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German Pages [296] Year 2014
Beihefte zur Zeitschrift für Geschichtsdidaktik Herausgegeben im Auftrag der Konferenz für Geschichtsdidaktik vom Vorstand
Band 8 Herausgegeben vom Vorstand der Konferenz für Geschichtsdidaktik: Michael Sauer, Charlotte Bühl-Gramer, Anke John, Astrid Schwabe und Alfons Kenkmann
Christian Spieß
Quellenarbeit im Geschichtsunterricht Die empirische Rekonstruktion von Kompetenzerwerb im Umgang mit Quellen
Mit 18 Abbildungen
V& R unipress
Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar. ISBN 978-3-8471-0301-1 ISBN 978-3-8470-0301-4 (E-Book) Gedruckt mit freundlicher Unterstützung der Graduiertenschule für Geisteswissenschaften Göttingen und der Konferenz für Geschichtsdidaktik. Ó 2014, V& R unipress in Göttingen / www.vr-unipress.de Alle Rechte vorbehalten. Das Werk und seine Teile sind urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung in anderen als den gesetzlich zugelassenen Fällen bedarf der vorherigen schriftlichen Einwilligung des Verlages. Printed in Germany. Druck und Bindung: CPI buchbuecher.de GmbH, Birkach Gedruckt auf alterungsbeständigem Papier.
Meinen Eltern
Inhalt
Vorwort . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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1. Einleitung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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2. Quellen – Definition und geschichtstheoretische Aspekte . 2.1 Definitionen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2.2 Quelle und Darstellung . . . . . . . . . . . . . . . . . 2.3 Quellen im historischen Erkenntnisprozess . . . . . . 2.4 Quellen und Konstruktivismus . . . . . . . . . . . . 2.5 Zusammenfassung . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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3. Das Quellenparadigma des deutschen Geschichtsunterrichts . . . 3.1 Quellen und die Neuformierung der Geschichtsdidaktik . . 3.1.1 Geschichtserzählung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3.1.2 »Ad fontes« . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3.1.3 Ausblick . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3.2 Quellen im Schulbuch . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3.2.1 »Fragen an die Geschichte« . . . . . . . . . . . . . . . 3.2.2 »Menschen in ihrer Zeit« . . . . . . . . . . . . . . . . . 3.2.3 »Geschichtliche Weltkunde« . . . . . . . . . . . . . . . 3.2.4 Zusammenfassung und Ausblick . . . . . . . . . . . . 3.3 Quellen in den Kompetenzmodellen für das Fach Geschichte 3.3.1 Kompetenzbegriff . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3.3.2 Geltungsanspruch . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3.3.3 Eigenlogik der Modelle . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3.3.4 Kompetenzen im Umgang mit Quellen . . . . . . . . . 3.3.5 Abstraktionsniveau . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3.3.6 Zusammenfassung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3.4 Quellen in normativen Vorgaben . . . . . . . . . . . . . . . 3.4.1 Kerncurriculum Geschichte, Sek. I (Niedersachsen) . .
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Inhalt
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4. Quellen in der Empirie – Forschungsstand . . . . . . . . . . . . . . .
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5. Fragestellung und Erkenntnisinteresse . . . . . . . . . . . . . . . . .
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3.4.2 Kerncurriculum Geschichte, Sek. II (Niedersachsen) 3.4.3 Lehrplan Geschichte, Hessen . . . . . . . . . . . . . . 3.4.4 Weitere Vorgaben: Berlin und Hamburg . . . . . . . 3.4.5 Einheitliche Prüfungsanforderungen Abitur (EPA) . . 3.4.6 Zusammenfassung . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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6. Gefilmter Geschichtsunterricht – Methodik und metatheoretische Rahmung des Gegenstands . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 6.1 Unterricht als soziale Praxis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 6.2 Kompetenzerwerb . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 6.3 Dokumentarische Methode . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 6.4 Dokumentarische Unterrichtsforschung . . . . . . . . . . . . . 6.4.1 Interaktionsmedien . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 6.4.2 Interaktionsebenen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 6.4.3 Komplexität von Unterricht und Potenzial der dokumentarischen Methode . . . . . . . . . . . . . . . . . 6.5 Durchführung der Datenerhebung . . . . . . . . . . . . . . . . 6.5.1 Vorgaben für die Lehrenden . . . . . . . . . . . . . . . . . 6.5.2 Rekrutierung von Lerngruppen . . . . . . . . . . . . . . . 6.5.3 Verfahren vor Ort . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 6.5.4 Video- und Audioaufnahmen . . . . . . . . . . . . . . . . 6.5.5 Invasivität . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 6.6 Auswertung des empirischen Materials – Interpretationsschritte 6.6.1 Transkriptionen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 6.6.2 Auswahl der Sequenzen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 6.6.3 Formulierende Interpretation . . . . . . . . . . . . . . . . 6.6.4 Reflektierende Interpretation . . . . . . . . . . . . . . . . 6.6.5 Typenbildung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 6.7 Reflexion des Vorgehens . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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7. Quelleneinsatz im Sample – Überblick 7.1 Quellenarten und -gattungen . . 7.2 Unterrichtsformen und -phasen . 7.3 Begrifflichkeiten . . . . . . . . . 7.4 Begriffliche Unschärfe . . . . . .
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Inhalt
8. Historische Kompetenzen im Umgang mit Quellen – empirische Befunde . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 8.1 Quellenkritik und ihre Funktion . . . . . . . . . . . . . . . . 8.1.1 Quellenkritik als Erledigung einer Aufgabe . . . . . . . 8.1.2 Quellenkritik als Form der Kontextualisierung . . . . . 8.1.3 Zusammenfassung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 8.2 Perspektiven und Perspektivität . . . . . . . . . . . . . . . . 8.2.1 Perspektivenaneignung . . . . . . . . . . . . . . . . . . 8.2.2 Perspektivenreduktion . . . . . . . . . . . . . . . . . . 8.2.3 Perspektivenreflexion . . . . . . . . . . . . . . . . . . 8.2.4 Zusammenfassung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 8.3 Quellen und ihre Beziehungen zur Vergangenheit . . . . . . 8.3.1 Quellen als Abbilder historischer Wahrheit . . . . . . . 8.3.2 Subjektive Quellen oder : Quellen, die lügen . . . . . . 8.3.3 Quellen als Indizien oder die Grenzen historischen Wissens . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 8.3.4 Zusammenfassung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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11. Literaturverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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12. Anhang . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 12.1 Überblick über das Sample . . . . . . . . . . . . . . 12.2 Glossar zur dokumentarischen Unterrichtsforschung 12.3 Transkriptionssystem . . . . . . . . . . . . . . . . . 12.4 Unterrichtsmaterialien und -produkte . . . . . . . .
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9. Kompetenzerwerb in spezifischen Lehr-/Lernarrangements . . . 9.1 Unterrichtsgestaltung und Schülerverhalten . . . . . . . . . 9.2 Fragend-entwickelnder Unterricht und historische Kompetenzen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 9.3 Was man sagt und was man tut – habitualisierte Praxis und Unterrichtskommunikation . . . . . . . . . . . . . . . . . . 10. Diskussion . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 10.1 Limitationen der Studie . . . . . . . . . . . . . . . 10.2 Implikationen für den Umgang mit Quellen im Geschichtsunterricht . . . . . . . . . . . . . . . . . 10.3 Implikationen für weitere (Kompetenz-)Forschung 10.4 Ausblick . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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Vorwort
Die Zeit meiner Promotion wurde vom Anfang bis zu ihrem Ende von zahlreichen Menschen begleitet, erträglich gemacht und ermöglicht. Bei ihnen möchte ich mich an dieser Stelle herzlich bedanken. Zuallererst gilt mein Dank den vielen Schülerinnen und Schülern, ihren Eltern sowie allen Lehrerinnen und Lehrern, die an meiner Studie teilgenommen und sie damit ermöglicht haben. Des Weiteren möchte ich mich bei der Deutschen Forschungsgemeinschaft (DFG) für die großzügige Förderung im Rahmen des Graduiertenkollegs 1195 »Passungsverhältnisse schulischen Lernens« bedanken, ohne die diese Arbeit nicht zustande gekommen wäre. Ferner gilt mein Dank der Graduiertenschule für Geisteswissenschaften Göttingen (GSGG), die den Abschluss der Promotion sowie ihren Druck finanziell unterstützt hat. Einen Teil der Druckkosten übernahm außerdem die Konferenz für Geschichtsdidaktik (KGD), der ich an dieser Stelle ebenfalls danken möchte. Ein besonderer Dank geht an Prof. Dr. Michael Sauer und Prof. Dr. Barbara Asbrand, die meine Arbeit in den vergangenen Jahren betreut und mit konstruktiver Kritik, Rat und Tat maßgeblich zu ihrem Gelingen beigetragen haben. Michael Sauer danke ich insbesondere für seine ständige Erreichbarkeit sowie für die fachlichen Diskussionen und stets pragmatischen Ratschläge. Barbara Asbrand danke ich für die methodische Unterstützung, ihre Bereitschaft, sich mit meiner Forschungsfrage auseinanderzusetzen und die Organisation ihrer Forschungswerkstätten. Bei deren Teilnehmerinnen und Teilnehmern Matthias Martens, Lydia Wettstädt, Dorthe Petersen, Nina Heller, Susanne Krogull, Susanne Timm, Sigrid Zeitler und Anja Hackbarth möchte ich mich für die zahlreichen konstruktiven, kritischen, stets fairen und angenehmen Diskussionen bedanken. Ferner danke ich Inga Kahlcke und Melanie Hacker, die Teile der Erhebung tatkräftig begleiteten und Quelleninterpretationen beisteuerten, sowie Susanne Thierolf-Becirevic für die sorgfältige Korrektur des Manuskripts. I would also like to thank Peter Seixas, Su Thompson and Lindsay Gibson for helping me make the most of my stay at the Centre for the Study of Historical
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Vorwort
Consciousness at the University of British Columbia, Vancouver. I’m hoping to see you again soon. Für Musik, Freigetränke und Ablenkung gilt mein Dank allen Kolleginnen und Kollegen im Nörgelbuff, die mich – oft ohne es zu wissen – ein ums andere Mal auf den Boden der Tatsachen zurückgeholt haben. Zu guter Letzt danke ich Sarah, meinen Eltern sowie Christa und Günter Pape.
1.
Einleitung
Der Einsatz von Quellen im Geschichtsunterricht gehört zu den wenigen fast völlig unumstrittenen Grundprinzipien schulischer Geschichtsvermittlung in Deutschland. Dass Schülerinnen und Schüler im Unterricht mit den Zeugnissen vergangener Zeiten arbeiten, stellt über verschiedene geschichtsdidaktische »Schulen« und unterschiedliche Kompetenzmodelle hinweg eine Konsens dar, der nicht zuletzt auf einer gemeinsamen geschichtstheoretischen Grundlage moderat konstruktivistischer Prägung fußt. Dennoch gilt Unterricht auf der Grundlage von Quellen als ein spezifisch deutsches – bzw. vor 1989 als westdeutsches – Phänomen, da Geschichtsunterricht in (West-)Deutschland zumindest vom Anspruch her grundsätzlich diskursiver angelegt ist als anderswo. Er hat – jedenfalls vom Anspruch her – in nationaler Hinsicht keine allzu identitätsprägende Funktion wie beispielsweise in den USA und soll weniger der Vermittlung von »master narratives« dienen. Vor dem Hintergrund der Kompetenzorientierung als wichtigstem bildungspolitischen Paradigmenwechsel der letzten Jahre untersucht diese Arbeit den situativen Umgang mit Quellen im alltäglichen Geschichtsunterricht und stellt die Frage, welche Kompetenzen Schülerinnen und Schüler im Umgang mit Quellen zeigen. Um dieser Frage nachzugehen, soll zunächst das sogenannte Quellenparadigma näher erläutert werden. Anschließend wird der methodologische Zugang der Arbeit vorgestellt. Es folgen ein Überblick über das Sample der Studie und drei Typologien, die den Umgang der Schülerinnen und Schüler sowie der Lehrkräfte mit Quellen auf der Grundlage des empirischen Materials beschreiben. Anschließend werden diese Befunde unter Berücksichtigung der Beschaffenheit des Samples vor dem Hintergrund der normativen Erwartungen diskutiert und unter verschiedenen Gesichtspunkten vertieft. Die Arbeit versteht sich als ein Beitrag zur Grundlagenforschung zum historischen Lernen in der Schule, dessen Beobachtung losgelöst von den hohen normativen Zielen nach wie vor ein Forschungsdesiderat darstellt. Ziel der Studie ist es deswegen nicht, die beiden der Studie zugrundeliegenden Paradigmen – Quellenarbeit und Kompetenzorientierung – zu entzaubern, sondern
14
Einleitung
letztlich zu einem besseren Verständnis historischer Lernprozesse in der Schule vor dem Hintergrund von Quellenunterricht und Kompetenzorientierung zu gelangen.
2.
Quellen – Definition und geschichtstheoretische Aspekte
Im Folgenden soll die heutige Verwendung des Begriffs »Quelle« geschichtstheoretisch und geschichtsdidaktisch verortet werden. Dabei wird zugunsten einer stärkeren Bezugnahme auf aktuelle Debatten auf eine fundierte Historisierung des Begriffs verzichtet.1 Ziel ist in erster Line, zu Arbeitsdefinitionen als Grundlage für weitere Überlegungen zu gelangen. Dabei gilt es zu bedenken, dass diese nicht dazu dienen, die empirische Untersuchung in Form eines normativen Rasters vorzustrukturieren. Es geht vielmehr darum, den Untersuchungsgegenstand bzw. seinen innerhalb der Disziplin institutionalisierten Kontext zu schärfen. Bedeutung haben die so zugrunde gelegten Definitionen für die weiteren theoretischen Kapitel, in denen es um die mit Quellenarbeit verbundenen normativen Aspekte, d. h. die Ansprüche, Erwartungen und Hoffnungen gehen soll, die an die Verwendung historischer Quellen im Unterricht von Seiten der Fachdidaktik geknüpft werden.
2.1
Definitionen
Als Quelle wird grundsätzlich all das bezeichnet, was die Vergangenheit bis heute in Form von Texten, Bildern und Gegenständen überdauert hat.2 Gerne wurde in der didaktischen Literatur auf die Definition von Paul Kirn verwiesen,3 wonach als Quellen »alle Texte, Gegenstände oder Tatsachen [bezeichnet wer1 Vgl. Maria Blochmann: Zur Geschichte der Arbeit mit schriftlichen historischen Quellen im Geschichtsunterricht 1800 – 1933. Dortmund 1978 sowie Hans-Jürgen Pandel: Quelleninterpretation. Die schriftliche Quelle im Geschichtsunterricht. Schwalbach/Ts., S. 7 – 12 sowie zur Geschichte des Quelleneinsatzes in der Schule S. 74 – 93. 2 Vgl. Hans-Jürgen Pandel: Quellenarbeit, Quelleninterpretation. In: Klaus Bergmann u. a. (Hrsg.): Handbuch der Geschichtsdidaktik, 5. Aufl. Seelze-Velber 1997, S. 430 – 443, S. 430. 3 Siehe z. B. Gerhard Schneider : Zur Geschichte der Quellenbenutzung im Geschichtsunterricht. In: Ders. (Hrsg.): Die Quelle im Geschichtsunterricht. Beiträge aus Theorie und Praxis on Wolfgang Schlegel, Gerhard Schneider, Lothar Steinbach, Uwe Uffelmann. Donauwörth 1975, S. 9 – 58, S. 11. Vgl. auch Pandel: Die schriftliche Quelle im Geschichtsunterricht, S. 10.
16
Quellen – Definition und geschichtstheoretische Aspekte
den], aus denen Kenntnis über die Vergangenheit gewonnen werden kann«.4 Kirn erläutert dabei, dass er unter »Tatsachen« z. B. die »die heutige Verbreitung des niedersächsischen Bauernhauses«5 versteht. Der Mehrwert dieser Definition wurde dabei vor allem in dem Umstand gesehen, dass sie im Gegensatz zu älteren Definitionen alle Quellenkategorien einschloss.6 Hans-Jürgen Pandel weist allerdings darauf hin, dass auch Kirns Definition unzulänglich sei, da nach ihr auch ein heutiger Zeitungsartikel eine Quelle sei, sofern er in irgendeiner Form über die Vergangenheit berichte. Er schlägt daher eine Erweiterung der Definition vor : »Quellen sind Objektivationen und Materialisierungen vergangenen menschlichen Handelns und Leidens. Sie sind in der Vergangenheit entstanden und liegen einer ihr nachfolgenden Gegenwart vor.«7 Ausgehend von dieser, aber auch den meisten älteren Definitionen lassen sich Quellen bestimmten Kategorien zuordnen. So ist die Unterteilung in »Tradition« und »Überrest« gängig, wenn es darum geht, eine im Material erkennbare Intention der Überlieferung in den Vordergrund zu stellen bzw. zu betonen, dass eine Quelle – z. B. ein Artefakt – rein zufällig die Zeit überdauert hat und eben nicht mit der Absicht angefertigt wurde, der Nachwelt von einer bestimmten Vergangenheit zu berichten.8 Des Weiteren werden gemeinhin normative Quellen von deskriptiven Quellen unterschieden: Während normative Quellen Informationen darüber enthalten, wie die Dinge sein sollen – z. B. Gesetzestexte oder Verträge –, vermitteln uns deskriptive Quellen Beschreibungen vergangener Wirklichkeiten von spezifischen historischen Standorten aus bzw. aus entsprechenden Perspektiven.9
4 Paul Kirn: Einführung in die Geschichtswissenschaft. Berlin 1947, S. 13. 5 Ebd. 6 Als ältere, wirkungsmächtige Definitionen seien an dieser Stelle die Unterscheidung von Überresten, Quellen und Denkmälern nach Johann Gustav Droysen (Johann Gustav Droysen: Historik. Bd. 1: Rekonstruktion der ersten vollständigen Vorlesungen (1857). Grundriß der Historik in der ersten handschriftlichen (1857/58) und in der letzten gedruckten Fassung (1882). Textausgabe von Peter Leyh. Stuttgart 1977, S. 89 – 90) und Ernst Bernheims Definition genannt, nach der Quellen »Resultate menschlicher Betätigungen« sind, die u. a. »zum Nachweis geschichtlicher Tatsachen« herangezogen werden. (Ernst Bernheim: Lehrbuch der historischen Methode und der Geschichtsphilosophie. Mit Nachweis der wichtigsten Quellen und Hilfsmittel zum Studium der Geschichte, fünfte und sechste, neu bearbeitete und vermehrte Auflage. Leipzig 1908 (Neuauflage New York 1960, S. 252). 7 Vgl. Pandel: Die schriftliche Quelle im Geschichtsunterricht, S.11. 8 Diese Differenzierung geht zurück auf Bernheim; schon Kirn weist allerdings darauf hin, dass diese Einteilung je nach Fragestellung hinfällig werden kann: Vgl. Kirn: Einführung in die Geschichtswissenschaft, S. 29. 9 Für weitere Quellengattungen und deren didaktisches Potenzial sei hier auf Hans-Jürgen Pandel (s. Anm. 7) sowie Michael Sauer : Geschichte unterrichten. Eine Einführung in die Didaktik und Methodik, 7. aktualisierte und erweiterte Auflage. Seelze-Velber 2008, S.109 – 120 verwiesen.
Definitionen
17
Eine weitere, in der didaktischen Literatur mittlerweile seltener zu findende Differenzierung stellt die »Primärquelle« der »Sekundärquelle« gegenüber : »Primäre Quellen sind […] solche, die noch nicht den Filter der Überlieferungsund Deutungsabsichten passiert haben, also die fraglichen historischen Sachverhalte unvermittelter, oft auch naiver zum Ausdruck bringen.«10 Sekundäre Quellen hingegen »beruhen nicht auf einer unmittelbaren Teilnahme an den dargestellten Vorgängen und Zuständen.«11 Für Verwirrung kann dieses in Verruf geratene, aber nach wie vor beliebte Begriffspaar12 u. a. deswegen sorgen, weil es geschichtstheoretisch anders verwendet wird: So können bestimmte (Primär-)Quellen nicht bzw. nicht mehr im Original vorliegen, sondern lediglich sinngemäß in anderen, späteren (Sekundär-)Quellen wiedergegeben oder zitiert werden. Ohne Sekundärquelle ist es also – dieser Definition folgend – überhaupt nicht möglich, von einer »Primärquelle« zu sprechen, da auf deren Existenz ohne die Sekundärquelle von Vornherein nicht hätte geschlossen werden können.13 Wenngleich diese Definitionsansätze relativ klare Kriterien für den Begriff Quelle implizieren – nämlich insbesondere eine zeitliche Nähe der Quelle zum historischen Ereignis –, ist es im Rahmen des historischen Erkenntnisprozesses oftmals nicht einfach zu bestimmen, was eine Quelle ist und was nicht. Ausschlaggebend dafür ist letzten Endes einzig die Verwendung bzw. die Art der Fragestellung. So argumentiert Robin G. Collingwood, dass in der Geschichtswissenschaft alles als Quelle bezeichnet werden kann, was entsprechend genutzt wird. Texte, Bilder und Objekte werden durch die Fragestellung eines Betrach10 Joachim Rohlfes: Geschichte und ihre Didaktik. Göttingen 1986, S. 80. 11 Ebd. Rohlfes gesteht zu, dass diese Einteilung »nicht völlig stichhaltig« sei und es auch hier »fließende Übergänge« gebe. (Ebd.) 12 Vgl. Bernd Schönemann/Holger Thünemann/Meik Zülsdorf-Kersting: Was können Abiturienten? Zugleich ein Beitrag zur Debatte über Kompetenzen und Standards im Fach Geschichte. Berlin 2010. Im Zuge der Evaluation des nordrhein-westfälischen Zentralabiturs konstatieren die Autoren ein Durcheinander von »sinnwidrigen Begriffskonstruktionen (von der Sekundärquelle bis zur Primärliteratur)« (S. 123) und empfehlen eine trennscharfe Verwendung der Begriffe »Quelle« und »Darstellung«. In den Erwartungshorizonten findet sich ebenfalls der Begriff »Sekundärliteratur« (S. 137). Pandel polemisiert: »Ein Ende des Unsinns, der bis heute mit dem Begriff der Sekundärquelle getrieben wird, ist noch nicht abzusehen.« (Pandel: Die schriftliche Quelle im Geschichtsunterricht, S. 5.) 13 Vgl. Stefan Jordan: Einführung in das Geschichtsstudium. Stuttgart 2005, S. 55 – 57 sowie Henri-Ir¦n¦e Marrou: Über die historische Erkenntnis: Welches ist der richtige Gebrauch der Vernunft, wenn sie sich historisch betätigt? Freiburg/München 1973, S. 85. Sekundärquellen sind indes nicht mit Sekundärliteratur zu verwechseln, siehe Jordan: Einführung in das Geschichtsstudium, S. 58. An dieser Stelle sei auf die abweichende Verwendung der Begriffe »primary source« und »secondary source« in Nordamerika hingewiesen, die erkenntnistheoretisch der Einteilung in »Quelle« und »Darstellung« entsprechen. Vgl. Alun Munslow : The Routledge Companion to Historical Studies. London/New York 2000, S. 92 sowie Michael Stanford: An Introduction to the Philosophy of History- Malden/Oxford 1998, S. 60 – 66.
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Quellen – Definition und geschichtstheoretische Aspekte
ters überhaupt erst zu Quellen.14 Im angloamerikanischen Sprachgebrauch wird dieser Umstand mit dem Begriff »historical evidence« oder »primary source evidence« zum Ausdruck gebracht: Historikerinnen und Historiker wählen bestimmte Quellen als Indizien oder Beweise (»evidence«), die eine bestimmte These unterstützen. Im Umkehrschluss bedeutet dies, dass nichts von sich aus eine Quelle ist: »In scientific history anything is evidence which is used as evidence, and no one can know what is going to be useful as evidence until he has had occasion to use it.«15
2.2
Quelle und Darstellung
Der Bedeutsamkeit der Fragestellung mit Blick auf die Kategorisierung von Texten, Bildern und Gegenständen wird in der Unterscheidung zwischen Quellen und Darstellungen von Geschichte augenfällig. Dabei handelt es sich um eine grundlegende Differenzierung, die »für jede historische Arbeit von fundamentaler Bedeutung«16 ist, da sie das Verhältnis zwischen Vergangenheit und Geschichte in den Blick nimmt.17 Die Kategorie Quelle ist als solche nicht exklusiv oder an bestimmte feststehende Kriterien (z. B. Entstehungszeit) gebunden. Vielmehr entscheidet allein die Perspektive des Betrachters bzw. die Art der Fragestellung, ob es sich beispielsweise bei einem Text um eine Quelle oder eine Darstellung handelt. Von Darstellungen von Geschichte kann hingegen nur die Rede sein, wenn Einigkeit darüber besteht, dass ihr Gegenstand ein historischer ist. Dies ist insbesondere bei Texten der Fall, die den Anspruch erheben, Geschichte zu vermitteln. Jenseits der Texte haben Historiengemälde den Charakter einer Darstellung, da sie historische Ereignisse im Medium des Bildes zeitgenössisch deuten. Freilich sind gerade Historiengemälde in Bezug auf das dargestellte Ereignis mit Vorsicht zu genießen. Ein Gemälde aus dem 19. Jahrhundert, das den Gang Heinrichs IV. nach Canossa zeigt, verrät – dann ent14 Joachim Rohlfes argumentiert in diese Richtung, wenn er vorschlägt, »Quellen seien das, was der Historiker dazu mache.« (Joachim Rohlfes: Geschichte und ihre Didaktik, S. 79). 15 Robin G. Collingwood: The Idea of History. Oxford/New York 1994, S. 278 – 282. Collingwood stellt »evidence« den »sources« gegenüber. Während er »sources« allgemein als Bücher historischen Inhalts definiert, mit denen sich nur »scissors-and-paste historians« zufriedengeben würden, bestehe die Kunst der »scientific historians« in der Verwendung von »evidence«, d. h. allem, was sich im Erkenntnisprozess für eine bestimmte Fragestellung nutzbar machen lasse. 16 Waldemar Grosch: Schriftliche Quellen und Darstellungen. In: Hilke Günther-Arndt: Geschichtsdidaktik. Praxishandbuch für die Sekundarstufe I und II. Berlin 2003, S. 63 – 91, S. 63. 17 Vgl. Matthias Martens: Implizites Wissen und kompetentes Handeln. Die empirische Rekonstruktion von Kompetenzen historischen Verstehens im Umgang mit Darstellungen von Geschichte. Göttingen 2010, S. 59.
Quellen im historischen Erkenntnisprozess
19
sprechend als Quelle gelesen – viel mehr über die Zeit, in der es entstand, als über Heinrich IV. und Gregor VII. Darstellungen können also je nach Fragestellung zu Quellen werden. So lässt sich ein 1970 erschienener Aufsatz eines amerikanischen Historikers über die Verbrechen des Stalinismus sowohl als Quelle als auch als Darstellung lesen. Liegt es im Interesse des Betrachters, dem Text in erster Linie Informationen über den Stalinismus zu entnehmen, so würde man ihn als Darstellung lesen. Betrachtet man den Text unter der Fragestellung, wie ein amerikanischer Text zur Zeit des Kalten Krieges die Geschichte der Sowjetunion beschreibt, so würde man ihn als Quelle bezeichnen. In diesem Fall wären dann weniger die beschriebenen Daten und Fakten interessant, als vielmehr im Besonderen die Perspektive des Textes und was er uns über seinen Autor und dessen historischen Standort verraten kann. Während ältere Definitionen also »feste« Kriterien für den Begriff »Quelle« suggerieren – vor allem das Entstehungsdatum bzw. die »Nähe« der Quelle zum Ereignis – und sich der Begriff in erster Linie auf Texte bezog, gilt mittlerweile die Fragestellung als ausschlaggebend. Die entsprechende Definition, nach der alles eine Quelle ist, was entsprechend genutzt wird, hat praxeologische Züge, da damit der Nutzung von Quellen durch Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler Rechnung getragen wird und die erkenntnistheoretischen Operationen der Disziplin in den Vordergrund rücken.
2.3
Quellen im historischen Erkenntnisprozess
Quellen bilden für Historikerinnen und Historiker die Grundlage des Zugriffs auf die Vergangenheit, deren punktuelle Rekonstruktion der Anspruch einer jeden historischen Untersuchung ist. Dabei ist zu bedenken, dass sich jene Vergangenheit ausschließlich über das Medium der von ihr hinterlassenen Spuren greifen lässt – die dadurch zu Quellen werden.18 Objektive Tatsachen sind diese Spuren nicht, denn die Quellen konfrontieren uns vielmehr mit Auffassungen, Interpretationen und Repräsentationen solcher Tatsachen oder Wirklichkeiten.19 Diese Einsicht stammt aus dem 19. Jahrhundert, hat sich aber – wie auch die Arbeitstechniken, die mit ihr einhergingen – bis heute nicht grundlegend gewandelt. Ihre Wurzeln liegen im Historismus und der zunehmenden Verwissenschaftlichung der Historiographie. Der neue Anspruch auf historische Wahrheit, der auf die Aufklärung zurückging und sich von früheren, erzählerischen Geschichtsschreibungen abzugrenzen versuchte, beinhaltete, dass Historiographie nunmehr auf der Grundlage von Quellen und deren systematischer 18 Vgl. Marrou: Über die historische Erkenntnis, S. 83. 19 Vgl. Droysen: Historik. Bd. 1, S. 89 f.
20
Quellen – Definition und geschichtstheoretische Aspekte
Auswertung betrieben werden müsse. Mit der Quellenkritik bildete sich jener Vorgang des Sichtens und Beurteilens des Aussagewertes einer Quelle heraus. Dabei wird der Quelle in ihrer Zeitlichkeit Rechnung getragen: sie wird historisiert.20 Zunächst steht dabei die Echtheit bzw. Authentizität der Quelle auf dem Prüfstand: Ist sie – in Bezug auf Autor, Datum und Entstehungszusammenhang – das, was sie zu sein vorgibt? Dabei ist ihr inhaltlicher Wahrheitsgehalt nicht ausschlaggebend, sondern nur das, was die Quelle über die historische Wirklichkeit, die sie beschreibt und von der sie ein Teil ist, sagen kann.21 Die erkenntnistheoretische Funktion der Quellenkritik ist es, die Einschränkungen, die sich aus der Standortgebundenheit der Quelle ergeben, geltend zu machen und zu verwertbaren, quasi-objektiven Informationen zu gelangen, die sich im Rahmen eines historischen Erkenntnisprozesses für eine spezifische Fragestellung nutzbar machen lassen. Dies beinhaltet die Herleitung von Fragen, die die Quelle oder der Quellenbestand vernünftigerweise beantworten kann. Da an einen Quellenbestand theoretisch unendlich viele Fragen gerichtet werden können, halten Quellen prinzipiell auch unendlich viele Antworten bereit.22
2.4
Quellen und Konstruktivismus
Der Möglichkeit, vergangene Realität(en) zu beschreiben, sind also prinzipiell Grenzen gesetzt, zumal zur Standortgebundenheit der Quellen zwangsläufig die ihres Betrachters tritt, der mit Blick auf ein bestimmtes (Forschungs-)Interesse bestimmte Quellen auswählt und wiederum bestimmte Fragen an sie richtet.23 »Ändern sich Ort und Zeit und Person, so entstehen neue Werke, auch wenn sie von demselben Gegenstand handeln oder zu handeln scheinen.«24 So gesehen »waren Historiker im Grunde genommen schon immer ›Konstruktivisten‹«25, wenngleich der Anspruch der neuzeitlichen Forschenden, die Vergangenheit abzubilden, von unterschiedlichen Prämissen in Bezug auf die Reichweite ihrer Interpretationen gekennzeichnet war. Der noch zu Zeiten der Aufklärung propagierte Wahrheitsanspruch wich schnell einem Anspruch auf intersubjektive Vgl. Jordan: Einführung in das Geschichtsstudium, S. 42. Vgl. ebd. und Grosch: Schriftliche Quellen und Darstellungen, S. 63. Vgl. Marrou: Über die historische Erkenntnis, S. 89. Zur Heuristik der »Quellenjagd« vgl. ebd, S. 89 – 91. Reinhart Koselleck: Standortbindung und Zeitlichkeit. Ein Beitrag zur historiographischen Erschließung der geschichtlichen Welt. In: Ders./Wolfgang J. Mommsen/Jörn Rüsen (Hrsg.): Objektivität und Parteilichkeit in der Geschichtswissenschaft. München 1977, S. 17 – 46, S. 17. 25 Bärbel Völkel: »Was war, ist doch wahr, oder!?« Geschichte(n) im Spannungsfeld zwischen Positivismus und Konstruktivismus. In: GWU 60 (2009), H. 12, S. 720 – 733, S. 724.
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Quellen und Konstruktivismus
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Objektivität,26 den man trotz aller zugestandener Subjektivität der Forschenden durch die methodische Verbindlichkeit der Quellenkritik und durch wissenschaftliche Zitationsweisen, Fußnoten und Literaturverzeichnisse einzulösen versuchte. Die Vertreter der Disziplin sollten nun die Möglichkeit haben, Deutungen nachzuverfolgen und zu überprüfen, und konnten auf der Grundlage derselben Quellen zu anderen Deutungen kommen.27 So war es im Historismus des 19. Jahrhunderts nicht mehr das Ziel zu zeigen, »wie es war«, sondern wie es »wahrscheinlich« oder »nach Erkenntnis des Forschers« war.28 Die trotz strenger methodischer Richtlinien eingeschränkte Reichweite historischer Interpretationen kann noch heute als stiller Konsens gelten, der freilich immer dann in den Hintergrund tritt, wenn es darum geht, der Öffentlichkeit eine »fertige« Geschichtsdarstellung vorzustellen.29 Ebenso wird in der Quellenkritik nach wie vor ein »jederzeit kommunizierbar[es]«30 Instrument gesehen, das in der Lage ist, Subjektivismus und Relativismus zu überwinden: »Zugegeben also, daß wie jeder Mensch auch der Historiker einen Standpunkt haben muß: grundsätzlich erschließt sich ihm kraft seiner Quellenkritik im Medium des Verstehens das Ganze der geschichtlichen Welt.«31 Wenngleich eine Art pragmatischer Realismus in Bezug auf die Reichweite historischer Deutungen besteht, bedeutet dies nicht, dass diese Vorstellungen unanfechtbar geblieben wären. So wurde im Zuge des »linguistic turn« zunehmend auf das kritische Verhältnis zwischen dem Gegenstand historischer Forschung und seiner sprachlichen Repräsentation hingewiesen. Die in ihrer Radikalität unterschiedlichen Einschätzungen werden gemeinhin unter dem Begriff »Konstruktivismus« subsumiert und gründen auf der Einsicht, dass Geschichte als Geschichtsschreibung trotz striktester Verifizierungsprinzipien ausschließlich auf der Grundlage von Topoi, Ideologie und Narrationen als literarische Konstruktion denkbar ist.32 Dabei leugnen selbst radikale Konstruktivisten wie Hayden White nicht, dass es eine Geschichte als vergangene Gegenwart gegeben habe; jedoch weisen sie darauf hin, dass sich historische Realität selbst bei hervorragender Quellenlage nicht oder nur unzureichend abbilden lässt: Sprache sei eben kein neutrales Medium zur Vermittlung historischer Fakten, wenngleich ihr konventioneller Gebrauch im Kontext histo26 Vgl. Stefan Jordan: Geschichtstheorie in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts. Die Schwellenzeit zwischen Pragmatismus in Klassischem Historismus. Frankfurt am Main/New York 1999, S. 79 f. 27 Vgl. ebd. sowie Chris Lorenz: Konstruktion der Vergangenheit. Eine Einführung in die Geschichtstheorie. Köln u. a. 1997, S. 132. 28 Vgl. Jordan: Einführung in das Geschichtsstudium, S. 49. 29 Völkel: »Was war, ist doch wahr, oder!?«, S. 724. 30 Koselleck: Standortbindung und Zeitlichkeit, S. 18. 31 Ebd. 32 Vgl. Munslow : The Routledge Companion to Historical Studies, S. 55.
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rischer Narrationen eben diesen Umstand verschleiere.33 »Stories, like factual statements, are linguistic entities and belong to the order of discourse.«34 Es ist unklar, ob diese Feststellung für die Geschichtswissenschaft praktische Konsequenzen hatte oder wie diese Konsequenzen aussehen könnten.35 Sie relativiert allerdings die Bedeutung der Quellen im historischen Erkenntnisprozess insofern, als sie wie letztlich alle konstruktivistischen Strömungen die schöpferische Kraft der Historikerinnen und Historiker in der Vordergrund stellen. Nicht das, was in den Quellen steht, scheint hier ausschlaggebend, sondern die Art und Weise, wie Historikerinnen und Historiker die Quellen in ihre Narrative einflechten, Ereignisse verknüpfen, mit einem Sinn versehen und vor dem geistigen Auge ihrer Leserschaft ein Bild der Vergangenheit entstehen lassen.36 Allerdings – und in diesem Punkt unterscheiden sich fiktionale Narrationen von historischen Darstellungen – verhindert das »Vetorecht« der Quellen,37 dass Historiker ungestraft Aussagen über die Vergangenheit tätigen, die sich mit Quellen widerlegen lassen: »Negativ bleibt der Historiker den Zeugnissen vergangener Wirklichkeit verpflichtet. Positiv nähert er sich, wenn er ein Ereignis deutend aus den Quellen herauspräpariert, jenem literarischen Geschichtenerzähler, der ebenfalls der Fiktion des Faktischen huldigen mag, wenn er seine Geschichte dadurch glaubwürdig machen will.«38
33 Vgl. Hayden White: Historical Emplotment and the Problem of Truth. In: Keith Jenkins (Hrsg.): The Postmodern History Reader. London/New York 1997, S. 392 – 396. White weist darauf hin, dass die im Gegensatz zu den Sozialwissenschaften die nicht technische, sondern natürliche, konventionelle Sprache der Geschichtsdarstellungen diesen Umstand weniger offensichtlich mache. 34 Ebd., S. 392. White sieht keinen prinzipiellen Unterschied zwischen Geschichtsdarstellungen und fiktionalen Erzählungen, die Historisches zum Gegenstand haben, da sie seiner Ansicht nach denselben Konstruktionsprinzipien unterliegen. 35 Vielmehr überwog die zum Teil harsche Kritik durch gestandene Vertreter der Disziplin, wie z. B. Hans-Ulrich Wehler. Vgl. Hans-Jürgen Goertz: Unsichere Geschichte. Stuttgart 2001, S. 11 f. 36 Vgl. Alun Munslow : The Routledge Companion to Historical Studies, S. 94: »[T]his places evidence in a secondary position in the history production process.« Zur sinnstiftenden Funktion der Historikerinnen und Historiker siehe auch Jörg Baberowski: Der Sinn der Geschichte. Geschichtstheorien von Hegel bis Foucault. München 2005, S. 206 f. 37 Vgl. Koselleck: Standortbindung und Zeitlichkeit, S. 45 f. 38 Reinhart Koselleck: Vergangene Zukunft. Zur Semantik geschichtlicher Zeiten, 4. Aufl. Frankfurt am Main 2000, S. 153.
Zusammenfassung
2.5
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Zusammenfassung
Da der Gegenstand historischen Interesses als solcher bereits vergangen ist, bieten uns seine Spuren im Jetzt die einzige Möglichkeit, begründete Aussagen über ihn zu treffen. Diese Spuren, egal ob es sich dabei um Texte, (bewegte) Bilder oder Gegenstände handelt und egal ob diese mit Absicht der Nachwelt hinterlassen wurden oder nicht, werden Quellen genannt. Der Begriff impliziert, dass Quellen im Erkenntnisprozess auch entsprechend genutzt werden. Das bedeutet spätestens seit dem 19. Jahrhundert, dass sie einer kritischen Prüfung – der Quellenkritik – unterzogen werden, um zu bestimmen, welchen Wert sie für welche Fragestellungen haben oder welche Fragen an die Quelle überhaupt sinnvoll sind und von der Quelle beantwortet werden können. Auf der Grundlage der Quellen treffen Historikerinnen und Historiker Aussagen über vergangene Geschehnisse, Verhältnisse, Personen etc., die sie in Geschichtsdarstellungen narrativ verarbeiten. Dabei besteht die »Souveränität des Historikers nicht in der vollständigen Erschließung vergangener Kontexte, sondern in seinem Umgang mit den Quellen, in seinem Vermögen zu entscheiden, was erzählt werden soll und was nicht.«39 So entsteht aus dem Versuch, die Vergangenheit aus den Quellen zu rekonstruieren, Geschichte als Konstrukt. Dass es Geschichte nur in dieser Form – als Konstrukt – geben kann, liegt nicht nur an ihrem nicht mehr vorhandenen Gegenstand, sondern auch daran, dass Geschichtsschreibung nur im Medium der Sprache, als konstruierte Narration, vermittelt werden kann. Warum gerade letzterer Aspekt in der Regel ausgeblendet wird, beschreibt F.A. Anskersmit im Rückgriff auf die Geschichte der Disziplin und ihre prinzipiell unveränderten epistemologischen Grundlagen: »In short, the latent and often subconscious resistance to the language/reality dichotomy which historians have always displayed in fact had its origin in the unconsidered but nevertheless correct insight of historians into the fundamentally postmodernist nature of their discipline.«40 Wenngleich die mehr oder weniger konstruktivistischen Grundprinzipien der Disziplin zwangsläufig Unschärfen und Unsicherheiten mit sich bringen, kann eine Annäherung an die Welt – und damit auch an die vergangene Welt – nur erfolgen, wenn ihre Konstruiertheit ausgeblendet wird. Wir leben in dem Bewusstsein, dass die Dinge so und nicht anders sind bzw. früher so und nicht anders waren, bis diese Sicherheit durch Fragen, neue Informationen, Erfahrungen oder sonstige Verwerfungen vorübergehend zerstört wird und unsere Vorstellungen neu geordnet werden. In diesen krisenhaften Momenten scheint 39 Baberowski: Der Sinn der Geschichte, S. 209. 40 Frank A. Ankersmit: Historiography and Postmodernism. In: Keith Jenkins (Hrsg.): The Postmodern History Reader. London/New York 1997, S. 284.
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Quellen – Definition und geschichtstheoretische Aspekte
die Konstruiertheit der Welt auf, während sie ansonsten einem lebenswichtigen pragmatischen Positivismus weicht.41 Diese Einschränkung ist bedeutsam, da sie schulisches Handeln in gewisser Weise relativiert: Es wäre unrealistisch zu erwarten – und darüber hinaus wohl auch nicht wünschenswert –, dass Geschichtsunterricht nur die Grenzen seiner Aussagen in den Vordergrund stellen würde. Mit anderen Worten bedeutet ein konsequent moderat konstruktivistischer Geschichtsunterricht nicht, dass permanent auf die Unschärfe und Unsicherheiten der Erkenntnis verwiesen wird. Er müsste vielmehr auf der prinzipiellen Vorläufigkeit historischer Aussagen und den Grundlagen der Disziplin aufbauen und Möglichkeiten lassen, bestimmte Deutungen durch neue zu ersetzen bzw. zu ergänzen.
41 Vgl. Völkel: »Was war, ist doch wahr, oder!?«, S. 723.
3.
Das Quellenparadigma des deutschen Geschichtsunterrichts
Die Vorstellung, Schülerinnen und Schülern Geschichte auf der Grundlage historischer Quellen zu vermitteln,42 spiegelt sich in allen heute gebräuchlichen Schulbüchern, in Kompetenzmodellen und in den normativen Vorgaben für das Fach Geschichte wider. Das folgende Kapitel stellt einen Versuch dar, das sogenannte Quellenparadigma in seinen typischen Erscheinungsformen zu erläutern und ansatzweise disziplingeschichtlich zu verorten.
3.1
Quellen und die Neuformierung der Geschichtsdidaktik
Die Forderung, im Geschichtsunterricht Quellen einzusetzen, ist zwar kein Phänomen des 20. Jahrhunderts,43 sie geht in ihrer jetzigen Form jedoch entscheidend auf die Neuformierung der Geschichtsdidaktik als akademische Disziplin in den 1970er Jahren zurück. Vor dem Hintergrund neuer Impulse durch die Erziehungswissenschaften und einer aktuellen gesellschaftlichen Gegebenheiten angepassten Sicht auf die Institution Schule und ihre Ziele wurden auch die Inhalte und Vermittlungsstrategien des Fachs Geschichte hinterfragt.44
42 Der Abschnitt bezieht sich auf das vor 1990 ausschließlich westdeutsche Quellenparadigma. Im Geschichtsunterricht der DDR hatten Quellen eine affirmative Funktion und wurden entsprechend ausgewählt. Siehe dazu Pandel: Die schriftliche Quelle im Geschichtsunterricht, S. 88 f. 43 Vgl. Schneider; Zur Geschichte der Quellenbenutzung im Geschichtsunterricht sowie Blochmann: Zur Geschichte der Arbeit mit schriftlichen historischen Quellen im Geschichtsunterricht. 44 Vgl. Karin Herbst: Didaktik des Geschichtsunterrichts zwischen Traditionalismus und Reformismus, Hannover 1977, insbesondere S. 160 f. Vgl. auch Heinz Dieter Schmid: Ziel des Geschichtsunterrichts: Die Fähigkeit, fragen zu können. In: Eberhard Schwalm (Hrsg.): Texte zur Didaktik der Geschichte. Braunschweig 1979, S. 57 – 65, S. 57 f.
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Das Quellenparadigma des deutschen Geschichtsunterrichts
3.1.1 Geschichtserzählung »Der Lehrer erzählt, und die Kinder hören die Geschichte.«45 So bringt Hartwig Fiege die wohl noch bis in die 1970er Jahre vorherrschende Form schulischer Geschichtsvermittlung auf den Punkt, die in den Rahmenrichtlinien mehrerer westdeutscher Bundesländer auch institutionell verankert war.46 Dabei oblag es in erster Linie den Geschichtslehrkräften der Volks- und Hauptschule, historische Ereignisse in einer geschlossenen, fiktionalen Erzählung zu präsentieren. Dies konnten sowohl vorgefertigte als auch selbst verfasste Geschichten sein, die in jedem Fall künstlerischen bzw. literarischen Ansprüchen gerecht werden sollten.47 Legitimiert wurde die Geschichtserzählung in der Volksschule über das Konzept der volkstümlichen Bildung48 sowie entwicklungspsychologisch, da sie als die einzige kindgerechte Vermittlungsform von Geschichte galt: »Für das Volksschulkind ist sie nahezu die allein tragende Methode, da sich mit ihrer Hilfe am besten ein Geschichtsbild entwickeln und eine historische Persönlichkeit charakterisieren läßt.«49 Damit einher ging die Vorstellung, dass sich Geschichte den vor allem jungen Schülerinnen und Schülern nicht über den Verstand, sondern über Phantasie und Unterhaltung erschließen sollte. Dementsprechend rieten die zeitgenössischen didaktischen Handreichungen dazu, die Erzählungen dramatisch, spannend und stark personifiziert zu gestalten, um sie von der trockenen, langweiligen Sprache des Schulbuchs abzuheben.50 Zentral war dabei der Aspekt der »Vergegenwärtigung« vergangener Ereignisse in der Erzählung, den Sachtexte nicht zu leisten im Stande seien: Schüler sollten »sich selbst in die vergangene Situation der Handelnden und in ihre Taten so einleben, als ge-
45 Hartwig Fiege: Geschichte. Didaktik. Schriftenreihe für den Unterricht an der Grund- und Hauptschule. Düsseldorf 1969, S. 132. 46 Vgl. Hans Georg Kirchhoff: Weiterführender Geschichtsunterricht. Beiträge zu einer neuen Geschichtsdidaktik. Ratingen/Wuppertal/Kastellaun 1971, S. 60 sowie Horst Hesse: Quellennähe als fachdidaktisches Prinzip im Geschichtsunterricht. In: Karl Filser (Hrsg.): Theorie und Praxis des Geschichtsunterrichts. Regensburg 1974, S. 71. Als Begründer der Geschichtserzählung im Unterricht des Kaiserreichs und darüber hinaus gilt Aloys Clemens Scheiblhuber. Vgl. Aloys Clemens Scheiblhuber : Erleben durch phantasiemäßige Darstellung. In: Pädagogische Zentrale des Deutschen Lehrervereins (Hrsg.): 3. Jahrbuch der Pädagogischen Zentrale des Deutschen Lehrervereins. Leipzig/Berlin 1913, S. 217 – 233. 47 Vgl. Sauer : Geschichte unterrichten, S. 127 – 129. 48 Vgl. Hesse: Quellennähe als fachdidaktisches Prinzip im Geschichtsunterricht, S. 71. 49 Hans Döhn: Der Geschichtsunterricht in Volks- und Realschulen. Didaktisch-methodische Grundfragen. Hannover 1967, S. 63. Vgl. Heinrich Roth: Kind und Geschichte, München 1955, besonders S. 37 – 55. Eine weniger literarische, aber ebenso lehrerzentrierte Form der Vermittlung war bzw. ist der Lehrervortrag, den Horst Hesse als das gymnasiale Pendant zur volksschultypischen Geschichtserzählung und »Mini-Vorlesung« beschreibt (vgl. Hesse: Quellennähe als fachdidaktisches Prinzip im Geschichtsunterricht, S. 71). 50 Siehe z. B. Hans Ebeling: Methodik des Geschichtsunterrichts, Hannover 1955, S. 45.
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schähe alles jetzt im gegenwärtigen Augenblick«51. Eher strukturelle Argumente legitimierten die Geschichtserzählung mit ihrer Affinität zur mündlichen Tradition, gehöre sie doch »zu den ursprünglichsten Formen historischer Überlieferung«52. In ähnlich fundamentale Richtung geht das Argument von der besonderen Beschaffenheit des Geschichtsunterrichts, der »mit seinen ihrem Wesen nach geistigen und gemütvollen Stoffen«53 schlecht mit anderen Fächern vergleichbar sei und dementsprechend nicht in der Pflicht stehe, andere, mehr auf Schüleraktivierung abzielende Unterrichtsformen zu entwickeln: »Andere Unterrichtsfächer bieten hierzu oft bessere Möglichkeiten als der Geschichtsunterricht, bei dem Geistiges von Person zu Person übertragen werden muß.«54 Die Geschichtserzählung wurde gemeinhin als älteres, überkommenes und dem Einsatz von Quellen diametral gegenüberstehendes Paradigma dargestellt – Unterricht sollte nun schließlich auf Quellenbasis stattfinden. Dies bedeutet jedoch keineswegs, dass Didaktiken aus der Nachkriegszeit die Quellenarbeit pauschal abgelehnt hätten.55 Hans Ebeling argumentiert zwar, dass die »Interpretationsfähigkeit des Kindes«56 schlichtweg noch nicht so hoch entwickelt sei, dass es mit Quellen sinnvoll umgehen könne, und dass Quellen ein zu hohes Maß an Kontextualisierung voraussetzten. In der gymnasialen Oberstufe jedoch könne man Quellen durchaus einsetzen, trotz des von ihm beklagten Fehlens von Quellensammlungen für den Unterricht.57 In solchen Unterrichtsmaterialien sieht Ebeling das Potenzial, »das Prinzip der Selbständigkeit des Kindes auch im Geschichtsunterricht wirksam durchzusetzen«.58 Zum gegebenen Zeitpunkt jedoch habe Quellenarbeit in der Schule »nur illustrativen Wert«59. Eine ausschließlich unterstützende Funktion schreibt auch Hartwig Fiege den Quellen zu, wirke doch der »Zauber des Vergangenen«60 auf die Schülerinnen und Schüler faszinierend und damit motivierend. Geschichtsunterricht auf Quellen 51 Fiege: Geschichte. Didaktik, S. 132. 52 Wolfgang Kleinknecht/Herbert Krieger/Wolfgang Lohan (Hrsg.): Handbuch des Geschichtsunterrichts, Bd. 1. Aufgabe und Gestaltung des Geschichtsunterrichts. Handreichungen für den Geschichtslehrer, 3. Auflage. Frankfurt am Main 1963, S. 102. Vgl. Döhn: Der Geschichtsunterricht in Volks- und Realschulen, S. 100 sowie Ebeling: Methodik des Geschichtsunterrichts, S. 45 – 48. 53 Döhn: Der Geschichtsunterricht in Volks- und Realschulen, S. 100. 54 Ebd., S. 101. 55 Auch bei Döhn ist von der »Quellenmethode« trotz hoher Wertschätzung der Erzählung »als wesentliches Mittel zur Erarbeitung des Geschichtsstoffes« (Döhn, Der Geschichtsunterricht in Volks- und Realschulen, S. 63 f.) die Rede. Sie sei »Ausgangspunkt und Grundlage des ganzen Unterrichts.« (Ebd.) 56 Ebeling: Methodik des Geschichtsunterrichts, S. 51. 57 Ebd. 58 Ebd., S. 53. 59 Ebd., S. 51. 60 Fiege: Geschichte. Didaktik, S. 138.
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Das Quellenparadigma des deutschen Geschichtsunterrichts
aufzubauen, sei jedoch angesichts der Schwierigkeiten, die sie für Kinder und Jugendliche darstellten, »ein unmögliches Unterfangen«61. Quellen sind für Fiege daher in erster Linie ein Hilfsmittel der Lehrkraft, die sie als Vorlage für Geschichtserzählungen nutzen könne: »Verhältnismäßig leicht gelingt eine solche Erzählung, wenn sie sich an eine Quellendarstellung anschließen kann, die einen Vorgang farbig und lebendig erzählt, z. B. den Bericht Widukinds von Corvey über die Krönung Ottos des Großen […].«62 Dass dabei die sprachliche Färbung der Quelle (und nicht etwa ihr Inhalt oder Aussagewert) betont wird, deutet auf den ästhetischen Anspruch der Erzählungen hin und macht deutlich, dass Quellen hier wiederum eine – wenn auch indirekt – illustrative Funktion erfüllen sollen. Darüber hinaus war der Begriff »Quelle« offenbar noch nicht hinreichend geklärt. So vermischte die laut Pandel »letzte Didaktik alter Art«63, gemeint ist Hans Glöckels 1973 in Bad Heilbrunn erschienenes Buch »Geschichtsunterricht«, die grundlegenden Kategorien Quelle und Darstellung zu »Arbeitstexten«.64
3.1.2 »Ad fontes« Die zu Beginn der 1970er Jahre schärfer werdende Kritik an der Geschichtserzählung65 setzte an dem Punkt an, dass sie als Regelform schulischer Geschichtsvermittlung weder den Schülerinnen und Schülern noch den Lehrkräften gerecht würde.66 Lehrkräfte seien schlichtweg nicht in der Lage, die Anforderungen einer fundierten, wissenschaftlich triftigen, pädagogisch angemessenen und gleichzeitig quasi literarischen Erzählung zu erfüllen, weshalb die Unterrichtspraxis allzu oft hinter den zu hoch gesteckten Zielen zurückbleibe.67
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Ebd., S. 139. Ebd., S. 132 f. Pandel: Die schriftliche Quelle im Geschichtsunterricht, S. 86. Vgl. Hans Glöckel: Geschichtsunterricht. Bad Heilbrunn 1973, S. 202. Zit. n. Pandel: Die schriftliche Quelle im Geschichtsunterricht, S. 86. 65 Beispiele finden sich in Uta Wernicke: Zur Praxis der Geschichtserzählung in der Mittelstufe. In: GWU 21 (1970), H. 8, S. 494 – 501; Dieter Riesenberger : Die Lehrererzählung im Geschichtsunterricht. In: Hans Süssmuth (Hrsg.): Historisch-politischer Unterricht. Medien. Anmerkungen und Argumente. Stuttgart 1973, S. 41 – 69 sowie Wilfried Rumpf: Geschichtsunterricht und Didaktik. Gedanken eines Unterrichtspraktikers zum GU auf der gymnasialen Mittelstufe. In GWU 25 (1974), H. 1, S. 40 – 46. 66 Vgl. Kirchhoff: Weiterführender Geschichtsunterricht, S. 69. 67 Vgl. Kleinknecht/Krieger/Lohan: Handbuch des Geschichtsunterrichts, Bd. 1, S. 103. Dieser Aspekt wird bereits bei Ebeling und Schmid thematisiert, jedoch nicht problematisiert (Ebeling: Methodik des Geschichtsunterrichts, S. 109; Schmid: Ziel des Geschichtsunterrichts, S. 85). Siehe auch Michael Tocha: Die Tränen des Prinzen oder Versuch, die Ge-
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Die Passivität der Schülerinnen und Schüler im Rahmen der frontalen Lehrererzählung empfanden die Kritiker nun als Problem. In der »ästhetizistischen Kostümierung und Personalisierung der Geschichte«68 sah man ein Symptom für den Nachholbedarf der Geschichtsdidaktik in Sachen Wissenschaftlichkeit, die nun nicht nur am Gymnasium, sondern auch an der Hauptschule durch mehr Schüleraktivierung und forschendes Lernen realisiert werden sollte.69 Einen Kontext für diese Kritik bilden die veränderten historisch-politischen Bildungsziele der ersten Hälfte der 1970er Jahre. Dabei erschienen die bis dato vorherrschenden Vermittlungsformen des Geschichtsunterrichts als autoritativ und nicht mehr zeitgemäß. Historisch-politischem Unterricht wurde u. a. von Seiten der Frankfurter Schule vorgeworfen, dass er die Vorstellung befördere, Menschen seien gegenüber den als unabänderlich wahrgenommenen gesellschaftlichen Verhältnissen ohnmächtige Subjekte.70 Der Geschichtserzählung im Besonderen wurde dabei nachgesagt, obrigkeitlicher Indoktrinierung durch den Lehrer, der sie repräsentierte, Vorschub zu leisten. Darüber hinaus wurden auch ihre starke Lehrerzentriertheit kritisiert sowie die mitunter mangelnde historische Triftigkeit, die zugunsten der dramatisierenden, spannenden Elementen zurücktreten konnte. Wenn Lothar Steinbach 1974 schreibt, dass die Verwendung von Quellen im Geschichtsunterricht aufgrund ihrer zentralen Stellung für die Geschichtswissenschaft »von jeher latent gewesen«71 sei, so deutet dies auf die Anschlussfähigkeit der Argumente pro Quellenarbeit hin. So wurde denn auch die zentrale Stellung der Quellen für die Geschichtswissenschaft als gewichtiges Argument ins Feld geführt, um ihren Einsatz im Unterricht zu legitimieren. Da Quellen – im Gegensatz zur Geschichtserzählung – Geschichte in ihrer unmittelbarsten und damit echtesten Form präsentierten, böten sie den Schülerinnen und Schülern einen ungefilterten Zugang zur Vergangenheit, der weniger anfällig für vorgefertigte Geschichtsbilder sei.72 Voraussetzung dafür war freilich ihr sachgemäßer
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schichtserzählung auf die Füße zu stellen. In: GWU 27 (1976), H. 10, S. 619 – 624, insbesondere S. 623. Lothar Steinbach: Die Verwendung von Quellen im Geschichtsunterricht der Sekundarstufe I – Diskussionsbeitrag. In: Walter Fürnrohr (Hrsg.): Tagung der Fachgruppe Geschichte in der Hochschulkonferenz für Erziehungswissenschaft und Fachdidaktik, 2. bis 4. Oktober 1973 in Göttingen. München 1974, S. 135 – 142, S. 135. Vgl. Walter Fürnrohr : Gegenwartsprobleme des Geschichtsunterrichts. In: Karl Filser (Hrsg.): Theorie und Praxis des Geschichtsunterrichts, Regensburg 1974, S. 36 – 48, S. 41 f. Vgl. Wolfgang Hasberg: Empirische Forschung in der Geschichtsdidaktik. Nutzen und Nachteil für den Geschichtsunterricht, Bd. 1. Neuried 2001, S. 402 – 420. Vgl. Joachim Rohlfes: Zur emanzipatorischen Funktion des Geschichtsunterrichts. In: Eberhardt Schwalm (Hrsg.): Texte zur Didaktik der Geschichte. Braunschweig 1979, S. 50 – 52, S. 50. Steinbach: Quellen im Geschichtsunterricht der Sekundarstufe I, S. 135. Vgl. z. B. Kirchhoff: Weiterführender Geschichtsunterricht, S. 76 – 78 sowie Rohlfes, Geschichte und ihre Didaktik, S. 279.
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Das Quellenparadigma des deutschen Geschichtsunterrichts
Gebrauch: Quellen sollten nicht mehr rein illustrativ oder affirmativ genutzt werden,73 um feste Deutungen von Geschichte zu belegen: Es ginge nicht mehr um die »rezeptive Hinnahme einer abgeklärten und gesicherten Kunde von der Vergangenheit, sondern um einen Prozeß des Fragens, Erwägens, Planens, Studierens, Eindringens, Vorschreitens, Rückschauens, Zusammenfassens, Erweiterns, Abrundens usf., also um das, was – wenn auch hier natürlich in einem elementarwissenschaftlichen Sinne – das Wesen des Forschens ausmacht.«74 Schüler sollten also in die Lage versetzt werden, den historischen Erkenntnisprozess selbst aktiv nachzuvollziehen, um über methodische Fertigkeiten das »Handwerkszeug eines Historikers« kennenzulernen. Darüber hinaus sollte ihnen der Umgang mit Quellen auch Einblicke in die erkenntnistheoretischen Grundlagen der Geschichte erlauben, denn Quellen »stellen die uns erreichbare Repräsentanz des historischen Gegenstands im Unterricht dar ; ihre Existenz ist relativ unabhängig von der des Lehrers wie der des Schülers; sie sind echt, insofern sie auf Fragen, die wir an sie richten, aus sich selbst antworten können.«75 Die Klärung der »Echtheit« im Sinne der Quellenkritik sollte allerdings weiterhin in den Aufgabenbereich der Geschichtswissenschaft fallen, damit Lehrkräfte auf wissenschaftlich abgesicherter Quellenbasis unterrichten konnten. Quellen sollten zwar ediert, jedoch nicht zu stark gekürzt oder sprachlich vereinfacht sein, wobei der Lehrer in die Pflicht genommen wurde, eben jene Wissenschaftlichkeit im Schulbuch oder in sonstigen Materialien vor dem Einsatz im Unterricht kritisch zu prüfen.76 Dabei wurde in der oft als Manko von Quellenarbeit kritisierten sprachlichen Schwierigkeit der Originaltexte nun eine Chance für die Motivation der Schülerinnen und Schüler gesehen, die über den Reiz des Vergangenen hinaus eine zusätzliche Herausforderung darstellte.77 Zu diesen eng mit den Eigenschaften von Quellen und ihrer Funktion im historischen Erkenntnisprozess verwandten Aspekten traten weitere pädagogisch-didaktische Argumente: Im starken Kontrast zur lehrerzentrierten Geschichtserzählung forderten die Befürworter der Quellenarbeit eine stärkere Selbsttätigkeit der Schülerinnen und Schüler, die mit Hilfe von Quellen die Vergangenheit selbst rekonstruieren sollten, um dabei auch zu lernen, dass trotz derselben Quellengrundlage unterschiedliche Deutungen möglich seien.78 Im 73 Demgegenüber folgte der Quelleneinsatz im 19. Jahrhundert dem pädagogischen Prinzip der »Anschauung«. Vgl. Blochmann: Zur Geschichte der Arbeit mit schriftlichen historischen Quellen im Geschichtsunterricht, S. 104 – 115. 74 Kleinknecht/Krieger/Lohan: S. 118. Vgl. Joachim Rohlfes, Umrisse einer Didaktik der Geschichte, 4. Aufl. Göttingen 1976, S. 69 f. 75 Kirchhoff: Weiterführender Geschichtsunterricht, S. 77 f. 76 Vgl. Horst Hesse: Quellennähe als fachdidaktisches Prinzip im Geschichtsunterricht, S. 72. 77 Vgl. Kirchhoff: Weiterführender Geschichtsunterricht, S. 78. 78 Vgl. Walter Fürnrohr : Ansätze einer problemorientierten Geschichtsdidaktik. Eine Einführung. Bamberg 1978, S. 100 – 104.
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Umgang mit den Zeugnissen vergangener Zeiten sollten Schülerinnen und Schüler Freude am entdeckenden Lernen entwickeln. Für das forschende, detektivische Element im Geschichtsunterricht sollten die Quellen die Initialzündung bieten und wissenschaftspropädeutisch wirken. Dazu wurde der mit der Lehrererzählung assoziierte Frontalunterricht als inkompatibel empfunden: »[D]ie Arbeit an Quellen, die eine Anreizfunktion für die Bildung kognitiver Strukturen hat, spricht gegen die Form des Frontalunterrichts, der die Schüler von Aufgabe zu Aufgabe führt, ohne daß die inhaltlichen Intentionen in Erscheinung treten.«79 Lothar Steinbach wie auch Hans Georg Kirchhoff sahen im Arbeitsunterricht und im Gruppenunterricht die angemessenen Sozialformen.80 Die Art des historischen Wissens, das mit Quellen vermittelt werden sollte, änderte sich analog zur Vermittlungssituation: Nicht mehr lexikonartiges Fernsehquizwissen sollte vermittelt werden, sondern methodisches, prozedurales und idealerweise über die Schulzeit hinaus anwendbares, relevantes Wissen.81 So rechtfertigte Kirchhoff seine Forderung gegen die Vereinfachung sprachlich anspruchsvoller Quellen u. a. mit den zukünftigen Anforderungen an die Schüler als mündige Staatsbürger : »Wenn der Schüler später als Erwachsener im Stande sein soll, einen Leitartikel zu lesen, eine Steuererklärung auszufüllen oder die Vorschriften für den sozialen Wohnungsbau zu verstehen […], so dürfen ihm in der Schule nicht sorgsam alle Steine aus dem Weg geräumt werden. Wenn er nicht später über sie stolpern soll, muß er in der Schule lernen, sie zu übersteigen.«82 Inwieweit Quellenarbeit die Hoffnungen erfüllen konnte, die ihre Verfechter in sie setzten, war Anfang der 1970er Jahre noch unklar. Allzu großem Optimismus erteilte Steinbach allerdings eine Abfuhr, indem er davor warnte, Quellenarbeit zu verabsolutieren, und stattdessen eine empirische Unterfütterung ihres Lernertrags forderte.83 Als gesichert gilt jedoch, dass die Geschichtserzählung ihren Status als Grundform schulischer Geschichtsvermitt-
79 Lothar Steinbach: Zur Theorie der Quellenverwendung im Geschichtsunterricht. Ein Beitrag zu einer Didaktik in sozialisationstheoretischer Absicht. In: Gerhard Schneider (Hrsg.): Die Quelle im Geschichtsunterricht. Beiträge aus Theorie und Praxis von Wolfgang Schlegel, Gerhard Schneider, Lothar Steinbach, Uwe Uffelmann. Donnauwörth 1975, S. 59 – 113, S. 100. 80 Vgl. ebd. sowie Kirchhoff: Weiterführender Geschichtsunterricht, S. 78. 81 Horst Hesse: Quellennähe als fachdidaktisches Prinzip im Geschichtsunterricht, S. 75. 82 Kirchhoff: Weiterführender Geschichtsunterricht, S. 80. 83 Vgl. Steinbach: Zur Theorie der Quellenverwendung, S. 101. Empirische Erhebungen, wenngleich nicht speziell mit Blick auf den Quelleneinsatz, forderten auch die Teilnehmer der ersten Geschichtsdidaktiker-Tagung auf Bundesebene (1973) und machten diese zum Thema der nächsten Tagung. Vgl. Walter Fürnrohr (Hrsg.): Ansätze empirischer Forschung im Bereich der Geschichtsdidaktik. Tagung der Konferenz für Geschichtsdidaktik vom 1. bis 3. Oktober 1975 in Nürnberg. Stuttgart 1976, S. 9.
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Das Quellenparadigma des deutschen Geschichtsunterrichts
lung einbüßte.84 Dies mochte auch der zunehmenden Verbreitung neuerer Schulbücher geschuldet sein, die nun mehr oder weniger umfangreiche Auszüge aus Textquellen enthielten.85 Quellenarbeit habe sich »mittlerweile einen festen Platz im Unterricht erobert«,86 beobachtete 1974 der Geschichtslehrer Wilfried Rumpf. Dabei sah er in der Hinwendung zu den Quellen die einzige fachspezifische Neuerung und nannte neuerliche Vorschläge, die auf dem Lehrervortrag aufbauten, »erschreckend«87.
3.1.3 Ausblick Zusammenfassend erscheinen die Forderungen nach Quellenarbeit als der Basis für den Geschichtsunterricht in einem Kontext, der durch Reformbestrebungen in der Pädagogik und gesellschaftliche Veränderungen gekennzeichnet ist. Dies bildete den Rahmen für die Kritik an den bis dato vorherrschenden Vermittlungs- bzw. Unterrichtsformen, die nun als veraltet, autoritär und kontraproduktiv für die Entwicklung der Schülerinnen und Schüler zu mündigen Bürgern wahrgenommen wurden.88 In der Fokussierung auf die Grundlagen historischer Erkenntnis und deren emanzipatorisches Potenzial sah man einen Ausweg aus der bildungspolitischen Krise und neue Legitimation für die historische Betätigung der Schülerinnen und Schüler. Die geschichtstheoretisch, pädagogisch und politisch legitimierte Hinwendung zu den Quellen hatte insofern auch eine emanzipatorische Funktion für die Geschichtsdidaktik selbst, die mit dem Verweis auf Wissenschaftlichkeit und moderne Unterrichtsformen ihren Anspruch als vollwertige akademische Disziplin geltend zu machen versuchte. Wie Quellen im Unterricht genau eingesetzt werden sollten, war zu Beginn der 1970er Jahre zunächst noch unklar. In den folgenden Jahren kam es zu Differenzierungen bezüglich des Quellenmaterials bzw. der Quellengattungen und der didaktischen Möglichkeiten, die sie im Einzelnen boten. Nicht zuletzt unter 84 Vgl. Sauer: Geschichte unterrichten, S. 127. Wenngleich die Erzählung aus der Mode kam, wurden allerdings die Themen Betroffenheit, Emotionen und Affekte, die eng mit der Geschichtserzählung zusammenhängen, später wiederentdeckt. 85 Maria Blochmann: Zur Geschichte der Arbeit mit schriftlichen Quellen, S. V – VI. Hesse nennt als weiteren Grund neue technische Möglichkeiten zur »Vervielfältigung von Quellenstücken«, siehe Hesse: Quellennähe als fachdidaktisches Prinzip im Geschichtsunterricht, S. 71. Kirchhoff argumentiert zudem, dass die Hochzeit der Lehrererzählung an der Volksschule mit der »Buchlosigkeit« vieler Volksschulfächer einherging. Vgl. Kirchhoff: Weiterführender Geschichtsunterricht, S. 64. Zu Quellen im Schulbuch vgl. 3.2 Quellen im Schulbuch. 86 Wilfried Rumpf: Geschichtsunterricht und Didaktik, S. 41. 87 Ebd. 88 Siehe dazu Annette Kuhn: Einführung in die Didaktik der Geschichte. 2. Auflage. München 1977, S. 24 f.
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dem Einfluss der Geschichtswissenschaft traten neue Quellengattungen aus dem Bereich der »oral history« hinzu. Kritik am allzu quellenlastigen Unterricht kam erstmals in den 90er Jahren auf,89 das didaktisch-methodische Paradigma von der Nutzung historischer Quellen im Geschichtsunterricht gilt jedoch nach wie vor und hat sich bis heute nicht grundsätzlich gewandelt.
3.2
Quellen im Schulbuch
Das Schulbuch gilt heute als das »Leitmedium des Geschichtsunterrichts«90 und insofern auch als das wohl bedeutendste Medium des Quellenparadigmas.91 Aufgrund der Ausrichtung an den gesetzlichen Vorgaben der jeweiligen Bundesländer sind sich die erhältlichen Titel strukturell und inhaltlich ähnlich: Alle folgen der Chronologie und bieten eine unterschiedlich akzentuierte Kombination aus Verfassertext und (Text-)Quellen. Dabei liefert der Verfassertext in der Regel überblicksartige Informationen, während die Quellen – versehen mit entsprechenden Aufgabestellungen – dazu einladen, Themen, Problematiken etc. selbst zu erarbeiten.92 Bei der so definierten Hybridform aus Lehr- und Arbeitsbuch handelt es sich um ein Produkt der Neuordnung der Geschichtsdidaktik in den 1970er Jahren und der damit verbundenen Hinwendung zu den Quellen (s. o.), die eine Reihe innovativer Schulbuchkonzeptionen mit sich brachte.93 Dies wird vor allem im Kontrast zu den vorher üblichen rein erzählenden Lehrbüchern wie Hans Ebelings »Reise in die Vergangenheit«94 deutlich, das – analog zur Geschichtserzählung des Lehrers – keine Quellen, sondern in sich geschlossene Narrationen enthielt. Quellen hatten hier allenfalls illustrative oder affirmative Funktion und wurden insofern nicht als Quellen genutzt. Im Rahmen der lern- und sozialisationstheoretischen Neubestimmung historischer Lerninhalte und Lernziele wurden auch entsprechende Unterrichtsmaterialien gefordert. Drei Schulbü89 Peter Völker : Eine »neue Krise« des Geschichtsunterrichts. In: GWU 44 (1993), H. 10, S. 617 – 626. Siehe auch Gerhard Schneider : Ein alternatives Curriculum für den Geschichtsunterricht in der Hauptschule. In: GWU 51 (2000), H. 7/8, S. 406 – 417. Schneider vertritt u. a. die Meinung, dass sich Quellenunterricht in der Hauptschule ohnehin nicht hätte durchsetzen können. 90 Sauer : Geschichte unterrichten, S. 260. 91 Auch die Mehrzahl der Quellen, die in den für diese Studie videografierten und analysierten Stunden zum Einsatz kamen, stammte aus Schulbüchern. 92 Vgl. Sauer : Geschichte unterrichten, S. 261. 93 Vgl. Wolfgang Hasberg: Ad fontes narrantes! Quellen – Quelleneinsatz – Quellenarbeit im Unterricht über das Mittelalter. In: Geschichte, Politik und ihre Didaktik. Zeitschrift für historisch-politische Bildung 30 (2002), H. 1/2, S. 17. 94 Hans Ebeling: Reise in die Vergangenheit. Braunschweig 1958.
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cher, die den Anspruch vertraten, Lehr- und Lernmaterialien für einen neuartigen Geschichtsunterricht bereitzustellen und insofern »den Übergang vom rein darstellenden Buch zum quellenorientierten Geschichtsunterricht«95 markierten, sollen hier kurz untersucht werden, um zu verdeutlichen, inwiefern sich die Hinwendung zu den Quellen nunmehr auch im »Leitmedium des Geschichtsunterricht« wiederspiegelte bzw. von ihm befördert wurde. Bei den Titeln handelt es sich um »Menschen in ihrer Zeit«, »Geschichtliche Weltkunde« und »Fragen an die Geschichte«96. Diese drei haben gemein, dass sie in unterschiedlichem Ausmaß Ausschnitte von Quellen präsentieren, wobei sich das Verhältnis zwischen Verfassertext und Quellenmaterial deutlich unterscheidet.
3.2.1 »Fragen an die Geschichte« »Fragen an die Geschichte« nimmt in dieser Hinsicht eine Sonderstellung ein, da das Buch aus einer Ansammlung von Bild- und Textquellen besteht, die ohne Verfassertext auskommt. Flankiert werden die Quellen lediglich durch kurze Lexikonartikel zu Begriffen, deren Kenntnis für das jeweilige Thema angebracht erschien97 , oder die Überblicksinformationen geben, die laut Vorwort (»An die Benutzer«) der Orientierung dienen. Diese Texte sind im Gegensatz zu den Quellen (»Q«) mit einem »T« gekennzeichnet. Texte von Historikerinnen oder Historikern bietet das Buch nicht; Narrationen sollen die Schülerinnen und Schüler selbst herstellen. Dies bedeutete notwendigerweise, dass sich Schülerinnen und Schüler Geschichte anhand von Quellen aktiv selbst erschließen sollten. Diese »Schwerpunktverlagerung«98 erläutert Schmid im begleitenden Lehrerband auch mit Blick auf einen veränderten Unterricht, der analog zum bereits im Titel so benannten »Arbeitsbuch« eben auch Arbeitsunterricht und kein Frontalunterricht sein sollte.99 In geschichtstheoretischer Hinsicht suggeriert die fragmentarische Anordnung von Texten und Bildern – wenngleich nirgends explizit die Rede davon ist – die Position, dass Geschichte erst durch den Betrachter, hier also durch die Schülerinnen und Schüler, konstruiert werden kann. Dies bestätigt Schmids Vorwort: Das Buch wolle keine fertige Geschichtsdarstellung präsentieren, sondern vermitteln, »wie man selbst Ge95 Pandel: Quelleninterpretation, S. 87. 96 Hier am Beispiel von Heinz Dieter Schmid (Hrsg.): Fragen an die Geschichte. Geschichtliches Arbeitsbuch für die Sekundarstufe I, Bd. 2: Die europäische Christenheit. Frankfurt am Main 1978. 97 Ebd., siehe z. B. den Text zum Investiturstreit, S. 57. 98 Heinz Dieter Schmid: Fragen an die Geschichte, Die europäische Christenheit. Lehrerband. Frankfurt am Main 1978, S. 5. 99 Vgl. ebd.
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schichte entdecken kann«100. Um dies zu tun, sollen die Schülerinnen und Schüler die Quellen befragen und herausfinden, »wie es damals vielleicht ›wirklich war‹«, und dabei auch über die historische Bedingtheit der Gegenwart und Kontinuität und Wandel reflektieren. Der Anspruch des Buches geht allerdings über die rein historische Erkenntnisgewinnung hinaus. Es will Schülerinnen und Schüler zu mündigen, demokratischen Menschen erziehen und dazu Fertigkeiten lehren, die »der historisch interessierte Bürger heute täglich braucht«101. Damit handelt es sich bei »Fragen an die Geschichte« um den wohl kühnsten Versuch, Geschichtsvermittlung auf der Basis von Quellen im Unterricht zu implementieren. Das stark emanzipatorische Moment dieses Anspruchs findet sich auch auf anderen Ebenen wieder : Nicht nur die Leser sollen aus ihrer nicht selbst verschuldeten Unmündigkeit befreit werden, sondern auch die historischen Subjekte, die »Menschen aus der Vergangenheit«102. Über die Quellen soll das Handeln der historischen Akteure, vornehmlich der »einfachen Leute«, zugänglich gemacht und damit gewürdigt werden. Sie sind es, die nun »in Wort und Bild selbst davon sprechen, wie sie gedacht, geurteilt und ihre gesellschaftlichen Angelegenheiten geregelt haben«.103 Der demokratische Grundgedanke dieser Überlegungen wirkt sich auch auf die Struktur von »Fragen an die Geschichte« aus. So beginnt Bd. 2 ausdrücklich mit der Behandlung des Bauernstandes, nicht etwa mit Quellen von Kaisern und Königen. Der Leser bekomme über solche Quellen einen »unmittelbaren Eindruck früherer Zeiten«104. Daraus spricht nicht nur ein tiefes Misstrauen gegenüber Geschichtsdarstellungen, das sich weniger auf Historikertexte als auf die bisher dominierenden erzählenden Lehrbücher bezieht, sondern auch ein gewisser Quellenpositivismus: Quellen sind dichter am Geschehen und tendenziell weniger parteiisch. »Fragen an die Geschichte« beinhaltet weder explizite Darstellungen noch einen kohärenten Verfassertext und bietet seinen Lesern insofern strukturell keine Möglichkeit, fertige Narrationen kritisch zu lesen. Dennoch fordert es dazu auf, die Gestaltungsprinzipien des Buches zu hinterfragen: Es wolle zwar nicht aus heutiger Sicht erzählen und deuten, räumt aber ein, dass durch die »Auswahl und Zusammenstellung der ›Quellen‹«105 möglicherweise doch bestimmte Deutungen impliziert werden. In der Offenlegung seiner thematischen Schwerpunktsetzungen – z. B. »Warum die mittelalterliche Ostsiedlung bis in die Gegenwart der deutsch-polnischen Beziehungen fortgeführt ist und warum so 100 101 102 103 104 105
Schmid: Fragen an die Geschichte, o.S. (»An die Benutzer«). Ebd. Ebd. Ebd. Ebd. Ebd.
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viele Stimmen von polnischer Seite zu Wort kommen« – wird ein Bemühen um Transparenz deutlich und die Einsicht vermittelt, dass selbst eine radikale Hinwendung zu den Quellen Intentionalität oder gar Indoktrination nicht grundsätzlich ausschließt. Dabei bleibt zu bedenken, dass es sich hier um einen im Vorwort formulierten Anspruch handelt, der über die konkrete Nutzung des Schulbuchs in der Praxis noch nichts sagt. Die verwendeten Textquellen sind mitunter stark gekürzt, so dass sich der Eindruck des Fragmentarischen, der bei der Sichtung der Seiten entsteht, auch auf der Ebene der einzelnen Quellen fortsetzt. Der Grund für die Kürzungen liegt offenbar darin, dass bei aller Radikalität im Aufbau des Buchs sämtliche Themen von der Ur- und Frühgeschichte bis hin in die Gegenwart über mehrere Quellen abgedeckt werden sollten.106 Kürzungen waren aufgrund der Stofffülle also unvermeidlich. Beim genaueren Hinsehen wird zudem deutlich, dass manche Quellen gar keine sind. So liefert »Q4 Nachrichten aus verschiedenen Chroniken«107 – wie bereits der Titel nahelegt – jeweils nur ein bis zwei Sätze aus vier unterschiedlichen Chroniken, die aneinandergereiht sind und einen ähnlichen Inhalt (Tote durch Hunger und Krankheit im 11. Jh.) haben. Durch die Zusammenstellung entsteht ein neuer Text, dessen Inhalt so gut wie keine Spielräume für Interpretationen lässt, sondern nur eine bestimmte negative Deutung nahelegt. Wenngleich das Vorwort (s. o.) dazu ermutigt, die Gestaltungsprinzipien des Buchs zu hinterfragen, scheint eine derartige Fragmentierung und Neuzusammensetzung von Quellen den Anspruch des Buchs zu unterwandern. Generell hatte »Fragen an die Geschichte« ein Akzeptanzproblem. Dies lag vermutlich an der starken Schülerzentrierung, die vielen Geschichtslehrkräften zum Zeitpunkt der Einführung des Buchs zu weit ging, und daran, dass eine konsequente Implementierung von entdeckendem Lernen in einem staatlich reglementierten, nach Stoffplänen organisierten Unterrichtssystem nicht möglich war.108 Insbesondere aufgrund des fehlenden Verfassertextes war das Buch offenbar schlicht zu revolutionär.
3.2.2 »Menschen in ihrer Zeit« Im Gegensatz zu »Fragen an die Geschichte« überwiegt in »Menschen in ihrer Zeit«109 der Verfassertext, in dessen Narrativ Quellen eingeflochten sind. Mit 106 Vgl. Pandel: Die schriftliche Quelle im Geschichtsunterricht, S. 88. 107 Schmid: Fragen an die Geschichte, Bd. 2, S. 10. 108 So argumentieren zumindest Bernd Schönemann/Holger Thünemann: Schulbucharbeit: Das Geschichtslehrbuch in der Unterrichtspraxis. Schwalbach/Ts. 2010, S. 68. 109 Friedrich J. Lucas (Hrsg.): Menschen in ihrer Zeit, Bd. 2: Im Mittelalter und in der frühen Neuzeit. Mit einem Anhang Damals – Heute – Morgen. Stuttgart 1974.
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seinem Nebeneinander von gekürzten Textquellen, Bildern, Illustrationen und Verfassertext gilt »Menschen in ihrer Zeit« als Prototyp des mittlerweile fast konkurrenzlosen kombinierten Arbeits- und Lehrbuchs. Pandel bezeichnet es sogar als die »Mutter aller modernen Schulbücher in Deutschland«110. Dabei scheint der Quellenbegriff allerdings noch etwas unscharf. So sind Textquellen zwar mit einem »Q« als solche ausgewiesen, Bilder jedoch nicht. Wenngleich sie laut Lehrerbegleitband nicht nur der Illustration dienen, sondern als Quellen ernst genommen werden sollen,111 liegen sie im Hinblick auf die Gestaltungsprinzipien des Buchs auf einer Ebene mit Karten und anderen Illustrationen. Dazu kommt, dass die kursiven Bildunterschriften zwischen knappen Angaben wie »Kogge, der Schiffstyp der Hanse. (Zeitgenössischer Stich)« und detaillierteren Ausführungen wie »Jan Hus wird seiner geistlichen Würden entkleidet, aus dem Priesterstand ausgestoßen und als ›Erzketzer‹ zum Scheiterhaufen geführt. (Mit Farben ausgemalte Zeichnung aus der Chronik des Ulrich Richental, 2. Hälfte des 15. Jahrhunderts)«112 changieren. Wie in »Fragen an die Geschichte« informiert auch hier der erste Band in einem einleitenden Kapitel über die Arbeitsweise von Historikerinnen und Historikern und die Grundlagen historischer Erkenntnis, wenngleich das Buch in dieser Hinsicht weit weniger selbstreflexiv erscheint.
3.2.3 »Geschichtliche Weltkunde« Auch bei der »Geschichtlichen Weltkunde«113 handelt es sich um eine Kombination aus Lehr- und Arbeitsbuch. Wie in »Menschen in ihrer Zeit« finden sich hier gekürzte Textquellen und Bilder. Die Ausschnitte aus Textquellen sind dabei blau unterlegt, Verfassertext und Ausschnitte aus »fremden« Darstellungen gehen fließend ineinander über. Dabei ist im Vorwort davon die Rede, dass es sich bei den abgedruckten Darstellungen um »moderne Bücher«, d. h. Sachbücher oder Jugendliteratur, handele, die man deswegen zitiere, weil sie die Sachverhalte so gut beschreiben würden.114 Am Seitenrand stehen jeweils inhaltliche Stichworte zu den Texten – egal ob Quelle oder Verfassertext –, die darauf hindeuten, dass der epistemologische Unterschied zwischen Quellen und 110 Pandel: Quelleninterpretation, S. 105. 111 Friedrich J. Lucas (Hrsg.): Menschen in ihrer Zeit. Handreichungen für den Lehrer. Stuttgart 1971, S. 1. 112 Lucas: Menschen in ihrer Zeit, S. 88. 113 Wolfgang Hug (Hrsg.): Geschichtliche Weltkunde. Dreibändige Fassung. Frankfurt am Main u. a. 1974. 114 Vgl. Wolfgang Hug (Hrsg.): Geschichtliche Weltkunde Bd. 1. Von der frühen Zeit der Menschen bis zum Beginn der Neuzeit, 2. Auflage. Frankfurt am Main u. a. 1974, S. VI.
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Darstellungen vom Buch nicht besonders thematisiert, wenn nicht sogar aufgehoben wird. Dennoch vertritt das Buch den Anspruch, dass Schülerinnen und Schüler anhand von Quellen überprüfen sollen, »wie es früher wirklich war und wie die heutigen Verhältnisse entstanden sind«115. Ähnlich wie bei »Fragen an die Geschichte« zeichnet sich hier eine positivistische Sicht auf Quellen ab, denn »[s]ie können vergegenwärtigen, was gewesen ist. Aus ihnen läßt sich rekonstruieren, was wirklich war.«116 Das Buch verfolgt darüber hinaus verschiedene globale Lernziele: verschiedene Standpunkte zu unterscheiden, Informationen zu verarbeiten, Früheres mit Heutigem zu vergleichen, Entwicklungen, Veränderungen und ihre Ursachen aufzuzeigen, Meinungen von Tatsachen abzuheben sowie festzustellen, aus welchen Interessen Menschen handeln. Dabei hat historisches Denken nicht nur die Funktion, Schülerinnen und Schüler Geschichte aktiv rekonstruieren zu lassen. Es komme darauf an, »kritischer zu werden und geschichtlich denken zu lernen, um die Bedingungen unserer Welt deutlicher zu erkennen und sich für eine vernünftige, menschenwürdige Entwicklung einzusetzen.«117
3.2.4 Zusammenfassung und Ausblick Die Hinwendung zu den Quellen spiegelt sich in den hier ausgewählten drei Lehrbüchern deutlich wider, denn sie gehören zu den ersten Büchern, die überhaupt mehr oder weniger umfangreiche Quellen bzw. Auszüge verwendeten. Der Umstand, dass die Quellen mit Arbeitsaufträgen versehen werden, belegt, dass insbesondere Bilder nun nicht mehr nur der Illustration dienen, sondern als Quellen verwendet werden sollen. Darüber hinaus findet sich gemeinhin mit dem Verfassertext eine Art Rahmenhandlung, in die sich die Quellen einfügen. Dieser Aufbau birgt ein Dilemma, das letztlich alle kombinierten Lehr- und Arbeitsbücher kennzeichnet: Einerseits sollen die Schülerinnen und Schüler selbst anhand von Quellen historische Arbeitsweisen einüben oder zumindest nachvollziehen. Andererseits liefert ihnen der Verfassertext eine meist eindeutige Version der Geschichte, die die prinzipiell deutungsoffenen Quellen zu einer fertigen Narration synthetisiert. Dieser grundsätzliche Widerspruch lässt wenn überhaupt, dann nur punktuell über die Arbeit mit Quellen auflösen. »Fragen an die Geschichte« bildet dabei eine Ausnahme, da das Narrativ aufgrund des fehlenden kohärenten Verfassertextes weniger deutlich erkennbar ist. Dennoch spiegelt die chronologische Anordnung der Quellen 115 Ebd., S. V. 116 Ebd., S. VI. 117 Ebd.
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und ihre Auswahl eine bestimmte »Geschichte«, eine bestimmte Intentionalität wider, die bisweilen nicht in den Quellen selbst vorliegt, und die beigefügten Aufgaben suggerieren bisweilen eindeutige Antworten. Dadurch, dass Quellen graduell ins Schulbuch Einzug hielten, entstand die nunmehr konkurrenzlose Hybridform des kombinierten Arbeits- und Lehrbuchs für den Geschichtsunterricht. Dabei stehen die Quellen trotz der erwähnten Widersprüche für den Anspruch, dass sich Schülerinnen und Schüler Geschichte innerhalb bestimmter Grenzen den Gegenstand ihrer Auseinandersetzung mit der Vergangenheit selbst erarbeiten. Der Verfassertext liefert hingegen Rahmen- bzw. Orientierungswissen, das sich nicht nur aus Fragen des Stoffkanons bzw. des chronologischen Durchgangs ergibt, sondern auch Kontextwissen für Quelleninterpretationen liefert. Die Tatsache, dass sich Arbeitsbücher, die ausschließlich aus Quellen bestehen, nicht durchsetzen konnten, steht auch für die Einsicht, dass die Rekonstruktion der Vergangenheit anhand von Quellen nicht die einzige Tätigkeit ist, die ein mündiger Umgang mit Geschichte einschließt. Der kritische Umgang mit Darstellungen von Geschichte – sowohl Verfasser- als auch Historikertexte – wurde allerdings erst später in Form von Arbeitsaufträgen im Schulbuch implementiert.118 Mittlerweile haben sich nicht nur Quellen als grundlegende Bestandteile im Schulbuch etabliert, sondern sie werden in der Regel auch als solche bezeichnet und entsprechend eingeführt. Dies geschieht z. B. in Form von Methodenseiten, die helfen sollen, mit Quellen, aber auch mit Statistiken, Karten etc. angemessen umzugehen.119 In einführenden Kapiteln geben so gut wie alle neueren Lehrwerke zudem Auskunft über die Arbeitsweise von Historikerinnen und Historikern sowie über Geschichte als vergangenen, nur innerhalb bestimmter Grenzen rekonstruierbaren Gegenstand.120 Die entsprechenden Abschnitte bleiben allerdings präambelhaft, und es ist unklar, inwiefern die darin geäußerten moderat konstruktivistischen Ansichten eine Bedeutung für die thematische Auseinandersetzung im Unterricht entfalten können, wenn sie sich nicht in konkreten Arbeitsaufträgen wiederfinden und der Fokus weiterhin ein thematischer innerhalb des chronologischen Durchgangs ist.
118 So stattet beispielsweise Geschichte und Geschehen den Verfassertext mit entsprechenden Arbeitsaufträgen aus. Siehe z. B. Michael Sauer (Hrsg.): Geschichte und Geschehen 5, Niedersachsen. Stuttgart u. a. 2011, S. 48. 119 Siehe z. B. Michael Sauer (Hrsg.): Geschichte und Geschehen 1/2, Niedersachsen. Stuttgart u. a. 2011, S. 54 f. 120 Vgl. z. B. Ulrich Baumgärtner (Hrsg.): Horizonte 1. Geschichte für die Oberstufe, Niedersachsen. Braunschweig 2011, S. 9.
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3.3
Das Quellenparadigma des deutschen Geschichtsunterrichts
Quellen in den Kompetenzmodellen für das Fach Geschichte
Bei der Hinwendung zu Kompetenzen und verbindlichen Standards schulischen Lernens handelt es sich um das tiefgreifendste bildungspolitische Vorhaben der letzten Jahre. Mit der Kompetenzorientierung wird in den Blick genommen, was Schülerinnen und Schüler zu einem bestimmten Zeitpunkt ihrer schulischen Laufbahn gelernt haben sollen. Es handelt sich somit um eine Abkehr von Inputorientierten Lernzielkatalogen und Bildungszielen und eine Neufokussierung von Output. Wenngleich die als ernüchternd wahrgenommenen Ergebnisse der großen europäischen Vergleichsstudien PISA und TIMMS keine Schülerleistungen im Fach Geschichte erhoben, so sahen sich verschiedene Vertreterinnen und Vertreter der Geschichtsdidaktik unter Bezugnahme auf die sogenannten Klieme-Expertise121 dennoch in der Pflicht, die Kompetenzen für den Bereich des historischen Lernens zu modellieren. Es gibt zwar nach wie vor kein einheitliches Modell, das Kompetenzen historischen Lernens in allgemein anerkannter Form beschreibt; als gemeinsame Nenner des Diskussionsstands können allerdings die eingangs skizzierten moderat konstruktivistischen Vorstellungen, die Orientierung am historischen Erkenntnisprozess sowie die narrativistische Geschichtstheorie gelten, derzufolge Geschichte ausschließlich in Form von Erzählungen vermittelbar ist. Der folgende Abschnitt dient nicht dazu, die zahlreichen Modelle im Einzelnen steckbriefartig zu beleuchten, sondern exemplarisch herauszuarbeiten, inwiefern die Modelle das Quellenparadigma fortschreiben.
3.3.1 Kompetenzbegriff Die Modelle von Michael Sauer, der Gruppe FUER-Geschichtsbewusstsein, Peter Gautschi und Hans-Jürgen Pandel sind sich insofern ähnlich, als sie allesamt auf die Klieme-Expertise und den dort verwendeten Weinertschen Kompetenzbegriff rekurrieren122. Dabei setzt sich Pandel relativ ausführlich mit dem Kompetenzbegriff auseinander. Er kritisiert dabei, dass der Begriff in der Geschichtsdidaktik vorwiegend alltagsweltlich im Sinne von »Können« gebraucht werde und daher in entsprechenden Publikationen von zahlreichen auf »-kompetenz« endenden Wortneuschöpfungen die Rede sei, die wenig mit 121 Eckhard Klieme u. a.: Zur Entwicklung nationaler Bildungsstandards. Eine Expertise. Berlin 2003. 122 Franz E. Weinert: Concepts of Competence: A Conceptual Clarification. In: Dominique S. Rychen/Laura H. Salganik (Hrsg.): Defining and Selecting Key Competencies. Seattle u. a. 2001, S. 45 – 56.
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Kompetenz zu tun hätten.123 Diese versteht Pandel mit Verweis auf Chomsky als ein »generatives (d. h. kreatives) Vermögen« und definiert Kompetenz so als »domänenspezifische Problemlösefähigkeit«.124 Peter Gautschi verweist in seinem Modell zusätzlich dezidiert auf angloamerikansiche literacy-Konzepte125 und spricht in einem anderem Zusammenhang – wohl im Anschluss an von Borries – zudem von einer »Grammatik des historischen Lernens«126. Das theoretisch fundierteste und mit Blick auf die Übertragung seiner Ideen in die normativen Vorgaben der Bundesländer auch bisher einflussreichste Kompetenzmodell der Gruppe FUER-Geschichtsbewusstsein verweist ebenfalls auf den Weinertschen Kompetenzbegriff und ausdrücklich auf seine kognitiven, emotionalen und volitionalen Elemente. Dies spiegelt sich in der für die Beschreibung der verschiedenen Kompetenzen immer wiederkehrenden Formulierung »Fähigkeit, Fertigkeit und Bereitschaft« wider. Zur Kompetenz werden die beschriebenen Operationen durch »die Bereitschaft, diese analytischen und synthetischen Fähigkeiten und Fertigkeiten im Lebensvollzug zu nutzen«.127 Während sich auch Sauer explizit auf den Weinertschen Kompetenzbegriff und die Klieme-Expertise bezieht, beschreiben die Kompetenzen in seinem Modell ausschließlich kognitive Vorgänge.128
3.3.2 Geltungsanspruch Abgesehen vom Modell der Gruppe FUER-Geschichtsbewusstsein, das den Anspruch erhebt, historisches Lernen generell, also über schulisches Lernen hinaus, zu beschreiben, beziehen sich alle Kompetenzmodelle auf das historische Lernen im Geschichtsunterricht. Das Modell von Gautschi ist in dieser Hinsicht in gewisser Weise ein Sonderfall, da es sich um die didaktische Grundlegung des Lehrbuchs »Hinschauen und Nachfragen – Die Schweiz und 123 Vgl. Hans-Jürgen Pandel: Geschichtsunterricht nach PISA. Schwalbach/Ts. 2005, S. 24. 124 Ebd. 125 Vgl. Peter Gautschi: Kompetenzen von Lernenden, 2006, S. 9 (http://www.lehrmittelverlagzuerich.ch/Portals/1/Documents/lehrmittelsites/hinschauen%20und%20nachfragen/hinschauen%20und%20nachfragen_downloads/3_Kompetenzen.pdf, zuletzt aufgerufen am 14. 12. 2011). 126 Ebd. Vgl. Bodo von Borries: Kerncurriculum Geschichte in der gymnasialen Oberstufe (unter Mitarbeit von Karl Filser, Hans-Jürgen Pandel und Bernd Schönemann). In: HeinzElmar Tenorth (Hrsg.): Kerncurriculum Oberstufe II. Biologie, Chemie, Physik, Geschichte, Politik. Expertisen – im Auftrag der Ständigen Konferenz der Kultusminister. Weinheim/ Basel 2004, S. 236 – 321, S. 236. 127 Andreas Körber/Waltraud Schreiber/Alexander Schöner : Kompetenzen historischen Denkens. Ein Strukturmodell als Beitrag zur Kompetenzorientierung in der Geschichtsdidaktik. Neuried 2007, S. 27. 128 Zum Kompetenzbegriff der vorliegenden Studie siehe Kap. 5.2.
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die Zeit des Nationalsozialismus«129 handelt, das zur Verdeutlichung der einzelnen Kompetenzen dementsprechend immer wieder herangezogen wird. Dennoch erhebt das Modell den Anspruch, allgemein historisches Lernen in der Schule zu beschreiben.
3.3.3 Eigenlogik der Modelle Die Modelle orientieren sich in ihrer Eigenlogik mehr oder weniger direkt am historischen Erkenntnisprozess. Bei Pandel wird dieser Prozess durch die vier Kompetenzen Gattungskompetenz, Interpretationskompetenz, Narrative Kompetenz und Geschichtskulturelle Kompetenz nachgezeichnet. Gautschi unterscheidet dazu die fünf Kompetenzbereiche Erschließungskompetenz, Methodenkompetenz, Interpretationskompetenz, narrative Kompetenz und Urteilskompetenz, die voneinander abhingen und sich gegenseitig unterstützten und ähnlich wie bei Pandel eine Abfolge historischen Erkennens beschreiben sollen. Im Modell von FUER-Geschichtsbewusstsein spiegelt sich eine solche Abfolge nicht in der Anordnung der Einzelkompetenzen wider ; die beiden methodischen Kernkompetenzen, die auch für den Umgang mit Quellen ausschlaggebend sein sollten, nennen die Autoren »Re-« und »De-Konstruktionskompetenz«. Sie beziehen sich darauf, historische Narrationen zu entwickeln bzw. vorliegende Narrationen in ihrer (Tiefen-)Struktur zu erfassen. Das Re-Konstruieren ist demnach ein Akt der Synthese, bei dem aus Quellen »Vergangenheitspartikel« gewonnen werden, während das »De-Konstruieren« einen analytischen Akt darstellt, da vorliegende Narrationen bzw. Darstellungen in Oberflächen- und tieferliegenden Strukturen untersucht werden.
3.3.4 Kompetenzen im Umgang mit Quellen Aufgrund der engen Bindung an geschichtstheoretische Konzepte sind sich die Modelle in der Beschreibung eines kompetenten Umgangs mit Quellen recht einig, wenngleich die Bezeichnungen der verschiedenen Kompetenzen und deren Strukturen stark voneinander abweichen. Michael Sauer modelliert die »Deutungs- und Reflexionskompetenz« als anspruchsvollsten der drei Kompetenzbereiche. Darunter fallen mehrere Kompetenzen, die den Umgang mit 129 Barbara Bonhage/Peter Gautschi/Jan Hodel/Gregor Spuhler : Hinschauen und Nachfragen. Die Schweiz und die Zeit des Nationalsozialismus im Licht aktueller Fragen. Zürich 2006.Vgl. Peter Gautschi: Guter Geschichtsunterricht. Grundlagen, Erkenntnisse, Hinweise. Schwalbach/Ts. 2009, S. 48 – 54.
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Quellen beschreiben: So beschreibt die Kompetenz »Mit der Perspektivität in der Geschichte umgehen«, dass Schülerinnen und Schüler Perspektivität in Quellen erkennen und analysieren können, in diesen Perspektiven sprechen und handeln sowie historische Situationen aus unterschiedlichen Perspektiven betrachten können.130 Mit der Kompetenz »Eigene Deutungen von Geschichte vornehmen und sprachlich adäquat umsetzen« greift Sauer den Kern der narrativistischen Geschichtstheorie auf und formuliert, dass Schülerinnen und Schüler Deutungen und Wertungen von Geschichte selbst produzieren und »dabei Quellen und Darstellungen in angemessener Weise in die eigene Argumentation einbeziehen«.131 Vom Kompetenzbereich »Medien-Methoden-Kompetenz« beziehen sich vier der fünf Unterkompetenzen auf den Umgang mit Quellen. Sie beziehen sich auf den Unterschied zwischen Quellen und Darstellungen, die Wahrnehmung von Perspektivität in Quellen, die Differenzierung zwischen unterschiedlichen Quellengattungen nach Aussagewert sowie den adäquaten Umgang mit unterschiedlichen Gattungen von Quellen und Darstellungen. Dabei handele es sich um für das Fach Geschichte konstitutive Einsichten, die mit den Teilkompetenzen der Deutungs- und Reflexionskompetenz zusammenhingen.132 Ähnlich grundsätzliche Einsichten beschreibt auch Pandel in seinem Kompetenzmodell. Für den Umgang mit Quellen sind dabei insbesondere die Gattungskompetenz und die Interpretationskompetenz ausschlaggebend. Gattungskompetenz meint das Vermögen, unterschiedliche Textgattungen begrifflich korrekt zu fassen sowie ihren Aussagewert abzuschätzen. Die Gattungskompetenz umfasst auch den Umgang mit Intertextualität, d. h. Verweisen zwischen unterschiedlichen Textquellen, sowie quellenkritische Herangehensweisen. Daher – so Pandel – sei historische Gattungskompetenz mehr als die treffsichere Unterscheidung von Gattungen im literaturwissenschaftlichen Sinne. Es gehe dabei auch »um die Authentizität von Geschichte selbst und um die Anstrengung des individuellen Geschichtsbewusstsein und dessen Dimension des Wirklichkeitsbewusstseins«.133 Auf den Umgang mit Quellen (und 130 Vgl. Michael Sauer: Kompetenzen für den Geschichtsunterricht. Ein pragmatisches Modell als Basis für die Bildungsstandards des Verbandes der Geschichtslehrer. In: Informationen für den Geschichts- und Gemeinschaftskundelehrer 72, 2006, S. 10. Den Umgang mit Perspektivität unterscheidet Sauer von der Kompetenz »Fremdverstehen leisten« (ebd.), die sich auf das Vermögen bezieht, bei historischen Urteilen die eigene Standortgebundenheit hinter sich zu lassen und Situationen auf Grundlage zeitgenössischer Vorstellungen zu beurteilen. Mittlerweile liegen empirische Befunde vor, die gegen diese Trennung sprechen: Ulrike Hartmann: Perspektivenübernahme als eine Kompetenz historischen Verstehens, Dissertation. Göttingen 2008. 131 Sauer : Kompetenzen für den Geschichtsunterricht, S. 12. 132 Vgl. ebd., S. 16. 133 Pandel: Geschichtsunterricht nach PISA, S. 30.
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Das Quellenparadigma des deutschen Geschichtsunterrichts
Darstellungen) verweist die Interpretationskompetenz, die ein Bewusstsein für Perspektivität sowie für Historizität beinhalte, die vonnöten sei, um den Bedeutungswandel von Begrifflichkeiten in Quellen – Pandel nennt als Beispiele »Nation«, »Bürger« und »Terror« – wahrzunehmen und die Quelle entsprechend zu interpretieren. Quelleninterpretationen sind im Sinne Pandels kein Selbstzweck, sondern sie dienen letzten Endes der Herstellung neuer Narrationen bzw. Geschichtsdarstellungen, auf deren Güte die Ausprägung der Narrativen Kompetenz entscheidenden Einfluss hat.134 Für den Umgang mit Quellen verweist Gautschi zunächst auf Methodenkompetenz, die es ermögliche, sich im »Datenberg« aus Quellen und Darstellungen zurechtzufinden. Die »Entschlüsselung von Quellen« erfordere eine »fachspezifische Belesenheit«, die auf methodischem Wissen basiere.135 Bestandteile dieser »Grammatik des historischen Lernens«136 seien u. a. die Unterscheidung von Quellen und Darstellungen, die Charakterisierung der jeweiligen Autoren, die Zusammenfassung von Quellen und Darstellungen mit eigenen Worten, die Unterscheidung verschiedener Gattungen bzw. Medien (Filme, Karikaturen) sowie die Formulierung von »Realitätsvorbehalte[n]«137 und Anwendung von Kriterien der Authentizitätsprüfung, d. h. quellenkritische Strategien. Unter Interpretationskompetenz firmiert sodann der kritische Umgang sowohl mit Quellen als auch Darstellungen, die »in einzelne Elemente dekonstruiert« werden sollen. Dies ermögliche es, Intentionalität und Intertextualität zu erkennen. Ziel ist es auch bei Gautschi, als Ausdruck von Narrativer Kompetenz neue Narrationen zu synthetisieren. Insofern ist auch in seinem Kompetenzmodell die Verwendung von Quellen funktional ausgerichtet. Dabei bleibt jedoch unklar, inwieweit sich die Kompetenzen, die für einen Umgang mit Quellen und Darstellungen postuliert werden, unterscheiden. So differenziert das Modell zwar zwischen Quellen und Darstellungen – als Bestandteil von Methodenkompetenz –, wie sich diese Unterscheidung z. B. mit Blick auf die Interpretationskompetenz ausgestaltet, ist jedoch unklar. Im Modell der Gruppe FUER-Geschichtsbewusstsein ist die Kompetenz der »Re-Konstruktion« ausschlaggebend für den Umgang mit Quellen. Konkret bedeutet Re-Konstruktion »die von einer Fragestellung geleitete Erschließung vergangener Phänomene« mit Hilfe von Quellen.138 Dies beinhalte entsprechende Heuristiken, Quellenkritik sowie das Herausarbeiten sogenannter Vergangenheitspartikel. Letzteres geschieht im Abgleich mit weiteren Quellenaussagen und dem Heranziehen von Geschichtsdarstellungen, die ihrerseits Quel134 135 136 137 138
Vgl. ebd., S. 36 – 39. Bonhage u. a., S. 9. Ebd. Vgl. Anm. 126. Ebd., S. 10. Körber/Schreiber/Schöner : Kompetenzen historischen Denkens, S. 28.
Quellen in den Kompetenzmodellen für das Fach Geschichte
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leninterpretationen sind. Ziel ist dabei – so wie bei Gautschi und Pandel – immer die Herstellung einer Narration, denn die Autorinnen und Autoren gehen im Anschluss an Jörn Rüsen davon aus, dass eine Beschäftigung mit der Vergangenheit aus dem Bedürfnis heraus entsteht, sich zu orientieren. Der Konstruktcharakter von Geschichte wird von den Autorinnen und Autoren als »unumstößliches geltendes Prinzip historischen Denkens, das sich in den historischen Fragen niederschlägt«,139 angesehen.
3.3.5 Abstraktionsniveau Insbesondere das theoretisch so fundierte Kompetenzmodell der Gruppe FUERGeschichtsbewusstsein bewegt sich auf einem sehr hohen Abstraktionsniveau, das eine direkte Übertragung auf den Geschichtsunterricht erschwert. Demgegenüber beinhalten die Modelle von Gautschi und Sauer nur sehr wenige Auskünfte über ihre theoretischen Grundlagen, aber dafür umso mehr Ansatzpunkte für eine praktische Umsetzung der von ihnen modellierten Kompetenzen im Schulalltag. Im Fall von Gautschi überrascht dies wenig, denn schließlich bezieht sich sein Modell auf ein Schulbuch, auf das zur Erläuterung der Kompetenzen immer wieder verwiesen wird. Sauer fügt den Beschreibungen der Kompetenzen Vorschläge hinzu, wie die einzelnen Kompetenzen im Unterricht erworben werden können. So könne beispielsweise die Kompetenz »Konstruktcharakter von Geschichte erkennen« im Unterricht am ehesten erworben werden, indem sich Schülerinnen und Schüler mit der Rezeptionsgeschichte von Ereignissen beschäftigten und so Geschichte als »Deutungsgeschäft«140 kennenlernten.
3.3.6 Zusammenfassung Quellen und ihre Verwendung durch kompetente Nutzer spielen in den einschlägigen Kompetenzmodellen für das Fach Geschichte eine zentrale Rolle. Diese ergibt sich aus ihrer Funktion im historischen Erkenntnisprozess und den normativen Vorstellungen, die daraus für die schulische Geschichtsvermittlung abgeleitet werden. Dabei handelt es sich bei den Kompetenzen, die im Umgang mit Quellen erworben werden bzw. die für einen angemessenen Umgang mit Quellen ausschlaggebend sein sollen, letztlich um konzeptuelle Übersetzungen geschichtstheoretischer Konzepte, die auf der Ebene schulischer (und im Sinne 139 Ebd., S. 26. 140 Sauer : Kompetenzen für den Geschichtsunterricht, S. 14.
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Das Quellenparadigma des deutschen Geschichtsunterrichts
der FUER-Gruppe auch außerschulischer) Geschichtsvermittlung ablaufende Prozesse und Minimalanforderungen beschreiben. So modellieren die Autoren mehr oder weniger explizit Geschichtsbewusstsein in Form von Kompetenzen. In allen Fällen ist zu konstatieren, dass offenkundig komplexe Vorgänge wie der kompetente Umgang mit Quellen in der Logik der Kompetenzmodelle ein Zusammenspiel verschiedener Kompetenzen erfordern bzw. Wechselwirkungen zwischen unterschiedlichen Teilkompetenzen postuliert werden. Dabei liegt der Umgang mit Quellen meist quer zu den postulierten Kompetenzen: In keinem der Modelle ist explizit von einer »Quellenkompetenz« und entsprechenden Teilkompetenzen die Rede. In dieser Hinsicht bildet das Modell der FUERGruppe eine Ausnahme, denn die Basisoperation des »Re-Konstruierens« bezieht sich in erster Linie auf Quellen. Weiterhin ist auffällig, dass alle Modelle voraussetzen, dass Schülerinnen und Schüler bereits über Konzepte darüber verfügen, was eine Quelle (oder auch eine Darstellung) ist, ohne die fundamentale Unterscheidung von Vergangenheit und Geschichte stärker in der Vordergrund zu rücken oder in Teilkompetenzen auszudifferenzieren. Ein Desiderat, das in diesem Zusammenhang zu nennen wäre, ist die grundsätzlich fehlende, immer wieder angemahnte empirische Unterfütterung sämtlicher Modelle. Gerade Wechselwirkungen zwischen einzelnen postulierten Kompetenzen werden in allen Modellen angenommen, können aber bisher nicht genau beschrieben werden.
3.4
Quellen in normativen Vorgaben
Administrative Vorgaben schreiben fest, was Schülerinnen und Schüler unterschiedlicher Klassenstufen und Schulformen lernen sollen. Es wäre unrealistisch anzunehmen, dass diese Vorgaben im Unterricht unmittelbar umgesetzt würden – und damit im Sample der vorliegenden Studie zu beobachten wären. Die unter verschiedenen Bezeichnungen wie Curriculum, Lehrplan, Rahmen(lehr)plan etc. firmierenden Vorgaben können allerdings Aufschluss darüber geben, über welche historischen Inhalte und Kompetenzen im institutionellen Kontext Konsens herrscht, inwiefern pädagogische und didaktische Debatten auf administrativer Ebene aufgegriffen wurden und welche Kompetenzen und Inhalte für den Geschichtsunterricht politisch gewollt sind. Insofern bilden die normativen Vorgaben einen Teil des institutionellen Kontextes der vorliegenden Untersuchung und sollen deshalb kurz beschrieben werden. Der Fokus liegt dem Sample entsprechend auf den niedersächsischen Kerncurricula, dem hessischen Lehrplan Geschichte sowie den bundesweit geltenden einheitlichen Prüfungsanforderungen (EPA). Das Kapitel hat jedoch auch die Funktion, einen Überblick über die Konstruktion aktueller Lehrpläne zu liefern und so zu erläutern,
Quellen in normativen Vorgaben
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inwiefern das Quellenparadigma gegenwärtig institutionell verankert ist. Die zentrale Frage bei der Beschreibung der normativen Vorgaben bezieht sich auf die Kompetenzen, die im Umgang mit Quellen aktiviert bzw. erworben werden sollen.
3.4.1 Kerncurriculum Geschichte, Sek. I (Niedersachsen) Dem Einsatz von Quellen wird im Kerncurriculum (KC) für die Sekundarstufe I in Niedersachsen eine wichtige Rolle für die Vermittlung methodischer Fertigkeiten und erkenntnistheoretischer Einsichten zugeschrieben. Den zu vermittelnden Kompetenzen liegt der geschichtstheoretische Gedanke zugrunde, dass Quellen die Grundlage jedweder historischer Erkenntnis sind – eine Einsicht, die wiederum durch den Umgang mit Quellen vermittelt werden soll. Dabei beschreibt das Kerncurriculum eine Lernprogression, die von der Kenntnis der Begriffe »Geschichte« und »Quelle« und der Entwicklung einer nicht weiter spezifizierten »Vorstellung von Geschichte«141 am Ende von Klasse 6 bis hin zu der Einsicht – am Ende von Klasse 10 – reicht, »dass historische Kenntnisse aus Überlieferungen gewonnen werden, deren Aussagekraft begrenzt ist und die unterschiedlich ausgelegt werden können«142. Dabei handelt es sich um Operationalisierungen der in einem einleitenden Text formulierten konstruktivistischen Vorstellung, »dass Geschichte nie an sich und für sich existiert, sondern immer (Re-)Konstruktion ist«143. Weitere Kompetenzen, die explizit im Zusammenhang mit Quellen erworben, erprobt und überprüft werden sollen, kreisen um die Begriffe »Fremdverstehen« und »Perspektivenübernahme«. Ausgehend von dem Gedanken, »dass alles Wissen über die Vergangenheit von der Standortgebundenheit der Quellen und der ihres Betrachters abhängig ist«144, wird Multiperspektivität als ein Strukturmerkmal der Disziplin ausgewiesen, das über die Verwendung von Quellen vermittelbar ist. So sollen Schülerinnen und Schüler auch durch die Auseinandersetzung mit Quellen verstehen, dass Menschen vergangener Zeiten zwar anders, jedoch nicht rückständig waren. Als Lernprogression formuliert bedeutet dies, dass Schülerinnen und Schüler der 5. und 6. Klasse historische Situationen und die Handlungen ihrer Protagonisten »aus verschiedenen his141 Vgl. Niedersächsisches Kultusministerium (Hrsg.): Kerncurriculum für das Gymnasium. Schuljahrgänge 5 – 10. Geschichte, Niedersachsen. Hannover 2008, S. 12. http://db2.nibis.de/1db/cuvo/datei/kc_gym_gesch_08_nib.pdf, zuletzt aufgerufen am 07. 06. 2012. 142 Ebd., S. 22. 143 Ebd., S. 21. 144 Ebd.
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torischen Perspektiven«145 beschreiben und sie am Ende von Klasse 10 auch »deuten und beurteilen«146 können. Mit Blick auf Fremdverstehen wird angestrebt, dass die Schülerinnen und Schüler historische Situationen und Handlungen zunächst »unvoreingenommen als anders (nicht rückständig)«147 beschreiben und auf einem höheren Niveau (am Ende von Klasse 8) jene Handlungen vor dem Hintergrund »zeitgenössische[r] Wertvorstellungen«148 erklären. Die detailliertesten Angaben und Erwartungen in Bezug auf Quellen finden sich im Abschnitt »Erkenntnisgewinnung durch Methoden«149. Das Kerncurriculum unterscheidet dabei zwischen Text-, Bild-, Film-, und Sachquellen und weist jeder Gattung bestimmte nach Jahrgangsstufen teildifferenzierte Kompetenzniveaus zu. In Klasse 5/6 sollen die Schülerinnen und Schüler lernen, was Textquellen sind, d. h. dass sie sich von Darstellungen unterscheiden und das historische »Geschehen nicht wahrheitsmäßig abbilden«150. Was diesen Unterschied ausmacht, wird dabei nicht ausformuliert. Ebenso bleibt die Frage offen, ob gemäß dieser Logik Darstellungen im Gegensatz zu Quellen Geschichte »wahrheitsmäßig abbilden«. In methodischer Hinsicht sollen die Schülerinnen und Schüler lernen, den Inhalt von Textquellen mittels W-Fragen zu erschließen und ihn wiederzugeben. Diese Herangehensweise soll bis Ende Klasse 8 verfeinert werden und zu der Einsicht führen, dass »die Rekonstruktion von Geschichte einer genauen Befragung der Quellen bedarf (z. B.: Autor, Intention, Adressat)«151. Die Verbindung solch konstruktivistischer Einsichten und der Quellenanalyse wird am Ende der Lernprogression noch expliziter : Hier sollen die Schülerinnen und Schüler schließlich den »Rekonstruktionscharakter«152 von Geschichte erläutern sowie Quellen »unter quellenkritischen Gesichtspunkten«153 interpretieren können, d. h. es kommt zu einer ausdrücklichen Verknüpfung fachspezifischer methodischer Fertigkeiten (Quellenkritik) und erkenntnistheoretischer Aspekte. Letztere sind exklusiv an die Arbeit mit Textquellen gebunden. Im Umgang mit Bild-, Film- und Sachquellen werden erkenntnistheoretische Aspekte nicht erwähnt, sondern lediglich methodische und definitorische, z. B. die Unterscheidung von »Bildbeschreibung und Deutung«154 oder die Interpretation von Denkmälern »als Ausdruck einer be145 146 147 148 149 150 151 152 153 154
Ebd., S. 22. Ebd. Ebd. Ebd. Ebd., S. 24. Ebd. Ebd. Ebd. Ebd. Ebd., S. 25.
Quellen in normativen Vorgaben
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stimmten Erinnerungskultur« unter Einbeziehung der »jeweiligen politischen Implikationen«155. Weiterhin stellt der Abschnitt »Erkenntnisgewinnung durch Methoden«156 nicht nur historische Quellen als Gegenstand des Methodenlernens vor, sondern auch »Neue Medien«157, gemeint sind Internetseiten bzw. deren Inhalte, sowie »Filmische Darstellungen«158 und »Sach- und Fachbücher«159. Dabei vermeidet es das KC, letzte Gruppe explizit als Darstellungen von Geschichte zu bezeichnen, wenngleich diese Differenzierung im Sinne der Abgrenzung zu den Quellen nahegelegen hätte. Sprachlich bildet dabei der Begriff der »Kompetenz« einen Kristallisationspunkt, um den die beschriebenen Einsichten und Tätigkeiten kreisen. Dabei werden geschichtstheoretisches Expertenwissen und ältere normative Vorstellungen in die Sprache der Kompetenzen übersetzt. Diese konzeptuelle Übersetzung wird im Abschnitt »Erkenntnisgewinnung durch Methoden« offengelegt, wenn es heißt: »Die Erkenntnisgewinnung durch Methoden bezieht sich auf das herkömmliche ›Methodenlernen‹ im Geschichtsunterricht. Sie steht in einem engen Zusammenhang mit der oben beschriebenen Kompetenz der Deutung und Reflexion – Beurteilung und Bewertung und weist wiederum Überschneidungen auf.«160 Ein kompetenter Umgang mit Quellen wird zwar auch in erkenntnistheoretischer Hinsicht eingefordert; dies spiegelt sich aber in der Kategorisierung der Quellengattungen nicht wider. Hier werden feste Kategorien nahegelegt – Bild, Text, Karte etc. –, wenngleich für alle Gattungen konsequenterweise gleiche epistemologische Grundsätze gelten müssten. Dabei ist unklar, weshalb in der Eigenlogik des Kerncurriculums Bilder offenbar weniger geeignet sind, den »Rekonstruktionscharakter« von Geschichte zu vermitteln, als Texte. In diesem Zusammenhang fällt auch die inkonsequente Verwendung der Begriffe »Konstruktion« und »Rekonstruktion« ins Auge. So ist sowohl vom »Konstruktions-« als auch vom »Rekonstruktionscharakter von Geschichte«161 die Rede, und es bleibt offen, ob es sich bei Geschichte nun um eine Konstruktion oder eine Rekonstruktion handelt bzw. was eigentlich (re)konstruiert werden soll.162 155 156 157 158 159 160 161 162
Ebd. Ebd., S. 24. Ebd., S. 26. Ebd., S. 25. Ebd., S. 26. Ebd., S. 24. Ebd., S. 21 vs. 24. Möglicherweise zeigt sich in der Unschärfe der verwendeten Begriffe – siehe auch die »(Re-) Konstruktion« im Modell der Gruppe FUER Geschichtsbewusstsein – eine grundsätzliche Unsicherheit bezüglich der Reichweite oder Gültigkeit historischer Aussagen bzw. der Formulierung damit zusammenhängender Bildungsziele.
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Das Quellenparadigma des deutschen Geschichtsunterrichts
Als Fazit lässt sich festhalten, dass Schülerinnen und Schüler nach dem KC I lernen sollen, was Quellen sind (Definition), wie Quellen zu analysieren sind (Methodenlernen, Quellenkritik), mit Hilfe von Quellen historische Perspektiven zu übernehmen, Fremdverstehen zu praktizieren sowie Einblicke in den Konstruktcharakter von Geschichte zu erlangen, d. h. den Konstruktcharakter von Geschichte zumindest zur Kenntnis zu nehmen.
3.4.2 Kerncurriculum Geschichte, Sek. II (Niedersachsen) Im niedersächsischen Kerncurriculum für die Sekundarstufe II taucht der Begriff »Quelle« verglichen zum KC I selten auf – nämlich nur fünf Mal auf 48 Seiten. Dies lässt sich damit erklären, dass das KC II von bereits in der Sekundarstufe I erworbenen Kompetenzen ausgeht und diese als Voraussetzung für die weitere Beschäftigung mit Geschichte (und Quellen) sieht. Konkretisierungen oder Operationalisierungen dessen, was ein kompetenter Umgang bedeuten soll, finden sich daher nicht. Wohl aber geht das KC II davon aus, dass Kompetenzerwerb im Geschichtsunterricht der Sek. II bereits in der modularen Struktur des Curriculums – in Abgrenzung zum chronologischen Durchgang der Sek. I – angelegt ist und durch die konsequente Implementierung seiner Struktur im Unterricht gewährleistet werden kann.163 In der Einleitung, in der der »Bildungsbeitrag des Faches Geschichte«164 formuliert wird, erscheinen »Quellen und Darstellungen«165 als zentrale Kategorien, anhand derer Schülerinnen und Schüler zu einer Rekonstruktion der Vergangenheit befähigt werden sollen. Dieser Anspruch findet sich im »Kompetenzbereich Methoden« wieder und wird hier mit Blick auf die zu vermittelnden Kompetenzen etwas spezifiziert : Die Schülerinnen und Schüler der Oberstufe »dekonstruieren fremde und eigene Deutungen von Geschichte sowie historische Darstellungen. [Sie] rekonstruieren historische Zusammenhänge, Prozesse und Strukturen mithilfe von Quellen und Darstellungen […] .«166Wiederum erscheinen Quellen und Darstellungen als Begriffe, die unterschiedliche Herangehensweisen erfordern, damit Schülerinnen und Schüler mit ihrer Hilfe kompetent mit Geschichte umgehen können. Darstellungen – oder grundsätzlicher : Deutungen – sollen dekonstruiert werden, während Quellen der Rekonstruktion vergangener Gegebenheiten dienen. 163 Niedersächsisches Kultusministerium (Hrsg.): Kerncurriculum für das Gymnasium. Gymnasiale Oberstufe. Geschichte, Niedersachsen. Hannover 2011, S. 10. http://db2.nibis.de/1db/cuvo/datei/kc_geschichte_go_i_03 – 11.pdf, zuletzt aufgerufen am 07. 06. 2012. 164 Ebd., S. 8. 165 Ebd. 166 Ebd., S. 16.
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Wiederum bleibt offen, wie dies genau geschehen soll bzw. wie sich der Prozess der Rekonstruktion (und Dekonstruktion) operationalisieren lässt und welche Teilkompetenzen er möglicherweise erfordert. Außerdem fällt ähnlich wie im KC I die Verwendung des De- und Rekonstruktionsbegriffs auf. So dienen Quellen offenbar der Rekonstruktion, während Darstellungen dekonstruiert werden können, aber ebenfalls – wie die Quellen – der Rekonstruktion dienen. Der Umgang mit Quellen taucht explizit nur im »Kompetenzbereich Methoden« auf, während die Kompetenzbereiche »Sachwissen« sowie »Deutung und Reflexion« ohne Verweise auf Quellen auskommen, wenngleich sich im letzteren Bereich Teilkompetenzen finden, die den Umgang mit Quellen einzuschließen scheinen. So sollen Schülerinnen und Schüler »den Konstruktcharakter von Geschichte [reflektieren und] sich mit der Perspektivität von Geschichte auseinander[setzen]«167. Die zu vermittelnden Kompetenzen sollen im alltäglichen Unterricht unter Beweis gestellt werden, wobei die »Quellenanalyse« als eine der »fachspezifische[n] Methoden und Arbeitsweisen«168, als ein genuin geschichtswissenschaftliches und damit auch für das Schulfach Geschichte spezifisches Verfahren genannt wird. Eine entsprechende Leistungsbewertung soll auch im Rahmen von Klausuren erfolgen: Diese fußen »prinzipiell auf der Grundlage materialgebundener Aufgabenstellungen. Mit Materialien sind nicht nur Quellen wie Texte, Bilder, Karikaturen und Überreste gemeint, sondern auch Karten, Grafiken, Tabellen und Darstellungen, an die sich die historische Analyse und Beurteilung anschließen.«169 Der Umgang mit Quellen wird zwar als etwas für den Geschichtsunterricht Spezifisches betrachtet, wenngleich sich nicht erschließt, was das Besondere dieser Tätigkeit ausmacht. Dieser Eindruck entsteht auch dadurch, dass der Tätigkeit zwar ein bestimmter, nur hier zu verwendender Operator zugewiesen wird: »interpretieren«170. Damit ist gemeint, dass die Schülerinnen und Schüler »Sinnzusammenhänge aus Quellen erschließen und eine begründete Stellungnahme abgeben, die auf einer Analyse, Erläuterung und Bewertung beruht«171. Wieso der Vorgang etwas spezifisch Historisches darstellt, wird dabei nicht deutlich.
167 168 169 170 171
Ebd., S. 17. Ebd., S. 38. Ebd. Ebd., S. 41. Ebd.
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3.4.3 Lehrplan Geschichte, Hessen172 Zu den Aufgaben und Zielen des Fachs Geschichte gehöre es, dass Schülerinnen und Schüler Geschichtsschreibung als einen Rekonstruktionsprozess wahrnehmen, der von der »Quellenlage und der Beurteilung der Quellen durch den jeweiligen Autor abhängt«173. Solche Autoren seien ferner durch Subjektivität gekennzeichnet, die sie nicht vollständig hinter sich lassen könnten.174 Der Umgang mit den Quellen gehört demnach zum grundlegenden methodischen Repertoire, das sich die Schülerinnen und Schüler im Unterricht aneignen sollen. Die für die Anwendung von Quellenkritik und Quelleninterpretation notwendigen Elemente werden dabei wie folgt aufgezählt: »Autor, Adressat, Intention, Zeitpunkt der Entstehung, historischer Kontext«. Darüber hinaus sollen die Schülerinnen und Schüler die »Sprache untersuchen und Begriffe klären; Befragungen planen, durchführen und auswerten; nach Ursachen für unterschiedliche Wahrnehmung fragen; unterschiedliche Positionen beschreiben«.175 Die sich hier andeutende Multiperspektivität wird an anderer Stelle weiter ausdifferenziert und wiederum mit Quellen in Zusammenhang gebracht, denn die Quellenauswahl sei »der Multiperspektivität verpflichtet«, um bei den Schülerinnen und Schülern eine Akzeptanz für die Pluralität von Meinungen zu erreichen. Damit soll vermittelt werden, dass es oftmals keine einfachen Lösungen für Probleme gebe und »politische Meinungen und Überzeugungen an den grundlegenden Werten des demokratischen und sozialen Rechtsstaates zu messen« seien.176 Die Aufgaben des Geschichtsunterrichts im Bereich der politischen Bildung werden also an Prinzipien rückgebunden, die mit Quellen und grundlegenden erkenntnistheoretischen Einsichten (Multiperspektivität) im Zusammenhang stehen. Dabei scheint der Quellenbegriff allerdings stark verengt, bezieht er sich doch hier ausschließlich auf Texte. Ein konkretes Bildungsziel, das der hessische Lehrplan Geschichte so formuliert und
172 Seit dem 1. 8. 2011 wird in Hessen ein neues Kerncurriculum Geschichte implementiert, dass stärker auf Bildungsstandards und Kompetenzerwerb fokussiert: http://www.iq.hessen.de/irj/IQ_Internet?cid=dc0acae7616326e11527 e9084e3b1fe9, zuletzt aufgerufen am 12. 07. 2012. Die Erhebung an der hessischen Schule fand im Februar 2010 statt, es galt also noch der alte Lehrplan Geschichte, auf den sich dieser Abschnitt bezieht. 173 Hessisches Kultusministerium (Hrsg.): Lehrplan Geschichte. Gymnasialer Bildungsgang. Jahrgangsstufen 6G bis 9G und gymnasiale Oberstufe. Wiesbaden 2010, S. 4. http://www. kultusministerium.hessen.de/irj/HKM_Internet?cid=ac9f301df54d1fbfab83d d3a6449af60, zuletzt aufgerufen am 07. 06. 2012. 174 Vgl. ebd. 175 Ebd. 176 Ebd., S. 5.
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durch Perspektivenwechseln erreicht werden soll, ist »Offenheit gegenüber Fremdem und Andersartigem«177. Im »Unterrichtspraktischen Teil« des Lehrplans werden verbindliche und fakultative Inhalte für die verschiedenen Klassenstufen formuliert. Die einzelnen Themen werden jeweils begründet und mit Hinweisen versehen, die angemessene Arbeitsmethoden und weitere Erläuterungen bereitstellen. In diesem Zusammenhang wird bei fast jedem Thema stichwortartig auf Quellen bzw. die für das jeweilige Thema typischen Quellengattungen verwiesen. So sollen den Schülerinnen und Schülern im Rahmen des Themas »Menschen der Urgeschichte: Von Sammlern und Jägern zu Ackerbauern und Viehzüchtern« (Klasse 6) »Funde als Quellen« nahegebracht werden, mit denen die Unterschiede zwischen Alt- und Jungsteinzeit tabellarisch dargestellt werden sollen.178 Beim darauf folgenden Thema »Ägypten – Beispiel einer frühen Hochkultur« soll der Quellenbegriff wiederholt werden.179 Die Interpretation schriftlicher Quellen wird im Rahmen von »Hellas – Leben in der Polis«180 eingeführt und bei den folgenden Themen wiederholt. Die Auseinandersetzung mit den Quellen scheint dabei eine Lernprogression nahezulegen, deren Elemente aber nicht ausdifferenziert, geschweige denn als Kompetenz formuliert werden. Weitere Tätigkeiten, die so Stück für Stück eingeführt und eingeübt werden sollen, sind z. B. »Perspektivenwechsel«181 und die »Interpretation historischer Karten«182 (Klasse 7) sowie die Interpretation von Bildquellen, Quellenkritik und Ideologiekritik (Klasse 8).183 Zudem wächst das Spektrum der abzudeckenden Quellengattungen über den Einsatz »regionalgeschichtlicher Quellen«184 (Klasse 8), »Karikaturen […], Feldpostbriefe[n]; Film- und Tondokumente[n]«185 bis hin zu Zeitzeugenbefragungen (Klasse 9)186. Für die Sekundarstufe II setzt sich die Lernprogression in gewisser Weise fort, wobei die Aspekte einer Quellenkritik (»Gliederung und Zusammenfassung der Quelle, Adressatenbezug, Intention, Einordnung in den historischen Zusammenhang«) wiederholt werden und mit »Sakral- und Profanbauten« sowie »historischen Stadtplänen«187 weitere Quellengattungen genannt werden. Hinzu
177 178 179 180 181 182 183 184 185 186 187
Ebd., S. 6. Ebd., S. 11. Ebd., S. 12. Ebd., S. 13. Ebd., S. 16. Ebd., S. 19. Vgl. ebd., S. 21 – 23. Ebd., S. 25. Ebd., S. 26. Ebd., S. 30. Ebd., S. 36.
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kommen nun auch fremdsprachliche Quellen, die Analyse von »Sekundärliteratur«188 sowie die Arbeit mit nicht edierten Quellen.189 Der hessische Lehrplan Geschichte beschreibt zwar vor den Inhalten der unterschiedlichen Klassenstufen die drei Kompetenzbereiche »Sachkompetenz«, »Methodenkompetenz« und »Urteilskompetenz«190. Diese werden aber nicht weiter differenziert und auch nicht auf spezifische Inhalte bezogen. Wenngleich durch die oben beschriebene Progression eine Graduierungslogik angedeutet wird, beschreibt der Lehrplan sie nicht in Bezug auf historische Kompetenzen. So unterscheiden sich die Vorgaben für Grund- und Leistungskurse ausschließlich in Bezug auf den Umfang der zu behandelnden Inhalte. Was die epistemologischen Vorstellungen und Quellenkritik angeht, sind die angestrebten Fertigkeiten dieselben.191
3.4.4 Weitere Vorgaben: Berlin und Hamburg Im Gegensatz zu den niedersächsischen Kerncurricula, die auf dem Kompetenzmodell von Michael Sauer aufbauen, beruhen der Rahmenlehrplan Geschichte für Berlin192und Rahmenplan Geschichte für Hamburg193 auf dem Kompetenzmodell der Gruppe »FUER Geschichtsbewusstsein«, weshalb sie an dieser Stelle in einem gemeinsamen Abschnitt erläutert werden sollen. Da das FUER-Modell auf der narrativistischen Geschichtstheorie fußt, ist der Umgang mit Quellen insofern stärker zweckgebunden, als er auf theoretischer Ebene in den Dienst neuer Narrationen gestellt wird. So wird im Berliner Rahmenlehrplan für die Sek. I als oberstes Ziel angegeben, dass Schülerinnen und Schüler im Unterricht narrative Kompetenz erwerben, die »Ausdruck eines angewandten Geschichtsbewusstseins«194 sei. Unterricht entwickele historische Kompetenzen zudem »im Verbund«, d. h. während sie im Rahmenlehrplan in »die Bereiche Deutungs- und Analysekompetenz, Methodenkompetenz sowie Urteils- und 188 189 190 191 192
Vgl. ebd., S. 40, 44. Ebd., S. 47. Ebd., S. 33. Ebd., S. 51. Senatsverwaltung für Bildung, Jugend und Sport Berlin (Hrsg.): Rahmenlehrplan für die Sekundarstufe I. Jahrgangsstufe 7 – 10. Hauptschule, Realschule, Gesamtschule, Gymnasium. Geschichte. Berlin 2006. http://www.berl in.de/imperia/md/content/sen-bildung/ schulorganisation/lehrplaene/sek1_geschichte.pdf, zuletzt aufgerufen am 07. 06. 2012. 193 Freie und Hansestadt Hamburg. Behörde für Schule und Berufsbildung (Hrsg.): Rahmenplan Geschichte. Bildungsplan gymnasiale Oberstufe. Hamburg, 2009. http:// www.hamburg.de/contentblob/1475202/data/geschichte-gyo.pdf, zuletzt aufgerufen am 07. 06. 2012. 194 Rahmenlehrplan Berlin, S. 12.
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Orientierungskompetenz«195 differenziert werden, führen sie kumulativ zur Entwicklung von Narrativität, d. h. zum Erwerb der Kompetenz des historischen Erzählens und Urteilens.196 Auch der Hamburger Rahmenplan für die Sekundarstufe II197 akzentuiert die Funktion der Quellen für das Hervorbringen neuer Narrationen, wobei im Rahmen der Methodenkompetenz die Basisoperationen der Re- und Dekonstruktion genannt werden: Mit Methodenkompetenz sei »vor allem die Fähigkeit, Fertigkeit und Bereitschaft gemeint, historische Prozesse und Strukturen aus den Quellen zu rekonstruieren sowie bereits vorliegende Darstellungen dieser Prozesse und Strukturen zu dekonstruieren«198. Bei der folgenden Beschreibung der drei Kompetenzen wird ausgeführt, dass unter »Methodenkompetenz« die Bereiche »Lesen«, »Darstellen« und »Forschen« fallen.199 Zu ersterem gehört es, dass Schülerinnen und Schüler »Quellen regelgerecht erschließen, auswerten und zur eigenen Darstellung von Geschichte heranziehen«, außerdem Darstellungen analysieren sowie »verschiedene Erkenntnisvoraussetzungen (Zeit- / Standortgebundenheit) unterscheiden«200. Quellenarbeit ist also kein Selbstzweck, sondern soll zielgerichtet im Sinne der narrativistischen Geschichtstheorie eingesetzt werden. Allerdings setzt die Definition von fachspezifischer Methodenkompetenz voraus, dass Schülerinnen und Schüler bereits ein Konzept davon haben, was Quellen sind und damit einen Umgang mit Quellen an den Tag legen können, der »regelgerecht« ist. Was genau regelgerecht bedeutet, wird jedoch nicht operationalisiert. Unter dem Aspekt »Forschen« sollen die Jugendlichen »Daten recherchieren, Informationen vergleichen« sowie »Verfahren historischer Erkenntnisgewinnung kritisch reflektieren«201, wobei Quellen allerdings nicht explizit genannt werden. Die Arbeitsweisen der Geschichtswissenschaft sollen, insbesondere da es sich um die gymnasiale Oberstufe handelt, übernommen werden. Ziel ist es dabei, über die drei Kompetenzen ein reflektiertes Geschichtsbewusstsein zu 195 Ebd. 196 Für ähnliche Formulierungen vgl. Rahmenplan Hamburg, S. 11. 197 Der Hamburger Rahmenplan für die Sekundarstufe I ist lediglich punktuell kompetenzorientiert, siehe Freie und Hansestadt Hamburg. Behörde für Schule und Berufsbildung (Hrsg.): Rahmenplan Geschichte. Bildungsplan achtstufiges Gymnasium. Sekundarstufe I. Hamburg 2004. http://www.hamburg.de/contentblob/2536328/data/gesch ichte-gy8-seki.pdf, zuletzt aufgerufen am 17. 8. 2012. Generell wird der Umgang mit Quellen mit dem Erwerb methodischer Kompetenzen verknüpft. Dabei werden Perspektivität und die Unterscheidung zwischen Quelle und Darstellung betont, wenngleich andernorts noch »ideologiekritische Quellenarbeit« (S. 34) eingefordert wird und von »Primärquellen« (S. 47) die Rede ist. 198 Rahmenplan Hamburg, S. 10. 199 Vgl. ebd., S. 11. 200 Ebd. 201 Ebd.
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entwickeln,202 ein wissenschaftspropädeutischer Anspruch, der über die angeleitete Beschäftigung mit Quellen und Darstellungen eingelöst werden soll.203 Ebenfalls an das FUER-Modell angelehnt ist die Umsetzung einer Graduierungslogik auf der Ebene der Kompetenzen, die sich im Berliner Rahmenlehrplan auf die unterschiedlichen Schulformen bzw. unterschiedliche Niveaus innerhalb des Gymnasiums bezieht. So sollen Berliner 7.– und 8.–Klässler anhand von Quellen Fragen entwickeln und beantworten (als Teil von »Methodenkompetenz«). Dabei unterscheiden sich die ausformulierten Standards durch den Schwierigkeitsgrad der Quellen. Auffällig dabei ist, dass neben Quellen auch von Texten, Bildern, Schaubildern und Karten die Rede ist, wobei unklar ist, ob es sich dabei um Quellen handelt.204 Die Unterscheidung von Quellen bzw. Quellenarten und Darstellungen wird zwar als Standard formuliert; die in epistemologischer Hinsicht essentiellen Kriterien für die Unterscheidung werden allerdings nicht thematisiert bzw. sogar ad absurdum geführt. Die Wahrnehmung und Unterscheidung unterschiedlicher Perspektiven und deren Standortgebundenheit sowie das Sprechen und Handeln in ihnen werden ebenfalls formuliert, aber nicht ausdrücklich auf die Arbeit mit Quellen bezogen. Explizit quellenkritisches Vorgehen fordern die Standards ab Klasse 9/10. Hier sollen sich die Schülerinnen und Schüler auf dem niedrigsten Niveau »ansatzweise kritisch« mit Quellen auseinandersetzen und Quellenarten unterscheiden. Auf dem höchsten Niveau erfolgt die Unterscheidung »zuverlässig«, und die Auseinandersetzung ist »kritisch«205. Darüber hinaus werden hier mit der kriteriengeleiteten Reflexion des methodischen Vorgehens auch metakognitive Elemente beschrieben. Die im Berliner Rahmenlehrplan beschriebene Graduierungslogik findet ihre Hamburger Entsprechung in der Beschreibung der verbindlichen Minimalniveaus zwischen Vorstufe und Studienstufe. So soll die Vorstufe die in der Sekundarstufe I erworbenen Kompetenzen vertiefen, wobei am Ende mit Blick auf Quellen folgendes erreicht sein soll: Unterschiedliche Quellen sollen erschlossen und ausgewertet sowie ihre Standortgebundenheit benannt werden können (beides Bereich »Methodenkompetenz«)206. Für die Studienstufe werden die einzelnen Anforderungsniveaus der drei Kompetenzen genannt. Dabei werden jeweils ein grundlegendes und ein erhöhtes Niveau voneinander unterschieden. Quellen spielen hier wiederum für die Methodenkompetenz eine Rolle. Sie sollen vor allem bei politik- und kulturgeschichtlichen Themen herangezogen wer-
202 203 204 205 206
Ebd. Ebd., S. 12. Vgl. Rahmenlehrplan Berlin, S. 18. Ebd., S. 21. Vgl. Rahmenplan Hamburg, S. 13.
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den.207 Bei der Methodenkompetenz werden die unterschiedlichen Niveaus nicht tabellarisch gegenübergestellt, sondern nur vier Punkte benannt, in denen sich die Niveaus unterscheiden sollen. Mit Blick auf Quellenarbeit liegt der Unterschied in der »Fähigkeit zu selbständiger Quellenkritik« (meine Hervorhebung). Ansonsten sollen sich Schülerinnen und Schüler »historische Phänomene und Zusammenhänge anhand von Quellen, Darstellungen und Daten unterschiedlicher Art erarbeiten«208. Abgesehen von Standortgebundenheit wird nichts weiter über den Umgang mit Quellen geschrieben. So wird z. B. auch nicht klar, was der Unterschied zwischen Quellen und Darstellungen ist bzw. wie mit ihnen jeweils gearbeitet werden soll. Im Berliner Rahmenlehrplan folgen auf die Beschreibung der drei Kompetenzniveaus die verbindlichen Inhalte bzw. Domänen, in denen die fachspezifischen Kompetenzen erworben werden sollen.209 Eingangs werden die fachspezifischen Grundlagen genannt, die »möglichst in jeder Unterrichtsstunde gefordert und gefördert«210 werden sollen und sich mit den Kompetenzen zu überschneiden scheinen: Dazu gehört es wiederum, zwischen unterschiedlichen Quellen zu differenzieren sowie Fragen an sie zu richten und diese zu beantworten. Dabei zeigt sich erneut, dass der zugrundeliegende Quellenbegriff unscharf ist, denn auch Jugendbücher, Computeranwendungen und Hörspiele sollen »quellenkritisch« ausgewertet werden.211 Im Anschluss an die einzelnen Themenfelder wird der »Kompetenzbezug« der jeweiligen Inhalte erläutert. Bezüge zu Quellen werden dabei nicht explizit gemacht. Dabei handelt es sich auch um methodische Ziele wie »sprechen und handeln in Rollen, die durch Perspektivübernahme eingenommen werden«212. Bisweilen sind die Kompetenzbezüge sehr global und allgemein gehalten: Schülerinnen und Schüler des Jahrgangs 7/8 beispielsweise »untersuchen und analysieren das Fallbeispiel England«213. Eindeutige Bezüge zu Quellen werden nicht hergestellt, und epistemologische Aspekte werden nicht thematisiert oder als Kompetenz beschrieben. Es werden so Standards formuliert, an die sich bestimmte Inhalte anschließen. Dem Umgang mit Quellen fällt dabei in erster 207 Vgl. ebd., S. 17. 208 Ebd. 209 Auch im Hamburger Rahmenplan Geschichte wird der Domänenbezug durch vier Themenbereiche hergestellt: Macht und Herrschaft in der europäischen Geschichte, Modernisierung in Wirtschaft und Gesellschaft, Staat und Nation in der deutschen Geschichte des 19. und 20. Jahrhunderts, Lebenswelten und Weltbilder in verschiedenen Kulturen. Rahmenplan Hamburg, S. 14 – 18. 210 Rahmenlehrplan Berlin, S. 23. 211 Ebd. Natürlich können auch Computeranwendungen unter entsprechenden Fragestellungen zu Quellen werden, aber dies ist hier offenbar nicht gemeint. 212 Rahmenlehrplan Berlin, S. 29. 213 Ebd., S. 33.
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Das Quellenparadigma des deutschen Geschichtsunterrichts
Linie eine Funktion für den Erwerb von Methodenkompetenz zu. Die Unterscheidung von Quellen und Darstellungen wird in diesem Zusammenhang beschworen, aber es zeigt sich in den Formulierungen, dass die Unterscheidungskriterien offenbar unklar sind.
3.4.5 Einheitliche Prüfungsanforderungen Abitur (EPA) Die bundesweit gültigen »Einheitlichen Prüfungsanforderungen Abitur« (EPA) präzisieren das in der gymnasialen Oberstufe zu erreichende Niveau, indem sie Kriterien, Inhalte und Erwartungshorizonte der Abituraufgaben beschreiben. Demnach erfordert die Interpretation von Quellen, die wie Darstellungen Grundlage der Abiturprüfung sein können, »das formale, inhaltliche und ideologiekritische Erschließen […] mit dem Ziel, begründete historische Aussagen zu formulieren sowie eine begründete Stellungnahme abzugeben«.214 Von den Prüflingen wird daran anknüpfend erwartet, dass sie Quellen anhand der vorgegebenen Fragestellungen quellenkritisch analysieren, sie kontextualisieren und sie für eine »eigenständige Rekonstruktion und Deutung von Geschichte«215 heranziehen. Dabei sollen sie die Standortgebundenheit der Quelle, die Quellengattung, den/die Adressaten sowie die Intention der Quelle beachten und zeigen, dass Quellen nicht die historische Wahrheit abbilden, sondern »subjektiv bedingte Aussagen«216 sind, die der Interpretation bedürfen. Letzteres wird als eines der wichtigsten Bewertungskriterien für die Prüfungsleistung bezeichnet. Zur Hierarchisierung und Kategorisierung des Schwierigkeitsgrads der Teilaufgaben ordnen die EPAs bestimmten fachspezifischen Operationen die Anforderungsbereiche I – III zu.217 In den Anforderungsbereich I, der sich auf die Reproduktion von Sachverhalten und Methoden bezieht, fällt dabei u. a. die Unterscheidung von Quellen und Darstellungen,218 die Bestimmung der Quellenart sowie die Entnahme von Informationen aus Quellen und Darstellungen. Dem Aufgabenbereich II, der sich auf die Anwendung von Methoden und das Erklären, Ordnen und Bearbeiten bekannter Sachverhalte bezieht, werden sämtliche Vorgänge der Analyse bzw. Interpretation von Quellen sowie das 214 Kultusministerkonferenz (Hrsg.): Einheitliche Prüfungsanforderungen in der Abiturprüfung. Geschichte. Beschluss vom 10. 2. 2005, S. 10. http://db2.nibis.de/1db/cuvo/datei/ epa_geschichte.pdf, zuletzt aufgerufen am 07. 06. 2012. 215 Ebd. 216 Ebd. 217 Ebd., S. 6. 218 Offenbar gehen die EPAs von einer »statischen« Definition von Quelle (und Darstellung) aus, die nicht von der jeweiligen Fragestellung abhängt. Sonst würde die Unterscheidung eher in den Aufgabenbereich III fallen. In jedem Fall ergibt sich ein Widerspruch zwischen EPAs und denjenigen Vorgaben, die die Unterscheidung als Kompetenz fassen.
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Abstrahieren von Aussagen aus Quellen zugeordnet. Aufgabenbereich III umfasst dagegen den reflexiven Umgang mit Sachverhalten und Methoden, um Hypothesen zu prüfen, eigenständige Deutungen zu entwickeln, Urteile zu fällen und allgemein zu historischen Narrationen zu gelangen. Dabei nennt der Aufgabenbereich III Quellen zwar nicht explizit; es wird aber aus dem Zusammenhang deutlich, dass sie die Grundlage für das »Überprüfen von Hypothesen zu historischen Fragestellungen«219 bilden.
3.4.6 Zusammenfassung Der Anspruch, der an Quellenarbeit in den verschiedenen normativen Vorgaben gestellt wird, ist in allen Fällen grundsätzlich ähnlich: Über den Umgang mit ihnen sollen methodische und analytische Kompetenzen erworben werden. Epistemologische Grundlagen der Disziplin werden dabei selten expliziert oder in Kompetenzen modelliert. Dabei unterscheiden sich die niedersächsischen und hessischen Curricula von anderen, durch das Kompetenzmodell der Gruppe FUER-Geschichtsbewusstsein geprägten dadurch, dass sie sich weniger deutlich an der narrativistischen Geschichtstheorie orientieren. Demgegenüber steht die Funktion der Quellenarbeit auf dem Weg zur Narration im Hamburger Rahmenplan Geschichte und im Berliner Rahmenlehrplan Geschichte viel stärker im Vordergrund, während das niedersächsische Kerncurriculum Deutungs- und Reflexionskompetenz wenn nicht als Selbstzweck, dann doch stärker als eigenständigen Akt beschreibt, dessen Bedeutung sich auch über partizipatorische Argumente (kritisches Lesen, mündige Bürgerinnen und Bürger) legitimiert. In allen Fällen wird Expertenwissen konzeptuell übersetzt und auf schulische Vermittlungsprozesse bezogen. Die Vorgaben unterscheiden sich jedoch darin, wie konsequent Kompetenzen und/oder Standards beschrieben werden bzw. wie sehr sie in die Beschreibung von Performanz(en) abgleiten. Kompetenzorientierung wird zwar meist angemahnt, ist aber in sehr unterschiedlichem Maße realisiert. Dass die hier dargestellten Vorgaben dennoch als vergleichsweise progressiv gelten können, verdeutlicht ein Blick in die baden-württembergischen Bildungsstandards für Geschichte, die lediglich »Leitgedanken zum Kompetenzerwerb« beinhalten, in denen u. a. von »Primär-« und »Sekundärquellen« die Rede ist.220 Der Verweis auf Kompetenzerwerb bleibt hier nicht 219 EPA, S. 6. 220 Ministerium für Kultus, Jugend und Sport Baden-Württemberg (Hrsg.): Bildungsstandards für Geschichte. Gymnasium. Klassen 6, 8, 10, Kursstufe. Stuttgart 2004, S. 4. http://www. bildung-staerkt-menschen.de/service/downloads/Bildungsstandards/Gym/Gym_G_bs. pdf, zuletzt aufgerufen am 07. 06. 2012.
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Das Quellenparadigma des deutschen Geschichtsunterrichts
mehr als eine Präambel, der ein Katalog aus inhaltlichen Lernzielen, Begriffen und Daten folgt.
4.
Quellen in der Empirie – Forschungsstand
Die in der Geschichtsdidaktik etablierte Trias aus Theorie, Empirie und Pragmatik221 wurde von Joachim Rohlfes wie folgt beschrieben: »Empirie bedarf der Theorie, um gehaltvolle Befunde hervorzubringen; Theorie zielt auf Praxis, will sie sich nicht selber zur Unfruchtbarkeit verdammen; Praxis muss durch Empirie kontrolliert sein, soll sie nicht im Dunkeln tappen.«222 Wenngleich nicht immer nur der Nutzen von empirischer Forschung betont wurde,223 hat sich die Erforschung historischer Lehr- und Lernprozesse in den letzten zehn Jahren zunehmend ausdifferenziert.224 Noch 2006 beklagten Hilke Günther-Arndt und Michael Sauer ein grundsätzliches Desiderat im Bereich der empirischen Forschung, wiesen jedoch gleichzeitig darauf hin, dass derartige Feststellungen mittlerweile den Charakter eines Topos hätten.225 Im Zuge der Diskussion um Bildungsstandards und Kompetenzen für das Fach Geschichte wurde die bisherige Praxis der Kleinststudien, die die Forschungslandschaft stark prägten, grundsätzlich infrage gestellt. Es könne nun nicht mehr darum gehen, Detail221 Vgl. Jörn Rüsen: Geschichtsdidaktik heute. Was ist und zu welchem Ende betreiben wir sie (noch)? In: Geschichte lernen 4 (1991), H. 21, S. 14 – 19, S. 17. 222 Joachim Rohlfes: Theoretiker, Praktiker, Empiriker. Missverständnisse, Vorwürfe, Dissonanzen unter Geschichtsdidaktikern. In: GWU 47 (1996), H. 2, S. 98 – 110, S. 101. 223 Hasberg: Empirische Forschung in der Geschichtsdidaktik. Vgl. Helmut Beilner : Empirische Forschung in der Geschichtsdidaktik. In: GWU 54 (2003), H. 5/6, S. 284 – 302. 224 Bodo von Borries sah 2002 noch erhebliches Entwicklungspotenzial und verwies auf entsprechende Forschung in den anglo-amerikanischen bzw. europäischen Nachbarländern: Bodo von Borries: Angloamerikanische Lehr-/Lernforschung – ein Stimulus für die deutschsprachige Geschichtsdidaktik? In: Marko Demantowsky/Bernd Schönemann (Hrsg.): Neue geschichtsdidaktische Positionen. Bochum 2002, S. 65 – 91 sowie ders.: Lehr-/ Lernforschung in europäischen Nachbarländern – ein Stimulus für die deutschsprachige Geschichtsdidaktik? In: Saskia Handro/Bernd Schönemann (Hrsg.): Methoden geschichtsdidaktischer Forschung. Münster 2002, S. 13 – 49. 225 Vgl. Hilke Günther-Arndt/Michael Sauer : Einführung: Empirische Forschung in der Geschichtsdidaktik. Fragestellungen – Methoden – Erträge. In: Dies. (Hrsg.): Geschichtsdidaktik empirisch. Untersuchungen zum historischen Denken und Lernen. Berlin 2006, S. 7 – 28, S. 7.
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fragen zu klären, sondern man müsse sich – ähnlich wie schon in England als Vorstufe des National Curriculum226 – grundlegenden Fragen der Aneignung und Vermittlung historischen Wissens, kurzum den »konzeptionellen Grundlagen von Geschichtsunterricht überhaupt«227 widmen. Ausgehend von den in der Expertise »Zur Entwicklung nationaler Bildungsstandards«228 geforderten Kompetenzmodellen und der empirischen Überprüfung der in ihnen festgeschriebenen Standards argumentieren Günther-Arndt und Sauer, dass empirische Forschung nunmehr »konstitutiv für die fachdidaktische Konstruktion schulischer Bildungsprozesse, für ihren konzeptionellen Rahmen wie für ihre adäquate Implementation und Evaluation«229 sei. Dieser weitreichenden Forderung sind bisher nicht viele Arbeiten gefolgt, und es gestaltet sich offenbar schwierig, spezifische Kompetenzen empirisch zu erforschen. Dementsprechend verfügen die Kompetenzmodelle bis auf wenige Ausnahmen über keine empirische Grundlage.230 Dabei kommt erschwerend hinzu, dass es jenseits von einigen wenigen Kernkompetenzen bei Weitem keinen Konsens gibt, welche Kompetenzen in der Schule erworben werden sollen und welches die Bildungsziele des Fachs Geschichte demnach sind. Im Folgenden sollen diejenigen empirischen Befunde vorgestellt werden, die Rückschlüsse darauf erlauben, wie Schülerinnen und Schüler mit Quellen umgehen bzw. was diesen Umgang kennzeichnet und bedingt. Stellt man die Frage, inwieweit die in Kompetenzmodellen und normativen Vorgaben fixierten Bildungsziele und Kompetenzen im Geschichtsunterricht erreicht bzw. angeeignet werden, bietet die Evaluation der nordrhein-westfälischen Abituraufgaben des Jahres 2009 erste Indizien. Dabei kommen die Autoren u. a. zu dem Ergebnis, dass es selbst für Abiturienten eine Herausforderung darstellt, im Rahmen der schriftlichen Abiturprüfung eine Quellenkritik zu verfassen, die über das Abhaken formaler Aspekte in Form der bloßen Nennung 226 Vgl. Peter Lee: Historical Knowledge and the National Curriculum. In: Richard Aldrich (Hrsg.): History in the National Curriculum. London 1991, S. 39 – 65. 227 Vgl. Günther-Arndt/Sauer: Einführung: Empirische Forschung in der Geschichtsdidaktik, S. 7. 228 Klieme u. a.: Zur Entwicklung nationaler Bildungsstandards. 229 Günther-Arndt/Sauer : Einführung: Empirische Forschung in der Geschichtsdidaktik, S. 7. 230 Für die Kompetenz der Perspektivenübernahme siehe Hartmann: Perspektivenübernahme als eine Kompetenz historischen Verstehens; zum Umgang mit Darstellungen von Geschichte siehe Martens: Implizites Wissen und kompetentes Handeln; In Bezug auf das bisher einflussreichste (und umfangreichste) Kompetenzmodell der FUER-Gruppe siehe Johannes Meyer-Hamme: Historische Identitäten und Geschichtsunterricht: Fallstudien zum Verhältnis von kultureller Zugehörigkeit, schulischen Anforderungen und individueller Verarbeitung. Idstein 2009. Vgl. Ulrike Hartmann/Matthias Martens/Michael Sauer : Von Kompetenzmodellen zur empirischen Erforschung von Schülerkompetenzen – das Beispiel historische Perspektivenübernahme. In: Zeitschrift für Geschichtsdidaktik Jahresband 2007, S. 125 – 148.
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von Verfasser, Datum etc. hinausgeht.231 Dazu ist allerdings anzumerken, dass die Autoren nicht nur die Leistungen der Schülerinnen und Schüler in den Blick nahmen, sondern auch die Konzeption der Aufgaben und ihre Materialgrundlage evaluierten. Dabei traten Unzulänglichkeiten bei der Auswahl, Bearbeitung bzw. Kürzung der Quellen zutage.232 Des Weiteren scheint sowohl bei den Korrektoren der Klausuren wie auch auf Seiten der Prüflinge die kategoriale Unterscheidung von Quellen und Darstellungen nicht gebräuchlich zu sein. Dies bezieht sich nicht nur auf die verwendeten Begrifflichkeiten und einen nicht korrigierten Gebrauch der Fachsprache (»Sekundärquellen«, »Primärliteratur« und weitere Begriffskompositionen), sondern auch auf grundlegende Vorstellungen.233 Aufgrund dieser negativen Befunde stellt sich die Frage nach ihren Bedingungen. In diesem Zusammenhang legen die empirischen Untersuchungen von Bodo von Borries nahe, dass gerade ältere Schülerinnen und Schüler als Ergebnis ihrer schulischen Karriere gesellschaftliche Konventionen verinnerlichen und damit auch die vorherrschenden geschichtlichen Deutungen übernehmen und »die verbreiteten (auch irrtümlichen) historischen (Vor-)Urteile«234 nachsprechen. Fachspezifische Denkformen und Methoden blieben dagegen auf der Strecke. Schülerinnen und Schüler seien dementsprechend nicht in der Lage, historische Situationen aus ihrem Kontext heraus zu rekonstruieren, sondern sie wendeten »die heutigen moralischen Prinzipien der ›Menschen- und Bürgerrechte‹ auf alle Epochen seit der älteren Steinzeit«235 an. Ferner attestiert von Borries den Schülerinnen und Schülern weitere schwerwiegende Missverständnisse: Sie hielten Quellen für objektiv und Darstellungen für verfälschend.236 Auch die Angaben der Schülerinnen und Schüler zum Sinn des Geschichtslernens und den Eigenschaften eines geschichtsbewussten Menschen bestätigten »eine Art Quellenfetischismus und Neopositivismus sowie das Fehlen von Narrativitäts- und Deutungskompetenz«237. 231 Vgl. Bernd Schönemann/Holger Thünemann/Meik Zülsdorf-Kersting (Hrsg.): Was können Abiturienten? Zugleich ein Beitrag zur Debatte über Kompetenzen und Standards im Fach Geschichte. Berlin 2010, S. 36 – 42. 232 Vgl. ebd., S. 28 f. 233 Ebd., S. 38 f. 234 Bodo von Borries: Geschichtsdidaktik am Ende des 20. Jahrhunderts. Eine Bestandsaufnahme zum Spannungsfeld zwischen Geschichtsunterricht und Geschichtspolitik. In: Hans-Jürgen Pandel/Gerhard Schneider (Hrsg.): Wie weiter? Zur Zukunft des Geschichtsunterrichts. Schwalbach/Ts. 2001, S. 7 – 33. 235 Von Borries: Geschichtsdidaktik am Ende des 20. Jahrhunderts, S. 13. 236 Vgl. Bodo von Borries/Claudia Fischer/Sibylla Leutner-Ramme/Johannes Meyer-Hamme: Schulbuchverständnis, Richtlinienbenutzung und Reflexionsprozesse im Geschichtsunterricht. Eine qualitativ-quantitative Schüler- und Lehrerbefragung im Deutschsprachigen Bildungswesen 2002. Neuried 2005, S. 71 f. 237 Bodo von Borries: Geschichtsdidaktik am Ende des 20. Jahrhunderts, S. 9. Vgl. Ders.: Das
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Matthias Martens erforschte kürzlich den Umgang mit Darstellungen von Geschichte und kam u. a. zu dem Ergebnis, dass Schülerinnen und Schüler seines Samples unabhängig von Alter und Bildungsweg von der grundsätzlichen Abbildbarkeit der Vergangenheit ausgehen. Martens konnte mit Hilfe von Gruppendiskussionen ferner empirisch rekonstruieren, dass die mehr oder weniger entwickelten Heuristiken, die den Umgang mit Darstellungen strukturieren, offensichtlich in der Auseinandersetzung mit Quellen erworben wurden bzw. dass für die Schülerinnen und Schüler die kategoriale Unterscheidung von Quelle und Darstellung – selbst wenn sie bekannt ist – in der Praxis offenbar keine Rolle spielt.238 Das nicht nur von von Borries festgestellte Unvermögen, historische Situationen kontextabhängig zu betrachten, wurde kürzlich von Ulrike Hartmann quantitativ-empirisch erhärtet und auf den Aspekt der Perspektivenübernahme verdichtet. Demnach übernahmen die Schülerinnen und Schüler der Stichprobe erst ab dem 10. Schuljahr historische Perspektiven, indem sie bei den Entscheidungen historischer Akteure den zeitgenössischen Zusammenhang berücksichtigten, ohne sich von gegenwärtigen Vorstellungen leiten zu lassen.239 Wie wirkungsmächtig gegenwärtige Vorstellungen sind, bestätigen auch internationale Studien. So konnte Peter Seixas feststellen, dass Schülerinnen und Schüler Perspektivität in erster Linie dann wahrnehmen, wenn sich die Perspektive von ihrer gegenwärtigen stark unterscheidet. So sahen die Schülerinnen und Schüler den Film »Der mit dem Wolf tanzt« zunächst als Abbild historischer Wahrheit. Erst als sie mit einer gegenläufigen Geschichtsdarstellung, in der die Indianer nicht »die Guten« waren (im John Wayne-Film »The Searchers«), konfrontiert wurden, erkannten sie, dass auch die Sicht des ersten Films konstruiert bzw. ein Produkt seiner Zeit – der 1990er Jahre – war.240 Diese Befunde verdeutlichen, dass sich die bei Schülerinnen und Schülern festgestellten Vorstellungen offenbar stark vom geschichtstheoretischen Konsens und den Grundüberzeugungen der Disziplin unterscheiden. Dies mag grundsätzlich wenig überraschen, ist aber insofern bemerkenswert, als gerade Geschichtsbewußtsein Jugendlicher. Erste repräsentative Untersuchung über Vergangenheitsdeutungen, Gegenwartswahrnehmungen und Zukunftserwartungen von Schülerinnen und Schülern in Ost- und Westdeutschland. Weinheim 1995, S. 188 – 196; Ders.: Jugend und Geschichte. Ein europäischer Kulturvergleich aus deutscher Sicht. Opladen 1999, S. 75 – 78. Zur Kritik an v. Borries’ Befunden bzw. Forschungsmethoden siehe Carlos Kölbl: Geschichtsbewusstsein im Jugendalter. Grundzüge einer Entwicklungspsychologie historischer Sinnbildung. Bielefeld 2004, S. 91. Grundsätzlich beruhen von Borries’ Befunde auf Untersuchungen, die noch vor der Etablierung des »klassischen« Methodenlernens stattfanden. 238 Martens Implizites Wissen und kompetentes Handeln. 239 Hartmann: Perspektivenübernahme als eine Kompetenz historischen Verstehens. 240 Peter Seixas: Confronting the Moral Frames of Popular Film: Young People Respond to Historical Revisionism. In: American Journal of Education 102 (1994), H. 3, S. 261 – 285.
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durch die Implementierung von Quellenarbeit Schülerinnen und Schüler zu »kleinen Historikern« gemacht werden sollten und die Grundlagen der Disziplin nicht erst seit der Debatte um Kompetenzen und Bildungsstandards zu den ausformulierten Zielen von Geschichtsunterricht gehören. Über die Frage, was einen nach fachlichen Maßstäben »korrekten« Umgang mit Quellen kennzeichnet und wie dieser sich ggf. vom laienhaften Umgang mit Quellen unterscheidet, können Experten-Novizen-Studien Aufschluss geben. Samuel Wineburg widmete sich dabei insbesondere der Frage, was einen fachlich angemessenen Umgang mit Quellen steuert oder präformiert. Er kommt zu dem Ergebnis, dass bestimmte »beliefs« – gemeint sind handlungsleitende Überzeugungen – unabdingbar sind, um Quellen fachgerecht lesen zu können.241 Drei Heuristiken identifiziert er als Manifestationen dieses Wissens: »corroboration« beschreibt den Vorgang des Gegenüberstellens, Abwägens und intertextuellen Abgleichens von Informationen aus unterschiedlichen Quellen, während das »sourcing« am ehesten der (inneren) Quellenkritik entspricht. Konkret bedeutet diese Heuristik, dass die Art der Quelle, ihr Autor, ihr Entstehungszusammenhang etc. von Vornherein die Auseinandersetzung mit der Quelle – z. B. in Form von Arbeitshypothesen – beeinflussen und nicht einfach nur genannt werden. Als dritte Heuristik identifiziert Wineburg die »contextualization«. Damit meint er die Einbeziehung des Kontextes der Quelle, die wiederum dazu dient, ihren Aussagewert beurteilen zu können. Er kommt zu dem Schluss, dass für Schülerinnen und Schüler Texte meist nur überpersönliche Behälter von Informationen darstellen, während Historikerinnen und Historiker sie als Medien eines sozialen Austauschs bzw. Manifestationen von Kommunikation betrachten. Daher hatten die Antworten der Fachleute immer den Charakter von Hypothesen und Vermutungen, während die Schüler eine »richtige« Antwort präsentierten und es für sie darüber hinaus nichts zu diskutieren gab. Diesen Befund erklärt Wineburg mit dem Verweis auf die Unterrichtspraxis – insbesondere die Leistungsmessung durch multiple-choice-Tests, 241 Samuel S. Wineburg: Historical Problem Solving: A Study of the Cognitive Processes Used in the Evaluation of Documentary and Pictorial Evidence. In: Journal of Educational Psychology 83 (1991), H. 1, S. 73 – 87. Gaea Leinhardt und Kathleen McCarthy Young beschreiben ebenfalls, wie Experten mit Quellen umgehen und beleuchten das Verhältnis zwischen themenspezifischen Fachwissen und übergeordneten Fertigkeiten. Gaea Leinhardt/Kathleen McCarthy Young: Two Texts, Three Readers. Distance and Expertise in Reading History. In: Cognition and Instruction 14 (1996), H. 4, S. 441 – 486. Rouet u. a. argumentieren im Anschluss an Wineburg, dass sich die Lektüre von Quellen von der Lektüre von sonstigen Texten u. a. dadurch abhebt, dass zum Verständnis andere Texte bzw. Quellen einbezogen und beurteilt werden müssen. Diese Operationen hingen wiederum von umfangreichem Kontextwissen ab. Jean-Francois Rouet/Maureen A. Marron/Charles A. Perfetti/Monik Favart: Understanding Historical Controversies. Students’ Evaluation and Use of Documentary Evidence. In: James F. Voss/Mario Carretero (Hrsg.): Learning and Reasoning in History. London 1998, S. 95 – 116.
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in denen es naturgemäß auf die eine richtige Antwort ankommt. Weiterhin sei für die Historikerinnen und Historiker von vornherein klar, dass Quellen einen bestimmten Standpunkt bzw. eine Perspektive haben. Sie würden nicht fragen, ob eine Quelle parteiisch sei oder nicht, sondern danach, inwiefern die Standortgebundenheit der Quelle die Qualität der Informationen beeinflusst, die sie bereithält bzw. welche Fragestellungen man an sie richten kann. Die Heuristik der »corroboration« (s. o.) sei insofern essentielle Konsequenz und Manifestation dieses »belief«. Schülerinnen und Schüler, die nicht über jenes epistemologische Wissen verfügen, das den Experten als »disciplenary equivalent of a compass«242 hilft, Probleme zu lösen, sehen Perspektive demgegenüber als binär, d. h. manche Texte haben sie, andere nicht. Ferner konnte Wineburg zeigen, dass für nordamerikanische Schülerinnen und Schüler das Schulbuch – verglichen mit Text- und Bildquellen – die glaubwürdigste und »objektivste« Informationsquelle über die Vergangenheit darstellt.243 Im Anschluss an Wineburg untersuchten M. Anne Britt und Cindy Aglinskas im Rahmen einer Vergleichsstudie, inwiefern sich die von Wineburg identifizierten Heuristiken »sourcing«, »contextualisation« und »corroboration« gestützt durch das Computer-Programm »Sourcer’s Apprentice« schulen lassen.244 Ausgehend von dem Grundgedanken, dass sich diese Fertigkeiten am ehesten in der Arbeit mit mehreren (widersprüchlichen) Dokumenten einüben lassen,245 kamen sie zu dem Ergebnis, dass die mit dem Computer-Programm »Sourcer’s Apprentice« arbeitenden Schülerinnen und Schüler besser in der Lage waren, die von Wineburg identifizierten Fertigkeiten zu erlernen, als die Kontrollgruppe, die ähnlichen Stoff traditionell, d. h. ans Schulbuch gebunden, erarbeitet 242 Wineburg: Historical Problem Solving, S. 84. 243 Dieser Befund steht im Kontrast zu von Borries’ Befunden, wonach deutsche Schülerinnen und Schüler dem Schulbuch tendenziell misstrauen, während sie Quellen als quasi-objektive Zeugen der Vergangenheit akzeptieren (Von Borries u. a.: Schulbuchverständnis, Richtlinienbenutzung und Reflexionsprozesse im Geschichtsunterricht, S. 71 f.). Eine mögliche Erklärung liegt in der unterschiedlichen Unterrichtspraxis, die in den USA stärker durch die Arbeit mit »textbook« geprägt ist (bzw. es 1991 war), während in Deutschland der Einsatz von Quellen wohl seit Jahrzehnten gängige Praxis ist. 244 M. Anne Britt/Cindy Aglinskas: Improving Students’ Ability to Identify and Use Source Information. In: Cognition and Instruction 20 (2002), H. 4, S. 485 – 522. 245 Ähnliches raten auch Rouet u. a.: Understanding Historical Controversies; Leinhardt/ McCarthy Young: Two Texts, Three Readers sowie Avishag Reisman: Teaching the Historical Principle of Causation: A Study of Transfer in Historical Reading. In: Matthias Martens/Ulrike Hartmann/Michael Sauer/Marcus Hasselhorn (Hrsg.): Interpersonal Understanding in Historical Context. Rotterdam u. a. 2009, S. 43 – 60. In ähnlicher Weise empfehlen Rosalyn Ashby und Peter Lee, über den Umgang mit unterschiedlichen Perspektiven ein Verständnis für Multiperspektivität und damit »historical empathy« zu vermitteln: Rosalyn Ashby/Peter Lee: Children’s Concepts of Empathy and Understanding in History. In: Christopher Portal (Hrsg.): The History Curriculum for Teachers. London 1987, S. 62 – 88.
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hatte. Dies äußerte sich auch darin, dass die diejenigen Schülerinnen und Schüler, die Software-basiert trainiert wurden, in ihren Essays häufiger aus Quellen zitierten und so ihre Aussagen belegten. Die empirischen Arbeiten, die sich im deutschen Sprachraum speziell damit beschäftigt haben, wie Schülerinnen und Schüler mit Quellen umgehen, sind überschaubar und legen trotz der begrenzten Generalisierbarkeit ihrer Befunde nahe, dass die normativen Vorgaben in Bezug auf Quellen nur in sehr rudimentärer Form erreicht werden bzw. nur in geringem Umfang bei den Schülerinnen und Schülern beobachtet werden konnten. Zu nennen ist hier die Untersuchung von Martina Langer-Plän und Helmut Beilner,246 die sich dezidiert auf das Quellenverständnis und den »Quellenbegriff« von Schülerinnen und Schülern bezieht. Die Studie fokussiert auf die Frage, inwiefern Schülerinnen und Schüler den Inhalt von Textquellen verstehen, sowie auf die Kenntnis der Definition des Begriffs »Quelle«. Lediglich indirekt widmen sich Langer-Plän und Beilner auch der Erklärung ihrer Befunde, d. h. warum die Schülerinnen und Schüler ihres Samples so und nicht anders abschnitten. Unter dem Anspruch, bei den Schülerinnen und Schülern »ablaufende Denkprozesse«247 zu analysieren, wurde Schülerinnen und Schülern der sechsten und neunten Klasse eine thematisch auf den jeweiligen Unterrichtskontext abgestimmte Quelle vorgelegt, zu deren Verständnis sie nach der Lektüre mittels Leitfrageninterview befragt wurden. Verständnis meint hier die Fähigkeit, zuvor festgelegte inhaltliche Aspekte zu reproduzieren sowie nach dem Interview zentrale Begriffe aus der Quelle schriftlich erläutern zu können. Als Ergebnis berichten die Autoren von »großen individuellen Unterschieden«248 : Es komme bei einer Mehrheit der Schülerinnen und Schüler zu »gravierenden Auslassungen«249. Ferner werden den Probanden »[f]alsche Zuordnungen, zeitliche und geografische Verwechselungen oder Missverständnisse und unzutreffende Beschreibungen«250 attestiert. Die Autoren kommen so zu dem Schluss, dass fast die Hälfte der Schülerinnen und Schüler die Kernaussagen des Textes nicht verstanden hätte. Bei der schriftlichen Befragung ergaben sich ähnlich ernüchternde Befunde: Eine Mehrzahl der Schülerinnen und Schüler habe Begriffserklärungen geliefert, die keine historischen Assoziationen beinhalteten, sondern mit Vorstellungen aus 246 Helmut Beilner : Empirische Zugänge zur Arbeit mit Textquellen in der Sekundarstufe I. In: Bernd Schönemann/Hartmut Voit (Hrsg.): Von der Einschulung bis zum Abitur. Prinzipien und Praxis des historischen Lernens in den Schulstufen. Idstein 2002, S. 84 – 96; Martina Langer-Plän: Problem Quellenarbeit. Werkstattbericht aus einem empirischen Projekt. In: GWU 54 (2003), H. 5/6, S. 319 – 336. 247 Langer-Plän: Problem Quellenarbeit, S. 320. 248 Ebd., S. 327. 249 Ebd. 250 Ebd.
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der Alltagswelt angereichert waren.251 Solche Defizite versuchen die Autoren mit dem »Hinweis auf unaufmerksames Lesen«252 und teils auch mit dem geringen »Anreizcharakter des Textes« zu erklären. »Schlechter Unterricht«253 könne jedoch als Erklärung der Befunde ebenfalls nicht zufriedenstellen. Tiefer liegende Gründe vermutet Langer-Plän in dem Umstand, dass Geschichte kognitionspsychologisch eine »schlecht strukturierte Domäne« sei und zu wenig einfache Zugänge biete. Auf die Frage, was eine Quelle sei, antworteten Schülerinnen und der Schüler der neunten Klasse u. a.: »Das ist ein Text, in dem etwas über Geschichte erklärt wird. Es geht immer um ein bestimmtes Thema. Meistens kurzer Text.«254 und »Historische Quellen sind Texte, die zu einem Text gehören, um diesen besser zu verstehen.«255 Äußerungen wie diese deuten an, wie sich die Verwendung von (Text-)Quellen im Unterricht – insbesondere ihre Platzierung im Schulbuch – auf die Wahrnehmung der Schülerinnen und Schüler auswirkt und Deutungen entstehen, die den intendierten diametral gegenüberstehen. Dabei ist es jedoch durchaus denkbar, dass die in den Äußerungen anklingende Verengung des Quellenbegriffs auf Texte und ihre affirmative Verwendung den von den Schülerinnen und Schülern erlebten Unterricht adäquat beschreiben. In diesem Fall wären die Aussagen zwar normativ falsch, aber empirisch zutreffend. Trotz dieser Ergebnisse sieht Beilner allerdings Grund zur Hoffnung: Aufgrund einiger weniger zutreffender Aussagen zum Quellenbegriff resümiert er, dass es »kein zu schwieriges Unterfangen sein kann, auch jüngere Schüler in einem kurzen Lehrgang mit ausgewählten Beispielen zu diesen Erkenntnissen zu führen.«256 Dabei scheint allerdings fraglich, inwiefern die Kenntnis einschlägiger Definitionen und ein vom alltäglichen Unterricht losgelöster »kurzer Lehrgang« tatsächlich sinnvolle Impulse für die reguläre Unterrichtspraxis und damit für die Habitualisierung der entsprechenden Fertigkeiten bieten können. Dass punktuelle Maßnahmen in der Tat zu kurz greifen, belegt jedenfalls eine Studie von Birte Wolfrum und Michael Sauer, die darauf abzielte zu untersuchen, inwiefern sich das für den Geschichtsunterricht typische Aufgabenformat »Quelle plus Arbeitsaufträge« zur Diagnose von Kompetenz eignet.257 Die Studie 251 252 253 254 255 256 257
Ebd., S. 330. Ebd., S. 328. Ebd., S. 336. Ebd. Ebd. Beilner : Empirische Zugänge zur Arbeit mit Textquellen, S. 95. Michael Sauer/Birte Wolfrum: Textquellen im Geschichtsunterricht verstehen. Zur Überprüfung von Verständnisniveaus anhand von Aufgabenformaten. In: Internationale Schulbuchforschung 29 (2007), H. 1, S. 87 – 102. Die Autoren griffen für ihre Studie auf Aufgaben zurück, die Martina Tschirner entwickeltet hatte. Vgl. Martina Tschirner : Kompetenzerwerb im Geschichtsunterricht. In: Geschichte lernen 96 (2003), S. 34 – 38.
Quellen in der Empirie – Forschungsstand
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konnte die Frage nicht abschließend beantworten, legt aber nahe, dass für das typische Aufgabenformat eine genauere Planung und Formulierung der Arbeitsaufträge nötig sei. Selbst in der Oberstufe sei eine »präzise Handlungsleitung im Hinblick auf erwünschte Verstehensleistungen erforderlich«258. Dies ist insofern ein ernüchternder Befund, als Kompetenz im Umgang mit Quellen bedeuten müsste, dass die Schülerinnen und Schüler zwar sinnvolle Arbeitsaufträge, aber gerade keine kleinschrittigen Anleitungen benötigen und entsprechende Arbeitsschritte nicht im Einzelnen angebahnt werden müssen. Empirische Befunde dazu, wie Schülerinnen und Schüler im regulären Unterricht – nicht unter »Laborbedingungen«, sondern in Interaktion mit Lehrenden und anderen Lernenden – mit Quellen umgehen, gibt es zur Zeit noch nicht.259 Es deutet jedoch einiges darauf hin, dass alltägliche Lehrer-SchülerInteraktionen Teil des Problems sind und Unterrichtsprozesse nicht – wie bei Langer-Plän angedeutet wird260 – weitestgehend außer Acht gelassen werden können. So analysierte Ola Halld¦n bereits 1986 Schüler-Lehrer-Interaktionen an einem schwedischen Gymnasium.261 Aus den transkribierten Unterrichtssequenzen schloss er, dass nicht nur die Alltagsvorstellungen der Schülerinnen und Schüler einem Lernerfolg im Wege stehen können, sondern dass sich die Vorstellungen der Lernenden und Lehrenden darin unterscheiden, was als adäquate historische Deutung bzw. Erklärung akzeptiert werden kann. Schülerinnen und Schüler – so Halld¦n – deuten historische Ereignisse vorwiegend auf einer individuell-persönlichen Ebene und erklären sie über die Motive der einzelnen Akteure.262 Wenn der Lehrer versuche, diese Ebene zu verlassen, um ein historisches Ereignis als Ganzes zu erklären, redeten Schülerinnen und Schüler und Lehrkräfte aneinander vorbei. Interessant dabei ist, dass alle von Halld¦n verwendeten Unterrichtssequenzen die Unterrichtsform gemein haben: Es handelt sich um Unterrichtsgespräche, in denen der Lehrer versucht, den Schülerinnen und Schülern über Fragen die »richtige« Antwort – die er freilich bereits kennt – zu entlocken. Dieses nicht nur im Schweden der 1980er Jahre gängige Unterrichtsarrangement263 problematisiert Halld¦n in Bezug auf seine 258 Sauer/Wolfrum: Textquellen im Geschichtsunterricht verstehen, S. 102. 259 Eine Ausnahme stellen die empirischen Erkundungen dar, die Kurt Fina in den 1970er Jahren in seine Geschichtsmethodik einfließen ließ: Kurt Fina: Geschichtsmethodik. Die Praxis des Lehrens und Lernens. München 1973, hier besonders S. 154 – 174. Wenngleich Finas Beobachtungen sehr detailliert sind, haben sie nicht den Anspruch einer validen empirischen Untersuchung, sondern dienen vielmehr der Vermittlung seiner didaktischmethodischen Konzepte. 260 Vgl. Langer-Plän: Problem Quellenarbeit, S. 328. 261 Ola Halld¦n: Learning History. In: Oxford Review of Education 12, (1986), H. 1, S. 53 – 66. 262 Vgl. dazu Ola Halld¦n: Conceptual Change and the Learning of History. In: Conceptual Change and the Learning of History 27 (1997), H. 3, S. 201 – 210. 263 Zur Dominanz des fragend-entwickelnden Unterrichts siehe Anm. 412. Vgl. Birgit Wenzel:
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Quellen in der Empirie – Forschungsstand
Befunde insofern, als er zu bedenken gibt, dass die Antworten der Schülerinnen und Schüler durch die jeweiligen Fragen des Lehrers ausgelöst worden sein könnten.264 Was die Interaktion zwischen Lernenden und Lehrenden angeht, ist festzuhalten, dass Halld¦n davon ausgeht, dass das grundsätzliche Problem des Geschichtsunterrichts ein Problem des Wissenstransfers von Wissenden an Unwissende ist. Beide unterscheiden sich demnach in ihren grundlegenden Überzeugungen, die im Unterrichtsgespräch darin zutage treten, dass Schülerinnen und Schüler den Sinn hinter bestimmten Fragen anders deuten als von der Lehrkraft intendiert. Dass hier offenbar komplexe, schwer zu fassende Eigendynamiken im Frage-/Antwort-Verhalten der Beteiligten zum Tragen kommen, deutet sich dabei an. Auf dem Historikertag in Berlin 2010 stellten Meik Zülsdorf-Kersting, Holger Thünemann, Johannes Meyer-Hamme, Gerhard Henke-Bockschatz und Peter Gautschi ihre Überlegungen zur Frage »Was ist guter Geschichtsunterricht?« vor, indem sie dieselbe Geschichtsstunde (Leistungskurs Geschichte, 12. Jahrgang) unter unterschiedlichen methodologischen Vorzeichen und aus unterschiedlicher Perspektive (Lehrkraft, Schülerinnen/Schüler, Fachdidaktik) beurteilten.265 Dabei zeigte sich ähnlich wie bei Halld¦n, dass vom Lehrer angestrebte Einsichten zumindest in der fraglichen Unterrichtsstunde den Schülerinnen und Schülern nicht vermittelt werden konnten bzw. der Lehrer im Anschluss an die Stunde entsprechende Defizite beklagte. Im starken Gegensatz zu Halld¦n zeigt Gerhard Henke-Bockschatz jedoch, dass der Unterricht – insbesondere das Verhalten des Lehrers, entgegen seiner offenkundigen Intentionen – dazu beitrug, dass die Schülerinnen und Schüler im Unterrichtsgespräch in ihren Ansichten bestätigt wurden und der Unterricht nicht nur mit Blick auf die Beurteilung einer historischen Situation in erster Linie sozial erwünschte Äußerungen hervorbrachte. Die Schülerinnen und Schüler verblieben so »auf der Ebene eines sehr konventionellen Umgangs mit Geschichte, und den Lehrern fällt es schwer, sie hierin zu verunsichern und zu irritieren«266.
Gespräche über Geschichte. Bedingungen und Strukturen fruchtbarer Kommunikation im Unterricht. Rheinfelden/Berlin 1995, S. 159 f. 264 Vgl. Halld¦n: Learning History, S. 63. 265 Die Beiträge aus der Sektion finden sich in verschriftlichter Form in: GWU 62 (2011), H. 5/6, S. 261 – 324. 266 Gerhard Henke-Bockschatz: Guter Geschichtsunterricht aus fachdidaktischer Perspektive. In: GWU 62 (2011), H. 5/6, S. 298 – 311, S. 310.
5.
Fragestellung und Erkenntnisinteresse
Die auf dem Historikertag vorgestellte Studie ist neben der Arbeit von Peter Gautschi – deren Titel und Fragestellung dafür offenbar Pate standen267 – eine der seltenen Untersuchungen, die sich in den letzten Jahren direkt der Beobachtung, Dokumentation und Beurteilung von alltäglichem Geschichtsunterricht gewidmet hat.268 Ein Grund für die Seltenheit solcher Untersuchungen liegt aller Wahrscheinlichkeit nach darin, dass die Praxis des Geschichtsunterrichts im deutschsprachigen Raum in den letzten Jahren zugunsten anderer Themenfelder vernachlässigt wurde.269 Gautschi selbst argumentiert in diesem Zusammenhang, dass spätestens mit der Setzung von »Geschichtsbewusstsein« als zentraler Kategorie der Disziplin die institutionalisierten Vermittlungsformen von Geschichte zunehmend stiefmütterlich behandelt wurden270 – eine Tendenz, die sich verschärft habe, als der Bereich der »Geschichtskultur« zu einem bevorzugten Betätigungsfeld avancierte.271 Insofern verwundert es auch 267 Gautschi: Guter Geschichtsunterricht. 268 Ebenfalls zu nennen ist in diesem Zusammenhang: Christian Mehr : Fallrekonstruktive Erforschung von Lehrer- und Schülerfragen im Unterricht. In: Zeitschrift für Geschichtsdidaktik 9 (2010), S. 191 – 205. 269 Vgl. ebd., S. 262. Siehe auch Michael Sauer : Geschichtsdidaktik und Geschichtsunterricht heute. Eine Bestandsaufnahme und ein Plädoyer für mehr Pragmatik und Methodik. In: Geschichte in Wissenschaft 55 (2004), H. 4, S. 212 – 232. 270 Vgl. Hilke Günther-Arndt: Umrisse einer Geschichtsmethodik. In: Dies. (Hrsg.): Geschichtsmethodik. Handbuch für die Sekundarstufe I und II. Berlin 2007, S. 9 – 24, S. 11. 271 Vgl. Gautschi: Guter Geschichtsunterricht, S. 262. Siehe auch Bernd Schönemann: Geschichtsdidaktik, Geschichtskultur, Geschichtswissenschaft. In: Hilke Günther-Arndt (Hrsg.): Geschichtsdidaktik. Praxishandbuch für die Sekundarstufe I und II, Berlin 2003, S. 11 – 22 sowie Wolfgang Hasberg: Politik oder Kultur? Zur Notwendigkeit einer kulturwissenschaftlichen Ausrichtung der Geschichtsdidaktik. In: Ders./Manfred Seidenfuß (Hrsg.): Zwischen Politik und Kultur. Perspektiven einer kulturwissenschaftlichen Erweiterung der Mittelalter-Didaktik. Neuried 2003, S. 9 – 22 sowie Meik Zülsdorf-Kersting: Was ist guter Geschichtsunterricht? Annäherung an eine verschüttete und wieder aktuelle Frage. In: Johannes Meyer-Hamme/Holger Thünemann/Meik Zülsdorf-Kersting (Hrsg.): Was heißt guter Geschichtsunterricht? Perspektiven im Vergleich. Schwalbach/Ts. 2012, S. 7 – 19.
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Fragestellung und Erkenntnisinteresse
weniger, wie rar empirische Befunde für den Umgang mit Quellen in der Praxis nach wie vor sind – trotz ihrer zentralen Stellung für historischen Erkenntnisprozess und des (auch) davon abgeleiteten Quellenparadigmas. Dennoch gibt es bereits seit Mitte der 1990er Jahre Anzeichen dafür, dass der für die Bundesrepublik typische quellenzentrierte Unterricht selbst zu den hier ausgeführten Fehlkonzeptionen beiträgt.272 Auf der anderen Seite gibt es bislang keinerlei Untersuchungen, die sich mit der Frage beschäftigen, inwiefern das Quellenparadigma tatsächlich – so wie ursprünglich erhofft – auf Seiten der Schülerinnen und Schüler zu einem elaborierten Verständnis von Geschichte (als Disziplin bzw. prozesshafter Auseinandersetzung) beiträgt.273 Die wenigen Studien, die sich bisher mit dem hiesigen Quellenparadigma beschäftigt haben, erforschten Aspekte historischen Lernens außerhalb des Geschichtsunterrichts. Damit kam ihnen eine eher diagnostische Funktion zu, indem sie mehr oder weniger gut beleuchteten, was die Probanden konnten und was nicht, was sie über Geschichte und Quellen wussten oder nicht und welche Ordnungskategorien sie nutzten. Geht man nun davon aus, dass Geschichtsunterricht die institutionalisierte Form historischen Lernens ist, liegt die Notwendigkeit seiner genauen Beschreibung und, im Anschluss daran, seine Beurteilung nach klaren Kriterien auf der Hand. Insbesondere da die hier vorgestellten Befunde der Unterrichtspraxis suggerieren, dass im alltäglichen Unterricht Fehlkonzeptionen entstehen können, die die Intentionen der Beteiligten offenbar unterlaufen, scheinen weitere Untersuchung zur Beobachtung von Geschichtsunterricht umso dringender.274 Deshalb stellt die vorliegende Untersuchung die Fragen: Wie gehen Schülerinnen und Schüler sowie Lehrkräfte im alltäglichen Geschichtsunterricht mit Quellen um? Welche historischen Kompetenzen zeigen Schülerinnen und Schüler im situativen Umgang mit Quellen, und welche Merkmale haben Lehr-/ Lernarrangements, die es Schülerinnen und Schülern ermöglichen, einen kompetenten Umgang mit Quellen zu zeigen? Um diesen Fragen nachzugehen, wurde ein dem Gegenstand angemessener qualitativ-rekonstruktiver Zugang gewählt. Alltäglicher – wenngleich thematisch auf Quellenarbeit fokussierter – Unterricht wurde gefilmt und mit Hilfe der dokumentarischen Methode analysiert. Dabei lag es nicht im Interesse des Forschers, individuellen Kompetenzerwerb oder individuelle Leistungen zu diagnostizieren, sondern der Frage nachzugehen, welche
272 Vgl. von Borries u. a.: Schulbuchverständnis, Richtlinienbenutzung und Reflexionsprozesse im Geschichtsunterricht, S. 71 f. 273 Vgl. Günther-Arndt/Sauer : Einführung. Empirische Forschung in der Geschichtsdidaktik, S. 12 f. 274 Vgl. Martens: Implizites Wissen und kompetentes Handeln, S. 139 (Anm. 410).
Fragestellung und Erkenntnisinteresse
73
Lehr-/Lernarrangements als Kontexte für einen kompetenten Umgang mit Quellen rekonstruierbar sind.275
275 Das Verhältnis zwischen Lehr-/Lernarrangement und gezeigter Kompetenz erscheint im Rahmen dieser Studie nicht im Sinne eines kausalen Zusammenhangs oder einer Korrelation, sondern Lehr-/Lernarrangements werden als Kontexte von Kompetenzerwerb gedacht, deren Einfluss hier nicht quantifizierbar ist. Die zu rekonstruierenden Merkmale haben – in Analogie zur quantitativen Forschung – den Status von unabhängigen Variablen.
6.
Gefilmter Geschichtsunterricht – Methodik und metatheoretische Rahmung des Gegenstands
Geschichtsunterricht ist die institutionalisierte, durch normative Vorgaben reglementierte Form historischen Lernens, die dazu dient, bestimmte historische Bildungsziele zu erreichen. Aus fachdidaktischer Sicht ist es wünschenswert, dass diese Inhalte, Fertigkeiten, Einsichten und Kompetenzen tatsächlich bei den Schülerinnen und Schülern »ankommen«. Insofern liegt es nahe, dass Unterricht in fachdidaktischer Perspektive zuallererst von seiner Funktion her gedacht wird und sich die Frage stellt, inwiefern Unterricht »gut« ist276 und inwiefern er die ihm zugewiesene Funktion erfüllt. Dass dies nicht immer der Fall ist, ist eine Erkenntnis aus dem pädagogischen Alltag und in gewisser Weise trivial. Nicht trivial hingegen ist die Frage nach der Art und Weise, wie Unterricht bei seinen Beteiligten Wirkungen erzielt. Diese Frage lenkt den Blick auf die Eigenlogik von Unterricht und gehört – jenseits pragmatischer Gestaltungsvorschläge – nicht zum traditionellen Betätigungsfeld der Geschichtsdidaktik oder anderer Didaktiken. Im Rahmen dieser Untersuchung wird Unterricht – und damit auch Geschichtsunterricht – als soziale Praxis verstanden, in der fachspezifische und überfachliche Kompetenzen erworben werden können und sollen. Um dies näher zu erläutern, soll zunächst beschrieben werden, was Unterricht als soziale Praxis kennzeichnet, um darauf wissenssoziologisch begründet herzuleiten, in welchem Verhältnis Praxis und Kompetenzerwerb zueinander stehen. Aus dieser grundlagentheoretischen Rahmung ergibt sich die Wahl der Dokumentarischen Methode als dem Gegenstand angemessene Erhebungs- und Auswertungsmethode, die Beschreibung des konkreten Forschungsdesigns sowie eine Erläuterung der Erweiterungen der Methode, die sich im Verlauf der Untersuchung als zielführend erwiesen haben. 276 Für die Geschichtsdidaktik siehe: Gautschi: Guter Geschichtsunterricht; Geschichte in Wissenschaft und Unterricht 62 (2011), H. 5/6 Schwerpunkt: Guter Geschichtsunterricht; Michele Barricelli/Michael Sauer, Was ist guter Geschichtsunterricht? Fachdidaktische Kategorien zur Beobachtung und Analyse von Geschichtsunterricht. In: GWU 57 (2006), H. 1, S. 4 – 26; darüber hinaus: Hilbert Meyer: Was ist guter Unterricht? Berlin 2004.
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6.1
Gefilmter Geschichtsunterricht
Unterricht als soziale Praxis
Aus der Beobachterperspektive erscheint Unterricht als soziale Interaktion, deren zentrales Merkmal Komplexität ist.277 Diese Komplexität ist zum einen der großen Zahl ihrer Beteiligten und deren unterschiedlicher Perspektiven auf den Unterricht geschuldet. Zum anderen ereignen sich verbale und nonverbale Kommunikation, Bezugnahmen auf materielle Dinge wie Tafelanschriebe, Bücher und Fotokopien sowie körperliche Ausdrucksweisen nicht nur synchron (gleichzeitig), sondern simultan, d. h. sie sind Teil derselben Interaktionsstruktur und ineinander verschränkt.278 Die Funktionsgrundlagen von Unterricht zu untersuchen, ist also kein leichtes Unterfangen. Georg Breidenstein sieht es als notwendig an, sich Unterricht aus der Beobachterperspektive zu nähern, um geläufige Selbstbeschreibungen und Alltagsdeutungen des alltäglichen Unterrichtsgeschäfts zu hinterfragen und so möglicherweise zu irritierenden Befunden zu gelangen und Common-Sense-Deutungen zu überwinden.279 Dies gestalte sich allerdings schwierig, zumal nicht nur eigene biografische Erfahrungen, sondern auch didaktische, pädagogisch-psychologische und soziologische Perspektiven auf Unterricht bereits vorliegen und ggf. ausgeklammert bzw. selbst zum Gegenstand der Untersuchung gemacht werden müssen.280 Götz Krummheuer empfiehlt im Anschluss an Goffman, Unterricht nicht nur als ein von der Institution Schule und den mit ihr verbundenen Bildungsabsichten abgeleitetes Phänomen zu denken,281 sondern seine Eigendynamik, Eigenständigkeit und Beständigkeit stärker in den Blick zu nehmen. Unterricht erscheine dann als »Interaktionsraum«, der von den Akteuren in der Interaktion sowohl direkt gestaltet als auch als bereits gestaltet erfahren werde.282 Hinzu kommt, dass sich Unterricht nach Luhmann als Inter277 Barbara Asbrand/Matthias Martens/Dorthe Petersen: Die Rolle der Dinge in schulischen Lehr-Lernprozessen. In: Zeitschrift für Erziehungswissenschaft 16, 2 (2013), S. 171 – 188, S. 172 278 Vgl. ebd. 279 Vgl. Georg Breidenstein: Überlegungen zu einer Theorie des Unterrichts, Zeitschrift für Pädagogik 56 (2010) H. 6, S. 869 – 887, S. 869. 280 Vgl. ebd., S. 870 f. 281 Damit richtet sich Krummheuer gegen die makrosoziologische Tradition, die Unterricht in erster Linie strukturfunktionalistisch, d. h. von den Funktionen der Institution Schule für das Gesellschaftssystem her beschreibt und deutet. Siehe z. B. Helmut Fend: Theorie der Schule. München 1981. 282 Vgl. Götz Krummheuer: Eine interaktionistische Modellierung des Unterrichtsalltags – entwickelt in interpretativen Studien zum mathematischen Grundschulunterricht. In: Georg Breidenstein/Arno Combe/Werner Helsper/Bernhard Stelmaszyk (Hrsg.): Forum Qualitative Schulforschung 2. Interpretative Unterrichts- und Schulbegleitforschung. Opladen 2002, S. 41 – 59, S. 42.
Unterricht als soziale Praxis
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aktionssystem zudem unabhängig von normativen Vorgaben der Fächer und Inhalte und dem pädagogisch-didaktisch intendierten Handeln der Lehrkräfte als Einheit aus Routinen und Zufällen reproduziert.283 Das bedeutet, dass das System seinen Akteuren durchaus Spielraum für unterschiedliche Ausformungen – z. B. in Bezug auf Fachwissen und pädagogisches Geschick – lasse.284 Die so im System reproduzierte Kontingenz sieht Luhmann nicht nur als Herausforderung für die Akteure – insbesondere die Lehrkräfte –, sondern auch für die empirische Forschung und deren Anspruch, prinzipiell jeden Gegenstand erforschen zu können.285 Der oft beobachtete Umstand, dass sich Unterricht aufgrund seiner Komplexität nicht auf die Intentionen und Reaktionen seiner Akteure reduzieren lässt, und sich seine Wirkungen bzw. deren Fehlen damit nicht hinreichend erklären lassen, richtet den Blick auf ein grundsätzliches und zentrales Problem: Wie lässt sich Unterricht so beschreiben, dass die Art und Weise, wie er bei seinen Teilnehmern Wirkungen zeitigt, deutlich wird?286 Ansätze, die Unterricht als Ausführung bestimmter Pläne verstehen und »Absicht und Wirkung in ein Zweck-Mittel-Schema zu bringen versuchen«287, gelten mittlerweile als »technologisch verkürzt«288 und wurden als »Lehr-Lern-Kurzschluss«289 bezeichnet. In der pädagogisch-psychologischen Forschung wird stattdessen versucht, in Unterrichtsarrangements Variablen zu identifizieren, deren Kontrolle die Realisierung der jeweiligen pädagogisch-didaktischen Ziele wahrscheinlicher machen.290 In diesem Zusammenhang ist Andreas Helmkes Angebot-Nutzen-Modell zu nennen, das quasi-technische Regelsätze zur gezielten Herstellbarkeit 283 Vgl. Niklas Luhmann: Das Erziehungssystem der Gesellschaft. Frankfurt am Main 2002, S. 109. 284 Vgl. ebd. 285 Vgl. Niklas Luhmann/Karl-Eberhard Schorr : Reflexionsprobleme im Erziehungssystem. Stuttgart 1979, S. 213 f. 286 Vgl. Matthias Proske: Das soziale Gedächtnis des Unterrichts: Eine Antwort auf das Wirkungsproblem der Erziehung? In: Zeitschrift für Pädagogik 55 (2009), H. 5, S. 796 – 814, S. 796. Diese Frage ist – wie Proske selbst zu bedenken gibt – nur dann zentral, wenn man Schule als Einrichtung sieht, die Lernen ermöglichen und beeinflussen soll und die Annahme zugrunde legt, dass es im Unterricht um die Vermittlung bestimmter kulturell gebundener Kenntnisse und Fertigkeiten und Einsichten geht (S. 797). 287 Wolfgang Meseth/Matthias Proske/Frank-Olaf Radtke: Nationalsozialismus und Holocaust im Geschichtsunterricht. Erste empirische Befunde und theoretische Schlussfolgerungen. In: Dies. (Hrsg.): Schule und Nationalsozialismus. Anspruch und Grenzen des Geschichtsunterrichts. Frankfurt am Main 2004, S. 95 – 146, S. 96. 288 Proske: Das soziale Gedächtnis des Unterrichts, S. 796. 289 Klaus Holzkamp: Lernen. Subjektwissenschaftliche Grundlegung, Frankfurt am Main 1993. Siehe auch Walter Herzog: Zeitgemäße Erziehung, Die Konstruktion pädagogischer Wirklichkeit. Weilerswist 2002, S. 266 f., siehe auch Meseth u. a.: Nationalsozialismus und Holocaust im Geschichtsunterricht, S. 96. 290 Vgl. Proske: Das soziale Gedächtnis des Unterrichts, S. 796.
78
Gefilmter Geschichtsunterricht
bestimmter Lerneffekte grundsätzlich ausschließt.291 Mittlerweile verweisen auch Psychologen auf Unbestimmtheit und Unsicherheit als Schlüsselmerkmale von Unterricht. So gehen Jürgen Baumert und Mareike Kunter von einem »Opportunitäts-Nutzungsmodell in doppelter Kontingenz« aus und ersetzen die Frage der Wirkung durch die Frage nach der Nutzung bestimmter »Angebote«.292 Dieser Wechsel lenkt den Blick von den Sichtstrukturen hin zu den Tiefenstrukturen von Unterricht und trägt damit der Komplexität von Unterricht stärker Rechnung, zeigt aber auch, dass die soziale Realität des Unterrichts als Interaktion bisher generell vernachlässigt wurde.
6.2
Kompetenzerwerb
Der Begriff Kompetenz und die an ihn geknüpften Erwartungen markieren den wohl weitreichendsten Paradigmenwechsel im deutschen Bildungswesen der letzten Jahre. Wenngleich eine Fokussierung auf »Output« – also darauf, was Schülerinnen und Schüler zu einem gegebenen Zeitpunkt ihrer Schullaufbahn können sollen – bereits vorher diskutiert wurde, lieferten der sogenannte PISASchock und die darauf folgenden Diskussionen die wichtigsten Impulse für eine grundsätzliche Neuorientierung im Bildungswesen und damit auch in der empirischen Unterrichtsforschung.293 Der Begriff »Kompetenz« geht auf den US-amerikanischen Linguisten Noam Chomsky und dessen Theorien zum kommunikativen Handeln zurück.294 Im Sinne Chomskys bezeichnet Kompetenz ein situationsunabhängiges generatives Prinzip, das sprachliche Handlungen präformiert. Demgegenüber versteht er »Performanz« als die situative Realisierung dieses Prinzips. Bei Kompetenz handelt es sich also um eine Tiefenstruktur, bei Performanz um eine Oberflächenstruktur.295 Das für die gegenwärtige Diskussion einflussreichste oder zumindest am häufigsten zitierte Kompetenzkonzept stammt von Franz E. Wei291 Andreas Helmke: Unterrichtsqualität erfassen, bewerten, verbessern. Seelze 2003. Siehe auch Fend: Theorie der Schule. 292 Jürgen Baumert/Mareike Kunter : Stichwort: Professionelle Kompetenz von Lehrkräften. In: Zeitschrift für Erziehungswissenschaft 9 (2006), H. 4, S. 476 – 477. Die »doppelte Kontingenz« ist ein Verweis auf Niklas Luhmann: Soziale Systeme. Grundriß einer allgemeinen Theorie. Frankfurt am Main 1984, S. 154 – 155. 293 Vgl. Klieme u. a.: Zur Entwicklung nationaler Bildungsstandards. 294 Noam Chomsky : Sprache und Geist. Mit einem Anhang Linguistik und Politik, 6. Aufl. Frankfurt am Main 1996. 295 Ausführlich zum Kompetenzbegriff siehe Martens: Implizites Wissen und kompetentes Handeln, S. 40 – 50 sowie Matthias Martens/Barbara Asbrand: Rekonstruktion von Handlungswissen und Handlungskompetenz. Auf dem Weg zu einer qualitativen Kompetenzforschung. In: Zeitschrift für qualitative Forschung 10 (2009), H. 2, S. 201 – 217.
Kompetenzerwerb
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nert296. Es lieferte den der Expertise »Zur Entwicklung nationaler Bildungsstandards« zugrunde liegenden Kompetenzbegriff297 und beschreibt eine Disposition, domänenspezifische Probleme zu lösen, die sowohl kognitive als auch motivationale, volitionale und soziale Elemente umfasst. In der pädagogischpsychologischen Kompetenzdiagnostik wird der Kompetenzbegriff aus forschungspraktischen Gründen in der Regel auf seine kognitiven Komponenten bezogen, während motivationale, soziale und volitionale Elemente ausgeklammert werden.298 Der Fokus dieser kompetenzdiagnostischen Messungen der Schulleistungen – streng genommen Performanzen – liegt in den sogenannten Standardfächern.299 Eine solche Kompetenzmessung kann nur dann zu validen Ergebnisse führen, wenn sich die jeweilige Kompetenz in psychologischen Konstrukten operationalisieren lässt. Dies ist insbesondere bei mehrdimensionalen Kompetenzen, bei denen motivationale und volitionale Aspekte nicht ausgeklammert werden können, nicht ohne größeren Aufwand möglich.300 Während nicht nur Vertreter der Geschichtsdidaktik ins Feld geführt haben, dass sich bestimmte Bildungsziele einer Messung entziehen,301 argumentiert Olaf Köller, dass es umso schwieriger werde, Messinstrumente und Testaufgaben zu entwickeln, je weniger die zugrunde liegenden Kompetenzen theoretisch fundiert sind. Dies spricht dafür, dass die Grenzen des Kompetenzkonstrukts für die Messung komplexer Kompetenzen bereits erreicht sind und offenbar Bedarf im Bereich der Kompetenzmodellierung besteht.302 Im Rahmen dieser Studie wird Kompetenz als Kombination aus theoretischem (bzw. deklarativem) und atheoretischem komplexen Handlungswissen verstanden.303 Kompetenz wird in der domänenspezifischen Praxis erworben.304 Beispielsweise lernt eine angehende Historikerin den sachgerechten Umgang 296 Franz E. Weinert: Concepts of Competence. 297 Vgl. Klieme u. a.: Zur Entwicklung nationaler Bildungsstandards, S. 21 sowie 72 – 74. 298 Vgl. Eckhard Klieme/Detlev Leutner : Kompetenzmodelle zur Erfassung individueller Lernergebnisse und zur Bilanzierung von Bildungsprozessen. Beschreibung eines neu eingerichteten Schwerpunktprogramms der DFG. In: Zeitschrift für Pädagogik 52 (2006), H. 6, S. 876 – 903, hier S. 879. 299 Vgl. Martens/Asbrand: Rekonstruktion von Handlungswissen und Handlungskompetenz, S. 202. 300 Vgl. Olaf Köller: Bildungsstandards. Verfahren und Kriterien bei der Entwicklung von Messinstrumenten. In: Zeitschrift für Pädagogik 54 (2008), H. 2, S. 163 – 173, S. 169 f. 301 Andreas Körber : Sind Kompetenzen historischen Denkens messbar? In: Volker Frederking (Hrsg.): Schwer messbare Kompetenzen. Herausforderungen für die empirische Fachdidaktik. Baltmannsweiler 2008, S. 65 – 84. 302 Vgl. Köller: Bildungsstandards, S. 168 f. Vgl. Martens/Asbrand: Rekonstruktion von Handlungswissen und Handlungskompetenz, S. 202. 303 Vgl. zum Folgenden insgesamt Martens/Asbrand: Rekonstruktion von Handlungswissen und Handlungskompetenz. 304 Johannes Hartig/Eckard Klieme: Möglichkeiten und Voraussetzungen technologiebasierter Kompetenzdiagnostik. Bonn/Berlin 2007, S. 17.
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Gefilmter Geschichtsunterricht
mit Quellen am Objekt selbst – also durch die wiederholte, zu Beginn angeleitete Arbeit mit Quellen und den Austausch mit anderen Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftlern. Dies schließt an die Vorstellung von situiertem Lernen nach Jean Lave und Etienne Wenger an, wonach individuelle Lernprozesse stets im sozialen Gefüge verankert sind und vom sozialen Kontext überhaupt erst ermöglicht werden.305 Zugrunde liegt die Vorstellung, dass komplexes Wissen Aushandlungsprozessen bedarf. Diese Aushandlungsprozesse ereignen sich in Gemeinschaften, die sich durch eine gemeinsame Praxis konstituieren. Soziale Interaktion wird so zu einem »Raum«, in dem gemeinsame Erfahrungen gemacht werden können – und gelernt werden kann. Zur wissenssoziologischen Fundierung dieses Prinzips leistet das HabitusKonzept Pierre Bourdieus die handlungstheoretische Erweiterung von Chomskys generativer Grammatik. Bourdieu beschreibt den Habitus als »System generativer Schemata von Praxis«306. Demnach ist der Habitus sowohl das Prinzip, das Handlungen, Werturteile etc. erzeugt, als auch selbst das Produkt von Handlungen: »[D]er Habitus ist Erzeugungsprinzip objektiv klassifizierbarer Formen von Praxis und Klassifikationssystem (principium divisionis) dieser Formen. In der Beziehung dieser beiden den Habitus definierenden Leistungen: der Hervorbringung klassifizierbarer Praxisformen und Werke zum einen, der Unterscheidung und Bewertung der Formen und Produkte (Geschmack) zum anderen, konstituiert sich die repräsentierte soziale Welt, mit anderen Worten der Raum der Lebensstile.«307 Versteht man Habitus als strukturgenetisches Prinzip von Praxis, so werden grundsätzliche Parallelen zu dem von Chomsky beschriebenen Verhältnis zwischen Kompetenz und Performanz deutlich: Habitus wie auch Kompetenz werden durch Teilhabe an sozialer Praxis erlernt bzw. erworben und formen diese Praxis. Beide Konzepte sind zudem prinzipiell veränderbar. Nicht zuletzt dadurch ist das Habitus-Konzept für die Kompetenzdebatte anschlussfähig.308 So wie es sich beim Habitus um für die Akteure nicht sprachlich gefasstes implizites Wissen handelt, das bestimmte sichtbare Formen von Praxis erzeugt, wird Kompetenz im situativen Umgang mit Problemen handlungsleitend. Solch handlungsleitendes oder handlungspraktisches Wissen lässt sich mittels qualitativ-rekonstruktiver Verfahren rekonstruieren.309
305 Jean Lave/Etienne Wenger: Situated Learning. Legitimate Peripheral Participation. Cambridge 1991. 306 Pierre Bourdieu: Die feinen Unterschiede. Kritik der gesellschaftlichen Urteilskraft. Frankfurt am Main 1982, S. 279. 307 Bourdieu: Die feinen Unterschiede, S. 277 f. 308 Vgl. Martens/Asbrand: Rekonstruktion von Handlungswissen und Handlungskompetenz, S. 212. 309 Vgl. ebd.
Dokumentarische Methode
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Ausgehend von den normativen und geschichtstheoretischen Vorgaben und dem hier zugrundeliegenden Kompetenzbegriff müssten historische und andere fachspezifische Kompetenzen als eine Kombination aus theoretischem und implizitem Wissen modelliert werden. So muss man beispielsweise wissen, dass Quellen standortgebunden sind (theoretisches Wissen); dieses Wissen allein reicht aber nicht aus, denn es muss im konkreten Umgang mit einer Quelle handlungsleitend werden (implizit), damit es in einer Handlung wirksam werden kann. Wie groß die Diskrepanz zwischen Wissen und Handeln mitunter sein kann, ist hinreichend bekannt. So schildert Diethelm Wahl anhand mehrerer Beispiele, wie die hehren Ziele von Aus-, Fort- und Weiterbildung(en) regelmäßig an den äußerst beständigen »subjektiven Theorien« ihrer Teilnehmerinnen und Teilnehmer scheitern und deren praktisches Handeln offenbar nicht beeinflussen.310 Obwohl entsprechendes theoretisches Wissen wiedergegeben werden kann, wird es für die Lösung realitätsnaher Probleme nicht genutzt.311 Kompetent zu handeln bedeutet vielmehr, sowohl über deklaratives theoretisches Wissen als auch über Fähigkeiten im Sinne prozeduralen oder impliziten Wissens zu verfügen, die in Anwendungssituationen bzw. bei der Lösung domänenspezifischer Probleme – hier die Arbeit mit Quellen – handlungsleitend werden.
6.3
Dokumentarische Methode
Der Sinn qualitativer Forschung ist es, Einblicke in wenig erforschte Themenfelder zu ermöglichen und so zu einer gegenstandsbezogenen Theoriebildung beizutragen.312 Lebenswelten werden dabei von innen heraus, also aus der Sicht der handelnden Menschen beschrieben, um zu einem besseren Verständnis der sozialen Wirklichkeit zu gelangen. Deren Strukturen bleiben Nichtmitgliedern weitgehend verborgen, aber auch die Beteiligten können sie aufgrund ihrer alltäglichen Selbstverständlichkeit nicht oder nur unzureichend selbst explizieren.313 Einblicke in wenig erforschte Lebenswelten gewinnen aufgrund der Pluralisierung der modernen Gesellschaften und der Vielfalt ihrer Milieus, 310 Diethelm Wahl: Lernumgebungen erfolgreich gestalten. Vom trägen Wissen zum kompetenten Handeln, 2. Auflage mit Methodensammlung. Bad Heilbrunn 2006, S. 9 – 14. 311 Vgl. ebd., S. 9. Wahl spricht von einem »Eunuchenproblem«: »Sie wissen zwar, wie es geht, aber sie können es nicht tun.« 312 Vgl. Uwe Flick/Ernst von Kardorff/Ines Steinke: Was ist qualitative Forschung? Einleitung und Überblick. In: Dies.: Qualitative Forschung. Ein Handbuch, 4. Aufl. Reinbek 2005, S. 14. 313 Vgl. ebd.
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Subkulturen, Lebensstile und Handlungsweisen besondere Aktualität.314 Ausgehend von einer Vorstellung von Unterricht als geschlossenes System und als Form sozialer Praxis sind Schülerinnen und Schüler sowie Lehrkräfte auch im Geschichtsunterricht »von einer kompetenten situativen Anwendung von Interaktions- und Kommunikationsregeln […] geprägt, in denen das Wissen und die Erfahrung einer Kultur beständig hergestellt und lebendig werden«.315 Ein Qualitätsmerkmal qualitativer Forschung ist die Wahl einer dem Gegenstand bzw. dem Erkenntnisinteresse angemessenen Methode. Da qualitative Forschung am Alltagsgeschehen und dessen Eigenlogik interessiert ist, ist eine Methode vorzuziehen, die dieser Prämisse Rechnung trägt. Sie muss Erhebungsformen zulassen, die sich möglichst wenig von der Praxis, die es zu untersuchen gilt – in diesem Fall Geschichtsunterricht –, unterscheiden. Im konkreten Fall dieser Studie hatte dies nebenbei den Vorteil, dass die Invasivität der Erhebungssituation auf ein Minimum reduziert werden konnte. Die Dokumentarische Methode ist eine etablierte Methode der qualitativen bzw. rekonstruktiven Sozialforschung und kommt in erster Linie in den Sozialund Erziehungswissenschaften zum Einsatz.316 Seit kurzem ist sie zunehmend auch in fachdidaktischen Forschungsprojekten vertreten.317 Die Methode wird häufig zur Erhebung und Auswertung von Gruppendiskussionen verwendet, zu deren Auswertung sie seit den 1980er Jahren von Ralf Bohnsack unter dem Einfluss neuer Techniken der Textinterpretation entscheidend weiterentwickelt wurde. Neben Gruppendiskussionen findet die Methode auch Verwendung zur Interpretation von narrativen und biografischen Interviews318, von Feldforschungsprotokollen, Tischgesprächen und anderen Situationen der Alltagskommunikation sowie im Rahmen von Methodentriangulation, d. h. in Kombination mit anderen Erhebungsmethoden.319 Die Beobachtung und Analyse von authentischem Unterricht fällt in den Bereich des »natürlichen« Materials, 314 Vgl. ebd., S. 22. 315 Ebd., S. 16. 316 Eine Übersicht über einige Anwendungsfelder findet sich in Bohnsack: Rekonstruktive Sozialforschung, S. 31 f. 317 Siehe z. B. Andreas Bonnet: Die Dokumentarische Methode in der Unterrichtsforschung. Ein integratives Forschungsinstrument für Strukturrekonstruktion und Kompetenzanalyse. In: Zeitschrift für Qualitative Forschung 10 (2009), H. 2, S. 223 – 240; Martens: Implizites Wissen und kompetentes Handeln sowie Meyer-Hamme, Historische Identitäten und Geschichtsunterricht. Den Nutzen der Methode für geschichtsdidaktische Fragestellungen betont Carlos Kölbl: Zum Nutzen der dokumentarischen Methode für die Hypothesen- und Theoriebildung in der Geschichtsbewusstseinsforschung. In: Hilke GüntherArndt/Michael Sauer (Hrsg.): Geschichtsdidaktik empirisch. Untersuchungen zum historischen Denken und Lernen. Berlin 2006, S. 29 – 48. 318 Arnd-Michael Nohl: Interview und dokumentarische Methode. Anleitungen für die Forschungspraxis. Wiesbaden 2006. 319 Vgl. Bohnsack: Rekonstruktive Sozialforschung, S. 32.
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das in der Vergangenheit oftmals eher durch teilnehmende Beobachtungen erhoben wurde.320 In den letzten Jahren wurden insbesondere die Möglichkeiten der Methode für Bild- und Videointerpretation erschlossen,321 an die auch diese Arbeit anschließt.322 Im Sinne der Methode lassen sich immer dann, wenn Menschen miteinander kommunizieren, die in der Praxis eine Gruppe konstituieren oder die im Rahmen einer Gruppendiskussion als Realgruppe gelten können, bestimmte prozesshafte Abläufe von Kommunikation feststellen. Diese können unabhängig von Zufällen und jenseits bestimmter Themen als Muster einer hinter der aktuellen Kommunikation stehenden Struktur verstanden werden.323 Der zentrale Begriff, um diese Gemeinsamkeiten begrifflich zu fassen, ist für Bohnsack im Rückgriff auf Karl Mannheim der »konjunktive Erfahrungsraum«324. Er bezeichnet die Ebene des Kollektiven, die durch gemeinsame strukturidentische Erfahrungen gestiftet wird. Solche gemeinsamen Erfahrungen, die sich auf Gemeinsamkeiten in der Handlungspraxis, der Biografie oder der Sozialisation gründen, bewirken, dass sich Menschen untereinander wie selbstverständlich verstehen. Für ihre Kommunikation sind keine Übersetzungs- oder Interpretationsleistungen nötig. Im konjunktiven Erfahrungsraum entstehen kollektive Orientierungen, d. h. handlungsleitende Einsichten oder Einstellungen. Ziel der dokumentarischen Methode ist es, über mehrere Interpretationsschritte Orientierungen methodisch kontrolliert zu rekonstruieren und Aussagen über die Bedingungen ihrer Entstehung zu treffen. Dies geschieht zunächst über die Schritte der formulierenden und der reflektierenden Interpretation, die weiter unten anhand von Beispielen genauer erläutert werden. Diese beiden Arbeitsschritte, in denen es gilt, zunächst das kommunikative, explizit vermittelbare Wissen zu beschreiben (das Was) und dann über eine Diskursanalyse zu untersuchen, wie mit unterschiedlichen Themen umgegangen wird, entsprechen der sogenannten konstitutiven Leitdifferenz der dokumentarischen Methode. Sie besteht in der genauen Unterscheidung zweier Wissensbestände, die im Rahmen der alltäglichen Kommunikation präsent sind: des kommunikativen und des konjunktiven
320 Vgl. Aglaja Przyborski/Monika Wohlrab-Sahr : Qualitative Sozialforschung. Ein Arbeitsbuch. 2., korrigierte Auflage. München 2009, S. 155 f. 321 Ralf Bohnsack: Qualitative Bild- und Videointerpretation. Opladen 2009. 322 Ein Glossar mit Fachbegriffen der dokumentarischen Methode befindet sich im Anhang dieser Arbeit. 323 Peter Loos/Burkhard Schäffer : Das Gruppendiskussionsverfahren. Theoretische Grundlagen und empirische Anwendung. Opladen 2001, S. 20. 324 Bohnsack: Rekonstruktive Sozialforschung, S. 61. Der Begriff geht zurück auf Karl Mannheim: Strukturen des Denkens. Frankfurt am Main 1980 (ursprünglich 1922 – 1925 unveröffentlichte Manuskripte).
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Wissens.325 Dabei beschreibt das kommunikative (auch »theoretische«) Wissen jenes kommunikativ vermittelte bzw. vermittelbare Wissen, das von den Akteuren expliziert wird, während als implizites oder konjunktives Wissen das handlungsleitende, handlungspraktische Wissen der Akteure bezeichnet wird, das nicht reflexiv verfügbar ist und im Zuge der dokumentarischen Interpretation rekonstruiert werden kann. Mannheim zufolge ist es dazu notwendig, eine »wissenschaftliche Analyseeinstellung« einzunehmen, d. h. eine beobachtende bzw. rekonstruierende Perspektive auf die Konstruktionen der Alltagskommunikation einzunehmen.326 Im Rahmen der Typenbildung gilt es sodann, Bezüge zwischen Orientierungen und den Bedingungen ihrer Entstehung herzustellen. Bohnsack nennt als Beispiele für Typenbildungen Milieu-, Geschlechts- und Generationstypiken, bei denen Orientierungen auf übergreifende milieuspezifische Erfahrungen zurückgeführt werden.327 Ebenso können gegenstandsspezifische konjunktive Erfahrungen für die Herausbildung spezifischer Orientierungen verantwortlich sein. Im Zusammenhang dieser Studie stellen die unterschiedlichen Lehr-/Lernarrangements im Geschichtsunterricht »konjunktive Erfahrungsräume« dar, die es in der Analyse zu rekonstruieren gilt. Da es im Rahmen der dokumentarischen Methode um die Rekonstruktion von Idealtypen (nicht etwa um deren statistische Häufigkeit) und deren Entstehungsbedingungen (nicht ihrer Kausalzusammenhänge oder Korrelationen) geht, kann die Methode das Kriterium der Reproduzierbarkeit als Qualitätsmerkmal empirischer Forschung einlösen. Forscherinnen und Forscher, die mit der dokumentarischen Methode arbeiten, stellen ihre Interpretationen regelmäßig im Rahmen von Forschungswerkstätten zur Diskussion, um methodische bzw. methodologische Fragen zu klären sowie sich der Plausibilität der eigenen Interpretationen zu vergewissern. Damit – so Bohnsack – ist diese Art der rekonstruktiven Sozialforschung doppelt in der Praxis fundiert: über den empirischen Zugriff zur Handlungspraxis der Erforschten und über das, was er als Rekonstruktion der Forschungspraxis in den Forschungswerkstätten bezeichnet.328
325 Mannheim: Strukturen des Denkens, S. 155 – 312. 326 Karl Mannheim: Beiträge zur Theorie der Weltanschauungs-Interpretation. In: Ders.: Wissenssoziologie. Neuwied 1964, S 108. 327 Bohnsack: Rekonstruktive Sozialforschung, S. 50. 328 Ralf Bohnsack: Standards nicht-standardisierter Forschung in den Erziehungs- und Sozialwissenschaften. In: Zeitschrift für Erziehungswissenschaft 8, Beiheft 4/2005, S. 63 – 81, S. 77. Teile dieser Arbeit wurden in der Forschungswerkstatt von Prof. Dr. Barbara Asbrand in Göttingen und Frankfurt am Main diskutiert.
Dokumentarische Unterrichtsforschung
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Dokumentarische Unterrichtsforschung
Diejenigen Beiträge, die unter der Bezeichnung dokumentarische Unterrichtsforschung firmieren und sich auf das Unterrichtsgeschehen als Gegenstand beziehen, sind zum jetzigen Zeitpunkt überschaubar. Zwar liegen Untersuchungen vor, die sich mit den Vorstellungen von Schülerinnen und Schülern sowie Lehrerinnen und Lehrern befassen.329 Neben den laufenden bzw. kürzlich abgeschlossenen Forschungsprojekten von Anja Hackbarth, Dorthe Petersen330 und Lydia Wettstädt331 wurde Unterricht als solcher lediglich in den Studien von Bernd Tesch332 und Monika Wagner-Willi333 mit Hilfe der dokumentarischen Methode analysiert. Dabei evaluiert Tesch kompetenzorientierte Aufgaben, indem er Gespräche unter Schülerinnen und Schülern interpretiert und sich dabei auf Tonaufnahmen stützt. Wagner-Willi hingegen wertet Übergänge zwischen Hofpause und Unterrichtsstunde videogestützt aus. Sie stützt sich dabei auf Videografien und stellt mit deren Hilfe die körperliche Inszenierung als konstitutiv für die von ihr beobachteten Praktiken der Schülerinnen und Schüler heraus. In ihrer Studie steht also nicht das Unterrichtsgeschehen im engeren Sinn, d. h. die sich im Unterricht ereignenden fachlichen Lehr-/Lernprozesse, im Fokus der Forschung. Ansätze, die dokumentarische Methode im Sinne qualitativ-rekonstruktiver Unterrichtsforschung weiterzuentwickeln, wurden im Umfeld der bereits er329 Siehe z. B. Martens: Implizites Wissen und kompetentes Handeln; Barbara Asbrand: Wissen und Handeln in der Weltgesellschaft. Eine qualitativ-rekonstruktive Studie zum Globalen Lernen in der Schule und in der außerschulischen Jugendarbeit. Münster 2009; Nina Heller : Bildungsstandards und Unterrichtsentwicklung in Fachkonferenzen. Eine rekonstruktive Studie zur Implementation der Bildungsstandards. Göttingen 2010; Barbara Asbrand/Nina Heller/Sigrid Zeitler : Die Arbeit mit Bildungsstandards in Fachkonferenzen. Ergebnisse aus der Evaluation des KMK-Projektes for.mat. In: Die Deutsche Schule 104/1 (2012), S. 31 – 42. Robert Baar: Allein unter Frauen. Der berufliche Habitus männlicher Grundschullehrer. Wiesbaden 2010. Ein regelmäßig aktualisierter Überblick über Publikationen mit Bezug zur dokumentarischen Methode, mit gesondert aufgeführten Studien zu den Bereichen Schule bzw. Unterricht findet sich unter http://www.hsu-hh.de/systpaed/index.php?brick_ id=ox7JiLFRc60uaSca (letzter Zugriff: 15. 3. 2014). 330 Dorthe Petersen/Barbara Asbrand: Anpassungsleistungen von Schülerinnen und Schülern beim Übergang von der Grundschule in die weiterführende Schule. In: Zeitschrift für Qualitative Forschung, 14 (1) (2013), S. 49 – 66. 331 Lydia Wettstädt/Barbara Asbrand: Unterricht im Lernbereich Globale Entwicklung. Perspektivität als Herausforderung. In: Ulrich Riegel/Klaas Macha (Hrsg.): Videobasierte Kompetenzforschung in den Fachdidaktiken. Münster 2013, S. 183 – 197. 332 Bernd Tesch: Kompetenzorientierte Lernaufgaben im Fremdsprachenunterricht. Konzeptionelle Grundlagen und eine rekonstruktive Fallstudie zur Unterrichtspraxis (Französisch). Frankfurt 2010. 333 Monika Wagner-Willi: Kinderrituale zwischen Vorder- und Hinterbühne. Der Übergang von der Pause zum Unterricht. Wiesbaden 2005.
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wähnten Frankfurter Forschungswerkstatt erarbeitet und sollen an dieser Stelle erläutert werden, da sie den grundlagentheoretischen Rahmen dieser Untersuchung bilden.334 Voraussetzung für die folgenden Überlegungen ist die Tatsache, dass die dokumentarische Methode dadurch, dass sie grundlagentheoretisch an unterschiedliche Theoriekonstrukte (implizites Wissen, Habitus-Konzept, Wissenssoziologie, Kompetenz-Performanz-Konzept) anschlussfähig ist, grundsätzlich praxeologisch erweitert werden kann, wenn es die Forschungspraxis erfordert und zulässt.335 Die im Folgenden skizzierten Erweiterungen dienen dazu, dem Forschungsgegenstand Unterricht und dessen Komplexität (s. o.) stärker gerecht zu werden, als es bisher möglich war, und gleichzeitig eine Methodologie zu entwickeln, die sich anders als die dokumentarische Videointerpretation für Unterrichtsforschung effizienter handhaben lässt.336 Die dokumentarische Bild- und Videointerpretation zielt nicht nur auf die Rekonstruktion des Habitus der abgebildeten, sondern auch der abbildenden Bildproduzenten ab.337 Wenn es darum geht, Videos zur Erforschung von Unterricht einzusetzen, ist es sicherlich vonnöten, auch den eigenen Standort zu reflektieren; jedoch ist der Habitus des Forschenden in der Regel nicht das Erkenntnisinteresse – zumindest nicht in dem Maße, wie es der Habitus des Regisseurs, Drehbuchautors oder Kameramanns im Rahmen der Analyse eines Spielfilms ist. So wie der Audiorekorder bei der Aufzeichnung einer Gruppendiskussion nicht dazu dient, ein Hörspiel zu produzieren, dient die Kamera beim 334 Da diese Überlegungen bisher nicht in einer Einzelpublikation veröffentlicht worden sind, sei an dieser Stelle auf Prof. Dr. Barbara Asbrand und Dr. Matthias Martens verwiesen, die die Erweiterung der dokumentarischen Methode im Sinne einer dokumentarischen Unterrichtsforschung maßgeblich vorangetrieben haben. Einzelne Beiträge, in denen diese Ansätze bisher publiziert wurden, sind: Martens/Asbrand: Auf dem Weg zu einer qualitativen Kompetenzforschung sowie Asbrand/Martens/Petersen: Die Rolle der Dinge in schulischen Lehr-Lernprozessen sowie Matthias Martens/Barbara Asbrand/Christian Spieß: Rekonstruktive Geschichtsunterrichtsforschung: Zur Analyse von Unterrichtsvideografien. In: Meik Zülsdorf-Kersting/Holger Thünemann (Hrsg.): Methoden der Geschichtsunterrichtsforschung. Schwalbach/Ts. 2014 (im Druck). 335 Siehe dazu Bohnsack: Standards nicht-standardisierter Forschung, S. 70 f. 336 In diesem Zusammenhang sei auf die Akribie der dokumentarischen Bild- und Videointerpretation hingewiesen. So scheint u. a. die Trennung zwischen der ikonografischen und vor-ikonografischen Ebene in Bezug auf die hochgradig institutionalisierte Kommunikation im Unterricht unangemessen. Wenn ein Schüler im Unterricht die Hand hebt, bedarf diese Geste (»Melden«) in der Regel keiner weiteren Rekonstruktion, da in einem sprachlich dominierten Unterricht (Sekundarstufe) Gesten und Handlungen durch die institutionalisierte, symbolisch geordnete Praxis geprägt sind. Vgl. Bohnsack: Dokumentarische Bildund Videointerpretation, S. 142 – 144. Ansätze, historische Unterrichtsvideos mit Hilfe der dokumentarischen Methode auszuwerten liefern Henning Schluß/Jehle May : Videodokumentation von Unterricht als Quelle der historischen und vergleichenden Unterrichtsforschung. In: Dies. (Hrsg.): Videodokumentation von Unterricht. Zugänge zu einer neuen Quellengattung der Unterrichtsforschung. Wiesbaden 2013, S. 19 – 66. 337 Vgl. Bohnsack: Qualitative Bild- und Videointerpretation, S. 162.
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Filmen von Unterricht nicht dazu, einen Film herzustellen. Das Filmmedium eignet sich aufgrund seiner herausragenden mimetischen Eigenschaften338 lediglich besser als andere Medien dazu, den Blick des Forschenden auf das Unterrichtsgeschehen für einen späteren Zugriff zu konservieren.
6.4.1 Interaktionsmedien Unterricht liegt im Rahmen dieser Untersuchung im Medium von Unterrichtsvideos, also in Form bewegter Bilder, als Untersuchungsgegenstand vor. Nach Bohnsack – im Anschluss an Max Imdahl – ist ein wesentliches Merkmal bewegter Bilder, dass sich verbale und nonverbale Kommunikation sowie Bezugnahmen auf materielle Dinge nicht nur gleichzeitig (synchron) ereignen, sondern sich simultan zueinander verhalten. Das bedeutet, dass sie stets aufeinander bezogen sind und für einander Kontexte bilden.339 Dieser Umstand lässt sich an typischen Unterrichtsbeispielen verdeutlichen: Wenn eine Lehrerin mit dem Kopf nickt und damit die Aussage eines Schülers validiert, ist die nonverbale Kommunikation der Lehrerin konstitutiv für das (ansonsten verbale) Unterrichtsgespräch.340 In ähnlicher Weise sind materielle Dinge wie OHP-Folien, Arbeitsblätter und gerade auch die im Fokus dieser Untersuchung stehenden Quellen oft mehr als nur der Kontext einer Unterrichtstunde. Sofern sie propositionalen Charakter haben, d. h. sobald sich rekonstruieren lässt, dass ihre Inhalte in irgendeiner Form aufgegriffen, elaboriert, differenziert, validiert werden etc., sind sie essentieller Bestandteil der verbalen Kommunikation, beispielsweise in einer Gruppenarbeitsphase.341 Die drei unterschiedlichen In338 Vgl. Marilyn Fabe: Closely Watched Films. An Introduction to the Art of Narrative Film Technique. Berkeley/Los Angeles/London 2004, S. 179. 339 Vgl. Bohnsack: Bild- und Videointerpretation, S. 47 – 53. Bohnsack nimmt Bezug auf Max Imdahl: Bilder und ihre Anschauung. In: Gottfried Böhm (Hrsg.): Was ist ein Bild? München 1994, S. 300 – 324. 340 Vgl. Christoph Wulf: Zur Performativität von Bild und Imagination. Performativität – Ikonologie/Ikonik – Mimesis. In: Ders. (Hrsg.): Ikonologie des Performativen. München 2005, S. 35 – 49. 341 Aufschlussreich für den Umgang mit Dingen und die Generierung von Wissen aus der Interaktion mit ihnen ist Bruno Latours Akteur-Netzwerktheorie: Bruno Latour : Zirkulierende Referenz. Bodenstichproben aus dem Amazonas. In: Ders.: Die Hoffnung der Pandora. Frankfurt am Main 2002, S. 36 – 95. Latours Terminologie wird im Folgenden für den Umgang mit Dingen genutzt. Wie sich Latours Ansätze für die Unterrichtsforschung nutzbar machen lassen, zeigen Asbrand/Martens/Petersen: Die Rolle der Dinge in schulischen Lehr-Lernprozessen. Ein Unterrichtsbeispiel, das den Umgang mit materiellen Dingen zur Veranschaulichung dokumentarischer Unterrichtsforschung heranzieht, findet sich in: Martens/Asbrand/Spieß: Rekonstruktive Geschichtsunterrichtsforschung: Zur Analyse von Unterrichtsvideografien.
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teraktionsebenen – verbale und nonverbale Kommunikation sowie der Umgang mit den Dingen – tragen im Unterricht zur selben Interaktion bei. Da Unterricht offensichtlich mehr ist als eine rein sprachliche Kommunikationspraxis, soll im Folgenden von »Interaktionsmedien« die Rede sein.342 Dies verdeutlicht zudem, dass im Rahmen der Interpretation alle drei Medien analysiert werden müssen. Ergebnis der Interpretation kann dann jedoch sein, dass ein Interaktionsmedium innerhalb einer Unterrichtspassage fokussiert ist. In traditionell »fragendentwickelnden« Unterrichtsinteraktionen mag dies die verbale Kommunikation sein, während bei einer Powerpoint-Präsentation möglicherweise sowohl die verbale Kommunikation als auch der Umgang mit Dingen – z. B. mit einer Powerpoint-Folie oder einer Quelle – im Vordergrund stehen.
6.4.2 Interaktionsebenen Fritz-Ulrich Kolbe, Sabine Reh u. a. beschreiben unterschiedliche Aspekte unterrichtlicher Kommunikation als »Differenzbezüge«. Danach ist für Unterricht die Bearbeitung dreier pädagogischer Differenzen im Rahmen eines permanenten Aushandlungsprozesses konstitutiv : erstens die Herstellung und Behauptung der sozialen Ordnung des Unterrichts gegenüber anderen Ordnungen, zweitens Gestaltungsmöglichkeiten von und die Differenz zwischen Vermittlung und Aneignung verschiedener Inhalte sowie drittens die Unterscheidung zwischen schulisch relevantem und nicht relevantem Wissen als Legitimierung einer schulischen Wissensordnung.343 Diese drei Differenzbezüge sind mit Hilfe der dokumentarischen Interpretation von Unterrichtsvideos als unterschiedliche Interaktionsebenen rekonstruierbar. Dies ist möglich, da die in der dokumentarischen Interpretation rekonstruierten Orientierungen in Gegenhorizonten – also Differenzen bzw. Differenzbezügen344 – erkennbar sind.345 Zusätzlich ist beobachtbar, dass die drei Ebenen 342 Aus diesem Grund werden im Folgenden die Begriffe »Interaktion« oder »Interaktionsverlauf« anstelle des in der dokumentarischen Methode gebräuchlichen Begriffs »Diskurs« verwendet. 343 Fritz-Ulrich Kolbe/Sabine Reh/Bettina Fritzsche/Till-Sebastian Idel/Kerstin Rabenstein: Lernkultur. Überlegungen zu einer kulturwissenschaftlichen Grundlegung qualitativer Unterrichtsforschung. In: Zeitschrift für Erziehungswissenschaft 11 (2008), H. 1, S. 125 – 143. Die Autoren sprechen von »Lernkultur« als analytischer Kategorie für qualitative Unterrichtsforschung. Insofern sind die drei von ihnen beschriebenen Differenzbezüge zunächst konstitutiv für Lernkultur und nur dann konstitutiv für Unterricht, wenn man ihn als Lernkultur versteht. 344 Der Begriff »Gegenhorizont« meint in der Sprache der dokumentarischen Methode die gegensätzlichen Orientierungen, die im selben Erfahrungsraum möglich sind. Vgl. Bohnsack: Rekonstruktive Sozialforschung, S. 136 f. Siehe auch Glossar im Anhang. 345 Bohnsack: Rekonstruktive Sozialforschung, S. 49 f.
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aufeinander bezogen sind und füreinander Kontexte bilden. Für die Frage, inwiefern ein Lehr-/Lernarrangement Schülerinnen und Schülern Möglichkeiten für Aneignungsprozesse bietet, ist es z. B. von zentraler Bedeutung, ob in Bezug auf die soziale Ordnung des Unterrichts eine geteilte Orientierung zwischen Schülerinnen und Schülern sowie der Lehrkraft vorliegt. Wenn Einigkeit darüber besteht, dass eine Aufgabe im Unterricht bearbeitet werden soll (Ebene der sozialen Ordnung), kann dies einen Kontext dafür bilden, dass Schülerinnen und Schüler bei der Bearbeitung der Aufgabe Aneignungsprozesse zeigen. Da die Interaktionsebenen trotz ihrer Simultanität heuristisch unterscheidbar sind, lassen sich für die einzelnen Interaktionsebenen u. U. verschiedene, je eigene Typen der Interaktionsorganisation rekonstruieren.346 Diese bilden ebenfalls für einander Kontexte, d. h. sie ereignen sich wie die Interaktionsebenen nicht nur gleichzeitig (synchron), sondern sind simultan. Beispielsweise kann es sein, dass Konklusionen auf der Ebene der sozialen Ordnung, die für eine geteilte Orientierung zwischen Lernenden und Lehrendem in diesem Bereich sprechen, und ein divergente Interaktion mit rituellen Konklusionen347 auf der Ebene der Wissenskonstruktion nebeneinander laufen. So kann ein auf die Aufrechterhaltung des Unterrichtsgesprächs bezogenes Nicken oder ein Bejahen des Lehrers verdecken, dass Schüleräußerungen falsch, d. h. nicht im Sinne des Lehrers sind. Die geteilte Orientierung in Bezug auf die soziale Ordnung kann die Wissenskonstruktion aber genauso gut als Voraussetzung befördern. Auch hier gilt darüber hinaus – wie schon bei den unterschiedlichen Interaktionsmedien –, dass in verschiedenen Unterrichtssequenzen die unterschiedlichen Interaktionsebenen unterschiedlich fokussiert sein können. Im Rahmen dieser Untersuchung sind aufgrund der fachdidaktischen Fragestellung vor allem die Ebenen der Wissenskonstruktion, die Differenz von Aneignung und Vermittlung sowie die Unterscheidung von schulisch relevantem und nicht relevantem Wissen von Interesse. Liegt es im Interesse des Forschenden, Bedingungen von Kompetenzerwerb zu rekonstruieren, so ist vor allem die zweite Interaktionsebene (Vermittlung/Aneignung) von Interesse. Es ist allerdings wahrscheinlich, dass diesbezügliches handlungsleitendes Wissen nicht nur abhängig von der 346 Ein Überblick über die unterschiedlichen Typen der Diskursorganisation (in Bezug auf Gruppendiskussionen) findet sich in Loos/Schäffer : Das Gruppendiskussionsverfahren, S. 69 f. sowie bei Aglaja Przyborski/Ralf Bohnsack: Diskursorganisation, Gesprächsanalyse und die Methode der Gruppendiskussion. In: Ralf Bohnsack/Aglaja Przyborski/Burkhard Schäffer (Hrsg.): Das Gruppendiskussionsverfahren in der Forschungspraxis, 2., vollständig überarbeitete und aktualisierte Auflage. Opladen 2010, S. 233 – 248. 347 Konklusionen beenden die Behandlung eines Themas. Während bei einer »echten« Konklusion eine gemeinsame Orientierung zum Ausdruck kommt, können bei rituellen Konklusionen die widersprüchlichen Orientierungen der Akteure nicht überbrückt werden, und es kommt beispielsweise zu Verschiebungen hin zu konsensfähigen Themen (z. B. Wetter). Weitere Erklärungen der Begriffe siehe Glossar im Anhang.
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institutionellen Rahmung der Unterrichtspraxis (im Sinne von Schulkultur, Lerngruppe, Peermilieu etc.) ist, sondern auch davon, welche Kontexte die anderen beiden Interaktionsebenen bieten.
6.4.3 Komplexität von Unterricht und Potenzial der dokumentarischen Methode Sowohl die unterschiedlichen Medien (verbal, nonverbal, Dinge) als auch die Ebenen der Unterrichtsinteraktion (soziale Ordnung, Vermittlung/Aneignung, Wissen) sowie die Modi der Interaktionsorganisation zeichnen sich also durch ihre Simultanstruktur aus. Hinzu kommt, dass die Teilnehmerinnen und Teilnehmer der Interaktion (Schülerinnen und Schüler, Lehrkräfte und Dinge) teils über geteilte, teils über unterschiedliche konjunktive Erfahrungen und damit über teils geteilte, teils unterschiedliche Orientierungen verfügen. Es scheint plausibel, dass genau diese multidimensionale Simultanstruktur in Verbindung mit sich zum Teil überschneidenden Orientierungen das Phänomen ausmacht, das aus systemtheoretischer Perspektive als Komplexität von Unterricht bezeichnet wird. Das Potenzial der dokumentarischen Methode liegt in diesem Zusammenhang darin, dass die verschiedenen simultanen Verhältnisse unterrichtlicher Interaktion zueinander in Bezug gesetzt werden können. Das, was in diesem Zusammenhang rekonstruiert werden kann, lässt sich mit Werner Vogd als »Polykontexturalität«348 der Interaktionen begrifflich fassen: Je nach Blickwinkel und Erkenntnisinteresse eröffnen sich auf den unterschiedlichen Interaktionsebenen unterschiedliche Bedingungszusammenhänge bzw. Kontexte. Diese Sicht bietet eine Alternative für lineare Kausalitätszusammenhänge, die – wie oben beschrieben – dem Gegenstand Unterricht unangemessen erscheinen.349
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Durchführung der Datenerhebung
Um dem Erkenntnisinteresse – der Frage, welche Kompetenzen Schülerinnen und Schüler im situativen Umgang mit Quellen im Geschichtsunterricht zeigen – nachzugehen, wurden Videografien an fünf Schulen in Niedersachsen durchgeführt. Pro Lerngruppe wurden jeweils vier Einzel- oder zwei bis drei Dop348 Werner Vogd: Systemtheorie und rekonstruktive Sozialforschung. Eine empirische Versöhnung unterschiedlicher theoretischer Perspektiven. Opladen 2005, S. 65 – 100. 349 Vgl. ebd., S. 65. Vogd spricht von »Kausalität« und »Ursache-Wirkungsverhältnis«. Dies scheint in Bezug auf Unterricht aus den o.g. Gründen problematisch.
Durchführung der Datenerhebung
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pelstunden aufgezeichnet.350 Dabei wurde Wert darauf gelegt, in ein bis zwei regulären Stunden vor der Erhebung zu hospitieren und so die Lerngruppe besser kennenzulernen und die Transition zwischen regulären und videografierten Stunden weniger abrupt zu gestalten. So kamen zwischen November 2009 und Juni 2011 verteilt auf 14 Klassen bzw. Kurse insgesamt 39 Stunden bzw. Doppelstunden bei 11 Lehrkräften zusammen.351
6.5.1 Vorgaben für die Lehrenden Im Rahmen der Studie sollte alltäglicher Unterricht beobachtet werden. »Alltäglich« meint in diesem Zusammenhang weder den statistisch am häufigsten anzutreffenden Unterricht noch schlechten oder schlecht vorbereiteten Unterricht.352 Vielmehr soll das Adjektiv in diesem Zusammenhang darauf hinweisen, dass die Erhebung »einen Wirklichkeitsausschnitt im sozialen Miteinander«353 erfasst und diese Wirklichkeit durch das habitualisierte Handeln der anwesenden Personen direkt geformt wird. Um diese Alltäglichkeit zu gewährleisten, beschränkten sich die Vorgaben des Forschers für die Lehrkräfte auf ein Minimum. Sie wurden gebeten, in jeder der videografierten Stunden mit Quellen zu arbeiten und dies zumindest einmal im Rahmen einer Gruppenarbeit zu tun. Alles, was darüber hinausging, z. B. die Unterrichts- und Sozialformen, das Thema der Unterrichtseinheit, die Art der Quellen und ihre Funktion sowie nicht zuletzt den zeitlichen Rahmen, bestimmten die Lehrkräfte bzw. sollte sich aus dem Unterrichtszusammenhang ergeben. Der Unterricht sollte nur im Hinblick auf den Einsatz von Quellen fokussiert sein. Dem lag die durch die normativen Vorgaben und Alltagserfahrungen begründete Annahme zugrunde, dass der Umgang mit Quellen im gymnasialen Geschichtsunterricht nichts Ungewöhnliches ist. Dieser Annahme wurde im Rahmen der Vorstellung des Projekts in den Schulen auch nicht widersprochen. Außerdem wurden die Lehrkräfte gebeten, ihre Stundenplanung – auch im Hinblick auf die Verwendung und Funktion von Quellen – im Vorfeld offenzulegen. Dies konnte entweder in Form eines schriftlichen Stundenentwurfs oder in Form eines kurzen aufgezeichneten
350 Die Anzahl der videografierten Stunden konnte je nach den Gegebenheiten (Klausuren, krankheitsbedingte Ausfälle, sonstige unvorhersehbare Vorkommnisse) abweichen. Durchgeführt wurde die Erhebung vom Autor dieser Arbeit. Zu Beginn der Studie assistierten zudem Hilfskräfte und Kollegen. Der Unterricht in einer Klasse wurde wegen eines Auslandsaufenthalts von studentischen Hilfskräften gefilmt. 351 Vgl. tabellarische Aufstellung im Anhang. 352 Vgl. Krummheuer: Eine interaktionistische Modellierung des Unterrichtsalltags, S. 43. 353 Vgl. ebd., S. 42.
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Experteninterviews unmittelbar vor Beginn der Stunde geschehen. Die große Mehrheit der Lehrkräfte entschied sich für letztere Variante. Die Idee hinter diesem offenen Ansatz bestand darin, den Lernenden und Lehrenden im jeweiligen institutionellen Kontext die Möglichkeit zu lassen, im Sinne der dokumentarischen Methode eigene Relevanzen zu setzen. Insofern wäre es beispielsweise wenig sinnvoll gewesen, vorgefertigte Unterrichtsmaterialien an die Erforschten heranzutragen, zumal über die Eigenlogik des Gegenstands – jenseits normativer Vorgaben – zu Beginn der Erhebung noch zu wenig bekannt war. Darüber hinaus hätte sich ein solcher prinzipiell intervenierender Ansatz wahrscheinlich negativ auf die Rekrutierung der Lehrkräfte ausgewirkt.
6.5.2 Rekrutierung von Lerngruppen Im Rahmen des theoretischen Sampling wurden Audio- und Videoaufnahmen an Schulen in Niedersachsen durchgeführt. Die Rekrutierung der Lerngruppen erfolgte zu Beginn über persönliche Kontakte in den jeweiligen Kollegien, d. h. auf Ebene der Lehrenden. Als sich im Laufe der Untersuchung abzeichnete, dass das Sample sehr gleichförmig ausfiel und es in Bezug auf die Unterrichtsform (vorwiegend Frontalunterricht/fragend-entwickelndes Gespräch) wenig Varianz und damit kaum Vergleichshorizonte gab, wurde gezielt nach Lehrkräften gesucht, von deren Unterricht eine »best practice« im Sinne von kooperativen Lernformen354 und Kompetenzorientierung zu erwarten war. Als Indizien dafür wurden u. a. die Mitwirkung an Geschichtswettbewerben, Lehrtätigkeit an bzw. Kooperation mit Universitäten, Ausbildertätigkeiten sowie die Mitarbeit an Curricula herangezogen. Gleichzeitig wurde das ursprüngliche Vorhaben, das Sample auf Haupt- und Realschulen auszuweiten, verworfen und stattdessen versucht, Lerngruppen an Gesamtschulen zu rekrutieren. Diese Klassen und Kurse – so die Annahme – würden in stärker kooperativen Lehr-/Lernarrangements arbeiten und damit Vergleichshorizonte zum zuvor fast ausschließlich beobachteten fragend-entwickelnden Gespräch bieten. 354 Gemeint sind damit grundsätzlich diejenigen Unterrichtsformen, die sich mit Begriffen wie »selbständig«, »selbstreguliert« oder »selbstorganisiert« umschreiben lassen und es zulassen, dass Schülerinnen und Schüler in Bezug auf die Aufgabenstellung und die Regulierung des Lernprozesses miteinander interagieren. Vgl. Kerstin Rabenstein/Sabine Reh: Kooperative und selbständigkeitsfördernde Arbeitsformen im Unterricht. Forschungen und Diskurse. In: Dies (Hrsg.): Kooperatives und selbstständiges Arbeiten von Schülern. Zur Qualitätsentwicklung Unterricht. Wiesbaden 2007, S. 23 – 38, S. 25. Zu Studien, die eine Förderung von Wissenserwerb durch solche Lehr-/Lernarrangements nahelegen, siehe: Eveline Wuttke: Unterrichtskommunikation und Wissenserwerb. Zum Einfluss von Kommunikation auf den Prozess der Wissensgenerierung, Frankfurt am Main 2005, S. 133 f.
Durchführung der Datenerhebung
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6.5.3 Verfahren vor Ort Nach der Zustimmung durch die Lehrkraft wurde zunächst die Schulleitung um Erlaubnis gebeten und ein Antrag bei der Landesschulbehörde auf Genehmigung der Forschung gestellt. Daraufhin wurde das Projekt in der Lerngruppe durch den Forschenden vorgestellt. In den meisten Fällen hatte die Lehrkraft die Schülerinnen und Schüler bereits im Vorfeld informiert und ein Meinungsbild über eine mögliche Teilnahme an der Studie eingeholt. Im Rahmen des kurzen Vortrags wurden das Anliegen des Projekts dargelegt, der geplante Ablauf geschildert, Angaben zur Freiwilligkeit der Teilnahme gemacht sowie Einzelheiten zur Anonymisierung der Daten und den strikten Auflagen ihrer Behandlung bekanntgegeben. Abschließend hatten die Schülerinnen und Schüler die Möglichkeit, Fragen zu stellen. Diese Möglichkeit hatten sie im Übrigen noch für den weiteren Verlauf der Stunden, in der der Forschende hospitierte. Sämtliche Informationen zum Projekt inklusive Details zur Anonymisierung des empirischen Materials wurden ausgeteilt und die Schülerinnen und Schüler darum gebeten, eine Einverständniserklärung zu unterzeichnen, mit der sie sich bereit erklärten, im Rahmen des Forschungsvorhabens gefilmt zu werden. Bei Lerngruppen der Sekundarstufe I hatte die Einverständniserklärung gemäß den schulrechtlichen Vorgaben durch die Erziehungsberechtigten zu erfolgen, weshalb hier zusätzlich Elternbriefe ausgeteilt wurden. Allen Schülerinnen und Schülern wurde die Teilnahme an der Studie freigestellt und angeboten, sich ggf. in einen toten Winkel zu setzen, sollten sie nicht gefilmt werden wollen. Außerdem stand ihnen frei, ihre Teilnahme auch während der Erhebung zurückzuziehen. Von diesen Möglichkeiten machte allerdings niemand Gebrauch.
6.5.4 Video- und Audioaufnahmen Gefilmt wurde der Unterricht mit zwei stationären Kameras, die zumeist in gegenüberliegenden Ecken des Raumes aufgebaut wurden. Auf die Verwendung einer dem Unterrichtsgeschehen folgenden Handkamera wurde verzichtet, um den Unterricht nicht mehr als unbedingt nötig zu stören. Der Umstand, dass viele der Klassen- bzw. Fachräume zudem recht klein waren und die Schülerinnen und Schüler dementsprechend dicht gedrängt saßen, trug ebenfalls zu der Entscheidung bei, sich als Forschender so wenig wie möglich im Raum zu bewegen und so weder Schülerinnen und Schüler noch Lehrkräfte in ihrem Handeln mehr als nötig zu beeinträchtigen. Die prinzipielle Unvorhersehbarkeit des Unterrichts und seiner Interaktionen war ein weiterer Grund, auf mobile Kameras zu verzichten. Ebenfalls aus diesem Grund blieben die Einstellungen der Kameras nach den ersten erhobenen Stunden statisch und die Geräte darauf
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ausgerichtet, möglichst alle Personen im Raum abzubilden. Dies war aufgrund der Eigenheiten der Räume trotz Weitwinkelobjektiven jedoch nicht immer möglich, so dass manche Schülerinnen und Schüler ggf. nur von hinten bzw. vorne gefilmt werden konnten, respektive der Aktionsraum der Lehrkräfte manchmal nicht vollständig erfasst wurde. Diese Widrigkeiten ließen sich verschmerzen, sprach doch für statische Einstellungen auch die Einsicht, dass eine zu starke Fokussierung entweder auf bestimmte Schülerinnen und Schüler und/ oder die Lehrkraft eine unkontrollierbare und damit unerwünschte Vorstrukturierung des empirischen Materials bedeutet hätte. Die Kameraeinstellungen wurden lediglich bei Gruppenarbeitsphasen angepasst. In diesem Fall wurden mit jeder Kamera – soweit möglich – ein bis zwei Gruppentische in den Fokus genommen. In ähnlicher Weise wurde in einigen Fällen auch bei Präsentationen am OHP oder bei Referaten die Einstellung oder der Zoom einer der beiden Kameras vorübergehend verändert. Zusätzlich zu den Videoaufnahmen wurden Audioaufnahmen angefertigt, die für den Fall technischer Probleme bei den Kameras zum einen als Backup dienten, zum anderen dazu genutzt wurden, die verbale Schülerkommunikation während Gruppenarbeitsphasen zu dokumentieren. Zum Einsatz kamen mehrere Audioaufnahmegeräte, die direkt auf den Gruppentischen platziert wurden. Um die Invasivität gering zu halten, wurden kleine Geräte mit eingebauten Mikrofonen verwendet. Auf den Einsatz externer Mikrofone, Stative o. ä. wurde verzichtet.
6.5.5 Invasivität Die Audiorekorder wirkten auf mehrere Schülergruppen während Gruppenarbeitsphasen ablenkend. Dabei waren es offenbar vor allem jene Geräte mit detaillierten Aussteuerungsanzeigen, die mitunter eine genauere Betrachtung provozierten. In allen anderen Gruppen allerdings konnte keine Beschäftigung mit den Aufnahmegeräten festgestellt werden, die den Unterricht oder die Erhebung beeinträchtigt hätte. Verglichen mit den Aufnahmegeräten scheint die Anwesenheit der unbeweglichen Kameras in den Ecken der Räume keine nennenswerte bzw. beobachtbare Ablenkung verursacht zu haben. Bei diesem Befund handelt es sich nicht um eine Alltagsbeobachtung, sondern um ein Ergebnis der Erhebung. Da die Beeinflussung der Schülerinnen und Schüler durch die Geräte in der Interpretation der empirischen Daten Berücksichtigung fand, hat sie keine Auswirkung auf die Befunde der Studie, die von der Alltäglichkeit des Unterrichts ausgehen. Eventuelle Störungen des Unterrichtsablaufs durch die Forschung konnten in der Auswertung bemerkt und in inhaltlicher Hinsicht berücksichtigt werden.
Auswertung des empirischen Materials – Interpretationsschritte
6.6
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Auswertung des empirischen Materials – Interpretationsschritte
Im Folgenden sollen die grundlegenden Arbeitsschritte der dokumentarischen Interpretation erläutert und anhand von Beispielen aus dem empirischen Material veranschaulicht werden. Die Differenzierung in unterschiedliche Interpretationsschritte ist dabei in erster Linie heuristischer Art, denn im Forschungsprozess laufen Datenerhebung und die Auswertungsschritte zwar systematisch, aber parallel bzw. zyklisch. Diese Verfahrensweise ist typisch für qualitativ-rekonstruktive Verfahren.355
6.6.1 Transkriptionen Sequenzen, in denen sich Schülerinnen und Schüler bzw. Lehrkräfte mit Quellen beschäftigten, wurden Wort für Wort – meist anhand der qualitativ hochwertigeren Audioaufnahmen – transkribiert.356 Zusätzlich zur Tonspur wurde das Video auf für die Interaktion relevante nonverbale Kommunikation sowie in die Interaktion einbezogene materielle Dinge untersucht und entsprechende Beschreibungen in die Transkription eingearbeitet. Die Namen der Schülerinnen und Schüler sowie der Lehrkräfte wurden anonymisiert. Das gleiche gilt für Städtenamen und andere Bezeichnungen, die Rückschlüsse auf die Identität der Lerngruppe oder der Schule hätten erlauben können. Im Forschungsprozess wurde im Sinne einer besseren Anschaulichkeit entschieden, den Akteuren vollständige Namen zu geben und nicht nur – wie insbesondere bei Gruppendiskussionen üblich – einzelne Buchstaben zu verwenden.357 Kritisch anzumerken ist an dieser Stelle, dass es sich bei der »Transkription« der nonverbalen Kommunikation erkenntnislogisch bereits um eine Interpretation handelt, denn ohne Interpretation wäre keine Auswahl bestimmter Gesten 355 Vgl. Uwe Flick: Qualitative Sozialforschung. Eine Einführung. 4. Aufl. Reinbek 2006, S. 71 f. Siehe auch Loos/Schäffer : Das Gruppendiskussionsverfahren, S. 72. Flick sieht in der engen Verzahnung von Datenerhebung und Interpretation eine Stärke, da der Ansatz den Forschenden ständig die Frage vor Augen führe, inwiefern »die verwendeten Methoden, Kategorien und Theorien auch tatsächlich dem Gegenstand und den Daten gerecht [werden]« (ebd.). 356 Die Notation erfolgte in Anlehnung an Bohnsack: Rekonstruktive Sozialforschung, S. 235. Eine tabellarische Auflistung der gängigsten Zeichen findet sich im Anhang dieser Arbeit. 357 Dabei wurden Namen deutschen, türkischen, skandinavischen oder sonstigen Ursprungs im Sinne einer gründlichen Anonymisierung nicht zwingend durch eben solche ersetzt. (Über den Einfluss des Migrationshintergrunds auf historisches Lernen oder ähnliche Fragestellungen kann diese Arbeit ohnehin keine Aussagen machen, da das Erkenntnisinteresse von Vornherein ein anderes war.)
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Gefilmter Geschichtsunterricht
und Handlungen denkbar. Streng genommen müsste das Pendant zur Transkription der verbalen Kommunikation eine akribische vorikonografische Interpretation der sichtbaren Gesten und Handlungen ohne Motivunterstellungen sein. In diesem Sinne würde es dann nicht »Oliver meldet sich« heißen, sondern »Oliver hebt die Hand und streckt den Zeigefinger«. Da – wie bereits beschrieben – Gesten und Handlungen durch die institutionalisierte, symbolisch geordnete Schul- und Unterrichtspraxis stark geprägt sind, können ikonografische und vorikonografische Beschreibung miteinander verbunden werden.358 Die Unzulänglichkeit, dass die Beschreibung der nonverbalen Kommunikation erkenntnislogisch das Pendant zur formulierenden Interpretation ist, kann dadurch gerechtfertigt werden, dass es sich für die Interpretation als praktikabler erwies, verbale Kommunikation und dazugehörige nonverbale Details gleichzeitig im Blick zu haben. Zudem werden in der reflektierenden Interpretation die Interaktionsmedien (und Interaktionsebenen) ohnehin wieder zusammengeführt und aufeinander bezogen. Abb.: Beispiel für eine Transkription (Ausschnitt) Sprecher verbale Kommunikation L Anne
Jonas L ?m ?f L Alina L Anne Rieke L Meira L Meira
Noch was zur Beschreibung? Zur reinen Beschreibung? Anne? Wobei die andern ähm tun so, als ob sie schreiben würden oder schreiben. Und ähm Stalin hat da, glaub ich, ein Weinkrug. Also es sieht aus wie ein Weinkrug, aber da ist halt kein Weinglas, deswegen er trinkt auf jeden Fall was. Und Ist bestimmt Wodka. L Ja. Wodka. Wodka. Könnt auch Wasser sein oder Wodka. (3) Äh und unten links in der Ecke ist noch ein Stern. (2) Was ist das fürn Stern? Der Kommunisten-Stern. L Der rote Stern. Was ist denn das fürn Symbol? Stern. Ja, für was steht der? Kommunismus.
nonverbale Kommunikation Anne, Tabea und Till melden sich. (»Beschreibung«). Herr Meier nickt bei »schreiben«.
Mehrere Schülerinnen und Schüler lächeln bzw. lachen (»Wodka«) Herr Meier nimmt Blickkontakt zu Alina auf und nickt.
Herr Meier nickt.
358 Vgl. Bohnsack: Dokumentarische Bild- und Videointerpretation, S. 56. Voraussetzung ist allerdings, dass die dokumentarische Interpretation der Sequenz vorrangig auf die Sprache ausgerichtet ist. Dies ist im Rahmen dieser Untersuchung der Fall. Insofern wäre der Mehrwert einer vorikonografischen Beschreibung vermutlich gering ausgefallen.
Auswertung des empirischen Materials – Interpretationsschritte
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6.6.2 Auswahl der Sequenzen Für die Analyse kamen grundsätzlich alle Sequenzen in Frage, in denen sich Schülerinnen und Schüler und Lehrkräfte mit Quellen (bzw. dem, was sie als Quelle bezeichneten) beschäftigten. Dabei waren vorrangig Passagen mit hoher interaktiver Dichte von Interesse. Diese werden in der Sprache der dokumentarischen Methode als »Fokussierungsmetaphern« bezeichnet, da sich in ihnen der Habitus der Akteure am deutlichsten zeigt.359
6.6.3 Formulierende Interpretation In einem ersten Schritt wird im Rahmen der formulierenden Interpretation der verbale Interaktionsverlauf thematisch gegliedert. Diejenigen Passagen, die von Interesse sind, werden zusätzlich in Ober- und Unterthemen (seltener auch Unterunterthemen) unterteilt. Bei der Benennung der Themen erwies es sich als pragmatisch, weniger die thematischen Inhalte der Interaktion zu benennen (z. B. »Stalin« oder »Ernährungslage im Ersten Weltkrieg«), sondern im Idealfall Tätigkeiten im Umgang mit Quellen bzw. für den Unterricht typische Interaktionen oder Handlungen zu beschreiben. Dieser Schritt verlässt zwar streng genommen das Relevanzsystem der Akteure, in dessen Rahmen sich dieser Interpretationsschritt bewegen sollte, denn durch die Abstraktion bei der Benennung der Themen wird die Eigenlogik der Beteiligten ein Stück weit übergangen. Da aber in den nächsten Interpretationsschritten Fallvergleiche angestrebt werden, erwies sich dieses Vorgehen als praktikabel. Es ermöglichte, dieselben Themen in unterschiedlichen Lerngruppen schnell zu identifizieren, und erleichterte so die komparative Analyse. Abb.: Formulierende Interpretation (Ausschnitt) OT: Bildinterpretation […] UT: Bildbeschreibung Zur reinen Beschreibung kann man noch sagen, dass die anderen schreiben oder so tun, als ob sie schreiben. Stalin hat offenbar etwas, das aussieht wie ein Weinkrug, aber es ist kein Weinglas. Er trinkt auf jeden Fall etwas. Das ist bestimmt Wodka, könnte aber auch Wasser sein. Unten links ist ein Stern zu sehen. Es handelt sich um den »KommunistenStern«, den roten Sowjetstern, der symbolisch für den Kommunismus steht. UT: Interpretation […]
Ziel der formulierenden Interpretation ist die genaue Benennung des kommunikativen Gehalts der Interaktion, d. h. dessen, was gesagt wird. Es handelt sich 359 Vgl. ebd., S. 86.
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bei diesem Schritt insofern um eine Interpretation, als die Formulierungen nicht unbedingt dem wörtlich Gesagten entsprechen. Die Übersetzungsleistung mag bei empirischem Material aus gymnasialem Unterricht geringer ausfallen, wird aber umso deutlicher, je mehr sich die Sprache der Akteure vom dem Sprachgebrauch des Forschenden unterscheidet. Die formulierende Interpretation bewegt sich dennoch innerhalb des »Relevanzsystems« der Erforschten.360 Die Beschreibung der Struktur dieses Systems erfolgt im nächsten Schritt.
6.6.4 Reflektierende Interpretation In der reflektierenden Interpretation geht es um die Frage, wie mit bestimmten Themen umgegangen wird. Damit lässt dieser Interpretationsschritt das Relevanzsystem der Akteure hinter sich und vollzieht den Schritt weg vom Einzelfall hin zum Fallvergleich, um zu abstrahieren, wie unterschiedliche Gruppen oder Akteure mit denselben Themen umgehen. Teil der reflektierenden Interpretation ist die sequenzielle Analyse der formalen Interaktionsorganisation sowie deren Modi. Damit ist die systematische Analyse der Art und Weise gemeint, mit der die Beteiligten einer Interaktion kommunikativ auf einander Bezug nehmen. Darin sieht Bohnsack den analytischen Zugang zu milieuspezifischen Eigenheiten der Erforschten und die Möglichkeit festzustellen, ob die Erforschten einen Erfahrungsraum teilen.361 Im Rahmen dieser Studie erfolgen an dieser Stelle der Einbezug der nonverbalen Kommunikation sowie die Bezugnahme auf den Umgang mit materiellen Dingen, die sich auch in der Analyse der Interaktionsverläufe wiederfinden. Ergänzend werden pro Sequenz ein bis drei Fotogramme pro Sequenz herangezogen, um der Eigenlogik der visuellen Kommunikation Rechnung zu tragen.
360 Vgl. Bohnsack: Rekonstruktive Sozialforschung, S. 34. 361 Vgl. Ralf Bohnsack/Aglaja Przyborski/Burkhard Schäffer : Einleitung, Gruppendiskussionen als Methode rekonstruktiver Sozialforschung. In: Dies. (Hrsg.): Das Gruppendiskussionsverfahren in der Forschungspraxis, S. 8 – 9. Zur Interaktions- bzw. Diskursanalyse speziell siehe Aglaja Przyborski: Gesprächsanalyse und dokumentarische Methode. Qualitative Auswertung von Gesprächen, Gruppendiskussionen und anderen Diskussionen. Wiesbaden 2004.
Auswertung des empirischen Materials – Interpretationsschritte
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Abb.: Reflektierende Interpretation mit Interaktionsanalyse (Ausschnitt) Proposition durch L, Elaboration durch Anne mit eingelagerter nonverbaler Validierung durch L, Differenzierung durch Jonas, Validierung durch L, ?m, ?f, Konklusion durch L Der Lehrer fragt nun, nachdem Rieke bereits Interpretationsansätze präsentiert hatte, ob es noch Äußerungen zum ersten Interpretationsschritt gebe. Damit macht er erneut auf die Differenzierung von Beschreibung und Interpretation aufmerksam, die er mit dem Zusatz »zur reinen Beschreibung« zusätzlich unterstreicht. Auf der Ebene von Vermittlung und Aneignung hat dies antithetischen Charakter, da sie die vorherige Äußerung trotz der nonverbalen Validierung implizit als unpassend kennzeichnet. Es dokumentiert sich, dass Fehler in Bezug auf das eingeforderte Verhalten nicht explizit korrigiert werden. Dementsprechend wird die inhaltliche Auseinandersetzung mit der Quelle durch die Inkongruenz auf der Ebene von Aneignung und Vermittlung des Unterricht nicht tangiert. […] Im folgenden Beitrag von Anne elaboriert Anne die Proposition des Lehrers, indem sie weitestgehend auf einer beschreibenden Ebene verharrt und auf zusätzliche Bilddetails hinweist. Sie übernimmt lediglich Riekes Deutung, dass es sich bei der Figur um Stalin handelt. Dabei sorgt der Verweis auf Stalins Getränk für die scherzhafte Auseinandersetzung mit nationalen Stereotypen, an der sich auch Herr Meier beteiligt. Annes Details werden allerdings nicht weiter thematisiert; sie sind für die Interpretation und Einordnung der Karikatur offenbar nicht bedeutsam und erscheinen hier lediglich als Teil einer Aufgabe, deren Bearbeitung die von Schülerinnen und Schülern und Lehrer geteilte Orientierung darstellt. Worin der Sinn der »reinen Beschreibung« für die Aufgabenstellung letztlich bestand, wird im Verlauf der Sequenz nicht klar. […]
6.6.5 Typenbildung Die Typenbildung stellt im Rahmen der dokumentarischen Interpretation den Schritt der Generalisierung, d. h. der Abstraktion vom Einzelfall hin zu generalisierbaren Idealtypen im Sinne Max Webers362 dar. Über das Prinzip der Abduktion, das letztlich darin besteht, Regelsysteme zu rekonstruieren,363 kommt es in diesem Schritt zur Theoriebildung über den Gegenstand. Dabei gilt es, Zusammenhänge zwischen den im Fallvergleich rekonstruierten Orientierungen und den Bedingungen ihrer Entstehung herzustellen. Zu unterscheiden ist dabei zwischen sinngenetischer und soziogenetischer Typenbildung.364 Bezogen auf den Gegenstand dieser Untersuchung beschreiben die sinngenetischen Typen unterschiedliche Arten des Umgangs mit Quellen, die sich aus der komparativen Analyse im Rahmen der reflektierenden Interpretation ergeben haben. Erst im Rahmen der Soziogenese wird versucht, die sinngenetisch abstrahierten Typen bestimmten Erfahrungsräumen zuzuordnen und 362 Vgl. Max Weber: Die »Objektivität« sozialwissenschaftlicher und sozialpolitischer Erkenntnis. In: Ders.: Gesammelte Aufsätze zur Wissenschaftslehre, 3. Aufl. Tübingen 1968 (Original 1904), S. 146 – 214, S. 191. 363 Vgl. Bohnsack: Rekonstruktive Sozialforschung, S. 198. 364 Vgl. ebd., S. 150 f.
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Gefilmter Geschichtsunterricht
damit ihre Entstehungsbedingungen zu beschreiben. Auf die vorliegende Untersuchung bezogen entspricht dies der Frage, welche Formen der Praxis (z. B. Lehr-/Lernarrangements, Lehrer- und/oder Schülerhabitus) einen bestimmten Umgang mit Quellen bedingen. Auf der Grundlage des Samples ist eine Klärung dieser Frage zwar nur ansatzweise möglich, es ist jedoch möglich, das Material soziogenetisch zu interpretieren.
6.7
Reflexion des Vorgehens
Rückblickend soll an dieser Stelle insbesondere die Zusammensetzung des Samples kritisch reflektiert werden. Die Erhebung fand unter der Vorannahme statt, dass sich im alltäglichen Geschichtsunterricht Prozesse des Kompetenzerwerbs ereignen und dass diese im situativen Umgang mit Quellen beobachtbar sein würden. Methodologisch wurde vorausgesetzt, dass sich bereits unter der Maßgabe von alltäglichem Unterricht genügend Vergleichshorizonte bieten würden, um Kompetenzerwerb zu rekonstruieren. Dies war nicht der Fall. Um die angestrebten größtmöglichen Kontraste im Sample zu erreichen, wäre es rückblickend sinnvoll gewesen, von Vornherein »normalen« Unterricht mit anderen Formen des Umgangs mit Quellen – z. B. im außerschulischen Bereich – zu kontrastieren. So hätte man von Beginn an versuchen können, Gedenkstätten oder andere Institutionen zu rekrutieren, auf Projektunterricht zu fokussieren oder ggf. auch selbst geplante, stärker kompetenzorientierte, ganzheitliche oder schülerzentrierte Lehr-/Lernarrangements in Kooperation mit den Lehrkräften zu erproben. Gegen Ende der Erhebungsphase verliefen entsprechende Bemühungen auch aus Zeitgründen ergebnislos. Diese Versäumnisse erklären sich allerdings größtenteils daraus, dass sie erst im Verlauf der Untersuchung offenkundig wurden. Reagiert wurde auf sie durch eine Anpassung der Samplingstrategie im Sinne einer Fokussierung auf »Best Practice« (s. o.), die jedoch nach wie vor auf regulären Unterricht bezogen war.
7.
Quelleneinsatz im Sample – Überblick
Bevor in den folgenden Kapiteln verschiedene Typen des Umgangs mit Quellen vorgestellt werden, soll an dieser Stelle der Versuch eines Überblicks über den Quelleneinsatz im Sample unternommen werden. Genauer gesagt sollen die von den Schülerinnen und Schülern und Lehrkräften verwendeten Begrifflichkeiten vorgestellt werden und die unterschiedlichen Quellenarten und -gattungen erläutert werden. In diesem Zusammenhang sollen auch verschiedene Fehlkonzepte erläutert und die Unterrichtsformen und -phasen vorgestellt werden, in denen Quellen im Rahmen dieser Studie zum Einsatz kamen. Dieser Schritt der Ergebnispräsentation ist in methodischer Hinsicht vom Rest der Arbeit abgekoppelt, da es sich um in erster Linie deskriptive Schilderungen des empirischen Materials handelt, für die keine elaborierte Methodologie vonnöten ist. Insofern erhebt dieser Abschnitt weder Anspruch auf Vollständigkeit noch auf Generalisierbarkeit. Er dient vielmehr der Veranschaulichung des für diese Studie gefilmten Unterrichts.
7.1
Quellenarten und -gattungen
Im Rahmen der Studie kamen verschiedene Text- und Bildquellen zum Einsatz. Gegenständliche Quellen wurden nicht genutzt. Die Textquellen deckten dabei ein breites Spektrum von normativen und intentionalen (z. B. Verträge, politische Reden, Befehle, etc.) sowie narrativen Quellen (Tagebucheinträge, Literatur, Feldpostbriefe, Zeitungsartikel etc.) ab. Des Weiteren kamen zwei Lieder zum Einsatz, von denen eins nicht nur gelesen bzw. rezitiert, sondern auch gehört wurde. Bei den Bildquellen handelte es sich um Fotografien, Karikaturen und Wahlplakate. Die allermeisten Quellen stammten aus Schulbüchern (entweder aus den Büchern, die ohnehin benutzt wurden, oder kopiert aus anderen), in einigen Fällen auch aus dem Internet. In einem Fall hatte einer der Lehrer eine Bildquelle
102
Quelleneinsatz im Sample – Überblick
aus dem populärwissenschaftlichen Geschichtsmagazin Geo Epoche entnommen.
7.2
Unterrichtsformen und -phasen
Quellen wurden im Rahmen des beobachteten Unterrichts in Einstiegs-, Erarbeitungs-, Vertiefungs- und Sicherungsphasen eingesetzt. Bildquellen kamen überwiegend in Einstiegsphasen zum Einsatz, während in allen anderen Arbeitsphasen Textquellen dominierten. Die wenigen Lieder und Tondokumente kamen in Einstiegsphasen zum Einsatz. Textquellen zum Einstieg verwendete im Rahmen der Studie niemand. Ein Großteil der eigentlichen Quellenarbeit fand Erarbeitungs-, Sicherungs- und Vertiefungsphasen statt. Typische Sozialformen waren fragend-entwickelnde Gespräche, Gruppen- oder Partnerarbeit sowie Präsentationen.
7.3
Begrifflichkeiten
Neben dem Begriff »Quelle« wurden im Rahmen des gefilmten Unterrichts auch die Begriffe »Primär-« und »Sekundärquelle« benutzt. Der Terminus »Darstellung« war in keiner der Lerngruppen gebräuchlich, wurde in einem Leistungskurs allerdings in einer gefilmten Stunde vom Lehrer eingeführt. Grundsätzlich wurden Begrifflichkeiten, die sich auf aus fachdidaktischer Sicht so essentielle Konzepte beziehen, in zwei Fällen zum Thema gemacht: einmal im Rahmen der Einführung des Begriffs »Darstellung« (s. o.) und einmal im Rahmen einer Stunde, in der die Benutzung des Begriffs »Quelle« – in Abgrenzung zur »Primärquelle« und »Sekundärquelle« – vom Lehrer eingefordert wurde. In einem weiteren Leistungskurs war die Einteilung in Primär- und Sekundärquellen gebräuchlich, wobei sich Sekundärquelle offenbar auf (Historiker-)Darstellungen bezog. In diesem Fall berichtete der Lehrer vor Beginn der Erhebung nicht ohne Stolz, dass der Kurs diese Einteilung beherrsche. In zwei anderen Leistungskursen (am selben Gymnasium) diente das Begriffspaar bei den Schülerinnen und Schülern zur Differenzierung zwischen Originalquellen und ihren gekürzten oder bearbeiteten Versionen, z. B. im Schulbuch. Grundsätzlich ließ sich auch bei einigen Lehrkräften eine relativ unscharfe Verwendung des Begriffs »Quelle« bzw. »Primärquelle« feststellen. Wenn der Begriff im Rahmen einer beobachteten Stunde definiert wurde, geschah dies über das Kriterium der zeitlichen Nähe zum historischen Ereignis. Wenngleich die verwendeten Begrifflichkeiten allein wenig Rückschlüsse auf die zugrunde liegenden epistemologischen Konzepte erlauben – im angloame-
Begriffliche Unschärfe
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rikanischen Raum wird der Begriff »secondary source« für Darstellung verwendet –, so deutet sich im Sample dennoch an, dass die theoretischen Konzepte wie die Bedeutung von Quellen im historischen Erkenntnisprozess sich im Unterrichtsalltag kaum wiederfinden. Der Umstand, dass Dokumente, Bilder, Gegenstände etc. erst durch eine Fragestellung zur Quelle werden bzw. die Art der Fragestellung ausschlaggebend sein kann, ob es sich um eine Quelle oder eine Darstellung handelt, wurde beispielsweise lediglich in einer Doppelstunde thematisiert. Gleichzeitig erschienen hier nach wie vor die Kriterien der Objektivität und Subjektivität als Kategorien der Beurteilung von Quellen. Dem gegenüber sagt aber selbst eine fachdidaktisch bzw. fachwissenschaftlich korrekte Verwendung von Begriffe bzw. das Wissen um bestimmte erkenntnistheoretische Probleme – wie es bei manchen Lehrkräften offensichtlich vorhanden war – noch nichts über den konkreten Umgang mit Quellen bzw. darüber, inwieweit entsprechendes Wissen handlungstheoretisch überhaupt relevant ist.
7.4
Begriffliche Unschärfe
Im Sample kamen nicht nur Quellen zum Einsatz, die unter fachwissenschaftlichen Prämissen als solche gelten können. So bezeichnete eine Lehrerin eine (nicht zeitgenössische) Statistik als Quelle, die zusammen mit anderen, auch als solche zu bezeichnenden, Quellen bearbeitet werden sollte. In ähnlicher Weise stellte ein Lehrer einer 10. Klasse Zeitzeugen, deren Aussagen in ein Filmnarrativ eingebettet waren, als »mündliche Quellen« dar – allerdings nicht ohne deren Aussagewert zu relativieren. Des Weiteren setzte die Lehrerin einer 6. Klasse zur Vermittlung antiker Hierarchien eine selbstgeschriebene »Quelle« ein: das erfundene Selbstzeugnis eines armen attischen Bauern. Während diese Vorgehensweise in pädagogischer Hinsicht und mit Blick auf Empathie sinnvoll sein mag, bringt sie in erkenntnistheoretischer Hinsicht Probleme mit sich. So verschleiert sie in ahistorischer Weise den Grund für das Fehlen entsprechender Selbstzeugnisse. Weiterhin zeichnete sich bisweilen eine Vermischung der Begrifflichkeiten für historische Quellen und Quellen im Sinne von Nachweisen und Belegen ab. So mahnte ein Lehrer im Anschluss an eine Powerpoint-Präsentation an, dass »Internetquellen« möglichst nicht verwendet werden sollten. Im selben Atemzug wurde ebenfalls kritisiert, dass Bilder nicht allein der Illustration dienen sollten. Im Rahmen einer Projektarbeit, die mit einer Ausstellung zum Thema Emigration in die USA endete, präsentierten alle Gruppen auf einer separaten Stellwand oder deutlich von den Ergebnissen ihrer Arbeit abgetrennt ihre
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Quelleneinsatz im Sample – Überblick
»Quellen«. Gemeint waren hier Literatur und Internetnachweise. Die historischen Quellen, die der Projektarbeit z. T. zugrunde lagen, bezeichneten die Schülerinnen dagegen als Augenzeugen- und Erlebnisberichte. Diese wurden von ihnen ausschließlich affirmativ, d. h. als Belege und Illustrationen genutzt. Grundsätzlich lässt sich der Umgang mit Quellen im Sample über alle Altersklassen und Klassenstufen hinweg als weitestgehend affirmativ bzw. positivistisch beschreiben: Es wurde mit Texten oder Bildern gearbeitet, denen Informationen über die Vergangenheit entnommen wurden. Dass sich Lehrkräfte und Schülerinnen und Schüler mit Quellen ähnlich wie Historikerinnen und Historiker beschäftigen und dabei die erkenntnistheoretischen Prinzipien, die in der Disziplin und in der Fachdidaktik als Konsens gelten, den Umgang bestimmen, konnte im Rahmen dieser Studie nur in Ansätzen beobachtet werden.
8.
Historische Kompetenzen im Umgang mit Quellen – empirische Befunde
Die folgenden drei Typiken beziehen sich jeweils auf den Umgang mit Quellen durch Schülerinnen und Schüler unterschiedlicher Klassenstufen. In der Regel schließt die Beschreibung des Lehr-/Lernarrangements auch die Lehrkraft mit ein, so dass in vielen Fällen letztlich auch der Umgang mit Quellen durch die Lehrkraft Gegenstand der Interpretation ist. Um die rekonstruierten Typiken so gut wie möglich veranschaulichen zu können, wurden möglichst plastische Beispiele ausgewählt, die aus verschiedenen Fallvergleichen hervorgegangen sind. Dabei wurden zur Beschreibung unterschiedlicher Typiken bisweilen Beispiele aus denselben (Doppel-)Stunden mehrfach herangezogen und unter einem anderen Fokus beleuchtet. Dass dies möglich war, macht deutlich, dass eine komplexe Tätigkeit wie der Umgang mit historischen Quellen eine Gleichzeitigkeit verschiedener Vorgänge bedeutet bzw. ein kompetenter situativer Umgang mit Quellen die Aktivierung verschiedener Kompetenzen erfordert. Die im videografierten Unterricht verwendeten Quellen befinden sich im Anhang dieser Arbeit. In Fällen, in denen es für das Verständnis der Interpretation notwendig erschien, finden sich im Anhang genauere Angaben zu den Quellen, die von zwei studentischen Hilfskräften und dem Verfasser der Arbeit stammen. Diese Anmerkungen erheben nicht den Anspruch einer vollständigen Quelleninterpretation, sondern dienen vielmehr der Kontextuierung und Plausibilisierung der Interpretationen. Ähnliches gilt für Tafelbilder und »Produkte« der Schülerinnen und Schüler. Die Fotogramme (Standbilder aus einzelnen Sequenzen), die im Zuge der Interpretationen genutzt wurde, auf deren Grundlage die folgenden Typiken aufbauen, werden hier aus Gründen der Anonymisierung nicht mehr verwendet.
106
8.1
Historische Kompetenzen im Umgang mit Quellen
Quellenkritik und ihre Funktion
Als Quellenkritik wird eine Heuristik bezeichnet, mit deren Hilfe im historischen Erkenntnisprozess die Standortgebundenheit einer Quelle beschrieben wird. Davon ausgehend gilt es festzustellen, welchen Wert die Quelle für eine bestimmte Fragestellung hat bzw. welche Fragen sinnvoll an die Quelle gerichtet und mit ihrer Hilfe beantwortet werden können. Dies bedeutet in der Regel eine genaue Beschreibung der Entstehungsbedingungen der Quelle (inklusive Echtheitsprüfung), ihres historischen Kontextes sowie weiterer Merkmale (Urheber, Adressat, Intention). Diese Kontextualisierung hat im Erkenntnisprozess die Funktion, auf der Grundlage von Quellen quasi-objektive Aussagen über die Vergangenheit treffen zu können.365 Im Rahmen des in dieser Studie beobachteten Geschichtsunterrichts ließen sich zwei Typen von Quellenkritik – oder allgemeiner ausgedrückt: der quellenkritischen Strategien im Umgang mit Texten und Bildern – rekonstruieren. Die beiden Typen beziehen sich jeweils auf die Funktion, die Quellenkritik im Unterricht hatte. Dass hier nur zwei Typen rekonstruiert werden konnten, mag der Homogenität des empirischen Materials, d. h. insbesondere der Dominanz des frontalen, fragend-entwickelnden Unterrichts geschuldet sein. Es ist zumindest denkbar, dass andere Unterrichtsformen Kontexte für einen anderen Umgang mit quellenkritischen Informationen bilden. Wie dieser aussehen kann, lässt sich auf der Datengrundlage jedoch andeuten.
8.1.1 Quellenkritik als Erledigung einer Aufgabe Quellenkritik erscheint hier als Tätigkeit, deren Funktion in der Bearbeitung einer Aufgabe besteht und ausschließlich als solche beobachtbar wird. Es lassen sich Orientierungen rekonstruieren, die sich auf die Relevanz der Aufgabenbearbeitung im Unterricht beziehen, während fachspezifisches implizites Wissen nicht erkennbar oder handlungsleitend wird. Der eigentliche Sinn von Quellenkritik, jenseits der Erledigung einer Aufgabe366, wird den Beteiligten dabei nicht ersichtlich bzw. ersichtlich gemacht. Die Aufgabe als solche wird jedoch, selbst wenn sie die Schülerinnen und Schüler als sinnlos wahrnehmen, trotzdem bearbeitet. Als Ernstfall einer solchen Aufgabenbearbeitung erscheint im Material dementsprechend nicht etwa die Auseinandersetzung einer Historikerin
365 Vgl. Kap. 2.3 Quellen im historischen Erkenntnisprozess. 366 Vgl. Georg Breidenstein: Teilnahme am Unterricht: Ethnographische Studien zum Schülerjob. Wiesbaden 2006, S. 136 f.
Quellenkritik und ihre Funktion
107
oder eines Historikers mit einem Dokument, sondern Prüfungssituationen bzw. das Abitur, worauf insbesondere die Beispiele aus Leistungskursen hindeuten. Bsp. 1: Quellenkritik als deklaratives Wissen (2010 – 02 – 17)367 Im Unterricht einer 10. Klasse bittet die Lehrerin Frau Schmidt die Klasse darum, die Elemente, die im Rahmen einer Quellenkritik benannt werden müssen, zu nennen. Dies tut sie unmittelbar vor der Vorstellung von vier Textquellen, die die Schülerinnen und Schüler zuvor in Gruppen bearbeitet haben. Bei den Quellen handelt es sich um vier Zeitungsartikel, die sich alle mit einer Wahlkampfrede Adolf Hitlers vom 22. 7. 1932 in Göttingen beschäftigen, wobei die Wertung der Rede je nach politischer Ausrichtung der Zeitung unterschiedlich ausfällt. Die Quellen lagen den Gruppen in stark gekürzter Form (ein bis zwei Sätze) im Schulbuch vor.368 L
Okay ; (.) gut dann fangen wir mal an die Quellen vorzustellen; so bei einer Quellenkritik und ne Quellenkritik gehört auch Quellen vorzustellen; was muss da alles gesa- genannt werden? (2) So (.) das können jetzt auch alle (.) Alma Alma Ja das Datum; also ungefähr die Zeit L Okay ; was haben wir noch? Du nimmst de- den nächsten dran (.) Alma Ähm Dirk Dirk Inhalt (2) mh Her- Herausgeber vielleicht auch noch me ((Gemurmel)) (3) L Nächster Dirk Es hatte sich aber keiner gemeldet; Ralf Ralf Ähm von wem er ist (.) L Ja das ist der Herausgeber ne? Vielleicht Ralf Das steht aber L L Oder Verfasser schreib ich mal hier lieber noch mal dazu; genau (2) gut (2) Ralf du musst du den nächsten dran nehmenn Ralf Ähm Ben Ben Ja Ort (2) L Wenn wir das haben; klar L Ben Ja also (.) Lars Lars Ich weiß doch gar nix mehr
Im Mittelteil der Tafel steht oben links unterstrichen »Quellenkritik«. Mehrere Schüler melden sich.
Fr. Schmidt schreibt nacheinander mit Spiegelstrichen die Begriffe »Datum«, »Inhalt« und »Herausgeber«an die Tafel.
Die Lehrerin schreibt den Begriff »Verfasser« zwischen »Datum« und »Herausgeber«, den Begriff »Ort« und später »Quellenart« in die Liste an der Tafel. Wenn sie nichtschreibt, dreht sie sich zur Klasse und nimmt zu den Schülerinnen bzw. Schülern, die sie aufruft, Blickkontakt auf.
367 Die Beispiele sind pro Kapitel durchgehend nummeriert und haben einen Titel, der Querverweise erleichtern soll. Das Datum der jeweiligen Passage ist eindeutig zuzuordnen, da pro Tag immer nur in einer Lerngruppe erhoben wurde. 368 Insofern scheint es etwas problematisch, hier überhaupt von »Quellen« zu sprechen. Siehe Anhang.
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Historische Kompetenzen im Umgang mit Quellen
Ach so; ich dachte du hättest die Hand oben (.) dann äh Alma Alma Ähm vielleicht warum es äh geschrieben worden ist ((räuspern)) also obs ein Zeitungsartikel ist oder ob es ein Tagebucheintrag is L Okay erst mal Quellenart ne? (2) Alma Nina Nina Vielleicht auch noch an wen es gerichtet ist L Okay genau; super (5) so was denn noch? Ben Ben Äh der Standpunkt L So. Wie kann man es noch nennen? Standpunkt? (.) Ben Perspektive L Genau (4) L So (.) und wenn wir die Perspektive haben das ist ja das Allerwichtigste (.) dann ist es auch nicht mehr so wichtig ist es jetzt glaubhaft oder ist nicht glaubhaft; sondern aus der Perspektive erfahren wir wird das geschrieben; und darüber können wir trotzdem Informationen rausziehen ne? Dann ist es vielleicht nicht so genauso gewesen wies geschrieben ist; aber weil wir die Perspektive haben (.) hilft es uns auch schon; so dann haben wir noch (2) das hat damit zu tun an wen gerichtet; Intention; was war das noch mal? (.) Intention? Ben Absichten L Genau (2) Ben
Sie schreibt »an wen gerichtet?« unter »Inhalt« an die Tafel.
Nach Bens Beitrag »Standpunkt« zeichnet die Lehrerin zunächst einen Spiegelstrich an die Tafel und schreibt den Begriff »Perspektive« dazu, nachdem Ben ihn genannt hat. Während ihrer Ausführungen deutet die Lehrerin auf den Begriff »Perspektive« an der Tafel.
Dabei macht die Lehrerin klar, dass zur Vorstellung einer Quelle immer auch eine Quellenkritik gehöre. Ihr Zusatz »das können jetzt auch alle« macht zudem deutlich, dass es sich bei der Nennung der Bestandteile einer Quellenkritik um bereits bekanntes Wissen handelt, das an dieser Stelle lediglich rekapituliert werden soll und dass die Tätigkeit als solche nicht besonders anspruchsvoll ist. Worin die Verbindung zwischen der Vorstellung einer Quelle und der Quellenkritik liegt und wodurch sie begründet ist, macht Frau Schmidt nicht deutlich. Insofern besteht die Proposition ihrer Äußerung auf der inhaltlich-thematischen Interaktionsebene darin, dass die Quellenkritik eine Art Beiwerk für die Vorstellung des Inhalts der Quelle ist. Die Schülerinnen und Schüler nennen auf die Frage der Lehrerin unterschiedliche Aspekte einer Quellenkritik. Dabei ist das Vorgehen der Lehrerin von Begriff zu Begriff unterschiedlich. So sollen zwar die Schülerinnen und
Quellenkritik und ihre Funktion
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Schüler die Begriffe liefern und ihre Wortmeldungen mittels Meldekette selbst organisieren; die Lehrerin hat jedoch die Deutungshoheit und kann Begriffe durch andere, aus ungenannten Gründen geeignetere, ersetzen (»Standpunkt« durch »Perspektive«). Was diese Begriffe im Einzelnen bedeuten bzw. welche Funktion sie haben und warum sie genannt werden müssen, bleibt offen. Lediglich den Aspekt »Perspektive« erläutert die Lehrerin vergleichsweise ausführlich und stellt diesen als das »Allerwichtigste« dar. Worin die große Bedeutung genau besteht, wird allerdings in ihren Ausführungen nicht deutlich. Sie argumentiert, dass über die Perspektive »Informationen« gewonnen werden können, jedoch nicht, welcher Art diese Informationen sind. Ferner teilt Frau Schmidt den Schülerinnen und Schülern mit, dass die Glaubhaftigkeit einer Quelle »nicht mehr so wichtig« sei und »es vielleicht nicht so genauso gewesen« sei wie in der Quelle beschrieben. Dies sei aber kein Problem, da es bereits helfe, die Perspektive zu der Quelle zu »haben«. Eine Begründung für die hohe Relevanz, die die Lehrerin dem Aspekt »Perspektive« beimisst, bleibt jedoch aus. Die Hervorhebung dieses Aspekts erfolgt allein durch die Lehrerin, und es sind keine Schülerreaktionen ersichtlich, die sie unterstützen könnten. Dass die beteuerte, aber nicht begründete Wichtigkeit auf Seiten der Schülerinnen und Schüler in der Tat nicht handlungsleitend wird, zeigt sich im Folgenden. Was die Interaktion angeht, elaborieren die Schülerinnen und Schüler die Proposition, der sich auf die Nennung bestimmten deklarativen Wissens als Beiwerk einer Quellenvorstellung bezieht. Emma beginnt mit der Vorstellung der ersten Quelle. Dabei führt sie zunächst aus, dass es sich um einen Text aus einer Zeitung handelt, und nennt das genaue Datum. Dann fasst sie zusammen, dass es in dem Artikel um eine Hitler-Rede in der Universitätsstadt Göttingen vor 50 000 Menschen geht. Sie bezieht sich dabei explizit auf den Text (»wie hier gesagt wird«) und stellt damit klar, dass es sich um eine Aussage des Textes handelt: L
Genau (2) So dann fangen wir mal mit eurer Quelle an; stellt die mal vor Emma Also ähm L L Die andern hören zu Emma unsere Quelle ist aus=aus der Niedersächsischen Tageszeitung vom 23. Juli 1932; (.) ähm (.) und es dreht sich um (.) eine Rede die Hitler in der Unive- -versitätsstadt Göttingen gehalten hat (.) vor wie hier gesagt wird 50.000 Menschen L Mhm
Als Emma beginnt, die Quelle vorzustellen, geht Frau Schmidt von der Tafel zu ihrem Tisch und beugt sich über stehend und indem sie sich auf dem Tisch abstützt über ihr aufgeschlagenes Geschichtsbuch. Ihr Blick wechselt zwischen Buch und Emma, die ihrerseits bisweilen Blickkontakt zu Frau Schmidt herstellt. Die Lehrerin nickt mehrmals.
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Historische Kompetenzen im Umgang mit Quellen
Emma Ähm während es in Strömen geregnet hat (.) und hier wird gesagt dass äh die Leute begeistert waren von dem was er gesagt hat und (.) ähm dass er äh sich bedankt hat für ihre Pflicht; ähm (2) und äh für (.) die Leistung die sie in der Arbeit erbracht haben; jedenfalls er hat sie unheimlich gelobt und der Artikel spricht auch unheimlich löblich über Hitler (.) und ähm (3) ((schnalzt)) ähm es werden auch äh viele (.) positive Begriffe äh genannt wie Wünsche Glauben Hoffnung zum Schluss; und es ist auch nicht besonders objektiv denn es wird zum Teil (.) nun spricht der äh Führer endlich (.) vor ähm auch in Göttingen; also ähm es ist nicht ganz objektiv (.) L Ja könnt ihr noch zu was=zu der Perspektive und der Intention was sagen? Emma Ähm (.) ja (2) Maja Na ja er will (.) oder sie wollen halt Hitler als den großen (.) Guten darstellen und übertreiben halt dass er sich auch auf die Arbeiterschiene runtergestellt hat; und er besser ist und Hoffnung; L Ja okay ; schön (.) ja dann kommen wir Nach Majas Äußerungen nickt Frau auf den nächsten Punkt Schmidt.
Emma nennt mit den zitierten Aspekten Elemente einer Quellenkritik. Ihr Vorgehen entspricht dabei einem Abarbeiten der zuvor aufgestellten Elemente, das sich genau wie die vorherige Sammlung der Begriffe auf einer deklarativen Ebene bewegt. So benennt sie zwar das genaue Datum der Quelle, ordnet sie aber in keinen zeitlichen Kontext (z. B. die Zeit vor Hitlers »Machtergreifung«) ein. Hier ergibt sich eine Kongruenz zwischen der Schüleräußerung und der zuvor deklarativ ausgerichteten Sammlung der Bestandteile von Quellenkritik an der Tafel. Die Elemente werden ohne Hinweis auf ihren Nutzen im Erkenntnisprozess »abgearbeitet« – getreu der Aufgabenstellung. Die Bestandteile von Quellenarbeit, die im Idealfall prozedurales Wissen für den Umgang mit Quellen sein müssten, werden zu Punkten, die im Sinne einer Aufgabe sinnentleert benannt werden. Aufgrund der sprachlichen Details kommt Emma zu dem Schluss, der Artikel sei »nicht besonders objektiv«. Dies wird von der Lehrerin verbal und nonverbal validiert. Es dokumentiert sich bei der Schülerin eine Vorstellung von Objektivität, die an die Quelle herangetragen und von der Lehrerin validiert wird.
Quellenkritik und ihre Funktion
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Damit unterstützt sie mit der Annahme, dass es objektive Quellen geben kann, eine Aussage, die ihren bisherigen Ausführungen von der Wichtigkeit der Perspektive widerspricht. Auf Nachfrage der Lehrerin nach Perspektive und Intention der Quelle, der sie durch den Blick auf die Tafel Nachdruck verleiht, antwortet die Gruppe, für die nun Maja spricht, zögerlich nach zwei Sekunden. Maja wiederholt nun die Beobachtung, dass Hitler in der Quelle in einem positiven Licht erscheine, und macht dies an einem Beispiel fest: Er habe sich auf die »Arbeiterschiene« herab begeben. Damit spielt sie auf die Passage in der Quelle an, in der es heißt, Hitler hätte so wie seine Zuhörer ebenfalls im Regen gestanden. Maja bringt damit letztlich keine zusätzlichen Erkenntnisse in Bezug auf die Nachfrage der Lehrerin. Dies scheint wenig verwunderlich, da sich der Sinn der immanenten Nachfrage der Lehrerin – dafür spricht die zwei Sekunden lange Pause – nach aus der Sicht der Schülerinnen bereits genannten Dingen offenbar nicht erschließt. Es dokumentiert sich in Majas Antwort die Orientierung an der Bearbeitung der gestellten Aufgabe, selbst wenn diese aus ihrer Sicht wenig Sinn zu ergeben scheint. Wenngleich Majas Beitrag keine neuen Informationen beinhaltet, wird er von Frau Schmidt gelobt bzw. validiert (»schön«). Damit validiert sie ebenfalls die Bearbeitung von Aufgaben, deren Sinn unklar ist. Die Vorstellung der weiteren Quellen verläuft ähnlich, wobei die Lehrerin weiterhin explizit nach dem Aspekt der Perspektive fragt. Bei der Vorstellung der dritten Quelle geht Ben ohne explizite Nachfrage auf den Aspekt ein und verweist auf gemeinsame diesbezügliche Überlegungen seiner Gruppe: Und zur Perspektive äh haben wir uns halt so überlegt (.) dass das wahrscheinlich halt die Gegner sind und dass das die KP- also die KommuKommunisten sein müssen L Okay ; warum meint ihr das? L Ben Kommunistische Partei (.) Boris Weil die die stärksten Gegner waren Ben Ja die waren ja=standen ja im Gegensatz; Kommunisten und (.) L Mhm (2) Okay könnte man vielleicht (.) Frau Schmidt nickt in Richtung Ben. okay gut; Ben
Dabei dokumentiert sich, dass dieser Aspekt der Quellenkritik als Teil der Aufgabe so verstanden wird, dass die Quelle einem Verfasser bzw. politischem Hintergrund eindeutig zuzuordnen ist. Die Deutung, »dass das […] die Kommunisten sein müssen«, mit der Begründung, dass es sich bei der KPD um die stärksten Gegner gehandelt habe, wird von der Lehrerin – wenn auch zögerlich –
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Historische Kompetenzen im Umgang mit Quellen
validiert.369 Dabei ist zwar denkbar, dass sich die Validierung auf den Gedankengang des Schülers bezieht; in jedem Fall aber stützt die Lehrerin damit implizit die Vorgehensweise der Schüler, die Quellenkritik als Aufgabe betrachten, deren Ziel die Wiedergabe eindeutigen deklarativen Wissens ist. Dass Quellenkritik von den Schülerinnen und Schülern so und nicht in dem Sinne verstanden wird, dass sie dazu dient, unter Berücksichtigung der Standortgebundenheit der Quelle deren Aussagekraft und mögliche Fragestellungen auszuloten, wird später in der Stunde deutlich. Hier sprechen Schülerinnen und Schüler und die Lehrerin im Rahmen eines fragend-entwickelnden Gesprächs darüber, wie man sich auf der Grundlage der vier widersprüchlichen Quellen dem »eigentlichen« historischen Ereignis nähern kann. Dabei kreist die Diskussion um die Frage, ob Filmaufnahmen »objektive Quellen« des Ereignisses sein könnten. L
Ist das dann ne objektive Darstellung von wie es gewesen ist? (3) Ben Ben Ja ich würd sagen eigentlich auch nicht; weil der filmt ja auch nur das äh was er sehen will L Mhm also was ist dann wieder nämlich wichtig? Ben Ja ähm L Von den Dingen? Ben Obs ne objektive Einstellung ist L Gibt’s denn ne objektive Einstellung? L Ben LUnd wo er gefilmt hat, nee anormalerweise müsste (.) die Vogelperspektive L Okay ; ja; Lisa Lisa Man müsste halt äh nu- äh von Anfang bis Ende gefilmt werden und das äh kommt drauf an wann er die Kamera angemacht hat und wann er die Kamera wieder ausgeschaltet hat; oder
369 Die Quelle stammt aus der Göttinger Zeitung, die als liberal galt. Vgl. Ekhard Sürig: Göttinger Zeitungen. Veröffentlichungen des Stadtarchivs Göttingen I. Göttingen, 1985, S. 18 – 20.
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L
?f
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Genau also das Wichtige ist einfach hier Frau Schmidt deutet mit dem Daumen wieder die Perspektive ne? Deswegen ist der rechten Hand auf das Tafelbild. ja trotzdem immer die Perspektive mit drin; und wenn wir die Perspektive einer Quelle raus finden dann können wir die schon sehr gut einordnen und sagen okay gut; und weil es aus der Perspektive ist bekommt jetzt diese und diese Information heraus; zum Beispiel genau was Lars sagt; wir haben jetzt aus der Quelle hier rausgefunden das Göttinger Tageblatt scheint ziemlich rechts offensichtlich; so das ist die Information die wir jetzt hier rausbekommen (.) und das ist ja auch schon sehr viel wert aus (.) ne? (3) okay? Mhm.
Nach einer Pause ruft Frau Schmidt Ben auf, der ihre Frage verneint und argumentiert, dass jemand, der filmt, in jedem Fall selektiv vorgehe: »der filmt ja auch nur das […] was er sehen will«. Es deutet sich hier eine Vorstellung von Standortgebundenheit und Perspektivität an. Als Frau Schmidt nun nach dem für sie zentralen Begriff »Perspektive« hinweist, indem sie verbal und nonverbal auf das Tafelbild verweist, bezieht sich Ben gerade nicht auf eine der Kategorien an der Tafel. Wenn jemand schon selektiv filmt, dann kommt es – so Ben auf Nachfrage von Frau Schmidt – auf eine »objektive Einstellung« der Kamera an. Lehrerin und Schüler reden hier aneinander vorbei: Während Ben versucht, die fehlende Objektivität »technisch« zu kompensieren, indem er auf eine objektive Kameraeinstellung hinweist, will Frau Schmidt (wie sich im Folgenden zeigt) darauf hinaus, dass der Mehrwert darin liegt, die Perspektive der Quelle näher zu beschreiben. Dieser Weg liegt Ben jedoch fern, da er sich – wie zuvor – an einer mit eindeutigen Angaben zu lösenden Aufgabe orientiert. Die fehlende Passung dokumentiert sich auch in der folgenden quasi-rhetorischen Nachfrage der Lehrerin, ob es überhaupt eine objektive Einstellung gebe: Hier nennt Ben die »Vogelperspektive« als definitive, eindeutige Antwort. Es dokumentiert sich bei Ben die Orientierung an der zu lösenden Aufgabe und damit einhergehend die Vorstellung, dass auch Filme, sofern sie mit einer »objektiven Einstellung« (d. h. aus der Vogelperspektive) entstanden sind, objektive Quellen sind. Auch hier vermeidet Frau Schmidt eine Korrektur dieser Fehleinschätzung, wodurch sie die Vorstellung der Schüler letztlich validiert. Mit der Vorstellung, es könne objektive Quellen geben, wird hier der Sinn von Quellenkritik ad absurdum geführt. Anders gesagt zeigt der Verweis auf objektiven Quellen, dass die Elemente der Quellenkritik lediglich deklaratives Wissen darstellen. So handelt es sich beim Wissen um die Relevanz von Per-
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Historische Kompetenzen im Umgang mit Quellen
spektivität – wie die abschließende Äußerung der Lehrerin deutlich macht – lediglich um theoretisches Wissen der Lehrerin, das für den Umgang mit den Quellen habituell keine Relevanz hat. Für die Schülerinnen und Schüler steht die Funktion der Aufgabenbearbeitung im Vordergrund, während sie grundsätzlich von der objektiven Darstellbarkeit des historischen Ereignisses ausgehen. Inwiefern Perspektivität für die Lehrerin auch implizit wichtig bzw. handlungsleitend ist, bleibt an dieser Stelle offen. In den Handlungen sowohl der Lehrerin als auch der Schülerinnen und Schüler bleiben Verweise auf Perspektivität rein kommunikativ. Bei allen Beteiligten – auch bei der Lehrerin – steht die soziale Ordnung des Unterrichts im Mittelpunkt. Darüber, dass Aufgaben bearbeitet werden, herrscht Einigkeit, wie sich auch an den verbalen und nonverbalen Bejahungen ohne inhaltliche Korrektur durch die Lehrerin zeigt. Das Fehlen inhaltlicher Korrekturen bestätigt, dass Inhalte bzw. die Ebene des schulischrelevanten Wissens habituell irrelevant sind. Bsp. 2: Prüfungssituationen und die »quellenkritische Einleitung« I (2010 – 03 – 01) Dieses und das darauf folgende Beispiel verdeutlichen den Typ der Quellenkritik als Bearbeitung von Aufgaben vor dem Hintergrund der Relevanz schulischer Leistungsbewertung. Im ersten der beiden Beispiele führt Herr Weber im Leistungskurs den Begriff »Darstellung« ein. Den Rahmen bildet eine Diskussion, die sich um die Frage entspinnt, wie sich ein Text eines Historikers, der als Hausaufgabe gelesen werden sollte, charakterisieren lässt. Der Begriff wird vom Lehrer in Abgrenzung zum Begriff »Quelle« hergeleitet, wobei er auch den im Kurs offenbar gängigen Termini der »Primär-« und »Sekundärquelle« eine Abfuhr erteilt: Ja. (.) Andere Vorschläge wie wir das nennen können? ?f Vielleicht Material. L ?f Kommentar L Kommentar. Urteil. Nesrin Beschreibung. ?f Text. L Beschreibung. L ?f Text ist einfach L ( ) Text ist das auch das nenn wir auch Text. (2) Interpretation. Auch gut. Wir nennen das Darstellung. (2) Nesrin Historiker-Darstellung. L Darstellung. (2) Und ich bitte euch, vergesst sekundär vergesst primär. Wir haben Quellen und wir haben Darstellungen. Und das reicht vollkommen aus. ((Durcheinander)) L
(Aufgrund technischer Schwierigkeiten gab es von der Doppelstunde ausschließlich Tonaufnahmen)
Quellenkritik und ihre Funktion
Maria L Maria ?f L ?f ?f ?f
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Sollen wir in der Abi-Arbeit immer schreiben=nicht schreiben von wegen sekundär und primär? Ihr verzettelt euch. Macht einfach nur L ( ) Danke. Und erinnern Sie Herrn Decker, dass ( ) Ich schreibe, Herr Weber hat gesagt primär und sekundär L Decker ist ausgebildet worden in der Steinzeit ((lautes Lachen und Durcheinander)) Was hat er gesagt? Herr Decker ist ausgebildet worden in der Steinzeit. @Das kommt ins Abibuch@
Die Begriffe »Quelle« und »Darstellung« sollen von nun an also von den Schülerinnen und Schülern benutzt werden. Eine Unterteilung von Quellen in Primär- und Sekundärquellen lehnt Herr Weber vehement ab. In Marias Nachfrage, ob letztere Termini nicht vielleicht doch in der nicht mehr allzu fernen Abiturklausur benutzt werden sollen, dokumentiert sich die Relevanz, die die Schülerin in der Verwendung der richtigen Begriffe in der Prüfungssituation sieht. Damit stellt die (Abitur-)Klausur nicht nur den »Ernstfall« für die Bearbeitung von Aufgaben dar, sondern auch den Ernstfall von quellenkritischen Anmerkungen. Im Verweis auf einen anderen – älteren – Geschichtslehrer, der offenbar auf die Verwendung anders lautender Begrifflichkeiten bestanden hatte, wird die Relevanz umso deutlicher. Bsp. 3: Prüfungssituationen und die »quellenkritische Einleitung« II (2010 – 04 – 29) Ein ähnliches Verständnis von Quellenkritik als Aufgabe – ebenfalls mit Testsituationen als Ernstfall – bieten weitere Passagen, die ebenfalls aus Leistungskursen stammen. So präsentieren mehrere Schülerinnen im Kurs von Herrn Meier den Inhalt einer Stalin-Rede.370 Vorausgegangen war eine Gruppenarbeitsphase, in der vier Gruppen jeweils eine Textquelle bearbeiten sollten, mit der Aufgabe, diese hinterher »vorzustellen«. Diesen offenen Arbeitsauftrag bearbeiteten die Gruppen und präsentieren die Ergebnisse anschließend mittels OHP Folie. Dabei gibt Merle den Inhalt der Rede wieder, insbesondere Stalins Argument der Rückständigkeit der UdSSR, die es über höhere Arbeitsnormen aufzuholen gelte:
370 Siehe Anhang.
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Historische Kompetenzen im Umgang mit Quellen
Merle
Ja, diese 50 bis 100 Jahre hinter den anderen bezieht sich halt auf Technik, Landwirtschaft, kulturell, gesellschaftlich, also das ähm die ganzen kapitalistischen Staaten denen halt einfach in diesen ganzen Bereich voraus gewesen sind. Und äh um unter diesen kapitalistischen Staaten halt einfach nicht unterzugehen, ist es halt einfach nötig, dass man mehr arbeitet und sich halt wirklich bemüht innerhalb von zehn Jahren diese 50 bis 100 Jahre aufzuholen. Und dann auch möglichst diese=die kapitalistischen Staaten damit zu überholen. Damit dieser kommunistische Staat, der grade gebildet wurde, überhaupt ähm weiter bestehen kann. (8) Leonie Gut. Ja also man kann auf der Folie halt lesen, wie wir die äh quellenkritische Einleitung gemacht hätten. Und ähm ja, als Stellungnahme kann man dazu im Prinzip sagen, dass der Text ja (.) also Stalin richtet sich halt in dem Text an Wirtschaftsfunktionäre. (.) Und ähm (.) man kann ja ein- also das waren so wie wir uns das gedacht haben, sozusagen ja die (.) Führer der staatlichen Unternehmen. Und damit ähm auch durchaus sehr schön auf die Parteilinie gebracht. Und ich denke, das war halt wirklich so ne Motivationsansprache von ähm (.) Stalin sozusagen. Produziert noch mehr, produziert noch mehr. Ähm also er spielt in dem Text auch ziemlich viel mit an äh mit Angst. Also er schürt sozusagen die Angst son bisschen unter diesen Leuten. Wenn ihr nicht mehr arbeitet, dann ähm ja, werden wir untergehen. Also (.) unsere einzige Chance liegt im Prinzip darin, dass wir viel arbeiten und den Fortschritt haben. Und der ganze Text erinnert son bisschen, ja, so=an so ne Wahlkampfrede. Oder einfach Propaganda. (8)
Nach Merles Beitrag blicken sich Merle, Pia, Leonie gegenseitig still an. Leonie blickt abwechselnd auf ihr Blatt Papier und in den Raum, meist in Richtung Lehrer.
Merle redet dabei im Indikativ und in direkter Rede. Damit legt sie nahe, dass sie den von Stalin propagierten Rückstand von »50 bis 100 Jahre[n]« als Wahrheit akzeptiert hat. Außerdem übernimmt sie die Titulierung der »kapitalistischen
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Staaten« und die Notwendigkeit der in der Quelle beschriebenen Maßnahmen zum Fortbestand des »kommunistische[n] Staat[es]«. In der acht Sekunden andauernden Pause nach Merles Beitrag zeigt sich, dass das Folgende – die »quellenkritische Einleitung« – offenbar nicht für die mündliche Präsentation gedacht war. Diese Informationen hatte die Gruppe vermutlich aus Gründen der Zeiteffizienz auf die Folie »ausgelagert«. Nach dem Austausch mehrerer fragender Blicke untereinander dient die mündliche Weitergabe dieser Aspekte als Puffer bzw. als eine Art didaktische Reserve. Es dokumentiert sich, dass die Gruppe diese Informationen als zweitrangig einschätzt bzw. sie lediglich der Vollständigkeit halber im Rahmen einer zu bearbeitenden Aufgabe präsentiert. Inhalt der Quelle und Quellenkritik werden voneinander losgelöst behandelt und stehen in keiner direkten Beziehung. In diesem Sinne beziehen sich Leonies Ausführungen von Vornherein auf ein hypothetisches Aufgaben- bzw. Prüfungsszenario, in dem Quellenkritik gefragt ist: »man kann auf der Folie halt lesen, wie wir die quellenkritische Einleitung gemacht hätten« (meine Hervorhebung). Damit rahmt Leonie die Überlegungen der Gruppe als Übung für denjenigen möglichen Ernstfall, in dem sie wirklich von Bedeutung sind. Im Umkehrschluss erscheint Quellenkritik im alltäglichen Unterricht aus der Sicht der Gruppe eher als ein notwendiges Übel, das lediglich als Beiwerk bzw. der Vollständigkeit halber erfolgt. Wie sich gerade auch im unkritischen Umgang der Gruppe mit den Informationen aus der von ihr präsentierten Quelle gezeigt hat, ist dieses Wissen bis hierher nicht handlungsleitend: Leonie sieht die Rede Stalins zwar als Form von »Propaganda«; Konsequenzen für die Behandlung der inhaltlichen Aspekte – wie der angeblichen Rückständigkeit der russischen Wirtschaft – hat dies nicht. Bsp. 4: Prüfungssituationen und die »quellenkritische Einleitung« III (2010 – 03 – 18) Ein weiteres Beispiel für den Typ der Quellenkritik als Aufgabenbearbeitung bietet eine Gruppenarbeitsphase mit anschließender Präsentation im Leistungskurs von Herrn Weber. Es handelt sich um denselben Kurs, in dem wenige Tage zuvor die Verwendung des Begriffspaares »Quelle« und »Darstellung« angemahnt worden war.371 Laut Arbeitsauftrag sollte die Gruppenarbeit dazu dienen, dass die Schülerinnen und Schüler die in der jeweiligen Quelle benannten Probleme wiedergeben. Bei den Quellen handelte es sich um vier Textquellen aus der Zeit des russischen Bürgerkriegs, die u. a. die Situation an der Front und in den Betrieben des Landes veranschaulichen sollten.372 In einem weiteren, später dargelegten Schritt sollten die Schülerinnen und Schüler zudem 371 Vgl. Beispiel Prüfungssituationen und die »quellenkritische Einleitung« I (2010 – 03 – 01). 372 Siehe Anhang.
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entscheiden, ob für die Akteure in der Quelle eher eine parlamentarische Demokratie oder ein Rätesystem attraktiv sein würde. Die beiden Systeme hatte der Lehrer zu Beginn der Stunde an der Tafel grafisch gegenübergestellt. Die Schülerinnen beginnen ihre Auseinandersetzung mit der Textquelle mit der offenbar routinehaften Nennung verschiedener Aspekte: Die Schülerinnen sitzen an zwei Nesrin Okay, wollt ihr mal sagen=sagt mal einer ein bisschen lauter, was das hier Tischen, die T-förming aneinander ist. (.) stehen. Emma Die Situation an der Kriegs@front@ @( )@ L ?f @(.)@ Anja Das ist der Bericht eines ArmeeNachrichtendienstes für den 2. bis dritt- äh 3. Oktober 1917. Aufgeteilt in die Nordfront und die Westfront. Da werden L Leah Wir können ja auch gleich mal die ganze @Quelle vorlesen@ ?f @(2)@ L ?f @(2)@ Anja Ich fange an. @(.)@ Nein, da wird eben nur gesagt, dass=die ganze Zeit, dass die alle keine Lust mehr haben zu kämpfen und sich mit dem Feind verbrüdern wollen. L ?f Ja.
Nesrin nimmt dabei Bezug auf die Erhebungssituation und das Audioaufnahmegerät, das vor den Schülerinnen auf dem Tisch liegt. Dafür solle man nun »ein bisschen lauter« sprechen. Damit nutzt die Schülerin zunächst die Erhebungssituation, um ihre Gruppe auf das für den Unterricht relevante Thema zu leiten, nachdem man sich zuvor mit Themen aus der Peerkultur beschäftigt hatte. Darauf nennen Emma und Anja erst die vorgegebene Überschrift der Quelle (»Die Situation an der Kriegsfront«) sowie die grundlegenden Informationen zur Quelle. Darauf wird zur allgemeinen Belustigung vorgeschlagen, die Quelle noch einmal laut und damit gut hörbar vorzulesen – wissen die Schülerinnen doch, dass ihr Umgang mit Quellen das Erkenntnisinteresse des Forschers darstellt. Die Präsenz des Aufnahmegeräts und die Erwartungen, die die Gruppe dem Forscher unterstellt, haben für die Schülerinnen also offenbar Ähnlichkeit mit einer Prüfungssituation, die die Gruppe hier ironisch – die Schülerinnen lachen – simuliert, indem sie das tut, was in Prüfungssituationen sonst gefragt ist. Auch hier stellen die quellenkritischen Elemente für die Schülerinnen aufzulistende Details dar, die nacheinander genannt werden und damit erledigt sind. Dabei beschränkt sich ihre »quellenkritische Einleitung« auf die Wiedergabe von Informationen, die der Quelle im Schulbuch ohnehin vorausgeschickt
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werden. Anja beendet die ironische Auseinandersetzung mit der Quelle, was sie mit einem einleitenden »nein« deutlich macht. Was folgt, ist eine Inhaltsangabe der Quelle – eine Aufgabe, deren Trivialität Anja zusätzlich betont: »Nein da wird eben nur gesagt, […]« (meine Hervorhebung). Dass die quellenkritischen Vorbemerkungen für die Arbeit mit der Quelle keine weitere Bedeutung haben – es geht im Sinne des Arbeitsauftrags ohnehin lediglich um die Wiedergabe inhaltlicher Aspekte – zeigt, dass Quellenkritik auch hier über den Status einer zu bearbeitenden Aufgabe keine weitere Funktion für den Umgang mit der Quelle hat. Bei der Präsentation der Ergebnisse dieser Gruppenarbeit ist es der Lehrer, Herr Weber, der nach weiteren Informationen zur Quelle, speziell nach ihrer »Perspektive« fragt: Okay könnt ihr noch was zur Quelle sagen? Wann die entstanden ist und wer den=wer die verfasst hat, also welche Perspektive ist das? Emma Von den, ich glaub, von den Soldaten, die (.) oder? Äh Quatsch von den Offizieren, die=die sozusagen Bericht erstattet haben. (3) Im (.) Jahr 1917 war das. Anja Ähm ich glaub, erschienen, das steht da aber so abgeschnitten drunter, könnte sein, dass das ähm (.) erschienen ist in äh Stanford. L Das ist der Veröffentlichungsort. Anja Ja. In Stanford. L L Mir geht’s eher um die Frage wann diese Quelle entstanden, in welchem Kontext die entstanden ist. Anja Ja, das hatten wir ja gesagt. L Leah Ja ist doch der Nachrichtendienst. L ( ) L ?f Der Armee-Nachrichtendienst steht da. L Im Oktober 1917, darum geht’s. L ?f Ja. L
Die Schülerinnen sitzen an ihren Gruppentischen in der Nähe des OHP. Anja guckt auf ihre Zettel, Nesrin hantiert weiter mit ihren Aufzeichnungen.
Herr Weber geht zu seinem Tisch und blickt auf seine Materialien und geht dann wieder zurück vor die Tafel.
120 L
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Genau. Also das ist um die Zeit der=also kurz vor Ausbruch der Revolution haben wir eine solche Situation an der Front. Okay, gibt’s da zu erst mal von den anderen Fragen? (.) Zum Problem beziehungsweise Verständnis der Argumentation? (3) Okay. (.) Dann behalten wir das im Kopf und schauen uns das nächste Problemfeld an. (.) Macht ihr mal weiter? (2) Ich kopier euch das noch. Wird also gesichert. Super. Gut gemacht.
Der Verweis auf den Erscheinungsort des Quellenbandes, der in erkenntnistheoretischer Hinsicht in diesem Zusammenhang irrelevant ist, wird hier auf Nachfrage des Lehrers von Anja genannt. Darin dokumentieren sich zwei Dinge: zum einen die Auffassung der Schülerin, dass bereits alles zur Quelle gesagt sei, die Frage aber dennoch beantwortet werden muss. Zum anderen dokumentiert sich wiederum die Auffassung von Quellenkritik als einer Aufgabe, die es nötig macht, bestimmte Aspekte aufzuzählen, deren Funktion aber nicht erkennbar wird. Die Schülerinnen sehen dementsprechend auch die Frage nach dem Kontext der Quelle als längst beantwortet an: »Ja das hatten wir ja gesagt«. Der Lehrer weist zwar darauf hin, dass es sich bei Stanford um den Erscheinungsort handele; doch damit validiert er nur die Vorgehensweise der Schülerin, denn er vermeidet es, explizit darauf hinzuweisen, dass der Veröffentlichungsort in diesem Zusammenhang nicht von Bedeutung ist. Dadurch, dass der Lehrer am Ende die Präsentation lobt, kommt es zu einer erneuten, diesmal deutlicheren Validierung des Vorgehens der Schülerinnen, die – so versichert der Lehrer – die Aufgabe erfolgreich bearbeitet haben: »Super. Gut gemacht.« Die Schülerinnen und Schüler zeigen hier nicht, dass für sie die Funktion, die Quellenkritik im historischen Erkenntnisprozess haben sollte, handlungsleitend wird. Stattdessen läuft die Bearbeitung der Quelle darauf hinaus, dass ihr inhaltliche Informationen relativ unkritisch entnommen werden. Am Interaktionsverlauf lässt sich hier implizites Wissen bezüglich der Bearbeitung von Aufgaben rekonstruieren, in deren Dienst die sogenannte »quellenkritische Einleitung« gestellt wird sowie die implizite Orientierung, dass Quellen mehr oder weniger objektive Informationen über das historische Ereignis liefern.
8.1.2 Quellenkritik als Form der Kontextualisierung Quellenkritische Anmerkungen als Form der Kontextualisierung einer Quelle konnten im Sample nur in wenigen Sequenzen und lediglich äußerst punktuell
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rekonstruiert werden. Dieser Typ beschreibt letztlich, wie im konkreten Umgang mit einer Quelle bestimmte Informationen (z. B. Verfasser, Adressat etc.) thematisiert werden und in die Analyse der Quelle einfließen, z. B. um den Aussagewert der Quelle in Bezug auf eine bestimmte Fragestellung abschätzen zu können. Im Gegensatz zum zuvor beschriebenen Typ konnte implizites Wissen rekonstruiert werden, das sich nicht nur auf die Erfüllung von Aufgaben – also auf die soziale Ebene des Unterrichts – bezieht, sondern mit den Umgang mit Quellen die Ebene des schulisch relevanten Wissens betrifft. Bsp. 5: Kontextualisierung und Standortgebundenheit (2010 – 03 – 18) Hier handelt es sich um ein Beispiel aus einer Gruppenarbeitsphase derselben Stunde, aus der auch das Beispiel Prüfungssituation und »quellenkritische Einleitung« III (2010 – 03 – 18) stammt. Die Gruppe beschäftigt sich mit zwei schriftlichen Quellen aus der Zeit des russischen Bürgerkriegs.373 Als Arbeitsauftrag gilt es – wie der Lehrer, Herr Weber, zu Beginn noch einmal klarstellt –, zunächst die Probleme der Akteure in der Quelle zu benennen. Quellenkritische Bestandteile sind also nicht expliziter Teil des Arbeitsauftrags; dennoch fragen sich sie die Schülerinnen Rachel und Ina – die anderen Mitglieder der Gruppe lesen zu diesem Zeitpunkt noch –, wer der Urheber des Textes ist und wo er in der Hierarchie der unterschiedlichen Komitees einzuordnen ist. Mit den Angaben »Kreis-Komitee« und »Kommissar«, die der Quelle beigegeben sind, geben sie sich die Schülerinnen nicht zufrieden: L
Okay und wenn ihr fertig seid mit Lesen, tauscht erst mal darüber aus, welches Problem es überhaupt gibt. L Ina Weiß nicht. Und die sind ja so ganz anders als die hier. Die wollen ja das gan- die ganze Macht beim werktätigen Volk und die (.) bei sich eigentlich. Ne? Rachel Ja. Ina Also die sind doch irgendwie son bisschen von der alten Regierung, glaub ich, oder? (.) Rachel Ähm, ich glaub ich, die sind von=von der äh (2) ähm (3) Ina Die sind Kommissar.
373 Siehe Anhang.
122 Rachel
Ina Rachel Ina Rachel Ina Rachel
Ina Rachel Ina Rachel ?f
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( ) 17. Und ich glaube, die sind so=so die Obersten, die noch diese KreisKomitees auch kontrollieren, oder? Also drüber, vielleicht ist der vom Zentralkomitee. Aber ich weiß halt nich genau L Der ist ja=der ist ja dafür, dass ähm der ist ja gegen diese ganzen ähm Durchsuchungen. Ja. Und gegen diese ganze Macht ( ) L Aber er ist gegen die L ( ) LänderKomi- Komitees. L Er ist, so wie ich das verstanden hab, dagegen, dass das Kreiskomitee so schnell entscheidet Ja. Und sich nicht an die ähm (.) An seine An die Vorgaben hält die er gibt. Und das heißt ja er muss da drüber stehen. L Ja.
Die Schülerinnen stellen – im Unterschied zu ihren Mitschülerinnen (Beispiel Prüfungssituation und »quellenkritische Einleitung« III (2010 – 03 – 18) – quellenkritische Fragen und tauschen sich darüber aus, welche Stellung der Autor der Quelle »M5« wohl hatte. Gerade vor dem Hintergrund, dass quellenkritische Aspekte nicht Teil des Arbeitsauftrags waren, spricht diese Vorgehensweise für implizites Wissen bezüglich der Behandlung von Quellen. Dass die Schülerinnen dieses implizite Wissen in Form konkreter Fragen an dieser Stelle zeigen, ist also nicht der Aufgabenstellung zu verdanken, für deren Bearbeitung quellenkritische Strategien wie oben beschrieben letztlich nicht nötig sind. Die Vorgehensweise der Schülerinnen stellt sie allerdings vor ein Problem: Die vom Lehrer zu Beginn vorgestellte Polarisierung von Rätesystem und parlamentarischer Demokratie geht für sie mit einem Exklusivitätsanspruch einher, den die Quellen bzw. ihre Verfasser einlösen müssen. Dies führt zu der paradoxen Beobachtung, dass der Verfasser die Quelle schlecht hätte verfassen können, denn »sonst könnte er einfach abgesetzt werden«. Da sie dieses Problem nicht lösen können, beschließen die Schülerinnen, Herrn Weber zu fragen. Es dokumentiert sich, dass der Tafelanschrieb des Lehrers derart wirkungsmächtig ist, dass die Dichotomie, die sich in ihm zeigt, als unabdingbar von den Schü-
123
Quellenkritik und ihre Funktion
lerinnen akzeptiert wird und zu Fragen führt, die die Schülerinnen anhand der Quelle nicht mehr beantworten können: Ina Rachel Ina Rosa Rachel Ina ?f Ina Rachel L Ina Rachel
L
Rosa Ina L Ina L Ina
Rachel
Ja, aber das ist ja dann im Zentralkomitee nicht so, sonst könnte er ja einfach abgesetzt werden. Ja, stimmt auch wieder. Dann müssen wir das mal fragen. L Was is überhaupt die Frage? Was er genau ist. Herr Weber? L Also ob das hier jetzt ne demokratische äh dass die dem und die parlamentarischen Demokratie ist Mhm. und diese hier die Räte. Weil guck mal, die sind ja so, dass die ganze Macht beim L Wir haben noch mal ne Frage. Aber bitte doch. L werktätigen Volk liegen soll. L Wir wissen nicht genau welche Stellung er jetzt hat dieser Kommissar. Also er steht über dem Kreiskomitee weil er sie sonst nicht so kritisieren würde dass sie so viel selbst entscheiden Gouvernement ist wahrscheinlich auf einer oberen ähm ob schon auf der Reichs-Ebene ääh Nationalebene ist glaub ich nicht. Also soweit ich L Aber er findet das halt trotzdem total doof was da passiert. L Aber ist er im Rätesystem? Ja, ja. Kommissar ist meistens=ist er im Weil er=er könnte ja einfach abgesetzt werden, wenn er so redet. Ja. (.) Das wäre ne Möglichkeit. Und er mag ja auch diese=also @nicht@ er mag nicht, aber ähm er ist ja auch gegen diese ganzen äh Entscheidungen der Räte. L Gegen die Eigenständigkeit.
Herr Weber dreht sich um und geht in Richtung der Gruppe.
Herr Weber nickt.
Herr Weber nickt.
124 L
Historische Kompetenzen im Umgang mit Quellen L
Also ihr=ihr seid ihm schon=ihr seid im Grunde genommen schon einen Schritt weiter. Weil ich nämlich sozusagen in der nächsten (2) als nächsten Arbeitsauftrag den äh Auftrag erteilen werde, welches System möglicherweise sich anbietet, um dieses Problem zu lösen. Rachel Okay. L Also hier haben wir möglicherweise eine Schwachstelle des Rätesystems. (2) Ina Also ich mein das zweite ist ja ganz klar Herr Weber verlässt den Gruppentisch. Rätesystem. Rachel Ja. (.)
Ansätze von Quellenkritik, die einer Kontextualisierung der Quelle gedient hätten, werden durch die ahistorische Polarisierung in Grenzen gehalten. Mit der Rahmung der Quelle durch das Tafelbild stellt der Lehrer sie in einen Zusammenhang mit abstrakten nachträglichen Deutungen, in den sie so nicht gehört. Während sich für Rachel die quellenkritische Frage nach der Position des Autors innerhalb der Hierarchie der Räte stellt (»was er genau ist«), geht es Ina um eine eindeutige Zuordnung der politischen Systeme zur Quelle. Es dokumentiert sich, dass die beiden Schülerinnen zuvor aneinander vorbei geredet haben, ihre Interaktion war divergent. Dennoch – dies wird insbesondere im Vergleich zur anderen Gruppe deutlich – stellen sie Fragen an die Quelle, die sie für ihre Bearbeitung als relevant erachten. Es geht ihnen nicht von vornherein um eine Wiedergabe des Inhalts, sondern vorher müssen bestimmte quellenkritische Fragen geklärt werden. Um dies zu tun, wenden sich Ina und Rachel an Herrn Weber, der die genaue Position des Kommissars innerhalb der RäteHierarchie allerdings ebenfalls nicht klärt. Inas Zweifel, ob er wegen seiner Kritik und ihrer möglichen Folgen tatsächlich »im Rätesystem« sei, kann er bereinigen. Dem Dilemma, das Ina sieht – das Äußern von Kritik trotz möglicher Konsequenzen –, konkludiert Herr Weber rituell mit dem Verweis auf die nächste Aufgabe. Diese bestehe darin zu überlegen, welches System »sich anbietet, um dieses Problem zu lösen«. Später, als sich die Gruppe über den Inhalt der Quelle austauscht, wird auch die Perspektive der Quelle angesprochen und es zeigt sich, dass sie für Ina ein wichtiger Aspekt ist: Ina
Also ich mein, er sagt doch, dass alles ins=in diese Kreiskomitees äh untergeht, dass das doof ist.
Quellenkritik und ihre Funktion
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Rachel Wo denn? (.) Ina Weiß ich nicht. Überall? @(.)@ (3) Hier, er sagt doch auch, alle diese Funktionen werden häufig auf Verordnung oder mit Belill- -willigung der Kreiskomitees und mitunter auch der Bezirkskomitees ausgeübt. L Rachel Ja, aber da ( ) L Ina Das kritisiert er doch? Oder? Rachel Ja, er kritisiert, dass sie selbstständig entscheiden. Ina Ja. (.) Rachel Ja. (.) Ina Ja, aber damit kritisiert er doch eigentlich, dass diese ganzen staatlichen Rachel Ich glaube nicht, dass er das gesamte System Ina Okay. Rachel würde er sonst hinterfragen, oder? L Rosa Ja, sonst ha- dass das einfach son bisschen alles außer Kontrolle gerät oder nich? Ina Ja. Rachel LJa, ich glaube auch. Ina Okay. Rosa Weil er spricht ja davon, dass er hier Privatpersonen einfach sich Verhaftungen teilweise sogar ausdenken. (.) Und Ina Ja, aber ich meine, das denken die Gutsbesitzer, die sie ja immer noch versuchen zu unterdrücken. (2)
Die unterschiedlichen Deutungen können die Schülerinnen nicht zusammenführen, wenngleich Rosa einen Schlichtungsversuch unternimmt, indem sie letztlich Rachels Position unterstützt: Die Kritik beziehe sich darauf, »dass das einfach son bisschen alles außer Kontrolle gerät […]«. Als Beispiel aus der Quelle gibt sie an, dass es zu ungerechtfertigten Verhaftungen käme. Darauf kontert Ina, dass es sich dabei um die Perspektive der Gutsbesitzer handele: »[D]as denken die Gutsbesitzer, die sie ja immer noch versuchen zu unterdrücken.« Obwohl kommunikativ Konsens suggeriert wird (»Genau«, »Ja«, »Okay«), ist sich die Gruppe in der Deutung der Quelle nicht einig, und es kommt zu einer Meinungsverschiedenheit, die im Raum stehen bleibt. Dabei kontert Ina gegen Ende der Passage, indem sie den Aspekt der Perspektivität umdreht und die Quelle der Sicht der Gutsbesitzer zuordnet. Damit wirft sie ihren Mitschülerinnen indirekt
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Historische Kompetenzen im Umgang mit Quellen
vor, den Aspekt der Standortgebundenheit der Quelle nicht beachtet zu haben. Perspektivität wird hier zu einem Argument, das den Schlagabtausch zwischen den Schülerinnen beendet. Zumindest bei Ina dokumentiert sich ein Wissen um die Perspektivität von Quellen. Wie oben erwähnt, ist die Möglichkeit, diese Art impliziten Wissens handlungsleitend werden zu lassen, nicht in der Aufgabenstellung angelegt bzw. intendiert. Pointiert ausgedrückt zeigt die Schülerin hier kompetentes Verhalten trotz des Arrangements. Insofern lässt sich an dieser Stelle auch kein Kontext für das Zeigen kompetenten Handelns – beispielsweise in Form eines Merkmals des Lehr-/Lernarrangements – rekonstruieren. Es handelt sich um einen Fall von Emergenz. Bsp. 6: Kontextualisierung einer Quelle, die keine ist (2010 – 04 – 29) Hier handelt es sich um ein Beispiel aus derselben Doppelstunde, aus der auch das Beispiel Prüfungssituation und »quellenkritische Einleitung« II (2010 – 04 – 29) stammt. Eine Gruppe präsentiert die Ergebnisse der Gruppenarbeitsphase am OHP, woran sich einige Nachfragen des Lehrers, Herr Meier, anschließen. Thematisch beschäftigten sich alle Gruppen mit dem Thema Stalinismus und entsprechenden Quellen. Der Text, den diese Gruppe bearbeiten sollte, stellte in diesem Zusammenhang jedoch eine Ausnahme dar. Es handelte sich um einen Auszug aus »Der große Terror« des anglo-amerikanischen Historikers Robert Conquest374 und damit entgegen dem Arbeitsauftrag nicht um eine Quelle, sondern um eine Darstellung. Diesen Fehler berichtigte Herr Meier der Gruppe gegenüber und bezeichnete den Text als Darstellung. Während der Präsentation stellte die Gruppe den Text jedoch als »darstellende Quelle« vor. Die Nachfragen des Lehrers beziehen sich auf diesen Umstand. Im Gespräch wurde sodann versucht, den Text näher zu kennzeichnen: Marcel Ähm sonst hätt ich noch angemerkt, dass ((räuspert sich)) also 1970 war halt noch in der Zeit vom Kalten Krieg. Und (.) und das äh wenn er Amerikaner war, vielleicht doch etwas äh vielleicht doch auch die Brutalität der Russen oder Zivilisten unter Stalin n bisschen darstellen wollte. Könnt ich mir gut vorstellen. Also (.) L Gut. Kommen wir gleich noch mal zurück. Äh Leonie?
374 Siehe Anhang.
Marcel, der in der ersten Reihe sitzt, dreht sich zu Herrn Meier um, während er spricht. Herr Meier nickt während des Beitrags mehrfach.
Quellenkritik und ihre Funktion
Leonie
L Leonie
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Ja, ich wollt eigentlich so was Ähnliches Leonie spricht und blickt dabei nach sagen. Dass er ja aus den USA ist und vorne. da grad Kalter Krieg ist. Und ähm die ja auch häufig versucht haben, dann die äh Russland so richtig schlecht dastehen zu lassen. ((zustimmend)) Mhm. Und deswegen denk ich, dass man da ziemlich vorsichtig sein muss mit (.) ähm solchen Quellen. Also natürlich kann das sein, dass das alles wahr ist. Aber (.) vielleicht ist das auch son bisschen zugespitzt.
Dabei nennt Marcel einen historischen Kontext des Textes: den Kalten Krieg. Damit behandelt er den Text, der vor dem Hintergrund der Frage nach dem Stalinismus eine Darstellung ist, so, als wäre er eine Quelle für die Rezeption des Stalinismus: So wird der Kalte Krieg zu einem historischen Kontext, vor dessen Hintergrund der Text zu lesen sei. Dementsprechend argumentiert Marcel, dass die Perspektive des Autors möglicherweise von der amerikanisch-sowjetischen Konfrontation geprägt sei. Ähnlich wie beim Beispiel Kontextualisierung und Standortgebundenheit (2010 – 03 – 18) ist Marcels quellenkritische Vorgehensweise nicht in der Aufgabenstellung angelegt, denn die Fragestellung, um die es qua Arbeitsauftrag geht, ist keine, die der Text, den die Gruppe bearbeitet hat, beantworten kann. Mit Blick auf die Fragestellung handelt es sich beim Text ohnehin nicht um eine Quelle. Marcel behandelt sie aber unter einer anderen Fragestellung in der Tat als Quelle. Wenngleich Schülerinnen und Schüler offenbar über keine klaren Kategorien für die Unterscheidung von Quellen und Darstellungen verfügen, zeigt sich bei Marcel und darauf auch bei Leonie ein Bewusstsein für die Standortgebundenheit historischer Quellen, die es nötig macht, sie entsprechend zu kontextualisieren und ggf. die Fragestellung anzupassen. Bsp.7: Podiumsdiskussion und performative Quellenkritik (2011 – 06 – 22) Ein weiteres Beispiel, in dessen Rahmen quellenkritische Aspekte in konkreten Handlungen sichtbar werden, bietet eine inszenierte Podiumsdiskussion im Leistungskurs von Herrn Becker. Den thematischen Rahmen bilden der europäische Kolonialismus und die Behandlung der indigenen Bevölkerung in Mittelamerika durch die spanischen Eroberer. Im Rahmen einer gespielten Podiumsdiskussion treffen Vertreter der Spanischen Krone, der Konquistadoren, der kritischen Geistlichkeit sowie der indigenen Bevölkerung aufeinander. Dieses Szenario ist zum einen fiktiver Art, weil ohne historisches Vorbild, und zum anderen ahistorisch, da es Vertretern der indigenen Bevölkerung nicht möglich war, auf Augenhöhe mit ihren Eroberern zu diskutieren. Grundlage für
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Historische Kompetenzen im Umgang mit Quellen
das Lehr-/Lernarrangement war das »Requerimiento«, ein Rechtsgutachten, das der spanischen Krone als Legitimation für die Eroberung und Versklavung der einheimischen Bevölkerung diente und den Schülerinnen und Schülern in stark gekürzter Form aus dem Schulbuch vorlag.375 Neben dieser Quelle, die also als Grundlage bzw. Legitimation für ein bestimmtes koloniales Vorgehen gesehen werden kann, dienten den Schülerinnen und Schülern zwei weitere Quellen, die eben dieses Vorgehen kritisieren, zur Vorbereitung der Podiumsdiskussion.376 Herr Becker ordnete den vier Gruppen (Spanische Krone, Konquistadoren, kritische Geistlichkeit, indigene Bevölkerung) bestimmte zu bearbeitende Texte zu, deren Perspektiven nicht unbedingt die waren, die sie jeweils übernehmen sollten: So sollten die Vertreter der spanischen Krone das Requerimiento sowie den einleitenden (Verfasser-)Text dazu lesen, die Vertreter der kritischen Geistlichkeit die Quelle zur Handhabung des Requerimiento nach Oviedo. Die Vertreter der indigenen Bevölkerung und der Konquistadoren sollten die Handhabung des Requerimiento nach Las Casas lesen.377 Im weiteren Verlauf der Gruppenarbeit beschloss der Lehrer allerdings, dass das Requerimiento von allen gelesen werden sollte. Aus der Perspektive der indigenen Bevölkerung ist keine der Quellen geschrieben, während alle anderen Vertreter ihre jeweiligen Perspektiven aus den Quellen übernehmen konnten. Dabei ist allerdings zu bedenken, dass das Requerimiento als Quelle – wie auch alle anderen Texte – so stark gekürzt war, dass sich für die spanische Krone nur ein Aspekt, die Schenkung der Inseln »mit allem, was darin ist«, für die Diskussion heranziehen ließ. Entsprechend kreist die Diskussion von Anfang an um diese Bestimmung sowie um die Frage, inwieweit sich daraus ein bestimmtes Verhalten ableiten oder legitimieren lässt. Nach einer Art Vorstellungsrunde, in der die vier Diskussionsteilnehmer ihre Position klarmachen, folgt eine Stellungnahme des Konquistadors Timo zu den Vorwürfen, die ihm Svea und Daniel als Vertreter der kritischen Geistlichkeit bzw. der indigenen Bevölkerung zuvor gemacht hatten. Dabei fragt Timo nun nach einem Textbeleg aus der Quelle, dem Requerimiento. Zuvor hatte Svea behauptet, dass dort geschrieben stehe, wie die Eingeborenen zu behandeln seien und dass das Verhalten der Konquistadoren sich von dieser Maxime unterscheide. Timo widerspricht dem:
375 Siehe Anhang. 376 Siehe Anhang. 377 Siehe Anhang.
Quellenkritik und ihre Funktion
Ah, okay. Ja, dann äh wenn es keine Zwischenfrage gibt, dann dürfen Sie auch als Vertreter der Konquistadoren noch mal kurz dazu Stellung nehmen. (2) Timo Ich hätte gern noch einmal von Ihnen die Passage gewusst des Requierementos, wo ähm (2) Svea @(.)@ Timo @wo steht@ wie mit der indigenen Bevölkerung verfahren werden muss. Laut des Papstes. (3) Svea ((seufzen)) Ja gut, diese Passage hab ich jetzt nicht zur Hand, aber ähm ((leises Lachen)) Sie kennen auch nicht ähm (.) alle Verse aus der Bibel. Also (.) muss man auch Prioritäten setzen. ((leises Lachen)) Und ähm (.) es ist ja wirklich so, es geht ja auch um (.) um ähm (.) um das Gewissen der Christen. Also das Christentum sagt ja, man soll=man soll ähm den Menschen auch, also dem=dem Christen, seinen Nachbarn, ähm also die zehn Gebote, ich mein, die kennt jeder von uns und nach denen sollte man ja auch mit seinem Gewissen das so abwiegen. Und wenn man jetzt aber (.) ähm die ähm indigene Bevölkerung komplett anders ähm anders (2) behandelt, dann ähm fragt sich, ob man das mit einem guten Gewissen ähm machen kann. Und das äh wird ja hier quasi mit dem Requimento, da ist jetzt=stellt sich die Frage, ob das damit getan ist. Ob das Requimento quasi den Christen das schlechte Gewissen entnimmt und das auf sich lädt. Und ich denke das ist nicht so. Denn diese Durchführung ist nicht korrekt und nicht so dass das schlechte Gewissen äh oder das Gewissen des Christen (2) erleichtert wird. (3)
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L
Svea kichert mit der Hand vor dem Mund. Danach hebt sie den Zeigefinger und guckt ins Buch. Daniel grinst.
Svea deutet mit der Hand ins Buch.
Svea kann auf Nachfrage keine Textstelle nennen und konkludiert das Thema rituell. Dies tut sie, indem sie ihre eigene Unkenntnis auch Timo unterstellt und behauptet, dass er schließlich auch nicht alle Verse der Bibel kenne. Svea kann auf Timos Nachfrage keine entsprechende Textstelle nennen, weil die Quelle bzw. die Materialgrundlage sie nicht enthält. Darin, dass Timo konkrete Belege einfordert, dokumentiert sich die Vorstellung, dass Aussagen über die Vergan-
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Historische Kompetenzen im Umgang mit Quellen
genheit nur gültig sind, wenn sie sich belegen bzw. nicht widerlegen lassen. Inwiefern dies möglich ist, hängt von der Quellenlage bzw. der Materialgrundlage des Settings ab, die in diesem Fall dürftig ist. Timos Vorgehen ist insofern »quellenkritisch«, als er den Aussagen, die sich auf der Grundlage einer Quelle treffen lassen, performativ – im Streitgespräch – Grenzen setzt. Sein Argument hat zwar im Rahmen der Podiumsdiskussion eine klare Funktion, es setzt allerdings entsprechende Einsichten oder implizites Wissen über Quellen voraus, die hier sichtbar werden.
8.1.3 Zusammenfassung Im Sample konnten zwei Typen des Umgangs mit quellenkritischen Informationen empirisch rekonstruiert werden, die die Funktion von Quellenkritik im Unterricht beschreiben. Der erste der beiden Idealtypen beschreibt, wie quellenkritische Informationen ausschließlich als Bestandteile von Aufgaben behandelt werden und es sich bei Aspekten wie Autor, Adressat, Datum etc. in diesem Sinne um deklaratives Wissen – in der Sprache der dokumentarischen Methode als theoretisches und kommunikatives Wissen bezeichnet – handelt, das für den eigentlichen situativen Umgang mit Quellen nicht handlungsleitend wird. Der zweite Typ beschreibt demgegenüber, wie Schülerinnen und Schüler im Umgang mit Quellen kompetentes Verhalten zeigen, das sich auf die kontextualisierende Komponente von Quellenkritik bezieht. Letzterer Typ konnte in Lehr-/Lernarrangements rekonstruiert werden, in denen Quellenkritik als solche nicht Teil der Aufgabe war.
8.2
Perspektiven und Perspektivität
Der Umgang mit Perspektivität bzw. Perspektiven wird gemeinhin als bedeutsam im Zusammenhang mit Quellen eingeschätzt und in unterschiedlicher Weise als Kompetenz modelliert. Dies liegt zum einen an der geschichtstheoretischen Setzung, dass Quellen standortgebunden und daher per definitionem perspektivisch gebunden sind, zum anderen wohl auch daran, dass Perspektivenübernahme im Sinne von Einfühlungsvermögen, Empathie und insbesondere interkultureller Kompetenz als überfachliches Bildungsziel die fachliche Debatte beeinflusst.378 Spezifisch geschichtsdidaktisch betrachtet geht es bei der
378 Siehe z. B. Lothar Bredella/Herbert Christ (Hrsg.): Fremdverstehen und interkulturelle Kompetenz. Tübingen 2007; Hans H. Reich (Hrsg.): Fachdidaktik interkulturell. Ein
Perspektiven und Perspektivität
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Perspektivenübernahme darum, historische Sachverhalte, Ereignisse, Motive etc. aus ihrem zeitgenössischen Kontext heraus zu betrachten und zu beurteilen sowie dabei die eigene Perspektive und die damit verbundenen gegenwärtigen Maßstäbe, moralischen Vorstellungen usw. zu transzendieren. Wenngleich der englische Begriff »historical empathy« Einfühlungsvermögen im Sinne von Mitleid (oder neutraler : Mitgefühl) mit den historischen Akteuren suggeriert, ist dieser Aspekt lediglich im Kompetenzmodell von Peter Gautschi ausformuliert.379 Davon abgesehen erscheint Perspektivenübernahme in den Kompetenzmodellen stärker in den funktionalen Zusammenhang der Erkenntnisgewinnung aus Quellen eingebunden und wird generell als ein kognitiver, weniger als affektiv-emotionaler Vorgang gesehen.380 Diese einleitende Bemerkung ist nicht so zu verstehen, dass die modellierten Kompetenzen oder geschichtstheoretische Konstrukte als normative Blaupause auf das empirische Material bezogen wurden. Sie soll vielmehr dazu dienen, die Befunde in einen größeren Kontext einzuordnen und zu verdeutlichen, dass die folgenden Befunde stark von den formulierten Erwartungen abweichen bzw. in gewisser Weise quer zu ihnen liegen. Im Umgang mit Quellen ließen sich im Rahmen dieser Untersuchung drei Typen der Einbeziehung von Perspektivität rekonstruieren, die an dieser Stelle vorgestellt und erläutert werden sollen. Sie beschreiben das Phänomen der Perspektivität, wie es sich im situativen Umgang mit Quellen aktualisiert und sich in Lehr-/Lernarrangements dokumentiert.
8.2.1 Perspektivenaneignung Unter Perspektivenaneignung wird hier eine Perspektivenübernahme im Wortsinn verstanden. Das bedeutet, dass im Umgang mit einer Quelle deren Perspektive oder Standort übernommen wird, und zwar nicht in dem (unter normativen Gesichtspunkten meist erwünschten) Sinne, dass Schülerinnen und Schüler vorübergehend aus einer Perspektive heraus sprechen oder zu ihr passende Handlungsoptionen entwerfen. Vielmehr geht es um die »schleichende«, implizite Aneignung eines Standpunktes ohne Reflexion darüber, dass es sich dabei um einen Standpunkt handelt. Dieser Typ konnte aus zahlreichen Unterrichtssequenzen in unterschiedlichen Klassenstufen bzw. Kursen rekonstruiert werden. Handbuch. Opladen 2000; Stefanie Lamsfuß-Schenk: Fremdverstehen im bilingualen Geschichtsunterricht. Eine Fallstudie. Frankfurt am Main u. a. 2008. 379 Bonhage u. a.: Hinschauen und Nachfragen, S. 11. 380 So z. B. bei Sauer: Kompetenzen für den Geschichtsunterricht, S. 10.
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Historische Kompetenzen im Umgang mit Quellen
Bsp. 1: Umgang mit einem antisemitischen Schandbild (2010 – 02 – 17) Ein Beispiel für den Typ der Perspektivenaneignung bietet die Bearbeitung einer antisemitischen Karikatur im Geschichtsunterricht der 10. Klasse von Frau Schmidt. Sie nutzt die Karikatur als Einstieg in das Themenfeld der NS-Ideologie.381 Das Lehr-/Lernarrangement lässt sich als fragend-entwickelndes Gespräch beschreiben. Bei der Karikatur, die Gegenstand des Lehr-/Lernarrangements war, handelt es sich um ein antisemitisches Schandbild, das die Lehrerin dem Schulbuch entnommen hatte. Es handelt sich dabei um die letzte Abbildung im Kinderbuch »Trau keinem Fuchs auf grüner Heid und keinem Jud bei seinem Eid! Ein Bilderbuch für Groß und Klein« von Elvira Bauer, das 1936 im Stürmer Verlag erschien und den Anspruch hatte, die nationalsozialistische Rassenideologie und den Judenhass zu verbreiten.382 Im Schulbuch ist es mit einer Bildunterschrift versehen, die lautet: »Dieses Bild wurde einem Bilderbuch für Kinder (1935) entnommen. Die Worte im Bild sind in alter deutscher Schrift geschrieben und bedeuten: ’Einbahnstraße, Tempo, Tempo. Die Juden sind unser Unglück!« Die genaue Herkunft des Bildes wird im Geschichtsbuch nicht genannt und wurde auch von Frau Schmidt nicht thematisiert.383 Die Bearbeitung der Bildquelle leitet die Lehrerin Frau Schmidt wie folgt ein: L Wir machen jetzt wieder einen ganz großen Sprung; wir machen heute drei ganz ein- unterschiedlichen Teilen; und zwar guckt ihr jetzt bitte mal auf Seite 110 (.) das Bild an (6) 110 unten links (2) vielleicht kann jemand mal Herrn Spieß ein Buch geben und auch noch die; (2) gibt’s noch Bücher die über sind? (11) Okay (2) jetzt ist es wieder die Chance für äh alle die heute noch nichts gesagt haben; Tom super
Frau Schmidt steht vor der rechten Tafelhälfte.
Eine Schülerin reicht Herrn Spieß ein Buch. Tom meldet sich.
Die Quelle, die als Abbildung aus dem Schulbuch gerahmt wird, hat – wie sich im weiterem Verlauf zeigt – im Interaktionsverlauf die Funktion einer Proposition, die simultan zur Proposition von Frau Schmidt, welche sich auf ihre Erwar381 Der Umgang mit derselben Bildquelle ist zufällig auch Gegenstand in: Wolfgang Meseth/ Matthias Proske/Frank-Olaf Radtke: Was leistet eine kommunikationstheoretische Modellierung des Gegenstands »Unterricht«? In: Dies. (Hrsg.): Unterrichtstheorien in Forschung und Lehre. Bad Heilbrunn 2011, S. 223 – 240. Dabei ähneln sich die Funktion der Bildquelle und das Unterrichtsarrangement stark. Im Fokus des Interesses steht hier allerdings eher die Veranschaulichung der kommunikationstheoretischen Überlegungen der Autoren, weniger in Bezug auf fachdidaktische Fragen. 382 Vgl. Matthias Schwerendt: ’Trau keinem Fuchs auf grüner Heid, und keinem Jud bei seinem Eid’. Antisemitismus in nationalsozialistischen Schulbüchern und Unterrichtsmaterialien. Berlin 2009. 383 Siehe Anhang.
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Perspektiven und Perspektivität
tungen an die Klasse bezieht, elaboriert wird. Ein Arbeitsauftrag wird an dieser Stelle nicht bzw. nur vage formuliert: »und zwar guckt ihr euch jetzt bitte mal […] das Bild an«. Dies ist aber – wie sich sodann zeigt – ausreichend, um eine Beschäftigung mit dem Bild anzuregen, die bestimmten, offensichtlich eingeübten Arbeitsschritten folgt bzw. dies zumindest kommunikativ vorgibt. Dass die Schritte einer Bildinterpretation bekannt sind, zeigt sich auch in der darauf folgenden Bemerkung, jetzt sei »wieder« die Möglichkeit für alle, etwas beizutragen. In dieser Aufforderung zur Mitarbeit dokumentiert sich ebenfalls die Annahme, dass der erste nun folgende Schritt, nämlich die Beschreibung dessen, was auf dem Bild zu sehen ist, nicht nur allen bekannt ist, sondern auch auf einem niedrigeren Anforderungsniveau anzusiedeln ist. Tom hält sich jedoch nicht an das angemahnte Schema, sondern interpretiert sogleich, dass in dem Bild »Nicht-Deutsche« zu sehen seien: Tom Ja also ähm (.) in dem Bild sieht man halt (.) äh viele Nicht-Deutsche die halt irgendwie gehen; unterm Bild steht halt auch dass es ausm (.) Bilderbuch für Kinder stammt; aus 1930; und da steht dann halt ähm auf Deutsch also für uns Einbahnstraße Tempo Tempo; die Juden sind unser Unglück; also ich geh davon aus dass dann die Juden irgendwie dadurch weggeschickt wurden; (.) kann ich auch schon ein bisschen anfangen zu L L Nee wir wollen erst mal noch mal (.) weiter Tom Okay (4)
Damit greift Tom den immanenten Sinngehalt des Bildes auf, wonach die abgebildeten Personen keine Deutschen, sondern fremd und in Deutschland nicht erwünscht sind. Dieser Deutung wird nicht widersprochen, weder von Schülerseite noch durch Frau Schmidt, die zunächst darum bittet, das Bild noch weiter zu beschreiben. Darauf elaboriert Dirk die Proposition des Bildes weiter, indem er Bilddetails heranzieht, die die Deutung der Fremdheit untermauern: L
Kann man noch irgendwas anderes beschreiben? Dirk
Dirk meldet sich.
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Historische Kompetenzen im Umgang mit Quellen
Dirk Ja man sieht auch noch dass ähm (.) die Leute da irgend- (.) ganze Koffer und Gepäck und so was dabei haben; also dass es so aussieht als ob se ja verreisen oder (.) ja verreisen wollen; und die haben auch sehr (2) äh die äh volkstümliche Kleidung an; also wie se in der Heimat eigentlich so=zum Beispiel die Frau da; mit diesem mit dem Schleier oder was das ist da L Mhm Frau Schmidt nickt. Dirk Kopftuch weiß nicht; das soll ja auch vielleicht son bisschen symbolisieren; also dass die alle ihre Kleidung anhaben aus ihren Heimatländern oder so (2)
Dazu wendet er sich der Kleidung der abgebildeten Menschen zu, die er am Beispiel eines Kopftuchs als »volkstümlich« klassifiziert und als Symbol für die Fremdheit der Menschen deutet. Das Missverständnis, es handele sich um volkstümliche Kleidung – die Kleidung einiger deutet vielmehr einen großbürgerlichen Habitus an – wird dabei von der Lehrerin nicht korrigiert. Vielmehr signalisiert sie verbal (»Mhm«) und nonverbal (Nicken) Zustimmung. Dabei ist die Frage, ob sich diese Validierung – von der Intention her – möglicherweise nicht auf den Inhalt, sondern auf den Verlauf des Gesprächs bezieht, letztlich nicht relevant. Es dokumentiert sich jedenfalls, dass die Äußerung vom Schüler als inhaltliche Validierung aufgefasst wird, da sich seine Argumentation weiter fortsetzt und die Validierung als konstitutiv für Dirks Beitrag gedeutet werden muss. Die zuvor von Tom eingeführte »deutsch vs. nicht-deutsch«-Dichotomie aus dem immanenten Sinngehalt der Quelle übernimmt Dirk insofern, als er die Deutung, die abgebildeten Menschen seien keine Deutsche fortsetzt – schließlich tragen sie die Kleidung »aus ihren Heimatländern«. Damit setzt sich die an der Kleidung festgemachte Fehldeutung, Juden seien keine Deutschen und daher in Deutschland fremd, fort. Dirk unterstellt also Fremdenfeindlichkeit als Intention des Bildes und trägt passend dazu eine heutige Symbolsprache (»Kopftuch«, »Heimatländer«) an das Bild heran. Seine Deutung wird durch die ausbleibende Berichtigung der Lehrerin validiert, die diesen Aspekt nun indirekt aufgreift. Ihre Nachfrage hat den Charakter einer Validierung – sie nennt die Schüleräußerungen »interessant« –, wobei sie mit dem von ihr nun eingeführten Begriff »Ausländer« die Deutung der Schüler letzten Endes unterstützt: L
Ich finde irgendwie interessant warum Lisa meldet sich. meint ihr denn dass das Ausländer sind? (5) Ja (.) Lisa
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Perspektiven und Perspektivität
Lisa Ja ähm erstens sehn die halt ähm (2) ja nicht so aus wie Deutsche; also sind=einige sind dunkelhäutiger und daneben steht auch son kleiner Junge mit blonden Haaren L Mhm
Frau Schmidt nickt.
Die Lehrerin vermeidet es an dieser Stelle, das Missverständnis explizit als solches zu rahmen oder es zu korrigieren. Sie formuliert vielmehr, dass sie den Umstand an sich »irgendwie interessant« finde. Damit verbleibt sie prinzipiell in der zuvor praktizierten Unterrichtsform des fragend-entwickelnden Gesprächs, und sie ist es, die die Abgebildeten nun erstmals explizit als »Ausländer« bezeichnet. Nach einer Pause gibt Lisa eine Erklärung für die These ihrer Vorredner, denen sie sich damit anschließt: Die Leute sähen »ja nicht so aus wie Deutsche«. Als entscheidendes Merkmal dafür nennt sie die Hautfarbe, die sich für sie vor allem im Vergleich zu einem ebenfalls abgebildeten blonden Jungen als Kriterium darstellt. Dabei deutet sie die Bartstoppeln der abgebildeten Juden fälschlicherweise als dunkle Hautfarbe. Wenngleich die Schülerinnen und Schüler im Folgenden ikonografische Details wie die Hakennasen der abgebildeten Personen als zeitgenössische Darstellungsmerkmale deuten und die Funktion des Bildes als Propaganda erkennen, wird die problematische Deutung, Juden seien im Deutschland der 1930er Jahre »Ausländer« gewesen, fortgeschrieben. Dabei handelt es sich – in sprachlich leicht abgewandelter Form – um die zentrale Aussageabsicht der Quelle, die im Unterrichtsgespräch elaboriert und validiert wird, und zwar nicht nur durch die Schülerinnen und Schüler, sondern auch durch die Lehrerin. Dies lässt sich am Interaktionsverlauf verfolgen, indem man den immanenten Sinngehalt der Quelle als Proposition im Interaktionsmedium der Dinge interpretiert,384 die von den Akteuren im Unterricht aufgenommen wird. Da die Deutung perspektivisch an die Quelle gebunden ist, kann davon gesprochen werden, dass sich die Schülerinnen und Schüler sowie die Lehrerin die Perspektive der Quelle aneignen bzw. dass sie deren Perspektive implizit übernehmen. Bsp. 2: Umgang mit einer Textquelle (2010 – 03 – 18) In ähnlicher Weise lässt sich der Umgang mit einer thematisch völlig anders gelagerten Quelle durch Schülerinnen eines Leistungskurses beschreiben. Den thematischen Rahmen der Stunde bildet die russische Revolution. Zu Beginn der Stunde wiederholt der Lehrer, Herr Weber, dass nach der Februarrevolution die Machtverhältnisse zwischen der provisorischen Regierung und den Räten sowie 384 Vgl. Kap. 5.4.1 Interaktionsmedien.
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Historische Kompetenzen im Umgang mit Quellen
die Frage nach der zukünftigen Staatsform Russlands unklar gewesen seien. Danach stellt er zwei mögliche Staatsformen vor: die parlamentarische Demokratie und das Rätesystem. Die beiden Modelle stellt er grafisch an den äußeren Teilen der aufgeklappten Tafel vor, wo sie die Stunde über sichtbar bleiben. Der propositionale Gehalt dieser Darstellung, der in der Gegenüberstellung der beiden politischen Systeme besteht, von denen das eine vermeintlich mehr Mitsprache bietet, ist in der späteren Interaktion rekonstruierbar.385 Der Arbeitsauftrag für die Schülerinnen und Schüler lautete, in Gruppenarbeit die in vier schriftlichen Quellen aus der Zeit der »Doppelherrschaft« angesprochenen Probleme zu benennen und danach Aussagen darüber zu treffen, welches der beiden politischen Systeme für die Zeitgenossen vermutlich attraktiver gewesen wäre. Drei Gruppen sollten jeweils eine bzw. in einem Fall zwei Quellen bearbeiten. Die Ergebnisse wurden darauf anhand einer Folie am OHP präsentiert. Der erste Teil der Aufgabenstellung verlangte also lediglich die Reproduktion einiger inhaltlicher Aspekte der Quellen, während der zweite Teil eine Perspektivenübernahme einforderte, mit deren Hilfe nachvollzogen werden sollte, wie sich die historischen Akteure wohl entschieden hätten. Im Falle der Gruppe um Nesrin, Anja, Emma, Leah und Jule ist der zweite Teil des Arbeitsauftrags paradox, denn es handelt sich bei der Quelle, die die Schülerinnen bearbeiten sollen, um einen Bericht des Armee-Nachrichtendienstes, der die aufständischen Handlungen der einfachen Soldaten schildert.386 Die Quelle hält also die Perspektive, die die Schülerinnen übernehmen sollen, gar nicht bereit, sondern sie steht für den Blick der Offiziere auf die Soldaten niederen Ranges. Die Quelle liefert also nicht die Perspektive derjenigen, die sich aus ihrer Sicht anders verhalten als sonst, sondern die Sicht ihrer Vorgesetzten. Der immanente Sinngehalt der Quelle besteht also insbesondere darin, dass die Soldaten aufrührerisch seien und ungehorsames Verhalten an den Tag legen. Diese Proposition wird von den Schülerinnen im Rahmen der Gruppenarbeitsphase aufgenommen, elaboriert und validiert. Der Umstand, dass diese Aussage wie die Quelle standortgebunden ist, spielt dabei keine Rolle. Insofern ergibt sich eine Passung zum Arbeitsauftrag (die Wiedergabe der beschriebenen Probleme), dessen sich die Schülerinnen zu Beginn ihrer Auseinandersetzung mit Quelle vergewissern: ?f @(4)@ (.) Leah Und wie lang musst du die tragen? (2) Nesrin Über ein Jahr. Mal gucken. ((räuspert sich)) Also spätestens zu unserm AbiBall ist die draußen. 385 Tafelbild siehe Anhang (12.4). 386 Siehe Anhang.
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Perspektiven und Perspektivität
Leah ?f Anja
@(2)@ @Bestehst du da drauf ?@ L @(.)@ Wir sollten jetzt die ähm beschriebenen Probleme? L Oh, nein. ?f L Nur die Probleme erst mal euch drüber verständigen welche Probleme überhaupt genannt werden. Denkt mal laut (.) Wir wolln jetzt erstma sichern was hier überhaupt. Nesrin Solln wir sagen, um welche Quelle es sich handelt? L Das auch ja. ?f @(2)@ Nesrin Vielleicht, ich=ich rede vielleicht nicht so viel. ?f Ja, das hört sich doch gut an. ?f Ja. Leah Ist doch nicht schlimm, wenn man lispelt. L ?f @(.)@ Nesrin ((lispelnd)) Lispel ich? ?f @(.)@ @Ein bisschen@ @(.)@ (.)
Herr Weber nähert sich den Schülerinnen und beugt sich zu ihnen herunter .
Dabei sorgt die Präsenz von Herrn Weber offenbar dafür, dass Anja das Thema in Richtung Quellenarbeit verschiebt. Der Lehrer wiederholt auf Nachfrage, dass es zunächst nur um die Erschließung des Inhalts der Quelle bzw. eines Aspekts davon (»welche Probleme überhaupt genannt werden«) und dessen »Sicherung« gehe. Nesrins Nachfrage, die sich auf die Relevanz weiterer Informationen zur Quelle bzw. deren Nennung im Rahmen der Präsentation bezieht, bejaht Herr Weber. Quellenkritische Details – hier sind sich Schülerinnen und Lehrer einig, die Interaktion ist univok – sind für den Arbeitsauftrag randständig. Die Beschäftigung mit der Quelle »als Quelle« tritt hinter ihre Funktion im Rahmen der Aufgabe zurücktritt. Am Interaktionsverlauf lässt sich dies daran erkennen, dass Quellenkritik lediglich in Form einer Differenzierung, nicht aber als Proposition erkennbar wird. Die Bearbeitung der Aufgabe ist dementsprechend auf die Wiedergabe des Inhalts der Quelle fokussiert: Nesrin Okay, wollt ihr mal sagen=sagt mal einer ein bisschen lauter, was das hier ist. (.) Emma Die Situation an der Kriegs@front@ @( )@ L ?f @(.)@
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Historische Kompetenzen im Umgang mit Quellen
Anja
Das ist der Bericht eines ArmeeNachrichtendienstes für den 2. bis dritt- äh 3. Oktober 1917. Aufgeteilt in die Nordfront und die Westfront. Da werden L Leah Wir können ja auch gleich mal die ganze @Quelle vorlesen@@(2)@ L ?f @(2)@ Anja Ich fange an. @(.)@ Nein, da wird eben nur gesagt, dass=die ganze Zeit, dass die alle keine Lust mehr haben zu kämpfen und sich mit dem Feind verbrüdern wollen. L ?f Ja. L ?f Ja. Anja Die wollen alle Frieden. Emma Genau. Und L ?f Die wollen Anja Keine Ahnung Emma Die haben die halt einfach nicht mehr unter Kontrolle. Anja Ja. L ?f Genau, die Nesrin Die Soldaten haben einfach=die sind müde und ausgelaugt. ?f Die wollen nur noch nach Hause und L Anja Ah, die sind ja auch ganz schön dreist. (.) Jule Die Soldaten? Nesrin Ja. (.) Ganz ehrlich? Keine Ahnung, wenn die so=die werden ja voll aufrührerisch. (.) Emma Ach so, ich hab hier ((räuspert sich)) L ?f Ja. Jule Emma hat schon vorgearbeitet. Emma L Ich hab aufgeschrieben. Ja. Ich hab geschrieben, Mangel an Vertrauen und Respekt. Die Offiziere und die Autoritäten (2)
Dabei hat Anjas »quellenkritische Einleitung«, deren Kürze ihrer Randständigkeit im Arbeitsauftrag entspricht, für die weitere Arbeit keine Bedeutung. Sogleich wendet diese sich der in der Quelle beschriebenen Kriegsmüdigkeit zu und umschreibt sie mit unterschiedlichen Formulierungen. Die Interaktion ist univok und mit mehreren eingelagerten Validierungen versehen. Während die Nennung der quellenkritischen Informationen schnell und effizient abgeschlossen wird, erreicht die Interaktion nun eine hohe interaktive Dichte. Die
Perspektiven und Perspektivität
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Schülerinnen geben diesem Teil der Aufgabe – genau wie der Lehrer – eindeutige Priorität. Betrachtet man die Quelle als Bestandteil der Interaktion, so wird deutlich, dass die Schülerinnen den immanenten Sinngehalt der Quelle elaborieren. Dies wird umso deutlicher, als erst Anja und dann Nesrin den Soldaten Dreistigkeit unterstellt (»die werden ja voll aufrührerisch«) und damit das in der Quelle beschriebene Verhalten im Sinne des Armee-Nachrichtendienstes bewertet. Diese Deutung setzt sich bis in die Sicherung dieser Informationen auf der Folie fort: Emma
Ja, irgendwie haben die auch gar nicht mehr=ich meine, normalerweise sind die ja son bisschen patriotisch auch diese Soldaten. L ?f Ja. Anja Ja. ?f Dass die ?f Die wollen ?f So. Nesrin Die verbünden sich auch mit den Feinden. Also wollen sie. (2) Emma Ja und ( ) Anja Fraternit¦. Brüderlichkeit. Nesrin Äh:::m. (2) Kein Vertrauen. (3) Nesrin schreibt auf die Folie.
Emmas Verwunderung über die Haltung der Soldaten, die offenbar nicht zu ihren bisherigen Vorstellungen passt, wird von der Gruppe akzeptiert. Diese Unsicherheit hat aber keine Konsequenzen für die Bearbeitung der Aufgabe und ändert auch nichts daran, dass die Schülerinnen das Verhalten der Soldaten – so wie es in der Quelle beschrieben wird – nicht als Deutung behandeln. In der Interaktion elaborieren und validieren die Schülerinnen die inhaltliche Proposition der Quelle, ohne deren Aussagewert zu reflektieren. Nesrin konkludiert dabei das Thema der Faktenentnahme auch nonverbal bzw. performativ, indem sie die entsprechenden Informationen im Namen der Gruppe aufschreibt. Das Vorgehen entspricht dabei vollständig dem Arbeitsauftrag, der darin bestand, die in der Quelle erwähnten Probleme zu benennen. Bei der Bearbeitung des zweiten Teils des Arbeitsauftrags – der Frage, für welches der beiden politischen Systeme sich die historischen Akteure entscheiden würden – werden die zuvor aufgelisteten Missstände als Begründung für die Entscheidung wiederholt:
140
Historische Kompetenzen im Umgang mit Quellen
L
Und zwar, wenn ihr davon ausgeht, dass eine Mehrheit der Bevölkerung das so sieht, wie das in der Quelle beschrieben wird, (.) welche Konsequenzen hat das möglicherweise auch für die Entscheidung für das eine oder andere System. Also welches System würde sich jetzt für diese Menschen anbieten? Welches politische System (3) zu welchem politischen System würde solche Menschen eher zu (.) neigen. L Nesrin Das Rätesystem. L Und warum? Das müsstet ihr jetzt begründen. (.) Nesrin Also ich find das Rätesystem. Leah Ja, weil sie da direkt L Jule Würd ich auch sagen Leah in=sozusagen auch die Möglichkeit hätten zu entscheiden. L Jule Ja. Emma Und weil sie auch keine Lust mehr auf so Autoritäten haben. Anja Genau. Jule Genau.
Was die Interaktionsmedien angeht, so interagieren die Schülerinnen dabei insbesondere mit der von ihnen zu bearbeitenden Quelle, die ihnen in Kopie vorliegt, und der aufgeklappten Tafel, an deren Seiten zwei politische Systeme gegenübergestellt sind.387 Dabei zeigt sich die rechte Tafelhälfte mit ihrem Verweis auf »direkte Demokratie« als wirkungsmächtig: Die Schülerinnen elaborieren die Proposition des Schaubilds »Rätesystem«, indem sie den Aspekt der direkten Demokratie aufgreifen und ihn zur Klärung ihrer Aufgabe heranziehen. Bei der folgenden Präsentation der Ergebnisse handelt es sich interaktionsanalytisch um die Enaktierung der zuvor gesetzten inhaltlichen Propositionen: Emma Gut ich fang jetzt einfach an hier. L ?f @(.)@
387 Siehe Anhang.
Die Schülerinnen sitzen auf ihren Plätzen in der Nähe des OHP.
Perspektiven und Perspektivität
Emma Okay. Also unsere Quelle ähm waren=also hat so die Situation an der Kriegsfront 1917 äh (.) behandelt. Und ähm da sind halt verschiedenste Pralso Probleme aufgetreten. Und zwar spricht ähm (2) also ist vom ArmeeNachrichtendienst und äh ja, die sprechen halt von so ner ganz großen Kriegsmüdigkeit der Soldaten. (.) Und dass die alle einfach äh ja, ziemlich stalso Hunger haben und gereizt sind und so. Und auch einfach den ähm (.) den Offizieren und Obrigkeiten nicht mehr gehorchen. Und ähm ja, also genau. Und dann=und da halt die Befehle und so verweigern; und ähm die wollen halt um jeden Preis einfach nur noch Frieden haben und verbüdverbrüdern sich sogar mit den Deutschen; also mit ihrem Feind; und die sprechen halt von so ner Verbreitung von bolschewistischen Ideen irgendwie; (2) Ja? Anja Na ja und ähm das war erst mal das, was in der Quelle stand von der Nord- und Sü- äh Westfront. Und wenn man das jetzt auf äh das Staatssystem bezieht, das war ja die Frage, wenn jetzt all- das ganze russische Volk so denken würde wie diese Soldaten, ähm welche Staatssystem dann passen w- würde und wir hatten uns gedacht dass das Rätesystem eigentlich perfekt wär, weil momentan haben die anscheinend ein Problem mit Autoritäten; oder mit Autoritätspersonen (.) und deswegen ähm im (.) äh Rätesystem könnten sie sich ähm selbst einbringen, ihre eigene Meinung versuchen in ähm verschiedenen Räten durchzusetzen. Und ähm dann bis zum Zentralkomitee mh hev- ähm empor zu tragen; und ähm das wär momentan bei dieser ähm (3) bei dieser Atmosphäre am besten. (.)
141 Herr Weber steht meist mit verschränkten Armen vor der Tafel. Nesrin sortiert Blätter, während Emma und Anja sprechen. Die anderen beiden Gruppen sitzen auf der gegenüberliegenden Seite der uförmigen Sitzordnung.
Während die Schülerinnen im Rahmen der Gruppenarbeitsphase in erster Linie mit der Quelle interagierten, tritt nun als weiterer materieller Interaktionspartner die Folie hinzu. In der Sprache der dokumentarischen Methode – unter
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Historische Kompetenzen im Umgang mit Quellen
Bezugnahme auf Bruno Latour388 – wird die Folie »rekrutiert« und an sie die Funktion des Sichtbarmachens und Konservierens von Informationen »delegiert«. Diese Informationen decken sich weitestgehend mit den verbal vermittelten, sind aber länger sichtbar und können auch nach der Präsentation wieder sichtbar gemacht werden. Die vorherige Ankündigung des Lehrers, die Folien zu kopieren (hier nicht zitiert), ermöglicht es zudem den anderen Kursteilnehmern, von der Möglichkeit, die Folie während der Präsentation ihrerseits zu »rekrutieren«, abzusehen. Es ist mit anderen Worten nicht nötig zuzuhören, die Folie anzusehen oder mitzuschreiben. Die wichtigen Informationen werden auch später noch zugänglich sein. Sie werden, mit Herrn Weber gesprochen, »gesichert«. Damit wird die Funktion der Folie über den Aspekt der visuellen Stütze der Präsentation hinaus erweitert. Hinzu kommt, dass damit auch die auf der Folie gesammelten inhaltlichen Informationen stark aufgewertet werden und die Relevanz solchen Wissens nochmals betont wird. Die Vermittlung rein inhaltlicher Aspekte der Quelle wird durch die Dinge unterstützt und ihre Konservierung mindestens erleichtert, wenn nicht sogar erst ermöglicht, da die Schülerinnen und Schüler nicht mitschreiben müssen. Nachdem sich die Schülerinnen auch im Rahmen der Präsentation die Perspektive der Quelle auf die einfachen Soldaten angeeignet haben, ist es der Lehrer, der daraufhin nach quellenkritischen Informationen fragt, diese letztlich selbst gibt und die Gruppe anschließend lobt: Okay könnt ihr noch was zur Quelle sagen? Wann die entstanden ist und wer den=wer die verfasst hat, also welche Perspektive ist das? Emma Von den, ich glaub, von den Soldaten, die (.) oder? Äh Quatsch von den Offizieren, die=die sozusagen Bericht erstattet haben. (3) Im (.) Jahr 1917 war das. Anja Ähm ich glaub, erschienen, das steht da aber so abgeschnitten drunter, könnte sein, dass das ähm (.) erschienen ist in äh Stanford. L Das ist der Veröffentlichungsort Anja Ja. In Stanford. L L Mir geht’s eher um die Frage wann diese Quelle entstanden, in welchem Kontext die entstanden ist. Anja Ja, das hatten wir ja gesagt. L
Die Schülerinnen sitzen an ihren Gruppentischen in der Nähe des OHP. Anja guckt auf ihre Zettel, Nesrin hantiert weiter mit ihren Aufzeichnungen.
Herr Weber geht zu seinem Tisch und blickt auf seine Materialien und geht dann wieder zurück vor die Tafel.
388 Vgl. Latour : Zirkulierende Referenz (Anm. 341).
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Leah
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L
Ja ist doch der Nachrichtendienst. L ( ) Emma LDer Armee-Nachrichtendienst steht da. L Im Oktober 1917, darum geht’s. L ?f Ja. L Genau. Also das ist um die Zeit der=also kurz vor Ausbruch der Revolution haben wir eine solche Situation an der Front. Okay, gibt’s da zu erst mal von den anderen Fragen? (.) Zum Problem beziehungsweise Verständnis der Argumentation? (3) Okay. (.) Dann behalten wir das im Kopf und schauen uns das nächste Problemfeld an. (.) Macht ihr mal weiter? (2) Ich kopier euch das noch. Wird also gesichert. Super. Gut gemacht.
Auf Nachfrage des Lehrers wiederholen die Schülerinnen die quellenkritischen Details, die sich bereits zu Beginn der Gruppenarbeitsphase und zu Beginn der Präsentation wiedergegeben hatten. So wird die Frage des Lehrers nach der »Perspektive« mit dem Verweis auf den Nachrichtendienst beantwortet, wobei die Schülerin deutlich macht, dass sie weiß, dass es sich um die Perspektive der Offiziere auf die einfachen Soldaten handelt. Diese Erkenntnis ändert aber nichts an der impliziten Perspektivenaneignung durch die Schülerinnen. Die Konkretisierung, dass es um den Entstehungskontext gehe, wird von den Schülerinnen mit einen Datum beantwortet und darauf vom Lehrer selbst beantwortet. Dennoch lobt er die Arbeit der Schülerinnen: »Super. Gut gemacht.« Durch das Ausbleiben expliziter Kritik und das ausdrückliche Lob des Lehrers wird das Vorgehen der Schülerinnen nun – zusätzlich zur Ebene der Dinge – auch verbal validiert. Quellenkritische Aspekte werden zwar kommunikativ beteuert und eingefordert, spielen aber für die Beurteilung keine Rolle. Zusammenfassend lässt sich sagen, dass sich die Schülerinnen die Perspektive der Quelle auf die einfachen Soldaten aneignen, während quellenkritische Aspekte, die genau dies hätten verhindern können, bereits durch die Aufgabenstellung marginalisiert werden.
8.2.2 Perspektivenreduktion Dieser Typ beschreibt eine Art des Umgangs mit Quellen, deren Ergebnis die Zuordnung einer bestimmten, oft stereotypen Perspektive zu einer Quelle steht.
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Historische Kompetenzen im Umgang mit Quellen
Dabei wird perspektivische Komplexität mit sprachlichen Mitteln reduziert. Die Perspektivenreduktion unterscheidet sich von der zuvor beschriebenen Perspektivenaneignung dadurch, dass der Umstand, dass es sich um Perspektiven oder Sichtweisen handelt, explizit wird und sie zum Gegenstand der Quellenarbeit bzw. des Arbeitsauftrags gemacht werden. Bsp. 3: Perspektivisches Schreiben zum Versailler Vertrag (2009 – 11 – 20) Das Beispiel stammt aus einer 10. Klasse, die sich mit dem Versailler Vertrag und dessen Bestimmungen beschäftigt. Den thematischen Rahmen bildet der Erste Weltkrieg, der zuvor schlaglichtartig behandelt wurde. Zur Vertiefung der Vertragsbestimmungen fordert der Lehrer die Klasse auf, in Gruppen Titelseiten von deutschen und französischen Tageszeitungen am Tag nach der Unterzeichnung des Versailler Vertrags anzufertigen. Grundlage für die Aufgabe bildet die Lektüre eines Schulbuchtextes, die als Hausaufgabe erledigt werden sollte, die Artikel 199, 160, 181, 198, 231 und 232 des Versailler Vertrags sowie eine Geschichtskarte im Schulbuch.389 Die Schülerinnen und Schüler sollen also auf der Grundlage dieser Materialien eine weitere, eine »fiktive« Quelle erstellen, wie Herr Müller im Arbeitsauftrag konkretisiert:
389 Siehe Anhang.
Perspektiven und Perspektivität
L ähm also so sieht das=so sieht der Schähm Spiegelsaal aus am Tag der Vertragsunterzeichnung; also eine (.) mehr oder weniger jeder Platz besetzt, ein riesiges großes Ereignis; es gibt noch andere Friedensschlüsse die in den äh (.) in dem=in dem Zeitraum erfolgen, mit Österreich Ungarn mit andern beteiligten Mächten, aber hier der VerFriedensvertrag mit Deutschland ist das zentrale Ereignis, (.) eure Aufgabe für heute ((räuspert sich)) (3) ihr bekommt gleich noch eine Quelle (2) wo noch mal einige (.) besonders wichtige Artikel aus dem Versailler Vertrag aufgeführt sind (2) ihr sollt des Weiteren in eurem Geschichtsbuch euch die Geschichtskarte angucken, Seitenzahl steht jeweils immer drauf, wo Ergebnisse (2) hinsichtlich der territorialen Veränderungen des Versailler Vertrages in Form einer Geschichtskarte (.) dargestellt sind, ((räuspert sich)) (3) auf der Grundlage dieser Informationen (.) sollt ihr dann kreativ werden; deswegen sitzt ihr in Gruppen zusammen, und zwar sollen drei Gruppen (.) also alle Gruppen erstellen eine (2) ähm das Titelblatt einer Zeitung die am Tage nach dieser Vertragsunterzeichnung erscheinen soll, (.) drei Gruppen schreiben das Titelblatt einer französischen Zeitschrift=Zeitung, (.) natürlich in Deutsch, und drei Gruppen schreiben ein oder gestalten ein Titelblatt (2) einer (.) deutschen (.) Zeitung,
145 Herr Müller steht mittig vor der Tafel. Links neben der Tafel projiziert der OHP ein Bild des Spiegelsaals von Versailles an die Wand. Die Klasse sitzt an Gruppentischen.
Impliziter Teil der Aufgabe ist also eine Perspektivenübernahme, die Herr Müller hier einfordert. Wie die zu übernehmenden Perspektiven auszusehen haben, umreißt der Lehrer im Folgenden: (räuspert sich)) ähm wobei wir jeweils (.) sagen dass sollen patriotische Zeitungen sein, patriotisch zu deutsch? Lilly Ähm (.) vaterlandsbewusst
L
Lilly meldet sich. Herr Müller nickt in ihre Richtung.
146 L
Historische Kompetenzen im Umgang mit Quellen
Ja vaterlandsliebend ne? Genau; also vaterländische (.) ähm (.) nationalstolze (.) Zeitungen sollen das sein (2) wie das aussieht könnt ihr frei gestalten, natürlich es gibt da Überschriften; da gibt’s ja sicherlich irgendwelche auch Berichte Kommentare (.) Einschätzungen (2) wer will kann auch künstlerisch kreativ werden (.) ne? Also du kannst auch gerne da (was) zeichnen, ähm ((räuspert sich)) (.) und ähm ja dafür sollt (ihr) dafür sitzt ihr in Gruppen zusammen; klärt gleich noch einmal Unklarheiten; wenn ihr (.) von dem was ihr zu Hause gelesen habt beziehungsweise was hier auf den Blättern ist wenn ihr da äh nicht wisst was das eigentlich bedeutet; klärt das noch mal in der=in der Gruppe; überlegt euch dann was alles auf dem Titelblatt äh enthalten sein soll (.) teilt die Arbeit untereinander auf (.) und ja seht zu dass ihr am Ende schöne Ergebnisse habt ((räuspert sich)) (4)
Die Zeitungen sollen also »patriotisch« bzw. »vaterlandsliebend« sowie »vaterländisch« und »nationalstolz« geschrieben sein. Dabei lässt Herr Müller eine Schülerin die Übersetzung des Begriffs »patriotisch« nennen. Sie übersetzt das Wort mit »vaterlandsbewusst«, was Herr Müller zwar bejaht, es aber mit sogleich dem Adjektiv »vaterlandsliebend« ersetzt. Darin, dass Herr Müller in Kooperation mit einer Schülerin die Bedeutung des Wortes »patriotisch« herausstellt, dokumentiert sich die hohe Bedeutung, die er diesem Merkmal der Perspektive beimisst. Es muss für die erfolgreiche Bearbeitung des Arbeitsauftrags auf jeden Fall beachtet werden. Die Schülerinnen und Schüler halten sich an diese eindeutige Setzung und bearbeiten den Arbeitsauftrag, indem sie Vorgabe des Lehrers, die interaktionsanalytisch eine Proposition darstellt, in ihrer Gruppe umsetzen bzw. elaborieren. Damit geben sie die von ihm unmissverständlich klar gemachte patriotische Perspektive wieder und füllen sie mit Leben. Zunächst jedoch verständigen sich die Schülerinnen und Schüler über den Inhalt des Textes, der eigentlich von allen hätte gelesen werden sollen. Außerdem präzisiert Herr Müller noch einmal für alle Gruppen die Perspektive der zu erstellenden Zeitungen:
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Perspektiven und Perspektivität
Stina Sören
Lilly Sören Lilly Sören Stina Sören Stina Sören Lilly Stina Sören
Lilly L
@(.)@8
L
Nein Deutschland hat die Kriegskosten mussten die bezahlen und musste allen Abgaben an die andern Länder zahlen; die mussten Geld bezahlen für L Und wurde abgeschwächt; die durften nur noch Ja Mit begrenzter Anzahl (.) ähm ( ) L Die mussten abrüsten Und jetzt sollen wir eine französische Zeitung schreiben und äh was soll da drin stehen? L Welche Seiten? Sollen wir da über das berichten oder was? L Lilly (.) welche Seiten hamwe 8538 (2) Lilly? (2) Über was sollen wir in der französische Zeitung dann schreiben? L Ich les noch mal kurz ja. Hier guck mal; die Franzosen sind doch dafür ; die=die Franzosen geben den Deutschen die=die Schuld; das heißt wir sind von Frankreich gegen Deutschland (2) und die andern d- die deutschen Zeitungen werden sich ja wahrscheinlich darüber beschweren L Nein wir freuen uns jetzt dass Deutschland die (2) ganzen L Ihr lest euch das erst noch einmal durch diese (.) Artikel; überlegt was alles für schhhht Felix überlegt euch was alles für Bestimmungen enthalten sind; worüber die Franzosen froh oder ärgerlich sind; worüber die Deutschen froh oder oder ärgerlich sind; was also den Menschen der damaligen Zeit kurz nach dem Ersten Weltkrieg besonders wichtig erschien (2) was sie emotional bewegt; was sie in irgendeiner Weise interessiert und das soll dann auch die Titelseite auch bestimmen (3)
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Historische Kompetenzen im Umgang mit Quellen
Dabei ist es Sören, der das Prinzip der Aufgabe im Hinblick auf die Perspektivität für den Rest der Gruppe auf den Punkt bringt: »die Franzosen geben den Deutschen die=die Schuld; das heißt wir sind von Frankreich gegen Deutschland und die andern d- die deutschen Zeitungen werden sich ja wahrscheinlich darüber beschweren«. Lilly signalisiert zwar Widerspruch (»Nein«), ihre vom Lehrer abgebrochene Äußerung legt aber inhaltlich Zustimmung nahe. Der Lehrer elaboriert daraufhin seinen eigenen Arbeitsauftrag, indem er die Perspektiven der Zeitungen und damit den Inhalt der Titelseiten präzisiert: Die Schülerinnen und Schüler sollen überlegen, worüber sich die Franzosen bzw. die Deutschen ärgern oder freuen, was ihnen »wichtig erschien«, »sie emotional bewegt; was sie in irgendeiner Weise interessiert«. Die Schülerinnen und Schüler sollen sich also in »die« Deutschen und »die« Franzosen hineindenken, um die Aufgabe zu bearbeiten. Die grundsätzliche Möglichkeit, dass sich auch die Franzosen über etwas ärgern, lässt der Arbeitsauftrag also offen. Davon machen die Schülerinnen und Schüler allerdings keinen Gebrauch. Die Proposition des Lehrers von der patriotischen Perspektive wird weiterhin elaboriert und bestimmt die Bearbeitung des Arbeitsauftrags, während die Präzisierung nicht aufgegriffen wird. Stattdessen sind sich die Schülerinnen und Schüler einig darüber, dass die französische Perspektive anti-deutsch ist und der Versailler Vertrag in einer französischen Zeitung dementsprechend positiv bewertet werden muss. Interaktionsanalytisch lässt sich dies auf die erste Äußerung des Lehrers zurückführen, die nach wie vor elaboriert wird: War ne französische Zeitung? das heißt wir müssen uns da drüber ja eigentlich freuen Stina Ja Jane Über diesen Vertrag Lilly Dass Deutschland (.) kein (.) kein bisschen Jane Ja dass Frankreich ganz viel von Deutschland kriegt L Lilly Dass Deutschland (.) ja dass Deutschland Schuld ist (9) Sören Wir sollten schreiben dass Deutschland durch den (.) ähm durch diesen Vertrag (.) also die wichtigen Gebietsabtrennung (.) also den Krieg verloren (.) dazu Rohstoff Anbauflächen Industrie (.) dann dass sie auf ihre Kolonien verzichten L Lilly Ja dieses=da steht ne ganze Seite drüber was die alles verloren haben Sören Ja wir sollten das aber aufschreiben
Jane
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Später während der Gruppenarbeitsphase werden die patriotische französische Perspektive und ihre Umsetzung im Rahmen der Aufgabe von der Gruppe auf den Punkt gebracht: Erik Stina Jane
Es muss patriotisch sein ne? Ja (.) Dann schreiben wir drunter Vive la France @(.)@ und dann (2) Erik Gestern Sören wurde die ähm Stina ( ) L Jane Oh dieser Edding das ist eklig Sören Ja ( ) L Mit patriotisch ist gemeint das muss so Herr Müller wendet sich der Gruppe zu. richtig französische Perspektive sein ne? Sören Ja (5)
Die patriotische Perspektive ihrer fiktiven Quelle gipfelt in einer einzigen floskelhaften Formulierung: »Vive la France«. Damit geben die Schülerinnen und Schüler die Setzung des Lehrers wieder, die er nun noch einmal wiederholt: »Mit patriotisch ist gemeint das muss so richtig französische Perspektive sein ne?« Die fertigen Titelseiten waren im Hinblick auf eine eindeutig »patriotische« Perspektive identisch und entsprachen in dieser Hinsicht alle dem Arbeitsauftrag. Bsp. 4: Internationale Presseschau (2009 – 12 – 09) Im Rahmen eines ähnlichen Lehr-/Lernarrangements befasste sich die 10. Klasse von Herrn Weber mit der Rezeption der Rede des US-Präsidenten Harry Truman vom 12. März 1947. Diese Rede, in der Truman die Bereitstellung von 400 Millionen Dollar zur Unterstützung Griechenlands und der Türkei forderte, wird gemeinhin als Ausgangspunkt der US-amerikanischen Eindämmungspolitik, auch »Truman-Doktrin« genannt, betrachtet.390 Die Schülerinnen und Schüler sollten dazu gruppenweise Zeitungsartikel aus US-amerikanischer, sowjetischer, west- und ostdeutscher Sicht schreiben und diese – wie Herr Weber erst im Anschluss an die Gruppenarbeitsphase bekanntgab – im Rahmen einer »internationalen Presseschau« vorstellen. Wie in der Klasse von Herrn Müller sind die Perspektiven auch hier klar umrissen. So soll die sowjetische Gruppe einen »kommunistisch strammen Artikel« für die Prawda verfassen:
390 Siehe Anhang.
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Historische Kompetenzen im Umgang mit Quellen
L So, ich teil euch jetzt in Gruppen auf. Und Herr Weber steht vor der Klasse und weist mit Handbewegungen auf die Gruppen. ihr habt (.) die Aufgabe, aus unterschiedlicher Perspektive (.) einen Zeitungsartikel zu verfassen, der diese Rede kommentiert. Und zwar werd ich auch einteilen in (.) eine russische Gruppe, die Prawda. Die schreibt einen zeitgenössischen Artikel aus russischer Sicht. (.) Und nimmt vor allem die internationale Bedeutung der Rede in den Blick. (.) Die zweite Gruppe (.) beschreibt die Rede aus US-amerikanischer Sicht, die New York Times. Und betrachtet auch die internationale Bedeutung der Rede. Und dann haben wir noch zwei Gruppen, die eine, nämlich eine Ostberliner Gruppe, die schreibt für das Neue Deutschland. (2) Die äh wird sich die Rede anschauen in Bezug auf Deutschland, aus (.) ostdeutscher Sicht. Und eine westdeutsche Zeitung, die (.) Frankfurter Allgemeine Zeitung, (.) die äh schaut sich die Rede aus (.) in nationaler Hinsicht aus (4) westdeutscher Sicht an. (.) Okay? […] L ((Durcheinander)) (4) Äh Christina kommt noch mit. Christina, ihr seid (2) russisch. Prawda. Ihr schreibt ein kommunistisch strammen Artikel für die (2) äh (.) ihr (3) ich würd dich ganz gern hier noch dazupacken (.) ihr schreibt die Rede aus (.) US-amerikanischer Sicht. New York Times. (.) Ihr (2) schreibt die äh über die ostdeutsche oder die westdeutsche Sichtweise?
Für die Gruppe, die sich mit der ostdeutschen Sicht auf die Truman-Rede beschäftigt, präzisiert Herr Weber die Perspektive während der Gruppenarbeitsphase: Moritz Ostdeutsch. (.) Was ist daran jetzt so Herr Weber bewegt einen der interessant? Audiorekorder dichter an die Wladi Ja, aber wir sind ja praktsich noch in Gruppe. die=die=wir sind ja=gehören ja praktisch zu den=zu der USS- UdSSR. L Die Zeitungsverleger. Ja. Wladi LJa. Und das heißt, dass wir eigentlich praktisch bei uns dann auch der äh Kommunismus herrscht.
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L
Wladi
L Moritz L Moritz L Moritz
L Moritz L Moritz
Wladi L Wladi Moritz Fabian Moritz
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Ihr nehmt die deutschen Fragen in den Blick und die andern nehmen die Russen also die internationalen Fragen in den Blick. Also die Bedeutung der Rede für Deutschland. Ja, aber ich meine vielleicht (.) äh (2) gibt’s ja in Ostdeutschland auch die Befürworter und Gegenspieler gegen den Kommunismus L Ja, aber Das heißt, das Neue Deutschland war gleichgeschaltet. Die waren=die waren ganz stramm auf Linie der=der Partei. Es könnte aber auch sein, äh in der DDR waren ja auch viele Leute gegen Ja, die würden das nicht öffentlich schreiben können. Die russischen Behörden L Ja, aber, ja, ja, aber für die russische Behörde hört sich das dann=die wissen das ja, die russische Behörde, oder? Die weiß doch dass viele Leute dagegen sind L Ja. die können das nicht offen zugeben. L Das ist richtig. Aber die würden nie ein Artikel schreiben darüber. Ja, aber wenn halt son Bericht kommt, äh wir sollen die freien Völker unterstützen, kann das so ne=kann sie doch so (.) in gewisser Weise so ne Art Kriegserklärung an die UdSSR sein. L Na, wenn müsstest du das versteckt machen. Also das kommt schon besser hin. (2) Herr Weber verlässt die Ey, scheiße, Mann. Wie sollen wir das Gruppe Richtung Tafel. machen? Wer kann gut formulieren? Ähm (2) Los, fang an.
Dabei macht Herr Weber deutlich, dass die Perspektive des Artikels eindeutig »auf Linie der Partei« sein müsse, wenngleich Moritz sogleich vermutet, dass dies nicht unbedingt die Meinung des Volkes wiederspiegelt. Damit greift er die Komplexität der historischen Perspektive auf, die allerdings für die Bearbeitung der Aufgabe letztlich nicht relevant ist. Während der Bearbeitung der Aufgabe zeichnet sich eine ähnliche Meinungsverschiedenheit zwischen Wladi und Moritz ab:
152 Moritz Wladi Leon Moritz ?m Moritz Wladi
Moritz Simon Moritz Wladi Simon Wladi ?m Simon Fabian
Wladi Moritz Fabian
?m Wladi Fabian Wladi
Historische Kompetenzen im Umgang mit Quellen
Wir sind auf Seite der UdSSR. Wir sind=nein. Doch. Ja. ( ) Ja, wir müssen aber was schreiben, damit die ( ) L Alter, guck mal, wir sind von der UdSSR einfach nur ein Be- äh Besatzungsgebiet. Verstehst du? Die UdSSR hat uns einfach nur besetzt. Und Ja, aber die Zeitung kontrolliert die UdSSR und so. L Aber wir haben keine Pressefreiheit. Es gibt keine Pressefreiheit, keine Redefreiheit. Ja, deswegen musst du das doch verpacken, ( ). Ja, wir müssen jetzt sagen, ja wir müssen gegen Amerika halt aufhetzen. (.) Warum? ( ) L sagen äh äh der labert nur Scheiße, bla, bla, bla. L Also ich hab schon mal angefangen in der vor Kurzem veröffentlichten Rede von Truman hebt er schwere Kritisierungen (.) ist das nicht falsch geschrieben. L Hebt er was? Versteh gar nichts. Kritisierungen gegen die äh Regierungsrichtung der UdSSR. (.) Er wird (2) es wird uns und genauso ihnen vorgeworfen, dass (.) ja weiter bin ich nicht. (.) @(.)@ Dass wir ein diktatorisches undemokratisches System führen. Genau. Wo steht das? Hier. (4)
Einen Konsens über die Perspektive des zu erstellenden Textes muss die Gruppe trotz der Äußerungen von Herrn Weber erst noch herstellen. Dies geschieht hier in hoher interaktiver Dichte. Die Interaktion ist zunächst antithetisch: Wladi ist anderer Meinung als der Rest der Gruppe, was die Ausgestaltung der ostdeutschen Perspektive angeht: Er unterstellt den Ostdeutschen den Wunsch, Kritik
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an den sowjetischen Besatzern äußern zu wollen. Dass dies nicht offen möglich sei, wurde bereits von Herrn Weber deutlich gemacht und wird nun von Wladi elaboriert: »deswegen musst du das doch verpacken«. Simon und Moritz wiederholen, was Herr Weber über fehlende Pressefreiheit gesagt hat. Fabian, der sich an der verbalen Interaktion bisher nicht beteiligt hat, stellt die Kontrahenten vor vollendete Tatsachen, indem er den Anfang seines Kommentars vorliest. Die offenbar unerwartete Erledigung des Arbeitsauftrags verschleiert zunächst die vorherigen Meinungsverschiedenheiten, aber da sich unmittelbar darauf auch Wladi an der Vervollständigung des angefangenen Kommentars beteiligt, liefert er damit die Synthese für die zuvor antithetische Interaktion, und es ist nunmehr klar, welche Perspektive der Text der Gruppe haben wird: eine anti-amerikanisch/pro-sowjetische. Dabei dokumentiert sich trotz gewisser Anachronismen bei Wladi und Moritz ein Verständnis von Perspektivität, das komplexer ist, als es die Bearbeitung der Aufgabe erfordert. Während Fabian weiter arbeitet und Formulierungen vorstellt, streiten sich Wladi, Moritz und Simon darüber, inwieweit die Bevölkerung den Kommunismus befürwortet. Dabei ist es Moritz, der zu bedenken gibt, dass es in »Ost-Berlin« sowohl Anhänger als auch Gegner des Kommunismus gegeben habe: Fabian Es wird versucht, uns gegen unsere so gnädigen Befreier vom Kapitalismus aufzuhetzen. Dies ist ein Unding. Wehrt euch, deutsche Bürger von OstBerlin. (.) Moritz Wir sollen doch Ost-Berlin schreiben. (.) Wladi Ja, sind wir ja. Wir sind Ost-Berlin du Idiot. Moritz Gut. Wladi Aber ich weiß gar nicht, ob die so auf äh (2) Kommunismus aus sind Simon Ja, doch doch doch. Wladi Biste bescheuert? Ost-Berlin doch nicht Mann. Simon Ost-Berlin natürlich. Moritz Doch. Moritz Ey ihr seid Partner? ((Durcheinander)) Wladi Die kriegen den Kommunismus aufgezwungen verstehst du das Alter? Moritz Ja, aber äh es gibt doch in der Bevölkerung auch viele Anhänger. Es warn ja nicht alle dagegen. ?m Ja, aber ( ) ((Durcheinander))
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Aufgrund der Aufnahme ist nicht zu klären, ob bzw. wie dieser Faktendisput zwischen Wladi und dem Rest der Gruppe – die Interaktion ist nicht antithetisch, da es um Fakten, nicht Orientierungen geht – aufgelöst wird. Für das »Produkt« der Gruppenarbeit spielt er aber keine Rolle – es wird nach den Vorgaben des Lehrers hergestellt und gibt die von ihm geschilderte Perspektive wieder. Damit stellt sich letztlich eine Reduktion der von Moritz geschilderten perspektivischen Komplexität ein. Nach der Gruppenarbeitsphase werden die insgesamt vier Zeitungskommentare von Vertreterinnen und Vertretern der Gruppen nacheinander vor der Klasse vorgetragen. Herr Weber sorgt dabei für den Rahmen, indem er den Moderator eines gespielten »Presseclubs« gibt. Sein unvermittelter Rollenwechsel (»Meine Damen und Herren«) und das fiktive Setting »Presseclub«, das der Lehrer erst jetzt – nachdem er sich bereits in der Rolle des Moderators befindet – äußerst knapp vorstellt, sorgt dabei für Gelächter. L
L
Herr Weber und vier Schülerinnen und Meine Damen und Herren, (.) ich Schüler sitzen vor der Tafel. begrüße Sie äh ((Lachen)) @(.)@ ich begrüße Sie zur ähm (2) wöchentlichen Presseklub äh diese Sendung gabs tatsächlich im deutschen Rundfunk. Da wurden dann aktuelle Artikel aus der internationalen Presse vorgelesen. Anlässlich der Rede des amerikanischen Präsidenten Truman (2) haben wir, Psst, (.) Zeitungsartikel aus der internationalen und nationalen Presse zusammengetragen. Ähm (2) die äh New York Times (.) fasst in ihrem Beitrag (.) die wichtigsten Punkte der Rede folgendermaßen zusammen. […] Die ostdeutsche Zeitung Neues Deutschland kommt zu einem ähnlichen Ergebnis.
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Leon Ja, Bürger von Ost-Berlin. In der vor Kurzem ver- äh öffentlichen Rede von Truman hegt er schwere Kritik gegen die Regierungsrichtung der UdSSR. Es wird uns auch genauso wie ihnen vorgeworfen, dass wir durch den Kommunismus ein diktatorisches und demokratisches Regierungssystem innehaben. Dass wir den Willen einer Minderheit aufgezwungen bekommen, eine kontrollierte Presse und Rundfunk haben, fingierte Wahlen und Unterdrückung der persönlichen Freiheit bei uns vorkommen. Es wird versucht, uns gegen uns so gnädigen Befreier vom Kapitalismus aufzuhetzen. Dies ist ein Unding. Wehrt euch deutsche Bürger von Ost-Berlin. Wie so häufig versuchten=versucht die USA durch Propaganda und fiese Lügen uns zu betrügen. Glaubt ihnen nicht, Bürger von Ost-Berlin.. L Die Frankfurter Allgemeine Zeitung. (2) […] L Meine Damen und Herren, es dürfte deutlich geworden sein, die Rede des amerikanischen Präsidenten Truman wird weitreichende Folgen für die Geschichte der Menschheit haben. Ich danke Ihnen. (.) ((Applaus))
Das fertige Produkt der Gruppenarbeit – es wird nach der Stunde vom Lehrer eingesammelt – schreibt die vom Lehrer vor- und von den Schülern wiedergegebene Perspektive fest und konserviert sie. Da für den Typ der Perspektivenreduktion das Erstellen von fiktiven Texten im Rahmen der Unterrichtsinteraktion stets als Elaboration und Validierung von Propositionen der Lehrkraft oder einer Quelle erscheinen, lassen sich in Bezug auf Perspektivität als Gegenstand keine Konstruktionsleistungen der Schülerinnen und Schüler rekonstruieren. Dennoch stellt das adäquate Ausfüllen einer vorgegebenen historischen Perspektive – z. B. unter Verwendung zeitgenössischer Sprache – freilich eine Leistung dar, die jedoch im Sample höchstens in Ansätzen zu beobachten war. Im Gegensatz dazu sind bei der Perspektivenaneignung Konstruktionsleistungen rekonstruierbar – wenngleich diese unter normativen Gesichtspunkten nicht die gewünschten sind.
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8.2.3 Perspektivenreflexion Im Gegensatz zu den beiden zuvor geschilderten Typen lassen sich bei der Perspektivenreflexion gegenstandsbezogene Konstruktionsprozesse rekonstruieren. Das bedeutet, dass (auch hier vorgegebene) Perspektiven nicht nur wiedergegeben werden, sondern für den Verlauf der Interaktion relevant werden. Um dies zu verdeutlichen, soll hier ein Lehr-/Lernarrangement, das in zwei Kursen auf erhöhtem Niveau gefilmt wurde, als Beispiel herangezogen werden. Bsp. 5: Roland Jahn (2010 – 11 – 04) Im Rahmen eines Rollenspiels ließ Herr Schulz eine zeitgenössische Debatte über die Zwangsexmatrikulation von Roland Jahn im Leistungskurs nachspielen. Roland Jahn hatte 1976 gegen die Ausbürgerung Wolf Biermanns aus der DDR protestiert. Der schriftliche Protest bildete als Quelle die Grundlage für das Lehr-/Lernarrangement391 und wurde von den Schülerinnen und Schülern des Kurses gelesen. In der schriftlichen Erklärung kritisiert Jahn die Ausbürgerung Wolf Biermanns als unangemessene Reaktion, indem er versichert, dass es die DDR als starker Staat nicht nötig habe, in dieser Art und Weise mit Kritikern umzugehen. Infolgedessen wurde Jahn das weitere Studium verwehrt. Eine Diskussion über die Zwangsexmatrikulation fand in Jahns Seminargruppe statt.392 Eingangs umreißt Herr Schulz diesen historischen Kontext sehr deutlich und gibt dabei auch den Ausgang der realen Diskussion – Jahns Exmatrikulation – bekannt. Ebenfalls weist Herr Schulz dem Schüler Anton die Rolle des FDJSekretärs zu, der die Diskussion leiten soll:
391 Siehe Anhang. 392 Siehe Anhang.
Perspektiven und Perspektivität
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L Aufgabe, (2) die Sie nach der Pause Herr Schulz setzt sich auf den Tisch und beginnen. (.) Ich erklär jetzt noch, was Sie blickt in die Runde. Einige Schülerinnen tun sollen. Erstens, informieren Sie sich und Schüler beginnen zu schreiben. über das Schicksal, (.) von diesem Roland Jahn; (.) Und dann haben Sie eine Stellungnahme von ihm. Er erklärt ausführlich schriftlich, weshalb er gegen die Ausbürgerung Biermanns ist. (.) Und die sollen Sie aus unterschiedlicher Perspektive lesen. (.) Einmal sollen Sie die Stellungnahme nutzen, um ihn zu verteidigen. (3) Ähm Sie sollen also sagen, der Mann muss weiter studieren dürfen. Er ist dann letztlich vom Studium ausgeschlossen worden (.) Der Mann äh darf nicht bestraft werden. (2) Das ist die eine Perspektive, die Sie einnehmen sollen. Die andere Perspektive, finden Sie aufgrund seines Textes Argumente, weshalb das Regime (.) ähm den Mann unschädlich machen will. (.) Und ihm das Studium, das weitere Studium verwehren will. Also einerseits verteidigen Sie ihn. (3) Als jemand, der in der DDR bleiben muss und in der DDR weiter studieren darf. Oder (.) kritisieren Sie ihn, äh sehen Sie, weshalb er für das Sys- äh Regime gefährlich ist und weshalb ihm das Studium verwehrt werden muss.
Wie in der vorherigen Unterrichtssequenz sind auch hier die Perspektiven, die die Schülerinnen und Schüler einnehmen sollen, von Vornherein klar und vom Lehrer vorgegeben. Das Arrangement unterscheidet sich allerdings dadurch, dass die Schülerinnen und Schüler nicht nur jeweils eine Perspektive übernehmen, sondern auch mit einer anderen in Interaktion treten sollen. Das Hineinversetzen in die jeweils andere Perspektive ist sogar insoweit Teil der Aufgabe, als Herr Schulz es explizit zur Vorbereitung empfiehlt.
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Historische Kompetenzen im Umgang mit Quellen
L So, bevor Sie miteinander streiten, gehen Sie bitte in zwei Gruppen. In zugewiesenen Rollen. (.) Ähm und bereiten Sie sich darauf vor, dass Sie in der entsprechenden Sitzung Ihre Position vertreten. Sie können sich darauf vorbereiten, indem Sie die Argumente der Gegenseite vorwegnehmen. Überlegen, was Sie möglicherweise erwidern könnten. Die eine Gruppe hat die Aufgabe, (.) den Antrag auf seine Exmatrikulation durchzusetzen. (.) Sie rechnen aber damit, dass es unter den Studierenden noch Widerstand gibt, dass manche ihn verteidigen werden. Und müssen versuchen, Argumente dagegen zu finden, damit in der entsprechenden Sitzung auch dieser Antrag von den Studierenden durchgesetzt wird. So ist es gelaufen. Man hat die Leute zusammengerufen. (.) Und hat sie dazu gebracht, diesen Antrag (.) anzunehmen. Die andere Gruppe rechnet damit, dass seine Exmatrikulation beschlossen wird. Und stellt sich darauf ein, ihn zu verteidigen, weil sie das verhindern möchte. (2) Versuchen Sie die Argumente der Gegenseite vorwegzunehmen, sich auf den Streit vorzubereiten. Ähm damit sie dann möglichst gestärkt aus dem Gespräch hervorgehen. Alle, die an einem Doppeltisch rechts sitzen, (2) treffen sich bitte auf der Seite und versuchen, seine Exmatrikulation durchzusetzen, beziehungsweise den Antrag auf seine Exmatrikulation durchzusetzen. Das ist vielleicht die schwierigere Aufgabe für Sie. (2) Und alle, die an einem Doppeltisch links sitzen, (.) treffen sich da; und wissen, die Exmatrikulation soll durchgesetzt werden; Wir versuchen das aber zu verhindern mit unseren Argumenten. Nehmen Sie die Argumente der Gegenseite in den Blick, die kennen sie ja schon. (2) Dafür haben Sie knapp zehn Minuten Zeit (.) sich vorzubereiten.
Herr Schulz deutet mit der Hand auf die linke Seite des Raums (von ihm aus gesehen).
Herr Schulz deutet mit der Hand auf die rechte Seite des Raums. Mehrere Schülerinnen und Schüler sortieren ihre Zettel. Die Schülerinnen und Schüler setzen sich in die jeweiligen Bereiche des Raums.
Damit macht Herr Schulz nicht nur deutlich, dass die einzunehmenden Perspektiven vorgegeben sind und sie dementsprechend performativ umgesetzt werden sollen. Auch der historische Kontext ist gewissermaßen unumstößlich – »so ist es gelaufen«. Ein kontrafaktischer Ausgang des Rollenspiels – Roland
Perspektiven und Perspektivität
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Jahn darf weiterstudieren – ist also nicht vorgesehen oder vom Lehrer erwünscht. In diesem Sinne handelt es sich bei Arrangement um eine sogenannte »Simulation«, denn es wird versucht, eine mehr oder weniger konkrete historische Situation möglichst authentisch nachzustellen.393 Den unmissverständlichen Perspektiven (pro und contra Exmatrikulation) und der historischen »Wahrheit«, steht allerdings eine große Offenheit gegenüber, was die konkreten Rollen der Schülerinnen und Schüler angeht. So teilt Herr Schulz Antons Rolle als die Diskussion leitender »FDJ-Sekretärs« erst unmittelbar vor Beginn des Rollenspiels zu. Dies tut der Diskussion allerdings keinen Abbruch – vermutlich, weil die Lerngruppe in dieser Tätigkeit eine gewisse Übung hat und Herr Schulz weiß, an welche Schülerinnen und Schüler er welche Rollen vergeben kann. Ja gut, dann begrüß ich euch Genossen dazu, dass wir heute Herrn Jahn vom Studium ausschließen werden. Ich weiß nicht, ob vielleicht irgendwer noch welche Gegenargumente hat. Ansonsten könnten wirs ja relativ schnell beschließen. (.) Da die Sache eindeutig ist. Linda Ja, klingt gut. (2) Martin Also ähm L ?m ( ) Martin Meiner Meinung nach ist Herr Jahn, den ich auch persönlich kenne, ein äh sehr junger kommunistisch denkender Mensch, der zum Ziel ähm eigentlich immer den Sozialismus hat. Und ähm meiner Meinung nach kann man bei so einem Menschen, so einen Kommunisten, einen sozialistisch denkenden Menschen nicht vom Studium ausschließen. (2) Anton Ja; Lena Ähm wenn Herr Jahn den Kommunismus vertritt und jetzt hier in einem Sozialismus lebt, warum stellt er sich auf die Seite eines Klassenfeindes und vor allem, warum vertritt er seine Meinung? (3) Anton
Herr Schulz setzt sich und legt seine Armbanduhr vor sich auf den Tisch. Martin meldet sich.
Martin hält in einer Hand ein Blatt Papier und in der anderen einen Stift. Beim Reden blickt er vornehmlich auf das Papier und ab und zu in Richtung Anton.
393 Vgl. Klaus-Ulrich Meier : Simulation. In: Ulrich Mayer/Hans-Jürgen Pandel/Gerhard Schneider (Hrsg.): Handbuch Methoden im Geschichtsunterricht, 2. Auflage, Schwalbach/ Ts. 2007, S. 342 – 353. Meier rät davon ab, im Unterricht »Milgram-Experimente« (S. 350) durchzuführen. Das hier vorgestellte Lehr-/Lernarrangement könnte man – wenngleich in abgeschwächter Form – als ein solches auffassen.
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Historische Kompetenzen im Umgang mit Quellen
Sogleich werden die beiden Perspektiven etabliert. Dabei macht der »FDJ-Sekretär« Anton von Vornherein klar, auf welcher Seite er steht. Er ist kein unparteiischer Moderator der Diskussionsrunde, sondern verfolgt das Ziel, Roland Jahns Exmatrikulation von der Gruppe absegnen zu lassen. In dieser Hinsicht entspricht die gespielte Diskussion aller Wahrscheinlichkeit nach dem historischen Vorbild. Was die verbale Interaktion angeht, stellt das Rollenspiel in seiner Gesamtheit eine Elaboration des Arbeitsauftrags dar. Die von den Schülerinnen und Schülern gespielte Interaktion ist oppositionell.394 Laura
Ja, wenn man nun bedenkt, wenn Philipp der Meinung ist, wir sind ja schon so perfekt, unser Staat, ähm dann versteh ich nicht, (.) warum man dann=warum der Staat nicht so stark ist, dass er einfach gegen diese Äußerung sich dagegenstellen kann und sagen kann, ja, oder da drüber weggucken kann, weil (.) nur weil ein einziger Mensch (.) jetzt vielleicht mal das Wort erhebt und sagt, ich finde das nicht in Ordnung und Kritik äußert, heißt das doch noch lange nicht, dass man ihn gleich ausschließen muss. Und ihn aus dem Staat rauskatapultieren muss. So nach dem Motto. Ähm weil sonst das ganze System zerstört wird. Ich meine, wenn ein Mensch, das saalso da einer alleine das schon schafft so ne Aufruhr zu (.) ne? In Gang zu bringen, (.) ähm (2) was macht ihr denn dann, wenn sich wirklich mehrere zusammenschließen? (2) Anton Ja, Anna; Anna Ja, aber wenn man grade es bei einem duldet, dann man muss es ja letztendlich bei allen dulden. Und so wird das System letztendlich vom Klassenfeind untergraben. Insofern kann man da keine irgendwie (.) ja, Freundlichkeit zeigen. Da muss man konsequent vorgehen. (.) Anton Linda?
Lena meldet sich weiterhin. Anna meldet sich.
Martin meldet sich.
Linda meldet sich.
394 In der Sprache der dokumentarischen Methode liegen bei oppositionellen Interaktionen Rahmeninkongruenzen vor, die verhindern, dass es zu thematischen Konklusionen kommt. Die Orientierungen der beiden Seiten sind unvereinbar. Dementsprechend kann eine oppositionelle Interaktion nur beendet werden, indem die »Gruppe«, die im Sinne der Methode dann keine solche mehr ist, auseinander geht bzw. die Interaktion abbricht.
Perspektiven und Perspektivität
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Und sind Sie sich eigentlich bewusst, was für Konsequenzen Ihre Aussagen auf Sie persönlich haben könnten? ?m @(.)@ Anton Ja. (3) ( )
Nachdem Laura ein Argument gegen die Exmatrikulation vorbringt, das aus der Quelle stammt, und Anna dagegen sachlich Stellung bezieht, verlässt Linda die sachlich-argumentative Ebene und droht indirekt mit persönlichen »Konsequenzen«. Dieser Bruch sorgt für spontanes Lachen, wobei die reale Unterrichtsinteraktion aufscheint, die sich darüber hinaus auch darin äußert, dass sich die Schülerinnen und Schüler weiterhin melden. Was sich in Lindas Beitrag dokumentiert, ist ein Machtungleichgewicht, das sich nun abzuzeichnen beginnt und sich durch den Verlauf des Rollenspiels zieht. So kann Linda Martins Frage ausweichen und ihm im gleichen Atemzug Misstrauen gegenüber dem Staat unterstellen – ein Vorwurf, den Martin sogleich zurückweist. Linda ?m Anton Martin
Linda Martin
Linda
Und sind Sie sich eigentlich bewusst, was für Konsequenzen Ihre Aussagen auf Sie persönlich haben könnten? @(.)@ Ja. (3) ( ) L Ja, dessen sind wir uns durchaus bewusst. Ähm (.) was wir aber denken können, ist einfach, dass äh durch logisches Nachdenken ähm diese Entscheidung nicht in die richtige Richtung zeigen wird. Wenn ich ganz kurz noch mal Herrn Jahn zitieren darf. Ähm seine Darstellungen, jetzt bezieht er sich halt auf äh Herrn Biermann, seine Darstellungen wären demzufolge auch falsch und spiegeln nicht das real existierende wider. Was sagen Sie denn dazu? (.) ( ) L Also sind Sie praktisch der Meinung, unser Staat entscheidet falsch? Nein, das bin ich nicht. Aber er bezieht sich grad auf seine Äußerung Biermann äh Biermanns gegenüber. Das heißt, L Aber Sie haben grade in Ihrem ersten Satz ja gesagt, dass wir damit falsch umgehen würden und falsch ( )
Martin blickt in Lindas Richtung und richtet die Frage direkt an sie. Im Folgenden blicken sich Martin und Linda die meiste Zeit an.
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Historische Kompetenzen im Umgang mit Quellen
Martin
Nee, ich hab=ich hab grade gesagt, dass ich der Überzeugung bin, dass wir zu der richtigen Lösung kommen. Ähm Linda Also noch ( ) L Martin Es geht hier ja um=um Herrn Anna, Nora und Philipp melden sich. Jahn, der äh (.) ja sich gegen die Ausbürgerung Herrn Bier- äh von Herrn Biermann stellt. Und äh (.) ja, demzufolge hab ich halt ihn grade zitiert und würd halt gern wissen, ob das nicht eigentlich ähm (.) ja, so gesehen werden kann dass er eben sich nicht gegen Staat stellt sondern (.) mit dem Staat zusammen. (.) Ja dass er nachdenkt. (.) Anton Ja, Philipp? Philipp Sie vertrauen also nicht auf die Philipp blickt beim Reden nach unten. Entscheidungen unserer führenden Parteifunktionäre? Martin Doch. @(.)@ Philipp Dann werden Sies nicht inzwa- -frage ziehen müssen ob er (.) äh (2) die Uni weiter besuchen darf oder nicht. (3)
Dabei bewegt sich Martins Argumentation thematisch und sprachlich dicht an der Quelle, aus der er auch zitiert. Der Sinn einer solchen »Rekrutierung« der Quelle als Stütze des Arguments läuft jedoch ins Leere, da die Gegenseite wiederum das Thema der Interaktion verschiebt. Dennoch wird die Quelle hier Teil der Interaktion: zum Teil explizit (in Form von Zitaten), zum Teil, indem ihre Argumente elaboriert werden. Das Machtgefälle in der verbalen Interaktion äußert sich jedoch nicht nur in Themenverschiebungen, sondern auch am Interaktionsverlauf selbst: Obwohl sich Schülerinnen und Schüler immer noch melden – die unterrichtliche Interaktion scheint hier wiederum auf –, unterbricht Linda Martin mehrmals. Sie tut dies im Rahmen der gespielten Interaktion, und ihr Verhalten hat keinerlei Konsequenzen. Martin befindet sich weiterhin in einer defensiven Position, während Linda und Philipp am längeren Hebel sitzen. Hier werden die beiden Perspektiven, die die Schülerinnen und Schüler einnehmen, für den Interaktionsverlauf relevant: Es werden nicht nur Argumente pro und contra Exmatrikulation ausgetauscht, sondern die Einnahme der jeweiligen Perspektive bestimmt den (gespielten) Handlungsspielraum der Akteure. Dies wird umso deutlicher, als FDJ-Sekretär Anton kurz darauf Martin zur Ordnung ruft:
Perspektiven und Perspektivität
Paul
Martin Paul Martin Anton Martin Anton Martin Lena
Ja, aber wir haben es hier mit einer Verhöhnung der Staatsgewalt zu tun. (.) Herr Jahn, ich zitiere ihn, ähm hat gesagt, dass Herr Biermann gezwungen wurde zu seinen Taten und seine=weiterhin sagt er auch, ähm dass (.) und damit ist ganz klar der Staat gemeint, dass die ähm Abgeordneten nur an ihren eigenen Speck denken. So was kann ja nicht hingenommen werden. (4) Können Sie denn das Gegenteil beweisen? (3) Ja, wir leben doch im richtigen System. Also (.) Dann beweisen Sies doch. Und nehmen Sies nicht einfach so hin. L Ja Lena Der wahre Sozialist denkt doch drüber nach, obs richtig ist. Nicht unterbrechen. Tschuldigung. Und denken Sie vor allem da dran, Sie leben grade im Sozialismus und studieren auf die Kosten unseres Staates. Was beschweren Sie sich denn eigentlich? Warum stellen Sie infrage ob wir hier richtig leben? (4)
163 Philipp trinkt einen Schluck aus einer Wasserflasche.
Martin redet ohne vorherige Meldung und blickt in Richtung Paul/Anton. Martin und Paul blicken einander an, während sie sprechen. Lena meldet sich.
Das Verhalten, das zuvor Linda ohne Ermahnung an den Tag gelegt hatte, wird nun sanktioniert. Dabei ist es bezeichnend, dass Anton zunächst Martin selbst unterbricht, indem er Lena aufruft, während Martin noch redet. Dass Anton sich im Rahmen der gespielten Interaktion so verhalten und er Martin sogar zu einer Entschuldigung nötigen kann, zeigt, wie die beiden Perspektiven die Interaktion präformieren und den Kontext für bestimmte perspektivisch gebundene Handlungsmöglichkeiten bilden. Dass sich die Perspektivenübernahme am Interaktionsverlauf rekonstruieren lässt, spricht für das Vorhandensein impliziten Wissens bezüglich des Umgangs bzw. der Koordination verschiedener Perspektiven. Dieses implizite Wissen präformiert wiederum das kompetente Handeln der Schülerinnen und Schüler, das ihnen das Lehr-/Lernarrangement zu zeigen ermöglicht. Im Gegensatz zu den bisher vorgestellten Beispielsequenzen, in denen kompetentes Verhalten punktuell und kontingent bzw. als Phänomen von Emergenz erschien, lässt sich hier das Lehr-/Lernarrangement als ein Kontext für kompetentes Verhalten rekonstruieren. Da es sich bei der gespielten Interaktion um eine oppositionelle handelt, ist ihr Abbruch durch den Lehrer konsistent. Dieses Ende passt auch zum Umstand, dass das Ergebnis der Diskussion ohnehin bekannt bzw. vorgegeben war und es
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Historische Kompetenzen im Umgang mit Quellen
insofern nicht Ziel des Rollenspiels war, es zu erreichen. Herr Schulz nennt darauf den Grund für sein Einschreiten, nämlich dass sich die Schülerinnen und Schüler noch ein paar Minuten lang (d. h. bis zum Ende der Stunde) über die »Eindrücke von dieser gespielten Diskussion« oder »Lehren […] aus der Beobachtung dieser Diskussion« austauschen können. Dabei betont der Lehrer, dass sich diese Aufforderung an die Gruppe richtet (»Sie«) und ihn selbst nicht mit einschließt: Also zum einen ist es so, dass ähm (.) wenn man Herrn ähm Biermann wirklich mit ihm anders umgegangen wäre, dann hätte man den westlichen Medien ja genauso PropaganPropaganda geliefert. So dass sie sagen könnten wir ähm (.) das so und so wir lassen unser System unterwandern von den Klassenfeinden. Des Weiteren weiß ma- eigentlich jeder hier, dass man dem westlichen Fernsehen nicht Glauben schenken darf. (2) L Okay, die Entscheidung fällt ja dann äh klar (.) gegen Roland Jahn. Ähm wir brauchen ein paar Minuten wenigstens, dass Sie Eindrücke von dieser gespielten Diskussion austauschen können. (.) Oder Lehren, die Sie aus der Beobachtung dieser Diskussion ziehen. Laura? Laura Also an sich fand ich die Diskussion gar nicht so schlecht. Also es war halt für uns, ähm die gegen=gegen diese Ausäh also gegen dieses (.) Ausschlussgenau L L Gegen die Exmatrikulation. Ja. Laura genau waren, bisschen schwierig, weil halt eigentlich=weil halt die von oben drüber steht, ja, der Staat ist so perfekt. Also (.) ähm der Sozialismus ist schon das Beste. Und äh es gibt keine Fehler da drin. Und da gabs halt Schwie- echt Probleme zu sagen, dagegen zu halten, ohne dass man sich selber irgendwie (.) ähm (.) ins Rampenlicht stellt und sagt, hey, hier, ich bin eigentlich auch @dagegen@. L Mhm. Laura Und äh von daher fand ich da das ein bisschen schwierig, da jetzt groß wirklich ne Diskussion rauszuholen.
Anna
Herr Schulz legt seine Armbanduhr wieder an.
Herr Schulz sitzt an seinem Tisch. Martin, Laura und Anton melden sich.
Perspektiven und Perspektivität
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Im Folgenden beschränkt sich Herr Schulz darauf, Schülerinnen und Schüler aufzurufen und an einer Stelle bei der Formulierung zu helfen (»Exmatrikulation«). Die Validierungen (»Mhm«) scheinen hier eher das Ende von Wortbeiträgen zu signalisieren und weniger eine Zustimmung im Sinne einer »richtigen« Äußerung. Laura beginnt damit, die Diskussion positiv als »gar nicht so schlecht« zu bewerten. Aufgrund der Totschlagargumente von staatlicher Seite (»der Sozialismus ist schon das Beste«) sei es schwierig gewesen, »da jetzt groß wirklich ne Diskussion rauszuholen«. Es dokumentiert sich bei Laura eine Erwartungshaltung in Bezug auf das Unterrichtsarrangement »Diskussion« oder »Rollenspiel«, die nicht erfüllt wurde. Offenbar geht die Schülerin davon aus, dass normalerweise Argumente ausgetauscht werden und die Gewalt über die Interaktion gerecht verteilt ist und demokratische Prinzipien (d. h. die besseren Argumente) letztlich über den Ausgang des Rollenspiels entscheiden. Eben dies war, wie sie zuvor ausgeführt hat, nun nicht der Fall gewesen. Doro und Martin formulieren ähnliche Beobachtungen und reflektieren die Asymmetrie der Interaktion: L Doro
Doro? Und auch, dass die andere Seite son Druckmittel hatte. Also so ähm passen Sie lieber auf Ihre Zukunft auf. Und also (.) dass man gleich das Gefühl hat, man muss aufpassen, was man sagt. Weil einem sonst selber so was blüht. L Mhm. (.) Martin? Martin Ich fands auch extrem schwer, diese Totschlagargumente irgendwie zu bekämpfen. Also wenn man halt einfach sagt, ja, der=unser Staat ist ja schon perfekt, und man sagt dann man sollte noch mal drüber nachdenken und kommt immer so das wie von wegen ja Sie vertrauen uns ja nicht. Und bla. Dann hat man da irgendwie kaum ne Chance noch, äh (.) argumentativ sich ähm zu bewegen. L Mhm. Paul? Paul Aber ich denke, es hat auch gezeigt, dass man eigentlich aus der Position des Staats ((Pausenglocke klingelt))
Herr Schulz nickt bei »Totschlagargumente« und nach Martins Beitrag. Paul meldet sich nach Martins Beitrag.
166 Paul
L
Paul
L Paul L
Historische Kompetenzen im Umgang mit Quellen
keine logischen Argumente (.) ausbringen kann. Außer halt solche totalitären Argumente. (2) Weil wirklich begründen (2) muss man das ja gar nicht. Aber ich denke, es wird dann auch=würde schwierig fallen, falls man sich zu einer Diskussion bereit erklären würde. Mhm. (.) Also das war aber (.) letztlich haben Sie gesagt, ähm die Staatsseite haben sich gar nicht zu einer Diskussion bereiterklärt. (.) Dadurch war es unmöglich, äh argumentativ vorzugehen. Ja, weil ich denke, (.) ähm (.) jetzt also wir, aus unserer Position hätten wir uns eh nicht auf irgendwas anderes eingelassen. (.) Sie haben den Staat vertreten? Ja. Ja. (2) Ja, vielleicht hat Ihnen das einen kleinen Eindruck vermittelt, wie schwierig es war, sich zu wehren, obwohl man wahrscheinlich die besseren Argumente hatte. Lesen Sie bitte im Reader Seite 30 bis 31. Da geht’s darum welche Oppositionsgruppen gibt es überhaupt. Wie wird damit umgegangen; Und wiederholen Sie im Reader Seite=das Blatt 13; (.) Da wird beschrieben, wie die Stasi immer weiter aufgebläht wird. Das haben Sie schon gelesen. Aber das passt natürlich zu unserem Thema. Also Blatt dreiz- 31 und Blatt 13. (.)
Herr Schulz nickt nach »totalitären Argumente« und nach Pauls erstem Beitrag.Nach dem Klingeln beginnen einige Schülerinnen und Schüler damit, ihre Sachen zu packen. Herr Schulz nickt wiederum nach Pauls zweitem Beitrag.
Paul, der pro Exmatrikulation argumentiert hatte, weist darauf hin, die Diskussion habe gezeigt, dass von Seiten des Staates kein Interesse an einer echten Diskussion bestanden habe und man insofern gar »keine logischen Argumente« hätte vorbringen können – sondern nur »totalitäre«. Auch bei ihm dokumentiert sich eine Einsicht in die staatliche Übermacht, die in der Struktur der Diskussion erkennbar wurde und sich in ihrem Machtgefälle manifestierte. Herr Schulz kommentiert das Feedback der Schülerinnen und Schüler nicht, sondern fasst es am Ende zusammen. Dabei übernimmt er den Eindruck der Schülerinnen und Schüler, dass es trotz der »besseren Argumente« offenbar schwierig war, sich gegen staatliche Sanktionen zu wehren. Perspektivenreflexion bedeutet also, dass ein Lehr-/Lernarrangement es
Quellen und ihre Beziehungen zur Vergangenheit
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Schülerinnen und Schülern ermöglicht, über authentische, quasi-historische Szenarien Perspektiven nicht nur zu entwickeln und wiederzugeben, sondern sie interaktiv zu inszenieren und zu reflektieren. Im Gegensatz zur Perspektivenreduktion und Perspektivenaneignung lassen sich hier in Bezug auf den historischen Gegenstand Konstruktionsleistungen rekonstruieren. Die Art und Weise, wie die Schülerinnen und Schüler die vorgegebenen Perspektiven performativ ausfüllen, lässt sich nicht als Elaboration einer vorherigen Proposition des Lehrers deuten – höchstens auf der Ebene der sozialen Ordnung: hier elaborieren sie den Arbeitsauftrag des Lehrers. Der Umgang mit Perspektivität entsteht erst über die Form der Interaktion, die es erlaubt, die historischen Perspektiven adäquat auszufüllen. Dies tun die Schülerinnen und Schüler, indem sie zunächst Argumente erarbeiten, diese dann kontrovers in ihren Rollen diskutieren und abschließend das Rollenspiel reflektieren.
8.2.4 Zusammenfassung Für den Umgang mit Perspektivität bzw. Perspektiven konnten im Sample drei Typen rekonstruiert werden, die sich grundlegend voneinander unterscheiden. Während bei der Perspektivenaneignung implizit oder »schleichend« die Perspektive einer Quelle übernommen und ihre Standortgebundenheit damit negiert wird, füllen Schülerinnen und Schüler im Rahmen von Perspektivenreduktionen bereits vorgegebene Perspektiven mit Hilfe von Kontextwissen aus. Das Phänomen der Perspektivenreflexion beschreibt hingegen Vorgänge, die am ehesten mit der postulierten Kompetenz »Perspektivenübernahme« übereinstimmen: Schülerinnen und Schüler schlüpfen performativ in unterschiedliche Rollen und interagieren miteinander, wobei die Perspektiven die Art der Interaktion vorgeben. Dabei ist gerade nicht vorgesehen, die Perspektive einer bestimmten Quelle bewusst oder unbewusst zu übernehmen. Die Quellen werden vielmehr zu Akteuren, auf die im Rahmen der Interaktion Bezug genommen werden kann.
8.3
Quellen und ihre Beziehungen zur Vergangenheit
Dieses Kapitel beschreibt das Verhältnis zwischen Quellen und der Vergangenheit, wie es sich im Sample dieser Studie darstellt. Im Umgang mit Quellen konnten drei Typen rekonstruiert werden, die die Art der Beziehung zwischen Quelle und Vergangenheit beschreiben. Dabei sind die ersten beiden Typen, die im Folgenden erläutert werden sollen, strukturell ähnlich und möglicherweise
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Historische Kompetenzen im Umgang mit Quellen
ein und derselbe Typ, da sie – wenngleich in unterschiedlicher Weise – ein eindeutiges Verhältnis zwischen Quelle und Vergangenheit beschreiben.
8.3.1 Quellen als Abbilder historischer Wahrheit Dieser Typ beschreibt ein eindeutiges Verhältnis zwischen Quelle und Vergangenheit in dem Sinne, dass die Quelle bzw. die Aussage, die ihr entnommen wird, als Wahrheit oder Realität erscheint und die historische Standortgebundenheit der Quelle damit unterschlagen bzw. negiert wird. Als Kriterium, an dem Quellen gemessen werden, erscheint in diesem Sinne ihr Wahrheitsgehalt, der im Sample mit Begriffen wie »objektiv« oder »neutral« oder »realistisch« umschrieben wurde. Bsp. 1: Feldpost und Fotos aus dem Ersten Weltkrieg (2009 – 11 – 06) Im Rahmen der Behandlung des Ersten Weltkriegs beschäftigte sich die 10. Klasse von Herrn Müller mit zahlreichen Quellen, die das Fronterlebnis in unterschiedlicher Weise thematisierten. So lasen die Schülerinnen und Schüler ästhetisierende Auszüge aus Ernst Jüngers »In Stahlgewittern«, die darauf mit Feldpostbriefen zweier Soldaten – einem Deutschen und einem Franzosen – kontrastiert wurden.395 Beim Unterrichtsarrangement handelt es sich um ein fragend-entwickelndes Gespräch. Aus der Auseinandersetzung mit den Feldpostbriefen stammt die folgende Passage, in der deutlich wird, dass Lehrer und Schülerinnen und Schüler die Quellen aufgrund ihres höheren Wahrheitsgehalts den Erzählungen Ernst Jüngers vorziehen und Wahrheitsgehalt den Maßstab bildet, der die Beurteilung der Quelle steuert:
395 Siehe Anhang.
Quellen und ihre Beziehungen zur Vergangenheit
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Sven Ist auch nicht die Art von Feldpostbriefen, wo man jetzt denkt, ja, hier mir geht’s gut. Macht euch keine Sorgen. In zwei Wochen bin ich wieder da. Sondern die wollten ja eigentlich, das sieht man auch bei dem Franzosenbrief. Ich wollte hier von Liebe sprechen, doch ich spreche dir von Leichnamen. Dass man eben sieht, er wollte ja eigentlich ihr sagen, dass es ihm gut geht. Aber es geht ihm nicht gut. Und er kann sie einfach nicht anlügen. Und sagt ihr einfach, wie schlecht es ihm geht. Und dass äh dass er quasi jeden Moment sterben kann. //mhm//. Man sieht eben, dass es nicht so ist. Ja, ich bin bald wieder da, und wir sind glücklich. Dass er Angst um sein Leben hat. L Mhm. (2) Ja. (.) Richtig. ((räuspert Herr Müller nick tund weist danach in sich)) Tim? Richtung Tim. Tim Ja und wenn mans jetzt mal mit Ernst Jünger vergleicht, ähm also das sind dann wirklich Leute, die das wirklich sachlich darstellen. Und der ähm denk ich mal, war halt mit Sicherheit auch irgendwie vom Staat noch angehalten, ähm dass dann auch äh irgendwie packender zu schreiben. Und ähm nicht so schlimm halt einfach darzustellen. L Mhm also du vermutest, dass das auch Herr Müller nickt mehrmals. ein Propagandaschriftsteller ist, der sozusagen den Auftrag bekommen hat? (.) Mhm. Tim Ich denke mal schon. L Ja. (.) Also die Überlegung ist richtig. Äh trifft nicht zu. Er hat das nach dem Krieg veröffentlicht. Da gab es keine (.) ähm also das hat vielen gefallen. Auch=es hat auch der=der Regierung zum Teil vielleicht auch gefallen. Aber er hat kein äh keinen staatlichen Auftrag gehabt dafür. Ist sozusagen seine Darstellung, seine Sichtweise auf den Krieg, die er dort literarisch verarbeitet hat. (2)
Dabei ist es Tim, der der Ernst Jünger-Quelle die Sachlichkeit der Feldpostbriefe gegenüberstellt. Er vermutet hinter Jüngers verherrlichender Sicht staatlichen Einfluss – eine Annahme, die Herr Müller sogleich berichtigt, indem er Jüngers Perspektive als seine persönliche, literarisch verarbeitete Sicht auf den Krieg
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Historische Kompetenzen im Umgang mit Quellen
herausstellt und die Quelle zeitlich (»nach dem Krieg«) einordnet. Gleichzeitig validiert er explizit Tims Gedankengang. Darauf revidiert Sven seine vorherige Deutung von der Sachlichkeit der Feldpostbriefe und stellt sie nunmehr als »ziemlich wahrheitsgetreu« dar : L Sven. Sven Ich wollte gleich dazu noch was sagen, also ich finde, dass die beiden es zwar ziemlich wahrheitsgetreu sa- sagen, aber nicht äh also aber nicht äh sachlich. Sondern eher=dass sie ihren Schrecken einfach voll in diesen Brief einwirken lassen. Weil wenn sie es sachlich schreiben, würden sie einfach schreiben, ja, ich habe=aus meiner Kompanie hab ich 50 Mann verloren. Folgende. //mhm// Weiß nicht, äh Armin Müller wurde so und so angeschosen. An dem und dem Tag. Also ist nicht wirklich sachlich, sondern es ist schon L L Ha- haben wir ein anderes Be- ein anderen Begriff statt sachlich? ((räuspert sich)) Sven Ja, rea- realitätsnah. L Mhm. Genau. ((räuspert sich)) Herr Müller schreibt Sven Realistisch. an die Tafel.
Das Pendant zur ziemlich wahrheitsgetreuen Quelle ist demnach für Sven eine »sachliche« Quelle, die sich dadurch auszeichnet, dass sie Zahlen und Namen, d. h. Fakten ungefiltert wiedergibt. Für die Charakterisierung der vorliegenden Quelle einigt er sich in Kooperation mit Herrn Müller auf das Adjektiv »realistisch«, das der Lehrer ins Tafelbild aufnimmt, das die beiden Quellen – Ernst Jünger und die Feldpostbriefe – tabellarisch gegenüberstellt. Damit wird das Thema der Klassifizierung der Quelle konkludiert und die Maxime des Wahrheitsgehalts, die Sven zuvor formuliert hatte, validiert. Das Tafelbild, das zur Sicherung dieser Informationen dient, verstärkt die Maßgabe, Quellen nach ihrem Realismus zu beurteilen, zusätzlich. Dieser Anspruch, dessen Ideal die Abbildung der Vergangenheit in der Quelle ist, lässt sich nach dieser Auffassung in Form von sachlichen Quellen realisieren. Bsp. 2: Ein Vertrag als verlässliche Quelle (2009 – 12 – 16) Das folgende Beispiel, das ebenfalls aus einer 10. Klasse stammt, unterstreicht in ähnlicher Weise den Anspruch an Quellen, die Vergangenheit in verlässlicher, realistischer Weise abbilden zu können. Die Klasse von Herrn Weber beschäftigt sich hier mit der Nachkriegszeit und dem sich abzeichnenden Ost-West-Kon-
Quellen und ihre Beziehungen zur Vergangenheit
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flikt. Als Quellen haben die Schülerinnen und Schüler ein Streitgespräch zwischen US-Präsident Truman und Stalin bearbeitet.396 Dessen Inhalt wurde im Rahmen eines fragend-entwickelnden Gesprächs erarbeitet und an der Tafel festgehalten. Darauf stellt Herr Weber weitere Fragen, die sich auf den Wert der vorliegenden Quelle beziehen, dabei aber schon eine eindeutige Setzung beinhalten: Der propositionelle Gehalt seiner Aussage, der im Folgenden von den Schülerinnen und Schülern elaboriert wird, besteht darin, dass von der soeben behandelten Quelle nicht auf eine konkrete Realität geschlossen werden kann, dass sie nicht verlässlich ist und daher in dieser Hinsicht keinen Wert hat. Gleichzeitig impliziert die Frage aber die Existenz einer Quelle, auf deren Grundlage gesagt werden kann: »genauso haben die dann gehandelt«: L
Simon L Simon L Simon
L Simon L
Jetz ham wir hier zwei (.) Statements in einer (.) psch- hhhhht (.) in einer Unterredung das is (.) Welchen Wert hat denn eine solche Quelle? Kann man sagen das wurde dann genau so gemacht, was bräuchte man (.) wenn man das hier so liest ist das eine verlässliche Quelle dass man dann sagen kann genauso haben die dann gehandelt? (2) Na Simon Nee. Wieso nich? Na. Weil das ja so öffentlich. (2) @Gut.@ Wäre ein Argument. Vielleicht hätten die ja mit ihren richtigen Plänen (.) ich weiß jetzt nicht ganz genau welches die richtigen Pläne warn aber ich glaub nicht dass die so warn (2) bestimmt nicht auch nicht von den Russen Aha. Von den Russen die Pläne vielleicht hätten die damit die Öffentlichkeit nur son bisschen verschreckt oder so. Wäre eine Möglichkeit, jaaa. (2
So elaboriert Simon die Aussage des Lehrers, indem er darauf verweist, dass es sich bei der Unterredung zwischen Stalin und Truman um eine öffentliche Zusammenkunft gehandelt habe und die wahren Pläne dabei vermutlich nicht zur Sprache gekommen seien. Der Inhalt der Quelle habe also – getreu der vorausgegangenen Aussage des Lehrers – nicht viel mit der Realität zu tun. Herr Weber validiert Simons Beitrag. Nach weiteren Beiträgen, die ebenfalls den öffentlichen Charakter des Zusammentreffens in den Vordergrund stellen, wie396 Siehe Anhang.
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Historische Kompetenzen im Umgang mit Quellen
derholt und präzisiert Herr Weber seine Frage, indem er das Kriterium der Verlässlichkeit nennt: Ja. Was bräuchte man denn um das sozusagen (.) wie müsste denn ein Beschluss (.) eine Quelle aussehen, die einen Beschluss enthält der sozusagen verlässliche Grundlage ist für die Neuordnung Deutschlands. Wie müsste das denn aussehen? Was wäre das für eine Art von Quelle? (3) Mareike. Mareike Ja vielleicht irgendsowas geheimes son Geheimschreiben oder so. L Jaaa ja, geheim? Oder? Yvonne Herr Weber nickt mehrfach. Yvonne Wollt ich auch sagen weil sie werden wahrscheinlich ihre Absichten in einem fremden Land sozusagen äh ihren Feinden so offen ihre Ziele sagen deswegen auch eher der Feind würd ich sagen. L Jaa, jaa. Herr Weber nickt. L
Die Schülerinnen antworten darauf, indem sie die mögliche Quelle als ein Geheimdokument beschreiben, d. h. als das genaue Gegenteil einer öffentlichen bzw. öffentlichkeitswirksamen Zusammenkunft erscheint. Nachdem weitere Schülerantworten in dieselbe Richtung gehen, wird Herr Weber in seiner Frage noch präziser. Dabei bittet er die Klasse, sich in die historische Situation der Siegermächte in Potsdam hineinzuversetzen. Petra beantwortet darauf die Frage nach dem Dokument, das heutigen Beobachtern (»uns«) als »Ergebnis einer solchen Einigung« vorliegen würde: L
Petra L Petra L
Versetzt euch noch mal gedanklich in die Situation. Da sitzen jetzt die Siegermächte zusammen in Potsdam am Tisch und müssen irgendwie eine Ordnung finden. Sie müssen dann jetzt eine Einigung wie müsste das, die haben ja sehr unterschiedliche Sichtweisen was wäre das Ergebnis einer solchen Einigung? Was müsste uns dann vorliegen? Petra Ein Gesetz Genau. Richtig! Nochma laut Ein neues Gesetz. Gesetz oder wie heißt es wenn zwei Staaten miteinander (.) oder mehrere Staaten miteinander eine Vereinbarung treffen? Fatma
Quellen und ihre Beziehungen zur Vergangenheit
Fatma L Devran L
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( ) Joa joa. Devran Abkommen vielleicht? Richtig genau! Abkommen. Vertrag! Super. Und dann wäre das auch rechtsverbindlich und dieses Abkommen da schaun wir uns jetzt an und ich teile euch jetzt schon mal vorsorglich in mehrere Gruppen ein, (2) weil sonst haben wir nicht genug Zeit.
Die begriffliche Verengung setzt sich dabei im Schüler-Lehrer-Gespräch fort, bis die aus Sicht des Lehrers annehmbare Bezeichnung gefallen ist: »Abkommen«. Diesen Begriff validiert er – wie letztlich alle vorangegangenen Begriffe auch –, ersetzt ihn durch »Vertrag« und lobt Devran (»Super«) in einer Fremdrahmung. Diese Art der Quelle bezeichnet Herr Weber als »rechtsverbindlich«, womit er das Gegenstück zur zuvor beschriebenen unverlässlichen Quelle impliziert und – mit Blick auf die vorherigen Äußerungen – impliziert, dass aufgrund der Quelle auf bestimmte (verbindliche) Handlungen geschlossen werden könne, die bereits in der Quelle angelegt und in ihr abgelesen werden können. Diese positivistische Sichtweise auf Quellen wird im fragend-entwickelnden Gespräch als erfolgversprechend gerahmt und damit validiert. Bsp. 3: Eine Stalin-Rede und ihre Auswirkungen (2009 – 04 – 29) Im Leistungskurs von Herrn Meier beschäftigen sich die Schülerinnen und Schüler gruppenweise mit Textquellen zum Stalinismus, um sie dem Arbeitsauftrag gemäß am OHP vorzustellen. Eine der Gruppen sollte dazu eine Rede Stalins vom 4. Februar 1931 bearbeiten, die den Schülerinnen und Schülern in Kopie in gekürzter Form vorlag. In der Rede, die Stalin vor führenden Wirtschaftsfunktionären hielt, forderte er den bedingungslosen wirtschaftlichen Fortschritt, um die gegnerischen Mächte in dieser Hinsicht zu überholen.397 Nach der Präsentation der Gruppenarbeit stellt Herr Meier Nachfragen, die er zum Teil selbst beantwortet: Pia L Merle Pia Merle L
Habt ihr noch Fragen oder so? (3) Hattet ihr gesagt, von wann der ist? (.) Von 1931. L Ach so. Steht da aber auch. 4. Februar. Ja, da unten. Genau. Was heißt das also für die Einordnung? (.) 31.
397 Siehe Anhang.
Herr Meier meldet sich und grinst. Auf die Frage von Herrn Meier weisen Merle und Pia beide mit ihren Armen auf die Leinwand.
174 Leonie
Historische Kompetenzen im Umgang mit Quellen L
Ja, also es ist ja (.) Planwirtschaft oder die Planwirtschaft ist=ist kurz davor zu scheitern. Und im Land beginnen im Prinzip diese Säuberungen. (3 L Ja. Und das ist mitten drin. Also du hast es eben angedeutet schon, auf Linie gebracht. Das ist das Stichwort. Ja? Also es ist nicht am Anfang der Herrschaft, sondern mitten drin. Ja? Und diese Säuberungswellen und diese Industrialisierung sind jetzt voll im Gange. (.) Wenn ihr jetzt noch mal (.) schaut auf den Anspruch, der da formuliert wird, ja? Ähm also ihr habt geschrieben, Hetze gegen den Kapitalismus. Schreckliche Vergangenheit unter dem Einfluss der Kapitalisten. Das kritisiert er. Auf der anderen Seite sagt er, entweder Tod oder die fortgeschrittenen Länder einholen und überholen. (.) Könnt ihr dazu noch mal Stellung nehmen? Wenn ihr das runterbrecht auf die Folgen für die Arbeitsbedingungen, bei so einem Anspruch, entweder Tod oder (2) die fortgeschrittenen Länder einholen. (.) Leonie Na ja, das ist ja im Prinzip son bisschen zweischneidig, was er sagt. Also ja, eigentlich gibt’s zwei Interpretationsmöglichkeiten. Also entweder ihr arbeitet wir- wirklich mehr oder ähm sozusagen der staatliche Terror wird euch umbringen. L ((zustimmend)) Mhm Leonie Oder ihr arbeitet mehr, sonst wird äh wenn ihr das=also wenn ihr nicht genug arbeitet, wird euch das kapitalistische Ausland sozusagen umbringen.
Herr Meier nickt bei »Planwirtschaft« mehrmals.
Leonie blickt abwechselnd in Richtung von Herrn Meier und auf die Leinwand. Sonja meldet sich kurz (»staatlicher Terror«).
Dabei fragt Herr Meier nach der zeitlichen Einordnung, und zwar zunächst nach der Jahreszahl, die – wie sich herausstellt – auf der Folie steht, aber nicht verbal kommuniziert wurde, und darauf nach dem historischen Kontext. Inhaltlich spezifiziert der Lehrer die Einordnung der Quelle in Bezug auf die Herrschaft Stalins (»nicht am Anfang […], sondern mittendrin«), ein Aspekt, den die Gruppe nicht angesprochen hatte. Dadurch macht er einen Kontrast zu einer zuvor präsentierten Quelle deutlich, der sich erst durch das gemeinsame Betrachten der Quellen ergibt und insofern für den Kurs erst jetzt ersichtlich wird.
Quellen und ihre Beziehungen zur Vergangenheit
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Mit seiner Nachfrage impliziert der Lehrer, dass man Quellen nicht nur für sich behandeln, sondern auch zueinander in Bezug setzen kann, wie es Historikerinnen und Historiker in der Regel tun. Professionelles Verhalten wird hier also ansatzweise vorgemacht, wenngleich die Bedeutung bzw. Funktion ungeklärt bleibt. Der Lehrer formuliert darauf eine Frage, an der sich im Folgenden ein »FrageAntwort-Spiel« zwischen ihm und den Kursteilnehmern entspinnt. Kern der Frage sind die »Folgen für die Arbeitsbedingungen« der sowjetischen Arbeiter auf der Grundlage des in der Quelle formulierten drastischen Anspruchs: Tod oder die anderen Länder einholen. Der Lehrer bittet die Schülerinnen und Schüler, »dazu mal Stellung [zu] nehmen«. Diese Frage beantwortet zunächst Leonie mit einer Interpretation des von Stalin formulierten Anspruchs, der Herr Meier zustimmt. Auf konkrete Arbeitsbedingungen geht Leonie nicht ein, wenngleich Herr Meier dies in seinen Ausführungen als eine auf Grundlage der Quelle mögliche Vorgehensweise dargestellt hatte. Es deutet sich bei Herrn Meier eine Art positivistisches Verständnis der Quelle an, deren Inhalt sich demnach auf eine bestimmte Realität »runterbrechen« lässt. Die Schülerin bearbeitet jedoch ein anderes Thema, das trotzdem vom Lehrer validiert wird, worin sich eine divergente Interaktion andeutet. Auch Pia nimmt letztlich keinen Bezug auf die Frage des Lehrers, sondern elaboriert den Beitrag von Leonie, worauf Herr Meier nochmals auf seine Frage verweist und diese wiederholt: Äh das sieht man ja zum Beispiel auch, also wie wir gesagt haben, dass das halt mehr einfach son Wahlkampfrede oder so ist. Weil er erwähnt halt in der Rede eigentlich nicht wirklich, dass äh also der Staat da irgendwas gegen die Leute sozusagen machen würde. Sondern zieht=also schiebt halt erst mal immer so das kapitalistische Ausland vor. Damit er natürlich auch irgendwie noch beliebt bleibt. Und äh klar, der wird vielleicht auch dann irgendwann Angst schüren. Also insgesamt. Aber erst mal will er natürlich auch, dass seine Partei sozusagen irgendwie dabei noch sauber aussieht, sag ich mal. L ((zustimmend)) Mhm. (.) Alles richtig. Aber noch mal meine Frage. Leonie Ja, es ist auf jeden Fall extrem Herr Meier nickt nach »extrem kompromisslos, was er sagt. (.) Also (.) kompromisslos«.
Pia
176 L
Pia
Historische Kompetenzen im Umgang mit Quellen
Und wie=wie stellt sich das dann dar? Er sagt auf der einen Seite, entweder Tod oder Einholen. Und auf der anderen Seite geißelt er die schreckliche Vergangenheit. Und die Arbeitsbedingungen unter dem Sonja meldet sich erneut kurz Kapitalismus. (»Arbeitsbedingungen«). L Ja, er sagt ja jetzt, dass er es soz- äh wir haben ja da unter sozialistischer Führung geschrieben. Also er sagt ja sozusagen, dass er das halt durch (.) halt einfach durch seine Politik das irgendwie besser machen wird. Oder so. (.) Oder
Erst Anne liefert nach einer erneuten Nachfrage – »Was bedeutet das ganz konkret für die Arbeiter in der Fabrik?« – die offenbar vom Lehrer geforderte und von ihm validierte Antwort auf die Frage. Dabei schließt sie von der Quelle auf die realen Arbeitsbedingungen und folgert, dass die Menschen nun genauso viel arbeiten müssen wie im »Kapitalismus« und sich für sie insofern nichts ändert. Herr Meier validiert dies und fügt hinzu, dass die Arbeitsbedingungen aufgrund des Plansolls brutal gewesen seien. Die Bedingungslosigkeit der Situation unterstützt er lautmalerisch: »Zack zack zack«. Was bedeutet das ganz konkret für die Arbeiter in der Fabrik? (.) Sein Spruch. Entweder Tod oder ähm (.) Niederlage gegen den Kapitalismus. Anne? Anne Ja, dass sie ja praktisch genauso viel arbeiten müssen wie vorher schon im Kapitalismus, wo man gearbeitet hat, um etwas zu bekommen. Jetzt müssen sie ja wieder arbeiten, um praktisch nicht unterdrückt zu werden. Das heißt, es ändert sich ja sozusagen gar nichts für die. (.) L Genau. Und die Arbeitsbedingungen sind brutal, ne? Durch die, das habt ihr erwähnt, durch den politischen Druck auch. Und die Erfüllung des Plansolls, diese Fünfjahres-Pläne müssen erfüllt werden. Zack, zack, zack. L
Herr Meier haut mit beiden Händen auf den Tisch (»ganz konkret«). Anne, Alina und Sonja melden sich unmittelbar davor. Anne dreht sich dabei zu Herrn Meier (der hinter ihr sitzt) um. Während Anne spricht, nickt Herr Meier permanent.
Es dokumentiert sich die Vorstellung, dass von der Quelle auf eine bestimmte vergangene Realität geschlossen werden kann (»die Arbeitsbedingungen sind brutal«, meine Hervorhebung) und eine eindeutige Beziehung zwischen den Äußerungen Stalins in der Quelle und der Realität besteht. Letztere Vorstellung war bereits in der Nachfrage des Lehrers enthalten: »Wenn ihr das runterbrecht
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auf die Folgen für die Arbeitsbedingungen […]«. Dass die Schülerinnen auf die »richtige« Antwort zunächst nicht kommen und die Interaktion divergent verläuft, zeigt, dass ihr Umgang mit der Quelle vorsichtiger ist als der des Lehrers, dessen positivistische Deutung über die starke Lenkung im fragend-entwickelnden Gespräch validiert wird. Trotz bestimmter »kritischer« Elemente, deren Wichtigkeit kommunikativ beteuert, aber nicht erläutert wird – siehe die Nachfrage nach dem Datum zu Beginn der Passage – dokumentiert sich eine Herangehensweise an die Quelle, die die Entnahme ihres Inhalts in den Vordergrund stellt. Dabei wird nicht zuletzt durch den Lehrer eine eindeutige Beziehung zwischen Quellen und ihre Folgen, also der historischen Wirklichkeit, konstruiert und im fragend-entwickelnden Gespräch validiert. Wenngleich angemerkt werden sollte, dass die Einschätzungen der Arbeitsbedingungen durch Herrn Meier sachlich richtig sind, werden sie an dieser Stelle aufgrund einer einzelnen Quelle getätigt. Dadurch wird ein Vorgehen, das Text und Kontext gleichsetzt, sanktioniert bzw. eingefordert. Bsp. 4: Filme als »objektive« Quellen (2010 – 02 – 17) Dieses Beispiel stammt aus derselben Stunde, die bereits an anderer Stelle herangezogen wurde. (Quellenkritik als deklaratives Wissen, Umgang mit einem antisemitischen Schandbild). Zuvor wurden mit vier Zeitungsartikeln über dasselbe historische Ereignis – eine Rede Hitlers in Göttingen im Jahr 1932 – vier Quellen vorgestellt, die das Ereignis sehr unterschiedlich werten. Daran schließt sich im fragend-entwickelnden Gespräch die Frage an, wie man mit den widersprüchlichen Deutungen umgeht bzw. welche Quelle »glaubhaft« sei. Daraus ergibt sich im Gespräch zwischen Frau Schmidt und Lars die Konsequenz, »objektive« bzw. »neutrale« und damit besser geeignete Quellen heranzuziehen – eine Strategie, der Frau Schmidt zunächst nicht widerspricht: L
Lars L
Lars L
Was bedeutet denn das jetzt so überhaupt allgemein? Diese Frage der Glaubhaftigkeit an Quellen? (2) Warum stellt man die überhaupt und was kann das überhaupt bringen? Lars? Ja äh äh damit man weiß wie äh es wirklich war Okay (.) und wie kriegen wir das denn Frau Schmidt nickt. jetzt raus wies wirklich war? Das kriegen wir ja jetzt hier drüber auch nicht raus dann; ja Lars Äh vielleicht ne objektive (.) äh ne=ne Frau Schmidt nickt. neutrale Quelle finden (2) Emil
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Historische Kompetenzen im Umgang mit Quellen
Emil Ein Film oder so; weil das kann ja nicht ähm verfälscht werden (.) Erik Doch Emil Ja heutzutage L L Sag mal ( ) Emil aber nicht früher ; da konnte mans nicht verfälschen; also da ist halt so wies wirklich war (2)
Mit der Frage, »wies wirklich war« und der mit ihr implizierten Möglichkeit einer positiven Antwort suggeriert Frau Schmidt die Abbildbarkeit der Vergangenheit. In der Antwort von Lars dokumentiert sich ebenfalls die Vorstellung, dass eine Abbildung historischer Wirklichkeit möglich ist, und zwar auf der Grundlage einer »neutrale[n] Quelle«. Frau Schmidt äußert keinen Widerspruch, worauf Emil eine Quellengattung nennt, die aus seiner Sicht das Kriterium der Neutralität erfüllt: Filme. Er begründet diesen Vorschlag damit, dass sich Filme nicht verfälschen ließen. Aufnahmen von früher zeigten demnach das historische Geschehen so, »wies wirklich war«. Er knüpft damit explizit an die Formulierung an, die zuvor Lars und Frau Schmidt gebraucht hatten. Noch während Emils Beitrag wendet sich Frau Schmidt in Richtung des Gruppentischs, an dem Erik sitzt (neben Malte), offenbar – wie sich im Folgenden zeigt – um ihn dazu zu bewegen, seinen Widerspruch genauer auszuführen: L
Antwortet mal darauf (.) ihr habt hier grade schon gesagt ja Malte Malte Also ein Video kann- konnt man auch schon damals fälschen ne? Also man kann=natürlich haben die auch einige Sachen immer wieder nachgestellt wenns ihnen nicht so ganz gepasst hatte; und das=ein Beispiel ist auch Lenin; der hat zum Beispiel auch nachträglich aus einem Bild äh einen seiner politischen Gegner raus (.) geext; der war dann später nicht mehr auf dem Frau Schmidt nickt. Bild drauf; (3) L ( ) L Ben Dann war das wohl leider falsch Emil. @
Malte zufolge sei es schon in der jüngeren Vergangenheit möglich gewesen, Filmaufnahmen zu fälschen, indem Ereignisse für die Kamera nachgestellt worden seien. Als Beispiel nennt Malte Lenin, was von Frau Schmidt nickend bejaht wird. Nachdem nach drei Sekunden Pause niemand dieser durch Faktenwissen unterstützten Einschätzung widersprochen hat und Maltes Gegenthese akzeptiert ist, unterstützt Ben diese zusätzlich, indem er Emils Äußerung
Quellen und ihre Beziehungen zur Vergangenheit
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als »falsch« deklariert. Damit tut Ben – wenngleich scherzhaft – etwas, das Frau Schmidt zuvor vermieden hatte: eine unmissverständliche Korrektur falscher Aussagen. Da die Äußerung den Faktendisput um die Objektivität von Filmdokumenten beendet und nun erstmals die Position eines Schülers als eindeutig falsch klassifiziert wird, hat die Passage konkludierenden Charakter. Es geht dabei allerdings um die Klärung der Frage, ob Filme gefälscht werden können. Die Deutung, dass es objektive Quellen gibt, wird weder von Frau Schmidt noch von einem der Schüler bestritten und bleibt dementsprechend im Raum stehen, was sich im Folgenden abzeichnet: Aber Emil; wenn i- wenn ich jetzt äh sage ich hab aber das gefilmt diese Veranstaltung ne? Emil Ja L Und ich sag das hab wirklich nicht Inga schüttelt den Kopf. verändert (2) ist es dann objektiv? (2) Inga Inga Ich glaub nicht; weil wer will schon zugeben dass er da irgendwas äh verfälscht hat weil ich glaub damals zu der Zeit war das auch sehr kritisch angesehen wenn man da irgendwas falsch vorgezeigt hat oder (.) von den Zeiungsartikeln kann man ja nicht wirklich (2) also man kann sich nicht wirklich darüber beschweren weil es ist eben ne Zeitung und ähm es gibt ja auch verschiedene Meinungen darüber ; und Frau Schmidt nickt mehrfach. da weiß man nicht genau was jetzt stimmt und was nicht; da bildet man sich halt seine eigene Meinung; und der kauft dann wahrscheinlich das was ihm am besten zuspricht und bei Filmen oder (.) ähm Fotos; man weiß halt wers gemacht hat oder eventuell auch wers gefälscht hat und es ge- ich glaub da gibt das keiner zu (.) L Mhm ja (.) ja Lars? Lars Man könnte halt auch äh versuchen sich selber davon ein Bild zu machen wies (.) war ; also ähm von Videos oder Bildern L
Frau Schmidt stellt hier explizit die Frage nach der Objektivität einer Filmaufnahme und skizziert dazu ein fiktives Szenario ohne Manipulationen. Damit verschiebt sie das Thema weg von den von ihr nun ausgeschlossenen Manipulationsmöglichkeiten und fokussiert offenbar auf eine generelle erkenntnistheoretische Schwierigkeit. An dieser Stelle beginnt eine divergente Interaktion
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Historische Kompetenzen im Umgang mit Quellen
zwischen Frau Schmidt und den Schülerinnen und Schülern. Auf die Frage, ob eine solche Filmaufnahme objektiv sei, schüttelt Inga den Kopf, worauf Frau Schmidt sie aufruft. Die körperliche Reaktion Ingas deutet Frau Schmidt als Andeutung einer richtigen Antwort auf die Frage, in dem Sinne, dass ein Film eben nicht objektiv sei. Inga bestätigt diese Erwartung zunächst, verweist aber als Grund für ihre negative Antwort auf ein generelles Misstrauen gegenüber der Behauptung der Lehrerin. Dieses Misstrauen historisiert sie, indem sie argumentiert, dass »damals zu der Zeit« niemand zugegeben hätte, irgendetwas gefälscht zu haben. Inga verschiebt dann in gewisser Weise das Thema, indem sie sich den Zeitungsausschnitten zuwendet. Dabei stellt sie klar, dass die Meinungsvielfalt in der Natur der Sache liege (»weil es ist eben ne Zeitung ») und insofern nichts Historisches sei und man sich darüber nicht »beschweren« könne. Damit betont sie die Möglichkeit eines produktiven, individuellen Umgangs mit Multiperspektivität: »da bildet man sich halt seine eigene Meinung«. Damit distanziert sich Inga von der Vorstellung einer realisierbaren Objektivität – explizit allerdings nur in Bezug auf Zeitungsartikel. Es bleibt unklar, ob sie davon ausgeht, dass Quellen grundsätzlich nicht objektiv sein können. Im Rekurs auf die Zeitungen dokumentiert sich, dass Inga das Phänomen der Multiperspektivität als etwas Alltägliches – und in diesem Fall nichts Historisches – betrachtet, von dem sich das bewusste Fälschen von Dokumenten (sie nennt nicht nur Filme, sondern auch Fotos) unterscheidet: Hier stellt sich für sie das Problem, dass mögliche Manipulationen – als Pendant zu Meinungen, die man in Zeitungsartikeln klar ausmachen und »managen« kann – eben nicht erkennbar sind, weil die Urheber sich darüber ausschweigen. Während also bei Zeitungen Perspektivität erkennbar und für Inga trivial ist, ist sie es bei Filmen und Bildern nicht. Aus diesem Grund scheint die Schülerin Filmen die Objektivität abzusprechen. Eine Standortgebundenheit von »nichtgefälschten« Filmen und Bildern sieht sie demnach nicht. Zeitungsartikel und Filme als Quellen haben in erkenntnistheoretischer Hinsicht einen unterschiedlichen Status. Ingas Ausführungen kommentiert Frau Schmidt nicht, wodurch sie sie indirekt validiert. Lars betont darauf ähnlich wie Inga einen produktiven Umgang mit widersprüchlichen Deutungen: man müsse »versuchen, sich selber davon ein Bild zu machen wie’s war«. Als Mittel zum Zweck führt er Videos und Bilder an. Es dokumentiert sich die Vorstellung, dass Videos und Bilder prinzipiell objektivere Einblicke in vergangenes Geschehen bieten als die behandelten schriftlichen Quellen. Frau Schmidt wiederholt darauf nachdrücklich noch einmal die Frage nach der Objektivität von Filmaufnahmen und das fiktive Szenario, in dem sie selbst gefilmt hat. Dabei beteuert sie nun die Authentizität ihrer gedachten Aufnahme und reagiert auf Ingas Äußerungen, nach denen der Mangel an Objektivität auf der potenziellen Manipulierbarkeit solcher Aufnahmen beruhe. Gleichzeitig
Quellen und ihre Beziehungen zur Vergangenheit
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handelt es sich mit Blick auf die Interaktion um eine erneute Themenverschiebung. Die Interaktion ist weiterhin divergent und bleibt es auch: L
Ben L Ben L Ben L Ben L
Ja aber=also wenn ich euch sage ich hab was gefilmt; diese Szene; ich hab die gefilmt und es ist wirklich so; ich habs nicht verändert (.) sieht man=ist das dann ne objektive Darstellung von wie es gewesen ist? (3) Ben Ja ich würd sagen eigentlich auch nicht; weil der filmt ja auch nur das äh was er sehen will Mhm also was ist dann wieder nämlich Frau Schmidt deutet auf das Tafelbild. wichtig? Ja ähm Von den Dingen? Obs ne objektive Einstellung ist Gibt’s denn ne objektive Einstellung? L L Und wo er gefilmt hat; nee a- normalerweise müsste (.) die Vogelperspektive Okay ; ja; Lisa Lisa meldet sich.
Nach einer Pause ruft Frau Schmidt Ben auf, der ihre Frage verneint und argumentiert, dass jemand, der filmt, stets selektiv vorgehe: »der filmt ja auch nur das […] was er sehen will«. Es deutet sich hier eine Vorstellung von Standortgebundenheit und Perspektivität an, die nicht nur für Texte, sondern auch für Bilder und Filme gilt und sich so von Ingas Einschätzung unterscheidet. Frau Schmidt verschiebt darauf erneut das Thema, indem sie auf den für sie zentralen Begriff »Perspektive« hinweist und verbal wie nonverbal auf das Tafelbild verweist. Ben jedoch greift dieses Thema nicht auf. Wenn jemand schon selektiv filme, dann komme es – so Ben auf Nachfrage von Frau Schmidt – auf eine »objektive Einstellung« der Kamera an. Lehrerin und Schüler reden hier aneinander vorbei. Während die Lehrerin offensichtlich – wie sich wenig später zeigt – auf den Aspekt der Perspektivität hinaus will, versucht Ben, die fehlende Objektivität mit technischen Mitteln zu kompensieren, indem er auf eine objektive Kameraeinstellung hinweist. Die fehlende Passung dokumentiert sich auch in der folgenden quasi-rhetorischen Nachfrage der Lehrerin, ob es überhaupt eine objektive Einstellung gebe: Hier nennt Ben die »Vogelperspektive« als definitive, eindeutige Antwort. Es dokumentiert sich hier die Vorstellung, dass auch Filme, sofern sie mit einer »objektiven Einstellung«, d. h. aus der Vogelperspektive entstanden sind, objektive Quellen sind. Frau Schmidt widerspricht dieser Deutung nicht, sondern validiert sie letztlich. Nachdem Frau Schmidt und Ben mehr oder weniger gewollt herausgearbeitet haben, dass Filme unter bestimmten Voraussetzungen objektive Quellen sein
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Historische Kompetenzen im Umgang mit Quellen
können, bestärkt Lisa die »technische« Umgehung des erkenntnistheoretischen Problems: Wenn Filme objektiv sein sollen, müssen sie das Ereignis in Gänze zeigen. Die Lehrerin validiert auch diese Wortmeldung (»Genau«), verschiebt dann aber sogleich das Thema: Lisa Man müsste halt äh nu- äh von Anfang bis Ende gefilmt werden und das äh kommt drauf an wann er die Kamera angemacht hat und wann er die Kamera wieder ausgeschaltet hat; oder L Genau also das Wichtige ist einfach hier wieder die Perspektive ne? Deswegen ist ja trotzdem immer die Perspektive mit drin; und wenn wir die Perspektive einer Quelle raus finden dann können wir die schon sehr gut einordnen und sagen okay gut; und weil es aus der Perspektive ist bekommt jetzt diese und diese Information heraus; zum Beispiel genau was Lars sagt; wir haben jetzt aus der Quelle hier rausgefunden das Göttinger Tageblatt scheint ziemlich rechts offensichtlich; so das ist die Information die wir jetzt hier rausbekommen (.) und das ist ja auch schon sehr viel wert aus (.) ne? (3) okay? ?f Mhm.
Frau Schmidt geht zur Tafel und unterstreicht das Wort »Perspektive« zweimal. Dann geht sie zurück an ihren Tisch.
Man habe also – so Frau Schmidt – nun etwas über die Perspektive der Quellen herausgefunden. Als Beispiel nennt sie die »Rechtslastigkeit« des Göttinger Tageblatts. Während sich die Schülerinnen und Schüler zuvor thematisch mit den Merkmalen objektiver Quellen und der Frage, »wie es wirklich war«, beschäftigten, wendet sich die Lehrerin einem anderen Thema zu: Der Rezeption der Rede in der Presse und was sie über die jeweilige Publikation aussagt. Der für die Schülerinnen und Schüler plötzliche Themenwechsel überrascht die Klasse offensichtlich: Auf der kommunikativen Ebene stimmen zwei Schülerinnen Frau Schmidt zu, aber es dokumentiert sich Unsicherheit auf beiden Seiten, die sich im Falle der Lehrerin auch in ihrem resignierten Kommentar gegenüber dem Forscher zeigt: »ist immer äh n bisschen schwierig«. Damit konkludiert sie die divergente Interaktion rituell. Die Vorstellung der Schülerinnen und Schüler, es könne objektive Quellen unter bestimmten Voraussetzungen geben, steht damit weiterhin im Raum.
Quellen und ihre Beziehungen zur Vergangenheit
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8.3.2 Subjektive Quellen oder: Quellen, die lügen Bei diesem Typ handelt es sich in gewisser Weise um das Pendant zu der beschriebenen Vorstellung, wonach es objektive Quellen geben kann. Im Gegensatz dazu beschreibt der Typ der subjektiven Quellen einen Umgang mit Quellen, der durch die Prämisse ihrer Unzuverlässigkeit bestimmt wird. Beide Typen sind insofern identisch, als Objektivität und Subjektivität als eindeutige Ordnungskategorien an die Quellen herangetragen werden und ihre Bewertung beeinflussen. Bsp 5: Dichtung vs. wissenschaftliche Erkenntnisse (2010 – 12 – 06) So beschäftigt sich die 6. Klasse von Herrn Fischer zum Einstieg in das Thema Römische Antike mit der Gründung der Stadt Rom. Die Erarbeitung dieses Themas rahmt Herr Fischer von Vornherein als Auseinandersetzung mit Sagen einerseits und wissenschaftlichen Erkenntnissen andererseits: L Also hier haben wir eine Geschichte wie Rom entstanden sein soll (.) zwei Brüder haben eine Befestigungsanlage gebaut, dann ham sie sich gestritten miteinander (.) ja das ist eine von den Geschichten. Es sind Sagen, die sich sozusagen über die Gründung Roms äähh zugetragen haben (.) inwiefern das mit der Realität übereinstimmt das wolln wir heute im zweiten Teil der Stunde feststellen (.) also es geht um die Gründung von Rom schließlich musste ja erstmal aus einer Ansiedlung ein Stadtstaat werden bevor überhaupt daraus ein Weltreich werden konnte (.) also es geht um die Gründung von Rom und daran was ist jetzt tatsächlich- was gibt es für Sagen zur Gründung von Rom (.) eins davon ist diese Kapitolinische Wölfin mit den beiden Zwillingen (.) Was gibt es für Sagen zur Gründung Roms und wie sahs wahrscheinlich tatsächlich aus also welche Erkenntnisse haben die Wissenschafter gewonnen dazu (.) ääh das ist unser Thema unser erstes Thema wo wir jetzt dran arbeiten wolln.
Herr Fischer sitzt an seinem Tisch.
Herr Fischer weist auf ein Bild der kapitolinischen Wölfin, das er an der Leinwand hinter ihm zu sehen ist.
Die eindeutige Trennung zwischen den Sagen, deren Wahrheitsgehalt Herr Fischer als höchst fraglich kennzeichnet, und den wissenschaftlichen Erkenntnissen, von deren Gültigkeit der Lehrer ebenfalls nicht ganz überzeugt ist (»wie sahs wahrscheinlich tatsächlich aus«), macht deutlich, welchem Anspruch die
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Historische Kompetenzen im Umgang mit Quellen
Bearbeitung des Themas und damit auch der Quellen folgt: Es soll herausgefunden werden, was »wahrscheinlich tatsächlich« passierte. Dazu – so der Lehrer – eignen sich die wissenschaftlichen Erkenntnisse besser. Diese Differenzierung schreibt Herr Fischer zunächst über ein Tafelbild fest, das von den Schülerinnen und Schülern übernommen und im Zuge der Bearbeitung zweier Texte ergänzt werden soll: Unter die Überschrift »Die Gründung der Stadt Rom« schreibt Herr Fischer so die Begriffe »Dichtung« und »wissenschaftliche Erkenntnisse« und stellt sie damit auch grafisch gegenüber : L wir wolln unsern Hefter jetzt in zwei Teile teiln (.) einmal machen wir jetzt hier einen Strich da schreiben wir rein Dichtung (.) bzw. Sagen ist damit gemeint (.) und dann ham we hier (.) die wissenschaftlichen (3) Erkenntnisse (3) und die wolln wir gegenüberstellen, da haben wir auf der einen Seite haben wir eine Quelle (.) eine Originalquelle eines (.) Geschichtsschreibers der über die Gründung Roms berichtet (.) auf der einen Seite (.) und auf der anderen Seite haben wir einen Lehrbuchtext der uns was über die neueren die neusten wissenschaftlichen Erkenntnisse zur Gründung sagt
Herr Fischer schreibt die beiden Begriffe an die Tafel. Er steht vor der Klasse und hält das Arbeitsblatt vor sich.
Mit dieser nun auch durch die Tafel unterstützten Gegenüberstellung leitet Herr Fischer zur Materialgrundlage für die Erarbeitung über : ein Arbeitsblatt, auf dem eine »Originalquelle« und ein »Lehrbuchtext« abgedruckt sind. Damit unterstützt nun auch das Arbeitsblatt als Gegenstand die zuvor etablierte Gegenüberstellung von Dichtung und wissenschaftlichen Erkenntnissen. Zudem ordnet Herr Fischer dem Gegensatzpaar die beiden Textsorten »Quelle« und »Lehrbuchtext« eindeutig zu. Die Quelle erscheint damit als sagenhafte und unglaubwürdige Dichtung, während der Lehrbuchtext wissenschaftliche Erkenntnisse präsentiert. Bei der Quelle handelt es sich um einen Auszug aus Titus Livius’ Ab urbe condita, der Lehrbuchtext (samt Schaubild des Tibers) stammt aus dem Schulbuch »Geschichte und Geschehen«398. Den auf dem Arbeitsblatt abgedruckten Arbeitsauftrag, wonach tabellarisch »Dichtung und Wahrheit« gegenübergestellt werden sollen und wonach der Lehrbuchtext »die tatsächliche Entstehung Roms« aufzeigt, wiederholt Herr Fischer nach Ausgabe der Arbeitsblätter noch einmal mündlich: 398 Degenkolb, Peter (Hrsg.): Geschichte und Geschehen 2 (Ausgabe D, Sachsen), Leipzig 2005, S. 10 f. Arbeitsblatt siehe Anhang.
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Herr Fischer steht in der Mitte des Ihr sollt auf der linken Seite hier bei Raumes. dem Tafelbild sollt ihr die Sagen über die Ursprünge und die Gründung der Stadt Rom aus der Quelle herausarbeiten (2) Ja? Und auf der rechten Seite habt ihr n Lehrbuchtext und ihr habt n Bild über die Gründung Roms (.) ja das bei euch nich in Farbe aber trotzdem ganz gut zu erkennen und da sollt ihr sozusagen mit Hilfe des Textes und der Abbildung rausbekommen was ist denn vor 2700 Jahren in dem Gebiet von Rom tatsächlich passiert. (2) das ist erstmal die erste Aufgabe. Haben das alle verstanden? Me. Ja. Emre meldet sich. L Was gibt’s jetz noch Emre? Emre Da sind nur zwei Hügel drauf, aber Rom wurde doch auf sieben Hügeln erbaut. L Klärn ma gleich. Ja? Hier sind erstmal nur zwei dargestellt, aber es gab natürlich noch mehr. Das aber ist letztendlich auch wieder sowas wie ne Sage. Ja? Okay, dann jetzt alle sind jetz am arbeiten. L
Dabei wiederholt der Lehrer auch den Anspruch, anhand des Lehrbuchtextes und der dazugehörigen Abbildung herausfinden zu können, was »vor 2700 Jahren in dem Gebiet von Rom tatsächlich passiert« sei. Dieser Anspruch wird nun noch einmal verbal den Sagen über den Ursprung der Stadt, wie sie sich in der Quelle wiederfinden, gegenübergestellt. Emres Widerspruch, dass auf dem Schaubild nur zwei Hügel und nicht sieben zu sehen seien, lässt sich daher als Antithese zum Wahrheitsanspruch des Lehrers interpretieren, der mit dem Vorwissen des Schülers nicht vereinbar ist und Emre die bildliche Darstellung auf dem Arbeitsblatt hinterfragen lässt. Emre hält der These, herausfinden zu können, »was tatsächlich passiert« ist, eine für ihn offensichtliche Schwäche des Schaubilds entgegen. Herr Fischer konkludiert die Interaktion zunächst rituell, indem er eine spätere Klärung andeutet. Unmittelbar darauf gibt der Lehrer Emre jedoch recht, indem er auf die unzureichende Darstellungsweise des Bildes hinweist. Die anschließende Äußerung, die Gründung Roms auf den sieben Hügeln sei »auch wieder sowas wie ne Sage« stellt allerdings einen erneuten Widerspruch dar – diesmal in Bezug auf die Richtigkeit von Emres Aussage. Dieser Widerspruch wird nicht aufgelöst, denn Herr Fischer verschiebt das Thema und fordert die Klasse auf, mit der Arbeit zu beginnen. Dies tut er in Form einer Fremdrahmung, da seine Aussage impliziert, dass bereits gearbeitet wird, wenngleich die Aufforderung dazu gleichzeitig erfolgt.
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Historische Kompetenzen im Umgang mit Quellen
Nach einer Phase der Still- bzw. Einzelarbeit werden die Ergebnisse im Rahmen eines Unterrichtsgesprächs zusammengetragen. Dabei wird zunächst der sagenhafte Inhalt der Quelle entnommen und festgehalten: So (4) Einige fleißige Leute sitzen auch Herr Fischer sitzt an seinem Tisch. schon da und gucken mich an weil se fertig sind (.) Glaube es is an der Zeit zu vergleichen. Wer möchte mir kurz erzählen, was er zu Aeneas aufgeschrieben hat. (4) Gregor Gregor Okay. Also (.) Aeneas, Sohn der Göttin Venus (.) Flucht von der Eroberung Trojas, Flucht übers Mittelmeer (.) in Latium in Klammern Italien (.) gründete sein Sohn Julus die Stadt Alba Longa L Genau. Also das wichtige hier der Name des Typen hier (.) Aeneas (.) angeblich ein Sohn einer Göttin richtich. L
Dabei thematisiert Herr Fischer zunächst die Flucht des Aeneas nach Latium, zu der Gregor Details aus der Quelle wiedergibt. Dass es sich dabei um keine verlässlichen Informationen handelt, macht Herr Fischer deutlich, indem er darauf hinweist, dass Aeneas nur »angeblich« der Sohn der Göttin Venus gewesen sei. Diese Informationen – auch über den Raub der Sabinerinnen und die Zwillinge Romulus und Remus – werden im Laufe des Unterrichtsgespräch »fragend entwickelt« und an der Tafel festgehalten. Kurz vor Ende der Stunde geht der Lehrer über zur Besprechung des Lehrbuchtextes, bei dem letztlich genauso vorgegangen wird. Informationen werden dem Text entnommen und im Tafelbild der »Dichtung« aus der Livius-Quelle gegenübergestellt: L
Ganz schnell. Jetzt guckenwe uns noch mal diesen Text hier an. Was haben die Archäologen rausgefunden. Wie wars tatsächlich? (2) Wie wars tatsächlich? Sammeln we mal eure Erkenntnisse. Hier vorne. Das schafenwe jetzt schnell noch (5) Fangen we mal an. Bitte. David Ja also es- früher gabs halt ein kleines Volk die hießen (.) die Latiner (.) L Marco Sollen wir mitschreiben? David Ähm
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L
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L
Marco schüttelt den Kopf. Ich denke du hast doch selber was aufgeschrieben. Haste nicht? Naja deswegen weiß ich auch warum ich wie ich heute deine Mitarbeit einschätze unter anderem auch (.) also noch mal Sabiner (.) nee quatsch Latiner
Zum Stundenende bricht die Bearbeitung des Textes ab. Die zweite Aufgabe des Arbeitsblattes (»Gib Erklärungen an, warum die Römer ihren Ursprung lieber bei Aeneas sowie Romulus und Remus suchten.«) wird in der Klasse nicht bearbeitet, auch nicht in der folgenden Stunde. Quellen erscheinen in diesem Lehr-/Lernarrangement als unverlässlich und werden in dieser Hinsicht gegen wissenschaftliche Texte, die angeblich darüber Auskunft geben, was tatsächlich war, »ausgespielt«. Dies geschieht über die Assoziation der Quelle mit »Sagen« und »Dichtung« und dadurch, dass über die Quelle selbst (Livius) und deren Funktion kein Austausch stattfindet. Quellenkritik findet nicht statt, sondern es geht einzig um die Übernahme von Wissen aus Texten (und einem Bild), eine Herangehensweise, deren Möglichkeit in Bezug auf die Quelle negiert wird, obwohl der Inhalt der Sagen schriftlich festgehalten werden soll. Dass Quellen nicht per se dem Sagen- oder Mythenhaften zuzuordnen sind und Geschichtsdarstellungen nicht per se glaubhaft sein müssen, wird dabei nicht thematisiert. Stattdessen wird die Abwertung der Quelle über das Tafelbild und dessen Entsprechung in den Heftern der Schülerinnen und Schüler festgeschrieben bzw. enaktiert. Letzten Endes beschreiben Fälle, in denen Quellen entweder als objektiv (Kap. 8.3.1) oder unglaubwürdig (Kap. 8.3.2) erscheinen, zwei Seiten derselben Medaille, denn in beiden Fällen wird der Nutzwert von Quellen in positiver oder negativer Art auf das Kriterium der Faktizität reduziert. Dem können Quellen entweder Genüge tun – wenn sie richtige Informationen über die Vergangenheit enthalten – oder nicht. Mit anderen Worten ist der Wahrheitsgehalt der Quelle, d. h. inwieweit sich historische Wahrheit und Quelle überschneiden, das Gütekriterium, das im Unterricht bei der Nutzung von Quellen handlungsleitend wird. Der Aspekt, dass der Nutzen einer bestimmten Quelle immer von einer bestimmten Fragestellung eines Betrachters bzw. dessen Erkenntnisinteresse abhängt, spielt dabei keine Rolle.
8.3.3 Quellen als Indizien oder die Grenzen historischen Wissens Dieser Typ beschreibt eine Art des Umgangs mit Quellen, bei dem Quellen nicht anhand der Kategorien Subjektivität und Objektivität gemessen werden, sondern die historische Standortgebundenheit der Quelle als gegeben akzeptiert
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Historische Kompetenzen im Umgang mit Quellen
wird und die möglichen Aussagen, die sich aufgrund der Quelle treffen lassen, bestimmt. In Anbetracht der wenigen Beispiele, anhand derer der folgende Typ rekonstruiert wurde, muss seine Validität wenn nicht in Frage gestellt, so doch eingeschränkt werden. So fand sich im Rahmen der Studie nur eine Sequenz, in der implizites Wissen bezüglich des begrenzten Aussagewerts von Quellen im situativen Umgang mit Quellen handlungsleitend und damit beobachtbar wurde. In Abgrenzung zu den ersten beiden Typen lässt sich dieser Typ zwar theoretisch konstituieren; damit rücken allerdings zunehmend normative Vergleichshorizonte in den Blick, die die Analyse in methodologisch unzulässiger Weise vorstrukturieren. Dennoch gibt es im empirischen Material Anzeichen, dass es einen solchen Typ geben kann. Diese sollen an dieser Stelle erläutert werden. Bsp. 6: Es gibt keine objektiven Quellen! (2010 – 03 – 01) Im Rahmen einer spontanen Diskussion über Quellen und Darstellungen, die sich an die Klassifizierung eines zuhause zu lesenden Textes anschloss, formulierten Herr Weber und Teilnehmer eines Leistungskurses auch eine Definition des Begriffs Quelle, der nicht nur das Kriterium der zeitlichen Nähe zu einem historischen Ereignis enthält, sondern auch den Aspekt der Fragestellung einschließt. Dies verdeutlicht Emma anhand eines Beispiels, in dem das Geschichtsbuch – gemeinhin als Darstellung von Geschichte genutzt – unter einer anderen Fragestellung zur Quelle wird: Emma
L Tina
L Tina L ?f Nesrin L ?m
Wenn man in 100 Jahren forscht wie ähm im Jahre (.) äh so 2010 äh in Neustadt Geschichte unt- äh meinetwegen ja (.) Geschichte unterrichtet wurde, ähm und sich dann das Buch angeschaut wird ist das ne Primärquelle. Okay. Klar? Das Argument? Tina Ist dann nicht eigentlich alles ne Quelle, was die Situation übermittelt? Und dann primär und sekundär die das einteilen was für ne Quellenart das ist? (.) ((seufzt)) Ich würd am liebsten dieses primär und sekundär ein für alle mal aus euren Köpfen rausradieren. Ja, das war ja gerade- tut mir leid. L Da ist L ( ) @(.)@ Sie fragen uns doch danach. Ja, aber @(.)@
Quellen und ihre Beziehungen zur Vergangenheit
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L
Machen wir einfach mal weiter. Aber ähm Emma Dann L L du meinst, alles kann Quelle sein? Emma Ja. unter verschie- unter verschiedenen Gesichtspunkten. L Ja:::. Richtig. Also zum Beispiel wäre Emmas Beitrag wäre der Gesichtspunkt in 100 Jahren würde man unsere Schulbücher mal analysieren? L L Tina Ja. Ja. L Ja, okay. Vollkommen richtig. Ja. Robert? Robert ( ) es ist eigentlich völlig egal (.) es kommt immer nur drauf an, wie man die Frage danach stellt. Ähm dementsprechend kanns halt ne Quelle sein oder nicht und dementsprechend könnens halt ne Primär- oder ne Sekundärquelle sein.
Nach einem thematischen Einschub über die aus Sicht des Lehrers falsche Bezeichnung (»Primär«- und »Sekundärquellen«), der vom Lehrer rituell konkludiert wird (»machen wir einfach mal weiter«), wird das Beispiel von Emma noch einmal bekräftigt und vom Lehrer paraphrasiert und validiert. Robert abstrahiert darauf, dass die Kategorisierung davon abhänge, »wie man die Frage danach stellt«. Es zeigt sich also, dass die Schülerinnen und Schüler Quellen auf einer theoretischen Ebene fachwissenschaftlich korrekt definieren können. Wenngleich die konkreten Bezeichnungen von den fachdidaktisch gewünschten abweichen, entsprechen die dahinter liegenden Konzepte den normativen Erwartungen. Lehr-/Lernarrangements, die einen situativen Umgang mit Quellen ermöglichen würden, in dem dieses theoretische Wissen handlungsleitend wird, konnten jedoch in dieser Lerngruppe – wie in fast allen anderen – nicht beobachtet werden. Im direkten Anschluss an die oben zitierte Passage stellt Robert die Frage, ob es objektive Quellen geben könne und verschiebt damit das Thema der Interaktion auf einen Aspekt, der sich ebenfalls auf einer theoretischen Ebene mit der Reichweite historischer Aussagen beschäftigt. Darin, dass die Proposition – wie schon das Schulbuch-Beispiel zuvor – von einem Schüler (und nicht vom Lehrer) ausgeht, dokumentiert sich, dass erkenntnistheoretische Aspekte als Thema Potenzial haben und sich Schülerinnen und Schüler durchaus dafür interessieren können:
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Historische Kompetenzen im Umgang mit Quellen
Robert […] Und aber was ich noch sagen wollte ist, gibt es eigentlich objektive Quellen? Eigentlich nicht, oder? (.) L Die Frage geb ich an euch zurück. Gibt es objektive Robert Also meiner Meinung nach nicht. Weil egal, selbst wenn dir jemand irgendwas beschreibt was=wo er selbst dabei gewesen ist; jeder Mensch achtet auf bestimmte Sachen. Und achtet auf bestimmte Sachen nicht. Und dementsprechend kann der nicht objektiv sein. L Ja. Robert LWeil er dir nur das erzählt, was er erzählen will. L Ja. Ja, ich=ja, ich sag mal nichts dazu. (2)
Herr Weber behandelt Roberts Beitrag als These, deren Diskussion er an den Kurs delegiert. Als Begründung für seine These führt Robert die grundsätzlich selektive Wahrnehmung der Menschen an, zu der eine bestimmte Aussageabsicht hinzutritt: »Weil er dir nur das erzählt, was er erzählen will.« Die Selektivität ist also z. T. vorsätzlich. Es dokumentiert sich die Vorstellung, dass Quellen Beschreibungen von Ereignissen durch Menschen sind, denn auf dieser Vorstellung gründet Roberts Argument. Fehlende Objektivität erscheint so als unabdingbare Beschränkung menschlicher Wahrnehmung. Rachel bezieht darauf eine andere Position, wonach Quellen in unverfälschter Form »objektiv« seien: Rachel Äh wenn man jetzt zum Beispiel ne Verfassung hat ein Verfassungstext oder ein Gesetzestext, dann ist der ja einfach so. Dann ist der so irgendwo aufgeschrieben. Und ja (.) durch keinerlei Beschreibung oder so kommentiert. Sondern da hast du den puren Text. Und damit kannst du dann arbeiten. Und das ist dann objektive Quelle, oder? (.) L Ich sag nichts. ((Lachen)) Ich halt mich hier @vollkommen@ erst mal raus. Weil ich find das sehr spannend. Ähm (.) was ihr da für Ideen entwickelt. Ja, wir klären das noch. Jule.
Objektivität meint für Rachel die Reinheit des Textes, der »aufgeschrieben […] und durch keinerlei Beschreibung oder so kommentiert [wurde]« und frei von
Quellen und ihre Beziehungen zur Vergangenheit
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fremden Einflüssen, d. h. ohne Manipulationen oder Bewertungen zur Verfügung steht: »Und damit kannst du dann arbeiten.« Wenngleich sie sich der Schlüssigkeit ihrer Argumente nicht ganz sicher zu sein scheint (»Und das ist dann objektive Quelle, oder?«), dokumentieren sich zwei unterschiedliche Sichtweisen: Bei Robert sind Quellen Beschreibungen eines historischen Ereignisses aus der Sicht eines niemals objektiven Beobachters, während bei Rachel auch Dokumente – sie nennt normative Quellen – zu den Quellen zählen. Die beiden Kursteilnehmer beschreiben den Unterschied mit Hilfe der Kategorie der Objektivität: Manche Texte können demnach objektiv sein, Menschen jedoch nicht. Die folgenden Beiträge elaborieren die beiden nun etablierten Positionen, worauf Herr Weber sie resümiert: L Diese Diskussion wurde in der Form schon mal geführt (.) und zwar zu Beginn des 19. Jahrhunderts. ((Lachen)) Da haben sich Historiker richtig die Köpfe heiß geredet darüber. Also ihr=wir sind also an nem zentralen Punkt wissenschaftlicher Erkenntnis. Wie wir überhaupt Erkenntnis gewinnen. Insofern ist diese Diskussion nicht überflüssig.
Die Pointe, dass die Diskussion zu Beginn des 19. Jahrhunderts geführt worden sei, sorgt für Heiterkeit – höchstwahrscheinlich weil die Schülerinnen und Schüler eine Diskrepanz zwischen ihren eigenen vom Lehrer ernsthaft verfolgten und gelobten Ideen und dem Umstand, dass diese offenbar stark veraltet sind, wahrnehmen. Der Lehrer führt die Bemerkung weiter aus, indem er auf die Vehemenz der historischen Debatte und ihre hohe Bedeutung hinweist: »Also wir sind also an nem zentralen Punkt wissenschaftlicher Erkenntnis. Wie wir überhaupt Erkenntnis gewinnen.« Dabei handelt es sich um eine Fremdrahmung, denn bisher diskutierten die Schülerinnen und Schüler die Frage, ob es objektive Quellen geben könne, wobei der Sinn der Diskussion jenseits des reinen Gedankenspiels keine Rolle spielte (und auch später nicht spielen wird). Mit dem Verweis, die Diskussion sei nicht umsonst, liefert Herr Weber im Nachhinein eine Legitimierung für die Diskussion, die man auf seine vorherige Weigerung, sich an der Diskussion zu beteiligen, beziehen kann. Nach einem weiteren Beitrag, der bestimmten Quellen, die nur Fakten beinhalteten, »Objektivität« unterstellte und vom Lehrer bejaht wurde, weist Jana den Gedanken, wonach pure Gesetzestexte objektiv seien, zurück, denn Anspruch und Realität gingen bisweilen auseinander :
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Historische Kompetenzen im Umgang mit Quellen
Jana Also es ist ja auch noch vielleicht die Frage, ob son Gesetzestext wirklich objektiv ist weil (.) für die einen ähm zum Beispiel wenn man sagt, äh in Deutschland steht im Grundgesetz, die Würde des Menschen ist unantastbar ; und äh dann sagen irgendwie die Leute, die das geschrieben haben oder die Vertreter dieser Politik sagen dann, äh (2) das=das=das ist so in Deutschland. Und es stellt sich ja an manchen Ecken heraus dass es vielleicht doch nicht so ist. Dann=dann ist dieser Text ja auch nicht unbedingt (.) äh objektiv. Also das kann man dann ja vielleicht noch an andern Beispielen so oder so auch (.) auch sehen. L Ja, und vor allem was perspektivisch daran ist ist die Frage was stellen die sich unter dem Begriff Würde vor. Würde des Menschen. Das könnte möglicherweise was ganz zeitbezogentypisches sein und was ganz anderes bedeuten als wir das heute so sehen. Und dann sieht man nämlich in Verfassungstexten durchaus subjektive Sichtweisen. (3) In dem=von der Verfassung von 1906 zum Beispiel. Wie sieht sich der Zar eigentlich? (.) Das ist sehr, sehr subjektiv, was der da in diese Verfassung hat reinschreiben lassen, ne? Der Mann wirkt aus heutiger Sicht größenwahnsinnig aber das ist offensichtlich das Selbstverständnis eines russischen Monarchen zu Beginn des 20. Jahrhunderts, ne? Putin wird sich anders sehen. (.) Äh Tina.
Damit stellt Jana die bisherigen Aussagen ihrer Mitschülerinnen ausdrücklich in Frage. Gleichzeitig bezieht sie sich nicht wie ihre Vorredner auf den reinen Text, sondern auch auf dessen Urheber : »die Leute, die das geschrieben haben oder die Vertreter dieser Politik«. Damit verbindet sie Text und Kontext, Verfassungstext und seinen Entstehungszusammenhang. Herr Weber bejaht Janas Beitrag und schließt sich ihrer Deutung mit einem längeren Wortbeitrag an, in dem er zusätzlich auf die möglichen zeitspezifischen Bedeutungsunterschiede des Begriffs »Würde« hinweist: »Das könnte möglicherweise was ganz zeitbezogen-typisches sein und was ganz anderes bedeuten als wir das heute so sehen. Und dann sieht man nämlich in Verfassungstexten durchaus subjektive Sichtweisen.« Damit widerspricht nun auch Herr Weber explizit der zuvor geäußerten
193
Quellen und ihre Beziehungen zur Vergangenheit
Sichtweise, Verfassungs- und Gesetzestexte seien in unverfälschter Form »objektiv«, sie seien vielmehr »subjektiv«. Obwohl er also Objektivität als Eigenschaft von Quellen – wie die Schülerin – ablehnt, validiert er letztlich die Bezugnahme auf die Kategorien objektiv/subjektiv für die Einordnung von Quellen. Es lässt sich jedoch festhalten, dass erkenntnistheoretische Aspekte im Rahmen der Diskussion zur Sprache kommen und für die Schülerinnen und Schüler relevant sein können. Dabei werden zentrale epistemologische Vorstellungen der Geschichtswissenschaft verhandelt. Diese Vorstellungen bewegen sich hier allerdings auf einer theoretischen Ebene, und der situative Umgang des Kurses mit Quellen lässt den Schluss zu, dass dieses Wissen in der konkreten Auseinandersetzung mit Quellen nur bedingt handlungsleitend wird (vgl. Kap. 8.1.1 und 8.2.1). Bsp. 7: Podiumsdiskussion und Quellenlage (2011 – 06 – 22) Die einzige Passage, in der theoretisches Wissen um die Grenzen historischer Aussagen auf der Grundlage einer oder mehrerer Quelle(n) als handlungsleitend rekonstruiert werden kann, findet sich im Rahmen einer Podiumsdiskussion über das Verhalten der spanischen Eroberer in Mittelamerika, die bereits an anderer Stelle (vgl. Kap. 8.1.3, Podiumsdiskussion und performative Quellenkritik) herangezogen wurde. Dabei dokumentiert sich bei einigen Schülerinnen und Schülern die Einsicht, dass von einer normativen Quelle wie dem Requerimiento nicht direkt auf eine konkrete (historische) Praxis geschlossen werden kann und Aussagen auf der Grundlage einzelner Quellen nur begrenzt generalisierbar sind. Es handelt sich dabei um Orientierungen, die im Streitgespräch beobachtbar werden. In dem Beharren auf einer Textgrundlage für die von Svea getätigten Aussagen dokumentiert sich bei Oliver und Timo die Vorstellung, dass Aussagen nur dann gültig sind, wenn sie belegt werden. Svea hingegen kann aus der Quelle keinen Nachweis für die Richtigkeit ihrer Aussage ziehen: Svea
Jedoch denk ich, dass das Requerimento also nicht richtig durchgeführt wurde. Also dass, wie gesagt, indigene Dörfer der indigenen Bevölkerung überfallen wurde, ähm weil sie halt nicht den Glauben=Glauben angenommen haben. Oder ähm (.) dass man ihnen das quasi nur mangelhaft vorgetragen hat beziehungsweise in einer Sprache die sie nur nicht verstehen. Und da, find ich, äh besteht der=besteht der=der (4) ja, @(.)@ Daniel Springende Punkt.
Daniel schmunzelt und zieht die Augenbrauen hoch.
194 Svea Oliver Timo Svea
Oliver Svea
Historische Kompetenzen im Umgang mit Quellen L
Der springende Punkt. Da ist der springende Punkt. L Steht es irgendwo geschrieben, wie sie sich zu verhalten haben? Wir hätten gerne ein Textbeispiel L Also ähm man muss das ja mal so sehen. Das=das Christentum ist ja ähm, fangen wir mal anders an. (2) Der christliche Glaube (.) ist ja ein wunderbarer Glaube. Und dem gehör ich auch in kompletter Überzeugung an. (2) Und aus diesem Grunde, ich möchte einfach, dass mehrere Menschen dieses Erlebnis teilen können, dass mehrere Menschen in Gott glauben und durch Gott und den Papst gestärkt werden können. Aber das versuchen wir ja. @Und deswegen@ möchte ich, dass man die indigene Bevölkerung überzeugt, aber nicht dazu zwingt, man soll ihnen Zeit geben, man soll ihnen das Verständnis geben und man=man muss ihnen doch e- man muss sie erst mal äh davon überzeugen oder i- sie aufklären, was dieser Glaube überhaupt beinhaltet, was dieser Glaube bedeutet.
Herr Becker grinst.
Daniel und Timo lachen lautlos (Daniel hinter vorgehaltener Hand).
Paula und Sascha melden sich.
Die dürftige Materialgrundlage399 führt offenbar dazu, dass sich die Schülerinnen und Schüler andere, nicht unbedingt historisch verbürgte Argumente suchen, deren Gültigkeit im Rückgriff auf Quellen hinterfragt wird. Die Distanz zur historischen Situation wird dabei – abgesehen vom ohnehin ahistorischen Setting der Podiumsdiskussion – auch durch die Wortwahl der Diskutanten erzeugt, die politisch korrekt von der »indigenen Bevölkerung« sprechen. Ähnliche Argumente wie die von Oliver und Pascal werden im Folgenden auch von der Gegenseite ins Feld geführt: Als Pascal in der Rolle des Vertreters der Konquistadoren einwendet, dass versucht worden sei, der indigenen Bevölkerung friedlich zu begegnen, indem man ihnen vorgelesen habe, regt sich sofort Widerspruch von Seiten der Vertreterinnen der indigenen Bevölkerung. Diese weisen mit Bezug auf die Las Casas-Quelle darauf hin, dass bisherige Versuche »vor Bäumen« stattgefunden hätten. Damit rekurrieren die Schülerinnen auf ein Argument, das sie einer der Quellen entnehmen und mit dem sie Pascals Beitrag zu entkräften versuchen. Dabei ist es nun die Gegenseite, die der 399 Vgl. Anhang.
Quellen und ihre Beziehungen zur Vergangenheit
195
erfundenen Position von Pascal eine in der Quelle verbürgte Begebenheit argumentativ entgegenhält. Pascal Nee ja wir als Konquistadoren, wir haben denen das ja versucht so äh vorzutragen. Und ganz friedlich. Aber es hat einfach nicht funktioniert also es ist Mia meldet sich. L Lara Ja, klar. Vor Bäumen. Mia Vor Bäumen. (2) ?m ( ) ((Durcheinander)) Pascal Ja es ist einfach so, dass äh es gibt einfach keine andere Möglichkeit, außer Gewalt. Weil die es einfach nicht verstehen
Dieser Schlagabtausch setzt sich mit ähnlichen Mitteln fort, als Timo den Aussagewert der Las Casas-Quelle hinterfragt. Timo
?f Timo
die Aussage der indigene Bevölkerung ist auch sehr eingeschränkt, weil sie äh nirgendwo festmachen können dass dies der einzige Versuch war, die indigene Bevölkerung von der Christenheit zu überzeugen. Vielleicht ist dies der 10. Versuch der 20. der 50. Versuch. L Aber wenn Mia und Paula melden sich. Woher wissen Sie das?
196
Historische Kompetenzen im Umgang mit Quellen
Daniel Ganz einfach, wenn man äh auf einmal die Meldung bekommt, dass ein Dorf nicht mehr existiert, von Personen, die wir noch nie gesehen haben, in einer Sprache, die wir kaum sprechen oder noch nie gehört haben an sich, kommen an, sprechen uns an, (.) meinen Sie könnten=sprechen uns an, halten uns ein Schwert an die Kehle und wir wissen nicht, was sie sagen. Und dann sollen wir uns für irgendetwas entscheiden, was wir nicht verstehen, oder was an Bäumen besprochen wird? Es kann vielleicht sein, dass sie in einem Dorf das vielleicht mehrmals gemacht haben, aber es kann auch sein, dass sie ins nächste Nachbardorf gehen, sich die Zeit sparen wollen und dann es den Bäumen vorlesen. Es überwacht niemand. Und Ihre Kon- und die hohe=und die spanische Krone ist bestimmt kein Beweis dafür, dass alles rechtmäßig läuft. (3) L Es gab da noch zwei Wortmeldungen- Herr Becker weist mit Paula Ja, hat sich erledigt. Hat Daniel der Hand in Richtung Paula. eigentlich gerade schon gesagt Lara Genau.
Mit seiner Nachfrage stellt Timo die Generalisierbarkeit der Quellen, die nur einen einzelnen Fall schildert, in Frage. Darin dokumentiert sich ein Wissen um den begrenzten Aussagewert der Quelle, der hier argumentativ ins Feld geführt wird. Die Materialgrundlage des Lehr-/Lernarrangements simuliert insofern eine ungünstige Quellenlage und wird von den Schülerinnen und Schülern während des Streitgesprächs implizit als solche entlarvt. Dabei ist es im Rahmen dieses Lehr-/Lernarrangements erwünscht, die Perspektiven einzelner Quellen zu übernehmen bzw. argumentativ wiederzugeben. Darin besteht einer der Unterschiede zur Roland-Jahn-Sequenz, in der Quellen als Akteure bzw. Bezugspunkte dienten und allein vom Umfang her mehr Potenzial boten, einzelne Aspekte zu thematisieren oder Argumente zu entwickeln. Während sich Kompetenzerwerb dabei im Kontext des Lehr-/Lernarrangements vollzog, erscheint er hier als Nebeneffekt der dünnen Materialgrundlage.
Quellen und ihre Beziehungen zur Vergangenheit
197
8.3.4 Zusammenfassung Für den Umgang mit Quellen ließen sich drei Typen rekonstruieren, von denen zwei ein eindeutiges Verhältnis zwischen Quelle und Vergangenheit beschreiben: und zwar entweder im positivistischen Sinn, wonach die Quelle die Vergangenheit abbildet bzw. der Inhalt der Quelle die Vergangenheit ist, oder in dem Sinne, dass Quellen eine unrealistische, fehlerhafte Sicht auf die Vergangenheit bieten. Da die Ansicht, dass eine Quelle unverlässlich oder subjektiv sei, die Möglichkeit impliziert, dass es objektive Quellen geben kann, handelt es sich hier um eine künstliche Trennung, die aber veranschaulichen kann, welche Vorstellungen im Unterricht möglich sind. Die normativ gewollte und geschichtstheoretisch korrekte Vorstellung, wonach nicht Kategorien wie Objektivität und Subjektivität, sondern Perspektivität und Standortgebundenheit geeignete Kategorien für die Beschreibung von Quellen sind, ließ sich im Sample nur ansatzweise beobachten, wenngleich es Anzeichen dafür gab, dass erkenntnistheoretische Aspekte bei Schülerinnen und Schülern durchaus Interesse wecken können.
9.
Kompetenzerwerb in spezifischen Lehr-/Lernarrangements
Die vorherigen Kapitel typisierten Befunde beziehen sich auf den Umgang mit Phänomenen und Kategorien, die von großem geschichtsdidaktischen Interesse sind: mit der Quellenkritik als der Geschichtswissenschaft entlehnter, essentieller Tätigkeit im Umgang mit Quellen, mit dem Verständnis von Perspektivität sowie mit dem in erkenntnistheoretischer Hinsicht relevanten Verhältnis von Quellen und Vergangenheit bzw. historischer Realität. Im Rahmen der dokumentarischen Interpretation handelt es sich dabei um eine sinngenetische Typenbildung, d. h. es wurden basierend auf Fallvergleichen Idealtypen aus dem empirischen Material abstrahiert. Die empirisch rekonstruierten Idealtypen sind zum Teil anschlussfähig an postulierte historische Kompetenzen. Was den Umgang mit quellenkritischen Informationen und die Funktion von Quellenkritik im historischen Erkenntnisprozess angeht, war im Sample nur ansatzweise kompetentes Verhalten zu beobachten. Wissen über die formalen Bestandteile einer Quellenkritik traten in der Regel als deklaratives (in der dokumentarischen Methode bezeichnet als theoretisches oder kommunikatives) Wissen in Erscheinung. Unterschiedliche Aspekte wie Verfasser, Datum oder Intention waren zwar auf Nachfrage abrufbar, sie hatten aber über die Bearbeitung des Arbeitsauftrags hinaus keine Bedeutung. In Lehr-/Lernarrangements, in denen demgegenüber ein kompetenter Umgang mit Quellenkritik rekonstruiert werden konnte, rückte die Funktion der Quellenkritik als reine Aufgabe in den Hintergrund, und es wurden Fragen an die Quelle gestellt, die als Ausdruck eines spezifischen Erkenntnisinteresses rekonstruiert werden konnten. Auffällig war dabei jedoch, dass diese Fragen in keinem Fall bereits im Lehr-/ Lernarrangement angelegt oder intendiert waren und nur bei einzelnen Schülerinnen und Schülern eine Rolle spielten. Dieser Umstand suggeriert das Vorhandensein von Kompetenz, die über das Lehr-/Lernarrangement aktiviert wurde, obwohl dies zur erfolgreichen Bearbeitung einer Aufgabe nicht unbedingt nötig gewesen wäre (vgl. Kap. 8.2.2, Internationale Presseschau). Wenngleich aufgrund des Samples keine Entwicklungstypik rekonstruiert werden konnte und dies ohnehin nicht dem Erkenntnisinteresse der Arbeit entsprach,
200
Kompetenzerwerb in spezifischen Lehr-/Lernarrangements
scheint Quellenkritik als vordergründige Bearbeitung einer Aufgabe, deren eigentliche Funktion im Rahmen des Lehr-/Lernarrangements nicht zutage tritt, ein Phänomen fortgeschrittener Lerngruppen zu sein. Das Zeigen von kompetentem Verhalten im Umgang mit Quellen erscheint damit als stark kontextgebunden und insofern weniger entwicklungsabhängig, wenngleich davon auszugehen ist, dass – entwicklungspsychologisch betrachtet – bestimmte Voraussetzungen vorhanden sein müssen.400 In Anbetracht des Befunds, dass ein kompetenter Umgang mit Quellen in quellenkritischer Hinsicht nur selten und derart kontingent zu beobachten war, ist die Formulierung von Vorschlägen zu Lehr-/Lernarrangements, die zu einem kompetenten Umgang mit Quellen – mit Blick auf quellenkritisches Vorgehen – beitragen, kaum möglich. Es ist allerdings zu vermuten, dass für einen kompetenten Umgang sowohl das entsprechende deklarative Wissen abrufbar sein muss als auch im Rahmen von konkreten Handlungen angewendet werden können muss. Gewissermaßen ex negativo wären hier Lehr-/Lernarrangements denkbar, die möglichst dicht an historischem Arbeiten mit Quellen angesiedelt sind und es Schülerinnen und Schülern – mit entsprechenden Hilfestellungen – ermöglichen, selbst Fragen an Quellen zu richten und dabei abzuschätzen, inwieweit ihre Fragen von den Quellen beantwortet werden können: eine Erfahrung, wie sie die Schülerinnen in der Sequenz Kontextualisierung und Standortgebundenheit (Kap. 8.1.2) machen, als sie merken, dass die Fragen, die sie an die Quelle richten, von dieser nicht beantwortet werden können. Es ist davon auszugehen, dass es für eine solche Betätigung – z. B. im Rahmen einer Projektarbeit – sinnvoll ist, Quellenarbeit nicht als Selbstzweck zu betreiben, sondern sie in den Kontext von hinreichend offenen (Forschungs-)Fragen zu stellen, zu deren Bearbeitung die Schülerinnen und Schüler letzten Endes Narrationen anfertigen müssen. Ausgehend von dem Gedanken, dass historische Kompetenzen in der (historischen) Praxis erworben werden, scheint es sinnvoll, schulischen Kompetenzerwerb in Kontexten anzubahnen, die historischen Anwendungssituationen möglichst ähnlich sind. Dies mag im alltäglichen Unterricht nicht immer möglich sein; vergegenwärtigt man sich jedoch die Fälle, in denen im Rahmen dieser Studie Schülerinnen und Schüler Quellen erst in Partner- oder Gruppenarbeit gelesen, erarbeitet und dann nacheinander vorgestellt haben, nur um letztlich ihren Inhalt wiederzugeben bzw. sogar ihre Perspektiven implizit zu übernehmen, erscheint zumindest das Argument eines höheren zeitlichen Aufwands ins Leere zu laufen. Was den Umgang mit Perspektivität angeht, so kommt die beobachtete Perspektivenreflexion (Sequenz Roland Jahn, Kap. 8.2.3) der postulierten und be400 Vgl. Hartmann: Perspektivenübernahme als eine Kompetenz historischen Verstehens, S. 91 f.
Kompetenzerwerb in spezifischen Lehr-/Lernarrangements
201
reits empirisch beschriebenen Kompetenz der Perspektivenübernahme401 recht nahe, wenngleich sie sie durch das Ausführen konkreter (performativer) und weitgehend selbstgesteuerter Handlungen erweitert. Welche Merkmale Lehr-/ Lernarrangements haben, die einen solchen Umgang mit Quellen bzw. Perspektivität ermöglichen, ist auf der Grundlage des Samples nur ansatzweise zu klären. Folgende Kriterien scheinen aber nahezuliegen: 1) Abstraktion von der Quelle, d. h. es ist explizit nicht das Ziel, dass die Perspektive der Quelle übernommen wird, sondern die Quelle wird zum historischen Akteur, mit dem aus zeitgenössischen Perspektiven heraus interagiert wird; 2) Kontextwissen, d. h. deklaratives (kommunikatives) Wissen ist nötig, das Verhältnis zwischen Text (Quelle) und Kontext muss ausgewogen sein; 3) das Lehr-/Lernarrangement muss offenbar die Möglichkeit bieten, gegenstandsbezogene Konstruktionsleistungen anzubahnen; als Bedingung dafür erscheinen 4) im Arrangement angelegte kooperative Elemente, die Interaktion zwischen Schülerinnen und Schülern ermöglichen, deren Propositionen nicht »von außen« stammen. Das Phänomen der Perspektivenaneignung dagegen erscheint als das Fehlen bzw. Nicht-Zeigen von historischer Kompetenz. Wenn im Umgang mit einer Quelle deren Perspektive gewissermaßen »schleichend« übernommen wird, deutet dies darauf hin, dass quellenkritische Aspekte – selbst wenn sie sonst auf Nachfrage genannt werden können – nicht handlungsleitend werden, also nicht als prozedurales Wissen abrufbar sind. Bei der Wiedergabe von Perspektiven (vgl. Kap. 8.2.2) lässt sich die Reproduktion von bestimmtem Hintergrundwissen beobachten, das perspektivisch zugeordnet und sprachlich ausgemalt wird. Die Vorstellung, dass es in der Geschichte unterschiedliche Perspektiven gibt, ist darin angelegt. Es ließ sich aber in Bezug auf Perspektivität kein implizites Wissen rekonstruieren, sondern lediglich in Bezug auf die Attribuierung bestimmten Kontextwissens, während die Perspektive als solche vorgegeben war. Arrangements, in denen Schülerinnen und Schüler vorgegebene Perspektiven wiedergeben oder zuordnen – z. B. über das sogenannte perspektivische Schreiben – könnten daher als eine Art Vorstufe für Perspektivenübernahmen interpretiert werden. Allerdings lässt sich dabei keine gegenstandsbezogene Kompetenz rekonstruieren, zumal die Äußerungen der Schülerinnen und Schüler in diesem Zusammenhang meist als Elaborationen und Differenzierungen von Propositionen einer Quelle oder der Lehrkraft erscheinen. Perspektivenaneignung und -wiedergabe ähneln sich mitunter in der starken Lenkung des Aneignungs- bzw. Wiedergabeprozesses durch die Lehrkraft. Hier liegt ein Unterschied zur Perspektivenreflexion, bei der sich die Lenkung – wie in der Sequenz Roland Jahn (Kap. 8.2.3) deutlich wird – auf die Herstellung eines eng umrissenen historischen Kontextes beschränkte, der einen wichtigen Teil 401 Hartmann: Perspektivenübernahme als eine Kompetenz historischen Verstehens.
202
Kompetenzerwerb in spezifischen Lehr-/Lernarrangements
des Lehr-/Lernarrangements bildete. In diesem Fall kann von einer »Kontextsteuerung«402 gesprochen werden, da die Rahmenbedingungen der gespielten Diskussion an die Stelle der deterministischen Instruktion der das Sample dominierenden fragend-entwickelnden Passagen treten. Wenngleich die Perspektivitäts-Typik eine Entwicklung suggeriert, sei darauf hingewiesen, dass die Fälle, aufgrund derer die Typik abstrahiert wurde, aus unterschiedlichsten Kursen und Klassenstufen stammen. Auch in Leistungskursen kommt es mitunter zu einer Nichtbeachtung des Standorts einer Quelle und damit zu einer Perspektivenaneignung – insbesondere dann, wenn es gilt, einer Quelle als Schulbuchersatz nur bestimmte inhaltliche Informationen zu entnehmen. Der Umgang mit Perspektivität im Zusammenhang mit Quellen scheint insofern stark situationsabhängig, Schülerinnen und Schüler bewegen sich oft innerhalb der Grenzen, die ihnen der Unterricht setzt. Ähnliches gilt auch für das Verhältnis zwischen Quelle und Vergangenheit. Dabei legen Typik und die Zusammensetzung des Samples nahe, dass erkenntnistheoretische Aspekte im situativen Umgang mit Quellen generell kaum eine Rolle spielen und sich entsprechendes Wissen – ähnlich wie bei Elementen einer Quellenkritik – auf der kommunikativen Ebene befindet. Zentrale Kategorien für den Umgang mit Quellen bzw. die Maßstäbe, die bei ihrer Bewertung zum Einsatz kommen, sind demnach Objektivität und/oder Subjektivität. Dabei stammten die Sequenzen, in denen sich Schülerinnen und Schüler performativ mit den Grenzen historischen Wissens auseinandersetzten, ebenfalls aus Lehr-/ Lernarrangements, die eine stark kooperative Komponente hatten (siehe Podiumsdiskussion und Quellenlage, Kap. 8.3.3). Um zu untersuchen, was die Kontexte der beschriebenen Phänomene sind, ist es im Sinne der dokumentarischen Methode nötig, die sinngenetische Ebene zu verlassen und sich auf die soziogenetische zu begeben, um die Entstehungsbedingungen der Phänomene zu ergründen, die bisher beschrieben worden sind. Dieser Schritt kann nur ansatzweise vollzogen werden, da das empirische Material unerwartet gleichförmig ausfiel und für die Typenbildung notwendige Vergleichshorizonte – insbesondere in Bezug auf die Unterrichtsformen – rar waren. Wenngleich eine soziogenetische Typenbildung auf dieser Grundlage nicht möglich ist, so kann das Material doch soziogenetisch interpretiert werden. Die folgenden drei Kapitel vertiefen auf diese Weise die empirischen Befunde. Dabei werden einzelne Beispiele, die z. T. bereits im Ergebnisteil dargestellt wurden, zur Veranschaulichung herangezogen und interpretiert.
402 Vgl. Reinhard Voß: Unterricht ohne Belehrung – Kontextsteuerung, individuelle Lernbegleitung, Perspektivenwechsel. In: Ders. (Hrsg.): Unterricht aus konstruktivistischer Sicht. Die Welten in den Köpfen der Kinder. Neuwied 2002, S. 35 – 55, S. 41.
Unterrichtsgestaltung und Schülerverhalten
9.1
203
Unterrichtsgestaltung und Schülerverhalten
Im Rahmen der Studie wurde davon ausgegangen, dass Unterricht wegen seiner Komplexität nicht als bloße Aneinanderreihung von Ursache-Wirkungszusammenhängen gedacht werden kann. Deswegen müssen von Lehrkräften intendierte Wirkungen nicht unbedingt eintreten, oder es ergeben sich möglicherweise ganz andere Wirkungen als die intendierten. Dies konnte auch im Rahmen dieser Studie beobachtet werden. Im Folgenden sollen unterschiedliche Verhältnisse zwischen Unterrichtsgestaltung und »Schüler-Reaktion« skizziert und vor dem Hintergrund fachdidaktischer Maßgaben diskutiert werden. Dabei kann grundsätzlich zwischen Arrangements unterschieden werden, bei denen eine Passung zwischen bewusster bzw. intendierter Unterrichtsgestaltung und Schüler-Reaktion vorliegt, d. h. Fälle, in denen die Intention in Form eines Arbeitsauftrags auch umgesetzt wird, und solchen, für die sich eine Inkongruenz zwischen Intention und Ergebnis ergibt. Demnach bestünde der Idealfall darin, dass eine Lehrkraft einen kompetenten Umgang mit einer oder mehreren Quellen anstrebt, über ein passendes Lehr-/Lernarrangement anbahnt, die Schülerinnen und Schüler die Lerngelegenheit nutzen und einen kompetenten Umgang mit der Quelle zeigen. Dieser Fall war im Sample jedoch nicht zu beobachten. Wenn Schülerinnen und/oder Schüler Kompetenz zeigten, ließ sich dies nicht auf eine entsprechende, von der Lehrkraft im Vorgespräch oder über Arbeitsaufträge geäußerte Intention zurückführen.403 Selbst im Fall der Simulation im Leistungskurs von Herrn Schulz (Sequenz Roland Jahn, Kap. 8.2.3) war die Intention des Lehrers nach eigener Aussage eine etwas andere.404 Stattdessen bestand ein mehrfach beobachteter, in Bezug auf Unterrichtsgestaltung und Reaktion homologer Fall darin, dass die mehr oder weniger kritiklose Informationsentnahme aus Quellen im Arrangement angelegt war und die Schülerinnen und Schüler genau dies taten – ein
403 Die theoretische Möglichkeit, dass die Planung von kompetenzorientierten Lehr-/Lernarrangements auf Seiten einzelner Lehrkräfte bereits habitualisiert war und sie deswegen nicht verbalisiert wurde, konnte im Fallvergleich ausgeschlossen werden. 404 Im Vorgespräch gab Herr Schulz Folgendes zu Protokoll: Die Schülerinnen und Schüler sollen »einerseits [Roland Jahn] unterstützen in seiner Argumentation, andererseits aber auch aus (.) Regime-Perspektive […] die Gefahren, die für das Regime in seiner Argumentation liegen erkennen.« (2010 – 11 – 04, Vorgespräch) In der gespielten Diskussion zeigte sich das Regime jedoch von den »Gefahren« gänzlich unbeeindruckt und reagierte entsprechend unnachgiebig. (Vgl. Kap. 8.2.3) Da die Interviews mit den Lehrkräften – insbesondere wenn sie unmittelbar vor Stundenbeginn stattfanden – oftmals sehr kurz ausfielen, ist nicht auszuschließen, dass bestimmte Intentionen nicht ausgesprochen wurden. Die immer gleiche Frage des Forschers, was man in der Stunde vorhabe und welche Funktion Quellen dabei hätten, beantworteten jedoch alle Lehrkräfte ausnahmslos mit thematischen Aspekten. Kompetenzen oder Methoden wurden von niemandem erwähnt.
204
Kompetenzerwerb in spezifischen Lehr-/Lernarrangements
Vorgehen, dass unter fachdidaktischen Prämissen keinen kompetenten Umgang mit einer Quelle beschreibt. Bsp. 1: Kongruenz zwischen Unterrichtsgestaltung und Reaktion (2009 – 11 – 09) So sollte sich die 10. Klasse von Herrn Müller im Rahmen einer Gruppenarbeit anhand mehrerer Quellen über die Situation der Jugend im Ersten Weltkrieg informieren: L
Eure Aufgabe ist es aus verschiedenen Materialien verschiedenen Quellen in der Regel aus der damaligen Zeit (.) herauszufinden =oder etwas herauszufinden über euer Thema (.) […] und den anderen dann kurz darüber sp- berichtet äh wie die Ernährungslage ist wie die Situation der Frauen ist und die Situation (.) der Jugendlichen; ihr könnt es ja so machen in eurer Gruppe könnt ihr die Texte ja aufteilen; dass nicht jeder alles ließt; ähm (.) wählt einen Sprecher der es vortritt äh vorträgt; Frage Jörg Äh aber äh der Vortrag äh basiert auf der Grund- äh auf der Grundlage dieses Arbeitsblattes oder? L Wenn du noch was anderes weißt kannst dus mit einbringen; aber das ist sozusagen eure Grundlage (2)
Herr Müller steht vor der Tafel. Die Schülerinnen und Schüler sitzen an Gruppentischen im Raum verteilt. Jörg meldet sich.
Der Arbeitsauftrag impliziert also von Vornherein, dass die Quellen bestimmte Informationen beinhalten, die ihnen nun entnommen werden sollen. Die Schülerinnen und Schüler tragen diesen Anspruch an die Quellen heran und entnehmen ihnen Informationen. Obwohl die Quelle – ein Aufruf an die Jugend, Knochen zur Fettgewinnung zu sammeln405 – diesem Anspruch, wie die Schülerinnen und Schüler selbst bemerken, nicht gerecht wird und auf manche Fragen keine zufriedenstellenden Antworten parat hat, wird der Arbeitsauftrag weiter bearbeitet. Peer
Okay ; also bei mir steht relativ wenig drin letztendlich (.) ähm (2) diese Fettgewinnung=also durch Knochen kann man wohl (.) Ah @(.)@ ( ); ja durch Knochen kann man äh wohl Fett gewinnen (2) und ähm
405 Siehe Anhang.
Unterrichtsgestaltung und Schülerverhalten
205
Lisa
Durch Knochen kann man Fett gewinnen? Peer Ja stand da; also ähm da stand (.) Mark Stimmt L Lisa Wo drum geht’s denn da grade? Also L Peer Ähm hier=da geht’s da rum dass äh Schüler da mit helfen sollten ähm diese Knochen da zu sammeln (2) […] ähm (.) und (.) ja diese Schüler sollen halt die Knochen sammeln damit aus diesen Knochen Fett gewinn- gewonnen werden kann; weil (sie halt) L Lisa Die Kn- was für Knochen? (2) Peer Pff; da steht einfach nur Knochen L Lisa Irgendwelche Knochen? Okay (.) Peer Ja (.) ähm (3) weil es wohl eine ziemliche große Fettnot gibt (.) und (.) ja dafür gibt’s dann einen kleinen Ansporn; dass man irgendwie ein Prozent (2) des abgelieferten Gewichts in der Form von Margarine bekommt (.) Mark Geil @(.)@ (.)
Noch bevor Peer beginnt, der Gruppe vom Inhalt der Quelle zu erzählen, die er gelesen hat, rahmt er die Wiedergabe des Inhalts mit einer stark wertenden Aussage: nämlich dass im Text »relativ wenig« drin stand, der Text für die Bearbeitung der Aufgabe also wenig brauchbare Informationen bereithält. Dies hält die Gruppe allerdings nicht davon ab, den Arbeitsauftrag weiter zu bearbeiten und die der Quelle entnommenen Informationen getreu dem Arbeitsauftrag am Ende den anderen Schülerinnen und Schülern zu präsentieren. Die Kongruenz zwischen Unterrichtsgestaltung durch den Lehrer und der Reaktion der Schülerinnen und Schüler kann hier als starke Passung in Bezug auf die soziale Ordnung des Unterrichts interpretiert werden. Die nicht nur hier rekonstruierbare Orientierung, dass Aufgaben bearbeitet werden – koste es, was es wolle – geht in diesem Fall einher damit, dass die in Bezug auf Quellen problematische Herangehensweise der kritiklosen Informationsentnahme von den Schülerinnen und Schülern übernommen wird. Auch in inhaltlicher Hinsicht liegt also eine Übereinstimmung vor. Dieses Arrangement erscheint damit unter normativen Gesichtspunkten als problematisch. Wenngleich sich argumentieren ließe, dass die Arbeit der Schülerinnen und Schüler dem Kompetenzerwerb mit Blick auf Textverstehen möglicherweise zuträglich ist – sie klären gemeinschaftlich bestimmte Formulierungen –, handelt es sich hier bestenfalls um Textarbeit, da quellenkritische
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Kompetenzerwerb in spezifischen Lehr-/Lernarrangements
Elemente für die Erledigung der Aufgabe keine Rolle spielen, und zwar weder im Arbeitsauftrag noch in dessen Bearbeitung. Sieht man einen solchen Fall als einen Ausschnitt habitualisierter schulischer Praxis und damit nicht mehr als isolierten Einzelfall, kann er die negativen empirischen Befunde bisheriger Studien mit einer bestimmten Praxis in Verbindung bringen, in der quellenkritische Elemente lediglich Beiwerk darstellen, dessen Relevanz zwar beteuert wird, aber habituell keine Bedeutung hat. Für Lehr-/Lernarrangements, in denen sich eine Inkongruenz zwischen Unterrichtsgestaltung und Unterrichtsausgestaltung durch die Schülerinnen und Schüler dokumentiert, lassen sich zwei Formen unterscheiden: erstens Arrangements, in denen die Lehrkraft Kompetenz im Umgang mit Quellen einfordert und die Schülerinnen und Schüler dies nicht leisten, und zweitens Arrangements, in denen Schülerinnen und Schüler kompetentes Verhalten zeigen, obwohl dies offenbar nicht von der Lehrkraft intendiert bzw. im Lehr-/Lernarrangement angelegt war.406 Bsp. 2: Inkongruenz zwischen Unterrichtsgestaltung und Reaktion I (2010 – 02 – 17) Ein Beispiel für die erste Form dieser Inkongruenz ist die bereits an mehreren Stellen zitierte Passage aus der 10. Klasse von Frau Schmidt (vgl. Kap. 8.1.1, Quellenkritik als deklaratives Wissen und Kap. 8.3.1, Quellenkritik als deklaratives Wissen). Hier bestand die Intention der Lehrerin darin, die Grenzen historischer Erkenntnis und damit die moderat konstruktivistischen Bildungsziele des Fachs Geschichte mit Hilfe der Bearbeitung von vier einander widersprechenden Textquellen im fragend-entwickelnden Gespräch zu thematisieren. Dieser Versuch scheiterte, da die sprachlichen und nonverbalen Impulse der Lehrerin – gerade die auf den Unterrichtsverlauf bezogenen nonverbalen Validierungen – zu inhaltlichen Fehlkonstruktionen auf Seiten der Schülerinnen und Schüler führten. So wurde über das Gespräch die Fehlvorstellung befördert, dass Filme objektive Quellen sein können, indem entsprechende Äußerungen nicht korrigiert wurden – das Gegenteil der intendierten Deutung: L
Ja aber=also wenn ich euch sage ich hab Frau Schmidt deutet auf das Tafelbild. was gefilmt; diese Szene; ich hab die gefilmt und es ist wirklich so; ich habs nicht verändert (.) sieht man=ist das dann ne objektive Darstellung von wie es gewesen ist? (3) Ben
406 Dabei ist zu bedenken, dass die von der Lehrkraft verbalisierte Intention und die Gestaltung eines entsprechenden Lehr-/Lernarrangements nicht nahtlos ineinander übergehen bzw. nicht austauschbar sind.
Unterrichtsgestaltung und Schülerverhalten
207
Ben Ja ich würd sagen eigentlich auch nicht; weil der filmt ja auch nur das äh was er sehen will L Mhm also was ist dann wieder nämlich wichtig? Ben Ja ähm L Von den Dingen? Ben Obs ne objektive Einstellung ist Lisa meldet sich. L Gibt’s denn ne objektive Einstellung? L Ben LUnd wo er gefilmt hat; nee anormalerweise müsste (.) die Vogelperspektive L Okay ; ja; Lisa
Bsp. 3: Inkongruenz zwischen Unterrichtsgestaltung und Reaktion II (2009 – 12 – 16) Der Fall des nicht im Lehr-Lernarrangement angelegten Zeigens von Kompetenz fand sich im Sample ebenfalls. So zeigten Schüler der 10. Klasse von Herrn Weber im Umgang mit einer Textquelle ein komplexeres Verständnis von Perspektivität, als es für die Bearbeitung der Aufgabe vonnöten war. Während das Lehr-/Lernarrangement vorsah, dass gruppenweise perspektivisch je ein ostdeutscher, westdeutscher, sowjetischer und US-amerikanischer Zeitungsartikel geschrieben werden sollte, diskutierten die Schüler während der Gruppenarbeitsphase über die Möglichkeit, dass es auch in Ostdeutschland verschiedene Perspektiven zur im Zeitungsartikel zu thematisierenden Truman-Rede gegeben haben müsse: Moritz Ostdeutsch. (.) Was ist daran jetzt so Herr Weber bewegt einen der interessant? Audiorekorder dichter an die Wladi Ja, aber wir sind ja praktsich noch in Gruppe. die=die=wir sind ja=gehören ja praktisch zu den=zu der USS- UdSSR. L Die Zeitungsverleger. Ja. Wladi LJa. Und das heißt, dass wir eigentlich praktisch bei uns dann auch der äh Kommunismus herrscht. L Ihr nehmt die deutschen Fragen in den Blick und die andern nehmen die Russen also die internationalen Fragen in den Blick. Also die Bedeutung der Rede für Deutschland. Wladi Ja, aber ich meine vielleicht (.) äh (2) gibt’s ja in Ostdeutschland auch die Befürworter und Gegenspieler gegen den Kommunismus L L Ja Moritz aber
208 L Moritz L Moritz
L Moritz L Moritz
Wladi L
Kompetenzerwerb in spezifischen Lehr-/Lernarrangements
Das heißt, das Neue Deutschland war gleichgeschaltet. Die waren=die waren ganz stramm auf Linie der=der Partei. Es könnte aber auch sein, äh in der DDR waren ja auch viele Leute gegen Ja, die würden das nicht öffentlich schreiben können. Die russischen Behörden L Ja, aber, ja, ja, aber für die russische Behörde hört sich das dann=die wissen das ja, die russische Behörde, oder? Die weiß doch dass viele Leute dagegen sind L Ja. die können das nicht offen zugeben. L Das ist richtig. Aber die würden nie ein Artikel schreiben darüber. Ja, aber wenn halt son Bericht kommt, äh wir sollen die freien Völker unterstützen, kann das so ne=kann sie doch so (.) in gewisser Weise so ne Art Kriegserklärung an die UdSSR sein. L Na, wenn müsstest du das versteckt machen. Herr Weber verlässt die Also das kommt schon besser hin. (2) Gruppe Richtung Tafel.
Letzten Endes halten sich die Schüler allerdings an das Arrangement und schreiben einen eindeutig anti-US-amerikanischen und pro-sowjetischen Artikel, getreu der vom Lehrer vorgegebenen Perspektive. Bsp. 4: Inkongruenz zwischen Unterrichtsgestaltung und Reaktion III (2010 – 03 – 18) In ähnlicher Weise stellen die Schülerinnen und Schüler eines Leistungskurses, ebenfalls bei Herrn Weber, Fragen an die von ihnen zu bearbeitende Quelle, die sich als quellenkritisch charakterisieren lassen (meine Hervorhebungen). Ina
Ja, aber das ist ja dann im Zentralkomitee nicht so, sonstbkönnte er ja einfach abgesetzt werden. Rachel Ja, stimmt auch wieder. Ina Dann müssen wir das mal fragen. L Rosa Was is überhaupt die Frage? Rachel Was er genau ist. Herr Weber? L Ina Also ob das hier jetzt ne demokratische äh dass die dem und die parlamentarischen Demokratie ist ?f Mhm.
Unterrichtsgestaltung und Schülerverhalten
209
und diese hier die Räte. Weil guck mal, die sind ja so, dass die ganze Macht beim L Rachel Wir haben noch mal ne Frage. L Aber bitte doch. L Ina werktätigen Volk liegen soll. L Rachel Wir wissen nicht genau welche Stellung er jetzt hat dieser Kommissar. Also er steht über dem Kreiskomitee weil er sie sonst nicht so kritisieren würde dass sie so viel selbst entscheiden L Gouvernement ist wahrscheinlich auf einer oberen ähm ob schon auf der Reichs-Ebene ääh Nationalebene ist glaub ich nicht. Also soweit ich […] Ina
Wenngleich sie auf der Grundlage der Quelle nicht in der Lage sind, sie zu beantworten, stellen die Schülerinnen quellenkritische Fragen. Da diese nicht Teil des Lehr-Lernarrangements sind bzw. die Aufgabe auch ohne quellenkritische Fragen bearbeitet werden kann, handelt es sich um eine Inkongruenz zwischen Unterrichtsgestaltung und Reaktion. Bsp. 5: Inkongruenz zwischen Unterrichtsgestaltung und Reaktion IV (2010 – 04 – 29) Im Leistungskurs von Herrn Meier legten die Schülerinnen und Schüler einen vorsichtigeren Umgang mit der Quelle als ihr Lehrer an den Tag, während Herr Meier im fragend-entwickelnden Gespräch seine Deutung durchsetzen konnte, wonach die Quelle – eine Stalin-Rede – in direkter Beziehung zu ihren angeblichen Folgen gestanden habe: L
Auf der anderen Seite sagt er, entweder Tod oder die fortgeschrittenen Länder einholen und überholen. (.) Könnt ihr dazu noch mal Stellung nehmen? Wenn ihr das runterbrecht auf die Folgen für die Arbeitsbedingungen, bei so einem Anspruch, entweder Tod oder (2) die fortgeschrittenen Länder einholen. (.) Leonie Na ja, das ist ja im Prinzip son bisschen zweischneidig, was er sagt. Also ja, eigentlich gibt’s zwei Interpretationsmöglichkeiten. Also entweder ihr arbeitet wir- wirklich mehr oder ähm sozusagen der staatliche Terror wird euch umbringen.
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Kompetenzerwerb in spezifischen Lehr-/Lernarrangements
L ((zustimmend)) Mhm. […] Leonie Ja, es ist auf jeden Fall extrem kompromisslos, was er sagt. (.) Also (.) L Und wie=wie stellt sich das dann dar? Er sagt auf der einen Seite, entweder Tod oder Einholen. Und auf der anderen Seite geißelt er die schreckliche Vergangenheit. Und die Arbeitsbedingungen unter dem Kapitalismus L Pia Ja, er sagt ja jetzt, dass er es soz- äh wir haben ja da unter sozialistischer Führung geschrieben. Also er sagt ja sozusagen, dass er das halt durch (.) halt einfach durch seine Politik das irgendwie besser machen wird. Oder so. (.) Oder L Was bedeutet das ganz konkret für die Arbeiter in der Fabrik? (.) Sein Spruch. Entweder Tod oder ähm (.) Niederlage gegen den Kapitalismus. Anne? Anne Ja, dass sie ja praktisch genauso viel arbeiten müssen wie vorher schon im Kapitalismus, wo man gearbeitet hat, um etwas zu bekommen. Jetzt müssen sie ja wieder arbeiten, um praktisch nicht unterdrückt zu werden. Das heißt, es ändert sich ja sozusagen gar nichts für die. (.) L Genau. Und die Arbeitsbedingungen sind brutal, ne? Durch die, das habt ihr erwähnt, durch den politischen Druck auch. Und die Erfüllung des Plansolls, diese Fünfjahres-Pläne müssen erfüllt werden. Zack, zack, zack.
Wenngleich sich hier kompetentes Verhalten auf Seiten der Schülerinnen nicht direkt rekonstruieren lässt, zeigt der Umstand, dass sich erst nach der dritten Nachfrage des Lehrers eine Schülerin findet, die die gewünschte positivistische Antwort parat hat, dass der Umgang der Schülerinnen mit Quellen hier offenbar vorsichtiger ist als der des Lehrers. Diejenigen Lehr-/Lernarrangements, in denen Schülerinnen kompetentes Verhalten im Umgang mit Quellen zeigten, waren im Rahmen dieser Studie also – allem Anschein nach – nicht als solche intendiert. Dies ist mit Blick auf die Kompetenzen der Schülerinnen und Schüler ein durchaus erfreulicher Befund, denn er spricht für das Vorhandensein impliziten Wissens, das im Kontakt zu Quellen handlungsleitend wird. In diesem Zusammenhang lässt sich ebenfalls argumentieren, dass Kompetenz gerade die »unaufgeforderte« Anwendung be-
Fragend-entwickelnder Unterricht und historische Kompetenzen
211
stimmten prozeduralen Wissens bedeutet und einen Transfer von entsprechendem implizitem Wissen auf neue Kontexte möglich macht. Der Befund verweist aber gleichzeitig auf das Problem der Komplexität von Unterricht und in besonderem Maße auf die Aspekte der Kontingenz und Emergenz: Warum z. B. die Schülerinnen im Leistungskurs von Herrn Weber gerade in dieser einen Situation Kompetenz zeigten, während ihre Mitschülerinnen es nicht taten, ist letztlich nicht zu klären. Nimmt man diejenigen Sequenzen in den Blick, in denen Schülerinnen und Schüler kein kompetentes Verhalten im Umgang mit Quellen zeigen, rückt der fragend-entwickelnde Unterricht mit seiner per definitionem starken Lenkung durch den Lehrer in den Fokus. Wie sich am Interaktionsverlauf rekonstruieren lässt, orientieren sich die Schülerinnen und Schüler an den sprachlichen Impulsen der Lehrkraft und den damit verbundenen Erwartungen, die mit Blick auf die Leistungsbewertung höchst relevant sind. Dass die Aufgaben der Lehrkraft bearbeitet werden, ist über das Sample hinweg homolog und macht einen zentralen Bestandteil der sozialen Ordnung des beobachteten Unterrichts aus. Wie das oben angeführte Beispiel aus der 10. Klasse von Herrn Müller verdeutlicht, setzt sich dies über den fragend-entwickelnden Unterricht hinaus auch in Gruppenarbeitsphasen fort: Die Schülerinnen und Schüler merken zwar, dass der Arbeitsauftrag nicht so recht zu bearbeiten ist und die Quelle nicht alle Fragen beantworten kann, die soziale Ordnung des Unterrichts, deren Aufrechterhaltung es erfordert, dass Arbeitsaufträge erledigt werden, bleibt davon jedoch unangefochten. In Arrangements, in denen es sich dokumentiert, dass die Schülerinnen und Schüler einen Umgang mit der Quelle an den Tag legen, der vorsichtiger (und kompetenter) ist als der vom Lehrer intendierte oder vorgemachte, tragen Lehr-/Lernarrangements dazu bei, dass das Potenzial, das bei den Schülerinnen und Schülern z. T. aufscheint, nicht zur Geltung kommt bzw. keine Anerkennung erfährt.
9.2
Fragend-entwickelnder Unterricht und historische Kompetenzen
Das fragend-entwickelnde Unterrichtsgespräch wird auch als »Unterrichtsgespräch«, »gelenktes« oder »klassisches Unterrichtsgespräch« bezeichnet und bisweilen mit »Frontalunterricht« gleichgesetzt.407 An dieser Stelle wird Frontalunterricht als übergeordnete Sozial- bzw. Unterrichtsform verstanden, die sich dadurch auszeichnet, dass erstens eine Person (meist die Lehrkraft) zu407 Siehe z. B. Wolfgang Mattes: Methoden für den Unterricht. 75 kompakte Übersichten für Lehrende und Lernende. Paderborn 2002, S. 26.
212
Kompetenzerwerb in spezifischen Lehr-/Lernarrangements
mindest vom Anspruch her den Arbeits- und Kommunikationsprozess im Unterricht kontrolliert und steuert, dass zweitens der Unterricht gegenstandszentriert ist und drittens ein Macht- und Kompetenzgefälle zugunsten der Lehrkraft (oder eines »Stellvertreters«) inszeniert wird.408 Das fragend-entwickelnde Unterrichtsgespräch, das Gegenstand verschiedener, auch empirischer Untersuchungen gewesen ist409, ist demnach eine spezielle Form von Frontalunterricht – so, wie es z. B. auch Lehrervortrag oder Referat sind. Dabei bezieht sich die Kritik am Frontalunterricht zumeist auf das fragendentwickelnde Gespräch im engeren Sinne. Dies ist vermutlich der Tatsache geschuldet, dass es sich als Unterrichtsmethode offensichtlich über Fächergrenzen hinweg großer Beliebtheit erfreut und einen Großteil des (Frontal-)Unterrichts ausmacht. In der Tat geht u. a. Hilbert Meyer davon aus, dass es gewissermaßen die Regelform gymnasialen Unterrichts darstellt.410 Neuere Studien im Rahmen des Projekts »Politik und Geschichte« belegen, dass an Schweizer Schulen fragend-entwickelnder Unterricht ebenfalls die gängige Vermittlungsform darstellt.411 Das Sample dieser Studie – wenngleich es aufgrund seines Umfangs keinerlei Anspruch erheben kann, statistisch repräsentativ zu sein – scheint die Dominanz des fragend-entwickelnden Unterrichtsgesprächs für den Geschichtsunterricht zu bestätigen. Dabei handelt es sich bei Frontalunterricht um eine seit Jahrzehnten heftig umstrittene Unterrichtsform, die nicht zuletzt Gegenstand politisch-ideologischer Grabenkämpfe war und gerne zum Streitpunkt zwischen »Theoretikern« 408 Vgl. Hilbert Meyer/Liane Paradies: Frontalunterricht lebendiger machen, 9. Aufl. Oldenburg 2003, S. 6 f. Vgl. Wuttke: Unterrichtskommunikation und Wissenserwerb, S. 127. 409 Alexander McHoul: The Organization of Turns in Formal Talk in the Classroom. In: Language and Society 7 (1978), S. 182 – 213; Ders.: The Organization of Repair in Classroom Talk. In: Language and Society 19 (1990), S. 349 – 377; Herbert Kalthoff: Die Erzeugung von Wissen. Zur Fabrikation von Antworten im Schulunterricht. In: Zeitschrift für Pädagogik 41 (1995), H. 6, S. 925 – 939; speziell für Geschichtsunterricht vgl. Ola Halld¦n: Conceptual Change and the Learning of History. In: International Journal of Educational Research 27 (1997), H. 3, S. 201 – 210 und Birgit Wenzel: Gespräche über Geschichte. Bedingungen und Strukturen fruchtbarer Kommunikation im Unterricht. Rheinfelden/Berlin 1995, S. 159. 410 Siehe z. B. Hilbert Meyer : Was ist guter Unterricht?, 5. Aufl. Berlin 2008, S. 77. Meyer verweist u. a. auf Klaus Hage/Heinz Bischoff/Horst Dichanz: Das Methodenrepertoire von Lehrern. Eine Untersuchung zum Schulalltag in der Sekundarstufe I. Opladen 1985. Auch die Videostudien aus dem Kontext der TIMSS- und PISA-Studien gehen von einer Dominanz von Frontalunterricht aus: Tina Seidel/Manfred Prenzel/Rolf Rimmele: Unterrichtsmuster und ihre Wirkungen. Eine Videostudie im Physikunterricht. In: Manfred Prenzel/ Lars Allolio-Näcke (Hrsg.): Untersuchungen zur Bildungsqualität von Schule. Münster u. a. 2006, S. 99 – 123. 411 Vgl. Jan Hodel/Monika Waldis: Sichtstrukturen im Geschichtsunterricht. Die Ergebnisse der Videoanalyse. In: Peter Gautschi/Daniel V. Moser/Kurt Reusser/Pit Wiher (Hrsg.): Geschichtsunterricht heute. Eine empirische Analyse ausgewählter Aspekte. Bern 2007, S. 91 – 142, S. 139.
Fragend-entwickelnder Unterricht und historische Kompetenzen
213
und »Praktikern« bzw. selbst ernannten »Insidern« erklärt wurde.412 Ungeachtet der Kritik, die dem Frontalunterricht von Seiten der Pädagogik und der Fachdidaktiken entgegenschlägt, erfreut er sich bei Lehrenden wie Lernenden – sowie unter Lehramtsstudierenden – offenbar nach wie vor großer Beliebtheit.413 In den letzten Jahren sieht Breidenstein Anzeichen einer »Ent-Ideologisierung« in der Debatte um Frontalunterricht. Es gehe nun weniger um das Für und Wider, sondern man versuche vielmehr, Frontalunterricht zu modernisieren, neu zu entdecken oder im vorteilhaft empfundenen Methodenmix zu verankern.414 Ausgehend von den empirischen Arbeiten McHouls415 hat Herbert Kalthoff die Wirkungsprinzipien im fragend-entwickelnden Gespräch beschrieben.416 Er geht dabei von einer typischen »Frage-Antwort-Kommentar« Grundstruktur der Kommunikation aus, wobei die Lehrkraft die Schülerinnen und Schüler mit Hilfe von »clues« (Anhaltspunkte) Schritt für Schritt von der Frage zur richtigen Antwort führt. Als gängigen »clue« beschreibt Kalthoff dabei die »fremdinitiierte Selbstkorrektur«: die Lehrkraft korrigiert eine aus ihrer Sicht wenig anschlussfähige bzw. falsche Antwort nicht selbst, sondern delegiert die Korrektur an eine Schülerin oder einen Schüler. Den Extremfall sieht Kalthoff dabei im »mehr oder minder heiteren Ratespiel« und einer »Art kollektiver Wortsuche«417. Er räumt zudem ein, dass das fragend-entwickelnde Gespräch eben nicht der Herstellung von Symmetrie (bezogen auf Wissen) diene, sondern dass dadurch, dass erst durch den abschließenden Lehrerkommentar das »Sprachspiel« um die Aushandlung der richtigen Antwort beendet sei, letztlich Asymmetrie verfestigt werde.418 Wenngleich Kalthoff keine eindeutig wertende Position bezüglich des pädagogischen Nutzens solcher Sprachspiele einnimmt, kommt er doch zu dem Schluss, dass es im Rahmen von fragend-entwickelnden Gesprächen keine Garantie dafür gebe, dass das Wissen, das eine Lehrkraft aufgrund einzelner Schüleräußerungen als »gelernt« akzeptiert, auch von Dauer sei.419 Ausgehend von dem Gedanken, dass die Aneignung historischer Kompetenzen nunmehr festes normatives Ziel von Geschichtsunterricht ist und der Begriff Kompetenz eine transferfähige domänenspezifische Problemlösefähigkeit impliziert, erscheint dieser Aspekt als grundsätzliches Problem dieser Unterrichtsform. 412 Vgl. Breidenstein: Teilnahme am Unterricht, S. 94. Laut Hilbert Meyer ist die Dominanz des Frontalunterrichts für einen »Insider« keine Überraschung, siehe Meyer : Was ist guter Unterricht? S. 80. 413 Vgl. Breidenstein: Teilnahme am Unterricht, S. 95. 414 Ebd. 415 Siehe Anm. 409. 416 Kalthoff: Die Erzeugung von Wissen. 417 Ebd., S. 935. 418 Ebd., S. 936. 419 Ebd., S. 937.
214
Kompetenzerwerb in spezifischen Lehr-/Lernarrangements
Die von Kritikern angemahnte Asymmetrie des Unterrichtsgesprächs erscheint im Rahmen der dokumentarischen Interpretation darin, dass Schüleräußerungen sich im fragend-entwickelnden Gespräch fast ausschließlich als Elaborationen oder Differenzierungen von Propositionen der Lehrkraft rekonstruieren lassen. Selbst wenn dies nicht der Fall ist und Propositionen von Schülerinnen oder Schülern kommen, ist es in der Regel die Lehrkraft, die die Konklusion einer Interaktionsbewegung liefert, indem sie eine korrekte Antwort lobt oder diese selbst formuliert. Die Interaktion ist also durch ein strukturelles, in der Unterrichtsform bereits angelegtes Ungleichgewicht gekennzeichnet. Dies wird auch in Themenverschiebungen und Fremdrahmungen deutlich, die in der Regel von der Lehrkraft ausgehen. Zwei Beispiele sollen dies an dieser Stelle verdeutlichen: Bsp. 1: Reklame für Liberty Bonds (2011 – 01 – 18)
L
Wenn das ein Plakat ist, das bis heute seine Botschaft für uns beinhaltet, wie nennt man übrigens so ein Plakat als Quelle? (2) Zu welchem äh Funkwelche Rolle (.) Botschaft steckt da drin? Ja? Sölve Reklame? L Ja, Reklame. Und jetzt können wir hier noch mal vertiefen. Welche Form von Reklame ist das? Klasse. (2) Sölve Ähm (3) L Vielleicht noch ein bisschen schärfer. Tun wir noch ein bisschen mehr Maggiewürze rein. ((Lachen)) L Reklame ist hier genau die richtige Abteilung. Genau. (2) Julian? Julian Äh Propaganda? L Prima. Also das heißt, (10) Aber ich Herr Schneider schreibt an die Tafel. mag den Begriff Reklame. Nämlich es ist letztlich Reklame. Nur eben auf die politische härtere Variante. Gut.
In diesem ersten Beispiel befasst sich die 9. Klasse von Herrn Schneider mit einem zeitgenössischen Plakat, das für US-amerikanische Kriegsanleihen (»liberty bonds«) mit drastischer anti-deutscher Bildsprache wirbt. Die Passage stammt aus der Erarbeitungsphase. Dabei verschiebt Herr Schneider, nachdem Bild, Text und Intention des Plakats besprochen worden sind, das Thema im Sinne der Kategorisierung des Plakats »als Quelle«. Dabei validiert Herr Schneider bereits die erste Schüleräußerung (»Reklame«) und fordert einen Begriff, der »ein bisschen schärfer« ist. Julian liefert – wenngleich genauso fragend wie seine Vorrednerin – den gewünschten Begriff, den der Lehrer verbal
Fragend-entwickelnder Unterricht und historische Kompetenzen
215
und nonverbal validiert, indem er den Schüler lobt (»Prima«) und das Tafelbild entsprechend vervollständigt. Sowohl die Proposition – das Plakat hat eine Botschaft und ist als Quelle für den heutigen Betrachter relevant – als auch die Konklusion – es handele sich um Propaganda, die schärfere Form von Reklame – gehen vom Lehrer aus. Bei den Schüleräußerungen handelt es sich um eine Elaboration (Sölve) und eine Differenzierung (Julian), wobei letztere in Kooperation mit dem Lehrer erfolgt. Beide Schüleräußerungen sind fragender Natur und bedürfen so der offensichtlich erwarteten Validierung durch den Lehrer, dessen Macht sich in der Interaktion dokumentiert. In ähnlicher Weise beschäftigt sich die Klasse 6a von Herrn Fischer mit einer Quelle. Dabei sollen die Schülerinnen und Schüler die Textquelle, einen Auszug aus Diodors Historia, der sich mit der Lebensweise der Etrusker beschäftigt, Absatz für Absatz zusammenfassen. Dies hatte die Klasse bereits in Partnerarbeit begonnen; der Arbeitsauftrag gestaltete sich aber offenbar schwieriger als vom Lehrer erwartet und wird daher im Plenum weiter bearbeitet. Bsp. 2: Diodor über die Etrusker (2010 – 12 – 06) L
Und das ist jetzt noch (.) sozusagen alles andere (.) bunte Teppiche, zweimal am Tag schönes Essen, sich bedienen lassen von Sklaven; Wie könnte man das zusammenfassen? Nana Nana Ich glaub sie waren ein sehr reiches Herr Fischer nickt. Volk und ließen sich gerne verwöhnen. L Mhm. Kann man so sagen. Melanie? Melanie Luxusleben L Genau. Sie legten Wert, auf luxuriöses Herr Fischer nickt und schreibt an die Tafel. Leben, auf gute Landwirtschaft und (3) Luxusleben (4) Glaubt ihr dass das bei allen Etruskern so der Fall war? Mit dem Luxusleben? Marco Näh. L Was denkst du? Marco Nur bei den Reich- also es gibt ja immer welche die haben nicht so viel Geld; und ich glaub nicht dass die sich das leisten konnten so viele Sklaven zu halten; also vielleicht (.) also Bauern (.) könnt mir vorstellen dass die ähm naja (.) ja aber nich jetzt so dass die einem immer Wasser bringen oder irgendwie sowas.
216 L
Kompetenzerwerb in spezifischen Lehr-/Lernarrangements
Ganz genau. Also der einfache Bauer Herr Fischer nickt. (.) der hatte nicht ganz viele Sklaven. Und der konnte auch nicht zweimal am Tag ein Festmahl halten (.) sondern das warn natürlich nur die Reichen (.) ä:::h das ist vielleicht noch ne wichtige Ergänzung dass es= es gab viele Sklaven.
Ähnlich wie bei der Passage aus der Klasse von Herrn Schneider folgt auch diese Sequenz dem auch von Kalthoff beschriebenen »Frage-Antwort-Kommentar«Muster. Dabei geht es diesmal explizit um sprachliche Details und (Um-)Formulierungen. Dabei ist es Herr Fischer, dessen inhaltliche und auf den Unterrichtsprozess bezogene Propositionen die Schülerinnen und Schüler elaborieren, während der Lehrer die Schüleräußerungen wiederum validiert und die Interaktion am Ende konkludiert. Dabei entnehmen Schülerinnen und Schüler und Lehrer an dieser Stelle der Quelle inhaltliche Informationen und paraphrasieren sie. Der Stellenwert dieser Informationen spielt noch keine Rolle und wird erst gegen Ende der Bearbeitung kurz vor Ende der Stunde vom Lehrer angesprochen. Dabei beginnt der Lehrer die Auseinandersetzung mit der Standortgebundenheit der Quelle mit einer Fremdrahmung, die der Klasse Interesse an der Folgenden Tätigkeit unterstellt: »Wir wolln jetzt eine Sache […] uns noch mal anschauen […].« Bei Fremdrahmungen handelt es sich um ein typisches Merkmal divergenter Interaktionen. Sie sind typisch für Praxisformen, in denen Menschen gezwungen sind, miteinander zu interagieren und miteinander auszukommen. Es handelt sich um Kontexte, in denen Opposition nicht offen formuliert werden kann, da sie ansonsten den Fortbestand der Praxis selbst aufs Spiel setzen würde. Da es sich bei Unterricht (meist) um eine Pflichtveranstaltung handelt, sind die Akteure als eine Art Zweckgemeinschaft grundsätzlich auf ein mehr oder minder harmonisches Klima angewiesen. Die Rahmung der Tätigkeit als gemeinschaftlicher und gewollter Prozess verschleiert hier die tatsächlichen (habitualisierten) Machtverhältnisse, die sich im Verlauf der Interaktion dokumentieren.
Fragend-entwickelnder Unterricht und historische Kompetenzen
Wir wolln jetzt eine Sache (.) als Letztes (.) wolln we uns nochmal anschauen und zwar zu der Quelle. Wer berichtet denn hier? Inwiefern glaubt ihr denn (.) ist das ne Information der man wirklich (.) über die Etrusker hundertprozentig (.) vertrauen kann. Wo könnwa erkennen ob der Typ der uns das erzählt der die Quelle geschrieben hat; ob das wirklich ne hundertprozentig vertrauens::::würdige Auskunft ist. Bitte. Emre Ich? L Ja. Emre Also das hat ja ein Grieche geschrieben (.) und der is ja sag ich ma weit entfernt von den Etruskern und dann weiß er halt nur was die andern erzählt ham (.) das muss ja auch nich alles stimm; was erzählt wurde. L Weit entfernter Grieche. Wir ham gehört die Griechen siedelten damals nicht nur in Griechenland sondern auch in Süditalien und Sizilien ist ne Insel (.) in Süditalien; also weit weg von den Etruskern (.) ich nehme an ihr habt euch die Karte mal angeschaut auf der Seite 123; dort sehen wir (.) also die Etrusker siedelten hier (.) im Norden (.) der Apeninnenhalbinsel; bis hier an die Grenze Roms (.) das ist sozusagen der Einfluss den die Etrusker auf die Römer hatten hier am Rande ihres Siedlungsgebietes liegt Rom (.) und Sizilien ist hier ganz im Süden. (3) Der Typ kommt also aus ner ganz andern Gegend. Richtich gesagt er muss das was andere Leute ihm erzählt ham (.) muss er (.) sozusagen gehört haben und jetzt guckenwe uns noch ma ne andere Sache an; und zwar (.) äh unsere Karte die wir mal gemacht haben (.) zu der Ausbreitung des römischen (.) Reiches. Aus welcher Zeit stammt denn die Quelle? Die wir gerade gelesen haben. Wie sahs denn da mit den Etruskern aus? (3) Von wann stammt die Quelle? Guckt mal alle nach; Gregor? Gregor Die Quelle stammt von äh dem ersten Jahrhundert vor Christi
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L
Herr Fischer nickt mehrfach.
Herr Fischer weist auf die Karte, die mittels Beamer an der Wand zu sehen ist.
218 L
Nana
L
?m L
Marco L
Kompetenzerwerb in spezifischen Lehr-/Lernarrangements L
psssssss […] In dieser Zeit lebte der. Wie sah es mit der Ausbreitung des römischen Reiches zu dieser Zeit aus? (2) Schaut ma auf eure eigene Karte. Wie sah es mit der Ausbreitung des römischen Reiches aus (.) zu dieser Zeit. Nana Nach Kriegen gegen Karthago und gegen Staaten des Ostens beherrschen die Römer das Mittelmeer. Griechenland ist eine römische Provinz geworden. A::ha! Und jetzt gucken we uns mal hier an; Gabs (.) Was war denn mit den Etruskern zu der Zeit als der (.) Diodor über die Etrusker geschrieben hat? Was war denn da mit den Etruskern passiert eigentlich schon. Jetzt kommwe mal der Quelle auf den Grund. Kommt, das kriegen we jetzt noch hin (.) die zwei Minuten hamwe noch jetzt Eine. Eine. Aber das schaffen we jetzt noch. Was war jetzt mit den Etruskern; guckt an wo die lebten; im (.) ersten Jahrhundert (.) vor Christus. Was war mit den Etruskern passiert? Marco Die waren Römer. ((Klingeln)) Ganz genau. Also der Diodor hat wahrscheinlich mehr über die Römer uns erzählt (.) als über die Etrusker. Wichtig immer genau drauf achten bei ner Quelle. Wir komm da nochma drauf zurück. Alles klar.
Herr Fischer blickt in Richtung zweier Schüler, die sich unterhalten.
Nana blickt in ihr Buch und liest.
Herr Fischer verweist auf die Geschichtskarte, die die Ausbreitung des römischen Reiches zu unter schiedlichen Zeitpunkten darstellt.
Herr Fischer nickt. Die Schüler packen ihre Sachen.
Nachdem der Lehrer mit seiner Nachfrage die Proposition in den Raum stellt, dass »der Typ […], der die Quelle geschrieben hat« möglicherweise nicht ganz »vertrauenswürdig« sei, elaboriert Emre dies zunächst mit Bezug auf die Herkunft Diodors. Herr Fischer validiert dies und beteiligt sich an der Elaboration seiner eigenen Proposition, indem er auf die Geschichtskarte und die geographischen Verhältnisse verweist. Darauf verschiebt er das Thema und verweist auf die Entstehungszeit der Quelle. Dabei handelt es sich um eine Anschlussproposition, deren Gehalt nach wie vor die fragliche Vertrauenswürdigkeit Diodors ist, die der Lehrer nun – zusätzlich zur räumlichen – auf die zeitliche Distanz zwischen Entstehungszeitpunkt der Quelle und der Hochzeit der Etrusker bezieht: »Wie sahs denn da mit den Etruskern aus?« Über den Aspekt der sich ändernden Machtverhältnisse wird im Gespräch der Umstand beschrieben, dass
Fragend-entwickelnder Unterricht und historische Kompetenzen
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es das Volk der Etrusker zu Zeiten Diodors gar nicht mehr gab. Darauf supendiert der Lehrer nach dem Stundenende das Thema (»Wir komm da nochma drauf zurück. Alles klar.«) und liefert eine rituelle Konklusion. Die Einschränkung der Glaubwürdigkeit der Quelle stellt dabei deklaratives Wissen dar, das im Widerspruch zur vorherigen, gänzlich unkritischen Informationsentnahme aus der Quelle steht und diese ad absurdum führt. Im Gegensatz zur Entnahme der Informationen aus der Quelle, deren Umformulierung und Festhalten an der Tafel schlägt sich die vor allem vom Lehrer vorgetragene Einschränkung der Glaubwürdigkeit der Quelle nicht in konkreten Handlungen nieder. Der Grund, weshalb es dazu nicht kommt, liegt nicht nur im Stundenende begründet – eine rituelle Konklusion durch die Klingel in Kooperation mit Herrn Fischer –, sondern ist bereits im Arrangement und dem nachgeordneten Stellenwert solcher Informationen als Teil der Proposition (»Als Letztes wollnwe uns nochmal anschauen […]«, meine Hervorhebung) angelegt. Die Relevanz, die Standortgebundenheit von Quellen in ihre Betrachtung miteinzubeziehen, bleibt auf der Ebene des theoretischen Wissens: »Wichtig immer genau drauf achten bei ner Quelle.« Kompetenz ist hier nicht rekonstruierbar. Vielmehr dienen Quellen implizit der Entnahme bzw. Vermittlung von Informationen. Hinzu kommt, dass sowohl bei der Informationsentnahme als auch bei der Beteuerung der begrenzten Verwertbarkeit dieser Informationen sämtliche Propositionen und Konklusionen vom Lehrer ausgehen und es keine Handlungen gibt, anhand derer kompetentes Verhalten der Schülerinnen und Schüler beobachtet werden könnte. Das bedeutet, dass kompetentes Verhalten in den stark gelenkten fragendentwickelnden Gesprächen des Samples letztlich nicht rekonstruiert werden kann. Damit unterscheiden sich fragend-entwickelnde Unterrichtsarrangements von kooperativen Lehr-/Lernarrangements wie der bereits in Kapitel 8.2.3 (Sequenz Roland Jahn) vorgestellten Simulation. Hier hatte zwar der Lehrer einen thematisch eng umrissenen Rahmen etabliert (die historische Situation um Roland Jahns Zwangsexmatrikulation), innerhalb dieses Rahmens nutzten jedoch die Schülerinnen und Schüler ihre Möglichkeiten, kompetentes Verhalten durch konkrete sprachliche, aber auch metasprachliche Handlungen zu zeigen. Ein weitere Sequenz macht deutlich, dass fragend-entwickelnde Gespräche der Komplexität von Unterricht mitunter nicht gerecht werden. Die folgende Passage wurde bereits andernorts zitiert, ist aber derart plastisch, dass sie nun noch einmal herangezogen werden soll. Es handelt sich um die 10. Klasse von Frau Schmidt und den in Kapitel 8.2.1 beschriebenen Umgang mit einem antisemitischen Schandbild:
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Kompetenzerwerb in spezifischen Lehr-/Lernarrangements
Bsp. 3: Antisemitisches Schandbild (2010 – 02 – 17) Ja also ähm (.) in dem Bild sieht man halt (.) äh viele Nicht-Deutsche die halt irgendwie gehen; unterm Bild steht halt auch dass es ausm (.) Bilderbuch für Kinder stammt; aus 1930; und da steht dann halt ähm auf Deutsch also für uns Einbahnstraße Tempo Tempo; die Juden sind unser Unglück; also ich geh davon aus dass dann die Juden irgendwie dadurch weggeschickt wurden; (.) kann ich auch schon ein bisschen anfangen zu L L Nee wir wollen erst mal noch mal (.) weiter Okay (4) Kann man noch irgendwas anderes beschreiben? Dirk Dirk Ja man sieht auch noch dass ähm (.) die Leute da irgend- (.) ganze Koffer und Gepäck und so was dabei haben; also dass es so aussieht als ob se ja verreisen oder (.) ja verreisen wollen; und die haben auch sehr (2) äh die äh volkstümliche Kleidung an; also wie se in der Heimat eigentlich so=zum Beispiel die Frau da; mit diesem mit dem Schleier oder was das ist da L Mhm Dirk Kopftuch weiß nicht; das soll ja auch vielleicht son bisschen symbolisieren; also dass die alle ihre Kleidun anhaben aus ihren Heimatländern oder so (2) L Ich finde irgendwie interessant warum meint ihr denn dass das Ausländer sind? (5) Ja (.) Lisa Lisa Ja ähm erstens sehn die halt ähm (2) ja nicht so aus wie Deutsche; also sind=einige sind dunkelhäutiger und daneben steht auch son kleiner Junge mit blonden Haaren L Mhm Tom
Dirk meldet sich.
Frau Schmidt nickt.
Lisa meldet sich.
Frau Schmidt nickt.
Dabei validiert Frau Schmidt alle Beiträge, auch wenn diese inhaltlich objektiv falsch sind (Juden als »Nicht-Deutsche«, Kleidung aus den Heimatländern usw.). Die verbalen und nonverbalen Validierungen tragen auf der Inhaltsebene zu Konstruktionen der Schülerinnen und Schüler bei, die in Ermangelung einer Korrektur im Raum stehen bleiben. Das gewählte Beispiel mag nicht zuletzt wegen seiner NS-Thematik extrem anmuten, es illustriert aber in sehr plastischer Weise das Problem, zu dem die Komplexität von Unterricht bei derartigen Lehr-/Lernarrangements werden kann. Offensichtlich ist bereits die verbale
Fragend-entwickelnder Unterricht und historische Kompetenzen
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Unterrichtskommunikation so vielschichtig, dass einfache Sprachimpulse den Verlauf der Kommunikation mitunter nicht wie gewünscht steuern können. Die gängige Feststellung, Frontalunterricht werde der Komplexität von Unterricht nicht gerecht, verweist meist auf die Heterogenität der Lerngruppen.420 Diese Studie legt allerdings nahe, dass zur Komplexität, die sich aus der Zusammensetzung der Lerngruppen ergibt, noch die Komplexität der Unterrichtsinteraktion tritt und sich diese in fundamentaler Weise auf Vermittlungsprozesse auswirkt. Wenngleich die Studie auch mangels Vergleichshorizonten keinen validen Aufschluss darüber bietet, wie sich das Verhältnis zwischen fragend-entwickelndem Unterricht und spezifischen historischen Kompetenzen darstellt, zeigen die Beispielsequenzen in Kapitel 8.3.1 (Quellen als Abbilder historischer Wahrheit), dass die schleichende Aneignung von perspektivisch gebundenem Wissen gerade bei stark instruktiven Unterrichtsformen möglich ist. Darüber hinaus ist es wahrscheinlich, dass instruktive Lernformen, die die Vermittlung sicheren Wissens über »sichere«, vorher bekannte Antworten implizieren,421 im Widerspruch zur Natur historischen Wissens und seiner latenten Unsicherheit stehen. Stark asymmetrische Kommunikationsstrukturen suggerieren, dass die Lehrkraft – womit auch immer – Recht hat bzw. die Lösung weiß und am Ende preisgibt. Dieses Phänomen und die darin latent enthaltene Auffassung, dass es eine richtige Antwort gibt, untergräbt normativ gewünschte und im Geschichtsunterricht zu vermittelnde moderat konstruktivistische Auffassungen von Geschichte – wenngleich diese mitunter kommunikativ beteuert werden – und kann im Extremfall positivistische Lesarten von Quellen in der Interaktion befördern. Dies bedeutet nicht, dass sich Schülerinnen und Schüler, deren Geschichtsunterricht in erster Linie aus gelenkten Unterrichtsgesprächen besteht, grundsätzlich keine historischen Kompetenzen aneignen können. Beispielsequenzen wie Kontextualisierung und Standortgebundenheit (2010 – 03 – 18) zeigen vielmehr, dass Schülerinnen und Schüler kompetentes Verhalten mitunter auch dann zeigen, wenn es zur Erledigung einer Aufgabe nicht nötig ist. Ausgehend davon, dass Kompetenz in der Praxis erworben wird, kann man jedoch resümieren, dass fragend-entwickelnde Lehr-/Lernarrangements – wie sie im Rahmen dieser Studie beobachtet wurden – keine günstigen Bedingungen für 420 Siehe z. B. Rabenstein/Reh: Kooperative und selbständigkeitsfördernde Arbeitsformen im Unterricht. Forschungen und Diskurse, S. 24 sowie Dirk Lange: Lernen an Stationen. In: Astrid Kaiser/Detlef Pech (Hrsg.): Unterrichtsplanung und Methoden. Baltmannsweiler 2004, S. 174. 421 Vgl. Gabi Reinmann-Rothmeier/Heinz Mandl: Unterrichten und Lernumgebungen gestalten. In: Andreas Krapp/Bernd Weidenmann (Hrsg.): Pädagogische Psychologie. Ein Lehrbuch. Weinheim 2001, S. 601 – 646, S. 618 – 620.
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Kompetenzerwerb in spezifischen Lehr-/Lernarrangements
Kompetenzerwerb bilden.422 Auf der Grundlage der empirischen Daten dieser Studie lässt sich diese Auffassung soziogenetisch erhärten. All jene Lehr-/ Lernarrangements, bei denen kompetentes Verhalten im Umgang mit Quellen rekonstruiert werden konnte, waren Arrangements, die Kooperation und Konstruktion erforderten bzw. überhaupt ermöglichten: Gruppenarbeitsphasen, eine Simulation und eine Podiumsdiskussion. Insofern ist das fragend-entwickelnde Unterrichtsgespräch im Rahmen des Frontalunterrichts nicht prinzipiell abzulehnen. Man muss sich allerdings fragen, welchen Sinn es als Regelform schulischer Geschichtsvermittlung insbesondere vor dem Hintergrund der Forderung nach Kompetenzorientierung haben kann. Bei einer konsequenten Implementierung von Kompetenzorientierung – die im Rahmen der institutionellen Voraussetzungen, insbesondere der Curricula, aber auch der theoretisch kaum gesättigten Kompetenzmodellierung de facto (noch) nicht möglich ist – bliebe für Frontalunterricht im Geschichtsunterricht wenig Raum. Es läge dann vielmehr im Interesse der Lehrkräfte, kompetentes Schülerverhalten sichtbar bzw. bewertbar zu machen. Dies ist im Rahmen von fragend-entwickelnden Gesprächen offenbar nicht möglich bzw. illusorisch. Überspitzt formuliert erscheint das fragend-entwickelnde Unterrichtsgespräch im Geschichtsunterricht als die moderne Form der Geschichtserzählung. Während die Geschichtserzählung Schülerinnen und Schülern grundsätzlich keine Partizipationsmöglichkeiten jenseits des Zuhörens und der später eingeforderten Reproduktion bot, gaukelt das fragend-entwickelnde Gespräch aktives Mitarbeiten der Schülerinnen und Schüler oftmals nur vor. Der demokratischemanzipatorische Impetus, der Quellenunterricht von der Geschichtserzählung unterscheiden sollte, gerät zur Fassade, wenn die Deutungshoheit einer Einzelperson obliegt. Der Umstand bzw. das Dilemma, dass sich Schülerinnen und Schüler im Unterricht Fertigkeiten aneignen sollen, über die die Lehrkraft idealerweise bereits verfügt, lässt sich dabei freilich nicht verhehlen. Geschichtsunterricht, der Kompetenzerwerb fördert, müsste deswegen auf Aneignungs- und weniger auf Vermittlungsprozesse fokussieren (wie bei der Roland Jahn-Simulation) und systematisch Gelegenheiten schaffen, in denen Schülerinnen und Schüler kompetentes Verhalten zeigen können und in denen der Umstand, dass die Lehrkraft mehr weiß oder mehr kann, keine Rolle spielt.
422 Eine denkbare, aber im Rahmen der Studie nicht anzutreffende Ausnahme könnte ein Lehr-/Lernarrangement bieten, das im Rahmen eines fragend-entwickelnden Gespräch Fragen entwickelt (z. B. an eine Quelle), denen anschließend beispielsweise in Partner- oder Gruppenarbeit nachgegangen würde.
Habitualisierte Praxis und Unterrichtskommunikation
9.3
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Was man sagt und was man tut – habitualisierte Praxis und Unterrichtskommunikation
Mit Hilfe der dokumentarischen Methode war es möglich, konjunktives Wissen und kommunikatives Wissen der Akteure, d. h. der Lehrkräfte und Schülerinnen und Schüler, begrifflich zu trennen und in der Analyse aufeinander zu beziehen. Dabei ließ sich in fast allen Lerngruppen eine Schere zwischen dem kommunikativ eingeforderten Handeln und der tatsächlichen, offenbar habitualisierten Handlungspraxis rekonstruieren. Aufgrund dieser Homologie, die unabhängig von Lerngruppe und Schule vorliegt, liegt die Annahme nahe, dass es sich dabei um ein Strukturmerkmal des beobachteten Unterrichts – speziell des das Sample dominierenden fragend-entwickelnden Unterrichts – handelt.423 Dass Wissen und Handeln nicht deckungsgleich sein müssen, ist keine allzu große Überraschung. So klagen Lehrer bekanntermaßen bisweilen darüber, dass Schülerinnen und Schüler in der Klausur einen bestimmten Umgang mit der Quelle eben nicht gezeigt hätten, obwohl das Vorgehen hinlänglich bekannt und mehrfach eingeübt worden sei. Auch empirisch ist dieses Phänomen kein unbekanntes.424 Grundsätzlich werden dabei Unterschiede zwischen deklarativem und prozeduralem Wissen beschrieben: Wenngleich bestimmtes theoretisches Wissen auf Nachfrage benannt werden kann, muss dies nicht bedeuten, dass es im Rahmen von konkreten Handlungen auch angewandt wird. Anhand von Beispielen soll nun verdeutlicht werden, wie sich die Schere zwischen theoretischem und habitualisiertem Wissen im Umgang mit Quellen darstellt. Es handelt sich wiederum um bereits thematisierte Fallbeispiele, die nun aus einem anderen Blickwinkel betrachtet werden sollen. Das erste Beispiel stammt aus dem Leistungskurs von Herrn Meier (vgl. Kap. 8.1.1, Prüfungssituationen und die »quellenkritische Einleitung« II sowie Kap. 8.3.1, Eine StalinRede und ihre Auswirkungen): Bsp. 1: »Weißgardistische Wichte« (2009 – 04 – 29) Sonja
L Anne
Und ähm der hat dann eben unterstellt Kontakte ins Ausland zu haben. Und ähm dass die eben, ja, den äh die Partei und den Sowjetstaat zerstören wollten. Also das Wort unterstellen ist wichtig. Du hast nämlich eben die ganze Zeit L Ich meint, das wär nix Konkretes halt. Also es war
423 Empirische Fallvergleiche, die diese Annahme erhärten könnten, waren im Sample zu selten. Mögliche Vergleichshorizonte könnten Projektarbeiten oder auch außerschulische Aktivitäten bieten. 424 Vgl. Diethelm Wahl: Lernumgebungen erfolgreich gestalten, S. 9 – 14.
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Kompetenzerwerb in spezifischen Lehr-/Lernarrangements
L Anne Sonja
Ja. Es wär nichts, was man äh durch L Beweisen kann. Anne Lbeweisen kann. Ja. L Ja. Weil du bloß eben so ganz im Indikativ gesprochen. Dann ist nicht ganz klar, wer macht die Vorwürfe und ähm steckt da irgendwas dahinter, ne? Also Anschuldigungen, Verdächtigungen und Unterstellungen größtenteils. Sonja und (.) eben in der gleichen Partei. L Genau. (2) Ähm was ist denn=in der Quelle taucht äh auf äh (.) Da kommen auf die weißgardistischen Wichte. (2) Eine wunderbare Alliteration. Wer ist denn das bitte schön? Die weißgardistischen Wichte. Leonie Beiß oder weiß? L Weißgardistischen Wichte. Sonja Also wir dachten, dass die zum (.) also sozusagen, dass Gegenstück von der Roten Armee sind. Also dass die gegen die Bolschewiken sozusagen sind. L Also woher kommt der Begriff ? Sonja Von der Weißen Armee. Also von der Zeit der Weißen Armee. L Also zur Zeit Sonja des Bürgerkriegs L Also die alten Feinde, ne? Äh die man damals besiegt hat die sind hier wieder im Kommen. Gut. Danke schön. ((Klopfen))
Sonja und Leonie melden sich auf die Frage von Herrn Meier. Kurz darauf meldet sich auch Merle.
Herr Meier nickt bei »Gegenstück zur roten Armee« und nach Sonjas Antwort sowie nach »des Bürgerkriegs«.
Der Kurs klopft auf die Tische.
Zuvor hatte Sonja in der Tat – wie Herr Meier moniert – »im Indikativ gesprochen« und damit Aussagen aus der Quelle übernommen. Kommunikativ mahnte Herr Meier so in gewisser Weise einen sprachlich kompetenten Umgang mit der Quelle an, der eine Unterscheidung von Quelleninhalt und der historischen Realität impliziert. Diese Prämisse beherzigt Herr Meier dann allerdings selbst nicht, als er nach einem weiteren inhaltlichen Detail aus der Quelle – den dort als »weißgardistische Wichte« diffarmierten Gegnern Stalins – fragt. Nachdem in Kooperation mit Sonja die Herkunft des Begriffs geklärt wird, konkludiert Herr Meier die Interaktion mit den Schülerinnen, indem er auf das Rekurrieren auf »die alten Feinde« verweist. Diese »sind hier wieder im Kommen«. Damit macht Herr Meier genau das, was er bei der Schülerin kritisiert hatte: Er benutzt den Indikativ und gibt eine Aussage der Quelle in direkter Rede wieder. Der Verweis auf den fehlenden Konjunktiv mag an dieser Stelle spitzfindig erscheinen; das
Habitualisierte Praxis und Unterrichtskommunikation
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Verhalten des Lehrers ist aber konsistent mit seinem vorherigen Beharren auf einer direkten Verbindung zwischen Quelleninhalt und historischer Realität (vgl. Kap. 8.3.1, Eine Stalin-Rede und ihre Auswirkungen) und erscheint daher als Homologie, die auf habitualisiertes Verhalten der Kursteilnehmer hindeutet. Indem Herr Meier damit die Behandlung der Quelle konkludiert, wird sein Vorgehen – in Kooperation mit dem Klopfen der Schülerinnen und Schüler – stark validiert und damit sanktioniert. Während die Diskrepanz zwischen kommunikativ gefordertem und habitualisiertem Verhalten in dieser Sequenz auf einen konkreten Umgang mit Quellen fokussiert wurde, rückt das zweite Beispiel die Ebene von Aneignung und Vermittlung in den Vordergrund. Auch diese Sequenz war bereits Gegenstand einer Interpretation (vgl. Kap. 8.3.3, Es gibt keine objektiven Quellen!), und soll hier noch einmal unter einem anderen Gesichtspunkt herangezogen werden. Es handelt sich um ein spontanes Unterrichtsgespräch im Leistungskurs von Herrn Weber, in dem der Lehrer den Begriff »Darstellung« einführt und zuvor die Definition des Begriffs »Quelle« hergeleitet wird. Dabei zeigt sich, dass erkenntnistheoretische Fragen für die Schülerinnen und Schüler durchaus eine gewisse Relevanz haben: Bsp. 2: Objektive Quellen? (2010 – 03 – 01)
Robert Und aber was ich noch sagen wollte ist, gibt es eigentlich objektive Quellen? Eigentlich nicht, oder? (.) L Die Frage geb ich an euch zurück. Gibt es objektive Robert Also meiner Meinung nach nicht. Weil egal, selbst wenn dir jemand irgendwas beschreibt was=wo er selbst dabei gewesen ist; jeder Mensch achtet auf bestimmte Sachen. Und achtet auf bestimmte Sachen nicht. Und dementsprechend kann der nicht objektiv sein. L Ja. Robert LWeil er dir nur das erzählt, was er erzählen will. L Ja. Ja, ich=ja, ich sag mal nichts dazu. (2) Rachel?
226 Rachel
L L
Kompetenzerwerb in spezifischen Lehr-/Lernarrangements
Äh wenn man jetzt zum Beispiel ne Verfassung hat ein Verfassungstext oder ein Gesetzestext, dann ist der ja einfach so. Dann ist der so irgendwo aufgeschrieben. Und ja (.) durch keinerlei Beschreibung oder so kommentiert. Sondern da hast du den puren Text. Und damit kannst du dann arbeiten. Und das ist dann objektive Quelle, oder? (.) Ich sag nichts. ((Lachen)) Ich halt mich hier @vollkommen@ erst mal raus. Weil ich find das sehr spannend. Ähm (.) was ihr da für Ideen entwickelt. Ja, wir klären das noch. Jule.
Robert stellt die Frage, ob Quellen objektiv sein können. Dabei formuliert er als These, dass Quellen eben nicht objektiv sein können, worauf Herr Weber die Diskussion der These an die Schülerinnen und Schüler des Kurses delegiert. Als Begründung für seine These führt Robert die grundsätzlich selektive Wahrnehmung der Menschen an, zu der eine bestimmte Aussageabsicht hinzutritt: »Weil er dir nur das erzählt, was er erzählen will.« Der Lehrer wertet die Aussage nicht, sondern gibt an, sich nicht an der Diskussion zu beteiligen, die richtige Antwort also (noch) nicht preiszugeben: »ich sag mal nichts dazu«. Herr Weber signalisiert nach dem folgenden Beitrag erneut Zurückhaltung (»Ich sag nichts«), validiert die Äußerungen mit Blick auf den Austausch unterschiedlicher Ideen allerdings trotzdem, indem er sie als relevant rahmt: »Ich find das sehr spannend […] was ihr da für Ideen entwickelt«. Seine kommunikativ nunmehr dreimal beteuerte Zurückhaltung wird mit einem Lachen quittiert, das sich als Antithese zur Beteuerung des Lehrers, sich zurückzuhalten, interpretieren lässt. Die Schülerinnen und Schüler geben damit ihr Wissen zum Ausdruck, dass die Zurückhaltung des Lehrers inszeniert ist. Das darauf folgende Lachen des Lehrers kann dementsprechend als Synthese, als Eingeständnis der inszenierten Zurückhaltung interpretiert werden. Sowohl Schülerinnen und Schüler als auch Herr Weber sind sich einig, dass die Zurückhaltung nur kommunikativ beteuert wird, habituell aber der Lehrer derjenige ist, der am Ende sagt, was richtig und was falsch ist. So kommt es auch, als Herr Weber erklärt, dass es objektive Quellen nicht geben könne:
Habitualisierte Praxis und Unterrichtskommunikation
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Patrick Es gibt ja so=so geschichtliche Lexika oder so. Steins Kulturatlas oder so was. Und selbst die, obwohl die fast alle Fakten aufzählen sind ja nicht objektiv, (.) weil es Fakten gibt die sie nicht aufgezählt haben. ?f 8Ja, genau.8 Patrick Und deswegen kann es eigentlich nicht=selbst wenn solche reinen Fakten-Aufzähler wie ähm Kulturfahrpläne oder so was, nicht (.) ähm objektiv sind dann kann es eigentlich keine anderen objektiven Quellen geben. L Okay. Dann haben wir glaub ich die Frage geklärt. Es gibt offensichtlich keine reine Objektivität. Insofern muss Objektivität=kann kein Kriterium sein, was eine Quelle zur Quelle (.) nicht macht oder macht. Also es scheint keinen Text zu geben der nicht subjektiv ist. Schmeißen wir das Kriterium raus.
Hier liegt die Schere also zwischen habitualisiertem Lehrerverhalten, das darin besteht, dass der Lehrer am Ende sagt, was richtig und was falsch ist, und der kommunikativ mehrmals beteuerten Zurückhaltung, wobei letztere von den Schülerinnen und Schülern mit einem Lachen als inszeniert entlarvt wird. Darin, dass die Schülerinnen und Schüler dies tun können und sich ihr Widerspruch am Interaktionsverlauf rekonstruieren lässt, dokumentiert sich, dass es sich in der Tat um habitualisiertes Verhalten handelt. Nicht nur die gespielte Zurückhaltung des Lehrers bei seiner tatsächlichen Vormachtstellung ist habitualisiert; auch der Umgang der Schülerinnen und Schüler mit eben dieser Diskrepanz gehört zum Habitus der Lerngruppe. Für den Fortgang der Unterrichtskommunikation stellt diese Diskrepanz offenbar kein Problem dar, wie auch die folgenden zwei Beispiele verdeutlichen. Im Rahmen der ersten Sequenz fragt Herr Müller seine 10. Klasse nach der Bedeutung bzw. nach der deutschen Übersetzung des Wortes »patriotisch« (vgl. Kap. 8.2.2, Perspektivisches Schreiben zum Versailler Vertrag).
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Kompetenzerwerb in spezifischen Lehr-/Lernarrangements
Bsp. 3: »Vaterlandsliebend« (2009 – 11 – 20) also alle Gruppen erstellen eine (2) ähm das Titelblatt einer Zeitung die am Tage nach dieser Vertragsunterzeichnung erscheinen soll; (.) drei Gruppen schreiben das Titelblatt einer französischen Zeitschrift=Zeitung; (.) natürlich in Deutsch; und drei Gruppen schreiben ein oder gestalten ein Titelblatt (2) einer (.) deutschen (.) Zeitung; ((räuspert sich)) ähm wobei wir jeweils (.) sagen dass sollen patriotische Zeitungen sein; patriotisch zu deutsch? Lilly Ähm (.) vaterlandsbewusst L Ja vaterlandsliebend ne? Genau; also vaterländische (.) ähm (.) nationalstolze (.) Zeitungen sollen das sein (2) wie das aussieht könnt ihr frei gestalten;
L
Lilly beantwortet diese Frage mit dem Adjektiv »vaterlandsbewusst«. Diese Antwort validiert Herr Müller, verbessert Lilly aber im selben Atemzug (»Ja vaterlandsliebend ne? Genau«) und unterstellt der Schülerin Zustimmung. Dabei handelt es sich in der Sprache der dokumentarischen Methode um eine Fremdrahmung, d. h. der Lehrer legt der Schülerin ein Wort in den Mund. Formal wird Zustimmung suggeriert und unterstellt, während es sich bei der Aussage aber letztlich um eine Verbesserung der Schülerin handelt. Dieser Widerspruch bleibt für die Kommunikation ohne Konsequenzen. Ein weiteres Beispiel, das ebenfalls verdeutlichen kann, dass die Schere zwischen kommunikativ eingefordertem und tatsächlichen Verhalten offenbar keine Störungen in der Unterrichtskommunikation verursacht, illustriert zusätzlich die Bedeutung der Diskrepanz zwischen kommunikativ beteuertem und habitualisiertem Verhalten für den Kompetenzerwerb. Bsp. 4: Schritte einer Bildinterpretation (2010 – 02 – 17)
Tom
Ja also ähm (.) in dem Bild sieht man halt (.) äh viele Nicht-Deutsche die halt irgendwie gehen; unterm Bild steht halt auch dass es ausm (.) Bilderbuch für Kinder stammt; aus 1930; und da steht dann halt ähm auf Deutsch also für uns Einbahnstraße Tempo Tempo; die Juden sind unser Unglück; also ich geh davon aus dass dann die Juden irgendwie dadurch weggeschickt wurden; (.) kann ich auch schon ein bisschen anfangen zu
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L
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L
Nee wir wollen erst mal noch mal (.) weiter Okay (4) Kann man noch irgendwas Dirk meldet sich. anderes beschreiben? Dirk Dirk Ja man sieht auch noch dass ähm (.) die Leute da irgend- (.) ganze Koffer und Gepäck und so was dabei haben; also dass es so aussieht als ob se ja verreisen oder (.) ja verreisen wollen; und die haben auch sehr (2) äh die äh volkstümliche Kleidung an; also wie se in der Heimat eigentlich so=zum Beispiel die Frau da; mit diesem mit dem Schleier oder was das ist da L Mhm Frau Schmidt nickt. Dirk Kopftuch weiß nicht; das soll ja auch vielleicht son bisschen symbolisieren; also dass die alle ihre Kleidung anhaben aus ihren Heimatländern oder so (2)
Tom beginnt hier, das antisemitische Schandbild zunächst zu beschreiben, indem er z. B. den Text im Bild und die Informationen, die das Schulbuch dazu liefert, wiedergibt. Dennoch enthält seine Beschreibung bereits Elemente einer Interpretation – dem nächsten Schritt der Bildbearbeitung. Dessen ist sich Tom offensichtlich auch bewusst, denn er fragt Frau Schmidt, ob dieser Schritt vollzogen werden dürfe. An dieser Stelle wird die Kommunikation zwischen Tom und Frau Schmidt indexikal, d. h. bestimmte Dinge müssen nicht vollständig ausgesprochen zu werden, um verstanden zu werden. In dieser Art elliptischer Kommunikation dokumentiert sich die Routine der Situation. Dass Bilder Schritt für Schritt interpretiert werden sollen, gehört zum impliziten Wissen sowohl von Frau Schmidt als auch von Tom – es ist beiden klar, was gemeint ist, obwohl das Wort »interpretieren« nicht fällt. Wenngleich implizites Wissen darüber, dass es bei der Bildinterpretation mehrere Schritte gibt, vorhanden ist, ist den Schülern offenbar nicht klar, was diese Schritte bedeuten. So interpretiert Tom die abgebildeten Personen von Vornherein als »Nicht-Deutsche«. Auch Dirk interpretiert letztlich, nachdem Frau Schmidt explizit gefragt hat: »Kann man noch irgendwas anderes beschreiben?« (meine Hervorhebung). Hier wird also in dem Beharren auf der Einhaltung eines mehrere Schritte umfassenden Interpretationsschemas sprachlich ein kompetenter Umgang mit einer Bildquelle angemahnt. Dieser Anspruch wird aber von den Schülern nicht in Handlungen umgesetzt. Dies stellt für die Unterrichtskommunikation ähnlich wie bei den vorherigen Beispielen kein Problem dar. Frau Schmidt validiert vielmehr die folgenden Aussagen der Schüler, wenngleich sich niemand mehr an das angemahnte Bearbeitungsschema hält und obwohl die Aussagen inhaltlich z. T. falsch sind.
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Kompetenzerwerb in spezifischen Lehr-/Lernarrangements
Es spricht demnach einiges dafür, dass die Diskrepanz zwischen Wissen und Handeln im Geschichtsunterricht bestimmte Phänomene bedingt, die normativ unerwünscht sind und Kompetenzerwerb erschweren. Im Vergleich zu denjenigen Passagen, in denen Kompetenz empirisch rekonstruiert werden konnte, fällt wiederum auf, dass es sich dabei um kooperative Lehr-/Lernarrangements handelt, in denen Konstellationen wie die in diesem Kapitel beschriebenen ausgeschlossen sind. Dies weist erneut auf den fragend-entwickelnden Unterricht und dessen schwer zu überblickende Komplexität als einen Kontext für Inkongruenzen und Widersprüche hin. Die im Rahmen dieser Studie beobachtete Schere zwischen kommunikativ eingefordertem Verhalten und habitualisierter Praxis kann Erklärungen für die negativen Befunde vorheriger empirischer Studien liefern. Dass selbst fortgeschrittene Schülerinnen und Schüler Schwierigkeiten bei der Unterscheidung von Quellen und Darstellungen haben,425 überrascht nicht, wenn entsprechende Vorstellungen in der unterrichtlichen Kommunikationen lediglich auf der Ebene deklarativen Wissens bleiben und keine handlungspraktische Relevanz haben bzw. diese lediglich angemahnt wird. So verwundert es auch nicht, dass beispielsweise eine Quellenkritik und ihre eigentliche Funktion nachweislich nicht zum Repertoire von Abiturientinnen und Abiturienten gehört,426 wenn in der Unterrichtskommunikation normativ unerwünschte bzw. falsche Vorgehensweisen toleriert bzw. validiert werden. Aufgrund der Tatsache, dass die beschriebene Diskrepanz kein Problem für die Unterrichtskommunikation darzustellen scheint, liegt die Schlussfolgerung nahe, dass die Schere zwischen kommunikativ eingeforderten und habitualisierten Verhaltensweisen, mit anderen Worten die Inkongruenz zwischen kommunikativen und konjunktiven Wissen, als solche zum Habitus der Akteure gehört und ihre Bearbeitung sie gleichzeitig formt und reproduziert.
425 Vgl. Martens: Implizites Wissen und kompetentes Handeln, S. 273. 426 Vgl. Schönemann/Thünemann/Zülsdorf-Kersting: Was können Abiturienten?, S. 36 – 42).
10. Diskussion
Kompetenzerwerb vollzieht sich in der Praxis, über konkrete Handlungen, deren Wiederholung und Übung. Will Geschichtsunterricht dazu beitragen, dass sich Schülerinnen und Schüler historische Kompetenzen aneignen, muss er erstens darauf aus sein, entsprechende Anwendungsmöglichkeiten in Form von Lehr-/ Lernarrangements zu bieten. Zweitens ist es nötig, dass die Schülerinnen und Schüler verständliche Rückmeldungen – z. B. über ihren Umgang mit Quellen – bekommen, die ihnen dabei helfen, ihr Verhalten zu verfeinern und allmählich zu perfektionieren. Im fragend-entwickelnden Unterricht – so legen es die hier referierten Befunde nahe – sind die Signale der Lehrkräfte aufgrund der Komplexität der Unterrichtskommunikation zu mehrdeutig, um sinnvoll von den Schülerinnen und Schülern genutzt werden zu können (vgl. 9.2). Dieses Problem wird dadurch verschärft, dass es für die Unterrichtskommunikation offenbar kein Problem darstellt, wenn sich sprachlich angemahnte und tatsächliche habitualisierte Handlungen deutlich voneinander unterscheiden. In diesem Fall lernen Schülerinnen und Schüler nicht unbedingt, wie man kompetent mit Quellen umgeht, sondern höchst wahrscheinlich eher, wie sie mit widersprüchlichen Unterrichtssituationen in einer Weise umgehen, die ihnen im Sinne von Breidensteins »Schüler-Job«427 ein möglichst effizientes und reibungsloses Bestehen im Unterricht und in der Institution Schule ermöglicht. Ein Großteil des im Rahmen der Studie beobachteten Unterrichts wird dem Paradigma der Kompetenzorientierung kaum gerecht. Historische Kompetenzen – wie sie in den fachspezifischen Kompetenzmodellen und Curricula modelliert bzw. eingefordert werden – zeigten Schülerinnen und Schüler im situativen Umgang mit Quellen nur punktuell. Dieser Befund ist letztlich nicht allzu überraschend; er ist vielmehr anschlussfähig an bisherige Studien zum Umgang mit Quellen und kann deren Befunde – insbesondere die negativen – mit einem typischen Umgang mit Quellen im Unterricht kontextualisieren.
427 Vgl. Breidenstein: Teilnahme am Unterricht, v. a. S. 136 f.
232
Diskussion
10.1 Limitationen der Studie Dabei war es weder intendiert noch methodologisch möglich, individuellen Kompetenzerwerb zu rekonstruieren, sondern es lag im Interesse der Studie zu erforschen, inwiefern bestimmte Lehr-/Lernarrangements für Kompetenzerwerb Kontexte bilden können. Ebenso wenig ist es auf der Grundlage des Samples möglich, statistisch repräsentative Aussagen über die Quellennutzung im Geschichtsunterricht zu machen. Auch dies war jedoch von Vornherein nicht das Anliegen der Studie. Weiterhin erwies sich die Struktur des Samples als problematisch. So war es aufgrund der Homogenität des beobachteten Unterrichts und der mangelnden Vergleichshorizonte schwierig, zu Befunden zu gelangen, die über die sinngenetische oder phänomenologische Ebene hinausgehen.428 Dennoch war es möglich, den Umgang mit zentralen geschichtsdidaktischen Kategorien und Konzepten im Unterricht zu rekonstruieren und zu typisieren. Die Homogenität des Samples ist dabei schon für sich ein wichtiger Befund, der gerade nach einer Anpassung der Samplingstrategie im Sinne einer Fokussierung auf »best practice« dieser Form nicht zu erwarten war. Rückblickend hätten von Vornherein auch außerschulische Lernorte wie z. B. Gedenkstätten rekrutiert werden müssen. Hier hätte u. U. ein Umgang mit Quellen beobachtet werden können, der dichter an historischer Praxis, d. h. der Arbeit von Historikerinnen und Historikern eher entsprechenden Tätigkeiten, angesiedelt gewesen wäre. Gegen Ende der Erhebungsphase war eine erneute Anpassung der Samplingstrategie aus Zeitgründen jedoch nicht mehr möglich. Es ist darüber hinaus denkbar, dass sich auch die Vorgabe für die Lehrkräfte, alltäglichen Unterricht zu zeigen, nachteilig auf die Struktur des Samples auswirkte. »Alltäglich« implizierte möglicherweise lehrerzentrierten Unterricht und fragend-entwickelnde Gespräche. In diesem Sinne wäre es rückblickend sinnvoll gewesen, in den Vorgaben bereits handlungsorientierte oder kooperative Lehr-/Lernarrangements zu verankern. Dies hätte jedoch möglicherweise viele Lehrkräfte davon abgehalten, überhaupt an der Studie teilzunehmen. Offenbar ist kompetenzorientierter Geschichtsunterricht trotz des möglicherweise bereits zuvor praktizierten Methodenlernens kein »alter Wein in neuen Schläuchen«429. Kompetenzorientierung als Regelfall zu erwarten, wäre angesichts der bekannten Resistenz des Unterrichts gegenüber Veränderungen430 und der Tatsache, dass die curricularen Vorgaben für den beobachteten 428 Vgl. Kap. 6.7. 429 Franziska Conrad: »Alter Wein in neuen Schläuchen« oder »Paradigmenwechsel«? Von der Lernzielorientierung zu Kompetenzen und Standards. In: GWU 63 (2012), H. 5/6, S. 302 – 323. 430 Vgl. Breidenstein: Überlegungen zu einer Theorie des Unterrichts, S. 870.
Implikationen für den Umgang mit Quellen im Geschichtsunterricht
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Unterricht vergleichsweise jung waren, möglicherweise unrealistisch. Die Annahme, dass curriculare Vorgaben – selbst wenn sie als Teil eines Paradigmenwechsels angekündigt werden – sogleich umgesetzt werden, ist insofern vergleichbar mit der instruktivistischen Annahme einer direkten Vermittlung (historischen) Wissens: Es handelt sich in beiden Fällen um einen »Lehr-LernKurzschluss«431.
10.2 Implikationen für den Umgang mit Quellen im Geschichtsunterricht Da sich diese Arbeit als Beitrag zur Grundlagenforschung versteht, waren konkrete Vorschläge für die Förderung eines kompetenten Umgangs mit Quellen nur in grundsätzlicher Hinsicht zu erwarten. Prinzipiell könnte man argumentieren, dass es ohnehin nicht in den Aufgabenbereich empirischer Forschung fällt, ohne Umschweife verwendbare Handreichungen für die Praxis zu produzieren. Dennoch können an dieser Stelle einige grundsätzliche, auf der Grundlage der Befunde aber offenbar nicht selbstverständliche Vorschläge unterbreitet werden. Die Befunde deuten darauf hin, dass Quellen in der Tat als Quellen und nicht affirmativ im Sinne von Informationslieferanten genutzt werden sollten. Gerade in dieser Hinsicht könnte eine stärkere bzw. überhaupt eine Differenzierung zwischen Quellen und Darstellungen im Umgang mit historischen Materialien, auch im Sinne einer Bewusstmachung der Unterschiede zwischen Vergangenheit und Geschichte dabei helfen, die Grenzen historischer Erkenntnis aufzuzeigen und »Positivismusfallen« zu umschiffen. In diesem Zusammenhang muss die Forderung, grundlegende Einsichten der Disziplin im Unterricht so früh wie möglich zu thematisieren, wiederholt werden.432 Diese Befunde spezifizieren in gewisser Weise die Schlussfolgerungen von Gautschi, wonach die Schlüsselfaktoren für guten Geschichtsunterricht insbesondere Schülerorientierung und ansprechende Lernaufgaben sind.433 Wenn sich Schülerinnen und Schüler, wie es nicht erst seit der Kompetenzdebatte gefordert wird, ansatzweise wie Historikerinnen und Historiker mit den Zeugnissen vergangener Zeiten auseinandersetzen sollen, sind die erkenntnistheoretischen Grundlagen der Disziplin nicht nur optionales Beiwerk, sondern essentielle Grundlage jeder sinnvollen Beschäftigung mit Quellen und Geschichte: Wer nicht weiß, was eine Quelle zur 431 Holzkamp: Lernen. Subjektwissenschaftliche Grundlegung, vgl. Anm 288. 432 Vgl. Jerome Bruner : The Process of Education. Cambridge/London 2003, S. 3 – 17. 433 Vgl. Gautschi: Guter Geschichtsunterricht, S. 232. Gautschi nennt insgesamt 15 Gütekriterien, von denen sich sechs auf historisches Lernen beziehen.
234
Diskussion
Quelle macht, kann sie nicht kompetent nutzen. Ebenso wenig kann sich der eigentliche Sinn einer Quellenkritik erschließen, wenn von Vornherein klar und vorgegeben ist, welche Fragen die Quelle beantworten soll.434 Mit Blick auf die Befunde der Studie scheinen all diese Vorschläge jedoch unzureichend, wenn sie nicht im Rahmen von geeigneten Lehr-/Lernarrangements im Unterricht umgesetzt werden. Dafür, dass dies grundsätzlich möglich ist, spricht in diesem Zusammenhang, dass insbesondere bei fortgeschrittenen Schülerinnen und Schülern entsprechende grundlegende Vorstellungen u. U. vorhanden sind und abgefragt werden können. Damit sich dieses Wissen in tatsächlichen Handlungen aktivieren lässt, braucht es instruktionale Bedingungen, die die epistemologischen Zusammenhänge des Faches in den Vordergrund stellen.435 Die bedeutet nicht, dass im Geschichtsunterricht permanent auf die Unsicherheit historischer Aussagen verwiesen werden muss. Die Umsetzung moderater konstruktivistischer Vorgaben schließt nicht aus, dass über Vergangenes u. U. als »Wahrheit« oder »Wahrheiten« gesprochen wird. Nur muss dabei klar sein, auf welcher Grundlage historische Aussagen getätigt werden, und es müssen Möglichkeiten bestehen, Wahrheiten herauszufordern, zu hinterfragen und aktiv neu zu gestalten. Über die Vergangenheit als vergangene Realität zu sprechen und die Welt positivistisch anzugehen, ist also durchaus legitim bzw. unvermeidbar. Allerdings verbietet es sich in einem Geschichtsunterricht, der wissenschaftlich fundiert sein will, Quellen affirmativ als Informationslieferanten zu nutzen. Insofern ist diese Arbeit auch als ein Plädoyer für weniger, dafür aber fundierte Quellenarbeit zu verstehen, die die fachwissenschaftlichen Grundlagen stärker in den Vordergrund stellt und über reine Text- bzw. Bildarbeit hinausgeht. Wie die Bedingungen für einen solchen Umgang mit Quellen aussehen können, lässt sich hier nicht abschließend klären. Auf der Grundlage dieser Studie ist es dagegen einfacher zu resümieren, wie die Bedingungen nicht aussehen sollten: Wie in Kapitel 9.2 bereits angedeutet, scheint der weit verbreitete fragend-entwickelnde Unterricht dem Kompetenzerwerb abträglich, da es illusorisch erscheint, im Rahmen eines solchen Settings mittels einfacher sprachlicher Impulse eine derart komplexe Veranstaltung wie Geschichtsunterricht im Sinne des Kompetenzerwerbs zu lenken. Demgegenüber legt die Studie nahe, dass Unterricht, der es Schülerinnen und Schülern ermöglicht, einen kompetenten Umgang mit Quellen zu zeigen, nicht nur Instruktion, sondern auch 434 In dieser Hinsicht kann es nicht schaden, sich zu vergegenwärtigen, dass Kompetenzorientierung (im Gegensatz zur Lernzielorientierung) im Kern auf die Grundprinzipien des jeweiligen Fachs – und dabei im Besonderen auf die epistemologischen Grundlagen – abzielt. Vgl. Klieme u. a.: Zur Entwicklung nationaler Bildungsstandards, S. 24. 435 Vgl. Martens: Implizites Wissen und kompetentes Handeln, S. 339.
Implikationen für den Umgang mit Quellen im Geschichtsunterricht
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Konstruktion erfordert. Geschichtsunterricht müsste daher systematisch praxisnahe und anwendungsorientierte Lernumgebungen schaffen, in denen Schülerinnen und Schüler kompetentes Verhalten zeigen können. Ein solcher Unterricht liegt letztlich auch im Interesse der Lehrkräfte, denen ein »Sichtbarmachen« historischer Kompetenzen auch bei der Leistungsbewertung entgegen kommen müsste. Es ist allerdings fraglich, inwieweit Geschichtsunterricht an Regelschulen vor dem Hintergrund geringerer Stundenzahlen, G8-Abitur, dem nach wie vor bestehenden chronologischen Durchgang und der immer wieder bemängelten Stoff- und Themenfülle Kompetenzorientierung konsequent implementieren kann. Arbeitsformen, die historischen Tätigkeiten ähneln, könnten z. B. in Form von Projektarbeiten realisiert werden. Grundsätzlich müssten jedoch Arrangements, die die eine richtige Antwort – die der Lehrer bereits weiß – suggerieren, durch solche ersetzt werden, die einen konstruktiven Umgang mit der Unsicherheit, die dem Fach Geschichte eigen ist, ermöglichen.436 Wenngleich sich insbesondere der Diskussionsteil dieser Arbeit kritisch mit dem Verhalten der Lehrkräfte auseinandersetzt, sollte angemerkt werden, dass es sich bei habitualisierter Praxis – und genau dies ist offensichtlich der gymnasiale fragend-entwickelnde Unterricht – um etwas handelt, das sich kurzfristigen, möglicherweise als von »oben« angemahnt wahrgenommenen Veränderungen entziehen muss. Unterrichtspraxis ist enorm hartnäckig und reproduziert sich Tag für Tag, Schulstunde für Schulstunde. Kompetenzorientierung bringt keine Veränderung, wenn sie lediglich im Sinne eines Lehrgangs verstanden und vermittelt wird. Fortbildungen oder auch Interventionsstudien, die darauf setzen, durch kurzfristige Schulungen über Jahre berufspraktischer Sozialisation erworbenes implizites Wissen zu ändern, sind zum Scheitern verurteilt.437 Insofern wird konkretes Handeln von Lehrkräften zwar nicht aus der Verantwortung genommen; es werden jedoch die strukturellen Zwänge der Berufspraxis und des Berufshabitus erkennbar, denen sich die Akteure nicht entziehen können. Es fällt dennoch in den genuinen Aufgabenbereich einer Fachdidaktik, schlechten Unterricht als solchen zu bezeichnen und konstruktive 436 Zur Unsicherheit und der Rolle der Lehrenden siehe Peter Seixas: Beyond ›Content‹ and ›Pedagogy‹: in Search of a Way to Talk about History Education. In: Curriculum Studies 31 (1999), H. 3, S. 317 – 337, S. 322. 437 Vgl. Monika Waldis/Corinne Wyss/Jan Hodel: Kompetenzförderung im Geschichtsunterricht. Wirksamkeit einer Lehrerweiterbildung mit Unterrichtsvideos. In: Jan Hodel/ B¦atrice Ziegler (Hrsg.): Forschungswerkstatt Geschichtsdidaktik 09. Beiträge zur Tagung »geschichtsdidaktik empirisch 09«, Bern 2011, S. 93 – 105. Demnach brachte eine halbjährige Fortbildung mit Videounterstützung – bestehend aus fünf Sitzungen – bei den acht Teilnehmern keine messbaren Effekte.
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Diskussion
Kritik zu formulieren. Dies gelingt am ehesten mit Hilfe von positiven – und idealerweise empirischen – Beispielen, die belegen können, was in der Unterrichtspraxis möglich ist. Solche waren im Rahmen des Samples zwar rar, aber es gab sie.
10.3 Implikationen für weitere (Kompetenz-)Forschung Abschließend sollen einige Aspekte hervorgehoben werden, die als Ausblick und Ermutigung für die Durchführung weiterer (empirischer) Forschung dienen können. Um empirisch zu rekonstruieren, wie Schülerinnen und Schüler mit Quellen umgehen und ausgehend davon bestehende Kompetenzmodelle zu ergänzen, scheint es nötig, Quellenarbeit über den schulischen Kontext hinaus zu beobachten. Dies war im Rahmen dieser Studie nicht möglich, würde aber mit einiger Sicherheit zu Ergebnissen führen, die spezifischere Vorschläge für kompetenzfördernde Lehr-/Lernarrangements erlauben. Solche weitergehenden Befunde könnten zudem zu einer Präzisierung der Kompetenzmodelle führen und beispielsweise den Zusammenhang zwischen den verschiedenen Kompetenzen – z. B. das Zusammenspiel zwischen Perspektivenübernahme und epistemologischen Konzepten – und deren Graduierung beleuchten. Dies wiederum könnte zu einer präziseren Kompetenzmodellierung beitragen und damit eine Grundlage für valide Kompetenzmessungen schaffen. Des Weiteren rückt im Licht der Befunde der Arbeit der Aspekt der Lehrerforschung in den Vordergrund. In dieser Hinsicht ist die Kluft zwischen Wissen und Handeln bei Berufstätigen kein spezifisches Phänomen der Geschichtsdidaktik, des Geschichtsunterrichts oder der Institution Schule, sondern stellt vielmehr ein für verschiedenste Berufsgruppen relevantes Phänomen des Berufseintritts und der damit verbundenen Sozialisation dar.438 Diese Arbeit legt allerdings nahe, dass die beschriebene Inkongruenz einen Kontext für fachspezifische Phänomene bildet und insofern auch gesondert untersucht werden sollte. In diesem Zusammenhang könnte es sinnvoll sein, Professionalisierungsprozesse von Lehramtsstudierenden über Studium, Referendariat und Berufseintritt zu begleiten und zu untersuchen, wann und inwiefern Expertenwissen auf die Berufswirklichkeit bezogen wird.439 Vor dem Hintergrund, dass 438 Siehe z. B. Juliane Felber : Der Berufseinstieg von ÄrztInnen als normatives kritisches Lebensereignis. Eine Längsschnittuntersuchung. Dissertation. Potsdam 2011 sowie Jens Ambrasat/Martin Groß/Jakob Tesch/Bernd Wegener : Determinanten beruflicher Karrieren unter den Bedingungen flexibilisierter Arbeitsmärkte. Eine Untersuchung des Berufseinstiegs von Hochschulabsolventen und -absolventinnen. Düsseldorf 2011. 439 Zum Thema Lehrerbildung in der Bildungsforschung siehe: Annegret Hilligus/Hans-Dieter Rinkens: Standards und Kompetenzen – neue Qualität in der Lehrerausbildung? Neue
Ausblick
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Expertenwissen zum Umgang mit Quellen handlungstheoretisch im Unterricht offenbar nur bedingt anschlussfähig ist, könnten solche Untersuchungen somit wichtige Anhaltspunkte liefern.
10.4 Ausblick Bodo von Borries hat vor knapp 20 Jahren die Frage gestellt, ob sich die Geschichtsdidaktik angesichts ernüchternder empirischer Befunde nicht mit dem Erreichten zufriedengeben und sich stattdessen darauf konzentrieren sollte, »die normative und intellektuelle Überfrachtung des Faches Geschichte abzubauen«440. Die Kompetenzdebatte der letzten Jahre hatte das Potenzial, die Frage nach den grundsätzlichen Bildungszielen und damit letztlich die unliebsame Frage der Legitimation des Fachs Geschichte neu zu verhandeln und neu zu beantworten. Dennoch liegt eine schlüssige Systematisierung historischen Lernens, die sowohl theoretisch fundiert als auch handlungstheoretisch anschlussfähig an schulische Praxis ist, nach wie vor in weiter Ferne. Es gehört so auch zu den Aufgaben weiterer empirischer Kompetenzforschung, die paradoxe Situation, dass es zwar einen breiten Konsens über die geschichtstheoretischen Grundlagen gibt, aber nicht klar ist, was in der Schule gelernt werden soll, zu überwinden.
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12. Anhang
12.1 Überblick über das Sample
Erster Weltkrieg Erster Weltkrieg Erster Weltkrieg Erster Weltkrieg Erster Weltkrieg Ausrufung der Republik Ausrufung der Republik Versailler Vertrag
Müller
Müller
Müller
Müller
Müller
Müller
Müller
Müller
Wagner
Wagner
Wagner
Weber
Weber
Weber
2009 – 11 – 06 10 (G)
2009 – 11 – 06 10 (G)
2009 – 11 – 06 10 (G)
2009 – 11 – 06 10 (G)
2009 – 11 – 09 10 (G)
2009 – 11 – 16 10 (G)
2009 – 11 – 16 10 (G)
2009 – 11 – 20 10 (G)
2009 – 11 – 27 10 (G)
2009 – 11 – 27 10 (G)
2009 – 12 – 02 10 (G)
2009 – 12 – 09 10 (G)
2009 – 12 – 09 10 (G)
2009 – 12 – 09 10 (G)
Beginn des Kalten Krieges Beginn des Kalten Krieges Beginn des Kalten Krieges
Flucht und Vertreibung Flucht und Vertreibung Entnazifizierung
Thema
Klasse
Lehrkraft
Datum
Truman-Rede zur Containment-Politik
Truman-Rede zur Containment-Politik
Gesetzestext zur Entnazifizierung in der amerikanischen Zone Karrikaturen zum Konflikt in Griechenland
verschiedene Textquellen
Zeitzeugen im Film als »mündliche Quellen«
Rede Philip Scheidemanns (Tonaufnahme und Kopie) sowie die Einleitung dazu; Rede Karl Liebknechts Artikel aus dem Versailler Vertrag
Liedtexte über Wilhelm II.
verschiedene Text- und Bildquellen
4 Fotografien: Kriegsgreuel
Feldpostbriefe
Ernst Jünger : »In Stahlgewittern« (Auszug)
Bild: »Ausflug nach Paris«
Quelle(n)
Gruppenarbeit, Präsentation/Simulation
Partnerarbeit
Partnerarbeit, Unterrichtsgespräch Unterrichtsgespräch
Unterrichtsgespräch
Gruppenarbeit, Präsentation Unterrichtsgespräch
Einzelarbeit, Unterrichtsgespräch
Gruppenarbeit, Präsentation Unterrichtsgespräch
Unterrichtsgespräch
Einzelarbeit, Unterrichtsgespräch Unterrichtsgespräch
Unterrichtsgespräch
Sozialform
254 Anhang
NS
NS
NS
NS
Russland
Russland
Russland
Russland
Russland
Russland
Russland
Weber
Schmidt
Schmidt
Schmidt
Schmidt
Schmidt
Weber
Weber
Weber
Meier
Meier
Meier
Meier
2010 – 02 – 03 10 (Ges.) 2010 – 02 – 03 10 (Ges.) 2010 – 02 – 04 10 (Ges.) 2010 – 02 – 17 10 (Ges.) 2010 – 02 – 17 10 (Ges.) 2010 – 03 – 15 12, LK (G) 2010 – 03 – 18 12, LK (G) 2010 – 04 – 08 12, LK (G) 2010 – 04 – 26 12, LK (G) 2010 – 04 – 26 12, LK (G) 2010 – 04 – 29 12, LK (G) 2010 – 04 – 29 12, LK (G)
Weber
2009 – 12 – 16 10 (G)
2009 – 12 – 16 10 (G)
Weber
2009 – 12 – 16 10 (G)
Beginn des Kalten Krieges Beginn des Kalten Krieges Beginn des Kalten Krieges Beginn des Kalten Krieges NS
Weber
2009 – 12 – 16 10 (G)
verschiedene Textquellen
englische Stalin-Karrikatur
verschiedene Textquellen
verschiedene Fotografien
2 Textquellen
Gruppenarbeit
Partnerarbeit, Unterrichtsgespräch Einzelarbeit, Unterrichtsgespräch Unterrichtsgespräch
Gruppenarbeit, Unterrichtsgespräch Unterrichtsgespräch, Partnerarbeit Gruppenarbeit, Präsentation Partnerarbeit
4 Zeitungsartikel (Ausschnitte) über dieselbe Hitlerrede Lenins Aprilthesen verschiedene Textquellen
Unterrichtsgespräch
Präsentation
Partnerarbeit, Unterrichtsgespräch Partnerarbeit, Unterrichtsgespräch Gruppenarbeit, Präsentation Lehrervortrag, Unterrichtsgespräch Gruppenarbeit
Unterrichtsgespräch
Bildquelle: »Legal«
verschiedene Textquellen
verschiedene Textquellen
Ausschnitte aus den Beschlüssen der Potsdamer Konferenz Wahlplakate von 1932: NSDAP und KPD
Streitgespräch zwischen Truman und Stalin
Verlautbarungen des Kommunistischen Informationsbüros verschiedene Textquellen
Anhang
255
DDR
DDR
DDR
DDR
DDR
DDR
DDR
DDR
DDR
DDR
Schulz
Schulz
Schulz
Schulz
Schulz
Schulz
Schulz
Schulz
Schulz
Schulz
DDR
DDR
Schulz
Schulz
DDR
Schulz
2010 – 11 – 11 12, LK (G)
DDR
Schulz
2010 – 11 – 01 12, LK (G) 2010 – 11 – 02 11, LK (G) 2010 – 11 – 02 11, LK (G) 2010 – 11 – 04 12, LK (G) 2010 – 11 – 04 12, LK (G) 2010 – 11 – 04 12, LK (G) 2010 – 11 – 05 11, LK (G) 2010 – 11 – 05 11, LK (G) 2010 – 11 – 05 11, LK (G) 2010 – 11 – 05 11, LK (G) 2010 – 11 – 05 11, LK (G) 2010 – 11 – 09 11, LK (G) 2010 – 11 – 09 11, LK (G)
DDR
Schulz
2010 – 11 – 01 12, LK (G)
Unterrichtsgespräch
Simulation
Gruppenarbeit
Präsentation, moderiertes Gespräch Stilllarbeit
Unterrichtsgespräch
Simulation
Präsentation, moderiertes Gespräch Gruppenarbeit
Einzelarbeit Zwei Text-»quellen«: Auszug aus internem Stasibericht (1968) und Historikertext zum Ende der DDR und Bewertung der Stasi (1993) unterschiedliche Wappen der Stasi Unterrichtsgespräch
Lied: Wolf Biermann: »Ermutigung« von (von CD abgespielt) Textquellen zur Biermann-Ausweisung: Stasi-Akte und ADN Meldung Textquelle zum Protest gegen BiermannAusbürgerung Erklärung gegen Biermann-Ausbürgerung von Roland Jahn Textquelle zum Protest gegen BiermannAusbürgerung unterschiedliche Wappen der Stasi
Gruppenarbeit
Textquellen zur Biermann-Ausbürgerung: StasiAkte und ADN-Meldung Lied: Wolf Biermann: »Warte nicht auf bess’re Zeiten« (abgespielt von CD) Textquellen zur Biermann-Ausweisung: Stasi-Akte und ADN-Meldung Textquellen zur Biermann-Ausweisung: Stasi-Akte und ADN-Meldung Textquelle: Erklärung gegen BiermannAusbürgerung von Roland Jahn s.o.
Einzelarbeit, Unterrichtsgespräch Gruppenarbeit
Einzelarbeit, Unterrichtsgespräch
Lied: Wolf Biermann: »Warte nicht auf bess’re Zeiten« (in Textform, rezitiert)
256 Anhang
Schneider
Schneider
Schneider
2011 – 01 – 25 9 (G)
2011 – 01 – 25 9 (G)
Aussagen Paul von Hindenburgs vor parlamentarischem Ausschuss Hindenburg-Telegramme DNVP-Plakat mit Dolchstoßmotiv
Dolchstoßlegende
Dolchstoßlegende
Dolchstoßlegende
DDR
Partnerarbeit, Unterrichtsgespräch Stillarbeit, Unterrichtsgespräch Unterrichtsgespräch
Einzelarbeit Zwei Text- »quellen«: Auszug aus internem Stasibericht (1968) und Historikertext zum Ende der DDR und Bewertung der Stasi (1993) Voss Antike, Solons erfundene Textquelle: Selbstzeugnis eines Bauern Zeitreise Reformen aus Athen (»Harmodios«) Voss Antike, Solons s.o. Gruppenarbeit, Reformen Präsentation Voss Antike, Peisistratos Aristoteles über Peisistratos Einzelarbeit, Unterrichtsgespräch Fischer Antike: Rom Livius: Ab urbe condita (Auszug) Einzelarbeit, Unterrichtsgespräch Hoffmann NS lokalgeschichtlich Ortschild in der Nähe von Neustadt (»Dieser Ort ist Unterrichtsgespräch judenfrei.«) Hoffmann NS lokalgeschichtlich Artikel aus dem Neustädter Anzeiger und ein Brief Gruppenarbeit, Unterrichtsgespräch (Kopie des Originals und abgetippt; letzteres mit Lücken) Fischer Antike: Rom Diodor : Historia (Auszug) Einzelarbeit, Unterrichtsgespräch Hoffmann NS lokalgeschichtlich verschiedene Text- und Bildquellen Gruppenarbeit, Unterrichtsgespräch Schneider USA am Ende des Werbeplakat für »liberty bonds« Unterrichtsgespräch Ersten Weltkriegs Schneider USA am Ende des 3 Textquellen: 2 Wilson-Reden vor dem Senat, 14 Partnerarbeit, Ersten Weltkriegs Punkte-Programm Unterrichtsgespräch Schneider Dolchstoßlegende Tagebucheintrag von Albrecht von Thaer Unterrichtsgespräch
Schulz
2011 – 01 – 25 9 (G)
2011 – 01 – 25 9 (G)
2011 – 01 – 18 9 (G)
2011 – 01 – 18 9 (G)
2010 – 12 – 17 10 (G)
2010 – 12 – 13 6 (G)
2010 – 12 – 10 10 (G)
2010 – 12 – 10 10 (G)
2010 – 12 – 06 6 (G)
2010 – 11 – 19 6 (G)
2010 – 11 – 12 6 (G)
2010 – 11 – 12 6 (G)
2010 – 11 – 11 12, LK (G)
Anhang
257
»Entdeckungen«
»Entdeckungen«
»Entdeckungen«
»Entdeckungen«
»Entdeckungen«
USA/Immigration
Becker
Becker
Becker
Becker
Becker
Becker
2011 – 06 – 17 11, LK (Ges.) 2011 – 06 – 22 11, LK (Ges.) 2011 – 06 – 22 11, LK (Ges.) 2011 – 06 – 29 11, LK (Ges.) 2011 – 06 – 29 11, LK (Ges.) 2011 – 09 – 09 11, LK (Ges.)
Revolution 1918
Schneider
2011 – 02 – 08 9 (G)
diverse Materialien (»Primär«- und »Sekundärquellen«) diverse Materialien (»Primär«- und »Sekundärquellen«) diverse
Requerimiento
Requerimiento
verschiedene Text- und Bildquellen, teils auf Arbeitsblatt, teils im Schulbuch Requerimiento
Projektarbeit
Präsentation
Rollenspiel/ Podiumsdiskussion Gruppenarbeit
Gruppenarbeit
Stillarbeit, Partnerarbeit, Unterrichtsgespräch Gruppenarbeit
258 Anhang
Glossar zur dokumentarischen Unterrichtsforschung
259
12.2 Glossar zur dokumentarischen Unterrichtsforschung An dieser Stelle sollen einige erklärungsbedürftige Begriffe aus dem Vokabular der dokumentarischen Unterrichtsforschung erläutert werden. Die meisten der Termini stammen aus der Methodologie der dokumentarischen Methode nach Bohnsack und wurden ggf. dem Gegenstand dieser und vergleichbarer Studien angepasst.441 Immanenter Sinn und Dokumentsinn Beim immanenten Sinn handelt es sich um den wörtlich gefassten, mehr oder weniger direkt zugänglichen Sinn einer Äußerung oder beispielsweise auch einer Quelle. Er wird bei der formulierenden Interpretation zusammengefasst und ggf. in die Sprache des Forschenden übersetzt. Der Dokumentsinn hingegen bezeichnet eine tiefer liegende Sinnschicht, die sich über die Rekonstruktion bestimmter formaler Merkmale der Interaktion erschließen lässt und einen Zugang zum Habitus einer Gruppe bietet. Der nächste Schritt dazu ist die Reflektierende Interpretation. Interaktion Im Rahmen dieser Arbeit wird der Begriff »Interaktion« anstelle des im Rahmen der dokumentarischen Methode sonst üblichen Begriffs »Diskurs« verwendet. Der Diskurs-Begriff bezieht sich gemeinhin auf die Art und Organisation der verbalen Kommunikation, d. h. z. B. darauf, wie die Teilnehmerinnen und Teilnehmer einer Gruppendiskussion verbal aufeinander Bezug nehmen. Da Unterricht nicht nur einen Akt verbaler Kommunikation darstellt, sondern auch nonverbale Kommunikation (Nicken, Kopfschütteln, Melden, Aufrufen etc.) und die Bezugnahme auf Dinge (Tafel, Schulbuch etc.) beinhaltet, ist von »Interaktion(en)« die Rede. Grundsätzlich sind die Begriffe jedoch austauschbar, d. h. die Diskursanalyse im Rahmen der Interpretation einer Gruppendiskussion hat dieselbe Funktion wie die Interaktionsanalyse bei der Interpretation einer Unterrichtssequenz. Es geht in beiden Fällen darum, möglichst systematisch und nachvollziehbar zu beschreiben, wie Menschen (und Dinge) miteinander interagieren und aufeinander Bezug nehmen. Es folgen nun die Begrifflichkeiten, die dabei verwendet werden.
441 Die hier aufgelisteten Definitionen beruhen auf: Aglaja Przyborski: Gesprächsanalyse und dokumentarische Methode; Peter Loos/Burkhard Schäffer : Das Gruppendiskussionsverfahren. Theoretische Grundlagen und empirische Anwendung. Opladen 2001 und Ralf Bohnsack: Rekonstruktive Sozialforschung. Einführung in qualitative Methoden. 7. Aufl. Opladen 2008. Zum Umgang mit den Dingen siehe zudem Latour: Zirkulierende Referenz.
260
Anhang
Proposition Bei einer Proposition handelt es sich um eine Stellungnahme zu einem Thema, in der eine Orientierung zum Ausdruck kommt. Sie liegt meist in impliziter Form vor, d. h. es lässt sich erst im Verlauf der Interaktion bestimmen, ob eine Proposition vorliegt bzw. worin die Orientierung besteht. In der Regel fallen Propositionen mit dem Beginn eines neuen Themas zusammen. Im Gegensatz zum Begriff »Thema«, der sich auf den allgemein zugänglichen kommunikativen Sinn von Äußerungen bezieht, beschreibt der Begriff Proposition den Dokumentsinn, der sich nur interpretativ, d. h. insbesondere am Verlauf der Interaktion rekonstruieren lässt. Propositionen gehen nicht unbedingt nur von Schülerinnen und Schülern oder Lehrkräften aus. So lässt sich der Umstand, dass der immanente Sinngehalt einer Quelle im Unterrichtsgespräch wiedergegeben wird, interaktionsanalytisch fassen, indem man die Quelle (als »Ding«) als Interaktionsteilnehmer interpretiert, deren Proposition elaboriert wird. Konklusion vs. rituelle Konklusion, Themenverschiebungen Hier handelt es sich um den Gegenbegriff zur Proposition, denn Konklusionen beenden die Behandlung eines Themas. Bei einer »echten« Konklusion kommt am Ende der Behandlung eines Themas eine Orientierung zum Ausdruck, die zuvor entfaltet wurde. Während Konklusionen ein Thema konsensuell, zusammenfassend und das Ergebnis sichernd beenden, provozieren rituelle Konklusionen Themenverschiebungen: Die Teilnehmerinnen und Teilnehmer der Interaktion können die Widersprüchlichkeit ihrer Orientierungen nicht überwinden und rücken ein nebensächliches, aber konsensfähiges Thema – z. B. das Wetter – in den Vordergrund. Enaktierung Eine Enaktierung ist die Umsetzung einer Orientierung in eine konkrete Alltagshandlung. Während sich der Begriff »Konklusion« auf die verbale bzw. sprachliche Beendigung eines Themas bezieht, liegt eine Enaktierung dann vor, wenn ein Thema mit einer Handlung – also performativ und nicht (nur) verbal – beendet wird. Enaktierungen können verbal dominierte Interaktionen anstelle einer (sprachlichen) Konklusion beenden, aber auch parallel zu ihnen auftreten, z. B. wenn sich eine Gruppe auf eine bestimmte Formulierung einigt (Konklusion), die dann von einer Schülerin aufgeschrieben wird (Enaktierung). Im Einzelfall ist zu prüfen, inwiefern sich Konklusion und Enaktierung ggf. auf unterschiedliche Ebenen der Interaktion beziehen.442
442 Zu den unterschiedlichen Interaktionsebenen siehe Kap. 6.4.2.
Glossar zur dokumentarischen Unterrichtsforschung
261
Elaboration, Antithese und Opposition Elaborationen finden sich zwischen Propositionen und Konklusionen bzw. Enaktierungen und können unterschiedliche Formen annehmen. Propositionen werden von den Interagierenden ausgearbeitet, indem z. B. Argumente vorgebracht, Beispiele geschildert oder einzelnen Aspekte präzisiert werden (»Differenzierung«). Dabei wird der Orientierungsgehalt der Proposition dargelegt, bearbeitet und verfeinert. Regt sich als Reaktion auf die Proposition Widerspruch, so handelt es sich dabei entweder um eine Antithesen oder eine Opposition.443 Der Unterschied besteht darin, dass im Fall von Oppositionen kein gemeinsamer Orientierungsrahmen vorliegt und das Thema rituell konkludiert wird. Antithesen hingegen werden im Rahmen einer Synthese konkludiert. Worum es sich jeweils handelt, ergibt sich ausschließlich aus dem Zusammenhang bzw. muss am Verlauf der Interaktion rekonstruiert werden. Validierung und Ratifizierung Wird ein propositionaler Gehalt verbal oder nonverbal bestätigt – z. B. in Form eines Nickens oder eines »ja« – handelt es sich meist um eine Validierung. Validierungen sind oft Teil von Elaborationen wie auch von Konklusionen und werden in diesen Fällen bei der Analyse meist nicht extra aufgelistet. Ratifizierungen sind ebenfalls Bestätigungen. Jedoch ist bei ihnen nicht erkennbar, ob nur der Sinngehalt verstanden wurde oder der Sinngehalt auch unterstützt wird. Orientierung und konjunktiver Erfahrungsraum Als Orientierungen werden Teile des impliziten und weitestgehend atheoretischen Wissens von Akteuren bezeichnet. Es handelt sich um grundlegende handlungsleitende Vorstellungen, die (im Gegensatz zum theoretischen oder kommunikativen Wissen) nicht unbedingt verbalisiert werden. Der »Ort« der Enstehung von Orientierungen ist der sogenannte konjunktive Erfahrungsraum. Dieser konstituiert sich z. B. durch eine gemeinsame Handlungspraxis der Akteure, durch ähnliche kollektive Erfahrungen, Sozialisation oder generationelle Zugehörigkeit. Orientierungsrahmen/Rahmung und Fremdrahmung Als »Rahmen« oder »Orientierungsrahmen« werden die meist unbewussten Orientierungsmuster des Einzelnen oder einer Gruppe bezeichnet, die sich z. B. in Themen manifestieren. Wird der Rahmen nicht von allen Interaktionsteilnehmern geteilt, kommt es zu Rahmeninkongruenzen, an denen die Grenzen der 443 Wenn in einem Streit nicht die Orientierung(en) der Anwesenden verhandelt werden, sondern es um Fakten geht – z. B. um die Bedeutung eines Wortes – kann es sich auch um einen sog. Faktendisput handeln.
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Anhang
jeweiligen Orientierungen erkennbar werden. Solche Inkongruenzen können offen zutage treten – in oppositionellen Diskursen – oder verdeckt bleiben. Im letzteren Fall kommt es zu Fremdrahmungen, d. h. Äußerungen eines Akteurs werden von einem anderen vereinnahmt und in dessen Rahmen verpflanzt. Beide reden aneinander vorbei. Bezugnahme auf bzw. Umgang mit Dingen Im Unterricht interagieren nicht nur Menschen miteinander, sondern seine Teilnehmerinnen und Teilnehmer greifen auch auf bestimmte Dinge zurück, die ihrerseits als Teilnehmer der Interaktion in den Interpretationen dieser Studie beachtet werden – z. B. Folien, Tafel, Schulbücher etc. Der Terminologie Bruno Latours folgend werden Dinge von Menschen »rekrutiert«, die an sie bestimmte Funktionen oder Tätigkeiten »delegieren«. Beispielsweise kann ein Lehrer die Funktion der Ergebnissicherung an die Tafel delegieren oder Fotokopien von OHP-Folien dazu nutzen, um bestimmtes auf ihnen enthaltenes Wissen zu konservieren. Für die Zeit der Rekrutierung sind Mensch und Ding »assoziiert«, z. B. so lange eine Schülergruppe während einer Präsentation auf die Powerpointfolie Bezug nimmt. Arten der Interaktionsorganisation Interaktionsverläufe lassen sich anhand ihrer Merkmale kategorisieren. Bei einer antithetischen Interaktion wechseln Proposition (These) und Antithese, aber die Interaktion bewegt sich auf eine Synthese oder eine Konklusion zu, in der die von allen geteilten konjunktiven Wissensbestände auf den Punkt gebracht werden und die Orientierung präzisiert wird. Im Gegensatz dazu liegen bei oppositionellen Diskursen sogenannte Rahmeninkongruenzen vor, d. h. Widerspüche sind Ausdruck unterschiedlicher, nicht miteinander vereinbarer Orientierungen. Oppositionelle Interaktionen werden durch rituelle Konklusionen beendet bzw. abgebrochen. Demgegenüber sind divergente Interaktionen solche, in denen die vorhandenen Rahmeninkongruenzen nicht offenkundig werden. Dabei werden oft Themen aufgegriffen und in den jeweils anderen Orientierungsrahmen gesetzt: Man redet aneinander vorbei. Dabei wird oft Zustimmung signalisiert, es handelt sich aber typischerweise um rituelle Konklusionen.
Unterrichtsmaterialien und -produkte
263
12.3 Transkriptionssystem444 Zeichen ?m ?f Me L
Bedeutung unbekannter männlicher Sprecher unbekannte weibliche Sprecherin mehrere Sprecher(innen) Lehrerin oder Lehrer L Beginn einer Überlappung oder direkter Anschluss beim Sprecherwechsel (.) kurzes Absetzen, Pause bis zu einer Sekunde (3) Pause, länger als eine Sekunde mit Angabe der Dauer in Sekunden laut laut in Relation zur üblichen Lautstärke des Sprechers 8leise8 leise in Relation zur üblichen Lautstärke des Sprechers betont Betonung abgebrAbbruch eines Wortes @witzig@ lachend gesprochene Äußerung @(.)@ kurzes Auflachen @(3)@ längeres Lachen mit Angabe der Dauer in Sekunden (vielleicht) Unsicherheit bei der Transkription () Unverständliche Äußerung, die Länge der Klammer entspricht etwa der Dauer ((hustet)) parasprachliche, nichtverbale oder gesprächsexterne Ereignisse, Hörsignale der //mhm// Lehrerin bzw. des Lehrers, die während einer andere Äußerung erfolgen oh=nee mehrere Worte, die wie eins gesprochen werden nei:n, ja::: Dehnung von Lauten, die Häufigkeit der Doppelpunkte entspricht etwa der Länge der Dehnung . stark sinkende Intonation ; schwach sinkende Intonation , schwach steigende Intonation ? deutliche Frageintonation
12.4 Unterrichtsmaterialien und -produkte An dieser Stelle finden sich die im Unterricht verwendeten Quellen sowie weitere Materialien und Unterrichtsprodukte. Diejenigen Quellen, deren Perspektive bzw. Inhalte von den Schülerinnen und Schülern aufgegriffen und elaboriert werden, sind zusätzlich mit Interpretationen versehen. In manchen Fällen beziehen sich diese Anmerkungen nicht nur auf die Quelle als solche, sondern auf die Zusammenstellung und deren Eigenlogik, z. B. im Rahmen ihrer Inszenierung im Schulbuch. Des Weiteren finden sich an dieser Stelle Tafelbilder (bzw. Abschriften davon), sofern sich diese für die Interpretation der jeweiligen Sequenz als relevant erwiesen haben.
444 In Anlehnung an Bohnsack: Rekonstruktive Sozialforschung, S. 235.
264 2009 – 11 – 06: Auszüge aus Ernst Jünger »In Stahlgewittern«
Abb. 1: Arbeitsblatt (Kopie, Name der Lehrkraft geschwärzt)
Anhang
Unterrichtsmaterialien und -produkte
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Anmerkungen445 Der Roman »In Stahlgewittern« von Ernst Jünger wurde 1920 erstmals veröffentlicht. Er basiert auf Tagebuchaufzeichnungen des Autors, die während des Ersten Weltkriegs entstanden. Jünger war als Freiwilliger 1914, im Alter von 19 Jahren, in den Kriegsdienst eingetreten und wurde im Verlauf des Krieges an verschiedenen Orten der Westfront eingesetzt. Er machte Karriere beim Militär und wurde für seine Tapferkeit unter anderem mit dem höchsten preußischen Hausorden, dem Pour le M¦rite, ausgezeichnet. Sein Roman beschäftigt sich mit dem Frontalltag eines Soldaten, der in poetischer Sprache beschrieben wird. Aufgrund der Radikalität seines Frühwerks, zu dem auch »In Stahlgewittern« gehört, wird Jünger mindestens am rechten Rand des reaktionären Spektrums, wenn nicht als Wegbereiter des nationalsozialistischen Gedankenguts gesehen.446 Der vorliegende Ausschnitt behandelt eine Schlacht vom 21. März 1918 westlich von Cambrai. Diese Schlacht war Teil der letzten großen Offensive des deutschen Heeres.447 In Jüngers Schilderungen erscheint der Krieg wie eine Naturgewalt, deren Toben unaufhaltsam ist. Kritik am Krieg übt er nicht. Selbst das Sterben anderer Soldaten löst positive Gefühle von Zuneigung und Kameradschaft aus. Die Grausamkeit der zerstörerischen Waffen wird bei ihm nicht deutlich. Den Tod des jungen Soldaten (s. o.) stilisiert er zu einem friedlichen Entschlafen. Mit Gelassenheit weicht er einschlagenden Gewehrgranaten aus. Insgesamt erscheint die Darstellung des Krieges in diesem Auszug geschönt. Damit fügt sie sich in das Propagandakonzept des Deutschen Reichs ein, wenngleich der Roman erst Jahre später veröffentlicht wurde. Genaue Aussagen über die Einstellung Jüngers zum Krieg oder zu seinen Erfahrungen sind auf der Grundlage des Ausschnitts nicht möglich. Die vorliegende Quelle ist nicht nur ein Auszug, sondern zudem auch im Mittelteil gekürzt wurden. Zudem fehlt der Anfang des Tagebucheintrages, welcher Datum und den Ort der Ereignisse angibt. Der Auszug vermittelt daher einen ästhetisierenden Eindruck eines Krieges, der einer Naturgewalt gleich den Menschen unausweichlich in seinen Bann zieht. Als Quelle über das Kriegsgeschehen als solches ist er insofern nicht brauchbar, sondern vielmehr als Zeugnis einer literarisch-ästhetisierenden Verarbeitung der Geschehnisse und einer damit verbundenen Weltsicht.
445 Die folgenden Anmerkungen stammen von Melanie Hacker. 446 Wolfgang Benz/Hermann Graml/Hermann Weiß (Hrsg.): Enzyklopädie des Nationalsozialismus. 5. aktual. und erw. Aufl. Stuttgart 2007, S. 932. Vgl. Daniel Morat: Von der Tat zur Gelassenheit. Göttingen 2007, S. 291. 447 Vgl. Brigitte Hamann: Der Erste Weltkrieg. Wahrheit und Lüge in Bildern und Text. München und Zürich 2004, S. 166.
266
Anhang
2009 – 11 – 06: Feldpostbriefe aus dem Ersten Weltkrieg
Abb. 2: Arbeitsblatt (Scan einer Fotokopie, Name der Lehrkraft geschwärzt)
Anmerkungen448 Den Kontext für Text 2 bildet die für die Alliierten desolate Kriegslage des Frühjahrs 1917, das trotz des US-amerikanischen Kriegseintritts durch hohe Verluste, schlechte medizinische Versorgung und Lebensmittelmangel gekennzeichnet war.449 Vor diesem Hintergrund berichtet der Infanterist Maurice Drans 448 Die folgenden Anmerkungen stammen von Melanie Hacker. 449 Vgl. Hamann: Der Erste Weltkrieg, S. 128.
Unterrichtsmaterialien und -produkte
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seiner Frau von seinen Erlebnissen an der Westfront. Das Grauen des Krieges beschreibt er mit einer bildhaften Sprache, die seiner Frau die Sinnlosigkeit des Krieges vor Augen führen soll. Der Brief gibt unmittelbar vergangene Eindrücke des Soldaten wieder, die sich auf den 15. Mai datieren lassen (»vorgestern abend«, Z. 14). Diese Eindrücke sind inbesondere der Anblick mehrerer entstellter Leichen, die Drans in drastischer Weise beschreibt: Nur die die Leichen zerfressenden Würmer hätten auf dem Schlachtfeld aufgrund des unaufhörlichen Bombardements noch »wimmel[…]n«(Z. 17) können. Die fallenden Granaten hatten den Boden »aufgewühlt[…]« und in ein »Massengrab« (Z. 16) verwandelt. Der unausweichliche Blick auf die Leichen und die große Wahrscheinlichkeit, selbst zu sterben, machen den Absender des Briefs trübsinnig. Nicht einmal der Gedanke an seine Frau und die Gefühle, die er für sie hegt, können die Kriegsgreuel erträglich machen: Durch die Allgegenwart des Todes sei Drans nicht in der Lage, seiner Frau von »Liebe« (Z. 26) zu erzählen. Er könne sich von dem Anblick nicht lösen und sei selbst beim Essen sinnbildlich »noch voll […] von den Leichnamen« (Z. 26). Die Schilderungen des Soldaten führen durch vergleichende Bilder und Metaphern dem Leser das Grauen des Krieges vor Augen. Das Schlachtfeld erscheint als ein unmenschlicher und unnatürlicher Ort, der von Dunkelheit und Tod geprägt ist. Der Anblick der Leichen beider Nationen, die ohne Unterschiede nebeneinander verwesen, macht ihm deutlich, wie sinnlos der Krieg ist. Der Einfluss des Krieges auf seine Beziehung und sein Privatleben empfindet er als störend und furchtbar, da der Krieg sein Leben vollkommen bestimmt. Der Soldat schildert mit seinem Brief seine furchtbaren Erlebnisse und vermittelt so seiner Frau eine relativ unmittelbare, persönliche, dabei jedoch auch sprachlich stilisierte Sicht auf die Grausamkeiten des Kriegs. Die Quelle ist insofern in erster Linie Zeugnis einer sehr persönlichen, privaten Verarbeitung des Kriegsgeschehens, die auf die enorme psychische Belastung eines Frontsoldaten Auskunft geben kann.
268 Versailler Vertrag und Unterrichtsprodukt (2009 – 11 – 20)
Abb. 3: Arbeitsblatt (Scan einer Fotokopie, Name der Lehrkraft geschwärzt)
Anhang
Unterrichtsmaterialien und -produkte
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Abb. 4: Fertige im Unterricht präsentierte Titelseite einer fiktiven französischen Zeitung (Fotografie). Bei den aufgeklebten Ausschnitten handelt es sich um die Artikel 230 und 231 des Vertrags (s. o.).
270
Anhang
2009 – 12 – 09: Truman-Doktrin
Abb. 5: Arbeitsblatt (Scan einer Fotokopie450)
450 Aus Dieter Brückner/Harald Focke (Hrsg.): Das waren Zeiten Bd. 5. Deutschland in der Welt nach 1945. Bamberg 2008, S. 13.
Unterrichtsmaterialien und -produkte
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2009 – 12 – 16: Streitgespräch zwischen Truman, Churchill und Stalin (Potsdamer Konferenz)
Abb. 6: Arbeitsblatt (Scan einer Fotokopie451)
451 Das waren Zeiten Bd. 5, S. 16.
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Anhang
2010 – 02 – 17: Vier Textquellen zu derselben Hitler-Rede
Abb. 7: Scan einer Schulbuch-Seite452
452 Thomas Berger (Hrsg): Entdecken und Verstehen 3. Geschichtsbuch für Hessen. Von 1917 bis zur Gegenwart, 2. Auflage. Berlin 1996, S. 87.
Unterrichtsmaterialien und -produkte
273
Anmerkungen Q1: Bei Q1 handelt es sich laut Einleitungssatz um einen Ausschnitt aus einem Artikel aus dem »Göttinger Tageblatt« vom 22. 7. 1932, in dem die Rede Adolf Hilters in Göttingen beschrieben wird. Der Ausschnitt ist unterteilt in zwei Abschnitte: zunächst Schlagzeilen, bei denen es sich möglicherweise um den Titel des Originalartikels handelt, und zweitens einen acht Sätze langen Ausschnitt aus dem Fließtext des Artikels. Inhaltlich thematisiert der Ausschnitt Hitlers Rede und die Reaktionen der Zuhörer, die trotz des strömenden Regens »ausgeharrt« und Hitler mit einem »Orkan der Heilrufe« begrüßt hätten. Hitler habe gewissermaßen aus Solidarität mit den Zuhörern auf einen Regenschirm verzichtet. Jeder seiner Sätze habe Zustimmung gefunden, und am Ende habe die Menge spontan das Deutschlandlied gesungen. Der Zeitungsartikel macht die Wahlkampfveranstaltung zu einem Großereignis, dem selbst die Natur nichts engegenzusetzen hat, da sowohl die Zuhörer trotz des schlechten Wetters bleiben als auch Hitler selbst den Elementen trotzt und ohne Regenschirm redet – wodurch sich dieser mit seinen Zuhörern solidarisiert. Dabei feiert der Artikel nicht nur Hitler, sondern auch seine Anhänger, die »stundenlang in Nässe und Schlamm« gewartet hätten. Sprachlich wird bis zum Auftritt Hitlers in kurzen Sätzen Spannung aufgebaut, die sich in einem »Orkan der Heilrufe« entlädt, als Hitler die Tribüne betritt. Die Sätze sind kurz und schlaglichtartig und vermitteln den Eindruck bedingungsloser Zustimmung für Hitler. Dies wird bereits durch Schlagzeilen wie »Eine große Nationalsozialistische Heerschau« und »Glänzender Verkauf der Kundgebung« deutlich. Hitler wird dabei als charismatische Figur gekennzeichnet, der die Massen zu Füßen liegen. Mit dem Verweis auf das Deutschlandlied ordnet der Artikel die Veranstaltung zusätzlich in einen größeren, patriotischen Kontext ein. Da die Quelle offensichtlich gekürzt ist – im Text finden sich entsprechende Zeichen –, fällt eine abschließende Deutung schwer. Q2: Hier handelt es sich um einen sehr kurzen Ausschnitt (zwei Sätze) aus der »Göttinger Zeitung« vom 22. 7. 1932. Der Abschnitt ist mit »15 Minuten Hitler« überschrieben, wobei es sich vermutlich um den Titel des Artikels handelt, aus dem zitiert wird. Inhaltlich behandelt der Artikel offenbar ebenfalls Adolf Hitlers Rede in Göttingen (20. 7. 1932), die als »eine einzige scharfe Polemik« bezeichnet wird. Im Ausschnitt ist weiterhin die Rede davon, dass die Begeisterung der Zuhörer durch den Regen »gedämpft« wurde und der »große Hitlertag« nun vorbei sei. Der Verfasser des Artikels bedient sich hier des Stilmittels der Ironie, um seine Distanz und Ablehnung gegenüber der Rede und möglicherweise Hitler Ausdruck zu verleihen. Aufgrund der Kürze des Ausschnitts lässt sich nicht festmachen, inwieweit die weitere Berichterstattung von dieser Perspektive auf die Wahlveranstaltung geprägt ist. Es lässt sich jedenfalls erahnen, dass die Macher der »Göttinger Zeitung« der NSDAP kritisch gegenüberstanden. Eben-
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Anhang
falls erscheint es problematisch, den kurzen Ausschnitt überhaupt als Quelle zu bezeichnen geschweige denn im Schulbuch als solche zu verwenden. Q3: »Q3« zitiert laut einleitendem Satz lediglich drei »Überschriften« des »Göttinger Volksblatts« vom 22. 7. 1932; es handelt sich nicht um Auszüge aus einem Artikel. Auch hier wird das schlechte Wetter angesprochen, das dafür gesorgt habe, dass die Veranstaltung auseinander gelaufen sei. »Der Himmel hatte ein Einsehen« lautet der verächtliche Kommentar, der deutlich macht, dass das Göttinger Volksblatt zumindest auf der Ebene der Schlagzeilen gegen Hitler polemisierte. Während in allen anderen Ausschnitten nur von Hitler die Rede war, findet sich in Q3 zusätzlich ein Verweis auf Wilhelm Frick, der ebenfalls in Göttingen redete. Im Gegensatz zu den anderen Quellen wird in diesem Ausschnitt Stellung zum Inhalt der Veranstaltung bezogen, indem er die Haltung der Nationalsozialisten, dass es im Dritten Reich keine Arbeitslosenunterstützung geben werde, wiedergibt. Allerdings wäre insbesondere bei Q3 zu problematisieren, dass es sich lediglich um drei aus dem jeweiligen Zusammenhang gerissene Schlagzeilen handelt und insofern der Begriff »Quelle« an der Sache vorbeigeht. Hinzu kommt, dass durch den aus dem Zusammenhang gerissenen Verweis auf die Arbeitslosenunterstützung eine Nähe zum linken Parteienspektrum suggeriert wird. Q4: Bei Q4 handelt es sich um einen kurzen Ausschnitt (sechs Sätze) aus der Niedersächsischen Tageszeitung vom 23. 7. 1932. Oberhalb von Q4 befindet sich ein kurzer einleitender Satz, der das Datum des Zeitungsartikels, den Namen der Zeitung sowie den Umstand enthält, dass der Artikel den Umfang einer ganzen Seite hatte. Zusätzlich befindet sich oberhalb der Quellen ein Bild, das der oberen Teil der Titelseite der Niedersächsischen Tageszeitung zeigt: Zu sehen ist der Titel der Zeitung mit Hakenkreuz in der Mitte und der Untertitel »Kampfblatt für den Nationalsozialismus«. Q4 ist überschrieben mit den Worten »In der Universität Göttingen«, wobei es sich vermutlich um den Titel des Artikels handelt. Inhaltlich setzt sich der Artikel mit der Bedeutung einer Wahlkampfrede Adolfs Hitlers auseinander. Die Rede fand am 20. Juli 1932 in Göttingen statt, 11 Tage vor der Reichstagswahl, aus der die NSDAP als stärkste Partie hervorging. Das Zustandekommen der Rede in Göttingen wird im Artikel als »Dank für erfüllte Pflicht, Lohn für Arbeitsleistung und Erfolg« dargestellt wird. Hitler erscheint darin als Heilsbringer, der den »Weg zu Arbeit und Brot« weist, aber gleichzeitig »eins« ist mit dem arbeitenden Volk und dementsprechend genau wie seine auf 50 000 bezifferten Zuhörer im Regen gestanden habe. Der Ausschnitt ist gekennzeichnet durch eine durchweg positive, euphorische Sicht auf den späteren Reichskanzler Hitler, der mit entsprechendem Vokabular als charismatische Figur erscheint. Diese pro-nationalsozialistische Sicht verwundert angesichts der Ausrichtung der Niedersächsischen Tageszeitung als »Kampfblatt für den Nationalsozialismus«, die durch die abgedruckte Titelseite
Unterrichtsmaterialien und -produkte
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verdeutlicht wird, nicht und spiegelt – ähnlich wie Q1 – das rechte Spektrum der deutschen Presselandschaft gegen Ende der Weimarer Republik wider. Was die genaue Deutung des Artikels, gerade auch in Bezug auf die bevorstehende Reichstagswahl, erschwert, ist der Umstand, dass die Quelle für die Verwendung im Schulbuch stark gekürzt wurde. Es entsteht der Eindruck, dass die Zusammenstellung der Quellenfragmente von Vornherein der Gegenüberstellung verschiedener Deutungen gilt und die Quellen diesem Gedanken folgend gekürzt wurden. Die Quellen erscheinen dadurch in ein neues »Narrativ« eingebunden und sind ihrer Quellenspezifik dadurch weitestgehend beraubt. Hinzu kommt, dass es angesichts der Kürze von insbesondere Q2 und Q3 schwierig ist abzuschätzen, inwieweit sich die negative Sicht auf Hitler durch die weitere Berichterstattung zieht. Aufgrund der Kürze ist es schwierig bis unmöglich, die dritte Aufgabe aus dem Schulbuch zu bearbeiten und den Zeitungen Parteien – jenseits einem Pro- oder Contra-NSDAP – zuzuordnen.
276 2010 – 02 – 17: antisemitisches Schandbild
Abb. 8: Scan einer Schulbuchseite453
453 Entdecken und Verstehen 3. Hessen, S. 110.
Anhang
Unterrichtsmaterialien und -produkte
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Abb. 9: Höher auflösende Version des Bildes454
454 http://archive.org/details/1936-Elvira-Bauer-Trau-keinem-Fuchs-auf-gruener-Heid , zuletzt eingesehen am 01. 07. 2012.
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Anmerkungen455 Bei der Bildquelle handelt es sich um eine Illustration aus dem Kinderbuch »Trau keinem Fuchs auf grüner Heid, und keinem Jud bei seinem Eid«, das von der Kindergärtnerin Elvira Bauer verfasst wurde und 1936 im Stürmer Verlag erschien. Das farbig illustrierte Buch mit zweifarbig gedrucktem Text hatte eine Auflage von 70 000 Exemplaren. Es war als Lesebuch zur Fibel im Schulunterricht gedacht und sollte die antisemitische Weltsicht des NS-Regimes lehren.456 In diesem Sinne warnt das Buch auf anschauliche und eindrückliche Weise vor den angeblichen schlechten Charakterzügen der Juden. Wegen dieser Inhalte wurde das Buch 1946 in der sowjetisch besetzten Zone verboten.457 Selbst während der NS-Zeit fand Bauer zunächst keinen Verlag, der das Buch veröffentlichen wollte. Erst Julius Streichers Stürmer-Verlag brachte die »antijüdische Schmähschrift« auf den Markt und setzte damit den Auftakt zu weiteren antisemitischen Kinderbüchern: »Der Giftpilz. Erzählungen von Ernst Hiemer« und »Der Pudelmopsdackelpinscher und andere besinnliche Erzählungen«.458 Auf dem Bild zu sehen ist eine Gruppe von Menschen, die mit Koffern und Taschen bepackt eine Einbahnstraße entlang geht. Im Vordergrund sind zwei Jungen abgebildet, von denen einer auf die Personengruppe blickt und der andere an einen Baum lehnend Zieharmonika spielt. Neben den Jungen sind im Vordergrund noch drei schnatternde Gänse zu sehen. Die zitierten »Worte im Bild« finden sich im der Mitte des Bildes als Teil eines Wegweisers, der in die Richtung zeigt, in die Personengruppe geht. Die Darstellung der Personengruppe hat aufgrund der großen Hakennasen, Wulstlippen, (Halb-)Glatzen und grimmigen Minen eindeutige antisemitische Züge. Die Kleidung der Personen (Zylinder, karierte Anzüge, Hut mit Schleier, farbige Mäntel) deutet z. T. auf einen großbürgerlichen Habitus der Personen, ist aber in der verkleinerten Schulbuchabbildung nur schemenhaft erkennbar. Die Merkmale der Personengruppe heben sich deutlich vom Äußeren der beiden Jungen (blonde Haare, einfache Kleidung, z. T. Barfuß) ab. 455 Die folgenden Anmerkungen stammen von Melanie Hacker. 456 Vgl. Matthias Schwerendt: »Trau keinem Fuchs auf grüner Heid, und keinem Jud bei seinem Eid«. Antisemitismus in nationalsozialistischen Schulbüchern und Unterrichtsmaterialien. Berlin 2009, S. 7. 457 Deutsche Verwaltung für Volksbildung in der sowjetischen Besatzungszone (Hrsg.): Liste der auszusondernden Literatur. Vorläufige Ausgabe. Berlin 1946, Eintrag 548. http:// www.polunbi.de/bibliothek/1946-nslit-b.html, zuletzt eingesehen am 16. 08. 2012 458 Vgl. Hans-Joachim Bechtoldt: Wer mit dem Teufel essen will, muss einen langen Löffel haben… Aufschlussreiche Erkenntnisse aus einigen im Landesarchiv Berlin befindlichen Akten zur Biografie Elvira Bauers und zu den nach ihrer Buchedition »Trau keinem Fuchs Auf grüner Heid Und keinem Jud bei seinem Eid!« sich entwickelnden Bedrängnisse zwischen 1936 und 1945. Bad Münster am Stein/Ebernburg 2008, S. 3 – 10. http://www.stu dents.uni-mainz.de/chrbecht/SFJS/Elvira%20Bauer%20-%20Wer%20mit%20 dem%20Teufel%20Suppe%20essen%20will.pdf, zuletzt eingesehen am 20. 06. 2012.
Unterrichtsmaterialien und -produkte
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Juden werden im Bild als andersartig gebrandmarkt. Diese Andersartigkeit – so suggeriert das Bild – ist an Merkmalen der Physiognomie eindeutig erkennbar. Über die Kleidung werden die Juden zudem einer sozialen Schicht zugeordnet, die als dekadent und degeneriert gesehen werden konnte und die im Kontrast zu den »bodenständigen« deutschen Jungen im Bildvordergrund steht. Diese deutliche Abgrenzung wird durch den Text des Bildes unterstützt, der einen Gegensatz zwischen den Juden und den Deutschen (»uns«) etabliert und Juden damit als »nicht-deutsch« kennzeichnet. Die geforderte Konsequenz ist der Ausschluss der Juden aus der Gemeinschaft, der im Bild durch ihre Abreise realisiert wird. Die These, die Juden seien das »Unglück« der Deutschen wird dabei nicht näher spezifiziert. Auf der Bildebene ist die physische Andersartigkeit der Juden der einzige Grund für ihre Ausgrenzung, im Gesamtkontext des Buches wird dieser Aspekt jedoch durch ein breites Spektrum antisemitischer Propaganda ergänzt, das darin gipfelt, dass die Juden am Ende das Land in Richtung ihrer Heimat (»Süden«) verlassen. Die propagandistischen Aussagen des Bildes lassen sich also auf zwei Punkte verdichten: Juden sind keine Deutschen, und sie sollen daher Deutschland verlassen.
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2010 – 03 – 18: verschiedene Quellen zur russischen Revolutionszeit
Abb. 10: Arbeitsblatt (Scan einer Fotokopie)459
Anmerkungen Alle vier Quellen stammen aus der Zeit zwischen der Februarrevolution, die die Zarenherrschaft beendete, und der Oktoberrevolution, d. h. der Machtübernahme der kommunistischen Bolschewiki. Bei M8 handelt es sich um Auszüge eines Berichts des Armeenachrichtendienstes über den Zustand der Armeen an den Fronten. Die Soldaten seien demnach von bolschewistischen Ideen vereinnahmt, widersetzten sich den Befehlen ihrer Vorgesetzten und wollten Frieden um jeden Preis, eine Forderung, die laut Armeenachrichtendienst auch in der Fraternisierung mit dem Feind, d. h. den Deutschen, gipfelt. Die Quelle steht für den Blick der Offiziere auf die einfachen, aufrührerischen Soldaten. Es handelt sich um eine Außenperspektive; die Quelle liefert nicht die Perspektive derjenigen, die sich offenbar anders verhalten als sonst, sondern die ihrer Vorgesetzten. Mit Blick auf den Arbeitsauftrag ist dies bedeutsam, denn er bestand darin zu entscheiden, für welche Staatsform sich die Zeitgenossen entschieden hätten, wenn eine Mehrheit so wie die Menschen in der Quelle empfindet. Die eingeforderte Perspektivenüber459 Aus welchem Lehrwerk die Texte stammen, konnte nicht rekonstruiert werden.
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nahme im Sinne der einfachen Soldaten ist also auf der Grundlage der Quelle nicht möglich. Die Perspektive der Quelle eine andere, aus der das Verhalten der Soldaten als aufrüherisch gewertet wird. 2010 – 03 – 18: Tafelbild zur parlamentarischen Demokratie vs. Rätesystem
Abb. 11: Es wurde eine Rekonstruktionszeichnung angefertigt, da die Standbilder der Videoaufzeichnung nur schlecht lesbar waren.
282 2010 – 04 – 29: Stalins Appell
Abb. 12: Arbeitsblatt (Scan einer Fotokopie)
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Anmerkungen460 Stalin hielt die vorliegende Rede auf der Höhe der Begeisterung für den ersten Fünfjahresplan. Er stellt darin die Ideologie dar, die seine Position eines möglichst schnellen und radikalen industriellen Aufbaus stützt und die diese Begeisterung bei den wirtschaftlichen Funktionsträgern weiter fördern sollte. Dabei appelliert er zum Einen an die Angst vor einem mächtigen Gegner, die den wirtschaftlichen Ausbau notwendig mache. Er stellt seine wirtschaftlichen Ziele dabei als dessen »Gesetz« folgend dar (Z. 13ff), dem er ebenfalls ausgeliefert sei. Der wirtschaftliche Ausbau erscheint als sachliche Notwendigkeit für die gesamte Sowjetunion, nicht als Entscheidung einer Einzelperson. Stalin selbst erscheint nur als Überbringer der Botschaft (»das Gesetz der Ausbeuter ist nun einmal so«, Z. 13; »Andere Wege gibt es nicht«, Z. 33 f). Die Entscheidung, welche Strategie gewählt wird, scheint bei den Zuhörern zu liegen und in ihrem Interesse getroffen zu werden (»das wollen wir nicht«, Z. 4; »Wenn ihr das nicht wollt…« Z. 29). Die Betonung der Kontinuität seiner Ziele mit denjenigen des weithin akzeptierten und verehrten Lenin ist Teil dieses Programms, in dem er selbst als starke, im Interesse der Gesamtbevölkerung handelnde Führungspersönlichkeit auftrat. Weiterhin ist dies die erste bekannte Quelle, in der Stalin die Notwendigkeit des wirtschaftlichen Ausbaus mit einem Appell an den russischen Nationalismus verknüpft, durch den die Bevölkerung zur Akzeptanz und Befürwortung des wirtschaftlichen Umbaus gebracht werden sollte (der auch mit großen gesellschaftlichen Veränderungen einherging). Die Quelle ist in erster Linie programmatisch und ideologisch zu verstehen. Sie gibt keine Auskunft über Stalins tatsächliche Motive für den rasanten industriellen Aufbau, wohl aber über die verbreitete Ideologie, die in der Bevölkerung Begeisterung für Stalins wirtschaftliches Programm – das Teil eines größeren politischen Programms war – säen sollte. Die Quelle beleuchtet zum einen, dass Propaganda einen wichtigen Bestandteil stalinistischer Herrschaft bildete, zum anderen zeigt sie wesentliche Inhalte, auf die sich diese Propaganda stützte: Das schüren der Furcht vor einem starken äußeren Gegner sowie der Appell an das Zugehörigkeitsgefühl zur eigenen Nation.
460 Die folgenden Anmerkungen beruhen auf Jörg Baberowski: Der rote Terror. Die Geschichte des Stalinismus. 2. Auflage. München 2004, S. 58 – 61, Manfred Hildermeier : Die Sowjetunion 1917 – 1991. München 2001, S. 25 – 28 und S. 35 – 39, Evan Mawdsley : The Stalin Years. The Soviet Union 1929 – 1953. Manchester/New York 1998, S. 27 – 41.
284 2010 – 04 – 29: Robert Conquest über sowjetische Verhörmethoden
Abb. 13: Arbeitsblatt (Scan einer Fotokopie)
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Anmerkungen461 Der Textausschnitt erläutert die Methoden, die das NKWD (Volkskommissariat für Innere Angelegenheiten in der Sowjetunion) anwendete, um Angeklagte zu Geständnissen zu zwingen. Der Begriff »Konveyer« beschreibt dabei ein Verfahren, das mehrere Stunden oder Tage dauert und pausenlose Vernehmungen bedeutete. Es hatte laut Conquest selbst dann Erfolg, wenn die Häftlinge vorherigen Foltern widerstanden hatten, und führte zum psychischen und physischen Zusammenbruch der Angeklagten. Der gesamte Vernehmungsprozess konnte bei Intellektuellen und Politikern bis zu zweieinhalb Jahre dauern und hatte das Ziel, die Häftlinge zu zermürben, so dass sie ihre Geständnisse auch im Prozess aufrecht erhielten. Ausgehend davon stellt Conquest die These auf, dass die Gegner des Stalinismus nicht nur getötet, sondern auch moralisch und politisch vernichtet werden sollten. Robert Conquest, geb. 1917 in England, gilt als einer der wichtigsten Vertreter der westlichen konservativen Geschichtsschreibung der Stalinzeit und war zudem als Dichter, Science-Fiction-Autor, Politologie tätig. 1937 trat Conquest kurzzeitig der Kommunistischen Partei bei, entwickelte sich aber bald zum überzeugten Antikommunisten und befürwortete u. a. den Vietnamkrieg. Seit 1986 ist er Senior Research Fellow an der konservativen »Hoover Institutition« an der Stanford University. Robert Conquests geschichtswissenschaftliches Hauptwerk trägt den Titel »The Great Terror. Stalin’s Purge of the Thirties« und erschien erstmals 1968, erfuhr aber mehrere Nachdrucke und Neuauflagen – nicht zuletzt nach der Öffnung sowjetischer Archive. Es handelt sich dabei um die erste systematische Studie zu den Stalinistischen Säuberungen. Dabei setzt sich Conquest auch mit dem System der Gulags auseinander und erhebt Anschuldigungen gegen westliche Intellektuelle, denen er vorwirft, Stalins Terror zu unterstützen. Die dem Werk zugrundeliegenden Quellen sind vor allem sowjetische offizielle Quellen (Reden, Zeitungen) sowie Berichte von Personen, die den sowjetischen Terror selbst erlebt hatten. Conquest zufolge kosteten die Säuberungen mehr als 20 Millionen Menschen das Leben. Dabei weichen die Zahlen in verschiedenen Publikationen weichen voneinander ab und werden von Kritikern als zu hoch kritisiert. Des Weiteren wurde Conquest auch für seine pauschale Verurteilung der westlichen Linken, die er pauschaul mit Stalinisten gleichetzt, kritisiert.
461 Die folgenden Anmerkungen beruhen auf: Kevin Tyner Thomas: On the Politics of Interpretation: Robert Conquest and the Historiography of Stalinism. In: Radical History Review 52 (1992), S. 121 – 131 und Nicolas Werth: Gulag. Die wahren Zahlen. In: L’Histoire 193 (1993), S. 38 – 51.
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2010 – 11 – 04: Jugendoppostion in der DDR
Abb. 14: Arbeitsblatt (Scan einer Fotokopie)
Anmerkungen462 Bei der Textquelle handelt es sich um eine schriftliche Protesterklärung von Roland Jahn,463 damals Student der Wirtschaftswissenschaften an der Universität Jena. In der Erklärung, datiert auf den 29. 11. 1976, moniert Jahn die fehlende Meinungsfreiheit in der DDR vor dem Hintergrund der Ausbürgerung des prominenten DDR-Oppositionellen Wolf Biermann. Biermann, der in Lied und Wort u. a. die Diskrepanz zwischen der sozialistischen Idee und dem real existierendem Sozialismus in der DDR angeprangert hatte und in der DDR Berufsverbot hatte, war nach einem Konzert in Köln 1976 die DDR-Staatsbürgerschaft entzogen worden. Die Ausbürgerung führte zu Protesten unter den Künstlern der DDR, welche ihren Unmut über das Vorgehen der SED-Führung in einem Offenen Brief verkündeten. Obwohl dieser nur in den Westmedien 462 Die folgenden Anmerkungen stammen von Melanie Hacker. 463 Jahn ist seit Anfang 2011 Bundesbeauftragter für die Unterlagen des Staatssicherheitsdienstes der ehemaligen Deutschen Demokratischen Republik (BstU). Zum Zeitpunkt der Erhebung hatte er dieses Amt also noch nicht inne.
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publiziert wurde, fand der Brief großes Interesse in der DDR-Bevölkerung.464 Studenten wie Roland Jahn hatten Teil an der größten Protestwelle in der DDR seit dem Mauerbau. Sie kopierten nicht nur unter der Gefahr der Inhaftierung den Offenen Brief, sondern äußerten sich auch selbst zu den Vorkommnissen. Jahn nimmt die Ausbürgerung des Liedermachers zum Anlass, selbst Kritik an der staatlichen Unterdrückung der freien Meinungsäußerung zu üben.465 Er wurde in Folge seiner Proteste gegen die obrigkeitsstaatliche Unterdrückung exmatrikuliert. Dennoch organisierte er sich weiterhin in oppositionellen Bewegungen in der DDR, bis er schließlich 1982 verhaftet und anschließend selbst ausgebürgert wurde.466 Seine Stellungnahme von 1976 gibt Aufschluss über seine Auffassung vom Sozialismus und führt dem Leser Probleme und Missstände in der DDR vor Augen.467 Zu Beginn seines Texts macht Jahn deutlich, dass er von der »der Idee des Kommunismus« (Z. 3 f.) ausgeht und an die Idee des Sozialismus glaubt. Er sieht sich als Untersützer bei der »Entwicklung des Sozialismus« (Z. 5), was für ihn kritisches Denken und Partizipation einschließt. Dies ist aus einer Sicht notwendig, weil der »Meinungsstreit« (Z. 11) eine »wichtige Quelle der Entwicklung des Sozialismus« ( Z. 10) sei. Um die Ziele des Kommunismus erreichen zu können, müsse ein Staat die Möglichkeit zu freien und ehrlichen Meinungsäußerungen bieten. Jahn argumentiert, dass eine kommunistische Gesellschaft nur funktioniere, wenn die Menschen sich selbst über die Vorzüge des Kommunismus bewusst seien. Daher verbiete sich eine »sklavisch[e]« (Z. 13) Meinungsunterwerfung. Die Argumente für den Kommunismus müssten vielmehr für sich sprechen und die Menschen zur »Selbsterkenntnis« (Z. 19) bringen. Da in der Ausbürgerung Biermanns deutlich eine Zwangsmaßnahme des Staates zu erkennen sei, müsse diese aus Jahns Sicht überdacht werden. Auch die weitere Kritik Jahns an der Ausbürgerung rahmt er mit grundsätzlicher Zustimmung, was den Kommunismus und die DDR betrifft: So sei die DDR stark genug, um kritische Äußerungen wie die von Biermann ertragen zu können. Er gibt ferner zu bedenken, dass Biermann in seiner Kritik zwar zurecht »einige Schwächen« (Z. 28) der DDR ansprechen würde, aber durch die »verallgemeiner[nde] und unrealistisch[e]« Darstellung die Realität verfälsche. Damit liefere er den westlichen »Massenmedien« (Z. 33) eine Vorlage zur »Hetze gegen den Sozialismus« (Z. 34 f.). Aus diesem Grund distanziert sich Jahn ex464 Vgl. Ehrhart Neubert: Geschichte der Opposition in der DDR 1949 – 1989. Berlin 1997, S. 228. 465 Vgl. Gerald Praschl: Roland Jahn. Ein Rebell als Behördenchef. Berlin 2011, S. 25. 466 Vgl. Neubert: Geschichte der Opposition in der DDR, S. 336. 467 Vgl. »Roland Jahn« in: Bundeszentrale für politische Bildung und Robert-Havemann-Gesellschaft e.V. (Hrsg.): Jugendopposition in der DDR. Berlin 2008. www.jugendopposition.de/index.php?id=68, zuletzt eingesehen am 29. 05. 2012.
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plizit von Biermanns Äußerungen. Dennoch habe es die DDR seiner Auffassung nach nicht nötig, auf »administrative Weise« (Z. 26) den Äußerungen eines Künstlers zu begegnen. Auf diese Weise werde mehr Schaden angerichtet, als Biermann es allein könnte, weil es die Grundhaltung der Menschen zum Kommunismus negativ beeinflusse. Biermann hätte Kritik seinerseits bei Auftritten in der DDR vorbringen müssen, damit die Kritik Anlass zur Verbesserung des Sozialismus hätte geben können. Biermanns Nutzung der »westliche[n] Medien« (Z. 45) sei jedoch eine Folge des Auftrittsverbots, wie auch die Veröffentlichung des Offenen Briefes der Künstler im Westen eine Folge der Restriktionen der DDR-Regierung sei. Dennoch kritisiert Jahn auch die Künstler, die sich an die westlichen Medien gewandt haben. Im gesamten Text wertet Jahn konstruktive Kritik bzw. die Möglichkeit, sie offen äußern zu können, als ein positives Merkmal für die Weiterentwicklung des Sozialismus. Die Unterdrückung der Meinungsfreiheit durch den Staat und die Unterordnung der Bürger unter vorgegebene Auffassungen sieht er als Fehler der DDR-Regierung. Die Wahl des Adjektivs »sklavisch« (Z. 12) zeigt, dass er die Unterdrückung der freien Meinungsäußerung Überbleibsel archaischer Gesellschaftsformen empfindet, das vom Anspruch her vom Sozialismus hätte überwunden werden müssen. Dabei bewegt sich Jahn trotz aller Kritik sprachlich eng am offiziellen Sprachgebrauch der DDR und spricht von »westliche[n] Medien« (Z. 45) und dem »Klassenfeind« (Z. 55). Den »westlich[n] Medien« wirft er zudem »Hetze« (Z. 34 u. 54) gegen die DDR vor. Dabei gibt sich Jahn konsequent als den Idealen des Kommunismus verbunden. Er begegnet dem begangenen Unrecht in der DDR auf einer moderaten Ebene und begibt sich dabei sprachlich und thematisch auf einen Drahtseilakt zwischen offener Kritik und grundsätzlicher Zustimmung gegenüber den staatstragenden kommunistischen Idealen. Inwieweit Jahn diese Ideale tatsächlich vertritt, ist auf der Grundlage der Quelle und ihrer Intentionalität schwer zu sagen. Jedenfalls versprach sich Jahn aber offensichtlich Erfolg davon, sich gegenüber den Lesern seiner Erklärung als eindeutig kommunistisch zu präsentieren.
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2010 – 12 – 06: Livius vs. Wissenschaft
Abb. 15: Arbeitsblatt (Scan einer Fotokopie)
Bei den angedruckten Passagen aus Titus Livius’ Ab urbe condita handelt es sich um drei Episoden aus der mythischen Anfangszeit der Stadt Rom: die Flucht des Aeneas nach Italien, Romulus und Remus sowie den Raub der Sabinerinnen. Für das Verständnis der Quelle ist ausschlaggebend, dass es weniger im Interesse des Livius lag, historische Wahrheiten abzubilden, sondern es ihm vielmehr darum ging, »bona exempla« aus der römischen Vergangenheit aufzuzeigen.468 Diese wiederum beförderten die römische Selbsterneuerungsideologie, die Augustus, zu dessen Zeiten Livius schreibt, zur Staatsdoktrin gemacht hatte. Insofern handelt es sich rein inhaltlich zwar um mythen- und legendenhafte Episoden; diese hatten jedoch eine staatstragende Funktion – wie auch in der nicht bearbeiteten Aufgabe 2 auf dem Arbeitsblatt anklingt. Bei dem abgedruckten Lehrbuchtext handelt es sich um eine Darstellung von archäologischen Befunden zur Frühzeit Roms, in den Jahren zwischen 1000 und 700 v. Chr. Dabei fokussiert der Text zunächst auf die Spuren der Siedlungstätigkeit der Latiner und Etrusker. Die Stadt Rom sei demnach nicht in einem bestimmten Jahr gegründet worden, sondern bereits vorhandene Siedlungen seien allmählich zusammengewachsen und befestigt worden. Die Befunde zu den politischen Verhältnissen der Königszeit rahmt der Beitrag sprachlich als 468 Vgl. Robert Feger (Hrsg.): Livius. Ab urbe condita, Liber 1. Römische Geschichte, 1. Buch. Lateinisch/Deutsch. Durchgesehene und verbesserte Ausgabe. Stuttgart 1999, S. 233.
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tentativ : So stamme der Name der Stadt »vermutlich« aus der etruskischen Sprache, und etruskische Adelige hätten »vermutlich« die Stadt regiert. Mit den Etruskern und deren Handwerkskunst bringt der Text auch die Trockenlegung des späteren Forum Romanum in Verbindung, hier allerdings ohne sprachliche Formulierungen, die diese Aussage relativieren würden. Aus der Zusammenstellung mit der Livius-Quelle und der Formulierung des Arbeitsauftrags, wonach die »tatsächliche Entstehung Roms« Gegenstand des Lehrbuchtextes sei, ergibt sich eine Dichotymisierung zwischen den »Sagen« der Livius-Quelle und den wissenschaftlichen Erkenntnissen, die allerdings – wie die oben zitierten Formulierungen zeigen – nicht den Anspruch haben, »Tatsächliches« zu referieren, sondern einen Forschungsstand wiedergeben. Was die Interaktion betrifft, so wird der propositionale Gehalt des Arbeitsblattes, der im beteuerten Gegensatz zwischen »Dichtung und Wahrheit« besteht, vom Lehrer enaktiert bzw. elaboriert. Des Weiteren findet sich auf dem Arbeitsblatt eine Zeichnung, die »Rom vor ca. 2700 Jahren« zeigen soll. Zu sehen sind u. a. der Kapitolshügel, der Palatin und die Tiberinsel sowie weitere Angaben wie »mildes Klima« oder »fruchtbare Böden«. Außerdem sind auf dem Arbeitsblatt Abbildungen der capitolinischen Wölfin und der Aeneas-Statue von Veji zu sehen, die mit Bildunterschriften versehen sind, aber in der videografierten Stunde nicht zum Gegenstand des Unterrichts gemacht wurden.
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2010 – 12 – 13: Diodor über die Etrusker
Abb. 16: Scan einer Schulbuchseite469
469 Brückner, Dieter/Focke, Harald (Hrsg.): Das waren Zeiten Bd. 1. Von den ersten Menschen bis zum frühen Mittelalter. Bamberg 2008.
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Anmerkungen Der griechische Geschichtsschreiber Diodoros gilt als einer der maßgeblichen Autoren für die frühe römische Geschichte. Über seine Biografie ist abgesehen von seinem Heimatort Agyrion auf Sizilien sehr wenig überliefert. Die Historia verfasste er aller Wahrscheinlichkeit zwischen 60 und 30 v. Chr. Das geografisch geordnete universalgeschichtliche Werk umfasst 40 Bücher, von denen ein großer Teil nur in Fragmenten erhalten ist. Der im Schulbuch (s. o.) abgedruckte Abschnitt über die Lebensweise und Eigenheiten der Etrusker stammt aus dem vollständig erhaltenen fünften Buch. Wenngleich Diodor lange Zeit als »Kompilator« galt und sich die Diodorforschung dementsprechend darauf konzentrierte, Diodors Quellen ausfindig zu machen, blieben solche Versuche gerade auch für die Geschichte des frühen Roms erfolglos.470 Grundsätzlich variiert die Verlässlichkeit des Werks stark in Abhängigkeit der zugrundeligenden Quellen, die Diodor zum Teil nennt, aber bisweilen auch kritiklos und in widersprüchlicher Weise verwendet. Der historische Wert seiner Aufzeichnungen ist daher – gerade für die römische Frühzeit – schwer einzuschätzen.
470 Vgl. Thomas Nothers (Hrsg.): Diodoros. Griechische Weltgeschichte Buch I – X. Erster Teil. Übersetzt von Gerhard Wirth (Buch I – III) und Ottot Veh (Buch IV – X). Eingeleitet und kommentiert von Thomas Nothers. Stuttgart 1992, S. 9 f.
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2011 – 06 – 22: Podiumsdiskussion um das Requerimiento
Abb. 17: Scan einer Schulbuchseite471
471 Maximilian Lanzinner (Hg.), Neues Denken – neue Welten. Aufbruch Europas in die Neuzeit (Buchners Kolleg. Themen Geschichte), Bamberg 2010, S. 121.
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Abb. 18: Scan einer Schulbuchseite472
472 Ebd., S. 122.
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Anmerkungen473 Bei der Textquelle handelt es sich um ein rechtliches Schriftstück, das vom Kronjuristen Palacios Rubios im Auftrag des Königs Ferdinand II. verfasst wurde. Die vorliegende Quelle ist ein Auszug des 1513 verfassten Textes, welcher sich ausschließlich auf die »Schenkung« des Papstes Alexanders VI. als Legitimation bezieht. Das Requerimiento sollte bei der Eroberung des neuen Kontinentes den Ureinwohnern vor der Machtübernahme durch die Konquistadoren vorgelesen werden. Wenn sich die Indios der Unterwerfung unter die spanische Krone verweigerten, wurden sie zu Sklaven erklärt, ihres Besitzes enteignet und bekriegt. Die rechtliche Grundlage der Landnahme leitet der Kronjurist von der Schenkung eines Teils der »neuen Welt« an das spanische Königspaar auf der Grundlage des Vertrags von Tordesillas (1494) ab. Die Päpste seien als Nachfolger des Apostels Petrus als »Herr[en], König[e] und Obere der ganzen Welt anerkannt« (Z. 6), weshalb ihm alle gehorchen müssten. In der Reihe der Nachfolger Petri habe dementsprechend auch Alexander VI. dieselbe Macht innegehabt und Kraft seines Amtes das »ozeanische Festland« (Z. 13) den spanischen Königen vermacht. Das Land sei »mit allem, was darin ist« (Z. 17), also auch mit seinen Bewohnern übergeben worden, die daher Untergebene des spanischen Königshauses seien. Zusätzlich zum Ausschnitt aus dem Requerimiento finden sich auf der Doppelseite Anmerkungen zur Handhabung des Requerimiento durch den Chronisten Gonzalo Fernndez de Oviedo sowie den Dominikaner Bartolom¦ de Las Casas: De Oviedo, der als bedeutendster Chronist der spanischen Eroberung Südamerikas gilt, berichtet aus erster Hand über die Handhabung des Requerimiento und argumentiert, dass es aufgrund der Sprachbarriere lächerlich sei anzunehmen, dass die »Indios« (Z. 33) in der Lage seien, den Inhalt des Requerimiento auf Anhieb zu verstehen. Als angemessene Zeitspanne veranschlagt de Oviedo dafür »Jahre« (Z. 36). Dementsprechend sei das Requerimiento nicht geeignet, den Spaniern ein gutes Gewissen zu verschaffen. Auch der Dominikanermönch und Bischof Bartolom¦ Las Casas kritisiert die Praxis des Requerimiento. Der Textausschnitt ist dabei ähnlich kurz und gibt eine Begebenheit wieder, bei der spanische Eroberer das Requerimiento vor Bäumen vorlesen und darauf ein Dorf überfallen. Las Casas spricht von »hinterhältigen Übergriffe[n]«, die von den verantwortlichen Stellen nicht geahndet würden. Die drei Texte verdeutlichen, dass das Requerimiento eine rechtliche Grundlage für Gräualtaten an Indios durch die Eroberer brachte. Gerade weil das 473 Die folgenden Anmerkungen stammen von Melanie Hacker.
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Requerimiento, dessen Inhalt sich im Ausschnitt auf die Legitimation durch den Vertrag von Tordesillas beschränkt ist, keine spezifischen Angaben zur Behandlung der Einheimischen macht, konnten sich die Eroberer durch den Text rechtlich abgesichert fühlen. Die Zusammenstellung der drei Texte legt insofern nahe, dass sich Rechtsgrundlage und Realität stark voneinander unterschieden. Die Zusammenstellung der drei Quellen bildet in diesem Sinne bereits ein neues Narrativ, das wenig Raum für abweichende Deutungen lässt.