platonisierende Schriftauslegung und die scharfsinnigen Argumentationsfiguren setzten trotz – oder gerade wegen – der hervorgekehrten Skepsis des V[er]f[assers] ... ein gebildetes Publikum voraus“, und 26: ..., offenkundig nicht ohne Besitz und intellektuelles Niveau, an christlicher Sozialisation durch jüdische Bildung interessiert, durch theologische Redekunst zu gewinnen“; vgl. hierzu auch u. 125f. Vgl. auch etwa U. Schnelle, Einleitung, 447: „Will der Autor sein Ziel der Glaubensstärkung und -erneuerung erreichen, so müssen den Hörern nicht nur das Alte Testament und der jüdische Kultus vertraut gewesen sein, auch die subtile exegetische Argumentation des Hebr … muss für sie verständlich gewesen sein“. In diese Richtung denkt auch G. Schunack, Hebr, 11: „Allerdings setzt der Verf[asser]. bei den Lesern und Hörern eine eingehende Kenntnis des 278

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mit Notwendigkeit, passt aber in jedem Falle gut zu der These, bei den Adressaten des Hebr handele es sich um – als Hausgemeinde oder Hauskirche organisierte – Theologenschüler oder aber auch um eine Gruppe von Kandidaten des gemeindlichen Lehramtes, die es wieder auf den Pfad der aus der Perspektive des auctor ad Hebraeos rechten Lehre zurückzubringen gelte. Dass solchermaßen geschulte (Theologen-)Schüler oder Kandidaten in der Lage sind, die Argumentationslogik des Hebr nachzuvollziehen, und sich durch einen solchen argumentativen Text und durch die diesem inhärente Argumentationslogik weitaus eher angesprochen fühlen und überzeugen bzw. zu eigener theologischer Arbeit und Reflexion anregen lassen als durch platte und polemische Kritik, liegt auf der Hand. Dieses Argument wird gestützt durch die Beobachtung, dass der auctor ad Hebraeos, weit mehr und weit intensiver als andere neutestamentliche Autoren, in seiner Epistel zahlreiche alttestamentliche Texte zitiert, diskutiert und exegetisch verarbeitet, ein Vorgehen, das einerseits einen erheblichen theologischen Bildungsgrad des auctor ad Hebraeos selbst, andererseits zugleich eine intensive Beschäftigung und eine enge Vertrautheit der Adressaten des Hebr mit dem Alten Testament selbst voraussetzt279, eine Voraussetzung, die sich gänzlich problemlos aufrechterhalten ließe, würde angenommen, die Adressaten des Hebr stellten einen Kreis (Theologen-)Schüler oder Kandidaten für das gemeindliche Lehramt dar. (b) In der einschlägigen exegetischen Sekundärliteratur ist immer wieder die These vertreten worden, dass es sich bei den Adressaten des Hebr nicht um eine (Gesamt-)Gemeinde, sondern um eine Gemeindegruppe handelt280. Zugunsten dieser Vermutung281 wird immer wieder die Beobachtung ins Feld geführt, griechischen Alten Testaments, der LXX, voraus und ebenso Verständnis für eine anspruchsvolle exegetische Argumentation“. Diesen Hinweis relativiert Schunack allerdings unmittelbar, indem er weiter darauf hinweist, dass „zumindest das Erste ... nicht ungewöhnlich [ist], wie der Vergleich mit dem 1Clem zeigt“. Wie Schunack allerdings zugleich auch einräumt, reicht 1Clem im Blick auf die Komplexität der exegetischen Argumentation in keiner Weise an Hebr heran. Vgl. hierzu schließlich auch C.-P. März, Hebr, 19: „Viel spricht dafür, daß für diese Gruppe [d.h. die Adressaten des Hebr] ein besonderer Bildungsstand ... vorausgesetzt werden muß“. Diese Voraussetzung begründet März nun aber lediglich mit einem Hinweis auf die Ausführungen in Hebr 5,11f., nicht aber mit anderen, von den Ausführungen Hebr 5,11f. unabhängigen Argumenten. 279 Vgl. zu diesem Sachverhalt neben anderen etwa H.-F. Weiß, Hebr, 71; Weiß zufolge sei hier hinzuweisen „auf die schriftgelehrte Argumentation des Autors, die als solche auf seiten der Adressaten eine intensive Kenntnis der Schrift, und zwar auch in ihren kultgesetzlichen Partien, voraussetze“. 280 Anders hier allerdings etwa G. Schunack, Hebr, 11: „Dies legt die Folgerung nahe, dass der Hebr. an eine Gemeinde in Italien, näherhin wohl in Rom, schwerlich an eine Sondergruppe innerhalb dieser Gemeinde gerichtet ist“. 281 Zu weiterer Literatur vgl. etwa H.-F. Weiß, Hebr, 75 mit A. 65.66; explizit hingewiesen sei hier auf C. Spicq, Hebr I, 224: „... l’Épître aux Hébreux s’adresse non à une Église proprement dite, mais à un groupe limité“, wobei Spicq allerdings im Grundsatz eine judenchristliche Adressatenschaft (vgl. hierzu allerdings bereits o. 26–37) annimmt.

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dass der Terminus ἐκκλησία im Hebr „nirgends im Sinn von ‚Gemeinde‘ gebraucht [werde] ..., die Adressaten also auch nicht als solche angesprochen [würden]“282. Dies geschehe bewusst in dieser Weise, da die Adressaten des Hebr „nicht in die Gesamtgemeinde ihres Ortes integriert sind, sondern eine Sondergruppe in ihr darstellen“283. Darüber hinaus würden in Hebr 13,24a die Adressaten dieser Epistel aufgefordert, die Gemeindeleiter und ‚alle Heiligen‘, d.h. die Gesamtheit der Gemeinde, zu grüßen: ἀσπάσασθε πάντας τοὺς ἡγουμένους ὑμῶν καὶ πάντας τοὺς ἁγίους, eine Aufforderung, die sich sinnvoll nur interpretieren ließe unter der Prämisse, dass die Adressaten des Hebr sich von den πάντες οἱ ἅγιοι, somit von der Gesamtheit der Glieder der entsprechenden christlichen Gemeinde, unterscheiden284. Der Gedanke, die Adressaten des Hebr stellten eine Gruppe innerhalb einer (Gesamt-)Gemeinde dar, wird in der Forschung, in Sonderheit unter Verweis auf die Struktur der stadtrömischen Gemeinde285, immer wieder im Sinne einer Hauskirche oder Hausgemeinde konkretisiert: Bei den Adressaten des Hebr handele es sich um eine innerhalb der römischen (Gesamt-)Gemeinde existierende, auf einem zumindest überdurchschnittlichen intellektuellen Niveau befindliche Hauskirche, die „an christlicher Sozialisation durch jüdische Bildung interessiert ... [und] durch theologische Redekunst zu gewinnen“286 sei. Diese Hauskirche oder Haugemeinde stehe in der Gefahr, „sich aus dem Verband der Gesamtgemeinde zurückzuziehen“287 und sei nicht zuletzt deshalb „für alle möglichen Einflüsse anfällig“288 gewesen. Einer solchermaßen ausgerichteten Konkretion widerraten allerdings die Ausführungen in Hebr 6,10b.c289; hier weist der Verfasser des Hebr darauf hin, dass Gott gegenüber den Adressaten seiner Epistel nicht ungerecht sein und deren Werk und deren Liebe, die sie dem ὄνομα θεοῦ erwiesen haben, indem sie den ἅγιοι, konkret „der im Hebr im Blick stehenden [römischen Gesamt-]Gemeinde“290 in der Vergangenheit dienten und auch in der Gegenwart noch dienen, nicht vergessen werde: οὐ γὰρ ἄδικος ὁ θεὸς ἐπιλαθέσθαι H.-F. Weiß, Hebr, 75. H.-F. Weiß, Hebr, 75. 284 Vgl. zu dieser Argumentation etwa H.-F. Weiß, Hebr, 75. Weiß verweist darüber hinaus zur Unterstützung seiner Argumentation noch auf Hebr 12,24 (dies scheint ein Irrtum zu sein; Weiß meint sicherlich Hebr 12,14), Hebr 12,25 und Hebr 10,25 (vgl. hierzu insgesamt 75). 285 Zu den Verbindungen des Hebr zu Rom vgl. bereits ausführlich o. 12–14. 286 K. Backhaus, Hebr, 26. 287 C.-P. März, Hebr, 19; vgl. darüber hinaus auch H.-F. Weiß, Hebr, 75, A. 65 mit Verweis auf A. v. Harnack, der diese These bereits im Jahr 1900 entwickelt und formuliert hat. 288 C.-P. März, Hebr, 19. 289 Vgl. zu diesen bereits o. 52–54 und o. 82.89; zur Auslegung von Hebr 6,10 im Kontext vgl.u. 194–196. 290 H.-F. Weiß, Hebr, 354; vgl. hierzu auch E. Gräßer, Hebr I, 365: „Hebr meint mit den Heiligen die Christen allgemein“ und E. Riggenbach, Hebr, 164. Neben anderen sieht F.F. Bruce, Hebr, 151 einen Bezug dieses Begriffs zu Hebr 3,1: „The ‚holy people‘ are as general here as are the ‚holy brothers‘ of Hebr 3:1“. O. Michel weist darauf hin, daß der Begriff ἅγιοι auch in Hebr 13,24 282 283

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τοῦ ἔργου ὑμῶν καὶ τῆς ἀγάπης ἧς ἐνεδείξασθε εἰς τὸ ὄνομα αὐτοῦ, διακονήσαντες τοῖς ἁγίοις καὶ διακονοῦντες291. Vor dem Hintergrund dieses Hinweises muss nun aber als ausgeschlossen gelten, dass die Adressatenschaft des Hebr beabsichtigte, ‚sich aus dem Verband der Gesamtgemeinde zurückzuziehen‘. Der Gedanke, die Adressaten des Hebr stellten eine herausgehobene Gruppe innerhalb einer (Gesamt-)Gemeinde dar, einer- und die Ausführungen in Hebr 6,10b.c andererseits ließen sich demgegenüber jedoch gänzlich zwanglos in die These integrieren, bei den Adressaten des Hebr handele es sich um einen Kreis von (Theologen-)Schülern oder auch einen Kreis von Kandidaten, denen der auctor ad Hebraeos, ihr überregional wirkendes theologisches Schulhaupt oder aber ihr theologischer Ausbilder, ihren durchaus auch gesamtgemeindlich sichtbar werdenden diakonischen Eifer eben nicht absprechen möchte, deren theologische Defizite und Fehlentwicklungen er aber erkennt und denen er Abhilfe zu leisten sich genötigt sieht. Eine andere Möglichkeit der Erklärung dieses immerhin auffälligen lexikalischen Befundes bestände darin, die Adressaten des Hebr als „Noch-nicht-Christen“292 zu klassifizieren, die eben noch nicht als (Voll-)Mitglieder in die im Hintergrund der Epistel stehende Gemeinde oder Gemeindegruppe aufgenommen worden wären, sondern im Rahmen ihres Katechumenats bis dato lediglich unzureichende Fortschritte gemacht hätten. Dieser Interpretation stehen jedoch die komplexe theologische Argumentation des Hebr und in Sonderheit auch dessen umfangreiche alttestamentliche Bezugnahmen entgegen, mit denen ‚Noch-nicht-Christen‘ sicherlich vollständig überfordert gewesen wären. Darüber hinaus lassen die Ausführungen in Hebr 10,32– 34 auf eine bereits eine längere Zeit währende christliche Vergangenheit der Adressaten des Hebr schließen293.

(c) Im Blick auf den konkreten Textabschnitt Hebr 5,11–14 lassen sich zu diesen beiden Beobachtungen zwei weitere hinzufügen. Zunächst: In Hebr 5,14 werden die τέλειοι – im Unterschied zu den νήπιοι Hebr 5,13 – als solche beschrieben, die infolge ihrer intellektuellen Geübtheit bzw. ihren aus derselben sich ergebenden denkerischen Fähigkeiten über αἰσθητήρια γεγυμνασμένα, geübte Sinne

als „Christenname“ (Hebr, 249, A. 2) belegt ist. Dem entspricht, daß „Hebr ... nicht an[deutet], daß auch er [, d.h. der Verfasser des Hebr] an eine Kollekte für Jerusalem denkt“ (O. Michel, Hebr, 249). 291 An dieser Formulierung muss, wird der Terminus ἅγιοι auf die Christen in ihrer Gesamtheit bezogen, auffallen, dass in Hebr 6,10c nur von den ἅγιοι, nicht aber von den ‚übrigen‘ oder den ‚anderen‘ Heiligen, also etwa von den ἕτεροι ἅγιοι, die Rede ist, denen die im Hebr angeschriebene Gemeindegruppe, ihrerseits doch offensichtlich ebenfalls selbst – zumindest noch, da sich sonst solche Ausführungen wie etwa Hebr 6,9f.11f. oder auch die Textpragmatik des Hebr in seiner Gesamtheit kaum erklären ließen, – ein Bestandteil der Gruppe der ἅγιοι, zu Diensten stand und steht. Dieses Problem bemerkt etwa H. Braun, Hebr, 180, der m.R. fragt: „Aber warum dann nicht εἰς ἑαυτούς wie 1Pt 3,10 oder ἀλλήλους“? 292 H. Braun, Hebr, 180. 293 Zu Hebr 10,32–34 vgl. ausführlich u. 229–237.

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Die Analyse von Hebr 5,11–6,12

bzw. einen geübten Verstand zur διάκρισις καλοῦ τε καὶ κακοῦ, d.h. zur Unterscheidung von rechter und falscher Lehre, verfügen294. Dass die τελειότης eines Christen, der die Adressaten des Hebr nach dem bisher Dargelegten nicht entsprechen, hier in diesem Sinne als herausragende theologische Denk- und Urteilsfähigkeit beschrieben wird, lässt die Annahme, der Verfasser des Hebr habe seine Epistel an eine ‚gewöhnliche‘ hauskirchlich organisierte, im Blick auf die intellektuellen Fähigkeiten ihrer einzelnen Glieder sicherlich als corpus permixtum zu beurteilende ‚gewöhnliche‘ Gemeinde oder Gemeinschaft295 gerichtet, denkbar unwahrscheinlich erscheinen. Viel näher liegt hier die Vermutung, in den Adressaten des Hebr solche zu sehen, für die die Fähigkeit, theologische Fragen und Probleme zu durchdenken und zu beurteilen, letzten Endes zu ihrer (theologischen) Schüler- oder auch Kandidatenschaft, somit also zu ihrem ‚Beruf‘ gehören, d.h. also als um ein theologisches Schulhaupt als dem Leiter ihrer Hauskirche oder aber um einen bedeutenden theologischen Ausbilder versammelte Schüler oder ‚Auszubildende‘. Ganz anders – und deutlich eher auf eine ‚gewöhnliche‘ christliche Gemeinde oder Gemeinschaft beziehbar – definiert der Verfasser des Kol den Begriff der christlichen τελειότης mit dem Begriff der ἀγάπη: ἐπὶ πᾶσιν δὲ τούτοις τὴν ἀγάπην, ὅ ἐστιν σύνδεσμος τῆς τελειότητος (Kol 3,14)296. In eine ähnliche Richtung tendieren die – bekannten – Ausführungen des Paulus in 1Kor 13,13: νυνὶ δὲ μένει πίστις, ἐλπίς, ἀγάπη, τὰ τρία ταῦτα· μείζων δὲ τούτων ἡ ἀγάπη297, und auch diejenigen von 1Clem 9,2,

Vgl. hierzu o. 97f. Nach P. Lampe bezeichnet der Terminus οἶκος, im Blick auf das Phänomen von Hauskirchen oder Hausgemeinschaften immer noch „mit der treffendste Begriff“ (Christen, 314), zunächst und wohl auch in erster Linie solche Versammlungen, die sich ergeben aus „private[n] Einladunge[n] eines Gastgebers an Mitchristen seines Stadtviertels: das private Gastgeben eines Hausherrn, wie es in paganen Quellen hundertfach bezeugt ist“ (315). Lampe unterscheidet dabei diese hauskirchlichen Versammlungen deutlich von „Vereinstreffen eines Collegiums ... [oder] Zusammenkünfte[n] eines philosophischen Thiasos“ (315). Daß eine solche Hauskirche oder Hausgemeinschaft, in der Menschen aus unterschiedlichen sozialen Schichten und auch mit unterschiedlichen Bildungsniveaus – womöglich, denn immerhin ja abhängig von der privaten Einladung des Gastgebers, auch durchaus unregelmäßig – zusammenkamen, kaum als der geeignete Adressatenkreis für einen theologisch hochkomplexen Text wie Hebr begriffen werden kann, liegt nachgerade auf der Hand. 296 Vgl. hierzu E. Lohse, Kol, 214: „Da der Begriff τελειότης durch den Artikel angeschlossen ist, wird der Genitiv nicht qualitativ, sondern final aufzufassen sein, so daß er die Folge bzw. den Zweck angibt. Dann wird die Liebe als das Band verstanden, das zur Vollkommenheit führt. Sie bindet die Glieder der Gemeinde, die in der Einheit des σῶμα Χριστοῦ leben, zusammen und schafft so die τελειότης in der Gemeinschaft des einen Leibes“. 297 Vgl. zu diesem Vers und seinen interpretatorischen Problemen etwa W. Schrage, 1Kor III, 316–319; Schrage formuliert gleichsam zusammenfassend: „Als solche auch im Eschaton bleibende Wirklichkeit, die schon jetzt die Christen ergreift, markieren Glaube, Hoffnung und Liebe den Anbruch der neuen Welt Gottes in dieser Welt“ (317). 294 295

Hebr 5,11–14

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die die τελειότης mit dem Momentum des Dienstes für Gott verknüpfen: ἀτενίσωμεν εἰς τοὺς τελείως λειτουργήσαντας τῇ μεγαλοπρεπεῖ δόξῃ αὐτοῦ298.

(d) Das in Hebr 5,12a verwendete Verb ὀφείλω transportiert durchaus das Momentum einer Verpflichtung oder einer Bringschuld und ist dementsprechend mit „gezwungen sein“, „verpflichtet sein“ oder auch „genötigt sein“ zu übersetzen, eine Interpretation und eine Übersetzung, die auch beiden anderen Belege für dieses Verb im Hebr, Hebr 2,17 und Hebr 5,3, durchaus nahelegen299. Vor diesem Hintergrund erscheint es kaum noch möglich, sich die Adressaten des Hebr als eine als corpus permixtum zu definierende Hausgemeinde vorzustellen, da sicherlich nicht alle Glieder einer solchen Hausgemeinde, als solche angeredet werden können, die verpflichtet oder genötigt sind, διδάσκαλοι zu werden und den Bildungsstand eines christlichen διδάσκαλος individuell zu applizieren. Deutlich plausibler will angesichts dessen vielmehr die Annahme scheinen, die Adressaten des Hebr stellten eine Gruppe von (Theologen-)Schülern oder von Kandidaten des gemeindlichen Lehramtes dar, die seinerzeit die Verpflichtung eingegangen sind, das Amt oder aber den Beruf eines urchristlichen Lehrers zu übernehmen und eine dementsprechende Ausbildung angetreten, allerdings eben noch nicht erfolgreich abgeschlossen haben300. Fazit: In Hebr 5,11–14 wird eine näherhin als Schülerschaft zu definierende Gruppe von Menschen angeschrieben bzw. angesprochen. Bei dieser Schülerschaft handelt es sich entweder um den um ein theologisches Schulhaupt versammelten Schülerkreis oder aber um eine Gruppe von Kandidaten, die sich in der Ausbildung zum gemeindlichen Lehramt befindet, oder aber – deutlich weniger wahrscheinlich – um eine Katechumenengruppe, die der Unterweisung in der christlichen Lehre bedarf. In jedem Falle hat die Schülerschaft zumindest in den Augen des Verfassers des Hebr, eben entweder ihres theologischen Schulhauptes oder ihres Ausbilders bzw. Lehrers, das ‚Klassenziel‘ nicht erreicht; sie werden als solche beschrieben, denen aufgrund mangelnder Hör- und Denkbereitschaft, mangelnder Übung und daher auch mangelnden Fähigkeiten, an einer Erweiterung und Vertiefung ihrer theologisch-theoretischen Glaubensbasis zu arbeiten, ein lediglich unzureichender theologisch-theoretischer (Er-)Kenntnisstand zukommt. Sie seien, wiewohl eigentlich dazu verpflichtet, diese Fähigkeit schon längst ausgebildet zu haben, gegenwärtig nicht in der Lage, sich mit

Vgl. hierzu H.E. Lona, 1Clem, 189: „Wie in 7,2 … signalisiert das διὸ ὑπακούσωμεν in 9,1 den Anfang einer neuen thematischen Einheit. Das Grundthema ist der Gehorsam der Gläubigen gegenüber dem Willen Gottes. Die Beispiele aus der Schrift beweisen, daß der Gehorsam von Gott belohnt wird“. 299 W. Bauer/B. Aland, Wörterbuch, s.v. ὀφείλω, 1211, übersetzen mit „verpflichtet sein“. M. Wolter, Art. ὀφείλω, in: EWNT2 II, 1348 sieht mit diesem Begriff eine allgemeine Notwendigkeit expliziert. 300 Vgl. zu diesem Argument, das in der gegenwärtigen Forschung anscheinend keinerlei Berücksichtigung findet, bereits D. Bornhäuser, Empfänger und Verfasser, 16f. 298

126

Die Analyse von Hebr 5,11–6,12

den grundlegenden sowohl als auch mit den auf jene aufbauenden und jene weiterführenden theologisch-theoretischen Eckpunkten der christlich-theologischen Programmatik, so wie sie der auctor ad Hebraeos vertritt, reflektiert und konstruktiv auseinanderzusetzen, sich in diese einzuarbeiten und diese eigenständig zu formulieren und selbst zu vermitteln. Dieses theologisch-theoretische Defizit habe bereits dazu geführt, dass die Adressaten des Hebr sich eine zumindest in den Augen des auctor ad Hebraeos unzulängliche und damit dann zugleich auch irrige Theologie angeeignet301 und diese womöglich auch schon selbst in der von ihnen praktizierten Lehre weitergegeben haben.

3.2

Die paränetischen Abschnitte in Hebr 1,1–5,10 als mögliche argumentationslogische oder rezeptionsästhetische Einwände

Aus Anlass der Tatsache, dass in der gegenwärtigen Forschung mehrheitlich angenommen wird, der Hebr richte sich an eine im Glauben ermattete und ermüdete Gemeinde, die der Verfasser mit seiner Epistel im christlichen Glauben neu zu stabilisieren suche302, ist aus gleichsam argumentationslogischen bzw. rezeptionsästhetischen Gründen an dieser Stelle danach zu fragen, ob womöglich in Hebr 1,1–5,10, also den der hier analysierten Perikope Hebr 5,11–14 vorangehenden Ausführungen, der Aspekt der Glaubensmüdigkeit und -ermattung als ein auf die aktuelle Situation der im Hebr angeschriebenen Gemeinde oder Gemeindegruppe303 bezogener bzw. in der aktuellen Situation der im Hebr angeschriebenen Gemeinde oder Gemeindegruppe Platz greifender Sachverhalt thematisiert worden ist304. Träfe dies zu, wären die Ausführungen in Hebr 5,11–14 diesem Aspekt argumentationslogisch ein- bzw. unterzuordnen, was dann hieße, dass der Verfasser des Hebr die Adressaten seiner Epistel in einer Phase von Glaubensermattung und Glaubensmüdigkeit stützen, stärken und neu beleben wollte, die wesentlich aus ihrer theologisch-theoretischen Unzulänglichkeit er-

Zu diesem hier noch als Möglichkeit im Raum stehenden Szenario vgl. dann aber die Ausführungen zu Hebr 6,4–6.7f. u. 177–194. 302 Vgl. hierzu o. 48–52. 303 Vgl. hierzu ausführlich o. 121f. 304 Vgl. zur methodischen Begründung dieser gleichsam ‚nachklappenden‘ Behandlung dieser paränetischen Texte ausführlich o. 61–65. 301

Die paränetischen Abschnitte in Hebr 1,1–5,10

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wachsen sind. Um diese Frage zu beantworten, sollen nun die – mit den jeweiligen theologisch-theoretischen eng zusammenhängenden paränetischen305 Abschnitte aus Hebr 1,1–5,10 einer eingehenderen Analyse unterzogen werden306. In diesen ließen sich am ehesten Hinweise finden, mit deren Hilfe die konkrete Situation der Adressaten – zumindest so, wie sie sich dem auctor ad Hebraeos darstellt – rekonstruiert werden könnte. An dieser Stelle ist es notwendig, das der nun anschließenden Untersuchung zugrundeliegende begriffliche Instrumentarium zu schärfen bzw. präziser zu definieren. Konkret heißt das: Die nun zu untersuchenden paränetischen Passagen können – und diese begriffliche Differenzierung ist um der interpretatorischen Klarheit willen notwendig – zwei unterschiedliche Formen von paränetischen Aufforderungen und Mahnungen enthalten, (a) solche Aufforderungen und Mahnungen, die unmittelbar aus den theologisch-theoretischen Darlegungen resultieren und denen ein grundsätzlicher, allgemeiner oder aber auch potentieller, in jedem Falle von der konkreten Situation der Adressaten des Hebr letzten Endes unabhängiger Charakter eignet und die nicht auf konkrete, vom auctor ad Hebraeos unter den Rezipienten seiner Epistel wahrgenommene glaubenspraktische Defizite rekurrieren, wiewohl der Verfasser des Hebr natürlich erwartet, dass jene diese Aufforderungen und Mahnungen in ichrer christlichen Lebenspraxis – entweder neu oder aber weiterhin - realisieren. Solche Mahnungen und diejenigen Textpassagen, die solche Mahnungen enthalten, und auch solche Mahnungen selbst werden mit dem Begriff ‚paränetisch-potentiell‘307 belegt308., und Zum Begriff der Paränese vgl. etwa P. Vielhauer, Geschichte, 50f.: „Als Paränese ... in formgeschichtlichem Sinn bezeichnet man ‚einen Text, der Mahnungen allgemein sittlichen Inhalts aneinanderreiht. Gewöhnlich richten sich die Sprüche an eine bestimmte (wenn auch vielleicht fingierte) Adresse oder haben mindestens die Form des Befehls oder Aufrufs; das unterscheidet sie von dem Gnomologium, der bloßen Sentenzen-Sammlung‘“. 306 Vgl. zu diesem Zusammenhang etwa K. Berger, Formen, 219: „Typisch für den Hebräerbrief ist eine wiederholte Begründung der Mahnrede aus dem eschatologischen Geschehen, das mit Tod und Erhöhung des Hohenpriesters (dem neuen ‚Indikativ‘) verknüpft ist. Das Schema ist jeweils gleichartig: Die im Verhältnis zur alten Ordnung größere Gabe jetzt bedingt auch eine höhere Verantwortlichkeit jetzt, und wenn schon das Gericht an den Alten streng vollzogen wurde, wie streng wird es erst an der Heilsgemeinde vollzogen werden, wenn sie nicht gehorcht“. 307 In diesem Sinne ließen sich diese Paränesen dann mit K. Berger durchaus als protreptische Mahnungen bezeichnen; nach Berger werde in dieser Kategorie „alles, was die grundsätzliche Wahl des christlichen Weges zum Thema macht“, zusammengefaßt“ (Formen und Gattungen, 276). Mit einem anderen Akzent hier P. Vielhauer, Geschichte, der die in der vorliegenden Studie als paränetisch-potentielle Mahnungen definierten Paränesen in absolutem Sinne als Paränesen verstehen möchte: „...; dort eine Fülle von Themen, die keinen aktuellen Anlaß habe, die als knappe Mahnungen ohne strenge Disposition lose aneinandergereiht sind ... und so allgemein gehalten sind, daß sie ... für jede Gemeinde passen: das ist Paränese“. 308 Der Begriff der paränetisch-potentiellen Paränese deckt sich zumindest im Hinblick auf die Frage nach der Situationsbezogenheit der entsprechenden Mahnungen durchaus mit demjenigen der usuellen Paränese (vgl. hierzu die von F. Hahn formulierte Definition dieses Terminus o. 63, A. 148). Dennoch soll hier – zunächst – der Begriff der paränetisch-potentiellen Paränese verwendet werden, da jener besser als derjenige der usuellen Paränese deutlich zu machen vermag, dass – zumindest – die in Hebr 2f. formulierten Mahnungen unmittelbar mit 305

128

Die Analyse von Hebr 5,11–6,12 (b) solche Aufforderungen und Mahnungen, die auf aktuelle und akute, in den Augen des auctor ad Hebraeos defizitäre Verhältnisse und Vorfindlichkeiten unter den Adressaten seiner Epistel abheben und – zumindest auch – eben durch jene motiviert sind. Solche Aufforderungen und Mahnungen und die entsprechenden Textpassagen reüssieren unter dem Terminus ‚paränetisch-aktuell‘. Das folgende Schaubild vermag die hier angestellten Erwägungen adäquat zu verdeutlichen: die theologische Konzeption des Hebr in ihrer Gesamtheit

Passagen des Hebr, innerhalb derer christologische und auch soteriologische Aspekte entwickelt und formuliert werden = ‚theologisch-theoretische‘ Passagen

Passagen des Hebr, innerhalb derer paränetische Inhalte kommuniziert werden = ‚paränetische‘ Passagen

paränetische Inhalte, die sich aus theologisch-theoretischen Darlegungen ergeben, ohne unmittelbar auf die konkrete Wirklichkeit der Adressaten und deren individuelle Vorfindlichkeiten zu rekurrieren

paränetische Inhalte, die sich aus theologisch-theoretischen Darlegungen ergeben und zugleich unmittelbar durch die konkrete Wirklichkeit der Adressaten und deren individuelle Vorfindlichkeiten motiviert sind

= ‚paränetisch-potentielle‘ Inhalte

= ‚paränetisch-aktuelle‘ Inhalte

 

theologisch-theoretischen, hier konkret christologischen Erwägungen verknüpft sind. Zu den in Hebr 12,4ff. beginnenden usuell-paränetischen Darlegungen vgl. dann auführlich u. 241– 255.

Die paränetischen Abschnitte in Hebr 1,1–5,10

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Der Analyse der nun folgenden paränetischen Passagen kommt also im wesentlichen die Aufgabe zu, zu klären, ob es sich bei den in diesen Passagen formulierten Mahnungen um paränetisch-potentielle oder aber paränetisch-aktuelle Paränesen handelt. Angesichts der Tatsache, dass die Ausführungen in Hebr 5,11–14 in der 2. Person Plural formuliert sind (5,11f.), der auctor ad Hebraeos seine Adressaten in seiner Epistel also sehr wohl unmittelbar und direkt anreden kann und auch anredet309, legt sich – natürlich vorbehaltlich der jeweiligen Einzelanalyse der entsprechenden Texte – die Annahme nahe, dass diejenigen paränetischen Partien des Hebr, in denen ein kommunikatives (oder auch ekklesiologisches oder ekklesiales310) ἡμεῖς verwendet wird311, die Adressaten des Hebr also in der 1. Person Plural angeredet werden, a priori mit erheblich höherer Wahrscheinlichkeit paränetisch-potentielle und eben nicht paränetisch-aktuelle Inhalte transportieren312. M.a.W.: Verwendet der Verfasser des Hebr in paränetischen Passagen das kommunikative ‚wir‘, ist – zumindest zunächst – davon auszugehen, dass er hier nicht auf aktuelle und akute Verhältnisse und Vorfindlichkeiten unter seiner Adressatenschaft rekurriert, sondern paränetische Inhalte präsentieren möchte, die sich aus theologisch-theoretischen Darlegungen ergeben, ohne unmittelbar auf die konkrete Wirklichkeit der Adressaten abzuzielen313. Das heißt nun auf der anderen Seite allerdings nicht, dass sämtliche in der 2. Person Plural formulierte paränetische Passagen unmittelbar als solche anzusehen seien, die paränetisch-aktuelle Inhalte transportierten. Auch hier muss die Einzelanalyse des jeweiligen Textes zeigen, ob er als paränetisch-potentiell oder aber als paränetisch-aktuell zu definieren ist.

3.2.1 Hebr 2,1–4 Wie die Lektüre des Hebr zeigt, ließe sich als ein erster Abschnitt innerhalb dieser Epistel, der möglicherweise das Problem der Glaubensermattung und -ermüdung der Adressaten dieser Epistel thematisierte, Hebr 2,1–4 identifizieren. Mit dem Abschnitt nämlich unterbricht der Verfasser des Hebr seine theologische

H. Braun, Hebr, 47 spricht in diesem Zusammenhang daher durchaus instruktiv vom „paränetische[n] ‚ihr‘“. 310 Vgl. zu diesen Begriffen u. 226, A. 55. 311 Vgl. hierzu u. passim. 312 Anders hier etwa H. Kosmala, Hebräer, 3, der die Differenz zwischen der Verwendung der 1. Person Plural und der Verwendung der 2. Person Plural anscheinend einebnen möchte: „Das ‚Wir‘ ist hier rhetorisches ‚Wir‘ und bedeutet eigentlich ‚Ihr‘“. Der Argumentation Kosmalas ließe sich folgen, wenn der auctor ad Hebraeos innerhalb seiner Darlegungen die 2. Person Plural nicht oder aber nur so verwenden würde, dass sie eben gerade nicht als unmittelbar an die Adressaten gerichtete Anrede fungierte. 313 Eine solche Annahme vermag ihrerseits zumindest zwanglos den unstrittigen Befund zu erklären, warum der auctor ad Hebraeos innerhalb seiner Darlegungen zwischen der 1. Person Plural und der 2. Person Plural wechselt, eine Beobachtung, die in der exegetischen Forschung bis dato augenscheinlich kaum wirklich gewürdigt geschweige denn zu erklären versucht worden ist. 309

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Die Analyse von Hebr 5,11–6,12

Argumentation und fügt – erstmalig innerhalb seiner Darlegungen – einen paränetischen Abschnitt ein314. Aus der in Hebr 1,5–14 erwiesenen Vorrangstellung des υἱὸς θεοῦ gegenüber den ἄγγελοι leitet der auctor ad Hebraeos in Hebr 2,1b die – aufgrund dieser Vorrangstellung umso mehr (περισσοτέρως315) sich ergebende316 – Notwendigkeit317 ab, προσέχειν ... τοῖς ἀκουσθεῖσιν, eine Notwendigkeit, die der Verfasser des Hebr, wie die Verwendung des kommunikativen ,wirʻ (ἡμᾶς Hebr 2,1.3)318 nahelegt, offensichtlich sowohl auf die Adressaten seiner Epistel als aber auch auf sich selbst zu beziehen scheint319. Die Ausführungen in Hebr 2,3c.d legen die Annahme nahe, dass es sich bei diesen ἀκουσθέντα nicht um das zuvor in Hebr 1,4.5–14 Dargelegte320, sondern, weitaus grundsätzlicher, um „die den Adressaten überkommene Heilsbotschaft“321 handelt, in deren Zentrum das ἐπ’ ἐσχάτου τῶν ἡμερῶν erfolgte Reden Gottes ἡμῖν ἐν υἱῷ (Hebr 1,2)

Vgl. hierzu O. Kuss, Hebr, 38 und darüber hinaus auch U. Schnelle, Einleitung, 447. H. Hegermann, Hebr, 62 spricht im Blick auf Hebr 2,1–4 von der „ersten Paraklese“ innerhalb des Hebr. Vgl. hierzu auch H. Löhr, Umkehr, 79 und H.W. Attridge, Hebr, 63: „The first four verses of chap. 2 fire a paraenetic salvo, the first of many exhortations that are distributed through the opening chapters and are increased in length and intensity in the later portions of the text“, wobei Attridge konkret auf Hebr 10,19–39 und auf Hebr 12,1–13,19 verweist. 315 O. Michel, Hebr, 127 sieht unter Verweis auf F. Blaß und A. Debrunner in dem Adverb περισσοτέρως einen „volkstümliche.[n] Ersatz für μᾶλλον“; in diesem Sinne auch C. Spicq, Hebr II, 25. 316 Vgl. zum Bezug des Adverbs auf περισσοτέρος auf das Prädikat δεῖ etwa H.-F. Weiß, Hebr, 181 und M. Karrer, Hebr I, 150; anders hier etwa E. Gräßer, Hebr I, 98 und H. Braun, Hebr, 47, die das Adverb auf den Infinitiv προσέχειν beziehen möchten. 317 Vgl. zu dieser Notwendigkeit H. Braun, Hebr, 47: „Δεῖ meint, wie 9,26 und 11,6, die logische, hier aber, wie 1Th 4,1, auch die paränetische Notwendigkeit“. Vgl. in diesem Sinne auch H. Löhr, Umkehr, 79. 318 Vgl. hierzu neben anderen etwa G. Schunack, Hebr, 31, E. Gräßer, Hebr I, 100 und auch H. Löhr, Umkehr, 79, darüber hinaus auch u. 131f.; H. Braun, Hebr, 47 macht zurecht darauf aufmerksam, dass, anders als hier in Hebr 2,1–4, im Hebr oft „auch das paränetische ,ihrʻ“ begegnet. 319 Vgl. hierzu H.-F. Weiß, Hebr, 182, der eben aufgrund des hier verwendeten kommunikativen ,wirʻ die Ansicht vertritt, dass der Verfasser des Hebr „sich mit seinen Adressaten zusammenschließt“. In diesem Sinne auch H. Hegermann, Hebr, 62: „Daraus folgt, jeder Mensch [!] muß diesem Geschehen um seines Lebens willen höchste Beachtung schenken, oder er müßte es doch“. Daraus ergibt sich, dass etwa im Blick auf Hebr 2,1 formulierte Aussage von C.R. Koester, Hebr, 208: „He warns that they are in danger of ‚drift‘“, am Impetus dieser Textpassage vorbeigehen 320 So aber A. Strobel, Hebr, 95, der an dieser Stelle feststellt: „Sehen wir recht, dann bezieht sich die Aussage [d.h. Hebr 2,1] nicht auf früher vermitteltes katechetisches Wissen, sondern auf den eben vorgetragenen homiletischen Briefteil in Verbindung mit der dazugehörigen Schriftlesung“. 321 H.-F. Weiß, Hebr, 184. 314

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steht322. Auf diese Heilsbotschaft sollen die Adressaten achtgeben323 bzw. ‚zusteuern‘324, damit sie an ihr und an der ihr inhärenten τηλικαύτη σωτηρία nicht vorbeitreiben325. Wer sich gegenüber der τηλικαύτη σωτηρία jedoch als lethargisch und gleichgültig erweist und sie ‚abtut‘326, der wird dem zukünftigen Zorn Gottes nicht entgehen können Diese in Hebr 2,1b.c beschriebene Notwendigkeit wird in Hebr 2,2f. mit Hilfe eines Schlusses a minori ad maius327 begründet: Wenn schon der von den Engeln verkündete λόγος328 βέβαιος329, also im Blick auf dessen Geltung verbindlich gewesen und jede Übertretung dessen entsprechend vergolten worden ist330, würde auch die – von der hier wiederum mit einem kommunikativen ἡμεῖς angedeuteten Gemeinschaft aus dem auctor ad Hebraeos und seinen Adressaten331 jener entgegengebrachten – Nichtachtung332 der gegenüber diesem λόγος weitaus verbindlicheren τηλικαύτη σωτηρία

Vgl. hierzu auch G. Schunack, Hebr, 29: „Das Gehörte ist die christliche Heilsbotschaft, deren grundlegender Inhalt Gottes Reden im Sohn ist“; ähnlich auch W.L. Lane, Hebr I, 37: „The designation of the kerygma as ‚what has been heard‘ ... corresponds appropriately to the presentation of revelation in the exordium as the spoken utterance of God“. H.W. Attridge, Hebr, 64, A. 18 verweist auf ähnliche Verweise auf die Gesamtheit der christlichen Heilsbotschaft in 2Tim 1,13; 2,2 und auch auf Hebr 13,7. 323 Vgl. hierzu E. Gräßer, Hebr I, 100: Die ἀκουθέντα werden hier „hingestellt als dasjenige, was es streng zu beachten gilt“. W. Bauer/B. Aland, Wörterbuch, s.v. προσέχω, 1430 geben für προσέχειν Hebr 2,1 die Bedeutungen „achten auf, hören auf, folgen“ an. 324 Zum „nautical overtone“ von προσέχειν vgl. W.L. Lane, Hebr I, 37 und M. Karrer, Hebr I, 152. Karrer paraphrasiert Hebr 2,1a.b folgendermaßen: „‚Wir müssen‘ ... auf das Gehörte ‚zuhalten‘ und bei ihm ‚anlegen‘“. 325 Zu dieser Bedeutung des Prädikats παραρυῶμεν Hebr 2,1 vgl. W. Bauer/B. Aland, Wörterbuch, s.v. παραρέω, 1256. C. Marcheselli-Casale, Hebr, 144 weist darauf hin, dass „l’uso di parareō descrive la fuoriuscita delle acque di un fiume dal loro letto“. 326 Vgl. K. Backhaus, Hebr, 106: „Das Verb ‚abtun‘ ..., Gegenbegriff zum ‚Acht haben‘ in V. 1, bezeichnet die fahrlässig-träge Gleichgültigkeit gegenüber dem in Christus geschenkten Heil“. 327 Zu diesem Schlussverfahren vgl. etwa H.-F. Weiß, Hebr, 184, A. 11 und F. Siegert, Argumentation, 70.190f. 328 E. Gräßer, Hebr I, 102 bezieht den von den Engeln verkündeten λόγος auf die Thora; ähnlich auch H.-F. Weiß, Hebr, 185 mit A. 13.14. 329 Zu diesem Terminus W.L. Lane, Hebr I, 39: „That message proved to be legally valid ... precisely because it was a word spoken by God“. 330 In Hebr 2,3f. wird die Gegenüberstellung υἱὸς θεοῦ – ἄγγελοι, die die Argumentation Hebr 1,5–14 bestimmte und im Nachweis der Inferiorität Letzterer gegenüber dem Ersteren gipfelte, aufgenommen und zugrundegelegt; vgl. etwa H.-F. Weiß, Hebr, 184. Zum Begriff μισθαποδοσία, der im NT nur im Hebr belegt ist, vgl. etwa H.R. Balz, Art. μισθαποδοσία, in: EWNT2 II, 1062. 331 C. Spicq, Hebr II, 26 möchte dieses kommunikative ἡμεῖς auf die Christen insgesamt beziehen: „…, les chrétiens ne peuvent espérer se soustraire au châtiment“, H. Braun, Hebr, 49 sieht hier „das in V 2 gemeinte, aber nicht genannte Israel“ im Blick. Beide Interpretationsvorschläge scheinen jedoch durch die Ausführungen in Hebr 2,1–4 insgesamt, insbesondere aber auch durch das in Hebr 2,1 Dargelegte nicht gedeckt. 332 Zu dieser Übersetzung des Partizips ἀμελήσαντες vgl. W. Bauer/B. Aland, Wörterbuch, s.v. ἀμελέω, 87. 322

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Die Analyse von Hebr 5,11–6,12 im kommenden göttlichen Gericht333 entsprechend geahndet werden. Diese τηλικαύτη σωτηρία nahm ihren Anfang mit dem λαλεῖσθαι διὰ τοῦ κυρίου (Hebr 2,3c), wurde bei der Gemeinschaft des Verfassers und der Adressaten des Hebr (εἰς ἡμᾶς) dann aber untermauert334 durch die, die eben dieses λαλεῖσθαι διὰ τοῦ κυρίου gehört bzw. gesehen hatten335 (Hebr 2,3c).

Von erheblichem Belang für die Interpretation des Hebr insgesamt, aber auch für diejenige von Hebr 2,1–4 ist nun die Frage, wie das Syntagma λαλεῖσθαι διὰ τοῦ κυρίου Hebr 2,3c zu verstehen ist. In der exegetischen Literatur ist zunächst weitestgehend unumstritten, dass der Begriff κύριος nicht auf die Person Gottes, sondern auf diejenige Jesu zu beziehen ist336. Darüber hinaus lässt sich aufgrund der Parallelität der auf den Begriff der τηλικαύτη σωτηρία bezogene Wendung λαλεῖσθαι διὰ τοῦ κυρίου Hebr 2,3c zu dem Syntagma ὁ δι’ ἀγγέλων λαληθεὶς λόγος Hebr 2,2a337 kaum sinnvoll bestreiten, dass der mit der präpositionalen Wendung διὰ τοῦ κυρίου Bezeichnete die Tätigkeit des Redens – in gleicher Wiese wie die ἄγγελοι – nicht in eigener Verantwortung, sondern als Vermittler338 Gottes ausübt bzw. ausgeübt hat339. Unklar ist nun allerdings, wen der Verfasser des Hebr hier in Hebr 2,3 mit dem κύριος-Titel exakt bezeichnen wollte: (a) Eine Gruppe von Forschern sieht in jenem eine Anspielung auf die Predigt des historischen Jesus; der Verfasser des Hebr wolle zum Ausdruck bringen, dass die Botschaft der Rettung „ihren Ausgangspunkt nicht bei den Engeln …, sondern bei dem Herrn selbst, also bei dem irdischen Christus“340 und seiner Verkündigung genommen habe. Mit der Formulierung πῶς ἡμεῖς ἐκφευξόμεθα Hebr 2,3 spielt der Verfasser des Hebr auf das endzeitliche „Zornesgericht“ (H.-F. Weiß, Hebr, 186 mit A. 17) an; vgl. hierzu etwa auch M. Karrer, Hebr I, 155. 334 Vgl. hierzu W.L. Lane, Hebr I, 39: „The message of salvation was proclaimed to those who did not have the privilege of hearing the Lord by those who had been witnesses to his word and deed. In reference to these witnesses, it is not necessary to think of the apostolic company“. O. Kuss, Hebr, 39 weist im Blick auf den Terminus ἐβεβαιώθη darauf hin, dass hier ausgesagt werden solle, dass „Ohrenzeugen ... die Botschaft der zweiten Generation rechtskräftig, also mit rechtlichen Konsequenzen überliefert haben“. 335 Damit wird die Gemeinschaft des Verfassers des Hebr und seiner Adressaten „von den Ersthörern abgehoben“ (H. Braun, Hebr, 49), was zugleich heißt, dass die ‚Zweithörer‘ nicht aus Palästina stammen können (vgl. hierzu H. Braun, Hebr, 49). 336 Nach E. Gräßer, Hebr I, 105 handelt es sich bei dem hier genannten κύριος um Jesus, nicht um Gott; ähnlich auch M. Karrer, Hebr I, 154f. Anders hier M. Bachmann, Erwägungen, 365ff.; vgl. hierzu die kritische Auseinandersetzung mit Bachmann bei H. Löhr, Umkehr, 83f. 337 Dies beobachtet etwa E. Gräßer, Hebr I, 105; vgl. ähnlich auch W.L. Lane, Hebr I, 38 und H. Löhr, Umkehr, 82 mit A. 361. 338 Vgl. hierzu F. Blaß/A. Debrunner/F. Rehkopf, Grammatik, § 223.3, 180. 339 Vgl. hierzu auch E. Riggenbach, Hebr, 31, A. 84: „Die Verwendung der Präposition διά, nicht ὑπό … oder παρά … läßt Christus wie die Engel v. 2 als Träger und Vermittler des göttlichen Wortes erscheinen“. 340 A. Strobel, Hebr, 96f.; in diesem Sinne auch J. Héring, Hebr, 29: „Elle [d.h. la verité] fut prêchée par le Seigneur lui-même“. Vgl. auch H.W. Attridge, Hebr, 67 mit Verweis auf Apg 10,36ff. 333

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(b) Dem gegenüber möchte etwa A. Seeberg die Wendung λαλεῖσθαι διὰ τοῦ κυρίου nicht auf den irdischen Jesus, sondern ausschließlich auf den erhöhten Christus bezogen wissen341. (c) Eine weitergehende, argumentationslogisch letztendlich allerdings vermittelnde Position nehmen diejenigen ein, die – unter Verweis auf Hebr 1,2342 und anknüpfend an paulinisches Denken343 – die Wendung λαλεῖσθαι διὰ τοῦ κυρίου im Sinne einer „Rede [Gottes] durch den Herrn“344 interpretieren, die inhaltlich sowohl die Predigt des irdischen Jesus als auch die Offenbarung des erhöhten Christus umfasse345. Die semasiologische Analyse der Belege für den κύριος-Titel innerhalb des Hebr vermag in dieser Frage zu keiner Entscheidung zu verhelfen; dieser Titel begegnet in der Epistel insgesamt an achtzehn Stellen, nämlich in Hebr 1,10; 2,3; 7,14.21; 8,2.8.9.10.11; 10,16.30; 12,5.6.14 und 13,6.20. Von diesen Belegen sind folgende dreizehn eindeutig auf Gott als κύριος zu beziehen: Hebr 7,21; 8,2.8.9.10.11; 10,16.30; 12,5.6 und 13,6. In Hebr 12,14 und 13,20 werden Jesus als der erhöhte Herr346, in Hebr 1,10–12 Jesus als der präexistente und ewige Sohn347 und in Hebr 7,14 der irdische Jesus348 mit dem κύριος-Titel belegt349. Dieser Befund lässt es zwar zunächst grundsätzlich nicht unmöglich erscheinen, dass der Verfasser des Hebr in Hebr 2,3 – im Sinne des dritten der o. skizzierten Deutungsvorschläge – „den Kyrios-Titel eindeutig auf den Erhöhten ... und [!] ... (wie Paulus) von daher [zugleich] auch auf den irdischen Jesus“350 bezogen, das Syntagma also im Sinne einer Rede Gottes durch den κύριος Jesus in der Einheit seiner Per-

Vgl. Hebr, 17; vgl. auch ders., Katechismus, 205, wobei er auf 2Petr 3,2, Apg 10,42 und Lk 24,46f. verweist. 342 Vgl. hierzu F. Laub, Bekenntnis, 47, A. 140, der auf den „strukturmäßige[n] Zusammenhang zwischen Hebr 2,3 und Hebr 1,2f. hinweist. 343 Vgl. hierzu explizit E. Gräßer, Hebr I, 106. 344 H.-F. Weiß, Hebr, 187; Weiß verbindet das Syntagma λαλεῖσθαι διὰ τοῦ κυρίου mit dem unmittelbaren Kontext von Hebr 2,3a.b und möchte die Wendung τηλικαύτη σωτηρία ... ἥτις ἀρχὴν λαβοῦσα λαλεῖσθαι διὰ τοῦ κυρίου insgesamt als Hinweis auf „eine durch Gottes Wort konstituierte ‚Heilsgeschichte‘, der es auf Seiten der ‚Adressaten‘ dieser Heilsgeschichte durch das ‚Hören‘ bzw. durch Gehorsam zu entsprechen gilt“, verstehen.. 345 Vgl. hierzu E. Gräßer, Hebr I, 106; nach M. Karrer, Hebr I, 155 sind in dieser Wendung „Menschwerdung, irdisches Wirken Jesu, Passion und Erhöhung“ subsumiert. In diesem Sinne auch G. Schunack, Hebr, 30: „Das ist nicht einfach die Verkündigung des historischen Jesus, sondern das geschichtliche Dasein und Werk Jesu in der Einheit mit dem Wirken des Erhöhten“. Etwas anders akzentuiert hier H. Löhr, Umkehr, 82, der diese Wendung auf die „soteriologische. Verkündigung des im und durch den Sohn Geschehenen“ beziehen möchte. 346 Vgl. hierzu m.R. E.Gräßer, Hebr I, 106. 347 Vgl. hierzu etwa E. Gräßer, Hebr I, 87, der darauf hinweist, dass in Hebr 1,10 der Sohn als „(Mit-)Schöpfer des Universums“, damit also als präexistente Figur beschrieben wird. 348 Vgl. hierzu wiederum E. Gräßer, Hebr I, 106. 349 Vgl. hierzu H.-F. Weiß, Hebr, 187, A. 20. 350 E. Gräßer, Hebr I, 106. 341

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sonalität als Präexistenter, Irdischer und Erhöhter verstanden wissen wollte, nötigt aber in keinem Falle zu der Annahme, dass auch in Hebr 2,3 ein solches umfassendes, letzten Endes ontologisches Verständnis des κύριος-Begriffes und damit der Person Christi vorliegt. Schließlich ist der auctor ad Hebraeos etwa in Hebr 7,14 durchaus in der Lage, den κύριος-Titel lediglich auf die Person des historischen, in Zeit und Geschichte wirksamen Jesus und auf dessen irdische Personalität zu beziehen, ohne dabei die Dimensionen der Präexistenz und der Erhöhung zugleich mitbedenken und mitmeinen oder diese implizit voraussetzen zu müssen351, wenn er hier auf die Abstammung Jesu aus dem Stamm Juda abhebt352: πρόδηλον γὰρ ὅτι ἐξ Ἰούδα ἀνατέταλκεν ὁ κύριος ἡμῶν, εἰς ἣν φυλὴν περὶ ἱερέων οὐδὲν Μωϋσῆς ἐλάλησεν353. Umgekehrt vermag der Verfasser des Hebr die Person Christi in den Dimensionen der Präexistenz und/oder der Erhöhung mit dem κύριος-Begriff zu bezeichnen, ohne dabei die Dimension seiner irdischen Existenz mitsamt ihrer Begrenztheit in den Blick zu nehmen; dies zeigen etwa die Ausführungen in Hebr 12,14: εἰρήνην διώκετε μετὰ πάντων καὶ τὸν ἁγιασμόν, οὗ χωρὶς οὐδεὶς ὄψεται τὸν κύριον, und in Hebr 1,10–12, hier in Aufnahme eines Zitats aus Ps 101,26–28LXX: κατ᾽ ἀρχὰς σύ κύριε τὴν γῆν ἐθεμελίωσας καὶ ἔργα τῶν χειρῶν σού εἰσιν οἱ οὐρανοί (27) αὐτοὶ ἀπολοῦνται σὺ δὲ διαμενεῖς καὶ πάντες ὡς ἱμάτιον παλαιωθήσονται καὶ ὡσεὶ περιβόλαιον ἀλλάξεις αὐτούς καὶ ἀλλαγήσονται (28) σὺ δὲ ὁ αὐτὸς εἶ καὶ τὰ ἔτη σου οὐκ ἐκλείψουσιν. Diese Belege zeigen: Der Verfasser des Hebr verwendet den κύριος-Begriff, sofern er ihn auf Jesus bezieht, offensichtlich relational und drückt mittels dessen die Relation zwischen Jesus als dem υἱὸς θεοὺ und der Gemeinde der Christen aus354; ontologische Implikationen scheinen diesem Begriff nicht, zuminVgl. hierzu etwa O. Michel, Hebr, 271: „Hebr setzt sich nicht mit dem Inhalt der synoptischen Geburtsgeschichten auseinander, sondern unterstreicht lediglich die besondere menschliche Herkunft Jesu (ähnlich wie die Stammbäume Jesu“. Diesen Beleg und den mit diesem transportierten Sachverhalt scheint H. Löhr, Umkehr, 82 zu übersehen, wenn er formuliert: „Dem Hebr ist an einem Rekurs auf den historischen Jesus, abgesehen vom erhöhten Kyrios, überhaupt nicht gelegen; der Glaube sieht beides nicht getrennt, auch nicht ununterscheidbar vermengt, sondern in Kontinuität verbunden“. 352 Vgl. hierzu E. Gräßer, Hebr II, 41f.: „Die Herkunft aus Juda gilt ihm [d.h. dem auctor ad Hebraeos] natürlich nur für den Menschen Jesus, nicht für den ,Sohn Gottesʻ“. Umso erstaunlicher ist aber, dass der Verfasser des Hebr dann in Hebr 7,14 die Wendung κύριος ἡμῶν gebraucht. 353 Vgl. hierzu E. Gräßer, Hebr II, 41, der die Ausführungen in Hebr 7,14 im Rahmen des urchristlichen Bekenntnisses zur Davidssohnschaft Jesu verortet, dann aber ausführt: „Aber er [d.h. der Verfasser des Hebr] wertet diesen Aspekt nicht im geringsten aus. Ihm liegt wegen des zu rechtfertigenden Priesterwechsels an der priesterrechtlich relevanten genealogischen, nicht an der messianologischen Festellung, daß Jesus nicht levitischer Abkunft ist“. Vgl. zu dieser Frage auch M. Karrer, Hebr II, 83f. 354 Damit scheint sich der Verfasser des Hebr auf dem Boden des allgemeingriechischen Sprachgebrauches zu befinden; vgl. hierzu J.A. Fitzmyer, Art. κύριος, in: EWNT² II, 814: „κ.[ύριος] bezeichnet den Gebieter, den Herrn, eine Person, die Kontrolle oder Herrschaft über eine andere Person oder eine Sache besitzt, verbunden mit Entscheidungsvollmacht.“. 351

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dest aber nicht primär, inhärent zu sein. Daraus aber folgt, dass die Frage, wer mit dem κύριος-Begriff in Hebr 2,3 konkret bezeichnet werden sollte, letztlich nur auf dem Wege einer dessen semasiologische Analyse ergänzenden kontextualisierenden Interpretation ermittelt werden kann. Die Ausführungen in Hebr 2,3c.d legen die Annahme nahe, dass der auctor ad Hebraeos hier – in temporaler Differenzierung – offensichtlich zwischen zwei zeitlich abgrenzbaren, einander nicht überlappenden Phasen des Weges der σωτηρία355 von deren Quelle und Ursprung bis hin zur Gemeinschaft der Adressaten seiner Epistel und seiner selbst zu unterscheiden vermag, zwischen dessen Anfang, der im λαλεῖσθαι διὰ τοῦ κυρίου Gestalt gewann, und dessen rechtsgültiger356 Verfestigung bei der Gemeinschaft der Adressaten und des Verfassers der Epistel durch die (Erst-)Hörer eben jenes λαλεῖσθαι διὰ τοῦ κυρίου357. Für die Interpretation des ἀρχή-Begriffs in diesem zeitlichen und nicht in eschatologischem Sinne358 spricht zunächst die in Hebr 2,3c.d verwendete Temporalstruktur: Im Verhältnis zu dem im Aorist stehenden Prädikat ἐβεβαιώθη Hebr 2,3c zeigt das sich das grammatikalisch auf das Relativpronomen ἥτις359, logisch auf das Substantiv σωτηρία beziehende Partizip Aorist λαβοῦσα Hebr 2,3c die relative Vorzeitigkeit des in Hebr 2,3c Ausgeführten gegenüber dem in Hebr 2,3d Dargelegten an, was seinerseits bedeutet, dass die ἀρχή, der σωτηρία als zeitlich vor deren Verfestigung bei der Gemeinschaft der Adressaten und des Verfassers des Hebr liegend und nicht mit jener koinzident zu denken ist360, was nun wiederum heißt, dass der Begriff der ἀρχή, nun eben nicht eschatologisch, sondern Zum Verhältnis der Termini σωτηρία und λόγος vgl. E. Gräßer, Hebr I, 106: „Die alte Streitfrage, ob das Heil selbst oder die Verkündigung des Heils mit dem Kyrios begonnen habe, ist (im Sinne des Hebr) falsch gestellt. Das Heil ist wesentlich Wort …., das im Verkündigungsgeschehen … präsent ist und die Gegenwart des wandernden Gottesvolkes als das eschatologische σήμερον qualifiziert …., das nie zur historischen Vergangenheit werden kann“. 356 Vgl. hierzu o. 57, A. 119. 357 Vgl. hierzu etwa E. Gräßer, Hebr I, 105: „Durch das Reden Gottes im Sohn ist die Soteria unüberbietbar und definitiv geworden. Als solche hat sie einen geschichtlichen Ausgangspunkt ….. Diesen faßt Hebr als Beginn einer Traditionskette, genauer: als erstes Glied einer Zeugenkette in den Blick“. Auch H.-F. Weiß, Hebr, 187 sieht in Hebr 2,3c.d „eine Traditionslinie … eindeutig vorausgesetzt: vom κύριος ausgehend über die ἀκουσάντες bis hin zu den Adressaten“. O. Michel, Hebr, 129 verweist in diesem Zusammenhang auf die Ausführungen des Papias nach Eusebios, hist.eccl. III 39,4. 358 Zum ἀρχή-Begriff in eschatologischem Sinne vgl. etwa E. Gräßer, Hebr I, 105: „Die feierliche Formulierung ἀρχὴν λαβεῖν ... markiert … die eschatologische ἀρχή im Sinne von 1,2: Durch das Reden Gottes im Sohn ist die Soteria unüberbietbar und definitiv geworden“ (vgl.o.); in diese Richtung denkt auch H.-F. Weiß, Hebr, 187, A. 20, der darauf hinweist, dass der ἀρχήBegriff in Hebr 2,3 „nicht analog zu ἀρχή in Mk 1,1 und Act 1,1f.“ zu verstehen sei. 359 Vgl. hierzu W. Bauer/B. Aland, Wörterbuch, s.v. ὅστις κτλ., 1188: „Sehr häufig ersetzt ὅστις, wie selten im klass[ischen]. Sprachgebrauch …, desto häufiger in d[er]. späteren Gräz[ität]., das einfache Relativpronomen“. 360 Vgl. hierzu F. Blaß/A. Debrunner/F. Rehkopf, Grammatik, § 339, 277: „Da das die Vollendung ausdrückende P[ar]t[i]z[ip].Aor[ist]. meistens vor dem Verb.fin. steht, verbindet sich mit 355

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temporal zu interpretieren ist361. Ein eschatologisches ἀρχή,-Verständnis ließe, da die Ausführungen Hebr 2,3c.d dann kein zeitliches Nacheinander, sondern ein – aus der Sicht der Adressaten des Hebr und seines Verfassers in der Vergangenheit liegendes – funktionales Neben- bzw. Miteinander der Aktivitäten des κύριος und der ἀκουσάντες skizzieren müssten, in Hebr 2,3c.d ein das Momentum der Gleichzeitigkeit explizierendes participium praesens erwarten. Darüber hinaus vermag der auctor ad Hebraeos das Reden Gottes in seinem Sohn in Hebr 1,2 in eschatologischer Perspektive auf die ἔσχατη τῶν ἡμερῶν zu terminieren; es nähme wunder, bezeichnete jener diese ἔσχατη τῶν ἡμερῶν in Hebr 2,3c nun – ebenfalls in eschatologischer Perspektive, aber nachgerade entgegengesetzt – als ἀρχὴ τῆς σωτηρίας. Weitaus plausibler will es demgegenüber scheinen, im Rahmen der eschatologisch zu fassenden ἔσχατη τῶν ἡμερῶν die im λαλεῖσθαι διὰ τοῦ κυρίου sich ereignende ἀρχὴ τῆς σωτηρίας als zeitliche, in der Gegenwart der Adressaten und des Verfassers der Epistel allerdings bereits abgeschlossene ἀρχή eben dieses Eschatons zu verstehen362. Ein in diesem Sinne gefasster ἀρχή-Begriff Hebr 2,3c nötigt nun aber zu einem Bezug des in diesem Halbvers Dargelegten auf den historischen Jesus und dessen Predigt363, da „ein von der Predigt des Irdischen [nicht] unterschiedenes Reden des Erhöhten“364, das als Offenbarung des erhöhten κύριος zu qualifizieren wäre, mit dem Gedanken temporaler Abgeschlossenheit bzw. temporaler Be-

dem Ptz.Aor. bis zu einem gewissen Grade auch die Bedeutung der relativen Vorzeitigkeit (vorzeitig im Verhältnis zum übergeordneten Verb.fin.)“. Zwar schränken F. Blaß/A. Debrunner/F. Rehkopf diese Aussage im gleichen Atemzug ein: „Doch haftet diese Bedeutung der relativen Vergangenheit keinesfalls notwendig dem Ptz.Aor. an; es fehlt dem Ptz.Aor. das Moment der relativen Zeit, wenn seine Handlung mit der des aoristischen Verb[ums]. fin[itums]. identisch ist (Koinzidenz beider Verbalinhalte)“ (277f.); diese Einschränkung greift in Hebr 2,3c.d schon aufgrund des Hebr 2,3d Dargelegten allerdings nicht. 361 Vgl. hierzu auch K. Weiß, Art. ἀρχή, in: EWNT² I, 389; Weiß bezieht die Wendung ἀρχὴν λαβοῦσα auf „das erste Auftreten Jesu“. 362 Vgl. hierzu O. Michel, Hebr, 129: „Das Heil begann mit dem Wort Jesu [im Original gesperrt]. Heil und Kreuz sind durch Paulus so miteinander verbunden worden, daß die Verbindung: Heil und Wort auffällt. Wir stehen in einer Überlieferung, in der auf das Wort Jesu Wert gelegt wird und in der man die ,Hörerʻ … nach dem Wort Jesu fragt“. 363 Vgl. hierzu auch C.R. Koester, Hebr, 210: Hebr 2,3c.d „suggests that the preaching received by the early community was understood to continue Jesus’ own preaching”; in diesem Sinne auch C. Marcheselli-Casale, Hebr, 146f.: „Per Ebrei è la comunità delle origini che, ricevuta quella predicazione, per via di ascolto …, da Gesù il Signore e dagli apostoli, se la ritrova messa a punto dagli evangelisti“. Weitergehend noch H. Windisch, Hebr, 19: „Das Heil setzt ein mit der Predigt Jesu oder Jesus war sein erster Prediger …: beide Auffassungen sind möglich. In jedem Fall bekommt hier schon die Predigt Jesu Heilsbedeutung, ein Gedanke, der bei Paulus fehlt“. 364 E. Gräßer, Hebr I, 106; Gräßer verneint im Blick auf Hebr eine Differenzierung zwischen der Predigt des irdischen Jesus und einem in Offenbarung sich ereignenden Reden des erhöhten Herren.

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grenzung allein schon aufgrund des in Hebr 7,25; 8,1f. Ausgeführten – hier werden das ewig dauernde Leben und die andauernde soteriologisch-priesterliche Aktivität des ἀρχιερεύς Christus geschildert – grundsätzlich nur schwerlich in Einklang zu bringen wäre. Allerdings verdient in diesem Zusammenhang die Tatsache Beachtung, dass der Verfasser des Hebr die Vorstellung eines offenbarenden Redens des erhöhten κύριος Christus nicht zu kennen scheint: Der Erhöhte wird als jemand beschrieben, der als himmlischer ἀρχιερεύς für die Glaubenden eintritt (Hebr 7,25; 8,1f.)365 und als solcher, der nach der Darbringung des einen Opfers für die Sünden zur Rechten Gottes darauf wartet, dass ihm seine Feinde untertan werden: οὗτος δὲ μίαν ὑπὲρ ἁμαρτιῶν προσενέγκας θυσίαν εἰς τὸ διηνεκὲς ἐκάθισεν ἐν δεξιᾷ τοῦ θεοῦ, (13) τὸ λοιπὸν ἐκδεχόμενος ἕως τεθῶσιν οἱ ἐχθροὶ αὐτοῦ ὑποπόδιον τῶν ποδῶν αὐτοῦ (Hebr 10,12f.)366, nicht aber als solcher, der sich vom Himmel herab den Gläubigen offenbart367, eine Anschauung, die in dieser Weise bereits in Hebr 1,3 formuliert ist368. Wenn diese Beobachtungen das systematisch-theologische Denken des auctor ad Hebraeos in diesem Punkte vollständig und zutreffend widerspiegelte, stützte dies mit Notwendigkeit die Annahme des Bezugs des Syntagma λαλεῖσθαι διὰ τοῦ κυρίου auf den historischen Jesus und dessen ebenfalls historische Predigt369. Vgl. hierzu H.-F. Weiß, Hebr, 417 zu Hebr 7,25: „…: die ,Mittlerschaftʻ des neuen Priesters besteht nicht nur in der (einmaligen) Begründung einer ,besseren Hoffnungʻ …; die ,Bürgschaftʻ Jesu für die ,bessere Heilsordnungʻ … erweist sich vielmehr auch darin, daß er, der – als der zu Gott Erhöhte – ,jederzeit lebtʻ, für diejenigen (stellvertretend) ,eintrittʻ …, die ,zu Gott hinzutretenʻ. Ja, das ,immerwährende Lebenʻ des Erhöhten ist geradezu darauf ausgerichtet, hat darin sein Ziel …, daß er ,für sie eintrittʻ. Das Motiv des εἰς τὸν αἰῶνα aus Ps 110,3 … wird also nunmehr auf das Wirken des erhöhten Priesters in der Gegenwart bezogen, und zwar auf sein ununterbrochenes gegenwärtiges Wirken“. 366 Vgl. hierzu etwa H.-F. Weiß, Hebr, 512: „Der am Ende nutzlosen Geschäftigkeit der am Opferaltar ,stehendenʻ Priester steht das ,eine Opferʻ dessen gegenüber, der sich – nachdem er dies ,eine Opferʻ dargebracht hat – alsbald ,zur Rechten Gottes gesetzt hatʻ“, und 513: „Der Erhöhte hat sich ,für immer zur Rechten Gottes gesetztʻ – und kann dementsprechend ,im übrigenʻ, was also die Zukunft betrifft, gleichsam in Ruhe ,erwarten, bis daß seine Feinde zum Schemel seiner Füße gelegt worden sindʻ“. In diesem Sinne auch H. Hegermann, Hebr, 199: „Der Autor benutzt den Bildgehalt dieses Schriftzitates [d.h. des Zitates aus Ps 110,1], das majestätische Thronen des Christus, um in ihm sein hohepriesterliches Hinzutreten zur Ruhe kommen zu lassen“. 367 Vgl. hierzu M. Karrer, Hebr II, 200: „Sein [d.h. Christi] himmlisches Hohepriestertum ist nicht durch eine Fortführung oder Wiederholung von Opfern gekennzeichnet, sondern durch seine ununterbrochene priesterliche Gegenwart in der Kraft Gottes, wo er kraftvoll für die Seinen eintritt“. 368 Zum Verweis auf Hebr 1,3 vgl. etwa H.-F. Weiß, Hebr, 512, A. 55. 369 Vgl. zum Gesamtzusammenhang durchaus m.R. W.L. Lane, Hebr I, 39: „The author of Hebrews is vitally interested in the activity of preaching. He is aware of the passage of time, which separates the period of Jesus’ ministry from his own day; he had not participated in the events that marked the inauguration of salvation. But he insists upon the continuity of the present with that pristine past by sketching the character of the tradition through which he and his readers came to faith“. 365

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Diese Interpretation der Wendung λαλεῖσθαι διὰ τοῦ κυρίου wird untermauert durch den vielfach beobachteten Hinweis, dass Hebr 2,3c in Analogie zu Hebr 2,2a formuliert ist370; dem Syntagma ὁ δι’ ἀγγέλων λαληθεὶς λόγος Hebr 2,2a entspricht als strukturale und sachliche Analogie die Wendung λαλεῖσθαι διὰ τοῦ κυρίου Hebr 2,3c. Wenn nun aber das Syntagma ὁ δι’ ἀγγέλων λαληθεὶς λόγος Hebr 2,2a auf die durch Engel vermittelte Verkündigung des alttestamentlichen νόμος zu beziehen ist371, also einen Sprechakt im engeren Sinne bezeichnet, dürfte dies analog auch für die Wendung λαλεῖσθαι διὰ τοῦ κυρίου Hebr 2,3c gelten, die somit dann auf die „Wortverkündigung des irdischen Jesus“372 und eben nicht – weitaus umfassender – auf die „soteriologische. Verkündigung des im und durch den Sohn Geschehenen“373 abhöbe. Der temporalen Interpretation des ἀρχή-Begriffs Hebr 2,3c und des damit zusammenhängenden Bezugs der Wendung λαλεῖσθαι διὰ τοῦ κυρίου auf die Predigt des historischen Jesus entspricht darüber hinaus die Beobachtung, dass der Verfasser des Hebr in Hebr 1,2 zur Explikation des Phänomens des umfassenden Redens Gottes im Sohn in der Einheit der Personalität Christi – d.h. in der Einheit aus Präexistentem, Irdischem und Erhöhtem – die Präposition ἐν mit dem von ihr abhängigen Dativ υἱῷ374 verwendet375; dies legt im Blick auf die Frage nach dem konkreten Bezug des κύριος-Titels in Hebr 2,3c die Annahme nahe, dass der auctor ad Hebraeos hier, da er eine deutlich andere Formulierung als in Hebr 1,2 wählt – die Präposition διά in Verbindung mit dem Genitiv κυρίου –376, anders als dort, vergleichbar aber mit Hebr 7,14, lediglich auf den historischen Jesus und dessen in Zeit und Geschichte sich ereignende – als solche dann ebenfalls historische – soteriologische Verkündigung anspielen wollte377. Vgl. hierzu bereits o. 132. Vgl. hierzu bereits o. 99f. und darüber hinaus neben anderen etwa C. Marcheselli-Casale, Hebr, 144: „La legge mosaica, cioè, è fondamento solido per emettere un ,validoʻ giudizio su qualunque questione. Questo contesto giuridico-culturale sembra essere familiare a Eb 2,2: gli angeli sono i garanti della legge mosaica e della sua validità, al punto che ogni inadempienza è punita“. 372 H. Löhr, Umkehr, 82. 373 H. Löhr, Umkehr, 82. 374 Zum artikellosen Gebrauch des υἱός-Begriffs vgl. etwa H.W. Attridge, Hebr, 39: „The expression, without a definite article, does not imply that there are many sons whom God could have chosen as agents of revelation. Rather the term emphasizes the exalted status of that final agent“; vgl. auch C. Spicq, Hebr I, 5: „L’absence de l’article devant υἰῷ souligne la nature et la qualité du témoin: Le Christ est plus qu’un prophète, encore qu’il en ait joué le rôle“. 375 H.W. Attridge, Hebr, 64, A. 18 verweist auf ähnliche Verweise auf die Gesamtheit der christlichen Heilsbotschaft in 2Tim 1,13; 2,2 und auch auf Hebr 13,7. 376 Diese Differenz wird in der Forschung sehr häufig übermalt; vgl. hierzu etwa H. Löhr, Umkehr, 82. 377 So m. R. E. Riggenbach, Hebr, 31: „Während aber der Vf 1,2 das durch Christus vermittelte Gotteswort zu einer Einheit zusammengefaßt hatte, unterscheidet er hier zwischen der anfänglichen Verkündigung der Heilsbotschaft durch den Herrn selbst während dessen irdischer Wirksamkeit und der Überlieferung seines Wortes durch die ersten Hörer desselben an die 370 371

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Der Begriff υἱός im Sinne des auf Jesus bezogenen Titels υἱὸς θεοῦ378 begegnet im Hebr abgesehen von Hebr 1,2 noch in Hebr 1,5.8; (2,10); 3,6; 4,14; 5,5.8; 6,6; 7,3.28; 10,29. Von besonderer Bedeutung sind dabei die Belege Hebr 7,28 – hier wird der υἱὸς θεοῦ Christus als εἰς τὸν αἰῶνα τετελειωμένος charakterisiert – und Hebr 7,3 – hier werden, den Ausführungen in Hebr 1,5.8 durchaus vergleichbar, die Attribute ἀπάτωρ, ἀμήτωρ, ἀγενεαλόγητος und μήτε ἀρχὴν ἡμερῶν μήτε ζωῆς τέλος ἔχων auf jenen bezogen –. Damit entpuppt sich der Terminus υἱός bzw. υἱὸς θεοῦ – deutlich im Unterschied Terminus κύριος – als wesenhaft ontologischer Begriff, der auf die göttliche Abkunft Christi abzielt und diese zu explizieren sucht379. In der Forschung wird diese in Hebr 2,3c.d vorgenommene temporale Differenzierung immer wieder als Indiz dafür gewertet, dass „die Adressaten des Hebr … als der zweiten oder dritten Generation des Urchristentums zugehörig gekennzeichnet, als ein Adressatenkreis also der nachapostolischen Zeit, für den in zunehmender Entfernung vom ,Anfangʻ die Bewahrung der Tradition des Anfangs zur aktuellen Frage wird“380, gekennzeichnet werden. Eine solche weiteichende Annahme wird jedoch zumindest durch die Ausführungen in Hebr 2,3 in keinem Falle indiziert381; die Ausführungen von Hebr 2,3c.d lassen sich durchaus im Sinne einer Frühdatierung des Hebr interpretieren382: Die Adressaten dieser Epistel wären durch die Missionspredigt derjenigen, die selbst noch die Predigt des historischen Jesus gehört hatten, zum Christentum bekehrt worden. Wird zwischen der Verkündigung Jesu vor den ἀκουσάντες und der durch jene erfolgten βεβαίωσις bei den Adressaten des Hebr sowie zwischen jener βεβαίωσις und der Abfassung des Hebr selbst jeweils ein Zeitraum von ca. zehn Jahren angenommen, so ließe sich dessen Abfassung mühelos in die Zeit zwischen 50 und 60 n.Chr. datieren383.

In Hebr 2,4 werden die begleitenden Umstände384 der in Hebr 2,3c angesprochenen βεβαίωσις der σωτηρία bei den Adressaten des Hebr sowohl als auch bei des-

zweite Generation, zu der der Vf sich und die Leser zählt“; vgl. hierzu auch C. Spicq, Hebr I, 27: „…; le participe aoriste se réfère au début historique du ministère de Jésus, tandis que l’infinitif présent englobe toute sa durée“. 378 Vgl. zu diesem Titel H. Braun, Hebr, 23, der darauf hinweist, dass „der Text [des Hebr] keinen Unterschied zwischen Sohn und Gottessohn“ macht. 379 Vgl. hierzu F. Hahn, Art. υἱός, in: EWNT² II, 923: „Daß der ,Gottessohnʻ als ewige göttliche Person verstanden wird, zeigt die Melchisedek-Typologie (7,3)“. 380 H.-F. Weiß, Hebr, 187f. 381 Vgl. hierzu H. Löhr, Umkehr, 83: „Unzweifelhaft entspringt aber die Nötigung zum Nennen einεr solchen Zeugenkette auch dem Bewußtsein um eine gewisse historische Distanz, ohne daß sich diese genauer berechnen [!] ließe“. 382 Vgl. hierzu bereits W.M.L. de Wette, Hebr, 187: „Hiernach erscheinen die Leser als zu der zweiten christlichen Generation gehörig, als solche die das Evang.[elium] von den Augenzeugen empfangen haben und nicht selbst an der Quelle stehen. Aber auch der Verf.[asser] zählt sich mit zu diesem mittelbaren Christen“. Das aber heißt, dass die Adressaten des Hebr sicherlich nicht ohne weiteres der dritten urchristlichen Generation zuzurechnen sind. 383 Vgl. zu einer solchen frühen Datierung der Abfassung des Hebr etwa A. Strobel, Hebr, 83, der dessen Abfassung um 60 n.Chr. für wahrscheinlich hält. 384 H.-F. Weiß, Hebr, 188 spricht in diesem Zusammenhang von „den Begleitumständen des Überlieferungsprozesses. Zu der im Reden und Hören überlieferten und aktualisierten Heilsbotschaft triff Gottes eigenes Zeugnis bestätigend hinzu“. E. Gräßer, Hebr I, 107 fasst die in

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sen Verfasser des näheren beschrieben; Gott selbst habe diese βεβαίωσις bezeugt385 durch σhμεῖα, τέρατα386, δυνάμεις und μερισμοὶ ἁγίου πνεύματος seinem Willen gemäß und damit „die Richtigkeit des Vorgangs, seine Wirksamkeit und Wahrheit“387 bestätigt388. Dabei dürfte das participium praesens συνεπιμαρτυροῦντος hier weniger „die Dauer der Handlung“389 betonen, sondern vielmehr das Momentum der Gleichzeitigkeit zu dem Prädikat ἐβεβαιώθη Hebr 2,3390, auf das es sich bezieht und von dem es abhängig ist391. Zum Abschluss der Interpretation von Hebr 2,1–4 ist nun die Frage zu beantworten, inwieweit diese erste paränetische Passage des Hebr die aktuelle Situation der Adressaten dieser Epistel reflektiert und damit im Rahmen des Versuchs, jene zu rekonstruieren, fruchtbar gemacht werden kann. Die o. bereits mehrfach konstatierte Verwendung des kommunikativen ἡμεῖς392, das den aucHebr 2,4 aufgeführten Ereignisse als „Beweismittel“ für die zuvor genannte βεβαίωσις der σωτηρία unter den Adressaten des Hebr inclusive seines Verfassers. 385 Zu dem hier verwendeten Verbum συνεπιμαρτυρεῖν vgl. H.-F. Weiß, Hebr, 188, Weiß zufolge benutzt der auctor ad Hebraeos dieses Verbum „wiederum im juridischen Sinne des bestätigenden Zeugnisses bzw. im Sinne der Legitimation“. Ähnlich auch E. Gräßer, Hebr I, 107, der darauf hinweist, dass es sich bei diesem Ausdruck um ein neutestamentliches hapax legomenon handelt: „Gott stellt sich bestätigend zu den Hörern …, die das Heil bei uns befestigt … haben, und fügt ihrem Tun den Beweis bei …, so daß das ἐβεβαιώθη wirklich gilt“. 386 Zu der Wendung σημεῖα καὶ τέρατα als einer auf die Ereignisse des Exodus bezogenen „fixed expression“ vgl. W.L. Lane, Hebr I, 40; ähnlich auch E. Gräßer, Hebr I, 107f. 387 O. Michel, Hebr, 130, vgl. hierzu auch H.-F. Weiß, Hebr, 189: „Nicht durch eine menschliche Institution und auch nicht durch eine institutionalisierte ,apostolische Sukzessionʻ wird die Kontinuität des Überlieferungsprozesses gewährleistet, sondern am Ende allein ,nach Maßgabe des Willensʻ Gottes, der sich – als bestätigendes bzw. legitimierendes Zeugnis – ,in Zeichen und Wundernʻ ebenso manifestiert wie auch ,in vielfältigen Machterweisen und Zuteilungen des Heiligen Geistesʻ“. 388 Vgl. hierzu E. Gräßer, Hebr I, 109 mit Verweis auf S. Kierkegaard: „Die Hörer dritter Hand sind gleichgestellt denen erster Hand“. 389 E. Gräßer, Hebr I, 108; Gräßer folgert aus seiner Feststellung, dass das hier verwendete participium praesens συνεπιμαρτυροῦντος nicht dazu verleiten dürfe, „das göttliche Attest auf die historisch zurückliegende traditio constitutiva einzuschränken“. In diesem Sinne durchaus auch C. Spicq, Hebr II, 28: „Il y a comme une symphonie toujours actuelle (cf. Le participe présent) entre Dieu et les témoins du Christ“. 390 Vgl. hierzu J.H. Moulton, Grammar I, 126: „Like the rest of the verb, outside the indicative, it [d.h. das participium praesens] has properly no sense of time attaching ot it: the linear action in a participle, connected with a finite verb in past or present time, partakes in the time of its principal“. Etwas anders hier F. Blaß/A. Debrunner/F. Rehkopf, Grammatik, § 339, 278; ihnen zufolge kann das participium praesens eine “relativ zukünftige Handlung” oder aber „wie klassisch Vorhergegangenes“ bezeichnen. In jedem Falle aber bleibt das participium auf das Prädikat ἐβεβαιώθη bezogen. 391 Vgl. in diesem Sinne H. Braun, Hebr, 50: „Außerordentliches wird durch Außerordentliches als glaubhaft erwiesen“. 392 Vgl. hierzu etwa o. 130 und o. 131f. Vgl. hierzu auch H.-F. Weiß, Hebr, 182: „…, als hier das kommunikative ,Wirʻ …, in dem der Autor sich mit seinen Adressaten zusammenschließt, erneut aufgenommen wird … und auf diese Weise die ganze Mahnung als eine für alle Christen

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tor ad Hebraeos und seine Adressaten zusammenschließt, lässt im Verein mit der Beobachtung, dass in Hebr 2,1–4, anders als etwa in Hebr 5,11–14, unmittelbar an die Adressaten dieser Epistel gerichtete konkrete Vorwürfe oder Hinweise auf in ihren Reihen zu konstatierende konkrete theologische oder ethische Defizite fehlen393, die Vermutung begründet erscheinen, dass jener in Hebr 2,1–4 eine grundlegende, aus den Hebr 1,5–14 erfolgten theologischen Darlegungen zum Verhältnis υἱός – ἄγγελοι sich ergebende und damit paränetisch-potentielle394 Mahnung395 zu prinzipieller Beachtung der ἀκουσθέντα und der in diesen verkündigten τηλικαύτη σωτηρία zu formulieren beabsichtigte, ohne dabei die konkrete Situation der Adressaten im Blick zu haben oder dabei auf deren mögliche Missachtung durch jene rekurrieren zu wollen396. Die in der exegetischen Literatur häufig vertretene Meinung, die Adressaten des Hebr stünden „in der Gefahr des Glaubensstillstandes bis hin zum Glaubensabfall“397, wird zumindest innerhalb der Ausführungen in Hebr 2,1–4 unmittelbar und in paränetisch-aktuellem Sinne nicht indiziert398, auch wenn grundsätzlich und in allgemeiner Weise die Annahme zutreffen mag, dass „our author is warning Christian readers, who

verbindliche Mahnung kenntlich gemacht wird. Im Sinne des Autors ist es eine zwingende, eine notwendige Schlußfolgerung … aus allem zuvor Gesagten“. 393 Vgl. hierzu durchaus m.R. C.R. Koester, Hebr, 208: „Reasons for the decline [des λόγος Gottes] are never delineated and may not have been fully apparent to either the author or the listeners“. Umso rätselhafter bleibt, dass Koester trotz alledem seinen Kommentar zu den Ausführungen in Hebr 2,1–3a mit dem Titel „Present Drift from the Word“ (208) überschreibt. 394 Zu der entsprechenden Begrifflichkeit vgl. ausführlich o. 127–129. 395 Vgl. hierzu durchaus m.R. F. Delitzsch, Hebr, 47: „Gleich diese erste Paränese ist der Art, dass sie nicht allein den vorausgegangenen Lehrstoff auf die Empfänger des Briefes anwendet, sondern zugleich ihn fortsetzt“. 396 Das Urteil von C.R. Koester, Hebr, 208: „Therefore, without pursuing the causes, the author defines the situation in a manner that the listeners would find plausible yet disturbing in order to make them receptive to the exhortation to hold fast to the message“, lässt sich am Text Hebr 2,1–4 nicht zuletzt aufgrund der hier vorliegenden Verwendung des kommunikativen ἡμεῖς nur schwerlich nachweisen. 397 U. Schnelle, Einleitung, 447, vgl. hierzu darüber hinaus etwa E. Gräßer, Hebr I, 100: „Erstmals erfahren wir etwas über den Anlaß des Schreibens: die Möglichkeit, daß die Gemeinde ... vom Kurs abkommt und insofern das in 1,14 in Aussicht gestellte Heil nicht erben wird“, und C. Spicq, Hebr II, 24: „Le v. 1 nous apprend que les destinataires étaient portés à sous-estimer l’autorité du Christ-médiateur, ou du moins que leur foi pouvait fléchir“. Ähnlich, wenn auch die Potentialität der Darstellung betonend und darüber hinaus sehr allgemein und ohne konkrete Zuspitzung, auch C.R. Koester, Hebr, 208: „Now, in contrast to the grandeur of this heavenly scene [d.h. Hebr 1,5ff.], the author depicts the situation of the listeners on earth as one of potential drift and neglect“. 398 In der Tendenz hier durchaus m.R. H.W. Attridge, Hebr, 64: „Although the language here [d.h. in Hebr 2,1–4] intimates ..., that the community addressed is perceived to be in danger, the vagueness of the imagery and general character of the warning shed no light on the causes or nature of that danger“.

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have heard and accepted the gospel, that if [!] they yield to the temptation to abandon their profession their plight is hopeless“399. In jedem Falle bemerkenswert – und dem hier formulierten Ergebnis durchaus entsprechend – ist der Sachverhalt, dass die Ausführungen in Hebr 2,1–4 in keiner Weise die – möglichen oder aber doch zumindest erwartbaren – Elemente eines auf die aktuelle Lage der Angeschriebenen bezugnehmenden Exkurses, d.h. einer παρέκβασις bzw. einer digressio400, transportieren. In seiner institutio oratoria führt M. Fabius Quintilianus zu einem solchen Exkurs innerhalb einer Rede, also einer παρέκβασις bzw. einer egressio, einem egressus oder einer digressio, folgendes aus: ceterum res eadem et post quaestionem perorationis vice fungitur. (12) Hanc partem parekbasin vocant Graeci, Latini egressum vel egressionem. Sed hae sunt plures, ut dixi, quae per totam causam varios habent excursus, ut laus hominum locorumque, ut descriptio regionum, expositio quarundam rerum gestarum vel etiam fabulosarum. (13) Quo ex genere est in orationibus contra Verrem compositis Siciliae laus, Proserpinae raptus, pro C. Cornelio popularis illa virtutum Cn. Pompei commemoratio: in quam in ille divinus orator, veluti nomine ipso ducis cursus dicendi teneretur, abrupto quem inchoaverat sermone devertit actutum. (14) Parekbasis est, ut mea quidem fert opinio, alicuius rei, sed ad utilitatem causae pertinentis, extra ordinem excurrens tractatio. Quapropter non video cur hunc ei potissimum locum adsignent qui rerum ordinem sequitur, non magis quam illud, cur hoc nomen ita demum proprium putent si aliquid in digressu sit exponendum, cum tot modis a recto itinere declinet oratio. (15) Nam quidquid dicitur praeter illas quinque quas fecimus partes egressio est: indignatio, miseratio, invidia, convicium, excusatio, conciliatio, maledictorum refutatio, similia his, quae non sunt in quaestione: omnis amplificatio, minutio, omne adfectus genus: atque ea quae maxime iucundam et ornatam faciunt orationem, de luxuria, de avaritia, de religione, de officiis; quae cum sunt argumentis subiecta similium rerum, quia cohaerent egredi non videntur. (16) sed plurima sunt quae rebus nihil secum cohaerentibus inseruntur, quibus iudex reficitur admonetur placatur rogatur laudatur. Innumerabilia sunt haec, quorum alia sic praeparata adferimus, quaedam ex occasione vel necessitate ducimus si quid nobis agentibus novi accidit, interpellatio, interventus alicuius, tumultus. (17) unde Ciceroni quoque in prohoemio, cum diceret pro Milone, degredi fuit necesse, ut ipsa oratiuncula qua usus est patet. Potest autem paulo longius exire qui praeparat aliquid ante quaestionem et qui finitae probationi velut commendationem adicit: at qui ex media erumpit, cito ad id redire debet unde devertit401. Dass in Hebr 2,1–4 sprachliche Elemente F.F.Bruce, Hebr, 66. Zu den unterschiedlichen Bezeichnungen eines solchen Exkurses vgl. H. Lausberg, Handbuch I, 187. 401 Inst.orat. IV 3,11–17; „Die gleiche Art der Vorbereitung tritt im übrigen auch nach der Untersuchung als eine Art Schlußwort auf. (12) Die Griechen nennen dieses Stück παρέκβασις, die Römer egressus oder egressio (Abschweifung). Jedoch gibt es solche Abschweifungen, wie gesagt, in größerer Zahl, die überall in der Rede verschiedenartige Exkurse bilden, z.B. zum Lob von Menschen oder Stätten, zur Beschreibung von Landschaften und zur Erzählung bestimmter Heldentaten – auch aus der Sagenwelt. (13) Zu dieser Art gehört in den Reden gegen Verres das Lob Siziliens, der Raub der Proserpina, in der Rede für Cornelius die bekannte, für das Volk berechnete Erwähnung der Leistungen des Cn. Pompeius. Zu ihr biegt der göttliche Redner, als komme schon durch die Nennung des Feldherrn der Strom seiner Rede ins Stocken, sogleich ab, indem er seine begonnene Rede einfach abbricht. (14) Eine παρέκβασις ist, wie ich wenigstens es auffasse, die Behandlung eines Ereignisses, das jedoch zum Interesse des Falles gehört, in einer außerhalb der natürlichen Abfolge verlaufenden Form. Ich vermag deshalb nicht zu sehen, warum man ihr gerade diesen Platz (nach der Erzählung) zuweist, der doch in der Abfolge 399 400

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begegneten, die etwa eine indignatio des auctor ad Hebraeos oder aber dessen invidia, dessen convicium oder womöglich auch das von ihm betriebene Unterfangen der conciliatio transportierten, die also anzeigen, dass in diesen Versen eine παρέκβασις bzw. eine digressio vorläge, innerhalb derer der auctor ad Hebraeos nach einigen theologisch-theoretischen Ausführungen nun auf die konkrete aktuelle und akute Lage der Adressaten seiner Epistel zu sprechen kommen bzw. dorthin ‚abzubiegen‘ gedächte, lässt sich einerseits in keiner Weise am Text selbst belegen, wird andererseits durch den Sachverhalt, dass in dieser Passage die Adressaten des Hebr eben nicht unmittelbar, d.h. in der 2. Person Plural, angesprochen werden, sondern dass der auctor ad Hebraeos hier das kollektive ἡμεῖς verwendet, argumentationslogisch nachgerade ausgeschlossen, soll das Personalpronomen ἡμεῖς an dieser Stelle nicht im Sinne des Pronomens ὑμεῖς interpretiert werden, eine Annahme, die dadurch verunmöglicht wird, dass der Verfasser des Hebr an anderen Stellen in seiner Schrift explizit die 2. Person Plural verwendet402. Werden die Paränesen innerhalb der Passage Hebr 2,1–4 trotz der o. formulierten Analyseergebnisse dennoch probehalber in paränetisch-aktuellem403 Sinne interpretiert und auf die aktuelle Situation der Adressaten des Hebr bezogen, so ergäbe sich, dass der auctor ad Hebraeos jene darauf aufmerksam machte, dass ihre Verweigerung gegenüber den ἀκουσθέντα und der in ihnen vermittelten und verkündigten τηλικαύτη σωτηρία sie unmittelbar dem zukünftigen Zorn Gottes aussetzte. Das aber hieße: Der Verfasser des Hebr argumentierte gegenüber seinen Adressaten nicht poimenisch, schlüge seinen Adressaten gegenüber nicht eine seelsorgerliche Saite an, sondern argumentierte restriktiv und arbeitete mit einer endzeitlichen soteriologischen Drohkulisse. Eine solche Argumentation ließe sich nur schwerlich mit der An-

der Ereignisse steht, ebensowenig auch, warum man glaubt, so nur käme ihr dieser Name eigentlich zu, wenn etwas in einer Abschweifung darzulegen ist, während es doch so viele Arten gibt, in der Rede vom geraden Wege abzubiegen. (15) Denn alles, was außerhalb der fünf Teile gesprochen wird, die wir für die Rede angenommen haben, ist Exkurs: diene es nun für Unwillen, Mitleid, Entrüstung, Schelten, Entschuldigen, Gewinnen oder Abwehr von Schmähungen. Diesen ähnlich sind ja auch die anderen Mittel, die nicht zur Untersuchung gehören; jede Steigerung oder Abschwächung, jede Art von Erregung der Gefühle und all das, was die Rede vor allem empfiehlt und schmückt: die Ausführungen über Schwelgerei, Habgier, frommes Handeln und Pflichten. Sind solche Ausführungen an Beweise für entsprechende Vorgänge angeschlossen, so scheinen sie, weil sie im Zusammenhang stehen, gar keine Exkurse zu sein. (16) Jedoch sehr viele Fälle gibt es, wo, ohne daß die Vorgänge einen Zusammenhang zeigen, Ausführungen eingereiht werden, durch die der Richter ermuntert, ermahnt, besänftigt, gebeten und gelobt wird. Zahllos sind solche Fälle, in denen wir manchmal anbringen, was wir schon hierfür vorbereitet haben, manches bei passender Gelegenheit oder in einer Zwangslage einführen, wenn während unserer Verhandlung etwas Neues eintritt: eine Unterbrechung, das Erscheinen einer Person oder Unruhe im Publikum. (17) Daher sah sich auch Cicero gezwungen, im Prooemium seiner Rede für Milo eine Abschweifung zu machen, wie die kleine Rede, die er wirklich gehalten hat, noch erkennen läßt. Auch etwas weiter kann ausschweifen, wer damit etwas vor der Untersuchung vorbereitet und wer nach der Beweisführung etwas hinzufügt. Doch muß, wer mitten im Zusammenhang zu einem Exkurs ansetzt, schnell zu der Stelle zurückkehren, wo er abgebogen ist“; Text und Übersetzung nach H. Rahn, Ausbildung des Redners I, 492–495. 402 Vgl. hierzu passim. 403 Vgl. zu diesem Begriff o. 127–129.

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Die Analyse von Hebr 5,11–6,12 nahme vereinbaren, im Kreise der Adressaten greife eine aus dem Plausibilitätsverlust der ihnen verkündigten Heilsbotschaft und der unter ihnen virulenten christlichen Tradition erwachsene Glaubensmüdigkeit und -ermattung um sich404. Viel näher legte sich stattdessen die Annahme, dass der auctor ad Hebraeos mit seiner restriktiven Argumentation eine von ihm erkannte theologische Fehlentwicklung seiner Adressaten405 zu korrigieren trachtete, eine theologische Fehlentwicklung, die entweder als Desinteresse oder aber unmittelbar als konfrontative Ablehnung gegenüber einer vom Verfasser des Hebr propagierten theologischen Konzeption konkret werden könnte.

3.2.2 Hebr 3,1–6 Die Ausführungen in Hebr 3,1–6 bilden einen zweiten, zumindest z.T.406 paränetisch geprägten Abschnitt innerhalb dieser Epistel bzw. innerhalb der Passage Hebr 1,1–5,10407. An die vorangehenden Ausführungen, hier insbesondere an Hebr 2,17f., mit der begründenden Konjunktion ὅθεν anknüpfend408 redet der auctor ad Hebraeos die Empfänger seiner Epistel erstmalig persönlich, d.h. nicht unter Verwendung des kommunikativen ἡμεῖς, sondern vielmehr unmittelbar in der 2. Person Plural, an409 – und zwar immerhin als ἀδελφοὶ ἅγιοι und κλήσεως ἐπουρανίου μέτοχοι410, mit Begriffen also, die „den objektiven Heilsstand der sub

Vgl. hierzu o. 48–52. Zu dieser auch mit der Exegese von Hebr 5,11–14 durchaus kontextualisierbaren Annahme vgl. bereits o. 125f. 406 H.-F. Weiß, Hebr, 239 weist auf den aus der Verknüpfung von Christologie und Paränese sich ergebenden Mischcharakter dieses Abschnitts hin: „Christologie gewinnt hier als solche paränetischen Charakter. So gesehen ist der eigentümliche ,Mischcharakterʻ dieses Abschnitts kein Zufall, sondern signalisiert die im Sinne des Autors des Hebr notwendige Ausrichtung der Christologie auf die Paränese ebenso wie die Rückbindung aller Paränese an die Christologie“. O. Michel, Hebr, 170 macht darauf aufmerksam, daß „der Abschnitt … paränetisch [beginnt] … und … am Schluß zu einer erneuten Ermahnung … über[leitet]“. 407 Vgl. hierzu etwa U. Schnelle, Einleitung, 409; Schnelle überschreibt diesen Abschnitt mit dem Titel „Mahnung: Schaut auf den Hohenpriester Jesus“. E. Gräßer, Hebr I, 157 beschreibt diesen Text als „Drehscheibe zwischen der christologischen Grundlegung in c.1 und 2 und der großen Paränese in c.3 und 4“. 408 Vgl. hier E. Gräßer, Hebr I, 157: „Mit dem eröffnenden ὅθεν wird die bisherige Darlegung als gesicherte Basis gekennzeichnet, von welcher aus nun paränetisch operiert wird“, und 158: „Die begründende Konjunktion ὅθεν darum, deshalb seht wie sonst …, so auch hier im Sinne von δι’ ἣν αἰτίαν ..., also als Begriff der Notwendigkeit und logischen Schlußfolgerung“. 409 Vgl. hierzu O. Michel, Hebr, 171 und H. Windisch, Hebr, 28: „Während die erste Paränese Schreiber und Leser in einfachem ,wirʻ zusammenfaßte, werden hier die Hörer mit einer feierlichen Anrede zum ersten Male apostrophiert: ihre Aussonderung und ihre hohe Bestimmung wird ihnen ins Gewissen gelegt“. Anders hier H. Löhr, Umkehr, 105. 410 Vgl. zu diesem Titel E. Gräßer, Hebr I, 159: „Dieser neue Titel, der … das eschatologische Hoffnungsgut als Ziel der Berufung ins Auge faßt, ist ureigenste Bildung unseres Verfassers und trägt in allem seine theologische Handschrift“; vgl. auch 160. 404 405

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contrario jetzt schon Geretteten“411 explizieren412 – und ruft sie dazu auf, die Gestalt Jesu als des ἀπόστολος καὶ ἀρχιερεὺς τῆς ὁμολογίας ἡμῶν und dessen vornehmlich soteriologische Implikationen betrachtend zu durchdenken und aus diesem Nachdenken dann ein entsprechendes Verhalten abzuleiten413 (3,1). Damit aber trägt dieser Aufruf eher einen paränetisch-potentiellen denn einen paränetisch-aktuellen414 Charakter und berechtigt – zumindest unmittelbar – in keinem Falle zu der Schlussfolgerung, die Adressaten des Hebr seien solche, die „in Gefahr stehen, im Kampf gegen die Sünde zu ermatten, wie auch über dem irdischen Leid und dem lockenden Genuss irdischer Freude ihrer himmlischen Bestimmung untreu zu werden“415, eine Schlussfolgerung, die auch angesichts der ihren gegenwärtigen Heilsstatus explizierenden Anreden der Adressaten des Hebr als ἀδελφοὶ ἅγιοι und κλήσεως ἐπουρανίου μέτοχοι Hebr 3,1 nicht wahrscheinlicher wird416. Im Anschluss an die in Hebr 3,1 formulierte Aufforderung wird dann in Hebr 3,2f.5.6a die Gestalt Jesu mit derjenigen des Mose hinsichtlich ihrer jeweiligen πίστις verglichen417. In Hebr 3,6b wird schließlich, im Rahmen eines Bedingungs-

411 E. Gräßer, Hebr I, 158; in diesem Zusammenhang weist Gräßer darauf hin, dass dem Terminus ἅγιος hier weniger ethische als vielmehr eschatologische Implikationen innewohnen. 412 Vgl. hierzu treffend G. Schunack, Hebr, 44: „Die Anrede als ,heilige Brüderʻ ist neutestamentlich singulär … wie ebenso die Hinzufügung ,Teilhaber himmlischer Berufungʻ. Beides ist konkrete, personale Heilszusage. Brüder sind sie, weil sie durch das Heilsgeschehen im Sohn dessen Brüder und untereinander Brüder geworden, und heilig, weil sie durch ihn geheiligt worden …, Teilhaber himmlischer Berufung sind sie, weil sie ,Teilhaber des Christusʻ geworden sind …, der seinerseits an ihrem irdischen, menschlichen Dasein Anteil genommen hat … und sie im Bekenntnis zu ihnen (als) seine Brüder (ruft)“; in diese Richtung auch E. Gräßer, Hebr I, 159: „Deutlicher noch als heilige Brüder hebt die weitere Anrede Genossen der himmlischen Berufung die Verbindung von Sohn und Söhnen hervor“. 413 Zur Bedeutung des Verbums κατανοεῖν vgl. H.-F. Weiß, Hebr, 240, A. 9; Weiß zufolge beschreibt dieser Begriff „ein intensives ,Betrachtenʻ, das als solches ein entsprechendes Verhalten zur Folge hat“, wobei „damit ein gewisses ,rationalesʻ Moment nicht ausgeschlossen sei“; vgl. hierzu auch E. Gräßer, Bund, 298: „Es meint die reflektierende, schlußfolgernde Wahrnehmung, das Denken, das Erfassen eines Gegenstandes oder einer Sache, das für das eigene Urteil bzw. Verhalten nicht folgenlos bleibt. … Aus der verständigen Betrachtung soll ein ,vernünftigerʻ Schluß gezogen werden“, und ders.: Hebr I, 162. Ähnlich hier auch C. Marcheselli-Casale, Hebr, 185: „Questo imperativo fortemente esortative, di un verbo che appartiene alla sfera del ,vedereʻ, ha conseguenze in quella dell’agire, sullo stile die Eb 10,24“. 414 Vgl. zu dieser Begrifflichkeit ausführlich o. 127–129. 415 E. Riggenbach, Hebr, 66. 416 Die Annahme E. Riggenbachs, Hebr, 66, der auctor ad Hebraeos beabsichtige mit diesen Anreden, die gefährdeten Rezipienten des Hebr „an die Pflicht zu erinnern, die ihr Christenstand ihnen auferlegt“, scheint jenen einen Impetus zuzuweisen, der aus dem Text selbst heraus nicht erkennbar ist. 417 Vgl. hierzu E. Gräßer, Hebr I, 163: „Von V 2 ab wird der Beweis geführt, worin das Blicken auf Jesus und damit der paränetische Zielgedanke, das καύχημα τῆς ἐλπίδος der Gemeinde (V 6), seinen guten Grund hat: in der Treue des Sohnes“.

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satzes418, die aus dem Hebr 3,2–6a Erwogenen resultierende Konsequenz für die Adressaten des Hebr unter Einschluss des Verfassers desselben gezogen: ‚Wir‘ (ἡμεῖς) sind das Haus Gottes419, wenn wir die παρρησία und das καύχημα τῆς ἐλπίδος festhalten und zugleich bewahren: οὗ οἶκός ἐσμεν ἡμεῖς, ἐάν[περ] τὴν παρρησίαν420 καὶ τὸ καύχημα τῆς ἐλπίδος κατάσχωμεν. Der Perikope Hebr 3,1–6 kommen zwar paränetische Implikationen zu; dass sich aus diesen Implikationen allerdings schließen ließe, die Adressaten dieser Epistel seien aktuell als glaubensmüde und zweifelnde Christen zu qualifizieren und bedürften der theologischen und ethischen Stabilisierung, wird in diesen Versen durch nichts indiziert. Die in Hebr 3,1.6b formulierte Paränese stellt vielmehr eine allgemeinverbindliche paränetisch-potentielle421 Folge aus dem zuvor Ausgeführten dar, was zugleich auch impliziert, dass dem Abschnitt Hebr 3,1–6 in seiner Gesamtheit kein digressiver Charakter zugeschrieben werden kann422, sondern er vielmehr als ein Bestandteil der theologisch-theoretischen Argumentation anzusehen ist423. Hinzu kommt, dass der auctor ad Hebraeos den mit den Syntagmata ἀδελφοὶ ἅγιοι und κλήσεως ἐπουρανίου μέτοχοι explizierten gegenwärtigen Heilsstand der von ihm angeschriebenen Christen in keiner Weise relativiert oder die Gefahr zum Ausdruck bringt, dass dieser aufgrund einer aktuell und akut wirksamen Glaubensermüdung und -ermattung derselben jenen verlustig zu gehen drohe.

3.2.3 Hebr 3,(7–11.)12–4,13 An die die Relation zwischen der Gestalt des Mose und derjenigen des Christus reflektierende Passage Hebr 3,1–6 schließt ein von Hebr 3,7 bis Hebr 4,13 reichender Abschnitt424 an, in dem erstmalig πνεῦμα τὸ ἅγιον die Szenerie

Vgl. hierzu H.-F. Weiß, Hebr, 253. Vgl. hierzu etwa K. Backhaus, Hebr, 141, der dieses Syntagma näherhin definiert als das „menschheitsumfassende Gottesvolk“. 420 Zum Begriff der παρρησία, der in Hebr 10,19 wieder begegnet (vgl. hierzu u. 217f.), vgl. etwa H. Balz, Art. παρρησία κτλ. in: EWNT2 III, 105–112: „In Hebr bezeichnet π[αρρησία]. eine eschatologische Heilsgabe Gottes, ‚das eigentliche Kennzeichen der christlichen Existenz‘ .... Zus[ammen]. mit dem καύχημα τῆς ἐλπίδος ... zeichnet sie als durch Christus geschenkte Glaubensgewißheit die Gemeinde aus (3,6)“ (111). 421 Vgl. zu dieser Begrifflichkeit ausführlich o. 127–129. 422 Vgl. hierzu auch m.R. etwa C.R. Koester, Hebr, ix, der innerhalb seiner rhetorischen Disposition des Hebr dem Abschnitt Hebr 3,1–6 die Funktion eines Argumentes nicht, jedoch diejenige einer παρέκβασις oder digressio zuschreibt. 423 Zu diesem Gesichtspunkt und zum Begriff der παρέκβασις bzw. digressio vgl. ausführlich o. 142f. 424 Zu dieser Abgrenzung vgl. etwa H.-F. Weiß, Hebr, 254–257; vgl. darüber hinaus, in eine ähnliche Richtung gehend, auch K. Backhaus, Hebr, 146f. 418 419

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betritt425. An das Vorangehende mit der Konjunktion διό426 anschließend lässt der Verfasser des Hebr das πνεῦμα τὸ ἅγιον in Hebr 3,7b–11 den Text aus Ps 95,7– 11 zitieren427. Auf dieses Zitat folgt dann in Hebr 3,12428 eine in einem deutlich ermahnenden Ton gehaltene Anrede an die Adressaten dieser Epistel: Die angeredeten Brüder sollen in ihrer Gesamtheit ‚zusehen‘ (βλέπετε), d.h., darauf achten bzw. achtgeben429, dass, bzw. präziser: damit sich in niemand von ihnen ein ‚böses Herz‘ ausbilde, das die entsprechende Person zum Abfall vom lebendigen Gott führt bzw. führen kann430: μήποτε ἔσται ἔν τινι ὑμῶν καρδία πονηρὰ ἀπιστίας431 ἐν τῷ ἀποστῆναι ἀπὸ θεοῦ ζῶντος432. Vielmehr werden sie Zu dem mit diesem Auftreten verbundenen Verständnis der Texte des Alten Testaments als eines inspirierten Zeugnisses vgl. etwa H.-F. Weiß, Hebr, 258f. 426 Zu dieser Konjunktion und ihrer Interpretation im aktuellen Kontext vgl. H.-F. Weiß, Hebr, 258: „Das dem Psalm-Zitat in V. 7a vorangestellte διό ist formal-syntaktisch wie auch sachlich in Verbindung mit dem Imperativ σκληρύνητε aus Ps. 95,7 zu lesen und steht somit (im Anschluß an V. 6 bzw. als Schlußfolgerung aus V. 6) eher im konsekutiven als im begründenden Sinne: ‚Deshalb also gilt (auch) für euch ...‘“. 427 Zu den hermeneutischen Implikationen dieses Vorgehens vgl. etwa K. Backhaus, Hebr, 150: „Erstmals tritt der heilige Geist … in seiner für Hebr eigentümlichen Funktion auf: Er spricht, und zwar im Präsens, also als Gegenwartsmacht, und bringt das lebendige Wort des transzendenten, eben heiligen Gottes im Heute zur Sprache und zur Geltung …. Es ist also erneut nicht eigentlich der biblische Urpsalmist David, dem sich das Psalmwort verdankt, sondern der Geist als Sprachrohr Gottes, der freilich, wie Hebr voraussetzt …, durch David redet, auf den als Beter die Überschrift im Septuagintatext verweist“. Backhaus sieht die Ausführungen in Hebr 3,7a „auf einer Brücke zwischen dem AT und der Pneumatologie der frühen Kirche“ (150). Zur Form dieses Zitats vgl. etwa H.W. Attridge, Hebr, 114f. 428 Zu Hebr 3,12–19 als Auslegung von Ps 95,7–11 vgl. etwa H.-F. Weiß, Hebr, 261. 429 Vgl. hierzu H.-F. Weiß, Hebr, 261, der diese Aufforderung „im paränetischen Sinne von ‚achtgeben‘, im Zusammenhang mit folgendem μήποτε sogar im Sinne von ‚sich hüten‘“ interpretieren möchte. H. Braun, Hebr, 93 weist darauf hin, dass der auctor ad Hebraeos das Verb βλέπειν, wie die Ausführungen in Hebr 2,9 zeigten, durchaus auch in einem nicht-paränetischen Sinn gebrauchen könne. Würde eine solche nicht-paränetische Verwendung dieses Begriffs auch im Blick auf Hebr 3,12a angenommen, ergäbe sich eine deutliche Abschwächung des paränetischen Impetus der Ausführungen in Hebr 3,12–14 insgesamt. 430 Zu der Wendung καρδία πονηρὰ ἀπιστίας und ihrem semantischen und theologischen Bedeutungsgehalt vgl. etwa E. Gräßer, Hebr I, 185: „Böse ist das Herz, sofern es sich verhärtet (v 8a) und in die Irre geht (V 10b). Konkret: Der Mensch versucht Gott, stellt ihn auf die Probe (V 8b.9a.b), erkennt seine Wege nicht (V 10c), obwohl er doch seine Taten gesehen hat (V 9c). Eben das nennt Hebr Unglaube“. 431 E. Gräßer, Hebr I, 185 definiert den Begriff ἀπιστία näherhin als „Untreue, feiges Zurückweichen infolge mangelnden Vertrauens in Gottes Verheißung“; mit einer solchen Definition rücke der Verfasser des Hebr diesen Terminus semantisch „dicht an den Ungehorsam“ heran (185). Vgl. hierzu auch F.F. Bruce, Hebr, 99, A. 60, der auf Belege aus der LXX verweist. 432 Die Wendung ἀποστῆναι ἀπὸ θεοῦ ζῶντος (Hebr 3,12) müsste keinesfalls in dem Sinne interpretiert werden, dass die Adressaten des Hebr sich – zumindest in den Augen des Verfassers des Hebr – als ehemalige Heiden ihrem ehemaligen Heidentum wiederum zuwenden könnten (anders hier etwa K. Backhaus, Auf Ehre und Gewissen, 159). Durchaus denkbar ist nämlich, dass mit dieser Formulierung darauf angespielt ist, dass die heidenchristlichen Adressaten des Hebr sich von der Verkündigung des ἀπόστολος καὶ ἀρχιερεὺς τὴς ὁμολογίας Jesus 425

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aufgefordert, sich alle Tage – und offensichtlich gegenseitig433 – zu ermahnen, solange434 das τὸ σήμερον aus Ps 95,7 noch gilt435, dass niemand – hier womöglich den aus Ägypten hinausziehenden Israeliten gleich (Hebr 3,16–18) – ‚verstockt‘ bzw. ‚verhärtet‘ werde durch die ἀπάτη τῆς ἁμαρτίας436, sondern sämtlich alle die ihre Teilhabe an Christus sichernde ἀρχὴ τῆς ὑποστάσεως, d.h. ihren anfänglichen festen Stand und ihre anfängliche Glaubensgrundlage437 (Hebr 3,14b), ‚festhielten‘ und bewahrten, um438 μέτοχοι τοῦ Χριστοῦ zu bleiben439 und schließlich in die κατάπαυσις440 Gottes (Hebr 3,18; 4,1.11) zu gelangen. H.-F. Weiß sieht u.a. in der durch die Passage ἄχρις οὗ τὸ σήμερον καλεῖται Hebr 3,13b ausgedrückten zeitlichen Begrenzung die unmittelbare Dringlichkeit der durch den Imperativ βλέπετε transportierten Mahnung expliziert441. Diese Interpretation ließe

Christus (Hebr 3,1) weg- und zu religiösen Vorstellungen des Alten Testaments bzw. des Judentums hinzuwenden beabsichtigen; in diesem Sinne, wenn auch von anderen Voraussetzungen ausgehend, F.F. Bruce, Hebr, 101: „But for those who had received the illumination of the gospel to renounce it in favor of the old order which the gospel had superseded would be a form of the irretrievable sin – the sin against light“. 433 Vgl. zu diesem Aspekt W.L. Lane, Hebr I, 87, der im Blick auf Hebr 5,13 feststellt: „The avoidance of apostasy demands not simply individual vigilance but the constant care of each member of the community for one another“. 434 Zur Bedeutung der Phrase ἄχρις οὗ vgl. etwa H.-F. Weiß, Hebr, 263, A. 16; Weiß übersetzt, in Sonderheit unter Verweis auf G. Theissen diese Phrase temporal mit ‚solange noch‘. 435 K. Backhaus, Hebr, 154 zufolge lässt sich der Satz Hebr 5,13b in zwei Richtungen verstehen, entweder bezogen auf die „Zeit, in der der Psalm noch verlesen wird“, oder aber bezogen auf den „Tag der Parusie“. Für Backhaus „fließen beide Verstehensmöglichkeiten ineinander über“. 436 Nach H.-F. Weiß, Hebr, 263 gilt dem Verfasser des Hebr die ἁμαρτία, hierin Paulus vergleichbar, als „eine personifizierte, gleichsam transsubjektive Macht, die ihre Opfer betrügt und umstrickt und der es sich deshalb zu erwehren gilt“. Mit einem deutlich anderen Akzent hier W.L. Lane, Hebr I, 87: „In this context ἁμαρτία … has a specific connotation. It is the sin of refusing to obey God and to act upon his promise“. 437 Zu dieser Doppelstruktur des Begriffs ὑπόστασις vgl. etwa E. Gräßer, Hebr I, 191: „Man hat sie [d.h. die ὑπόστασις] einerseits als ‚Aneignung eines Vorgegebenen‘, andererseits als ‚subjektive Haltung‘“. Gräßer verweist in diesem Zusammenhang auf E. Käsemann, Gottesvolk, 23. 438 Zum Verständnis der Konjunktion ἐὰνπερ vgl. E. Gräßer, Hebr I, 189: „Und ἐάν bzw. ἐὰνπερ schärft hier wie da als entscheidende Bedingung für die Heilsvollendung das Moment der Bewährung ein. Das Bekenntnis muß festgehalten werden ..., nicht im Sinne gelernter Katechismussätze, sondern im Sinne gelebter Glaubensinhalte“. 439 E. Gräßer, Hebr I, 190 schreibt dem Partizip γεγόναμεν Hebr 3,14a präsentische Bedeutung zu; anders hier H.-F. Weiß, Hebr, 264: „Als ‚Teilhaber des Christus‘ die wir (durch die Taufe?) bereits ‚geworden sind‘ ..., erweisen wir uns nur unter der Bedingung, daß ‚wir die anfängliche Zuversicht (des Glaubens) bis ans Ende fest bewahren‘“! 440 Zum Konzept der κατάπαυσις vgl. – in Kurzform – W.L. Lane, Hebr I, 98, darüber hinaus auch O. Hofius, Art. κατάπαυσις, in: EWNT2 II, 655f.; auf die in Sonderheit auch von O. Hofius bestimmte Diskussion zu diesem Terminus kann und muss an dieser Stelle nicht eingegangen werden. 441 Vgl. hierzu Hebr, 263.

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sich jedoch nur aufrechterhalten, wenn sich die mit dieser Passage zusammenhängende Mahnung auf eine Statusveränderung bezöge, etwa in dem Sinne, dass, ἄχρις οὗ τὸ σήμερον καλεῖται, bestimmte Anforderungen, die noch nicht erfüllt sind, erfüllt werden müssen, deren Erfüllung durch ein zu langes Zaudern oder Zögern aber verpasst werden könnte442. In Hebr 3,12f. geht es jedoch darum, den bereits erreichten soteriologischen Status beizubehalten und einem zumindest potentiell möglichen ἀποστῆναι ἀπὸ θεοῦ ζῶντος gerade nicht Folge zu leisten. Das aber heißt, dass die Passage ἄχρις οὗ τὸ σήμερον καλεῖται Hebr 3,13b kaum mit dem Momentum der Dringlichkeit verknüpft werden kann. In Hebr 3,14 wird Hebr 3,6 inhaltlich wieder aufgenommen. Dies zeigen schon die jeweiligen, analogen Formulierungen, hier in einer tabellarischen Übersicht präsentiert: Hebr 3,14 Hebr 3,6

ἐάνπερ τὴν ἀρχὴν τῆς ὑποστάσεως μέχρι τέλους βεβαίαν κατάσχωμεν ἐάν[περ] τὴν παρρησίαν καὶ τὸ καύχημα τῆς ἐλπίδος κατάσχωμεν

Diese Analogie ist von zahlreichen Abschreibern gesehen und durch die Einfügung der Wendung μέχρι τέλους βεβαίαν in Hebr 3,6, unmittelbar im Anschluss an den Begriff τὸ καύχημα τῆς ἐλπίδος, bewusst unterstrichen worden443. Daraus aber ergibt sich, dass die Begriffe ἀρχὴ τῆς ὑποστάσεως einer- und παρρησία bzw. τὸ καύχημα τῆς ἐλπίδος andererseits als Parallelen aufzufassen und zu interpretieren sind.

U.a. H.-F. Weiß zufolge ließen in Sonderheit die Ausführungen in Hebr 3,12–19 trotz ihrer zunächst lediglich theoretisch anmutenden Bezugnahme auf die Ausführungen in Ps 95,7–11 „die akute Gefährdung des Adressatenkreises des Hebr deutlich genug in den Blick treten“444. Die Annahme, dass der Verfasser des Hebr an dieser Stelle ein ihm sehr wichtiges Anliegen thematisiere, begründet K. Backhaus mit dem Hinweis darauf, dass das Syntagma θεὸς ζῶν Hebr 3,12c von jenem „sonst nur an entscheidenden Stellen der Leserlenkung“445 platziert würde; diese Platzierung bezeuge, „wie wichtig ihm diese unmittelbare Mahnung an Vgl. hierzu H.-F. Weiß, Hebr, 263: „Es gilt also, eine befristete Zeit zu nutzen und zwar – wie spätestens aus 10,25 deutlich wird – die durch den ‚sich nahenden Tag‘ befristete Zeit“. Im Sinne von Weiß hier auch E. Gräßer, Hebr I, 187: „Die Warnung vor dem Zuspät ist unüberhörbar“. 443 Vgl. hierzu etwa E. Gräßer, Hebr I, 189: „Nach Inhalt und Funktion in V 14 eine glatte Wiederholung von V 6“. 444 Hebr, 261. In diese Richtung denkt auch C.R. Koester, Hebr, 264f.: „The first part of the exposition of the psalm is framed by references to ‚seeing‘ and ‚unbelief‘ (3:12.19). The author identifies the problem by juxtaposing the situation of the listeners (3:12–14) with that of the wilderness generation (3:15–19). Moses’ generation was confronted with two ways of considering the promised land. Those who placed their trust in the perceptions of the spies, who insisted that peoples of Canaan were too strong, gave up hope of entering the land. Those who remained confident that God would keep his promise were willing to continue the journey. The people addressed by Hebrews were in a similar situation. The issue for the author was whether they would remain confident of God’s promises or capitulate when appearances seem to contradict those promises (2:8–9)“. 445 Hebr, 153; Backhaus verweist hier insbesondere auf Hebr 9,14; 10,31 und 12,22; vgl. zu diesen Belegen auch H.-W. Weiß, Hebr, 262, A. 30. H.-F. Weiß, Hebr, 262 sieht in dem Syntagma 442

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die ‚Brüder‘ (wir ergänzen: und Schwestern) ist“446. So wichtig dem Verfasser des Hebr „diese unmittelbare Mahnung an die ‚Brüder‘“ als die Adressaten des Hebr nun aber auch gewesen sein und so scharf, klar und explizit er diese Mahnung auch formuliert haben mag447, so wenig vermag die Darstellung der Perikope Hebr 3,12–19 selbst allerdings die etwa von H.-F. Weiß postulierte unmittelbare und „akute Gefährdung“ jener oder gar das bereits vollzogene ἀποστῆναι einiger aus dem Kreis derselben oder gar der Gruppe insgesamt zu indizieren448. Diese Annahme wird einerseits durch den Sachverhalt untermauert, dass der auctor ad Hebraeos an dieser Stelle, anders als etwa in Hebr 10,25 – hier geht es allerdings nicht um ein ἀποστῆναι ἀπὸ θεοῦ ζῶντος, sondern um das Verlassen der entsprechenden ἐπισυναγωγή449 –, und auch deutlich anders als in Hebr 5,11–14450, nicht davon spricht, dass jemand aus der von ihm angeschriebenen Gemeinde oder Gemeindegruppe451 einen solchen aus seiner σκληρότης herrührenden Abfall von Gott bereits vollzogen hätte oder aber auch nur in der Gefahr stände, einen solchen unmittelbar zu vollziehen. Hebr 3,13a.c zufolge sollen sich die Adressaten dieser Epistel eben untereinander ermahnen, just damit eben gerade nicht einer von ihnen durch den Betrug der Sünde verhärtet werde452: ἵνα μὴ σκληρυνθῇ τις ἐξ ὑμῶν ἀπάτῃ τῆς ἁμαρτίας453. Hinweise darauf, dass die Gruppe θεὸς ζῶν eine Anknüpfung an Num 14,21.28. Vgl. zu diesem Syntagma auch E. Gräßer, Hebr I, 186f. 446 K. Backhaus, Hebr, 153. 447 W.L. Lane, Hebr I, 87 stellt im Blick auf die Ausführungen in Hebr 3,12 zusammenfassend heraus: „It recognizes that the Christian community is not immune from the recalcitrant spirit expressed by the generation in the desert“. Das mag durchaus stimmen, wird in Hebr 3,12 jedoch lediglich auf der theoretischen Ebene diskutiert. 448 Anders hier jedoch etwa W.L. Lane, Hebr I, 86: „Recognizing that it is individuals who are exposed to the peril of apostasy, his pastoral concern extends to every member of the congregation“; diese Interpretation ist durch den Text Hebr 3,12–14 und dessen wenig konkrete Formulierungen gerade nicht indiziert. Vgl. jedoch im Sinne der in der vorliegenden Studie vertretenen Position durchaus m.R. H.W. Attridge Hebr, 116, A. 48: „Many of Hebrews‘ stern warnings ... do not necessarily indicate that serious apostasy had already taken place“. Dies trifft, auch wenn Attridge dies nicht explizit formuliert, auch auf die Passage Hebr 3,12–19 zu. 449 H.W. Attridge, Hebr, 116, A. 48 verweist, um die tatsächliche Realität dieser Möglichkeit zu untermauern, eben auf die Ausführungen in Hebr 10,25. Dem dort Ausgeführten vermag im Blick auf die Frage der in Hebr 3,12f. virulenten Realität der Möglichkeit eines Abfalls vom θεὸς ζῶν aufgrund der unterschiedlichen Kontextualisierungen allerdings nur bedingt Beweiskraft zuzukommen. Sollte der Verfasser des Hebr das in Hebr 10,25 Angedeutete als auf das Hebr 3,12f. Dargestellte bezogen verstanden wissen wollen, bliebe zu fragen, warum er weder in Hebr 3,12f. noch in Hebr 10,25 explizit auf die jeweils anderen Ausführungen Bezug genommen hätte. 450 Vgl. hierzu ausführlich o. 66–126. 451 Vgl. hierzu bereits o. 121f. 452 Diese Paraphrase nach H.-F. Weiß, Hebr, 261. 453 Zum Begriff der ἁμαρτία vgl. hier durchaus zutreffend H.-F. Weiß, Hebr, 263: „Ganz ähnlich wie bei Paulus – zum betrügerischen Handeln der Sünde vergleiche man nur Röm 7,11! – gilt die Sünde hier als eine personifizierte, gleichsam transsubjektive Macht, die ihre Opfer

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der Adressaten sich etwa bemühen sollte, eine unter ihnen bereits begonnen habende oder im Ansatz Platz greifende σκληρότης möglichst unmittelbar zu überwinden, lassen sich in Hebr 3,12–14 nicht nachweisen. Ein Vergleich zwischen den Ausführungen in Hebr 5,11–14 und denjenigen in Hebr 3,12–14 vermag das mit diesem Argument Gemeinte schlaglichtartig zu verdeutlichen: Werden in Hebr 5,11–14 klare Vorwürfe gegen die Adressaten des Hebr erhoben und die aus der Perspektive des auctor ad Hebraeos in ihren Reihen Platz greifenden Defizite explizit benannt und ausführlich beschrieben454 – und lässt Hebr 5,11–14 somit deutlich seinen Charakter als παρέκβασις bzw. digressio455 erkennen –, geschieht solches in Hebr 3,12–14 gerade nicht. Der Grund dafür scheint auf der Hand zu liegen: In Hebr 3,12–14 spricht der Verfasser des Hebr eben gerade nicht eine „akute Gefährdung des Adressatenkreises des Hebr“456 an, sondern kommt hier, wenn auch unter Verwendung der 2. Person Plural, in allgemeiner Weise, allerdings durchaus auch in grundsätzlich mahnendem Charakter, auf paränetischpotentielle457 Sachverhalte zu sprechen. Von nicht geringem Interesse mag an dieser Stelle ein Blick auf die Ausführungen in Gal 1,6–9; 3,1–5 sein; hier kommt Paulus auf die – zumindest aus seiner Sicht – von den von ihm angeschriebenen Christen in Γαλατία vollzogene Abwendung von dem ihnen von dem Apostel selbst verkündigten Evangelium zu sprechen. Auch wenn zweifelsohne zu konzedieren ist, dass sich der von Paulus konstatierte ‚Abfall‘ der Galater und derjenige – in der Forschung zumindest immer wieder behauptete – der Adressaten des Hebr im Blick auf ihre jeweiligen Ursachen und Anlässe deutlich voneinander unterscheiden, so lässt sich doch kaum bestreiten, dass die impliziten Adressaten in Gal 1,6–9; 3,1 ebenso deutlich anders auf ihren ‚Abfall‘ hingewiesen werden als diejenigen des Hebr auf ihren – in der Forschung immer wieder postulierten – in Hebr 3,12–14. Um den Unterschied deutlich zu machen, sei hier in gebotener Kürze der Text Gal 3,1–5 angesprochen. Paulus formuliert hier gegenüber den Galatern unmittelbar seine Vorwürfe: ὧ ἀνόητοι Γαλάται, τίς ὑμᾶς ἐβάσκανεν, οἷς κατ᾽ ὀφθαλμοὺς Ἰησοῦς Χριστὸς προεγράφη ἐσταυρωμένος; (2) τοῦτο μόνον θέλω μαθεῖν ἀφ᾽ ὑμῶν· ἐξ ἔργων νόμου τὸ πνεῦμα ἐλάβετε ἢ ἐξ ἀκοῆς πίστεως; (3) οὕτως ἀνόητοί ἐστε, ἐναρξάμενοι πνεύματι νῦν σαρκὶ ἐπιτελεῖσθε; (4) τοσαῦτα ἐπάθετε εἰκῇ; εἴ γε καὶ εἰκῇ. (5) ὁ οὖν ἐπιχορηγῶν ὑμῖν τὸ πνεῦμα καὶ ἐνεργῶν δυνάμεις ἐν ὑμῖν, ἐξ ἔργων νόμου ἢ ἐξ ἀκοῆς πίστεως? Paulus redet hier seine Adressaten namentlich an; diese namentliche Anrede „läßt die Bewegtheit und den Eifer des Apostels erkennen, der die Angeredeten beträgt und umstrickt und der es sich deshalb zu erwehren gilt .... Zu ihrem Wesen gehört es, daß sie einen nur vorübergehenden ‚Genuß‘ gewährt ... – am Ende aber führt sie in den Tod“. Anders hier H. Löhr, Umkehr, 292f., der den Sündenbegriff in Ηebr 3,13 handlungstheoretisch definieren möchte. „Der Hebr orientiert den Sündenbegriff am Verhältnis zu Gott und konstituiert ihn so als Gegenbegriff zur πίστις. Wenn diese das Durch- und Festhalten (an der Verheißung, am Heilsgut) ist, so ist die Sünde das Abfallen, das Zurückbleiben nach dem Schwachwerden“. 454 Vgl. hierzu ausführlich o. 66–126. 455 Zur παρέκβασις bzw. digressio vgl. ausführlich o. 142f. 456 H.-F. Weiß, Hebr, 261. 457 Vgl. zu dieser Begrifflichkeit ausführlich o. 127–129.

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Die Analyse von Hebr 5,11–6,12 fest in die Hand bekommen möchte. Der Gebrauch von ὧ gibt ihr einen eindringlichen, öfter auch tadelnden Charakter“458. Im Rahmen dieser namentlichen Anrede macht der Apostel durch die Verwendung des Adjektivs ἀνόητοι nachdrücklich und unmissverständlich deutlich, was er von den von ihm angeschriebenen galatischen Christen hält und wie er deren gegenwärtige Glaubensentwicklung beurteilt459. Diese – in ihrem Impetus klaren und eindeutigen – Einlassungen des Paulus, mit denen der Apostel in unmittelbarer und nachgerade frontal gegen die von ihm Angeschriebenen gerichteter Ansprache auf die gegenwärtige Situation und die aktuellen Verhältnisse bei seinen Adressaten zu sprechen kommt, sind sehr wohl vergleichbar mit denen in Hebr 5,11–14460, nicht allerdings mit denjenigen in Hebr 3,12–14, die dieser Klarheit und Deutlichkeit eben ermangeln. Diese Beobachtung verengt den Raum für die Annahme, dass der auctor ad Hebraeos in Hebr 3,12–14 auf eine zumindest aus seiner Sicht unmittelbar und akut unter seinen Adressaten Platz greifende Gefährdung Bezug nehmen wollte.

Andererseits widerrät der Annahme einer in Hebr 3,12f. sich äußernden „akute[,] Gefährdung“ der Adressaten dieser Epistel die Beobachtung, dass an dieser Stelle keinerlei aktueller, weder ein innerer noch ein äußerer Anlass namhaft gemacht werden461, der eine solche hier unterstellte σκληρότης und ein solches hier unterstelltes ἀποστῆναι ἀπὸ θεοῦ ζῶντος initialisiert oder einem solchen womöglich Vorschub geleistet hätte462. Da solche konkretisierenden und aktuelle Entwicklungen aufgreifenden Angaben hier gänzlich fehlen, lässt sich die

H. Schlier, Gal, 118. Eine solche namentliche Anrede findet sich in den paulinischen Briefen über Gal 3,1 hinaus sonst nur noch in 2Kor 6,11 und Phil 4,15 (vgl. hierzu etwa F. Mußner, Gal, 206). 459 Vgl. hierzu F. Mußner, Gal, 206: „Wenn die Galater von Paulus als ἀνόητοι apostrophiert werden, so wird ihnen damit nicht mangelhafte Intelligenz unterstellt, sondern mangelnde Einsicht, nämlich in das Wesen des Evangeliums und damit in das Christentum“. 460 Vgl. hierzu o. 66–126. 461 So ist etwa ein Verb wie ἐγκακεῖν, das ausweislich der Konkordanz in Lk 18,1, 2Kor 4,1.16; Gal 6,9, Eph 3,13 und 2Thess 3,13 belegt ist und den Status des Ermüdetseins zu explizieren vermag, für den Hebr insgesamt, aber auch für Hebr 3,12f. nicht ausgewiesen; vgl. hierzu W.F. Moulton/A.S. Geden, Concordance, s.v. ἐγκακέω, 337. Ebenso fehlen in Hebr 3,12f., aber auch im Hebr insgesamt Verben wie etwa κοπιάω oder φορτίζω, die in Mt 11,28 das Momentum der Mühsal und des Beladenseins transportieren; vgl. hierzu W.F. Moulton/A.S. Geden, Concordance, s.v. κοπιάω, 554, und W.F. Moulton/A.S. Geden, Concordance, s.v. φορτίζω, 994. Es ist zumindest zu fragen, warum der auctor ad Hebraeos, wenn es ihm in seiner Epistel denn darum gegangen wäre, das Momentum der Mühsal und des Beladenseins zu explizieren, sich dann nicht auch des entsprechenden, im Urchristentum wohlbekannten und im NT wohl belegten Vokabulars bedient hat. 462 Vgl. hierzu aber K. Backhaus, Hebr, 154: „Es ist aufschlussreich zu beobachten, dass es für Hebr nicht die Mehrheitsmeinungen in einer für Christen bedrückenden Umwelt, nicht die andersartige Lebenspraxis der Gesellschaft und nicht deren intellektuelle wie moralische Kritik am Christentum sind, die die eigentliche Gefahr für das Christsein darstellen, sondern das eigene Herz, die Personmitte des Individuums, namentlich dessen Beziehung zu Gott“. Bemerkenswert ist zunächst, dass Backhaus im Blick auf die Hebr 4,1.11 formulierten Mahnungen allerdings sehr wohl Einflüsse der die Adressaten des Hebr umgebende paganen Mehrheitsge458

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Annahme, der Verfasser des Hebr rekurriere hier eben auf innerhalb seiner Adressatenschaft beobachtbare und aktuell Platz greifende Tendenzen, die auf ein ἀποστῆναι ἀπὸ θεοῦ ζῶντος hindeuteten, letztlich kaum aufrechterhalten, eine Konsequenz, die auch – zumindest e silentio – rezeptionsästhetische Erwägungen für sich in Anspruch nehmen kann: Wie nämlich sollen denn die Adressaten des Hebr die den in Hebr 3,12f. vom auctor ad Hebraeos ausgesprochenen Mahnungen inhärenten Gefahren für ihre eigene Existenz in der notwendigen Deutlichkeit realisieren, wenn diese Entwicklungen und auch ihre Anlässe und Ursachen nicht konkret beim Namen genannt und angesprochen werden? Erheblich wahrscheinlicher will es demgegenüber scheinen, dass jener hier, anknüpfend an die Ausführungen in Hebr 3,6, eine zwar grundsätzlich immer mögliche, aktuell aber nur potentiell und eben nicht real im Raum stehende Gefahr, der nicht nur seine Adressaten, sondern natürlich auch die Christen überhaupt immer wieder ausgesetzt sind, thematisiert463, somit also paränetisch-potentielle464 Inhalte transportieren möchte. Diesem Ergebnis entsprechen zwei weitere Beobachtungen: (a) Das in Hebr 3,7b–11 gebotene Zitat aus Ps 95,7–11 richtet sich an eine – virtuelle – Gruppe von Menschen, deren Herzen noch nicht verhärtet sind bzw. die ihre noch nicht verhärteten Herzen auch nicht verhärten sollen465. In Hebr 3,9 nämlich ist davon die Rede, dass nicht die in diesem Zitat Angeredeten, sondern deren πατέρες der σκληρότης schuldig geworden sind. (b) Das aber heißt: Wenn der auctor ad Hebraeos die Adressaten seiner Epistel mit seinem Zitat aus Ps 95 davor warnt, sich in ihrem Verhalten dasjenige der Wüstengeneration Israels zum Vorbild zu nehmen, so ist deren Situation derjenigen gleichzusetzen, die in diesem Zitat als virtuelle Gruppe angeredet werden. Da es sich bei diesen aber um solche handelt, deren Herzen noch nicht verhärtet sind bzw. die ihre noch nicht verhärteten Herzen auch nicht verhärten sollen, lässt sich eine Interpretation, innerhalb derer dem Verfasser des Hebr die Absicht unterstellt wird, er parallelisiere die Situation der Adressaten des Hebr mit derjenigen der – ihre Herzen in der Vergangenheit verhärtet habenden – Wüstengeneration466, kaum mehr aufrechterhalten. Das bedeutet dann aber: Die Ausführungen in Hebr 3,7–11 erlauben in keinem

sellschaft geltend macht (vgl. hierzu u.). Darüber hinaus lassen sich die hier von Backhaus angeführten Ursachen der Gefährdung des Christseins der Adressaten des Hebr in den Ausführungen in Hebr 3,12f. in keiner Weise erkennen. 463 Vgl. hierzu präzise auf den Punkt formuliert O. Michel, Hebr, 188: „Der Brief fürchtet [!] nicht einen Rückfall in die Vergangenheit, sondern einen Abfall vom Glauben überhaupt. A b fall vom Christus als dem eschatologischen Handeln Gottes an uns ist Abf a l l v o m l e b e n d i g e n G o t t “. 464 Vgl. zu diesem Begriff o. 127–129. 465 Vgl. hierzu m.R. K. Backhaus, Hebr, 151: „Ps 95 beginnt als Aufruf zu Lob und Anbetung des mächtigen Schöpfergottes ... und schlägt in der zweiten Hälfte in einem – wohl bereits gottesdienstlich zu verortenden –Aufruf um, ‚heute‘ aus dem warnenden Beispiel der ExodusGeneration zu lernen und mit vertrauendem Herzen auf die Stimme des göttlichen Hirten zu hören“. 466 Vgl. hierzu etwa die Einlassungen von C.R. Koester o. 149, A. 444.

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Die Analyse von Hebr 5,11–6,12 Falle eine Rekonstruktion der aktuellen und akuten Verhältnisse und Vorfindlichkeiten innerhalb der Adressatenschaft des Hebr im Lichte der Verhältnisse innerhalb der Wüstengeneration Israels. Nicht ohne Interesse ist die darüber hinaus Beobachtung, dass der in Hebr 3,12b.c begegnende Finalsatz nicht mit einem Konjunktiv, sondern mit einem – klassisch eigentlich nicht statthaften467 – Indikativ Futur (ἔσται) konstruiert ist. Zu fragen ist, warum der auctor ad Hebraeos an dieser Stelle, wiewohl er etwa in Hebr 12,15c eben jenen vollständig korrekt verwendet, hier in Hebr 3,12b.c den eigentlich üblichen und auch gebotenen Konjunktiv vermeidet? Während J.H. Moulton, ohne dies jedoch weiter zu begründen bzw. begründen zu können, vermutet, dass der Verfasser des Hebr mit dem Indikativ Futur „presumably ... the warning somewhat more instant“468 darstellen wollte, ließe sich, womöglich schlüssiger, weil zumindest grammatisch denkbar und zumindest im klassischen Griechisch auch belegt, der in Hebr 3,12b.c verwendete Indikativ als „Indikativ der Nichtwirklichkeit in Finalsätzen“469 begreifen. Würde der Indikativ Futur ἔσται in dem Finalsatz Hebr 3,12b als ein solcher Indikativ der Nichtwirklichkeit gefasst, ergäbe sich als interpretatorische Konsequenz die Annahme, dass die Darstellung in Hebr 3,12b.c auf einen bestenfalls potentiell mögliches, nicht aber aktuell wirkliches und zumindest nach Einschätzung des auctor ad Hebraeos zukünftig wohl auch nicht Wirklichkeit werdendes Ereignis rekurriert. Man kann an dieser Stelle sicherlich die Frage stellen, warum der auctor ad Hebraeos in Hebr 3,12–14, wiewohl er hier paränetisch-potentielle Inhalte vermitteln möchte, dennoch nicht die 1. Person Plural, also ein kommunikatives ἡμεῖς, sondern die 2. Person Plural verwendet hat470. Denkbar, wenn natürlich auch nur Spekulation, ist, dass jener die 2. Person Plural in dem Zitat aus Ps 95 vorgefunden und dann im Rahmen seiner eigenen Darlegungen schlicht übernommen bzw. weitergeführt hat. Wird dennoch – eben aufgrund der Verwendung der 2. Person Plural – probehalber angenommen, die in Hebr 3,12f. formulierten Ermahnungen transportierten paränetisch-aktuelle Inhalte471, mit denen der auctor ad Hebraeos unmittelbar auf die Situation seiner Adressaten rekurrieren wollte, so ergäbe sich folgende Annahme: Jener sähe bei den von ihm Angeschriebenen eine ὑμῶν καρδία πονηρὰ ἀπιστίας ἐν τῷ ἀποστῆναι ἀπὸ θεοῦ ζῶντος (Hebr 3,12b.c) und fordere diese mit Nachdruck dazu auf, ihre gegenwärtig – zumindest drohende, wenn nicht sogar schon realisierte – σκληρότης (Hebr 3,13c) zu überwinden, eine Forderung, die er mit dem dann drohenden Verlust des Eingangs in die κατάπαυσις (Hebr 3,18f.) begründet. Eine solche einerseits polemische, andererseits zugleich restriktive Argumentation ist nun kaum denkbar als Reaktion auf eine bei den Adressaten des Hebr zu konstatierende ‚ver-

Vgl. hierzu F. Blaß/A. Debrunner/F. Rehkopf, Grammatik § 369, 298, die im Blick auf die Konstruktion von Finalsätzen formulieren: „Bisweilen dringt der Ind[ikativ].Fut[ur]. ein, gerade da, wo er klass[isch]. nicht statthaft ist, nach ἵνα und finalem μή“. 468 Grammar I, 178. In diese Richtung denkt auch W.L. Lane, Hebr I, 86, der an dieser Stelle „a sharp warning“ expliziert sieht. 469 F. Blaß/A. Debrunner/F. Rehkopf, Grammatik, § 361, 292. Nicht verschwiegen werden soll allerdings, dass nach F. Blaß, A. Debrunner und F. Rehkopf, dieser Indikativ zwar im klassischen Griechisch belegt ist, im NT aber augenscheinlich nicht verwendet wird (vgl. 292). Angesichts von Hebr 3,12b.c ist aber doch zumindest zu fragen, ob sich diese Annahme in ihrer Ausschließlichkeit so aufrechterhalten lässt. 470 Vgl. zu diesem Zusammenhang o. 129f. 471 Vgl. zu der entsprechenden Begrifflichkeit o. 127–129. 467

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heißungsgeschichtliche Unsicherheit‘, in deren Rahmen ihnen das christliche Kerygma und die christliche Tradition keinerlei Plausibilität mehr zu transportieren schien472. Gänzlich zwanglos ließen sich die Ausführungen in Hebr 3,12f. jedoch als paränetisch-aktuelle Mahnungen interpretieren, würde – auf der Basis der Exegese von Hebr 5,11–14473 – angenommen, der Verfasser des Hebr sähe in seinen Adressaten eine Gruppe von Christen, die sich aufgrund ihrer Lethargie und ihres Desinteresses geweigert hätte, sich in die jenen von ihm vermittelte theologische Programmatik einzuarbeiten, diese für sich selbst anzunehmen und dann womöglich auch aktiv zu propagieren, damit zugleich auch eine Gruppe von Christen, die ein letzten Endes unzulängliches und damit in den Augen des auctor ad Hebraeos auch unzulässiges theologisches Programm verträten und somit das ἀποστῆναι ἀπὸ θεοῦ ζῶντος zu vollziehen474 im Begriff seien. Das aber heißt: Werden die Paränesen in Hebr 3,12f. paränetisch-aktuell interpretiert, vermöchten sie der o. anhand der Auslegung von Hebr 5,11–14 formulierten These zur textpragmatischen Situierung des Hebr deutlich Vorschub zu leisten.

Das o. im Blick auf Hebr 3,12f. bzw. 3,12–14 als exegetisches Ergebnis Formulierte trifft nun in womöglich noch deutlicherer Weise auch zu im Blick auf die Einlassungen in Hebr 4,1, die – in sicherlich durchaus gewollter, zumindest in Teilen chiastisch konstruierter syntaktischer und auch semantischer Parallelisierung – das in Hebr 3,12 Gesagte wieder aufnehmen, wie dies die folgende tabellarische Übersicht zeigt475: Hebr 3,12

βλέπετε, ἀδελφοί,

Hebr 4,1

φοβηθῶμεν οὖν,

μήποτε ἔσται ἔν τινι ὑμῶν καρδία πονηρὰ ἀπιστίας μήποτε ...

ἐν τῷ ἀποστῆναι ἀπὸ θεοῦ ζῶντος καταλειπομένης ἐπαγγελίας476 εἰσελθεῖν εἰς τὴν κατάπαυσιν αὐτοῦ

... δοκῇ τις ἐξ ὑμῶν ὑστερηκέναι

Auch in Hebr 4,1 werden, wie letztlich auch in Hebr 3,12, die Adressaten dieser Epistel, nun allerdings wieder und anders als in Hebr 3,12–14, unter Verwendung Vgl. zu diesem Zusammenhang o. 48–52, in Sonderheit o. 60f. Vgl. hierzu o. 66-126. 474 Zum Zusammenhang von Hebr 3,12c und Hebr 6,4–6 vgl.u. 177–189. 475 Nach W. Bauer/B. Aland, Wörterbuch, s.v. ὑστερέω, 1692 ist dieses Verb hier in Hebr 4,1 mit „versäumen, verfehlen, ausgeschlossen bleiben od[er]. werden“ zu übersetzen, transportiert also keinerlei zeitliche Konnotation, die etwa das Momentum eines Zuspätkommens inhärieren könnte; in diesem Sinne aber H. Braun, Hebr, 101. 476 Zum Begriff ἐπαγγελία vgl. etwa W.L. Lane, Hebr I, 97: „The word ἐπαγγελία ... is a significant term in the writer’s vocabulary and occurs here for the first time. It is the distinctive understanding of the writer that Christians on earth possess the realities of which God has spoken in the form of promise“. Vgl. zu diesem Begriff auch A. Sand, Art. ἐπαγγελία κτλ., in: EWNT2 II, 34–40; zu Hebr 4,1 vgl. 38f. 472 473

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des kommunikativen ἡμεῖς, ermahnt, darauf zu achten, dass niemand von ihnen die verheißene κατάπαυσις verfehle. Dass sich hinter eben dieser Mahnung aber mehr als eine zweifelsohne in ihrem paränetischen Impetus durchaus sehr ernst gemeinte, allerdings lediglich aus dem in Hebr 3,16–19 Ausgeführten gezogene theoretische, d.h. bestenfalls potentiell Realität werdende Schlussfolgerung verbergen sollte, die über ihre theoretische Gültigkeit und Relevanz hinaus auch die aktuelle Existenz der im Hebr angeschriebenen Gemeinde oder Gemeindegruppe477 beträfe, lässt der Text Hebr 4,1 – in diesem Falle genauso wenig wie die Ausführungen in Hebr 4,11, die, nachgerade als inclusio, eine inhaltlich sehr ähnliche Mahnung aussprechen478 – nicht erkennen479. Gleiches gilt im Blick auf die in Hebr 4,14–16, wiederum unter Verwendung des kommunikativen ἡμεῖς, formulierten Mahnungen, am Bekenntnis festzuhalten: κρατῶμεν τῆς ὁμολογίας (Hebr 4,14b), und mit Zuversicht zum Gnadenthron Gottes hinzuzutreten: προσερχώμεθα οὖν μετὰ παρρησίας τῷ θρόνῳ τῆς χάριτος (Hebr 4,16a)480. Diese Paränesen, die mit H.-F. Weiß – womöglich treffender – als Glaubensparaklesen zu bezeichnen sind481 – lassen sich gänzlich zwanglos als aus den zuvor formulierten theologisch-theoretischen Darlegungen folgende paränetisch-potentielle482, gleichwohl natürlich ernstzunehmende und im konkreten und praktischen Glaubensvollzug umzusetzende483 Konsequenzen verstehen, ohne dass hier ein konkreter und un-

Vgl. hierzu ausführlich o. 121f. Vgl. hierzu W.L. Lane, Hebr I, 102: „The focus upon the threat posed to even one member of the congregation ... is parallel to the formulation in v 1 and is motivated by the earnest concern the writer felt for every member of the community“; vgl. darüber hinaus auch 95: „The first literary unit is established by the inclusio formed by the use of hortatory subjunctives and the phrase ‚to enter that rest‘ in vv 1 and 11“. 479 Vgl. zu Hebr 4,11 aber etwa K. Backhaus, Hebr, 165: „Was Hebr vielmehr am tiefsten fürchtet, ist die Trägheit, das Stillstehen auf einem Weg, der den Wandernden allzu lang und mühselig erscheint .... Dabei dürfte dem V[er]f[asser]. konkret die innere Resignation seiner Adressaten angesichts ihrer kraftraubenden Minderheitssituation vor Augen stehen“. Auffälligerweise wird aber gerade eine solche Minderheitssituation weder in Hebr 4,1 noch in Hebr 4,11 auch nur im Ansatz thematisiert. Anders hier auch W.L. Lane, Hebr I, 97, der die Aktualität der in Hebr 4,1 ausgesprochenen Mahnung grammatisch begründen möchte: „The emphatic position of φοβηθῶμεν ... at the beginning of the paragraph implies that the attitude toward the word of God in Scripture within the community has not been acceptable“. Wenn dem so wäre, wäre zu fragen, warum der Verfasser des Hebr diesen Sachverhalt dann nicht deutlicher, eindeutiger und auch konkreter schildert, eben in einer Weise, wie sie etwa in den Ausführungen in Hebr 5,11–14 sichtbar wird. Dass der auctor ad Hebraeos mit der in Hebr 4,1 ausgesprochenen Mahnung eine große Ernsthaftigkeit verbindet, kann und soll hier nicht bestritten werden, dass er auf aktuelle Vorfindlichkeiten und Verhältnisse innerhalb seiner Adressatengruppe Bezug nimmt, hingegen schon. 480 Die beiden Übersetzungen jeweils nach H.-W. Weiß, Hebr, 291. 481 Vgl. hierzu Hebr, 291f. 482 Vgl. zu dieser Begrifflichkeit ausführlich o. 127–129. 483 Vgl. hierzu m.R. K. Backhaus, Hebr, 182 mit Blick auf Hebr 4,14b: „Dieser Reichtum darf nicht fortgerissen oder -geworfen werden. Die Gefahr, ihn zu verlieren, sei es durch äußere Anfeindung oder innere Anfechtung, scheint dem V[er]f[asser]. ernst zu sein. Die erste Person 477 478

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mittelbarer Bezug auf die aktuelle Situation und die akuten Verhältnisse und Vorfindlichkeiten innerhalb der Adressatenschaft des Hebr angenommen werden muss, zumal sich zugunsten der Annahme eines solchen konkreten und unmittelbaren Bezuges keinerlei, vor allem keine zureichenden Textsignale namhaft machen lassen484.

Aus alledem aber folgt: Die in Hebr 1,1–5,10 formulierten Mahnungen indizieren in keinem Falle die Annahme, dass der auctor ad Hebraeos hier auf konkrete und aktuell und akut Platz greifende Verhältnisse und Vorfindlichkeiten innerhalb der von ihm angeschriebenen Gemeinde oder Gemeindegruppe485, also auf paränetisch-aktuelle486 Inhalte reflektiert. Die einzelnen paränetischen Abschnitte lassen sich hingegen sämtlich als aus den zuvor formulierten theologisch-theoretischen Erwägungen sich ergebende paränetisch-potentielle487 Schlussfolgerungen begreifen, die zwar inhaltlich und von der Sache her natürlich ernst gemeint und auch ernst zu nehmen und in Sonderheit von den Adressaten des Hebr auch im praktischen Glaubens- und Lebensvollzug zu realisieren sind, die aber eben gerade nicht auf eine konkrete Situation innerhalb der Adressatenschaft des Hebr oder auf innerhalb jener nachweisbare konkrete, aktuelle und akute paränetisch-aktuelle488 Defizite rekurrieren.

Plural, in die die Mahnung gekleidet ist, appelliert auch an das Wir-Bewusstsein der Gemeinde, die durch das in der Taufe übernommene Glaubensbekenntnis gestiftet und geeint ist und in deren Reihen das Festhalten leichter fällt“. Diese Interpretation berechtigt nun aber gleichwohl eben gerade nicht zu der – erheblich weitergehenden – Annahme, daß die Adressaten die hier angesprochene ὁμολογία bereits aufgegeben hätten bzw. unmittelbar davor stehen, diese aufzugeben. Dies scheint allerdings H.-F. Weiß, hebr, 294 zu intendieren, wenn er formuliert: „Eben hier zeigt sich, daß für den Autor des Hebr die ‚Hohenpriester‘-Christologie das entscheidende Instrument darstellt, um seine Adressaten erneut zum ‚Ergreifen‘ des ihnen bereits bekannten Bekenntnisses zu motivieren“. 484 So sehr H.-F. Weiß – zumindest im Grundsatz – zuzustimmen ist, wenn er mit Blick auf Hebr 4,14–16 feststellt: „Auf die typologisch aus Ps 95 abgeleitete Paränese in 3,7–4,11 bzw. 3,7– 4,13 folgt in 4,14–16 – durch schlußfolgerndes οὖν angeschlossen – eine christologisch begründete Mahnung, die als solche – im Unterschied zum vorangehenden Text- und Sachzusammenhang – ganz auf Glaubensparaklese im Sinne der Tröstung und Vergewisserung der Adressaten ausgerichtet ist“ (Hebr, 291), so sehr muss zugleich aber auch fraglich bleiben, ob aus dieser Feststellung gefolgert werden darf, daß es den Adressaten des Hebr in ihrem Christsein an Tröstung und Vergewisserung ermangelt. Der Text Hebr 4,14–16 gibt jedenfalls diese Konsequenz nicht her. 485 Vgl. hierzu bereits ausführlich o. 121f. 486 Vgl. zu dieser Begrifflichkeit ausführlich o. 127–129. 487 Vgl. zu dieser Begrifflichkeit ausführlich o. 127–129. 488 Vgl. zu dieser Begrifflichkeit ausführlich o. 127–129.

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3.2.4 Fazit Die Analyse der Perikope Hebr 5,11–14 zeitigt im Verein mit der Analyse der paränetischen Abschnitte Hebr 2,1–4; 3,1–6; 3,(7–11.)12–4,13(14–16) insgesamt folgenden Ertrag: In Hebr 5,11–14 wird eine Gruppe von Menschen angeschrieben bzw. angesprochen489, die sich näherhin als Schülerschaft oder als Schülergruppe charakterisieren lässt. Bei dieser Gruppe handelt es sich entweder um den um ein theologisches Schulhaupt versammelten philosophisch-theologischen Schülerkreis oder aber um eine Gruppe von Kandidaten, die sich in der Ausbildung zum gemeindlichen Lehramt befindet490. In jedem Falle hat die bisherige Ausbildung dieser ‚Lerngruppe‘ zumindest in den Augen des Verfassers des Hebr, möglicherweise ihres theologischen Schulhauptes oder ihres Ausbilders bzw. Lehrers, die mit der Ausbildung bis dato die im Blick auf die Vermittlung des Lernstoffes und dessen intellektuell-logisches Verständnis intendierten Ziele nicht realisieren können. Vielmehr werden deren Mitglieder als solche beschrieben und auch kritisiert, denen aufgrund mangelnder Hör- und Denkbereitschaft, mangelnder Übung und daher auch mangelnden Fähigkeiten, an einer Erweiterung und Vertiefung ihrer theologisch-theoretischen Glaubensbasis zu arbeiten, ein lediglich unzureichender theologisch-theoretischer (Er-)Kenntnisstand zukommt. Sie seien, wiewohl eigentlich dazu verpflichtet, diese Fähigkeit schon längst ausgebildet zu haben und selbst in der Lehre tätig zu sein, gegenwärtig nicht in der Lage, sich mit den grundlegenden sowohl als auch mit den auf jene aufbauenden und jene weiterführenden theologisch-theoretischen und auch ethisch-theoretischen Eckpunkten der christlichen (Glaubens-)Lehre auseinanderzusetzen, sich in diese einzuarbeiten und diese eigenständig zu formulieren und selbst zu vermitteln. Für den auctor ad Hebraeos dürfte dies, wenn auch im bisherigen Verlauf seiner Argumentation noch nicht explizit geäußert, zugleich bedeuten: Die Adressaten seiner Epistel vertreten und propagieren eine unzulängliche und damit auch unzulässige Theologie491. Da sich die in Hebr 1,1–5,10 begegnenden paränetischen Abschnitte492 und die in diesen entwickelten Ausführungen nun beileibe nicht als eher bzw. nur vernachlässigbare ‚Nebenkrater‘ innerhalb der theologischen Argumentation493 Vgl. hierzu o. 66–126. Zu der als unwahrscheinlich erwiesenen Vermutung, der im Hebr angeschriebene Adressatenkreis stelle eine Katechumenengruppe dar, die der Unterweisung in der christlichen Lehre bedarf, vgl.o. 119f, darüber hinaus auch die Ausführungen zu Hebr 10,32–34 u. 229–232. 491 Vgl. zu dieser an dieser Stelle noch mit großer Vorsicht formulierten Erwägung u. 174f. 492 Vgl. zur Analyse derselben ausführlich o. 126–156. 493 In diesem Sinne durchaus zutreffend H.W. Attridge, Hebr, 21: „Hebrews, as we have seen is a balanced combination of doctrinal exposition and paraenesis. Any assessment of its overall meaning needs to take both dimensions of the work equally into account. The paraenesis is not a perfunctory afterthought to a dogmatic treatise, and the pastoral thrust of the work is clear. 489 490

Die paränetischen Abschnitte in Hebr 1,1–5,10

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des auctor ad Hebraeos, wohl aber sämtlich als paränetisch-potentieller494 Natur erwiesen haben und eben gerade nicht auf unter den Adressaten des Hebr aktuell virulente – wenn auch potentiell durchaus nicht unmögliche – Verhältnisse und Vorfindlichkeiten zielen, ergibt sich aus der Analyse von Hebr 5,11–14 – im Verein mit der derjenigen der paränetischen Abschnitte Hebr 2,1–4; 3,1–6; 3,(7– 11.) 12–4,13(14–16) – im Blick auf die Frage der textpragmatische Situierung dieser Epistel folgende These: Der Hebr ist an einen um ein theologisches Schulhaupt versammelten Schülerkreis oder aber an eine Gruppe von Kandidaten, die sich in der Ausbildung zum gemeindlichen Lehramt befindet, gerichtet. Diese ‚Lerngruppe‘ hat in den Augen des auctor ad Hebraeos aufgrund offenkundiger Lethargie und offenkundigen Desinteresses das bildungstheoretische ‚Klassenziel‘ nicht nur nicht erreicht, sondern hätte es eigentlich – wenn womöglich auch nur in rhetorischer Übertreibung – vielmehr nötig, wieder erneut über die στοιχεῖα τῆς ἀρχῆς τῶν λογίων τοῦ θεοῦ (Heb 5,12b) unterrichtet zu werden. Dieses theologisch-theoretische Defizit führt dazu, dass die Adressaten des Hebr, theologisch zu Bildende, sich einer – wiederum zumindest in den Augen des auctor ad Hebraeos – unzulänglichen und damit auch unzulässigen theologischen Programmatik verschreiben495 und diese womöglich auch schon selbst in der Lehre weitergeben496. Das aber heißt: Es geht dem auctor ad Hebraeos mit seiner Epistel – und dies stellt ein zunächst vorläufiges Ergebnis dar – nicht darum, eine glaubensmüde und -matte, ihr Christsein und die Plausibilitäten ihres christlichen Glaubens in Frage stellende Gemeinde oder Gemeindegruppe497 theologisch zu stabilisieren und auf diesem Wege neu zu revitalisieren498, sondern darum, eine bis dato hinter den geplanten Lernzielen zurückgebliebene und sich damit zugleich auf einem theologischen Irrweg befindliche Gruppe von theologisch zu Bildenden zu motivieren, ihre offenkundige Lethargie und ihr offenkundiges Yet neither is the doctrinal exposition an unimaginative repetition of well-worn truths adduced to support an exhortation. Rather, in that exposition we find a highly creative adaption of early Christian traditions“. Diese Einschätzung trifft durchaus zu; aus ihr ist nun aber gerade nicht zu folgern, dass die Adressaten des Hebr durch eine zunehmende Glaubensermüdung und -ermattung in ihrem Christsein existentiell gefährdet sind. Vielmehr ist die Botschaft des Hebr in ihrer von H.W. Attridge m.R. beobachteten Bipolarität auf der theoretischen Ebene zu verorten: Lehrhafte und paränetische Abschnitte bilden in ihrer Gesamtheit eine theologische Konzeption, die den Adressaten des Hebr als Schülerkreis oder Kandidatenkreis für das gemeindliche Lehramt nicht geläufig ist, weil sie im Blick auf ihren theologisch-theoretischen (Er-)Kenntnisstand noch nicht soweit sind, wie es aus der Sicht des auctor ad Hebraeos eigentlich zu erwarten gewesen wäre. 494 Vgl. zu dieser Begrifflichkeit ausführlich o. 127–129. 495 Im weiteren Verlauf der Diskussion der Argumentation des auctor ad Hebraeos gewinnt diese hier noch als Möglichkeit charakterisierte Entwicklung eine deutlich höhere Wahrscheinlichkeit; vgl. hierzu u. 194f. 496 Zu diesem hier noch als Möglichkeit angedeuteten Szenario vgl. aber u. 258f. 497 Zu dieser die Diskussion der Frage nach der textpragmatischen Situierung des Hebr im der Gegenwart im wesentlichen bestimmenden Annahme vgl.o. 121f. 498 Vgl. zu dieser neuestens u.a. von K. Backhaus vertretenen These ausführlich o. 48–52.

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Desinteresse abzuschütteln und ihren Bildungseifer zu intensivieren, um die Fähigkeit zu generieren, sich auch die weiterführenden Aspekte der im Hebr entwickelten und vom auctor ad Hebraeos propagierten Konzeption christlicher Theologie zu eigen zu machen und dadurch zu einer aus der Sicht des Verfassers des Hebr rechten und zulässigen theologischen Systematik bzw. Programmatik (zurück-)zufinden. Die Analyse weiterer paränetischer bzw. unmittelbar auf die Adressaten dieser Epistel und ihre aktuelle Situation bezogener Abschnitte des Hebr, insbesondere diejenige der Passagen Hebr 10,19–39 und Hebr 12499, wird zu zeigen haben, ob und inwieweit sich dieses Ergebnis durchhalten lässt oder aber modifiziert oder gar revidiert werden muss. An dieser Stelle ist, in Sonderheit angesichts des in Hebr 1,1–5,10 Ausgeführten, zu fragen, ob der in Hebr 5,12b.c formulierte Vorwurf nicht als Hyperbel zu begreifen ist. Immerhin nämlich scheinen die Adressaten – zumindest in den Augen des auctor ad Hebraeos – doch in der Lage zu sein, den durchaus komplexen Ausführungen in Hebr 1,1–5,10 zu folgen, eine Beobachtung, die zu der Frage Anlass gibt, ob sie tatsächlich noch einmal über στοιχεῖα τῆς ἀρχῆς τῶν λογίων τοῦ θεοῦ belehrt und γάλα zu trinken bekommen müssen, oder ob der Verfasser des Hebr mit seinen hier hyperbolisch zu verstehenden Aussagen nicht vielmehr die Aufmerksamkeit und auch den intellektuellen Ehrgeiz seiner Adressaten anstacheln möchte500. M. Fabius Quintilianus definiert inst.orat. VIII 6,67 die Hyperbel folgendermaßen: Hyperbolen audacioris ornatus summo loco posui. Est haec decens veri superiectio: virtus eius ex diverso par, augendi atque minuendi501. Als Gefahr einer übertriebenen Hyperbolisierung stellt er fest: Monere satis est mentiri hyperbolen, nec ita ut mendacio facere velit. Quo magis intuendum est quo usque deceat extollere quod nobis non creditur502. Vor dem Hintergrund dieser Warnung und vor dem Hintergrund der Komplexität des in Hebr 1,1–5,10 Dargestellten scheint der auctor ad Hebraeos mit seiner in Hebr 5,11–14 formulierten Kritik an Vgl. zu diesen Texten bereits o. 61–65. Vgl. hierzu die Ausführungen von H.W. Attridge, Hebr, 157, der in der Einlassung Hebr 5,11–14 „probably a rhetorical move, an ironic captatio benevolentiae [sieht]. The stance that ‚this material is difficult because you are slow-witted,‘ followed by the more positive remarks of 6:1–3 and 9–12, is designed to elicit the response, ‚no, we are not dullards, we are ready to hear what you have to say‘“; vgl. zu diesem Zitat bereits o. 71, A. 28; anders hier D. Bornhäuser, Empfänger und Verfasser, 17, der Hebr 5,11–13 als unmittelbar auf die Realität bezogen verstehen möchte: „Der Verfasser des Briefes hat jetzt keine Zeit, diejenigen, die längt Lehrer sein sollten, in die Elemente des christlichen Unterrichts einzuführen. Das will er tun, wenn Gott es erlaubt. Ob dies brieflich geschehen soll? Schwerlich. Es liegt sehr viel näher, daran zu denken, dass er damit rechnet, er werde früher oder später mit den Lesern seines Briefes wieder zusammen sein. Dann will er tun, wozu jetzt keine Zeit ist“. Ob diese am Text nicht belegbare (Re-)Konstruktion überzeugt, muss freilich dahingestellt bleiben. 501 „Die Hyperbel mit ihrer besonders kühnen schmückenden Wirkung habe ich an die letzte Stelle gesetzt. Sie besteht in einer schicklichen Übersteigerung der Wahrheit; ihre Leistung liegt in gleichem Maße auf den entgegengesetzten Gebieten des Steigerns und des Verkleinerns“; Text und Übersetzung nach H. Rahn, Ausbildung des Redners II, 246f. 502 VIII 6,74; „Es mag genügen, daran zu erinnern, daß die Hyperbel zwar lügt, nicht aber so, daß sie durch die Lüge betrügen will. Um so mehr ist darauf zu achten, bis zu welcher Grenze das zu übertreiben sich schickt, was man uns nicht glaubt“; Text und Übersetzung nach H. Rahn, Ausbildung des Redners II, 248f. 499 500

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seinen Adressaten zumindest diesen von Quintilianus formulierten Rat hinsichtlich einer hyperbolischen Darstellung – möglicherweise bewusst – durchaus weit ausgedehnt zu haben, eine Beobachtung, die vor allem angesichts des in Hebr 6,1–3 Ausgeführten – hier nämlich wird Gott als derjenige definiert, dem einzig der anhand der im Anschluss an das ‚metakommunikative Zwischenstück‘ Hebr 5,11–6,12 dann folgenden Darlegungen zu realisierende mögliche Erkenntnisgewinn und mögliche Erkenntnisfortschritt der Adressaten des Hebr zu verdanken seien (Hebr 6,3)503 – weitere Bestätigung gewinnt.

3.3

Hebr 6,1–3

Im Anschluss an seine Ausführungen in Hebr 5,11–14 kündigt der Verfasser des Hebr seinen Adressaten in Hebr 6,1b zunächst an, sich gemeinsam mit ihnen nun der τελειότης504 zuzuwenden; der λόγος τῆς ἀρχῆς τοῦ Χριστοῦ kann und soll dabei nicht mehr behandelt werden (Hebr 6,1a)505, auf das neuerliche (πάλιν) Bereiten eines θεμέλιος506 kann und soll dabei verzichtet werden (Hebr 6,1c.2)507. Um herausarbeiten zu können, was der Verfasser des Hebr unter dem Terminus θεμέλιος verstanden hat, ist zunächst ein in Hebr 6,2 begegnendes textkritisches Problem zu klären, die Frage nämlich, ob auf das Substantiv βαπτισμῶν ein Genitiv oder ein Akkusativ folgt, ob also im Anschluss an βαπτισμῶν διδαχῆς oder aber διδαχήν zu lesen ist. Erwiese sich der Genitiv als ursprünglich, umfasste der zuvor in Hebr 6,1c genannte θεμέλιος additiv sowohl die unmittelbar auf diesen Begriff bezogenen Aspekte der μετάνοια ἀπὸ νεκρῶν ἔργων und der πίστις ἐπὶ θεόν als auch die im Anschluss daran aufgelisteten, mit dem Begriff διδαχή zusammengefassten vier Lehrstücke508. Stellte der Akkusativ die ursprüngliche Vgl. hierzu u. 175f. E. Gräßer, Hebr I, 334 spricht in diesem Zusammenhang vom „Gipfelwissen“ im Unterschied zum „Basiswissen“ des θεμέλιος. 505 Vgl. hierzu etwa E. Riggenbach, Hebr, 148: „Dieses Anfangswort Christi, mit dem die Leser schon genügend vertraut sind oder mindestens sein sollten, will der Vf jetzt auf sich beruhen lassen und in seiner Unterweisung der Vollkommenheit zustreben, indem er den Lesern zu ihrer Belehrung solches darbietet, was der für Erwachsene geeigneten Nahrung vergleichbar ist“. 506 Vgl. zu dieser grundsätzlichen Übersetzung dieses Begriffs G. Petzke, Art. θεμέλιον κτλ., in: EWNT² II, 343; in Hebr 6,1c möchte Petzke ihn im Sinne von „Lehrgrundlage“ deuten. 507 Vgl. zur Struktur von Hebr 6,1c.2 insgesamt etwa H.-F. Weiß, Hebr, 336: „Formal geschieht dies in einer Aneinanderreihung von Genitiven in drei Begriffspaaren, wobei deren erstes (μετάνοια – πίστις) unmittelbar von θεμέλιον abhängig ist, das zweite und dritte dagegen vom Genitiv διδαχῆς“. 508 Schon der Sachverhalt, dass die vier in Hebr 6,2 genannten Genitive sämtlich von dem Terminus διδαχή abhängig sind, lässt erkennen, dass es sich zumindest bei diesen vier Elementen um Bestandteile von Lehrunterweisung handelt; in diesem Sinne etwa E. Riggenbach, Hebr, 149, ähnlich auch H.-F. Weiß, Hebr, 336. 503 504

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Lesart dar, bliebe der genannte θεμέλιος entweder auf die μετάνοια ἀπὸ νεκρῶν ἔργων und die πίστις ἐπὶ θεόν beschränkt509 oder aber die vier in Hebr 6,2 genannten Lehrstücke stellten die gleichsam theologisch-theoretischen Implikationen des in Hebr 6,1c mit den Syntagmata μετάνοια ἀπὸ νεκρῶν ἔργων und πίστις ἐπὶ θεόν skizzierten grundlegenden religiösen (Erkenntnis-)Prozesses510 dar511. Da beide Lesarten durchaus gut bezeugt sind512, wird zu überprüfen sein, welche Lesart sich plausibler aus der jeweils anderen erklären lässt. Wird der Akkusativ διδαχήν hypothetisch als ursprüngliche Lesart angenommen, ergäbe sich, würde jener asyndetisch interpretiert, die stilistisch zumindest ungewöhnliche Formulierung καταβαλλόμενοι ... διδαχήν513, würde jener appositionell gefasst, die syntaktische Schwierigkeit, dass in diesem Falle eine im Akkusativ formulierte Apposition zu θεμέλιος auf zwei Genitivappositionen folgte, ein Sachverhalt, der die Gesamtstruktur von Hebr 6,1c.2 keinesfalls überschaubarer werden ließe514. Insbesondere diese syntaktische Schwierigkeit würde durch die Variante διδαχῆς behoben, ergäbe sich dann ein doch klarer, wenn auch teilweise nur asyndetischer Bezug515 dreier Genitivappositionen, nämlich der Begriffe Vgl. hierzu H. Braun, Hebr, 160, der die beiden Akkusative θεμέλιον und διδαχήν als Asyndeta auffasst und als – zumindest grammatikalisch – gleichrangige Objekte beide auf das Partizip καταβαλλόμενοι bezieht; jenseits einer asyndetischen Interpretation will es auch nicht undenkbar scheinen, in Hebr 6,2 eine Ellipse zu vermuten, innerhalb derer das zu dem Akkusativ διδαχήν zugehörige praedicativum ausgefallen ist. 510 In diesem Sinne etwa B. Weiss, Hebr, 150, der den Akkusativ διδαχήν als Apposition zu θεμέλιος liest, und J. Moffatt, Hebr, 74: „The θεμέλιον of instruction consists of μετανοίας … καὶ πίστεως (genitives of quality), while διδαχήν, which is in apposition to it …, controls the other four genitives“. 511 Vgl. zu dieser Differenzierung auch E. Gräßer, Hebr I, 337, A. 160: „Διδαχήν … wäre entweder zweites Objekt zu καταβαλλόμενοι neben θεμέλιον … oder Apposition zu θεμέλιον …“. 512 Vgl. hierzu H.-F. Weiß, Hebr, 336, A. 39; anders hier R.C. Sauer, Reexamination, 176, der die Lesart διδαχῆς für äußerlich besser bezeugt hält. 513 Vgl. hierzu H. Löhr, Umkehr, 176, A. 212, der die Formulierung καταβαλλόμενοι … διδαχήν für „keine sinnvolle Formulierung“ hält; vgl. hierzu auch W. Bauer, Wörterbuch, s.v. κατάβάλλω, 830, der καταβάλλω im Medium, wie ähnlich auch H.-F. Weiß, Hebr, 336, A. 38, mit „begründen“ wiedergeben möchte. 514 Vgl. hierzu E. Riggenbach, Hebr, 149, A. 94; die appositionelle Interpretation von διδαχή ,verwirreʻ s.E. die Struktur von Hebr 6,1f., „insofern von den zu θεμέλιος hinzutretenden appositionellen Bestimmungen zwei im Gen.[itiv] stehen, eine im Akk.[usativ]“; in diesem Sinne auch H. Braun, Hebr, 160: „Trotz der breiten Bezeugung von διδαχῆς … ist das schmal, aber qualitativ gut bezeugte διδαχήν … vermutlich echt …: Angleichung des Accusativs an die umgebenden Genitive ist verständlich, das Umgekehrte, zwecks stilistischer Verbesserung, nicht so; auch die ungewöhnliche Voranstellung eines abhängigen vor einen regierenden Genitiv spricht für διδαχήν“; in diesem Sinne auch W.L. Lane, Hebr I, 132, anders hier R.C. Sauer, Reexamination, 177, der die Lesart διδαχήν für eine stilistische Verbesserung „in order to avoid so many genitives“ hält. 515 Vgl. hierzu M. Karrer, Hebr II, 21. M. Karrer macht m.R. darauf aufmerksam, dass „der Anschluß von V 2 [an Hebr 6,1c] … hart und asyndetisch, fast ein Zeugma“ sei und interpretiert 509

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μετανοίας, πίστεως und διδαχῆς, auf das Akkusativobjekt θεμέλιον Hebr 6,1c. Insgesamt aber heißt dies, dass die Lesart διδαχήν in Hebr 6,2 gegenüber der Variante διδαχῆς die lectio difficilior darstellt und somit textkritisch vorzuziehen ist; um die mit ihr verknüpften Probleme zu beheben, wurde erstere im Zuge der Vervielfältigung des Textes in letztere korrigiert516. Würden nun die grammatikalisch von dem Akkusativ διδαχήν regierten Ausführungen in Hebr 6,2 insgesamt als Apposition zu dem in Hebr 6,1c vorliegenden θεμέλιος-Begriff interpretiert, transportierte die Argumentation Hebr 6,1c.2 insgesamt den theologisch schwierigen Gedanken, die mit den Syntagmata μετάνοια ἀπὸ νεκρῶν ἔργων und πίστις ἐπὶ θεόν umschriebene grundlegende religiöse Umkehr ließe sich – unabhängig von der Frage, ob die in Hebr 6,2 angeführten theologisch-theoretischen517 ,Schlagworteʻ βαπτισμοί, ἐπίθεσις χειρῶν, ἀνάστασις νεκρῶν und κρίμα αἰώνιον dies überhaupt inhaltlich zu leisten in der Lage wären – auf einen theologisch-theoretischen (Lehr-)Begriff bringen518. Diese theologische Überlegung legt die Annahme nahe, die Begriffe θεμέλιος und διδαχή als asyndetisch verknüpft und beide als von dem Partizip κατάβαλλόμενοι abhängig zu fassen519. Das aber heißt, dass der Verfasser des Hebr in Hebr 6,1c.2 zwischen dem θεμέλιος einer- und der διδαχή andererseits unterscheidet und ersteren auf die μετάνοια ἀπὸ νεκρῶν ἔργων und die πίστις ἐπὶ θεόν beschränkt wissen möchte520. Diese Interpretation macht insofern Sinn, als die Lesart διδαχήν mit Verweis auf B.M. Metzger in diesem Zusammenhang als eine sekundäre Glättung. Dem widerrät allerdings, dass auch der Akkusativ das Problem einer asyndetischen Verknüpfung nicht löste, sondern nur von dem Begriff πίστις auf den Begriff θεμέλιος verlagerte. 516 Anders hier die Mehrzahl der Exegeten, die die Lesart διδαχῆς für die ursprüngliche halten; vgl. hierzu etwa E. Gräßer, Hebr I, 337, H.-F. Weiß, Hebr, 336, A. 39 und H.W. Attridge, Hebr, 155. 517 Vgl. zu diesem Begriff ausführlich o. 127–129. 518 Vgl. hierzu die ähnliche, wenn auch letzten Endes durchaus anders gelagerte Argumentation bei E. Riggenbach, Hebr, 149; jener lehnt die Lesart διδαχήν mit dem Hinweis darauf ab, dass der Akkusativ „dazu nötigen [würde], διδαχήν als Objekt von καταβαλλόμενοι, θεμέλιον als prädikativen Akkusativ zu fassen und also … zu übersetzen: ,indem wir nicht abermals als Fundament der Umkehr … und des Glaubens auf Gott einsenken die Lehre von Taufen und Handauflegung …ʻ“. Ein in dieser Weise skizziertes prädikatives Verständnis von θεμέλιον ergäbe den „unmögliche[n] Gedanken, dass die Lehre von der Taufe, der Handauflegung und den letzten Dingen das Fundament für Buße und Glauben bilde, wie wenn diese religiösen Grundakte durch die Darlegung einzelner Lehrstücke statt durch die centrale Bezeugung Gottes und Christi hervorgerufen werden könnten“ (149; akzeptiert etwa von H. Löhr, Umkehr, 176). Der Akkusativ διδαχήν nötigt allerdings keinesfalls zu einem prädikativen Verständnis des θεμέλιος-Begriffs. 519 Nicht mehr entschieden werden kann in diesem Zusammenhang die Frage, ob der Begriff διδαχή, nur von dem Partizip καταβαλλόμενοι oder aber zugleich auch von dem Adverbial πάλιν abhängig zu denken ist. Die hier herausgearbeitete asyndetische Verknüpfung der Begriffe θεμέλιος und διδαχή lässt beide Möglichkeiten denkbar erscheinen. 520 H.-F. Weiß, Hebr, 336 spricht in diesem Zusammenhang – wenig konkret – von „,Grundlehrenʻ des Glaubens“ bzw. von „,Grund- bzw. Elementarlehreʻ“. H. Braun Hebr, 159 bezieht

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kaum zu plausibilisieren ist, dass etwa der διδαχὴ βαπτισμῶν καὶ ἐπιθέσεως χειρῶν oder auch der διδαχὴ ἀνάστασεως νεκρῶν καὶ κρίματος αἰωνίου die gleiche, im Blick auf den religiösen (Erkenntnis-)Prozess insgesamt grundsätzliche und grundlegende Qualität zuzuschreiben ist, wie sie den Theologumena der μετάνοια ἀπὸ νεκρῶν ἔργων, der „Abkehr von der Verehrung heidnischer Götter“521, und der πίστις ἐπὶ θεόν zukommen dürfte522. Wird der θεμέλιος-Begriff Hebr 6,1c nun in dieser Weise zugeschnitten523, folgt daraus, dass der auctor ad Hebraeos jenen ohne jegliche christologischen Implikation zu definieren vermag, dass er die Christologie also nicht zum θεμέλιος rechnet, ein Ergebnis, das selbst unter der Voraussetzung, dass nicht nur die Theologumena der μετάνοια ἀπὸ νεκρῶν ἔργων und der πίστις ἐπὶ θεόν, sondern auch die vier in Hebr 6,2 formulierten Lehrstücke zum θεμέλιος zu zählen wären, Bestand haben würde524. Eine Parallele zu dem in dieser Weise rekonstruierten θεμέλιος in Hebr 6,1c bieten die Ausführungen des Lukas in Apg 14,15–17. Ähnlich dem auctor ad Hebraeos benennt der Verfasser des dritten Evangeliums im Rahmen seiner Darstellung der Ereignisse als entscheidende Elemente der an die Heiden gerichteten Missionspredigt525 die Motive der Abkehr von den traditionell verehrten paganen Gottheiten und der Hinkehr diesen Begriff auf die Missionskatechese. 521 E. Gräßer, Hebr I, 339; ähnlich auch H.-F. Weiß, Hebr, 337: „Μετάνοια ist in dieser Verbindung ein spezifisch missionstheologischer Terminus, bezeichnet also die ‚Umkehr‘ bzw. ‚Abkehr‘ ... weg ‚von den toten Werken‘ (sc.: des Götzendienstes) und – damit zugleich – die Hinwendung zur Verehrung des wahren und einen Gottes“. C.R. Koester, Hebr, 304f. möchte dieses Syntagma eher im Sinne von „sinful works“ (304) deuten, konzediert aber im Anschluss daran: „In Hebrews ,dead worksʻ can include idolatry, but they cannot be confined to idolatry and may encompass various sins“. 522 Dies gilt insbesondere dann, wenn der Begriff μετάνοια mit C.R. Sauer, Reexamination, 316 als „accompanied by godly sorrow and resolve for amendment, it [d.h. μετάνοια] is a divinely inspired change of mind on man’s part about, and a turning away from, one’s previous beliefs, sins and conduct. As such it is a necessary part of conversion … or salvation, but is not synonymous with it. Turning in faith to Christ may follow repentace immediately, later, or never. Therefore, repentance is a constituent of conversion (salvation)“. Wenn dies zutrifft, lässt sich eine Parallelisierung der μετάνοια mit einer wie auch immer gearteten διδαχὴ βαπτισμῶν καὶ ἐπιθέσεως χειρῶν im Blick auf ihre jeweilige ,religiöseʻ Valenz kaum plausibilisieren. Vgl. hierzu auch F. Delitzsch, Hebr, 211, der in Hebr 6,1c.2 „zwei Lebenspunkte und vier Lehrstücke“ angesprochen sieht. 523 Anders hier etwa H. Löhr, Umkehr, 177: „Der Verfasser [des Hebr] dürfte also als Grundstein der christlichen Unterweisung [!] neben μετάνοια und πίστις eine Reihe von Lehrstücken aufgefasst haben, die βαπτισμοί, ἐπίθεσις χειρῶν, ἀνάστασις νεκρῶν und κρίμα behandelten“. Zugunsten der Hypothese, dass auch die beiden zuerst genannten Elemente μετάνοια und πίστις als Elemente der Katechumenatsunterweisung anzusehen sind, verweist H. Löhr, Umkehr, 177 darauf, dass „die Stichwörter διδάσκειν (5,12) und διδαχή (6,2) ... auch das Paar μετάνοια – πίστις [rahmen]“. Damit scheint Löhr allerdings der Tatsache, dass der Terminus θεμέλιος eben gerade nicht von Stichworten wie διδάσκειν oder διδαχή, sondern von dem Verbum κατάβάλλω abhängt, zu wenig Rechnung zu tragen. 524 Vgl. zur Analyse der entsprechenden Begriffe u. 168f. 525 Vgl. zu diesem Text H. Conzelmann, Apg, 89: „Diese Rede ist … ein knapper Abriß der Topoi der Heidenpredigt nach lukanischer Darstellung“.

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zum Gott des Alten Testaments, ergänzt um den Gedanken Gottes als des Bewahrers der (außerjüdischen und außerchristlichen) ἔθνη526: … εὐαγγελιζόμενοι ὑμᾶς ἀπὸ τούτων τῶν ματαίων ἐπιστρέφειν ἐπὶ θεὸν ζῶντα, ὃς ἐποίησεν τὸν οὐρανὸν καὶ τὴν γῆν καὶ τὴν θάλασσαν καὶ πάντα τὰ ἐν αὐτοῖς· (16) ὃς ἐν ταῖς παρῳχημέναις γενεαῖς εἴασεν πάντα τὰ ἔθνη πορεύεσθαι ταῖς ὁδοῖς αὐτῶν· (17) καίτοι οὐκ ἀμάρτυρον αὐτὸν ἀφῆκεν ἀγαθουργῶν, οὐρανόθεν ὑμῖν ὑετοὺς διδοὺς καὶ καιροὺς καρποφόρους, ἐμπιπλῶν τροφῆς καὶ εὐφροσύνης τὰς καρδίας ὑμῶν. Das von Lukas hier skizzierte Elementarkerygma der Heidenmission kommt, den Ausführungen in Hebr 6,1c entsprechend, ohne unmittelbaren christologischen Bezug aus, sondern beschränkt sich auf die Theologumena der Abkehr von der paganen und der Hinkehr zur jüdisch-christlichen Gottesverehrung527. Darüber hinaus zeigt sich, dass die lukanische Darstellung des Missionskerygmas solche Topoi wie die Hebr 6,2 aufgelisteten Lehrstücke der διδαχὴ βαπτισμῶν καὶ ἐπιθέσεως χειρῶν oder der διδαχὴ ἀνάστασεως νεκρῶν καὶ κρίματος αἰωνίου gerade nicht umfasst. Zumindest ähnliches gilt für die – ebenfalls lukanische – Darstellung der Missionspredigt des Paulus in Athen Apg 17; der dritte Evangelist spielt in Apg 17,31f. zwar auf die Auferstehung der Toten und das letzte Gericht528 an, die διδαχὴ βαπτισμῶν καὶ ἐπιθέσεως χειρῶν spielt in den Ausführungen des lukanischen Paulus auf dem Areopag allerdings keine Rolle.

Damit wird zugleich nun aber der in der exegetischen Forschung immer wieder aufzufindende Vorschlag, den θεμέλιος-Begriff mit dem Syntagma λόγος τῆς ἀρχῆς τοῦ Χριστοῦ zu parallelisieren und als „the same thing described in two different figures“529 zu deuten530, negativ beschieden. Der fehlende christologische Bezug der zum θεμέλιος zu rechnenden Elemente, ergänzt um die Beobachtung, dass der Verfasser des Hebr sehr wohl zwischen der Figur des θεός und derjenigen des Χριστός als des υἱὸς θεοῦ zu unterscheiden weiß531, sprechen deutlich dagegen, den Begriff θεμέλιος als ein den λόγος τῆς ἀρχῆς τοῦ Χριστοῦ inkludierendes oder einen diesen gar parallelisierenden Terminus aufzufassen, eine Schlussfolgerung, die durch die Interpretation des Genitivs τοῦ Χριστοῦ als eines genitivus obiectivus, d.h. im Sinne von „über Christus“532, untermauert wird533. Vgl. zu diesem Gesichtspunkt R. Pesch, Apg II, 58f. Vgl. hierzu G. Schille, Apg, 306f.: „Die Rede selbst ist eine stark verknappte Analogie zur Areopagrede Apg. 17. Sie greift die Topoi jüdisch-hellenistischer Götzenpolemik auf: den Gegensatz Götzen … – Gott …, den Ruf zur Kehrtwendung und den Schöpferglauben“. 528 Vgl. hierzu G. Schille, Apg, 359: „Die Rede ist so angelegt worden, daß sie im Moment der Gerichtsforderung auf das Unverständnis der Hörer stoßen muß, sie ist also in sich gerundet“. 529 F.F. Bruce, Hebr, 138; für eine Synonymität beider Begriffe plädiert auch R.C. Sauer, Reexamination, 176 u.ö. 530 Vgl. hier etwa auch E. Riggenbach, Hebr, 148: „Dieses Anfangswort Christi, mit dem die Leser schon genügend vertraut sind oder mindestens sein sollten, will der V[er]f[asser] jetzt auf sich beruhen lassen und in seiner Unterweisung der Vollkommenheit zustreben, .... So will er denn nicht, wie es der Darbietung des Anfangswortes entspräche, das christliche Leben von neuem in ihnen begründen“. Ähnlich auch E. Gräßer, Hebr I, 333–335 und H. Löhr, Umkehr, 177. 531 Vgl. hierzu etwa Hebr 1,1f. u.ö. 532 E. Gräßer, Hebr I, 333. 533 Vgl. hierzu neben zahlreichen anderen Exegeten H. Braun, Hebr, 157. 526 527

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Die Analyse von Hebr 5,11–6,12 Die anderen in der Forschung vorgelegten Vorschläge zur Interpretation des Genitivs τοῦ Χριστοῦ vermögen letzten Endes kaum zu überzeugen: (a) Innerhalb der Wendung λόγος τῆς ἀρχῆς τοῦ Χριστοῦ ist der Genitiv τοῦ Χριστοῦ weniger als genitivus obiectivus denn als genitivus qualitatis zu deuten; der Genitiv τοῦ Χριστοῦ habe „hier lediglich die Funktion ..., diesen ‚Anfangsunterricht‘ als einen christlichen zu qualifizieren“534, bei dem λόγος τῆς ἀρχῆς τοῦ Χριστοῦ handele es sich um eine „firm foundation for Christian life“535. Dieser Erklärung widerrät, dass der Verfasser des Hebr mit dem Titel Χριστός in seiner Epistel immer die entsprechende Person, den ‚Christus‘ Gottes, bezeichnet und ihn an keiner Stelle im Sinne des Adjektivs Χριστιανός verwendet. Der Titel Χριστός begegnet im Hebr außer in Hebr 6,1 noch in Hebr 3,6.14; 5,5; 9,11.14.24.28; 10,10; 11,26 und 13,8.21. Aus sich selbst evident wird der personale Bezug des Titels Χριστός in Hebr 3,6; 5,5; 9,11.14.24.28; 10,10; 11,26 und 13,8.21, insbesondere dann, wenn der Titel Χριστός unmittelbar mit dem Namen Ἰησοῦς oder Attributen wie etwa ἀρχιερεύς oder υἱός verbunden ist. Die in Hebr 3,14 vorliegende Wendung μέτοχοι τοῦ Χριστοῦ lässt ebenfalls kaum eine andere als die personale Interpretation dieses Titels zu536. (b) Der in der Wendung λόγος τῆς ἀρχῆς τοῦ Χριστοῦ Hebr 6,1a enthaltene Genitiv τοῦ Χριστοῦ537 wird nicht als genitivus obiectivus, sondern als genitivus subiectivus interpretiert538. Auf der Basis dieser Auslegung stellten die in Hebr 6,1c.2 genannten sechs grundlegenden Lehrelemente „den Inhalt und Gegenstand dessen dar..., was ... der historische Jesus ... [selbst] gelehrt hat“539. Dies wiederum bedeutete, dass im Rahmen der den Adressaten des Hebr vermittelten grundlegenden Lehrelemente die Person Jesu Christi weniger als deren Gegenstand als vielmehr deren Propagandist

H.-F. Hebr, 335, A. 36; Weiß erklärt sich das Syntagma ὁ τῆς ἀρχῆς τοῦ Χριστοῦ λόγος „am besten aus der Verbindung von λόγος ἀρχῆς (‚Anfangsunterricht‘) und λόγος τοῦ Χριστοῦ“. Gemeint sei „also die christliche Anfangskatechese, die als solche sachlich den στοιχεῖα von [Hebr] 5,12 entspricht“. Vgl. ähnlich auch H. Windisch, Hebr, 49, E. Gräßer, Hebr I, 333, A. 134 und H. Braun, Hebr, 157. 535 W.L. Lane, Hebr I, 140. 536 Vgl. hierzu etwa H.-F. Weiß, Hebr, 264: „Die Christen werden so als diejenigen gekennzeichnet, die die ‚Brüder‘ des ‚Sohnes‘ sind und in diesem Sinne an ihm ‚teilhaben‘, daß sie ihm, dem ‚Anführer des Heils‘, auf dem Wege zu dem (durch ihn verbürgten !) Heil nachfolgen“. 537 E. Riggenbach erwägt die Möglichkeit, die Wendung λόγος τοῦ Χριστοῦ, wobei er den Genitiv τοῦ Χριστοῦ als genitivus subiectivus deutet, „nicht als ein von Jesus selbst geredetes, sondern ein im letzten Grunde auf ihn zurückgehendes Wort zu verstehen, so daß jede christliche Verkündigung, die dem Geiste Christi entspricht, λόγος τοῦ Χρ.[ιστοῦ] heißen kann, gleichviel ob sie Reproduktion eines Ausspruchs Jesu ist oder nicht“. In diesem Zusammenhang verweist Riggenbach auf Kol 3,16. Diese Deutung aber würde die hier in Hebr 6,1a gebildete Begriffskombination λόγος τῆς ἀρχῆς τοῦ Χριστοῦ gänzlich unverständlich machen. 538 Vgl. hierzu etwa J.C. Adams, Exegesis, 381–385. Weitere Literatur bei H.-F. Weiß, Hebr, 336, A. 40. Zur Möglichkeit dieser Deutung vgl. G.W. Buchanan, Hebr, 103: „‚The beginning [teachings] of Christ‘ can be understood either as Christ’s initial teachings (subjective genitive), or the beginning teachings about Christ (objective genitive)“. 539 H.-F. Weiß, Hebr, 336, A. 40, der selbst gegen diesen Vorschlag opponiert. Vgl. hierzu auch J.C. Adams, Exegesis, 381, der feststellt, daß „the whole phrase τὸν τῆς ἀρχῆς τοῦ χριστοῦ λόγον would refer rather to what Christ himself taught than to what was taught about him“. Zur Begründung dieser These wird insbesondere auf Hebr 2,3 und die dort erwähnte Predigt Jesu verwiesen; zu diesem Begründungszusammenhang hierzu etwa E. Riggenbach, Hebr, 147. 534

Hebr 6,1–3

167

vermittelt worden ist540. Gegen diese Interpretation spricht zunächst, dass die Hebr 6,1c.2 genannten elementaren Lehrtopoi durch den Kontext von Hebr 6,1–3, insbesondere durch die Ausführungen in Hebr 6,4–6 als „die Bestandteile der Katechumenatsunterweisung ausgewiesen werden“541, somit also nicht als Elemente der Predigt des historischen Jesus gefasst werden können. Ein zweites Argument gegen die Deutung des Genitivs τοῦ Χριστοῦ als eines genitivus subiectivus ergibt sich aus der vom Verfasser des Hebr in Hebr 6,1ab vorgenommenen Gegenüberstellung der Begriffe λόγος τῆς ἀρχῆς τοῦ Χριστοῦ und τελειότης. Wenn es sich bei letzterer einerseits um „die Einsicht in den λόγος τέλειος vom Hohenpriestertum Jesu nach Melchisedek-Weise“542, andererseits aber zugleich auch um die Fortsetzung und Weiterführung der Inhalte des λόγος τῆς ἀρχῆς τοῦ Χριστοῦ543 handelt, lässt sich der Genitiv τοῦ Χριστοῦ kaum mehr als genitivus subiectivus fassen. Vielmehr muss der λόγος τῆς ἀρχῆς τοῦ Χριστοῦ Aspekte einer Lehre „über Christus“ enthalten544.

Im Unterschied zu den mit dem Begriff θεμέλιος bezeichneten religiösen Inhalten scheint der auctor ad Hebraeos unter der Wendung λόγος τῆς ἀρχῆς τοῦ Χριστοῦ – und dafür spricht schon die Verwendung des Terminus λόγος – diejenigen Lehrinhalte, die die Grundlage der Predigt bzw. der Lehre von Christus, d.h. der Christologie, ausmachen545, subsumieren zu wollen. Im Begriff der τελειότης nun schwingen hingegen, wie der Gesamtkontext der Passage vermuten lässt, zwei Implikationen mit, einerseits, im Gegensatz zur νηπιότης (Hebr 5,13), die Fähigkeit zur denkerischen Bewältigung komplexerer Zusammenhänge546, andererseits, im Unterschied zum λόγος τῆς ἀρχῆς τοῦ Χριστοῦ (Hebr 6,1) und als dessen Fortsetzung und Weiterführung, die nun folgenden komplexeren christologischen Lehrinhalte547, d.h. konkret die Ausführungen des Verfassers des Hebr im Blick auf das Hohepriestertum Christi κατὰ τὴν τάξιν Μελχισέδεκ (Hebr 5,9f.) in Vgl. hierzu J.C. Adams, Exegesis, 381: „The writer’s concern would be with the actual substance of the teaching of Jesus of Nazareth“. 541 H.-F. Weiß, Hebr, 336, A. 40; ähnlich auch G.W. Buchanan, Hebr, 103. Weiß begründet dies näherhin mit dem Hinweis auf die Ausführungen in Hebr 6,4, in denen auf die Taufe zurückverwiesen werde, und auf die Verwendung des Begriffs μετάνοια in Hebr 6,6, der ebenfalls auf die christliche Taufe anspiele. 542 E. Gräßer, Hebr I, 334. 543 Vgl. hierzu o. 123–125. 544 Zu diesem Argument bereits H. Löhr, Umkehr, 175: „Wenn weiter die erwähnte Vollkommenheitslehre in Hebr 7ff. ihren Niederschlag gefunden hat, d.i. in der Hohenpriesterlehre des Briefes, so liegt es nahe, auch die Anfangslehre in Analogie dazu als Darlegung über Christus zu verstehen“. 545 Vgl. hierzu H.-F. Weiß, Hebr, 335; Weiß spricht im Blick auf diese Wendung von „der ‚Anfangslehre von Christus‘ bzw. vom ‚Anfang der Christuslehre‘. 546 Vgl. hierzu etwa H. Braun, Hebr, 158: „Für ihn [d.h. für den Verfasser des Hebr] ist τελειότης Reife, Vollkommenheit, Aufnahmefähigkeit gegenüber der festen Speise, nicht gegenüber der Milch“. 547 In diesem Sinne H. Hegermann, Hebr, 129: Dem λόγος τῆς ἀρχῆς τοῦ Χριστοῦ stelle der Verfasser des Hebr „die tiefere Lehre gegenüber, indem er sie bezeichnet als die Vollkommenheit ...; gemeint ist die Vollkommenheit des Christuswortes, im Gegensatz zur ἀρχή ([Hebr 6,] 1a)“. 540

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Die Analyse von Hebr 5,11–6,12

Hebr 7,1ff.548. Durchaus plausibel erscheint es auf diesem Hintergrund, die Inhalte des λόγος τῆς ἀρχῆς τοῦ Χριστοῦ innerhalb der christologischen Ausführungen in Hebr 1,1–5,10 zu vermuten549; hier hat der Verfasser des Hebr die – bei den Adressaten des Hebr zumindest seiner Einschätzung nach offensichtlich bis dato nur sehr rudimentär vorhandenen – christologischen Grundlagen entfaltet, über die er nun im Folgenden herauszukommen gedenkt550. Bei dieser τελειότης handelt es sich, wie die Formulierung in Hebr 6,1ab nahelegt, inhaltlich um die Fortsetzung und Weiterführung des λόγος τῆς ἀρχῆς τοῦ Χριστοῦ. Wird der θεμέλιος-Begriff in der o. formulierten Weise definiert und zugleich eingeschränkt551, ist damit zugleich das in der Literatur immer wieder beobachtete Problem, dass die in Hebr 6,2 aufgelisteten Lehrstücke, die διδαχαὶ βαπτισμῶν552 τε έπιθέσεώς τε χειρῶν553 τε ἀναστάσεως νεκρῶν554 καὶ κρίματος

Vgl. hierzu etwa H.-F. Weiß, Hebr, 335f., der die τελειότης als „Verstehen der höchsten Stufe christlicher Lehre“ charakterisiert, die „dann in [Hebr] 7,1ff dargelegt werden wird“. 549 Vgl. zum reflexiven Charakter von Hebr 5,11a o. 66–71, darüber hinaus u. 174. 550 Vgl. hierzu die von H. Leroy, Art. ἀφίημι, in: EWNT² I, 436 angegebene Bedeutung „verlassen“; mit seinen nun anschließenden Darlegungen verlässt der Verfasser des Hebr die „Anfangslehre von Christus“ und schreitet zur τελειότης voran. 551 Vgl. hierzu o. 161–165. 552 Zu möglichen Erklärungen für den Plural βαπτισμοί vgl C.R. Koester, Hebr, 305 und E. Gräßer, Hebr I, 341f. Gräßer möchte die s.E. zusammenhängende Wendung διδαχὴ βαπτισμῶν τε ἐπιθέσεώς τε χειρών als „einen uns nicht mehr näher bekannten Initiationsritus“ (342) verstehen und lehnt unter Verweis auf Hebr 9,10 die Deutung der βαπτισμοί als jüdische Waschungen ab; vgl. hierzu auch H. Löhr, Umkehr, 178, der darüber hinaus – recht unwahrscheinlich – erwägt, dass der Verfasser des Hebr den Plural βαπτισμοί „nur zu dem Zweck gewählt [hätte], die Rede von der christlichen Taufe zu ,verfremdenʻ und damit des Autors Distanz gegenüber den Sakramenten und ihrer theologischen ,Aufladungʻ deutlich zu machen“ (179). Anders hier R.C. Sauer, Reexamination, 185: „The probability is that although the writer refers primarily to Christian baptism, he also has in mind other ablutions which prevailed among the Jews and from which it would be requisite to distinguish Christian baptism“; ohne Bezug auf jüdische Praktiken formuliert M. Karrer, Hebr II, 39: „Damit spricht alles dafür, dass Hebr 6,2 nicht allein die Taufe meint …, sondern uns den Beginn einer Praxis zeigt, deren Ausläufer wir bei Tertullian … finden: Christen vollzogen die Taufe und nach der Taufe zusätzliche Waschungen“. 553 Nach R.C. Sauer, Reexamnination, 186 handelt es sich bei dem hier angesprochenen Auflegen der Hände um ein Zeichen des mit der Bekehrung zum Christentum gewonnenen neuen Lebens; die Handlung der Handauflegung sei mit dem Ritus der Taufe verbunden und mit der Gabe bzw. Weitergabe des πνεύμα ἅγιον verknüpft zu denken; vgl. hierzu etwa auch H.-F. Weiß, Hebr, 338. 554 Vgl. zu diesem Syntagma R.C. Sauer, Reexaminatin, 188: „Because the author speaks generally here of resurrection and judgment, most see a general resurrection of both believers and unbelievers … and a general judgment of the same two groups“. Aus dem Plural νεκρῶν folgert C.R. Koester, Hebr, 305, dass es hier in Hebr 6,2a nicht um die Auferstehung Jesu gehe. Darüber hinaus stellt er fest, dass der Verfasser des Hebr „does not resolve the tension between the idea of death and resurrection, which assumes temporal discontinuity between the present and future life, and the idea of ongoing life after death, which assumes considerable continuity in a person’s existence“. 548

Hebr 6,1–3

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αἰώνιου555, ihrerseits „allesamt eines unmittelbar christlichen bzw. christologischen Bezugs entbehr[t]en“556 und sich durchaus auch als ausschließlich „Jewish beliefs and practices“557 lesen ließen558, dass somit also ein christlich-theologischer θεμέλιος nicht aus Inhalten der Christusverkündigung, sondern aus Aspekten vorchristologischen allgemein-monotheistischen Basiswissens jüdischer Provenienz zu bestehen schien, entschärft. Die in Hebr 6,2 aufgeführten Lehrstücke sind nicht zum θεμέλιος, sondern zu denjenigen στοιχεῖα τῆς ἀρχῆς τῶν λογίων τοῦ θεοῦ zu zählen, auf die der Verfasser des Hebr aber im Rahmen seiner weiteren Ausführungen nicht einzugehen beabsichtigt. Über die Gründe für einen solche Verzicht lässt sich an dieser Stelle letzten Endes nur spekulieren. Durchaus denkbar ist allerdings, dass der Verfasser des Hebr – zunächst – das in seinen Augen entscheidende Defizit des insgesamt unzureichenden theologisch-theoretischen (Er-)Kenntnisstandes559 seiner Adressaten zu beseitigen beabsichtigte, nämlich dasjenige des λόγος τοῦ Χριστοῦ. Nicht gänzlich von der Hand zu weisen wäre natürlich auch die Annahme, dass der auctor ad Hebraeos in Hebr 5,11– 14; 6,1–3 in rhetorischer Zuspitzung formuliert560 und es ihm von vornherein weniger um στοιχεῖα τῆς ἀρχῆς τῶν λογίων τοῦ θεοῦ in ihrer Gesamtheit als vielmehr um die Christologie zu tun gewesen ist.

Der durch die Konjunktion διό in Hebr 6,1 hergestellte argumentative Zusammenhang zwischen den Abschnitten Hebr 5,11–14 und 6,1–3 evoziert die – in der Forschung bis dato wenn überhaupt, so nur sehr selten thematisierte – Frage, in welcher Form der in Hebr 5,13 vorliegende Begriff λόγος δικαιοσύνης (θεοῦ), der einen den Adressaten der Epistel (noch) unbekannten Inhalt bezeichnet561, in R.C. Sauer, Reexamination, 189 interpretiert diesen Begriff nicht als das Gericht selbst, sondern als „the judicial sentence of this judgment which is … eternal …, never to be reversed“. 556 H.-F. Weiß, Hebr, 336. Vgl. hierzu auch M. Karrer, Hebr II, 40, der im Blick auf den Topos der ἀνάστασις νεκρῶν bemerkt: „Als Grund-Lehre bezeichnet er die Auferweckung der Toten allgemein (nicht die Auferweckung Jesu)“. 557 Vgl. hierzu etwa F.F. Bruce, Hebr, 139, der im Anschluss daran formuliert: „,It is significant,ʻ wrote Alexander Nairne, ,that the points taken as representing the foundation of penitence and faith are all consistent with Judaism. ,Doctrines of washingsʻ – how unnatural are the attempts to explain this plural as referring to Christian Baptism; ,imposition of hands, resurrection of dead, eternal judgementʻ – all this belonged to the creed of a Pharisaic Jew who accepted the whole of the Old Testamentʻ“. 558 Dies beobachtet zutreffend auch W.L. Lane, der in den Hebr 6,1c.2 genannten Aspekten und Lehrstücken insgesamt ein „preliminary and insufficient teaching based upon the OT, without specific reference to Christ“ (Hebr I, 140) sieht, wohingegen es sich bei dem λόγος τῆς ἀρχῆς τοῦ Χριστοῦ um ein „primary Christian teaching“ handele (140). Nichtsdestotrotz scheint Lane aber den λόγος τῆς ἀρχῆς τοῦ Χριστοῦ augenscheinlich dennoch für ein Element der s.E. mit den Hebr 6,1c.2 aufgelisteten Aspekten und Lehrstücken identischen στοιχεῖα τῆς ἀρχῆς τῶν λογίων τοῦ θεοῦ zu halten. Den Begriff στοιχεῖα τῆς ἀρχῆς τῶν λογίων τοῦ θεοῦ bezeichnet er in diesem Zusammenhang als „ironically“ (Hebr I, 140) verwendet, eine Deutung, für die der Text von Hebr 5,12 keinerlei Textsignale hergibt. 559 Vgl. zu diesem Begriff ausführlich o. 76–80. 560 Vgl. hierzu bereits o. 68f. 561 Vgl. hierzu o. 84–95. 555

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Die Analyse von Hebr 5,11–6,12

den Ausführungen in Hebr 6,1–3 verankert ist. Da der λόγος δικαιοσύνης weder zum θεμέλιος noch zu den στοιχεῖα τῆς ἀρχῆς τῶν λογίων τοῦ θεοῦ zu rechnen ist und erst auf der Reflexionsebene der στερεὰ τροφή562 zum Gegenstand theologischer Erörterung wird563, legt sich die Annahme nahe, jenen weniger mit dem Hebr 6,1a dargestellten λόγος τῆς ἀρχῆς τοῦ Χριστοῦ als vielmehr mit der Hebr 6,1b begegnenden τελειότης zu verknüpfen564; im Rahmen des λόγος δικαιοσύνης (θεοῦ) wird die ,Lehre vom eschatologischen Heilsgut δικαιοσύνη, seiner creatio und seiner generatioʻ565 verhandelt, die der auctor ad Hebraeos dann in Hebr 7,1ff. entfaltet566, eine christologische τελειότης, die den Adressaten des Hebr als νήπιοι insgesamt bis dato eben gerade nicht bekannt gewesen ist. Werden die christologischen Elemente der Ausführungen des Paulus in 1Thess 1,9bf., einer Passage, die in der exegetischen Forschung immer wieder als Zusammenfassung urchristlichen Missionskerygmas apostrophiert wird567, probehalber mit den entsprechenden, vom Verfasser des Hebr unter dem Begriff der στοιχεῖα τῆς ἀρχῆς τῶν λογίων τοῦ θεοῦ subsumierten elementaren christologischen Aspekten identifiziert, so lassen sich die Ausführungen in Hebr 1,1–5,10; 7,1ff. insgesamt folgendermaßen zuordnen und kategorisieren: (a) Zu den christologischen στοιχεῖα τῆς ἀρχῆς τῶν λογίων τοῦ θεοῦ gehört die Verkündigung von Jesus als dem auferweckten und erhöhten Sohn Gottes, dem Retter im kommenden Gericht568. Diese Aspekte werden im Rahmen der Ausführungen in Hebr 1,1–5,10 etwa in Hebr 1,1–4.5–14; 3,7–4,13) verarbeitet. (b) Die über diese elementare Christusverkündigung hinausgehenden, aber immer noch zum λόγος τῆς ἀρχῆς τοῦ Χριστοῦ zu rechnenden Inhalte der christologischen Verkündigung, die bis zur Kreuzigung hinführende Erniedrigung Christi, die BestimZu diesen Reflexionsebenen vgl. das entsprechende Diagramm o. 103. Vgl. hierzu o. 84.95. 564 U. Schnelle, Theologie, 598 macht darauf aufmerksam, dass dem Verfasser des Hebr zufolge „Gott selbst … dem Sohn das Gottesprädikat und den Gottesnamen [verleiht], so dass er umfassend und ohne Einschränkung nicht nur dem himmlischen Bereich, sondern unmittelbar Gott zuzuordnen ist“; dieser Hinweis vermag die inhaltliche Verknüpfung des Begriffs λόγος δικαιοσύνης (θεοῦ) Hebr 5,13 mit dem Lexem τελειότης Hebr 6,1 zu stützen. 565 Vgl. zu dieser Definition o. 90–95. 566 Vgl. hierzu bereits o. 167f. und darüber hinaus durchaus m.R. H.-F. Weiß, Hebr, 371, der im Blick auf Hebr 7,1–10,18 von der „Entfaltung der Hohenpriester-Christologie“ zu sprechen vermag, und A. Vanhoye, Struktur II, 33: „Der Verfasser des ,Hebräerʻ … setzt seine Darlegung mit einem dritten Teil fort (5,11–10,39), in dem er zeigt, daß das Priestertum Christi ganz anders ist als das alte Priestertum und daß letzteres fortan überholt ist. Das ist ein neuer Gesichtspunkt, der im zweiten Teil (3,1–5,10)) noch nicht ausdrücklich genannt wurde“; noch deutlicher hier vielleicht E. Gräßer, Hebr II, 7: „Der jetzt beginnende λόγος τέλειος (Hebr 7,1– 10,18) zeigt, daß das wandernde Gottesvolk tatsächlich von der Macht der Sünde befreit ist durch die stärkere Macht der Gnade. Nach der antiken Rhetorik handelt es sich um die ἀπόδειξις πρὸς πειθώ, die beweisende Ausführung des Themas nach seiner einen Hauptseite (das Hohepriestertum des Sohnes), die als der eigentliche Beweggrund zum Festhalten am Hoffnungsbekenntnis gilt“. 567 Vgl. hierzu U. Wilckens, Missionsreden, 81.179f. 568 Vgl. hierzu 1Thess 1,10: καὶ ἀναμένειν τὸν υἱὸν αὐτοῦ ἐκ τῶν οὐρανῶν, ὃν ἤγειρεν ἐκ [τῶν] νεκρῶν, Ἰησοῦν τὸν ῥυόμενον ἡμᾶς ἐκ τῆς ὀργῆς τῆς ἐρχομένης. 562 563

Hebr 6,1–3

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mung des Verhältnisses dessen zu Mose und dessen Hohepriesterschaft, begegnen in Hebr 2,5–18 – auffälligerweise erst im Anschluss an die Darlegungen über die Erhöhung Christi – und in Hebr 3,1–6; 4,14–5,10. (c) In Hebr 5,6.10 wird dann mit der Charakterisierung der Hohepriesterschaft Christi als einer Hohepriesterschaft κατὰ τὴν τάξιν Μελχισέδεκ die τελειότης angedeutet, die dann in Hebr 7,1ff. nach dem ,metakommunikativen Zwischenstückʻ Hebr 5,11–6,20 in Hebr 7,1ff. vertieft und entwickelt wird. Erst in Hebr 7,1ff. werden die Art und Weise des durch Christus gewirkten Heils und damit auch die Art und Weise des durch Christus gewirkten Heilsgutes der δικαιοσύνη569 und die Möglichkeiten seiner Aneignung en détail begründet und beschrieben. Insofern kann Hebr 7,1ff. durchaus mit Fug und Recht als λόγος δικαιοσύνης definiert und charakterisiert werden.

Das komplette Gefüge der Hebr 5,11–14; 6,1–3 entfalteten Begrifflichkeiten und der argumentationslogischen Struktur lässt sich in Aufnahme, zugleich aber auch in Weiterentwicklung der o. bereits entwickelten Übersicht570 vollständig etwa folgendermaßen darstellen: die λόγια τοῦ θεοῦ der λόγος τοῦ Χριστοῦ

die τελειότης (Hebr 6,1b) = der λόγος δικαιοσύνης (θεοῦ) (Hebr 5,13a; in Hebr 7,1ff. verarbeitet)

Reflexionsebene/ Erkenntnisstufe 2: στερεὰ τροφή

Reflexionsebene/Erkenntnisstufe 1: γάλα

 

 

einerseits der λόγος τῆς ἀρχῆς τοῦ Χριστοῦ (Hebr 6,1a; in Hebr 1,1–5,10 verarbeitet)

und andererseits die

στοιχεῖα τῆς ἀρχῆς τῶν λογίων τοῦ θεοῦ

       

zunächst: (a) der θεμέλιος (Hebr 6,1c): - die μετάνοια ἀπὸ νεκρῶν ἔργων - die πίστις ἐπὶ θεόν

  darüber hinaus:   (b) vier διδαχαί (Hebr 6,2): - die διδαχὴ βαπτισμῶν   - die διδαχὴ ἐπιθέσεως χειρῶν,   - die διδαχὴ ἀναστάσεως νεκρῶν - die διδαχὴ κρίματος αίωνίου

569 570

Vgl. hierzu o. 90–95. Vgl. hierzu o. 80.

172

Die Analyse von Hebr 5,11–6,12

Verwundern muss nun allerdings, dass der Verfasser des Hebr die in Hebr 6,1f. formulierte Absichtserklärung mit einem konsekutiven διό an seine vorangehenden Ausführungen anschließt, obwohl doch der Inhalt eher eine adversative Konjunktion erwarten ließe571. In der Forschung wird diese Auffälligkeit unterschiedlich erklärt: (a) Hebr 5,11b–14 werden als eine sekundäre Ergänzung deklariert und literarkritisch ausgeschieden572. Einerseits lässt sich diese literarkritische Lösung jedoch kaum stichhaltig begründen573. Andererseits wird durch sie das hier vorliegende sachliche Problem nicht wirklich gelöst, da doch zumindest der Redaktor, der für die Einfügung von Hebr 5,11b–14 verantwortlich zu machen wäre, dem gesamten Gedankenzusammenhang Hebr 5,11–6,12 einen guten und logischen Sinn abgewonnen haben musste. (b) Die in Hebr 5,11–14 vorliegende Kritik an den Adressaten des Hebr „ist rhetorisch, nicht wortwörtlich gemeint“574. Mit ihr versuche der Verfasser des Hebr, das Interesse und die Aufmerksamkeit seiner Hörer zu gewinnen575. Auch dieser Erklärung eignet kaum Wahrscheinlichkeit: Kritik kann, insbesondere dann, wenn sie, wie in Hebr 5,11–14, in scharfer Form576 vorgetragen wird, nämlich kaum als ein geeignetes rhetorisches Mittel angesehen werden, um das Interesse von Hörern oder Lesern zu gewinnen. (c) Der Verfasser des Hebr hätte seine in Hebr 5,11b–14 formulierte Hörerschelte ,nicht so gemeintʻ; in Wirklichkeit halte er seine Adressaten durchaus für

Vgl. hierzu etwa E. Gräßer, Hebr I, 332, der im Blick auf Hebr 6,1–3 mit Verweis auf W. Werde zwei „Seltsamkeiten“ diagnostiziert: „Die erste ist die, daß die Folgerung in V 1a nicht genau umgekehrt lautet: Deswegen wollen wir das proponierte hohe Thema beiseite lassen und uns der Anfangslehre von Christus zuwenden. So jedenfalls würde es die eben beschriebene Situation der Angeredeten verlangen. Und wenn unser Verf.[asser] sie jetzt ignoriert, würde man erwarten, daß er mit gleichwohl fortführe, nicht aber mit διό deswegen, das ‚jeden Leser nur in Erstaunen setzen‘ kann“. 572 Vgl. hierzu H. Kosmala, Hebräer, 19–21. 573 Vgl. hierzu etwa E. Gräßer, Hebr I, 333, A. 129. 574 E. Gräßer, Hebr I, 333. 575 So E. Gräßer, Hebr I, 333: „Mit solchen scheinbaren Ungereimtheiten will der geschickte Rhetor das Publikum nicht verprellen, sondern sein Interesse gewinnen. Jetzt nämlich will es erst recht wissen, was denn das Besondere an der Lehre für Vollkommene ist und ob das tatsächlich über sein Verständnis geht“. An anderer Stelle führt Gräßer entsprechend aus: „Vielmehr ist das Fundament bereits gelegt .... Es hat Risse und könnte nachgebessert werden; aber noch trägt es, auch wenn unser Verf.[asser] in rhetorischer Übertreibung den Anschein erwekken könnte, es sei bereits eingestürzt. Nein“ (Hebr I, 343)! Vgl. hierzu auch W.R.G. Loader, Sohn, 85: „Wir sollten uns an diesem Punkt nicht scheuen, von der Technik des Vf zu sprechen. Die menschliche Reaktion auf solche Worte ist im allgemeinen ein völliges Abschalten oder positiv der Entschluß, den Vorwurf des Redners durch ein verändertes Verhalten zu widerlegen und dadurch dem Wunsch des Redners zu entsprechen“. 576 Durchaus m.R. merkt A. Schlatter, Hebr, 306 mit Blick auf Hebr 5,11b–14 zu dem in Hebr 6,1a Gesagten an: „Aber es ist ein Tadel, der so ernst gemeint ist, wie er lautet, und den behaftet, dem er gilt“. 571

Hebr 6,1–3

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fähig, in der τελειότης unterwiesen zu werden577. Dieser Erklärungsversuch nimmt die Aussagen des Verfassers des Hebr nicht ernst und geht somit am Text vorbei. (d) Der Verfasser des Hebr will seine Adressaten zur Überwindung ihres Status als νήπιοι führen, indem er ihnen ganz bewusst Gedankengänge vorlegt, die sinnvoll eigentlich nur gegenüber τέλειοι geäußert werden578. Diese im Grunde für sie als νήπιοι zu komplexen und zu komplizierten Gedankengebäude sollen sie dazu motivieren, endlich ihre Denkfaulheit zu überwinden und die Erkenntnisfähigkeit und den Kenntnis- bzw. Erkenntnisstand zu erwerben, der ihnen, die eigentlich schon hätten διδάσκαλοι sein sollen, angemessen wäre579. Diese Erklärung wird zwar dem Duktus von Hebr 5,11–6,12 durchaus gerecht, vernachlässigt allerdings den inhaltlich-didaktischen Aspekt des Sachproblems. Sie lässt nämlich die Frage unberücksichtigt, wie es denn, was die Frage des Inhalts der jeweiligen Unterweisung angeht, überhaupt möglich sein kann, dass νήπιοι, denen die grundlegenden Lehrelemente ihres christlichen Glaubens offensichtlich abhandengekommen sind, ihre νηπιότης dadurch überwinden, dass sie mit Gedanken und Erkenntnissen konfrontiert werden, die einerseits ihre inhaltlichen Lücken augenscheinlich nicht füllen, andererseits von ihnen eben aufgrund ihrer sachlich-inhaltlichen Lücken im Grunde nicht sinnvoll rezipiert und verarbeitet werden können. Darüber hinaus nimmt es auf dem Hintergrund einer solchen Erklärung wunder, dass der Verfasser des Hebr seinen Adressaten diese Aufforderung „to recover their fast fading knowledge of the fundamentalia by personal review“580 dann nicht auch explizit mitgeteilt hat.

In diesem Sinne etwa W.L. Lane, Hebr I, 139: „The initial word διό, ‚so then,‘ shows distinctly that the writer did not consider the members of the house church to be infants requiring a diet of milk“; ähnlich auch E. Riggenbach, Hebr, 145. 578 Vgl. hierzu etwa H. Löhr, Umkehr, 168; ähnlich auch J. Héring, Hebr, 57: „L’auteur semble un peu se contredire. Après avoir traité ses lecteurs de bébés, il s’apprête quand même à leur donner un enseignement supérieur“. 579 In diese Richtung denkt etwa H.W. Attridge, Hebr, 162: „The author in fact will meet the ‚need‘ of his addressees by pushing on, in the words of his illustration, to ‚exercise them‘ with more mature teaching“. Ähnlich etwa auch F.F. Bruce, Hebr, 138: „Probably ... their [d.h. der Adressaten des Hebr] particular condition of immaturity is such that only an appreciation of what is involved in Christ’s high priesthood will cure it. Their minds need to be stretched, and this will stretch them as nothing else can. They have remained immature too long; therefore he will give them something calculated to take them out of their immaturity“, C. Spicq, Hebr II, 146: „,C’est précisément parce que ceux-ci sont tièdes et végètent – au point que certains sont tentés d’apostasie – qu’ils ont besoin d’une forte nourriture doctrinale“, H. Windisch, Hebr, 49: „διό bedeutet also: weil ihr der Zeit nach reif sein müßtet und es sich für Reife so geziemt und weil die Harthörigkeit zu überwinden ist“, und A. Schlatter, Hebr, 306: „Der Tadel dagegen hat seinen geraden Fortgang darin: Nun hört die Kinderei auf, und mit der geistigen Trägheit ist es nun aus; jetzt fängt etwas Neues an; ihr sollt ins Ganze wachsen und das Vollkommene ergreifen“. 580 R.C. Sauer, Reexamination, 158. 577

174

Die Analyse von Hebr 5,11–6,12

Die Verwendung der konsekutiven Konjunktion διό, lässt sich aber durchaus zureichend erklären, wenn die Ausführungen des Verfassers des Hebr in Hebr 5,11a nicht als auf Hebr 7,1ff. vorausweisend, sondern als auf Hebr 1,1–5,10 zurückweisend gedeutet werden581. In Hebr 5,12 nämlich konstatiert er die – in Hebr 6,4ff. als letzten Endes ἀδύνατον verunmöglichte582 – Notwendigkeit, dass jemand seine Adressaten erneut über die στοιχεῖα τῆς ἀρχῆς τῶν λογίων τοῦ θεοῦ belehren müsse, eine Notwendigkeit, die in Hebr 5,13 ergänzt wird durch den – zumindest mittelbar formulierten – Hinweis auf die aus der entsprechenden ἀπειρία der Adressaten sich ergebende ἀνάγκη der – offensichtlich erstmaligen – Belehrung über den λόγος δικαιοσύνης. Wird nun einerseits die τελειότης als den λόγος δικαιοσύνης umfassend verstanden583, wird andererseits die nach Hebr 5,12b offensichtlich notwendige Belehrung über die Aspekte der στοιχεῖα τῆς ἀρχῆς τῶν λογίων τοῦ θεοῦ in hyperbolischem Sinne interpretiert und als rhetorische Übersteigerung definiert584, wird schließlich die erforderliche Belehrung über die Grundlagen der Christologie, also über den λόγος τῆς ἀρχῆς τοῦ Χριστοῦ, als mit Hebr 1,1–5,10 als im wesentlichen geleistet deklariert, macht der konsekutive Anschluss in Hebr 6,1 durchaus einen guten Sinn585: Die vor der Hinwendung zur – christologischen – τελειότης notwendige christologische Belehrung ist mit Hebr 1,1–5,10 – zumindest in den Augen des Verfassers des Hebr – nun ausreichend erfolgt; deswegen ist es möglich, sich jetzt der weiteren, das bisher Ausgeführte vertiefenden Argumentation der τελειότης zuzuwenden586. Die hier vorgelegte Analyse der Ausführungen von Hebr 6,1f. vermag die o. als – zunächst vorläufige – Antwort auf die Frage nach der textpragmatischen Situierung des Hebr formulierte These, dass der auctor ad Hebraeos mit seiner Zu dieser möglichen Deutung der Wendung περὶ οὗ und des Begriffs πολὺς λόγος καὶ δυσερμήνευτος Hebr 5,11a vgl.o. 69–71. 582 Vgl. hierzu u. 177–194. 583 Vgl. hierzu o. 161–171. 584 Vgl. hierzu bereits o. 73–83. 585 Weitaus schwieriger scheint in diesem Zusammenhang die Annahme von R.C. Sauer, Reexamination, 153: „Their [d.h. der Adressaten] immediate condition, then, is a receding capacity to understand Christian doctrine, and their need for the moment is a personal, self-made reacquaintance of foundational truth as a means of preparing themselves for the high doctrine concerning the Lord’s priestly word. Otherwise their apathy can cause them to fall away“; vgl. hierzu auch 158f. Angesichts des Sachverhalts, dass der Verfasser des Hebr eine solche ,personal, self-made reacquaintanceʻ nicht thematisiert, muss diese Implikation ein Postulat bleiben. 586 Damit entfällt das von H. Löhr, Umkehr, 168 beschriebenen Problem, „daß trotz des [Hebr 5,1ff.] ausgesprochenen Tadels im folgenden ganz offensichtlich eine Vollkommenheitslehre geboten wird“. Löhr möchte dieses Problem mit der Annahme lösen, dass „der mangelnden Erkennntnis … durch fortschreitende Belehrung abgeholfen [wird], nicht durch schulmeisterndes Wiederholen der Anfangsgründe des Glaubens. Der Hebr versteht die Darbietung seiner Hohenpriesterauffassung als neue Lehre, eine Vertiefung und Neufassung des Bekenntnisses“. Diese Hinweise Löhrs nehmen die Ausführungen des Verfassers des Hebr im Blick auf den theologisch-theoretischen (Er-)Kenntnisstand (vgl. zu diesem Begriff ausführlich o. 127–129) der Adressaten dieser Epistel zu wenig ernst. 581

Hebr 6,1–3

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Epistel beabsichtigte, theologisch zu Bildende – konkret einen um ein theologisches Schulhaupt versammelten Schülerkreis oder aber eine Gruppe von Kandidaten, die sich in der Ausbildung zum gemeindlichen Lehramt befindet587, – die sich aus seiner Sicht auf einen theologisch unzulänglichen und damit auch irrigen Weg begeben haben, wieder zurechtzubringen588, insofern zu stützen, als jener in Hebr 6,2 vier διδαχαί, somit also vier Lehrstücke auflistet, die gemeinsam mit dem λόγος τοῦ Χριστοῦ und den στοιχεῖα τῆς ἀρχῆς τῶν λογίων τοῦ θεοῦ in ihrer Gesamtheit589 der katechetischen Überlieferung zuzurechnen und in denen die Adressaten des Hebr offensichtlich schon einmal unterrichtet worden sind590. In Hebr 6,3 formuliert der Verfasser des Hebr dann die notwendige Bedingung für das von ihm beabsichtigte Unterfangen591. Den von ihm angeschriebenen Christen kann die τελειότης nur vermittelt werden592, ἐάνπερ593 ἐπιτρέπῃ ὁ θεός594 (Hebr 6,3b)595. Auch wenn der Verfasser des Hebr mit dieser Formulierung einen Topos der antiken Rhetorik aufnimmt596, wird es sich, wie der weitere Gang der Argumentation, insbesondere die Ausführungen des Verfassers des Hebr in Hebr 6,4–6.7f., zeigen597, hierbei um mehr als um eine lediglich „floskelhaft aufzufassende Wendung“598 handeln599. Die Annahme, die Adressaten des Hebr stellten eine Katechumenengruppe, also eine Gruppe neubekehrter Christen dar, die von neuem der Unterweisung in der christlichen Lehre bedarf, wurde o. bereits als unwahrscheinlich erwiesen; vgl. hierzu o. 119f. und in Sonderheit auch die Exegese von Hebr 10,32–34 u. 229–232. 588 Vgl. hierzu ausführlich o. 125f. 589 Vgl. hierzu das Schaubild o. 171. 590 Vgl. hierzu ausführlich o. 66–78. 591 D.h. die in Hebr 6,1b angekündigte Hinwendung zur τελειότης; zum Bezug von Hebr 6,3 auf Hebr 6,1b vgl. etwa R.C. Sauer, Reexamination, 189–191 und E. Gräßer, Hebr I, 343, der in Hebr 6,3 den „Vorbehalt der permissio Dei“ zu dem in Hebr 6,1b Ausgeführten sieht. 592 Zum Bezug von Hebr 6,3 auf den Gesamtimpetus von Hebr 6,1f. vgl. etwa H.-F. Weiß, Hebr, 339: „Dementsprechend ist das den V. 3 einleitende τοῦτο gewiß nicht auf die zuvor genannten Lehrstücke zu beziehen, sondern auf die Aufforderung von V. 1: ἀφέντες ... φερώμεθα“. 593 Zu ἐάνπερ als konditionaler Konjunktion vgl. H. Braun, Hebr, 163. 594 Zu dieser in der antiken Literatur augenscheinlich weit verbreiteten Klausel vgl. H.-F. Weiß, Hebr, 340, bes. A. 52. 595 Vgl. hierzu H.W. Attridge, Hebr, 165: „Although the appeal to what God allows ... is conventional, it no doubt expresses a serious sentiment. The addressees need a renewal of their faith and that can only come through the appropriation of a difficult discourse. Both the exposition and its desired effects require divine assistance“. 596 Vgl. in diesem Sinne etwa H. Braun, Hebr, 163 und H.-F. Weiß, Hebr, 340, A. 32. 597 Vgl. hierzu ausführlich u. 177–194. 598 H. Löhr, Umkehr, 173. 599 Auch G. Schunack, Hebr, 79 geht davon aus, dass es sich bei dieser Bemerkung „kaum nur [um] rhetorische Konvention“ handele; der Deutung Schunacks allerdings, der zufolge Hebr 6,3b als Hinweis darauf zu deuten sei, dass der Verfasser des Hebr „bei seiner langen und schwierig zu vermittelnden Rede [entschieden] dem zu entsprechen sucht, was Gottes Wort und Willen entspricht“, wird durch die Ausführungen in Hebr 6,4–6.7f. der Boden entzogen. 587

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Die Analyse von Hebr 5,11–6,12

Fazit: In Hebr 5,11–14; 6,1f. formuliert der auctor ad Hebraeos einerseits seine – sehr negativ akzentuierte – Einschätzung über den generellen und grundsätzlichen – aus seiner Sicht außerordentlich defizitären – theologisch-theoretischen600 (Er-)Kenntnisstand seiner Adressaten, gibt ihnen andererseits aber auch Auskunft über die Disposition seiner Epistel: Die Adressaten, augenscheinlich noch immer in der christlichen Religion verankert, haben es aufgrund fehlender Bereitschaft zu intellektueller Arbeit verabsäumt, ihren theologisch-theoretischen (Er-)Kenntnisstand zu erweitern und befinden sich damit zugleich auf dem Weg zu einer unzulässigen Theologie bzw. sind bei dieser womöglich schon angekommen601. Daher ist bzw. präziser: wäre es – eigentlich – notwendig, ihnen die στοιχεῖα τῆς ἀρχῆς τῶν λογίων τοῦ θεοῦ wieder neu nahe zu bringen602. Im Rahmen seiner Darlegungen in Hebr 1,1–5,10 hat der Verfasser des Hebr dieser von ihm selbst konstatierten Notwendigkeit nun allerdings in soweit Rechnung getragen, als er sich in Hebr 1,1–5,10 auf die – erneute – Vermittlung der Grundlagen der Christologie und damit auch der Grundlagen der – aus dieser Christologie sich ergebenden und mit derselben zusammenhängenden – Soteriologie beschränkt: In den ersten Kapiteln seiner Epistel präsentiert er den Rezipienten derselben den λόγος τὴς ἀρχῆς τοῦ Χριστοῦ und die daraus sich unmittelbar ergebenden soteriologischen Konsequenzen. Diesen Pfad, d.h. die christologische und, damit zusammenhängend, die soteriologische Grundlagenarbeit, möchte er nun verlassen und – unmittelbar daran anschließend – mit der Vermittlung der christologischen τελειότης, des λόγος δικαιοσύνης, fortfahren. Die in Hebr 1,1– 5,10 beobachtbare Fokussierung des auctor ad Hebraeos auf die Grundlagen der Christologie und, daraus abgeleitet und systematisch daraus folgend, auf die Grundlagen der Soteriologie lassen im Umkehrschluss die Annahme wahrscheinlich erscheinen, dass jener an diesem Punkt ein bzw. das entscheidende theologisch-theoretische Defizit seiner Adressaten ausmachen zu können meinte.

Treffender hier F. Delitzsch, Hebr, 221: „…, sofern Gott es gestattet, dem allein die Entscheidung zusteht, ob sie [d.h. die Adressaten des Hebr] den Segen solchen Fortschritts nicht schon durch eigene Schuld verwirkt haben“. Vgl. in diesem Zusammenhang auch D.A. DeSilva, Hebr, 219. 600 Vgl. zu diesem Begriff ausführlich o. 127–129. 601 Vgl. zu diesem hier als Möglichkeit angedeuteten Szenario aber u. 177–188. 602 Im Grundsatz zutreffend C.R. Koester, Hebr, 309: „Hebrews addressed Christians who faced a crisis of discernment“. Präziser hier R.C. Sauer, Reexamination, 195: „The readers had confessed Christ but had not grown far enough in Christianity …. Currently the addressees‘ spiritual malady is only a case of severe intellectual regression or academic backsliding. If persisted in, it could lead to something much worse – apostasy. In this respect a review of Christianity’s doctrinal ABCs will not help; these rudiments were sufficient to bring them to Christ, but are inadequate to keep them loyal to Him“.

Hebr 6,4–12

3.4

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Hebr 6,4–12

Im Anschluss an das in Hebr 6,3 Ausgeführte begründet der Verfasser des Hebr zunächst in Hebr 6,4–6 die Notwendigkeit der Erfüllung dieser Bedingung603. Er führt seinen Adressaten ein „schlechthin gültiges Gesetz“604 vor Augen: Denjenigen, die einmal erleuchtet605 worden606 und dann ,abgefallenʻ (παραπίπτειν Hebr 6,6a) sind, ist es unmöglich607, wieder erneut umzukehren608. Diese in dieser Weise als kategorisch charakterisierte Unmöglichkeit eines πάλιν ἀνακαινίζειν εἰς μετάνοιαν einerseits609, andererseits aber auch die Ausführungen in Hebr 603 Die Ausführungen in Hebr 6,4ff. werden mit einem begründenden γάρ mit dem Vorhergehenden verknüpft; vgl. hierzu H. Löhr, Umkehr, 173: „Es liegt daher nahe, dies [d.h. die Konstatierung der Unmöglichkeit eines ἀνακαινίζειν εἰς μετάνοιαν] auch für V. 3 anzunehmen; [Hebr] 6,4ff. würde so vor allem auch die sonst kaum mehr als floskelhaft aufzufassende Wendung in [Hebr 6,] 3b in ihrer einschränkenden Funktion erläutern, d.i. einen Grund für die Notwendigkeit dieser Einschränkung beibringen“, und G. Schunack, Hebr, 79: „Das begründende gar ist wohl unmittelbar auf den Vorbehalt in V.3 bezogen“. Durchaus m.R. weist Schunack ergänzend darauf hin, dass in Hebr 6,3 darüber hinaus aber auch „das in [Hebr] 5,11b angesprochene Missverhältnis zum Christsein im Blick“ bleibt. Mit einem anderen Akzent hier H.W. Attridge, Hebr, 167: „The pericope [d.h. Hebr 6,4–6] is introduced with the postpositive ‚for‘ (γάρ), which, as often, is a loose connective. It does not necessarily relate vss 4–6 to the last phrase in vs 3 .... Rather, the connection is between the whole of this pericope (vss 4–12) and the promise to undertake the difficult teaching [d.h. Hebr 6,1f.]“. 604 H.-F. Weiß, Hebr, 340. 605 Zum religionsgeschichtlichen und philosophischen Hintergrund des mit dem Partizip φωτιςθέντες Ausgesagten vgl. etwa H.-F. Weiß, Hebr, 342 und E. Gräßer, Hebr I, 349f. Gräßer formuliert: „Ihr [d.h. der Adressaten des Hebr] gelichtetes Dasein zeigt sich daran, daß sie aus der durch Todesfurcht lebenslänglich konstituierten Knechtschaft ... heraustreten und mit Freimut hinzutreten zum Thron der Gnade, an dem sie Erbarmen finden .... Der Wechsel vom φόβος θανάτου ... zur περιποίησις ψυχὴς ..., von der ἄγνοια und πλάνη ... zur ἐπίγνωσις ἀληθείας ..., der Wandel von Fremdlingen und Beisassen auf Erden ... zu Erben der Verheißung ... und Genossen der himmlischen Berufung ... – das ist im Sinne des Hebr Erleuchtung“. Im Blick auf die ethische Konsequenz dieser Erleuchtung verweist Gräßer auf Hebr 10,32–34. Vgl. zu diesem Begriff auch D.A. DeSilva, Hebr, 222f. 606 Nach H.-F. Weiß, Hebr, 341 steht im Gesamtzusammenhang der Ausführungen in Hebr 6,4f. „das erste Partizip ἅπαξ φωτισθέντες grundlegend-programmatisch voran, während die weiteren Partizipien in den VV. 4 und 5 im einzelnen entfalten, was an Heilsgaben mit jener ‚einmaligen Erleuchtung‘ vermittelt worden ist“; zu dieser Struktur vgl. auch G. Schunack, Hebr, 80. 607 Zu den semantischen Implikationen des hier gebrauchten Terminus ἀδύνατον vgl. etwa H.W. Attridge, Hebr, 167: „There is no warrant for taking the term in a weak sense, such as ‚it is difficult‘“. 608 Vgl. hierzu zusammenfassend H.-F. Weiß, Hebr, 340f.: „Es ist ein schlechthin gültiges Gesetz, daß derjenige, der ‚einmal‘ bereits die μετάνοια im Sinne der Hinwendung zu Gott ... vollzogen hat, nicht noch ein weiteres Mal – nach seinem Abfall vom Glauben – zur μετάνοια gelangen kann“. 609 Auf diesen Punkt rekurriert E. Gräßer, Hebr I, 355.

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Die Analyse von Hebr 5,11–6,12

6,6c, insbesondere der Hinweis darauf, dass die παραπεσόντες610 durch ihr Verhalten den Sohn Gottes abermals kreuzigten und zum Gespött machten611, deuten darauf hin, dass der Verfasser des Hebr unter dem in Hebr 6,6a angesprochenen παραπίπτειν612 nicht lediglich die möglicherweise noch verzeihliche Haltung der Verweigerung etwa gegenüber einigen ethischen Konsequenzen des Christentums613, sondern, da er in diesem Zusammenhang etwa von „eine[r] ‚Verleugnung des Herrn‘“614, der Preisgabe des Bekenntnisses „zum leidenden und gekreuzigten Jesus als ‚Sohn Gottes‘“615 bzw. der „Opposition gegen den Christus passus und sein[em] Opfer“616 sprechen kann617, – weitaus grundsätzlicher – die Abwendung vom christlichen Glauben insgesamt verstanden wissen wollte. Zu den Deutungsmöglichkeiten dieses Verbs vgl. instruktiv etwa E. Gräßer, Hebr I, 354, A. 63. Damit werden die Ausführungen in Hebr 6,6c als inhaltliches definiens für das in Hebr 6,6a Ausgesagte gefasst, wird also das παραπίπτειν dem ἀνασταυροῦν bzw. παραδειγματίζειν des Sohnes Gottes inhaltlich gleichgesetzt; vgl. hierzu 187–189. 612 H.-F. Weiß, Hebr, 345 macht darauf aufmerksam, dass das in Hebr 6,6 verwendete Verb παραπίπτειν „die spezielle Sünde des Abfalls von Glauben und Gehorsam ... und damit des ‚Abfalls vom lebendigen Gott‘“ bezeichnet. Dabei definiert Weiß den Abfall von Gott als einen „radikale.[n] Bruch mit jener Heilserfahrung, wie sie zuvor in den VV. 4 und 5 beschrieben worden ist“ ( 346). Darüber hinaus weist er darauf hin, dass in der LXX sowohl das Verb παραπίπτειν als auch das Verb ἀποστῆναι, das etwa Hebr 3,12 verwendet wird, als griechisches Äquivalent zum hebräischen ‫ מעל‬Verwendung gefunden haben. Dies spricht dafür, die entsprechenden Ausführungen in Hebr 3,12 und in Hebr 6,6 als sachliche Parallelen zu deuten. 613 Ethische Probleme spielen, wie die Einlassungen Hebr 6,10 und insbesondere die Formulierung διακονήσαντες τοῖς ἁγίοις καὶ διακονοῦντες Hebr 6,10b belegen, in diesem Zusammenhang offensichtlich keine Rolle; vgl hierzu bereits o. 52–54 und etwa O. Michel, Hebr, 249: „Sie [d.h. die ἀγαπή der Adressaten des Hebr] ist aber den Brüdern zugewandt, dient ihnen seit der Vergangenheit bis hinein in die Gegenwart“. 614 Hier m.E. nahe am Argumentationsgefälle von Hebr 6,4–8 insgesamt E. Gräßer, Hebr I, 354f.: „Der Überschritt aus der Dunkelheit ins Licht, die eschatologische Existenz wird rückgängig gemacht. Nicht postbaptismale Sünden machen die Erleuchteten zu lapsi und sind deshalb unvergebbar, sondern der umgekehrte Wechsel aus dem Licht in die Finsternis, vom lebendigen Gott weg ... und zu den toten Werken hin“; ähnlich auch 354 mit Verweis auf F. Delitzsch: „Παραπεσεῖνn ... meint also nicht einen Abfall, durch den man sich den ethischen Wirkungen der christlichen Heilswahrheit entzieht, sondern einen Abfall von dieser selbst, so daß sie ‚schlechthin äusserlich und fremd wird‘“. In diesem Sinne auch W.L. Lane, Hebr I, 142: „What is visualized by the expressions in v 6 is every form of departure from faith in the crucified Son of God“, und E. Riggenbach, Hebr, 159: „Unzweifelhaft setzt der V[er]f[asser] in [Hebr] 6,4–6 voraus, es sei bei solchen, die zu persönlicher Erkenntnis und Erfahrung des Heils gelangt sind, ein Abfall möglich, der eine so völlige Loslösung von Christus und eine so entschlossene Ablehnung seiner Gnade mit sich bringen, daß eine erneute Bekehrung nicht mehr Platz greifen könne“. 615 H.-F. Weiß, Hebr, 346; vgl. darüber hinaus zusammenfassend: „Der Abfall vom Glauben hat ... eine christologische Dimension bzw. steht ... in einem christologischen Horizont“. Bereits F. Bleek, Hebr II/2, 188 verweist in diesem Zusammenhang auf die Ausführungen in Hebr 10,29. 616 E. Gräßer, Hebr I, 356. 617 Vgl. hierzu H.-F. Weiß, Hebr, 346, der begründend ausführt: „Darauf verweisen jedenfalls die beiden folgenden Partizipien ἀνασταυροῦντες und παραδειγματίζοντες, die je auf ihre 610 611

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Die syntaktische Struktur von Hebr 6,4f. lässt sich folgendermaßen darstellen: Von der einleitenden Formel ἀδύνατον γάρ ist ein a.c.i. abhängig, bestehend aus dem Akkusativ τούς Hebr 6,4 und dem Infinitiv (πάλιν) ανακαινίζειν Hebr 6,6b. Auf den Akkusativ ist – gleichsam als ‚Oberbegriff‘ der in Hebr 6,4f. thematisierten „Existenzwende“618 – zunächst unmittelbar die partizipiale Wendung ἅπαξ φωτισθέντας bezogen. Diese partizipiale Wendung wird dann durch zwei weitere Partizipialsätze näher bestimmt bzw. konkretisiert619, die jeweils aus zwei Gliedern bestehen. Daraus ergibt sich folgendes syntaktisches Schema: a.c.i.: ἀδύνατον γὰρ τοὺς ... πάλιν ἀνακαινίζειν ‚Oberbegriff‘: ἅπαξ φωτισθέντας erster beigeordneter Partizipialsatz, bestehend aus zwei Gliedern (Hebr 6,4b): (1) γευσαμένους τε τῆς δωρεᾶς τῆς ἐπουρανίου620 (2) καὶ μετόχους γενηθέντας πνεύματος ἁγίου zweiter beigeordneter Partizipialsatz, bestehend aus zwei Gliedern (Hebr 6,5): 1) καὶ καλὸν γευσαμένους θεοῦ ῥῆμα (2) δυνάμεις τε μέλλοντος αἰῶνος. Da die beiden die partizipiale Wendung ἅπαξ φωτισθέντας erläuternden Partizipialsätze jeweils mit dem Partizip γευσαμένους eingeleitet werden, lässt sich die Annahme durchaus plausibilisieren, dass diese als sich gegenseitig interpretierend aufgefasst und dementsprechend gedeutet werden können621. Ob der Verfasser des Hebr mit der Wendung ἅπαξ φωτισθέντας Hebr 6,4a explizit auf die Taufe seiner Adressaten anspielen wollte und das Verb φωτίζειν hier somit in technischem Sinne verwendet hat622, muss, da Belege für einen solchen technischen Gebrauch im Neuen Testament fehlen, dahingestellt bleiben623. Weise die Leidensgeschichte des irdischen Jesus im Blick haben, sie aber zugleich – an dieser Stelle nun freilich im negativen Sinne – auf die Adressaten bzw. die ihnen drohende Gefahr applizieren“. 618 G. Schunack, Hebr, 80. Vgl. hierzu auch E. Gräßer, Hebr I, 350: „Mit all diesen Partizipien wird der in der Bekehrung vollzogene Existenzwandel auf den Begriff gebracht“. 619 Vgl. hierzu G. Schunack, Hebr, 80: Die partizipiale Wendung τοὺς ἅπαξ φωτισθέντας werde durch „je zwei mit te ... kai verbundene Partizipialaussagen im Aorist konkretisiert“; ähnlich auch H. Hegermann, Hebr, 133: „Das in der Erleuchtung empfangene Heil wird mit vier entfaltenden Ausdrücken inhaltlich verdeutlicht“. 620 Zum soziohistorischen Hintergrund des Syntagma δωρεὰ ἐπουράνια vgl. ausführlich D.A. DeSilva, Hebr, 223f.; DeSilva geht hier in Sonderheit auf „the social intertexture of patron-client scripts“ (223) ein. 621 Nach E. Gräßer, Hebr I, 350 legt der Verfasser des Hebr die Implikationen bzw. Konsequenzen der Erleuchtung in den auf den Partizipialsatz ἅπαξ φωτισθέντας folgenden „koordinierten, paarweise zusammengestellten und sich gegenseitig interpretierenden weiteren Glieder[n]“ dar. Diese Sicht Gräßers wird bestätigt durch die Verwendung der Partikel καί und τε in Hebr 6,4f; vgl. hierzu auch F. Blaß/A. Debrunner/F. Rehkopf, Grammatik, § 444, 373: „τε ... καί verknüpft enger als das einfache καί“. 622 In diesem Sinne etwa H. Braun, Hebr, 165; zu weiteren Vertretern dieser Position vgl. E. Gräßer, Hebr I, 348, A. 12. 623 Zur Kritik dieser technischen Interpretation vgl. etwa E. Gräßer, Hebr I, 348. Kritisch auch H. Löhr, Umkehr, 189: „Der sonstige Sprachgebrauch im Neuen Testament läßt keine technisch auf die Taufe beschränkte Bedeutung erkennen“.

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Die Analyse von Hebr 5,11–6,12

Werden diese Darlegungen nun in das Licht der unmittelbar vorangehenden Ausführungen von Hebr 5,11–14; 6,1–3624 gestellt, so ergibt sich, dass der auctor ad Hebraeos den in diesen beiden Passagen namhaft gemachten, aus seiner Perspektive in hohem Maße defizitären theologisch-theoretischen (Er-)Kenntnisstand der Adressaten seiner Schrift offensichtlich mit dem παραπίπτειν von Gott parallelisiert bzw. als eine mögliche – von sicherlich mehreren möglichen – Konkretion eines solchen παραπίπτειν definiert. Eine solche sachliche Parallelisierung bringt folgende, in zwei unterschiedliche Richtungen verlaufende, aber doch letzten Endes einander bedingende und aufeinander bezogene interpretatorische Konsequenzen mit sich: (a) Das in Hebr 5,11–14; 6,1–3 beschriebene offenkundige Desinteresse und die offenkundige Lethargie der Adressaten des Hebr, einer bis dato hinter den geplanten Lernzielen zurückgebliebenen Gruppe von theologisch zu Bildenden, gegenüber der – offensichtlich vom auctor ad Hebraeos entweder unmittelbar oder aber mittelbar – propagierten Konzeption christlicher Theologie und deren Weigerung, sich deren theologische Aspekte und Inhalte zu erarbeiten, stelle nicht lediglich eine verzeihliche und mit etwas gutem Willen auch übersehbare Nachlässigkeit dar, sondern betreffe – als παραπίπτειν – ihre christliche Existenz unmittelbar und in deren Grundfesten. Vielmehr begreife der Verfasser des Hebr diese Lethargie und dieses Desinteresse, das dazu geführt habe, dass diese sich die vom auctor ad Hebraeos propagierte Konzeption christlicher Theologie nicht zu eigen gemacht hätten, als Hinwendung zu einer aus der Sicht jenes unzulänglichen und damit dann auch unzulässigen theologischen Programmatik. Diese bis dato lediglich implizit angesprochene interpretatorische Konsequenz625 wird hier in Hebr 6,4–6 explizit und prononciert ausgeführt. Damit scheint sich die textpragmatische Situierung des Hebr, wenn auch mit im einzelnen nicht unerheblichen Differenzen, letzten Endes zumindest im Grundsatz durchaus mit derjenigen des paulinischen Gal vergleichen zu lassen626. (b) Das παραπίπτειν von Gott ließe sich vor dem Hintergrund der Ausführungen von Hebr 5,11–14; 6,1–3 nicht mehr als eine in der zweiten oder auch der dritten Generation des Christentums augenscheinlich des öfteren zu beobachtende Glaubensermüdung oder -ermattung beschreiben, die sich, beispielhaft sich konkretisierend an der Frage, ob es sich in der Gegenwart überhaupt noch lohne, Christ zu sein und zu bleiben, im Rahmen eines eher unbewusst denn bewusst sich vollziehenden Prozesses aus den von den Adressaten des Hebr zunehmend mehr als Problem wahrgenommenen Implausibilitäten ihrer christlichen Existenz und ihres christlichen Glaubens entwickelt habe627. Mit dem Terminus παραπίπτειν beziehe sich der auctor ad Hebraeos vielmehr auf die zuvor seinen Vgl. hierzu o. 66–126 und o. 161–176. Vgl. hierzu o. passim. 626 Zum Impetus des Gal vgl. o. 151f. 627 Vgl. hierzu etwa die von K. Backhaus vertretene Position zur textpragmatischen Situierung des Hebr o. 48–61, in Sonderheit die entsprechenden Ausführungen o. 48–52. 624 625

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Adressaten attestierte Haltung der νώθεια628, die jener als die eigentliche Ursache für den im Kreise jener beobachtbaren in hohem Maße defizitären theologisch-theoretischen (Er-)Kenntnisstand und, damit einhergehend, ihre Praktizierung und Propagierung einer aus seiner Sicht unzulänglichen bzw. unzulässigen Theologie, ausmacht. M.a.W.: Die Adressaten des Hebr gelten zumindest in den Augen des auctor ad Hebraeos als von Gott Abgefallene, weil sie sich geweigert oder aber es verabsäumt haben, im Sinne des ersteren an einer Erweiterung und Vertiefung der eigenen theologisch-theoretischen Glaubensbasis zu arbeiten und sich auch die weiterführenden Aspekte der im Hebr entwickelten – und aus seiner Sicht einzig ziel-, d.h. zum Heil führenden – Konzeption von Theologie zu eigen zu machen. Damit hätten sie sich zugleich einer unzulänglichen oder unzulässigen theologischen Programmatik verschrieben und scheinen diese aktuell möglicherweise auch zu propagieren. Im Blick auf die Frage nach den semantischen Implikationen der den Partizipialsätzen Hebr 6,4b und Hebr 6,5 vorgeordneten partizipialen Wendung ἅπαξ φωτισθέντας Hebr 6,4a sind die Ausführungen, die der Verfasser des Hebr in Hebr 10,26 bietet, nicht ohne Belang. Dort nämlich erklärt er seinen Lesern, dass diejenigen, die mutwillig sündigen, nachdem sie die ἐπίγνωσις τῆς ἀληθείας, die Erkenntnis der Wahrheit, empfangen haben, zur Tilgung ihrer Sünden auf kein anderes bzw. weiteres Opfer mehr zurückgreifen können629. Die in Hebr 10,26 vorliegende Verknüpfung des Syntagmas ἐπίγνωσις τῆς ἀληθείας mit dem Verb λαμβάνειν spricht dafür, diesen als den Einsichtigen zuteil gewordene theologisch-theoretische Einsicht in die unter dem Begriff ἀλήθεια subsumierten Inhalte und nicht oder zumindest nicht primär als willentliche Anerkenntnis dieser durch jene zu interpretieren630. Damit aber legt die theologische Erklärung in Hebr 10,26 unmittelbar die Annahme nahe, den in Hebr 6,4a angesprochenen φωτισμός als Empfang der ἐπίγνωσις τῆς ἀληθείας zu fassen631 und das Syntagma ἅπαξ φωτισθέντας somit – zumindest zunächst und zuerst – als einen Akt der theoretischen Erkenntnis bzw. des intellektuellen Erfassens bestimmter Sachverhalte und Zusammenhänge, hier des Inhalts der christlichen Heilslehre632, zu Vgl. hierzu ausführlich o. 71–73. Vgl. zur Interpretation dieser Ausführungen u. 225–227. 630 Vgl. hierzu O. Michel, Hebr, 350f.: „Wahrheit ist hier Umschreibung für die göttliche Offenbarung, für einen von Gott gesetzten und aufgedeckten Tatbestand [!], für eine Botschaft und einen Anspruch, über den die Menschen nicht verfügen können, dem sie sich dagegen fügen müssen“. 631 Vgl. hierzu deutlich E. Gräßer, Hebr III, 39: „Als Formel für die Christwerdung ist die ἐπίγνωσις τῆς ἀληθείας nur ein anderer Ausdruck für den φωτισμός ([Hebr] 6,4)“. Ähnlich auch C. Spicq, Hebr II, 322: „C’est Dieu qui donne cette pleine connaissance (cf. VI, 4, τοὺς ἅπαξ φωτισθέντας), le croyand y consent ... ou l’accepte librement .., et cette appropriation le sauve“ und O. Michel, Hebr, 350: „Offenbar ist hier der Empfang der Wahrheit identisch mit der Erleuchtung ..., mit der Taufe und der Gabe des Heiligen Geistes“. 632 Vgl. hierzu H. Windisch, Hebr, 96. H. Hegermann, Hebr, 212 konkretisiert: „Der entscheidende Inhalt [der ἐπίγνωσις τῆς ἀληθείας] ist ... der ‚Sohn Gottes‘, der durch das wahre ‚Blut 628 629

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verstehen633, der daran anschließend dann in die Anerkenntnis des theoretisch Erkannten und intellektuell Erfassten als ἀλήθεια einmündet634. Bei dem φωτιςμός von Christen handelt es sich für den Verfasser des Hebr offensichtlich wesentlich um eine „instruction doctrinale“635. Insofern nimmt er mit seinen in Hebr 6,4a beginnenden Darlegungen durchaus auch unmittelbar sachlich-inhaltlich auf das in Hebr 5,11–14; 6,1–3 Erörterte636 Bezug und führt die dort begonnene Argumentation hier bruchlos weiter. Diejenigen, die einmal erleuchtet worden sind, sind – zunächst – zu solchen geworden, die die ‚himmlische Gabe‘ geschmeckt (γεύεσθαι)637 haben und des heiligen Geistes teilhaftig geworden sind (Hebr 6,4b)638. Aufgrund der parallelen syntaktischen Struktur der beiden Glieder von Hebr 6,4b639 und ihrer engen Ver-

des Bundes‘ uns geheiligt hat“ und E. Riggenbach, Hebr, 325, A. 12: „Wenn hier die Wahrheit als Objekt der Erkenntnis genannt wird, so ist selbstverständlich die durch Christus vollkommen geoffenbarte Wahrheit gemeint“. 633 Vgl. hierzu etwa H.W. Attridge, Hebr, 293: „The phrase as a whole [d.h. Hebr 10,26] suggests that there is an intellectual element to faith“, E. Riggenbach, Hebr, 325, A. 12: „ἐπίγνωσις ist im Unterschied von γνῶσις die eindringende und zutreffende Erkenntnis“, und H. Löhr, Umkehr, 191: „Der Hebr kennt den intellektuellen Aspekt der Bekehrung und des Gläubigwerdens“. Noch deutlicher E.D. Schmitz, Art. Erkenntnis, Erfahrung, in: ThBNT I, 253; nach Schmitz eignet der Wendung ἐπίγνωσις τῆς ἀληθείας zunächst in den Pastoralbriefen, zugleich aber auch in Hebr 10,26 ein „theoretische.[r], quasi-dogmatische.[r] Akzent“; ähnlich auch W. Hakkenberg, Art. ἐπίγνωσις, in: EWNT II, 63f. 634 Vgl. hierzu instruktiv R. Bultmann, Art. γινώσκω κτλ., in: ThWNT I, 705: „Da sich die christliche Missions-Verkündigung nicht wie die Predigt der alten Propheten primär gegen die praktische Verleugnung Gottes im eigenen Volke richtet, sondern an Heiden ergeht, die den einen Gott noch nicht verehren, so tritt im Begriff der Gotteserkenntnis neben und zT vor dem Moment der Anerkennung das Moment des Wissens hervor“. Ähnlich auch M. Dibelius, Ἐπίγνωσις ἀληθείας, 2, der im Blick auf die semantischen Implikationen der Wendung ἐπίγνωσις ἀληθείας in den Pastoralbriefen formuliert: „In dieser ... Formel ... tritt ja unverkennbar ein gewisser Rationalismus hervor: wer die Predigt dieser Lehre vernimmt, der muß ihr anhangen, wenn er sich nur recht besinnt“; vgl. ähnlich auch 6. Zu unpräzise hier O. Michel, Hebr, 351, der den Begriff ἐπίγνωσις Hebr 10,26 zu schnell und zu unmittelbar „in Richtung ‚Anerkenntnis‘“ rücken möchte. 635 C. Spicq, Hebr II, 150; Spicq interpretiert die „illumination spirituelle“ Hebr 6,4a konkret als „instruction doctrinale ... reçue du prédicateur“. 636 Vgl. hierzu ausführlich o. 66–126 und o. 161–176. 637 Ob der Verfasser des Hebr mit dem in Hebr 6,4f. verwendeten Verb γεύεσθαι auf das Abendmahl anspielen wollte, lässt sich, da dieses Verb hier in übertragenem Sinne verwendet worden ist, kaum sicher sagen; vgl. hierzu etwa H.-F. Weiß, Hebr, 343. 638 Für die Wendung μετόχοι πνεύματος ἁγίου liegen in Hebr 3,1.14 sachliche Parallelen vor. In Hebr 3,1 charakterisiert der Verfasser des Hebr die von ihm angeschriebenen Christen als μετόχοι κλήσεως ἐπουρανίου, nach Hebr 3,14 sind sie μετόχοι τοῦ Χριστοῦ geworden; vgl. hierzu etwa H.W. Attridge, Hebr, 170: „The language of participation recalls the earlier references ... to partaking in a heavenly calling and in Christ himself“. 639 Vgl. in diesem Sinne etwa H. Windisch, Hebr, 51, der in Hebr 6,4b einen „synonyme.[n] Parallelismus der Glieder“ beobachtet.

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knüpfung durch die Kopula τε ... καί640 ist die Vermutung durchaus naheliegend, dass der Verfasser des Hebr mit dem Begriff δωρεὰ ἐπουράνιος auf den heiligen Geist abheben wollte; diejenigen, die erleuchtet worden sind, haben somit das πνεῦμα ἅγιον als eine himmlische Gabe erhalten und sind dessen insofern teilhaftig geworden641. Der himmlischen Gabe des πνεῦμα ἅγιον, die von Gott ausgeteilt wird642, kommt, wie die im Hebr enthaltenen entsprechenden pneumatologischen Aussagen belegen, wesentlich die Funktion des Sprechers der Schrift643 und des Offenbarers theologischer Erkenntnisse bzw. Interpreten theologischer Zusammenhänge644 zu. Somit hat der Verfasser des Hebr durch seine Ausführungen in Hebr 6,4b die partizipiale Wendung ἅπαξ φωτισθέντας Hebr 6,4a als von Gott geschenkte Einsicht in neue, theologische, nicht zuletzt auch sein Heilswerk betreffende Erkenntnisse konkretisiert: „Die Erleuchtung ist hier noch die wunderbare neue Erkenntnis, die durch das Hören der Predigt aufgeht“645. In einem zweiten Partizipialsatz (Hebr 6,5) kommt der Verfasser des Hebr dann darauf zu sprechen, dass diejenigen, die einmal erleuchtet worden sind, das gute Wort Gottes und die Kräfte des zukünftigen Äons erfahren bzw. erhalten haben. Wird der in Hebr 6,5a verwendete Terminus ῥῆμα als Synonym zu λόγος gefasst646, so lässt sich aufgrund der Ausführungen des Verfassers des Hebr in Hebr 13,7647 mit Grund annehmen, dass er mit der hier vorliegenden Vgl. hierzu bereits o. 179. Dies erwägen etwa O. Michel, Hebr, 242: „Sieht man im Heiligen Geist die ‚Gabe‘, die man ‚geschmeckt hat‘, dann ist das ‚teilhaftig sein des Heiligen Geistes‘ eine Steigerung der zweiten Aussage“, und H.-F. Weiß, Hebr, 343f.: „... und sieht dementsprechend die ‚himmlische Gabe‘ als mit der Gabe des ‚Heiligen Geistes‘ ... gegeben“. In diesem Zusammenhang verweist Weiß auf die lukanische Apg, in der „die Gabe des ‚Hl. Geistes‘ im Zusammenhang mit der Taufe als die ‚Gabe‘ ... Gottes schlechthin“ (344, A. 66) gelte; ähnlich auch C. Spicq, Hebr II, 151. Anders hier etwa H.W. Attridge, Hebr, 170, der unter der himmlischen Gabe „the gracious bestowal of salvation, with all that entails – the spirit, forgiveness, and salvation“ verstehen möchte. 642 Vgl. hierzu Hebr 2,4; E. Gräßer, Hebr I, 351 führt im Blick auf Hebr 2,4 aus, dass hier der Geist als „die Kraft der irdischen Wanderschaft des Gottesvolkes beschrieben werde“; dies aber geht über den Text von Hebr 2,4 weit hinaus. 643 Vgl. hierzu Hebr 3,7; 10,15 und E. Gräßer, Hebr I, 351. 644 Vgl. hierzu Hebr 9,8–10 und E. Gräßer, Hebr I, 351. Der Beleg Hebr 9,14 – hier wird der Geist als „Kraft des soteriologischen Werkes Christi“ (351) gekennzeichnet – kann für die Interpretation von Hebr 6,4b unberücksichtigt bleiben, da hier auf das Verhältnis Geist – Christus, nicht aber das Verhältnis Geist – Christen reflektiert wird. In Hebr 10,29 sieht Gräßer den Geist als Kraft „seines [d.h. des eschatologischen Gottesvolkes] eschatologischen Hinzutretens zum Thron der Gnade“ (351) beschrieben. Dies ist durch den Text von Hebr 9,14 nicht gedeckt. 645 H. Windisch, Hebr, 51 zu Hebr 6,4b. 646 Vgl. hierzu etwa H.W. Attridge, Hebr, 170, A.56, der zugunsten des synonymen Gebrauchs dieser zwei Begriffe auf zwei bzw. drei philonische Belege, nämlich fug. 137 und leg.all. III 169.174f. hinweist und selbst feststellt: „The term used for the ‚word‘ of God (ῥῆμα) is different from λόγος that had been used previously, but there is hardly a difference in sense“ (170). Vgl. darüber hinaus die ausführliche Argumentation bei C. Spicq, Hebr II, 152. In diesem Sinne auch W. Radl. Art. ῥῆμα, in: ENWT² III, 506. 647 Vgl. zu dem Zusammenhang von Hebr 6,5 und Hebr 13,7 etwa auch H.-F. Weiß, Hebr, 344. 640 641

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Wendung ῥῆμα καλὸν θεοῦ auf die den Gemeindegliedern von „den Gemeindeleitern gesagt[e]“648 christliche Verkündigung des εὐαγγέλιον649 abzielt650, in deren Rahmen jenen von diesen die zentralen Inhalte des christlichen Glaubens, insbesondere die in diesen Inhalten ausgeführten und zur Sprache kommenden Zusagen und Verheißungen Gottes651, vor Augen geführt werden bzw. worden sind. Diese auf die Verheißungen und Zusagen Gottes abzielende Interpretation der Wendung ῥῆμα καλὸν θεοῦ wird durch die Parallelen in der LXX nahegelegt652. So werden etwa Jos 21,45; 23,15 die Verheißungen Gottes an die Israeliten, die nunmehr ihre Erfüllung gefunden haben, als ῥήματα καλά bezeichnet653. In diese Richtung weist auch der Beleg Sach 1,13; hier wird die Wendung ῥήματα καλά mit der Phrase λόγοι παρακλητικοί parallelisiert, was die Annahme wahrscheinlich erscheinen lässt, dass unter den ῥήματα καλά nicht einfach nur Worte, sondern in der Tat gute, zuwendende und für die Zukunft ermutigende Worte Gottes zu verstehen sind654.

Auf diesem aus Hebr 6,5a entwickelten interpretatorischen Hintergrund ist nun zu fragen, wie der zweite Teil des Partizipialsatzes Hebr 6,5, d.h. die Wendung δυνάμεις μέλλοντος αἰῶνος in Hebr 6,5b zu deuten ist. In der exegetischen Forschung werden hier unterschiedliche oder zumindest aber unterschiedlich akzentuierte Interpretationen vorgelegt: (a) Häufig wird unter Verweis auf Hebr 2,4655 die Ansicht vertreten, dass der Verfasser des Hebr mit dieser Wendung auf Wunder und Krafttaten, mit denen die christliche Verkündigung beglaubigt werde, rekurrieren wollte; dies impliziert die Annahme, dass die Wendungen ῥῆμα καλὸν θεοῦ und δυνάμεις μέλλοντος αἰῶνος zwei zwar zusammenhängende, letztlich aber doch sachlich voneinander zu unterscheidende Dinge bezeichnen656. Ob der Verweis auf Hebr 2,4 hier allerdings zu tragen vermag, muss aus H. Braun, Hebr, 167. Vgl. hierzu insbesondere C. Spicq, Hebr II, 152. 650 So H. Braun, Hebr, 167, der die Wendung ῥῆμα θεοῦ hier „generell als Verkündigung“ versteht. Diese Deutung entspricht durchaus dem etwa von H. Löhr, Umkehr, 195 festgestellten, dem Terminus ῥῆμα im Unterschied zum Begriff λόγος inhärenten „Aspekt des Gesprochenen“. 651 Vgl. hierzu C.R. Koester, Hebr, 314: „Those addressed by Hebrews have received a good word concerning salvation“. Anders hier H. Braun, Hebr, 167: „nicht einzuengen auf Verheißung“ und E. Riggenbach, Hebr, 156, A. 14: „Der Zusammenhang gibt indes keinen Anlaß zu dieser Einschränkung [auf die Verheißungen und Zusagen Gottes]“. 652 Vgl. hierzu auch – überraschend – E. Riggenbach, Hebr, 156, A. 14: „Im AT steht τὸ ῥῆμα τὸ καλόν ... vorzugsweise von den Verheißungen Gottes“ 653 Vgl. hierzu C.R. Koester, Hebr, 314: „In the OT God’s ‚good words‘ included promises of land and rest“. 654 Weitere Belege bei C. Spicq, Hebr II, 152 und E. Gräßer, Hebr I, 352f. 655 Vgl. zur Interpretation von Hebr 2,4 bereits o. 139f. 656 In diesem Sinne etwa H.W. Attridge, Hebr, 170: „The latter expression [d.h. die Wendung δυνάμεις μέλλοντος αἰῶνος] recalls again the description of the manner in which the salvific message was verified (2:4)“. Nach H. Löhr, Umkehr, 195 sind „die ‚Kräfte‘ ... nach [Hebr] 2,4 als Krafterweise Gottes selbst, darunter auch Wundertaten zu interpretieren“. Mit einem anderen 648 649

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zwei Gründen aber zumindest fraglich bleiben: (1) Wird versucht, die Aussage in Hebr 6,5b auf dem Hintergrund der Ausführungen in Hebr 2,4 zu deuten, muss offen bleiben, warum der Verfasser des Hebr dann in Hebr 6,5b nur den Begriff δύναμις, nicht aber etwa auch die Termini σημεῖον und τέρας aus Hebr 2,4 wieder aufgenommen hat. (2) Die in Hebr 2,4 genannten δυνάμεις werden dort gerade nicht näher als δυνάμεις μέλλοντος αἰῶνος charakterisiert. Gerade auch dieser Unterschied lässt es eher wahrscheinlich erscheinen, dass die in Hebr 6,5b genannten δυνάμεις nicht so ohne weiteres mit den in Hebr 2,4 erwähnten identifiziert werden dürfen. (b) Im Unterschied zu dieser Interpretation versucht etwa H.-F. Weiß, die Aussagen in Hebr 6,5a und Hebr 6,5b von vornherein auch sachlich enger miteinander zu verknüpfen657. Weiß zufolge werden in dem ῥῆμα καλὸν θεοῦ bereits in der Gegenwart die δυνάμεις μέλλοντος αἰῶνος, „die ‚Kräfte der zukünftigen Welt‘ wirksam“658, was jene zu einem dezidiert eschatologischen Ereignis werden lässt, das den Hörern einen „‚Vorgeschmack‘ gleichsam des Kommenden“ eröffnet659. Bei diesem ῥῆμα καλὸν θεοῦ handele es sich um „ein Wort ..., das Zukunft eröffnet, kurz: ein Wort der ‚Verheißung‘ des ‚treuen‘, zu seinen Verheißungen stehenden Gottes“660. Diese Deutung der Ausführungen in Hebr 6,5, die im Blick auf die enge sachliche Verknüpfung der beiden partizipialen Wendungen καλὸν γευσαμένους θεοῦ ῥῆμα und (γευσαμένους) δυνάμεις μέλλοντος αἰῶνος formalsyntaktisch derjenigen in Hebr 6,4b entspricht661, wird insbesondere dadurch indiziert, dass der Verfasser des Hebr hier in gleicher Weise wie in Hebr 6,4b die Kopula τε ... καί verwendet hat662, die eine auch sachlich enge Verbindung der beiden so verknüpften Glieder indiziert663.

Akzent hier E. Riggenbach, Hebr, 157, der im Blick auf Hebr 6,5b von „den die Wortverkündigung begleitenden wunderbaren Lebenskräften“ spricht, wobei er diese aber des näheren als „Kräfte einer Ordnung der Dinge ..., die erst von der Zukunft zu erwarten ist“, charakterisiert; somit stellt Riggenbach letztlich doch einen sachlichen Zusammenhang von Hebr 6,5a und 6,5b her; ganz ähnlich auch E. Gräßer, Hebr I, 353, der die δυνάμεις μέλλοντος αἰῶνος Hebr 6,5 unter Verweis auf Hebr 2,4 einerseits als „Wundererweisungen und -erfahrungen“ beschreibt, andererseits aber unter Verweis auf F. Delitzsch feststellt, dass es sich bei diesen δυνάμεις um „ein ‚Vorspiel‘ und ein ‚Vorschmack‘ der μέλλουσα οἰκουμένη ([Hebr] 2,5)“ handelt. 657 Bemerkenswert ist, dass Weiß zur Erklärung von Hebr 6,5b eben nicht auf Hebr 2,4 verweist. 658 Hebr, 344. 659 Vgl. hierzu Hebr, 344. 660 Vgl. Hebr, 344; in diesem Zusammenhang verweist Weiß auf Hebr 10,23. 661 Vgl. hierzu o. 182f. 662 Vgl. hierzu auch H.-F. Weiß, Hebr, 344: „Die ‚einmal Erleuchteten‘ sind zugleich diejenigen, die ‚Gottes gutes Wort‘ ... ‚geschmeckt haben‘ und mit ihm zugleich (τε – καί!) die (jetzt bereits) wirksamen ‚Kräfte der zukünftigen Welt‘“. 663 Zu der mit der Kopula τε … καί signalisierten engen Verknüpfung der jeweils verbundenen Elemente vgl. bereits o. 179.

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Die Analyse von Hebr 5,11–6,12 Durchaus interessant ist in diesem Zusammenhang ein Blick auf die Deutung von Hebr 6,5b, die der im 9. Jh. n.Chr. lebende Patriarch Photios664 vorgelegt hat. Nach Photios wollte der Verfasser des Hebr mit der Wendung δυνάμεις μέλλοντος αἰῶνος auf die „einzelnen Inhalte der Eschata“665 anspielen, die den Christen im Rahmen der christlichen Verkündigung vermittelt werden: „δυνάμεις τε μέλλοντος αἰῶνος.“ ἀντὶ τοῦ ἂ δύναται ὁ μέλλων αἰῶν ἐκμαθόντας. τὸ γὰρ „γευσαμένους“ ἀπὸ κοινοῦ, ὅπερ τροπικῶς εἴληπται, σημαῖνον, τὸ μαθόντας, κατηχηθέντας. τί δὲ δύναται ὁ μέλλων αἰών; καὶ τί ἐστιν αὐτοῦ ἡ χρεία καὶ τὸ ἔργον; ὅτι ἐν αὐτῷ ἕκατος ὧν ἔπραξε τὴν ἀμοιβὴν εὑρίσκει, ὅτι οὐκ ἔχει τέλος οὔτε ἡ τιμωρία ἡ ἐν αὐτῷ, οὔτε ἡ εὐδαιμονία, ὅτι τότε μᾶλλον τότε ἀλάθητον τοῦ κριτοῦ καὶ τὸ δίκαιον φανερωθήσεται, καὶ πολλὰ ἕτερα. τοὺς οὖν μετὰ τῶν ἄλλων καὶ ταῦτα μαθόντας, φησίν εἶτα παραπεσόντας ἀδύνατον καὶ ἑξῆς666. Diese Interpretation von Hebr 6,5b, verknüpft mit der Interpretation der Phrase ῥῆμα καλὸν θεοῦ Hebr 6,4a als der Verkündigung der göttlichen Verheißungen und Zusagen667, entspräche der o. entwickelten Deutung des christlichen φωτισμός als einer „instruction doctrinale“668 durchaus, lässt sich aber nicht mit Notwendigkeit beweisen. Darüber hinaus wird sie der durch die Kopula τε ... καί angezeigten engen Verknüpfung der beiden Elemente Hebr 6,5a und 6,5b weniger gerecht als die von H.-F. Weiß vorgelegte Interpretation, da auch669 innerhalb ihrer die δυνάμεις μέλλοντος αἰῶνος und das ῥῆμα καλὸν θεοῦ ebenfalls als zwei sachlich voneinander zu trennende Dinge gefasst werden.

Zusammenfassend ergibt sich also: In Hebr 6,4f. bezeichnet der Verfasser des Hebr die Bekehrung zum Christentum als einen φωτισμός; dieser Begriff impliziert für ihn die ἐπίγνωσις τῆς ἀληθείας, ein theoretisch-intellektuelles Erkennen der zentralen Elemente der christlichen Heilslehre. Dieser φωτισμός als Akt der Hinwendung zum Christentum umfasst für ihn offensichtlich vor allem zwei Aspekte, einerseits die Gabe des πνεῦμα ἅγιον als des Offenbarers theologischer Zusammenhänge, und andererseits die christliche Verkündigung des εὐαγγέλιον als eines die (Heils-)Zukunft vorwegnehmenden eschatologischen Ereignisses. Diese vom Verfasser des Hebr vorgenommene Ausdifferenzierung legt die Annahme nahe, dass er den christlichen φωτισμός als das Resultat des Zusammenwirkens göttlicher, hier des πνεῦμα ἅγιον, und menschlicher Kräfte, hier der von Menschen geleisteten Verkündigung des εὐαγγέλιον, begreift; auf den Beitrag Gottes kommt er in Hebr 6,4b, auf den Beitrag von Menschen in Hebr 6,5 zu sprechen. Diese Interpretation vermag insbesondere der o. aufgewiesenen syntaktischen Struktur von Hebr 6,4f., der zufolge die partizipiale Wendung ἅπαξ φωτισθέντας Hebr 6,4a gleichsam als Oberbegriff durch zwei weitere Partizipialsätze, Hebr 6,4b und Hebr 6,5, näher bestimmt bzw. konkretisiert wird670, in hohem Maße gerecht zu werden. 664 665 666

645.

667 668 669 670

Zu Photios vgl. K. Ziegler, Art. Photios, in: KP 4, 813–817. H. Braun, Hebr, 167. Fragmenta in epistulam ad Hebraeos, p. 645,26–34. Text nach K. Staab, Pauluskommentare, Vgl. hierzu o. 181f. Vgl. hierzu o. 182. Vgl. hierzu o. 184f. Vgl. hierzu o. 179.

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Für denjenigen nun, der diesen φωτισμός erfahren hat und dann dennoch671 vom christlichen Glauben abgefallen (παραπεσόντας) ist, gibt es keine erneute Möglichkeit des ἀνακαινίζειν εἰς μετάνοιαν (Hebr 6,6a). Von Bedeutung für die Auslegung des Partizips παραπεσόντας ist die Beobachtung, dass es syntaktisch „das Schlußglied einer Kette von Partizipien bildet“672 und daher „in strenger Bezogenheit auf die [mit diesen Partizipien explizierte] Begriffsreihe ausgelegt werden will“673. Das aber heißt, dass das hier in Hebr 6,6a angesprochene παραπίπτειν als ein παραπίπτειν von der den Adressaten des Hebr in ihrem φωτισμός zuteil gewordenen ἐπίγνωσις τῆς ἀληθείας zu verstehen ist. Vor dem Hintergrund der o. formulierten, eher aus der Perspektive der Interpretation der Ausführungen in Hebr 5,11–14; 6,1–3 generierten Ergebnisse674 legt sich die Annahme nahe, dass der auctor ad Hebraeos mit dem Begriff παραπίπτειν auf die Verweigerung der Adressaten des Hebr gegenüber der von ihnen geforderten weitergehenden und fortschreitenden intellektuellen Durchdringung der ihnen in der Vergangenheit bereits kommunizierten und von ihnen dann theoretischintellektuell zumindest im Ansatz erkannten und als ἀλήθεια anerkannten Glaubensinhalten und Heilswahrheiten675, hier sicherlich insbesondere der zentralen christologischen und soteriologischen Lehrtopoi676, abziele. Diese Verweigerung führte dann dazu, dass jene sich eine zumindest in den Augen des Verfassers des Hebr – gerade im Blick auf die Christologie – eine unzulängliche und damit dann

Vgl. hierzu H.-F. Weiß, Hebr, 345: „καί zu Beginn von [Hebr 6] V. 6 steht im Kontext im Sinne von ‚und dennoch‘“. 672 E. Gräßer, Hebr I, 354; syntaktisch ist das Partizip παραπεσόντας auf der Ebene des Partizips φωτισθέντας Hebr 6,4 anzusiedeln; vgl. hierzu O. Michel, Hebr, 243: „παραπεσόντας führt in den Mittelpunkt der Satzkonstruktion“. 673 E. Gräßer, Hebr I, 354. 674 Vgl. hierzu bereits o. 66–126.161–176. 675 Zu unpräzise hier M. Wolter, Art. παράπτωμα, in: EWNT² III, 79, der das παραπίπτειν Hebr 6,6a allgemein als „Abfall von der christl.[ichen] Gemeinde“ deuten möchte und damit dem Kontext von Hebr 5,11ff. insgesamt kaum gerecht zu werden vermag. 676 Vgl. hierzu methodisch durchaus richtig E. Gräßer, Hebr I, 354: „Vielmehr ist καὶ παραπεσόντας der strenge Gegen-Satz zu ἅπαξ φωτισθέντας κτλ. D.h.: Im παραπίπτειν wird der φωτισμός in seiner ganz bestimmten Ausgelegtheit ... annulliert“. Die Konsequenz Gräßers: „Es [d.h. das παραπίπτειν] ist nicht der Abfall von irgendwelchen theologischen Wahrheiten oder moralischen Normen“ (354) lässt sich aufgrund der o. entwickelten Interpretation von Hebr 5,11–6,3; 6,4f. insgesamt dann aber kaum mehr nachvollziehen. Wesentlich besser hier C. Spicq, Hebr II, 152, der das παραπίπτειν als eine „déviation intellectuelle et morale“ fasst. Ob aber der Verfasser des Hebr seinen Adressaten neben „ihrer déviation intellectuelle“ auch eine „déviation morale“ vorwerfen wollte, muss angesichts von Hebr 6,10 (vgl. hierzu u. 194–196) mehr als fraglich bleiben. Hier durchaus richtig F. Delitzsch, Hebr, 229, der im Blick auf das παραπίπτειν Hebr 6,6 von einer „Preisgabe der christlichen Wahrheit“ spricht; noch klarer F. Bleek, Hebr II/2, 188, der das παραπίπτειν als „Abfall von der erkannten und erfahrenen Wahrheit“ interpretiert. Zur Verknüpfung des Verbs παραπίπτειν mit dem Substantiv ἀλήθεια in der Profangräzität vgl. etwa Polybios XII 12,2. 671

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auch unzulässige Theologie angeeignet und womöglich auch schon selbst gelehrt haben, eine Entwicklung, die er als Abfall von Gott brandmarken zu können oder zu müssen meint. In diesem Sinne ist das παραπίπτειν Hebr 6,6a dann in der Tat als Preisgabe bzw. als Verweigerung des zuvor theoretisch-intellektuell erfassten Bekenntnisses „zum leidenden und gekreuzigten Jesus als ‚Sohn Gottes‘“ bzw. „Opposition gegen den Christus passus und sein Opfer“677 zu interpretieren678. Diese679 beschreibt der Verfasser des Hebr in Hebr 6,6b, hier seine Ausführungen in Hebr 6,6a erklärend und begründend680, als ein ἀνασταυροῦν681 und ein παραδειγματίζειν ἑαυτοῖς682; die des παραπίπτειν Schuldigen kreuzigen, „soweit es auf sie ankommt. und zu ihren eigenen Ungunsten“683, den Sohn Gottes und machen ihn damit zugleich684 zum Objekt ihrer (öffentlichen) Schmähungen685. Angesichts dieser Ergebnisse lässt sich der Impetus, den der auctor ad Hebraeos mit seiner Epistel verfolgt, durchaus mit demjenigen vergleichen, den Paulus in seinem Brief an die Galater an den Tag legt. Geht es dem Apostel darum, im Gal die – eher anthropologisch akzentuierte – These zu etablieren, dass „kein Mensch ... aus Werken des Gesetzes gerecht“686 wird, so stellt der Verfasser des Hebr die – dieser anthropologisch akzentuierten in ihrer christologischen Akzentuierung durchaus entsprechende – These in den Raum, dass sich eine Theologie ohne Christus bzw. ohne Chri-

Vgl. hierzu insgesamt o. 177f. Vgl. hierzu, wenn auch mit anderen Voraussetzungen, aber im Ergebnis durchaus zutreffend C. Spicq, Hebr II, 153: „Le contexte montre qu’il s’agit d’abord d’une ‚chute‘ d’ordre intellectuel, d’une faute volontaire ... contre la lumière ... et le Saint Esprit“. 679 Vgl. hierzu H.-F. Weiß, Hebr, 346: „Mit dem Abfall vom Glauben laden die Abtrünnigen die Schuld auf sich, ‚für sich (ἑαυτοῖς) den Sohn Gottes zu kreuzigen‘ und ihn (damit) ‚öffentlich zum Gespött zu machen‘“. 680 Zu Hebr 6,6b als Erläuterung und Begründung zu Hebr 6,6a vgl. etwa E. Gräßer, Hebr I, 355f.; vgl. auch E. Riggenbach, Hebr, 157f.: „Warum sich das [d.h. die Ausführungen in Hebr 6,6a] so verhält, erläutern die Participia ἀνασταυροῦντας und παραδειγματίζοντας, die schon ihrer Stellung wegen den 5 vorhergehenden nicht parallel sein können, wie sie sich auch durch das Fehlen des Artikels und durch das Tempus von ihnen unterscheiden“. 681 Insbesondere bei den Kirchenvätern und den Reformatoren wird dieser Terminus im Sinne eines πάλιν σταυροῦν interpretiert; vgl. hierzu und zugleich auch zur Problematik dieser Auslegung etwa E. Gräßer, Hebr I, 356 und H.-F. Weiß, Hebr, 346, A. 76. 682 Zu ἑαυτοῖς als dativus incommodi vgl. etwa H.-F. Weiß, Hebr, 346 und O. Michel, Hebr, 244. Anders hier H. Löhr, Umkehr, 209 und H.W. Attridge, Hebr, 171, A. 65, die ἑαυτοῖς als dativus auctoris interpretieren. 683 E. Riggenbach, Hebr, 158. 684 H. Windisch, Hebr, 51 interpretiert das diese beiden Partizipien verbindende καί als ‚Hendiadyoin‘; ähnlich auch H.-F.Weiß, Hebr, 346, A. 75.346: „Die Kreuzigung ist zugleich die öffentliche Schmähung des ‚Sohnes Gottes‘“. 685 Vgl. hierzu auch E. Riggenbach, Hebr, 158: „Wie sie [d.h. diejenigen, die des παραπίπτειν schuldig werden] sich damit unmittelbar an Christus vergreifen, so geben sie ihn auch der Welt öffentlich zur Beschimpfung preis“. 686 U. Schnelle, Einleitung, 129; vgl. insgesamt 129f. 677 678

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stologie ihres zentralen Inhalts und damit zugleich auch ihrer soteriologischen Implikationen beraubt, und dass diejenigen, die sich einer solchen Theologie verschreiben, ihren bereits erklommenen soteriologischen Status wieder verloren haben687.

Der in Hebr 6,4–6 explizierte Sachverhalt wird dann mit dem in Hebr 6,7f. dargelegten Gleichnis von der γῆ πιοῦσα τὸν ὑετόν688 im Sinne einer „allégorie explicative“689 erläutert und zugleich auch begründet690. In diesem Gleichnis, mit dem der Verfasser des Hebr auf die Situation der von ihm angeschriebenen Adressaten Bezug nehmen wollte691, stellt er ihnen zwei unterschiedliche ‚Reaktionsweisen‘692 dieser γῆ πιοῦσα τὸν ὑετόν und deren jeweilige Folgen vor Augen. Wenn die Erde, auf die oft der Regen fällt, nützliche Frucht bringt, empfängt sie εὐλογία693 von Gott, wenn sie stattdessen aber nur Dornen und Disteln trägt, bringt sie keinen Nutzen694 und ist dem Fluch und dem Abbrennen695 nahe696. Im Kontext der Ausführungen von Hebr 6,4–6 dürfte zunächst kaum zweifelhaft sein, dass der Verfasser des Hebr mit seiner Wendung γῆ πιοῦσα τὸν ἐπ’ αὐτῆς ἐρχόμενον πολλάκις ὑετόν auf die Menschen abheben wollte697, denen der ὑετός,

Vgl. hierzu o. passim. Zur weiten Verbreitung des in Hebr 6,7f. verwendeten Bildmaterials in jüdischer, christlicher und paganer Literatur vgl. etwa H.W. Attridge, Hebr, 172. 689 C. Spicq, Hebr II, 154. 690 Vgl. hierzu etwa E. Gräßer, Hebr I, 357. Ähnlich auch W.L. Lane, Hebr I, 143: „The presence of γάρ, ‚for,‘ establishes that vv 7–8 are an integral part of the argument in vv 4–6“. Etwas anders hier H.-F. Weiß, Hebr, 352, der Hebr 6,7f. als an die Argumentation Hebr 6,4f. anschließende und diese weiterführende Gerichtsparänese interpretiert; ähnlich hier O. Michel, Hebr, 245: „Der Fortschritt des Gleichnisses über den Lehrsatz [Hebr] 6,4–6 hinaus liegt in der eschatologischen Wendung: Gott zieht das ‚Land‘ zur Verantwortung. Das Gleichnis is also nicht nur ‚Erläuterung‘, sondern selbständige Weiterführung des Gedankens: die Gemeinde hat über den reichen Segen Verantwortung abzulegen“. 691 Vgl. hierzu etwa E. Gräßer, Hebr I, 358: Der Verfasser des Hebr „will ja die Gemeindesituation beleuchten“. 692 Diese beiden ‚Reaktionsweisen‘ stehen nicht in einem zeitlichen Verhältnis zueinander; vgl. hierzu H. Löhr, Umkehr, 218. 693 H. Braun, Hebr, 175 deutet den Terminus εὐλογία auf das von Gott zugesagte „Ererben der Verheißung“. Ähnlich auch H.-F. Weiß, Hebr, 353, A. 99, der das mit εὐλογία Bezeichnete von dem Ertrag des bearbeiteten Landes unterscheidet; vgl. hierzu auch H. Löhr, Umkehr, 218. 694 Zu ἀδόκιμος im Sinne von „unbewährt“ bzw. „unbrauchbar“ vgl. H. Braun, Hebr, 176. 695 Zum Bezug des Relativpronomens ἧς auf das Substantiv γῆ vgl. etwa H. Löhr, Umkehr, 219: „Das durch Dornen und Disteln verdorbene Land ... wird abgeflämmt“. Anders hier etwa H. Braun, Hebr, 175 und E. Gräßer, Hebr I, 362. 696 Zu den auf das endzeitliche Gericht Gottes zu beziehenden Implikationen von Hebr 6,8b vgl. etwa E. Riggenbach, Hebr, 160. 697 Vgl. hierzu H. Braun, Hebr, 173: „Die Erde dürstet .... Darum trinkt sie, wie die Hörer [Hebr 6,] V 4f“; ähnlich an dieser Stelle auch H. Hegermann, Hebr, 134, der in diesem Zusammenhang auf das Partizip γευσάμενος Hebr 6,4f. verweist. 687 688

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d.h. die zentralen christologischen und soteriologischen Wahrheiten des christlichen Glaubens698, von Himmel her, d.h. von Gott699 wiederholt700 vor Augen geführt geworden ist. Zahlreiche altkirchliche und mittelalterliche Ausleger beziehen den ὑετός, den die Erde trinkt, auf die christliche Lehre, die denen, die Christen geworden sind, des öfteren dargelegt worden ist, ohne allerdings auf den Aspekt ihrer himmlischen Herkunft hinzuweisen. Als Beispiel seien hier die Ausführungen des Johannes von Damaskos angeführt: Ὑετὸν, τὴν διδασκαλίαν, φησίν, ὡς καὶ ἑτέρωθι· Ἐντελοῦμαι γὰρ ταῖς νεφέλαις, τὸ μὴ βρέξαι εἰς αὐτὸν ὑετόν. Ἐνταῦθα δηλοῖ, ὅτι ἐδέξαντο, καὶ συνέπιον τὸν λόγον, καὶ οὐδὲ οὕτως ἀπώναντο, μικροψυχοῦντες ἐν τοῖς πειρασμοῖς701. Damit stützen diese Kommentatoren mittelbar die o.702 entwickelte Interpretation, der zufolge es sich bei dem christlichen φωτισμός zumindest in den Augen des Verfassers des Hebr gerade auch um die intellektuell-theoretische Erkenntnis der zentralen christlichen Heilswahrheiten handelt. Die bereits von F. Bleek demgegenüber formulierte Kritik, die patristischen Ausleger hätten den ὑετός Hebr 6,7 „zu einseitig ... auf die Lehre bezogen“703, vermag angesichts der unmittelbar zuvor vorgetragenen Ausführungen in Hebr 5,11ff.; 6,1ff.704, die eine umfassendere Deutung dieses Terminus etwa im Sinne von „geistlichen Gaben“705 gerade nicht nahelegen, kaum zu verfangen.

In der Forschung umstritten ist die Frage, wen der Verfasser des Hebr mit den ἐκεῖνοι δι’ οὓς καὶ γεωργεῖται bezeichnen wollte. Folgende Lösungen werden diskutiert: (a) Angesichts der an diesem Punkt vorliegenden Interpretationsprobleme wird erwogen, dass der Verfasser des Hebr „möglicherweise ... gar nicht alle Züge des Gleichnisses allegorisch ausgedeutet wissen“706 wollte. Dann aber bleibt zu fragen, warum er den Passus ἐκείνοις δι’ οὓς καὶ γεωργεῖται Hebr 6,7c,

Vgl. hierzu o. 125f. Instruktiv ist hier ein Blick auf den von zahlreichen Kommentatoren angeführten Beleg Dtn 11,11: ἐκ τοῦ ὑετοῦ τοῦ οὐρανοῦ πίεται ὕδωρ; vgl. hierzu auch W.L. Lane, Hebr I, 143: „The recital of the blessings and advantages enjoyed by the community in [Hebr 6,] vv 4–5 demonstrates that they are like land that receives frequent rain and is cared for by God“; ähnlich auch C.R. Koester, Hebr, 315: „Rain cannot be created by human agency; it can only be a gift from heaven“. 700 Zu dem mit der Verwendung des Adverbs πολλάκις implizierten Aspekt der Wiederholung vgl. etwa Johannes Chrysostomos, epistulae ad Hebraeos X 102 (PG LXIII 84,8–10); weitere Belege bei F. Bleek, Hebr II/2, 202. 701 Commentarii in epistulas Pauli VC 953,43–47 (Text nach R. Volk, Commentarii, 495); weitere Belege bei F. Bleek, Hebr II/2, 202 und auch bei H. Braun, Hebr, 173. 702 Vgl. hierzu o. 181f. 703 Hebr II/2, 202; vgl. hierzu ähnlich auch H. Braun, Hebr, 173: „Regen, der deshalb aber nicht speziell auf die Lehre ... allegorisiert werden darf“. 704 Vgl. hierzu die Auslegung o. 66–126.161–176. 705 H. Braun, Hebr, 173; ähnlich auch E. Riggenbach, Hebr, 160. 706 E. Gräßer, Hebr, 360; ähnlich auch H. Löhr, Umkehr, 217: „Andererseits aber ist eine jeden Einzelzug allegorisch deutende Interpretation ... nicht möglich, so daß man gut daran tut, vorsichtig von ‚gleichnishafter Rede‘ zu sprechen“. 698 699

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wenn er für ihn in seiner Argumentation bedeutungslos wäre, denn überhaupt formuliert bzw. nicht einfach weggelassen hat707. (b) Mit den ἐκεῖνοι seien Gott und Christus gemeint708. Gegen diese These spricht, dass in Hebr 6,7d Gott explizit als derjenige benannt wird, der das Hervorbringen guter Frucht mit der Gewährung seiner εὐλογία vergilt. Als jemand, dem diese vergeltende bzw. strafende (Hebr 6,8) Funktion zukommt, ist er dann aber deutlich von den zuvor benannten Nutznießern der βοτάνη εὔθετος, den doch offensichtlich menschlichen γεωργοί (Hebr 6,7b.c), denen eine solche Funktion kaum zugebilligt werden darf, zu unterscheiden709. (c) Der These, mit den ἐκεῖνοι wolle der Verfasser des Hebr die Menschheit insgesamt bezeichnen710, widerrät, dass dann nicht mehr erklärt werden kann, auf welche von den ἐκεῖνοι zu unterscheidende Personengruppe er mit dem Begriff γῆ hätte abheben wollen. (d) Schließlich werden die ἐκεῖνοι, zunächst gleichnisimmanent, auf Großgrundbesitzer711, allegorisch dann auf die „Lehrer des Evangeliums“712 gedeutet. Diese Interpretation vermag zunächst den gegen die anderen Deutungsversuche vorgebrachten Einwänden zu entgehen: Alle Züge des Gleichnisses können plausibel ausgelegt werden, die ἐκεῖνοι sind sowohl von Gott (Hebr 6,7d) als auch von der unter dem Begriff γῆ (Hebr 6,7a) subsumierten Personengruppe unterschieden. Für die Deutung der ἐκεῖνοι auf Prediger oder theologische Lehrer spricht, dass sich, wenn sie vorausgesetzt wird, eine sachliche Parallelität zwischen dem ersten, in Hebr 6,7 vorliegenden Teil des Gleichnisses und den Darlegungen in Hebr 6,4f. konstatieren lässt: Dort nämlich beschreibt der Verfasser des Hebr den φωτισμός der Christen als das Ergebnis des Zusammenwirkens göttlichen und menschlichen Wirkens, des πνεῦμα ἅγιον als des göttlichen Offenbarers auf der einen und von Menschen geleisteter Verkündigung des εὐαγγέλιον auf der anderen Seite713, hier stellt das Fruchtbringen das Resultat des Zusammenwirkens

Vgl. hierzu m.R. F. Bleek, Hebr II/2, 205: „Wenn er [d.h. der Verfasser des Hebr] überhaupt die einzelnen Züge des Gleichnisses auch in Beziehung auf die Sache hat urgirt wissen wollen, wie allerdings sehr wahrscheinlich ist, ...“. 708 So etwa E. Gräßer, Hebr I, 360, C.R. Koester, Hebr, 316 und F. Bleek, Hebr II/2, 205. 709 Vgl. hierzu m.R. H. Braun, Hebr, 174, der diese These für eine „überzogene Allegorisierung“ des Gleichnisses hält. 710 Vgl. hierzu C. Spicq, Hebr II, 155: „..., mais la pensée est que les bienfaits divins sont ordonnés au bénéfice de l’homme, et qu’ils se multiplient en fonction de sa fidélité“. 711 Vgl. hierzu H. Braun, Hebr, 174; dabei verweist Braun insbesondere auf die Verwendung der Kopula καί in Hebr 6,7c. 712 E. Gräßer, Hebr I, 360, der diese Möglichkeit aber verwirft; Gräßer verweist in diesem Zusammenhang aber auf einen entsprechenden Hinweis des Theophylaktos (vgl. 360, A. 103). 713 Vgl. hierzu o. 177–186. 707

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des von Gott gesandten714 vom Himmel fallenden Regens (Hebr 6,7a) und der Bebauung durch menschliche γεωργοί (Hebr 6,7b.c) dar715. F. Bleek kritisiert den Bezug der Phrase ἐκεῖνοι δι’ οὓς καὶ γεωργεῖται auf menschliche Prediger oder Lehrer mit dem Hinweis auf die Aussage in Hebr 6,7c und die dort augenscheinlich formulierte Zwecksetzung der Bearbeitung des Landes: Prediger oder theologische Lehrer könnten mit den ἐκεῖνοι δι’ οὓς καὶ γεωργεῖται nicht gemeint sein, „da die menschlichen Lehrer ja nicht als solche dürfen betrachtet werden, um derentwillen von ihnen selbst der ihnen zur Bearbeitung anvertraute Boden bebaut werde“716. Die Wendung δι’ οὓς Hebr 6,7c lässt sich indessen unterschiedlich interpretieren. Einerseits ist es möglich, sie wie F. Bleek als Angabe des Grundes oder des Zwecks zu deuten717, andererseits kann mit ihr im Sinne der Beschreibung eines Kausalverhältnisses auf die Personen abgehoben werden, durch deren Verdienst bzw. durch die etwas geschieht718. Hebr 6,7c kann also entweder im Sinne von „um derentwillen sie, d.h. die Erde, bebaut wird“719, oder aber: „durch deren Verdienst bzw. durch die sie, d.h. die Erde, bebaut wird“720, übersetzt werden. Wird die zweite, in der exegetischen Literatur allerdings kaum erwogene Interpretationsmöglichkeit angenommen, entfällt der von Bleek vorgetragene Einwand.

Fazit: Wird nun dieser hier in Hebr 6,4–6.7f. formulierte Begründungszusammenhang mit den vom Verfasser des Hebr unmittelbar vorangestellten Ausführungen Hebr 5,11–14; 6,1–3721 verknüpft, so ergeben sich im Blick auf die Situation der Adressaten des Hebr, so wie dieser sie wahrnimmt, zwei Aspekte: (a) Die Adressaten des Hebr haben das in Hebr 6,6 angedeutete παραπίπτειν vom Christentum zumindest in den Augen des auctor ad Hebraeos bereits vollzogen722. Nur Vgl. hierzu o. 189f. Absolut treffend hier C. Spicq, Hebr II, 155, der formuliert: „Cette coopération du travail de l’homme au don de Dieu n’est mentionnée qu’en fonction d’un résultat heureux“. Auch E. Gräßer scheint diesen Kooperationsgedanken aufzunehmen, wenn er im Blick auf die Ursachen des Fruchtbringens formuliert: „Daß nebenher der Landmann das Seine getan hat, versteht sich von selbst“ (Hebr I, 368). Nun aber in dem Partizip πιοῦσα einen Reflex auf diese ergänzende menschliche Tätigkeit zu sehen, geht m.E. am Text vorbei. 716 Hebr II/2, 205. 717 Vgl. hierzu F. Blaß/A. Debrunner/F. Rehkopf, Grammatik, § 223, 180. 718 Vgl. hierzu ebenfalls F. Blaß/A. Debrunner/F. Rehkopf, Grammatik, § 223, 180 mit Verweis etwa auf Joh 6,57 und Röm 8,20. 719 So die große Mehrheit der Kommentatoren; vgl. hierzu etwa H. Braun, Hebr, 173 und H.F. Weiß, Hebr, 330. 720 Vgl. hierzu auch W. Bauer/B. Aland, Wörterbuch, s.v. διά, 363: „statt c. gen. zur Angabe d. wirksamen Ursache“. 721 Vgl. hierzu o. 66–126.161–176. 722 Durchaus in diesem Sinne, wenn auch aufgrund seiner Interpretation der gesamten Perikope Hebr 5,11–6,12(.20) deutlich anders akzentuiert H. Braun, Hebr, 181, der mit Blick auf Hebr 6,12 formuliert: „Hier ist Trägheit noch bevorstehende Gefahr, in [Hebr] 5,11 ist Hörträgheit bereits eingetreten“. Anders hier etwa H.-F. Weiß, Hebr, 345: „Nicht den in dieser Hinsicht bereits eingetretenen Kasus [des Abfalls] auf seiten der Adressaten hat der Autor dabei im Blick; vielmehr will er die Adressaten auf diese Weise mit allem Nachdruck auf die ihnen in ihrer Glaubensschwäche drohende Gefahr aufmerksam machen“, und H.W. Attridge, Hebr, 171: „Yet the fate of the apostate is something that they ought not forget. It is a warning that should 714 715

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so ist nämlich erklärlich, dass der Verfasser des Hebr die vorherige permissio Dei (Hebr 6,3) als offensichtlich zwingend erforderlich deklariert, damit seine nun folgenden Ausführungen bei seinen Adressaten denn überhaupt etwas ausrichten können. Diejenigen Exegeten, die den Argumentationszusammenhang Hebr 6,4–6 lediglich als „Wort der Mahnung“723 interpretieren724, verkennen die zentrale Bedeutung von Hebr 6,3 im Zusammenhang der Argumentation des „metakommunikativen Zwischenstücks“ Hebr 5,11–6,20 insgesamt und den engen Kausalnexus zwischen Hebr 6,3 und Hebr 6,4–6725 (b) Das παραπίπτειν der Adressaten des Hebr vom Christentum steht in Zusammenhang mit ihrer Unwilligkeit, auf Verkündigung und Belehrung von anderer Seite zu hören, auf die der Verfasser des Hebr in Hebr 5,11b zu sprechen gekommen ist726. Augenscheinlich haben diese die ihnen zuteil gewordene Unterweisung und die ihnen in derselben – vom auctor ad Hebraeos selbst727 – vermittelten theologisch-theoretischen728 Lehrinhalte zunächst wohl korrekt rezipiert, sich dann aber, anstelle diese in weiteren Studien weiterzuentwickeln und zu vertiefen, in so erheblichem Maße von diesen entfernt und dieses theologisch-theoretische Fundament ihres Christseins so weit aus den Augen verloren, dass sie in den Augen des Verfassers des Hebr letzten Endes als solche gelten

remind them of the seriousness of their situation and the importance of renewing their commitment“. Anders hier auch M. Karrer, Hebr II, 224f., der im Blick auf Hebr 10,26–31 (vgl. hierzu und zum inklusiven Verhältnis von Hebr 6,4–8 zu Hebr 10,26–31 u. 225–229) formuliert: „Wie in 6,4–8 spielen unsere V[erse] daraufhin die unmögliche Möglichkeit [!] durch, in der Gemeinde aus der Wahrheit Gottes heraus zu fallen. Das träte ein, erfahren wir, wenn jemand freiwillig-vorsätzlich ... sündigt“. Warum der auctor ad Hebraeos in Hebr 10,26–31 oder aber in Hebr 6,4–8 eine unmögliche Möglichkeit thematisieren sollte, wird allerdings aus dem Text selbst heraus nicht ersichtlich. Träfe dies zu, wäre nämlich zu fragen, warum jener seine Adressaten in Hebr 5,11–6,12 überhaupt in einer derartig scharfen Weise attackiert. 723 H. Hegermann, Hebr, 133; vgl. hierzu auch H.-F. Weiß, Hebr, 348, der im Blick auf Hebr 6,4–6 formuliert: „Um Mahnung an potentielle Apostaten geht es hier“. 724 So etwa H. Windisch, Hebr, 56: „Verfasser ist indes zu seiner und der Leser Beruhigung überzeugt, daß der in [Hebr 6,] 4–8 angenommene Falle keineswegs aktuell ist: nur der günstige, zum Heil führende Prozeß hat bei ihr statt“; ähnlich auch H.-F. Weiß, Hebr, 345: „Nicht den in dieser Hinsicht bereits eingetretenen Kasus auf seiten der Adressaten hat der Autor dabei im Blick; vielmehr will er die Adressaten auf diese Weise mit allem Nachdruck auf die ihnen in ihrer Glaubensschwäche drohende Gefahr aufmerksam machen“ (vgl. bereits o.). 725 Zu letzterem vgl. etwa W.L. Lane, Hebr I, 141: „The reason for the writer’s resolve in v 3 becomes clear when it is linked to the warning in vv 4–6 by the conjunction γάρ“. Die Schlussfolgerung Lanes: „The rich experience of the community provides the basis for the writer’s confidence that he can proceed to develop his exposition of the high priestly office of Christ“, geht allerdings in die falsche Richtung und ist durch den Text des Hebr auch nicht gedeckt. 726 Diesen Zusammenhang sieht H.W. Attridge, Hebr, 171: „Apostasy is where their ‚sluggishness‘ could lead“. 727 Vgl. zu dessen möglicher Position als dem Schulhaupt einer philosophischen oder theologischen Schule o. 116–118. 728 Vgl. zu diesem Begriff bereits ausführlich o. 127–129.

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müssen, die eine unzulängliche bzw. unzulässige Theologie vertreten und propagieren, die von Gott abgefallen sind und das Bekenntnis „zum leidenden und gekreuzigten Jesus als ‚Sohn Gottes‘“729 preisgegeben haben730. Gerade auch vor dem Hintergrund der Interpretation des παραπίπτειν Hebr 6,6 als der nunmehrigen Negation der zuvor theoretisch-intellektuell erkannten und als ἀλήθεια anerkannten zentralen christologischen und soteriologischen Lehrinhalte vermag die in Hebr 6,4a als kategorisch charakterisierte Unmöglichkeit eines πάλιν ἀνακαινίζειν εἰς μετάνοιαν731 auch sachlich-objektiv durchaus einen guten Sinn zu machen: Wie soll es jemandem, der in der Vergangenheit bestimmte Inhalte als Wahrheit erkannt und anerkannt hat, diese aber in der Gegenwart negiert, möglich sein, diese Inhalte dann in einer nochmaligen Sinnesänderung732 wieder erneut für sich als wahrhaftig anzunehmen und zu akzeptieren? In Hebr 6,9f. geht der Verfasser in seiner Argumentation dann allerdings einen – diese zuvor geäußerte feste Überzeugung relativierenden – Schritt weiter und verleiht seiner Überzeugung733 Ausdruck, dass die von ihm angeschriebenen Christen dem zuvor Gesagten entgegen734 aber in einer deutlich günstigeren735,

Vgl. hierzu o. 177f; zu unpräzise hier C.R. Koester, Hebr, 315: „The context speaks of falling away from light, from the Spirit, from the word of God, and from the powers of the age to come. Falling away after receiving God’s gifts is like ground producing thorns and thistles after it has been blessed with rain from God .... Falling away from God means falling into sin“. 730 Vgl. hierzu durchaus m.R. D.A. DeSilva, Hebr, 228: „Rather, they would understand that such an affront to God as their patron would result in their exclusion from future favor (starting with the favor of a return to favor). Dishonoring the Son, they should expect to find themselves among the ‘enemies’ whose subjection is awaited“. 731 Vgl. hierzu o. 177f. 732 Zu μετάνοια im Sinne von „Sinnesänderung“ vgl. etwa W. Bauer/B. Aland, Wörterbuch, s.v. μετάνοια, 1037. 733 Vgl. hierzu H. Hegermann, Hebr, 135, der im Blick auf das hier verwendete Prädikat πεπείσμεθα von einer „starke[n] Gewißheit“ des Verfassers des Hebr spricht. 734 H.-F. Weiß, Hebr, 353 weist auf die starke Akzentuierung und den kontrastierenden Charakter der Partikel δέ, mit der Hebr 6,9 eingeleitet wird, hin: „Obwohl es nach dem vorangehenden Zusammenhang ([Hebr] 6,4–8) beinahe so erscheinen mag, daß die Adressaten ganz unmittelbar vor dem endgültigen Abfall vom Glauben stehen, ist der Autor nunmehr im Blick auf denselben Adressatenkreis doch wiederum ‚vom Besseren und dem (somit) dem Heil Dienlichen‘ überzeugt“. 735 In dieser Deutung wird der Komparativ τὰ κρείσσονα auf die zuvor (Hebr 6,8) formulierte Androhung der Verfluchung bezogen; vgl. hierzu H. Braun, Hebr, 178: „Er [d.h. der Verfasser des Hebr] vergleicht den günstigeren Fall des Heils mit dem Fluch“ und D.G. Peterson, Situation, 20f. Anders hier C. Spicq, Hebr II, 157, der in der Wendung τὰ κρείσσονα einen Rückbezug auf Hebr 6,1 und auf die dort formulierte Vermittlung der τελειότης sieht: „Aussi certains commentateurs ... ont-ils entendu les κρείσσονα de la doctrine plus élevée qu’il va leur proposer et qui est la condition du progrès spirituel, ‚tendant au salut‘. Ce serait la reprise du v. 1: Vous êtes zélés pour la charité, soyez-le aussi pour la théologie, et dans ce but: approfondissez l’objet de votre espérance“. 729

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das Heil einschließenden736 Lage sind737, weil738 Gott nicht ungerecht ist und das Werk der Adressaten des Hebr und deren Liebe, die sie in Vergangenheit und Gegenwart seinem Namen erwiesen haben und erweisen739, nicht vergisst740. In diesem Sinne beschreiben die Ausführungen in Hebr 6,9f. die Erfüllung des in Hebr 6,3 formulierten Vorbehalts, dem zufolge die vom Verfasser des Hebr intendierte Vermittlung der τελειότης nur gelingen kann, ἐάνπερ ἐπιτρέπῃ ὁ θεός741. Gott selbst aber wird, eben weil er nicht ungerecht ist, diesen Vorbehalt erfüllen und somit die beabsichtigte und eigentlich nicht mehr mögliche (Hebr 6,4–6) Vermittlung der τελειότης ermöglichen742. Dem Verfasser des Hebr geht es also mit dem in Hebr 6,9f. Dargelegten nicht darum, seiner Überzeugung Ausdruck zu verleihen, „daß der in [Hebr 6,] 4–8 angenommene Fall in der Gemeinde keineswegs aktuell ist“743, sondern vielmehr darum, deutlich zu machen, dass Zu der Wendung ἐχόμενα σωτερίας vgl. H. Braun, Hebr, 178: „Hier von der günstigeren Möglichkeit, die zum Heil führt“; vgl. ähnlich auch E. Gräßer, Hebr I, 364 und H. Windisch, Hebr, 56. 737 Hierzu etwa H. Braun, Hebr, 177, der übersetzt: „Wir sind aber im Blick auf euch, Geliebte, von der günstigeren und das Heil einschließenden Möglichkeit überzeugt, wenn wir auch so reden“. Ähnlich auch G. Schunack, Heb, 82, der die Adressaten des Hebr in „einer besseren, weil dem Heil verbundenen Lage“ sieht. Zum Zusammenhang der Wendungen τὰ κρείσσονα und ἐχόμενα σωτερίας vgl. E. Gräßer, Hebr I, 363: „In die bessere Möglichkeit ist der Heilserwerb eingeschlossen“. 738 Vgl. hierzu H. Windisch, Hebr, 57: „Die Zuversicht gründet sich auf die bisherigen Leistungen der Gemeinde und auf das Vertrauen zu Gott“. 739 Vgl. hierzu H.W. Attridge, Hebr, 174, der darauf hinweist, dass die Vergangenheit der im Hebr angeschriebenen Christen durch die Praxis des „loving service“ gekennzeichnet wird. Zu der in Hebr 6,10b explizierten Konkretion vgl. A. Strobel, Hebr, 140: „Der Satz deutet vielmehr auf eine außerordentliche Unterstützung hin, die die Gemeinde geleistet hat, um einer auswärtigen Gruppe ... zu helfen“ und E. Gräßer, Hebr I, 365: „Als Dienst an den Heiligen ist das Liebeswerk zugleich Zuwendung zu Gott“. 740 Vgl. zur Aussageabsicht von Hebr 6,9f. insgesamt bereits o. 89; vgl. darüber hinaus etwa G. Schunack, Hebr, 82: „In [Hebr 6,] V. 9 ändert sich der Ton; der Verf.[asser] gibt parakletisch werbend seiner Überzeugung Ausdruck, dass die Adressaten nicht dem endgültigen Missverhältnis zum eigenen Christsein verfallen, sondern in einer besseren, weil dem Heil verbundenen Lage sind. Diese etwas unbestimmte Formulierung wird V. 10 sogleich verdeutlicht und aktuell konkretisiert“. 741 Vgl. hierzu o. 175. 742 Vgl. hierzu H. Braun, Hebr, 163: „Gottes ἐπιτρέπειν sieht der Verf[asser] aus dem Wandel der Hörer [Hebr] 6,10“. Zu allgemein hier E. Riggenbach, Hebr, 161: „Weil die Leser wirkliche Hingabe an Gott bekundet haben, so übt Gott Geduld mit ihnen und gibt ihnen trotz der Ermattung ihres Glaubens und ihrer Hoffnung Zeit und Gelegenheit, sich wieder aufzuraffen, statt ihnen das Heil abzuschneiden“. 743 H. Windisch, Hebr, 56. In gleicher Weise etwa auch F.F. Bruce, Hebr, 150: „Our author makes haste to reassure his readers, after his words of solemn warning: he does not believe that there are apostates, or even potential apostates, among them“. Diese Auslegung von Hebr 6,9f. übersieht die Stellung von Hebr 6,3b im Rahmen des gesamten Argumentationsduktus des „metakommunikativen Zwischenstücks“ (vgl. hierzu o. 66) Hebr 5,11–6,20 und ist auch durch den Hinweis darauf, daß die Adressaten des Hebr nur hier in Hebr 6,9 als ἀγαπητοί angeredet 736

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das in Hebr 6,4–6 beschriebene Prinzip auch im Blick auf seine Adressaten grundsätzlich gilt, aber von Gott selbst, motiviert durch deren praktizierte Liebe, in seiner Gerechtigkeit gleichsam ausgesetzt wird744. Im Anschluss an diese Überlegungen bringt der Verfasser des Hebr in Hebr 6,11f. dann das „leidenschaftliche Verlangen“745 zum Ausdruck, dass jeder der mit diesem Brief Angeschriebenen die gleiche, dem Eifer ihrer Liebestätigkeiten entsprechende σπουδή746 erzeige πρὸς τὴν φληροφορίαν τῆς ἐλπίδος ἄχρι τέλους747 (Hebr 6,11), damit sie nicht νωθροί werden, im Gegensatz dazu aber μιμηταί748 derer, die durch πίστις καὶ μακροθυμία749 die Verheißungen ererben (Hebr 6,12). In der exegetischen Forschung wird die Frage nach den semantischen Implikationen des Begriffs πληροφορία Hebr 6,11 kontrovers diskutiert. Strittig ist, ob er hier material-objektiv im Sinne von „Fülle“ bzw. „Vollständigkeit“ oder aber eher formal-subjektiv im Sinne von „Gewissheit“ bzw. „volle Überzeugung“ zu verstehen ist750. Fraglich ist also, ob der Verfasser des Hebr seine Adressaten hier in Hebr 6,11 auffordert, daran zu arbeiten, die „Intensität ihrer Hoffnungsgewißheit“751 zu steigern oder aber die Inhalte der christlichen ἐλπίς umfassender als bisher zu erfassen. Damit aber hängt unmittelbar die Frage nach dem Verständnis des hier in Hebr 6,11 mit dem Terminus πληροφορία verknüpften

werden, nicht zu rechtfertigen. Anders hier etwa H. Braun, Hebr, 178, der diese Anrede als „Milderung nach den Drohworten“ interpretiert. 744 Durchaus richtig hier O. Michel, Hebr, 249: „Es gibt Anzeichen, die darauf deuten, daß Gott die Gemeinde noch nicht aufgegeben hat“. 745 Zu dieser Deutung des Begriffs ἐπιθυμεῖν vgl. E. Gräßer, Hebr I, 366. 746 Vgl. hierzu G. Schunack, Hebr, 82: „Dass jeder Einzelne von ihnen [d.h. den Adressaten des Hebr] in dieser Weise sein Christsein vertiefe und sich dessen vergewissere – der Terminus spoudê (Bildungseifer) reflektiert nochmals jenes in [Hebr] 5,12ff. herangezogene Anwendungsfeld des Topos ‚Milch – feste Speise‘–, ...“. Zu der Wendung ἡ αὐτὴ σπουδή vgl. H.W. Attridge, Hebr, 175: „The adressees are urged to display the same ‚zeal‘ ... as they had in the past. The repetition of the verb from the preceding verse reinforces the adjective ‚same‘ and indicates that the zeal demanded is that of loving service “. Ähnlich F.F. Bruce, Hebr, 151: „But let them go on as they have begun. Our author’s insistence on the grace of continuance appears again as he assures them of his affectionate longing that they should go on exhibiting the same zeal as marked them in the beginning, until the final and full realization of their hope“. 747 Nach H. Braun, Hebr, 97 hat der Verfasser des Hebr mit dem τέλος „das Eschaton mit der Parusie“ im Blick. 748 Zu dem hier u.a. mit dem Begriff der μίμησις explizierten Gedanken einer imitatio fidei vgl. H.-F. Weiß, Hebr, Vgl. 357 mit A. 115. Nach W.L. Lane, Hebr I, 144f. weist der Verfasser des Hebr mit diesem Stichwort auf Hebr 6,13–20 und das dort Erörterte voraus. Zur Verankerung dieses Terminus in der griechisch-hellenistischen Ethik vgl. u.a. E. Gräßer, Hebr I, 369f.; Gräßer zufolge sind die Termini μίμησις und πίστις im Hebr als identische zu verstehen (370). 749 H.W. Attridge, Hebr, 176 sieht in der Wendung πίστεως καὶ μακροθυμίας Hebr 6,12 ein Hendiadyoin. 750 Zu dieser Alternative vgl. etwa E. Gräßer, Hebr I, 368 und H. Hübner, Art. πληροφορέω κτλ., in: EWNT² III, 254f. 751 E. Gräßer, Hebr I, 368.

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Begriffs ἐλπίς752 zusammen; ist dieser – wiederum – subjektiv im Sinne einer persönlichen Haltung753 oder aber „stark objektiv ... in Richtung auf das Hoffnungsgut [selbst]“754 zu fassen? Zugunsten der formalen bzw. subjektiven Deutung des πληροφορία-Begriffs wird etwa von E. Gräßer auf die Aussagen in Hebr 6,12 und vor allem in 6,13–15 verwiesen. Mit den in diesen Versen vorliegenden Ausführungen zielte der Verfasser des Hebr darauf ab, „das geduldige Ausharren [seiner Adressaten] zu stärken“755; daher sei der Begriff in Hebr 6,11 eben in diesem Sinne mit „Gewißheit, volle Überzeugung“756 wiederzugeben. Dies ist jedoch keinesfalls überzeugend, eröffnet doch die Hebr 6,12 einleitende finale Konjunktion ἵνα durchaus den Spielraum zugunsten einer materialen Interpretation des πληροφορία-Begriffs Hebr 6,11; das in Hebr 6,12.13ff. thematisierte „geduldige Ausharren“ der Adressaten stellte dann das Ziel bzw. die subjektive Konsequenz des (zuvor erfolgten) vollständigen und umfassenden Erfassens der objektiven Inhalte der christlichen ἐλπίς dar. Darüber hinaus wird die material-objektive Interpretation des Terminus πληροφορία in Hebr 6,11 durch die Ausführungen, die der Verfasser des Hebr in Hebr 5,11–14; 6,1–3 an seine Adressaten richtet, gestützt: Jenen, die insbesondere in Hebr 5,11–14 wegen ihrer fehlenden Bereitschaft, auf Predigt und Unterweisung zu hören, getadelt werden757, sind in Hebr 1–5 zunächst die grundlegenden christologischen Lehrinhalte nahegebracht worden, an die sich nun im Folgenden die Vermittlung der τελειότης, der weiterführenden und dementsprechend auch komplexeren Aspekte der Christologie anschließt758. Auf diesem Hintergrund macht es einen guten Sinn, den in Hebr 6,11 eingeforderten Eifer zur πληροφορία im Sinne des Strebens nach Fülle bzw. Vollständigkeit der christlichen ἐλπίς zu verstehen. Darüber hinaus ist letzten Endes aber zu fragen, ob Zur Synonymität dieses Begriffs mit dem Terminus πίστις vgl. neben anderen etwa H.-F. Weiß, Hebr, 355 unter Hinweis auf Hebr 10,22: „Das für den Hebr entscheidende Stichwort ἐλπίς steht ... ganz im Sinne von πίστις, und in [Hebr] 10,22 kann dementsprechend analog zur πληροφορία ἐλπίδος ... von der πληροφορία πίστεως die Rede sein“. Zur Parallelität dieser beiden Termini vgl. auch O. Michel, Hebr, 249f.: „Soll jeder auch in Zukunft sich am Werk der Liebe, das gleichzeitig ein Werk der Hoffnung ist, beteiligen? ... Diese Frage führt tiefer in den Sinn des ganzen Abschnittes hinein: man wird fragen müssen, ob die genannten Begriffe wie Liebe, Hoffnung und Glaube eigene, selbständige Bedeutung haben oder ob sie nur verschiedenen Kennzeichen des gleichen Christenstandes sind. Die Antwort kann nicht zweifelhaft sein: Hebr fordert in den verschiedenen Begriffen dieselbe Entscheidung des Glaubens, will also nicht eine Unterschiedlichkeit der Begriffe betonen“. 753 Vgl. hierzu etwa H.-F. Weiß, Hebr, 355, der die Begriffskonstruktion πληροφορία τῆς ἐλπίδος als „volle Bewährung der (subjektiven!) Hoffnung“ interpretieren möchte. 754 O. Michel, Hebr, 250. 755 Hebr I, 368. 756 E. Gräßer, Hebr I, 368. 757 Vgl. hierzu o. 66–126. 758 Vgl. hierzu o. 176. 752

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diese in der exegetischen Literatur aufgezeigte Gegenüberstellung zwischen einer materialen und einer formalen bzw. einer objektiven und einer subjektiven Interpretation des πληροφορία-Begriffs nicht im Grunde eine Scheinalternative darstellt: Schließlich kann doch im Blick auf die ἐλπίς „Gewissheit“ bzw. „volle Überzeugung“ nur derjenige gewinnen, der sie zuvor in ihrer Fülle durchdrungen bzw. vollständig entfaltet und inhaltlich erfasst hat759. Für die Deutung von Hebr 6,11 heißt dies: Der Verfasser des Hebr fordert seine Adressaten in Hebr 6,11 auf, danach zu streben, die christliche ἐλπίς zu dem Zweck vollen Überzeugtseins und völliger Gewissheit in ihrer Fülle und Vollständigkeit zu erfassen. Dieses Verständnis von Hebr 6,11 lässt erkennen, dass der Verfasser des Hebr bei den von ihm angeschriebenen Christen erhebliche theologisch-inhaltliche Defizite sieht, die es aufzuarbeiten gilt, um zu wirklicher Erkenntnis und – im Gefolge dessen – dann zu wirklicher Gewissheit im Blick auf die christliche ἐλπίς zu gelangen. Das wiederum entspricht dem bereits in Hebr 5,11–14 Ausgeführten760. Mit dieser Deutung des πληροφορία-Begriffs ist dann zugleich aber eine letztlich objektiv zu fassende Deutung des Terminus ἐλπίς gegeben; mit letzterem will der Verfasser des Hebr nicht auf eine subjektive Haltung, sondern zumindest primär auf das objektive Hoffnungsgut abheben, das es in Fülle und Vollständigkeit zu erkennen und zu erfassen gilt. Bestätigt wird diese Deutung durch die Verwendung des ἐλπίς-Begriffs im übrigen Hebr. Über den hier diskutierten Beleg Hebr 6,11 hinaus begegnet er in folgenden Zusammenhängen: Beleg Hebr 3,6 Hebr 6,18 Hebr 7,19 Hebr 10,23 Hebr 11,1

Text ἐάν[περ] τὴν παρρησίαν καὶ τὸ καύχημα τῆς ἐλπίδος κατάσχωμεν οἱ καταφυγόντες κρατῆσαι τῆς προκειμένης ἐλπίδος ἐπεισαγωγὴ δὲ κρείττονος ἐλπίδος δι᾽ ἧς ἐγγίζομεν τῷ θεῷ κατέχωμεν τὴν ὁμολογίαν τῆς ἐλπίδος ἀκλινῆ, πιστὸς γὰρ ὁ ἐπαγγειλάμενος ἔστιν δὲ πίστις ἐλπιζομένων ὑπόστασις

In diese Richtung könnten die Ausführungen von F. Bleek, Hebr II/2, 235 weisen; Bleek zufolge ist der Begriff πληροφορία hier „in der allgemeineren Bedeutung gemeint, und zwar hier nach der Verbindung als nomen actionis, in dem Sinne: Eifer wenden auf die Vollendung d.i. die volle Ausbildung der Hoffnung, Eifer darauf wenden, die Hoffnung in euch immer völliger zu gestalten, so daß ihr sie nicht fahren lasset, sondern immer lebendiger werden, so lange auch die Erscheinung des Gegenstandes, worauf sie sich bezieht, nämlich die vollständige Erfüllung der göttlichen Verheißungen mit der Wiederkunft des Herrn verzieht“. Träfe dies zu, folgte daraus die Interpretation von Hebr 6,11: Die Aufforderung des Verfassers des Hebr, dass seine Adressaten σπουδή erzeigen sollten πρὸς τὴν πληροφορίαν τῆς ἐλπίδος, ist in jedem Falle – zumindest zunächst und zuerst – material als Ermahnung zu deuten, nach der Fülle bzw. dem vollständigen inhaltlichen Erfassen und Entfalten ihrer ἐλπίς zu streben; vgl. hierzu etwa H.W. Attridge, Hebr, 175, der nicht von der „‚assurance‘“, sondern von der „‚fullness‘ of hope“ spricht; ähnlich auch C.P. März, Hebr, 45, der übersetzt: „Reichtum unserer Hoffnung“. 760 Vgl. hierzu o. 66–126. 759

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Insbesondere in Hebr 6,18 und Hebr 7,19 lässt sich dieser Begriff nun kaum anders als objektiv im Sinne eines Hoffnungsgegenstandes bzw. eines Hoffnungsgutes verstehen761; ebenso müssen die Hebr 11,1 genannten ἐλπιζόμενα als vom hoffenden Subjekt zu unterscheidende und außerhalb seiner selbst zu findende Güter oder Gegenstände gefasst werden762. Im Blick auf Hebr 10,23 legt schon die Verwendung des ἐλπίς-Begriffs in der Genitivverbindung ὁμολογία τῆς ἐλπίδος die Annahme nahe, die ἐλπίς auch hier zumindest primär und in ihrem Schwerpunkt objektiv als den Gegenstand der ὁμολογία, der sich dann allerdings konkret jeweils in der individuellen subjektiven Haltung der Hoffnung realisiert, zu interpretieren763; die umgekehrte Erklärung nämlich, die den Schwerpunkt der Interpretation auf letztere legen würde, vermag kaum denkbar zu erscheinen764. In gleichem Maße gilt dies für die Ausführungen in Hebr 3,6765: Sicherlich bezeichnet der Begriff des καύχημα „nur den [subjektiven] Akt des Rühmens“766, die Genitivapposition τῆς ἐλπίδος weist jedoch letzten Endes auf das objektive Hoffnungsgut, das diesem Rühmen zugrunde liegt und ohne das dieses Rühmen nicht möglich wäre, hin, auch wenn dieses objektive Hoffnungsgut nur in einer individuellen und daher dann wiederum subjektiven Haltung Gestalt gewinnen

Vgl. zu Hebr 6,18 etwa H.-F. Weiß, Hebr, 365: „Sofern dieses ‚Festhalten‘ die Hoffnung zum Gegenstand hat, meint ἐλπίς hier das gleichsam objektive Hoffnungsgut“, und E. Gräßer, Glaube, 32f.; zu Hebr 7,19 etwa H. Braun, Hebr, 214. 762 Vgl. hierzu H.-F. Weiß, Hebr, 560: „Glaube richtet sich auf ‚das Erhoffte‘ – und damit zugleich auf das ‚Nichtsichtbare‘“. Diese Erklärung schließt ein objektives Verständnis von ἐλπίς ein. Vgl. hierzu auch u. 199f. 763 So etwa H. Braun, Hebr, 312 und W.L. Lane, Hebr II, 288: „Both in [Hebr] 6:18 and 10:23a the ‚hope‘ to which the writer refers is an objective reality related to the priestly activity of Jesus“. Anders hier E. Riggenbach, Hebr, 319: „So wenig als [Hebr] 3,6; 6,11.18; 7,19 ist hier mit ἐλπίς das Hoffnungsgut gemeint“. Diese Erklärung ist aber zumindest im Blick auf Hebr 6,11; 7,19 kaum aufrechtzuerhalten. E. Gräßer, Hebr III, 25 deutet die Genitivkonstruktion ὁμολογία τῆς ἐλπίδος als genitivus obiectivus, als „Bekenntnis, das auf die Hoffnung gerichtet ist“; diese Deutung impliziert letztlich ein objektives Verständnis der ἐλπίς. 764 Insofern ist die Alternative zwischen einer subjektiven und einer objektiven Interpretation des ἐλπίς-Begriffs letztlich wiederum (vgl. hier bereits o. 196–198 zur Deutung des Terminus πληροφορία) überholt; vgl. in diesem Sinne etwa H.-F. Weiß, Hebr, 356, der mit Blick auf Hebr 6,11 formuliert: „Solches ‚subjektive‘ Verständnis von ἐλπίς steht keineswegs im Widerspruch zu deren ‚objektivem‘ Charakter“. In diese Richtung denkt dann schließlich auch E. Riggenbach, Hebr, 319f., der zwar einerseits die objektive Interpretation des ἐλπίς-Begriffs in Hebr 10,23 ablehnt (319f.), dann aber formuliert: „Man darf ... die Hoffnung nicht rein formal ohne Rücksicht auf ihren Inhalt in Betracht ziehen. Die Christen bekennen ihre Hoffnung, wenn sie bezeugen, daß sie von dem wiederkommenden Christus die Vollendung des Heils erwarten“. Mit dieser Erklärung aber macht Riggenbach die ἐλπίς Hebr 10,23 unter der Hand primär zu einem objektiven Hoffnungsgut. 765 Zur Austauschbarkeit und Parallelität der Genitivkonstruktionen ὁμολογία τῆς ἐλπίδος und καύχημα τῆς ἐλπίδος vgl. etwa E. Gräßer, Glaube, 17, A. 31 und F. Bleek, Hebr II/2, 418. 766 E. Riggenbach, Hebr, 75. 761

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kann767. Die Wendung καύχημα τῆς ἐλπίδος lediglich als „hoffende Hochgemutheit“768 wiederzugeben, lässt sich hingegen kaum einsichtig machen; der Verfasser des Hebr würde seine Adressaten dann ermahnen, sich der großen Intensität ihrer subjektiven Hoffnungshaltung zu rühmen, eine Annahme, die aus sich selbst heraus nur wenig wahrscheinlich sein kann769. Auf dem Hintergrund all dessen lässt sich im Blick auf die Wendung πληροφορία τῆς ἐλπίδος Hebr 6,11 die Annahme, dass der Verfasser des Hebr auch hier, wenn auch ohne das Ausklammern des subjektiven Aspekts, wesentlich in objektivem Sinne auf den Hoffnungsgegenstand bzw. das Hoffnungsgut, das es in Fülle und Vollständigkeit zu erfassen gilt, abheben wollte, zwanglos plausibilisieren. Für die Auslegung von Hebr 6,11 insgesamt folgt daraus: Der Verfasser des Hebr fordert seine Leser auf, ihren Eifer daranzusetzen, das Gut bzw. den Gegenstand ihrer Hoffnung, der in ihrer individuellen Haltung der Hoffnung realisiert wird, auf theoretisch-intellektueller Ebene umfassend zu erkunden und zu erkennen, um dann hinsichtlich dessen zu vollständiger Gewissheit und zu völliger und dann letzten Endes auch bleibender Überzeugung zu kommen. Mit dieser Aufforderung bewegt er sich präzise auf der Ebene dessen, was er in Hebr 5,11–14; 6,1–3770 und auch in Hebr 6,4f.771 ausgeführt hat. Die Ausführungen in Hebr 6,18–20, in Sonderheit diejenigen in Hebr 6,19, legen die Annahme nahe, dass der in Hebr 6,11.18 gebotene Begriff ἐλπίς im Blick auf seinen sachlichen Gehalt „endgültig als ein christologisch begründete[r].“772 zu interpretieren und auf die Person des Christus selbst zu beziehen sei, der eben als ἐλπίς hineinreicht εἰς τὸ ἐσώτερον τοῦ καταπετάσματος (Hebr 6,19b).

Die Absicht, die hinter der in Hebr 6,11 geäußerten Aufforderung steht, bzw. die Konsequenz, zu der die Aufforderung Hebr 6,11 führen soll, expliziert der Verfasser des Hebr dann in Hebr 6,12773. Bemerkenswert ist, dass jener dabei in Hebr 6,12a mit dem Stichwort νωθρός einen Begriff aufnimmt, den er auch am Anfang seiner Darlegungen innerhalb des „metakommunikativen Zwischenstücks“774 So m.R. W.L. Lane, Hebr II, 288: „In Hebrews the term ‚hope‘ always [!] describes the objective content of hope, consisting of present and future salvation“. 768 H. Braun, Hebr, 83; unterstützend E. Gräßer, Hebr I, 170. 769 Dies gilt auch im Blick auf die der Formulierung Hebr 3,6 durchaus entsprechende Aussage des Paulus in Röm 5,2; das hier angesprochene καυχᾶσθαι ἐπ’ ἐλπίδι τῆς δόξης τοῦ θεοῦ lässt sich ohne das Postulat eines objektiven Hoffnungsgutes kaum denken. Vgl. hierzu auch E. Lohse, Röm, 167: „Die Hoffnung, deren die Glaubenden sich rühmen, streckt sich aus nach der zukünftigen Vollendung, die mit der Offenbarung der göttlichen Herrlichkeit kommen wird“. 770 Vgl. hierzu o. 66–126.161–176. 771 Vgl. hierzu o. 177–186. 772 H.-F. Weiß, Hebr, 367; vgl. darüber hinaus etwa H. Koester, Auslegung, 97f. Koester begreift die Wendung πληροφορία τῆς ἐλπίδος als Parallele zu ὁμολογία τῆς ἐλπίδος (Hebr 10,23), den Begriff πληροφορία somit also als Hinweis auf den Inhalt der ἐλπίς, und folgert daraus: „Die ‚Fülle der Hoffnung‘ ist Jesus, der Sohn Gottes“ (98). 773 Vgl. hierzu etwa E. Gräßer, Hebr I, 368. 774 Vgl. hierzu o. 66. 767

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Hebr 5,11–6,12.13–20, nämlich in Hebr 5,11, verwendet hat775. Zahlreiche Kommentatoren sehen im Blick auf diesen Terminus zwischen Hebr 5,11 und Hebr 6,12a eine Bedeutungsverschiebung weg von einer theologischen Hörunwillligkeit bzw. Denkfaulheit776 hin zu einer eher allgemeineren Trägheit und Initiativlosigkeit777; für diese Bedeutungsverschiebung ließe sich der Sachverhalt ins Feld führen, dass der Begriff νωθρός hier in Hebr 6,12a anders als in Hebr 5,11 absolut, d.h. ohne die Apposition ταῖς ἀκοαῖς, gebraucht wird778. Demgegenüber aber sprechen einerseits der Hinweis darauf, dass der Verfasser des Hebr den Terminus νωθρός in Hebr 6,12a als Inklusion zu Hebr 5,11 verstanden wissen wollte779, andererseits der Sachverhalt, dass dieser Begriff im Hebr nur an diesen beiden Stellen verwendet wird, gegen dessen jeweils unterschiedliche oder doch zumindest unterschiedlich akzentuierte Interpretation in Hebr 5,11 einer- und in Hebr 6,12a andererseits. Sie legen vielmehr die Annahme nahe, dass der Verfasser des Hebr sowohl in Hebr 5,11 als auch in Hebr 6,12a auf das gleiche Phänomen zu sprechen kommen wollte, nämlich auf die Hörunwilligkeit seiner Adressaten780. Vgl. hierzu etwa H.W. Attridge, Hebr, 176 und H. Braun, Hebr, 181, beide mit Verweis auf A. Vanhoye; vgl. hierzu ders., Structure, 115–123. 776 Zur Interpretation des Begriffs νωθρός in Hebr 5,11 vgl.o. 71–73; ob der Verfasser mit ihm wirklich auch auf die Denkfaulheit seiner Adressaten oder nicht vielmehr nur auf deren Hörunwilligkeit abheben wollte, muss angesichts des o. Gesagten mehr als fraglich bleiben. 777 So formuliert etwa E. Gräßer, Hebr I, 368f: „Νωθρός war [Hebr] 5,11 als theologische Denkfaulheit bestimmt worden. Es wird jetzt präzisiert und bekommt durch den Gegensatz zu σπουδή eindeutig den Sinn gleichgültig, indolent, ohne Initiative und Schneid, träge, faul. Da man Erbe der Verheißung nur διὰ πίστεως καὶ μακροθυμίας werden kann, bedeutet νωθρὸς εἶναι soviel wie ἄπιστος εἶναι“, während H.-F. Weiß, Hebr, 356 feststellt: „Das ‚Stumpfwerden‘ ..., vor dem der Autor des Hebr seine Leser bewahren möchte, besteht jedenfalls – noch über deren Trägheit im Hören ([Hebr] 5,11) hinaus – in ihrem Defizit an ‚Zuversicht‘ ... und ‚Geduld‘ – mit einem Wort: Ihre Heilsgewißheit ist ins Wanken geraten“. Ähnlich etwa auch H.W. Attridge, Hebr, 176. 778 Vgl. hierzu H.W. Attridge, Hebr, 176: „The term νωθροί recalls the beginning of the exhortation, but here is not qualified“. 779 Vgl. hierzu unmittelbar A. Vanhoye, Structure, 115: „Une inclusion sur le mot νωθροί utilisé en 5,11 et en 6,12 (seuls emplois dans le Nouveau Testament) invite à reculer jusqu’en 6,13 le début du second paragraphe“, darüber hinaus etwa K. Backhaus, Hebr, 241: „So schließt sich der Kreis zum Vorwurf der Trägheit in 5,11, die hier freilich über die Hörfaulheit hinaus als mangelnde Glaubenszuversicht ganz grundsätzlich angegangen wird“. 780 In die Richtung einer parallelen Interpretation des Terminus νωθροί in Hebr 5,11 und 6,12a gehen M. Rissi, Theologie, 20: In Hebr 6,11f. sei „νωθρός ... in derselben Bedeutung [wie] in [Hebr] 5,11 gebraucht“, O. Kuss, Hebr, 83f.: „Hat der Autor seinen Lesern noch eben Trägheit vorgeworfen ([Hebr] 5,11), so mahnt der Seelsorger jetzt, nicht träge zu werden“, und auch W.L. Lane, Hebr I, 144: „The unusual term νωθροί, ‚sluggish,‘ ‚unreceptive,‘ reflects back on the charge formulated in [Hebr] 5:11b and functions literarily to round off the hortatory section introduced at that point. The members of the house church have become sluggish and unreceptive ([Hebr] 5:11b), but the renewal of the same earnest concern demonstrated in the past ... will assure that they will not continue to be sluggish“. Vgl. hierzu auch D.A. DeSilva, Hebr, 775

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Diese Interpretation des Begriffs νωθρός entspricht dem o. zur Deutung der Wendung πληροφορία τῆς ἐλπίδος Hebr 6,11 Ausgeführten. Wird der Terminus νωθρός Hebr 6,12 im Sinne von „hörunwillig“ verstanden, ergibt sich daraus für das Verständnis der Formel πληροφορία τῆς ἐλπίδος, dass sie nicht als auf die volle Bewährung der Hoffnung bzw. das Durchhalten und Beibehalten der Glaubensgewissheit abzielend gedacht werden kann, sondern als vollständiges und umfassendes Erfassen der Inhalte der christlichen ἐλπίς gedeutet werden muss. Die Adressaten des Hebr sollen mit dem gleichen Eifer, mit dem sie den ἅγιοι dienten und dienen (Hebr 6,10), nun auch ihre theologisch-theoretische Entwicklung vorantreiben und sich um ein vollständiges Begreifen dessen bemühen, was ihre bzw. die christliche Hoffnung überhaupt ausmacht, d.h. letzten Endes um ein vollständiges Begreifen der Person Jesu Christi und des durch diesen inaugurierten Heilswerkes. Legen sie diesen Eifer an den Tag, können sie es vermeiden, in eine letzten Endes zum ‚Abfall‘ führende Taubheit gegenüber Predigt und Unterweisung von anderen, insbesondere auch gegenüber der Unterweisung des Verfassers des Hebr, die er in seiner Epistel darbietet, zu verfallen. Damit ist impliziert, dass die Hebr 6,12 einleitende Konjunktion ἵνα nicht als auf die Phrase πληροφορία τῆς ἐλπίδος, sondern gleichsam komplementär als auf das Substantiv σπουδή bezogen gedacht werden muss781. Darüber hinaus erhofft sich der Verfasser des Hebr mit seinem Wunsch nach σπουδὴ πρὸς τὴν πληροφορίαν τῆς ἐλπίδος für seine Adressaten, dass diese zu Nachahmern derer werden, die durch πίστις καὶ μακροθυμία die Verheißungen ererben (Hebr 6,12b). Auffällig ist, dass der Verfasser des Hebr die beiden Halbverse Hebr 6,12b und Hebr 6,12a nicht mit der Konjunktion ἀλλά, sondern mit der Konjunktion δέ verknüpft hat. Da nun mit der Konjunktion δέ u.a. im Neuen Testament weniger ein Gegenteil als vielmehr ein Gegensatz bezeichnet wird782, lassen sich die Ausführungen in Hebr 6,12b: μιμηταὶ δὲ τῶν διὰ πίστεως καὶ μακροθυμίας κληρονομούντων τὰς ἐπαγγελίας kaum streng im Sinne eines genauen Gegenteils zu dem zuvor in Hebr 6,12a Gesagten interpretieren783. Vielmehr scheint der Verfasser in Hinsicht auf die Entwicklung der Adressaten mit Hebr 211, A. 2: „Arguing that there is a substantial difference between ‚becoming sluggish with regard to the ears‘ (5:11) and ‚becoming sluggish‘ (6:12), such that the alleged ‚contradiction‘ is resolved, ignores both the rhetorical nature of the sermon (i.e., dedication to motivation rather than rigid accuracy at the literary level – always a danger when encountering well-known rhetorical devices such as hyperbole and irony) and the all-encompassing importance of ‚hearing‘ in Hebrews“. 781 In diesem Sinne etwa H.W. Attridge, Hebr, 176: „If the addressees do as their preacher desires, and continue to display zeal founded in love and manifested in abundant hope, they will not be ‚sluggish‘“; anders hier etwa H. Braun, Hebr, 181: „Das Hoffen soll Trägheit verhindern“. 782 Vgl. hierzu F. Blaß/A. Debrunner/F. Rehkopf, Grammatik, § 447, 377: „Auch ist zu unterscheiden zwischen Gegenteil (ἀλλά) und Gegensatz (δέ)“. 783 Dies relativiert die Äußerung E. Gräßers, Hebr I, 368: „Im Finalsatz [Hebr 6,] V 12 wird die von der Vermahnung erhoffte Wirkung sowohl negativ als auch positiv ausgedrückt“.

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6,12b gegenüber Hebr 6,12a gleichsam einen zweiten, zu den in Hebr 6,12a angedeuteten Defiziten seiner Adressaten zwar nicht gegenteiligen, aber doch gegensätzlichen Entwicklungsschritt, der an den ersten, Hebr 6,12a beschriebenen Entwicklungsschritt anknüpft und diesen zugleich weiterführt, im Blick zu haben: Er erhofft sich von ihnen, dass sie σπουδὴ πρὸς τὴν πληροφορίαν τῆς ἐλπίδος, Eifer zu völligem und vollständigem theologischem Erfassen der Hoffnung784, an den Tag legen, damit sie ihre Hörunwilligkeit überwinden bzw. nicht mehr in diese verfallen und (dann) Nachfolger derer werden, die durch πίστις und μαρκοθυμία die Verheißungen ererben. Während die Deutung des Begriffs μακροθυμία im Sinne von ‚Ausdauer‘785 und ‚Beharrlichkeit‘786 kaum weiterer Diskussion bedarf, erfordert die Interpretation des Terminus πίστις hier in Hebr 6,12 schon aufgrund der großen semantischen Spannbreite dieses Begriffs im Neuen Testament787 eine gründlichere Analyse des Verständnisses dieses Begriffs im Hebr insgesamt788. Es ist naheliegend, diese Analyse mit der Interpretation der vom Verfasser des Hebr selbst vorgelegten ‚Definition‘789 des πίστις-Begriffs in Hebr 11,1 zu beginnen790. Die syntaktische Struktur dieser ‚Definition‘ liegt offen zutage; sie besteht aus drei Teilen: einerseits dem zu definierenden Begriff πίστις (definiendum), andererseits einer ersten Definition, in der dieser Terminus näherhin als ἐλπιζομένων ὑπόστασις charakterisiert wird (erstes definiens), und schließlich einer weiteren Definition, die ihn als πραγμάτων ἔλεγχος οὐ βλεπομένων beschreibt (zweites definiens). Das Verhältnis der beiden Definitionen zueinander wird in der Forschung außerordentlich kontrovers diskutiert; konkret werden folgende

Vgl. hierzu o. 196–200. Zu im Sinne von „Ausdauer“ vgl. etwa H. Braun, Hebr, 182: „besser activisch als Ausdauer ..., nicht als Langmut“; ähnlich auch H.W. Attridge, Hebr, 176. Anders etwa H.W. Hollander, Art. μακροθυμία κτλ., in: EWNT² II, 938; nach Hollander „sollen [im Hebr] die Gläubigen geduldig die zukünftigen Verheißungen Gottes abwarten“. 786 H.W. Attridge, Hebr, 176 interpretiert den Begriff μακροθυμία im Sinne von „faithful perseverance“ bzw. „persevering faith“. 787 Vgl. hierzu beispielhaft nur die Ausführungen von G. Barth, Art. πίστις, in: EWNT² III, 216– 231. 788 Erst nach dieser Analyse lässt sich die Frage, ob die Termini πίστις und μακροθυμία hier Hebr 6,12, wie in der Forschung immer wieder behauptet, synonym verwendet worden sind (vgl. hierzu etwa C.R. Koester, Hebr, 318), zureichend beantworten. 789 Zur Problematik des hier verwendeten Begriffs ‚Definition‘ vgl. m.W. neuestens C. Rose, Wolke, 93–98. H.-F. Weiß, Hebr, 559 stellt im Blick auf Hebr 11,1 fest: „Es ist die einzige ausdrückliche Definition von πίστις im Neuen Testament, als solche stilgemäß durch vorangestelltes ἐστιν δέ sowie durch den artikellosen Gebrauch von πίστις, ὑπόστασις und ἔλεγχος gekennzeichnet“; vgl. zur Frage des Definitionscharakters von Hebr 11,1 559, A. 3. 790 Mit anderen geht H.-F. Weiß, Hebr, 559 davon aus, dass der auctor ad Hebraeos den semantischen Gehalt des Begriffs πίστις in einer Weise bestimmt, wie er sie „angesichts der Glaubensanfechtung seiner Adressaten für notwendig hält“. Diese Feststellung ist durch den Text Hebr 11,1 allerdings kaum gedeckt. 784 785

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Die Analyse von Hebr 5,11–6,12

Positionen vertreten791: (a) Die zweite Definition wird als Steigerung bzw. als erläuternde Steigerung der ersten aufgefasst. (b) Die erste Definition sei als eine die zweite umfassende zu deuten. (c) Die zweite Definition gehe über die erste hinaus und stelle eine gegenüber dieser umfassendere Beschreibung dar. (d) Die beiden Definitionen seien als Parallelen zu verstehen. (e) Die beiden Definitionen zusammen bildeten einen synthetischen Parallelismus und verhielten sich zueinander „wie Ursache und Wirkung, wie Voraussetzung und Folge“792. Das asyndetische Nebeneinander der beiden Definitionen legt eo ipso die Annahme nahe, dass sie, wenn sie auch inhaltlich jeweils Unterschiedliches implizieren mögen, syntaktisch doch als auf gleicher Stufe stehend zu interpretieren sind. Dies lässt es von vornherein als wenig wahrscheinlich erscheinen, dass mit ihnen ein Ursache-Wirkung- bzw. ein Voraussetzung-Folge-Verhältnis expliziert werden sollte, oder dass der Verfasser des Hebr mit der jeweils einen die jeweils andere Definition inhaltlich umfassen wollte. Auch die Vermutung, bei der zweiten Definition handele es sich um eine Steigerung bzw. eine erläuternde Steigerung der ersten, hat vor diesem Hintergrund kaum Wahrscheinlichkeit für sich. Am plausibelsten lässt sich die syntaktische Struktur von Hebr 11,1b und 11,1c erklären, wenn angenommen wird, dass der Verfasser des Hebr sie parallel „als complementary parts of ... [his] definition of faith“793 konstruiert hat und verstanden wissen wollte. Für deren Interpretation bedeutet dies, dass die beiden definientes als gleichrangig aufeinander bezogene gefasst und entsprechend ausgelegt werden müssen. Dass nun das zweite definiens, die Formulierung πραγμάτων ἔλεγχος οὐ βλεπομένων Hebr 11,1c, in objektivem Sinne zu verstehen bzw. auf objektive Glaubensinhalte bezogen ist, lässt sich kaum bezweifeln. Allein schon die hier vorliegende Verknüpfung der als genitivus obiectivus zu deutenden794 Wendung πράγματα οὐ βλεπόμενα795 mit dem Terminus ἔλεγχος, einem Begriff, den W. Bauer und B. Aland mit dem ‚Beweis‘ übersetzen796, indiziert, dass es dem Verfasser des Hebr im Rahmen dieser zweiten Definition im Blick auf den πίστις-Begriff nicht um die subjektiv-menschliche Haltung der Treue bzw. der Standhaftigkeit geht. Die πίστις stellt als ἔλεγχος vielmehr den ‚objektiven Beweis‘797 für ebensolche Vgl. hierzu die Aufarbeitung der Forschungsgeschichte bei C. Rose, Wolke, 131–133. C. Rose, Wolke, 132. 793 G.W. Buchanan, Hebr, 182. 794 Zur Deutung der Genitivverknüpfung πραγμάτων οὐ βλεπομένων als eines genitivus obiectivus vgl. etwa E. Riggenbach, Hebr, 342 v.a. mit A. 70. 795 Zur näheren Charakterisierung dieser πράγματα vgl. etwa H.-F. Weiß, Hebr, 560. 796 Wörterbuch, s.v. ἔλεγχος, 502. 797 E. Riggenbach, Hebr, 342 weist darauf hin, dass dieser Terminus hier „nur ‚Beweis‘ bedeuten [kann], was auch dem Sprachgebrauch entspricht“. Ähnlich etwa auch H.W. Attridge, Hebr, 310 und H. Windisch, Hebr, 99. 791 792

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objektive, außerhalb des aktuell wahrnehmbaren Horizonts des Menschen liegende (Glaubens-)Inhalte798 dar, die mit den menschlichen Sinnen eben (noch) nicht wahrgenommen und mit menschlicher Vernunft und Einsicht eben (noch) nicht erwiesen werden können799. Ιnsofern ist sie „der Beweis bzw. garantiert den Beweis im Blick auf die Realität der ‚unsichtbaren Dinge‘“800 und führt damit dazu, dass derjenige, der die πίστις praktiziert, die entsprechenden, ihm durch dieselbe nun bewiesenen (Glauben-)Inhalte dann für sich, d.h. in seiner Subjektivität als Wahrheit erkennt und für wahr, d.h. für in der Zukunft sich realisierende hält. In diesem Sinne eignet der πίστις hier erkenntnisleitender Charakter im Blick auf die durch sie vermittelte Realität der jeweiligen (Glaubens-)Güter oder -Inhalte, in diesem Sinne stellt die πίστις eine erkennntisleitende Kategorie bzw. eine – letzten Endes als eine hermeneutische zu charakterisierende – Erkenntnisvoraussetzung dar801. Im Lichte dieser Interpretation will es nicht abwegig scheinen802, das erste definiens des πίστις-Begriffs, Hebr 11,1b, innerhalb dessen die πίστις näherhin als ἐλπιζομένων ὑπόστασις gekennzeichnet wird, objektiv akzentuiert im Sinne einer „garantie des réalités célestes“803, die die πίστις für die und bei den Glaubenden bewirkt bzw. erbringt, oder aber – was durchaus in die gleiche objektive Richtung geht804 – als ‚Verwirklichung‘ erhoffter Güter805 auszulegen. In jedem Vgl. hierzu H.W. Attridge, Hebr, 310, der hier zutreffend auf die „objects of faith“ hinweist. H. Braun, Hebr, 339 spricht in diesem Zusammenhang durchaus m.R. von der „Erkenntnis göttlicher und menschlicher Tatbestände“. In diesem Sinne formuliert H.-F. Weiß, Hebr, 637 durchaus m.R.: „Der in Geduld zu bewährende Glaube ... ist also alles andere als eine Tugend, zu der sich der Mensch aus eigenem Vermögen aufzuschwingen vermag, sondern hat – was jedenfalls die Christen betrifft – von seinem Ansatz her mit der Christologie (und der Soteriologie) zu tun, zwar nicht ausdrücklich im Sinne des ‚Glaubens an Jesus‘, wohl aber im Sinne des Glaubens, der sich an Jesus, dem ‚Anfänger/Anführer und Vollender des Glaubens‘ orientiert“. 800 H.-F. Weiß, Hebr, 562 mit A. 11. Noch deutlicher J. Héring, Hebr, 104: „La foi tient lieu de preuve ‚des choses‘ ..., c’est à dire comme toujours, des réalités invisibles, indémontrables rationnellement“. 801 Eher genau andersherum scheint C.R. Koester, Hebr, 523 zu denken, wenn er formuliert: „Jesus inaugurates a new covenant and opens a ‚new and living way‘ into the presence of God (10 :19–20). Through his death and exaltation, he became a ‚source of eternal salvation‘ (5:9). He is a source of faith because the message about him evokes faith“. Nicht die Verkündigung Jesu evoziert die πίστις, sondern der Mensch, der unter der πίστις als erkenntnisleitender Kategorie steht, erkennt, dass diese ‚eternal salvation‘ eine zukünftig garantiert sich realisierende Wahrheit darstellt. Durch sein Heilshandeln ruft Jesus die πίστις nicht hervor – sie existierte ja, wie Hebr 11 nahelegt, auch schon in vorchristlicher Zeit –, sondern richtet sie neu auf eben diese – freilich von ihm durch sein Heilshandeln erworbenen und für die Christen gesicherten – Heilsgüter hin aus. 802 Vgl. hierzu auch E. Gräßer, Hebr III, 96. 803 C. Spicq, Hebr II, 338. 804 Vgl. hierzu H. Braun, Hebr, 338. 805 So insbesondere H. Braun, Hebr, 338; Vgl. zum Begriff der ὑπόστασις im Sinne von ‚Verwirklichung‘ auch W. Bauer/B. Aland, Wörterbuch, s.v. ὑπόστασις, 1688 und E. Gräßer, Hebr III, 95f. 798 799

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Die Analyse von Hebr 5,11–6,12

Falle bezieht sich die ὑπόστασις, ob nun als ‚Garantie‘ oder als ‚Verwirklichung‘, auf ἐλπιζόμενα, also auf Hoffnungsgüter bzw. Hoffnungsinhalte, derer der Glaubende in seiner Realität nicht oder noch nicht habhaft geworden ist, die ihm aber durch die πίστις entweder garantiert oder schon jetzt verwirklicht werden806, was dann wiederum dazu führt, dass er sie nun subjektiv als Realität wahrnimmt und anerkennt. Insofern bildet die objektiv auf Heils- bzw. Hoffnungsgüter ausgerichtete πίστις in ihrer subjektiven Applikation die ‚Wirklichkeitsgrundlage‘ der durch sie realisierten Glaubensinhalte. Zusammengefasst ließe sich etwa sagen: Für den auctor ad Hebraeos stellt die objektiv akzentuierte πίστις eine im Grundsatz objektive, von der jeweiligen menschlichen Haltung unabhängige erkenntnisleitende Kategorie807 dar, in deren Horizont im Kontext ihrer subjektiven Applikation die zukünftig gewährleistete Realisierung aktuell noch nicht Platz greifender Inhalte und Verhältnisse als transcendendum der Gegenwart als garantiert808 wahrgenommen wird809. Demgegenüber kommt der primär oder gar ausschließlich subjektiv akzentuierten Deutung des dann absolut verwendeten Begriffs ὑπόστασις im Sinne der Haltung der ‚Glaubenstreue‘ oder der ‚Standhaftigkeit des Glaubens‘810, da diese außerhalb des Hebr nicht belegt ist811, nur wenig Wahrscheinlichkeit zu. Gleiches gilt für einen in diesem Sinne interpretierten πίστις-Begriff812. Vgl. hierzu H.-F. Weiß, Hebr, 560: „In diesem Sinne ist ‚das Erhoffte‘ nicht nur ein zukünftiges Gut, sondern vielmehr etwas, was jetzt schon in der himmlischen Welt für die Glaubenden gleichsam ‚bereitliegt‘“. 807 Zur Berechtigung dieses sehr rationalen Begriffs im Kontext einer Definition von πίστις vgl. E. Gräßer, Glaube, 126, der im Kontext des Syntagma πραγμάτων ἔλεγχος auf Demosthenes und Epiktetos verweist (vgl. zum Begriff ἔλεγχος auch ders., Hebr II, 98); H.-F. Weiß, Hebr, 562 spricht in diesem Zusammenhang vom Beweischarakter des Glaubens: „Der Glaube ist der Beweis, garantiert den Beweis im Blick auf die Realität der ‚unsichtbaren Dinge‘“; ähnlich hier auch E. Gräßer, Hebr III, 98: „Der Hebr will zum Ausdruck bringen, daß der Glaube ‚dem, was wir nicht sehen, die volle Sicherheit eines Beweises verleiht‘“. 808 Vgl. hierzu H.-F. Weiß, Hebr, 560: „Gerade hier aber – im Raum des Unanschaulichen – gewährt dieser Glaube Gewißheit, ist der Glaube – wie M. Luthers Übersetzung formuliert – eine ‚gewisse Zuversicht‘“. 809 Wird der Begriff der πίστις als Gegenbegriff zu demjenigen der ἁμαρτία definiert (vgl. hierzu etwa H. Löhr, Umkehr, 292f.), so ergibt sich für letzteren, dass jener als diejenige erkenntnisleitende Kategorie dargestellt wird, die nur die gegenwärtige Welt und deren Verhältnisse, Vorfindlichkeiten und Personen als wahrhaftige Realitäten zu begreifen vermag. Diese aus dem πίστις-Begriff hergeleitete Definition des Terminus ἁμαρτία korreliert gänzlich zwanglos mit demjenigen, was o. (vgl. hierzu die Ausführungen zu Hebr 3,13 o. 147–155) und u. (vgl. hierzu die Ausführungen zu Hebr 12,4 u. 241–245) gesagt worden ist. Die ἁμαρτία stellt im Hebr eine personifizierte und transsubjektive Macht dar, die die Erkenntnis des Gegenwärtigen verabsolutiert und diejenige des Zukünftigen damit verunmöglicht. 810 Vgl. in diesem Zusammenhang etwa E. Riggenbach, Hebr, 340, der in diesem Zusammenhang von einer „beharrliche[n] Erwartung“ spricht. 811 Vgl. hierzu H.-F. Weiß, Hebr, 561 mit A. 9. 812 Hier deutlich anders etwa W.L. Lane, Hebr II, 409f.: „Christian faith finds its essential expression in persevering devotion to Christ and in a lifestyle that reflects consecration to the 806

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Zu untersuchen wäre nun, inwieweit sich die hier vorgenommene, zumindest primär objektive und auf bestimmte Glaubensinhalte bezogene Interpretation des πίστιςBegriffs in einzelnen Beispielen in Hebr 11 durchhalten lässt. Die in der vorliegenden Studie entwickelte Interpretation des πίστις-Begriffs im Sinne einer erkenntnisleitenden Kategorie, in deren Horizont die zukünftig gewährleistete Realisierung aktuell noch nicht Platz greifender Inhalte und Verhältnisse als Übersteigerung der Wirklichkeit als garantiert wahrgenommen wird, wird innerhalb der Darstellung in Hebr 11 in Sonderheit erkennbar in den Ausführungen von Hebr 11,22; hier formuliert der auctor ad Hebraeos: πίστει Ἰωσὴφ τελευτῶν περὶ τῆς ἐξόδου τῶν υἱῶν Ἰσραὴλ ἐμνημόνευσεν καὶ περὶ τῶν ὀστέων αὐτοῦ ἐνετείλατο, und lässt die Gestalt des Ἰωσήφ somit noch lange ausstehende Realitäten und Ereignisse auf der Ebene der Glaubenserkenntnis als Fakten ausmachen813. Ein ähnliches Ergebnis zeigt sich im Blick auf Hebr 11,17–19; Abraham ist zur Opferung Isaaks bereits, weil er in der Gegenwart im Horizont der erkenntnisleitenden Kategorie der πίστις die zukünftige gewisse Verwirklichung des Inhalts der Verheißung – auch gegen den aktuellen Augenschein – erkannte: πίστει προσενήνοχεν Ἀβραὰμ τὸν Ἰσαὰκ πειραζόμενος καὶ τὸν μονογενῆ προσέφερεν, ὁ τὰς ἐπαγγελίας ἀναδεξάμενος, (18) πρὸς ὃν ἐλαλήθη ὅτι ἐν Ἰσαὰκ κληθήσεταί σοι σπέρμα, (19) λογισάμενος ὅτι καὶ ἐκ νεκρῶν ἐγείρειν δυνατὸς ὁ θεός, ὅθεν αὐτὸν καὶ ἐν παραβολῇ ἐκομίσατο814.

Aus der Analyse von Hebr 11,1 folgt im Blick auf die Interpretation von Hebr 6,12: Der Begriff πίστις kann auch an dieser Stelle nicht subjektiv-absolut im Sinne von ‚Glaubenstreue‘ oder von ‚Standhaftigkeit‘815 und damit als Synonym zu service of God“. Diese Definition geht an den Ausführungen in Hebr 11,1 augenscheinlich vollständig vorbei. Gleiches scheint zu gelten im Blick auf die Ausführungen von C.R. Koester, Hebr, 523: „Faith involves trust in God and faithfulness to God“ (vgl. darüber hinaus auch 125– 127). 813 Vgl. hierzu etwa K. Backhaus, Hebr, 397: „Wenn in der Verheißungskette schließlich der sterbende Josef seinerseits die Zukunft höchst langfristig vorausbedenkt (Gen 50,24f.) – der vorausgesehene Zeitraum umfasst Jahrhunderte –, so wird ein weiteres Mal die realistische Weitsicht des Glaubens bestätigt, ‚der das Unschaubare schaut‘“. 814 Anders hier K. Backhaus, Hebr, 395f.: „Hebr begründet den Gehorsam Abrahams: Dieser wägt ab ... zwischen dem irdischen Tod und Gottes Vermögen, die Toten aufzuerwecken. Damit ist kein berechenbares Kalkül beschrieben, sondern das entschiedene Vertrauen auf einen Gott, dessen Verheißung tragfähiger ist als der Augenschein“. Dieser von Backhaus hier angesprochene Gedanke des Vertrauens mag an dieser Stelle mitschwingen, aber das Vertrauen Abrahams auf Gott ergibt sich eben aus dem von Backhaus für diese Darstellung abgelehnten Gedanken des berechenbaren Kalküls. Die πίστις, die hier gerade nicht als πίστις ἐπὶ θεόν beschrieben wird, stellt die erkenntnisleitendende Kategorie dar, die die gegenwärtige Realität zu transzendieren vermag. Dabei bedient sich diese Kategorie dann durchaus kalkulatorischer Überlegungen. Deutlich präziser als Backhaus hier H.-F. Weiß, Hebr, 597: „Gottes Weisung an Abraham, Isaak als Opfer darzubringen, steht im Widerspruch zu seiner eigenen Verheißung bzw. stellt diese radikal in Frage. Aus solchem Widerspruch und Widersinn vermag am Ende – wie V. 19 alsbald hinzufügt – nur die Erwägung oder besser: die Überzeugung des Glaubens ... herauszuführen, daß Gottes Verheißung auch gegen den Tod in Kraft und Geltung bleibt“. 815 Vgl. hierzu H.-F. Weiß, Hebr, 561: „Freilich hat wohl auch der Autor des Hebr gerade diesen Begriff [d.h. den Begriff ὑπόστασις] schwerlich gewählt, um damit nur die ‚subjektive‘ Haltung des Glaubens zu kennzeichnen. Dagegen spricht bereits der Umstand, dass hier mit ὑπόστασις ein Begriff erneut aufgenommen wird, der in 1,3 Wesen und Wirklichkeit Gottes selbst

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Die Analyse von Hebr 5,11–6,12

μακροθυμία verstanden, sondern muss auch hier objektiv, d.h. jeweils auf konkrete Inhalte und Güter bezogen gedacht werden, die diese den Glaubenden verwirklicht, garantiert oder aber als existierend erweist816. Wer nun διὰ πίστεως Erbe der Verheißungen wird, ist also jemand, dem die πίστις die ἐλπιζόμενα verwirklicht bzw. garantiert und die πράγματα οὐ βλεπόμενα als existierend erweist, damit jemand, der subjektiv um die zukünftige Wirklichkeit bestimmter Hoffnungsgüter und um die zukünftig sich erweisende Wahrheit und Wahrhaftigkeit konkreter Glaubensinhalte weiß und dieses Wissen dann mit der entsprechenden, nun ebenfalls subjektiven μακροθυμία durchhält. Die Adressaten des Hebr sollen Nachahmer, μιμηταί, solcher werden, die um die Wirklichkeit und die Wahrheit der durch den Glauben vermittelten, verwirklichten und erwiesenen entsprechenden ἐλπιζόμενα und πράγματα οὐ βλεπόμενα wissen und diese in μακροθυμία bewahren. Dieser zweite Aspekt wird dann in Hebr 6,13–20, näherhin in Hebr 6,13–15 näher entfaltet817. Das Verhältnis von πίστις und μακροθυμία lässt sich in einem Schaubild somit folgendermaßen darstellen: objektive Ebene πίστις als ἐλπιζομένων ὑπόστασις

πίστις als πραγμάτων ἔλεγχος οὐ βλεπομένων

subjektive Ebene individuelle πίστις als subjektive Erkenntnis der garantierten Realisierung objektiver zukünftiger, gegenwärtig (noch) nicht sichtbarer Realitäten μακροθυμία als geduldiges Beibehalten dieser πίστις

bezeichnete. Von daher spricht alles dafür, dass dieser Terminus an dieser Stelle – analog zu ἔλεγχος in V. 1b – den gleichsam objektiven Charakter des Glaubens zur Aussage bringen will“. 816 So richtig H.-F. Weiß, Hebr, 560: „Glaube richtet sich auf ‚das Erhoffte‘ – und damit zugleich auf das ‚Nichtsichtbare‘. ... Gleichwohl ist vom Gesamtkontext des Hebr deutlich, was damit konkret gemeint ist: Die οἰκουμένη μέλλουσα von 2,5 bzw. die πόλις μέλλουσα von 13,14 ebenso wie die κατάπαυσις von 4,11f bzw. das ‚ewige Erbe‘ von 9,15“, und 561: „Schon jetzt also, im Stande des Glaubens, der sich als Hoffnung auf ‚das Erhoffte‘ ausrichtet, gewinnt dieses ‚Erhoffte‘ den Charakter der Wirklichkeit für den Glaubenden – und gewährt eben so auch die Grundlage für den festen Stand der Glaubenden“. 817 Somit eignet Hebr 6,12 im Duktus der Argumentation von Hebr 5,11–6,20 eine Brückenfunktion; vgl. hierzu etwa W.L. Lane, Hebr I, 144f.: „The summons to be μιμηταί, ‚imitators,‘ of those who were designated heirs to the promises of God prepares for the transition to [Hebr] 6:13–20“.

Zusammenfassung und Folgerungen

3.5

209

Zusammenfassung und Folgerungen im Blick auf die rhetorische Situation der Adressaten

Der Duktus der Argumentation in Hebr 5,11–6,12, dem ersten Teil des ‚metakommunikativen Zwischenstücks‘818, stellt sich zusammengefasst folgendermaßen dar: Der Hebr ist adressiert an einen um ein theologisches Schulhaupt versammelten Schülerkreis oder aber eine Gruppe von Kandidaten, die sich in der Ausbildung zum gemeindlichen Lehramt befindet819, in jedem Falle eine theologisch zu bildende Gemeindegruppe, die aufgrund ihrer νώθεια820 das geforderte bildungstheoretische ‚Klassenziel‘ noch nicht erreicht hat, eine Entwicklung, die aus der Sicht des auctor ad Hebraeos zugleich impliziert, dass sich die Glieder jener einer unzulänglichen und unzulässigen theologischen Programmatik verschrieben hätten, ein Vorgang, den jener als παραπίπτειν von Gott klassifiziert821. Zu Beginn dieses ‚metakommunikativen Zwischenstücks‘ führt der Verfasser des Hebr aus, dass er seinen Adressaten, in einem πολὺς λόγος καὶ δυσερμήνευτος die christologischen Inhalte ihres Katechumenatsunterrichts bzw. ihrer Taufunterweisung neu darzulegen hätte, eben weil diese hörunwillig geworden und gewesen seien und es ihnen zumindest in der Vergangenheit an Denk- und Lernbereitschaft gefehlt habe (Hebr 5,11–14; 6,1a). Im weiteren Verlauf seiner Epistel will er nun auf die τελειότης, die weiterführenden Aspekte der Christologie, zu sprechen kommen (Hebr 6,1bf.), wenn Gott es zuließe (Hebr 6,3). Diese Erlaubnis Gottes ist notwendig, weil Christen, die einmal vom Christentum abgefallen seien, eigentlich keine Möglichkeit zu einer erneuten Hinwendung zum Christentum gewährt würde (Hebr 6,4–8). Allerdings ist für den Verfasser des Hebr klar, dass Gott seine Zustimmung nicht verweigern werde, da dieser gerecht ist und die Liebeswerke, die seine Adressaten dem Namen Gottes in Vergangenheit und Gegenwart erwiesen haben, nicht vergessen werde (Hebr 6,9f.). Von seinen Adressaten wünscht sich der Verfasser des Hebr, dass diese den Eifer und die Hingabe, mit denen sie sich den Liebeswerken widmen, nun auch an den Tag legen, wenn es darum geht, ihre Hörunwilligkeit und ihren Mangel an Denk- und Lernbereitschaft zu überwinden, die Tiefen der Lehre von Christus theologisch-denkerisch zu ergründen, sie sich im Glauben anzueignen und dann auch dauerhaft beizubehalten (Hebr 6,11f.). Vor diesem Hintergrund lässt sich die textpragma-

Vgl. hierzu o. 66. Die o. als eher unwahrscheinlich klassifizierte Annahme, dass es sich bei den Adressaten des Hebr um eine Katechumenengruppe, die der Unterweisung in der christlichen Lehre bedarf, handele (vgl. hierzu o. 119f.), wird im weiteren Verlauf der vorliegenden Studie nicht mehr berücksichtigt. 820 Vgl. hierzu ausführlich o. 71–73. 821 Vgl. hierzu o. 187–189. 818 819

210

Die Analyse von Hebr 5,11–6,12

tische Situierung des Hebr durchaus mit derjenigen des paulinischen Gal vergleichen, wenn natürlich auch deutliche Unterschiede nicht übersehen werden dürfen, Unterschiede, die sich dann auch in den jeweils unterschiedlichen argumentationslogischen Strukturen und Diktionen beider Schriften niederschlagen.

4.

Die Analyse von Hebr 6,13–20

In diesem mit dem Vorangehenden, insbesondere mit den Ausführungen Hebr 6,12 durch die kausale Konjunktion γάρ eng verbundenen1 Abschnitt kommt der Verfasser des Hebr, zwar immer noch innerhalb des ‚metakommunikativen Zwischenstücks‘ nun augenscheinlich die Adressaten seiner Epistel zumindest ein Stück weit aus dem Fokus nehmend, zunächst2 auf Abraham als denjenigen aus der Reihe der nachzuahmenden Vorläufer3 (Hebr 6,12) zu sprechen, „der nach allgemeiner Tradition das deutlichste Beispiel dafür ist, daß man als μακροθυμήσας die Verheißung erlangt“4. Ihm zufolge sicherte Gott Abraham zunächst die Verheißung5 zu, wobei er diese Zusicherung und auch die Verheißung selbst durch einen bei sich selbst geschworenen6 und damit unverbrüchlichen7 Eid untermauerte (Hebr 6,13)8; Abraham wartete dann in Geduld, bis er diese ihm zugesagte und zugesicherte ἐπαγγελία dann schließlich erlangte (Hebr 6,15). In Hebr 6,13–15 werden mit dem Rückgriff auf das Exempel des Abraham somit

Vgl. hierzu H.-F. Weiß, Hebr, 358; diese Konjunktion steht s.E. „hier nicht eigentlich im begründenden, sondern im (den V. 12) ausführenden Sinn ...: ‚Denn auch‘ bzw. ‚nämlich‘“. Auf der sachlich-inhaltlichen Ebene sieht Weiß die enge Verknüpfung zum Vorhergehenden durch die „erneute Aufnahme der bereits den V. 12 bestimmenden Stichworte ἐπαγγελία (VV. 13.15. 17), μακροθυμία (V. 15) und κληρονομεῖν (V. 17)“ (358) gegeben. Demgegenüber versteht E. Gräßer, Hebr I, 373 den Abschnitt Hebr 6,13–20 eher als „unmittelbare ‚theologische Einleitung‘ zum folgenden Hauptteil [Hebr] 7,1–10,18“. 2 In Hebr 6,13–15; zur Gliederung des gesamten Abschnitts Hebr 6,13–20 in drei Teile vgl. etwa A. Vanhoye, Structure, 121f. 3 Vgl. hierzu o. 207. 4 E. Gräßer, Hebr I, 373. Vgl. hierzu auch G. Schunack, Hebr, 83: „Das begründende gar in [Hebr 6,] V. 13 erweist, dass nun an Abraham exemplifiziert wird, in welcher Weise jene positive Alternative von V. 12b, Nachahmer derer zu werden, die durch Glauben und Ausdauer die Verheißung erben, praktisch wahrzunehmen ist“. 5 Da der Verfasser des Hebr in Hebr 6,14 als „Schriftbeleg für Gottes Selbstschwur“ (E. Gräßer, Hebr I, 375) auf Gen 22,16f. Bezug nimmt, steht zu vermuten, dass ihm als Inhalt des von Gott Verheißenen primär die „Verheißung zahlreicher Nachkommenschaft“ (375f.) vor Augen stand. Mit einem anderen Akzent hier H.W. Attridge, Hebr, 178: „The divine promises to Abraham involved two major components – that the patriarch would be the father of a great nation and that this nation would inherit the land“. 6 Mit der Wendung ὥμοσεν καθ’ ἑαυτοῦ Hebr 6,13c spielt der Verfasser des Hebr etwa auf Gen 22,16 an, wobei er in Hebr 6,13b noch den Grund für dieses Schwören Gottes bei sich selbst hinzufügt. Vgl. hierzu etwa H.W. Attridge, Hebr, 179 mit A. 15. 7 Vgl. hierzu etwa H.-F. Weiß, Hebr, 359: „Wenn es hier [d.h. in Hebr 6,13] heißt, daß Gott – da er ja schlechterdings nichts ‚über sich hat‘ – ‚bei sich selbst schwört‘, so bedeutet dies im Kontext, daß Gott damit die höchste Art von Schwur leistet, die es überhaupt gibt“. 8 Vgl. hierzu etwa H.W. Attridge, Hebr, 179: „Upon giving these promises [an Abraham] ..., God confirmed them with an oath“. 1

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zwei Aspekte expliziert, einerseits die vorbildliche und nachahmenswerte μακροθυμία des Patriarchen, andererseits – und zuerst – die Sicherheit und Unverbrüchlichkeit des in der göttlichen ἐπαγγελία verbürgten Inhalts9, wobei, wie die Neuakzentuierung der Darstellung Gen 22 in Hebr 6,13–15 und insbesondere auch die Anknüpfung mit καὶ οὕτως in Hebr 6,15 nahelegen10, offensichtlich letztere im Vordergrund des Interesses des Verfassers des Hebr standen11. Zu fragen bleibt, warum der Verfasser des Hebr hier in 6,13–15 den in 6,12 in die Diskussion eingeführten Begriff der πίστις nicht wieder aufnimmt, sondern stattdessen – zumindest explizit – nur auf die 6,12 ebenfalls angesprochene μακροθυμία zu rekurrieren scheint? Dies muss umso mehr verwundern, als die Figur des Abraham sowohl in der alt- als auch in der neutestamentlichen Tradition mit dem Gedanken der πίστις eng verbunden dargestellt und gedacht worden ist12. Offensichtlich scheint es dem auctor ad Hebraeos in Hebr 6,13–15 mehr um das Momentum der μακροθυμία zu gehen, so dass es ihm opportun erschien, den πίστις-Begriff13 an dieser Stelle nicht weiter zu interpretieren bzw. zu verwenden.

Im Anschluss an den Rekurs auf die Person Abrahams reflektiert der Verfasser des Hebr, die exegetischen Ergebnisse von Hebr 6,13–15 aufnehmend, in einem nächsten Abschnitt die Bedeutung des Eides für die Gültigkeit der Verheißung Gottes (Hebr 6,16f.)14. Da mit einem von Menschen geschworenen Eid jegliche

9 Vgl. hierzu etwa E. Gräßer, Hebr I, 373: „Aber nicht das die Nachahmung spornende Beispiel allein ist es, welches unseren Verf.[asser] auf Abraham kommen läßt. Dem Patriarchen ist die Verheißung eidlich verbürgt zuteil geworden. Und so ist diese Verheißungszusage auch das Modell einer unumstößlichen Heilsgarantie“. 10 Vgl. zu dieser Anknüpfung etwa A. Seeberg, Tod, 71: Damit „soll gezeigt werden, daß Abrahams Geduld ihre Grundlage [!] an der Verheißung hatte, die Gott aus Rücksicht auf den Menschen bei sich selbst beschworen hat“. 11 Vgl. hierzu etwa H. Hegermann, Hebr, 139: „Bemerkenswert ist ..., daß die Glaubensbewährung Abrahams, im Bibeltext und in der Hebr. 11 aufgenommenen Tradition Hauptthema, an unserer Stelle zurücktritt und statt dessen die Heilsmacht der göttlichen Zusage ausgesagt wird. Denn οὕτως [in Hebr 6,15] weist eindeutig auf eben diese göttliche Verheißungsvergewisserung als die den Glauben Abrahams bewegende Macht“. In diesem Sinne auch E. Gräßer, Glaube, 32. 12 Vgl. hier nur Gen 15,6 und die Aufnahme dieses Verses bei Paulus in Röm 4,3; Gal 3,6 und darüber hinaus auch Hebr 11,8ff. In der Forschung wird diese Frage kaum thematisiert, wohl vor allem deswegen, weil der πίστις-Begriff Hebr 6,12 als Synonym zu μακροθυμία gefasst wird. Einerseits aber lässt sich diese Deutung aufgrund des Verständnisses des πίστις-Begriffs, so wie es die Interpretation von Hebr 11,1 nahelegt (vgl. hierzu o. 203–207) jedoch kaum halten, andererseits würden damit das Problem und die Fragestellung, wenn auch anders akzentuiert, bestehen bleiben; warum nämlich verwendet der Verfasser des Hebr in Hebr 6,13 nicht den gegenüber dem Begriff μακροθυμία in jedem Falle pointierteren Terminus πίστις, um hier die Haltung der Standhaftigkeit und der Glaubenstreue Abrahams zu explizieren? 13 Vgl. zu diesem Terminus ausführlich o. 93–95. 14 Anders hier E. Gräßer, Hebr, 373, der den zweiten Teil von Hebr 6,13–20 auf Hebr 6,16 beschränkt, was aber die Argumentation in Hebr 6,16f. m.E. unzulässig auseinanderreißt.

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Widerrede beendet und jeglicher Zweifel ausgeräumt werden (Hebr 6,16)15, hat Gott, um die Unverbrüchlichkeit seiner Verheißung noch deutlicher zu untermauern, sich ebenfalls – zusätzlich zu seiner Verheißung – noch mit einem Eid verbürgt16. Die Abzweckung bzw. die Konsequenz dieses Tuns Gottes wird in Hebr 6,18 thematisiert17: Gott untermauerte seine Verheißung mit einem Eid, damit bzw. so dass wir, d.h. die Gemeinschaft des Verfassers des Hebr und seiner Adressaten – hier verwendet der auctor ad Hebraeos nach Hebr 6,12 erstmalig wieder das kommunikative ἡμεῖς –, die ihre Zuflucht dazu genommen haben, die ἐλπὶς προκειμένη18 zu ergreifen (Hebr 6,18d), aufgrund dieser zwei verlässlichen19 göttlichen πράγματα20 eine παράκλησις ἰσχυρά haben21, bzw. – werden die Satzglieder auf andere Weise verteilt und zugeordnet – damit bzw. so dass wir als diejenigen, die auf der Flucht sind, aufgrund dieser zwei verlässlichen göttlichen πράγματα

Vgl. hierzu E. Gräßer, Hebr I, 379: „Βεβαίωσις ist t.[erminus] t.[echnicus] der Rechtssprache und heißt Verbürgung, Sicherstellung. ... Sie hat den Rang der Eindeutigkeit und entzieht jeder Widerrede den Boden. Das unter Eid Gesagte stimmt“. 16 Nach H.-F. Weiß, Hebr, 362 liegt, „sofern ... das περισσότερον in [Hebr 6,] V. 17 die Gegenüberstellung der menschlichen Schwurpraxis ‚bei einem Höheren‘ (V. 16) und des Schwures Gottes ‚bei sich selbst‘ (V. 13) voraussetzt, ... in den VV. 16 und 17 ein klarer Schluß a minori ad maius vor, mit dem der Autor sich wiederum an das eigene Urteilsvermögen seiner Adressaten wendet“. Allerdings ist, wie die Wortstellung nahelegt, die Partikel περισσότερον in Hebr 6,17 inhaltlich nicht auf den Eid Gottes, sondern auf dessen Absicht, die Unverbrüchlichkeit seiner Verheißung aufzuzeigen, zu beziehen. Skeptisch hier auch E. Gräßer, Hebr I, 379: „Der Übergang von [Hebr 6,] V16 zu V17 ist kein Schluß a minori ad maius“. 17 Zu Hebr 6,18 insgesamt Finalsatz vgl. H.-F. Weiß, Hebr, 362; C.R. Koester, Hebr, 325 interpretiert Hebr 6,18 hingegen als einen Konsekutivsatz. Ob die beiden Aspekte zwingend einander ausschließen müssen, muss an dieser Stelle dahingestellt bleiben. H. Menge, Wörterbuch, s.v. ἵνα, 343 gibt für diese Konjunktion beide Bedeutungsmöglichkeiten an. 18 H.-F. Weiß, Hebr, 365, A. 31 weist darauf hin, dass dem Verb πρόκειμαι hier in Hebr 6,18 eine doppelte Bedeutung innewohnt: „‚bereitliegen‘ im Sinne des Hoffnungsgutes, das die Christen zeitlich noch vor sich haben, aber doch zugleich auch das Hoffnungsgut, das den Christen bereits fest zugesagt, ihnen gleichsam garantiert ist“. Eine Parallele zu Hebr 6,18 liegt nach Weiß in Kol 1,5 vor. 19 Dies wird mit der Einlassung ἐν οἷς ἀδύνατον ψεύσασθαι [τὸν] θεόν Hebr 6,18b begründet. Zu diesem Topos der alttestamentlich-frühjüdischen Literatur vgl. etwa H.-F. Weiß, Hebr, 363, A. 21. 20 Nach H.-F. Weiß, Hebr, 364 handele es sich bei diesen zwei göttlichen πράγματα um die Verheißung Gottes und den diese Verheißung garantierenden und ebenfalls von Gott ausgesprochenen Schwur. So ebenfalls E. Gräßer, Hebr I, 381, der aber präziser formuliert: Unter den göttlichen πράγματα seien „rücksichtlich Hebr 5,6 und 7,21 die den Christen gegebene Verheißung und der dem Christus geleistete Melchisedekschwur ψ 109,4“ zu verstehen. 21 Vgl. zu dieser Übersetzung und zu der in derselben zum Ausdruck kommenden Verteilung und Zuordnung der einzelnen Satzglieder etwa W. Bauer/B. Aland, Wörterbuch, s.v. κατάφεύγω, 854, darüber hinaus etwa auch H. Braun, Hebr, 189, H.-F. Weiß, Hebr, 358, F.F. Bruce, Hebr, 152, G. Schunack, Hebr, 83 und K. Backhaus, Hebr, 244. 15

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eine παράκλησις ἰσχυρά haben, die ἐλπὶς προκειμένη zu ergreifen22. Zugunsten der von C.R. Koester favorisierten syntaktischen Analyse lassen sich folgende Gründe anführen: (a) Wird der Begriff παράκλησις Hebr 6,18c – mit W. Bauer und B. Aland – im Sinne von ‚Ermahnung‘ bzw. ‚Ermunterung‘ verstanden23, so wird ein sachlogisches Objekt erforderlich, auf das sich diese Ermahnung bzw. dieser Zuspruch richten. Dieses sachlogische Objekt wird formuliert in Hebr 6,18dβ: κρατῆσαι τῆς προκειμένης ἐλπίδος. (b) Der Sachverhalt, dass das Partizip καταφυγόντες Hebr 6,18dα mit dem Artikel οἱ verknüpft erscheint, lässt es wahrscheinlich erscheinen, dieses Partizip als ein substantiviertes und damit auch absolut zu fassendes zu verstehen24. Das aber heißt: Nach Hebr 6,18a.c.d haben ‚wir‘, die wir auf der Flucht sind (Hebr 13,14), aufgrund der beiden verlässlichen göttlichen πράγματα einen starken Antrieb bzw. Ansporn, die ἐλπὶς προκειμένη zu ergreifen. Die in Hebr 6,18d angesprochene ἐλπὶς προκειμένη wird in Hebr 6,19 näher charakterisiert als eine ἄγκυρα25 τῆς ψυχῆς ἀσφαλῆ τε καὶ βεβαία, die bis in das Innere des Tempels hinter den Vorhang reicht, einen Ort, in den der ἀρχιερεὺς εἰς τὸν αἰῶνα κατὰ τὴν τάξιν Μελχισέδεκ Ἰησοῦς als πρόδρομος26 ὑπὲρ ἡμῶν27 bereits hineingegangen ist (Hebr 6,20). Mit der letzten Aussage nimmt der Verfasser des Hebr den Hebr 5,10 verlassenen Argumentationspfad wieder auf28 und leitet zugleich die nun in Hebr 7,1ff. anschließende Explikation des Hauptthemas des λόγος τέλειος, der Hohenpriesterschaft Jesu κατὰ τὴν τάξιν Μελχισέδεκ, ein29.

22 Vgl. zu dieser Übersetzung und zu der in derselben zum Ausdruck kommenden Verteilung und Zuordnung der einzelnen Satzglieder C.R. Koester, Hebr, 325; Koester übersetzt hier: „… so that through two unchangeable things, in which it is impossible that God should lie, we refugees have strong encouragement to hold fast the hope that lies ahead“. 23 Vgl. zur Analyse dieses Terminus ausführlicher u. 215. 24 Vgl. hierzu F. Blaß/A. Debrunner/F. Rehkopf, Grammatik, § 413, 341f. 25 Zum Bild des Lebensankers bei Philon vgl. de decal. 67 und etwa G. Schunack, Hebr, 86. 26 Zur Verknüpfung dieses Titels Christi mit dem Titel des ἀρχηγός (Hebr 2,10ff.; 12,1ff.) vgl. etwa H.-F. Weiß, Hebr, 360f. Nach F. Laub, Bekenntnis, 154f. wird das, „was auf der Ebene des Erniedrigungs- und Erhöhungsschemas mit ἀρχηγός über den Sohn ausgesagt wird, ... auf der Ebene der Hohepriesteranschauung mit πρόδρομος formuliert“. G. Schunack, Hebr, 87 erwägt nicht zuletzt auch auf diesem Hintergrund, dass „die[se] Metapher als solche ... auf das Blickfeld verweisen [könnte], dass ein ‚Erkundungsschiff‘ (prodromos) einer Flotte den Weg weist“. 27 Zu den im Hebr selbst bereits angeklungenen Implikationen dieses soteriologisch akzentuierten Begriffs vgl. etwa C. Marcheselli-Casale, Hebr, 312: „Un ‚precursore‘ è anche ‚pioniere‘: vincitore su avversari e oppositori, questi prepara la strade per gli altri (Eb 2,10), è il primo a portare a termine la corsa della fede (12,2)“. 28 Vgl. hierzu etwa H.-F. Weiß, Hebr, 370. 29 Zu der Überleitungsfunktion dieses Verses vgl. etwa E. Gräßer, Hebr I, 387. In diese Richtung denkt auch C. Marcheselli-Casale, Hebr, 312: „Eb 6,20 fa da ponte tra 6,13–19 e 7,1–10,39“.

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Für das Verständnis von Hebr 6,13–20, den zweiten Abschnitt30 des ‚metakommunikativen Zwischenstückes‘31 Hebr 5,11–6,20, sind die in Hebr 6,18–20 geäußerten Erwägungen, näherhin der semantische Gehalt und die theologischen Implikationen der in dieser Passage verwendeten Begriffe παράκλησις (ἰσχυρά)32 und ἐλπὶς (προκειμένη), von grundlegender Bedeutung. Der Begriff παράκλησις bzw. das entsprechende Verb παρακαλῶ begegnen im Hebr, von dem hier diskutierten Vers Hebr 6,18 abgesehen, noch an sechs weiteren Stellen, nämlich in Hebr 3,13; 10,25; 12,5; 13,19 und zweimal in Hebr 13,22, das Verb παρακαλῶ in Hebr 3,13; 10,25; 13,19 und 13,22, das Substantiv παράκλησις in Hebr 6,18; 12,5 und 13,22. W. Bauer und B. Aland geben für letzteres insgesamt drei mögliche Bedeutungsvarianten an, „Ermahnung“ bzw. „Ermunterung“, „Ersuchen“ bzw. „Bitte“ und „Trost“ bzw. „Zuspruch“33, favorisieren im Blick auf Hebr 6,18 allerdings die Übersetzung „einen starken Antrieb haben“34, also die Bedeutungsvariante ‚Ermahnung‘ bzw. ‚Ermunterung‘35. Die Durchmusterung der einzelnen Belege und ihrer jeweiligen Kontexte zeigt, dass die Bedeutungsvariante ‚Ersuchen‘ bzw. ‚Bitte‘ für den Hebr an keiner Stelle in Frage kommt. Die Bedeutung ‚Ermahnung‘ bzw. ‚Ermunterung‘ scheint das Gegebene und Gebotene zu sein in Hebr 3,13; 10,25; 13,19 und 13,22(bis), im Blick auf Hebr 12,5 legt sich schon aufgrund des unmittelbaren Kontextes, der explizit und spezifisch auf die Leidensthematik abhebt36, die Bedeutung ‚Trost‘ bzw. ‚Zuspruch‘ durchaus nahe, wiewohl es sicherlich nicht unmöglich ist, den Begriff παράκλησις auch in Hebr 12,5 im Sinne von ‚Ermahnung‘ bzw. ‚Ermunterung‘ zu fassen. Da nun aber in Hebr 6,18 und im unmittelbaren Kontext dieses Verses eine solche spezifische thematische Zuspitzung nicht erkennbar ist, will es angemessen scheinen, den Begriff παράκλησις – mit W. Bauer und B. Aland – in Hebr 6,18 im Sinne von ‚Ermahnung‘ bzw. ‚Ermunterung‘ oder aber auch ‚Antrieb‘ oder ‚Ansporn‘ zu verstehen37. Vgl. hierzu o. 19–26. Vgl. hierzu o. 66. 32 Vgl. hierzu etwa H.-F. Weiß, Hebr, 363, der im Blick auf den Begriff παράκλησις in Hebr 6,18 von einem für das Grundanliegen des Verfassers des Hebr „entscheidenden Stichwort“ spricht. 33 Wörterbuch, s.v. παράκλησις, 1249. 34 Vgl. Wörterbuch, 1249. 35 In diese Richtung argumentiert auch E. Gräßer, der dies mit dem Hinweis auf die im unmittelbaren Kontext von Hebr 6,18c dominierenden „Verben der Bewegung“ (Hebr I, 382) begründet; nach Gräßer handelt es sich bei dieser Übersetzung um die Mehrheitsexegese (vgl. 382, A. 72). 36 Vgl. hierzu u. 244f. 37 Anders hier etwa M. Karrer, Hebr, II, 20, der hier den Begriff ‚Zuspruch‘ verwendet; K. Backhaus, Hebr, 244 spricht von ‚Ermutigung‘. Wird der Begriff παράκλησις im Sinne von ‚Ermahnung‘, ‚Antrieb‘ oder ‚Ansporn‘ übersetzt, entfällt die poimenische und parakletische Akzentuierung, die die Ausführungen in Hebr 6,13–20 in ihrer Gesamtheit gewönnen, würde dieser Terminus im Sinne von ‚Trost‘ bzw. ‚Zuspruch‘ verstanden. 30 31

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Wird diese Interpretation dann mit der Deutung des Terminus ἐλπίς im Sinne eines objektiven Hoffnungsgutes38 und damit mit derjenigen des Syntagma ἐλπὶς προκειμένη im Sinne eines ‚angebotenen Hoffnungsgutes‘, hier konkret der Person des Sohnes Gottes39, verknüpft, so ergibt sich im Blick auf Hebr 6,18 folgendes Verständnis: Dem auctor ad Hebraeos zufolge habe Gott sich durch zwei πράγματα verbürgt, damit bzw. so dass ‚wir‘ als diejenigen, die auf der Flucht seien, einen starken Antrieb hätten, die Person Jesu als des Sohnes Gottes als das ‚uns‘ angebotene Heilsgut festzuhalten und bei der Person Jesu als des Sohnes Gottes als dem ‚uns‘ angebotenen Heilsgut zu bleiben. Dieser πρόδρομος (Hebr 6,20a) Jesus nun, κατὰ τὴν τάξιν Μελχισέδεκ ἀρχιερεὺς γενόμενος εἰς τὸν αἰῶνα (Hebr 6,20b), ist eben als der ἄγκυρα τῆς ψυχῆς ἀσφαλὴς τε καὶ βέβαια (Hebr 6,19a) ὑπὲρ ἡμῶν (Hebr 6,20a) hineingegangen in das Innere hinter den Vorhang (Hebr 6,19b). Mit diesen letzten Sätzen leitet der auctor ad Hebraeos seine in Hebr 7,1 beginnenden theologischen Darlegungen ein, die im wesentlichen eine Entfaltung des in Hebr 6,19f. programmatisch Dargestellten bieten. Die Ausführungen in Hebr 6,13–20, dem zweiten Teil des ‚metakommunikativen Zwischenstücks‘ Hebr 5,11 – 6,20, bieten keinerlei direkten Bezug auf die Situation der Adressaten des Hebr und vermögen damit im Blick auf die Frage nach der textpragmatischen Situierung dieser Schrift kaum weiterzuhelfen. Der Sachverhalt allerdings, dass der auctor ad Hebraeos mit großer Deutlichkeit darauf abhebt, dass zwei πράγματα Gottes vorlägen, damit und so dass ‚wir‘ dazu angespornt würden, an der ἐλπὶς προκειμένη festzuhalten, lässt die Annahme zumindest möglich erscheinen, dass die Adressaten des Hebr, von jenem im Rahmen der Ausführungen Hebr 5,11–6,12 mit dem Vorwurf konfrontiert, sich aufgrund ihrer νώθεια, d.h. ihres Desinteresses und ihrer Lethargie einer unzulänglichen und daher zugleich auch unzulässigen theologischen Programmatik verschrieben zu haben40, eine Theologie präferieren, in der der Person Jesu als des Sohnes Gottes eine nur untergeordnete Bedeutung zukommt. Diese unzulängliche und daher – nicht zuletzt auch angesichts der beiden πράγματα Gottes – unzulässige theologische Programmatik seiner Adressaten möchte der Verfasser des Hebr nicht zuletzt auch mit den ab Hebr 7,1 folgenden Darlegungen korrigieren und überwinden.

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Vgl. hierzu bereits ausführlich o. 196–200. Vgl. zu diesem Hoffnungsgut bereits o. 139.170f. Vgl. hierzu ausführlich o. 71–73.

5.

Hebr 10,19–25.26–311.32–392

Mit Hebr 10,193 beendet der Verfasser des Hebr seine den Abschnitt Hebr 7,1– 10,18 prägenden lehrhaften, von einer intensiven theologischen Argumentation bestimmten Darlegungen und redet seine Adressaten unter Verwendung des kommunikativen ἡμεῖς4 mit dem Terminus ἀδελφοί unmittelbar an5. In Hebr 10,19–21 entfaltet der auctor ad Hebraeos zunächst eine aus dem zuvor Dargelegten abgeleitete und aus zwei syntaktischen Gliedern zusammengesetzte theologische Schlussfolgerung6: Der Verfasser des Hebr und die von ihm angeschriebenen Adressaten verfügen gemeinsam zunächst über παρρησία7 εἰς τὴν εἴσοδον8 τῶν ἁγίων, eine παρρησία, die durch das αἷμα Ἰησοῦ erwirkt und vermittelt worden ist (Hebr 10,19), darüber hinaus dann aber auch über einen ἱερεύς μέγας ἐπὶ τὸν οἶκον τοῦ θεοῦ (Hebr 10,21)9. Diese παρρησία wird in Hebr 10,20 näherhin

Zu Hebr 10,26–31 als „zweite[r] ‚Bußpassage‘ des Hebr“ vgl. etwa H. Löhr, Umkehr, 223– 225, in Sonderheit 223. 2 Zum inhaltlichen Zusammenhang von Hebr 10,19–39 vgl. neben anderen etwa H.W. Attridge, Hebr, 283; Attridge redet im Blick auf diesen Abschnitt von einer „transitional section“ (301 u.ö.). 3 Zur Inklusion von Hebr 10,19–25 mit Hebr 4,14–16 vgl. etwa M. Karrer, Hebr II, 211: „Der Hebr-Autor feilt das bis ins Detail aus. Namentlich gibt er [den Ausführungen in Hebr] 10,19– 22 dieselbe syntaktische Struktur einer Schlußfolgerung von der Basisaussage ‚Da wir nun einen großen (Hohe-)Priester haben‘ zum ethischen Kohortativ ‚wollen wir ...‘ wie 4,14. Die Basisaussage ... fasst die epideiktische Mitte des Hebr zusammen, den Aufweis von Christi Hohepriestertum, das den Menschen Rettung bringt. Der Kohortativ wechselt zum rhetorischen Gestus des Rates“: 4 Vgl. hierzu bereits ausführlich o. 127–129. 5 Vgl. zu Hebr 10,19 als einem argumentationslogischen Neuansatz etwa H.-F. Weiß, Hebr, 518: „An die Stelle des bisher (vor allem den vorangehenden Abschnitt 7,1–10,18) bestimmenden Stils lehrhafter Argumentation und Darlegung tritt nunmehr die direkte Anrede an die Adressaten und mir ihr auch – wie bereits in den voraufgehenden paränetischen Partien des Hebr – das ekklesiologische ‚Wir‘, in dem sich der Autor des Hebr mit seinen Adressaten zusammenschließt“. Vgl. darüber hinaus auch E. Gräßer, Hebr III, 9–11. 6 Vgl. hierzu etwa M. Karrer, Hebr II, 211: „Ethik zieht – das zeigt sich hier bis in die Sprache – die Konsequenzen aus der erfahrenen Zuwendung“, und 214: Hebr 10,19–22 fassen zusammen, was der Gemeinde durch das Christusgeschehen zu eigen wurde“. 7 Zum Begriff der παρρησία, der bereits in Hebr 3,6 begegnet (vgl. hierzu o. 146), vgl. etwa H. Balz, Art. παρρησία κτλ. in: EWNT2 III, 105–112: „[In Hebr] 10,19 ist entweder vom Recht ... des Zugangs zum Heiligtum durch das Blut Jesu oder von der entspr[echenden]. Zuversicht/Gewißheit“ (111) die Rede. 8 Zum εἴσοδος-Begriff vgl. E. Gräßer, Hebr III, 13f. 9 Vgl. zu dieser Strukturanalyse etwa H.-F. Weiß, Hebr, 527: „Als zweites Akkusativ-Objekt zum einleitenden Partizip ἔχοντες wird neben παρρησίαν ... in V.21 der ‚große Priester über dem Haus Gottes‘ genannt“. 1

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beschrieben als eine solche, die er, d.h. Christus, ἐνεκαίνισεν10 ἡμῖν ὁδὸν πρόσφατον καὶ ζῶσαν διὰ τοῦ καταπετάσματος, τοῦτ᾽ ἔστιν τῆς σαρκὸς αὐτοῦ. Aus diesen in Hebr 10,19–21 extrahierten Schlussfolgerungen entwickelt der auctor ad Hebraeos dann, jene argumentationslogisch als theologische Voraussetzungen etablierend, in Hebr 10,22–24 eine Kette von Mahnungen, die er gegenüber den Adressaten seiner Epistel wiederum im kommunikativen ἡμεῖς und, dem entsprechend, als coniunctivi hortativi formuliert: προσερχώμεθα μετὰ ἀληθινῆς καρδίας ἐν πληροφορίᾳ πίστεως11 ῥεραντισμένοι τὰς καρδίας ἀπὸ συνειδήσεως πονηρᾶς καὶ λελουσμένοι τὸ σῶμα ὕδατι καθαρῷ· (23) κατέχωμεν τὴν ὁμολογίαν τῆς ἐλπίδος ἀκλινῆ, πιστὸς γὰρ ὁ ἐπαγγειλάμενος, (24) καὶ κατανοῶμεν ἀλλήλους εἰς παροξυσμὸν ἀγάπης καὶ καλῶν ἔργων. Lassen sich diese einzelnen Mahnungen – in Ermangelung anderslautender Textsignale – noch als ohne jeglichen konkreten Bezug auf aktuell wahrnehmbare Vorfindlichkeiten und Verhältnisse innerhalb der Adressatenschaft des Hebr gezogene paränetisch-potentielle12 Konsequenzen aus dem zuvor Ausgeführten begreifen13, so scheint der Verfasser des Hebr in Hebr 10,25a unmittelbaren Bezug auf eben diese zu nehmen: Aus dem Kreis der Angeschriebenen scheinen es sich einige14 bereits zur Gewohnheit gemacht zu haben15, ihre ἐπισυναγωγή, d.h. die von ihnen augenscheinlich bis dato besuchte gottesdienstliche Versammlung16, zu verlassen bzw. im Stich zu lassen17, ein Verhalten, das der auctor ad Hebraeos unbedingt zu 10 Zu den theologischen Implikationen dieses Begriffs vgl. M. Karrer, Hebr II, 215: „Jesus vollzieht in seinem Blut einen solennen Akt wie eine Tempelweihe“. 11 Zu der innerhalb der Darlegungen in Hebr 10,22–24 verarbeiteten Trias Glaube – Liebe – Hoffnung vgl. etwa M. Karrer, Hebr II, 221f. 12 Vgl. zu dieser Begrifflichkeit ausführlich o. 127–129. 13 Anders hier etwa O. Michel, Hebr, 347, der mit Blick auf Hebr 10,23 formuliert: „Gegenüber den Verlockungen anderer Glaubensgemeinschaften und dem Druck von außen (οἱ ἐχθροί V. 13) soll die Gemeinde an ihrem Bekenntnis festhalten“. Von diesem Druck erwähnt der auctor ad Hebraeos an dieser Stelle allerdings nichts; der Verweis auf Hebr 10,13 trägt nichts aus, da die dortigen Ausführungen, eine Paraphrase von Ps 110,1, auf die Person des himmlischen κύριος bezogen ist. 14 K. Backhaus, Hebr, 361 spricht hier m.R. von „einigen Christen“, die eine „gewohnheitsmäßig vernachlässigte Teilnahme an der Gemeindeversammlung“ an den Tag legten. 15 Vgl. in diesem Sinne etwa E. Gräßer, Hebr III, 29f.: „Mehr noch: Es ist bei einigen (τισίν) bereits zur Gewohnheit geworden“. 16 Zu dieser Umschreibung des Terminus ἐπισυναγωγή vgl. etwa E. Gräßer, Hebr III, 28f. und auch H.W. Attridge, Hebr, 290. 17 Das hier verwendete Partizip ἐγκαταλείποντες deutet der Mehrheit der Forschung zufolge auf den Sachverhalt der „Desertion [der hier angesprochenen Christen] von der gottesdienstlichen Gemeinschaft“ (E. Gräßer, Hebr III, 28 mit Verweis auf C. Spicq) hin. An anderer Stelle (Hebr III, 30) spricht Gräßer von „Gemeindeflucht“, wohingegen H.W. Attridge die durch dieses Partizip ausgedrückte Aktivität als „wrongful abandonment“ (Hebr, 290) charakterisiert. Zumindest nicht undenkbar will es aber auch scheinen, das Verb ἐγκαταλείπω im Sinne von „etwas lässig betreiben“ (vgl. hierzu wiederum E. Gräßer, Hebr III, 28) zu verstehen. Ein solches Verständnis würde den in Hebr 10,25a erhobenen Vorwurf doch deutlich abschwächen; es ginge dem auctor ad Hebraeos an dieser Stelle nicht darum, das – womöglich vollständige bzw.

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unterlassen fordert: μὴ ἐγκαταλείποντες18 τὴν ἐπισυναγωγὴν ἑαυτῶν19, καθὼς ἔθος τισίν20. Stattdessen weist er seine Adressaten an, einander zu ermahnen (Hebr 10,25b), eine Anweisung, deren Ernst und Dringlichkeit er nun nicht, wie noch in Hebr 10,19–21, christologisch, sondern eschatologisch, d.h. mit der Nähe der Wiederkunft Jesu, begründet: ἀλλὰ παρακαλοῦντες, καὶ τοσούτῳ μᾶλλον ὅσῳ βλέπετε ἐγγίζουσαν τὴν ἡμέραν21. Die Annahme, die Mahnungen bzw. Aufforderungen in Hebr 10,22–25 – und auch diejenige in Hebr 10,25b – seien nicht als auf konkret aktuell wahrnehmbare Vorfindlichkeiten und Verhältnisse innerhalb der Adressatenschaft des Hebr bezogen zu denken, gewinnt ihre Wahrscheinlichkeit nicht zuletzt auch aus dem Sachverhalt, dass der Verfasser des Hebr mit coniunctivi hortativi arbeitet und damit sich selbst und seine Adressaten durch die Verwendung der 1. Person Plural bzw. dem kommunikativen ‚wir‘ unter den entsprechenden Aufforderungen zusammenschließt. Hätte er auf – letzten Endes defizitäre – Vorfindlichkeiten und Verhältnisse innerhalb jener Bezug nehmen wollen, stände zu erwarten, dass er, wie etwa auch in Hebr 5,11–1422; 6,9–1223, die Adressaten seiner Epistel in der 2. Person Plural, angeredet hätte.

An dieser in Hebr 10,25a begegnenden Formulierung ist zunächst auffällig, dass der Verfasser des Hebr anstelle des Begriffs συναγωγή hier, um die Zusammen-

endgültige – Verlassen der gottesdienstlichen Versammlung, sondern – lediglich – das unregelmäßige Besuchen derselben zu kritisieren. 18 Zum syntaktischen Bezug dieses Partizips auf das Prädikat κατανοῶμεν in 10,24 vgl. etwa H.-F. Weiß, Hebr, 533: „Die beiden Partizipien μὴ ἐγκαταλείποντες – ἀλλὰ παρακαλοῦντες sind syntaktisch dem Kohortativ κατανοῶμεν (V. 24) zugeordnet und führen somit aus, worin konkret jenes ‚Aufeinander-Achten‘ vor allem bestehen soll“. 19 Zum Personalpronomen ἑαυτῶν vgl. etwa E. Gräßer, Hebr III, 28, A. 154; Gräßer macht darauf aufmerksam, dass dieses Personalpronomen „wie in der Koine üblich, hier in der 3. Pers[on].Pl[ural]. statt, wie klassisch korrekt, in der 1. Pers[on]. Pl[ural].“ steht. 20 Zum parenthetischen Charakter der letzten drei Worte der Ausführungen von Hebr 10,25a vgl. m.R. H.W. Attridge, Hebr, 290 (zu dem entsprechenden Zitat vgl. u. 220, A. 29). Wird der parenthetische Charakter jener ernstgenommen, ergäbe sich die Möglichkeit, auch die Ausführungen in Hebr 10,25aα, d.h. die Aufforderung μὴ ἐγκαταλείποντες τὴν ἐπισυναγωγὴν ἑαυτῶν weniger konkret bzw. aktuell und aus den Vorfindlichkeiten und Verhältnissen innerhalb der Adressatenschaft des Hebr sich ergebend, sondern vielmehr als paränetischpotentiell (vgl. zu dieser Begrifflichkeit ausführlich o. 127–129) veranlasst zu betrachten: Die Ausführungen in Hebr 10,19–21 implizierten neben anderem eben auch die grundsätzliche paränetisch-potentielle Aufforderung, die entsprechende gottesdienstliche Versammlung weder zu verlassen noch unregelmäßig zu besuchen. 21 Vgl. hierzu etwa H.W. Attridge, Hebr, 291: „The urgency of the summons is underlined by the final, eschatological notice“. Durchaus m.R. weist H. Löhr, Umkehr, 222f. darauf hin, dass der auctor ad Hebraeos hier in Hebr 10,25b seine Adressaten wieder in der 2. Person Plural anspricht, allerdings eben nicht innerhalb seiner Mahnung, sondern – lediglich – im Rahmen des Hinweises auf die Nähe der Wiederkunft Jesu. 22 Vgl. hierzu o. 66–126. 23 Vgl. hierzu o. 177–208.

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kunft der mit seiner Epistel Angeschriebenen zu bezeichnen, das „der hellenistischen Sprache angehörige Dekompositum“24 ἐπισυναγωγή25 verwendet. Inwieweit mit diesem Dekompositum, das einerseits die Handlung, andererseits aber auch das Ergebnis des ἐπισυνάγειν zu bezeichnen vermag26, ein gegenüber dem Terminus συναγωγή anderer Akzent zum Ausdruck gebracht werden sollte, muss letzten Endes Spekulation bleiben. Denkbar ist, wird der mit dem Begriff ἐπισυναγωγή augenscheinlich transportierte profane Akzent betont, freilich die Annahme, dass der Verfasser des Hebr mit jenem auf eine Versammlung hinwiesen wollte, die von der üblichen Versammlung der (Gesamt-)Gemeinde zu unterscheiden ist, vor dem Hintergrund des zu Hebr 5,11–14 Formulierten also etwa eine zum Zwecke des Unterrichtens organisierte katechetische Zusammenkunft. Angesichts der schmalen Beleglage lässt sich eine solche Annahme aber kaum auch nur annähernd wahrscheinlich machen. Hilfreich, wenn natürlich auch nicht schlagend beweiskräftig, mag hier ein Blick auf den zweiten neutestamentlichen Beleg für den Begriff ἐπισυναγωγή, 2Thess 2,1, sein: ἐρωτῶμεν δὲ ὑμᾶς, ἀδελφοί, ὑπὲρ τῆς παρουσίας τοῦ κυρίου ἡμῶν Ἰησοῦ Χριστοῦ καὶ ἡμῶν ἐπισυναγωγῆς ἐπ᾽ αὐτὸν. Hier wird dieser Terminus dazu verwendet, um „die Versammlung um den wiederkehrenden Herren“27 zu bezeichnen, also gerade nicht dazu verwendet, auf eine gottesdienstliche Versammlung hinzuweisen. Somit scheint 2Thess 2,1 ein profanes Verständnis dieses Begriffs zu belegen. Inwieweit damit etwas für dessen semantische Konnotation innerhalb des Hebr gewonnen ist, muss allerdings dahingestellt bleiben. Ein ähnlich profanes Verständnis, hier bezogen auf „die aus der Zerstreuung zurückgekehrte eschatologische Versammlung Israels“28, begegnet in 2Makk 2,7f.: ὡς δὲ ὁ Ιερεμιας ἔγνω μεμψάμενος αὐτοῖς εἶπεν ὅτι καὶ ἄγνωστος ὁ τόπος ἔσται ἕως ἂν συναγάγῃ ὁ θεὸς ἐπισυναγωγὴν τοῦ λαοῦ καὶ ἵλεως γένηται (8) καὶ τότε ὁ κύριος ἀναδείξει ταῦτα καὶ ὀφθήσεται ἡ δόξα τοῦ κυρίου καὶ ἡ νεφέλη ὡς ἐπὶ Μωυσῇ ἐδηλοῦτο ὡς καὶ ὁ Σαλωμων ἠξίωσεν ἵνα ὁ τόπος καθαγιασθῇ μεγάλως.

Bedeutsamer als diese Beobachtung will jedoch der Sachverhalt scheinen, dass der auctor ad Hebraeos in Hebr 10,25b – auch hier, wie schon in anderen Zusammenhängen, recht wenig konkret29 und eher beiläufig und parenthetisch30 – augenscheinlich nicht von einem „förmliche[n]. Abfall, sondern nur [von] eine[r] Fahrlässigkeit ..., die von einer dem Abfall nicht sehr fernen Erkaltung [der an dieser Stelle in den Blick genommenen Christen] zeugt“31, also eben nicht von E. Riggenbach, Hebr, 321. Vgl. zu diesem Begriff auch M. Karrer, Hebr II, 223. 26 Vgl. hierzu neben vielen anderen etwa E. Riggenbach, Hebr, 321. 27 E. Gräßer, Hebr III, 28; vgl. hierzu in ähnlichem Sinne auch M. Karrer, Hebr II, 222. 28 E. Gräßer, Hebr III,28. 29 Vgl. hierzu m.R. H.W. Attridge, Hebr, 290: „As in earlier allusions to the danger of apostasy, Hebrews does not immediately provide any more specific information on what led to the problem“; dabei verweist Attridge auf Hebr 2,1–5 (vgl. hierzu o. 129–144), Hebr 3,12 (vgl. hierzu o. 147–155), Hebr 4,11 (vgl. hierzu o. 155–157) und Hebr 6,4–12 (vgl. hierzu o. 177–208) (290, A. 88). 30 Vgl. hierzu o. 31 F. Delitzsch, Hebr, 491; vgl. zu diesem Zitat auch E. Gräßer, Hebr III, 30. 24 25

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einer bewussten, durch eine etwaige Hinwendung zu anderen religiösen Formaten evozierte Abwendung von der christlichen Theologie und der christlichen Gemeinschaft, sondern, wenn überhaupt, eher von einer Haltung der Gleichgültigkeit gegenüber letzteren oder womöglich nur gegenüber letzterer32 sprechen möchte. Darüber hinaus wird diese – zumindest nicht erkennbar theologisch motivierte – ‚Fahrlässigkeit‘ bzw. Gleichgültigkeit offensichtlich nur von einigen, von τινές – wobei unklar bleibt, wie diese τινές des näheren zu definieren sind, etwa als τινές ἐξ ὑμῶν oder τινές ἐξ ἡμῶν –, gewohnheitsmäßig gelebt, augenscheinlich jedoch nicht von einem bedeutsamen Teil oder gar einer größeren eigenständigen Gruppe innerhalb der Gesamtadressatenschaft des Hebr. Aus diesem Hinweis nun eine für urchristliche Gemeinden der zweiten und der dritten Generation typische „Gottesdienstmüdigkeit“33 der Adressaten des Hebr zu extrahieren und jenen insgesamt eine durchgängige, aktuell und akut Platz greifende Glaubensermüdung und -ermattung attestieren zu wollen34, geht am Argumentationsduktus der Passage Hebr 10, 19–25 in ihrer Gesamtheit dann aber In diese Richtung scheint immerhin T. Zahn, Einleitung II, 144, A. 11 zu denken, wenn er annimmt, dass unter den τινές solche Christen zu verstehen seien, die „die Versammlung, zu der sie gehören, verlassen, um sich einer anderen Gruppe von Christen am gleichen Ort zuzuwenden, weil sie dort mehr Erbauung zu finden hoffen“ (zitiert nach E. Riggenbach, Hebr, 323). Anders hier etwa H. Windisch, Hebr, 94, der hier unterschiedliche mögliche oder auch unmögliche Gründe für das von einigen Gliedern der Adressatenschaft geübte Verlassen der gottesdienstlichen Versammlung erwägt. Kritisch hier auch O. Michel, Hebr, 349, A. 3, der zugunsten dieser Annahme keinerlei Textsignale ausmachen kann. Dies gilt auch für die Aussage von D.A. DeSilva, Hebr, 342: „Some [aus der Gruppe der im Hebr Angeschriebenen] have considered, in effect, that the cost of holding onto God’s promises is greater than those promises are worth .... Now they decide that society’s acceptance is worth more after all“; es ist doch zumindest auffällig, dass der auctor ad Hebraeos, hier deutlich anders als etwa der Verfasser der neutestamentlichen Apk, diesen an sich durchaus naheliegenden Zusammenhang an dieser Stelle eben gerade nicht entwickelt und propagiert, sondern, wenn überhaupt, so erst in Hebr 13,10–14 (anders hier jedoch E. Gräßer, Hebr III, 382–389). 33 Vgl. zu diesem Begriff E. Gräßer, Hebr III, 30; Gräßer fragt, ob es möglich und sinnvoll sei, das in Hebr 10,25a angesprochene Verlassen der gottesdienstlichen Versammlung näher zu spezifizieren, und antwortet dann: „Nein, die allgemeine Situation der Kirche im ausgehenden Urchristentum erklärt den Vorgang mühelos: Gottesdienstmüdigkeit gehört zu den typischen Zügen von Gemeinden der zweiten und dritten Generation, die den Schwung der ‚früheren Tage‘ ... verloren haben und daher diesbezüglicher Vermahnung bedürftig sind“. 34 Vgl. hierzu aber G. Schunack, Hebr, 151: „Ursache dieser ‚Absetzbewegung‘ ist sicherlich nicht ein Wechsel zur jüdischen Synagoge oder d[er]gl[eichen]., sondern eine für das Christentum der 2. und 3. Generation wohl symptomatische Ermattung im Christsein ..., vielleicht verstärkt durch Anfeindungen der sozialen Umwelt“. Zur Begründung seiner These einer „wohl symptomatischen Ermattung im Christsein“ verweist Schunack auf Hebr 5,11 und Hebr 2,1, beides Belege, die diese Annahme gerade nicht zu substantiieren vermögen (vgl. hierzu o. 66– 73 und o. 129–132). In diese Richtung denkt auch K. Backhaus, Hebr, 361: „Aber sie [d.h. die Absetzbewegung] fügt sich passend in das in Hebr auch sonst greifbare Gesamtbild einer von außen unter Druck gesetzten und im Inneren schwunglos gewordenen Minderheit. Gemeindemitglieder mögen sich, ohne formal mit dem Glauben zu brechen, abgesetzt haben. Gerade dies wirkt auf die anderen zusätzlich demotivierend“. 32

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doch deutlich vorbei. Diese zielt sicherlich darauf ab, das gemeindliche Leben und die enge Lebensgemeinschaft der Adressatenschaft des Hebr auf der Basis der in Hebr 10,19–21 beschriebenen Wirksamkeit des ἱερεύς μέγας ἐπὶ τὸν οἶκον τοῦ θεοῦ Christus zu begründen, nicht jedoch – und dies belegt eben der einerseits allgemeine, andererseits zugleich beiläufige und parenthetische Charakter der Einlassung καθὼς ἔθος τισίν Hebr 10,25aβ – darauf, einer womöglich unmittelbar bevorstehenden Auflösung dieses gemeindlichen Lebens aufgrund einer sich in dieser Gemeinschaft ausbreitenden und aus der Glaubensermattung hervorgegangenen Gottesdienstmüdigkeit entgegenzuwirken35. Angesichts dieser argumentationslogischen Struktur müssen auch Hinweise wie etwa derjenige von H.W. Attridge, dem zufolge „the parenthetical remark that it is the ‚custom‘ (ἔθος) of some to act in this fashion [, d.h., die gottesdienstliche Versammlung zu verlassen] is the strongest indication of the concrete problem that Hebrews as a whole is designed to address“36, ins Leere laufen. Um die Gottesdienstmüdigkeit der Adressatenschaft dieser Epistel zu belegen, verweist etwa E. Gräßer als – vermeintliche – Parallelen auf IgnEph 5,3; 13,1, Did 16,2, Barn 4,10 und Herm vis. III 6,2; sim. VIII 9,1; IX 26,337. Eine genauere Inaugenscheinnahme dieser Belege zeigt jedoch, dass jene die von Gräßer intendierte Deutung von Hebr 10.25b kaum zu belegen vermögen: (a) In IgnEph 5,3 wirft der Verfasser dieses Briefes denjenigen unter seinen ephesischen Adressaten, die nicht die ἐκκλησία besuchen und damit zeigen, dass sie sich nicht dem gemeindlichen ἐπίσκοπος unterstellen wollen, ὑπερηφανία vor38: ὁ οὖν μὴ ἐρχόμενος ἐπὶ τὸ αὐτὸ οὗτος ἤδη ὑπερηφανεῖ καὶ ἑαυτὸν διέκρινεν γέγραπται γάρ Ὑπερηφάνοις ὁ θεὸς ἀντιτάσσεται σπουδάσωμεν οὖν μὴ ἀντιτάσσεσθαι τῷ ἐπισκόπῳ ἵνα ὦμεν θεῷ ὑποτασσόμενοι39. Dieser E. Riggenbach, Hebr, 323 konterkariert die Intention des Verfassers des Hebr geradezu, wenn er formuliert: „Nicht der separatistischen Tendenz einzelner, sondern wie die allgemeine Formulierung der Ermahnung zeigt, der Gleichgültigkeit und Erschlaffung der ganzen Gemeinde tritt der V[er]f[asser] entgegen“. 36 Hebr, 290. Darüber hinaus erklärt Attridge in diesem Zusammenhang nicht, was es dann mit den doch sehr konkreten Einlassungen in Hebr 5,11–14; 6,1–3.4–12 (vgl. hierzu insgesamt o. 66–126.161–176.177–208) auf sich haben sollte. 37 Vgl. E. Gräßer, Hebr III, 30, darüber hinaus auch E. Riggenbach, Hebr, 323, A. 8. 38 Vgl. hierzu etwa W.R. Schoedel, Briefe, 110: „5.3 hat folgenden Gedankengang: nicht zur Versammlung (unter dem Bischof) zu erscheinen ist Hochmut; deshalb soll man dem Bischof gehorchen (d.h. zur Versammlung erscheinen), um Gott gehorsam erfunden zu werden“. 39 „Wer nun nicht zur Versammlung kommt, der ist schon hochmütig und hat sich damit selbst das Urteil gesprochen. Denn es steht geschrieben: Gott stellt sich den Hochmütigen entgegen. Darum wollen wir bestrebt sein, uns nicht dem Bischof entgegenzustellen, damit wir Gott unterstellt seien“; Text und Übersetzung nach A. Lindemann/H. Paulsen, Apostolische Väter, 182f. Für den Besuch der gottesdienstlichen Versammlung im Gehorsam gegen den gemeindlichen ἐπίσκοπος werben auch die Ausführungen in IgnEph 20,2, die von H. Windisch, Hebr, 94 als Beleg für eine im späteren Urchristentum immer wieder zu beobachtende Glaubensermüdung und -ermattung angeführt werden: μάλιστα ἐὰν ὁ κύριός μοι ἀποκαλύψῃ ὅτι οἱ κατ᾽ ἄνδρα κοινῇ πάντες ἐν χάριτι ἐξ ὀνόματος συνέρχεσθε ἐν μιᾷ πίστει καὶ ἐν Ἰησοῦ Χριστῷ τῷ κατὰ σάρκα ἐκ γένους Δαυείδ τῷ υἱῷ ἀνθρώπου καὶ υἱῷ θεοῦ εἰς τὸ ὑπακούειν ὑμᾶς τῷ ἐπισκόπῳ καὶ τῷ πρεσβυτερίῳ ἀπερισπάστῳ διανοίᾳ ἕνα ἄρτον κλῶντες ὅς ἐστιν φάρμακον 35

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Vorwurf hat mit der Thematik der Gottesdienstmüdigkeit inhaltlich allerdings kaum etwas zu tun40. (b) Im Blick auf die Ausführungen in IgnEph 13,1 muss zumindest mehr als fraglich bleiben, ob im Hintergrund der hier formulierten Aufforderung, häufiger zur εὐχαριστία θεοῦ und zur δόξα zusammenzukommen, der Gedanke der Gottesdienstmüdigkeit steht41. Durch den Text selbst wird dieser jedenfalls in keiner Weise indiziert: Σπουδάζετε οὖν πυκνότερον συνέρχεσθαι εἰς εὐχαριστίαν θεοῦ καὶ εἰς δόξαν ὅταν γὰρ πυκνῶς ἐπὶ τὸ αὐτὸ γίνεσθε καθαιροῦνται αἱ δυνάμεις τοῦ Σατανᾶ καὶ λύεται ὁ ὄλεθρος αὐτοῦ ἐν τῇ ὁμονοίᾳ ὑμῶν τῆς πίστεως42. (c) Gleiches gilt auch für die Ausführungen in Did 16,2. Der Text bietet keinerlei Textsignal dafür, dass die hier formulierte Aufforderung, sich häufig zu versammeln, auf eine wie auch immer näher zu definierende Gottesdienstmüdigkeit der angeschriebenen Christen rekurrierte: πυκνῶς δὲ συναχθήσεσθε ζητοῦντες τὰ ἀνήκοντα ταῖς ψυχαῖς ὑμῶν οὐ γὰρ ὠφελήσει ὑμᾶς ὁ πᾶς χρόνος τῆς πίστεως ὑμῶν ἐὰν μὴ ἐν τῷ ἐσχάτῳ καιρῷ τελειωθῆτε43. (d) Auch in Herm vis. III 6,2 geht es nicht um eine von dem pastor Hermae konstatierte Gottesdienstmüdigkeit der christlichen Gemeinde. Vielmehr werden hier diejenigen kritisiert, die die christliche Gemeinde verlassen haben und eben aus diesem Grund nicht mehr die gemeindliche Versammlung besuchen. Eben dieses Momentum begegnet im Hebr nun aber gerade nicht: τοὺς δὲ ἑτέρους οὓς ἑώρακας πολλοὺς κειμένους μὴ ὑπάγοντας εἰς τὴν οἰκοδομήν οὗτοι οἱ μὲν ἐψωριακότες εἰσὶν οἱ ἐγνωκότες τὴν ἀλήθειαν μὴ ἐπιμένοντες δὲ ἐν αὐτῇ μηδὲ κολλώμενοι τοῖς ἁγίοις διὰ τοῦτο ἄχρηστοί εἰσιν44. Der gleiche Sachverhalt begegnet dann auch in sim. VIII 9,1: Οἱ δὲ ἀθανασίας ἀντίδοτος τοῦ μὴ ἀποθανεῖν ἀλλὰ ζῆν ἐν Ἰησοῦ Χριστῷ διὰ παντός („..., daß ihr alle Mann für Mann, jeder einzelne ohne Ausnahme, gemeinsam in Gnade zusammenkommt, in einem Glauben und in Jesus Christus, der dem Fleische nach aus Davids Geschlecht stammt, dem Menschensohn und Gottessohn, um dem Bischof und dem Presbyterium zu gehorchen mit ungeteiltem Sinn, ein Brot brechend, das ist die Unsterblichkeitsarznei, Gegengift gegen den Tod, Gabe, um immerfort in Jesus Christus zu leben“; Text und Übersetzung nach A. Lindemann/H. Paulsen, Apostolische Väter, 190f.). 40 Zu den Belegen aus den Ignatiusbriefen vgl. in ähnlicher Weise auch M. Karrer, Hebr II, 223, der m.R. darauf hinweist, dass zwischen jenen und Hebr 10,25aβ kein inhaltlicher Zusammenhang besteht. 41 Vgl. hierzu etwa W.R. Schoedel, Briefe, 139: „Ignatius ... betont, wie stark der Gottesdienst an sich das eschatologische Drama vorwegnimmt, indem er die Mächte der Finsternis zerstört“. 42 „So bemüht euch nun, häufiger zusammenzukommen zum Herrenmahl Gottes und zum Lobpreis. Denn wenn ihr häufig zusammenkommt, werden die Mächte Satans vernichtet, und das von ihm drohende Verderben zerbricht an eurer Glaubenseinigkeit“; Text und Übersetzung nach A. Lindemann/H. Paulsen, Apostolische Väter, 186f. 43 „Häufig aber sollt ihr zusammenkommen, das suchend, was für euer Leben nötig ist. Es wird euch nämlich die ganze Zeit eures Glaubens nichts nützen, wenn ihr nicht in der letzten Zeit vollkommen seid“; Text und Übersetzng nach A. Lindemann/H. Paulsen, Apostolische Väter, 18f. 44 „Von den andern aber, die du in großer Zahl daliegen sahst, die nicht zum Bau verwendet wurden, sind die einen zu rauh, nämlich die, welche die Wahrheit erkannt haben, aber nicht bei ihr geblieben sind und nicht mit den Heiligen Gemeinschaft gehalten haben; deswegen sind sie unbrauchbar“; Text und Übersetzung nach A. Lindemann/H. Paulsen, Apostolische Väter, 352f.

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Die Analyse von Hebr 10,19–25.26–31.32–39 ἐπιδεδωκότες τὰς ῥάβδους τὰ μὲν δύο μέρη ξηρά τὸ δὲ τρίτον χλωρόν οὗτοί εἰσι πιστοὶ μὲν γεγονότες πλουτήσαντες δὲ καὶ γενόμενοι ἔνδοξοι παρὰ τοῖς ἔθνεσιν ὑπερηφανίαν μεγάλην ἐνεδύσαντο καὶ ὑψηλόφρονες ἐγένοντο καὶ κατέλιπον τὴν ἀλήθειαν καὶ οὐκ ἐκολλήθησαν τοῖς δικαίοις ἀλλὰ μετὰ τῶν ἐθνῶν συνέζησαν καὶ αὕτη ἡ ὁδὸς ἡδυτέρα αὐτοῖς ἐγένετο ἀπὸ δὲ τοῦ θεοῦ οὐκ ἀπέστησαν ἀλλ᾽ ἐνέμειναν τῇ πίστει μὴ ἐργαζόμενοι τὰ ἔργα τῆς πίστεως45. In sim. IX 26,3 scheint hingegen von solchen die Rede zu sein, die niemals Christen gewesen sind, somit also nicht von solchen, die des Gottesdienstbesuches etwa überdrüssig oder müde geworden wären: οἱ δὲ ἐψωριακότες οὗτοι οἱ ἀρνησάμενοί εἰσι καὶ μὴ ἐπιστρέψαντες ἐπὶ τὸν κύριον ἑαυτῶν ἀλλὰ χερσωθέντες καὶ γενόμενοι ἐρημώδεις μὴ κολλώμενοι τοῖς δούλοις τοῦ θεοῦ ἀλλὰ μονάζοντες ἀπολλύουσι τὰς ἑαυτῶν ψυχάς46. (e) Am ehesten noch ließen sich die Ausführungen in Barn 4,10 in Richtung auf eine Gottesdienstmüdigkeit der angeschriebenen Christen interpretieren: φύγωμεν ἀπὸ πάσης ματαιότητος μισήσωμεν τελείως τὰ ἔργα τῆς πονηρᾶς ὁδοῦ Μὴ καθ᾽ ἑαυτοὺς ἐνδύνοντες μονάζετε ὡς ἤδη δεδικαιωμένοι ἀλλ᾽ ἐπὶ τὸ αὐτὸ συνερχόμενοι συνζητεῖτε περὶ τοῦ κοινῇ συμφέροντος47. Allerdings verweist der Verfasser des Barn an dieser Stelle als Motiv des Fernbleibens vom Gottesdienst eben nicht auf jene, sondern auf ein wie auch immer geartetes offensichtlich elitäres Bewusstsein derjenigen, die die gottesdienstliche Versammlung nicht aufsuchen. Schon im Grundsatz lässt sich letzten Endes keiner dieser Belege zugunsten der Annahme in Anspruch nehmen, dass um die Wende vom ersten zum zweiten nachchristlichen Jahrhundert innerhalb der Christenheit in verstärktem Maße eine Gottesdienstmüdigkeit zu beobachten sei, die auf eine Glaubensermüdung oder -ermattung der entsprechenden jeweiligen Gemeindeglieder zurückzuführen sei. Dies aber verunmöglicht das Unterfangen, aus diesen hier diskutierten Belegen im Blick auf die Ausführungen in Hebr 10,25a und die dahinter stehende – oder von seiten des auctor ad Hebraeos dahinter vermutete – historische Situation auch nur annähernd wahrscheinliche interpretatorische Schlussfolgerungen zu entwickeln.

Fazit: Die Ausführungen in Hebr 10,19–25, in Sonderheit auch der Hinweis in Hebr 10,25aβ, demzufolge einige unter den Adressaten des Hebr offensichtlich „Und die, die ihre Stäbe zu zwei Drittel verdorrt und zu einem Drittel grün abgegeben hatten, das sind die, die zwar Gläubige geworden waren, dann aber reich geworden sind und Ansehen bei den Heiden erlangt haben. Großen Stolz haben sie angenommen und hochmütig sind sie geworden, die Wahrheit haben sie verlassen und haben nicht mit den Gerechten Gemeinschaft gehalten, sondern sie haben mit den Heiden Umgang gehabt, und das erschien ihnen als der angenehmere Weg. Von Gott sind sie nicht abgefallen, vielmehr beharrten sie beim Glauben, taten aber die Werke des Glaubens nicht. Viele von ihnen haben Buße getan und ihre Wohnung im Turm erhalten“; Text und Übersetzung nach A. Lindemann/H. Paulsen, Apostolische Väter, 480f. 46 „Die verwitterten aber sind die, welche verleugnet und sich nicht zu ihrem Herrn bekehrt haben, sondern wüst geworden und verwildert sind, da sie mit den Knechten Gottes keine Gemeinschaft halten, sondern durch Einsamkeit ihre Seele verderben“; Text und Übersetzung nach A. Lindemann/H. Paulsen, Apostolische Väter, 522f. 47 „Damit nun der Schwarze keinen Einlaß findet, laßt uns vor aller Eitelkeit fliehen, laßt uns ganz und gar die Werke des bösen Weges hassen. Sondert euch nicht ab, indem ihr euch in euch selbst verkriecht, als ob ihr schon gerechtfertigt wäret, sondern kommt gemeinsam zusammen und besprecht euch über den gemeinsamen Nutzen“; Text und Übersetzung nach A. Lindemann/H. Paulsen, Apostolische Väter, 34f. 45

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die Gewohnheit praktizieren, der von ihnen in der Vergangenheit besuchten gottesdienstlichen Versammlung entweder temporär oder final den Rücken zu kehren, lässt sich – zumindest auf der Basis des zuhandenen textlichen Materials – nicht als eine aus einer Glaubensmüdigkeit oder -ermattung gespeiste Gottesdienstmüdigkeit, die die Adressatenschaft dieser Epistel in größerem Umfang heimgesucht hätte, interpretieren. Wie der Duktus der Argumentation in diesen Versen zeigt, stellt Hebr 10,25a, stellen vor allem die parenthetischen Ausführungen in Hebr 10,25aβ, viel wahrscheinlicher eine eher beiläufige Bemerkung dar, die den theologisch-theoretischen bzw. paränetisch-theoretischen, in diesem Falle konkret: den paränetisch-potentiellen48 Schwerpunkt dieser Argumentation illustrieren soll, nicht aber selber den argumentationslogischen Schwerpunkt derselben darstellt. Dass einige aus der Adressatenschaft des Hebr gewohnheitsmäßig nicht mehr an der entsprechenden gottesdienstlichen Versammlung teilnehmen, soll nicht bestritten werden; dass dies als ein Zeichen für eine umfassende Gottesdienst- und Glaubensmüdigkeit interpretiert werden darf, allerdings sehr wohl. Die Analyse der an Hebr 10,25 anschließenden Ausführungen muss – nun wiederum – zeigen, ob und inwieweit sie dieses – weitere, den bisherigen Analysen paränetischer Texte innerhalb des Hebr aber durchaus entsprechende49 – Zwischenergebnis zu bestätigen vermag. Das hier zu Hebr 10,25 Ausgeführte gilt mutatis mutandis auch im Blick auf die Ausführungen in Hebr 10,24. Das Unterfangen von C.R. Koester, aus Hebr 10,24: καὶ κατάνοῶμεν ἀλλήλους εἰς παροξυσμὸν ἀγάπης καὶ καλῶν ἔργων, einer Mahnung, die immerhin im kommunikativen ἡμεῖς abgefasst ist, herauszulesen, dass die Adressaten des Hebr „had problems that in many ways seemed minor: some neglected to meet with the community, and others needed prodding to do deeds of love (10:24–25)“50 lässt sich einerseits angesichts der Darlegungen von Hebr 6,10b – hier wird den Angeredeten expressis verbis ein durchaus intensives karitatives Engagement bescheinigt51 –, andererseits aufgrund der in Hebr 10,24 vorliegenden Verwendung des kommunikativen ‚wir‘ kaum schlüssig begründen.

An die vorausgehenden Darlegungen schließt der Verfasser des Hebr in Hebr 10,26a52, nach C.R. Koester im Rahmen einer zweiten, augenscheinlich bis Hebr 10,39 reichenden „transitional digression“53, mit der kausal koordinierenden Konjunktion γάρ an, damit ausdrückend, dass nun eine Begründung für das zuvor Ausgeführte, hier konkret entweder für „die Gefährlichkeit des nahenden Vgl. zu dieser Begrifflichkeit ausführlich o. 127–129. Vgl. hierzu o. 129–157. 50 Hebr, 454. 51 Vgl. hierzu ausführlich o. 142f. 52 Zur Inklusion von Hebr 10,26–31 mit Hebr 6,4–8 vgl. M. Karrer, Hebr II, 211, vgl. darüber hinaus auch H.-F. Weiß, Hebr, 536f. 53 Vgl. hierzu Hebr, xi, vgl. darüber hinaus auch 454f. Koester zufolge besteht diese παρέκβασις bzw. digressio aus „three paragraphs. The first warns of divine judgment (10:26–31), while the second and third paragraphs recall past solidarity during persecution (10:32–34) and call for perseverance in faith (10:35–39)“. 48 49

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Gerichtstages“54 oder aber, was doch deutlich wahrscheinlicher scheint, – wiederum christologisch akzentuiert, nun allerdings via negativa formuliert – für die Befolgung der in Hebr 10,24f. ausgesprochenen Mahnungen, folgt. Diese Begründung ist in Hebr 10,26 grammatisch als – wiederum im kommunikativen ἡμεῖς formulierten – genitivus absolutus mit einem anschließenden Hauptsatz konstruiert, eine Konstruktion, die sich durchaus als ein – wiederum und weiterhin im kommunikativen ‚wir‘ formuliertes55 – konditionales Bedingungsgefüge begreifen lässt56: ἑκουσίως γὰρ ἁμαρτανόντων ἡμῶν μετὰ τὸ λαβεῖν τὴν ἐπίγνωσιν τῆς ἀληθείας57, οὐκέτι περὶ ἁμαρτιῶν ἀπολείπεται θυσία. Bemerkenswert ist, dass der auctor ad Hebraeos seinen Ausführungen in Hebr 10,26 das Adverb ἑκουσίως voranstellt, das in Hebr 10,26a angesprochene ἁμαρτάνειν somit als ein vorsätzliches oder unerzwungenes und letzten Endes freiwilliges definiert58, das im Anschluss an Hebr 3,12 als Abfall vom θεὸς ζῶν beschrieben werden kann. Wird – und dies scheint die Kernaussage von Hebr 10,26 insgesamt zu sein – ein solches vorsätzliches und unerzwungenes ἁμαρτάνειν praktiziert μετὰ τὸ λαβεῖν τὴν ἐπίγνωσιν59 τῆς ἀληθείας, so kann dieses ἁμαρτάνειν nicht mehr kompensiert werden durch das von Christus geleistete θυσία, was dann, wie in Hebr 10,26b dargestellt, bedeutet: οὐκέτι περὶ ἁμαρτιῶν ἀπολείπεται θυσία. Vielmehr bleibt einem solchermaßen Abgefallenen nur noch das zur Tatenlosigkeit verurteilte Warten auf das letzte Gericht (Hebr 10,27): φοβερὰ δέ τις ἐκδοχὴ κρίσεως καὶ πυρὸς ζῆλος ἐσθίειν μέλλοντος τοὺς ὑπεναντίους. Dieser Zusammenhang wird E. Gräßer, Hebr III, 34; in diese Richtung denkt auch H.-F. Weiß, Hebr, 536: „Der Zusammenhang des Abschnitts mit dem in V. 25 vorangehenden eschatologischen Ausblick ist so eng wie möglich“. 55 Vgl. hierzu bereits o. 129; H.-F. Weiß, Hebr, 537 u.ö. spricht im Blick auf dieses kommunikative ‚wir‘ von einem ekklesiologischen ‚wir‘, K. Backhaus, Hebr 366 u.ö. von einem ekklesialen ‚wir‘. Backhaus formuliert im Blick auf diesen Gesichtspunkt m.R.: „Stellen wir uns Hebr im Redevortrag vor, so nimmt dies der Aussage einiges an Schärfe: Es geht um die gemeinsam zu bestehende Gefahr“. Damit wird aber zugleich auch die die gegenwärtige Forschung bestimmende Annahme, dass der auctor ad Hebraeos bei seinen Adressaten eine grundlegende Glaubensermüdung oder -ermattung ausmachte, relativiert. 56 Vgl. hierzu die Übersetzung von H.-F. Weiß, Hebr, 536, der die in Hebr 10,26 vorliegende grammatische Konstruktion exakt als konditionales Bedingungsgefüge auflöst: „Denn wenn wir vorsätzlich sündigen nach dem Empfang der Erkenntnis der Wahrheit, bleibt kein Opfer mehr für die Sünden übrig“. 57 Vgl. zu diesem Begriff und dessen semantischen Implikationen bereits o. 181f. 58 Vgl. hierzu etwa E. Gräßer, Hebr III, 34–36 und auch H.-F. Weiß, Hebr, 537; vgl. zu dem diesen gesamten Abschnitt einleitenden Adverb ἑκουσίως auch M. Karrer, Hebr II, 225f. 59 Zum Begriff ἐπίγνωσις vgl. etwa E. Gräßer, Hebr III, 37f.; Gräßer stellt fest. „In Verbindung mit ἀλήθεια, das ist gemäß a[lt]t[estament]l[icher]. Tradition die göttliche Wirklichkeit, in unserem Zusammenhang dann ‚natürlich die Wahrheit, die als das Offenbar-Gültige‘ im λόγος τῆς ἀκοῆς … ‚sich eröffnet‘, meint ἐπίγνωσις jedenfalls die ‚entscheidende Erkenntnis Gottes, die in der Bekehrung zum christlichen Glauben erfolgt‘. Die erkannte Wahrheit ist die von den Adressaten in ihrer Taufhomologie bekannte Wahrheit: ‚Jesus Christus gestern und heute derselbe und in Ewigkeit‘ (13,8), also ‚die wahre Lehre im Gegensatz zur Irrlehre‘“. 54

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dann in Hebr 10,28–31 noch einmal mit einem Schluss a minori ad maius60 untermauert, wobei der auctor ad Hebraeos sich hier unmittelbar an die Adressaten seiner Epistel und deren logisch-kombinatorische Fähigkeiten wendet: Wenn schon der Bruch des νόμος Μωϋσέως den Tod nach sich zog (Hebr 10,28), wieviel härter wird derjenige bestraft, der τὸν υἱὸν τοῦ θεοῦ καταπατήσας καὶ τὸ αἷμα τῆς διαθήκης κοινὸν ἡγησάμενος, ἐν ᾧ ἡγιάσθη, καὶ τὸ πνεῦμα τῆς χάριτος ἐνυβρίσας (Hebr 10,29)? In Hebr 10,30 wird die inhaltliche Berechtigung dieses Schlusses mit einem Verweis auf, präziser: mit zwei Zitaten aus Dtn 32,35f.61 dann abschließend begründet62; ein – letzten Endes mit Hilfe der jeweiligen Verwendung des Adjektivs φοβερός sprachlich auf Hebr 10,27 zurückverweisender und somit diesen Abschnitt inkludierender – Hinweis auf die mit dem Gericht Gottes verbundenen Schrecknisse (Hebr 10,31) schließt diese Ausführungen dann ab63. Aus den in Hebr 10,26–31 vorliegenden Darlegungen lassen sich keinerlei Schlüsse auf tatsächliche Situation und die tatsächlichen Verhältnisse und Vorfindlichkeiten innerhalb der im Hebr angeschriebenen Gemeinde oder Gemeindegruppe64 herleiten65. Der auctor ad Hebraeos stellt in dieser Passage einen in Hebr 6,4–8 bereits in ähnlicher Weise entfalteten theologisch-theoretischen Zusammenhang dar, ohne in irgendeiner Weise erkennen oder auch nur erahnen zu lassen, dass er mit jenen auf konkrete Verhältnisse und Vorfindlichkeiten innerhalb seiner Adressatenschaft abzuheben oder auch nur anzuspielen beabsichtigt. Diese Annahme wird gestützt durch den Sachverhalt, dass er in diesem Abschnitt annähernd durchgängig im kommunikativen ‚wir‘ formuliert66. Über diese Argumentation hinaus verdient aber ein noch deutlich weitergehender Gesichtspunkt Beachtung: Nach Hebr 6,9f. leisten die Adressaten des Hebr, was ihre Aktivität im Rahmen der geschwisterlichen Liebe angeht, augenscheinlich Vgl. hierzu etwa E. Gräßer, Hebr III, 43. Zur Form des ersten der beiden Zitate vgl. H.W. Attridge, Hebr, 295: „The first citation is from Deut 32:35, ..., which differs from both the MT and LXX. The wording of the verse in this form is, however, attested in the Targums and in Paul“. Vgl. zu diesen beiden Zitaten auch ausführlich E. Gräßer, Hebr III, 49–51. 62 Vgl. hierzu E. Gräßer, Hebr III, 48: „Zur Stützung des Gesagten führt Hebr abschließend einen autoritativen Schriftbeweis, mit dem er zugleich zum zentralen Thema der Ausgangsthese – der Freiwilligkeitssünde droht erbarmungslose Bestrafung (V 26f) – zurücklenkt“. 63 Vgl. hierzu etwa H.W. Attridge, Hebr, 296: „A lapidary phrase with clear eschatological overtones summarizes and intensifies the message of the scriptural citations“. 64 Vgl. hierzu bereits o. 13f. 65 Anders hier etwa K. Backhaus, Hebr, 365, der in Hebr 10,26–31 eine unter den Adressaten dieser Schrift offensichtlich Platz greifende „theologische. Unsicherheit“ ausmachen möchte. Belege für seine Interpretation liefert Backhaus allerdings nicht. Auch eine nur oberflächliche Lektüre dieses Abschnittes erweist unmittelbar, dass der auctor ad Hebraeos in dieser Passage eine bei den von ihm Angeschriebenen zu lokalisierende theologische Unsicherheit mit keinem Wort thematisiert und auch keinerlei Bezug auf die Darlegungen in Hebr 1,1–5,10; 7,1– 10,18 nimmt. 66 Vgl. zu diesem Argument o. 129. 60 61

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durchaus Vorbildliches67. Wenn nun davon auszugehen ist, dass die Darlegungen in Hebr 10,26–31 auf die in Hebr 10,24f. ausgesprochenen Mahnungen zur Praxis geschwisterlicher Liebe und zum Tun von guten Werken Bezug nehmen68 und vor einer Vernachlässigung derselben warnen, ist angesichts der Ausführungen in Hebr 6,9f. denkbar unwahrscheinlich, dass diese als auf aktuelle und akute Vorfindlichkeiten unter den Adressaten des Hebr bezogen verstanden werden sollen. Wesentlich plausibler, letztlich sogar notwendig will es hingegen scheinen, dass jene als ethische Konsequenz aus zuvor entwickelten theologischtheoretischen Zusammenhängen paränetisch-potentiellen Charakter tragen69. Aus alledem folgt: Wie schon die Ausführungen in Hebr 10,19–25, so bieten auch diejenigen in Hebr 10,26–31 keinerlei Anlass, die gegenwärtige Situation der Adressaten des Hebr als von Glaubensermüdung oder -ermattung geprägt und belastet und den Hebr somit als identitätsstiftendes und stabilitätssicherndes Mahnschreiben70 zu verstehen71. Sie sind vielmehr mit Notwendigkeit als paränetisch-potentielle Mahnungen72 zu begreifen. Dass die Ausführungen in Hebr 6,4–8 und diejenigen in Hebr 10,26–31, wenn auch mit im Detail durchaus deutlichen Unterschieden73, im Blick auf ihre grundsätzliche argumentationslogische Struktur zumindest sehr weitgehend übereinstimmen, ist mit Händen zu greifen74: (a) In beiden Texten thematisiert der auctor ad Hebraeos die Unmöglichkeit einer erneuten Hinwendung zu Christus für denjenigen, der, einmal Christ geworden, sich dann als Christ von jenem bewusst abgewandt hat. (b) In beiden Texten tragen die jeweils Abgefallenen die Verantwortung für die vom Verfasser des Hebr hier skizzierte soteriologische Unmöglichkeit: Während in Hebr 6, 6b betont wird, dass die Abgefallenen den Sohn Gottes für sich selbst (erneut) gekreuzigt und zum Gespött gemacht hätten75: ἀνασταυροῦντας ἑαυτοῖς τὸν υἱὸν τοῦ θεοῦ καὶ παραδειγματίζοντας, seien sie Hebr 10,29b zufolge dafür verantwortlich den Sohn Gottes mit Füßen getreten und das Blut der (neuen) Heilsordnung für gemein Vgl. hierzu ausführlich o. 194–196. Vgl. hierzu o. 218–225. 69 Vgl. zu dieser Begrifflichkeit bereits o. 127–129. 70 Vgl. hierzu o. 48–61. 71 Vgl. hierzu auch H.W. Attridge, Hebr, 297f., der im Rückblick auf die Darlegungen in Hebr 10,19–25.26–31 formuliert: „The warning against apostasy had been severe, but it was couched in general terms“ (297). Diese Feststellung trifft einerseits zu, evoziert andererseits aber auch sofort die Frage, warum der auctor ad Hebraeos denn so allgemein formuliert habe, wenn es ihm in Hebr 10,19–25.26–31 unmittelbar um ein aktuelles und akutes Anliegen, nämlich um die im Kreis der Adressaten seiner Epistel Platz greifende aktuelle und akute Gefahr der Apostasie, gegangen sei. 72 Vgl. zu diesem Begriff o. 127–129. 73 Ein Unterschied besteht etwa darin, dass in Hebr 6,(4f.)6–8 in der 3. Person Singular bzw. in der 3. Person Plural, in Hebr 10,26–31 hingegen in der 1. Person Plural formuliert wird. 74 Vgl. hierzu etwa H.-F. Weiß, Hebr, 536: „Diese Drohrede bewegt sich – sachlich-inhaltlich gesehen – zunächst ganz auf der Linie dessen, was bereits in 6,4–8 zur Frage der Unmöglichkeit einer zweiten Buße ausgeführt worden ist“. Vgl. in diesem Sinne etwa auch K. Backhaus, Hebr, 364. 75 Diese Paraphrase nach H.-F. Weiß, Hebr, 330. 67 68

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erachtet zu haben76: ... ἀξιωθήσεται τιμωρίας ὁ τὸν υἱὸν τοῦ θεοῦ καταπατήσας καὶ τὸ αἷμα τῆς διαθήκης κοινὸν ἡγησάμενος ...77. (c) Wird in Hebr 6,6a die Unmöglichkeit der erneuten Erneuerung zur Umkehr thematisiert78: καὶ παραπεσόντας, πάλιν ἀνακαινίζειν εἰς μετάνοιαν, so beschreibt der auctor ad Hebraeos in Hebr 10,(26b.)27 die Zukunft der solchermaßen Abgefallenen als ebensolches unabänderliches taten- und hilflose Warten auf das Gericht: φοβερὰ δέ τις ἐκδοχὴ κρίσεως καὶ πυρὸς ζῆλος ἐσθίειν μέλλοντος τοὺς ὑπεναντίους. Angesichts dessen drängt sich nun allerdings die Frage auf, warum der auctor ad Hebraeos auf den Aspekt der Unmöglichkeit einer zweiten Buße bzw. einer zweiten Umkehr gleich in zwei unterschiedlich kontextualisierten Passagen zurückkommt, ohne dass zwischen diesen beiden Passagen nachweisbare intratextuelle Bezüge erkennbar wären, die die Annahme nahelegen könnten, jenen käme in der argumentationslogischen Struktur des Hebr etwa eine inklusive Funktion zu. Zwanglos erklärbar wird diese Doppelung allerdings, wenn angenommen wird, dass der Verfasser des Hebr jene jeweils zwei unterschiedlichen Impetus zuzuordnen beabsichtigte: Wollte er in Hebr 6,4–8 den defizitären theologisch-theoretischen (Er-)Kenntnisstand und die theologisch-theoretische Lethargie seiner Adressaten als Abfall von christlichem Glauben und christlicher Theologie geißeln79, so in Hebr 10,26–31 die Vernachlässigung der geschwisterlichen Liebe (Hebr 10,24). Da nun den Adressaten des Hebr Hebr 6,9f. zufolge im Blick auf den Dienst an den ἅγιοι offensichtlich keinerlei Vorwurf gemacht werden kann80, folgt daraus, dass sich die Darlegungen Hebr 10,26–31, die eben exakt den Gesichtspunkt einer defizitären geschwisterlichen Liebe thematisieren, nicht auf die aktuelle und akute Situation der Adressatenschaft dieser Epistel beziehen können, sondern als solche theoretischer bzw. paränetisch-potentieller Natur anzusehen sind.

In Hebr 10,32–3481 kommt der auctor ad Hebraeos dann – zumindest inhaltlich doch recht überraschend – in der 2. Person Plural, also in direkter Anrede seiner

Diese Paraphrase nach H.-F. Weiß, Hebr, 536. Zu dieser weniger formalen als vielmehr inhaltlichen Differenz vgl. H.-F. Weiß, Hebr, 537: „Die Differenz zu 6,4–8 besteht darin, daß hier nunmehr die christologisch-soteriologischen Darlegungen von Hebr 7–10 vorausgesetzt werden und dementsprechend die notwendige Konsequenz des Sündigens ‚nach dem Empfang der Erkenntnis der Wahrheit‘ (V. 26b). ‚Sünde‘ heißt hier also konkret nicht mehr nur Mißachtung des ‚Sohnes Gottes‘ (6,6 und 10,29), sondern zugleich Verachtung des αἷμα τῆς διαθήκης, jenes Blutes also, durch das der Eingang ins himmlische Heiligtum für die Christen eröffnet (V. 19f) und eine ‚neue Heilsordnung‘ begründet worden ist“. 78 Diese Paraphrase nach H.-F. Weiß, Hebr, 330. 79 Vgl. hierzu ausführlich o. 177–194. 80 Vgl. hierzu o. 194–196. 81 Nach M. Karrer, Hebr II, 237–239 beginne mit Hebr 10,32 ein bis Hebr 13,21 reichender dritter Hauptabschnitt des Hebr, den er mit dem Titel „Die Gemeinde, die in Gottes Gegenwart unterwegs ist, lebt aus Glauben“ (237). Nachdem der auctor ad Hebraeos in Hebr 1,1–4,13 und Hebr 4,14–10,31 die Grundlagen des neuen Lebens in Christus geklärt habe, gehe es ihm nun darum, eine „genauere ethische Beschreibung“ (237) dieser neuen christlichen Existenz zu liefern. Auffällig ist freilich, daß in Hebr 10,32 keinerlei Textsignal vorhanden zu sein scheint, das diesen Vers und die in ihm vorliegenden Ausführungen als den Beginn eines neuen Hauptabschnittes wahrscheinlich machen könnte. 76 77

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Adressaten – auf die Vergangenheit82 der von ihm angeschriebenen Gemeinde oder Gemeindegruppe83 zu sprechen. Dabei beschreibt er, zunächst nicht in einem paränetischen Kontext oder mit einem paränetischen Impetus, wenn auch in eher allgemeiner Weise84, deren Standhaftigkeit im Glauben gerade auch angesichts unterschiedlicher ihnen widerfahrender Leiden und Anfechtungen in ihrer85 Vergangenheit86, die vor allem aus ihrer paganen Umgebung bzw. aus der Wirksamkeit paganer Behörden herrührten87: Sie selbst seien in Schmähungen und Bedrängnissen öffentlich zur Schau gestellt oder aber zu Genossen derer geworden, deren es so erging (Hebr 10,33), sie hätten nämlich88 mit den Gefangenen gelitten und den Raub ihrer Habe freudig auf sich genommen89 γινώσκοντες ἔχειν ἑαυτοὺς κρείττονα ὕπαρξιν καὶ μένουσαν (Heb 10,34b)90, in dem Wissen, Dass der auctor ad Hebraeos hier deutlich die Vergangenheit der von ihm Angeschriebenen in den Blick nimmt, signalisieren in wünschenswerter Deutlichkeit die Tempora der entsprechenden Prädikate, die sämtlich im Aorist formuliert sind: ὑπεμείνατε (Hebr 10,32b) einer- und συνεπαθήσατε und προσεδέξασθε (Hebr 10,34) andererseits. Nach E. Gräßer, Hebr III, 60 verrät „die sprachliche Form der Anamnese ... wieder einmal den gebildeten Gräzisten“. Zudem entspräche eine solche Anamnese „ganz dem ‚Gedenken an die vorigen Zeiten‘, das im Alten Testament eine erhebliche theologische Rolle spielt“ (Hebr III, 60). 83 Vgl. hierzu bereits o. 13f. 84 Vgl. hierzu K. Backhaus, Hebr, 370: „Freilich bleiben die Hinweise allgemein, eine konkrete Gemeindesituation ist schwerlich rekonstruierbar“. Zur Metapher des Lebens als eines Wettkampfes vgl. etwa M. Karrer, Hebr II, 243. 85 Vgl. hierzu E. Gräßer, Hebr III, 59, A. 5, der auf ein u.a. von der ersten Hand des Codex ‫ א‬in Hebr 10,32a gebotenes ὑμῶν hinweist, das verdeutlicht, „daß die eigene Vergangenheit gemeint ist“. 86 Vgl. hierzu etwa H.-F. Weiß, Hebr, 544: „Die Erinnerung der Adressaten an ihre ‚früheren Tage‘, wie sie mit V. 32 eingeleitet wird, nimmt zunächst mit dem Aorist-Partizip φωτισθέντες – wie bereits 6,4 – auf das einmalige Geschehen der Taufe Bezug: Damals jedenfalls, als Neophyten gleichsam, haben sie ihren Glauben standhaft, in einem ‚harten Leidenskampf‘ bewährt“. Vgl. hierzu auch W.L. Lane, Hebr II, 298: „The details provided in vv 33–34 clarify the character of the sufferings endured“; zur chiastischen Struktur der Darlegungen vgl. 299. 87 H.-F. Weiß, Hebr, 545 spricht hier von einer „besonderen Bewährungssituation“, in der die Adressaten des Hebr gewesen wären, wobei die Hebr 10,34 angesprochene „Verbindung von Verhaftung und Konfiskation des Vermögens bereits ein strafrechtlich legitimiertes und organisiertes Vorgehen von ... Behörden gegen die Christen voraussetzt“. Vgl. hierzu auch K. Backhaus, Hebr, 371: „Aber es illustriert doch, welche Form ‚Leidenskämpfe‘ annehmen konnten, wie Volkszorn und Strafjustiz zusammenwirkten, dass die öffentliche Verspottung und die Zurschaustellung der Opfer wesentlich zum Vorgehen gegen Minderheiten gehörten ... und wie deutlich die Christen in solchen Erfahrungen einen ihnen aufgetragenen Glaubenskampf sahen“. 88 E. Gräßer, Hebr III, 66 fasst die Hebr 10,34 einleitende Wendung καὶ γάρ als eine Formel auf, die eine Begründung signalisierte; Gräßer parallelisiert dabei die Wendung καὶ γάρ mit dem lateinischen et enim. 89 Vgl. hierzu K. Backhaus, Hebr, 370: „Dass die jungen Gemeinden oft solche Erfahrungen machten, wie sie hier durchklingen, steht außer Zweifel“. 90 Zum allgemeingültigen und nachgerade usuellen Charakter des Hinweises in Hebr 10,34b vgl. etwa H.W. Attridge, Hebr, 300: „The notion of a heavenly treasure or eschatological reward 82

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dass ihnen ein besserer und bleibender Besitz zur Verfügung stehe91. Nach H.-F. Weiß entspräche der Verfasser des Hebr damit, dass er an die Bußpassage Hebr 10,26–31 nun „eine Erinnerung der Adressaten an ihren früheren Glaubensstand folgen läßt, ... – formal gesehen – dem in der antiken Rhetorik geläufigen εἶδος πρακτικόν der ‚Gedächtnisauffrischung‘ (ἀνάμνησις)“92. Im Gegensatz zu der vorangehenden Bußpassage habe „diese Erinnerung an das einstige Verhalten der Adressaten ermunternden Charakter: Die einst in einer Bewährungssituation bewiesene Standhaftigkeit des Glaubens und der Geduld soll auf diese Weise reaktiviert werden“93. Angesichts und aufgrund (οὖν) dieser in der Vergangenheit bewiesenen Standfestigkeit im Glauben werden die Adressaten des Hebr – freilich ohne hier eine unmittelbar auf die aktuelle Gegenwart rekurrierende Partikel wie etwa νῦν zu verwenden – mit Verve aufgefordert, ihre παρρησία94 nicht wegzuwerfen, der

is, of course, commonplace in the first-century Judaism and early Christianity. It provides a distinctive foundation for the detachment from worldly goods that, on other grounds, was frequently advocated by contemporary philosophy“, eine Feststellung, die die Situationsgebundenheit und die Aktualität dieser Ausführungen deutlich relativiert. Vgl. im Sinne von Attridge auch K. Backhaus, Hebr, 372. 91 Vgl. zu dieser Paraphrase die Übersetzung von H.-F. Weiß, Hebr, 543. Vgl. zu Hebr 10,34 etwa H. Braun, Hebr, 330, der das in Hebr 10,34 angesprochene Heilsgut, das die Adressaten des Hebr in ihrer Vergangenheit als ihren Besitz erkannt und akzeptiert hatten, in eine Reihe mit den o.a. Belegstellen stellt. In gleicher Weise etwa auch E. Riggenbach, Hebr, 333. 92 Hebr, 543; weiter formuliert Weiß: „Die einst in einer Bewährungssituation bewiesene Standhaftigkeit des Glaubens und der Geduld soll auf diese Weise gleichsam reaktiviert werden. In diesem Sinne ist die Erinnerung an die ‚früheren Tage‘ ihrerseits schon auf die unmittelbar daran anschließende Glaubensmahnung ausgerichtet“ (543f.). 93 Hebr, 543. 94 Vgl. zu diesem Terminus bereits o. 145f. H.-F. Weiß, Hebr, 546f. merkt an, dass „das für den Hebr charakteristische Stichwort παρρησία ... auch hier wieder – wie bereits in 3,6 und 10,19 – die begründete Zuversicht der Christen, in diesem Sinne also in der Tat ihren bleibenden Besitz, den es nicht leichtfertig preiszugeben gilt, und dies umso weniger als das notwendige Festhalten an der παρρησία ‚eine große Belohnung‘ hat“, bezeichne, interpretiert diesen Begriff also ausschließlich aus subjektiver Perspektive. Deutlich anders hier etwa H. Balz, Art. παρρησία, in: EWNT2 III, 111, der in jenem sowohl eine subjektive als auch eine objektive Dimension erkennen kann (vgl. hierzu bereits o. 146, A. 420). Diese von Balz jenem attestierte bipolare Struktur des παρρησία-Begriffs zeigt sich auch bei E. Gräßer, Hebr I, 169f.: „Am deutlichsten erkennbar in 4,16. Dort ist es die Freiheit des Zugangs zu Gott (10,19) bzw. die durch den Tod Jesu erwirkte ‚Macht‘, in das Heiligtum einzutreten, eine durch die ἐπαγγελία erschlossene und im hohepriesterlichen Weg Jesu begründete objektive Größe, etwas ‚Vorgegebenes‘. Andererseits – und das betrifft unsere Stelle [d.h. Hebr 3,6] – bezeichnet παρρησία eine subjektive Haltung, die ‚Erwartung der Zukunft‘, das Offenhalten des objektiv verbürgten Zugangs zum Thron der Gnade durch unwandelbares Stehen bei der Sache. Insofern ist παρρησία identisch mit πίστις, die im Hebr durchweg diese Bedeutung hat, und bedeutungsgleich mit ὑπόστασις ..., ἐλπίς ..., ὑπομονή ..., μακροθυμία ... und πληροφορία ...“.

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eine große Belohnung zukommen wird (Hebr 10,35)95. Geduld (ὑπομονή96) nämlich hätten jene nötig, damit bzw. so dass97 sie den Willen Gottes lebten und das Verheißene empfingen (Hebr 10,36)98; dessen Empfang stehe unmittelbar bevor (Hebr 10,37). Um diese Argumentation zu bestätigen, verweist der auctor ad Hebraeos abschließend auf Hab 2,3f.: ὁ δὲ δίκαιός μου ἐκ πίστεως ζήσεται, καὶ ἐὰν ὑποστείληται, οὐκ εὐδοκεῖ ἡ ψυχή μου ἐν αὐτῷ (Hebr 10,38)99, um unmittelbar daran anschließend zu betonen, dass ἡμεῖς nicht zu denen gehören, die zurückweichen, sondern zu denen πίστεως εἰς περιποίησιν ψυχῆς (Heb 10,39). Im Anschluss daran wird der in Hebr 10,38f. verwendete Begriff der πίστις100 dann in Hebr 11,1 in großer Breite näher definiert, ein Sachverhalt, der dafür spricht, Hebr 11 nicht als eine spätere Einfügung in die Argumentationslogik von Hebr 10.12 zu begreifen. Zu fragen ist, ob die in Hebr 10,32–34 dargelegten, in der Vergangenheit über die Adressaten des Hebr gekommenen und von ihnen ausgehaltenen Pressionen als transparent – und damit in gewissem Sinne als richtungsweisend – für die Lage derselben in der Gegenwart der Abfassung des Hebr verstanden werden

95 E. Gräßer, Hebr III, 70 klassifiziert die Partikel οὖν hier als οὖν-paraeneticum und den Konjunktiv μὴ ἀποβάλητε als coniunctivus prohibitivus; vgl. hierzu auch C. Marcheselli-Casale, Hebr, 461. Deutlich ist in jedem Falle, dass die Ausführungen in Hebr 10,35 eine unmittelbare Folge aus dem in Hebr 10,32–34 Dargelegten darstellen. Vgl. zu dieser Bemerkung Gräßers bereits o. 70, A. 25. 96 Nicht unterschlagen werden soll an dieser Stelle die Beobachtung, dass der Terminus ὑπομονή bzw. das entsprechende Verb ὑπομένω innerhalb des Hebr, bezogen auf die Gegenwart der Adressaten, erstmalig hier in Hebr 10,36a begegnen (vgl. hierzu W.F. Moulton/A.S. Geden, Concordance, s.v. ὑπομονή, 980, und s.v. ὑπομένω, 979f.). Dieser Befund spricht deutlich gegen die Annahme, dass es sich bei Hebr um ein ‚identitätsstiftendes und stabilitätssicherndes Mahnschreiben‘ (vgl. hierzu o. 48–61) handeln könnte. Wäre der Hebr mit dieser Intention verfasst worden, ließe sich nämlich kaum erklären, warum ein in diesem intentionalen Kontext nachgerade unverzichtbares Wortfeld wie das Wortfeld ‚Geduld‘ erstmalig gegen Ende von Hebr 10 und nicht schon deutlich früher belegt ist. 97 Nach H.W. Attridge, Hebr, 301, A. 58 ist „the conjunction ἵνα here ... used consecutively“; dabei verweist Attridge u.a. auf einschlägige Paragraphen in der Grammatik von F. Blaß, A. Debrunner und F. Rehkopf. 98 Zum allgemeinen und grundsätzlichen Charakter dieser Mahnung vgl. m.R. H.W. Attridge, Hebr, 301: „Exhortations to endurance are a frequent feature of Jewish and early Christian paraenesis, and the connection with faith is also not uncommon“. Wenn dem so ist, dann lässt sich die in Hebr 10,36 formulierte Mahnung kaum als Reflex auf konkrete Verhältnisse und Vorfindlichkeiten innerhalb des Kreises der Adressaten des Hebr beziehen und vermag somit nicht als Nachweis für eine innerhalb jenes bereits Platz gegriffen habende Glaubensermüdung oder -ermattung zu fungieren. 99 Zur Textgrundlage dieses Zitates vgl. etwa H.W. Attridge, Hebr, 301: „The remainder of the quotation is a citation of Hab 2:3–4 in a form that clearly depends on a Greek text close to the LXX“; zum ursprünglichen Kontext dieses Zitats vgl. 301f. Vgl. darüber hinaus auch C.R. Koester, Hebr, 462f. 100 Vgl. zu diesem Begriff bereits ausführlich o. 94/96.

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können101. Träfe dies zu, ließen sich aus dieser Passage zumindest Eckpunkte der aktuellen Lage der Empfänger dieser Epistel, zumindest so wie sie sich ihrem Verfasser darstellt, gewinnen und damit auch ein Motiv für die jenen – in Sonderheit in der Sekundärliteratur – immer wieder unterstellte Glaubensmüdigkeit, -ermattung und -armut generieren102, eine Annahme, für die immerhin der Sachverhalt ins Feld geführt werden könnte, dass der auctor ad Hebraeos seine Adressaten hier in der 2. Person Plural unmittelbar anspricht103. Die Passage Hebr 10,32–34 freilich vermag – genausowenig wie die daran anschließende Passage Hebr 10,35–39 – eine solche Interpretation gerade nicht zu untermauern. In ihr lassen sich keine Textsignale finden, die Anlass zu der Vermutung gäben, die in der Vergangenheit aus- und durchgehaltenen Pressionen belasteten die Adressaten des Hebr auch in ihrer aktuellen Gegenwart der Abfassung desselben oder hätten – zumindest mittelbar und mit anderen Vorfindlichkeiten und Verhältnissen zusammen – dazu geführt, dass die gegenwärtige christliche Existenz jener von einer existenzgefährdenden Glaubensarmut und -ermattung geprägt gewesen sei104. Wenn der auctor ad Hebraeos die gegenwärtige Lage der Adressa-

101 In diesem Sinne etwa K. Backhaus, Hebr, 371: „Denn er [d.h. der Verfasser des Hebr] scheint vor allem solche Erfahrungen anzusprechen, die sich auch in der gegenwärtigen Lage bewähren sollen“. Um seine These zu stützen, verweist Backhaus auf Hebr 13,1.3.5.16. Darüber hinaus formuliert Backhaus mit Blick auf Hebr 10,34b: „In der Gemeinde gab es offensichtlich solche Christen, deren Eigentum zu rauben, das heißt: zu plündern oder zu konfiszieren ..., sich lohnte. Dies könnte auf entwickeltere Besitzverhältnisse hinweisen“. In diese Richtung scheint auch E. Gräßer, Hebr III, 63 zu denken, wenn er in Abgrenzung gegen Versuche, die Ausführungen in Hebr 10,32–34 auf einen konkreten zeitgeschichtlichen Hintergrund zu beziehen, formuliert: „Der Befund erklärt sich einfacher mit der Annahme, er wolle von der anfänglichen Bewährung der Angeredeten in solchen ‚Beispielen‘ reden, ‚wie sie in einer Verfolgungszeit überall vorkamen‘. Dies um so mehr, als die Gegenüberstellung von Gegenwart und Vergangenheit sich leicht begreifen läßt ‚als ein wirksames homiletisches Motiv‘, bei dem es auf das Typische und nicht auf historische Genauigkeit ankommt“. Dass Gräßer in diese Richtung denkt, zeigt auch die Überschrift „Der gute Anfang“ (Hebr III, 59), mit der er die Passage Hebr 10,32– 34 überschreibt. Ähnlich hier auch G. Schunack, Hebr, 156: „Im Blick darauf ist es für die Adressaten jetzt nötig, geduldig standzuhalten und nicht zurückzuweichen, getragen von der Gewissheit, auf die Seite des Glaubens zu gehören“, und – noch deutlicher – C.-P. März, Hoherpriester, 248: „[Der] V[er]f[asser]. stellt der Verzagtheit der Adressaten ihre Glaubenskraft in früheren Tagen entgegen“. 102 Vgl. hierzu H.-F. Weiß, Hebr, 544: „So gesehen wäre dann unser Abschnitt zugleich einer der wenigen im Hebr, die die besondere Anfechtungssituation der Adressaten des Hebr in Umrissen in den Blick treten lassen“. 103 Vgl. hierzu o. 129. 104 Dies räumt auch C.-P. März, Hoherpriester 248 ein: „Zwar spricht der Text nicht ausdrücklich davon, dass der öffentliche Druck auf die Gemeinde immer noch anhält, ...“, um dann allerdings zu formulieren: „..., die Argumentationsweise der Kap[itel] 11 und 12 lässt aber kaum einen Zweifel daran, dass Gemeindeglieder weiterhin Bedrängung, Ablehnung, Verleumdung und öffentlicher Ausgrenzung ausgesetzt sind. Aus dieser Situation ist nach Meinung des V[er]f[assers]. auch die Glaubensschwäche, die er bei den Adressaten wahrnimmt, erwachsen“.

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ten seiner Epistel mit einer in der Vergangenheit jener von ihnen bereits erlebten und durchlittenen Leidenszeit – unter nun allerdings umgekehrten Vorzeichen – hätte parallelisieren und mit dieser Parallelisierung die gegenwärtige und akute negative Entwicklung hin zu einer existenzgefährdenden Glaubensarmut und -ermattung hätte thematisieren wollen, ergibt sich unmittelbar die Frage, warum jener diesen Sachverhalt an dieser Stelle, etwa mit einem direkten Verweis auf die gegenwärtige Situation z.B. durch die Verwendung des bereits in Hebr 3,13 begegnenden Adverbs σήμερον105 oder aber, wie etwa Paulus in Gal 5,7f., mit einem Hinweis auf eben diese negative Entwicklung und deren mögliche Ursachen selbst106, dann nicht auch explizit und deutlich zum Ausdruck gebracht habe107. Darüber hinaus ist grundsätzlich nur schwer begreiflich, dass der Verfasser des Hebr, wenn er in seiner Schrift die in der Gegenwart seine Adressaten belastenden Bedrängnisse und Pressionen hätte ansprechen wollen, dies dann nicht auch expressis verbis getan hat – zwar ein argumentum e silentio, dem aber aufgrund des Sachverhaltes, dass der auctor ad Hebraeos etwa in Hebr 5,11– 14 sehr wohl Missstände expressis verbis anzusprechen vermag, durchaus eine nicht unerhebliche Beweiskraft zukommt. Wie deutlich anders und auch deutlich klarer und eindeutiger lesen sich demgegenüber etwa die Ausführungen in Apk 2,2a: οἶδα τὰ ἔργα σου καὶ τὸν κόπον καὶ τὴν ὑπομονήν σου καὶ ὅτι οὐ δύνῃ βαστάσαι κακούς108, oder auch diejenigen in Apk 2,9, die für jeden unmittelbar wahrnehmbar die gegenwärtige Situation der angeschriebenen Christen als belastend und bedrückend beschreiben: οἶδά σου τὴν θλῖψιν καὶ τὴν πτωχείαν, ἀλλὰ πλούσιος εἶ, καὶ τὴν βλασφημίαν ἐκ τῶν λεγόντων Ἰουδαίους εἶναι ἑαυτοὺς καὶ οὐκ εἰσὶν ἀλλὰ συναγωγὴ τοῦ σατανᾶ109. Auch die Aufforderung: μὴ ἀποβάλητε οὖν τὴν παρρησίαν ὑμῶν (Hebr 10,35a) wäre deutlich überinterpre-

Vgl. hierzu ausführlich o. 148f. Vgl. hierzu eben Gal 5,7f.: ἐτρέχετε καλῶς· τίς ὑμᾶς ἐνέκοψεν [τῇ] ἀληθείᾳ μὴ πείθεσθαι; (8) ἡ πεισμονὴ οὐκ ἐκ τοῦ καλοῦντος ὑμᾶς. Eine solche Differenzierung zwischen den – zumindest aus der Sicht des auctor ad Hebraeos – früheren guten und den gegenwärtigen schlechten Tagen wird im Hebr in seiner Gesamtheit an keiner Stelle geboten. 107 An dieser Stelle m.R. H.-F. Weiß, Hebr, 544: „Ob und inwieweit diese gegenwärtige Anfechtungssituation der Adressaten konkret wiederum durch die in VV. 32–34 im einzelnen benannten Umstände, also durch Pression und Verfolgung der Christen von außen her, bestimmt ist, ist aus diesem Textzusammenhang nicht unmittelbar zu entnehmen, läßt sich aber von der Ausführung der Glaubensparänese in 12,2ff her durchaus vermuten“. Inwieweit diese Argumentation zu tragen vermag – immerhin nämlich steht zwischen Hebr 10,39 und Hebr 12,1 noch Hebr 11 –, muss freilich dahingestellt bleiben. Noch deutlich präziser hier G. Gelardini, Herzen, 348: „Der Autor schildert die Situation der AdressatInnen als schwierig. Wie in der Vergangenheit ..., so könnte [!] auch die Zukunft durch möglichen [!] (Leidens)Kampf gekennzeichnet sein“. Mit dieser Formulierung scheint der Impetus von Hebr 10,32–34 sehr genau getroffen. 108 Vgl. zu Apk 2,2a und seiner Auslegung etwa D.E. Aune, Apk I, 142f. 109 Vgl. zu diesem Vers und seiner Auslegung etwa D.E. Aune, Apk I, 161–165. 105 106

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tiert, würde aus ihr eine die Adressatenschaft des Hebr aktuell und akut existentiell umtreibende Glaubensermüdung oder -ermattung herausgelesen; diese Mahnung ist vielmehr in den – eher grundsätzlich zu definierenden, somit also paränetisch-potentiellen110 – Kontext gegenwärtiger und auch zukünftiger Anfechtungen und Pressionen ob des eigenen christlichen Glaubens und der eigenen christlichen Glaubensüberzeugungen zu stellen111. Auch hier kann dann die Frage gestellt werden, warum der auctor ad Hebraeos, wenn er in Hebr 10,35a denn einen paränetisch-potentiellen und nicht einen paränetischaktuellen112 Inhalt vermitteln möchte, dann nicht die 1. Person Plural, also das kommunikative ἡμεῖς, sondern die 2. Person Plural verwendet hat113. Nicht unwahrscheinlich, wenn natürlich letzten Endes auch nicht schlüssig beweisbar, mag hier die Annahme sein, dass jenem die 2. Person Plural aus Hebr 10,32–34, dem Rückblick in die christlichen Anfänge der Adressaten des Hebr, literarisch vorgegeben gewesen ist und jener in Hebr 10,35a dann nicht gänzlich unvermittelt in das kommunikative ‚wir‘ wechseln wollte. Nicht uninteressant sind einige der von E. Riggenbach zu den Ausführungen in Hebr 10,32–34 vorgelegten Beobachtungen, denen zufolge (a) „die in v. 32–34 enthaltenen Andeutungen über die Verfolgung der Leser ... auf keine der geschichtlich bekannten Christenverfolgungen des apostolischen Zeitalters“114 passen, und innerhalb derer darüber hinaus (b) keinerlei Hinweis auf ein etwaig erlittenes Martyrium begegnet115, ein Umstand, der besonders dann verwundern muss, wenn angenommen wird, dass Hebr mit den Christen in Rom in Verbindung zu bringen116 und noch vor dem Ende des ersten jüdischen Krieges im Jahr 70 n.Chr. zu datieren117 sei. Will man aus diesen Gründen die Darlegungen in Hebr 10,32–34 nicht als reine Fiktion abtun, eine Annahme, die sich kaum wahrscheinlich machen lässt, bleibt, soll der römische Bezug des Hebr aufrechterhalten werden, nur übrig, die Entstehung dieser Epistel deutlich später als die neronische Christenverfolgung anzusetzen118.

Vgl. zu dieser Begrifflichkeit ausführlich o. 127–129. Vgl. zur Interpretation von Hebr 10,35a durchaus m.R. H.W. Attridge, Hebr, 300: „The call not to ‚abandon‘ ... boldness repeats in a negative form the admonition to hold fast to this quality. In this context, where behavior in the face of persecution is in view, the connotation of public boldness in proclaiming the gospel message are particularly clear“. Anders hier allerdings C.R. Koester, Hebr 466, der die Mahnung in Hebr 10,35a paränetisch-aktuell auffassen möchte: „The community had previously endured the loss of their possessions, but the author now speaks as if they are about to abandon what they still have: ‚do not cast away your boldness‘ (10:35a)“. 112 Vgl. zu dieser Begrifflichkeit ausführlich o. 127–129. 113 Vgl. zu diesem Zusammenhang ausführlich o. 129. 114 Hebr, 333. 115 Vgl. hierzu Hebr, 333f., in Sonderheit 334. 116 Vgl. hierzu o. 12–14. 117 Vgl. hierzu ausführlich o. 16–18. 118 Vgl. zu einer späteren, d.h. in die Zeit nach dem ersten jüdischen Krieg 66–70 n.Chr. fallende Datierung des Hebr bereits o. 14f. Zu weiteren in der Forschung erwogenen zeitgeschichtlichen bzw. historischen Referenzbezügen vgl. E. Gräßer, Hebr III, 62. 110 111

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Aus alledem folgt insgesamt: Innerhalb der Ausführungen Hebr 10,19–39 deutet – mit Ausnahme der eher en passant und parenthetisch formulierten und kaum das Momentum einer aktuellen und akuten, die gesamte Adressatenschaft des Hebr grundlegend beeinträchtigenden und aus einer ‚verheißungsgeschichtlichen Unsicherheit‘ resultierenden Glaubensmüdigkeit oder -ermattung transportierenden Ausführungen in Hebr 10,25aβ119 – nichts darauf hin, dass der auctor ad Hebraeos hier überhaupt auf die aktuelle Situation der von ihm Angeschriebenen Bezug genommen hat. Die in diesen Versen formulierten Mahnungen lassen sich sämtlich zwanglos als paränetisch-potentielle120, ohne jegliche – oder bestenfalls als lediglich allgemein, grundsätzlich und mittelbar – aktuelle oder akute Verhältnisse reflektierende Akzentuierung aus zuvor formulierten theologisch-theoretischen Erwägungen entwickelte Schlussfolgerungen verstehen. Das aber heißt wiederum: Das in Hebr 10,19–39 Dargelegte vermag in seiner Gesamtheit nicht als Beleg für die Annahme einer wie auch immer näher zu beschreibenden, die christliche Existenz der Adressaten des Hebr aktuell und existentiell gefährdenden Glaubensermattung oder -ermüdung, auf die auctor ad Hebraeos mit seiner Epistel stabilisierend bzw. neu motivierend hätte reagieren wollen oder müssen, Verwendung zu finden. Die Ausführungen in Hebr 10,19– 39 sind somit nicht geeignet, die o. zu Hebr 5,11–14 formulierte These, der zufolge der Verfasser des Hebr in seinem Schreiben gerade nicht beabsichtigte, eine glaubensmüde und -matte Gemeinde oder Gemeindegruppe neu zu revitalisieren, sondern eine bis dato hinter den geplanten Lernzielen zurückgebliebene Gruppe von theologisch zu Bildenden zu motivieren, ihre offenkundige Lethargie abzuschütteln und ihren Bildungseifer zu intensivieren, um die Fähigkeit zu generieren, auch in die tieferen – theologisch-theoretischen wie auch paränetisch-potentiellen121 – Geheimnisse der christlichen Theologie einzudringen122, in grundlegender Weise zu erschüttern oder gar zu falsifizieren. Nicht übergangen werden soll und darf allerdings der Sachverhalt, dass gerade auch die Ausführungen in Hebr 10,32–34 die Annahme nahelegen, dass es sich bei den im Hebr angeredeten Christen offensichtlich um solche handelt, die sich schon vor längerer Zeit zum Christentum bekehrt haben. Damit aber sinkt die Wahrscheinlichkeit, dass der auctor ad Hebraeos sich mit seinem Schreiben an solche zu richten beabsichtigte, die den – doch sicherlich eher und vornehmlich – auf Neubekehrte ausgerichteten gemeindlichen Katechumenunterricht123 be-

Vgl. hierzu o. 219–224. Vgl. zu dieser Begrifflichkeit ausführlich o. 127–129. 121 Vgl. zu dieser Begrifflichkeit und vor allem auch zum inhaltlichen Bezug der paränetischpotentiellen zur usuellen Paränese ausführlich o. 63f.127–129. 122 Vgl. zu dieser in Sonderheit anhand der Analyse von Hebr 5,11–14 gewonnenen Generalthese der vorliegenden Studie o. 66–126. 123 Zu dieser o. bereits im Blick auf die Adressatenschaft des Hebr als eher unwahrscheinlich charakterisierten Option vgl.o. 119f. 119 120

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suchten. Vor dem Hintergrund der Ausführungen in Hebr 10,19–39 und in Sonderheit derjenigen von Hebr 5,11–6,12124 will es hingegen deutlich wahrscheinlicher erscheinen, die Adressaten des Hebr als solche zu denken, die entweder eine hauskirchlich organisierte Gruppe von Schülern eines überregional wirkenden theologischen Schulhauptes oder aber eine innerhalb der römischen Gemeinde bzw. des römischen Gemeindeverbandes auszubildende Gruppe von Kandidaten des gemeindlichen Lehramtes125 darstellten.

124 125

Vgl. hierzu ausführlich o. 66–126.161–176.177–208. Vgl. zu diesen beiden Optionen o. 116–119.

6.

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Anknüpfend und bezugnehmend auf die in Hebr 11 dargestellte νέφος μαρτύρων (Hebr 12,1a)1 fordert der auctor ad Hebraeos seine Adressaten, hier noch die 1. Person Plural verwendend2, in einem ersten Abschnitt3 des 12. Kapitels seiner Epistel auf, alles Beschwerliche inklusive der εὐπερίστατος ἁμαρτία4 abzulegen und den ihm und seinen Adressaten bestimmten ἀγών5 mit ὑπομονή6 zu bewältigen (Hebr 12,1b.c), dabei aufsehend7 zu Jesus, dem τῆς πίστεως ἀρχηγὸς καὶ τελειωτής (Hebr 12,2a), der sich nach Kreuz und Schande zur Rechten des Thrones Gottes gesetzt hat: ὃς ἀντὶ τῆς προκειμένης αὐτῷ χαρᾶς ὑπέμεινεν σταυρὸν αἰσχύνης καταφρονήσας ἐν δεξιᾷ τε τοῦ θρόνου τοῦ θεοῦ κεκάθικεν (Hebr 12,2b).

Vgl. hierzu K. Backhaus, Hebr, 411: „An die dramatisierte Glaubenstheologie des Exkurses [d.h. von Hebr 11] schließt sich mit appellativem Schwung erneut die Paraklese an“. M. Karrer, Hebr II, 298–305 zieht Hebr 12,1–3 unmittelbar zu Hebr 11; in diesem Sinne auch D.A. DeSilva, Hebr, 425–438. 2 Zu diesem Wechsel in der Anrede und dessen Implikationen vgl. bereits o. 129. 3 Zur Abgrenzung von Hebr 12,1–3 vom Rest der Epistel vgl. etwa H.-F. Weiß, Hebr, 631: „Die VV. 1–3 stellen – durch das Stichwort ὑπομονή bzw. ὑπομένειν miteinander verbunden – eine in sich geschlossene sachlich-thematische Einheit dar“. Vgl. hierzu auch K. Backhaus, Hebr, 411f. 4 Vgl. zu dem hier Verwendung findenden Singular ἁμαρτία etwa W.L. Lane, Hebr II, 409: „The use of the singular (τὴν ἁμαρτίαν) shows that the writer is concerned with sin itself rather than with specific sins“. H.-F. Weiß, Hebr, 633 zufolge beschreibt der auctor ad Hebraeos die εὐπερίστατη ἁμαρτία als eine beschwerliche Last, die abzulegen ist. Diese Beschreibung paßt gut zu der o. formulierten Definition der ἁμαρτία als eines Gegenbegriffs zur πίστις (vgl. hierzu o. 206 mit A. 809); wird die πίστις als eine erkenntnisleitende Kategorie verstanden, in deren Horizont die zukünftig gewährleistete Realisierung aktuell noch nicht Platz greifender Inhalte und Verhältnisse als transcendendum der Gegenwart als garantiert wahrgenommen wird, so erweist sich die ἁμαρτία insofern als eine Last, als sie als personifizierte und transsubjektive Macht, die die Erkenntnis des Gegenwärtigen verabsolutiert und diejenige des Zukünftigen und damit auch die mit dieser Erkenntnis einhergehende ‚Entlastung‘ der Christen von der Verabsolutierung des Gegenwärtigen somit verunmöglicht. 5 Zu dem hier verwendeten und in der Antike sehr gebräuchlichen Bild des Wettkampfes vgl. M. Karrer, Hebr II, 300–301. 6 H.-F. Weiß macht m.R. darauf aufmerksam, daß die hier formulierte Mahnung zur Geduld „nicht eigentlich christologisch bzw. soteriologisch (wie in 4,14–16 und 10,19ff), sondern zunächst nur durch den Verweis auf das Glaubensbeispiel der Zeugen von Kapitel 11“ (Hebr, 631) motiviert wird. Dies scheint darauf hinzudeuten, daß der auctor ad Hebraeos hier den Boden der paränetisch-potentiellen Inhalte (vgl. hierzu o. 127–129) verlassen und auf die Ebene der usuellen Paränese (vgl. hierzu o. 63, A. 148) wechseln bzw. einen solchen Übergang vorbereiten möchte (vgl. hierzu u. 240f.). 7 An dieser Stelle durchaus m.R. E. Gräßer, Hebr, 235f., der eine Interpretation der Person Jesu als eines ‚Glaubensobjektes‘ ablehnt. 1

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Das Syntagma τῆς πίστεως ἀρχηγὸς καὶ τελειωτής hat in der exegetischen Sekundärliteratur ein breites Spektrum an unterschiedlichen Interpretationen erfahren8. W. Bauer und B. Aland übersetzen den Terminus ἀρχηγός mit ‚Urheber‘ bzw. ‚Begründer‘9. Diese Übersetzung macht durchaus einen guten Sinn, wenn der innerhalb dieses Syntagmas appositionelle Begriff πίστις, wie im Rahmen der vorliegenden Studie vorgeschlagen10, im Sinn einer erkenntnisleitenden Kategorie interpretiert wird, in deren Horizont die zukünftig gewährleistete Realisierung aktuell noch nicht Platz greifender Inhalte und Verhältnisse als garantiert wahrgenommen wird. Jesus wäre dann als derjenige zu definieren, der die grundsätzliche Möglichkeit der Existenz und der erkenntnistheoretischen Relevanz dieser erkenntnisleitenden Kategorie, d.h. also die grundsätzliche Möglichkeit der πίστις als eines adversativum zur ἁμαρτία11, durch sein – in Sonderheit auch in Hebr 7,1–10,18 beschriebenes – Handeln in der Vergangenheit materialiter etabliert bzw. begründet hätte12 und in der Zukunft, dann im Rahmen der tatsächlichen Realisierung dieser Inhalte und Verhältnisse, vollenden würde. In diesem Sinne ist Jesus in der Tat „not simply the crowning example of steadfast faithfulness, whose response to God is cited to encourage the community to persevere in faith“13, d.h. also keinesfalls ausschließlich Vorbild des Glaubens im Sinne eines Vorbilds des treuen Festhaltens am Bekenntnis zu Gott14. Vgl. die Diskussionen bei E. Gräßer, Hebr III, 235–241 und W.L. Lane, Hebr II, 410–412. Vgl. hierzu Wörterbuch, s.v. ἀρχηγός, 225. 10 Vgl. hierzu o. 203–207. 11 Vgl. hierzu o. 148. 12 Vgl. H.-F. Weiß, Hebr, 636f.: „..., so gewiß gewinnt solche Prädikation Jesu – im weiteren Kontext des Hebr gesehen – doch zugleich auch eine christologisch-soteriologische Dimension. Der άρχηγὸς τῆς πίστεως ist ja – nach Hebr 2,10 – zugleich der ἀρχηγὸς τῆς σωτηρίας, ‚den Gott durch Leiden vollendet hat‘! Von daher gesehen ist eine soteriologische Komponente im Grundverständnis von ἀρχηγός im Hebr nicht zu übersehen. Ἀρχηγός, das ist also nicht nur der ‚Anfänger‘ des Glaubens, sondern zugleich auch der ‚Anführer‘, der den Weg des Glaubens bereitet hat“. Ähnlich auch W.R.G. Loader, Sohn, 19f. und F. Laub, Bekenntnis, 159f. 13 W.L. Lane, Hebr II, 412; allerdings formuliert Lane darüber hinaus: „The poignant description as a whole points to Jesus as the perfect embodiment of faith, who exercised faith heroically. By bringing faith to complete expression, he enabled others to follow his example. ... His attainment of exaltation glory by way of faithful obedience in suffering was unprecedented and determinative, and not merely exemplary. The unique character of his personal sacrifice and achievement is not forgotten“ (412), sämtlich Aussagen, die ihn dann aber dazu führen müssen, zwischen dem in Hebr 11 Dargestellten und den Ausführungen von Hebr 12,1f. eine inhaltliche Spannung anzunehmen: „There is between the response of Jesus to God and that of the attested exemplars of faith in chap. 11 a qualitative distinction“. Ob sich eine solche an dem πίστις-Begriff sich aufhängende „qualitative distinction“ exegetisch halten lässt, muss allerdings mehr als fraglich bleiben. Gleiches gilt im Blick auf die Ausführungen von C.R. Koester, Hebr, 523: „Those mentioned in Heb 11:4–38 were people of faith, but none of them reached the goal of faith, the realization of God’s promises (11:40). Jesus is the pioneer because he takes faith to its goal, going where others have not yet gone“. Der in der vorliegenden Studie entwickelten Konzeption des auctor ad Hebraeos zufolge führte Jesus nicht die πίστις zum Ziel, sondern richtete die πίστις als erkenntnisleitende Kategorie auf die durch sein Wirken erwirkten neuen soteriologischen Qualitäten aus. Nicht die πίστις an sich unterscheidet Jesus von den in Hebr 11 Aufgelisteten, sondern das jeweilige Heilsgut, auf das die πίστις jeweils ausgerichtet ist. 14 Vgl. hierzu auch o. 132–155. 8 9

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An jenen, der viel Widerspruch gegen sich von den ἁμαρτωλοί erduldet hat, sei daher15 zu denken16 bzw. sich zu erinnern17 (Hebr 12,3a), damit die Adressaten des Hebr, nun ihrerseits unmittelbar in der 2. Person Plural angesprochen, μὴ κάμητε ταῖς ψυχαῖς ὑμῶν ἐκλυόμενοι. (Heb 12,3b)18. Der Hebr 12,3b vorliegende Finalsatz19 beschreibt im Rahmen dieser Anweisung die Absicht und den Zweck, den der auctor ad Hebraeos mit seiner in Hebr 12,3a formulierten Mahnung zu verfolgen trachtet: Die Adressaten des Hebr sollen sich an Christus erinnern, eben damit sie – und die nun verwendete Terminologie, konkret die Verben κάμνω und ἐκλύομαι, begegnet ausweislich der Konkordanz innerhalb des Hebr an dieser Stelle erstmalig20 – nicht ermatten und kraftlos werden21 an ihren Seelen22. Die in Hebr 12,3a formulierte Mahnung, die unmittelbar aus christologischen Erwägungen, nicht jedoch aus der in Hebr 7,1–10,18 entfalteten Hohepriester-Christologie resultiert, bietet keinerlei Textsignal, das zu der Annahme Anlass geben könnte, jene nähme über ihren paränetisch-potentiellen Charakter hinaus unmittelbar auf die Lebenswirklichkeit der Adressaten des Hebr Bezug bzw. sei, wenn womöglich auch nicht ausschließlich, durch jene motiviert und

15 Zur Bedeutung der Hebr 12,3 einleitenden Konjunktion γάρ vgl. H.-F. Weiß, Hebr, 641, der für jene hier einen „eher folgernden Sinn“ annimmt. 16 Vgl. zum sachlogischen Zusammenhang des in Hebr 12,2 Ausgeführten zu den paränetischen Aussagen in Hebr 12,3 H.-F. Weiß, Hebr, 641: „So gesehen liegt es durchaus in der Logik der christologischen Aussage von V. 2, wenn nunmehr in V. 3 ausdrücklich die Beziehung zwischen dem erwiesenen Verhalten Jesu und dem von den Adressaten des Hebr geforderten Verhalten hergestellt wird“. 17 Vgl. zu dieser Aufforderung H.-F. Weiß, Hebr, 641f.: „Die Leser werden aufgefordert, ihre gegenwärtige Glaubenssituation in eine Beziehung zum Weg Jesu zu setzen, sie als ‚analog‘ zu erkennen und aus solchem vergleichenden Erwägen die entsprechende Schlußfolgerung im Blick auf die eigene Situation zu ziehen – also: mit ihrem Verhalten dem Verhalten Jesu zu entsprechen“. 18 Zum Stil dieser Aussage vgl. W.L. Lane, Hebr II, 417: „The formulation is consistent with the athletic metaphor“. 19 F. Blaß/A. Debrunner/F. Rehkopf, Grammatik, § 456.2, 386f. diskutieren ausführlich die Möglichkeit einer kausalen Verwendung der Konjunktion ἵνα im Neuen Testament; der Beleg Hebr 12,3 wird von ihnen dabei allerdings nicht genannt. Zu der gängigen Verwendung von ἵνα als einleitender Konjunktion eines Finalsatzes vgl. Grammatik, § 369, 298–300, vgl. darüber hinaus auch W. Bauer/B. Aland, Wörterbuch, s.v. ἵνα, 764–767. 20 Vgl. hierzu W.F. Moulton/A.S. Geden, Concordance, s.v. κάμνω, 522; dieser Begriff bzw. das Syntagma κάμνω τῆς ψυχῆς ist im Neuen Testament insgesamt nur zweimal belegt. Vgl. darüber hinaus W.F. Moulton/A.S. Geden, Concordance, s.v. ἐκλύομαι, 319. 21 Die Alternativlesart ἐκλελύμενοι, die u.a. von P15.46 geboten wird und der u. formulierten Interpretation durchaus entgegenstehen könnte, ist zu schwach bezeugt, als dass ihr wirklich Ursprünglichkeit zugemessen werden könnte. Darüber hinaus ließe sich kaum erklären, warum die Abschreiber dieses Partizip Perfekt im Zuge des Abschreibvorgangs in das Partizip Präsens ἐκλυόμενοι abgeändert haben sollten. Vgl. zu dieser Alternativlesart auch H.-F. Weiß, Hebr, 643. 22 Zu dieser Übersetzung vgl. H.-F. Weiß, Hebr, 631.

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müsse daher in paränetisch-aktuellem Sinne23 interpretiert werden. Da der Verfasser des Hebr in Hebr 12,3b, im Anschluss an die eigentliche Mahnung, darüber hinaus einen argumentationslogisch vollständig auf die Zukunft ausgerichteten Finalsatz, nicht jedoch etwa einen die unmittelbare Lebenswirklichkeit der Adressaten seiner Epistel reflektierenden Kausalsatz bietet, lassen sich die Ausführungen in Hebr 12,3 in ihrer Gesamtheit, wiewohl hier deutlich poimenisch und eben nicht polemisch akzentuiert24, kaum als ein paränetisch-aktueller Hinweis auf eine aktuelle und tatsächlich wirksame Glaubensermüdung und -ermattung, sondern bestenfalls Mahnung und Warnung vor einer zukünftigen und potentiellen25 verstehen26, eine Annahme, die dadurch untermauert wird, dass die entsprechenden Verben κάμνω und ἐκλύομαι in Hebr 12,3b erstmalig im Hebr begegnen27. Damit sind aber auch die – zudem inhaltlich im Blick auf ihre argumentationslogische Struktur und ihre Semantik innerhalb des Hebr singulären – Ausführungen in Hebr 12,1–3 nur wenig geeignet, die Annahme zu substantiieren, die Adressaten des Hebr sollten in einer aktuell wirksamen Glaubensermüdung und -ermattung – mit Hilfe einer umfassenden theologischen Argumentation – stabilisiert und neu ermutigt werden. In Hebr 12,4–13 formuliert der auctor ad Hebraeos dann, mit dem in Hebr 12,4b verwendeten Begriff ἁμαρτία an die Ausführungen in Hebr 12,1b (ἁμαρτία) sowohl als auch an diejenigen in Hebr 12,3a (ἁμαρτωλοί) assoziativ anknüpfend und die Hebr 12,1–3 verwendete Wettkampf- bzw. Wettlaufmetaphorik aufnehmend28 – ohne hier freilich einen unmittelbaren sachlogischen Bezug namhaft zu machen29 –, seine Gedanken zur Frage des Sinnes von Leid und Pression. Diese

Vgl. zu dieser Begrifflichkeit ausführlich o. 127–129. Vgl. hierzu o. 143f. 25 Vgl. zu der hier verwendeten Begrifflichkeit o. 127–129. 26 Vgl. hierzu etwa W.L. Lane, Hebr II, 419: „The writer was concerned pastorally that the men and women he addressed might [!] ‚become weary and lose heart‘ prior to completing their course“. Anders hier etwa H.-F. Weiß, Hebr, 642: „Die akute Gefahr ihrer Situation sind ‚Ermattung‘ (κάμειν) und ‚Mutlosigkeit‘ (εκλυόμενοι)“, zwei Begriffe, die Weiß für „weitgehend synonym“ (643) ansieht; vgl. darüber hinaus auch 643: „Die zuerst in V. 1 aufgenommene Metapher vom (sportlichen) Wettkampf bzw. Wettlauf erscheint dem Autor des Hebr offensichtlich in besonderer Weise geeignet zu sein, seine Adressaten in ihrer Glaubensanfechtung erneut zu durchhaltendem Glauben zu motivieren“. Wenn das zuträfe und die aktuelle Situation der Adressatenschaft des Hebr von Ermattung und Mutlosigkeit bestimmt wäre, ließe sich jedoch kaum erklären, warum dann diese Termini hier in Hebr 12 erstmalig in der gesamten Epistel begegnen. 27 Vgl. hierzu o. 28 Vgl. zu letzterem etwa H.-F. Weiß, Hebr, 644.646.647: „..., sondern auch schon die in V. 4 vorliegende Charakterisierung des bereits jetzt notwendigen Widerstandes als eines Kampfes gegen die Sünde. Das hierfür benutzte Verbum ἀνταγωνίζεσθαι nimmt dabei erneut die Metapher vom ἀγών von V. 1 auf“ (647). Vgl. hierzu auch M. Karrer, Hebr II, 317. 29 Vgl. zum Zusammenhang von Hebr 12,1–3 und Hebr 12,4ff. die Ausführungen von H.-F. Weiß u. 244; zu diesem asyndetischen Anschluss vgl. auch E. Gräßer, Hebr III, 250. Vgl. hierzu 23 24

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werden von den Adressaten des Hebr, weiterhin in der 2. Person Plural adressiert, als ἀνταγωνιζόμενοι πρὸς τὴν ἁμαρτίαν offensichtlich latent erfahren und erlebt, ohne dass zumindest einige derselben in diesem Kampf gegen die pagane Umwelt und sicherlich auch gegen die Machtstrukturen und die Repräsentanten des imperium Romanum bereits ‚bis aufs Blut widerstanden‘, also das Martyrium erlitten hätten (Hebr 12,4)30. Auffallen muss, dass der auctor ad Hebraeos hier auf die christliche Vergangenheit seiner Adressaten zu sprechen kommt, wiewohl er diese bereits in Hebr 10,32–34 thematisiert hat31, ohne jedoch diesen Zusammenhang hier in Hebr 12,4a anzuzeigen. Diese Beobachtung lässt sich durchaus als Indiz für die These werten, dass jener mit Hebr 12,4 zur Darstellung der usuellen Paränese übergeht, also nun solche Mahnungen formuliert, die sich nicht unmittelbar aus den in Hebr 7,1–10,18 entwickelten theologischen Einsichten ergeben32. Dass der Begriff ἁμαρτία33 Hebr 12,4b an dieser Stelle weniger in diesem ausschließlich theologischen, sondern eher in einem theologisch-politischen Sinne verstanden werden muss, belegen die Ausführungen in Hebr 12,3a: Hier werden diejenigen, die Jesus anfeindeten, d.h. doch offensichtlich „die gottfernen Repräsentanten des Irdischen schlechthin, ungeachtet politischer, ethnischer oder religiöser Schranken“34, als ἁμαρτωλοί bezeichnet. Das aber heißt, dass der auctor ad Hebraeos den Begriff ἁμαρτία Hebr 12,4b augenscheinlich auf die – sicherlich allerdings theologisch interpretierte – Sphäre des Irdischen in ihrer Gesamtheit beziehen möchte, die Sphäre des Irdischen, die für die Adressaten ihre Konkretion natürlich immer nur in konkreten politischen Verhältnissen, Vorfindlichkeiten und Personen ihrer nichtchristlichen Umwelt gewinnt35, die zugleich

auch H.W. Attridge, Hebr, 360: „The shift from exhortation to alliterative description is somewhat abrupt“. 30 Vgl. zur Interpretation der Wendung des Satzes οὔπω μέχρις αἵματος ἀντικατέστητε in diesem eindeutigen und martyrologischen Sinn etwa H. Braun, Hebr 408; vgl. zu weiteren Befürwortern dieser Interpretation E. Gräßer, Hebr III, 253, A. 36, wobei Gräßer hier, wie auch H.W. Attridge, Hebr, 360, A. 21, in Sonderheit auch auf die Kirchenväter verweist. Im Sinne der hier vertretenen Interpretation etwa J.W. Thompson, Heb 5:11–14, 29, A. 47 und auch W.L. Lane, Hebr II, 418, darüber hinaus F.F. Bruce, Hebr, 342. 31 Vgl. hierzu o. 229–232. 32 Vgl. zu dieser Begrifflichkeit o. 127–129. 33 Zur Interpretation des Terminus ἁμαρτία im Kontext des Begriffs πίστις vgl. bereits o. 203–207. 34 K. Backhaus, Hebr, 416. 35 Anders, allerdings keinesfalls im Gegensatz zu der hier entwickelten Definition, jedoch H.-F. Weiß, Hebr, 647: „Bei der jetzt notwendigen Bewährung des Glaubens geht es nicht um den Widerstand gegen irdisch-weltliche Mächte, sondern – viel schärfer und hintergründiger noch – um einen ‚Antagonismus‘ (!) πρὸς τὴν ἁμαρτίαν. Sie, die ‚Sünde‘, ist es, die die Christen in der Anfechtung ihres Glaubens mutlos werden läßt“. Weiß ist sicherlich darin zuzustimmen, dass der auctor ad Hebraeos die ἁμαρτία als eine personifizierte und transsubjektive Macht betrachtet (vgl. hierzu das zu Hebr 3,13 Ausgeführte o. 148). Diese personifizierte und transsub-

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aber, nicht zuletzt auch als eine ihre aeternitas aktiv propagierende und beanspruchende36, theologisch als Kontrastanalogie und damit zugleich als Relativierung der im Horizont der πίστις erkannten zukünftigen Wirklichkeit37 wirkt. E. Gräßer38 möchte die Wendung μέχρις αἵματος Hebr 12,4a „‚rhetorisch‘“39, d.h. im Sinne von „mit äußerster Kraftanstrengung“40 interpretieren. Zur Stützung seiner Interpretation verweist Gräßer in Sonderheit auf den Begriff der ἁμαρτία: „Sie meint nicht den hostis intestinus, der ständig in uns wohnt, oder die der Gemeinde feindlich gegenüberstehende Macht. Und schon gar nicht läßt sie sich an unserer Stelle kultisch oder moralisch bestimmen, auch nicht als Bosheit oder Feindschaft der Widersacher des Evangeliums (‚geballtes Antichristentum‘), sondern die Sünde ist hier vorgestellt als personifizierter Gegner, gegen den es Widerstand zu leisten gilt. ... Wogegen man sich mit allen Kräften wehren muß, ist der Abfall, das Zurückweichen ..., der Betrug der Sünde ..., dem zu verfallen eine irreversible Niederlage wäre“41. Ein solches Verständnis des Begriffs ἁμαρτία ließe sich in der Tat mit dem Martyriumsgedanken nur sehr schwer vereinen. Unwahrscheinlich aber will scheinen, dass sich ein solches Verständnis des ἁμαρτία-Begriffs in Hebr 12,4 mit dem Begriff des ἁμαρτωλός, so wie er in Hebr 12,3 begegnet, korrelieren ließe. Werden die ἁμαρτωλοί als „Feinde des alttestamentlichen Frommen: sie belauern ...; sie bedrängen ...; ihre bedrohende ‚Hand‘ ...“42 verstanden, so ließe sich der Begriff der ἁμαρτία in Hebr 12,4 sehr wohl etwa auf die römische Staatsmacht bzw. deren Repräsentanten beziehen. Zu fragen ist darüber hinaus freilich auch, ob sich die beiden hier skizzierten Interpretationsansätze wechselseitig ausschließen müssen43; denkbar ist doch auch, dass die ἁμαρτία als Zurückweichen durch die Pressionen der ἁμαρτωλοί als den Repräsentanten der römischen Staatsmacht hervorgerufen wird. Schließlich bleibt angesichts der interpretatorischen Position von E. Gräßer zu Hebr 12,4 zumindest unklar, wie die solchermaßen verstandenen Ausführungen dieses Verses inhaltlich dann mit dem ab Hebr 12,4 die Darstellung bestimmenden Konzept der göttlichen παιδεία zu verknüpfen wären: Worin nämlich sollte denn die παιδεία Gottes bestehen, wenn der auctor ad Hebraeos seinen Adressaten in Hebr 12,4 vorwürfe, nicht ausreichend gegen den Abfall vom Glauben und das Zurückweichen von einmal erkannten und akzeptierten Glaubensinhalten gekämpft zu haben.

jektive Macht vermag aber doch – zumindest auch – durch konkrete irdische und damit zugleich auch, zumindest aus der Perspektive des auctor ad Hebraeos letzten Endes überholte und wenig zukunftsfähige Verhältnisse, Vorfindlichkeiten und Personen zu wirken. 36 Zur extensiv propagierten aeternitas des imperium Romanum vgl. etwa T. Witulski, Johannesoffenbarung, 77, A. 63. 37 Zum Begriff der πίστις vgl. ausführlich o. 203–207. 38 Vgl. hierzu Hebr III, 253–255. 39 Hebr III, 254. 40 Hebr III, 254. 41 Hebr III, 253f. 42 H. Braun, Hebr, 407. 43 Beide Aspekte werden zusammengedacht etwa von C.R. Koester, Hebr, 525, der in der Wendung μέχρις αἵματος die hier diskutierten „two aspects of meaning“ verknüpft sehen möchte.

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Die Analyse von Hebr 12 Auch H.-F. Weiß tendiert dazu, die Ausführungen in Hebr 12,4 als „eine durchaus kritische Bemerkung des Autors im Blick auf den gegenwärtigen, ein Defizit hinsichtlich der Bewährung des Glaubens anzeigenden Stand der Adressaten“44 zu verstehen, im Sinne etwa von: „‚Ihr habt auch bisher schon nicht das äußerste eingesetzt‘“45. Zugunsten dieser Interpretation ließe sich Weiß zufolge einerseits die Fortsetzung in Hebr 12,5 anführen, andererseits aber auch die Darstellung „des bereits jetzt notwendigen Widerstandes als eines Kampfes gegen die Sünde“46. Hier der o. nachgezeichneten Interpretation von E. Gräßer durchaus vergleichbar sieht H.-F. Weiß, in Sonderheit im Kontext des die Darlegungen in Hebr 12,1f. prägenden Bildkreises „der Metapher vom Wettkampf“47 nämlich den Terminus ἁμαρτία semantisch geprägt durch die Aspekte „der Trägheit und der Ermattung im Wettlauf“48, somit durch diejenigen der Glaubensermüdung und -ermattung. Hebr 12,4 ließe sich vor diesem Hintergrund dann folgendermaßen verstehen: ‚Denn ihr habt ja noch nicht bis aufs äußerste im Kampf gegen Glaubensermüdung und -ermattung widerstanden‘49. Gegen die von H.-F. Weiß vorgeschlagene Interpretation von Hebr 12,4 spricht allerdings, dass auch innerhalb ihrer dann keinerlei argumentationslogische Brücke von Hebr 12,4 zum in den folgenden Versen entwickelten Konzept der göttlichen παιδεία erkennbar wäre: Inwieweit nämlich sollte der – von den Adressaten des Hebr H.-F. Weiß zufolge nicht ausreichend geleistete – innergemeindliche Kampf gegen Glaubensermüdung und -ermattung als – etwa in Geißelungen50 (Hebr 12,6) erfahrbare – παιδεία Gottes begriffen werden können?

In ihrem bisherigen, noch nicht in letzter Konsequenz auszutragenden Kampf gegen die Sphäre des Irdischen und deren erfahrbare Konkretionen hätten die Adressaten des Hebr, so der Vorwurf des Verfassers dieser Epistel, die παράκλησις, den tröstenden und ermahnenden Zuspruch51 Gottes als ihres Vaters vergessen bzw. zu wenig beachtet, eine παράκλησις, die inhaltlich darin besteht, dass der zu führende Kampf gegen die Sphäre des Irdischen und deren erfahrbare Konkretionen und die in diesem Kampf zu gewärtigenden Leiden und Pressionen letzten Endes Zeichen der Liebe und der liebenden παιδεία Gottes darstellen. Nicht unwichtig ist die Beobachtung, dass der Terminus παράκλησις zwar

Hebr, 646. Hebr, 646f.; diese Deutung wird in ähnlicher Weise vertreten etwa von K. Backhaus, Hebr, 419f., M. Karrer, Hebr II, 317f., C.P. März, Hebr, 76 und D.A. DeSilva, Hebr, 446, dem zufolge der auctor ad Hebraeos mit diesen Ausführungen bei seinen Rezipienten die „emotion of shame“ wecken wollte. 46 Hebr, 647. 47 Hebr, 647. 48 Hebr, 647. 49 Diese Übersetzung nach H.-F. Weiß, Hebr, 644. 50 Vgl. hierzu die Übersetzung von H.-F. Weiß, Hebr, 644. 51 W. Bauer/B. Aland, Wörterbuch, s.v. παράκλησις übersetzen diesen Begriff an dieser Stelle mit „Ermahnung“ bzw. „Ermunterung“, lassen den Aspekt des Trostes hier also außen vor; anders hier etwa H.-F. Weiß, Hebr, 644, der an dieser Stelle von einer „tröstliche[n] Ermahnung“ spricht und diese näherhin als den „tröstliche[n] und zugleich ermahnende[n] Zuspruch der Schrift“ (647) definiert. 44 45

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bereits in Hebr 6,18 belegt ist52, das Verb ἐκλανθάνομαι – und damit auch das Syntagma ἐκλανθάνομαι τῆς παρακλήσεως hingegen nur in Hebr 12,5a53. Diese Interpretation der gegenwärtig wahrnehmbaren Wirklichkeit belegt der auctor ad Hebraeos in Hebr 12,5c.d.6 zunächst mit einem Zitat aus Prov 3,11f., dessen Impetus er dann in Hebr 12,7a folgendermaßen zusammenfasst: εἰς παιδείαν ὑπομένετε54, und in Hebr 12,7b.c. mit einem auf die menschliche VaterSohn-Beziehung bezogenen Schluss a minori ad maius noch einmal unterstreicht: ὡς υἱοῖς ὑμῖν προσφέρεται ὁ θεός. τίς γὰρ υἱὸς ὃν οὐ παιδεύει πατήρ. In Hebr 12,8 spitzt er diesen Impetus dann radikal zu, indem er denjenigen, die noch keine göttliche παιδεία erfahren haben, konkret noch keinerlei Leiden oder Pression ausgesetzt gewesen sind, den Status als Söhne bzw. Kinder Gottes nachgerade abspricht: εἰ δὲ χωρίς ἐστε παιδείας ἧς μέτοχοι γεγόνασιν πάντες, ἄρα νόθοι καὶ οὐχ υἱοί ἐστε. In Hebr 12,9 nimmt der Verfasser des Hebr, nun wieder in die 1. Person Plural, also das kollektive ἡμεῖς wechselnd, dann die Perspektive der Objekte der παιδεία ein; wiederum mit einem auf die menschliche Vater-Sohn-Beziehung bezogenen Schluss a minori ad maius fordert er von den solchermaßen von Gott Erzogenen die Unterordnung unter den solchermaßen Erziehenden, hier Gott, ein: εἶτα τοὺς μὲν τῆς σαρκὸς ἡμῶν πατέρας εἴχομεν παιδευτὰς καὶ ἐνετρεπόμεθα· οὐ πολὺ [δὲ] μᾶλλον ὑποταγησόμεθα τῷ πατρὶ τῶν πνευμάτων καὶ ζήσομεν. Diese Forderung wird dann in Hebr 12,10 begründet; die göttliche Erziehung geschehe immerhin zu seinem und seiner Adressaten Nutz und Frommen: ἐπὶ τὸ συμφέρον55 εἰς τὸ μεταλαβεῖν τῆς ἁγιότητος αὐτοῦ. (Heb 12,10b). In Hebr 12,11 werden dann die παιδεία selbst und ihre Folgen in den Blick genommen: Wird jene in ihrem unmittelbaren Vollzug auch als λύπη empfunden, so bringt sie doch denen, die in solcher παιδεία eingeübt sind, in ihrer Folge „als friedensreiche Frucht Gerechtigkeit“56. Aus diesem Grund (διό)57, d.h. um diese Vgl. hierzu W.F. Moulton/A.S. Geden, Concordance, s.v. παράκλησις, 758. Vgl. hierzu W.F. Moulton/A.S. Geden, Concordance, s.v. ἐκλανθάνομαι, 318. 54 Vgl. zu diesem Aspekt etwa H.-F. Weiß, Hebr, 649; Weiß arbeitet heraus: „Es wird – wie bereits zuvor in den VV. 1–3 – zu geduldigem Aufsichnehmen von Leiden aufgefordert, nun aber unter dem Aspekt, daß alles Leiden und alle Anfechtung den Adressaten εἰς παιδείαν widerfahren“. 55 Zu diesem Syntagma und seinem stoischen Hintergrund vgl. etwa H.-F. Weiß, Hebr, 654f. 56 Vgl. zu dieser Übersetzung K. Backhaus, Hebr, 418. Zu dem hier verwendeten Begriff der δικαιοσύνη vgl. H.-F. Weiß, Hebr, 657f.: „Wenn der Autor des Hebr in V. 14 sodann aus der durch die Paideia Gottes gewährten ‚Frucht‘ die Schlußfolgerung zieht: εἰρήνην διώκετε μετὰ πάντων, so gibt er damit zu erkennen, daß für ihn – wie auch für Jak 3,18 – in der Wendung καρπὸς εἰρηνικὸς ... δικαιοσύνης der Akzent auf εἰρηνικός liegt und daß – was angesichts des weisheitlichen Hintergrundes von Hebr 12,5–11 ohnehin naheliegt – die ‚Frucht‘, von der hier die Rede ist, nicht in erster Linie die eschatologische ‚Frucht‘ meint, sondern diejenige ‚Frucht‘, die sich in einem entsprechenden Tun, im διώκειν εἰρήνην bzw. im ποιεῖν εἰρήνην (Jak 3,18) der durch Gottes Paideia ‚Geübten‘ auswirkt“. Trifft dies zu, zeigt sich erneut, dass die Argumentation von Hebr 12,4–13 von dem, was in Hebr 7,1–10,18 dargestellt worden ist, inhaltlich sehr weit entfernt ist. 57 Zu diesem Konnex vgl. O. Michel, Hebr, 446. 52 53

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Frucht der Gerechtigkeit zu erlangen, sollen die Adressaten des Hebr, nun wieder in der 2. Person Plural angesprochen, die entkräfteten Hände und die gelähmten Knie richten58 und gerade Spuren für ihre Füße schaffen59, damit das, was lahm ist60, heil werde61 (Hebr 12,12f.)62. Nicht unterschlagen werden darf, dass zahlreiche der in Hebr 12,12f. verwendeten charakteristischen Begriffe ausweislich der Konkordanz innerhalb des Hebr an dieser Stelle erstmalig begegnen, so etwa die Syntagmata παρειμένας χεῖρας und παραλελυμένα γόνατα, darüber hinaus auch, in Sonderheit in Verbindung mit diesen beiden Syntagmata, das Verb ἀνορθόω63. Zu fragen ist nun, ob die Hebr 12,5a geäußerte Kritik einer- und die Aufforderungen und Mahnungen in Hebr 12,12f. andererseits auf eine unter den Adressaten des Hebr Platz greifende aktuelle und nachgerade akute, ihre und ihrer gesamten Gemeinde oder Gemeindegruppe64 christliche Existenz massiv und in existentieller Weise gefährdende Glaubensermüdung und -ermattung abheben bzw. als durch eine solche motiviert zu denken sein könnten65, also paränetischZu der in dieser Aufforderung – wiederum – sichtbar werdenden Wettkampfmetaphorik vgl. etwa H.-F Weiß, Hebr, 658. Weiß macht als alttestamentlichen Hintergrund dieser Redeweise die Ausführungen in Jes 35,3 und Sir 25,23 namhaft. Zur jeweiligen Form der einzelnen Zitate vgl. W.L. Lane, Hebr II, 426f. 59 Zur metrischen Struktur von Hebr 12,13a und zum traditionsgeschichtlichen Hintergrund der dortigen Ausführungen vgl. etwa C. Spicq, Hebr II, 396. 60 Dass hier auf die aktuelle und akute Gegenwart der Adressaten des Hebr und die innerhalb derselben Platz greifenden Verhältnisse rekurriert wird, spricht H.-F. Weiß, Hebr, 659 an: „‚Lahmheit‘, Stagnation, macht also jetzt schon den beklagenswerten Zustand der Adressaten aus“. Da der auctor ad Hebraeos diese Problematik innerhalb seiner Epistel aber erstmalig in Hebr 12,4–13 thematisiert, muss doch die Annahme, dass jene als die das Schreiben in seiner Gesamtheit bestimmende und auch motivierende angesehen werden müssen, mehr als fraglich bleiben (vgl. hierzu u.). 61 Vgl. zu dieser Übersetzung H.-F. Weiß, Hebr, 644. 62 G. Schunack, Hebr, 201 stellt die Mahnungen in Hebr 12,12f. in einen unmittelbaren Zusammenhang mit den Ausführungen in Hebr 5,11: „Das in V. 12 aus Jes 35,3 und Sir 25,23 übernommene Bild der ‚erschlafften Hände und gelähmten Knie‘ spielt darauf an, dass die Gemeinde ‚stumpf im Hören geworden ist‘“. Eine solche Parallelisierung aber gibt der Text kaum her. 63 Vgl. hierzu W.F. Moulton/A.S. Geden, Concordance, s.v. παρίημι, 762, s.v. παραλύομαι, 759, s.v. γόνυ, 175, und schließlich s.v. ἀνορθόω, 78. 64 Vgl. hierzu bereits o. 13f. 65 Dies vermutet H.-F. Weiß, Hebr, 643, der im Blick auf Hebr 12,5a formuliert: „Die akute Gefährdung der Adressaten in ihrem Glaubensstand ist offensichtlich so weit fortgeschritten, daß der Autor sich aller ihm zur Verfügung stehender Mittel bedient, um seine Leser erneut zum Festbleiben im Glauben bzw. zu bleibender Geduld in der Anfechtung des Glaubens zu motivieren“, vgl. darüber hinaus auch W.L. Lane, Hebr II, 418: „In vv 5–11 the writer seeks to justify the experience of hostility and abuse that the community has encountered because they identified themselves with Christ. He fully recognized that suffering has the ability to disturb faith or to provoke uncertainty and despair“. Vgl. zu Hebr 12,5f. auch K. Backhaus, Hebr, 420: „Den mangelnden Widerstandsgeist sieht der V[er]f[asser]. in der Mutlosigkeit seiner Adressaten begründet“; immerhin macht Backhaus darauf aufmerksam, dass das in Hebr 12,5a Ausgeführte auch als rhetorische Frage gelesen werden könnte, ein Interpretationsansatz, der den 58

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aktuelle Inhalte66 transportierte, oder ob der auctor ad Hebraeos an dieser Stelle – unter Verwendung der in der jüdischen und auch der christlichen Tradition durchaus verbreiteten Konzeption einer göttlichen παιδεία – in eher grundsätzlicher Absicht und in allgemeiner Weise, d.h. in paränetisch-potentiellem Sinne, zum Aushalten von Leid und Pression mahnte und aufforderte. M.a.W.: Vermögen die kritischen Worte in Hebr 12,5a und Aufforderungen und Mahnungen in Hebr 12,12f. die These zu belegen, dass Leid und Pression und eine daraus resultierende Glaubensermüdung und -ermattung die aktuelle und akute Lebenswirklichkeit der Adressaten des Hebr so annähernd vollständig und nachhaltig prägen, dass der auctor ad Hebraeos mit seiner Schrift in ihrer Gesamtheit darauf abzielte, im Kreis seiner Adressaten, nachgerade als Brandmauer, eine neue theologische Grundlegung, ein neues theologisches Fundament gießen wollte, um auf diesem Wege zu einer Stabilisierung und Revitalisierung desselben beizutragen? Oder müssen diese Ausführungen nicht viel eher als zwar durchaus auf potentiell Platz greifende konkrete Missstände anspielende, zugleich aber auch allgemein und grundsätzlich ausgerichtete und eben nicht eine außergewöhnliche aktuelle Situation thematisierende Hinweise begriffen werden67, mit denen der Verfasser des Hebr seinen Adressaten grundlegende Verhaltensmaßregeln für in der Gegenwart potentiell aufgetretene und auftretende und auch in der Zukunft mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit immer einmal wieder auftretende und jene betreffende Leiden und Pressionen an die Hand zu nach Backhaus „in jedem Fall hörbar[en]“ Vorwurf doch deutlich abzuschwächen vermöchte. E. Gräßer, Hebr II, 255 merkt zu Hebr 12,5a an: „Der als Zitateinleitung fungierende Satz, der eher ermutigend als vorwurfsvoll gemeint ist und im Anschluss an V 4 sicher keine die Strenge mildernde Frage formuliert, orientiert sich an der konkreten Lage der Gemeinde, nämlich der Versuchung, sich gegenüber der Stimme Gottes zu verhärten, die der angefochtenen Gemeinde Trost zuspricht“; wird dieser Satz als Ermutigung gelesen, wird die dann trotz allem immer noch durchscheinende Kritik aber deutlich abgeschwächt bzw. letzten Endes relativiert. Vgl. zu Hebr 12,12f. auch W.L. Lane, Hebr II, 426: „The members of the house church, however, are characterized by listless arms and weakened knees“, E. Gräßer, Hebr III, 280f.: „Weil es das in der Gemeinde gibt, und zwar als ‚ungeheure Gefahr‘, die möglicherweise aus übergroßer Leidensscheu resultiert, lautet die weitere prophetische Mahnung: καὶ τροχιὰς ὀρθὰς ποιεῖτε τοῖς ποσὶν ὑμῶν“, C. Marceselli-Casale, Hebr, 564: „A una cristianità in via di disorientamento l’autore si era già rivolto in 3,12 per la prima volta; poi in 4,1 e in 6,11“, und C. Spicq, Hebr II, 396: „Les destinataires de l’épître, athlètes pusillanimes, doivent retrouver ‚le moral‘, c’est-à-dire confiance et courage, s’ils veulent triompher“. 66 Vgl. zu der entsprechenden Begrifflichkeit o. 127–129. 67 In diese Richtung denkt – zumindest zunächst – K. Backhaus, Hebr, 428: „Die deutliche Anrede mit ihrem indirekten Vorwurf, die Hörer seien nach Geist und Willen bequem geworden, entspricht dem verbreiteten Kommunikationsstil philosophischer Vorträge. Sie lässt deshalb nicht unmittelbar auf die tatsächliche Antriebslosigkeit der Adressaten schließen“. Dann fährt Backhaus allerdings fort: „Der Gesamtrahmen des Hebr erweist jedoch, dass sich der V[er]f[asser]. die Gemeinde in der Tat als erschlafft und desorientiert vorstellt“. Träfe dies zu, fragte sich aber, warum der auctor ad Hebraeos das für die Ausführungen von Hebr 12,12f. charakteristische Vokabular im Hebr an dieser Stelle erstmalig verwendet. Für diese hier skizzierte Interpretation zumindest offen zeigt sich O. Michel, Hebr, 450.

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geben beabsichtigte. Zugunsten dieser zweiten der beiden hier skizzierten Interpretationsmöglichkeiten von Hebr 12,5a.12f. sprechen folgende Überlegungen: (a) Zunächst lässt der Verfasser des Hebr innerhalb der Ausführungen Hebr 12,4–13 mit keinem Wort erkennen, dass in der Gegenwart der Adressaten seiner Epistel Leid und Pression etwa in außergewöhnlicher Weise überhand genommen und daher innerhalb der angeschriebenen Gemeinde oder Gemeindegruppe68 zu einer umfassenden und nachhaltigen Glaubensermüdung und -ermattung im Sinne einer existentiellen Krise geführt hätten. Da es Martyrien einzelner Glieder derselben in der Vergangenheit offensichtlich noch nicht gegeben hat (Hebr 12,4) und auch in der Gegenwart anscheinend nicht gibt, stellt sich letzten Endes die Frage, ob und inwieweit die Adressatenschaft des Hebr überhaupt über das gewöhnliche Maß hinausgehenden und somit außergewöhnlichen und dann auch nachhaltigen Pressionen von seiten ihrer paganen Umgebung ausgesetzt gewesen ist. (b) Der auctor ad Hebraeos kommt auf das gegenwärtige Leid und die gegenwärtigen Anfechtungen der Adressaten seiner Epistel, die aus den gegen jene gerichteten Aktivitäten ihrer paganen Umgebung resultieren mögen, de facto erst in Hebr 12,4–13, also am Ende seiner Schrift, zu sprechen69. Wäre es seine eigentliche Intention und sein primäres Ziel gewesen, eine aus Leid, Anfechtungen und Pressionen erwachsene und die Adressatenschaft grundlegend und nachhaltig belastende Glaubensermüdung und -ermattung mit Hilfe einer neuen theologisch-theoretischen Fundamentierung zu bekämpfen, stände zu erwarten, dass er diese Glaubensermattung und -ermüdung in seiner Epistel bereits weit eher, womöglich unmittelbar zu Beginn, womöglich auch in einer eben explizit auf diese Thematik abzielenden digressio thematisiert hätte. Diesem Argument ließe sich nur entgehen, würden die Ausführungen der Passage Hebr 5,11– 6,20 im Sinne der Thematisierung einer Glaubensermüdung und -ermattung der Adressatenschaft des Hebr interpretiert, eine Interpretation, für die der entsprechende Text aber keinerlei Anhalt bietet70. (c) Das für die Ausführungen in Hebr 12,5a.12f. charakteristische und das Problem der Glaubensermüdung bzw. -ermattung inhaltlich transportierende Vokabular begegnet innerhalb des Hebr in Hebr 12,5a.12f. weitestgehend erstmalig71. Diese Beobachtung ließe sich kaum erklären, würde angenommen, der auctor ad Hebraeos beabsichtige, jenes in diesen Versen zweifelsfrei thematisierte Problem als ein unter seiner Adressatenschaft akutes, aktuelles, bedrängendes und letzten Endes sogar existenzgefährdendes in seiner Epistel als zentrales Thema aufzugreifen.

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Vgl. hierzu ausführlich o. 13f. Zu den Ausführungen von Hebr 10,32–34 vgl. bereits o. 229–232. Vgl. hierzu ausführlich o. 66–126.161–176.177–208. Vgl. hierzu o. 244f. und o. 245f.

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(d) Bemerkenswerterweise begründet der auctor ad Hebraeos seine Aufforderungen in Hebr 12,12f.: διὸ τὰς παρειμένας χεῖρας καὶ τὰ παραλελυμένα γόνατα ἀνορθώσατε, (13) καὶ τροχιὰς ὀρθὰς ποιεῖτε τοῖς ποσὶν ὑμῶν, eben gerade nicht mit seinen in seiner Epistel bis dato umfangreich und mit einigem theologischen Tiefgang entwickelten theologisch-theoretischen Erwägungen, sondern – im Rahmen einer neu einsetzenden argumentatio ad hominem argumentationslogisch vollständig eigenständig und unabhängig72 – mit einem Hinweis auf die anhand von Prov 3,11f. entwickelte Konzeption von Leid und Pression als Bestandteilen der göttlichen παιδεία73. Diese Beobachtung verbietet das interpretatorische Unterfangen, die zentralen, in Hebr 7,1–10,18 entwickelten theologischtheoretischen Erwägungen dieser Schrift mit der Kritik und den Mahnungen in Hebr 12,5a.12f. argumentationslogisch zu verknüpfen, und verunmöglicht letzten Endes die Annahme, eben diese theologisch-theoretischen Erwägungen zielten auf eine Stabilisierung des christlichen Glaubens und Lebens der Adressaten des Hebr, so wie sie in Hebr 12,4–13 unternommen wird, ab. Mit diesem Perspektivwechsel von der Christologie hin zur Konzeption der göttlichen παιδεῖα scheint sich darüber hinaus, wenn sicherlich auch durchaus innerhalb der argumentationslogischen Disposition des Hebr in seiner Gesamtheit, hier der Übergang von den mit Hebr 10,19 beginnenden paränetisch-potentiellen Passagen, also solchen Passagen, innerhalb derer die Paränese in unmittelbarem argumentationslogischen Zusammenhang mit den theologisch-theoretischen, in diesem Falle den Hebr 7,1–10,18 vorliegenden christologischen Darlegungen steht74, zur usuellen Paränese zu vollziehen75, zu solchen paränetischen Texten also, die un-

Vgl. hierzu H.-F. Weiß, Hebr, 645: „Sieht man diese Art der Argumentation in ihrem Verhältnis zur vorangehenden Art von Glaubensmahnung in den VV. 1–3, so ist ganz eindeutig ein Nach- und Nebeneinander von (affektiver) christologischer Argumentation einerseits und einer an das rationale Verstehen der Adressaten sich wendenden, bestimmte Erfahrungswerte aufnehmenden Argumentation festzustellen, wobei die letztere der Sache nach ganz auf der Ebene der biblisch-jüdischen Tradition verbleibt.“. Im Blick auf diese zweite Argumentation spricht Weiß m.R. von einer „‚argumentatio ad hominem‘“ (646). Vgl. zu diesem Begriff auch C. Marcheselli-Casale, Hebr, 564. Noch deutlicher hier C.-P. März, Hebr, 75: „Er [d.h. der Verfasser des Hebr] greift freilich nicht direkt auf den von 12,1–3 her naheliegenden christologischen Ansatz zurück, sondern nimmt mit Spr 3,11f. Motive der jüdischen Leidenstheologie auf (4–6), die er in einer midraschartigen Entfaltung (7–11) auf den Gedanken der Sohnschaft hin auslegt“. 73 Vgl. hierzu etwa D.A. DeSilva, Hebr, 447–449. 74 Vgl. hierzu ausführlich o. 217–219. 75 In diesem Sinne spricht A. Strobel, Hebr, 232 im Blick auf Hebr 12,4 durchaus zurecht von „einem neuen Denkansatz“. Anders hier jedoch D.A. DeSilva, Hebr, 445: „While it is advantageous to read 12:1–3 as part of 11:1–40, it is also admittedly disadvantageous to read it as if it were disconnected from the exhortations that grow out of it so organically in 12:4–29. The author has woven his concluding exhortation together so tightly that every division is truly artificial – an act of bowing to the necessity of treating manageable blocks of text seriatim“. Dabei scheint DeSilva jedoch zu übersehen, dass gerade die Konzeption der göttlichen παιδεία, 72

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abhängig von dem jeweiligen eigenständigen und charakteristischen theologischen Impetus einer Schrift und deren konkreter pragmatischer Situierung an deren Adressaten weitergegeben werden76. In Hebr 12,14–17 fordert der auctor ad Hebraeos – unter Rückgriff auf das warnende und mahnende Beispiel des Esau (Hebr 12,16f.) – seine Adressaten einerseits auf, die – innerhalb des Hebr im Kontext christlicher Religiosität hier erstmalig erwähnte77 – εἰρήνη78 und den ἁγιασμός zu erstreben79 (Hebr 12,14a), andererseits80, darauf zu achten, dass niemand aus ihrem Kreis von der χάρις τοῦ θεοῦ abkomme81 (Hebr 12,15a), um negative Folgen für den Adressatenkreis in seiner Gesamtheit zu vermeiden: μή τις ῥίζα πικρίας ἄνω φύουσα ἐνοχλῇ καὶ δι᾽ αὐτῆς μιανθῶσιν πολλοί (Hebr 12,15b)82. Diese Ermahnungen scheinen einen ebenso traditionellen83 wie auch paränetisch-potentiellen Charakter zu besitzen; die den Abschnitt Hebr 12,4–13 inhaltlich bestimmt, in der Argumentationslogik des Hebr bis zu diesem Zeitpunkt keinerlei Rolle gespielt hat. Vgl. hierzu völlig zurecht H.-F. Weiß, Hebr, 644: „Der vorliegende, in sich geschlossene Abschnitt wird gerahmt durch eine auf die Situation der Adressaten bezugnehmende Feststellung (V. 4) einerseits und die ihr entsprechende Mahnung (VV. 12f) andererseits, die beide noch immer die zuvor (VV. 1–3) benutzte Metapher vom Wettkampf bzw. Wettlauf variieren. Was innerhalb dieses Rahmens im einzelnen an Paränese (und Paraklese: V. 5!) ausgeführt wird, unterscheidet sich in sachlicher Hinsicht ganz wesentlich von der in den VV. 1–3 unter christologischem Aspekt vorgetragenen Glaubensmahnung“. 76 Vgl. hierzu die Definition des Begriffs ‚usuelle Paränese‘ nach F. Hahn o. 63, A. 148. 77 Vgl. hierzu W.F. Moulton/A.S. Geden, Concordance, s.v.εἰρήνη, 297f. 78 Nach K. Backhaus, Hebr, 428 konkretisiert sich der Begriff εἰρήνη nicht in einem gesamtgesellschaftlichen Kontext, sondern im „Binnenraum der Gemeinde“. 79 Zu diesen paränetischen Aussagen und ihrer Verwurzelung in der urchristlichen paränetischen Tradition vgl. H.-F. Weiß, Hebr, 660f.: „Die den V. 14 einleitende Mahnung ‚Nach Frieden trachtet mit allen‘ ist – sowohl was den Gebrauch von διώκειν als auch was ihre umfassende Ausrichtung (‚mit allen‘!) betrifft – fest in der traditionellen urchristlichen Paränese verwurzelt. Gleiches gilt auch für die Verwendung des Stichwortes ἁγιασμος, das in der urchristlichen Taufparänese seinen festen Ort hat“. 80 H.-F. Weiß, Hebr, 662 begreift die Ausführungen von Hebr 12,15 als sachlogische Konkretion des in Hebr 12,14 Ausgeführten. 81 Zu dieser Übersetzung vgl. H.-F. Weiß, Hebr, 660 82 Vgl. hierzu die Ausführungen von H.-F. Weiß, Hebr, 663: „Die um sich greifende Gefahr des Abfalls vom Glauben wird auf diese Weise in einem plastischen und drastischen Bild zum Ausdruck gebracht“. Einen Hinweis darauf, dass diese um sich greifende Gefahr des Abfalls vom Glauben innerhalb der Adressatenschaft des Hebr ein akutes und aktuelles, die Existenz dieser Gruppe als ganze gefährdendes Phänomen darstellt, lässt sich aus diesen Hinweisen des auctor ad Hebraeos allerdings nicht entnehmen. Nichts steht vielmehr der Annahme entgegen, dass der Verfasser des Hebr hier eine paränetisch-potentielle (vgl. zu dieser Begrifflichkeit o. 127–129) Mahnung formuliert. 83 Vgl. hierzu etwa die Ausführungen in 1Petr 3,11b: ζητησάτω εἰρήνην καὶ διωξάτω αὐτήν, und 2Clem 10,1f.: ὥστε ἀδελφοί μου ποιήσωμεν τὸ θέλημα τοῦ πατρὸς τοῦ καλέσαντος ἡμᾶς ἵνα ζήσωμεν καὶ διώξωμεν μᾶλλον τὴν ἀρετήν τὴν δὲ κακίαν καταλείψωμεν ὡς προοδοιπόρον τῶν ἁμαρτιῶν ἡμῶν καὶ φύγωμεν τὴν ἀσέβειαν μὴ ἡμᾶς καταλάβῃ κακά (2) ἐὰν γὰρ σπουδάσωμεν ἀγαθοποιεῖν διώξεται ἡμᾶς εἰρήνη, und darüber hinaus K. Backhaus, Hebr, 429, der auf die

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Textsignale nämlich, die eine unmittelbare Bezugnahme auf die aktuelle und akute Situation der Adressatenschaft des Hebr und diese Mahnungen als durch jene unmittelbar motiviert indizierten, lassen sich nicht namhaft machen84. Im Rahmen seiner Darlegungen zu Hebr 12,14 verweist H.-F. Weiß angesichts des hier verwendeten Begriffs ἁγιασμός auf Hebr 10,10 und folgert daraus, dass dieser Terminus „in den theologischen Gesamtzusammenhang des Hebr fest integriert ist“85. Das mag im Grundsatz durchaus zutreffen; nicht übersehen werden darf allerdings, dass der Impetus in Hebr 10,10 ein deutlich anderer ist als derjenige in Hebr 12,14: Geht es dort darum, dass die ἡμεῖς geheiligt werden und sind durch das einmalige Opfer Christi (ἐν ᾧ θελήματι ἡγιασμένοι ἐσμὲν διὰ τῆς προσφορᾶς τοῦ σώματος Ἰησοῦ Χριστοῦ ἐφάπαξ) – dieser Sachverhalt wird auch beschrieben in Hebr 2,11; 10,14.2986 –, so werden in Hebr 12,14a die Adressaten des Hebr aufgefordert, ihre eigene Heiligung zu erstreben. Ad bonam partem interpretiert, lassen sich diese beiden Aussagen additiv bzw. korrelativ aufeinander beziehen, eine theologische Aufgabe, die allerdings nicht vom Verfasser des Hebr durchgeführt wird, sondern dann von den Rezipienten des Hebr zu leisten wäre, ad malam partem interpretiert, wird hier eine theologische Inkonsequenz des auctor ad Hebraeos sichtbar, die letzten Endes darauf hindeutete, dass jener sich mit seinen entsprechenden mahnenden Ausführungen in Hebr 12 bereits auf dem Boden der usuellen Paränese befindet. In jedem Falle zeigt auch der Hinweis auf den ἁγιασμός in Hebr 12,14a, dass die Ausführungen in Hebr 7,1–10,18 und diejenigen Hebr 12,14–17 in keiner vom auctor ad Hebraeos aktiv kreierten argumentationslogischen Verbindung zueinander stehen.

Verankerung dieser Hinweise in der christlich-jüdischen Tradition hinweist: „In biblisch-frühjüdischer Tradition und zumal in Parallele zum kulttheologisch inspirierten Motiv der Heiligung ist hier ... umfassend das Heil ... bezeichnet“. Vgl. hierzu auch O. Michel, Hebr, 451: „Das Gebot, Frieden zu halten oder Frieden zu stiften, ist in der urchristlichen Mahnrede weit verbreitet. ... Grundsätzlich gehört das ‚Frieden-Schaffen‘ in den allgemeinen Christenstand (Mt 5,9), aber auch im konkreten Verhältnis der Christen zueinander muß der Frieden immer wieder errungen und gewonnen werden, besonders in Zeiten der Anfechtung“. Aus dem Sachverhalt, dass der auctor ad Hebraeos an dieser Stelle das Verb διώκειν, nicht jedoch das Verb ζητεῖν verwendet, möchte W.L. Lane, Hebr II, 449 die Situation einer „earnest pursuance“ ableiten: „The implied intensity underscores the urgency with which this pastoral directive is addressed to the community“. Damit ist aber natürlich nichts darüber ausgesagt, ob der Verfasser des Hebr an dieser Stelle eher allgemein und grundsätzlich oder aber konkret und unmittelbar bezogen auf die Situation seiner Adressatenschaft redet. 84 Anders hier H.-F. Weiß, Hebr, 662, der im Blick auf Hebr 12,15 annimmt, dass der auctor ad Hebraeos hier auf eine „akute. Gefährdung des Kreises der Adressaten“ des Hebr zu sprechen komme. Vor dem Hintergrund dieser Annahme aber ließe sich – und dies sei hier zum wiederholten Male formuliert – einerseits nicht erklären, warum jener auf diese akute Gefährdungslage erst in Hebr 12,14f., also beinahe am Ende seiner Schrift, zu sprechen komme, andererseits kaum begreiflich machen, dass der auctor ad Hebraeos in Hebr 12,14f. keinen sachlogischen Zusammenhang zu der in Hebr 7,1–10,18 entfalteten Hohepriester-Christologie expliziert. 85 Hebr, 661. 86 Zur Bezeugung des Verbs ἁγιάζω vgl. W.F. Moulton/A.S. Geden, Concordance, s.v. ἁγιάζω, 10.

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Diese doppelte Aufforderung wird in Hebr 12,18–2487 dann mit einer anhand der Sinai-Zion-Typologie88 explizierten Darstellung des Heilsstandes der in dieser Epistel angeschriebenen Christen begründet. Dabei greift der auctor ad Hebraeos in Hebr 12,18–21 auf die alttestamentliche Darstellung in Ex 19 und Dtn 4f. und in Hebr 12,22–24 auf traditionelle christlich-jüdische apokalyptische Motive zurück89. Erst in Hebr 12,24 – gleichsam nachklappend – lenkt er, indem Ἰησοῦς als den διαθήκης νέας μεσίτης (Hebr 8,6; 9,1590) charakterisiert und auf das αἷμα ῥαντισμοῦ verweist, den Blick zurück auf die Ausführungen zur HohepriesterChristologie in Hebr 7,1–10,18, wobei allerdings auffällig ist, dass der auctor ad Hebraeos anders als bisher nicht von der καινὴ διαθήκη, sondern von der διαθήκη νέα spricht91 und der Begriff ῥαντισμός innerhalb der Darlegungen des Hebr Zu Hebr 12,18–29 vgl. neuestens L. Stolz, Höhepunkt, passim. Auf die im einzelnen durchaus interessanten Beobachtungen und Ergebnisse dieser Arbeit kann im Rahmen der vorliegenden Studie nicht adäquat eingegangen werden. In jedem Falle zwar durchaus bemerkenswert, aber schon aus inhaltlichen Gründen – freilich vorbehaltlich einer ausführlichen Analyse – nur wenig überzeugend will die These scheinen, dass die Ausführungen in Hebr 12,18–29 den argumentationslogischen Höhepunkt bzw. die peroratio der gesamten Epistel darstellen; vgl. hierzu 366–439.443. Immerhin nämlich spielen die in Hebr 7,1–10,18 entwickelten christologischen Überlegungen innerhalb der Argumentation in Hebr 12,4–17 – gerade in Hebr 12,4–13 wird vollständig anders argumentiert (vgl. hierzu o. 241–250) – keine Rolle, eine Beobachtung, die die Frage evoziert, ob die Ausführungen in Hebr 12,18–29 den argumentationslogischen Höhepunkt oder nicht vielmehr lediglich eine Reminiszenz an den in Hebr 7,1–10,18 vorliegenden argumentationslogischen Höhepunkt darstellen. Zu diesem Einwand gegen die von L. Stolz entwickelte Hypothese passt, dass H.-F. Weiß, Hebr, 670 den Abschnitt Hebr 12,18– 24 als einen „im Hebr singurlären Abschnitt.“ charakterisiert, eine Charakterisierung, die der Annahme, u.a. jener stelle den argumentationslogischen Höhepunkt des Hebr dar, deutlich widerrät. 88 Vgl. hierzu neben anderen ausführlich M. Karrer, Hebr II, 330–340 und C. MarcheselliCasale, Hebr, 584–591. 89 Vgl. hierzu H.-F. Weiß, Hebr, 670: „Die Sprache des ganzen, im Hebr singulären Abschnitts ist fast durchweg traditionell geprägt, zunächst in den VV. 18–21 durch die entsprechenden biblischen Reminiszenzen (insbesondere aus Ex 19 und Dtn 4f), in den VV. 22–24 sodann durch die Aneinanderreihung ursprünglich apokalyptischer Motive, die am Ende schließlich (V. 24) wiederum in die für den Hebr selbst charakteristische kultische Beschreibung der christologisch-soteriologischen Wirklichkeit der neuen Heilsordnung einmündet“. 90 Vgl. zu weiteren Bezügen von Hebr 12,24 zu Hebr 7,1–10,18 etwa H.-F. Weiß, Hebr, 681, A. 43. 91 Vgl. hierzu H.-F. Weiß, Hebr, 681, A. 42; Weiß zufolge mache diese abweichende Diktion aber „keinen sachlichen Unterschied aus“. Vgl. hierzu auch K. Backhaus, Hebr, 447, der diese Differenz als eine Differenz „stilistischer Natur“ qualifiziert. Auch L. Stolz, Höhepunkt, 367 sieht in dem Syntagma διαθήκη νέα schlicht eine Aufnahme bzw. Wiederholung des Syntagma καινὴ διαθήκη. Allerdings muss doch verwundern, dass der auctor ad Hebraeos, ein zweifelsohne rhetorisch versierter theologischer Lehrer, hätte er in Hebr 12,24a auf die καινὴ διαθήκη zurückverweisen wollen, dann nicht auch das gleiche Syntagma verwendet. Zuzugestehen ist L. Stolz insgesamt durchaus, dass die von ihm aufgewiesene „hohe Dichte wiederholter Begriffe in Hebr 12,18–29 ... den Schluss nahe[legt], dass der Verfasser unseres Abschnitts zentrale Lehraussagen und Ermahnungen noch einmal abschliessend anklingen lässt“ (Höhepunkt 368). 87

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erstmalig hier in Hebr 12,24b begegnet92. Auch wenn zuzugestehen ist, dass aus diesen Beobachtungen keine sachliche theologische Differenz zwischen den Ausführungen in Hebr 12,24 und dem in Hebr 7,1–10,18 Ausgeführten herausgelesen werden kann, so scheinen sie aber dennoch zu indizieren, dass dieser Rückverweis hier eher einen literarischen als einen argumentations- bzw. sachlogischen Charakter trägt und sich letzten Endes rhetorischen bzw. argumentationspragmatischen Erwägungen verdankt. Dem auctor ad Hebraeos ging es in Hebr 12,24 offensichtlich weniger darum, die in Hebr 7,1–10,18 entwickelten theologischen Ergebnisse argumentationslogisch zu verarbeiten und weiterzuentwikkeln, als vielmehr darum, in Hebr 12,24 noch einmal das eigentliche Thema seiner Epistel anklingen zu lassen, um zu zeigen, dass das in Hebr 12 bis dato Erörterte, d.h. ab Hebr 12,4 Inhalte der usuellen Paränese, durchaus in einem wenn auch weitergehenden sachlichen Zusammenhang mit den Erwägungen zur Hohepriester-Christologie stehen, ohne dass dieser Zusammenhang freilich als ein unmittelbar theologisch-argumentationslogischer zu qualifizieren sei. Diese Sinai-Zion-Typologie wird in Hebr 12,25–29 schließlich dann „im Stile einer Gerichtsparänese“93 angewandt und in Form der Mahnung94: βλέπετε μὴ παραιτήσησθε τὸν λαλοῦντα (Hebr 12,25a)95 in der 2. Person Plural96 unmittelbar und direkt mit den Adressaten kommuniziert, um dann allerdings in Hebr 12,25b.c, im Rahmen eines Schlusses a minori ad maius, gleichsam relativierend wieder in das kommunikative ἡμεῖς hinüberzuwechseln: εἰ γὰρ ἐκεῖνοι οὐκ ἐξέφυγον ἐπὶ γῆς παραιτησάμενοι τὸν χρηματίζοντα, πολὺ μᾶλλον ἡμεῖς οἱ τὸν ἀπ᾽ οὐρανῶν ἀποστρεφόμενοι. Die Mahnung in Hebr 12,25a, in „traditionelle[m]. paränetische[m]. Stil“97 gehalten, zielt auf das zukünftige Verhalten der Adressaten des Hebr, nicht jedoch auf gegenwärtige Missstände, die aus der Perspektive des auctor ad Hebraeos abzustellen wären. Die Ausführungen in Hebr 12,28 –

Damit ist aber keinesfalls zugleich indiziert, daß er diese Lehraussagen in Hebr 12,18–29 „klimaxartig auf den Punkt bringt“ (368). 92 Vgl. hierzu W.F. Moulton/A.S. Geden, Concordance, s.v. ῥαντισμός, 880. Das Verb ῥαντίζειν bzw. ῥαντίζομαι begegnet allerdings in Hebr 9,13.19.21 und 10,22; vgl. hierzu W.F. Moulton/A.S. Geden, Concordance, s.v. ῥαντίζω, 93 H.-F. Weiß, Hebr, 683. 94 Vgl. zu ihrer Intention H.-F. Weiß, Hebr, 685: „Die Mahnung des Autors an die Adressaten zielt darauf, dem Zorn Gottes bzw. seinem Zornes- und Strafgericht zu ‚entkommen‘“. 95 Zu der Person des τὸν λαλοῦντα vgl. H.W. Attridge, Hebr, 379; hierbei handele es sich um „the God whose voice was heard at Sinai, and whose speech has been a major theme in Hebrews generally“; vgl. hierzu auch L. Stolz, Höhepunkt, 269. Vgl. zu dieser Mahnung insgesamt A. Strobel, Hebr, 241: „Wenn der offenbarungsmächtige Gott spricht, ist dem Menschen geboten zuzuhören und zu gehorchen“. 96 Vgl. hierzu o. 129. 97 H.-F. Weiß, Hebr, 684.

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διὸ βασιλείαν ἀσάλευτον98 παραλαμβάνοντες ἔχωμεν χάριν, δι᾽ ἧς λατρεύωμεν εὐαρέστως τῷ θεῷ μετὰ εὐλαβείας καὶ δέους –, deren praktische Umsetzung in Hebr 12,29 mit dem Hinweis auf das göttliche Strafgericht begründet wird99 und innerhalb derer die Adressaten des Hebr unter Verwendung des kommunikativen ‚wir‘ aufgefordert werden, in Dankbarkeit in einer Gott wohlgefälligen Weise ‚unseren‘ Dienst zu tun100, lassen angesichts des Sachverhalts, dass der auctor ad Hebraeos seinen Adressaten in Hebr 6,9f. explizit bescheinigt, in vorbildlicher Weise ihren Dienst gegenüber den ἅγιοι zu versehen101, deutlich erkennen, dass die in Hebr 12,28b – noch dazu ohne jeglichen Bezug zu dem in Hebr 6,9f. Dargelegten – formulierte Mahnung paränetisch-potentiellen, bzw. präziser: usuellen Charakters102 sein muss und nicht auf aktuelle und akute Vorfindlichkeiten und Verhältnisse innerhalb seiner Adressatenschaft rekurriert. Aus den Ausführungen von Hebr 12,18–24.25–29 insgesamt lassen sich somit einerseits keinerlei Hinweise extrapolieren, die die Annahme stützen könnten, der auctor ad Hebraeos greife hier innerhalb seiner Adressatenschaft virulente aktuelle und akute Vorfindlichkeiten und Verhältnisse auf. Das heißt zugleich, dass jene die Annahme nicht zu belegen vermögen, die Adressaten des Hebr stellten eine von Glaubensmüdigkeit und -ermattung geprägte Gemeinde oder Gemeindegruppe103 dar, die in ihrer ‚verheißungsgeschichtlichen Unsicherheit‘ in ihrer christlichen Identität neu fundamentiert und stabilisiert werden müssten104; in diese Richtung zu deutende Textsignale werden hier nämlich an keiner Stelle sichtbar. Durchaus denkbar ist allerdings, dass der auctor ad Hebraeos mit dem Hinweis in Hebr 12,25 auf seine Ausführungen in Hebr 5,11–6,12 anspielen wollte: Wird das hier ver-

98 Durchaus Beachtung verdient der Sachverhalt, dass ausweislich der Konkordanz das Syntagma βασιλεία ἀσάλευτος in Hebr 12,28 erstmalig innerhalb dieser Epistel begegnet; vgl. hierzu W.F. Moulton/A.S. Geden, Concordance, s.v. ἀσάλευτος, 114. Dieser vermag durchaus die Annahme zu indizieren, dass der auctor ad Hebraeos seine Ausführungen in Hebr 12 als von dem christologischen bzw. soteriologischen Hauptteil 7,1–10,18 und der dort entwickelten Argumentation wenn auch nicht im Grundsatz unterschieden, so aber doch abgesetzt verstanden wissen wollte. 99 Vgl. hierzu m.R. die Beobachtung von H.-F. Weiß, Hebr, 696f.: „Umso wichtiger ist angesichts dieser Sachfrage an den Hebr: Überzeugungskraft der Glaubensparänese ist am Ende nicht aus der Warnung vor Gottes Strafgericht zu gewinnen, sondern allein aus der Zuordnung solcher Mahnung und Warnung zum christologischen Indikativ, wie er sich im 12. Kapitel zumindest zu seinem Anfang, in 12,1–3, andeutet“. 100 Vgl. zu dieser Übersetzung H.-F. Weiß, Hebr, 684. H.-F. Weiß hört in den Worten in Hebr 12,28 einen „drohende[n]. Ton ..., und er verschärft sich noch, wenn V. 29 schließlich – solche Gottesfurcht begründend – noch hinzufügt: Auch ‚unser‘, der Christen Gott ist ein ‚verzehrendes Feuer‘“ (695). 101 Vgl. hierzu o. 194–196. 102 Vgl. zu diesem Begriff o. 127–129. 103 Vgl. hierzu o. 13f. 104 Vgl. hierzu o. 48–52.

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wendete Verb παραιτέομαι nicht im Sinne von ‚abweisen‘ oder ‚verschmähen‘, sondern im Sinne von ‚ausweichen‘ oder ‚sich entziehen‘ verstanden105, so lässt sich die Aufforderung in Hebr 12,25a durchaus als Rekurs auf den in Hebr 5,11–6,12 konstatierten, aus Lethargie und Desinteresse resultierenden defizitären theologisch-theoretischen (Er-)Kenntnisstand der Adressaten verstehen: „Seht zu, dass ihr dem gegenüber, der da redet, keinerlei Lethargie oder Desinteresse an den Tag legt“. Belegen lässt sich ein solches Verständnis von Hebr 12,25a freilich nicht, da sich explizite Textsignale dafür nicht namhaft machen lassen. U.U. noch deutlich plausibler ist es, das in Hebr 12,25a Gesagte auf das bereits in Hebr 2,1–4106 Ausgeführte zurückzubeziehen107. Zugunsten dieser These ließe sich immerhin anführen, dass in beiden Passagen auf den λόγος bzw. auf denjenigen, der diesen λόγος äußert, abgehoben wird108. Werden nun die Ausführungen in Hebr 2,1–4 als solche gelesen, mit denen der auctor ad Hebraeos eine von ihm erkannte theologische Fehlentwicklung seiner Adressaten zu korrigieren trachtete, so ließe sich die Aufforderung in Hebr 12,25a gänzlich zwanglos ebenfalls in diesem Kontext verstehen.

Im Blick auf die in der vorliegenden Studie verhandelte Fragestellung ergibt sich aus der Analyse von Hebr 12: Sämtliche Mahnungen und Aufforderungen, die der auctor ad Hebraeos gegenüber seinen Adressaten ausspricht, sind entweder als in allgemeiner und grundsätzlicher, somit also letzten Endes in paränetischpotentieller109 oder aber in usueller Weise formulierte und ausgesprochene Paränesen zu verstehen, lassen somit also keinerlei Schlüsse auf aktuelle und akute Vorfindlichkeiten und Verhältnisse innerhalb der Adressatenschaft des Hebr zu, oder bzw. und ergeben sich aus theologisch- bzw. pädagogisch-theoretischen Argumentationen, die in keinerlei Verbindung mit den theologischen Darlegungen von Hebr 1,1–5,10 bzw. 7,1–10,18 stehen. Damit aber vermögen die Ausführungen in Hebr 12 weder die Annahme, die Adressaten des Hebr stellten eine in ihrem Glauben ermüdete und ermattete Gemeinde oder Gemeindegruppe110 dar, noch die darauf aufbauende These, diese glaubensmüde gewordene Adressatenschaft müsse mit Hilfe umfassender theologischer Darstellungen, so wie sie in Hebr 1,1–5,10; 7,1–10,18 vorliegen, stabilisiert, theologisch neu fundamentiert und mit einer neuen theologischen bzw. geistlichen Identität ausgerüstet werden, zu stützen. Darüber hinaus wird in diesem Kapitel eine umfassende aktuelle Vgl. zu dieser Übersetzungsmöglichkeit H. Menge, Wörterbuch, s.v. παραιτέομαι, 520; vgl. darüber hinaus auch O. Michel, Hebr, 470, A. 3; anders hier allerdings K. Backhaus, Hebr, 450, der diesen Terminus im Sinne von ‚abweisen‘ verstehen möchte. 106 Vgl. hierzu o. 129–144. 107 Vgl. hierzu neuestens auch L. Stolz, Höhepunkt, 284. 108 Einen solchen Zusammenhang sieht, wenn auch in anderer Hinsicht, H.-F. Weiß, Hebr, 685, der Hebr 12,25 mit Hebr 2,2f. in Verbindung bringt; vgl. darüber hinaus auch M. Karrer, Hebr II, 341: „...; der Stil des Hebr nähert sich der ‚Prosochê‘ von 2,1–4 (der Mahnung zur Aufmerksamkeit angesichts des drohenden Gerichts; vgl. ekphygein 2,3)“. Nicht unterschlagen werden darf aber, dass in Hebr 12,25a weitestgehend übereinstimmend Gott als der Redende identifiziert wird, während nach Hebr 2,1–4 die Person des κύριος als diejenige namhaft gemacht wird, die spricht (vgl. hierzu o. 129–144). 109 Vgl. zu diesem Begriff o. 127–129. 110 Vgl. hierzu bereits ausführlich o.13f 105

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und akute Glaubensarmut, -ermüdung oder -ermattung, die die christliche Existenz der in dieser Epistel angeschriebenen Christen im Grundsatz gefährdet und deren grundlegende theologische Neufundamentierung und Stabilisierung erforderlich gemacht hätte, an keiner Stelle thematisiert. Es lässt sich an dieser Stelle und am Ende der – unter der forschungsleitenden Fragestellung der vorliegenden Studie erfolgten und daher naturgemäß nicht alle möglichen Aspekte berücksichtigenden – Analyse von Hebr 12 durchaus – auch durchaus m.R. kritisch – fragen, warum der auctor ad Hebraeos denn innerhalb einer Schrift, in der es angeblich doch darum gehe, die angeschriebene Adressatengruppe theologisch-theoretisch weiterzubilden und deren theologisch-theoretischen (Er-)Kenntnisstand zu verbessern111, über solche paränetischen Abschnitte, deren Inhalte sich unmittelbar aus den theologisch-theoretischen Darlegungen ergeben, hinaus dann auch noch solche paränetischen Abschnitte präsentierte, die eher der usuellen Paränese zuzurechnende Inhalte und Argumentationsstrukturen transportieren. Spräche nicht gerade der Sachverhalt, dass der auctor ad Hebraeos in Hebr 12,4–29 – und dann auch in weiten Teilen von Hebr 13112 – Abschnitte mit usueller Paränese bietet, gegen die in der vorliegenden Studie verfochtene These zur textpragmatischen Situierung des Hebr, da jene in diesem Kontext doch letztlich überflüssig und ein solches Vorgehen mit eben einer solchen textpragmatischen Situierung letzten Endes doch kaum vereinbar erscheine: Warum nämlich sollte ein theologischer Autor wie der auctor ad Hebraeos den Adressaten seiner Schrift, deren theologisch-theoretischen (Er-)Kenntnisstand er zu verbessern trachtet, am Ende seiner Schrift dann auch noch usuell-paränetische Darlegungen vorlegen bzw. vortragen? Letzten Endes lassen sich zur Erklärung des Verhaltens des auctor ad Hebraeos zwei Gründe namhaft machen: (a) Diejenigen, die jener mit seiner Epistel theologisch-theoretisch (weiter) zu bilden unternimmt, leben – jenseits ihrer Existenz als zu bildende ‚Lerngruppe‘ – als Christen nicht im ‚luftleeren Raum‘, sondern, ebenso wie alle übrigen Christen, in innergemeindlichen und gesamtgesellschaftlichen Zusammenhängen, deren Herausforderungen es zu bewältigen gilt. Daher kommen sie, seien sie näherhin als ein um einen theologischen διδάσκαλος versammelter hauskirchlich organisierter Schülerkreis oder aber als eine innerhalb eines Gemeindeverbandes aktive Gruppe von Kandidaten des gemeindlichen Lehramtes zu charakterisieren, in jedem Falle auch als Adressaten usuell-paränetischer Texte in Betracht, deren Inhalte es auch ihnen weiterzureichen gilt.

111 112

Vgl. zur Generalthese der vorliegenden Studie o. 125f.176. Vgl. hierzu o. 63f.

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(b) Wird ein Konnex zwischen dem auctor ad Hebraeos, seiner Schrift und der Paulusschule angenommen113, so ergibt sich auf diese Frage und auf den mit dieser verknüpften Einwand eine zweite Antwort: Gut denkbar ist, dass der Verfasser des Hebr mit der Einfügung dieser Abschnitte usueller Paränese, sehr wohl in der Absicht, sich der Paulusschule anzunähern, sich in deren soziales Gefüge einzupassen und die enge Verbindung mit derselben zu betonen, jenseits der eigentlichen textpragmatischen Situierung seiner Epistel eine etwa in den Paulusbriefen, gerade auch in Röm 12,1–15,13114, sichtbar werdende Briefkonvention aufgreift und realisiert. Das aber heißt: Die Verwendung usueller Paränese in Hebr 12 muss dem eigentlichen theologisch-theoretischen Anliegen des auctor ad Hebraeos in keinem Falle widersprechen, sondern lässt sich durchaus zwanglos mit jenem in Einklang bringen.

Vgl. zum Zusammenhang des auctor ad Hebraeos mit der Paulusschule etwa K. Backhaus, Hebräerbrief, 201: „Hebr 13,22–25 läßt auf konkrete soziale und theologische Beziehungen zwischen der Hebr-Gemeinde und der römischen Paulus-Schule schließen. Diese bilden die historisch-soziologische Möglichkeitsbedingung für die signifikante Traditionsnähe zwischen Hebr und dem Corpus Paulinum und für deren Verwandtschaft in den Formalia der Verfasser-LeserRelation“. 114 Vgl. hierzu etwa E. Lohse, Röm 332f. 113

7.

Die Analyse von Hebr 131

Im Anschluss an einige in Hebr 13,1–6 formulierte „generelle Mahnungen für das Verhalten der Christen“2, die im Blick auf die in der vorliegenden Studie verhandelte Fragestellung unberücksichtigt bleiben können3, kommt der auctor ad Hebraeos in Hebr 13,7–17 auf das Verhalten der von ihm angeschriebenen Christen gegenüber den ἡγούμενοι, gegenüber denjenigen, „die in der Gemeinde und für die Gemeinde Verantwortung tragen“4, zu sprechen. Dabei konstituiert dieser Terminus, der in Hebr 13,7 und Hebr 13,17 begegnet, letztlich eine inclusio, die den gesamten Abschnitt Hebr 13,7–17 überwölbt5. In Hebr 13,7 beginnt der Verfasser des Hebr mit der Mahnung, sich derjenigen ihrer ἡγούμενοι zu erinnern, die ihnen in der Vergangenheit das Wort Gottes verkündigten. In Sonderheit sollen dessen Adressaten den Glauben jener nachahmen, indem sie sich die ἔκβασις τῆς ἀναστροφῆς derselben genau anschauen. Die an diese Aufforderung anschließende Bekenntnisaussage (Hebr 13,8)6 leitet über zu der Aufforderung, sich nicht durch mannigfaltige und fremde διδαχαί irreführen7 bzw. ‚fortreißen‘8 zu lassen, wobei der auctor ad Hebraeos an dieser Stelle offensichtlich solche Lehren im Blick zu haben scheint, die wesentlich durch βρώματα9, d.h. durch die Befolgung und Beachtung von auf die Verwendung einzelner βρώματα bezogenen Geboten und Gesetzen10, geprägt 1 Zur Begründung der an dieser Stelle nicht vollständig durchgeführten Analyse von Hebr 13 vgl. bereits o. 63f. 2 H.-F. Weiß, Hebr, 700. 3 Vgl. hierzu bereits o. 127–129. 4 H.-F. Weiß, Hebr, 701; vgl. zu dem Terminus ἡγούμενος etwa auch 710–712, darüber hinaus auch T. Schramm, Art. ἡγέομαι, in: EWNT2 II, 279–281, schließlich auch ausführlich O. Michel, Hebr, 488f. 5 Vgl. zu diesem Begriff und zu der darauf fußenden Strukturanalyse etwa H.-F.Weiß, Hebr, 708, darüber hinaus etwa auch O. Michel, Hebr, 485–487 und G. Theissen, Untersuchungen, 76– 79. 6 Vgl. hierzu etwa H.-F. Weiß, Hebr, 715. 7 Vgl. zu dieser Bedeutung des Verbs παραφέρω W. Bauer/B. Aland, Wörterbuch, s.v. παραφέρω, 1259. 8 H.-F. Weiß, Hebr, 717f. möchte das Verb παραφέρω in diesem Sinne deuten, um den Gedanken des βεβαιοῦσθαι τὴν καρδίαν (Hebr 13,9b) als Gegensatz zu einem solchen Fortgerissen-Werden zu etablieren. 9 Zu diesem Begriff vgl. etwa H.-J. van der Minde, Art. βρῶμα, in: EWNT2 I, 548 – 550; van der Minde übersetzt diesen Terminus hier mit ‚Speisen‘. Zu den unterschiedlichen Versuchen, diesen Terminus inhaltlich näher zu konkretisieren, vgl. etwa H.W. Attridge, Hebr, 394–396. 10 H.-F. Weiß, Hebr, 719 spricht in diesem Zusammenhang von dem „Vollzug bestimmter (kultischer) Praktiken“; vgl. hierzu auch H.W. Attridge, Hebr, 394, der feststellt: „The language, reminiscent of the Jewish designation of observance of the Torah as halakhah, is common in early Christianity for religious observance of various sorts“. H. Windisch, Hebr, 117 spricht an

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sind (Hebr 13,9c). Letzteren stellt der Verfasser des Hebr die χάρις als die einzige wirkmächtige soteriologische Größe gegenüber. Die in Hebr 13,9a erscheinende Aufforderung und vor allem auch der hier verwendete, letzten Endes kaum auf die levitische Kultordnung bezogen denkbare Plural διδαχαί legt dabei die Annahme nahe, dass es sich bei diesen βρώματα nicht – bzw. nicht ausschließlich – lediglich um einen Platzhalter für den zur Zeit der Abfassung des Hebr11 nicht mehr aktiv betriebenen levitischen Kult oder für dessen im Alten Testament und auch in der frühjüdischen Literatur entwickelte theologisch-theoretische Grundlage, sondern um eine entweder innerhalb der Adressaten des Hebr selbst oder aber zumindest in deren Umfeld aktuell praktizierte Befolgung und Beachtung von Speisegeboten und der sie begründenden und flankierenden theologischen Lehren12 handelt13. Der enge, durch die begründende Konjunktion γάρ Hebr 13,9b vermittelte sachliche Zusammenhang zwischen Hebr 13,9a und Hebr 13,9b.c spricht dafür, auch das Hebr 13,9b.c Ausgeführte im Lichte der aktuellen Situation der Adressaten des Hebr, so wie sie sich dessen Verfasser darstellt, zu interpretieren14. dieser Stelle von „Speiseregeln (Mahlzeiten, Speiseverbote)“, die „wohl nur e i n Beispiel für die διδαχαὶ ποικίλαι καὶ ξέναι“ darstellten. 11 Vgl. hierzu o. 14f. 12 Vgl. hierzu etwa auch C.R. Koester, Hebr, 560, der den Terminus βρώματα metaphorisch interpretieren möchte: „The word ‚foods‘ in 13:9b is parallel to ‚teachings‘ in 13:9b. It functions metaphorically, indicating that one should avoid teachings that are not beneficial. This passage contrasts the food or teaching that listeners received from their leaders (5:11–14; 13:7 [!]) with divergent teachings“. Anders hier H.W. Attridge, Hebr, 393, der die in Hebr 13,9a formulierte Warnung als „quite conventional in Christian literature of the late first century“ ansieht. Sollte dies zutreffen, so wäre damit allerdings zugleich auch die Möglichkeit verschlossen, die Ausführungen von Hebr 13,9a auf dem Hintergrund der überkommenen levitischen Kultordnung zu interpretieren. 13 Zu dieser Alternative vgl. etwa K. Backhaus, Hebr, 468f.; Backaus stellt zwei mögliche Interpretationen einander gegenüber: Einerseits: „Die Speisen stehen – ähnlich wie in 9,10 ‚Speisen, Tränke und Waschungen‘ – als pars pro toto für verheißungsgeschichtlich überwundene ‚Fleischesordnungen‘, sind also in keiner anderen Bedeutung zu nehmen als der levitische Kult in Hebr überhaupt“ (Hebr, 468). Andererseits: „Das Verb ‚sich daran halten‘ ... ist auf konkrete Speise-Observanz zu beziehen, gegen die Hebr sich richtet“ (Hebr, 468). Backhaus selbst entscheidet sich – angesichts seiner Erwägungen zur textpragmatischen Situierung (vgl. hierzu o. 48–52) kaum überraschend – für die erste der beiden von ihm dargebotenen Interpretationsmöglichkeiten; ähnlich hier auch H.-F. Weiß, Hebr, 721f. Anders – und vor allem angesichts des Plurals διδαχαί zutreffender – hier etwa E. Riggenbach, Hebr, 435: „Bei der Mahnung, an Wort und Vorbild der Lehrer, vor allem aber an dem einen, sich gleichbleibenden Gegenstand des Glaubens festzuhalten ..., hat der V[er]f[asser] bereits die Gefahr im Auge gehabt, welche den Lesern von mancherlei neu an sie herangetretenen Lehren droht“. Zu möglichen Konkretionen des Terminus βρώματα vgl. etwa C.R. Koester, Hebr, 560f., darüber hinaus auch H.W. Attridge, Hebr, 394–396. 14 Vgl. in diesem Sinne etwa H.W. Attridge, Hebr, 394: „The reference to behavior in περιπατοῦντες indicates that some concrete activity is involved, and the further reference to eating in vs 10 suggests that real food of some sort is in question“.

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Die Analyse von Hebr 13 H.-F. Weiß verweist zur Begründung seiner Interpretation von Hebr 13,9 im Kontext der ‚alten‘, nun jedoch durch das Christusgeschehen überbotenen levitischen Kultordnung15 zunächst (a) auf das im Aorist stehende Prädikat ὠφελήθησαν in Hebr 13,9c, das besage, dass „diejenigen, die die Gewißheit ihres Glaubens durch den Genuß bestimmter Speisen bzw. durch die Beachtung bestimmter Speisegebote bestätigt sahen, bereits damals (!) keinen Nutzen davon hatten“16. Wird der Aorist ὠφελήθησαν jedoch als gnomischer Aorist17 verstanden – eine Möglichkeit, die Weiß zwar sieht, jedoch apodiktisch abweist18 –, verliert der Hinweis desselben seine argumentationslogische Kraft. Und selbst dann, wenn der Aorist ὠφελήθησαν als auf die Vergangenheit bezogen und die Ausführungen in Hebr 13,9c insgesamt auf die überkommene levitische Kultordnung interpretiert würden, wäre damit noch in keinem Falle indiziert, dass auch die Ausführungen in Hebr 13,9a in diesem Sinne zu verstehen wären. Die hier genannten διδαχαὶ ποικίλαι καὶ ξέναι nämlich lassen sich schon aufgrund der hier vorliegenden pluralischen Formulierung nicht in diesen Interpretationsrahmen einfügen19. (b) Über das im Aorist stehende Prädikat ὠφελήθησαν hinaus verweist Weiß auf die Ausführungen von Hebr 13,10. Innerhalb derer fände die in Hebr 13,9 vorliegende Gegenüberstellung von χάριτι ... οὐ βρώμασιν20 ihre Fortsetzung in der Gegenüberstellung der präsentischen Prädikate ἔχομεν und οὐκ ἔχουσιν. Diese beiden Gegenüberstellungen repräsentierten den Gegensatz zwischen der christlichen Gemeinde und den τῇ σκηνῇ λατρεύοντες (Heb 13,10b), solchen also, „die am Zeltheiligtum der alten Kultordnung ihren priesterlichen Dienst verrichten“21. Die τῇ σκηνῇ λατρεύοντες seien dabei, wie Hebr 13,11 nahelege – hier werde wiederum ein „Sachverhalt der

15 Vgl. hierzu Hebr, 721: „Der Kontext ... weist eindeutig darauf hin, daß der Autor des Hebr auch an dieser Stelle – wie im Hebr insgesamt – nicht auf eine bestimmte, für die Gegenwart der Adressaten des Hebr aktuelle ‚Irrlehre‘ Bezug nimmt, sondern (zunächst) auf bestimmte biblische Sachverhalte“. 16 Hebr, 721. 17 Zum gnomischen und zum futurischen Aorist vgl. F. Blaß/A. Debrunner/F. Rehkopf, Grammatik, § 333, S. 272: „Eine für alle Zeiten gültige Handlung kann durch den Aorist ausgedrückt werden“. Zugunsten eines solchen Verständnisses ließe sich immerhin anführen, dass damit ein rezeptionsästhetischer Konnex zwischen Hebr 13,9 und den durchgängig im Präsens formulierten Ausführungen in Hebr 13,10 kreiert würde. Allerdings muss auf der produktionsästhetischen Ebene beachtet werden, dass die temporale Verfasstheit der Ausführungen in Hebr 13,9 sich von derjenigen in Hebr 13,10 deutlich unterscheidet; vgl. hierzu ausführlicher u. 261–263. 18 Vgl. hierzu Hebr, 721, A. 54; Weiß positioniert sich dabei gegen G. Theissen, Untersuchungen, 77, A. 6. 19 Vgl. hierzu H.-F. Weiß, Hebr, 718, der die Aktualität der in Hebr 13,9a ausgesprochenen Mahnung immerhin einräumt, diese allerdings im Rahmen seiner Generalthese zur Interpretation dieser Epistel (vgl. hierzu o. 125f.) auf die Überwindung einer unter den Adressaten des Hebr grassierenden Glaubensmüdigkeit verstehen möchte: „Aus der Formulierung von V.9a als solcher läßt sich jedenfalls eine auf eine bestimmte (christliche) Irrlehre zielende Polemik nicht entnehmen, eher dann schon eine Paränese, die wiederum – in Entsprechung zum Kontext – auf das Festbleiben und Standhalten im Glauben ausgerichtet ist“. 20 Vgl. zu dieser Gegenüberstellung H.W. Attridge, Hebr, 393: „The antithesis between food and ‚grace‘ ... may be influenced by similar oppositions, often deployed for paraenetic purposes, between matters of eating and something considered more serious“. 21 Hebr, 722.

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alten Kultordnung“22 thematisiert – „nur schwerlich auf gegenwärtige Irrlehrer oder ‚Dissidenten‘“23 zu beziehen. In diesem Zusammenhang deutet Weiß das Präsens οὐκ ἔχουσιν in Hebr 13,10b als „ein Präsens der (generell geltenden) kultischen Vorschrift“24. Auch diese Beobachtung von Weiß vermag jedoch, von der Problematik der Deutung des präsentischen Prädikats οὐκ ἔχουσιν einmal abgesehen – der im Rahmen seiner Interpretation von Hebr 13,9c erkennbar werdenden Logik von Weiß zufolge wäre hier ein Vergangenheitstempus zu erwarten –, die Beobachtung, dass in Hebr 13,9a von den διδαχαὶ ποικίλαι καὶ ξέναι im Plural die Rede ist, letzten Endes nicht zu entkräften. Beachtung verdient an dieser Stelle der Sachverhalt, dass der Verfasser des Hebr in Hebr 13,9a, anders als etwa der Verfasser der neutestamentlichen Apk in Apk 2,2 (κακοί, ψευδεῖς) oder auch Paulus in Gal 3,1 (βασκαίνω), nicht im abwertenden Sinne von Irrlehrern, sondern – lediglich – von Lehren, von διδαχαί spricht, von denen sich die Adressaten des Hebr nicht irreführen lassen sollen. Diese Beobachtung lässt sich gänzlich zwanglos mit der in der vorliegenden Studie herausgearbeiteten These zur textpragmatischen Situierung des Hebr25 korrelieren: Die im Blick auf ihre theologische Erkenntnis und Erkenntnisfähigkeit – noch - defizitären Adressaten dieser Epistel sollen gegenüber den ihnen begegnenden διδαχαὶ ποικίλαι καὶ ξέναι eine eigene tragfähige theologische Position entwickeln, die ihnen dazu verhilft, gegenüber jenen standhaft bleiben zu können.

In Hebr 13,10, einem Vers, der ohne jeglichen grammatischen Konnex auf Hebr 13,9 folgt26, scheint der auctor ad Hebraeos dann die Ebene der – möglicherweise lediglich in der Usualität – aktuellen Situation zu verlassen und diejenige des theologisch Grundsätzlichen zu erklimmen27. Zunächst greift er in Hebr 13,10– 14 die im zweiten Hauptteil Hebr 5,1–10,1828 entwickelte theologisch-grundsätzliche Argumentation noch einmal auf29, was zeigt, dass er an dieser Stelle, unmittelbar vor dem Ende seiner Epistel, sein mit derselben intendiertes Grundanliegen noch einmal zur Sprache bringen möchte: Die in Hebr 13,10 entwickelte Hebr, 723. Hebr, 722. 24 Hebr, 723; etwas anders hier K. Backhaus, Hebr, 470: „Das hier verwendete Präsenstempus ist also das der Schriftauslegung, nicht der aktuellen Polemik“. 25 Vgl. hierzu ausführlich o. 125f.. 26 Vgl. hierzu H.-F. Weiß, Hebr, 722, A. 58 mit Verweis auf J.E.L. Oulton. 27 In diese Richtung denkt H.W. Attridge, Hebr, 396: „The specification of the strange doctrines in terms of some cultic dining practice serves as the springboard for the central segment of the chapter and its climatic affirmations“. 28 Vgl. hierzu o. 19–26. 29 Vgl. hierzu m.R. K. Backhaus, Hebr, 469: „Vielmehr schöpfen V. 10–14 die im Zentralteil soteriologisch grundlegende Kultsymbolik unter ethischem und wissenssozialem Aspekt aus“. Vgl. hierzu auch H.-F. Weiß, Hebr, 722, der im Blick auf das präsentische Prädikat ἔχομεν auf zahlreiche Parallelen aus dem argumentativen Zentralteil des Hebr hinweist; Weiß nennt konkret Hebr 4,14f.; 6,19; 8,1 und 10,19. Vgl. schließlich auch G. Schunack, Hebr, 226, der im Blick auf Hebr 13,10 formuliert: „Der bekenntnisartige Hauptsatz ist Ausdruck und Zugleich Zusage der Gewissheit des Heils, strukturell und inhaltlich gleicht er der ‚Hauptsache‘ in 8,1 ‚wir haben einen Hohenpriester, der zur Rechten Gottes sitzt‘ und den anderen ‚Haben‘-Aussagen in 4,14; 6,19; 10,19“. 22 23

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These ἔχομεν θυσιαστήριον ἐξ οὗ φαγεῖν οὐκ ἔχουσιν ἐξουσίαν οἱ τῇ σκηνῇ λατρεύοντες, die die Argumentation von Hebr 5,1–10,18 zusammenfasst, arbeitet heraus, dass die alte levitische Kultordnung als soteriologisch überholt anzusehen ist. Dies wird dann in Hebr 13,11f., eingeleitet durch die Konjunktion γάρ, begründet: Wie innerhalb des alten Bundes die Leiber der Tiere, deren Blut als Sündopfer dargebracht worden ist, ἔξω τῆς παρεμβολῆς verbrannt worden sind (Hebr 13,11)30, so hat auch Ἰησοῦς – auffällig ist hier, dass der auctor ad Hebraeos an dieser Stelle, wie noch in Hebr 13,8, nicht von Ἲησοῦς Χριστός, sondern nur noch von Ἲησοῦς spricht, offenbar, um die Einmaligkeit des im Folgenden beschriebenen Geschehens zu betonen31 –, eben um das neue, größere und ein für alle Mal suffiziente Opfer zu erbringen, ἔξω τῆς πύλης gelitten. Daraus entwikkelt der auctor ad Hebraeos in Hebr 13,13 die Aufforderung: τοίνυν ἐξερχώμεθα πρὸς αὐτὸν ἔξω τῆς παρεμβολῆς τὸν ὀνειδισμὸν αὐτοῦ φέροντες, um dieselbe in Hebr 13,14 mit einem Hinweis auf die soteriologische Zukunft noch einmal abzusichern: οὐ γὰρ ἔχομεν ὧδε μένουσαν πόλιν ἀλλὰ τὴν μέλλουσαν ἐπιζητοῦμεν. Werden die Ausführungen in Hebr 13,10–14 als letztlich auf das in der Geschichte sich ereignet habende einmalige und in seiner Wirkmächtigkeit ein für alle Mal zureichende Kreuzesgeschehen abhebende theologische Grundsatzargumentation wahrgenommen, so muss der ethische Appell in Hebr 13,13 ebenfalls in diesem grundsätzlichen, in diesem Falle somit also in paränetisch-potentiellem, d.h. in theologisch-grundsätzlichem Sinne32 interpretiert werden. An dieser Stelle ist eine o. bereits diskutierte Auffälligkeit zu notieren, die den o. angesprochen Wechsel der Ebenen zwischen Hebr 13,9 und Hebr 13,10 zu untermauern vermag: Scheint der auctor ad Hebraeos in Hebr 13,9c auf diejenigen, die sich an die hier erwähnten βρώματα gehalten haben, und auf deren von ihm in Frage gestellte Praktiken zurückblicken zu wollen – immerhin steht das entsprechende, das Resultat der Berücksichtigung der entsprechenden βρώματα beschreibende Prädikat ὠφελήθησαν im Aorist –, stellt er in Hebr 13,10 die Diener der σκηνή und deren Verfügungsgewalt über das θυσιαστήριον der Christen eben jenen und deren Verfügungsmacht gegenüber, indem er das offensichtlich einen grundsätzlichen und grundlegenden Sachverhalt ausdrückende Präsens33 verwendet: ἔχομεν … ἔχουσιν. Selbst dann, wenn der Aorist ὠφελήθησαν als gnomischer Aorist interpretiert wird34, so zeigt dieser

Zu Lev 16,27 als alttestamentlichem Hintergrund des in Hebr 13,11 Beschriebenen vgl. etwa H.-F. Weiß, Hebr, 729f. und F.F. Bruce, Hebr, 378. 31 Vgl. hierzu etwa H.-F. Weiß, Hebr, 731: „Hier bekundet sich – angezeigt durch das absolute Ἲησοῦς – ein Interesse am irdischen Jesus als dem Leidenden, ja darüber hinaus noch speziell ein Interesse am Ort des Leidens Jesu, das sich – dem Kontext entsprechend – gewiß nicht auf ein gleichsam ‚historisches‘ Interesse des Autors reduzieren läßt. ‚Historisch‘ ist dieses Interesse allenfalls insofern zu nennen, als hier – wie der Aorist ἔπαθεν anzeigt – am Einsteinmal (ἅπαξ) jenes Geschehens damals festgehalten wird“. Vgl. zu der hier diskutierten Beobachtung darüber hinaus u. 263f. 32 Vgl. zu dieser Begrifflichkeit ausführlich o. 127–129. 33 Vgl. hierzu bereits o. 261f. 34 Vgl. hierzu o. 260f. 30

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Tempuswechsel doch zumindest einen Wechsel der argumentationslogischen Ebenen an, womöglich sogar, dass der auctor ad Hebraeos in Hebr 13,9 und in Hebr 13,10 Material unterschiedlicher Herkunft zusammengestellt hat.

In Hebr 13,15f. wechselt der auctor ad Hebraeos von der Ebene des theologisch Grundsätzlichen dann wiederum auf diejenige der aktuellen Situation und fordert seine Adressaten auf, Gott die θυσία αἰνέσεως darzubringen (Hebr 10,15) und die Wohltätigkeit und die Gemeinschaft nicht zu vergessen (Hebr 10,16). Werden die Ausführungen in Hebr 10,15 einleitende Partikel οὖν als textkritisch sekundär angesehen35, dann lässt sich zwischen den Ausführungen in Hebr 10,14 und denjenigen in Hebr 10,15 kein argumentationslogischer Konnex ausmachen, was angesichts des Fehlen eines solchen Konnexes bereits zwischen Hebr 13,9 und Hebr 13,10 die Annahme wahrscheinlich erscheinen lässt, dass die Ausführungen in Hebr 13,10–14 als solche anzusehen sind, die der Verfasser des Hebr im Zuge seiner Komposition von Hebr 13 in einen von usueller Paränese bestimmten und womöglich in einen bereits in seiner Grundstruktur vorgegebenen Textblock integriert hat. Diese Annahme wird – zumindest im Blick auf die fehlende argumentationslogische Verknüpfung zwischen Hebr 13,14 und Hebr 13,15 – bestätigt durch den Sachverhalt, dass der Hinweis auf das in der Zukunft seine Erfüllung findende Streben nach der πόλις μέλλουσα den Gedankengang Hebr 13,10–14 abschließt, was bedeutet, dass die Ausführungen in Hebr 13,15 in jedem Falle als argumentationslogischer Neuansatz36, nicht jedoch als „paränetische Schlussfolgerung“37 aus dem in Hebr 13,10–14 Ausgeführten zu fassen

Vgl. hierzu die Diskussion u. Vgl. hierzu immerhin O. Michel, Hebr, 522: „Der folgende V. 15 schließt sich enger an V. 12 als an V. 14 an, wie δι’ αὐτοῦ zeigt“. Vgl. darüber hinaus auch J. Héring, Hebr, 124, der mit Blick auf Hebr 13,13 formuliert: „Ce détail est encore utilisé à des fins parénétiques“. Diese Beobachtung Hérings impliziert jedoch die Annahme, dass die aus Hebr 13,10–12 folgende und in Hebr 13,13 entwickelte paränetische Konsequenz eben nicht ihre Fortsetzung in Hebr 13,15 findet. Interessanterweise spricht H.-F. Weiß, Hebr, 738 aber immerhin davon, dass das in Hebr 13,15 betont vorangestellte δι’ αὐτοῦ „– analog dem δι’ ἧς von 12,28 – in einem Zusammenhang mit dem in V. 9 genannten Gnadengeschehen, ... also auf ‚Jesus Christus‘ zu beziehen [sei], der ‚derselbe‘ war, ist und bleibt (V. 8), so aber gerade auch auf den, der ‚außerhalb des Tores gelitten hat‘, damit er auf diese Weise ‚durch sein eigenes Blut das Volk heilige‘ (V. 12)“, schließt also einen Bezug von Hebr 13,15 auf Hebr 13,9 bzw. Hebr 13,8 nicht aus. 37 H.-F. Weiß, Hebr, 738; vgl. darüber hinaus 738, A. 111 mit Bezug auf die textkritisch zumindest umstrittene Partikel οὖν: „Das in der Geschichte des Textes nicht eindeutig bezeugte, möglicherweise sogar sekundäre οὖν ... betont ausdrücklich, was ohnehin in der Logik des Übergangs von V. 14 zu V. 15 liegt“. Dass hier eine solche ‚Logik des Übergangs‘ überhaupt vorliegt, muss demgegenüber jedoch mehr als fraglich bleiben. Auch H.W. Attridge, Hebr, 399f. sieht in Hebr 13,15f. eine paränetische Schlussfolgerung aus dem zuvor Ausgeführten: „The second paraenetic application of the new imagery of vss 11 and 12 specifically develops the cultic motif, in calling the addressees to make to God ‚continual‘ ... ‚offering‘“. In die Richtung von Attridge denkt auch W.L. Lane, Hebr II, 548, der Hebr 13,15f. als „the climax to the artistically built unit of hortatory exposition in vv 10–16“ interpretiert. 35 36

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sind38, eine Schlussfolgerung, die ihrerseits wiederum untermauert wird durch die Beobachtung, dass die aus dem in Hebr 13,10–12 gezogene paränetische Konsequenz, die sich (von dem in Hebr 13,15f. Dargelegten inhaltlich doch deutlich unterscheidet39, bereits in Hebr 13,13 erscheint40. Die äußere Bezeugung der Partikel οὖν eröffnet immerhin die Möglichkeit, diese für ursprünglich zu halten. Immerhin wird diese Lesart u.a. von den Codices ‫א‬2, A, C und D1 sowie von einigen Minuskeln und Übersetzungen geboten. Ausgelassen wird diese Partikel u.a. von dem Papyrus P46 sowie den Codices ‫ *א‬und D*, ebenfalls durchaus wichtigen Textzeugen. Entscheidend scheint hier die Frage zu sein, welches Szenario sich plausibler erklären lässt, die spätere Einfügung der Partikel οὖν – eine Entwicklung, die schon der Handschriftenbefund nahezulegen scheint; immerhin nämlich beiden die ursprünglichen Fassungen der Codices ‫ א‬und D nicht, die jeweiligen ersten Korrekturen allerdings sehr wohl –, oder deren spätere Auslassung. Da einerseits kein plausibler Grund erkennbar ist, warum die Partikel οὖν von einem Abschreiber oder Korrektor getilgt worden sein sollte, da andererseits aber gänzlich zwanglos deren spätere Hinzufügung erklärt werden kann – hier sollte ein argumentationslogischer Konnex zu den Ausführungen in Hebr 13,14 kreiert werden –, wird in der vorliegenden Studie die These vertreten, dass diese Partikel nicht zum ursprünglichen Textbestand von Hebr 13,15 gehört habe41. Während in Hebr 13,13 die Adressaten dieser Epistel aufgefordert werden, τοίνυν ἐξερχώμεθα πρὸς αὐτὸν ἔξω τῆς παρεμβολῆς τὸν ὀνειδισμὸν αὐτοῦ φέροντες, geht es in Hebr 13,15f. doch um gänzlich andere paränetische Inhalte: Δι᾽ αὐτοῦ [οὖν] ἀναφέρωμεν θυσίαν αἰνέσεως διὰ παντὸς τῷ θεῷ, τοῦτ᾽ ἔστιν καρπὸν χειλέων ὁμολογούντων τῷ ὀνόματι αὐτοῦ. (16) τῆς δὲ εὐποιΐας καὶ κοινωνίας μὴ ἐπιλανθάνεσθε· In Hebr 13,15 geht es eben nicht „um la vraie façon de rendre le culte“ (H. Braun, Hebr, 469 mit Verweis auf A. Vanhoye; diese wird eben in Hebr 13,13 thematisiert. 39 Anders hier E. Riggenbach, Hebr, 446: „Selbst wenn das immerhin ansehnlich bezeugte οὖν nicht ursprünglich sein sollte [vgl. hierzu u.], läßt sich die Mahnung v. 15 nur als eine Folgerung auf v. 9–14, insbesondere aus v. 13 verstehen“. Ebenfalls anders G. Schunack, Hebr, 229: „Der metaphorische Aufruf in V. 13, zu Jesus aus dem Lager herauszugehen, der die Gemeinde in der Orientierung am Leidensgeschick Jesu auf ihren geschichtlichen Weg zum eschatologischen Heil einweist, mündet in den Aufruf V. 15 und erfährt hier und in V. 16 seine Konkretion“. 40 Als ein dieser Deutung entsprechendes Textsignal fungiert die die Ausführungen in Hebr 13,13 einleitende konsekutive Partikel τοίνυν; vgl. hierzu m.R. H.-F. Weiß, Hebr, 734: „... – gerade so dann aber auch die Voraussetzung bietet für die Umsetzung der christologischen Aussage von V. 12 in die Gemeindeparänese von V. 13“. Stellen nun aber die Ausführungen von Hebr 13,13 die paränetische Konsequenz des in Hebr 13, 10–12 Dargelegten dar, so fragt sich, ob die inhaltlich von Hebr 13,13 deutlich differenten Ausführungen in Hebr 13,15f., zumal ohne erkennbares textliches Signal, ebenso als paränetische Folgerung aus dem Hebr 13,10–12 Niedergelegten interpretiert werden können, in Sonderheit angesichts der Tatsache, dass jene von Hebr 13,10–12 nicht nur durch Hebr 13,13, sondern auch durch Hebr 13,14 getrennt erscheinen. 41 Deutlich anders, aber keinesfalls überzeugend hier W.L. Lane, Hebr II, 524: „Nevertheless, it [d.h. die Konjunktion οὖν] is appropriate at this point, and its inclusion is consistent with the writer’s careful use of particles and conj. It appears to have been accidentally omitted in transcription“. Hier als Grund für die Auslassung dieser Konjunktion einen Abschreibfehler anzunehmen, widerspricht jeglicher textkritischer Logik. 38

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τοιαύταις γὰρ θυσίαις εὐαρεστεῖται ὁ θεός. Müssen die Ausführungen in Hebr 13,13 als Aufforderung zur „Leidensnachfolge“42 interpretiert werden, die sich, wenn sicherlich auch nicht nur, so aber doch zumindest auch in der Haltung der Verweigerung der Integration in die pagane Mehrheitsgesellschaft und der Ablehnung des in dieser Gesellschaft propagierten ‚sovereign narrative‘43 äußern44, geht es in Hebr 13,15f. zunächst um den Aufruf zum Lob Gottes (Hebr 13,15), daran anschließend dann um den zum Tun des Guten und des Teilens mit anderen (Hebr 13,16a.b), insgesamt also um „Weisungen zum Opfer in Lobgebet, Wohltätigkeit und Gemeinschaftsdienst“45. Dass zwischen Hebr 13,13 und Hebr 13,15f. jeglicher inhaltliche Konnex fehlt und dass die beiden Passagen jeweils vollständig andere Themen aufgreifen, ist schon angesichts dieses einfachen Blickes auf den Text mit Händen zu greifen. Diese zwischen den beiden paränetischen Passagen zu beobachtende inhaltliche Differenz und die daraus sich ergebende sachliche Diskonnektivität spiegeln sich wider in den unterschiedlichen Namensformen, die in Hebr 13,8.12 verwendet werden, um die Person Jesu zu bezeichnen : Ist in Hebr 13,8 – im Kontext der Betonung einer nachgerade in die Dimension der Präexistenz hineinreichenden Kontinuität der Christusgestalt – noch von Ἰησοῦς Χριστός die Rede, so in Hebr 13,12, im Rahmen des Rekurses auf das Kreuzigungsgeschehen, nur – noch – von Ἰησοῦς46. Diese gleichsam titularische Diskonnektivität zwischen Hebr 13,8 und Hebr 13,12 erklärt sich gänzlich zwanglos mit der o. bereits formulierten Annahme, der der auctor ad Hebraeos im Rahmen der Komposition von Hebr 13 die Ausführungen von Hebr 13,10–14, die er womöglich traditionell bereits vorgefunden oder aber auch selbst formuliert hat, in einen bereits vorhandenen usuell-paränetischen Textblock integriert hat. Das aber heißt, dass der vom Verfasser des Hebr verfolgte argumentationslogische Schwerpunkt der Darlegungen von Hebr 13 in Hebr 13,10–14 zu suchen ist. Die nachfolgende Skizze vermag die in der vorliegenden Studie im Blick auf Hebr 13,8f.10–14.15f. vertretenen textlichen Relationen in übersichtlicher Form darzustellen47:

Vgl. zu diesem Begriff im vorliegenden Zusammenhang K. Backhaus, Hebr, 473. Vgl. darüber hinaus auch H.-F. Weiß, Hebr, 735: „Denn über alle aus dem engeren und weiteren Kontext des Hebr zu gewinnende Konkretion des ‚Hinausgehens‘ hinaus geht es hier grundlegend ja gar nicht primär ... um ein Herausgehen aus allen irdisch-weltlichen Bezügen, auch nicht um die Abgrenzung und Abkehr der christlichen Gemeinde vom Judentum, sondern um ein ‚Hinausgehen‘ πρὸς αὐτόν, das – als solches – mit dem ‚Tragen‘ von Schmähung und Schande verbunden ist“. 43 Vgl. zu diesem Begriff, S.J. Wood, The Alter-Imperial Paradigm, passim. 44 Vgl. hierzu auch K. Backhaus, Hebr, 473, dem zufolge die in Hebr 13,13 geforderte Leidensnachfolge „durchweg die Gestalt von gesellschaftlicher Marginalisierung und Ehrverlust“ annehme. 45 K. Backhaus, Hebr, 476. 46 Vgl. hierzu bereits o. 262. 47 Vgl. zu dieser Rekonstruktion immerhin W.L. Lane, Hebr II, 537: „The catechetical precepts in vv 7–9 serve to introduce a cohesive unit characterized by sustained argumentation, vv 10– 16. This unit is distinguished from the small units with which it is framed (vv 7–9, 17–19) by its form and construction“. Diese Beobachtung Lanes entspricht bis auf die Differenz in der Zuordnung der Verse Hebr 13,15f. weitestgehend dem in der vorliegenden Studie entworfenen Bild zur Komposition von Hebr 13. 42

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These (Hebr 13,8)

theologischtheoretische Konsequenz (Hebr 13,9)

Anknüpfung an das Stichwort διδαχή

theologisch-grundsätzlicher Hinweis: Die theologisch-theoretische Relevanz des Kreuzesgeschehens (Hebr 13,10–12) usuell-paränetische Tradition

theologisch-grundsätzliche praktische Konsequenz (Hebr 13,13)

Erweiterung der usuellparänetischen Tradition

theologisch-grundsätzliche eschatologische Perspektive

theologischpraktische Konsequenz (Hebr 13,15f.

Anknüpfung an die Paränese

Der Hinweis auf den fehlenden argumentationslogischen Konnex zwischen Hebr 13,9 und Hebr 13,10 einer- und zwischen Hebr 13,14 und Hebr 13,15 andererseits scheint schon aus rezeptionsästhetischen Gründen – der Rezipient interpretiert die Ausführungen in Hebr 13,10–14, wenn er diesen Text liest oder gar hört, sicherlich im Lichte von Hebr 13,9, nicht jedoch im Lichte von Hebr 13,15f. – die Annahme nahezulegen, dass der auctor ad Hebraeos – trotz der Verortung der jeweiligen Ausführungen auf jeweils unterschiedlichen Argumentationsebenen – einerseits in Hebr 13,9 und Hebr 13,10–14 die die Adressaten aktuell bedrohenden διδαχαὶ ποικίλαι καὶ ξέναι inhaltlich mit dem Gedanken der in Christus

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erfolgenden Überbietung der damit überkommenen levitischen Kultordnung zu parallelisieren und in den Raum derselben einzuordnen beabsichtigte48 bzw. seine Rezipienten im Zuge der Leserlenkung dazu anregen wollte, eine solche Parallelisierung selbst zu konstituieren, andererseits zugleich aber auch das aus Hebr 13,9a.b sich ergebende Problem einer möglicherweise defizitären Fähigkeit seiner Adressaten zu einer begründeten theologisch-dogmatischen διάκρισις zu vergrundsätzlichen, was bedeutet, dass dieses Defizit als der eigentliche Interpretationshorizont seiner Epistel zu identifizieren wäre. Daraus lassen sich zwei Folgerungen ableiten: (a) Die Vertreter dieser διδαχαί seien – zumindest in den Augen des Verfassers des Hebr – als letztlich judaistische oder judenchristliche Irrlehrer zu kennzeichnen, als solche also, die aus seiner Sicht gegenwärtig noch auf dem Boden der überkommenen levitischen Kultordnung stehen und die Adressaten des Hebr zu beeinflussen suchen49. (b) Im Kern ging es dem Verfasser des Hebr in seiner Epistel offensichtlich darum, ein von ihm konstatiertes theologisch-theoretisches Defizit seiner Adressaten zu überwinden bzw. jene anzuleiten, selbst in diesem Sinne initiativ zu werden: Gegen Ende seines Schreibens, nachdem er in Hebr 13,1–6 bereits den Pfad der eigentlichen theologischen Argumentation verlassen und den Weg der allgemeinen Mahnungen eingeschlagen hat – hier geht es im Horizont des theologischen ‚Alltagsgeschäfts‘ eher um theologische Nebensächlichkeiten wie etwa um Gastfreundschaft, die Unbeflecktheit der Ehe und die Geldgier –, unternimmt er letztmalig den Versuch, im Kontext der Warnung vor den Gefahren, die von den διδαχαὶ ποικίλαι καὶ ξέναι drohen, seinen Adressaten die – christologische – Kernbotschaft der christlichen διδαχή, so wie sie sich ihm darstellt, vor Augen zu führen. Im Kontext der Warnung, sich von in der Umwelt der Adressaten offensichtlich propagierten διδαχαὶ ποικίλαι καὶ ξέναι nicht irreführen zu lassen, werden jene dazu angehalten, sich die zentralen Elemente der in den Augen des auctor ad Hebraeos wahren christlichen διδαχή anzueignen. Gerade diese letzten Überlegungen vermögen die in der vorliegenden Studie entwickel-

48 Zu einseitig an dieser Stelle K. Backhaus, Hebr, 473: „Unser Vers [Hebr 13,10] entfaltet also die soteriologische Symbolik des Zentralteils und fügt ihr keine neuen informationen über konkrete Gegenspieler zu“. Diese Feststellung mag auf Hebr 13,10 durchaus zutreffen, im Blick auf Hebr 13,9, vor allem Hebr 13,9a ist sie um die Dimension des aktuellen Bezugs zu erweitern. Immerhin aber gesteht auch Backhaus der in der vorliegenden Studie entwickelten These durchaus ein gewisses Recht zu: „Lösung (b) [d.h. die Annahme eines konkreten und aktuellen Bezugs der Ausführungen von Hebr 13,9a.c] mag den Hintergrund erhellen, vor dem einsichtig wird, warum der V[er]f[asser]. gerade die Speisefrage, die er freilich rasch hinter sich lässt, als bezeichnendes Beispiel für seine Mahnung gewählt hat“ (469). 49 Zu den unterschiedlichen Versuchen der Identifikation der hier angesprochenen διδαχαὶ ποικίλαι καὶ ξέναι, die in der vorliegenden Studie unberücksichtigt bleiben können, vgl. etwa H.-F. Weiß, Hebr, 720f.

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te These, der auctor ad Hebraeos strebe in seiner Epistel danach, das in seinen Augen deutlich vorhandene theologisch-theoretische Defizit seiner Adressaten zu überwinden50, durchaus zu bestätigen. Substantiiert wird diese letzte These durch eine Beobachtung zum Gefälle der Argumentation, die der auctor ad Hebraeos innerhalb der Darstellung Hebr 13,10–14, die in nuce auf den argumentativen Hauptteil dieser Epistel rekurriert51, entwickelt: Er setzt in Hebr 13,10 ein mit dem Hinweis, dass die τῇ σκηνῇ λατρεύοντες von ihm und den Adressaten seiner Epistel zur Verfügung stehenden θυσιαστήριον nicht zu essen vermögen. Diese These begründet er dann in Hebr 13,11f.52, eingeleitet durch die Konjunktion γάρ, mit dem Hinweis auf die in der Parallelität sich ereignende Überbietung der innerhalb des levitischen Kultes durchgeführten Entsühnung durch diejenige, die durch das Kreuz Christi in die Wirklichkeit trat. Erst im Anschluss daran folgen eine daraus resultierende Mahnung (Hebr 13,13)53 und deren eschatologische Absicherung. Der entscheidende Schwerpunkt innerhalb der in Hebr 13,10–14 vorliegenden Argumentation, die die usuell-paränetische Ausrichtung von Hebr 13 durchbricht und als das eigentliche Anliegen des auctor ad Hebraeos transportierend betrachtet werden kann, liegt somit nicht auf dem paränetischen, sondern dem theologisch-theoretischen Akzent, eine Wahrnehmung, die innerhalb des o. entwickelten Interpretationsrahmens dann dazu führt, im Blick auf die Frage der textpragmatischen Situierung des Hebr weitaus eher eine systematisch-theologische, konkret: einen Mangel an theologisch-theoretischen Kenntnissen aufarbeitende denn eine paränetisch-praktische Abzweckung zu postulieren. Abgeschlossen wird die Passage Hebr 13,7–17 dann in Hebr 13,17 mit der Aufforderung, den gegenwärtigen ἡγούμενοι zu gehorchen und jenen zu folgen, eben den ἡγούμενοι, die über die Seelen der Adressaten wachen (Hebr 13,17a.b). Der Zweck dieser Aufforderung wird in Hebr 13,17c formuliert: ἵνα μετὰ χαρᾶς τοῦτο ποιῶσιν καὶ μὴ στενάζοντες. Letzteres nämlich wäre für die Adressaten selbst zum Nachteil (Hebr 13,17d). Fazit: Mitten hinein in die usuelle Paränese von Hebr 13 spricht der auctor ad Hebraeos, verknüpft mit der Warnung vor διδαχαὶ ποικίλαι καὶ ξέναι, in Hebr 13,10–14 die zentrale Thematik seiner Epistel noch einmal einem Nucleus gleich an. Diese Verknüpfung vermag durchaus die Annahme zu indizieren, dass jener sein gesamtes Werk verfasst habe, um die von ihm ausgemachten theologischtheoretischen Defizite innerhalb der διδαχή seiner auszubildenden Adressaten zu überwinden. Vgl. hierzu ausführlich o. 125f. Vgl. hierzu bereits o. 261–263. 52 Zum Zusammenhang von Hebr 13,11 mit Hebr 13,12 vgl. neben anderen etwa H.-F. Weiß, Hebr, 730: „Einleitendes διὸ καί kennzeichnet die hier vorliegende christologische Aussage als (notwendige) Schlußfolgerung aus Lev 16,27“. 53 Vgl. hierzu bereits o. 262. 50 51

8.

Ertrag

Die Analyse der Passagen Hebr 5,11–6,12.13–20; 10,19–31.32–39; 12; 13 im Blick auf die Frage nach der textpragmatischen Situierung dieser Epistel hat insgesamt folgendes Ergebnis gezeitigt: Bei den Adressaten des Hebr handele es sich entweder um einen um ein theologisches Schulhaupt versammelten Schülerkreis oder aber um eine Gruppe von Kandidaten, die sich in der Ausbildung zum gemeindlichen Lehramt befindet, in jedem Falle um eine theologisch zu bildende Gemeindegruppe, die allerdings aufgrund ihrer νώθεια, ihres theologischen Desinteresses und ihrer theologischen Lethargie das geforderte bildungstheoretische ‚Klassenziel‘ noch nicht erreicht hat. Dieses offensichtlich in Sonderheit auf dem Gebiet der Christologie Platz greifende theologisch-theoretische Defizit impliziere aus der Sicht des auctor ad Hebraeos zugleich, dass sich die Glieder dieser zu theologisch zu bildenden Gemeindegruppe damit einer unzulänglichen und unzulässigen theologischen Programmatik verschrieben hätten, ein Vorgang, den jener als παραπίπτειν von Gott zu charakterisieren vermag. Daher bedürfe es der besonderen Zustimmung Gottes, wenn der auctor ad Hebraeos seinen Adressaten nun im weiteren Verlauf seiner Epistel die τελειότης, d.h. die weiterführenden Aspekte der Christologie nahezubringen unternähme, eine Zustimmung, die Gott aber aufgrund des vorbildlichen ethischen Verhaltens der Adressaten des Hebr sicherlich nicht verweigern werde. Mit seiner Schrift, letzten Endes einer verschriftlichten Vorlesung, unternimmt der Verfasser des Hebr den Versuch, das von ihm bei seinen Adressaten ausgemachte christologische Defizit zu beheben, indem er zunächst, in Hebr 1,1–5,10, einen λόγος τῆς ἀρχῆς τοῦ Χριστοῦ, als christologisches Grundwissen samt dessen soteriologischen Implikationen, bietet, um dann in Hebr 7,1–10,18, im Rahmen eines λόγος δικαιοσύνης (θεοῦ), eine darauf aufbauende und über das christologische Grundwissen erheblich hinausreichende christologische τελειότης zu formulieren. Konkret heißt dies: Bei Hebr handelt es sich um einen verschriftlichten Lehrvortrag eines theologischen Schulhauptes oder eines theologischen Lehrers mit dem Ziel der christologischen und, davon abgeleitet, auch der soteriologischen Neufundierung und Vertiefung des theoretischen Bildungs- und (Er-)Kenntnisstandes seiner Adressaten1. In dieser konkreten Ausprägung will der auctor ad Hebraeos

Vgl. hierzu immerhin B. Schröder, Leben und Lernen, 513, der mit Verweis auf E. Gräßer formuliert: „‚Katechetischer Charakter‘ wird zudem bisweilen etwa dem 1. Petrusbrief und Teilen des Hebräerbriefes zugebilligt“. Gräßer selbst stellt heraus: „Nach 13 Kapiteln nimmt die [d.h. die Bemerkung in Hebr 13,22] sich einigermaßen sonderbar aus. Es sei denn, man versteht sie als rhetorischen Einwurf: Die hohe Lehre hätte noch weitaus umfänglicher verhandelt werden müssen, um wirklich klar und verständlich zu sein“ (Hebr I, 333), und darüber hinaus: „Die Tradition kommt ihm aber innerhalb des propädeutischen Stückes 5,11–6,20 sehr gelegen.

1

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Ertrag

innerchristlich-theologische Fehlentwicklungen korrigieren2 und steht damit bei allen Unterschieden durchaus in einer gewissen Parallelität zum paulinischen Gal. Die die gegenwärtige Forschung bestimmende Annahme, der Hebr stelle ein an eine Gemeinde oder Gemeindegruppe3, deren Gliedern die Plausibilität des christlichen Kerygmas und der christlichen Traditionen fragwürdig geworden und gewesen wären, gerichtetes identitätsstiftendes und stabilitätssicherndes Mahnschreiben dar, mit dem eine unter ihnen sich ausbreitende ‚verheißungsgeschichtliche Unsicherheit‘ überwunden werden sollte4, ließ sich hingegen nicht erhärten. Das angehängte Schaubild ordnet die in der vorliegenden Studie erarbeitete These zur Frage der textpragmatischen Situierung des Hebr in den forschungsgeschichtlichen Kontext ein. Erkennbar wird dabei zweierlei: (a) Der argumentationslogische Schwerpunkt des Hebr liegt, wenn dieser Schrift natürlich auch ein praktischer Bezug keineswegs abgeht, deutlich auf der theologisch-theoretischen Ebene. (b) Trotz zahlreicher alttestamentlicher Bezüge setzt sich der Hebr nicht mit einer judenchristlichen oder aber zum Judenchristentum tendierenden Klientel auseinander. Er richtet sich vielmehr an möglicherweise ehemals heidnische oder auch jüdische Christen und unternimmt den Versuch, deren theologischtheoretische Defizite zu überwinden. Im Rahmen der vorliegenden Studie wurden lediglich für die in ihr verhandelte Fragestellung wichtigen Passagen aus dem Hebr selbst exegesiert5, ohne dass etwa das lokalgeschichtliche Umfeld dieser Epistel, d.h. konkret die christliche Gemeinde in Rom und ihre theologischen, sozialen und kirchenpolitischen Verhältnisse und Vorfindlichkeiten, oder aber der Kontext des ur- und frühchristlichen Bildungswesens in seinen unterschiedlichen Ausprägungen in nennenswertem Umfang in den Blick genommen worden sind. Würden unter konstruktiv-kritischer Berücksichtigung der Ergebnisse der vorliegenden Studie, in gleicher Weise aber auch anderer Forschungsbeiträge zur Frage der textpragmatischen Situierung des Hebr, diese und andere Forschungsbereiche umfassend ausgeleuchtet, ließe sich ein facettenreiches Bild u.a. sowohl der theologischen Verhältnisse innerhalb der christlichen Gemeinde in Rom als aber auch der dort virulenten Ausprägung des ur- und frühchristlichen Bildungswesens gerade auch in der Zeit des Übergangs vom ersten zum zweiten nachchristlichen Jahrhundert gewinnen. Das in der vorliegenden Studie entwickelte Szenario, demzufolge ein theologischer Lehrer seine in ihrer theologisch-theoretischen Durchbildung – noch – defizitären Kann er doch mit ihrer Hilfe zur Darstellung bringen, daß es im Christenstand Stufen der Entwicklung vom Anfangswissen bis zur tiefen Gnosis des Glaubens gibt“ (Hebr I, 345). 2 Vgl. hierzu o. 45–48. 3 Vgl. hierzu o. 13f. 4 Vgl. hierzu o. 48–61. 5 Vgl. hierzu o. 61–65.

Ertrag

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Schüler eben ob dieses theologisch-theoretischen Defizits rügt und den Versuch unternimmt, diesem Defizit durch eine weitere und intensivere Belehrung abzuhelfen, lässt sich historisch durchaus zwanglos in die Geschichte des Urchristentums und die in derselben virulenten Verhältnisse einordnen. Ohne diese Thematik vollständig aufarbeiten zu können sollen an dieser Stelle einige neutestamentliche und frühchristliche Belege diskutiert werden, die zumindest ein Schlaglicht auf die urchristliche Praxis von Lehre und Unterweisung, die sich gerade nicht nur pauschal an eine Gesamtgemeinde richtete, sondern einzelne Personen und Personengruppen zum Zweck der theologischen Weiterbildung mit dem Ziel der Befähigung zur eigenständigen Lehre in den Blick nahm, zu werfen in der Lage sind: (a) In Lk 1,4 führt Lukas im Blick auf die Absicht, mit der er für Θεόφιλος sein Evangelium verfasst hat, aus: ἵνα ἐπιγνῷς περὶ ὧν κατηχήθης λόγων τὴν ἀσφάλειαν. In Apg 18,25a beschreibt der dritte Evangelist den christlichen ‚Lehrer‘ Apollos als jemanden, der als ἀνὴρ λόγιος, ... , δυνατὸς ὢν ἐν ταῖς γραφαῖς (Apg 18,24) bereits ἦν κατηχημένος τὴν ὁδὸν τοῦ κυρίου (Apg 18,25a), dem Aquila und Priscilla allerdings aufgrund gewichtiger in seiner Lehre zu konstatierender theologisch-theoretischer Defizite den ‚Weg Gottes‘ genauer auslegten (Apg 18,26b.c): ἀκούσαντες δὲ αὐτοῦ Πρίσκιλλα καὶ Ἀκύλας προςελάβοντο αὐτὸν καὶ ἀκριβέστερον αὐτῷ ἐξέθεντο τὴν ὁδὸν [τοῦ θεοῦ]. Mögen diese beiden Passagen aus dem Lk und der Apg auch den Gedanken einer ‚(Hoch-)Schule für christliche Theologie‘ nicht zu belegen, so lassen sie aber dennoch erkennen, dass im Urchristentum die Praxis einer privaten „Unterweisung religiöser Art“6 offensichtlich durchaus gepflegt worden ist. Die Darstellung der Begegnung von Aquila und Priscilla mit Apollos, einem offensichtlich bereits vor seiner Hinwendung zum Christentum „rhetorisch gebildeten hellenistischen Schriftgelehrten“7 aus Alexandria, transportiert darüber hinaus den Gedanken der theologischen Weiterbildung eines bereits theologisch Gebildeten und dessen damit einhergehende Befähigung zur Verkündigung8 und beschreibt ein mit der Darstellung in Hebr 6,1–3 durchaus vergleichbares zwei- oder gar dreistufiges (Aus-)Bildungskonzept9. Würde das hier im G. Schneider, Art. κατηχέω, in: EWNT2 II, 674. R. Pesch, Apg II, 161; darüber hinaus formuliert Pesch im Blick auf die Ausbildung des Apollos in Aufnahme einer Aussage von J. Roloff: „...: ‚sein Profil als das eines glänzenden Redners und subtilen Theologen, dessen Stärke die Schriftauslegung war‘“. 8 Vgl. hierzu R. Pesch, Apg II, 163: „Die Erzählung über Apollos markiert – trotz der luk. Abschwächung, die Apollos nur die Johannestaufe kennen läßt – eine wichtige Unterscheidung: Der begabte Theologe, der ‚genau‘ zu lehren verstand, kann und muß von Priszilla und Aquila, dem mit Paulus missionarisch engagierten Ehepaar, noch ‚genauer‘ unterwiesen werden. Die ‚genauere‘ Theologie ist aus der Erfahrung der aktuellen Heilsgeschichte gespeist, und ohne diese Erfahrung – die konkrete Verwicklung des Theologen in diese lebendige Geschichte – bleibt die ‚genaue‘ Theologie defizient. Aquila und Priszilla legen Apollos die entwickelte Theologie des Paulus und die heilsgeschichtliche Sicht vom Weg des gesetzesfreien toraerfüllenden Evangeliums von den Juden zu den Heiden dar“. Diese Sätze könnten vor dem Hintergrund der vorliegenden Studie mutatis mutandis auf den Hebr und die mit diesem verbundenen Zielsetzungen übertragen werden. 9 Vgl. hierzu R. Pesch, Apg II, 161f.: „Daß das Ehepaar dem Apollos ‚den Weg Gottes‘ ... ‚genauer ‘ ... ‚auseinandersetzte‘ ..., besagt wohl, daß es ihm die entwickeltere paulinische Theologie und deren heilsgeschichtliche Sicht vom Weg Gottes zu Juden und Heiden darlegte“. Mag dieses Votum von Pesch auch womöglich materialiter anfechtbar sein; klar erkennbar wird jedoch, dass dem Apollos von Aquila und Priscilla offensichtlich eine theologische Fort- und Weiterbildung zuteil geworden ist. 6 7

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Ertrag Blick auf die Einzelperson des Apollos beschriebene Vorgehen auf eine größere Gruppe übertragen, ergäbe sich ein Szenario, wie es in der vorliegenden Studie im Blick auf Hebr entwickelt worden ist10. (b) Der nach 1Tim 4,13 als theologischer Lehrer tätig seiende Paulusmitarbeiter Timotheus – ἕως ἔρχομαι πρόσεχε τῇ ἀναγνώσει, τῇ παρακλήσει, τῇ διδασκαλίᾳ – wird in 2Tim 3,14 als jemand beschrieben, der, wohl um seine Verkündigungstätigkeit überhaupt ausüben zu können, offensichtlich von theologischen Lehrern unterrichtet worden ist: σὺ δὲ μένε ἐν οἷς ἔμαθες καὶ ἐπιστώθης, εἰδὼς παρὰ τίνων ἔμαθες. Die hier auftretende fiktive Gestalt des als theologischer Lehrer tätigen Timotheus erscheint somit als selbst von – augenscheinlich kompetenten – wenn auch nicht institutionalisierten, so doch aber freien theologischen Lehrern zur eigenen Lehr- und Verkündigungstätigkeit Ausgebildeter. Just diese in 1Tim 4,13; 2Tim 3,14 begegnende Konzeption einer innerchristlichen, durch Lehrpersonal erfolgenden Bildung, Ausbildung und Zurüstung ‚Studierender‘ zu eigenständiger gemeindlicher theologischer Arbeit wird in der vorliegenden Studie auch im Blick auf Hebr und dessen textpragmatische Situierung angenommen. Wird nun postuliert, dass die Pastoralbriefe in ihrer Gesamtheit nicht etwa in Ephesus11, sondern in Rom entstanden sind12, so stehen diese wohl um 100 n.Chr. abgefassten13 Briefe in zeitlicher sowohl als auch in örtlicher Koinzidenz zu Hebr14, was bedeutet, dass der für letzteren angenommene historische Hintergrund keinesfalls unplausibel erscheinen muss, sondern sogar eine durchaus hohe historische Wahrscheinlichkeit gewinnt. (c) Wie bereits o. angemerkt15, lässt sich die in der vorliegenden Studie entwickelte Annahme zur textpragmatischen Situierung des Hebr gänzlich unproblematisch mit dem Konzept einer Philosophenschule wie etwa derjenigen des Iustinus16 in Rom verknüpfen. Nach J. Ulrich fänden sich „in den Apologien Justins ... zahlreiche Hinweise, die mittelbar oder unmittelbar Rückschlüsse auf den Unterrichtsbetrieb an der Schule Justins in Rom erlauben. Eine Untersuchung der in den Apologien verwendeten Terminologie lässt darauf schließen, dass der Gegenstand des Unterrichts die Weitergabe überlieferter christlicher Tradition war und Justin das Ziel verfolgte, bei den Schülern einen bereits bestehenden Konsens zu dieser Überlieferung zu stärken oder noch nicht bestehenden Konsens hervorzurufen“17. T. Georges zufolge war „Justins Schule ... ein überschaubarer Lehrer-Schüler-Zirkel, in dem man sich mit dem Glauben und der Lebensführung der Christen befasste, auf anspruchsvollem Niveau und

Vgl. hierzu o. 161–176. Vgl. hierzu U. Schnelle, Einleitung, 410f. 12 So etwa A. Lindemann, Paulus im ältesten Christentum, 149 und H. Merkel, Past, 13. 13 U. Schnelle, Einleitung, 410f. nimmt für die Pastoralbriefe insgesamt die Zeit um 100 n.Chr. als Abfassungszeit an, ein Datum, das derjenigen der Abfassung des Hebr durchaus entspricht (vgl. hierzu o. 14f.). 14 Vgl. hierzu o. 12–14 und o. 14f. 15 Vgl. hierzu o. 116–118. 16 Zu Iustinus vgl. etwa C.P. Vetten, Art. Justin der Märtyrer, in: LACL, 411–414; angesichts der möglichen Datierung der von Iustinus verfassten Apologie um die Mitte des zweiten nachchristlichen Jahrhunderts (412), will es keinesfalls undenkbar scheinen, die Existenz einer solchen Philosophenschule bzw. eines entsprechenden Schülerkreises schon für die Zeit um 130 n.Chr. anzunehmen. Wird Hebr als um 100 n.Chr. verfasst angesehen (vgl. hierzu o. 14f.), lässt sich die in der vorliegenden Studie vertretene These zur textpragmatischen Situierung des Hebr zwanglos kontextualisieren. 17 Justin’s ‚School‘, 74. 10 11

Ertrag

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in Auseinandersetzung mit der nichtchristlichen Bildungswelt. Die Charakteristika der Schule zeigen erstaunliche Parallelen zu paganen Philosophenschulen, in deren Kontext sich Justins Schule einzeichnet. Bezüge zu anderen christlichen Schriftstellern der Zeit Justins (Selbstverständnis als Philosoph, Lehren, Auseinandersetzung mit der antiken Philosophie) lassen vermuten, dass auch deren Schriften einem schulischen Kontext wie bei Justin entstammen“18. Vor einem solchen Hintergrund lässt sich die Annahme, der wohl – ebenfalls – in Rom abgefasste Hebr stelle ein Werk eines der Gestalt des Iustinus vergleichbaren philosophischen bzw. christlich-theologischen freien Lehrers dar, der mit dieser Schrift den Versuch unternimmt, bei seinen Schülern ausgemachte theologisch-theoretische Defizite zu überwinden, zwanglos plausibilisieren. (d) Am Ende der Entwicklung einer solchen theologischen Ausbildungsprogrammatik von einer eher ungeregelten Ausbildung bei freien Lehrern stehen solche Institutionen wie etwa die sog. ‚Katechetenschule‘ von Alexandria. Nach C. Scholten beschäftigte sich diese ‚Katechetenschule‘ nicht mit der Schulung von Taufbewerbern, sondern stellte als Institution eine „‚theologische. Hochschule‘ der alexandrinischen Kirche“19 dar20. Auch wenn sich das Datum der Gründung dieser ‚Katechtenschule‘ letztlich nicht präzise fassen lässt – nach C. Markschies „fehlen wirklich eindeutige Quellenbelege für die Existenz einer solchen ‚Theologischen Hochschule‘ im frühen dritten Jahrhundert in Alexandria“21, die Annahme einer Existenz derselben bereits im zweiten nachchristlichen Jahrhundert sei noch weniger gesichert –, so lässt sich die in der vorliegenden Studie entwickelte These zur textpragmatischen Situierung des Hebr doch gut mit dem Gedanken einer solchen ‚Katechetenschule‘ korrelieren: Die im Hebr sichtbar werdende Konzeption einer theologischen Ausbildung zum gemeindlichen theologischen Dienst bei freien Lehrern steht am Anfang eines Weges, der mit der Gründung einer theologischen Hochschule, in der eben ein solches Ausbildungskonzept, sicherlich inhaltlich deutlich umfassender konturiert und institutionell verfasst, realisiert wird, endet.

Justin’s School in Rome, 87. C. Markschies, Kaiserzeitliche christliche Theologie, 98; Markschies selbst scheint diese von C. Scholten entwickelte These für durchaus wahrscheinlich zu halten; vgl. hierzu 98–102. 20 Nach C. Scholten, Katechetenschule, 25 habe die Kirche erkannt, „daß ein Eindringen in die Bildungswelt der Zeit und ihre Umgestaltung damals eine Auseinandersetzung auf Hochschulebene bedeutet, weil hier und nicht beim Elementar- und Grammatiklehrer der eigentliche Wissenserwerb und Argumentationsaustausch stattfindet“. 21 Kaiserzeitliche christliche Theologie, 100. 18 19

„relapse“-Theorie

Praxis

Heidentum 

Hebr als identitätsstiftendes und stabilitätssicherndes Mahnschreiben (Backhaus)

Hebr als verschriftlichter Lehrvortrag eines theologischen Schulhauptes bzw. eines theologischen Lehrers mit dem Ziel christologischer Neufundierung und Vertiefung des theologisch-theoretischen (Er-)Kenntnisstandes (Witulski)

Hebr als theoretische Reflexion (Vielhauer u.a.)

Hebr als als „ZweiFronten-Kampfschrift“ (Loader)

Hebr als Abgrenzung gegen eine Rückwendung zu jüdischen Wurzeln und die Installation eines quasi-levitischen Kultes (Lehne)

Judentum

Hebr als theologisch-ethische Belehrung und Korrektur eines ‚enthusiastischen‘ (Juden)-Christentums (Rissi)

Hebr als theoretische Auseinandersetzung mit der Synagoge (Conzelmann)

Theorie

9. Die textpragmatische Situierung des Hebr – Übersicht über Forschungslage und eigene Positionierung

Literatur (in Auswahl) Quellentexte Apostolische Väter Lindemann, A./Paulsen, H. (Hg.): Die Apostolischen Väter. Griechisch-deutsche Parallelausgabe, Tübingen 1992. Epiktetos Nickel, R. (Hg.): Epiktetos. Anleitung zum glücklichen Leben. Encheiridion (Handbuch der Moral), Düsseldorf 2006. Schenkl, H. (Hg.): Epicteti Dissertationes ab Arriani Digestae Leipzig 1916. Schmidt, H. (Hg.): Epiktet. Handbüchlein der Moral und Unterredungen, Stuttgart 1959. Heliodoros Gasse, H. (Hg.): Heliodor. Die äthiopischen Abenteuer von Theagenes und Charikleia, Stuttgart 1972. Rattenbury, R.M./Lumb, T.W. (Hg.): Héliodore. Les Éthiopiques. Théagène et Chariclée, Tome II. Livres IV-VII, Paris 21960. Reymer, R. (Hg.): Helidoros. Aithiopika. Die Abenteuer der schönen Chariklea, Hamburg 1962. Iustinus Marcovich, M. (Hg.): Iustini Martyris Apologiae pro Christianis. Iustini Martyris Dialogus cum Tryphone, PTS 38.47, Berlin/New York (NY) 2005. Rauschen, G. (Hg.): Die beiden Apologien Justins des Märyrers, in: Früchristliche Apologeten und Märtyrerakten I, BKV, Kempten/München 1913. Johannes Chrysostomos Homiliae XXXIV in epistolam Sancti Pauli ad Hebraeos, PG LXIII, 1862, 9–236. Johannes von Damaskos Volk, R. (Hg.): Die Schriften des Johannes von Damaskos, Band VII Commentarii in epistulas Pauli, PTS 68, Berlin 2013. Philostratos Mumprecht, V. (Hg.): Philostratos. Das Leben des Apollonios von Tyana, München 1983. Photios Fragmenta in epistulam ad Hebraeos (in catenis), in: K. Staab (Hg.): Pauluskommentare aus der griechischen Kirche, NTA 15, Münster 1933, 470–652. Platonos Eigler, G. (Hg.): Platon. Werke in acht Bänden, wbg edition, Darmstadt 82019. M. Fabius Quintilianus Rahn, H. (Hg.): Marcus Fabius Quintilianus. Ausbildung des Redners, zwei Teile, TzF 2, Darmstadt 1972.1975. L. Annaeus Seneca Fink, G. (Hg.): L. Annaeus Seneca. Epistulae morales ad Lucilium, Band I. Epistulae I – LXXV, Düsseldorf 2007. C. Suetonius Tranquillus Heinemann, M. (Hg.): Sueton. Cäsarenleben, KTA 130, Stuttgart 71986. Rolfe, J.C. (Hg.): Suetonius II, LCL 38, London/Cambridge (MA) 1992.

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Register Altes Testament

Jes 35,3 246

Gen 15,6 212 Gen 22 212 Gen 22,16f. 211 Gen 50,24f. 207

Jer 10,10–17 34 Jer 31 57 Jer 31,31–34 57 Jer 31,31 57 Jer 31,34 57 Jer 31,33 33 Jer 38 (31),33 57

Ex 19 252 Ex 25,9 30 Ex 25,40 30 Lev 16,27 268 Num 14,21 150 Num 14,28 150 Dtn 4f. 252 Dtn 4,12 99 Dtn 11,11 190 Dtn 32,35f. 227 Jos 21,45 184 Jos 23,15 184 2Makk 2,7f. 220

Dan 5,23 34 Neues Testament Mt 5,9 251 Mt 10,15 77 Mt 12,26 77 Mt 21,11 13 Mt 23,8 110 Mt 23,9 110 Mk 1,1 135 Mk 1,15 77 Mt 11,28 152 Mk 12,18–27 77

Ps 44,8LXX 89 Ps 95 153, 154, 157 Ps 95,7–11 147, 149 Ps 95,7 147f., 153 Ps 101,26–28LXX 134 Ps 110,1 137, 218 Ps 110,3 137 Ps 110,4 27, 213

Lk 1,4 271 Lk 4,36 104 Lk 18,1 152 Lk 24,46 133 Lk 24,47 133

Prov 3,11f. 245, 249

Apg 1,1 135 Apg 1,2 135 Apg 2,38 77 Apg 2,41 77 Apg 4,13 117 Apg 6,9 13 Apg 7,38 79 Apg 8,17–18 77 Apg 10,36ff. 132 Apg 10,42 133 Apg 13,1 104f., 111

Sap 7,24–27 28f. Sap 7,26 29 Sir 25,23 246 Hab 2,3 232 Hab 2,4 95, 232 Sach 1,13 184

Joh 6,57 192 Joh 12,21 13

282 Apg 13,2 104f. Apg 13,3 104f. Apg 13,32 58 Apg 13,33 58 Apg 14,15–17 164 Apg 15,32 100 Apg 17 165 Apg 17,31 77, 165 Apg 17,32 165 Apg 18,24 37, 271 Apg 18,25 271 Apg 18,26 271 Apg 19,6 77 Apg 20,2 100 Apg 20,21 77 Röm 3,2 79 Röm 4,3 212 Röm 4,11 93 Röm 4,13 93 Röm 5,2 200 Röm 6,3–4 77 Röm 7,11 150 Röm 8,20 192 Röm 12 106 Röm 12,1–15,13 90, 257 Röm 12,7 105f. 1Kor 8,5 59 1Kor 8,6 59 1Kor 9,10 59 1Kor 12 106 1Kor 12,28 104–107, 111 1Kor 12,29 104–106 1Kor 12,30 105 1Kor 13,13 124 1Kor 14,6 105 1Kor 14,11 97 1Kor 14,12 97 1Kor 14,26 105 1Kor 15,51ff. 54 2Kor 3,12–18 59 2Kor 3,18 59 2Kor 4,1 152 2Kor 4,16 152 2Kor 5,1–10 54f. 2Kor 5,8 54f. 2Kor 6,11 152 2Kor 11,6 117

Register Gal 1,6–9 45, 151 Gal 1,7 45 Gal 3,1–5 151 Gal 3,1 151f., 261 Gal 3,6 212 Gal 3,19 29 Gal 3,27 77 Gal 4,8–11 41 Gal 4,8–20 59 Gal 4,8 59 Gal 4,9 59 Gal 5,7 234 Gal 5,8 234 Gal 6,9 152 Eph 2,20 Eph 3,5 Eph 3,13 Eph 4,11

107 107 152 104–107, 111

Phil 4,15 152 Kol 1,5 213 Kol 3,14 124 Kol 3,16 166 1Thess 1,3 53 1Thess 1,9 34, 78, 170 1Thess 1,10 78, 170 1Thess 4,1 130 1Thess 4,13–18 54 2Thess 2,1 220 2Thess 3,13 152 1Tim 1,6 1Tim 1,7 1Tim 4,13 1Tim 5,17

108 108 272 119

2Tim 1,11 2Tim 1,13 2Tim 2,2 2Tim 3,14 2Tim 4,3 2Tim 4,4

104 131, 138 131, 138 272 104, 108, 111 108

Hebr 1–5 197 Hebr 1,1–4 19, 22–24, 28, 170 Hebr 1,1–2,4 25 Hebr 1,1–4,13 19f., 229

Register Hebr 1,1–5,10 67, 70f., 75, 126f., 144, 157f., 160, 168, 170f., 174, 176, 227, 255, 269 Hebr 1,1–13,21\19 117 Hebr 1,1 19, 22–24, 28–30, 170, 208 Hebr 1,2 19, 22–24, 28f., 94, 130, 133, 135f., 138f., 170 Hebr 1,3 12, 15, 19, 22–24, 28f. 133, 137, 170, 207 Hebr 1,4 12, 15, 19, 22–24, 28f., 94, 130, 170 Hebr 1,5ff. 141 Hebr 1,5–14 19, 130f., 141, 170 Hebr 1,5–2,18 22f. Hebr 1,5–4,13 24 Hebr 1,5 12, 139 Hebr 1,7 12 Hebr 1,8 139 Hebr 1,9 88f. Hebr 1,10 133f. Hebr 1,11 133f. Hebr 1,12 133f. Hebr 1,13 12, Hebr 1,14 94, 141 Hebr 1,22 12 Hebr 2 128 Hebr 2,1–4 19, 21, 64, 66, 129–132, 140– 143, 158f., 255 Hebr 2,1–5 220 Hebr 2,1 130f., 141, 221 Hebr 2,2 29f., 99, 131f., 138, 141, 255 Hebr 2,3 130–136, 138–141, 166, 255 Hebr 2,4 131, 139f., 183–185 Hebr 2,5–9 25 Hebr 2,5–18 19, 171 Hebr 2,5 185, 208 Hebr 2,8 149 Hebr 2,9 147, 149 Hebr 2,10ff. 214 Hebr 2,10–6,20 25 Hebr 2,10–12,27 25 Hebr 2,10 139, 214, 239 Hebr 2,11 251 Hebr 2,14 70 Hebr 2,17 48, 125, 144 Hebr 2,18 12, 144 Hebr 3 128 Hebr 3,1–6 19, 21, 30, 144, 146, 158f., 171 Hebr 3,1–4,13 23 Hebr 3,1–4,14 22f.

283 Hebr 3,1–5,10 22, 170 Hebr 3,1 12, 48, 53, 66, 122, 144–146, 148, 182 Hebr 3,2 12, 66, 144–146 Hebr 3,3 144f. Hebr 3,4 144 Hebr 3,5 12, 30, 145 Hebr 3,6 139, 145–147, 149, 153, 166, 198–200, 217, 231 Hebr 3,7–11 146f., 153, 158f. Hebr 3,7–4,10 36 Hebr 3,7–4,11 157 Hebr 3,7–4,13 19, 66, 157, 170 Hebr 3,7 146f., 183 Hebr 3,8 147 Hebr 3,9 147, 153 Hebr 3,10 147 Hebr 3,12–14 64, 147, 149–152, 154f. Hebr 3,12–19 147, 149f. Hebr 3,12–4,13 146, 158f. Hebr 3,12 36, 101, 147, 149f., 152–155, 178, 220, 226, 247 Hebr 3,13 148–155, 206, 215, 234, 242 Hebr 3,14 28, 148f., 166, 182 Hebr 3,15–19 149 Hebr 3,16–18 148 Hebr 3,16–19 156 Hebr 3,18 148, 154 Hebr 3,19 149, 154 Hebr 4,1–13 21 Hebr 4,1 58, 64, 70, 148, 152, 155f., 247 Hebr 4,2 99 Hebr 4,6 70 Hebr 4,11 64, 70, 148, 152, 156, 208, 220 Hebr 4,12 99f., 208 Hebr 4,13 99f., 146 Hebr 4,14–16 19, 23f., 156–159, 217, 238 Hebr 4,14–5,10 23f., 66, 171 Hebr 4,14–10,31 229 Hebr 4,14 19, 23f., 48, 70, 139, 156, 217, 261 Hebr 4,15–5,10 22f. Hebr 4,15 23, 261 Hebr 4,16 70, 156, 231 Hebr 5,1ff. 174 Hebr 5,1–10 20 Hebr 5,1–10,18 19, 21, 261f. Hebr 5,3 125 Hebr 5,5 139, 166 Hebr 5,6 66, 69, 171, 213

284 Hebr 5,8 139 Hebr 5,9 57, 167, 205 Hebr 5,10 57, 66f., 69, 167, 171, 214 Hebr 5,11ff. 63, 96, 187, 190 Hebr 5,11–13 160 Hebr 5,11–14 48, 65–68, 74f., 81, 84–87, 90f., 96, 98, 101f., 123, 125f., 129, 141, 144, 150–152, 155f., 158–161, 169, 171f., 176, 180, 182, 187, 192, 197f., 200, 209, 219f., 222, 234, 236, 242, 259 Hebr 5,11–6,2 173 Hebr 5,11–6,3 91, 187 Hebr 5,11–6,8 66 Hebr 5,11–6,12 14, 25, 62f., 66–68, 161, 172, 192f., 201, 209, 216, 237, 254, 255, 269 Hebr 5,11–6,20 20, 22–26, 48, 62–69, 71, 91, 102, 171, 193, 195, 208, 215f., 248, 269 Hebr 5,11–10,39 22, 170 Hebr 5,11 14, 48, 65–74, 80– 88, 90–92, 96, 98–102, 121, 123, 125f., 129, 141, 144, 150–152, 155f., 158–161, 168f., 171–174, 176f., 180, 182, 187, 192f., 197f., 200–202, 209, 219–222, 234, 236, 242, 246, 259 Hebr 5,12ff. 196 Hebr 5,12 14, 48, 65–68, 73–78, 80–88, 90–92, 96–98, 101–104, 110–116, 121, 123, 125f., 129, 141, 144, 150–152, 155f., 158–161, 164, 166, 169, 171f., 174, 176, 180, 182, 187, 192, 197f., 200, 209, 219f., 222, 234, 236, 242, 259 Hebr 5,13 14, 48, 65–68, 74, 78–80, 83–92, 95, 96, 97, 98, 99, 101f., 123, 125f., 129, 141, 144, 148, 150–152, 155f., 158–161, 167, 169–171, 174, 176, 180f., 187, 192, 197f., 200, 209, 219, 220, 222, 234, 236, 242, 259 Hebr 5,14 14, 48, 65–68, 74, 80, 83–88, 90–92, 96–98, 101f., 123, 125f., 129, 141, 144, 150–152, 155f., 158–161, 169, 171f., 176, 180, 182, 187, 192, 197f., 200, 209, 219f., 222, 234, 236, 242, 259 Hebr 6,1ff. 33, 67, 190 Hebr 6,1 14, 17, 31, 33–36, 48, 65, 71, 75– 79, 86f., 92, 96, 99f., 116, 160–172,

Register 174–177, 180, 182, 187, 192, 194, 197, 200, 209, 222 Hebr 6,2 14, 17, 31, 33–36, 48, 65, 71, 75– 79, 87, 104, 116, 160–177, 180, 182, 187, 192, 197, 200, 222 Hebr 6,3 14, 48, 68, 71, 79, 87, 96, 116, 160f., 167, 169, 170–172, 175, 177, 180, 182, 187, 192f., 195, 197, 200, 209, 222 Hebr 6,4ff. 174, 177 Hebr 6,4–6 47, 102, 155, 167, 175, 177f., 180, 189, 192f., 195f. Hebr 6,4–8 178, 193–195, 209, 225, 227– 229 Hebr 6,4–12 68, 116, 177, 220, 222 Hebr 6,4 14, 68, 126, 167, 177–179, 181– 183, 186f., 189, 191, 194, 200, 228, 230 Hebr 6,5 14, 68, 126, 177–179, 181–187, 189, 191, 200, 228 Hebr 6,6 14, 68, 101, 126, 139, 167, 177– 179, 187f., 192, 194, 228f. Hebr 6,7 14, 68, 126, 175, 189–192, 228 Hebr 6,8 14, 68, 126, 175, 189, 191f., 194, 228 Hebr 6,9 14, 47, 68, 71, 75, 89, 98, 123, 160, 194f., 209, 219, 227–229, 254 Hebr 6,10 13f., 47, 53f., 60, 68, 71f., 75, 82, 89f., 98, 122f., 160, 178, 187, 194f., 202, 209, 219, 225, 227–229, 254 Hebr 6,11 14, 53f., 71,123, 160, 196–202, 209, 219, 247 Hebr 6,12 14, 53f., 58, 66f., 71, 94, 101, 123, 160, 192, 196f., 200–203, 207– 209, 211–213, 219 Hebr 6,13ff. 197 Hebr 6,13–19 214 Hebr 6,13–20 63, 66f., 196, 201, 208, 211f., 215f., 269 Hebr 6,13 58, 197, 208, 211–213 Hebr 6,14 197, 208, 211f. Hebr 6,15 58, 197, 208, 211f. Hebr 6,16 212f. Hebr 6,17 58, 94, 211–213 Hebr 6,18 67, 198–200, 213–216, 245 Hebr 6,19 20, 200, 214–216, 261 Hebr 6,20 20, 66f. 192, 200, 214–216 Hebr 7–9 46 Hebr 7–10 229 Hebr 7,1ff. 69, 70f., 168, 170f., 174, 214 Hebr 7,1–3 20

Register Hebr 7,1–28 20, 22–24 Hebr 7,1–10,18 20, 24, 63, 69, 75, 96, 170, 211, 217, 227, 239f., 242, 245, 249, 251–255 Hebr 7,1–10,18 269 Hebr 7,1–10,39 25, 214 Hebr 7,1 67, 96, 216 Hebr 7,2 89 Hebr 7,3 139 Hebr 7,4–10 20 Hebr 7,11–19 20 Hebr 7,11 27, 41, 70 Hebr 7,12 41 Hebr 7,14–19 42 Hebr 7,14 133f., 138 Hebr 7,15 58 Hebr 7,19 198f. Hebr 7,20–28 20 Hebr 7,21 133, 213 Hebr 7,25 137 Hebr 7,28 99, 139 Hebr (7)8–10,18 25 Hebr 8,1–6 20 Hebr 8,1–9,28 22–25 Hebr 8,1–10,18 20, 24f. Hebr 8,1 137, 261 Hebr 8,2 133, 137 Hebr 8,3–5 30 Hebr 8,4 70 Hebr 8,5 30 Hebr 8,6 58, 252 Hebr 8,7–12 57 Hebr 8,7–13 20, 51, 57 Hebr 8,7 41, 57 Hebr 8,8–12 57 Hebr 8,8 57, 133 Hebr 8,9 133 Hebr 8,10 33, 133 Hebr 8,11 104, 133 Hebr 8,13 41 Hebr 9,1–10 20 Hebr 9,1 70 Hebr 9,8ff. 44 Hebr 9,8–10 183 Hebr 9,8 16 Hebr 9,9 16, 21 Hebr 9,10 16, 21, 168, 259 Hebr 9,11–14 20 Hebr 9,11 166 Hebr 9,13 253

285 Hebr 9,14 17, 34–36, 149, 166, 183 Hebr 9,15–23 20 Hebr 9,15 58, 94, 208, 252 Hebr 9,19 253 Hebr 9,21 253 Hebr 9,23 70 Hebr 9,24–28 20 Hebr 9,24 166 Hebr 9,26 130 Hebr 9,28 166 Hebr 10 232 Hebr 10,1–4 20 Hebr 10,1–18 20, 22f. Hebr 10,5–10 20 Hebr 10,10 166, 251 Hebr 10,11–18 20 Hebr 10,12 137, 232 Hebr 10,13 137, 218 Hebr 10,14 251, 263 Hebr 10,15–17 57f. Hebr 10,15 57, 183, 263 Hebr 10,16 133, 263 Hebr 10,19ff. 19, 23, 238 Hebr 10,19–25 21, 63, 65, 217, 221, 224, 228 Hebr 10,19–31 21–23, 63, 130, 160, 217, 236f., 269 Hebr 10,19–39 21–23, 63, 130, 160, 217, 236f. Hebr 10,19–12,29 20 Hebr 10,19–13,21 20f., 24 Hebr 10,19 63, 70, 146, 205, 217–219, 222, 229, 231, 249, 261 Hebr 10,20 205, 217–219, 222, 229 Hebr 10,21 217–219, 222 Hebr 10,22 197, 217–219, 253 Hebr 10,23 49, 53, 58, 185, 198–200, 218f. Hebr 10,24 145, 218f., 225f., 228f. Hebr 10,25 122, 149f., 215, 218–226, 228, 236 Hebr 10,26–31 21, 47, 63, 65, 193, 217, 225, 227–229, 231 Hebr 10,26–39 64 Hebr 10,26 181f., 225–227, 229 Hebr 10,27 226f., 229 Hebr 10,28 227 Hebr 10,29 101, 139, 178, 183, 227–229, 251 Hebr 10,30 133, 227 Hebr 10,31 149, 227

286 Hebr 10,32–34 14, 119, 123, 158,175, 177, 225, 229, 232–236, 242, 248 Hebr 10,32–39 21, 63, 65, 217, 269 Hebr 10,32 14, 70, 89, 119, 123, 158, 175, 177, 225, 229f., 232–236, 242, 248 Hebr 10,33 14, 16, 70, 89, 119, 123, 158, 175, 177, 225, 229f., 232–236, 242, 248 Hebr 10,34 14, 70, 89, 119, 123, 158, 175, 177, 225, 229–236, 242, 248 Hebr 10,35 70, 225, 232–235 Hebr 10,36 49, 58, 225, 232f. Hebr 10,37 225, 232f. Hebr 10,38 95, 225, 232f. Hebr 10,39–12,27 26 Hebr 10,39 55, 225, 232–234 Hebr 11 205, 207, 212, 232–234, 238f. Hebr 11,1–40 21–23, 249 Hebr 11,1–12,13 22 Hebr 11,1 21, 198f., 203–205, 207, 212, 232 Hebr 11,2 21 Hebr 11,3–7 21 Hebr 11,4–38 239 Hebr 11,4 95 Hebr 11,6 130 Hebr 11,7 88, 93–95 Hebr 11,8ff. 212 Hebr 11,8 94 Hebr 11,8–22 21 Hebr 11,9 58 Hebr 11,11 58 Hebr 11,13 58 Hebr 11,17 58, 207 Hebr 11,18 207 Hebr 11,19 207 Hebr 11,22 207 Hebr 11,23–31 21 Hebr 11,26 166 Hebr 11,32–40 21 Hebr 11,33 58, 88 Hebr 11,39 58 Hebr 11,40 239 Hebr 12 63–65, 160, 233, 238, 241, 251, 253–257, 269 Hebr 12,1ff. 214 Hebr 12,1–3 21, 238, 241, 245, 249f., 254 Hebr 12,1–13 22f. Hebr 12,1–29 21 Hebr 12,1–13,19 130 Hebr 12,1 234, 238f., 241, 244

Register Hebr 12,2ff. 234 Hebr 12,2 214, 238–240, 244 Hebr 12,3 46, 101, 240–243 Hebr 12,4ff. 128, 241 Hebr 12,4–6 249 Hebr 12,4–13 21, 241, 245f., 248–250, 252 Hebr 12,4–17 252 Hebr 12,4–29 249, 256 Hebr 12,4 12, 206, 241–244, 247–250, 253 Hebr 12,5–11 246 Hebr 12,5 12, 133, 215, 244–250 Hebr 12,6 12, 133, 244–246 Hebr 12,7–11 249 Hebr 12,7 12, 245 Hebr 12,8 12, 245 Hebr 12,9 12, 245 Hebr 12,10 12, 245 Hebr 12,11 12, 88f., 94, 245 Hebr 12,12–17 47 Hebr 12,12 101, 246–250 Hebr 12,13 101, 246–250 Hebr 12,14–17 21, 250f. Hebr 12,14–13,19 22f. Hebr 12,14 122, 133–245, 250f. Hebr 12,15 101, 154, 250f. Hebr 12,16 101, 250 Hebr 12,17 94, 250 Hebr 12,18–21 252 Hebr 12,18–24 21, 252, 254 Hebr 12,18–29 252f. Hebr 12,19 99 Hebr 12,22–24 252 Hebr 12,22 149 Hebr 12,23 95 Hebr 12,24 122, 252f. Hebr 12,25–27 64 Hebr 12,25–29 21, 253f. Hebr 12,25 122, 253–255 Hebr 12,28–13,21 25 Hebr 12,28 64, 253f., 263 Hebr 12,29 64, 254 Hebr 13 63, 64, 256, 258, 263, 265, 268f. Hebr 13,1ff. 20 Hebr 13,1–6 21, 258, 267 Hebr 13,1–17 21 Hebr 13,1 64, 233 Hebr 13,3 233 Hebr 13,5 233 Hebr 13,6 133

Register

287

Hebr 13,7–9 265 Hebr 13,7–17 21, 258, 268 Hebr 13,7 12, 16f., 21, 99f., 131, 138, 183, 258f. Hebr 13,8 16f., 21, 166, 226, 258, 262f., 265f. Hebr 13,9–14 264 Hebr 13,9 16–18, 21, 33, 104, 258–263, 265–267 Hebr 13,10–12 263f., 266 Hebr 13,10–14 221, 261–263, 265f., 268 Hebr 13,10–16 263, 265 Hebr 13,10 16–18, 21, 33, 221, 259–263, 266–268 Hebr 13,11 16–18, 21, 33, 221, 260, 262f., 268 Hebr 13,12 16f., 21, 221, 262–265, 268 Hebr 13,13 16–18, 21, 27, 32, 221, 262– 266, 268 Hebr 13,14 16f., 21, 208, 214, 221, 262– 264, 266 Hebr 13,15 16f., 21, 70, 263–266 Hebr 13,16 16f., 21, 233, 263–266 Hebr 13,17–19 265 Hebr 13,17 12, 16f., 21, 99, 100, 258, 268 Hebr 13,18–21 21 Hebr 13,18–25 21 Hebr 13,19 117, 215 Hebr 13,20 20–23, 133 Hebr 13,21 20–23, 166, 229 Hebr 13,22–25 14, 20–22, 25, 117, 257 Hebr 13,22 9, 14, 19, 65, 99f., 215, 269 Hebr 13,23 12, 14 Hebr 13,24 12–14, 53, 122 Hebr 13,24b 12 Hebr 13,25 14

Apk 2,9 234 Apk 2,19 53

Jak 3,1 104f., 108, 111 Jak 3,10 110 Jak 3,18 245

Eusebios hist.eccl. IV 23,9f. 13 hist.eccl. III 39,4 135 praep.ev. I 2,5 51

1Petr 3,10 1Petr 3,11 1Petr 3,21 1Petr 4,11

123 250 77 79

2Petr 3,2 133 1Joh 4,17 77 Apk 2,2 234, 261

Außerkanonische Literatur Barn 1,1–7 109 Barn 1,8 109 Barn 4,10 222, 224 1Clem 1,3 12 1Clem 7,2 125 1Clem 9,1 125 1Clem 9,2 124 1Clem 17,5 12 1Clem 21,6 12 1Clem 36,1 12 1Clem 36,2 12 1Clem 36,3 12 1Clem 36,4 12 1Clem 36,5 12 1Clem 43,1 12 1Clem 56,2 12 1Clem 56,3 12 1Clem 56,16 12 2Clem 10,1f. 250 2Clem 11,3 71 Did 11,2 Did 13,1 Did 13,2 Did 15,1 Did 15,2 Did 16,2

109 109 109 109 109 222f.

Epiktetοs diss. I 7,30 73 ench. 51,1 112, 115

Heliodoros aethiopica V 1,5 72 Herm mand. IV 3,1 109 Herm sim. VIII 9,1 222f. Herm sim. IX 21,2. 35 Herm sim. IX 26,3 222, 224 Herm sim. IX 27 13 Herm vis. II 2,6 12

288 Herm vis. II 4,2 Herm vis. II 4,3 Herm vis. III 6,2 Herm vis. III 9,7

Register 117 117–119 222f. 12f.

IgnEph 5,3 222f. IgnEph 13,1 222f. IgnEph 20,2 222 Justinus 1apol. 46,1 56 Johannes von Damaskos commentarii in epistulas Pauli zu Hebr 6,7 190 Origenes contra Celsum 2,4 51 contra Celsum 5,65 51 contra Celsum 6,29 51 Philon de decal. 67 214 quis div. Her. 182 30 fug. 137 183 leg.all. III 169 183 leg.all. III 174f. 183

Philostratos vit.Ap. I 17 112, 114 Photios Fragmenta in epistulam ad Hebraeos, p. 645,26–34 186 Platonos, symp. 189 C 113, symp. 189 D 112f. Polybios XII 12,2 187 M. Fabius Quintilianus inst.orat. IV 3,11–17 142 inst.orat. IV 3,13 66 inst.orat. VIII 6,67 160 L. Annaeus Seneca ep. [IV] 33,9 112, 114f. Tertullianus apol. 21,1 51, 56 apol. 21,2 51 Xenophonos, cyr. III 3,34 112, cyr. III 3,35 112f.