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German Pages 516 [517] Year 2009
THOMAS VON AQUIN
Quaestiones Disputatae
Thomas von Aquin
Quaestiones Disputatae
THOMAS VON AQUIN
Quaestiones Disputatae Vollständige Ausgabe der Quaestionen in deutscher Übersetzung Herausgegeben von Rolf Schönberger Band 11
FELIX MEINER VERLAG HAMBURG
THOMAS VON AQUIN
Vom Übel De malo Teilband 1 Übersetzt von Stefan Schick
FELIX MEINER VERLAG HAMBURG
Gedruckt mit freundlicher Unterstützung der Erzdiözese Wien.
Bibliographische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliographie; detaillierte bibliographische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar. ISBN 978-3-7873-1911-4
© Felix Meiner Verlag GmbH, Hamburg 2009. Alle Rechte, auch die des auszugsweisen Nachdrucks, der fotomechanischen Wiedergabe und der Übersetzung, vorbehalten. Dies betrifft auch die Vervielfältigung und Übertragung einzelner Textabschnitte durch alle Verfahren wie Speicherung und Übertragung auf Papier, Transparente, Filme, Bänder, Platte und andere Medien, soweit es nicht §§ 53 und 54 URG ausdrücklich gestatten. – Satz: post scriptum, www.post-scriptum.biz. Druck: Strauss Buch, Mörlenbach. Bindung: Litges & Dopf, Heppenheim. Gedruckt auf alterungsbeständigem, säurefreiem Werkdruckpapier. Printed in Germany.
INHALT
I. Vom Übel 1. Artikel 2. Artikel 3. Artikel 4. Artikel 5. Artikel
Ist das Übel ein Etwas?. . . . . . . . . . . . . Existiert das Übel im Guten? . . . . . . . . . Ist das Gute die Ursache für das Übel? . . . . Wird das Übel auf angemessene Weise in Schuld und Strafe eingeteilt? . . . . . . . . . Hat die Strafe oder die Schuld mehr von der Natur des Übels? . . . . . . . . . . . . . . .
. . . 3 . . . 17 . . . 26 . . . 39 . . . 48
II. Über die Sünden 1. Artikel 2. Artikel 3. Artikel 4. Artikel 5. Artikel 6. Artikel
7. Artikel 8. Artikel
Schließt jede Sünde eine Handlung ein? . . . . Besteht die Sünde ausschließlich in der Handlung des Willens? . . . . . . . . . . . . . Besteht die Sünde ihrem Ursprung nach in der Willenshandlung? . . . . . . . . . . . . . . . . Ist jede Handlung moralisch indifferent? . . . Gibt es irgendwelche moralisch indifferenten Handlungen? . . . . . . . . . . . . . . . . . . Konstituiert ein Umstand die Art einer Sünde oder verändert er diese, indem er sie in eine andere Gattung der Sünde überträgt? . . . . . Verschlimmert ein Umstand eine Sünde, ohne die Art der Sünde zu konstituieren? . . . . . . Verschlimmert ein Umstand eine Sünde unendlich, und zwar so, daß er aus einer läßlichen Sünde eine Todsünde macht? . . . . .
. . 61 . . 73 . . 83 . . 88 . . 99
. 108 . 119
. 123
VI
9. Artikel 10. Artikel 11. Artikel 12. Artikel
Inhalt
Sind alle Sünden gleich? . . . . . . . . . . . . . Ist eine Sünde schwerer, weil sie einem größeren Gut entgegengesetzt ist? . . . . . . . . . . . . . Vermindert die Sünde das Gut einer Natur? . . . Kann die Sünde das vollständige Gut einer Natur zerstören? . . . . . . . . . . . . . . . . . .
126 136 139 149
III. Über die Ursache der Sünde 1. Artikel 2. Artikel 3. Artikel 4. Artikel 5. Artikel 6. Artikel 7. Artikel 8. Artikel 9. Artikel 10. Artikel
11. Artikel 12. Artikel 13. Artikel
14. Artikel 15. Artikel
Ist Gott die Ursache der Sünde? . . . . . . . . . . Kommt die Handlung der Sünde von Gott? . . . Ist der Teufel die Ursache der Sünde? . . . . . . . Kann der Teufel den Menschen durch innere Überredung zur Sünde verführen? . . . . . . . . Werden alle Sünden vom Teufel eingegeben? . . Kann Unwissenheit die Ursache der Sünde sein? Ist die Unwissenheit eine Sünde? . . . . . . . . . Kann Unwissenheit eine Sünde entschuldigen oder verringern? . . . . . . . . . . . . . . . . . . Kann jemand, der im Besitz des Wissens ist, aus Schwäche sündigen? . . . . . . . . . . . . . . . . Werden die Sünden, die aus Schwäche begangen werden, dem Menschen als eine tödliche Schuld zur Last gelegt? . . . . . . . . . . . . . . . . . . Erleichtert oder erschwert Schwäche die Sünde? Kann jemand aus Schlechtigkeit oder in vollem Bewußtsein eine Sünde begehen? . . . . . . . . Begeht jener, der aus Schlechtigkeit sündigt, eine schwerere Sünde als derjenige, der aus Schwäche sündigt? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Ist jede aus Schlechtigkeit begangene Sünde eine Sünde wider den Heiligen Geist? . . . . . . . . Kann eine Sünde wider den Heiligen Geist vergeben werden? . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
157 167 171 181 187 189 194 201 206
216 219 221
229 234 244
Inhalt
VII
IV. Von der Erbsünde 1. Artikel 2. Artikel 3. Artikel 4. Artikel 5. Artikel 6. Artikel
7. Artikel 8. Artikel
Wird man durch die Geburt mit irgendeiner Sünde infiziert? . . . . . . . . . . . . . . . . . . 249 Was ist die Erbsünde? . . . . . . . . . . . . . . . 262 Ist die Erbsünde im Fleisch oder in der Seele als ihrem Träger? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 277 Ist die Erbsünde früher in den Vermögen der Seele als in ihrem Wesen? . . . . . . . . . . . . 281 Ist die Erbsünde früher im Willen als in anderen Vermögen? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 285 Wird die Erbsünde von Adam auf alle übertragen, die auf dem Wege des Samens aus ihm hervorgehen? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 288 Werden jene, die nur der Materie nach von Adam abstammen, mit der Erbsünde infiziert? . . . . . 300 Werden die Sünden der nächsten Vorfahren durch die Geburt auf die Nachkommen übertragen? . . 304
V. Von der Str a fe für die Erbsünde 1. Artikel 2. Artikel 3. Artikel 4. Artikel 5. Artikel
Ist die Entbehrung der Schau Gottes eine hinreichende Strafe für die Erbsünde? . . . . . . Wird für die Erbsünde eine sinnlich fühlbare Strafe verdient? . . . . . . . . . . . . . . . . . . Leiden die, die nur mit der Erbsünde belastet sterben, das Elend inneren Schmerzes? . . . . . . Stellen der Tod und andere Mängel dieses Lebens eine Strafe für die Erbsünde dar? . . . . . . . . . Sind der Tod und Mängel dieser Art für den Menschen natürlich? . . . . . . . . . . . . . . .
315 325 330 334 340
VIII
inhalt
VI. Von der menschlichen Willensentscheidung 1. Artikel
Besitzt der Mensch bei seinen Handlungen eine freie Wahl oder wählt er aus Notwendigkeit? . . 353
VII. Über die lässliche Sünde 1. Artikel 2. Artikel 3. Artikel 4. Artikel 5. Artikel 6. Artikel 7. Artikel 8. Artikel 9. Artikel 10. Artikel 11. Artikel 12. Artikel
Wird die läßliche Sünde zu Recht der Todsünde entgegengesetzt? . . . . . . . . . . . . . . . . . Verringert die läßliche Sünde die Gottesliebe? . . Kann aus einer läßlichen Sünde eine Todsünde werden? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Macht ein Umstand aus einer läßlichen Sünde eine Todsünde? . . . . . . . . . . . . . . . . . . Kann sich in der höheren Vernunft eine läßliche Sünde finden? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Kann es in der Sinnlichkeit eine läßliche Sünde geben? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Konnte der Mensch im Zustand der Unschuld eine läßliche Sünde begehen? . . . . . . . . . . . Sind die ersten Bewegungen in den Ungläubigen läßliche Sünden? . . . . . . . . . . . . . . . . . . Kann ein guter oder ein schlechter Engel eine läßliche Sünde begehen? . . . . . . . . . . . . . Wird die läßliche Sünde ohne Gottesliebe mit einer ewigen Strafe bestraft? . . . . . . . . . . . Wird irgendeine läßliche Sünde nach diesem Leben im Fegefeuer vergeben? . . . . . . . . . . Werden die läßlichen Sünden in diesem Leben durch die Besprengung mit Weihwasser, die Salbung des Körpers und andere derartige Dinge vergeben? . . . . . . . . . . . . . . . . . .
373 388 400 411 414 422 427 437 440 443 450
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Inhalt
IX
Nachwort I. Text und Übersetzung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 465 II. Aufbau des Gesamtwerkes . . . . . . . . . . . . . . . . . 466 III. Hauptthesen der qq. 1 bis 7 . . . . . . . . . . . . . . . . . 467 Abkürzungsverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 503
THOMAS VON AQUIN
Vom Übel
I. VOM ÜBEL
Die hier behandelten Fragen lauten: 1. Ist das Übel ein Etwas? 2. Existiert das Übel im Guten? 3. Ist das Gute die Ursache für das Übel? 4. Wird das Übel auf angemessene Weise in Schuld und Strafe eingeteilt? 5. Hat die Strafe oder die Schuld mehr von der Natur des Übels?
1. Artik el Die erste Frage lautet: Ist das Übel ein Etwas? 1 Das scheint der Fall zu sein, denn: 1. Alles Geschaffene ist ein Etwas. Indessen ist das Übel etwas Geschaffenes, nach jenem Vers Jesaja 45, 6–7: »Ich, der Herr, bewirke das Heil und erschaffe das Unheil«.2 Also ist das Übel ein Etwas. 2. Da Gegensätze zur selben Gattung gehören, ist jeder der Gegensätze ein Etwas. Aber das Übel ist nach Jesus Sirach 33, 15 der Gegensatz des Guten: »Das Gute ist dem Übel entgegengesetzt.«3 Also ist das Übel ein Etwas. 3. Dagegen wurde eingewandt, daß das Übel im allgemeinen betrachtet kein Gegensatz ist, sondern eine Beraubung. Aber ein konkretes Übel muß als Gegensatz verstanden werden und ist ein Etwas. – Dagegen spricht: Nichts ist einem anderen in der Hinsicht entgegengesetzt, in der es mit ihm übereinstimmt. Das Schwarze ist 1 Paralleltexte: Sent. II, d. 34 a. 2. ScG III, 7, 8 und 9. Sum. theol. I, q. 48 a. 1. In De div. Nom. cap. 4 lect 14. Comp. theol. I, 115. 2 Jes. 45, 6–7. 3 Sir. 33, 15; Vulg. ›contra malum bonum‹.
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nämlich dem Weißen nicht darin entgegengesetzt, daß es eine Farbe ist. Aber hinsichtlich dessen, was Träger des Übels ist, stimmt das Übel mit dem Guten überein. Also ist das Übel nicht in Hinsicht darauf dem Guten entgegengesetzt, sondern gerade in Hinsicht darauf, daß es schlecht ist. Das Übel ist also ein Etwas, insofern es schlecht ist. 4. Der Gegensatz von Form und Beraubung findet sich auch in den natürlichen Dingen. Aber man sagt nicht, daß das Übel dem Guten in den natürlichen Dingen entgegengesetzt ist, sondern nur in Dingen der Moral. Denn insofern sie entgegengesetzt sind, enthalten das Übel und das Gute unter sich die Tugend und das Laster. Also wird der Gegensatz von gut und schlecht nicht gemäß dem Gegensatz von Beraubung und Habitus aufgefaßt. 5. Dionysius und Johannes von Damaskus sagen, das Übel sei wie die Finsternis.4 Die Finsternis ist aber dem Licht entgegengesetzt, wie es im 2. Buch von Über die Seele heißt.5 Also ist auch das Übel dem Guten entgegengesetzt und ist nicht nur dessen Beraubung. 6. Augustinus sagt, daß das, was einmal existiert, niemals ganz ins Nichtsein vergeht.6 Wenn also die Luft durch die Sonne erhellt wird, so kann jenes verursachende Licht in der Luft nicht völlig zu sein aufhören. Es kann auch nicht gesagt werden, daß es wieder in seinem Grund versammelt wird. Also bleibt im Träger irgendetwas davon, was wie eine unvollkommene Anlage ist. Dieses wird Finsternis genannt. Demnach ist die Finsternis etwas dem Licht Entgegengesetztes und nicht nur dessen Beraubung. Also ist das Übel nicht nur eine Beraubung des Guten, sondern dessen Gegensatz. 7. Zwischen Beraubung und Habitus gibt es kein Mittleres in einem für sie aufnahmefähigen Träger. Aber zwischen gut und schlecht gibt es etwas Mittleres und nicht alle Dinge sind gut und schlecht, wie es in den Kategorien heißt.7 Also sind sich das Gute und das Übel nicht entgegengesetzt wie im Sinne eines Mangels Entgegen4 Vgl. Dionysius Areopagita, De div. nom IV, 32 (Dion., 307). Johannes Damascenus, De fide II, 4 (ed. Buytaert, 75). 5 Aristoteles, De an. II, 14; 418 b 18. 6 Augustinus, De mor. Eccl. II, 7 (PL 32, 1349). 7 Aristoteles, Cat. 10; 12 a 16–17.
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gesetzte, sondern als diametral Entgegengesetzte, zwischen denen es ein Mittleres geben kann. Somit ist das Übel ein Etwas. 8. Alles Zerstörende ist tätig. Aber das Übel, insofern es schlecht ist, zerstört, wie Dionysius im 4. Kapitel von Über die göttlichen Namen sagt.8 Also ist das Übel, insofern es schlecht ist, tätig. Aber nichts ist tätig, insofern es nicht ein Etwas ist. Also ist das Übel, insofern es schlecht ist, ein Etwas. 9. Dagegen wurde eingewandt, Zerstörung sei nicht Tätigsein, sondern der Mangel an Tätigkeit. – Dagegen spricht: Zerstörung ist Bewegung oder Veränderung. Also ist Zerstören Bewegen. Aber Bewegen ist Tätigsein. Also ist Zerstören Tätigsein. 10. Die Zerstörung wird nach Aristoteles im 5. Buch der Physik wie die Entstehung als natürlich befunden.9 Aber in jeder natürlichen Bewegung wird etwas gemäß seiner eigenen Natur durch die Natur des Bewegers erstrebt. Also wird in jeder Zerstörung etwas gemäß seiner eigenen Natur durch die Natur des Zerstörenden erstrebt. Zerstörung ist aber eine Eigentümlichkeit des Übels, wie Dionysius sagt.10 Also hat das Übel eine nach einem Ziel strebende Natur. 11. Was kein Etwas ist, kann keine Gattung sein. Denn nach Aristoteles gibt es keine Arten des Nichtseienden.11 Aber das Übel ist eine Gattung. In den Kategorien heißt es nämlich, daß das Gute und das Übel sich nicht in einer Gattung finden, sondern selbst Gattungen von anderen sind.12 Also ist das Übel ein Etwas. 12. Was kein Etwas ist, kann kein Artunterschied von etwas sein. Denn jeder Artunterschied muß einer und seiend sein, wie es im 3. Buch der Metaphysik heißt.13 Aber gut und schlecht sind Artunterschiede von Tugend und Laster. Also ist das Übel ein Etwas. 13. Was kein Etwas ist, kann nicht wachsen und abnehmen. Aber das Übel wächst und nimmt ab. Das Übel ist nämlich beim Mord 8 9 10 11 12 13
Dionysius Areopagita, De div. nom. IV, 20 (Dion., 243). Aristoteles, Phys. V, 2; 225 a 12–20. Vgl. Dionysius Areopagita, De div. nom. IV, 20 (Dion., 243). Vgl. Aristoteles, Top. IV, 6; 128 b 9. Aristoteles, Cat. 11; 14 a 23–25: Aristoteles, Met. III, 8; 998 b 26.
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größer als beim Ehebruch. Es kann auch nicht gesagt werden, daß das Übel größer ist, insofern es mehr Gutes zu Grunde richtet, weil die Zerstörung des Guten eine Wirkung des Übels ist. Aber nicht wegen des Verursachten wächst die Ursache und nimmt ab, sondern umgekehrt. Also ist das Übel ein Etwas. 14. Alles, dem durch die Lage an einem Ort ein Sein zukommt, ist ein Etwas. Aber das Übel existiert auf diese Weise. Augustinus sagt nämlich: »Sogar das Übel dient dazu, unsere Bewunderung des Guten zu erhöhen, wenn es geregelt und an seinen Ort gestellt wird.«14 Man kann auch nicht sagen, daß dies vom Übel hinsichtlich des Guten, in dem das Übel existiert, verstanden werde. Denn das Übel erregt unsere Bewunderung des Guten durch den Gegensatz zu ihm, insofern »zwei Gegensätze klarer herausstehen, wenn die zwei nebeneinander gestellt werden.«15 Also ist das Übel ein Etwas. 15. Aristoteles im 5. Buch der Physik, daß jede Veränderung aus einem Zugrundeliegenden in ein Zugrundeliegendes oder aus einem Zugrundeliegenden in ein nicht Zugrundeliegendes oder aus einem nicht Zugrundeliegenden in ein Zugrundeliegendes erfolgt. Er nennt das »Zugrundeliegendes«, was in einer Bejahung ausgedrückt wird.16 Wenn sich aber jemand vom Guten zum Schlechten wandelt, verwandelt er sich nicht von einem Zugrundeliegenden in ein nicht Zugrundeliegendes und auch nicht von einem nicht Zugrundeliegenden in ein Zugrundeliegendes. Denn dies sind Veränderungen des Werdens und Vergehens. Also wandelt er sich von einem Zugrundeliegenden in ein Zugrundeliegendes. Und so scheint das Übel etwas im Sinne der Bejahung Existierendes zu sein. 16. Aristoteles sagt im 1. Buch von Über das Werden und Vergehen, das Vergehen des einen sei das Werden eines anderen.17 Aber das Übel als Übel ist zerstörend, entsprechend dem 4. Kapitel von Über die göttlichen Namen von Dionysius.18 Also bringt das Übel, 14 15 16 17 18
Augustinus, Ench. III, 11 (CCSL 46, 53). Vgl. Aristoteles, Rhet. III, 17; 1418 b 3–4. Aristoteles, Phys. V, 2; 225 a 3–7. Vgl. Aristoteles, De gen. et corr. I, 7; 318 a 23–25. Dionysius Areopagita, De div. nom. IV, 20 (Dion., 243).
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insofern es schlecht ist, irgendetwas hervor. Also ist es notwendig, daß es etwas ist, da alles, was hervorgebracht wird, von etwas hervorgebracht wird. 17. Das Gute hat die Natur des Erstrebenswerten. Denn das Gute ist das, was alle erstreben, wie es im 1. Buch der Nikomachischen Ethik heißt.19 Aus demselben Grund hat das Übel die Natur des Fliehenswerten. Aber es kommt vor, daß etwas, das durch eine Verneinung bezeichnet wird, natürlicherweise erstrebt wird und etwas, das durch eine Bejahung bezeichnet wird, geflohen wird. So flieht das Schaf natürlicherweise die Gegenwart des Wolfes und erstrebt dessen Abwesenheit. Also ist das Gute nicht in größerem Maße ein Etwas als das Übel. 18. Die Strafe als Strafe ist gerecht, und was gerecht ist, ist gut. Also ist die Strafe, insofern sie Strafe ist, etwas Gutes. Aber die Strafe, insofern sie Strafe ist, ist etwas Schlechtes. Es wird nämlich das Übel in Strafe und Schuld eingeteilt. Also ist manches Übel als solches ein Gut. Aber jedes Gut ist etwas. Also ist das Übel als Übel etwas. 19. Wenn die Güte kein Etwas wäre, wäre nichts gut. Also gilt in ähnlicher Weise, wenn die Schlechtigkeit selbst kein Etwas ist, ist nichts schlecht. Aber es steht fest, daß es viele Übel gibt. Also ist die Schlechtigkeit ein Etwas. 20. Dagegen wurde eingewandt, das Übel sei kein natürliches oder moralisches Seiendes, sondern ein Gedankending. – Dagegen spricht: Aristoteles sagt im 6. Buch der Metaphysik, daß das Gute und das Übel in den Dingen sind, in der Vernunft aber das Wahre und Falsche.20 Also ist das Übel nicht nur ein Gedankending, sondern ein Etwas in den natürlichen Dingen. Dagegen spricht: 1. Augustinus sagt im 11. Buch von Die Bürgerschaft Gottes, daß das Übel keine Natur ist, sondern daß der Mangel des Guten diesen Namen trägt.21 19 Aristoteles, Eth. Nic. I, 1; 1094 a 2–3. 20 Aristoteles, Met. VI, 4; 1027 b 25–27. 21 Augustinus, De civ. Dei XI, 9 (CCSL 48, 330).
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2. Bei Johannes 1, 3 heißt es: »Alles ist durch Ihn geworden.«22 Aber das Übel ist nicht durch das Wort geworden, wie Augustinus sagt.23 Also ist das Übel kein Etwas. 3. An derselben Stelle wird hinzugefügt: »Ohne das Wort ist nichts geworden.«24 Das bedeutet für die Sünde: »Da die Sünde nichts ist, werden auch die Menschen nichts, wenn sie sündigen«, wie die Glosse des Augustinus an derselben Stelle sagt.25 Aus demselben Grund ist jedes andere Übel nichts. Also ist das Übel kein Etwas. Antwort: Wie das Weiße wird auch das Übel auf zweifache Weise ausgesagt. Auf eine Weise nämlich kann unter »das Weiße« das verstanden werden, was Träger des Weißen ist. Auf andere Weise kann »das Weiße« als das ausgesagt werden, was das Weiße ist, insofern es weiß ist – nämlich die Eigenschaft selbst. Auf ähnliche Weise kann unter dem Übel der Träger des Übels verstanden werden, und dieser ist ein Etwas. Auf andere Weise kann das Übel selbst gedacht werden, und dieses ist kein Etwas, sondern es ist die Beraubung eines besonderen Gutes. Um das zu beweisen, muß man ins Auge fassen, daß etwas im eigentlichen Sinne gut ist, insofern es erstrebenswert ist. Denn nach Aristoteles im 1. Buch der Nikomachischen Ethik bestimmen die das Gute am besten, die sagen, das Gute sei dasjenige, was alle erstreben.26 Als Übel wird aber das bezeichnet, was dem Guten entgegengesetzt ist. Daher muß das Übel das sein, was dem Erstrebenswerten als solchem entgegengesetzt ist. Für dieses aber ist es unmöglich, daß es ein Etwas ist. Das leuchtet aus drei Gründen ein. Erstens nämlich, da das Erstrebenswerte die Natur eines Ziels hat. Die Ordnung der Ziele aber entspricht der Ordnung der Tätigen. Je vortrefflicher und allgemeiner nämlich ein Tätiges ist, um 22 23 24 25
Joh. 1, 3. Vgl. Augustinus, In Johannis evangelium tractatus I, 1 (CCSL 36, 7). Joh. 1, 3. Vgl. eher: Augustinus, In Johannis evangelium tractatus I, 1 (CCSL
36, 7). 26 Aristoteles, Eth. Nic. I, 1; 1094 a 2–3.
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so mehr ist auch das Ziel, wegen dem es tätig ist, ein allgemeineres Gut. Denn alles Tätige ist wegen eines Ziels und wegen eines Guten tätig. Dies ist ganz offensichtlich bei den menschlichen Angelegenheiten: Denn der Statthalter richtet sein Streben auf ein besonderes Gut, das ein Gut für die Stadt ist. Der König aber, der über diesem steht, erstrebt ein allgemeines Gut, nämlich den Frieden des ganzen Reiches. Wenn daher bei den Wirkursachen kein Voranschreiten ins Unendliche stattfinden kann, sondern man zu einer ersten Ursache gelangen muß, die die allgemeine Ursache des Seienden ist, ist es notwendig, daß es auch ein allgemeines Gutes gibt, auf das alle Güter zurückgeführt werden. Dies kann nichts anderes sein als eben dasjenige, das das erste und allgemeine Tätige ist. Denn da das Erstrebenswerte das Streben bewegt, der erste Beweger aber unbewegt sein muß, muß das erste und allgemeine Tätige selbst das erste und allgemein Erstrebenswerte sein, das heißt das erste und allgemeine Gute, das wegen des Strebens nach ihm selbst alles hervorbringt. Wie daher alles, was in den Dingen ist, von der ersten und allgemeinen Ursache des Seienden kommen muß, so muß alles, was in den Dingen ist, aus dem ersten und allgemeinen Gut kommen. Was aber aus dem ersten und allgemeinen Gut entspringt, kann nichts anderes als ein besonderes Gut sein, wie das, was aus der ersten und allgemeinen Ursache des Seienden entspringt, ein besonderes Seiendes ist. Bei allem daher, was in den Dingen ein Etwas ist, ist es notwendig, daß es ein besonderes Gut ist. Daher kann es, insofern es ist, dem Guten nicht entgegengesetzt sein. Daher bleibt übrig, daß das Übel, insofern es ein Übel ist, kein Etwas in den Dingen ist, sondern die Beraubung eines besonderen Guts, die einem besonderen Gut innewohnt. Zweitens ist dasselbe desgleichen einleuchtend, daß alles, was in den Dingen ist, eine Neigung und ein Streben nach etwas besitzt, das ihm angemessen ist. Was aber die Natur des Erstrebenswerten besitzt, hat die Natur eines Guten. Was auch immer daher in den Dingen ist, besitzt eine Verwandtschaft mit dem Guten. Das Übel als solches besitzt aber keine Verwandtschaft mit dem Guten, sondern ist ihm entgegengesetzt. Daher ist das Übel kein Etwas in den Dingen. Aber wenn das Übel ein Ding wäre, würde es weder etwas erstreben noch von etwas erstrebt werden. Folglich besäße es
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weder Tätigkeit noch Bewegung. Denn nichts ist tätig oder wird bewegt – außer durch das Streben nach einem Ziel. Drittens ist es gleichfalls dadurch offensichtlich, daß das Sein selbst in höchstem Maße die Natur des Erstrebenswerten besitzt. Daher sehen wir, daß alles von Natur aus sein Sein zu erhalten strebt und die Dinge, die sein Sein zerstören, sowohl flieht als ihnen auch, soweit es in seinem Vermögen liegt, Widerstand leistet. Somit ist also das Sein selbst, insofern es erstrebenswert ist, gut. Daher muß das Übel, das dem Guten allgemein entgegengesetzt ist, auch dem Sein selbst entgegengesetzt sein. Was aber dem Sein entgegengesetzt ist, kann kein Etwas sein. Daher sage ich, daß das Übel kein Etwas ist. Hingegen ist dasjenige, dem es widerfährt, schlecht zu sein, ein Etwas, insofern das Übel nur ein besonderes Gut entzieht, wie auch die Blindheit selbst kein Etwas ist. Dasjenige hingegen, dem das Blindsein widerfährt, ist ein Etwas. Zu 1. Etwas wird auf zwei verschiedene Weisen als Übel bezeichnet. Auf eine Weise nämlich schlechthin, auf andere Weise hingegen in einer gewissen Hinsicht. Jenes aber wird als Übel schlechthin bezeichnet, das gemäß seiner selbst ein Übel ist. Dies besteht aber darin, daß ein Ding eines besonderen Guts beraubt wird, das für seine Vollkommenheit notwendig ist. So ist etwa Krankheit bei den Lebewesen ein Übel, da sie das ausgeglichene Verhältnis der Körpersäfte raubt, das für die Vollkommenheit eines Lebewesens erforderlich ist. Aber in einer gewissen Hinsicht wird etwas als Übel bezeichnet, das nicht an sich selbst schlecht ist, sondern für ein anderes, weil es nämlich nicht eines Guts beraubt wird, das für seine Vollkommenheit notwendig ist, sondern das für die Vollkommenheit einer anderen Sache notwendig ist. Wie sich im Feuer ein Mangel der Form des Wassers findet, die für die Vollkommenheit des Feuers nicht erforderlich ist, aber für die Vollkommenheit des Wassers. Daher ist das Feuer nicht an sich selbst ein Übel, sondern es ist das Übel des Wassers. Ähnlich ist auch die Ordnung der Gerechtigkeit verknüpft mit der Beraubung eines besonderen Guts eines Sünders, insofern die Ordnung der Gerechtigkeit es erfordert, daß ein Sünder eines Gutes, das er erstrebt, beraubt wird. So ist daher die
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Strafe selbst schlechthin gut, aber für diese Person ist sie schlecht. Von diesem Übel sagt man, daß Gott es erschafft, aber den Frieden bewirkt. Denn das Streben des Sünders wirkt nicht zur Strafe mit, aber das Streben dessen, der den Frieden empfängt, wirkt mit zum Frieden. Schöpfung aber heißt, etwas ohne jegliche Voraussetzung hervorzubringen. Somit ist offensichtlich, daß das Übel nicht als geschaffen bezeichnet wird, insofern es ein Übel ist, sondern insofern es schlechthin ein Gut und in einer gewissen Hinsicht ein Übel ist. Zu 2. Das Gute und das Übel stehen einander genau so entgegen wie Beraubung und Habitus. Denn wie Simplikios in Über die Kategorien des Aristoteles ausführt, werden jene Dinge eigentlich als diametrale Gegensätze bezeichnet, bei denen beide Seiten der Natur gemäß sind: wie zum Beispiel warm und kalt, weiß und schwarz.27 Aber jene Gegensätze, von denen einer gemäß der Natur ist und der andere von der Natur abweicht, sind sich eigentlich nicht als diametrale Gegensätze entgegengesetzt, sondern wie Beraubung und Habitus. Es gibt jedoch zwei Arten der Beraubung. Die eine besteht nämlich im vollständigen Verlust wie Tod und Blindheit. Die andere besteht hingegen im Vorgang des Verlusts – wie das Unwohlsein, das der Weg in den Tod ist, und die Augenentzündung, die der Weg in die Blindheit ist. Auf diese Weise werden die Beraubungen manchmal diametrale Gegensätze genannt, insofern sie noch etwas von dem zurückbehalten, was geraubt wird. Auf diese Weise wird das Übel ein diametraler Gegensatz genannt, da nicht das vollständige Gut geraubt wird, sondern etwas vom Gut zurückbleibt. Zu 3. Wenn das Schwarze nicht etwas von der Natur der Farbe zurückbehalten würde, könnte es nicht der Gegensatz des Weißen sein, da Gegensätze in derselben Gattung sein müssen. Mag daher auch dasjenige, in dem das Weiße mit dem Schwarzen übereinstimmt, nicht zur Begründung der Gegensätzlichkeit ausreichen, so könnte ohne dieses trotzdem keine Gegensätzlichkeit vorliegen. Ähnlich könnte ohne das, in dem das Übel mit dem Guten übereinkommt, trotzdem keine Gegensätzlichkeit bestehen, auch wenn es nicht zur Begründung der Gegensätzlichkeit hinreicht.
27 Simplikios, In Praed. Arist. 11 (ed. Pattin II, 572).
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Zu 4. Das Übel wird deshalb in moralischen Angelegenheiten eher als in Dingen der Natur als Gegensatz des Guten bezeichnet, da die Gegenstände der Moral vom Willen abhängen. Das Gute und das Schlechte sind aber Gegenstand des Willens. Jede Tätigkeit wird aber nach ihrem Gegenstand benannt und erhält von ihm seine Form. So empfängt daher die Handlung des Willens, insofern sie sich auf das Übel richtet, ihre Natur und ihren Namen vom Übel. Dieses Übel ist im eigentlichen Sinne dem Guten entgegengesetzt. Diese Gegensätzlichkeit geht von den Handlungen in einen Habitus über, insofern Handlungen und Habitus einander ähnlich gemacht werden. Zu 5. Die Finsternis ist nicht der Gegensatz des Lichtes, sondern seine Beraubung. Aber Aristoteles benutzt die Bezeichnung Gegensatz häufig für die Beraubung, da er selbst sagt, daß die Beraubung gewissermaßen ein Gegensatz ist28 und daß die erste Gegensätzlichkeit in Beraubung und Form besteht.29 Zu 6. Beim Hereinbrechen der Finsternis bleibt nichts vom Licht zurück, sondern nur die Möglichkeit des Lichts. Diese ist nicht die Finsternis, sondern deren Träger. So war nämlich auch die Luft, bevor sie erleuchtet worden war, nur in Möglichkeit zum Licht. Eigentlich gesprochen ist es nicht das Licht, das ist oder wird oder vergeht, sondern gemäß dem Licht heißt es von der Luft, daß sie erleuchtet ist oder erleuchtet wird oder aufhört, erleuchtet zu sein. Zu 7. Wie Simplikios in seinem Kommentar Über die Kategorien des Aristoteles sagt, gibt es, sofern es auf Gegenstände der Moral angewendet wird, zwischen gut und schlecht ein Mittleres.30 So ist eine moralisch indifferente Handlung etwa ein Mittleres zwischen der tugendhaften und der lasterhaften Handlung. Zu 8. Von dem abstrakt verstandenen Übel, das heißt dem Übel an sich selbst, heißt es, es zerstöre. Das tut es jedoch nicht, indem es tätig ist, sondern durch seine Form, insofern es nämlich die bloße Beraubung des Guten ist, wie man auch von der Blindheit sagt, sie zerstöre den Gesichtssinn, insofern sie selbst die Zerstörung oder Beraubung des Gesichtssinnes ist. Aber das, was ein Übel ist, wenn 28 Vgl. Aristoteles, Phys. V, 2; 225 b 3–4. Met. XI, 11; 1068 a 5–6. 29 Vgl. Aristoteles, Met. X, 6; 1055 a 33. 30 Simplikios, In Praed. Arist. (ed. Pattin II, 527).
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es nämlich schlechthin, das heißt an sich selbst schlecht ist, zerstört nämlich auf folgende Weise: es führt in Tätigkeit und Wirkung nicht durch eine Tätigkeit, sondern durch Untätigkeit zur Zerstörung, das heißt durch den Mangel eines tätigen Vermögens, auf die gleiche Weise wie der mangelhafte Samen auf mangelhafte Weise erzeugt und eine Mißgeburt hervorbringt, die eine Zerstörung der natürlichen Ordnung ist. Aber das, was nicht schlechthin und an sich selbst ein Übel ist, verursacht durch sein vollkommenes tätiges Vermögen Zerstörung, nicht schlechthin, sondern für ein anderes Ding. Zu 9. Auf die Weise einer Formalursache zu zerstören, bedeutet weder Bewegung noch Tätigkeit, sondern zerstört sein. Aber in der Weise einer Wirkursache zu zerstören, bedeutet Bewegung und Tätigkeit. So gehört jedoch das, was dort an Tätigkeit und Bewegung ist, zum Vermögen eines Guten, was dort aber an Mangel ist, gehört zu einem Übel, wie auch immer es aufgefaßt wird. So kommt zum Beispiel, was im Hinken an Bewegung ist, aus dem Gehvermögen, der Mangel an Geradheit aber stammt aus der Verkrüppelung des Beines. Auch das Feuer erzeugt Feuer, insofern es eine so beschaffene Form hat, aber es zerstört das Wasser, insofern eine so beschaffene Beraubung mit dieser Form verknüpft ist. Zu 10. Die Zerstörung, die durch das hervorgebracht wird, was schlechthin und an sich selbst schlecht ist, kann kein natürlicher Verfall sein, sondern ist eher ein Abfall von der Natur. Die Zerstörung aber, die durch das hervorgebracht wird, was für ein anderes Ding schlecht ist, kann der Natur gemäß sein, wie zum Beispiel, daß das Feuer das Wasser zerstört. Dann ist das, was es anstrebt, ein schlechthin Gutes, nämlich die Form des Feuers. Was aber ursprünglich erstrebt wird, ist das Sein des erzeugten Feuers und zweitrangig das Nichtsein des Wassers, insofern dieses für das Sein des Feuers erforderlich ist. Zu 11. Diese Aussage von Aristoteles beinhaltet eine Schwierigkeit. Denn wenn das Übel und das Gute nicht in einer Gattung sind, sondern selbst Gattungen darstellen, kommt die Unterscheidung der zehn Kategorien ins Wanken. Daher, wie Simplikios in seinem Kommentar Über die Kategorien ausführt, haben manche zur Lösung angeboten, die Aussage des Aristoteles sei so zu verstehen, daß das Gute und das Schlechte Gattungen von Gegensätzen sind, näm-
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lich der Tugend und des Lasters, aber nicht in einer entgegengesetzten Gattung, sondern einer Qualität sind.31 Aber diese Erklärung scheint nicht angemessen, denn das dritte Glied unterscheidet sich nicht vom ersten, das behauptet wurde, nämlich daß einige Gegensätze in einer Gattung sind. Daher sagt Porphyrios, daß einige der Gegensätze eindeutig sind.32 Diese sind entweder in einer verwandten Gattung, wie weiß und schwarz in der Gattung der Farbe, die das erste Glied in der Unterscheidung ist, die von Aristoteles getroffen wird.33 Oder sie sind in entgegengesetzten verwandten Gattungen wie Keuschheit und Unkeuschheit, die unter die Tugend und das Laster fallen, worin das zweite Glied der Unterscheidung besteht.34 Einige aber bedeuten Unterschiedliches, wie etwa »gut«, das alle Gattungen umfaßt, genauso wie »seiend« und ähnlich »schlecht«. Daher sagt er, daß gut und schlecht weder in einer Gattung noch in mehreren sind, sondern daß sie selbst Gattungen sind, so wie das Gattung genannt werden kann, was die Gattungen übersteigt, wie »seiend« und »eins«. Aber Iamblichos von Chalkis liefert zwei andere Lösungen.35 Eine davon ist die, daß das Gute und das Übel Arten von Gegensätzen genannt werden, insofern einer der Gegensätze in Beziehung auf den anderen einen Mangel darstellt, wie schwarz in Beziehung auf weiß und bitter in Beziehung auf süß. So werden alle Gegensätze in gewisser Weise auf gut und schlecht zurückgeführt, wie jeder Mangel den Begriff des Übels betrifft. Daher heißt es auch im 1. Buch der Physik, daß Gegensätze immer miteinander verglichen werden wie besser und schlechter.36 Die andere Lösung besteht darin, daß Aristoteles hiermit die Meinung des Pythagoras wiedergibt, der zwei Ordnungen der Dinge aufgestellt hat, von denen eine unter dem Guten, die andere unter dem Übel zusammengefaßt wird.37 Häufig benutzt Aristoteles auch beim ArgumentieSimplikios, In Praed. Arist. (ed. Pattin II, 569). Porphyrios nach Simplikios, In Praed. Arist. (ed. Pattin II, 569). Vgl. Aristoteles, Cat. 11; 14 a 19–25. Vgl. Aristoteles, Cat. 11; 14 a 20. Iamblichos von Chalkis nach Simplikios, In Praed. Arist. (ed. Pattin II, 570). 36 Vgl. Aristoteles, Phys. I, 10; 189 a 3–4. 37 Nach Simplikios, In Praed. Arist. (ed. Pattin II, 570). 31 32 33 34 35
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ren Beispiele, die nicht seiner eigenen Meinung entsprechend richtig sind, sondern die nach Meinung anderer wahrscheinlich sind.38 So ist durch das zuvor Ausgeführte offensichtlich, daß nicht angenommen werden muß, das Übel sei ein Etwas.39 Zu 12. Gut und schlecht sind nur Unterschiede in sittlichen Dingen, in denen das Übel auf bejahende Weise ein Etwas genannt wird, insofern die Willenstätigkeit selbst vom Gewollten her als schlecht bezeichnet wird, wenn auch das Übel selbst nur unter dem Aspekt des Guten gewollt werden kann. Zu 13. Eines wird nicht wegen der Annäherung an ein größtes Übel oder wegen der unterschiedlichen Teilhabe an einer Form ein größeres Übel genannt, wie etwas mehr oder weniger weiß genannt wird gemäß der unterschiedlichen Teilhabe an der Weißheit. Aber etwas wird mehr oder weniger schlecht genannt, insofern es mehr oder weniger des Guten beraubt ist, zwar nicht der Wirkung, aber der Form nach. Mord wird nämlich nicht deshalb als eine größere Sünde als der Ehebruch bezeichnet, weil er in höherem Maße das natürliche Gut der Seele verdirbt, sondern weil er in höherem Maße die Güte der Handlung als solcher entfernt. Der Mord ist nämlich in höherem Maße als der Ehebruch dem Gut der Nächstenliebe entgegengesetzt, von dem die tugendhafte Handlung ihre Form erhalten muß. Zu 14. Nichts hindert, daß das Übel seinen Platz entsprechend dem hat, was in ihm an Gutem bewahrt wird, und daß es das Gute durch seinen Gegensatz aufwertet, insofern es schlecht ist. Zu 15. Das Zugrundeliegende, das durch einen bejahenden Ausdruck bezeichnet wird, ist nicht nur auf einen Gegensatz beschränkt, sondern kann auch eine Beraubung sein. Aristoteles sagt nämlich an derselben Stelle, daß eine Beraubung durch einen bejahenden Ausdruck bezeichnet wird, wie zum Beispiel »nackt«.40 Außerdem hindert nichts daran zu sagen, daß eine Verwandlung vom Guten zum Schlechten eine Art von Verfall ist, so daß es auf diese Weise eine Verwandlung von einem Zugrundeliegenden in ein nicht Zugrunde38 Vgl. z. B. Aristoteles, Top. I, 14; 105 b 30–31. 39 Vgl. De malo q. 1 a. 1 c. 40 Aristoteles, Phys. V, 2; 225 b 3–5.
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liegendes genannt werden kann. Dennoch ist durch das Ausgeführte offensichtlich, daß, wenn der Mensch sich von der Güte der Tugend zur Schlechtigkeit wandelt, dies eine Bewegung von einer Eigenschaft zu einer Eigenschaft ist.41 Zu 16. Wie Dionysius erklärt, ist das Übel zerstörerisch, insofern es schlecht ist, aber hervorbringend ist es nicht, insofern es schlecht ist, sondern insofern es etwas vom Guten zurückbehält.42 Zu 17. Das Nichtsein wird niemals erstrebt, außer insofern durch ein Nichtsein das eigene Sein erhalten wird, wie das Schaf die Abwesenheit des Wolfs wegen der Bewahrung des eigenen Lebens erstrebt und die Anwesenheit des Wolfes nur flieht, insofern sie zerstörend für sein Leben ist. Daraus ist klar, daß das Seiende an sich selbst erstrebt wird, aber geflohen wird wegen etwas, das hinzukommt. Das Nichtseiende wird aber als solches geflohen und wegen etwas, das zu ihm hinzukommt, erstrebt. Daher ist das Gute, insofern es gut ist, ein Etwas, das Übel aber, insofern es schlecht ist, eine Beraubung. Zu 18. Die Strafe, insofern sie Strafe ist, ist ein Übel für jemanden. Insofern sie gerecht ist, ist sie schlechthin gut. Nichts hindert aber, daß etwas, das schlechthin ein Gut ist, für jemanden ein Übel ist, wie die Form des Feuers schlechthin ein Gut, für das Wasser hingegen ein Übel ist. Zu 19. »Seiend« wird auf zweifache Weise ausgesagt: Einmal, insofern es die Natur der zehn Gattungen bezeichnet. In dieser Bedeutung ist weder ein Übel noch eine andere Beraubung ein Seiendes oder ein Etwas. Zum anderen als Antwort auf die Frage, ob es existiert, und in dieser Bedeutung existiert das Übel wie auch die Blindheit existiert. Dennoch ist das Übel kein Etwas. Denn »Etwas sein« bezeichnet nicht nur das, was auf die Frage geantwortet wird, »ob es ist«, sondern auch das, was auf die Frage geantwortet wird, »was es ist«. Zu 20. Das Übel ist zwar in den Dingen, jedoch als eine Beraubung, nicht aber als etwas Wirkliches. Im Verstand wird es hingegen als ein Etwas aufgefaßt. Daher kann man sagen, daß das Übel ein 41 Vgl. De malo q. 1 a. 1 arg. 15. 42 Dionysius Areopagita, De div. nom. IV, 20 (Dion., 243).
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Seiendes in der Vernunft, nicht aber in der Wirklichkeit ist. Denn im Verstand ist es ein Etwas, nicht aber in der Wirklichkeit. Eben diese Tatsache, daß es aufgefaßt ist, weswegen es ein Seiendes in der Vernunft genannt wird, ist gut. Es ist nämlich ein Gut, daß etwas aufgefaßt wird. 2. Artik el Die zweite Frage lautet: Existiert das Übel im Guten? 43 Das scheint nicht der Fall zu sein, denn: 1. Dionysius sagt im 4. Kapitel von Über die göttlichen Namen, daß das Übel weder existierend noch in den existierenden Dingen ist.44 Dies beweist er dadurch, daß alles Existierende gut ist, das Übel jedoch nicht im Guten existiert. Also ist das Übel nicht in etwas Existierendem. So scheint es gewissermaßen offensichtlich, daß das Übel nicht im Guten existiert. 2. Dagegen wurde eingewandt, daß das Übel nicht im Existierenden und im Guten ist, insofern dieses existierend oder gut ist, sondern insofern es mangelhaft ist. – Dagegen spricht: Jeder Mangel fällt unter den Begriff des Übels. Wenn daher das Übel im Existierenden ist, insofern dieses mangelhaft ist, so ist das Übel im Existierenden, insofern das Existierende ein Übel ist. Daher wird ein Übel im Existierenden vorausgesetzt, damit es Träger eines Übels sein kann, und so wird erneut die Frage nach jenem Übel auftauchen, das dessen Träger ist. Wenn das Existierende, insofern es mangelhaft ist, dessen Träger ist, wird ein anderes Übel vorausgesetzt werden müssen, und so geht es unendlich weiter. Es muß also an der ersten Behauptung festgehalten werden, daß nämlich das Übel, wenn es in einem Existierenden ist, in ihm nicht ist, insofern es mangelhaft ist, sondern insofern es existierend ist. Das widerspricht der Behauptung des Dionysius.45
43 Paralleltexte: Sent. II, d. 34 a. 4. ScG III, 11. Sum. theol. I, q. 48 a. 3. Comp. theol. I, 118. 44 Dionysius Areopagita, De div. nom. IV, 20 (Dion., 250–256). 45 Vgl. De malo q. 1 a. 2 ad 3.
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3. Schlecht und gut sind Gegensätze. Aber einer der Gegensätze existiert nicht im anderen, wie die Kälte nicht im Feuer existiert. Also existiert das Übel nicht im Guten. 4. Dagegen wurde eingewandt, daß das Übel nicht in einem ihm selbst entgegengesetzten Gut ist, sondern in einem anderen. – Dagegen spricht: All das, was vielen zukommt, kommt ihnen durch eine gemeinsame Natur zu. Aber das Gute kommt vielen zu, ähnlich auch das Übel. Also kommt das Gute durch eine gemeinsame Natur allen Gütern zu und das Übel allen Übeln. Aber das allgemein verstandene Übel ist dem Guten entgegengesetzt. Also ist jedes beliebige Übel jedem beliebigen Gut entgegengesetzt. Wenn daher irgendein Übel in irgendeinem Gut ist, so folgt, daß ein Entgegengesetztes in seinem Gegensatz ist. 5. Augustinus sagt im Enchiridion, daß in dem Fall, daß das Übel im Guten ist, die Regel der Logiker ungültig ist, die sagt, daß Gegensätze nicht zugleich bestehen können.46 Nicht aber würde sie ungültig sein, wenn das Übel nicht im ihm entgegengesetzten Guten wäre. Also folgt daraus, daß das Übel im Guten ist, daß das Gegenteil in seinem Gegensatz ist. Das kann in keiner Hinsicht sein, da alle Gegensätze einen Widerspruch einschließen, Widersprechende aber in keiner Hinsicht zugleich sein können. Also ist das Übel nicht im Guten. 6. Alles, was in etwas existiert, wird entweder von einem Träger als eine natürliche Eigenschaft hervorgebracht – wie die Hitze durch das Feuer – oder von einem äußerlich Wirkenden wie die Hitze des Wassers, die keine natürliche Eigenschaft von ihm ist, durch das Feuer. Wenn daher das Übel im Guten existiert, wird es entweder durch das Gute oder durch ein Anderes verursacht: aber nicht durch das Gute, da das Gute nach Matthäus 7, 18 nicht die Ursache eines Übels sein kann: »Ein guter Baum kann keine schlechte Frucht hervorbringen.«47 Andererseits wird es nicht durch ein anderes verursacht, da auch dieses entweder ein Übel oder ein gemeinsamer Ursprung des Übels und des Guten ist. Aber das nicht vom Guten verursachte Übel kann nicht die Ursache eines Übels sein, das 46 Augustinus, Ench. IV, 14 (CCSL 46, 55). 47 Mt. 7, 18.
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im Guten ist. Denn auf diese Weise würde folgen, daß nicht jeder Zweiheit eine Einheit als Ursprung vorhergehen würde. Wiederum kann es keinen gemeinsamen Ursprung des Guten und Schlechten geben, da ein und dasselbe nicht verschiedene und ungleichartige Wirkungen hervorbringt. Also kann das Übel auf keine Weise im Guten sein. 7. Keine Eigenschaft verringert oder zerstört den Träger, in dem sie ist. Aber das Übel vermindert oder zerstört das Gute. Also ist das Übel nicht im Guten. 8. Wie das Gute auf die Wirklichkeit hingeordnet ist, so das Übel umgekehrt auf die Möglichkeit. Daher findet sich das Übel nur in den Dingen, die in Möglichkeit sind, wie es im 9. Buch der Metaphysik heißt.48 Aber das Übel ist wie jedweder Mangel in Möglichkeit. Also ist das Übel nicht im Guten, sondern in einem Übel. 9. Das Gute und das Ziel sind dasselbe, wie es im 5. Buch der Metaphysik und im 2. Buch der Physik heißt.49 Auch Form und Ziel stimmen in demselben überein, wie es im 2. Buch der Physik heißt.50 Aber der Mangel der Wesensform sondert die Form von der Materie ab, also bleibt kein Gut zurück. Wenn der Mangel daher in der Materie ist und die Natur eines Übels hat, scheint es, daß nicht jedes Übel im Guten existiert. 10. Je vollkommener ein Träger ist, um so mehr findet sich auch seine Eigenschaft in ihm. Je vollkommener zum Beispiel ein Feuer ist, um so heißer ist es. Wenn daher das Übel im Guten als in seinem Träger ist, so würde folgen, daß dort das Übel um so größer ist, je vollkommener das Gute ist. Das ist unmöglich. 11. Jeder Träger strebt danach, eine Eigenschaft zu bewahren. Aber das Übel wird nicht vom Guten bewahrt, sondern eher zerstört. Also existiert das Übel nicht im Guten als seinem Träger. 12. Jede Eigenschaft bezeichnet ihren Träger. Wenn daher das Übel im Guten ist, wird es das Gute bezeichnen, und so wird folgen,
48 Aristoteles, Met. IX, 10; 1051 a 19–21. 49 Aristoteles, Met. V, 3; 1013 b 25–26. Aristoteles, Phys. II, 5; 195 a
23–24. 50 Aristoteles, Phys. II, 11; 198 a 25–26.
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daß das Gute schlecht ist. Das widerspricht dem, was in Jesaja 5, 20 gesagt wird: »Wehe denen, die das Gute böse nennen.«51 13. Was nicht ist, ist in keinem. Aber das Übel ist kein Seiendes. Also ist es nicht im Guten. 14. Wie der Mangel von der Natur des Übels ist, so ist die Vollkommenheit von der Natur des Guten. Aber das Übel existiert in keinem Vollkommenen, da es ein Verfall ist. Also ist das Übel nicht im Guten. 15. Das Gute ist das, was alle erstreben. Aber das, was Träger eines Übels ist, ist nicht erstrebenswert. Denn niemand erstrebt ein Leben in Elend, wie es im 9. Buch der Nikomachischen Ethik heißt.52 Also ist das, was Träger eines Übels ist, kein Gut. 16. Alles schadet nur seinem Gegensatz. Wenn das Übel daher nicht in einem ihm entgegengesetzten Gut ist, sondern in einem anderen Gut, wird es ihm nicht schaden. Somit wird es nicht die Natur eines Übels haben. Denn es ist in dem Maße schlecht, insofern es dem Guten schadet, wie es bei Augustinus im Enchiridion und im Buch Über die Natur des Guten heißt.53 Aber das Gute kann nicht in einem ihm entgegengesetzten Übel sein. Also ist das Übel in keinem Guten. Dagegen spricht: 1. Augustinus sagt im Enchiridion, daß das Übel nur im Guten existieren kann.54 2. Das Übel ist der Mangel des Guten, wie Augustinus sagt.55 Aber der Mangel bestimmt seinen Träger. Er ist nämlich eine Verneinung in seinem Träger, wie es im 4. Buch der Metaphysik heißt.56 Also bestimmt das Übel seinen Träger. Aber jeder Träger ist gut, da er ein Seiendes ist. Denn »gut« und »sein« sind austauschbar. Also existiert das Übel im Guten. 51 Jes. 5, 20. 52 Aristoteles, Eth. Nic. IX, 11; 1170 a 22–23. 53 Augustinus, Ench. IV, 12 (CCSL 46, 54). Augustinus, De natura boni
6 (CSEL 25/2, 858). 54 Augustinus, Ench. IV, 14 (CCSL 46, 55). 55 Vgl. Augustinus, Ench. III, 11 (CCSL 46, 53). 56 Aristoteles, Met. IV, 3; 1004 a 15–16.
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Antwort: Das Übel kann nur im Guten existieren. Um das zu beweisen, muß man wissen, daß vom Guten auf zweifache Weise gesprochen werden kann: einerseits vom unbedingten Guten, andererseits von »diesem guten Etwas«, zum Beispiel »dem guten Menschen« oder »dem guten Auge«. Wenn daher vom unbedingten Guten gesprochen wird, hat das Gute die größte Ausdehnung – auch größer als das Seiende, wie die Platoniker glaubten. Denn da das Gute das Erstrebenswerte ist, ist das, was an sich erstrebenswert ist, an sich gut. Dies ist aber das Ziel. Da aber aus der Tatsache, daß wir das Ziel erstreben, folgt, daß wir die Mittel erstreben, die auf das Ziel hingeordnet sind, ist es folgerecht, daß die auf das Ziel gerichteten Mittel die Natur des Guten besitzen, eben deshalb, weil sie auf ein Ziel oder Gut gerichtet sind. Daher werden die nützlichen Dinge unter die Abteilung des Guten gerechnet. Auch alles, was in Möglichkeit zum Guten ist, hat genau deshalb, weil es in Möglichkeit zum Guten ist, eine Hinordnung auf das Gute. Denn in Möglichkeit zu sein, ist nichts anderes, als auf die Wirklichkeit bezogen zu sein. Es ist also offensichtlich, daß das, was in Möglichkeit ist, genau deshalb, weil es in Möglichkeit ist, die Natur des Guten hat. Jeder Träger – auch die erste Materie – hat daher, insofern er in Bezug auf eine Vollkommenheit in Möglichkeit ist, gerade eben deshalb weil er in Möglichkeit ist, die Natur des Guten. Da die Platoniker nicht zwischen der Materie und dem Mangel unterschieden haben und die Materie mit dem Nichtsein gleichsetzten, behaupteten sie, daß das Gute sich auf mehr erstreckt als das Seiende. Diesem Weg scheint Dionysius in seiner Schrift Über die göttlichen Namen gefolgt zu sein, indem er das Gute dem Seienden voranstellt.57 Obwohl die Materie vom Mangel verschieden ist und nur in unwesentlicher Weise nichtseiend ist, ist diese Überlegung trotzdem in gewisser Hinsicht wahr: Denn die erste Materie wird nur als in Möglichkeit seiend bezeichnet, und schlechthin seiend ist sie durch die Form. Aber die Möglichkeit hat sie durch sich selbst. Da
57 Vgl. Dionysius Areopagita, De div. nom. IV, 3 (Dion., 158).
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die Möglichkeit zur Natur des Guten gehört, wie ausgeführt worden ist,58 folgt, daß das Gute ihr durch sich selbst zukommt. Obwohl aber jedes Seiende, sei es in Wirklichkeit oder in Möglichkeit, auf unbedingte Weise an sich selbst gut genannt werden kann, folgt aus dieser Tatsache dennoch nicht, daß jede beliebige Sache ein »gutes Dies da« ist. Wenn zum Beispiel ein Mensch schlechthin gut ist, folgt nicht, daß er ein guter Flötenspieler ist, sondern nur dann, wenn er die Vollkommenheit in der Kunst des Flötenspielens erlangt hat. So folgt daher aus eben dieser Tatsache, daß ein Mensch, genau insofern er ein Mensch ist, ein bestimmtes Gut ist, dennoch nicht, daß er ein guter Mensch ist, sondern das, was jedes Einzelne gut macht, ist dessen eigene Tugend. Die Tugend ist nach Aristoteles in der Nikomachischen Ethik nämlich das, was ihren Besitzer gut macht.59 Die Tugend ist aber das Höchste der Möglichkeit einer Sache, wie es im 1. Buch von Über den Himmel heißt.60 Daraus ist ersichtlich, daß etwas dann ein »gutes Dies da« genannt wird, wenn es die ihm eigentümliche Vollkommenheit besitzt – zum Beispiel »ein guter Mensch«, wenn er die dem Menschen eigentümliche Vollkommenheit besitzt, und »ein gutes Auge«, wenn es die dem Auge eigentümliche Vollkommenheit hat. Nach dem Vorangehenden ist es daher offensichtlich, daß das Gute auf dreifache Weise ausgesagt wird. Erstens wird nämlich die Vollkommenheit selbst des Dinges sein Gut genannt. So wird zum Beispiel die Schärfe des Gesichtssinnes das Gut des Auges genannt und die Tugend das Gut des Menschen. Zweitens wird die Sache gut genannt, die ihre Vollkommenheit besitzt – wie der tugendhafte Mensch und das scharfsichtige Auge. Auf dritte Weise wird der Träger selbst gut genannt, insofern er in Möglichkeit zur Vollkommenheit ist, wie die Seele zur Tugend und die Substanz des Auges zur Scharfsichtigkeit. Da aber das Übel, wie oben ausgeführt worden ist,61 nichts anderes als die Beraubung der erforderlichen Vollkommenheit ist, die Beraubung aber nur in einem in Möglichkeit Seien58 59 60 61
Vgl. De malo q. 1 a. 2 c. Vgl. Aristoteles, Eth. Nic. II, 6; 1106 a 15 und 22. Aristoteles, De caelo I, 25; 281 a 14. Vgl. De malo q. 1 a. 1.
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den ist, und da wir das beraubt nennen, das bestimmt ist, etwas zu haben, und es nicht hat, folgt, daß das Übel in einem Gut ist, insofern das in Möglichkeit Seiende gut genannt wird. Aber das Gut, das eine Vollkommenheit ist, wird durch das Übel beseitigt. Daher kann in einem solchen Gut das Übel nicht existieren. Aber das Gute, das aus Träger und Vollkommenheit zusammengesetzt ist, wird durch das Übel verringert, insofern die Vollkommenheit zerstört wird und der Träger zurückbleibt. So raubt zum Beispiel die Blindheit den Gesichtssinn, läßt das Auge ohne Sehkraft zurück und existiert in der Grundlage des Auges oder eben auch in der Seele als in ihrem Träger. Wenn daher ein Gut existiert, das reine Wirklichkeit ohne jede Beimischung von Möglichkeit ist, so wie Gott ist, so kann in solch einem Gut auf keine Weise ein Übel existieren. Zu 1. Dionysius meint nicht, daß das Übel nicht im Existierenden ist wie eine Beraubung im Träger, sondern daß es nicht etwas im Sinne einer Position im Träger Existierendes ist, so wie es nicht etwas durch sich Existierendes ist. Zu 2. Wenn es heißt, daß das Übel im Existierenden ist, insofern es mangelhaft ist, kann dies zweifach aufgefaßt werden: Einerseits, daß das »insofern« eine Art Begleitumstand bezeichnet. Auf diese Weise ist das, was gesagt wird, wahr, in der Redeweise, in der gesagt werden kann, daß das Weiße im Körper ist, insofern der Körper weiß ist. Andererseits, daß das »insofern« eine im Träger vorher bestehende Bedingung bezeichnet, und das Argument verfährt auf diese Weise. Zu 3. Das Übel ist nicht dem Guten entgegengesetzt, in dem es existiert. Es ist nämlich in dem Guten, das in Möglichkeit ist. Das Übel ist jedoch eine Beraubung. Aber die Möglichkeit ist weder der Beraubung noch der Vollkommenheit entgegengesetzt, sondern liegt beiden zu Grunde. Dionysius benutzt dieses Argument dennoch im 4. Kapitel von Über die göttlichen Namen, um zu zeigen, daß das Übel nicht als etwas Existierendes im Guten ist.62
62 Dionysius Areopagita, De div. nom. IV, 21 (Dion., 261).
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Zu 4. Jenes Argument weist mehrere Mängel auf. Denn was zuerst gesagt wird, daß das, was mehreren zukommt, ihnen hinsichtlich einer gemeinsamen Natur zukommt, gilt von den Dingen, die von mehreren in einer Bedeutung ausgesagt werden. »Gut« wird aber nicht von allen guten Dingen in derselben Bedeutung ausgesagt, wie auch »seiend« nicht von allen seienden Dingen. Denn beide finden sich in allen Gattungen. Durch dieses Argument zeigt Aristoteles im 1. Buch der Nikomachischen Ethik, daß es nicht eine gemeinsame Idee des Guten gibt.63 Zweitens, da auch bei dem Zugeständnis, daß »gut« und auch »schlecht« in einer Bedeutung ausgesagt würden, das Übel, da es ein Mangel ist, dennoch nicht von mehreren gemäß einer gemeinsamen Natur ausgesagt wird. Drittens, da auch bei dem Zugeständnis, daß jedes von beiden in derselben Bedeutung ausgesagt und jedes von beiden eine Natur bezeichnen würde, zwar gesagt werden könnte, daß die gemeinsame Natur des Übels der gemeinsamen Natur des Guten entgegengesetzt wäre. Dennoch wäre es nicht notwendig, daß jedes Übel einem jeden Gut entgegengesetzt wäre, wie das Laster im allgemeinen der Tugend im allgemeinen entgegengesetzt ist und dennoch nicht jedwedes Laster einer jedweden Tugend. Denn Unbeherrschtheit ist der Freigebigkeit nicht entgegengesetzt. Zu 5. Insoweit, als das Übel im Guten ist, ist die Regel der Logiker hinsichtlich der Wahrheit der Sache nicht ungültig. Denn das Übel ist nicht in einem ihm entgegengesetzten Gut, wie ausgeführt worden ist. Sie scheint hingegen ungültig zu sein, insofern das Übel schlechthin ausgesagt wird und das Gute einen Gegensatz zu enthalten scheint. Zu 6. Da das Übel nicht in einem Träger als dessen natürliche Eigenschaft ist, wird es nicht vom Träger verursacht, genauso wenig wie die Beraubung durch die Möglichkeit verursacht wird. Ebenso hat es auch an sich keine äußere Ursache, sondern nur durch ein Hinzukommendes. Das wird offensichtlich werden, wenn nach der Ursache des Übels gefragt wird.64
63 Aristoteles, Eth. Nic. I, 6; 1096 a 17–34. 64 Vgl. De malo q. 1 a. 3.
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Zu 7. Das Übel existiert im Guten als in einem Träger, den es verringert oder zerstört, insofern das in Möglichkeit Seiende gut genannt wird. Zu 8. Obwohl die Wirklichkeit an sich selbst gut ist, folgt dennoch nicht, daß die Möglichkeit an sich schlecht ist. Sondern die Möglichkeit, wegen eben der Tatsache, daß sie auf die Wirklichkeit hingeordnet ist, hat die Natur des Guten, wie ausgeführt worden ist.65 Zu 9. Das Argument weist mehrere Mängel auf. Erstens nämlich, obwohl das Ziel an sich selbst gut ist, ist trotzdem nicht nur das Ziel gut, sondern auch die auf das Ziel geordneten Mittel haben gerade wegen dieser Ordnung die Natur eines Guts, wie ausgeführt wurde.66 Zweitens, da, obwohl einige Ziele mit der Form identisch sind, trotzdem nicht folgt, daß jedes Ziel eine Form ist. Denn bei bestimmten Dingen ist die Tätigkeit selbst oder der Gebrauch das Ziel, wie es im 1. Buch der Nikomachischen Ethik heißt.67 Wiederum, da das hergestellte Ding sozusagen das Ziel des Herstellenden ist, ist die Anlage für die Form in den Künsten, die die Materie vorbereiten, das Ziel. Die Materie selbst, insofern sie von der göttlichen Kunst gemacht ist, ist aus diesem Grund ein Gut und ein Ziel, insofern die Absicht des Schöpfers auf sie gerichtet ist. Zu 10. Dieses Argument ist gültig bei den Eigenschaften, die auf die Natur des Trägers folgen, wie die Wärme aus der Natur des Feuers hervorgeht. Anders verhält es sich jedoch bei der Eigenschaft, die eine Entfernung von der Natur ist, wie die Krankheit. Denn wenn die Krankheit Eigenschaft eines Lebewesens ist, folgt nicht, daß, je stärker das Lebewesen gewesen ist, es um so kränker ist, sondern es folgt, daß es um so weniger krank ist. Dasselbe Argument gilt von jedem Übel. Es kann jedoch folgendes gesagt werden: je mehr etwas in Möglichkeit für das Gute ist und in je höherem Grade etwas dazu geeignet ist, um so schlimmer ist es, daß es des Guten beraubt ist. Das Gute, das Träger des Übels ist, ist allerdings Möglichkeit. Somit ist auf eine gewisse Weise das Übel um so größer, je größer das Gute ist, das Träger des Übels ist. 65 Vgl. De malo q. 1 a. 2 c. 66 Vgl. De malo q. 1 a. 2 c. 67 Aristoteles, Eth. Nic. I, 1; 1094 a 3–5.
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Zu 11. Ein Träger bewahrt die Eigenschaft, die in natürlicher Weise an ihm vorkommt. Aber das Übel ist nicht so im Guten, als ob es in natürlicher Weise an ihm aufträte. Dennoch könnte das Übel nicht bestehen, wenn das Gute vollständig zerstört sein würde. Zu 12. Wie Augustinus im Enchiridion sagt, widerspricht der prophetische Ausspruch denen, die behaupten, das Gute als Gutes sei schlecht, nicht aber denen, die behaupten, daß das, was in einer Hinsicht gut ist, in einer anderen Hinsicht schlecht ist.68 Zu 13. Man sagt vom Übel nicht, daß es im Guten als etwas im Sinne einer positiven Zuschreibung Ausgesagtes existiert, sondern als eine Beraubung. Zu 14. Nicht nur das Vollkommene hat die Natur des Guten, sondern auch das, was in Möglichkeit zur Vollkommenheit ist. Zu 15. Der Träger einer Beraubung ist, obwohl er nicht deshalb erstrebenwert ist, weil er Träger einer Beraubung ist, dennoch deshalb erstrebenswert, weil er in Möglichkeit zur Vollkommenheit ist. Aus diesem Grund ist er gut. Zu 16. Das Übel schadet dem aus Möglichkeit und Wirklichkeit zusammengesetzten Guten, insofern es ihm seine Vollkommenheit nimmt. Es schadet auch dem Guten selbst, das in Möglichkeit ist, nicht als würde es ihm etwas nehmen, sondern insofern es die Wegnahme selbst oder die Beraubung der Vollkommenheit ist, der es entgegengesetzt ist.
3. Artik el Die dritte Frage lautet: Ist das Gute die Ursache für das Übel? 69 Das scheint nicht der Fall zu sein, denn: 1. In Matthäus 7, 18 heißt es: »Ein guter Baum kann keine schlechten Früchte tragen.«70 Aber »Frucht« bezeichnet die Wirkung einer Ursache. Also kann das Gute nicht Ursache des Übels sein. 68 Augustinus, Ench. IV, 13 (CCSL 46, 55). 69 Paralleltexte: Sent. II, d. 34 a. 3. ScG II, 41; III, 10. Sum. theol. I, q. 49
a. 1. I–II, q. 75 a. 1. In Dionys. De div. Nom. cap. 4 lect. 22. 70 Mt. 7, 18.
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2. Die Wirkung hat eine Ähnlichkeit mit ihrer Ursache, da jedes Wirkende sein ihm Ähnliches hervorbringt. Aber keine Ähnlichkeit mit dem Übel hat ein vorheriges Dasein im Guten. Also ist das Gute nicht die Ursache des Übels. 3. Dinge, die Wirkungen ihrer Ursache sind, besitzen dem Wesen nach ein vorheriges Dasein in ihren Ursachen. Wenn daher das Übel durch das Gute verursacht wird, hat das Übel dem Wesen nach ein vorheriges Dasein im Guten. Das ist unmöglich. 4. Ein Gegensatz ist nicht Ursache des anderen. Aber das Übel ist dem Guten entgegengesetzt. Also ist das Gute nicht die Ursache des Übels. 5. Dionysius sagt im 4. Kapitel von Über die göttlichen Namen: »Das Böse kommt nicht vom Guten, und wenn es vom Guten kommt, ist es nicht böse.«71 6. Dagegen wurde eingewandt, daß das Gute, insofern es mangelhaft ist, die Ursache des Übels ist. – Dagegen spricht: Jeder Mangel hat die Natur eines Übels. Wenn also das Gute, insofern es mangelhaft ist, Ursache des Übels ist, so folgt, daß das Gute die Ursache des Übels ist, insofern in ihm ein Übel ein vorheriges Dasein hat. Dann wird die Frage nach jenem Übel wiederkehren. Es findet also entweder ein unendlicher Regreß statt oder das Übel wird auf ein erstes Übel zurückgeführt werden müssen, das Ursache des Übels ist, oder man wird sagen müssen, daß das Gute, insofern es gut ist, Ursache des Übels ist. 7. Dagegen wurde eingewandt, daß jener Mangel, der ein vorheriges Dasein im Guten hat, insofern es Ursache des Übels ist, kein wirklich seiendes Übel ist, sondern die Zerstörbarkeit oder die Möglichkeit zum Mangel. – Dagegen spricht: Aristoteles sagt im 2. Buch der Physik, daß die Ursachen als Möglichkeiten sich auf Wirkungen als Möglichem beziehen und die Ursachen als Wirklichkeit auf die Wirkungen als Wirklichem.72 Deshalb also, weil etwas der Möglichkeit nach mangelhaft ist, ist es nicht die Ursache des wirklich seienden Mangels, der ein wirklich seiendes Übel ist.
71 Dionysius Areopagita, De div. nom. IV, 19 (Dion., 234). 72 Aristoteles, Phys. II, 6; 195 b 27–28.
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8. Wenn die hinreichende Ursache gegeben ist, ist die Wirkung gegeben. Denn es gehört zur Natur der Ursache, daß sie das Sein ihrer Wirkung hervorbringen muß. Aber nicht jedes Mal, wenn die Möglichkeit des Mangels in einem Geschöpf ist, findet sich in ihm ein wirklich seiendes Übel. Es existiere also etwas mit der Möglichkeit des Mangels, das im Zustand A noch nicht mangelhaft ist, in B aber wirklich mangelhaft ist. Entweder also kommt etwas in B hinzu, das in A noch nicht war, oder es kommt nichts hinzu. Wenn nichts hinzukommt, wird kein Mangel in B existieren, wie auch kein Mangel in A war. Wenn aber etwas hinzugefügt worden ist, ist das entweder gut oder schlecht. Wenn es schlecht ist, wird wie vorher ein unendlicher Regreß auftreten.73 Wenn es gut ist, dann ist es also gut, genau insofern es die Ursache des Übels ist. Somit folgt, daß ein größeres Gut die Ursache eines größeren Übels und das höchste Gut die Ursache des größten Übels ist. Das Gute, insofern es mangelhaft ist, ist also nicht die Ursache des Übels. 9. Jedes Gut, insofern es geschaffen ist, kann mangelhaft sein. Wenn also das Gute, insofern es mangelhaft sein kann, die Ursache des Übels ist, folgt, daß das Gute, insofern es geschaffen ist, die Ursache des Übels ist. Aber das geschaffene Gute bleibt immer geschaffen, also wird es immer Ursache des Übels sein. Das ist widersinnig. 10. Wenn das Gute, insofern es der Wirklichkeit oder Möglichkeit nach mangelhaft ist, die Ursache des Übels ist, folgt, daß das, was weder der Wirklichkeit noch der Möglichkeit nach auf irgendeine Weise mangelhaft ist, nicht die Ursache eines Übels sein kann. Das spricht gegen das, was in Jesaja 45, 7: »Ich der Herr schaffe das Übel«74 und in Amos 3, 6: »Es gibt kein Übel in der Stadt, das Gott nicht tut«75 gesagt wird. Also ist das Gute, insofern es mangelhaft ist, nicht die Ursache des Übels. 11. Wie sich die Vollkommenheit zum Guten verhält, so verhält sich der Mangel zum Übel. Also gilt umgekehrt: wie sich der Mangel zum Guten verhält, so verhält sich die Vollkommenheit zum Übel. Aber ein Mangel, insofern er ein Mangel ist, ist die Ursache 73 Vgl. De malo q. 1 a. 3 arg. 6. 74 Jes. 45, 7. 75 Am. 3, 6; Vulg. ›si erit malum in civitate quod Dominus non fecerit‹.
3. Artikel
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des Guten. Der Glaube, insofern er eine unklare Wahrnehmung ist, was unter den Mangel der Anschauung fällt, ist die Ursache eines Verdienstes. Also kann das Gute, insofern es vollkommen und nicht insofern es mangelhaft ist, die Ursache des Übels sein. 12. Für eine Handlung sind drei Dinge erforderlich: die richtunggebende Vernunft, der befehlende Wille und das ausführende Vermögen. Aber der Mangel in der Vernunft, der Unwissenheit ist, entschuldigt vom Übel, das heißt von der Schuld. Somit ist er nicht die Ursache des Übels. Ähnlich entschuldigt der Mangel des Vermögens, in dem die Schwäche besteht. Also entschuldigt auch der Mangel, der im Willen liegt. Der Wille, insofern er ein mangelhaftes Gut ist, ist also nicht die Ursache des Übels. 13. Wenn der Wille, insofern er mangelhaft ist, die Ursache des Übels ist, dann ist er das also entweder, insofern ihm das Gut fehlt, das in ihm sein soll. Das ist eine Strafe. Somit würde die Strafe der Schuld vorhergehen. Oder ihm fehlt ein Gut, das ihm nicht inne sein soll, und aus einem solchen Mangel geht kein Übel hervor. Denn in einem Stein folgt kein Übel daraus, daß er keinen Gesichtssinn hat. Daher ist das Gute, insofern es mangelhaft ist, auf keine Weise die Ursache des Übels. 14. Dagegen wurde eingewandt, daß das Gute, insofern es gut ist, die Ursache des Übels sein kann, aber durch etwas nebensächlich Hinzukommendes. – Dagegen spricht: Die Handlung eines Handelnden erreicht durch etwas nebensächlich Hinzukommendes eine Wirkung, zum Beispiel führt die Handlung eines Totengräbers zur Entdeckung eines Schatzes. Wenn also das Gute durch etwas nebensächlich Hinzukommendes die Ursache des Übels ist, ergibt sich daraus, daß eine gute Handlung sich auf das Übel selbst erstreckt. Das scheint widersinnig. 15. Jemand, der unabsichtlich etwas Unerlaubtes tut, sündigt nicht, zum Beispiel wenn jemand einen Feind schlagen möchte und seinen Vater schlägt. Aber die Ursache von etwas, was sie nicht selbst erstrebt, ist davon eine unfallartige Ursache. Wenn daher das Übel nur eine unfallartige Ursache hat, folgt, daß keiner durch das Tun des Schlechten sündigt. Das ist widersinnig. 16. Jede nebensächliche Ursache wird auf eine wesentliche Ursache zurückgeführt. Wenn das Übel daher eine nebensächliche Ur-
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sache hat, scheint zu folgen, daß das Übel eine wesentliche Ursache haben würde. 17. Das, was durch etwas nebensächlich Hinzukommendes erfolgt, erfolgt in wenigeren Fällen. Aber das Übel erfolgt in den meisten Fällen. Denn wie es in Kohelet 1, 15 heißt: »Die Zahl der Narren ist unendlich.«76 Also hat das Übel eine wesentliche und keine nebensächliche Ursache. 18. Die Natur ist die wesentliche Ursache der Dinge, die auf natürliche Weise entstehen, wie es im 2. Buch der Physik heißt.77 Aber manche Übel entstehen auf natürliche Weise, nämlich Tod und Alter, wie es im 5. Buch der Physik heißt.78 Also kann nicht gesagt werden, daß das Gute die unfallartige Ursache des Übels ist. 19. Sowohl die Wirklichkeit als auch die Möglichkeit sind gut. Aber keines von beiden ist die Ursache des Übels. Denn die Form, die die Wirklichkeit ist, wird durch das Übel beraubt, aber das Gute, das die Möglichkeit ist, steht in Beziehung zu beiden, nämlich zum Guten und zum Übel. Also ist kein Gut die Ursache eines Übels. Dagegen spricht: 1. Augustinus sagt im Enchiridion, daß das Übel seinen Ursprung nur vom Guten haben kann.79 2. Dionysius sagt im 4. Kapitel von Über die göttlichen Namen, daß aller Übel Grund und Ziel das Gute ist.80 Antwort: In der Weise, in der das Übel eine Ursache haben kann, ist das Gute Ursache des Übels. Man muß nämlich wissen, daß das Übel keine wesentliche Ursache haben kann. Das ist nämlich aus drei Gründen klar. Erstens nämlich, da das, was eine wesentliche Ursache hat, von seiner Ursache erstrebt wird. Was nämlich außerhalb der Absicht des Handelnden hervortritt, ist keine wesentliche, son76 77 78 79 80
Koh. 1, 15. Aristoteles, Phys. II, 1; 192 b 20–23. Aristoteles, Phys. V, 10; 230 a 26–28. Augustinus, Ench. IV, 14 (CCSL 46, 56). Dionysius Areopagita, De div. nom. IV, 31 (Dion., 303–304).
3. Artikel
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dern eine unbeabsichtigte Wirkung, wie das Ausheben eines Grabes nur die unbeabsichtigte Ursache für das Auffinden eines Schatzes ist, wenn dies außerhalb der Absicht des Totengräbers geschieht. Das Übel als solches kann nicht beabsichtigt sein, noch auf irgendeine Weise gewollt oder ersehnt. Denn das Sein des Erstrebenswerten hat die Natur des Guten, dem das Übel als solches entgegengesetzt ist. Daher sehen wir, daß keiner etwas Schlechtes tut, außer er erstrebt etwas, das ihm als Gut erscheint. Dem Ehebrecher scheint es zum Beispiel gut, daß er eine sinnliche Lust genießt, und deswegen begeht er Ehebruch. Daher bleibt übrig, daß das Übel keine wesentliche Ursache hat. Zweitens ist dasselbe dadurch offensichtlich, daß jede wesentliche Wirkung auf irgendeine Weise Ähnlichkeit mit ihrer Ursache hat, entweder durch ihre gemeinsame Natur, wie bei univok Wirktätigen, oder durch ihre mangelhafte Natur, wie bei äquivok Wirktätigen. Aber jede wirkende Ursache ist tätig, insofern sie in Wirklichkeit ist, was der Natur des Guten zukommt. Daher hat das Übel als solches keine Ähnlichkeit mit seiner Wirkursache, insofern sie wirkend ist. Es bleibt also übrig, daß das Übel keine wesentliche Ursache hat. Drittens ist dasselbe dadurch offensichtlich, daß jede wesentliche Ursache eine feste und bestimmte Ordnung auf ihre Wirkung hin besitzt. Was aber der Ordnung entsprechend getan wird, ist kein Übel, sondern ein Übel ereignet sich, wenn die Ordnung vernachlässigt wird. Daher hat das Übel als solches keine wesentliche Ursache. Dennoch muß das Übel auf irgendeine Weise eine Ursache haben. Es ist nämlich offensichtlich, daß das Schlechtsein demjenigen, dem es zukommt, auf unnatürliche Weise zukommt. Denn das Übel ist kein wesentlich existierendes Etwas, sondern haftet einem anderen als ein Mangel an. Dieser ist nämlich ein Mangel dessen, was einem Ding von Natur aus zukommen sollte und ihm nicht zukommt. Wenn nämlich ein Mangel einem Gegenstand natürlich ist, kann nicht gesagt werden, daß er dessen Übel ist. Weder ist es zum Beispiel für den Menschen ein Übel, keine Flügel zu haben, noch für den Stein, keinen Gesichtssinn zu haben. Denn es entspricht ihrer Natur. Aber alles, das einem Ding auf unnatürliche Weise zukommt,
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muß eine Ursache haben. Denn Wasser wäre nicht heiß, außer durch eine Ursache. Daher bleibt übrig, daß jedes Übel eine Ursache hat, aber unfallartig. Denn es kann keine wesentliche Ursache haben. Alles aber, was unfallartig ist, wird auf das zurückgeführt, was wesentlich ist. Wenn aber das Übel keine wesentliche Ursache hat, wie gezeigt worden ist, bleibt übrig, daß nur das Gute eine wesentliche Ursache hat. Ebenso wenig kann die wesentliche Ursache des Guten anders als gut sein, da die wesentliche Ursache etwas, das ihr ähnlich ist, verursacht. Es bleibt also übrig, daß das Gute die unfallartige Ursache eines jeden Übels ist. Jedoch kann auch das Übel, das ein mangelhaftes Gutes ist, die Ursache eines Übels sein. Aber trotzdem muß es immer dahin kommen, daß die erste Ursache des Übels kein Übel, sondern ein Gut ist. Das Übel wird also auf zweifache Weise durch das Gute verursacht. Auf eine Weise ist das Gute die Ursache des Übels, insofern es mangelhaft ist, auf andere Weise, insofern es unbeabsichtigt wirkt. Das ist nämlich bei den natürlichen Dingen unbestritten klar. Denn die Ursache jenes Übels, das in der Vernichtung des Wassers besteht, ist das wirkende Vermögen des Feuers. Dieses strebt jedoch nicht ursprünglich und wesentlich das Nichtsein des Wassers an, sondern erstrebt ursprünglich, die Form des Feuers in die Materie einzubilden. Damit ist das Nichtsein des Wassers notwendig verbunden. Somit ist es unbeabsichtigt oder unfallartig, daß das Feuer das Nichtsein des Wassers verursacht. Andererseits ist die Ursache des Übels, das die Geburt eines Monstrums darstellt, der Kraftmangel im Samen. Aber wenn nach der Ursache des Mangels gefragt wird, der das Übel des Samens ist, wird man auf irgendein Gut kommen, das eine unfallartige Ursache des Übels ist und nicht insofern es mangelhaft ist. Die Ursache dieses Mangels nämlich, der im Samen ist, ist ein änderndes Prinzip, das eine Beschaffenheit erzeugt, die der für die gute Veranlagung des Samens erforderlichen Beschaffenheit entgegengesetzt ist. Je vollkommener das Vermögen dieses ändernden Prinzips gewesen ist, um so mehr wird es diese entgegengesetzte Beschaffenheit und folglich den nachfolgenden Mangel des Samens hervorbringen. Daher wird das Übel des Samens nicht vom Guten verursacht, insofern es mangelhaft ist, sondern es wird vom Guten verursacht, insofern es vollkommen ist.
3. Artikel
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Bei den willentlichen Handlungen verhält es sich auf gewisse Weise ähnlich, aber nicht in jeder Hinsicht. Es ist nämlich offensichtlich, daß das zufolge der Sinne Angenehme den Willen des Ehebrechers bewegt und ihn zum Genuß eines solchen Vergnügens bestimmt, das die Ordnung der Vernunft und das göttliche Gesetz ausschließt. Das ist das moralische Übel. Wenn es sich also so verhalten würde, daß der Wille mit Notwendigkeit den Eindruck des lockenden Vergnüglichen aufnehmen würde, wie der natürliche Körper den Eindruck des Wirkenden aufnimmt, würde es sich bei willentlichen Handlungen und natürlichen Vorgängen völlig gleich verhalten. Es verhält sich aber nicht so, denn wie sehr der äußere wahrnehmbare Eindruck auch lockt, es liegt dennoch im Vermögen des Willens, ihn aufzunehmen oder nicht aufzunehmen. Daher ist die Ursache des Übels, das aus der Aufnahme hervorgeht, nicht das angenehme Bewegende selbst, sondern mehr der Wille selbst. Dieser ist nämlich auf beide vorher erwähnte Arten Ursache des Übels, nämlich sowohl unbeabsichtigt als auch, insofern er ein mangelhaftes Gut ist. Unbeabsichtigt nämlich, insofern der Wille zu etwas bewegt wird, das in gewisser Hinsicht gut, aber mit einem Übel verbunden ist. Als mangelhaftes Gut aber, insofern wir vor der eigentlichen mangelhaften Wahl – durch die er ein in gewisser Hinsicht Gutes, aber schlechthin Schlechtes wählt – im Willen im Voraus einen Mangel in Betracht ziehen müssen. Das leuchtet auf folgende Weise ein: Bei allen Dingen nämlich, von denen eines die Regel und das Maß des anderen ist, entsteht das Gute im Geregelten und Angemessenen daraus, daß es geregelt und der Regel und dem Maß entsprechend gemacht ist. Das Übel entsteht aber daraus, daß es nicht geregelt und gemessen ist. Wenn es also einen Handwerker gibt, der ein Holzstück entsprechend einer Regel gerade schneiden sollte, so wird, wenn er es nicht gerade schneidet – was schlecht schneiden bedeutet –, dieses schlechte Schneiden durch jenen Mangel verursacht werden, daß der Künstler ohne Regel und Maß arbeitete. Ähnlich muß der Genuß und alles andere in menschlichen Dingen entsprechend einer Regel der Vernunft und des göttlichen Gesetzes gemessen und geregelt werden. Daher wird der Nichtgebrauch der Regel der Vernunft und des göttlichen Gebotes vorher im Willen vorausgesetzt vor seiner ungeordneten Wahl.
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Für den Nichtgebrauch der besagten Regel muß man aber keine Ursache suchen, da dazu die Freiheit des Willens selbst hinreicht, durch die er tätig oder untätig sein kann. Die Tatsache selbst, der Regel tatsächlich keine Beachtung zu schenken, ist an sich betrachtet kein Übel und weder Schuld noch Strafe. Denn die Seele ist nicht dazu verpflichtet, noch kann einer derartigen Regel immer tatsächlich Beachtung geschenkt werden. Aber dadurch nimmt er zuerst die Natur der Schuld an, daß er ohne tatsächliche Beachtung der Regel zu einer solchen Wahl voranschreitet. So fehlt der Handwerker zum Beispiel nicht darin, daß er nicht immer ein Maß in der Hand hält, sondern dadurch, daß er sich, ohne ein Maß zu halten, ans Schneiden macht. Ähnlich besteht die Schuld des Willens nicht darin, daß er nicht tatsächlich auf die Regel der Vernunft und das Gesetz Gottes Acht hat, sondern darin, daß er ohne Regel oder Maß zu besitzen, zur Wahl voranschreitet. Daher kommt es, daß Augustinus im 12. Buch von Die Bürgerschaft Gottes sagt, der Wille sei Ursache des Übels, insofern er mangelhaft ist.81 Aber er vergleicht jenen Mangel mit der Stille oder der Finsternis, da nämlich jener Mangel nur in einer Verneinung besteht. Zu 1. Wie Augustinus im Enchiridion erklärt, wird unter »Baum« der Wille verstanden und unter »Frucht« die äußere Handlung.82 Auf diese Weise muß es also verstanden werden, daß ein guter Baum keine schlechte Frucht hervorbringen kann, da aus dem schlechten Willen gute Handlung hervorgeht. Aber dennoch geht auch der schlechte Wille selbst aus einem Gut hervor, wie auch der schlechte Baum selbst durch gute Erde hervorgebracht wird. Wie nämlich oben ausgeführt worden ist: wenn eine schlechte Wirkung durch eine schlechte Ursache, die ein mangelhaftes Gut ist, hervorgebracht wird, so muß es dennoch darauf zurückkommen, daß das Übel unfallartig von einem nicht mangelhaften Gut verursacht wird.83 81 Augustinus, De civ. Dei XII, 7 (CCSL 48, 362). 82 Augustinus, Ench. IV, 15 (CCSL 46, 56). 83 Vgl. De malo q. 1 a. 3 c.
3. Artikel
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Zu 2. Dieser Einwand gilt bei einer wesentlichen Ursache. In einer solchen Ursache hat nämlich etwas der Wirkung Ähnliches ein vorheriges Dasein. Aber das Gute ist nicht auf diese Weise Ursache des Übels, sondern durch etwas nebensächlich Hinzukommendes, wie ausgeführt worden ist.84 Zu 3. Auch jenes Argument gilt bei einer wesentlichen Ursache und Wirkung. Die Ursache nämlich, die auf wesentliche Weise mit dem ausgestattet ist, was in der Wirkung ist, ist eine wesentliche Ursache. Zu 4. Ein Gegensatz ist nicht die wesentliche Ursache des ihm Entgegengesetzten. Aber nichts hindert ihn daran, die nebensächliche Ursache zu sein. Die Kälte ist nämlich die Ursache der Wärme, »sozusagen und fortgegangen«, wie es im 8. Buch der Physik heißt.85 Zu 5. Dionysius meint dort, daß das Böse nicht vom Guten als seiner wesentlichen Ursache hervorgebracht wird. In demselben Kapitel zeigt er hingegen später, daß das Böse unfallartig vom Guten hervorgebracht wird.86 Zu 6. Ein Gut ist Ursache eines Übels, insofern es mangelhaft ist. Dennoch ist das Gute nicht nur auf diese Weise Ursache des Übels, sondern auch insofern es nicht mangelhaft ist, ist das Gute gewissermaßen unabsichtlich die Ursache des Übels. Aber bei willentlichen Handlungen ist der mangelhafte Wille die Ursache des Übels, das die Sünde ist. Aber jener Mangel hat weder die Natur einer Schuld noch einer Strafe, insofern er für die Sünde vorausgesetzt wird, wie dargestellt worden ist.87 Für einen solchen Mangel muß auch nicht nach einer weiteren Ursache gesucht werden. Daher muß ins Unendliche fortgegangen werden. Wenn es also heißt, daß das Gute Ursache des Übels ist, insofern es mangelhaft ist, ist das nicht im allgemeinen wahr, wenn das »insofern als« ein vorheriges Dasein bezeichnet. Wenn es aber gleichzeitiges Vorhandensein bezeichnet, so ist es im allgemeinen wahr. Denn alles, was ein Übel hervorbringt, ist mangelhaft, das heißt einen Mangel verursachend, 84 85 86 87
Vgl. De malo q. 1 a. 3 c. Aristoteles, Phys. VIII, 2; 251 a 32. Dionysius Areopagita, De div. nom. IV, 32 (Dion., 305). Vgl. De malo q. 1 a. 3 c.
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wie wenn gesagt würde, daß alles Erhitzende erhitzt, insofern es erhitzend ist. Zu 7. Ein Gut, insofern es die Neigung dazu hat, mangelhaft zu sein, ist keine hinreichende Ursache dafür, daß es ein tatsächliches Übel ist, sondern insofern es einen tatsächlichen Mangel aufweist, wie auch beim Willen dargestellt worden ist.88 Obwohl es auch nicht notwendig ist, daß es eine Art von Mangel aufweist, um Ursache eines Übels zu sein. Denn auch wenn es nicht mangelhaft ist, kann es die unfallartige Ursache eines Übels sein. Zu 8. Durch die Antwort auf den siebten Einwand ist auch die Antwort auf den achten Einwand offensichtlich. Zu 9. Ein Gut kann, weil es geschaffen ist, auf gewisse Weise mangelhaft sein – und zwar vermöge des Mangels, aus dem das wirkliche Übel hervorgeht. Denn aus genau dem Umstand, daß es geschaffen ist, folgt, daß es selbst einem anderen als einer Regel oder einem Maß unterworfen ist. Wenn es aber selbst seine eigene Regel oder sein Maß wäre, könnte es nicht ohne Regel zur Tat voranschreiten. Deswegen kann Gott, der seine eigene Regel ist, nicht sündigen, wie auch der Handwerker beim Schneiden des Holzes nicht fehlen könnte, wenn seine eigene Hand die Regel für das Schneiden wäre. Zu 10. Wie bereits ausgeführt worden ist, ist es nicht notwendig, daß ein Gut, das unfallartig die Ursache eines Übels ist, mangelhaft ist.89 Auf diese Weise auch Gott die Ursache für das Übel der Strafe. Denn er erstrebt bei der Bestrafung nicht das Übel des Bestraften, sondern er strebt danach, den Dingen die Ordnung seiner Gerechtigkeit einzuprägen. Darauf folgt das Übel des Bestraften, wie auf die Form des Feuers der Mangel an der Form des Wassers folgt. Zu 11. Der Glaube ist nicht deswegen verdienstvoll, weil er eine unklare Wahrnehmung ist, sondern deshalb, weil der Wille eine solche Wahrnehmung gut nutzt: durch Zustimmung nämlich zu den Dingen, die er nicht sieht, wegen Gott. Nichts hindert aber jemanden, daß er sich durch guten Gebrauch eines Übels ein Verdienst
88 Vgl. De malo q. 1 a. 3 c. 89 Vgl. De malo q. 1 a. 3 ad 6.
3. Artikel
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erwirbt, genau wie umgekehrt jemand durch schlechten Gebrauch eines Gutes sich Tadel erwerben würde. Zu 12. Der Mangel des Willens selbst ist die Schuld, so wie der Mangel des Verstandes Unwissenheit und der Mangel des ausführenden Vermögens Schwäche ist. So entschuldigt daher der Mangel des Willens nicht von Schuld, wie auch der Mangel des Verstandes nicht die Unwissenheit entschuldigt und der Mangel des Vermögens die Schwäche nicht entschuldigt. Zu 13. Der Mangel, der im Willen vor der Sünde vorausgesetzt wird, ist weder Schuld noch Strafe, sondern reine Verneinung. Aber er empfängt die Natur der Schuld genau deshalb, weil er sich mit einer solchen Verneinung einer Handlung zuwendet. Denn durch eben die Hinwendung zur Handlung wird jenes Gut ein gesolltes, dessen er entbehrt, nämlich tatsächlich die Regel der Vernunft und das Gesetz Gottes zu beachten. Zu 14. Etwas wird von etwas auf zweifache Weise nebensächliche Ursache genannt: einmal auf Seiten der Ursache, wie die wesentliche Ursache des Hauses der Erbauer ist, dem das Musiker-Sein als Eigenschaft hinzukommt. Auf diese Weise wird der Musiker, insofern es ihm durch etwas nebensächlich Hinzukommendes zukommt, wesentliche Ursache zu sein, nebensächliche Ursache des Hauses genannt. Andererseits auf Seiten der Wirkung: etwa wenn es heißt, daß der Erbauer die wesentliche Ursache des Hauses ist, aber die nebensächliche Ursache von etwas, das dem Haus hinzukommt: etwa daß das Haus glücklich oder unglücklich ist, das heißt daß ein Gut oder ein Übel eine im errichteten Haus lebende Person befällt. Wenn also gesagt wird, daß ein Gut die nebensächliche Ursache eines Übels ist, muß dies im Hinblick auf die Eigenschaft, die der Wirkung nebensächlich zukommt, verstanden werden, insofern nämlich ein Gut die Ursache eines Guten ist, dem nebensächlich eine Art von Beraubung zukommt, die Übel genannt wird. Aber obwohl sich die Handlung der Ursache manchmal auf die Wirkung selbst erstreckt, die zufällig ist, wie wenn der Totengräber durch sein Graben einen Schatz findet, ist dies dennoch nicht immer wahr. Die Handlung des Erbauens erstreckt sich nämlich nicht darauf, daß einem Hausbewohner Gutes oder Schlechtes geschieht. So behaupte ich, daß die Handlung des Guten sich nicht auf die schlechte Wir-
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kung erstreckt. Deswegen sagt Dionysius im 4. Kapitel von Über die göttlichen Namen, daß das Übel nicht nur der Absicht entgegensteht, sondern auch dem Weg entgegengesetzt ist, da die Bewegung nicht an sich selbst zum Schlechten bestimmt ist.90 Zu 15. Manchmal ist ein nebensächlich Hinzukommendes in wenigen Fällen und selten mit einer Wirkung verbunden. Dann muß der Handelnde, während er eine wesentliche Wirkung erstrebt, auf keine Weise eine nebensächlich hinzukommende Wirkung anstreben. Manchmal aber begleitet ein derartig nebensächlich Hinzukommendes immer oder in den meisten Fällen eine grundsätzlich erstrebte Wirkung. Dann ist das nebensächlich Hinzukommende nicht von der Absicht des Handelnden abgetrennt. Wenn also in wenigen Fällen mit dem Gut, das der Wille anstrebt, ein Übel verknüpft ist, kann er von der Sünde entschuldigt werden; zum Beispiel wenn jemand, der Holz in einem Wald fällt, durch den selten ein Mensch geht, beim Niederfällen des Baumes einen Menschen töten sollte. Aber wenn mit immer oder in den meisten Fällen ein Übel verbunden ist, wird er nicht von der Sünde entschuldigt, obwohl er jenes Übel nicht an sich erstrebt. Mit der Freude jedoch, die im Ehebruch liegt, ist immer ein Übel verknüpft, nämlich die Beraubung der Ordnung der Gerechtigkeit. Daher wird der Ehebrecher nicht von der Sünde entschuldigt. Denn genau deswegen, weil er ein Gut wählt, mit dem immer ein Übel verknüpft ist, auch wenn er das Übel nicht an sich selbst will, will er dennoch mehr diesem Übel verfallen, als ein solches Gut entbehren. Zu 16. Wie das, was auf seiten der Ursache nebensächlich ist, auf die wesentliche Wirkursache zurückgeführt wird, so wird das, was auf seiten der Wirkung nebensächlich ist, auf die wesentliche Wirkung zurückgeführt. Da aber das Übel eine nebensächliche Wirkung ist, wird es auf das Gute, mit dem es verknüpft ist, zurückgeführt, das eine wesentliche Wirkung ist. Zu 17. Nicht immer tritt das, was nebensächlich ist, seltener auf, sondern manchmal tritt es immer oder in den meisten Fällen auf. So trifft zum Beispiel jemand, der zum Markt geht, um einzukaufen, entweder immer oder in den meisten Fällen eine Menschenmenge, 90 Dionysius Areopagita, De div. nom. IV, 32 (Dion., 306).
4. Artikel
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obwohl er dies nicht anstrebt. Ähnlich verfällt der Ehebrecher, der ein Gut anstrebt, mit dem immer ein Übel verknüpft ist, immer dem Übel. Daß aber bei den Menschen seltener nebensächlich das geschieht, was gut ist, und in den meisten Fällen das Schlechte, kommt daher, daß es auf vielfachere Weise geschehen kann, von der Mitte abzuweichen, als die Mitte zu halten, wie es im 2. Buch der Nikomachischen Ethik heißt.91 Außerdem sind bei vielen die wahrnehmbaren Güter bekannter als die Güter der Vernunft. Zu 18. Das Vergehen wird nicht gemäß der besonderen Natur dessen, was vernichtet wird, eine natürliche Veränderung genannt, sondern gemäß der allgemeinen Natur, die zum Entstehen und Vergehen bewegt: zum Entstehen nämlich an sich, zum Vergehen hingegen, insofern Entstehen nicht ohne Vergehen stattfinden könnte. So wird nicht das Vergehen, sondern nur das Entstehen an sich und grundsätzlich angestrebt. Zu 19. Die nebensächliche Ursache des Übels ist weder das Gute, das durch das Übel geraubt wird, noch das Gute, das Träger des Übels ist, sondern das Gute, das das Wirkende ist, das durch die Einbildung einer Form eine andere raubt.
4. Artik el Die vierte Frage lautet: Wird das Übel auf angemessene Weise in Schuld und Strafe eingeteilt? 92 Das scheint nicht der Fall zu sein, denn: 1. Jede gute Einteilung geschieht durch Gegensätze. Aber Strafe und Schuld sind keine Gegensätze, denn manch eine Sünde ist die Strafe für eine Sünde, wie Gregor der Große in Über Ezechiel sagt.93 Also wird das Übel nicht angemessen in Schuld und Strafe eingeteilt. 2. Dagegen wurde eingewandt, daß die Sünde nicht Strafe ist, insofern sie Sünde ist, sondern durch eine Art gleichzeitiges Vorhan91 Aristoteles, Eth. Nic. II, 11; 1109 a 24–25. 92 Paralleltexte: Sent. II, d. 35 a. 1. Sum theol. I, q. 48 a. 5. 93 Gregor der Große, In Ez. I hom. 11 (CCSL 142, 179).
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densein. – Dagegen spricht: Eine Handlung ist schlecht, insofern sie ungeordnet ist. Aber insofern sie ungeordnet ist, ist sie eine Strafe. Denn Augustinus sagt im 1. Buch der Bekenntnisse: »Du hast geordnet, Herr, und so kommt es, daß jede Unordnung der Seele ihre eigene Strafe ist.«94 Also ist die Sünde, insofern sie Sünde ist, eine Strafe. 3. Die zweite Vollendung, die in der Tätigkeit besteht, ist besser als die erste, die in der Form oder dem Habitus besteht. Daher beweist auch Aristoteles im 1. Buch der Nikomachischen Ethik, daß das höchste menschliche Gut, die Glückseligkeit nämlich, kein Habitus, sondern eine Tätigkeit ist.95 Wenn es daher eine Strafe ist, der ersten Vollendung beraubt zu werden, so ist vielmehr noch die Sünde eine Strafe, die die zweite Vollendung, nämlich die rechte Handlung, raubt. 4. Jede Leidenschaft, die Ängstlichkeit hervorbringt, scheint eine Strafe einzuschließen. Aber viele Sünden sind mit Leidenschaften verbunden, die Ängstlichkeit hervorbringen, zum Beispiel Eifersucht, Trägheit, Zorn und andere Dinge dieser Art. Viele schließen auch eine Schwierigkeit beim Tätigsein ein. Daher sagt das Buch der Weisheit 5, 7 auch in der Person des Schuldbefleckten: »Wir sind auf schwierigen Wegen gegangen.«96 Also scheint es, daß die Sünde genau als solche eine Strafe ist. 5. Wenn die Sünde in begleitender Weise eine Strafe ist, wird jede Sünde, die eine Strafe begleitet, eine Strafe sein. Aber die erste Sünde begleitet eine Strafe. Also wird folgen, daß die erste Sünde eine Strafe ist. Das widerspricht der Ausführung des Augustinus, daß nur jene Sünden Strafen sind, die Mittlere zwischen der ersten Sünde des Abfalls und der letzten Strafe der Hölle sind.97 6. Wie Augustinus im Buch Über die Natur des Guten sagt, ist das Übel eine Zerstörung des Maßes, der Art und natürlichen Ordnung, und er spricht vom Übel im Allgemeinen.98 Aber bald dar94 95 96 97 98
Augustinus, Conf. I, 12 (CCSL 27, 11). Aristoteles, Eth. Nic. I, 10; 1097 b 22 ff. Weish. 5, 7. Augustinus, Enarr. in ps. 57, 9 (CCSL 39, 724). Augustinus, De natura boni 4 (CSEL 25/2, 857).
4. Artikel
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auf sagt er, daß es zum Begriff der Strafe gehört, daß sie der Natur entgegengesetzt ist.99 Also scheint es, daß jedes Übel eine Strafe ist. Also sollte das Übel nicht in Strafe und Schuld unterteilt werden. 7. Eine Person ohne Gnade kann sündigen. Aber jede Schuld beraubt von einem Gut, da sie schlecht ist. Aber sie raubt nicht das Gut der Gnade. Denn die Voraussetzung ist, daß die Person die Gnade nicht besitzt. Also raubt sie ein natürliches Gut. Demnach ist sie eine Strafe, da es zur Natur der Strafe gehört, daß sie einem natürlichen Gut entgegengesetzt ist, wie Augustinus sagt.100 8. Die eigentliche Handlung der Sünde, insofern sie eine Art von Handlung ist, ist sowohl gut als auch von Gott. Dementsprechend findet sich also das Übel der Schuld in ihr, insofern in ihr eine Zerstörung ist. Aber jede Zerstörung hat die Natur der Strafe. Also ist das Übel der Schuld, insofern es ein Übel ist, eine Strafe. Somit sollte die Schuld nicht der Strafe entgegengesetzt werden. 9. Das, was an sich selbst gut ist, darf nicht als ein Teilglied des Übels eingeordnet werden. Aber die Strafe als solche ist gut, weil sie gerecht ist. Daher werden auch die, die ihre Schuld begleichen, dafür gelobt, daß sie sich der Strafe für ihre Sünden unterwerfen. Also darf die Strafe nicht als ein Teilglied des Übels verstanden werden. 10. Es gibt ein Übel, das weder Strafe noch Schuld ist, nämlich das Übel der Natur. Also wird das Übel unzureichend in Strafe und Schuld eingeteilt. 11. Die Strafe ist ihrer Natur nach dem Willen entgegengesetzt, die Schuld aber ist ihrer Natur nach willentlich. Der Mensch leidet aber manche Übel, die er weder will und die auch nicht gegen seinen Willen entgegengesetzt sind, wie zum Beispiel wenn einem Unwissenden in seiner Abwesenheit seine Güter geraubt werden. Also wird das Übel nicht zureichend in Schuld und Strafe unterteilt. 12. In wie vielen Weisen eines der Entgegengesetzten gebraucht wird, in so vielen Weisen wird auch das andere gebraucht, wie Aristoteles sagt.101 Aber das Gute wird auf dreifache Weise ausgesagt, nämlich vom Lobenswerten, vom Nützlichen und vom Erfreulichen. 99 Augustinus, De natura. boni 7 (CSEL 25/2, 858). 100 Augustinus, De natura boni 7 (CSEL 25/2, 858). 101 Aristoteles, Top. I, 15; 106 b 14–15.
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Also muß auch das Übel in drei und nicht nur zwei Glieder unterteilt werden. 13. Nach Aristoteles im 2. Buch der Nikomachischen Ethik ist das Übel häufiger als das Gute.102 Aber es gibt drei Arten des Guten, nämlich: das Gute der Natur, der Gnade und der Herrlichkeit. Also scheint es, daß das Übel häufiger sein sollte, und so scheint es, daß das Übel unzulänglich in nur zwei Arten unterteilt wird. Dagegen spricht: Augustinus sagt im Buch An Petrus über den Glauben: »Es gibt zwei Übel des vernünftigen Geschöpfs: eines, durch das es willentlich vom höchsten Gut abfällt, ein anderes, durch das es gegen seinen Willen bestraft wird.«103 Durch diese zwei Übel werden Strafe und Schuld geschildert. Also wird das Übel in Strafe und Schuld eingeteilt. Antwort: Eine verständige oder vernünftige Natur verhält sich im Vergleich zu anderen Geschöpfen auf eine bestimmte besondere Art zum Guten und Schlechten. Denn jedes andere Geschöpf ist von Natur aus auf ein besonderes Gut geordnet, aber nur eine vernünftige Natur erstrebt durch ihre Vernunft die allgemeine Natur des Guten selbst und wird allgemein durch das Streben des Willens zum Guten bewegt. Daher wird das Übel beim vernünftigen Geschöpf durch eine besondere Einteilung in Schuld und Strafe unterteilt. Diese Unterteilung des Übels findet sich nämlich nur bei der vernünftigen Natur, wie durch die zitierte Stelle aus Augustinus einleuchtet. Aus dieser kann nämlich ein derartiges Argument entnommen werden, und zwar daß es zur Natur der Schuld gehört, freiwillig zu sein, hingegen zur Natur der Strafe, daß sie dem Willen entgegengesetzt ist. Der Wille findet sich aber nur in einer vernünftigen Natur.
102 Aristoteles, Eth. Nic. II, 7; 1106 b 28–33. Eth. Nic. II, 11; 1109 a
24–24. 103 Pseudo-Augustinus (= Fulgentius von Rupe), De fide ad Petrum 21 (CCSL 91 A, 751).
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Auf diese Weise aber kann man die Unterscheidung dieser beiden verstehen. Da nämlich das Übel dem Guten entgegengesetzt ist, muß das Übel dem Guten entsprechend eingeteilt werden. »Gut« bezeichnet aber eine Art von Vollkommenheit. Es gibt jedoch zwei Arten von Vollkommenheit: nämlich eine erste, die eine Form oder ein Habitus ist, und eine zweite, die eine Tätigkeit ist. Auf die erste Vollkommenheit aber, deren Gebrauch eine Tätigkeit ist, kann alles zurückgeführt werden, was wir zum Tätigsein gebrauchen. Daher findet sich umgekehrt auch ein zweifaches Übel: einmal nämlich beim Handelnden selbst, insofern er entweder der Form oder des Habitus oder was auch immer zum Tätigsein notwendig ist beraubt wird, wie die Blindheit oder die Verkrüppelung eines Beines eine Art von Übel ist. Das andere Übel besteht hingegen in den mangelhaften Handlungen selbst, zum Beispiel wenn wir sagen, daß das Hinken ein Übel ist. Wie aber diese zwei Übel auch in anderen Geschöpfen gefunden werden können, so auch in einer vernünftigen Natur, die durch den Willen tätig ist. Bei dieser ist klar, daß die ungeordnete Handlung des Willens die Natur der Schuld hat. Denn man tadelt jemanden deshalb und spricht ihn schuldig, insofern er willentlich eine ungeordnete Handlung ausführt. Aber bei der vernünftigen Natur findet sich auch das Übel gemäß einer Beraubung der Form oder des Habitus oder irgendeines anderen, das zum guten Handeln notwendig sein kann, ob es nun der Seele oder dem Körper oder äußerlichen Sachen zukommt. Nach dem Urteil des katholischen Glaubens muß solch ein Übel Strafe genannt werden. Drei Kennzeichen gehören nämlich zur Natur der Strafe. Eines davon ist, daß sie einen Bezug zur Schuld hat. Man sagt nämlich von jemandem in richtiger Weise, daß er bestraft wird, wenn er für etwas, das er begangen hat, ein Übel erleidet. Die Tradition des Glaubens hält es auch für gewiß, daß die vernünftige Natur von keinem Übel hätte betroffen werden können, weder sofern es die Seele noch den Körper noch irgendwelche anderen äußeren Güter betrifft, außer nach vorhergegangener Sünde, ob in der Person oder sogar in der Natur. Daher folgt, daß jede derartige Beraubung eines Guts, das der Mensch zum richtigen Handeln gebrauchen kann, bei den Menschen und aus dem gleichen Grund bei den Engeln Strafe genannt wird. Daher fällt jedes Übel des vernünftigen Geschöpfs entweder
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unter Schuld oder unter Strafe. Das zweite aber, was zur Natur der Strafe gehört, ist, daß sie dem Willen entgegengesetzt ist. Der Wille eines jeden besitzt nämlich eine Neigung zu dem ihm eigenen Gut. Daher ist es dem Willen entgegengesetzt, des eigenen Guts beraubt zu werden. Man muß jedoch wissen, daß die Strafe dem Willen auf dreifache Weise entgegengesetzt ist: manchmal nämlich dem tatsächlichen Willen, wie wenn jemand wissentlich unter einer Strafe leidet. Manchmal ist sie aber nur dem habituellen Willen entgegengesetzt, wie wenn jemand unwissentlich eines Gutes beraubt wird, worüber er Schmerz empfinden würde, wenn er es wüßte. Manchmal ist sie aber nur der natürlichen Neigung des Willens entgegengesetzt, zum Beispiel wenn jemand des Habitus der Tugend beraubt wird, der die Tugend nicht besitzen will. Aber dennoch geht die natürliche Neigung des Willens auf das Gut der Tugend. Das dritte Kennzeichen scheint aber der Natur der Strafe zuzugehören, sofern sie in einer Art Leiden besteht. Die Dinge nämlich, die gegen den Willen geschehen, gehen nicht hervor aus einem inneren Ursprung, der willentlich ist, sondern aus einem äußerlichen Ursprung, dessen Wirkung Leiden genannt wird. So unterscheiden sich Strafe und Schuld also auf dreifache Weise. Erstens nämlich, weil die Schuld das Übel der Handlung selbst ist, die Strafe aber das Übel des Handelnden. Aber diese zwei Übel sind in den natürlichen Vorgängen und den willentlichen Handlungen unterschiedlich angeordnet. Denn bei den natürlichen Tätigkeiten folgt aus dem Übel des Tätigen das Übel der Tätigkeit, zum Beispiel aus der Verkrüppelung des Beines das Hinken. Bei willentlichen Handlungen geht aber umgekehrt aus dem Übel der Handlung, das in einer Schuld besteht, das Übel des Handelnden hervor, das in einer Strafe besteht, indem die göttliche Vorsehung die Schuld durch die Strafe reguliert. Auf eine zweite Weise unterscheidet sich die Strafe von der Schuld durch das, was dem Willen entspricht, und das, was dem Willen entgegengesetzt ist, wie aus der oben angeführten Stelle des Augustinus offensichtlich ist.104 Drittens aber dadurch, daß die Schuld im Handeln, die Strafe aber im Leiden besteht, wie durch Augustinus im 1. Buch Über die Willensfreiheit offensicht104 Vgl. De malo q. 1 a. 4 s. c.
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lich ist, wo er die Schuld das Übel nennt, das wir tun, die Strafe hingegen das Übel, das wir erleiden.105 Zu 1. Da es zur Natur der Schuld gehört, daß sie willentlich ist, aber zur Natur der Strafe, daß sie dem Willen entgegengesetzt ist, wie ausgeführt wurde,106 ist es unmöglich, daß dasselbe in derselben Hinsicht Strafe und Schuld ist. Denn dasselbe kann nicht in derselben Hinsicht willentlich und dem Willen entgegengesetzt sein. Aber nichts verbietet dies in unterschiedlichen Hinsichten. Denn mit dem, was wir wollen, kann etwas verknüpft sein, das unserem Willen entgegengesetzt ist, und indem wir nach dem trachten, was wir wollen, verfallen wir dem, was wir nicht wollen. Dies ist bei den Sündern der Fall. Während sie nämlich auf ungeordnete Weise zu einem geschaffenen Gut hingezogen werden, verfallen sie der Trennung vom ungeschaffenen Gut und anderen Dingen dieser Art, die sie nicht wollen. So kann dasselbe in unterschiedlichen Hinsichten Schuld und Strafe sein, aber nicht in derselben Hinsicht. Zu 2. Die Handlung selbst ist nicht gewollt, insofern sie ungeordnet ist, sondern in Hinsicht auf etwas anderes, das – während es der Wille sucht – zur besagten Ungeordnetheit führt, die er nicht will. So hat sie von dem, was gewollt ist, die Natur der Schuld. Dadurch aber, daß jemand auf gewisse Weise unfreiwillig Unordnung erleidet, wird die Natur der Strafe beigemengt. Zu 3. Die eigentliche ungeordnete Handlung, insofern sie aus dem Willen hervorgeht, hat die Natur der Schuld. Insofern aber der Handelnde dadurch ein Hindernis für die angemessene Tätigkeit erfährt, gehört dies zur Natur der Strafe. Daher kann dasselbe Schuld und Strafe sein, aber nicht in derselben Hinsicht. Zu 4. Derartige Ängstlichkeiten der Leidenschaften erwachsen im Sünder gegen seinen Willen: Der Zornige würde nämlich wählen, sich so gegen die Bestrafung eines anderen zu empören, daß er selbst dadurch keine Ängstlichkeit oder keinen Schmerz erleiden würde. Wenn er diesen daher entgegen seinem Willen verfällt, gehört dies zur Natur der Strafe. 105 Augustinus, De lib. arb. I, 1 (CCSL 29, 221). 106 Vgl. De malo q. 1 a. 4 c.
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Zu 5. Eher wird etwas nach dem beizeichnet, von dem es abhängt, als nach dem, das von ihm selbst abhängt. Aber die Sünde wird auf zweifache Weise von der Strafe begleitet: auf eine Weise nämlich von dem, von dem sie auf gewisse Weise abhängt. Wenn jemand zum Beispiel wegen einer vorhergehenden Schuld der Gnade ermangeln würde, folgt aus eben dieser Tatsache, daß er sündigt. Daher wird die Sünde selbst wegen der Entbehrung der Gnade eine Strafe genannt, von der sie in gewisser Weise abhängt. Auf diese Weise kann die erste Sünde nicht als Strafe bezeichnet werden, aber die folgenden Sünden. Auf eine andere Weise aber wird die Sünde von einer Strafe begleitet, die aus ihr selbst hervorgeht, wie die Trennung von Gott oder die Beraubung der Gnade, die Ungeordnetheit des Handelnden oder die Angst vor Leiden oder Schmerz. Wegen der Strafe, die sie auf diese Weise begleitet, wird die Sünde nicht so eigentlich Strafe genannt. Obwohl sie sogar auch auf diese Weise der Ursache nach als Strafe bezeichnet werden kann. So sagt zum Beispiel Augustinus, daß die ungeordnete Seele ihre eigene Strafe ist.107 Zu 6. Das allgemein verstandene Übel ist die Zerstörung des natürlichen Maßes, der Art und der Ordnung im allgemeinen, das Übel der Strafe aber im Handelnden selbst und das Übel der Schuld als solches in der Handlung selbst. Zu 7. In ihm, der nicht die Gnade besitzt, raubt die Schuld die Eignung zur Gnade nicht durch ihre vollständige Aufhebung, sondern durch ihre Verringerung. Aber diese Beraubung ist der Form nach nicht das Übel der Schuld, sondern dessen Wirkung, die in der Strafe besteht. Das Übel der Schuld ist aber der Form nach die Beraubung des Maßes, der Art und der Ordnung in eben der Handlung des Willens. Zu 8. Die Zerstörung des Guten in der Handlung als solcher ist im eigentlichen Sinne gesprochen nicht die Bestrafung des Handelnden, sondern sie wäre eine Strafe der Handlung, wenn es der Handlung zukommen würde, bestraft zu werden. Aber aus dieser Zerstörung oder Beraubung in der Handlung folgt eine Zerstörung oder Beraubung im Handelnden, die die Natur der Strafe hat.
107 Augustinus, Conf. I, 12 (CCSL 27, 11).
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Zu 9. Eine Strafe, insofern sie auf den Träger bezogen wird, ist ein Übel, insofern sie diesen auf gewisse Weise beraubt. Aber insofern sie auf den Handelnden bezogen wird, der die Strafe verursacht, hat sie manchmal die Natur des Guten, wenn der Strafende wegen der Gerechtigkeit straft. Zu 10. Wie ausgeführt wurde, gilt diese Einteilung nicht vom allgemein verstandenen Übel, sondern vom Übel, insofern es in vernünftigen Geschöpfen gefunden wird.108 In diesen kann es kein Übel geben, das weder Schuld noch Strafe ist, wie ausgeführt worden ist.109 Dennoch muß man erkennen, daß nicht jeder Mangel die Natur eines Übels hat, sondern nur der Mangel eines Guts, das es von Natur aus besitzen sollte. Daher ist es kein Mangel des Menschen, daß er nicht fliegen kann, und folglich weder Schuld nach Strafe. Zu 11. Obzwar die Unglücke und Schäden, die der Unwissende erleidet, nicht seinem tatsächlichen Willen entgegengesetzt sind, sind sie dennoch dem habituellen oder natürlichen Willen entgegengesetzt, wie ausgeführt worden ist.110 Zu 12. Das nützliche Gut ist auf das Erfreuliche und Lobenswerte als auf sein Ziel hingeordnet. So gibt es zwei ursprüngliche Güter, nämlich das Lobenswerte und das Angenehme, dem zwei Übel entgegengesetzt sind: nämlich die Schuld dem Lobenswerten, die Strafe aber dem Angenehmen. Zu 13. In jedem einzelnen dieser drei Güter, nämlich der Natur, der Gnade und der Herrlichkeit, müssen wir die Form und die Wirklichkeit ins Auge fassen. In Bezug auf diesen Unterschied wird die Schuld von der Strafe getrennt, wie ausgeführt wurde.111
108 109 110 111
Vgl. De malo q. 1 a. 4 c. Vgl. De malo q. 1 a. 4 c. Vgl. De malo q. 1 a. 4 c. Vgl. De malo q. 1 a. 4 c.
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5. Artik el Die fünfte Frage lautet: Hat die Strafe oder die Schuld mehr von der Natur des Übels? 112 Scheinbar hat die Strafe mehr von der Natur des Übels, denn: 1. Wie sich das Verdienst zur Belohnung verhält, so verhält sich die Schuld zur Strafe. Aber die Belohnung ist ein größeres Gut als das Verdienst. Also ist die Strafe ein größeres Übel als die Schuld. 2. Dasjenige ist ein größeres Übel, das einem größeren Gut entgegengesetzt ist. Aber die Strafe ist dem Gut des Handelnden entgegengesetzt, die Schuld hingegen dem Gut der Handlung. Da der Handelnde ein größeres Gut ist als die Handlung, scheint es daher, daß die Strafe schlimmer als die Schuld ist. 3. Dagegen wurde eingewandt, daß die Schuld ein größeres Übel als die Strafe ist, insofern sie vom höchsten Gut trennt. – Dagegen spricht: Nichts trennt mehr vom höchsten Gut als eben die Trennung selbst vom höchsten Gut. Aber die Strafe ist die Trennung selbst vom höchsten Gut. Also ist die Strafe ein noch größeres Übel als die Schuld. 4. Das Ziel ist ein größeres Gut als die Ordnung zum Ziel. Aber die Beraubung des Zieles selbst ist eine Strafe, die »Entbehrung der Schau Gottes« genannt wird. Das Übel der Schuld besteht aber durch die Beraubung der Ordnung zum Ziel. Also ist die Strafe ein größeres Übel als die Schuld. 5. Es ist ein größeres Übel, der Möglichkeit zur Handlung als der Handlung allein beraubt zu werden, wie die Blindheit, durch die man der Möglichkeit des Sehens beraubt wird, ein größeres Übel ist als die Finsternis, durch die das Sehen selbst verhindert wird. Aber die Schuld ist dem Verdienst selbst entgegengesetzt. Der Entzug der Gnade, durch die die Möglichkeit zum Verdienst besteht, ist aber eine Strafe. Also ist die Strafe ein größeres Übel als die Schuld. 6. Dagegen wurde eingewandt, daß die Schuld ein größeres Übel als die Strafe ist, da die Schuld die Ursache für ihre Strafe ist. – Dagegen spricht: Obzwar bei den wesentlichen Ursachen die Ursache gegenüber der Wirkung vorzüglicher ist, ist dies jedoch bei den zu112 Paralleltexte: Sent. II, d. 37 q. 3 a. 2. Sum. theol. I, q. 48 a. 6.
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fälligen beziehungsweise unfallartigen Ursachen nicht notwendig. Eine zufällige Ursache kann nämlich weniger gut sein als die Wirkung, wie zum Beispiel das Ausheben eines Grabes die zufällige Ursache für die Entdeckung eines Schatzes ist. Auf eine ähnliche Weise kann die zufällige Ursache ein kleineres Übel als die Wirkung sein, wie es zum Beispiel ein kleineres Übel ist, über einen Stein zu stolpern, als in die Hand der verfolgenden Feinde zu fallen, was unfallartig daraus hervorgeht. Aber die Strafe ist die unfallartige Folge von Schuld. Denn der, der sündigt, strebt nicht danach, der Strafe zu verfallen. Dazu, daß die Schuld ein größeres Übel als die Strafe ist, reicht also die Tatsache, daß die Schuld die Ursache der Strafe ist, nicht hin. 7. Wenn die Schuld die Natur des Übels hat, weil sie die Ursache der Strafe ist, dann ist das Übel der Strafe die Ursache für das Übel der Schuld. Aber »das, wegen dem etwas so beschaffen ist, ist das mehr.«113 Also wird die Strafe ein größeres Übel als die Schuld sein. 8. Was von etwas der Form nach gesagt wird, kommt ihm eigentlicher zu, als was von ihm nach Art einer Ursache gesagt wird, so wie ein Lebewesen eigentlicher als eine Medizin »gesund« genannt wird. Wenn also das Übel der Schuld als das betrachtet wird, was Ursache der Schuld ist, folgt, daß die Strafe ein größeres Übel als die Schuld ist. Denn das Übel wird von der Schuld nach Art einer Ursache ausgesagt, von der Strafe aber der Form nach. 9. Dagegen wurde eingewandt, daß das Übel auch von der Schuld der Form nach ausgesagt wird. – Dagegen spricht: Der Form nach wird etwas als ein Übel bezeichnet, insofern ihm der Mangel des Guten einwohnt. Aber das Gut, das durch eben die Beraubung, die in der Strafe besteht, aufgehoben wird, nämlich das Ziel selbst, ist größer als das, das durch das Übel, das der Schuld einwohnt, geraubt wird, nämlich die Ordnung zum Ziel. Also wird die Strafe ein noch größeres Übel als die Schuld sein. 10. Wie Dionysius im 4. Kapitel von Über die göttlichen Namen ausführt, richtet sich niemand, der eine Tätigkeit ausführt, nach et-
113 Aristoteles, Anal. post. I, 6; 72 a. 29.
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was Schlechtem aus.114 Weiter sagt er an derselben Stelle, daß das Übel dem Willen entgegengesetzt ist.115 Was also dem Willen mehr entgegengesetzt ist, ist auch in höherem Grade ein Übel. Aber die Strafe ist dem Willen mehr entgegengesetzt als die Schuld, da es zur Natur der Strafe gehört, daß sie dem Willen entgegengesetzt ist, wie ausgeführt worden ist.116 Also ist die Strafe ein größeres Übel als die Schuld. 11. Wie es zur Natur des Guten gehört, daß es erstrebenswert ist, so gehört es zur Natur des Übels, daß es meidenswert ist. Was also meidenswerter ist, ist ein größeres Übel. Die Schuld wird aber wegen der Strafe gemieden, und so wird die Strafe mehr gemieden. Denn »das, wegen dem etwas so beschaffen ist, ist das mehr.«117 Also ist die Strafe ein größeres Übel als die Schuld. 12. Eine folgende Beraubung schadet mehr als die erste, zum Beispiel schadet die folgende Wunde mehr als die erste. Aber die Strafe folgt auf die Schuld. Also schadet sie mehr als die Schuld. Also ist sie nach dem Enchiridion des Augustinus ein größeres Übel, da sie Übel genannt wird, insofern sie schadet.118 13. Die Strafe zerstört den Träger, da der Tod eine Art von Strafe ist, die Schuld aber nicht, sondern sie befleckt nur. Also schadet die Strafe mehr als die Schuld. Also ist sie ein größeres Übel. 14. Von dem Übel, das vom gerechten Mann vorgezogen wird, vermutet man, daß es ein kleineres Übel sei. Aber Loth, da er ein Gerechter gewesen ist, zog die Schuld der Strafe vor. Er bot nämlich seine Töchter für die Lust der Einwohner Sodoms an, was eine Schuld war, damit er in seinem Haus kein Unrecht leiden würde, indem seinen Gästen Gewalt angetan würde, was eine Strafe ist.119 Also ist die Strafe ein größeres Übel als die Schuld. 15. Gott verhängt für eine zeitliche Sünde eine ewige Strafe. Denn Gregor der Große führt aus, daß das, was quält, ewig dauert, 114 Dionysius Areopagita, De div. nom. IV, 19 (Dion., 236) und IV, 31 (Dion., 304). 115 Dionysius Areopagita, De div. nom. IV, 32 (Dion., 306). 116 Vgl. De malo q. 1 a. 4 c. 117 Aristoteles, Anal. post. I, 6; 72 a 29. 118 Augustinus, Ench. IV, 12 (CCSL 46, 54). 119 Vgl. Gen. 19, 8.
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und was erfreut, zeitlich ist.120 Aber das ewige Übel ist schlimmer als das zeitliche Übel, wie auch das ewige Gut besser ist als ein zeitliches Gut. Also ist die Strafe ein größeres Übel als die Schuld. 16. Nach Aristoteles im 2. Buch der Topik tritt das Übel an mehr Dingen auf als das Gute.121 Aber die Strafe tritt bei mehr Personen auf als die Schuld. Denn viele werden ohne Schuld bestraft, aber jede Schuld impliziert zumindest die mit ihr verknüpfte Strafe. Also ist die Strafe ein größeres Übel als die Schuld. 17. Wie bei den Gütern das Ziel besser ist als die Mittel zum Ziel, so ist es bei den Übeln schlechter. Aber die Strafe ist das Ziel der Schuld. Also ist die Strafe ein größeres Übel als die Schuld. 18. Von jeder Schuld kann der Mensch befreit werden. Daher wird in Genesis 4, 13 Kain getadelt, der sagt: »Meine Schuld ist zu groß, als daß ich Verzeihung verdienen würde.«122 Aber es gibt eine Strafe, von der der Mensch nicht befreit werden kann, nämlich die Strafe der Hölle. Also ist die Strafe ein größeres Übel als die Schuld. 19. Wenn etwas in analoger Weise von mehreren ausgesagt wird, scheint es von jenem im Sinne des Früheren ausgesagt zu werden, das häufiger so bezeichnet wird. Aber von der Strafe heißt es häufiger, daß sie ein Übel ist, als von der Schuld. Denn mehr Leute betrachten die Strafe als ein Übel als die Schuld. Also wird das Übel eher im Sinne des Früheren von der Strafe als von der Schuld ausgesagt. 20. Der Zunder der bösen Begehrlichkeit ist es, aus dem alle Sünden hervorgehen. Somit ist er schlimmer als irgendeine Sünde. Aber der Zunder der bösen Begehrlichkeit ist eine Art Strafe. Also ist die Strafe ein größeres Übel als die Schuld. Dagegen spricht: 1. Das, was die Tugendhaften mehr hassen, ist ein größeres Übel als das, was die Schlechten mehr hassen. Aber die Schlechten hassen die Übel der Strafe mehr, die Übel der Schuld hassen hingegen mehr 120 Vgl. Gregor der Große, Moralia XIV, 10 (PL 75, 1046 A). 121 Richtig: Aristoteles, Eth. Nic. II, 7; 1106 b 28–33. Eth. Nic. II, 11;
1109 a 24–25. 122 Gen. 4, 13.
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die Guten, wie Augustinus im 3. Buch von Die Bürgerschaft Gottes ausführt.123 Also ist die Schuld ein größeres Übel als die Strafe. 2. Nach Augustinus’ Schrift Über die Natur des Guten ist das Übel die Beraubung der Ordnung.124 Aber die Schuld ist weiter von der Ordnung entfernt als die Strafe. Denn die Schuld ist von sich her ungeordnet, sie wird aber durch die Strafe geordnet. Also ist die Schuld ein größeres Übel als die Strafe. 3. Das Übel der Schuld ist dem lobenswerten Guten entgegengesetzt, das Übel der Strafe hingegen dem erfreulichen Guten. Das lobenswerte ist jedoch besser als das erfreuliche. Also ist das Übel der Schuld schlimmer als das Übel der Strafe. Antwort: Oberflächlich scheint diese Frage gewiß leicht zu beantworten, weil viele unter Strafen nur körperliche oder für die Sinne schmerzhafte Strafen verstehen. Diese haben ohne Zweifel weniger von der Natur des Übels als die Schuld, die der Gnade und der Herrlichkeit entgegengesetzt ist. Aber da auch die Beraubung der Gnade und der Herrlichkeit Arten von Strafen sind, scheinen sie gleichfalls die Natur des Übels aufzuweisen, wenn das Gut, dem beide entgegengesetzt sind, betrachtet wird. Denn auch die eigentliche Beraubung des letzten Ziels, das das Beste ist, hat die Natur der Strafe. Aber aus evidenten Gründen kann gezeigt werden, daß die Schuld schlechthin mehr von der Natur eines Übels hat. Zuerst nämlich, da alles, was dem Träger eine Beschaffenheit von einer bestimmten Art verleiht, in höherem Maße derartig beschaffen ist als das, was dem Träger keine derartige Beschaffenheit verleihen kann. Wenn zum Beispiel irgendeinem Ding das Weiße so einwohnt, daß der Träger dadurch nicht weiß genannt werden kann, so hat es weniger von der Natur des Weißen, als wenn der Träger dadurch weiß gemacht würde. Was nämlich einem Ding so einwohnt, daß es seinen Träger nicht so beschaffen macht oder benennt, scheint ihm nach einer gewissen Hinsicht einzuwohnen. Schlechthin ist aber das inne, was 123 Augustinus, De civ. Dei III, 1 (CCSL 47, 65). Vgl. jedoch ibid. IV, 2 (CCSL 47, 99). 124 Augustinus, De nat. boni 4 (CSEL 25/2, 857).
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seinen Träger so beschaffen macht oder benennt. Es ist aber offensichtlich, daß wegen dem Übel der Schuld dasjenige, dem sie einwohnt, schlecht genannt wird, nicht aber wegen dem Übel der Strafe als solcher. Daher sagt Dionysius im 4. Kapitel von Über die göttlichen Namen, daß »es kein Übel ist, bestraft zu werden, sondern der Strafe würdig zu werden«125. Daher folgt, daß das Übel der Schuld mehr von der Natur des Schlechten hat als das Übel der Strafe. Die Ursache aber, warum jemand wegen des Übels der Schuld schlecht genannt wird und nicht wegen des Übels der Strafe, muß von daher verstanden werden. Denn gut und schlecht werden schlechthin gemäß der Wirklichkeit ausgesagt, in einer bestimmten Hinsicht aber gemäß der Möglichkeit. Denn gut oder schlecht sein zu können, ist nicht schlechthin, sondern in einer bestimmten Hinsicht gut oder schlecht. Es gibt aber zwei Arten von Wirklichkeit, nämlich eine erste, die ein Habitus oder eine Form ist, und eine zweite, die eine Tätigkeit ist – wie das Wissen und die Betrachtung. Aber die erste einwohnende Wirklichkeit ist immer noch Möglichkeit zur zweiten Wirklichkeit, wie der Wissende noch nicht wirklich das Wissen ausübt, sondern Wissen ausüben kann. Schlechthin wird also das Gute oder Schlechte hinsichtlich der zweiten Wirklichkeit betrachtet, die Tätigkeit ist. Hinsichtlich der ersten Wirklichkeit aber wird das Gute oder Schlechte in einer bestimmten Hinsicht betrachtet. Es ist jedoch offensichtlich, daß bei denen, die einen Willen besitzen, jedes Vermögen und jeder Habitus durch die Wirklichkeit des Willens einer guten Wirklichkeit zugeführt wird. Denn der Wille hat das allgemeine Gute zum Gegenstand, in dem alle besonderen Güter enthalten sind, wegen denen alle Vermögen und alle Habitus tätig sind. Immer aber bewegt das Vermögen, das das ursprüngliche Ziel erstrebt, durch seinen Befehl das Vermögen, das das untergeordnete Ziel erstrebt, wie die Schifffahrtskunst der Schiffsbaukunst befiehlt und die Militärkunst der Reitkunst. Denn nicht schon deswegen, weil jemand den Habitus der Grammatik besitzt, spricht er oder spricht er richtig. Er kann nämlich bei Besitz des Habitus den Habitus nicht gebrauchen oder gegen den Habitus handeln, zum Beispiel wenn der Grammatiker wissentlich einen Solö125 Dionysius Areopagita, De div. nom. IV, 22 (Dion., 271).
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zismus gebraucht. Aber er handelt dann richtig gemäß seiner Kunst, wenn er es will. Daher wird der Mensch, der einen guten Willen hat, schlechthin ein guter Mensch genannt, insofern er durch die Wirklichkeit des guten Willens alle Vermögen, die er besitzt, richtig gebraucht. Deswegen aber, weil er den Habitus der Grammatik besitzt, wird er nicht ein guter Mensch, sondern ein guter Grammatiker genannt. Ähnlich verhält es sich beim Schlechten. Daher, daß das Übel der Schuld das Übel in der Wirklichkeit des Willens ist, das Übel der Strafe aber die Beraubung dessen ist, was der Wille auf jede beliebige Weise zur guten Tätigkeit gebrauchen kann, von daher kommt es, daß das Übel der Schuld den Menschen schlechthin schlecht macht, nicht aber das Übel der Strafe. Der zweite Grund besteht darin, daß etwas um so mehr die Natur eines Übels hat, je mehr es von Gott entfremdet ist. Denn Gott ist das Wesen der Güte selbst. Die Schuld ist Gott jedoch fremder als die Strafe: Gott ist nämlich der Urheber der Strafe, nicht aber der Urheber der Schuld. Daher ist offensichtlich, daß die Schuld ein größeres Übel als die Strafe ist. Aber die Ursache, warum Gott der Urheber der Strafe, jedoch nicht der Schuld ist, läßt sich von hier aus entnehmen. Denn das Übel der Schuld, das in der Handlung des Willens liegt, ist der Handlung der Liebe, die die erste und ursprüngliche Vollkommenheit des Willens ist, geradeaus entgegengesetzt. Aber die Liebe ordnet die Handlung des Willens auf Gott hin. Aber nicht nur so, daß der Mensch das göttliche Gute genießen möge – dies nämlich kommt der Liebe zu, die Begierde genannt wird –, sondern insofern das göttliche Gut in Gott selbst liegt, das der Liebe der Freundschaft zukommt. Das kann aber nicht von Gott kommen, daß jemand das göttliche Gut, wie es an sich selbst ist, nicht will. Denn Gott lenkt im Gegenteil jeden Willen dahin, daß dieser will, was Gott selbst will. Er will aber sein Gut, wie es an sich selbst ist. Daher kann das Übel der Schuld nicht von Gott kommen. Gott kann aber wollen, daß das göttliche Gut selbst oder jedes andere Gut unter ihm jemandem entzogen wird, der nicht die angemessene Veranlagung dazu hat. Dies fordert nämlich das Gut der Ordnung, daß nichts dasjenige haben soll, dem es nicht würdig ist. Aber der Entzug selbst des ungeschaffenen Guten oder eines anderen Gutes von dem, der unwürdig ist, hat die Natur der Strafe.
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Gott ist daher der Urheber der Strafe, aber der Urheber der Schuld kann er nicht sein. Der dritte Grund besteht darin, daß jenes Übel, das der verständige Künstler zur Vermeidung eines anderen Übels hervorbringt, weniger von der Natur des Übels hat, als jenes Übel, zu dessen Vermeidung es hervorgebracht wird. Wenn etwa der verständige Arzt eine Hand amputiert, damit der Körper nicht zugrunde geht, ist die Amputation der Hand offensichtlich ein geringeres Übel als die Zerstörung des Körpers. Es ist auch offensichtlich, daß Gottes Weisheit die Strafe hervorbringt, damit die Schuld vermieden wird, entweder von ihm, der bestraft wird, oder wenigstens von anderen, entsprechend der Stelle Hiob 19, 29: »Fliehe vor dem Angesicht der Ungerechtigkeit, denn der Rächer der Ungerechtigkeit ist das Schwert.«126 So ist also offensichtlich, daß die Schuld, zu deren Vermeidung die Strafe herbeigeführt wird, ein größeres Übel als die Strafe selbst ist. Der vierte Grund besteht darin, daß das Übel der Schuld darin besteht, tätig zu sein. Das Übel der Strafe besteht aber im Leiden, wie oben ausgeführt worden ist.127 Was aber eine schlechte Tätigkeit aufweist, zeigt, daß es bereits schlecht ist. Was hingegen an einem Übel leidet, zeigt dadurch nicht, daß es schlecht ist, sondern daß es quasi auf dem Weg zum Schlechten ist. Denn was an etwas leidet, wird zu diesem bewegt. Durch das eigentliche Hinken zeigt sich zum Beispiel, daß das Bein bereits einem Übel unterliegt. Dadurch hingegen, daß es Schmerz leidet, unterliegt es noch nicht dem Mangel, sondern ist auf dem Weg zur Erlahmung. Wie nämlich eine Handlung, die in Wirklichkeit existierend ist, besser ist als die Bewegung zur Handlung und eine Vollkommenheit darstellt, so hat auch eine schlechte Handlung, an sich selbst betrachtet, mehr von der Natur des Übels, als das Übel des Leidens. Daher hat die Schuld mehr von der Natur des Übels als die Strafe. Zu 1. Wenn die Belohnung mit dem Verdienst und die Strafe mit der Schuld in Hinsicht auf die Beendigung verglichen wird, so 126 Hiob 19, 29. 127 Vgl. De malo q. 1 a. 4.
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findet sich, daß beide sich auf ähnliche Weise verhalten. Denn wie das Verdienst durch die Belohnung beendet wird, so wird die Schuld durch die Strafe beendet. Aber wenn sie hinsichtlich der Absicht verglichen werden, verhalten sie sich nicht auf ähnliche Weise zueinander, sondern eher umgekehrt. Denn wie jemand verdienstlich handelt, um eine Belohnung zu erwerben, so verhängt jemand eine Strafe zur Vermeidung von Schuld. Wie daher die Belohnung besser ist als das Verdienst, so ist die Schuld schlechter als die Strafe. Zu 2. Das Gut des Tätigen ist nicht nur die erste Vollkommenheit, deren Beraubung eine Strafe ist, sondern auch die zweite Vollkommenheit, die eine Tätigkeit ist. Dieser ist die Schuld entgegengesetzt. Diese zweite Vollkommenheit ist ein größeres Gut als die erste. Daher hat die Schuld, die der zweiten Vollkommenheit entgegengesetzt ist, mehr von der Natur des Übels als die Strafe, die der ersten Vollkommenheit entgegengesetzt ist. Zu 3. Die Schuld trennt von Gott durch eine Trennung, die der Vereinigung der Liebe entgegengesetzt ist, der gemäß jemand das Gut Gottes selbst will, wie es in sich ist. Die Strafe aber trennt von Gott durch eine Trennung, die dem Genuß entgegengesetzt ist, durch den der Mensch das göttliche Gut genießt. Somit ist die aus der Schuld resultierende Trennung schlimmer als die aus der Strafe resultierende Trennung. Zu 4. Die Trennung der Ordnung zum Ziel kann zweifach aufgefaßt werden. Einmal im Menschen selbst – auf diese Weise ist die Beraubung der Ordnung zum Ziel eine Strafe, wie es auch die Beraubung des Ziels ist. Auf eine andere Weise in der Tätigkeit, und so ist die Beraubung der Ordnung zum Ziel Schuld. Denn der Mensch ist deswegen strafbar, weil er eine nicht auf ein angemessenes Ziel geordnete Handlung ausführt. Deshalb verhalten sich das Übel der Schuld und das Übel der Strafe nicht zueinander wie das Ziel und die Ordnung zum Ziel. Denn jedes der beiden beraubt auf eine Weise sowohl das Ziel als auch die Ordnung zum Ziel. Zu 5. Die Beraubung der habituellen Gnade selbst ist eine Strafe. Das Übel der Schuld ist eine Verschlechterung der Handlung, die aus der Gnade würde hervorgehen sollen. Somit ist klar, daß das Übel der Schuld einem vollkommeneren Gut entgegengesetzt ist, da die Tätigkeit die Vollkommenheit des Habitus selbst ist.
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Zu 6. Obzwar die Schuld eine unfallartige Ursache für die Strafe auf seiten der die Strafe erleidenden Person ist, ist sie auf seiten des Strafenden dennoch die wesentliche Ursache. Denn der Strafende beabsichtigt, daß er für die Schuld eine Strafe verhängt. Zu 7. Die Schuld ist deshalb ein Übel, weil für die Schuld eine Strafe zugefügt wird. Vielmehr wird eher umgekehrt das Übel der Strafe deshalb zugefügt, um das Übel der Schuld einzuschränken und zu ordnen. Somit ist klar, daß das Übel von der Schuld nicht nur der Ursache nach, sondern auch der Form nach ausgesagt wird und ursprünglicher als von der Strafe, wie aus dem Gesagten einleuchtet. Zu 8–9. Die Erwiderung auf den achten und neunten Einwand ist aus der Erwiderung auf den siebten Einwand offensichtlich. Zu 10. Von den Dingen darf nicht entsprechend der Beurteilung der Schlechten geurteilt werden, sondern entsprechend der Tugendhaften. So darf auch von den Geschmäckern nicht gemäß den Kranken, sondern gemäß den Gesunden geurteilt werden. Daher darf die Strafe nicht als größeres Übel beurteilt werden, weil die Schlechten sie mehr fliehen, sondern vielmehr muß die Schuld als ein größeres Übel beurteilt werden, da die Tugendhaften sie mehr meiden. Zu 11. Die Tugendhaften meiden die Schuld wegen ihrer selbst und nicht wegen der Strafe, die Schlechten fliehen die Schuld hingegen wegen der Strafe, nach jener Behauptung des Horaz: »Die Schlechten hassen es zu sündigen aus Furcht vor der Strafe, die Tugendhaften hassen es wegen der Liebe zur Tugend zu sündigen.«128 Aber noch wichtiger ist, daß Gott die Strafe nur wegen einer Schuld zufügt, wie ausgeführt worden ist.129 Zu 12. Eine nachfolgende Beraubung ist schlimmer als eine vorangehende, wenn sie diese einschließt. So scheint man sagen zu können, daß Strafe zusammen mit Schuld schlimmer ist als Schuld allein. Das ist sicherlich richtig im Hinblick auf den, der bestraft wird. Aber im Hinblick auf den Strafenden hat die Strafe die Natur der Gerechtigkeit und der Ordnung. Auf diese Weise wird die Schuld 128 Epist. I/XVI, 50–53, zitiert nach: Guillaume de Conches, Moralium dogma philosophorum q. 5 (ed. Holmberg, 71). 129 Vgl. De malo q. 1 a. 5 c.
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durch die Verknüpfung mit einem Gut ein geringeres Übel, wie Boethius in seinem Buch Über den Trost der Philosophie zeigt.130 Zu 13. Schuld und Strafe kommen der vernünftigen Natur zu, die, insofern sie vernünftig ist, unzerstörbar ist. Daher vernichtet die Strafe nicht ihren eigentümlichen Träger, selbst wenn das Leben des Körpers durch die Strafe vernichtet würde. Daher muß eingeräumt werden, daß, schlechthin gesprochen, für den Körper die Strafe schlimmer ist als die Schuld. Zu 14. Loth zieht nicht die Schuld der Strafe vor, sondern zeigt, daß die Ordnung bei der Flucht vor Fehlern bewahrt werden muß. Denn es ist erträglicher, wenn jemand eine kleinere als eine größere Schuld begeht. Zu 15. Obwohl die Schuld in bezug auf die Handlung zeitlich ist, ist sie dennoch ewig, außer sie wird durch Buße gesühnt, insofern es die Buße und den Makel betrifft. Die Ewigkeit der Schuld ist der Grund für die Ewigkeit der Strafe. Zu 16. In der Mehrzahl der Fälle aufzutreten, ist der Fall bei einem Übel, nämlich dem in den sittlichen Handlungen des Menschen. Denn die meisten folgen eher der sinnlichen Natur als der vernünftigen. Daher ist es nicht nötig, daß etwas, je mehr es in der Vielzahl der Fälle auftritt, ein größeres Übel ist. Denn nach diesem Argument wären die läßlichen Sünden, die von mehreren begangen werden, schlimmer als die Todsünden. Zu 17. Die Strafe ist das Ende der Schuld in Hinsicht auf die Beendigung, aber nicht in Hinsicht auf die Absicht, wie oben ausgeführt worden ist.131 Zu 18. Von der Strafe der Hölle kann deswegen niemand zum Leben zurückkehren, da die Schuld derer, die in der Hölle sind, nicht gesühnt werden kann. Daher wird dadurch nicht gezeigt, daß die Strafe ein größeres Übel als die Schuld ist. Zu 19. Ein Name wird auf zweifache Weise im Sinne des Früheren eher von einem Ding als von einem anderen ausgesagt. Einerseits, insofern es die Beilegung des Namens betrifft, andererseits in Hinsicht auf die Natur der Sache. So werden zum Beispiel die von 130 Boethius, Con. Phil. IV pr. 4 (CCSL 94, 74). 131 Vgl. De malo q. 1 a. 5 ad 1.
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Gott und von den Geschöpfen ausgesagten Namen in Hinsicht auf die Beilegung des Namens von den Geschöpfen im Sinne des Früheren ausgesagt. Im Hinblick auf die Natur der Sache jedoch werden sie von Gott im Sinne des Früheren ausgesagt, von dem sich jede Vollkommenheit in den Geschöpfen herleitet. Auf ähnliche Weise hindert nichts, daß das Übel hinsichtlich der Beilegung des Namens von der Strafe im Sinne des Früheren ausgesagt wird, im Sinne des Späteren aber im Hinblick auf die Wahrheit der Sache. Zu 20. Der Zunder der bösen Begehrlichkeit ist der Ursprung der Schulden ihrer Möglichkeit nach. Aber das wirkliche Übel ist schlimmer als das mögliche, wie Aristoteles im 9. Buch der Metaphysik ausführt.132 Daher ist der Zunder der bösen Begehrlichkeit kein größeres Übel als die Schuld.
132 Aristoteles, Met. IX, 10; 1051 a 15–16.
II. ÜBER DIE SÜNDEN
Die hier behandelten Fragen lauten: 1. Schließt jede Sünde eine Handlung ein? 2. Besteht die Sünde ausschließlich in der Handlung des Willens? 3. Besteht die Sünde ihrem Ursprung nach in der Willenshandlung? 4. Ist jede Handlung moralisch indifferent? 5. Gibt es irgendwelche moralisch indifferenten Handlungen? 6. Konstituiert ein Umstand die Art einer Sünde oder verändert er diese, indem er sie in eine andere Gattung der Sünde überträgt? 7. Verschlimmert ein Umstand eine Sünde, ohne die Art der Sünde zu konstituieren? 8. Verschlimmert ein Umstand eine Sünde unendlich, und zwar so, daß er aus einer läßlichen Sünde eine Todsünde macht? 9. Sind alle Sünden gleich? 10. Ist eine Sünde schwerer, weil sie einem größeren Gut entgegengesetzt ist? 11. Vermindert die Sünde das Gut einer Natur? 12. Kann die Sünde das vollständige Gut einer Natur zerstören?
1. Artik el Die erste Frage lautet: Schließt jede Sünde eine Handlung ein? 1 Das scheint der Fall zu sein, denn: 1. Augustinus sagt, daß »die Sünde ein Wort oder eine Tat oder ein Begehren wider das Gesetz Gottes ist.«2 Aber jedes von die-
1 Paralleltexte: Sent. II, d. 35 a. 3. Sum. theol. I–II, q. 71 a. 5. 2 Augustinus, Contra Faustum XXII, 27 (CSEL 25/1, 621).
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sen dreien schließt eine Handlung ein. Also ist in jeder Sünde eine Handlung. 2. Augustinus sagt, die Sünde geschehe so sehr freiwillig, daß sie keine Sünde ist, wenn sie nicht freiwillig geschieht.3 Aber etwas kann nur durch eine Handlung des Willens freiwillig geschehen. Also muß in jeder Sünde notwendig wenigstens eine Handlung des Willens sein. 3. Konträr Entgegengesetzte finden sich in derselben Gattung. Aber Verdienst und Schuld sind konträre Gegensätze. Da das Verdienst sich in der Gattung der Handlung findet – denn durch Handlungen erwerben wir Verdienste –, so scheint es daher, daß Schuld oder Sünde sich aus dem gleichen Grund in der Gattung der Handlung finden. 4. Die Sünde ist eine Art Beraubung. Denn die Sünde ist nichts, wie Augustinus sagt.4 Die Beraubung gründet aber in etwas. Also muß es eine Handlung geben, in der die Sünde erhalten wird. 5. Augustinus sagt im Enchiridion, daß das Übel nur in einem Gut sein kann.5 Dieses Gut aber, in dem die Schlechtigkeit der Sünde gründet, ist eine Handlung. Also muß jede Sünde eine Handlung einschließen. 6. Augustinus sagt in seiner Schrift Über 83 verschiedene Fragen, daß »die Sünde oder das recht Getane niemandem gerechterweise zugeschrieben werden kann, der nicht aus eigenem Willen gehandelt hätte.«6 Aber nur durch eine Handlung kann man etwas durch seinen eigenen Willen tun. Also kann dem Menschen nichts als Sünde angerechnet werden, außer es findet sich dort eine Handlung. 7. Johannes von Damaskus sagt, daß Lob und Tadel für eine Handlung verdient werden.7 Der Tadel verdankt sich aber irgendeiner Sünde. Also beruht jede Sünde auf einer Handlung. 8. Die Glosse sagt über den Römerbrief 7, 20, daß jede Sünde aus 3 4 5 6
Vgl. Augustinus, De vera religione XIV, 27 (CCSL 32, 204). Vgl. Augustinus, In Johannis evangelium tractatus I, 1 (CCSL 36, 7). Augustinus, Ench. IV, 14 (CCSL 46, 55). Augustinus, De diversis quaestionibus LXXXIII, q. 24 (CCSL 44 A,
30). 7 Vgl. Johannes Damascenus, De fide II, 24 (ed. Buytaert, 145).
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einer Begierde hervorgeht.8 Was aber aus einer Begierde hervorgeht, ist nicht ohne Handlung. Also gibt es keine Sünde ohne Handlung. 9. Wenn es eine Sünde ohne Handlung gibt, scheint dies am ehesten bei der Unterlassungssünde der Fall zu sein. Aber die Unterlassung ist nicht ohne Handlung, da die Unterlassung eine Art von Verneinung ist. Jede Verneinung ist nämlich in einer Bejahung begründet. Somit muß die Unterlassungssünde in einer Handlung begründet sein. Weit mehr gilt dies also von jeder anderen Sünde. 10. Die Unterlassung ist keine Sünde, außer insofern sie dem Gebot Gottes entgegengesetzt ist. Aber das gibt es nicht ohne Mißachtung. Mißachtung schließt aber eine Handlung ein. Also ist die Unterlassungssünde in einer Handlung begründet, und weit mehr noch die anderen Sünden. 11. Wenn die Unterlassungssünde in der bloßen Verneinung einer Handlung besteht, würde folgen, daß jemand solange sündigt, solange er nicht handelt. Somit wäre die Unterlassungssünde gefährlicher als die Sünde der Übertretung, die vorübergeht, sobald sie begangen wurde, aber als Schuld zurückbleibt. Aber das ist nicht wahr, da die Sünde der Übertretung bei ansonsten gleichen Umständen größer ist. Es ist nämlich eine größere zu stehlen, als keine Almosen zu geben. Also besteht die Unterlassungssünde nicht nur in einer Verneinung. 12. Nach Aristoteles im 2. Buch der Physik findet sich die Sünde in den Mitteln zum Ziel.9 Auf das Ziel wird etwas jedoch durch eine Tätigkeit hingeordnet. Also besteht jede Sünde in einer Handlung. Dagegen spricht: 1. In Jakobus 4, 17 heißt es: »Wer nun weiß, Gutes zu tun, und tut’s nicht, dem ist’s Sünde.«10 Deswegen ist das Nichthandeln selbst eine Sünde. 2. Strafe wird gerechterweise nur für eine Sünde zugefügt. Aber eine Strafe verhängt man für die bloße Unterlassung einer Hand8 Petrus Lombardus, Glossa in Rom. 7, 20 (PL 191, 1424 C). 9 Aristoteles, Phys. II, 14; 199 b 1–2. 10 Jak. 4, 17; Vulg. ›scienti igitur bonum facere et non facienti pecca-
tum est illi‹.
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lung, ohne daß man dabei eine damit verknüpfte Handlung in Erwägung zieht. Also besteht in der bloßen Unterlassung einer Handlung eine Sünde. 3. Nach Aristoteles im 2. Buch der Physik kann ein Fehler bei den Dingen auftreten, die gemäß der Kunstfertigkeit entstehen, und bei denen, die gemäß der Natur entstehen.11 Wie also bei den Dingen, die sich der Natur verdanken, der Fehler darin besteht, der Natur entgegengesetzt zu sein, so besteht bei den Dingen, die sich der Kunstfertigkeit verdanken, ein Fehler darin, der Kunst entgegengesetzt zu sein. Ähnlich besteht die Sünde bei sittlichen Dingen darin, der Vernunft entgegengesetzt zu sein. Aber der Natur sind nicht nur Bewegungen, sondern auch Zustände der Ruhe entgegengesetzt, wie es im 5. Buch der Physik heißt.12 Also bestehen auch in sittlichen Dingen die Sünden nicht nur in Handlungen, sondern auch in Zuständen der Ruhe von der Handlung, wenn sie wider die Vernunft sind. 4. Es ist möglich, daß der Wille zu keiner Seite eines Gegensatzes bewegt wird. Es ist nämlich weder richtig zu sagen, daß Gott die Entstehung der Übel will, da er somit deren Schöpfer wäre, noch auch, daß er will, daß die Übel nicht vollbracht werden. Denn somit wäre sein Wille nicht wirksam, alles zu erfüllen, was er will. Gesetzt also, daß jemand zum gegenwärtigen Zeitpunkt verpflichtet ist, ein Almosen zu geben. Dennoch will er weder welche geben noch will er sie nicht geben, da er nicht daran denkt. Er sündigt dennoch und wird gerechterweise dafür bestraft. Also kann es auch ohne Handlung des Willens eine Sünde geben. 5. Dagegen wurde eingewandt, daß, auch wenn die Handlung des Willens weder dazu bewegt wird, ein Almosen zu geben, noch dazu, kein Almosen zu geben, so wird er dennoch zu etwas anderem bewegt, durch das er am Spenden gehindert wird. – Dagegen spricht: Jenes andere, zu dem er bewegt wird, verhält sich nebensächlich zur Unterlassungssünde. Es ist nämlich nicht einer auffordernden Vorschrift des Gesetztes entgegengesetzt, aufgrund welcher Entgegensetzung die Unterlassungssünde folgt. Das Urteil über die Natur einer Sache sollte aber nicht gemäß dem gefällt werden, was als 11 Aristoteles, Phys. II, 14; 199 a 33 – b 4. 12 Aristoteles, Phys. V, 10; 231 a 9–10.
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Nebensächliches hinzukommt, sondern gemäß dem, was wesentlich ist. Also sollte man nicht sagen, daß die Unterlassungssünde wegen einer sich anknüpfenden Handlung in einer Handlung besteht. 6. Auch in einer Sünde der Übertretung kann eine Handlung mit ihr verknüpft sein, die dennoch nicht zur Sünde der Übertretung gehört, da sie sich zufällig auf diese bezieht. So kann zum Beispiel ein Dieb etwas sagen oder sehen. Also gehört auch eine mit einer Unterlassung verknüpfte Handlung nicht zur Unterlassungssünde. 7. Wie Handlungen , die nicht gut getan werden können, wie Unzucht und Lüge, so gibt es Handlungen, die nicht schlecht getan werden können, wie Gott zu lieben und ihn zu loben. Aber jemand kann etwas unterlassen, während er mit der Lobpreisung Gottes beschäftigt ist. Wenn jemand zum Beispiel zur selben Zeit, da er verpflichtet ist, die Eltern zu ehren, nicht vom Lobpreis Gottes abläßt und die Eltern nicht ehrt, so ist offensichtlich, daß dieser durch Unterlassung sündigt. Dennoch kann nicht die Handlung der Lobpreisung Gottes zu dieser Sünde führen, da sie nicht schlecht geraten kann. Also besteht die ganze Sünde einzig in der Unterlassung der erforderlichen Handlung. Also wird keine Handlung für eine Sünde erfordert. 8. In der Erbsünde ist keinerlei Handlung. Also besteht nicht jede Sünde in einer Handlung. 9. Augustinus sagt in seiner Schrift Über 83 verschiedene Fragen: »Die einen Sünden sind Sünden der Schwäche, die anderen Sünden der Unwissenheit, die anderen Sünden der Schlechtigkeit.«13 Schwäche und Unwissenheit sind der Tatkraft und der Weisheit entgegengesetzt, die Schlechtigkeit ist der Güte entgegengesetzt. Gegensätze fallen aber unter dieselbe Gattung. Wenn daher Tatkraft, Weisheit und Gutherzigkeit Habitus sind, so scheint es, daß die Sünden Habitus sind. Aber ein Habitus kann ohne Handlung gegeben sein. Also kann die Sünde ohne Handlung gegeben sein. Antwort: Über diese Frage gibt es zwei Meinungen. Einige behaupteten nämlich, in jeder Sünde, auch einer Unterlassungssünde, sei eine 13 Augustinus, De diversis quaestionibus LXXXIII, q. 26 (CCSL 44 A, 32).
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Handlung: entweder eine innere Willenshandlung, wie wenn jemand sündigt, indem er kein Almosen gibt, und er kein Almosen geben will; oder auch eine damit verknüpfte äußere Handlung, durch die er von der erforderlichen Handlung abgehalten wird. Entweder geschieht diese Handlung gleichzeitig mit der Unterlassung, wie wenn jemand, der spielen will, es unterlässt, zur Kirche zu gehen, oder sie geht vorher, wie wenn jemand daran gehindert wird, zum Morgengebet aufzustehen, weil er in eine Sache vertieft am Abend allzu lange wach blieb. Diese Meinung gründet auf der Aussage des Augustinus, die besagt: »Die Sünde ist ein Wort oder eine Handlung oder ein Verlangen wider das Gebot Gottes.«14 Andere hingegen behaupteten, daß die Unterlassungssünde keinerlei Handlung einschließt. Dieses Ablassen selbst von der Handlung sei hingegen die Unterlassungssünde. Sie erklären die Aussage des Augustinus, die besagt, die Sünde sei Wort oder Tat oder Verlangen, dadurch, daß Begehren und Nicht-Begehren, Sagen und Nicht-Sagen, Handeln und Nicht-Handeln für dasselbe genommen werden, insofern es die Natur der Sünde betrifft. Daher heißt es in der Glosse zu Römerbrief 7, daß »ich tue« und »ich tue nicht« Teile davon sind, was »ich tue« bedeutet.15 Dies scheint eine begründete Behauptung zu sein, da Bejahung und Verneinung auf dieselbe Gattung bezogen werden. Daher sagt Augustinus im Buch Über die Dreieinigkeit, daß »ungezeugt« und »gezeugt« zur Gattung der Relation gehören.16 Beide Meinungen sind jedoch in gewisser Hinsicht wahr. Wenn nämlich das ins Auge gefaßt wird, was für die Sünde als vom Wesen der Sünde seiend erforderlich ist, so ist zur Unterlassungssünde keine Handlung erforderlich. Sondern im eigentlichen Sinne gesprochen besteht die Sünde gerade im Versäumnis der Handlung. Dies ist offensichtlich, wenn wir unsere Aufmerksamkeit auf die Natur der Sünde richten. Denn die Sünde, wie Aristoteles im zweiten Buch der Physik ausführt, taucht sowohl in den Dingen auf, die sich der Natur verdanken, als auch in denjenigen, die sich der Kunstfertig14 Augustinus, Contra Faustum XXII, 27 (CSEL 25/1, 621). 15 Petrus Lombardus, Glossa in Rom. 7, 15 (PL 191, 1422 D).
16 Augustiuns, De Trinitate V, 7 (CCSL 50, 214).
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keit verdanken, wenn die Natur oder die Kunstfertigkeit nicht das Ziel erreichen, wegen dem sie tätig sind.17 Daß aber etwas tätig ist aufgrund einer Kunst oder der Natur und sein Ziel nicht erreicht, kommt daher, daß vom Maß oder der Regel der angemessenen Tätigkeit abgewichen wird. Diese ist aber bei den natürlichen Dingen die Neigung der Natur selbst, die aus der Form hervorgeht. Bei den künstlichen Dingen ist sie hingegen die Regel der Kunst selbst. So kann daher bei der Sünde die Aufmerksamkeit auf zwei Dinge gerichtet werden: nämlich die Abweichung von der Regel oder dem Maß und die Abweichung vom Ziel. Es geschieht aber manchmal, daß vom Ziel abgewichen wird und nicht von der Regel oder dem Maß, wodurch einer sowohl in der Natur als auch in der Kunstfertigkeit für ein Ziel tätig ist. In der Natur, wenn zum Beispiel etwas Unverdauliches wie Eisen oder ein Stein vom Magen aufgenommen wird, ereignet sich der Ausfall der Verdauung nämlich ohne Schuld der Natur. Ähnlich verhält es sich, wenn der Arzt in Übereinstimmung mit seiner Kunst eine Medizin verabreicht, und der Kranke nicht geheilt wird, entweder da er an einer unheilbaren Krankheit leidet oder da er etwas seiner Genesung Abträgliches betreibt. In so einem Fall fehlt der Arzt gewiß nicht, obgleich das Ziel nicht erreicht wird. Wenn er aber umgekehrt das Ziel erreichen, aber dennoch von der Regel der Kunst abweichen würde, würde nichtsdestotrotz von ihm gesagt werden, daß er einen Fehler macht. Daraus ist offensichtlich, daß es mehr zur Natur der Sünde gehört, die Regel der Handlung zu überschreiten, als das Ziel der Handlung zu verfehlen. Es gehört also sowohl in der Natur als auch in der Kunst oder in den Sitten wesentlich zur Natur des Mangels, den Regeln der Handlung entgegengesetzt zu sein. Da die Regel der Handlung aber die Mitte zwischen dem Zuviel und dem Zuwenig bildet, ist es notwendig, daß eine Regel vorschreibt und eine Regel verbietet. Daher sind gewisse verneinende und bestimmte bejahende Vorschriften sowohl in der natürlichen Vernunft als auch im göttlichen Gesetz enthalten, in Übereinstimmung mit denen unsere Handlungen geregelt sein sollen. Wie aber der Verneinung die Bejahung entgegengesetzt ist, so ist der Beja17 Aristoteles, Phys. II, 14; 199 a 33 – b 4.
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hung die Verneinung entgegengesetzt. Wie daher einem Menschen eine Handlung als Sünde angerechnet wird, weil sie einer verbietenden Vorschrift des Gesetzes entgegengesetzt ist, so auch das Unterlassen einer Handlung selbst, weil es der gebietenden Vorschrift des Gesetzes widerspricht. So kann also, schlechthin gesprochen, etwas eine Sünde sein, zu dem keine Handlung erforderlich ist, die vom Wesen der Sünde ist. In dieser Hinsicht ist die zweite Meinung wahr. Wenn aber das ins Auge gefaßt wird, was als Ursache der Sünde zur Sünde erforderlich ist, so verhält es sich notwendig so, daß zu jeder Sünde, auch der Unterlassungssünde, eine Handlung erforderlich ist. Dies ist folgendermaßen offensichtlich. So führt nämlich Aristoteles im 8. Buch der Physik folgendes aus: Wenn etwas manchmal bewegt wird und manchmal nicht bewegt wird, ist es notwendig, seiner Ruhe eine Ursache zuzuschreiben.18 Wir sehen nämlich, daß, wenn Bewegliches und Beweger in derselben Weise veranlagt sind, etwas in gleichartiger Weise bewegt oder nicht bewegt wird. Aus diesem gleichen Grund folgt aber, daß es eine Ursache dafür geben muß, wenn eine Person nicht tut, was sie tun sollte. Wenn aber diese Ursache eine vollständig äußerliche gewesen ist, so hat eine solche Unterlassung nicht die Natur der Sünde. Das ist zum Beispiel der Fall, wenn jemand – verletzt durch einen herabfallenden Stein – daran gehindert wird, zur Kirche zu gehen, oder wenn er ausgeraubt durch jemanden gehindert wird, ein Almosen zu geben. Die Unterlassung wird also nur dann als Sünde angerechnet, wenn sie eine innerliche Ursache hat und zwar nicht irgendeine, sondern eine willentliche. Denn auch wenn er durch eine unfreiwillige innerliche Ursache gehindert würde, zum Beispiel Fieber, würde dieselbe Schlußfolgerung gelten wie bei der äußerlichen Ursache. Damit also die Unterlassung eine Sünde ist, ist es erforderlich, daß die Unterlassung von einer willentlichen Handlung verursacht wird. Aber der Wille ist manchmal wesentlich und manchmal nebensächlich oder unfallartig die Ursache von etwas. Wesentlich aber, wie wenn er mit Absicht für ein solches Ergebnis tätig ist, zum Beispiel wenn jemand, der einen Schatz finden will, ihn beim Graben findet. 18 Vgl. Aristoteles, Phys. VIII, 2; 251 a 23 ff.
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Unfallartig aber, wie wenn es außerhalb der Absicht liegt, zum Beispiel wenn jemand, der ein Grab ausheben will, beim Graben einen Schatz entdeckt. So ist also die Willenshandlung manchmal direkt die Ursache der Unterlassung und dennoch nicht so, daß der Wille wesentlich die Unterlassung erstrebt. Denn das Nichtsein und das Übel sind der Absicht und dem Willen entgegengesetzt, wie Dionysius im 4. Kapitel von Über die göttlichen Namen sagt.19 Der Gegenstand des Willens ist jedoch das Sein und das Gute. Aber mittelbar wird der Wille mit Voraussicht der daraus resultierenden Unterlassung zu etwas Positivem bewegt. So wenn zum Beispiel jemand spielen will, obwohl er weiß, daß damit einhergeht, nicht zur Kirche zu gehen. So sagen wir auch bei Übertretungen, daß der Dieb, die Verderbtheit der Ungerechtigkeit nicht scheuend, das Gold will. Manchmal hingegen ist die Willenshandlung unfallartig die Ursache einer Unterlassung, etwa wenn jemandem, der in eine Handlung vertieft ist, etwas, das er zu tun gehalten ist, nicht in den Sinn kommt. Was das anbetrifft, macht es keinen Unterschied, ob die Willenstätigkeit, die die wesentliche oder unfallartige Ursache der Unterlassung ist, mit der Unterlassung selbst gleichzeitig ist oder ihr sogar vorangeht; wie von dem ausgeführt worden ist, der allzu beschäftigt sich zu spät zu schlafen anschickt und dadurch davon abgehalten wird, zur Zeit des Morgengebetes aufzustehen.20 So ist also, was das anbetrifft, die erste Meinung wahr, daß zur Unterlassung eine Willenshandlung als Ursache erforderlich ist. Da also beide Meinungen in gewisser Weise wahr sind, muß auf die Argumente von beiden Seiten geantwortet werden. Zu 1. In dieser Bestimmung der Sünde ist unter einem ausgesprochenen oder nicht ausgesprochenen Wort, einer getanen oder nicht getanen Handlung dasselbe zu verstehen, wie oben ausgeführt wurde.21 Zu 2. Von etwas wird nicht nur deshalb gesagt, es sei willentlich, weil es unter die Handlung des Willens fällt, sondern weil es unter 19 Dionysius Areopagita, De div. nom. IV, 32 (Dion., 306). 20 Vgl. De malo q. 2 a. 1 c. 21 Vgl. De malo q. 2 a. 1 c.
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das Vermögen des Willens fällt. So wird nämlich auch das Nichtwollen selbst willentlich genannt. Denn es liegt im Vermögen des Willens, zu wollen und nicht zu wollen – und in ähnlicher Weise das Tun und das Nichttun. Zu 3. Für das Gute sind mehr Dinge erforderlich als für das Übel. Denn, wie Dionysius im 4. Kapitel von Über die göttlichen Namen sagt, das Gute ist Ergebnis einer einheitlichen und intakten Ursache, das Übel aber ist das Ergebnis einzelner Mängel.22 Für ein Verdienst ist also eine Handlung des Willens erforderlich. Für eine Schuld genügt hingegen das allein, daß der Wille nicht das Gute will, wenn er sollte. Es ist nicht notwendig, daß er immer ein Übel will. Zu 4. Bei der Sünde der Übertretung ist es nicht wahr, daß die Sünde eine Beraubung ist, sondern daß die Sünde in einer der erforderlichen Ordnung beraubten Handlung besteht. So stellen der Diebstahl oder der Ehebruch ungeordnete Handlungen dar. Die Sünde ist nämlich auf die Weise nichts, auf die die Menschen nichts werden, wenn sie sündigen: nicht etwa so, daß sie das Nichts selbst sind, sondern da sie eines bestimmten Gutes beraubt werden, insofern sie sündigen. Diese Beraubung selbst ist ein Nichtseiendes in ihrem Träger. Auf ähnliche Weise ist die Sünde eine der erforderlichen Ordnung beraubte Handlung, und gemäß eben dieser Beraubung wird sie nichts genannt. Aber bei der Unterlassungssünde ist es im eigentlichen Sinne gesprochen wahr, daß sie nur ein Mangel ist. Träger des Mangels ist aber kein Habitus, sondern ein Vermögen, wie der Träger der Blindheit nicht die Sehkraft ist, sondern dasjenige, was natürlicherweise von Geburt dazu bestimmt ist zu sehen. Daher ist der Träger der Unterlassung nicht irgendeine bestimmte Handlung, sondern das Vermögen des Willens. Zu 5. So ist auch die Lösung zum fünften Argument, das das Übel betrifft, offensichtlich. Zu 6. In jener Stelle wird im Tun auch das Nichttun eingeschlossen, wie ausgeführt worden ist.23 Zu 7. Lob und Tadel werden nicht nur für Handlungen des Willens, sondern auch für Unterlassungen von Handlungen verdient. 22 Dionysius Areopagita, De div. nom. IV, 30 (Dion., 298). 23 Vgl. De malo q. 2 a. 1 c.
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Zu 8. Dieses Argument schlußfolgert, daß eine Handlung als Ursache für eine Unterlassung erforderlich ist; obwohl gesagt werden kann, daß der Zunder der bösen Begierlichkeit, von dem dort in der Glosse gesprochen wird, keine tatsächliche, sondern eine habituelle Begierde ist. Zu 9. Nicht jede Verneinung gründet auf einer realen Bejahung. Denn, wie Aristoteles in den Kategorien sagt, »nicht sitzen« kann sowohl von dem, was ist, als auch von dem, was nicht ist, auf wahre Weise ausgesagt werden.24 Aber dennoch gründet jede Verneinung auf einer erkannten oder vorgestellten Bejahung. Es muß nämlich dasjenige, von dem etwas verneint wird, notwendig begriffen sein. So ist es also nicht notwendig, daß die Unterlassung auf einer real bestehenden Handlung gründet. Wenn jedoch jede Verneinung auf einer realen Bejahung gründen würde, so daß die Verneinung für eine Beraubung gehalten würde, wäre es nicht nötig, daß die Unterlassung, die die Verneinung einer Handlung ist, auf einer Handlung gründen würde, sondern auf dem Vermögen des Willens. Zu 10. Nicht nur bei der Unterlassung, sondern auch bei der Übertretung ist es nicht immer notwendig, daß eine in einer Tat bestehende Mißachtung vorliegt, sondern es genügt auch eine habituelle oder sogar ableitbare Mißachtung. Denn wir folgern nämlich, daß jemand, der nicht das tut, was vorgeschrieben wird, oder das tut, was verboten wird, diese Vorschriften mißachtet. 11. Die Unterlassung ist der gebietenden Vorschrift entgegengesetzt, die, obgleich immer verpflichtend, dennoch nicht zu jedem Zeitpunkt verpflichtet. Der Mensch ist nämlich nicht dazu verpflichtet, daß er zu jedem Augenblick damit beschäftigt ist, die Eltern zu ehren, aber dennoch ist der Mensch immer dazu verpflichtet, daß er die Eltern zur geschuldeten Zeit ehrt. Die tatsächliche Unterlassungssünde dauert also solange, solange die Zeit, in der die gebietende Vorschrift verpflichtet, andauert. Wenn diese Zeit endet, hört die Sünde auf, wirklich zu sein, und bleibt zurück als Schuld, und wenn so eine Zeit zurückkehrt, wiederholt sich die Unterlassungssünde.
24 Aristoteles, Cat. 10; 12 b 12–15.
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Zu 12. So wie eine Person, indem sie eine schlechte Handlung begeht, vom Ziel abfällt, so auch, indem sie eine erforderliche Handlung unterläßt. Erwiderungen auf die Argumente der Gegenseite: Zu 1. Aufgrund dieser Stelle wird angenommen, daß das Nichttun des Guten an sich eine Sünde ist. Aber dadurch wird nicht in Abrede gestellt, daß die Ursache eines solchen Nichttuns des Guten eine Handlung ist. Zu 2. Eine Strafe wird für die Unterlassung einer Handlung wie für eine Schuld verhängt. Aber dennoch kann die Schuld von einer Handlung verursacht werden, die manchmal eine Schuld ist, wie wenn eine Sünde die Ursache für eine Sünde ist, manchmal hingegen keine Schuld ist. Zu 3. Auch die widernatürliche Ruhe wird von einer vorangehenden Handlung verursacht. Zu 4. Gott will weder, daß das Schlechte getan wird, noch, daß das Schlechte nicht getan wird. Aber dennoch will er genau dies, das heißt, daß er nicht will, daß das Schlechte getan wird, und daß er nicht will, daß das Schlechte nicht getan wird. Zu 5. Die zur Unterlassung erforderliche Handlung verhält sich nicht immer nebensächlich zu derselben, sondern manchmal ist sie deren wesentliche Ursache, wie ausgeführt worden ist.25 Zu 6. Auf das sechste Argument ist von der Übertretung ähnliches zu sagen wie auf das fünfte Argument. Zu 7. Jede Handlung soll durch die Vernunft geregelt werden. Daher kann jede Handlung schlecht ausgeführt werden, wenn sie nicht auf erforderliche Weise geregelt ist, so daß sie nämlich zum erforderlichen Zeitpunkt ausgeführt wird und aus dem erforderlichen Grund und was sonst noch bei Handlungen zu beachten ist. Daher kann auch selbst die Handlung der Gottesliebe schlecht geraten, zum Beispiel wenn jemand Gott wegen zeitlicher Güter liebt. Selbst die Handlung des Gotteslobes in Worten kann schlecht ausgeführt werden, wenn dies zu einem falschen Zeitpunkt ausgeführt wird, wenn nämlich die Person etwas anderes tun sollte. Aber wenn 25 Vgl. De malo q. 2 a. 1 c.
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eine geregelte Handlung so verstanden wird, wie es gemeint wird, wenn gesagt wird: »mit Maß getan« oder »gerecht getan«, so kann sie nicht schlecht ausgeführt werden. Wenn dennoch zugestanden würde, daß manche Handlungen nicht schlecht getan werden können, wäre es nicht unstimmig, wenn sie die unfallartige Ursache einer Unterlassung wäre. Denn das Gute kann die unfallartige Ursache des Schlechten sein. Zu 8. Auch die Ursache der Erbsünde ist eine Handlung, nämlich die in einer Handlung bestehende Sünde unseres ersten Vorfahren. Zu 9. Wie es auf seiten der Tugenden Handlungen und Habitus gibt, so auch auf seiten der Laster. Dennoch können Habitus Tugenden oder Laster genannt werden, aber nur Handlungen werden Verdienste oder Sünden genannt.
2. Artik el Die zweite Frage lautet: Besteht die Sünde ausschließlich in der Handlung des Willens? 26 Das scheint der Fall zu sein, denn: 1. Augustinus sagt in den Retraktationen, daß nur durch den Willen gesündigt wird.27 Demnach besteht die Sünde ausschließlich in der Handlung des Willens. 2. Augustinus sagt in seiner Schrift Über zwei Seelen: »Die Sünde besteht in dem Willen, das zu behalten oder zu erwerben, was die Gerechtigkeit verbietet.«28 »Wille« wird hier aber als die Handlung des Willens verstanden. Also besteht die Sünde ausschließlich in der Handlung des Willens. 3. Augustinus sagt, daß die Enthaltsamkeit ein geistiger Habitus ist, aber durch äußere Handlungen bekundet wird.29 Also besteht umgekehrt auch die Unenthaltsamkeit und jede Sünde ausschließlich im Willen, und die äußeren Handlungen bekunden nur die Sünde. 26 27 28 29
Parallelstellen: Sent. II, d. 35 a. 4. Augustinus, Retract. I, 15 (CSEL 36, 74). Augustinus, De duabus anim. 11 (CSEL 25–1, 70). Vgl. Augustinus, De bono coniug. 21 (CSEL 41, 218–219).
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4. Johannes Chrysostomus sagt in Über Matthäus: »Der Wille ist es, der entweder für das Gute belohnt wird oder für das Schlechte getadelt wird. Werke sind aber Zeugnisse des Willens. Gott fordert also die Werke nicht für sich, damit er weiß, auf welche Weise er urteilen soll, sondern wegen anderer, damit alle erkennen, daß Gott gerecht ist.«30 Aber nur das, für das Gott straft, ist eine Sünde. Also besteht die Sünde nur in der Handlung des Willens. 5. Dasjenige, bei dem die Sünde bestehen bleibt, egal ob es gesetzt oder entfernt ist, steht in zufälliger Beziehung zur Sünde. Aber die Sünde bleibt unabhängig davon, ob die äußere Handlung gesetzt oder entfernt ist, nichtsdestotrotz allein im Willen zurück. Also stehen die äußeren Handlungen in zufälliger Beziehung zu der Sünde. Die Sünde besteht also nicht in diesen, sondern allein in der inneren Handlung des Willens. 6. Keine Handlung wird jemandem als Schuld angerechnet, die auf keinerlei Weise in seiner Gewalt steht. Wenn daher jemand die Hand irgendeines Menschen gegen dessen Willen nehmen sollte, um mit ihr einen Menschen zu töten, würden wir nicht dem Menschen die Sünde des Mordes anrechnen, dessen Hand zugeschlagen hat, sondern dem, der die Hand benutzt hat. Aber äußere Gliedmaßen können sich auf keine Weise dem Befehl des Willens widersetzen. Also besteht die Sünde nicht in den äußeren Handlungen der Gliedmaßen, sondern in der Handlung des Willens, die die Gliedmaßen gebraucht. 7. Augustinus sagt in seiner Schrift Über die wahre Religion, daß es kein Fehler des Gesichtssinnes ist, wenn jemand ein gebogenes Ruder im Wasser sieht.31 Dieser gibt weiter, was er aufgenommen hat, damit er es weitergibt. Es ist vielmehr der Fehler des Vermögens, das urteilen sollte. Aber die äußeren Gliedmaßen haben diese Ordnung von Gott erhalten, damit sie tun, was der Wille befiehlt. Also besteht der Fehler oder die Sünde nicht in ihren Handlungen, sondern in der Handlung des Willens.
30 Johannes Chrysostomus(ps.), Opus imperf. in Matth. hom. 46 (PG 56, 891). 31 Augustinus, De vera religione 33 (CCSL 32, 228).
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8. Wenn die Sünde in der Handlung des Willens besteht und wiederum in der äußeren Handlung, wird es eine größere Sünde sein, gleichzeitig willentlich und durch eine äußere Handlung zu sündigen, als durch die innere Handlung allein zu sündigen. Denn wie eine zu einer Größe hinzugefügte Größe eine größere Größe ergibt, so scheint auch eine zu einer Sünde hinzugefügte Sünde eine größere Sünde zu ergeben. Aber das ist nicht wahr. In der Glosse über Matthäus 12, 35 heißt es nämlich: »So viel wie du beabsichtigst, so viel tust du.«32 Und so stellt die Sünde des inneren Willens und der äußeren Handlung keine größere Sünde dar als die der inneren Handlung allein. Die Sünde besteht also nicht in der äußeren Handlung, sondern allein in der inneren. 9. Angenommen es gibt zwei Personen mit dem gleichen Willen, dieselbe Sünde zu begehen – zum Beispiel die Unzucht –, von denen der eine die Möglichkeit dazu hat und seinen Willen erfüllt, der andere sie nicht hat, sie aber gern haben würde. Es ist offensichtlich, daß zwischen diesen beiden kein Unterschied in Bezug auf all das besteht, was in ihrem Vermögen liegt. Aber in Bezug auf das, was nicht im Vermögen einer Person liegt, wird keine Sünde zugeschrieben, und folglich auch nicht die Vergrößerung der Sünde. Also sündigt keiner von beiden mehr als der andere. Somit scheint die Sünde nur in der Handlung des Willens zu bestehen. 10. Die Sünde zerstört das Gut der Gnade, die im Willen als ihrem Träger liegt und nicht in irgendeinem der tieferstehenden Vermögen. Gegensätze aber betreffen den gleichen Gegenstand. Also besteht die Sünde ausschließlich im Willen. 11. Die innere Handlung ist die Ursache der äußeren Handlung. Dasselbe Ding ist aber nicht Ursache von sich selbst. Da also die Sünde eine und dieselbe ist, so scheint es, daß sie nicht in einer äußeren Handlung bestehen kann, wenn sie in einer Handlung des Willens besteht. 12. Dieselbe Eigenschaft kann nicht in zwei Trägern sein. Aber die Mißgestalt verhält sich genauso zur mißgestalteten Handlung wie die Eigenschaft zum Träger. Da also eine Fehlgestaltung zu einer Sünde gehört, kann eine Sünde nicht in zwei Handlungen bestehen, 32 Glossa interlin. in Mt. 12, 35.
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nämlich der inneren und der äußeren. Es ist aber offensichtlich, daß die Sünde in der inneren Handlung des Willens ist – und damit auf keine Weise in der äußeren. 13. Anselm sagt in seiner Schrift Über die unbefleckte Empfängnis, wenn er über äußere Handlungen spricht: »Gerechtigkeit besteht in keiner dieser Wesenheiten.«33 Aus dem gleichen Grund tut das auch die Ungerechtigkeit nicht. Somit besteht die Sünde nicht in äußeren Handlungen. 14. Augustinus sagt, daß die Sünde, sobald sie begangen ist, vergeht und die Schuld zurückbleibt.34 Dem wäre aber nicht so, wenn die äußere Handlung selbst eine Sünde wäre. Also ist die äußere Handlung selbst keine Sünde. Dagegen spricht: All das, was vom Gesetz Gottes verboten wird, ist Sünde, da »die Sünde ein Wort oder eine Tat oder ein Verlangen entgegen dem Gesetz Gottes ist«35. Aber das Gesetz Gottes verbietet äußere Handlungen, wenn es in Exodus 20, 13–15 heißt: »Du sollst nicht töten, du sollst nicht Ehe brechen, du sollst nicht stehlen.«36 Die innere Handlung wird gesondert verboten, wenn es heißt: »Du sollst nicht begehren.«37 Also ist nicht nur die Handlung des Willens eine Sünde, sondern auch die äußere Handlung. Antwort: Darüber gab es drei Meinungen: Einige sagten nämlich, daß keine Handlung – weder eine innere noch eine äußere – an sich selbst eine Sünde ist, sondern die Beraubung allein die Natur der Sünde hat. Denn Augustinus sagt, daß die Sünde nichts ist.38 Andere dagegen sagten, die Sünde bestehe allein in der inneren Handlung des Willens. Einige hingegen sagten, daß die Sünde sowohl in der inneren 33 Anselm von Canterbury, De conceptu virg. 4 (Oper Omnia II, ed. Schmitt, 144). 34 Vgl. Augustinus, De nupt. et conc. I, 26 (CSEL 42, 241). 35 Augustinus, Contra Faustum XXII, 27 (CSEL 25/1, 621). 36 Ex. 20, 13–15. 37 Ex. 20, 17; Deut. 5, 21. 38 Vgl. Augustinus, In Johannis evangelium tractatus I, 1 (CCSL 36,7).
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Handlung des Willens als auch in der äußeren Handlung besteht. Obwohl diese Meinung mehr an Wahrheit enthält, sind doch alle in gewisser Hinsicht wahr. Es ist jedoch zu bemerken, daß diese drei Dinge – das Übel, die Sünde oder das Fehlverhalten und die Schuld – sich zueinander verhalten wie das Allgemeinere und das weniger Allgemeine. Denn das Übel ist allgemeiner: in allem nämlich, ob im Träger oder in der Handlung, hat die Beraubung der Form oder Ordnung oder des angemessenen Maßes die Natur des Übels. Aber als Fehlverhalten bezeichnet man eine Handlung, die der angemessenen Ordnung oder der Form oder des Maßes entbehrt. Daher kann gesagt werden, daß ein verkrüppeltes Bein ein schlechtes Bein ist. Man kann aber nicht sagen, daß es ein Fehler wäre, ausgenommen vielleicht in dem Sinne, in dem die Wirkung eines Fehlverhaltens selbst ein Fehler genannt wird. Aber das Hinken selbst wird als ein Fehlverhalten bezeichnet. Jegliche ungeordnete Handlung in der Natur, der Kunst oder der Moral kann nämlich ein Fehlverhalten genannt werden. Aber das Fehlverhalten hat nur dann die Natur der Schuld, wenn es willentlich ist. Niemandem wird nämlich eine ungeordnete Handlung als Schuld angerechnet, wenn sie nicht in dessen Vermögen steht. Somit ist offensichtlich, daß das Fehlverhalten allgemeiner ist als die Schuld, trotz des allgemeinen Sprachgebrauchs bei den Theologen, der die Sünde oder das Fehlverhalten und die Schuld für dieselbe Sache nimmt. Die also in der Sünde nur die Natur des Übels ins Auge gefaßt haben, behaupteten, daß die Sünde nicht in der Substanz der Handlung, sondern der Mißgestaltetheit der Handlung besteht. Die hingegen in der Sünde nur das ins Auge gefaßt haben, von dem sie die Natur der Schuld hat, behaupteten, daß die Sünde nur im Willen besteht. Es ist aber notwendig, in der Sünde nicht nur die Mißgestaltetheit an sich ins Auge zu fassen, sondern auch die der Mißgestaltetheit zugrunde liegende Handlung. Denn die Sünde ist nicht die Mißgestaltetheit, sondern die mißgestaltete Handlung. Die Mißgestaltetheit der Handlung besteht aber darin, daß sie von der erforderlichen Regel der Vernunft oder dem Gesetz Gottes abweicht. Diese Mißgestaltetheit findet sich aber nicht nur in der inneren Handlung, sondern auch in der äußeren. Aber dennoch kommt die Tatsache, daß eine
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äußere mißgestaltete Handlung einem Menschen als Schuld angerechnet wird, vom Willen her. Auf diese Weise ist offensichtlich, daß die Sünde nicht nur in der Beraubung und auch nicht nur in der inneren Handlung, sondern auch in der äußeren Handlung besteht, wenn wir alles, was in der Sünde ist, erwägen wollen. Was wir von der Handlung in der Sünde der Übertretung sagen, muß auch vom Fehlen der Handlung in der Unterlassungssünde eingesehen werden, wie es in der vorherigen Frage behandelt worden ist.39 Zu 1. Nicht nur die innere Handlung, die der Wille auslöst, sondern auch die äußere Handlung, die der Wille befiehlt, wird durch den Willen hervorgebracht. Somit wird auch eben die Sünde, die durch die äußere Handlung verübt wird, durch den Willen begangen. Zu 2. Von der Sünde heißt es nicht deshalb, daß sie »der Wille« ist, weil das gesamte Wesen der Sünde in der Handlung des Willens besteht, sondern weil die ganze Sünde im Willen als in ihrer Wurzel besteht. Zu 3. Wegen dem Willen kommt es, daß eine Handlung lobenswert, das heißt verdienstvoll oder tugendhaft oder tadelnswert und unverdienstlich oder lasterhaft ist. Von daher wird von jeglicher Tugend und jeglichem Laster gesagt, daß sie ein Habitus des Geistes oder des Willens sind, nicht als ob nicht auch die äußerlichen Handlungen zu den tugendhaften und tadelnswerten Handlungen gehörten, sondern da sie nur dann tugendhafte beziehungsweise lasterhafte Handlungen sind, insofern sie vom Willen des Geistes befohlen werden. Zu 4. Nur vom Willen heißt es, daß er belohnt oder bestraft wird. Denn nichts wird verurteilt oder belohnt, insofern es nicht vom Willen verursacht ist. Zu 5. In den Handlungen der Seele verhält sich dasjenige, das nichtsdestoweniger bleibt, egal ob ein anderes gesetzt oder entfernt ist, zu diesem anderen nicht immer zufällig, sondern manchmal nach Weise der Materie. Immer verhält sich nämlich das, was der Grund eines anderen ist, zu diesem wie das Formale zum Materialen. 39 Vgl. De malo q. 2 a. 1.
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Zum Beispiel wird in der Handlung der Sinneswahrnehmung die Farbe durch das Licht gesehen und verhält sich wie die Materie zum Licht, das auch ohne Farbe gesehen werden kann, obwohl die Farbe nicht ohne das Licht gesehen werden kann. Ähnlich ist in der Handlung des Willens das Ziel der Grund für das Wollen des Mittels zum Ziel. Daher kann das Ziel auch ohne die Mittel zum Ziel angestrebt werden. Dennoch verhält sich das Mittel zum Ziel nicht zufällig zum Erstrebenswerten, sondern nach Weise der Materie. Ähnlich verhält es sich bei der Erkenntnis des Prinzips und der Schlußfolgerung. Denn das Prinzip kann ohne die Schlußfolgerung eingesehen werden, aber nicht umgekehrt. Da daher die Willenstätigkeit der Grund dafür ist, warum die äußere Handlung schuldbar ist, in Bezug darauf, daß die Sünde schuldbar ist, verhält sich die Handlung des Willens wie das Formale zur äußeren Handlung, und die äußere Handlung verhält sich nicht zufällig, sondern nach Weise der Materie zu solch einer Sünde. Zu 6. Die Handlung dieser Person, deren Hand von jemandem zum Töten benutzen würde, wäre zwar eine ungeordnete Handlung, hätte aber nicht die Natur der Schuld, außer in Verbindung mit dem, der die Hand des anderen benutzt. Auf ähnliche Weise besitzt die äußere Handlung des Körpergliedes eine Mißgestaltung, aber hat nicht die Natur der Schuld, außer dadurch, daß sie vom Willen verursacht wird. Wenn daher der Wille und die Hand zwei Personen wären, würde die Hand nicht sündigen, aber der Wille würde nicht allein durch seine eigene Handlung – das Wollen – sündigen, sondern auch durch die Handlung der Hand, die benutzt wird. Nun ist es aber ein Mensch, der beide Handlungen vollbringt, und für beide wird er bestraft. Zu 7. Die Lösung ist offensichtlich durch die Erwiderung auf das sechste Argument. Zu 8. Wenn gefragt würde, ob eine Person, die nur durch den Willen sündigt, in solchem Maß sündigt wie die, die durch den Willen und die Handlung sündigt, so ist zu sagen, daß dies auf zwei Arten geschehen kann: auf eine Weise, daß auf Seiten des Willens Gleichheit besteht, auf andere Weise, daß keine Gleichheit besteht. Aber die Ungleichheit des Willens kann auf drei Arten auftreten: auf eine Weise gemäß der Zahl – zum Beispiel wenn jemand durch eine
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Willensbewegung sündigen will, und die Willensbewegung vergeht, wenn er keine Gelegenheit hat. Bei einer anderen Person aber, die zuerst die Willensbewegung hat, wiederholt sich die Willenshandlung, nachdem sie die Gelegenheit hat. So findet sich in ihr ein doppelter schlechter Wille, einer ohne Handlung und einer mit Handlung. Auf andere Weise kann die Ungleichheit die Bewegung betreffend ins Auge gefaßt werden, zum Beispiel wenn jemand, der den Willen zu sündigen hat und weiß, daß er keine Gelegenheit hat, von einer derartigen Willensbewegung abläßt. Ein anderer aber, der weiß, daß er die Gelegenheit hat zu sündigen, setzt die Willensbewegung bis zum Zustandekommen der Handlung fort. Auf eine dritte Weise kann die Ungleichheit des Willens in Bezug auf seine Stärke auftreten. Es gibt nämlich einige angenehme Handlungen der Sünde, in denen der Wille zunimmt, als ob die Beherrschung der Vernunft entfernt worden wäre, die vor der Handlung sozusagen wiederholt beschworen hat, sie nicht zu begehen. Die Ungleichheit der Sünde besteht überall, worin auch immer die Ungleichheit des Willens besteht. Wenn aber vollständige Gleichheit auf Seiten des Willens herrscht, so scheinen wir in der Sünde so unterscheiden zu müssen wie im Verdienst. Wer nämlich den Willen hat, ein Almosen zu geben, und es nicht gibt, da er nicht die Möglichkeit dazu hat, erwirbt in Beziehung auf die wesentliche Belohnung, die in der Freude in Gott besteht, ein genauso großes Verdienst, als wenn er es gegeben hätte. Diese Belohnung entspricht nämlich der Liebe, die zum Willen gehört. Aber in Beziehung auf die nebensächliche Belohnung, die in der Freude über irgendein geschaffenes Gut besteht, erwirbt der mehr, der nicht nur geben will, sondern gibt. Er wird sich nämlich nicht nur erfreuen, da er geben wollte, sondern da er gegeben hat, und wegen all der Güter, die aus dieser Gabe hervorgehen. Ähnlich verhielte es sich, wenn die Größe der Unwürdigkeit in Beziehung auf die wesentliche Strafe ins Auge gefaßt würde, die in der Trennung von Gott besteht, und dem daraus entspringenden Leiden. Derjenige, der nur willentlich sündigt, wird nicht weniger bestraft als der, der willentlich und tatsächlich sündigt. Denn dies ist die Strafe für die Verachtung Gottes, der den Willen ansieht. Aber was die untergeordnete Strafe anbetrifft, die im Schmerz über irgendwelche anderen Übel besteht, so fehlt einer, der tatsächlich und willentlich sün-
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digt, mehr. Er wird nämlich nicht nur dafür leiden, daß er schlecht gewollt hat, sondern auch dafür, daß er schlecht gehandelt hat, und für alle die Übel, die aus einer Übeltat hervorgehen. Daher leidet auch der Büßer, der durch die Buße die zukünftige Strafe vorwegnimmt, für alle diese Übel. Die Behauptung also, daß eine zu einer Größe hinzugefügte Größe eine größere Größe ergibt, stimmt für den Fall, wo beide aus demselben Grund Größen genannt werden. Aber wo eine Größe der Grund dafür ist, daß die andere eine Größe ist, da ist dies nicht notwendig. Wenn zum Beispiel ein Stück Holz lang ist, wird da eine lange Linie sein, und es ist nicht vernünftig, daß das Holz mit der Linie länger als die Linie ist, die der Grund der Länge des Holzes ist. So ist auch von der äußeren Handlung gesagt worden, daß der Grund ihrer Schuld von der Handlung des Willens herrührt. Die Wahrheit der Aussage »soviel Du anstrebst, soviel tust du« hat ihren Ort in den schlechten Taten. Denn wenn jemand eine Todsünde zu begehen strebt, begeht er eine Todsünde, auch wenn er eine Tat verübt, die von ihrer Gattung her eine läßliche Sünde oder gar keine Sünde ist. Denn ein irriges Gewissen bindet. Wenn dagegen jemand ein verdienstliches Werk zu vollbringen strebt, und etwas begeht, was entsprechend seiner Gattung eine Todsünde ist, erwirbt er sich kein Verdienst. Denn ein irriges Gewissen stellt keine Entschuldigung dar. Wenn dennoch unter Absicht nicht nur ein Erstreben des Ziels verstanden wird, sondern das Wollen des Werks, so ist es im Guten und im Schlechten wahr, daß einer soviel tut, wie er anstrebt. Wer nämlich die Heiligen töten will, um einen Dienst an Gott zu vollbringen, oder wer einen Diebstahl begehen will, um Almosen zu geben, scheint sicherlich eine gute Absicht zu haben, aber einen schlechten Willen. Deswegen wird auch die Absicht schlecht sein, wenn unter Absicht auch der Wille verstanden wird, so daß das Ganze als Absicht bezeichnet wird. Zu 9. Nicht für einen Habitus, sondern für eine Tat erwirbt man sich Verdienste oder Tadel. Daher kann einer so schwach sein, daß er sündigen würde, wenn die Versuchung über ihn kommen würde, der aber dennoch, wenn die Versuchung ihn nicht überkommt, nicht tatsächlich sündigt. Er erwirbt sich deswegen auch keinen Tadel. Denn, wie Augustinus sagt, niemand wird von Gott für das bestraft, was
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er tun würde, sondern für das, was er tut.40 Obgleich es also nicht im Vermögen des Sünders steht, die Möglichkeit des Sündigens zu besitzen oder nicht zu besitzen, so steht es dennoch in dessen Vermögen, die vorhandene Möglichkeit zu nutzen oder nicht zu nutzen. Deshalb sündigt er und seine Sünde nimmt zu. Zu 10. Da die Sünde sich nicht in anderen Handlungen findet, außer insofern sie willentlich sind, wird durch die Sünde ursprünglich das entfernt, was im Willen ist. Zu 11. Alles, was zu einem anderen als dessen Grund in Beziehung steht, verhält sich zu diesem wie die Form zur Materie. Daher wird aus zwei Dingen eines, wie aus der Materie und der Form. Deswegen sind Farbe und Licht ein Sichtbares, da die Farbe wegen des Lichtes sichtbar ist. Auf ähnliche Weise sind die Willenstätigkeit und die daran anknüpfende äußere Handlung dieselbe Sünde, da die äußere Handlung die Natur der Sünde von der Handlung des Willens hat. Aber wenn jemand zuerst nur wollen sollte und später will und die Handlung ausübt, so liegen zwei Sünden vor. Denn die Willenstätigkeit wird wiederholt. Wenn aber aus zweien eines wird, hindert nichts, daß eines von diesen zweien die Ursache des anderen ist. Auf diese Weise ist die Willenshandlung die Ursache der äußeren Handlung, wie auch die Handlung eines höheren Vermögens die Ursache für die Handlung eines niederen Vermögens ist und sich dazu immer in der Weise einer Form verhält. Zu 12. Die Mißgestalt der Sünde besteht in beiden Handlungen, der inneren nämlich und der äußeren. Aber dennoch gehört zu beiden eine Mißgestalt. Das kommt daher, weil die Mißgestalt in einer der beiden von der anderen verursacht wird. Zu 13. Vom Wesen einer äußeren Handlung wird gesagt, sie enthalte keine Ungerechtigkeit, weil die äußeren Handlungen nicht zur Gattung sittlicher < Handlungen> gehören, außer insofern sie willentlich sind. Zu 14. Die Schuld, das heißt die Verpflichtung zur Bestrafung, ist eine Art Wirkung, die auf eine Sünde folgt. Wenn daher gesagt wird, daß die Sünde als begangene vergeht und als ihre Schuld zu40 Vgl. Augustinus, De praedest. sanct. 12 (PL 44, 977) und De dono pers. 10 (PL 45, 1007).
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rückbleibt, ist dies dasselbe, als wenn gesagt würde, daß sie ihrem Wesen nach vergeht und ihrer Wirkung nach zurückbleibt.
3. Artik el Die dritte Frage lautet: Besteht die Sünde ihrem Ursprung nach in der Willenshandlung? 41 Das scheint nicht der Fall zu sein, denn: 1. Alles wird von seinem Ursprung her benannt, wie es im 2. Buch von Über die Seele heißt.42 Aber die Sünde wird nach der äußeren Handlung benannt, wie wenn etwas »Diebstahl« oder »Mord« genannt wird. Die Sünde besteht also ihrem Ursprung nach nicht in der Willenshandlung. 2. Eine Willenshandlung kann nicht schlecht sein, da das eigentliche Vermögen des Willens gut ist und ein guter Baum keine schlechten Früchte hervorbringen kann, wie es in Matthäus 7, 18 heißt.43 Also besteht die Sünde ihrem Ursprung nach nicht in der Willenshandlung. 3. Anselm sagt in seiner Schrift Über den Fall des Teufels: »Die Willensbewegung ist kein Übel, sondern der Wille oder der Beweger des Willens.«44 Aber die Bewegung des Willens ist seine Handlung. Also besteht die Sünde ihrem Ursprung nach nicht in der Willenshandlung. 4. Aus Notwendigkeit getane Handlungen werden nicht durch den Willen getan. Aber Augustinus sagt, daß manche aus Notwendigkeit geschehenen Handlungen getadelt werden müssen und somit sind sie Sünden.45 Die Sünde besteht also ihrem Ursprung nach nicht im Willen. 5. Über die Stelle aus dem Römerbrief 7, 20 sagt die Glosse, daß jede Sünde aus einer Begierde hervorgeht.46 Diese ist bestimmt Paralleltexte: Sum. theol. I–II, q. 20 a. 1. Aristoteles, De an. II, 9; 416 b 23–24. Mt. 7, 18. Vgl. Anselm von Canterbury, De casu diaboli 20 (Opera Omnia I, ed. Schmitt, 265). 45 Vgl. Augustinus, De lib. arb. III, 18 (CCSL 29, 305). 46 Petrus Lombardus, Glossa in Rom. 7, 20 (PL 191, 1424 C). 41 42 43 44
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nicht im Willen, sondern im Begehrungsvermögen. Also besteht die Sünde ihrem Ursprung nach nicht im Willen. 6. Die Ansteckung der Seelenvermögen geschieht nur durch die Sünde. Es heißt aber, daß das unter allen anderen Vermögen am meisten angesteckte das Begehrungsvermögen sei. Also besteht die Sünde hauptsächlich in diesem und demnach nicht im Willen. 7. Die Begehrungsvermögen verhalten sich zu den Erkenntnisvermögen als Folgen. Aber die Erkenntnisvermögen des vernünftigen Seelenteils empfangen Sinneseindrücke von den Erkenntnisvermögen des sinnlichen Teils. Daher erhalten auch die höheren Begehrungsvermögen Eindrücke von den niederen Begehrungsvermögen. So scheint die Sünde eher in der Handlung eines unteren Begehrungsvermögens – das sind die zornmütigen und die sinnlich begehrlichen – als in der Willenshandlung zu bestehen. 8. »Das, wegen dem etwas in einer bestimmten Weise beschaffen ist, ist in höherem Grade so beschaffen«, wie es im 1. Buch der Zweiten Analytik heißt.47 Aber die Willenshandlung ist schlecht, weil die äußere Handlung schlecht ist. Denn der Wille zu stehlen ist schlecht, weil das Stehlen ein Übel ist. Daher ist die Sünde nicht ursprünglich im Willen. 9. Der Wille neigt sich zum Guten als zu seinem Gegenstand. Daher will er immer entweder ein wahres Gutes, und dann liegt keine Sünde vor, oder er will ein scheinbares Gut, das aber kein wirkliches Gut ist, und dann liegt eine Sünde vor. Aber daß etwas als ein Gut erscheint, das kein wirkliches Gut ist, geht aus einem Fehler des Verstandes oder einem anderen Erkenntnisvermögen hervor. Die Sünde besteht also dem Ursprung nach nicht im Willen. Dagegen spricht: Augustinus sagt in seiner Schrift Über die Willensfreiheit: »Es ist sicher, daß in allem bösen Tun das unbeherrschte Verlangen dominiert.«48 Das Verlangen gehört aber zum Willen. Also besteht die Sünde ihrem Ursprung nach im Willen.
47 Aristoteles, Anal. post. I, 6; 72 a 29. 48 Augustinus, De lib. arb. I, 3 (CCSL 29, 215).
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Antwort: Es gibt bestimmte Sünden, bei denen die äußeren Handlungen nicht an sich selbst schlecht sind, sondern insofern sie aus einer verderbten Absicht oder einem verderbten Willen hervorgehen, zum Beispiel wenn jemand aus Prahlerei ein Almosen gibt. Bei derartigen Sünden ist es offensichtlich, daß in allen Fällen die Sünde ursprünglich im Willen besteht. Aber es gibt bestimmte Sünden, bei denen die äußeren Handlungen an sich selbst schlecht sind, wie es bei Diebstahl, Ehebruch, Mord und ähnlichen Handlungen offensichtlich ist. Es scheint, daß bei diesen eine zweifache Unterscheidung vorgenommen werden muß. Die erste von diesen besteht darin, daß »ursprünglich« auf zweifache Weise ausgesagt wird, nämlich als erstursprünglich und als vervollständigend. Die andere Unterscheidung besteht darin, daß die äußere Handlung auf zwei Arten betrachtet werden kann: einerseits wie sie entsprechend ihrer Natur begriffen wird, andererseits in Bezugnahme auf die Ausführung des Werkes. Wenn daher eine Handlung wie Diebstahl oder Mord, die an sich selbst schlecht ist, betrachtet wird, so wie sie gemäß ihrer Natur begriffen wird, so findet sich die Natur der Sünde ursprünglich in ihr selbst. Denn die Handlung ist nicht mit pflichtmäßigen Umständen ausgestattet. Aufgrund der Tatsache, daß sie eine schlechte Handlung ist, das heißt daß sie des pflichtmäßigen Maßes, der pflichtmäßigen Form und Ordnung beraubt ist, hat sie die Natur der Sünde. Denn wird sie auf diese Weise an sich selbst betrachtet, so verhält sie sich zum Willen als sein Gegenstand, insofern sie gewollt ist. Wie aber die Handlungen den Vermögen vorgängig sind, so sind auch die Gegenstände den Handlungen vorgängig. Daher findet sich die Natur des Übels und der Sünde auf diese Weise betrachtet erstursprünglich eher in den äußeren Handlungen als in der Willenshandlung. Aber die Natur der Schuld und des sittlichen Übels wird vollendet, insofern der Wille zustimmt. Deshalb findet sich das Übel der Schuld in seiner Vollständigkeit in der Willenshandlung. Aber wenn die Handlung der Sünde aufgefaßt wird, insofern sie in der Ausführung des Werkes besteht, so liegt die Schuld auch ursprünglich und anfänglich im Willen. Daher sagten wir auch, daß das Übel eher in der äußeren Handlung als im Willen liegt, sofern die äußere Handlung betrachtet wird, wie sie in unserer Auf-
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fassung ist. Umgekehrt verhält es sich hingegen, wenn sie in der Ausführung des Werkes betrachtet wird. Denn die äußere Handlung verhält sich zur Willenshandlung als ihr Gegenstand, der die Natur eines Ziels hat. Das Ziel aber ist dem Sein nach später, der Absicht nach hingegen früher. Zu 1. Die Handlung hat ihre Art von ihrem Gegenstand. Deswegen wird die Sünde nach der äußeren Handlung benannt, insofern diese sich zu ihr als ihr Gegenstand verhält. Zu 2. Der Wille ist seiner Natur nach gut. Daher ist auch dessen natürliche Tätigkeit immer gut. Ich sage »die natürliche Tätigkeit des Willens«, so wie der Mensch natürlicherweise Sein, Leben und Glückseligkeit will. Aber wenn wir vom sittlich Guten sprechen, so ist der Wille an sich betrachtet weder gut noch schlecht, sondern befindet sich in Möglichkeit zum Guten oder Schlechten. Zu 3. Anselm spricht davon, wenn die äußere Handlung an sich schlecht ist. Dann empfängt die Willensbewegung nämlich die Natur des Übels von dem Bewegenden, das heißt aus der Handlung selbst, insofern sie der Gegenstand ist. Zu 4. Die aus Zwang hervorgehende Notwendigkeit steht in absolutem Widerspruch zum Willentlichen und solche Notwendigkeit schließt Schuld vollständig aus. Es gibt dennoch eine Art von Notwendigkeit vermischt mit Willentlichem, zum Beispiel wenn ein Seemann gezwungen ist, die Schiffsfracht über Bord ins Meer zu werfen, damit er den Untergang des Schiffes verhindert. Handlungen, die aufgrund einer derartigen Notwendigkeit geschehen, können die Natur der Schuld besitzen, insofern sie am Willentlichen teilhaben. Denn derartige Taten sind eher freiwillig als unfreiwillig, wie Aristoteles im 3. Buch der Nikomachischen Ethik sagt.49 Zu 5. Manchmal wird auch der ungeordnete Wille der Begierde zugezählt. Aber auch wenn die Begierde so aufgefaßt wird, insofern sie zum Begehrungsvermögen gehört, so wird nicht deshalb gesagt, daß die Sünde aus der Begierde entsteht, weil die Begierde an sich selbst dem Ursprung nach Sünde ist, sondern weil sie zur Sünde an-
49 Aristoteles, Eth. Nic. III, 1; 1110 a 8–19.
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reizt. Ihrem Ursprung nach besteht die Sünde aber im Willen, insofern er unrechtmäßig der Begierde zustimmt. Zu 6. Vom Begehrungsvermögen heißt es in bezug auf die Weitergabe der Erbsünde von den Eltern an die Nachkommen, daß es am meisten angesteckt ist. Aber diese Ansteckung ging selbst aus dem ungeordneten Willen unseres ersten Vorfahren hervor. Zu 7. Die Handlung des Begreifens in uns, durch die wir Wissen von den Dingen erhalten, erfolgt gemäß einer Bewegung von den Dingen zur Seele. Aber die Sinne sind den sinnlich wahrnehmbaren Dingen näher als der Verstand. Daher folgt es, daß der Verstand auf dieselbe Weise von den Sinnen [Eindrücke] empfängt wie die Sinne von den wahrnehmbaren Dingen. Aber die Handlung des Begehrungsvermögens erfolgt gemäß einer Bewegung von der Seele zu den Dingen. Daher geht umgekehrt auch natürlicherweise die Bewegung vom höheren Begehren zum niedrigeren Begehren, wie es im 3. Buch von Über die Seele heißt.50 Zu 8. Die innere Handlung wird wegen einer äußeren Handlung wie wegen eines Gegenstandes schlecht genannt. der Schuld wird dennoch in der inneren Handlung vollendet. Zu 9. Das, was kein wahres Gut ist, erscheint auf zwei Arten als gut: manchmal nämlich wegen eines Fehlers des Verstandes, wie wenn jemand eine falsche Meinung über die Ausführung einer Handlung hat. Das ist offensichtlich bei demjenigen der Fall, der glaubt, daß ein Diebstahl keine Sünde ist, oder auch bei dem, dem der Vernunftgebrauch fehlt. Ein solcher von seiten des Verstandes ausgehender Mangel verringert die Schuld oder entschuldigt sie vollständig. Manchmal aber liegt der Mangel nicht auf seiten des Verstandes selbst, sondern mehr auf seiten des Willens. So heißt es im 3. Buch der Nikomachischen Ethik: »Wie einer nämlich ist, so scheint ihm auch das Ziel«.51 Aus der Erfahrung wissen wir nämlich, daß uns bei den Dingen, die wir lieben oder die wir hassen, etwas auf andere Weise als gut oder schlecht erscheint. Wenn daher jemand zu etwas auf ungeordnete Weise geneigt ist, wird das Urteil seines Verstandes in Bezug auf das teilweise Wählbare von der un50 Aristoteles, De an. III, 11; 434 a 14 f. 51 Aristoteles, Eth. Nic. III, 13; 1114 a 32 – b 1.
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geordneten Neigung gehindert. So liegt der Fehler seinem Ursprung nach nicht in der Überlegung, sondern in der Neigung. Daher sagt man von dem, der auf diese Weise sündigt, nicht, daß er aus Unwissenheit sündigt, sondern daß er unwissend sündigt, wie es im 3. Buch der Nikomachischen Ethik heißt.52
4. Artik el Die vierte Frage lautet: Ist jede Handlung moralisch indifferent? 53 Das scheint der Fall zu sein, denn: 1. Anselm sagt im Buch Über die unbefleckte Empfängnis: »In ihrem (das heißt: der Handlungen) Wesen findet sich keine Gerechtigkeit und aus dem gleichen Grund auch keine Ungerechtigkeit.«54 Aber jene Handlung wird moralisch indifferent genannt, in der sich weder Gerechtigkeit noch Ungerechtigkeit findet. Also sind alle Handlungen moralisch indifferent. 2. Was an sich gut ist, kann nicht schlecht sein. Denn das, was einem Ding gemäß der eigenen Natur innewohnt, wohnt ihm aus Notwendigkeit inne. Aber es gibt keine Handlung, die nicht schlecht ausgeführt werden kann, selbst die, Gott zu lieben. Das ist bei demjenigen offensichtlich, der Gott wegen zeitlicher Dinge verehrt. Also ist keine Handlung an sich selbst gut und aus demselben Grund ist keine Handlung an sich selbst schlecht. Also ist jede Handlung an sich selbst moralisch indifferent. 3. Da das Gute und das Seiende austauschbar sind, wird es einem Ding aus demselben Ursprung zukommen, daß es gut ist und daß es seiend ist. Aber eine Handlung hat ihre Eigenschaft, sittlich zu sein, vom Willen. Wenn sie nämlich nicht willentlich ist, ist sie auch keine sittliche Handlung. Also hat sie auch ihre sittliche Güte und Schlechtigkeit vom Willen. Also ist sie an sich selbst weder gut noch schlecht, sondern unbestimmt. 52 Aristoteles, Eth. Nic. III, 3; 1110 b 28. 53 Paralleltexte: Sent. II, d. 40 a. 5. Sum. theol. I–II q. 18 a. 8 und 9. 54 Anselm von Canterbury, De conceptu virg. 4 (Opera Omnia II,
ed. Schmitt, 144).
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4. Dagegen wurde folgendes eingewandt: auch wenn eine Handlung sittlich ist, insofern sie willentlich ist, was etwas Allgemeines ist, hat sie dennoch dieses Besondere, ihr Gutsein oder ihr Schlechtsein, durch sich selbst. – Dagegen spricht: Gut und schlecht sind Unterschiede sittlicher Handlungen. Aber wesentliche Unterschiede unterteilen eine Gattung. So ist es notwendig, daß die Unterschiede nicht auf anderes bezogen werden als auf die Gattung. Wenn also die Handlung diese allgemeine Eigenschaft, sittlich zu sein, vom Willen hat, wird es ihr auch durch denselben Willen zukommen, daß sie gut oder schlecht ist. Somit ist sie an sich selbst unbestimmt. 5. Eine sittliche Handlung wird gut genannt, insofern sie mit den angemessenen Umständen ausgestattet ist, schlecht hingegen, insofern sie nicht mit den angemessenen Umständen ausgestattet ist. Aber Umstände sind der Art der Handlung äußerlich. Denn sie kommen einer Handlung in unwesentlicher Weise zu. Da es also von dem heißt, daß es einem Ding gemäß seiner selbst zukommt, was ihm gemäß seiner Art zukommt, scheint es, daß eine Handlung an sich weder gut noch schlecht, sondern unbestimmt ist. 6. Wie weiß und schwarz sich in derselben Art des Menschen finden, so gut und schlecht in derselben Art der Handlung. Es unterscheidet sich nämlich der Art nach nicht, mit seiner eigenen Frau oder mit einer fremden Frau zu verkehren. Das ist offensichtlich durch die Wirkung: in beiden Fällen wird nämlich ein Mensch gezeugt. Dennoch ist eine von beiden Handlungen gut, die andere schlecht. Aber weiß und schwarz kommen dem Menschen nicht an sich selbst zu. Also kommen auch gut und schlecht der Handlung nicht an sich selbst zu. Somit ist jede Handlung an sich selbst betrachtet unbestimmt. 7. Die Dinge, die wesentlich zu etwas gehören, wechseln nicht in demselben numerischen Zugrundeliegenden. So ist dieselbe Zahl nicht gerade und ungerade. Aber eine und dieselbe numerische Handlung kann gut und schlecht sein. Denn eine Handlung, die ununterbrochen ist, ist der Zahl nach eine. In der fortgesetzten Handlung aber kann sich zuerst Gutes und später Schlechtes finden oder umgekehrt, zum Beispiel wenn eine Person aus einer schlechten Absicht heraus anfängt, zur Kirche zu gehen, und sich ihre Absicht auf
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dem Weg in eine gute wandelt. Also kommen gut und schlecht der Handlung nicht wesentlich zu. So ist jegliche Handlung von sich selbst her unbestimmt. 8. Das Übel, insofern es schlecht ist, ist nicht seiend. Aber Nichtseiendes kann nicht von der Substanz irgendeines Seienden sein. Da also die Handlung eine Art von Seiendem ist, kann keine Handlung gemäß sich selbst schlecht sein und folglich auch nicht gut. Denn die gute Handlung ist der schlechten entgegengesetzt, Gegensätze gehören aber zu einer Gattung. Also folgt dasselbe wie vorher. 9. Eine Handlung wird wegen ihrer Ordnung auf das Ziel gut oder schlecht genannt. Aber eine Handlung erhält ihre Art nicht durch das Ziel. Denn auf diese Weise könnte jede Handlung derselben Art zugehören, da verschiedene Handlungen auf ein und dasselbe Ziel hingeordnet sein können. Also gehören gut und schlecht nicht zur Art der Handlung. So sind Handlungen, an sich selbst betrachtet, weder gut noch schlecht, sondern unbestimmt. 10. Gut und schlecht finden sich nicht nur in Handlungen, sondern auch in anderen Dingen. Aber bei anderen Dingen konstituieren sie keinen Artunterschied, also tun sie dies auch bei Handlungen nicht. Also sind die Handlungen an sich selbst weder gut noch schlecht. 11. Sittlich gute Handlungen werden tugendhaft genannt, schlechte Handlungen aber werden als lasterhafte Handlungen bezeichnet. Tugend und Laster gehören aber zur Gattung »Habitus«. Daß also eine Handlung gut oder schlecht ist, hat sie von einer anderen Gattung und nicht durch sich selbst. 12. Ein früheres Ding hängt nicht von den Eigenschaften eines späteren Dinges ab. Aber eine Handlung ist der Natur nach früher als eine sittliche Handlung, da jede sittliche Handlung eine Handlung ist, aber nicht umgekehrt. Da also gut und schlecht sittliche Eigenschaften sind, kommen sie der Handlung nicht durch sich selbst zu, insofern sie eine Handlung ist. 13. Was von Natur aus eine Beschaffenheit besitzt, ist immer und überall derartig beschaffen. Aber gerechte und gute Handlungen haben nicht immer und überall eine solche Beschaffenheit. Denn an einem Ort und zu einer Zeit ist es gerecht, bestimmte Dinge zu tun, was anderswo nicht gerecht ist. Nichts ist also von Natur aus gerecht
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oder gut und folglich auch nicht ungerecht oder schlecht. Also ist jede Handlung an sich selbst moralisch indifferent. Dagegen spricht: Augustinus sagt in seiner Schrift Über die Bergpredigt des Herrn, daß es gewisse Dinge gibt, »die nicht mit guter Absicht getan werden können, wie zum Beispiel Vergewaltigung, Blasphemie und derartige Handlungen, über die uns zu urteilen erlaubt ist«55. Also sind nicht alle Handlungen unbestimmt. Antwort: Bei den antiken Kirchenlehrern herrschte eine unterschiedliche Meinung über diesen Gegenstand. Einige behaupteten nämlich, alle Handlungen wären von sich selbst her unbestimmt. Andere bestritten dies und behaupteten, manche Handlungen wären an sich gut, andere an sich schlecht. Um die Wahrheit in Bezug auf diese Frage herauszufinden, ist zu beachten, daß das Gute eine gewisse Vollkommenheit in sich schließt. Die Beraubung dieser Vollkommenheit ist schlecht – in der Bedeutung, in der wir die Benennung »Vollkommenheit« im weiten Sinne benutzen, insofern sie in sich das angemessene Maß, die angemessene Form und Ordnung einschließt. Daher hat Augustinus im Buch Über die Natur des Guten die Natur des Guten auf Maß, Art und Ordnung und auf deren Beraubung die Natur des Schlechten gegründet.56 Es steht aber fest, daß dieselbe Vollkommenheit nicht für alle Dinge angemessen ist, sondern verschiedene Dinge verschiedene Vollkommenheiten haben, sei es, daß der Unterschied genommen wird, der zwischen verschiedenen Arten besteht wie zwischen Pferd und Ochse, denen eine unterschiedliche Vollkommenheit eignet, oder zwischen Gattung und Art wie zwischen Lebewesen und Mensch. Es gehört nämlich etwas zur Vollkommenheit des Menschen, das nicht zur Vollkommenheit des Lebewesens gehört. Daher muß das Gut des Lebewesens und das Gut des Menschen sowie des Pferdes und des Ochsen unterschiedlich aufgefaßt 55 Augustinus, De serm. Dom. II, 18 (CCSL 35, 154–155). 56 Augustinus, De nat. boni 3 und 4 (CSEL 25/2, 857).
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werden. Dasselbe gilt vom Übel. Es ist nämlich offensichtlich, daß es bei einem Menschen ein Übel ist, keine Hände zu haben, nicht aber bei einem Pferd oder Ochsen oder auch bei einem Lebewesen, insofern es Lebewesen ist. Ähnliches gilt bei den Handlungen vom Guten und vom Schlechten. Denn die Betrachtung des Guten und Schlechten in einer Handlung, insofern sie Handlung ist, und in den verschiedenen besonderen Handlungen, ist unterschiedlich. Denn wenn wir die Handlung als Handlung betrachten, so besteht ihre Güte darin, daß sie eine Art Ausfluß im Einklang damit ist, was der Tugend des Handelnden angemessen ist. Daher wird gemäß der Verschiedenheit der Handelnden das Gute und das Schlechte bei Handlungen auf unterschiedliche Weise aufgefaßt. Bei den natürlichen Dingen besteht eine gute Handlung darin, daß sie mit der Natur des Handelnden übereinstimmt, eine schlechte Handlung, daß sie nicht mit der Natur des Handelnden übereinstimmt. So kann von einer und derselben Handlung in Beziehung auf die unterschiedlichen Handelnden in unterschiedlicher Weise geurteilt werden. Denn die Aufwärtsbewegung ist bezogen auf das Feuer eine gute Tätigkeit, da sie ihm natürlich ist. Bezogen auf die Erde ist sie jedoch eine schlechte Tätigkeit, da sie deren Natur entgegengesetzt ist. Bezogen jedoch auf den beweglichen Körper im allgemeinen hat sie weder die Natur des Guten noch des Schlechten. Wir sprechen aber jetzt von den Handlungen des Menschen. Daher muß gut und schlecht bei den Handlungen, von denen wir jetzt sprechen, in bezug darauf verstanden werden, was dem Menschen als Menschen eigentümlich ist. Das ist aber die Vernunft. Daher wird das Gute und das Schlechte bei den menschlichen Handlungen betrachtet, insofern die Handlung mit der entweder auf natürliche Weise oder durch Unterricht oder durch Eingebung vom göttlichen Gesetz unterrichteten Vernunft übereinstimmt. Daher sagt auch Dionysios im 4. Kapitel von Über die göttlichen Namen, daß das Übel der Seele in ihrem Gegensatz zur Vernunft besteht und das Übel des Körpers in seinem Gegensatz zur Natur.57 Dementsprechend, wenn es zur Art der menschlichen Handlungen gehört, in Übereinstimmung oder in Gegensatz zur Vernunft 57 Dionysius Areopagita, De div. nom. IV, 32 (Dion., 309).
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zu sein, muß man sagen, daß einige menschliche Handlungen an sich selbst gut sind, andere an sich selbst schlecht. Wir sagen nämlich, daß einem nicht nur das an sich selbst zukommt, was ihm auf Grund seiner Gattung, sondern auch was ihm auf Grund seiner Art zukommt. Zum Beispiel kommen die Vernünftigkeit und die Unvernünftigkeit einem Lebewesen an sich selbst auf Grund seiner Art zu, obgleich nicht auf Grund dieser Gattung »Lebewesen«. Das Lebewesen ist nämlich, insofern es Lebewesen ist, weder vernünftig noch unvernünftig. Wenn es aber nicht zur Art der menschlichen Handlung gehört, in Übereinstimmung oder in Gegensatz zur Vernunft zu sein, dann folgt, daß menschliche Handlungen an sich selbst weder gut noch schlecht sind, sondern unbestimmt. So sind auch die Menschen an sich weder weiß noch schwarz. Davon hängt daher die Wahrheit über diese Frage ab. Um Klarheit darüber zu gewinnen, muß man folgendes ins Auge fassen: Da die Art einer Handlung durch ihren Gegenstand konstituiert wird, wird die Handlung in Bezug auf ein tätiges Prinzip gemäß der Natur des Gegenstandes zu einer Art gemacht werden, und entsprechend dieser Natur wird sie bezogen auf ein anderes tätiges Prinzip nicht zu einer Art gemacht werden. Eine Farbe und einen Ton wahrzunehmen, sind nämlich der Art nach unterschiedliche Handlungen, wenn sie auf den Sinn bezogen werden, da diese an sich selbst wahrnehmbare Gegenstände sind. Sie unterscheiden sich aber nicht der Art nach, wenn sie auf den Verstand bezogen werden. Denn vom Verstand werden sie unter eine gemeinsame Natur von »Gegenstand« zusammengefaßt, nämlich seiend oder wahr. Ähnlich unterscheidet sich die Wahrnehmung von weiß und schwarz der Art nach, wenn sie auf den Gesichtssinn und nicht wenn sie auf den Geschmack bezogen wird. Daraus kann geschlossen werden, daß die Art der Tätigkeit jedes Vermögens gemäß dem konstituiert wird, was jenem Vermögen wesentlich zukommt, nicht aber gemäß dem, was diesem nur äußerlich zukommt. Wenn daher die Gegenstände der menschlichen Handlungen betrachtet werden, die sich durch etwas wesentlich zur Vernunft Gehörendes unterscheiden, werden die Handlungen der Art nach verschieden sein, insofern sie Handlungen der Vernunft sind, auch wenn sie keine verschiedenen Arten sind, insofern sie Tätigkeiten eines anderen Vermögens
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sind. Zum Beispiel sind der Verkehr mit der eigenen Frau und der Verkehr mit einer fremden Frau Handlungen, die in Bezug auf das, was der Vernunft zukommt, unterschiedliche Gegenstände haben. Denn »das Eigene« und »das Fremde« wird entsprechend einer Regel der Vernunft bestimmt. Diese Unterschiede sind jedoch nebensächlich, wenn sie auf das Zeugungsvermögen oder auf das Begehrungsvermögen bezogen werden. Daher unterscheiden sich das Erkennen des Eigenen und das Erkennen des Fremden der Art nach, insofern sie Handlungen der Vernunft sind, nicht aber insofern sie erzeugende oder begehrliche Handlungen sind.58 Handlungen sind insofern menschlich, soweit sie Handlungen der Vernunft sind: so ist also offensichtlich, daß sie der Art nach verschieden sind, insofern sie menschliche Handlungen sind. Es ist also klar, daß menschliche Handlungen auf Grund ihrer Art gut oder schlecht sind. Daher muß schlicht gesagt werden, daß menschliche Handlungen an sich selbst gut oder schlecht und nicht alle unbestimmt sind, außer vielleicht insofern sie nur entsprechend ihrer Gattung betrachtet werden. Wie nämlich gesagt wird, daß das Lebewesen, insofern es Lebewesen ist, weder vernünftig noch unvernünftig ist, so kann gesagt werden, daß die menschliche Handlung, insofern sie Handlung ist, noch nicht die Natur eines sittlichen Guts oder Übels hat, wenn nicht etwas hinzugefügt wird, daß sie zu einer Art einschränkt. Obwohl sie auch aufgrund eben der Tatsache, daß sie eine menschliche Handlung ist, entfernter auch deshalb, weil sie eine Handlung ist, und noch entfernter deshalb, weil sie ein Seiendes ist, irgendeine Natur des Guten besitzt, aber nicht eines so beschaffenen sittlichen Guts, das darin besteht, der Vernunft gemäß zu sein, und das wir nun behandeln. Zu 1. Anselm spricht von Handlungen entsprechend ihrer gattungsmäßigen Natur und nicht entsprechend der Natur ihrer Art. Zu 2. Das, was aus der Art eines Dinges hervorgeht, gehört immer zu ihm. Da eine menschliche Handlung ihre Art durch die Na58 Cognoscere [erkennen] wird hier im Doppelsinn verwendet: einmal in dem alttestamentarischen Gebrauch von Erkennen als Geschlechtsverkehr haben, andererseits cognoscere als der Vernunftakt des Erkennens.
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tur ihres Gegenstandes erhält, entsprechend der sie gut oder schlecht ist, so kann also eine auf diese Weise als gut spezifizierte Handlung niemals schlecht sein, noch kann eine als schlecht spezifizierte Handlung jemals gut sein. Es kann sich jedoch an eine an sich selbst gute Handlung irgendeine andere schlechte Handlung gemäß einer Hinordnung anknüpfen. Gemäß dieser schlechten Handlung wird von der guten Handlung gesagt, daß sie schlecht wird und nicht, weil sie an sich selbst schlecht ist. So ist es zum Beispiel an sich selbst eine gute Handlung, einem Armen ein Almosen zu geben oder Gott zu lieben. Aber eine derartige Handlung auf ein mißgestaltetes Ziel zu beziehen, nämlich Begierde oder Prahlerei, ist eine bestimmte andere schlechte Handlung. Dennoch werden diese zwei Handlungen durch eine bestimmte Ordnung auf eine Handlung zurückgeführt. Wie Dionysius ausführt, geht das Gute aber aus einer ganzen und unversehrten Ursache hervor, das Übel hingegen aus einzelnen Mängeln.59 Daher wird das Ganze als schlecht beurteilt, egal ob nun die Handlung oder die Ordnung der Handlung auf das Ziel schlecht ist. Aber das Ganze wird nicht als gut beurteilt, wenn nicht beides gut gewesen ist, wie der Mensch nur dann als schön beurteilt wird, wenn alle seine Körperteile anmutig sind. Als häßlich wird er jedoch beurteilt, wenn ein Körperteil unansehnlich gewesen ist. Daher kann keine schlechte Handlung gut werden, da sie kein vollständiges Gut sein kann. Aber eine gute Handlung kann schlecht werden, da es nicht erforderlich ist, daß sie ein vollständiges Übel ist, sondern es reicht aus, daß sie in gewisser Hinsicht ein Übel ist. Zu 3. Willentlichkeit gehört zur Natur der menschlichen Handlung, insofern sie eine menschliche Handlung ist. Was daher zur Handlung gehört, insofern sie willentlich ist, entweder entsprechend ihrer Gattung oder entsprechend ihres Artunterschiedes, gehört nicht nebensächlich, sondern wesentlich zu ihr. Zu 4. Die Erwiderung auf den vierten Einwand ist offensichtlich durch die Erwiderung auf den dritten Einwand. Zu 5. Umstände verhalten sich zu sittlichen Handlungen wie unwesentliche Eigenschaften, die außerhalb der Begriffsbestimmung 59 Dionysius Areopagita, De div. nom. IV, 30 (Dion., 298). Vgl. De malo q. 2 a. 1 arg. 3.
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der Art liegen, die zu den natürlichen Dingen gehört. Wie ausgeführt worden ist, empfängt die sittliche Handlung ihre Art jedoch vom Gegenstand, sofern er auf die Vernunft bezogen wird.60 Daher sagt man im allgemeinen, daß manche Handlungen generell gut oder schlecht sind und daß eine generell gute Handlung eine Handlung ist, die sich auf die angemessene Materie erstreckt, wie die Hungrigen zu speisen. Aber eine generell schlechte Handlung ist eine solche, die sich auf die unzulässige Materie erstreckt, zum Beispiel fremdes Gut wegzunehmen. Denn die Materie einer Handlung wird deren Gegenstand genannt. Aber zu dieser Güte oder Schlechtigkeit kann durch etwas Äußeres eine andere Güte oder Schlechtigkeit hinzukommen, die Umstand genannt wird, wie durch Ort, Zeit, Beschaffenheit des Handelnden oder dergleichen, zum Beispiel wenn jemand fremdes Gut von einem heiligen Ort nimmt, oder ohne Not oder etwas anderes dergleichen. Obzwar dergleichen Güte oder Schlechtigkeit einer sittlichen Handlung nicht wesentlich zukommt, insofern sie in ihrer Art betrachtet wird, kommt ihr entsprechend ihrer Art dennoch eine gewisse Schlechtigkeit oder Güte zu. Denn, wie oben ausgeführt wurde, unterscheidet sich das Maß an Güte entsprechend der unterschiedlichen Vollkommenheiten.61 Zu 6. In derselben Art kann eine sittliche Handlung infolge der Umstände gut oder schlecht sein, wie in derselben Art des Menschen weiß und schwarz vorkommen kann. Aber dennoch unterscheiden sich Handlungen, die an sich selbst gut sind, von Handlungen, die an sich selbst schlecht sind, der Art nach – genau insofern sie sittliche Handlungen sind, obwohl sie sich vielleicht nicht der Art nach unterscheiden, sofern sie natürliche Handlungen sind. Das ist bei den beiden Handlungen, mit der eigenen Frau Verkehr zu haben und mit einer Fremden Verkehr zu haben, offensichtlich. Zu 7. Nichts hindert, daß etwas gemäß einer Gattung der Zahl nach dasselbe ist, das sich jedoch gemäß einer anderen Gattung nicht nur der Zahl, sondern der Art nach unterscheidet. Wenn zum Beispiel ein durchgängiger Körper in einem Teil weiß und in einem anderen Teil schwarz ist, ist er der Zahl nach einer, insofern 60 Vgl. De malo q. 2 a. 4 c. 61 Vgl. De malo q. 2 a. 4 c.
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er durchgängig ist. Aber insofern er farbig ist, unterscheidet er sich nicht nur der Zahl, sondern auch der Art nach. Auf ähnliche Weise folgt, wenn in einer durchgängigen Handlung zuerst die Absicht auf ein Gut gerichtet wird und nachher auf ein Übel, daß sie entsprechend ihrer Natur der Zahl nach eine ist. Aber dennoch unterscheidet sie sich der Art nach, insofern sie unter die Gattung der sittlichen Handlungen fällt. Obgleich auch gesagt werden kann, daß jene Handlung immer entweder die Güte oder die Schlechtigkeit beibehält, die sie von ihrer Art hat, auch wenn sich die Handlung der Absicht in derselben Handlung entsprechend der unterschiedlichen Ziele unterscheiden kann. Zu 8. Wie bei den natürlichen Dingen der Mangel aus einer Form hervorgeht, wie zum Beispiel die Form des Wassers den Mangel der Form des Feuers hervorbringt, so geht bei sittlichen Dingen die Beraubung des angemessenen Maßes, der Art oder Ordnung aus der Setzung eines Maßes, einer Art oder einer Ordnung hervor. So empfängt die Handlung ihre Art von dem, was in gesetzter Weise in der Handlung gefunden wird. Aber wegen der daraus hervorgehenden Beraubung wird sie schlecht genannt. Wie es dem Wasser seiner Natur nach zukommt, nicht Feuer zu sein, so kommt es einer so beschaffenen Handlung wesentlich zu, auch entsprechend ihrer Art schlecht zu sein. Zu 9. Es gibt zwei Arten von Ziel, naheliegend und entfernt. Das naheliegende Ziel einer Handlung ist dasselbe wie ihr Gegenstand, und von diesem empfängt sie ihre Art. Vom entfernten Ziel jedoch hat sie nicht ihre Art, sondern die Ordnung auf ein solches Ziel ist ein Umstand der Handlung. Zu 10. Das Gute hat die Natur eines Ziels. Daher ist das Ziel unter diesem Aspekt der Gegenstand des Willens. Da sittliche Dinge vom Willen abhängen, folgt, daß gut und schlecht bei sittlichen Dingen der Art nach unterschieden sind. Das ist aber bei anderen Dingen nicht der Fall. Zu 11. Einige Handlungen werden nicht nur deshalb tugendhaft oder lasterhaft genannt, weil sie aus einem Habitus der Tugend oder des Lasters hervorgehen, sondern weil sie jenen Handlungen ähnlich sind, die aus derartigen Haltungen hervorgehen. Daher begeht auch jemand, bevor er Tugend besitzt, eine tugendhafte Handlung,
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jedoch auf andere Weise, als nachdem er die Tugend besitzt. Denn bevor er die Tugend besitzt, kann er gerechte Handlungen begehen, aber nicht auf gerechte Weise, und keusche Handlungen, aber nicht auf keusche Weise. Aber nachdem er die Tugend besitzt, begeht er gerechte Handlungen auf gerechte Weise und keusche Handlungen auf keusche Weise. Das ist durch Aristoteles im 2. Buch der Nikomachischen Ethik ersichtlich.62 So ist also offensichtlich, daß der Grad der Güte und Schlechtigkeit bei moralischen Handlungen dreifach ist: zuerst nämlich entsprechend ihrer Gattung oder Art in Hinsicht auf den Gegenstand oder die Materie, zweitens durch die Umstände, drittens jedoch durch den gestaltenden Habitus. Zu 12. Dieses Argument gilt bei einer Handlung entsprechend ihrer generellen Natur, von der sie weder die sittliche Güte noch Schlechtigkeit empfängt. Dennoch hat sie sie gemäß ihrer Art, wie gesagt worden ist.63 Zu 13. Gerechte und gute Handlungen können auf zwei Weisen betrachtet werden: einmal der Form nach, und so sind sie immer und überall dieselben, da sich die Prinzipien von dem, was gerecht ist, die in der natürlichen Vernunft sind, nicht ändern. Andererseits können sie der Materie nach betrachtet werden, und so sind die gerechten und guten Handlungen nicht überall und bei allen dieselben, sondern sie müssen durch ein Gesetz bestimmt werden. Dies ist der Fall wegen der Veränderlichkeit der menschlichen Natur und den unterschiedlichen Bedingungen der Menschen und Dinge entsprechend dem Unterschied der Orte und der Zeiten. Zum Beispiel ist es immer gerecht, daß beim Kauf und Verkauf ein gleichwertiger Austausch stattfindet, aber es ist gerecht, daß für das Scheffel Getreide an einem solchen Ort oder zu solch einer Zeit soviel gegeben wird und an einem anderen Ort oder zu einer anderen Zeit nicht soviel, sondern mehr oder weniger.
62 Aristoteles, Eth. Nic. II, 4; 1105 a 26 ff. Vgl. auch Eth. Nic. V, 11; 1134
a 17. 63 Vgl. De malo q. 2 a. 4 c.
5. Artik el Die fünfte Frage lautet: Gibt es irgendwelche moralisch indifferenten Handlungen? 64 Das scheint nicht der Fall zu sein, denn: 1. Das Seiende, insofern es seiend ist, ist gut. Dem Seienden ist jedoch das Nichtseiende entgegengesetzt, dem Guten hingegen das Übel. Aber zwischen dem Seienden und dem Nichtseienden gibt es kein Mittleres. Also auch nicht zwischen dem Guten und dem Schlechten. Es ist also notwendig, daß alle Handlungen gut oder schlecht sind und keine unbestimmt. 2. Dagegen wurde eingewandt, daß seiend und gut nicht im sittlichen Bereich, sondern im Bereich des Natürlichen austauschbar sind. Somit ist es nicht notwendig, daß das Gute und das Schlechte im Bereich des Sittlichen ohne Mittleres sind. – Dagegen spricht: Das sittlich Gute ist ein größeres Gut als das natürlich Gute. Also bildet es einen größeren Gegensatz zum Übel. Wenn also das natürliche Gute dem Übel ohne Mittleres entgegengesetzt ist, gilt das viel mehr vom sittlich Guten. 3. Das Übel ist dem Guten nicht als konträrer Gegensatz entgegengesetzt. Denn das Übel setzt überhaupt nichts Positives, sondern es ist dem Guten als eine Beraubung entgegengesetzt. Aber Gegensätze der Beraubung haben kein Mittleres in Bezug auf ihren eigentümlichen Träger, und der eigentümliche Träger beim sittlich Guten und Schlechten ist die menschliche Handlung. Also ist jede menschliche Handlung gut oder schlecht und keine unbestimmt. 4. Die menschliche Handlung geht aus einem wohl erwogenen Willen hervor. Der wohl erwogene Wille handelt aber immer wegen eines Ziels. Also geschieht jede menschliche Handlung wegen eines Ziels. Aber jedes Ziel ist entweder gut oder schlecht. Eine auf das Gute gerichtete Handlung jedoch , eine Handlung, die hingegen auf das Übel gerichtet ist, ist schlecht. Also ist jede menschliche Handlung entweder gut oder schlecht und keine ist unbestimmt. 5. Jede menschliche Betätigung besteht entweder im Gebrauch oder im Genuß eines Dinges. Jeder aber, der benutzt, tut dies ent64 Paralleltexte: Sent. II, d. 40 a. 5. Sum. theol. I–II, q. 18 a. 8–9.
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weder richtig oder falsch, das heißt, er mißbraucht. Ähnlich genießt jeder, der genießt, entweder in Gott, was gut ist, oder er genießt ein Geschaffenes, was schlecht ist. Also ist jede menschliche Handlung entweder gut oder schlecht. 6. Wie Augustinus in seiner Schrift Über 83 verschiedene Fragen sagt, geschieht in der Natur keine Handlung zufällig.65 Denn jede Handlung hat verborgene Ursachen, wenn auch für uns unbekannt. Aber wie das Zufällige in der Natur ist, so scheint das Unbestimmte in den sittlichen zu sein, das heißt außerhalb der Absicht von gut oder schlecht. Also ist keine sittliche Handlung unbestimmt. 7. Jede Handlung, die aus dem von der Liebe geformten Willen hervorgeht, ist verdienstvoll. Jede Handlung aber, die aus dem nicht von der Liebe geformten Willen hervorgeht, ist unverdienstlich. Denn alle sind verpflichtet, den eigenen Willen dem göttlichen Willen anzugleichen, besonders in bezug auf die Art und Weise des Wollens, wie zum Beispiel das, was man will, wie Gott aus Liebe zu wollen. Das kann niemand befolgen, der die Nächstenliebe nicht besitzt. Also ist jede Handlung verdienstvoll oder unverdienstlich und keine ist unbestimmt. 8. Niemand wird verurteilt, außer für eine Schuld. Aber jemand wird dafür verurteilt, daß er ohne Liebe ist. Das ist in Matthäus 22, 11–14 offensichtlich bei ihm, der vom Hochzeitsfest ausgeladen wurde, weil er kein Hochzeitsgewand trug.66 Durch dieses wird die Liebe bezeichnet. Also ist es eine Sünde, keine Liebe zu haben, und was auch immer von jemandem, der keine Liebe hat, getan wird, ist unverdienstlich. So folgt dasselbe wie vorher. 9. Aristoteles sagt im 7. Buch der Nikomachischen Ethik, daß die Handlungen in den sittlichen Dingen wie die Folgerungen in syllogistischen Dingen sind.67 Bei diesen gibt es wahr und falsch, wie bei den sittlichen Dingen gut und schlecht. Aber jede Folgerung ist entweder wahr oder falsch. Also ist jede sittliche Handlung entweder gut oder schlecht und keine unbestimmt. 65 Augustinus, De diversis quaestionibus LXXXIII, q. 24 (CCSL 44 A, 29). 66 Mt. 22, 12–13. 67 Aristoteles, Eth. Nic. VII, 8; 1151 a 16–17.
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10. Gregor der Große sagt im 6. Buch der Moralia in Job, daß die Schlechten den Willen Gottes erfüllen, während sie nach dem Gegenteil trachten.68 Viel mehr aber erfüllen jene, die nicht nach dem Gegenteil des göttlichen Willens trachten, den göttlichen Willen. Den göttlichen Willen zu erfüllen, ist aber gut. Daher folgt, daß jede Handlung gut und keine unbestimmt ist. 11. Damit eine Handlung bei jemandem verdienstlich ist, der im Besitz der Liebe ist, braucht sie nicht gegenwärtig auf Gott bezogen zu werden. Vielmehr genügt es, daß sie gegenwärtig auf ein angemessenes Ziel hin bezogen wird, das habituell auf Gott bezogen ist. Zum Beispiel ist das der Fall, wenn jemand, der wegen Gott eine Pilgerreise unternehmen möchte, ein Pferd kauft und dabei gegenwärtig nicht an Gott, sondern nur an die Reise denkt, die er schon auf Gott hin ausgerichtet hat. Das ist nämlich verdienstvoll. Aber es steht fest, daß der, der im Besitz der Liebe ist, sich selbst und seinen gesamten Besitz auf Gott hin ausgerichtet hat, dem er als seinem letzten Ziel treu ist. Was also auch immer er entweder als zu ihm gehörend oder zu irgendeinem anderen von ihm gehörend ausrichtet: er handelt verdienstvoll, auch wenn er gegenwärtig nicht an Gott denkt, außer er wird durch irgendeine Mißgestaltung einer Handlung, die nicht auf Gott beziehbar ist, gehindert. Dies kann aber nur passieren, wenn wenigstens eine läßliche Sünde vorliegt. Also ist jede Handlung von jemandem, der im Besitz der Liebe ist, entweder verdienstlich oder sündhaft und keine ist unbestimmt. Dieselbe Folgerung gilt bei allen anderen. 12. Dagegen wurde eingewandt, daß eine Handlung nicht allein deshalb weder verdienstvoll noch geordnet sein kann, weil jemand aus Nachlässigkeit und einer Art Unachtsamkeit sie nicht unverzüglich auf ein angemessenes Ziel ordnet. – Dagegen spricht: Die Nachlässigkeit selbst ist entweder eine Todsünde oder eine läßliche Sünde. Sogar einige läßliche Sünden geschehen aus Unachtsamkeit, wie besonders bei den ersten Bewegungen der Begierde klar ist. Also wird aus diesem Grund nicht entschuldigt, daß sie eine läßliche Sünde ist.
68 Gregor der Große, Moral. VI, 18 (CCSL 143, 304).
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13. Die Glosse des Augustinus über den 1. Korintherbrief 3, 12 sagt, daß der auf Holz, Heu und Stroh baut, der den Dingen, die erlaubt sind, mehr anhängt, als er sollte.69 Wer aber auf Holz, Heu und Stroh baut, der sündigt. Ansonsten würde er durch das Feuer nicht bestraft werden. Wer also an erlaubten Dingen mehr festhält als er sollte, der sündigt. Aber jeder, der handelt, hält sich entweder an erlaubten oder an nicht erlaubten Dingen fest. Wenn er sich an unerlaubten Dingen festhält, dann sündigt er. Wenn er sich an erlaubten Dingen mehr festhält, als er sollte, sündigt er desgleichen. Wenn er sich an erlaubten Dingen so festhält, wie er sollte, so handelt er gut. Also ist jede menschliche Handlung entweder gut oder schlecht und keine unbestimmt. Dagegen spricht: 1. Augustinus sagt im Buch Über die Bergpredigt des Herrn: »Es gibt einige mittlere Handlungen, die mit einer guten oder schlechten Absicht getan werden können und über die zu urteilen unbesonnen ist.«70 2. Aristoteles sagt, daß gut und schlecht Gegensätze sind, die ein Mittleres zulassen.71 Also gibt es ein Mittleres zwischen gut und schlecht, welches das Unbestimmte ist. Antwort: Wie oben ausgeführt wurde, kann die sittliche Handlung außer der Güte und der Schlechtigkeit, die sie von ihrer Art hat, eine andere Güte und Schlechtigkeit von den Umständen haben, die sich zur moralischen Handlung wie bestimmte Eigenschaften, die ihr nebensächlich hinzukommen, verhalten.72 Wie aber bei der Betrachtung der Gattung in ihrer eigenen Natur von den Unterschieden abstrahiert wird, ohne die es keine Art geben kann, so wird bei der Betrachtung der Art gemäß ihrer Natur von den Eigenschaften abstrahiert, die ihr nebensächlich hinzukommen, ohne die es das In69 70 71 72
Richtig: Petrus Lombardus, Glossa in I Cor. 3, 12 (PL 191, 1557 D). Augustinus, De serm. Dom. II, 18 (CCSL 35, 156). Aristoteles, Cat. 10; 12 a 16–17. Vgl. De malo q. 2 a. 4.
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dividuum jedoch nicht geben kann. Es hängt nämlich nicht von der Natur des Menschen ab, weiß oder schwarz oder anderes Dergleichen zu sein. Es ist jedoch unmöglich, ein einzelner Mensch zu sein, ohne weiß oder schwarz oder anderes Dergleichen zu sein. Wenn man also so von den sittlichen Handlungen spricht, wie sie in ihrer Art betrachtet werden, können sie gut oder schlecht auf Grund ihrer Gattung genannt werden. Aber die Güte oder die Schlechtigkeit, die durch die Umstände hervorgerufen wird, kommt ihnen nicht gemäß ihrer Gattung oder Art zu, sondern eine derartige Güte oder Schlechtigkeit kann individuellen Handlungen zugehören. Wenn wir also von einer sittlichen Handlung gemäß ihrer Art sprechen, so ist nicht jede sittliche Handlung gut oder schlecht, sondern manch eine ist unbestimmt. Denn wie oben ausgeführt worden ist, hat eine sittliche Handlung ihre Art von ihrem Gegenstand gemäß der Beziehung auf die Vernunft.73 Es gibt aber einen Gegenstand, der verursacht, daß etwas der Vernunft entspricht, und der macht, daß die Handlung ihrer Gattung nach gut ist, wie einen Nackten zu bekleiden. Es gibt auch einen Gegenstand, der verursacht, daß etwas von der Vernunft abweicht, wie etwas Fremdes wegzunehmen. Dieser macht die Handlung in ihrer Gattung schlecht. Es gibt aber auch eine Art von Gegenstand, die weder verursacht, daß etwas mit der Vernunft übereinstimmt, noch daß es von der Vernunft abweicht, wie zum Beispiel Stroh von der Erde aufheben oder etwas Dergleichen. Derartiges wird unbestimmt genannt. Diejenigen haben richtig über diesen Gegenstand gesprochen, die die Handlungen dreifach eingeteilt haben, indem sie behaupteten, daß einige gut seien, andere schlecht und andere unbestimmt. Aber wenn wir von der sittlichen Handlung sprechen, insofern sie ein Einzelfall ist, so muß notwendig jede einzelne sittliche Handlung durch einen Umstand gut oder schlecht sein. Keine einzelne Handlung kann nämlich ohne Umstände geschehen, die die Handlung richtig oder falsch machen. Wenn nämlich eine beliebige Handlung ausgeführt wird, wann man soll, wo man soll, wie man soll und so weiter bei den anderen Umständen, so ist solch eine Handlung wohlgeordnet und gut. Aber wenn einer von diesen Umständen fehlt, so ist die Handlung ohne 73 Vgl. De malo q. 2 a. 4.
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Ordnung und schlecht. Dies kann besonders bei den Umständen des Ziels festgestellt werden. Was nämlich wegen eines Notstands oder frommen Nutzen getan wird, ist löblich getan, und die Handlung ist gut. Was aber des Notstands und des frommen Nutzens ermangelt, wird als eitel betrachtet, wie Gregor der Große sagt.74 Ein eitles Wort und noch mehr eine eitle Handlung sind jedoch Sünde. Denn in Matthäus 12, 36 heißt es: »Für jedes eitle Wort, das die Menschen sprechen, werden sie Rechenschaft ablegen müssen.«75 So sind also eine ihrer Gattung nach gute Handlung und eine ihrer Gattung nach schlechte Handlung Gegensätze, die ein Mittleres zulassen, und es gibt eine Handlung, die der Art nach betrachtet unbestimmt ist. Aber das auf Grund der Umstände Gute und Schlechte ist ohne Mittleres. Denn sie sind gemäß des Gegensatzes der Bejahung und der Verneinung unterschieden, nämlich dadurch, daß die Handlung allen Umständen nach ist, wie sie sein sollte, oder nicht ist, wie sie sein sollte. Dieses Gute und Schlechte ist aber für die einzelne Handlung eigentümlich. Daher ist keine einzelne menschliche Handlung unbestimmt. Ich nenne die Handlung menschlich, die aus einem überlegten Willen hervorgeht. Wenn es nämlich eine Handlung ohne Überlegung ist, die nur aus der Vorstellung hervorgeht, wie etwa den Bart zu kratzen oder dergleichen, liegt eine solche Handlung außerhalb der Gattung sittlicher Handlungen. Daher hat sie weder Anteil an der sittlichen Güte noch an der Schlechtigkeit. Zu 1. Wenn auch das Seiende, insofern es seiend ist, gut ist, ist dennoch nicht jedes Nichtseiende schlecht. Denn für einen Stein ist es kein Übel, keine Augen zu haben. Daher ist es nicht notwendig, daß gut und schlecht kein Mittleres zulassen, wenn seiend und nichtseiend kein Mittleres zulassen. Zu 2. Seiend und gut sind einfach und in jeder Gattung austauschbar. Daher unterscheidet Aristoteles im ersten Buch der Nikomachischen Ethik das Gute gemäß den Gattungen des Seienden.76 74 Gregor der Große, Regulae pastoralis liber III, 14 (PL 77, 74 A) und In Evang. I hom. 6 (PL 76, 1098 D). 75 Mt. 12, 36. 76 Aristoteles, Eth. Nic. I, 6; 1096 a 23–27.
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Aber es ist wahr, daß das einfache Seiende nicht mit dem sittlich Guten ausgetauscht wird, wie es auch nicht mit dem natürlich Guten ausgetauscht wird. Aber das sittlich Gute ist in gewisser Weise ein größeres Gut als das natürliche Gute, insofern es nämlich eine Wirklichkeit und Vollkommeinheit des natürlich Guten ist, obgleich auch das natürliche Gute in einer gewissen Weise besser ist – wie der Wesenkern gegenüber dem nebensächlich Hinzukommenden. Es ist aber einleuchtend, daß auch das natürliche Gute und Schlechte einander nicht ohne Mittleres entgegengesetzt sind, da nicht jedes Nichtseiende schlecht ist, wie jedes Seiende gut ist. Daher folgt die Schlußfolgerung nicht. Zu 3. In sittlichen Dingen sind das Gute und das Schlechte einander als konträre Gegensätze und nicht als Mangel und Habitus entgegengesetzt. Denn das Schlechte setzt etwas voraus, insofern es eine gewisse Ordnung, ein gewisses Maß oder eine gewisse Art erreicht, wie oben ausgeführt worden ist.77 Daher verbietet nichts, daß diese vermittelbar entgegengesetzt sind, wie Aristoteles behauptet.78 Aber in natürlichen Dingen folgt das Schlechte schlechthin auf den Mangel. Obwohl sie nicht schlechthin ohne Mittleres sind, wie ausgeführt worden ist,79 sind das natürliche Gute und Schlechte daher dennoch ohne Mittleres in Bezug auf den für sie empfänglichen Träger, wie der Mangel und der Besitz einer Beschaffenheit. Zu 4. und 5. Das vierte und fünfte Argument gestehen wir zu. Denn sie betreffen nicht die in ihrer Art betrachtete Handlung, sondern die einzelne Handlung, wie sie aus dem Willen hervorgeht. Zu 6. Gemäß der Beziehung zur ersten Ursache ist nichts in der Natur zufällig, da alle Dinge von Gott vorhergesehen sind. Aber in Beziehung auf die nächsten Ursachen gibt es Zufälle. Denn nicht irgendeine Ursache zu haben, sondern eine wesentliche Ursache zu haben, schließt den Zufall aus. Zufällige Ereignisse sind nämlich solche, die aus zufälligen Ursachen hervorgehen. Aber unter den menschlichen Handlungen gibt es manche, die für ein vorgestelltes Ziel getan werden und nicht für ein wohl überlegtes Ziel, 77 Vgl. De malo q. 2 a. 4. 78 Aristoteles, Cat. 10; 12 a 16–17. 79 Vgl. De malo q. 2 a. 5 c.
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wie das Kratzen des Bartes oder dergleichen. Diese verhalten sich in der Gattung der sittlichen Handlungen gewissermaßen wie die zufälligen Handlungen in der Natur. Denn sie gehen nicht aus der Vernunft hervor, die die wesentliche Ursache der sittlichen Handlungen ist. Zu 7. Nicht jede Handlung, die aus einem von der Liebe geformten Willen hervorgeht, ist verdienstvoll, wenn der Wille als das Vermögen angenommen wird. Andererseits können läßliche Sünden verdienstvoll sein, die manchmal sogar von denen, die im Besitz der Liebe sind, begangen werden. Aber wahr ist, daß jede Handlung aus Liebe verdienstvoll ist. Dies ist aber schlechthin falsch, daß jede Handlung, die nicht aus einem von der Liebe geformten Willen hervorgeht, unverdienstlich ist. Ansonsten würden die, die in der Todsünde sind, in jeder ihrer Handlungen sündigen. Weder würde ihnen geraten worden sein, in der Zwischenzeit so viel Gutes wie möglich zu tun, noch würden von ihnen getane Werke, die ihrer Gattung nach gut sind, diese zur Gnade veranlagen. Das ist alles falsch. Jeder ist aber gehalten, seinen Willen insofern dem göttlichen Willen anzugleichen, so daß er alles will, von dem Gott will, daß er es will, insofern der Wille Gottes durch Verbote und Gebote bekannt wird, nicht aber in Bezug darauf, daß er aus Liebe will, außer nach denen, die behaupten, daß die Art der Liebe unter die Gebote fällt. Diese Meinung ist nämlich in gewisser Hinsicht wahr. Andernfalls könnte jemand ohne die Liebe ein Gebot erfüllen, worin die Gottlosigkeit der Pelagianer besteht. Dennoch ist die Meinung nicht ganz wahr, da auf diese Weise jemand, der nicht im Besitz der Liebe ist und seine Eltern ehrt, wegen der Unterlassung der Art und Weise eine Todsünde begehen würde. Das ist falsch. Daher ist die Weise unter der Notwendigkeit der Vorschrift enthalten, insofern die Vorschrift auf die Erlangung der Glückseligkeit geordnet ist, nicht aber insofern sie auf die Sühne der Strafe gerichtet ist. Daher erwirbt sich der, der die Eltern ohne den Besitz der Liebe ehrt, nicht das ewige Leben, aber dennoch tut er nichts Unverdienstliches. Daher ist klar, daß nicht jede menschliche Handlung, auch als Einzelfall betrachtet, verdienstvoll oder tadelnswert ist, obgleich jede gut oder schlecht ist. Dies sage ich wegen denen, die nicht im Besitz der Liebe sind und die sich keine Verdienste erwerben können. Aber bei denen, die
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die Nächstenliebe besitzen, ist jede Handlung verdienstvoll oder tadelnswert, wie in der Erwiderung bewiesen worden ist. Zu 8. Nicht im Besitz der Liebe zu sein, verdient keine Strafe. So erwerben wir nämlich keine Verdienste durch Habitus, sondern durch Handlungen. Somit verdienen wir auch durch die Abwesenheit eines Habitus selbst keinen Tadel. Jemand erwirbt sich aber dadurch Tadel, daß er der Liebe entweder durch Unterlassung oder durch Ausübung ein Hindernis setzt. Auch soll jener Mann im Evangelium nicht dafür bestraft worden sein, daß er nicht das Hochzeitsgewand anhatte, sondern weil er, ohne ein Hochzeitsgewand anzuhaben, zum heiligen Gastmahl eingetreten war. Es wurde ihm nämlich gesagt: »Auf welche Weise kamst Du hier herein, ohne ein Hochzeitsgewand zu tragen.«80 Zu 9. »Wahr« und »falsch« werden in Bezug auf »seiend« und »nichtseiend« entgegengesetzt: wahr ist nämlich, wenn von dem, was ist, das Sein ausgesagt wird, oder von dem, was nicht ist, das Nichtsein ausgesagt wird. Falsch ist aber, wenn von dem, was nicht ist, das Sein ausgesagt wird, oder von dem, was ist, das Nichtsein ausgesagt wird. Wie es daher zwischen Sein und Nichtsein kein Mittleres gibt, so auch nicht zwischen wahr und falsch. Aber bei gut und schlecht gilt eine andere Begründung, wie aus dem oben Ausgeführten klar ist.81 Zu 10. Jene, die nach dem Gegenteil vom Willen Gottes trachten, erfüllen diesen entgegen ihrer Absicht. So erfüllten auch die Juden, indem sie Christus töteten, den Willen Gottes zur Erlösung des Menschengeschlechts entgegen ihrer eigenen Absicht. Dies ist aber eines der Beispiele, die Gregor der Große anführt.82 Aber den Willen Gottes auf diese Weise zu erfüllen ist weder gut noch löblich. Zu 11–13. Die anderen drei Argumente geben wir zu. Sie gehen nämlich von der Ausführung der einzelnen Handlungen aus. Wir gestehen auch die Argumente zu, die auf der Gegenseite angeführt wurden. Sie gehen nämlich von der auf Grund ihrer Gattung guten und schlechten Handlung aus. 80 Mt. 22, 12. 81 Vgl. De malo q. 2 a. 5 c. 82 Gregor der Große, Moral. VI, 18 (CCSL 143, 307).
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6. Artik el Die sechste Frage lautet: Konstituiert ein Umstand die Art einer Sünde oder verändert er diese, indem er sie in eine andere Gattung der Sünde überträgt? 83 Das scheint nicht der Fall zu sein, denn: 1. Der Ursprung der Art ist ein innerlicher, die Umstände sind aber äußerlich, wie der Name selbst anzeigt. Also konstituiert ein Umstand nicht die Art einer Sünde. 2. Dagegen wurde eingewandt, daß das, was in der Betrachtung einer Handlung in ihrer natürlichen Art ein Umstand ist, die Art einer Handlung konstituiert, insofern sie sittlich ist. – Dagegen spricht: Wie sich im allgemeinen ein Gegenstand zu einer Handlung verhält, so verhält sich der sittliche Gegenstand zur sittlichen Handlung. Aber der Gegenstand konstituiert die Art der Handlung. Also konstituiert der sittliche Gegenstand die Art der sittlichen Handlung, nicht aber der Umstand. 3. Dieselbe sündige Handlung hat viele Umstände. Wenn also ein Umstand die Art einer Sünde konstituiert, folgt, daß dieselbe Sünde sich in verschiedenen Arten findet. Das ist unmöglich. 4. Das, was bereits unter eine Art fällt, erhält nur dann von einem anderen die Art, wenn die vorherige Art zerstört ist. Aber Diebstahl fällt schon unter eine Art der Sünde. Durch den hinzugefügten Umstand, der im Stehlen von einem heiligen Ort oder eines heiligen Gegenstandes besteht, wird die erste Art nicht entfernt, da es immer noch ein Diebstahl ist. Also konstituiert der vorher erwähnte Umstand keinerlei Art der Sünde und aus demselben Grund auch kein anderer. 5. Die Sünden scheinen entsprechend Maßlosigkeit und Mangel voneinander unterschieden zu werden. Auf diese Weise ist der Geiz der Verschwendung entgegengesetzt. Aber Maßlosigkeit und Mangel scheinen einem einzigen Umstand zuzugehören, nämlich der Größe. Also konstituieren die anderen Umstände keinen Unterschied in der Art der Sünden.
83 Paralleltexte: Sent. IV, d. 16 q. 3 a. 2 qc. 3. Sum. theol. I–II, q. 72 a. 9; q. 18 a. 10 und 11.
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6. Jede Sünde ist willentlich, wie Augustinus sagt.84 Aber der Wille erstreckt sich nicht auf die Umstände. Wenn jemand zum Beispiel ein geweihtes goldenes Weihrauchfaß stiehlt, interessiert er sich nicht dafür, daß es geweiht ist, sondern nur für das Gold. Also konstituiert dieser Umstand nicht die Art der Sünde – und aus dem gleichen Grund kein anderer Umstand. 7. Das, was nicht bleibt, sondern sofort vorübergeht, kann nicht von der Art, die es vorher hatte, verändert werden. Aber die Handlung der Sünde dauert nicht an, sondern geht sofort vorüber. Also kann ein Umstand die Art der Sünde nicht verändern. 8. Wie unter bestimmten Umständen in sittlichen Angelegenheiten ein Mangel auftreten kann, so auch in natürlichen Dingen: Mißgeburten kommen nämlich manchmal wegen des örtlichen Druckes, manchmal aber wegen des Übermaßes an Materie oder sogar wegen ihres Mangels und aus anderen ähnlichen Gründen in der Natur vor. Dennoch ist es immer der Art nach dasselbe, was geboren wird. Also wird auch in sittlichen Dingen die Art der Sünde durch die Verdorbenheit der verschiedenen Umstände nicht verändert. 9. In sittlichen Dingen konstituiert das Ziel die Art, da eine sittliche Handlung auf Grund der Absicht als gut oder schlecht beurteilt wird. Aber das Ziel ist kein Umstand. Also konstituiert ein Umstand nicht die Art einer Sünde. 10. Die Sünde ist der Tugend entgegengesetzt. Aber ein Umstand ändert nicht die Art der Tugend. Es gehört nämlich zur selben Tugend, einem Kleriker oder einem Laien Gutes zu tun, und zwar zur Freigebigkeit oder Barmherzigkeit. Also ändert ein Umstand nicht die Art der Sünde. 11. Wenn ein Umstand die Art der Sünde verändert, muß er die Sünde verschlimmern. Aber manchmal verschlimmert er sie nicht – und zwar jener Umstand, der die Art zu ändern scheint, zum Beispiel wenn er unbekannt ist. Wenn etwa jemand mit einer verheirateten Frau Verkehr hat, von der er nicht weiß, daß sie verheiratet ist, begeht er Ehebruch. Dennoch scheint das die Sünde nicht zu verschlimmern. Denn das besitzt nur ein Minimum von der Natur
84 Vgl. Augustinus, De vera religione 14 (CCSL 32, 204).
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der Sünde, was nur ein Minimum vom Willentlichen besitzt. Also verändert ein so beschaffener Umstand nicht die Art der Sünde. 12. Wenn der Umstand, daß ein Gegenstand heilig ist, die Art der Sünde konstituiert, obwohl es Diebstahl bleibt, folgt, daß in diesem Fall sowohl ein Sakrileg als auch ein Diebstahl vorliegt. Somit werden in einer Handlung zwei Sünden begangen. Das scheint widersprüchlich. 13. Nach Aristoteles’ Nikomachischer Ethik ist eine Handlung in sittlichen Angelegenheiten wie eine Schlußfolgerung in Angelegenheiten des Denkens.85 Aber ein Umstand verändert nicht die Art der Schlußfolgerung. Demnach verändert er auch nicht die Art der sittlichen Handlung. Also konstituiert er nicht die Art der Sünde. 14. Wie es bestimmte sittliche Handlungen gibt, so gibt es auch bestimmte Handlungen der Kunstfertigkeit. Aber ein Umstand verändert nicht die Art einer Handlung des Handwerkers, da es in Betreff der Art des handwerklichen Erzeugnisses keinen Unterschied macht, an welchem Ort, zu welcher Zeit oder aus welchem Grund auch immer ein Handwerker ein Messer herstellt. Also verändert ein Umstand auch nicht die Art der sittlichen Handlung. 15. Gewöhnlich wird das der Gattung nach Schlechte von dem den Umständen nach Schlechten unterschieden. Aber das der Gattung nach Schlechte gehört zur eigentlichen Art der Sünde. Also gehört das den Umständen nach Schlechte nicht zur Art der Sünde. Also konstituiert der Umstand nicht die Art der Sünde. 16. Insofern ein Umstand verschlimmert, verursacht er ein größeres Übel. Aber das Mehr und Weniger verändern nicht die Art. Also verändert ein verschlimmernder Umstand nicht die Art der Sünde. Dagegen spricht: 1. Der Ort ist ein bestimmter Umstand. Aber der Ort konstituiert die Art einer Sünde. Denn es wird als Sakrileg bezeichnet, wenn jemand von einem heiligen Ort stiehlt. Also konstituiert ein Umstand die Art einer Sünde. 2. Wenn jemand Verkehr mit einer verheirateten Frau hat, begeht 85 Aristoteles, Eth. Nic. VII, 8; 1151 a 16–17.
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er Ehebruch. Das ist eine gewisse Art von Sünde. Aber daß eine Frau ledig oder verheiratet ist, ist ein bestimmter Umstand der Handlung. Also konstituiert der Umstand die Art einer Sünde. Antwort: Zur Auflösung dieser Frage sind drei Dinge zu betrachten: erstens woher die Sünde ihre Art hat; zweitens was ein Umstand ist; und somit wird drittens gezeigt werden können, auf welche Weise ein Umstand die Art einer Sünde konstituiert. Soviel also zum ersten, wobei Folgendes überlegt werden muß: da eine sittliche Handlung eine Handlung ist, die willentlich aus der Vernunft hervorgeht, muß die sittliche Handlung ihre Art gemäß etwas im Gegenstand Betrachteten haben, das eine Beziehung zur Vernunft besitzt. So wurde in einer vorangehenden Frage gesagt, daß die Handlung ihrer Art entsprechend gut sein wird, wenn sie in Übereinstimmung mit der Vernunft ist. Wenn sie aber nicht in Übereinstimmung mit der Vernunft ist, wird sie ihrer Art entsprechend schlecht sein.86 Das aber, was im betrachteten Gegenstand nicht in Übereinstimmung mit der Vernunft ist, kann die Art der Sünde auf zwei Weisen unterscheiden: einerseits nämlich im Hinblick auf die Materie, andererseits im Hinblick auf die Form. Im Hinblick auf die Materie nämlich durch den Gegensatz zur Tugend: denn die Tugenden unterscheiden sich der Art nach, insofern die Vernunft ein Mittleres in verschiedenen Materien herstellt. Gerechtigkeit besteht zum Beispiel darin, daß die Vernunft ein Mittleres bei Austäuschen, Verteilungen und dergleichen Handlungen herstellt. Selbstbeherrschung besteht hingegen in der Herstellung des Mittleren in den Begierden, Tapferkeit in der Herstellung des Mittleren in Dingen der Furcht und der Tollkühnheit und so auch bei anderen Dingen. Es sollte auch niemandem widersprüchlich scheinen, wenn die Arten der Tugenden gemäß den verschiedenen Materien unterschieden werden, obwohl die Verschiedenheit der Materie gewöhnlich nicht die Ursache der Verschiedenheit der Art, sondern der Individuen ist. Denn auch bei den natürlichen Dingen ruft die Verschiedenheit der Materie eine Verschiedenheit in der Art hervor, wenn die Verschie86 Vgl. De malo q. 2 a. 4.
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denheit der Materie eine Verschiedenheit der Form erfordert. Daher ist es auch in sittlichen Dingen notwendig, daß Tugenden, die der Art nach verschieden sind, sich auf verschiedene Materien beziehen, in denen die Vernunft auf unterschiedliche Weise ein Mittleres herstellt. So gelangt sie zum Beispiel in den begehrlichen Dingen durch Mäßigung zu einem Mittleren. Daher ist die Tugend in diesen Bestimmungen dem Mangel auch näher als dem Überfluß, wie schon der Name »Mäßigung« anzeigt. Aber in Dingen der Kühnheit und der Furcht erreicht die Vernunft nicht durch ein Zurückweichen, sondern eher durch den Angriff das Mittlere. Daher steht die Tugend in diesen Verordnungen der Übertreibung näher als dem Mangel. Das zeigt schon der Name »Tapferkeit«87. Ähnlich sieht man dies bei den übrigen Dingen. So unterscheiden sich also die Sünden auch durch ihren Gegensatz zu den Tugenden entsprechend ihrer unterschiedlichen Materie der Art nach, zum Beispiel Mord, Ehebruch und Diebstahl. Man darf auch nicht sagen, daß sie sich entsprechend dem Unterschied der Vorschriften der Art nach unterschieden, sondern die Vorschriften werden eher umgekehrt entsprechend des Unterschiedes der Tugenden und Laster unterschieden. Denn der Zweck von Vorschriften besteht darin, daß wir gemäß der Tugend handeln und Sünden vermeiden. Wenn es aber einige Handlungen geben sollte, die nur Sünden sind, da sie verboten sind, wäre es bei diesen begründet, daß die Sünden sich entsprechend dem Unterschied der Vorschriften der Art nach unterscheiden. Aber da es in Bezug auf je eine Materie genau eine Tugend gibt, es jedoch der Art nach verschiedene Sünden geben kann, muß zweitens der Unterschied der Arten in den Sünden im Hinblick auf die Form betrachtet werden – je nachdem nämlich entweder gemäß des Übermaßes oder gemäß des Mangels gesündigt wird, wie sich zum Beispiel die Furcht von der vermessenen Hoffnung und der Geiz von der Verschwendung unterscheidet, oder gemäß unterschiedlicher Umstände, wie zum Beispiel die Arten von Völlerei gemäß den Umständen unterschieden werden, die in diesem Vers enthalten sind: »Eilig, lukullisch, zu viel, gierig, geziert.« 87 Lat.: fortitudo.
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Nachdem somit also gezeigt worden ist, auf welche Weise sich die Sünden der Art nach unterscheiden, ist zu betrachten, was ein Umstand ist. »Umstand« wird aber das genannt, was eine Handlung umgibt, als wäre es außerhalb und nicht innerhalb des Wesenskernes der betrachteten Handlung. Dies tut er aber eben auf eine Weise auf seiten der Ursache: entweder der Zweckursache, wenn wir betrachten, warum eine Person die Tat begangen hat; oder des Haupthandelnden, wenn wir erwägen, wer die Tat begangen hat; oder in Bezug auf die instrumentelle Ursache, wenn wir betrachten, mit welchem Werkzeug oder mit welchen Hilfsmitteln die Person die Tat begangen hat. Auf andere Weise umgibt ein Umstand die Handlung in bezug auf das Maß, zum Beispiel wenn wir betrachten, wo oder wann eine Person gehandelt hat. Auf eine dritte Weise umgibt er sie in Bezug auf die Handlung selbst: ob wir nun die Art des Handelns betrachten, zum Beispiel ob die Person schwach oder stark zugeschlagen hat, mehrfach oder einmal, oder wir den Gegenstand oder die Materie der Handlung betrachten, zum Beispiel ob er den Vater oder einen Fremden geschlagen hat, oder auch die Wirkung, die er durch das Handeln hervorgerufen hat, zum Beispiel ob er durch das Schlagen verletzt oder auch getötet hat. Diese Umstände sind alle in diesem Vers enthalten: »Wer, was, wo, durch welche Hilfsmittel, warum, wie, wann.«88 Auf diese Weise ist jedoch in »was« nicht nur die Wirkung, sondern auch der Gegenstand eingeschlossen, so daß sowohl das »Was« als auch das »Wegen was« aufgefaßt werden. Nachdem daher diese Gesichtspunkte untersucht wurden, ist folgendes zu betrachten: Wie bei anderen Dingen manches bezüglich eines höheren Dinges äußerlich , das bezüglich eines niedrigeren innerlich ist – zum Beispiel gehört »vernünftig« nicht zur Natur des Lebewesens, aber es gehört dennoch zur Natur des Menschen –, so ist manches in Bezug auf eine allgemeiner betrachtete Handlung ein Umstand, was in Beziehung auf eine eher im Besonderen betrachtete Handlung kein Umstand genannt werden kann. Wenn wir zum Beispiel die Handlung, Geld zu nehmen, betrachten, gehört es nicht zu ihrer Natur, daß es einem anderen gehört. Daher verhält sich das »einem anderen gehören« zur so betrachteten Handlung als 88 Cicero, De inventione I, 24–27.
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ein Umstand. Aber es gehört zur Natur des Diebstahls, daß es einem anderen gehört, daher ist es kein Umstand des Diebstahls. Dennoch ist es nicht notwendig, daß alles, was außer der Natur des Höheren ist, zur Natur des Unteren gehört. Denn so wie »weiß« nicht zur Natur des Lebewesens gehört, so gehört es nicht zur Natur des Menschen. Daher verhält es sich zu beiden als nebensächlich Hinzukommendes. Ähnlich ist es nicht notwendig, daß alles, was ein Umstand einer allgemeineren Handlung ist, in Handlungen irgendeine Art konstituieren würde, sondern nur jener Umstand, der der Handlung wesentlich zugehört. Es ist aber schon ausgeführt worden, daß etwas einer sittlichen Handlung wesentlich zukommt, insofern es sich als entsprechend und widersprechend zur Vernunft verhält.89 Wenn daher ein hinzugefügter Umstand keinen besonderen Widerspruch mit der Vernunft impliziert, konstituiert er keine Art der Handlung. Ein weißes Ding zu benutzen, fügt zum Beispiel nichts die Vernunft Betreffendes hinzu, da »weiß« keine Art von sittlicher Handlung konstituiert. Aber eine Sache zu gebrauchen, die einem anderen gehört, fügt etwas die Vernunft Betreffendes hinzu. Denn es konstituiert eine Art von sittlicher Handlung. Aber es muß darüber hinaus erwogen werden, daß ein hinzukommender Umstand, der die Vernunft betrifft, auf zweifache Weise eine neue Art konstituieren kann. Auf eine Weise so, insofern die durch den Umstand konstituierte Art eine bestimmte Art jener Sünde ist, die vorher in der allgemeineren Handlung betrachtet wurde – egal ob die Art der Sünde der Form nach oder der Materie nach konstituiert wird: der Materie nach nämlich so, wie wenn zu dem, was ich »eine Sache benutzen, die einem anderen gehört« nenne, »Ehefrau« hinzufüge. Dadurch wird der Ehebruch konstituiert. Der Form nach aber, wenn ich zum Beispiel eine einem anderen gehörende Sache von einem heiligen Ort wegnehme. Daraus wird dann nämlich ein Sakrileg, das eine Art des Diebstahls ist. Manchmal wird hingegen durch einen Umstand eine bestimmte andere, gänzlich verschiedene Art konstituiert, die nicht unter die vorherige Gattung der Sünde fällt. Wenn ich etwa eine Sache, die einem anderen gehört, stehle, damit ich einen Mord oder Simonie begehen kann, wird die Sünde 89 Vgl. De malo q. 2 a. 5.
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zu einer gänzlich verschiedenen Art der Sünde zugeordnet. Ähnliches finden wir auch bei anderen Dingen. Wenn nämlich über »farbig« hinaus »weiß« betrachtet wird, wird es zu einer Art von der Beschaffenheit, die vorher betrachtet wurde. Wenn aber über »farbig« hinaus »süß« ins Auge gefaßt wird, wird es eine andere Art von gänzlich verschiedener Beschaffenheit. Der Grund dieser Verschiedenheit besteht darin, daß das, was hinzugefügt wird, wenn es von sich selbst her trennend ist für das, dem es hinzugefügt wird, dessen Art konstituiert. Wenn sich das Hinzugefügte aber nebensächlich zu diesem verhält, hat es seine eigene Art, die jedoch nicht eine Art von dem ist, dem es hinzugefügt wird. Denn das, was nebensächlich hinzukommt, wird nicht wesentlich eines mit dem, zu dem es hinzukommt. Somit ist also klar, auf welche Weise ein Umstand eine Art der Sünde konstituieren kann. Zu 1. Das, was als ein Umstand und äußerlich bezüglich einer Handlung betrachtet wird, die auf eine Weise ins Auge gefaßt wird, kann bezüglich der auf eine andere Weise betrachteten Handlung auch als innerlich betrachtet werden und kann ihre Art konstituieren. Zu 2. Wie eine im allgemeinen betrachtete Handlung ihre Art durch ihren Gegenstand erhält, so wird die Art der sittlichen Handlung durch den sittlichen Gegenstand konstituiert. Gleichwohl ist es deswegen nicht ausgeschlossen, daß ihre Art durch die Umstände konstituiert wird. Denn durch einen Umstand kann im Gegenstand eine neue Bestimmung ins Auge gefaßt werden, durch die der Umstand die Art der Handlung konstituiert. Wenn ich zum Beispiel sage: »die Sache eines anderen nehmen, die an einem heiligen Ort ist«, wird hier die Beschaffenheit des Gegenstands unter dem Umstand des Ortes betrachtet. Somit handelt es sich um eine Art von Diebstahl, der durch den Umstand des Ortes ein Sakrileg ist und nicht auf Grund der Beschaffenheit des Gegenstandes. Ähnlich muß dies der Fall sein, wann immer die Art der Sünde, die durch einen Umstand konstituiert wird, sich zu einer vorher aufgefaßten Sünde wie die Art zur Gattung verhält – wie das Sakrileg zum Diebstahl oder der Ehebruch zur Unzucht. Wenn aber die Art der Sünde, die aus einem Umstand hervorgeht, nicht eine Art der vorher aufge-
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faßten Sünde, sondern eine bestimmte andere verschiedene Art ist, dann kann folgendes angenommen werden: der Umstand konstituiert die Art nicht, insofern aus diesem eine Bestimmung des Gegenstandes resultiert, sondern insofern jener Umstand als Gegenstand einer anderen damit in Tateinheit stehenden Handlung betrachtet wird. Wenn jemand zum Beispiel Ehebruch begeht, um zu stehlen, wird eine andere Art von Sünde hinzugefügt – und zwar wegen der Handlung der Absicht, die auf einen schlechten Zweck zielt, der Gegenstand der Absicht ist. Auf ähnliche Weise kann die heilige Zeit, die bezüglich einer unanständigen Handlung, die in ihr geschieht, als ein Umstand betrachtet wird, wenn jemand während ihrer Dauer etwas Unanständiges machen sollte, in Bezug auf eine andere damit in Tateinheit stehende Handlung als Gegenstand betrachtet werden. Dieser besteht in der Verachtung der heiligen Zeit. Ähnliches kann in anderen Fällen gesagt werden. Zu 3. Wenn ein Umstand eine Art konstituiert, die sich zur vorher augefaßten Sünde wie die Art zur untergeordneten Gattung verhält, folgt nicht, daß dasselbe in verschiedenen Arten ist. Denn unter »Mensch« und unter »Lebewesen« zu fallen, bedeutet nicht, unter verschiedene Arten zu fallen, da Mensch im höchsten Wirklichkeitsgrad das ist, was ein Lebewesen ist. Ähnlich verhält es sich bei Sakrileg und Diebstahl. Aber wenn ein Umstand eine andere verschiedene Art von Sünde konstituieren sollte, folgt, daß dieselbe Handlung unter verschiedene Arten der Sünde fällt. Das ist auch nicht widersprüchlich. Denn die Art der Sünde ist nicht die Art der Handlung gemäß ihrer Natur , wie oben ausgeführt wurde, sondern wegen ihres Sittlichseins. Das verhält sich zur Natur der Handlung wie die Beschaffenheit zur Substanz oder eher wie eine Entstellung einer Beschaffenheit zu einem Träger.90 Wie es also nicht widersprüchlich ist, daß derselbe bestimmte Körper weiß und süß ist, die beide verschiedene Arten von Beschaffenheit sind, und daß derselbe Mensch blind und taub ist, die ihrer Art nach verschiedene Mißgestaltungen sind, so ist es nicht widersprüchlich, daß dieselbe Handlung unter verschiedene Arten der Sünde fällt.
90 Vgl. De malo q. 2 a. 5.
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Zu 4. Die Antwort auf das vierte Argument ist klar aus der vorangehenden Antwort. Zu 5. Nicht jeder Unterschied von Sünden wird durch Maßlosigkeit und Mangel konstituiert, sondern durch die unterschiedliche Materie und durch den Mangel oder die Maßlosigkeit in verschiedenen Umständen. Doch auch Maßlosigkeit und Mangel werden nicht nur gemäß der Größe aufgefaßt, sondern gemäß allen beliebigen Umständen. Denn wenn jemand tätig ist, wo er nicht soll oder wann er nicht soll und ähnlich bei allen anderen Umständen, entsteht Maßlosigkeit. Mangel entsteht hingegen, wenn irgendeiner der Umstände fehlt. Zu 6. Obwohl der Wille des Diebes nicht ursprünglich nach der heiligen Sache, sondern nach dem Gold trachtet, trachtet er dennoch in der Folge nach der heiligen Sache. Er will nämlich eher die heilige Sache nehmen als auf das Gold zu verzichten. Zu 7. Wenn gesagt wird, daß ein Umstand die Art einer Sünde verändert oder sie in eine andere Gattung überführt, wird darunter nicht verstanden, daß eine Handlung, die vorher in einer Art ist, wiederum erneuert wird und in einer anderen Art entsteht. Vielmehr wird darunter verstanden, daß die Handlung, die ohne einen Umstand nicht als unter eine derartige Art der Sünde fallend betrachtet wird, unter jene Art von Sünde fällt, wenn der Umstand hinzukommt. Zu 8. Der Mangel an einem Umstand in der Natur verändert nicht die den Wesensbestand ausmachende Art einer Natur, sondern verändert die Art des Mangels. Durch den örtlichen Druck wird nämlich eine andere Art von Mißgeburt verursacht als von der Größe der Materie. Wie ausgeführt worden ist, verhält es sich in dieser Frage ähnlich.91 Zu 9. Die Art einer sittlichen Handlung wird nicht vom entfernten Ziel, sondern vom nächsten Ziel konstituiert, das der Gegenstand ist. Es wurde auch gesagt, daß ein Umstand die Art konstituiert, insofern er Gegenstand einer Handlung ist oder insofern aus ihm irgendeine Bestimmung für einen Gegenstand resultiert.92 91 Vgl. De malo q. 2 a. 6 c. 92 Vgl. De malo q. 2 a. 6 c.
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Zu 10. Auch bei den Tugenden überführt ein Umstand in eine andere Art, wenn auch nicht alle Umstände dies tun. Denn es ist eine Handlung der Hochherzigkeit, große Kosten zu tätigen, aber es ist eine religiöse Handlung, große Kosten zur Errichtung eines Gotteshauses aufzubringen. Zu 11. Für jeden Umstand, der eine Art von Sünde konstituiert, ist es notwendig, daß er die Sünde schlimmer macht. Denn wenn sie ohne diesen Umstand keine Sünde war, macht er aus etwas, das keine Sünde war, eine Sünde. Wenn sie aber eine Sünde war, verursacht der Umstand weitere Entstellungen der Sünde. Wenn aber solch ein Umstand völlig unbekannt ist, auf Grund einer so beschaffenen Unwissenheit, die nicht schuldhaft ist, wird er im Hinblick auf die Form gesprochen keine Art der Sünde konstituieren, sondern nur im Hinblick auf die Materie. Wenn jemand zum Beispiel mit einer verheirateten Frau, die er nicht für verheiratet hält, sexuell verkehrt, begeht er freilich Ehebruch, jedoch nicht wie ein Ehebrecher. Denn die Form der sittlichen Handlung stammt aus der Überlegung und dem Willen. Was aber nicht gewußt wird, ist nicht willentlich. Wenn er daher mit dem Eheweib eines anderen, das er für sein eigenes gehalten hat, sexuell verkehren würde, wäre er ohne Sünde. Das war etwa der Fall, als Lea anstelle von Rachel zu Jakob hereingeführt wurde.93 Zu 12. Wenn ein Umstand eine Art konstituiert, die sich zur vorher aufgefaßten Sünde als eine Art von ihr verhält, wie Ehebruch zu Unzucht, liegen nicht zwei Sünden vor, sondern eine – genau wie Sokrates nicht zwei Substanzen ist, weil er Mensch und Lebewesen ist. Wenn der Umstand aber eine verschiedene Art von Sünde konstituiert, wird dort allerdings eine Sünde wegen einer Substanz der Handlung, die eine ist, vorliegen. Aber wegen der verschiedenen Entstellungen der Sünde werden viele Sünden vorliegen. Genauso ist auch ein Apfel einer von dieser Art wegen der Einheit des Trägers, aber vieles wegen der Verschiedenheit der Farbe und des Geschmacks. Zu 13. Die Ähnlichkeit zwischen einer Schlußfolgerung und einer sittlichen Handlung wird in der folgenden Hinsicht aufgefaßt: genau wie die syllogistische Handlung durch eine Schlußfolgerung 93 Vgl. Gen. 29, 23 ff.
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beendet wird, so wird der Prozeß der Überlegung in sittlichen Dingen durch eine Handlung beendet. Es besteht aber nicht in jeder Hinsicht Ähnlichkeit. Denn sittliche Taten haben es mit Einzelfällen zu tun, in denen verschiedene Umstände erwogen werden, die Schlußfolgerungen in Dingen des Nachdenkens bestehen aber durch das Absehen von Einzelfällen. Trotzdem werden sogar Schlußfolgerungen in bezug auf manche Umstände verändert, die der Natur des Syllogismus zugehören. Schlußfolgerungen in einer notwendigen Materie verhalten sich nämlich anders als in einer zufälligen Materie, und in unterschiedlichen Wissenschaften gibt es verschiedene Arten des Schlußfolgerns. Zu 14. Auch Handlungen der Kunstfertigkeit werden gemäß verschiedener Umstände verändert, die zur Natur der Kunstfertigkeit zugehören: denn ein Haus aus Stein baut der Handwerker auf andere Weise als eines aus Lehm, auch baut er es in dieser Region anders als in einer anderen. Aber es gilt zu erwägen, daß manche Umstände der Natur der sittlichen Handlung zugehören, die der Natur der Kunstfertigkeit nicht zukommen und umgekehrt. Zu 15. Wenn das dem Umstande nach Schlechte unterschieden wird von dem der Gattung nach Schlechten, wird dem Umstand nach schlecht genannt, was zwar verschlimmert, aber nicht in eine andere Gattung der Sünde überführt. Zu 16. Das Mehr oder das Weniger folgen manchmal auf verschiedene Formen, und dann bringen sie einen Unterschied der Art hervor, zum Beispiel wenn wir sagen, daß rot farbiger ist als gelb. Manchmal aber folgen sie auf die unterschiedliche Teilhabe an einer und derselben Form. Dann bringen sie keinen Unterschied der Art hervor; zum Beispiel wenn etwas weißer als das andere genannt wird. 7. Artik el Die siebte Frage lautet: Verschlimmert ein Umstand eine Sünde, ohne die Art der Sünde zu konstituieren? 94 Das scheint nicht der Fall zu sein, denn: 94 Paralleltexte: Sent. IV, d. 16 q. 3 a. 2 qc. 1. Sum. theol. I–II q. 73 a. 7.
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1. Die Schlechtigkeit der Sünde kommt von der Seite ihrer Abwendung [von Gott]. Aber der Umstand gehört der Seite der Hinwendung an. Also verschlimmert ein Umstand die Schlechtigkeit der Sünde nicht. 2. Wenn ein Umstand in sich irgendeine Schlechtigkeit enthält, konstituiert er eine Art der Sünde. Wenn er aber in sich keinerlei Schlechtigkeit enthält, besteht kein Grund, warum die Sünde durch ihn verschlimmert werden sollte. Es kann also keinen verschlimmernden Umstand geben, der nicht die Art der Sünde konstituieren würde. 3. Dionysius sagt, daß das Gute aus einer einheitlichen und vollständigen Ursache hervorgeht, das Übel aber aus einzelnen Mängeln.95 Aber ein einzelner Mangel wird gemäß irgendeines Umstandes betrachtet. Also gibt es gemäß jedwedes verschlimmernden Umstandes eine Art des Übels und der Sünde. 4. Jeder verschlimmernde Umstand bringt einen Unterschied in der Schlechtigkeit hervor, der sozusagen die Substanz der Sünde ist, insofern sie Sünde ist. Aber das, was einen Unterschied in der Substanz verursacht, verändert die Art. Also verändert jeder verschlimmernde Umstand die Art der Sünde. 5. Durch dieselben Dinge wachsen wir und sind wir. Wir wachsen nämlich durch die Dinge, durch die wir ernährt werden, ernährt werden wir aber durch die Dinge, durch die wir sind, wie es im 2. Buch von Über Entstehen und Vergehen heißt.96 Wenn also die Schlechtigkeit einer Sünde durch einen verschlimmernden Umstand wächst, scheint es, daß durch denselben Umstand irgendeine Art der Sünde konstituiert würde. 6. Tugend und Laster sind einander entgegengesetzt. Jede Tugend aber wird ihrer Art nach durch die Umstände konstituiert. Denn die Tapferkeit besteht darin, gefährliche Dinge zu unternehmen, wie man es soll, wo man es soll, wann man es soll und genauso bei den anderen Umständen. Also empfängt auch die Sünde ihre Art von welchem Umstand auch immer. 7. Die Sünde hat ihre Art vom Gegenstand. Aber der Gegenstand 95 Dionysius Areopagita, De div. nom. cap. IV, 30 (Dion., 298). 96 Aristoteles, De gen. et corr. II, 8; 335 a 10–11.
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wird entsprechend irgendeines zumindest verschlimmernden Umstandes zum Guten oder Schlechten verändert. Also konstituiert jeder verschlimmernde Umstand die Art der Sünde. 8. Von ähnlichen Dingen wird auf dieselbe Weise geurteilt. Aber manche Umstände konstituieren immer die Art einer Sünde, zum Beispiel der Gegenstand, der »Was« genannt wird, und das Ziel, das durch das »Warum« im vorher zitierten Vers bezeichnet wird.97 Aus dem gleichen Grund also konstituieren alle anderen Umstände für eine Sünde die Art, wenn sie sie schlimmer machen. Dagegen spricht: Viel zu stehlen, ist schlimmer als wenig zu stehlen. Dennoch ist es nicht eine andere Art von Sünde. Also verändert nicht jeder verschlimmernde Umstand die Art der Sünde. Antwort: Ein Umstand verhält sich auf dreifache Weise zu einer sündigen Handlung. Manchmal nämlich verändert er weder die Art noch verschlimmert er die Sünde, etwa einen Menschen in weißer oder roter Kleidung zu schlagen. Manchmal aber konstituiert er eine Art von Sünde, egal ob die Handlung, der der Umstand zukommt, ihrer eigenen Gattung nach unbestimmt ist – etwa wenn jemand in Verachtung eines anderen einen Grashalm von der Erde aufhebt – oder ob sie ihrer Gattung nach gut ist – zum Beispiel wenn jemand wegen menschlichen Lobes ein Almosen gibt – oder ob sie ihrer Gattung nach schlecht ist und ihr durch den Umstand eine andere Art der Schlechtigkeit hinzugefügt wird, wie wenn jemand etwa einen heiligen Gegenstand stiehlt. Manchmal jedoch verschlimmert er zwar eine Sünde, konstituiert aber nicht die Art der Sünde, zum Beispiel wenn jemand viel stiehlt. Der Grund für diese Verschiedenheit besteht darin, daß ein Umstand weder die Art der Sünde konstituiert noch sie verschlimmert, wenn ein solcher zur Handlung hinzukommender Umstand sich gleichgültig zur Vernunft verhält. Denn es betrifft die Vernunft nicht, ob jener, der geschlagen wird, diese oder jene Kleidung trägt. 97 Vgl. De malo q. 2 a. 6 c.
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Wenn ein Umstand aber einen Unterschied in Bezug auf die Vernunft besitzt, verursacht er entweder etwas primär und wesentlich der Vernunft Widersprechendes. Dann konstituiert er die Art der Sünde, etwa wenn man das Eigentum eines anderen nimmt. Oder er verursacht nicht etwas primär und wesentlich der Vernunft Widersprechendes, aber in Bezug auf das, was primär und wesentlich der Vernunft widerspricht, steht er in gewissem Widerspruch zur Vernunft. So besagt es nichts der Vernunft Widersprechendes, etwas in großer Menge zu nehmen, aber fremdes Eigentum in großer Menge zu nehmen, bedeutet einen größeren Widerspruch zur Vernunft. Daher verschlimmert dieser Umstand die Sünde, insofern er eine Bestimmung jenes Umstandes ist, der der Sünde ihre Art verleiht. Ein viertes Glied kann es bei dieser Einteilung aber nicht geben, daß nämlich ein Umstand die Art einer Sünde konstituiert und ihn nicht verschlimmert, wie oben ausgeführt worden ist.98 Zu 1. Die ungeordnete Hinwendung zu einem veränderlichen Gut ist eine Ursache für die Abwendung. Daher können die Umstände, die der Seite der Hinwendung angehören, der Schlechtigkeit etwas hinzufügen, die auf seiten der Abwendung besteht. Zu 2. Ein verschlimmernder Umstand, der nicht die Art der Sünde konstituiert, beinhaltet in sich selbst keine Schlechtigkeit, sondern ist eine Bestimmung eines anderen Umstandes, der Schlechtigkeit beinhaltet. Zu 3. Ein Mangel in irgendeinem Umstand kann Ursache einer Art der Sünde sein. Aber immer findet sich in jedem Umstand an sich selbst ein Mangel, sondern manchmal durch die Beziehung auf einen anderen. Zu 4. Ein verschlimmernder Umstand verändert nicht immer die Art der Schlechtigkeit, sondern manchmal nur die Größe. Zu 5. Wie die Dinge, durch die wir ernährt werden und wachsen, nicht immer eine neue Substanz konstituieren, sondern manchmal eine vorher bestehende Substanz erhalten oder vergrößern, so müssen Umstände nicht immer eine neue Art der Sünde konstituieren, sondern manchmal vergrößern sie die vorher bestehende. 98 Vgl. De malo q. 2 a. 6 ad 11.
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Zu 6. Wie die Tugend manchmal ihre Art von den angemessenen Umständen hat, so auch die Sünde vom Mangel mancher angemessener Umstände. Aber dennoch verursacht nicht jeder Umstand den Mangel der Sünde. Denn manche Umstände sind gleichgültig, manche aber Bestimmungen von anderen Umständen. Zu 7. Ein verschlimmernder Umstand verursacht zwar eine bestimmte Veränderung der Schlechtigkeit bezüglich des Gegenstandes, jedoch nicht immer eine Veränderung der Art, sondern manchmal nur der Größe. Zu 8. Viele Bestimmungen sind in einem Gegenstand zu finden. Nichts hindert, daß das, was gemäß einer Bestimmung als ein Gegenstand betrachtet wird, gemäß einer anderen Bestimmung als ein Umstand betrachtet wird, der manchmal die Art der Sünde konstituiert und manchmal nicht. Das Eigentum eines anderen ist zum Beispiel der eigentümliche Gegenstand des Diebstahls, der seine Art konstituiert. Das Eigentum eines anderen kann auch von großem Ausmaß sein, und dieser Umstand konstituiert keine Art, sondern er verschlimmert nur. Das Eigentum des anderen kann aber auch heilig sein, und dieser Umstand konstituiert eine neue Art der Sünde. Das Eigentum des anderen kann auch weiß oder schwarz sein, und soweit es den Gegenstand betrifft, wird dieser Umstand gleichgültig sein, weder verschlimmernd noch eine Art konstituierend. Ähnliches gilt es vom Ziel zu sagen, insofern das nächste Ziel identisch mit dem Gegenstand ist, und auf ähnliche Weise muß man von ihm und von seinem Gegenstand sprechen. Das ferne Ziel aber wird als ein Umstand angenommen.
8. Artik el Die achte Frage lautet: Verschlimmert ein Umstand eine Sünde unendlich, und zwar so, daß er aus einer läßlichen Sünde eine Todsünde macht? 99 Das scheint der Fall zu sein, denn:
99 Paralleltexte: Vgl. De malo q. 7 a. 4. Sent. IV, d. 16 q. 3 a. 2 qc. 4. Sum. theol. I–II, q. 88 a. 5.
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1. Adam konnte im Zustand der Unschuld nicht läßlich sündigen. Daher war für ihn jede Sünde eine Todsünde. Aber später ist für ihn nicht mehr jede Sünde eine Todsünde gewesen. Dieser Unterschied besteht nur durch den Umstand der Person. Also verschlimmert ein Umstand die Sünde unendlich. 2. Es ist schlimmer, aus dem eine Sünde zu machen, was keine Sünde ist, als aus einer läßlichen Sünde eine Todsünde zu machen. Aber ein Umstand macht aus dem eine Sünde, was keine Sünde ist. Denn es ist an sich selbst keine Sünde, Handel zu treiben, für einen Geistlichen ist es jedoch wegen des Umstandes der Person trotzdem eine Sünde. Also macht ein Umstand aus einer läßlichen Sünde viel mehr noch eine Todsünde. 3. Einmal betrunken zu werden, ist eine läßliche Sünde. Es heißt aber, oft betrunken zu werden, sei eine Todsünde. Also macht der Umstand »wie oft« aus einer läßlichen Sünde eine Todsünde. 4. Eine Sünde, die aus einer böswilligen Absicht heraus geschieht, wird unverzeihlich und nicht läßlich genannt. Also verschlimmert ein Umstand ins Unendliche. 5. Hieronymus sagt, daß Scherze im Mund eines Laien Scherze sind, aber im Munde eines Priesters Blasphemie.100 Blasphemie ist aber ihrer Gattung nach eine Todsünde. Also macht der Umstand der Person aus einer läßlichen Sünde eine Todsünde. Dagegen spricht: Ein Umstand bezieht sich auf die Sünde wie eine Eigenschaft auf den Träger. Aber in einem begrenzten Träger kann keine unbegrenzte Eigenschaft sein. Also kann der Umstand einer Sünde nicht unendliches Gewicht, das heißt das Gewicht der Todsünde, verleihen. Antwort: Wie ausgeführt worden ist, konstituiert ein verschlimmernder Umstand manchmal eine neue Art der Sünde, manchmal aber nicht.101 Es ist aber klar, daß die Todsünde und die läßliche Sünde 100 Richtig: Bernhard von Clairvaux, De consideratione II, 13 (ed. Leclercq III, 429). 101 Vgl. De malo q. 2 a. 7.
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nicht zu der gleichen Art gehören: wie nämlich manche Handlungen auf Grund ihrer eigenen Gattung gut sind und manche auf Grund ihrer eigenen Gattung schlecht, so sind manche Sünden auf Grund ihrer eigenen Gattung läßlich, manche auf Grund ihrer eigenen Gattung Todsünden. Ein Umstand also, der eine Sünde auf solch eine Weise verschlimmert, daß er eine neue Art der Sünde konstituiert, kann eine Art der Todsünde konstituieren. Auf diese Weise verschlimmert er die Sünde unendlich, zum Beispiel wenn jemand ein scherzhaftes Wort spricht, um Lust oder Haß hervorzurufen. Wenn er aber die Sünde so verschlimmert, daß er keine neue Art der Sünde konstituiert, kann er die Sünde nicht unendlich verschlimmern, indem er aus einer läßlichen Sünde eine Todsünde macht. Denn das Gewicht, das von der Art der Sünde kommt, ist immer größer als das, das von einem Umstand kommt, der keine Art konstituiert. Zu 1. Nicht aus dem Grund, daß Adam nicht läßlich sündigen konnte, heißt es, daß die Dinge, die für uns verzeihlich sind, für ihn tödlich waren, sondern weil er, bevor er tödlich sündigte, die Dinge, die für uns läßlich sind, nicht begehen konnte. Es war nämlich weder ein seelischer noch körperlicher Mangel in ihm möglich, bis er sich durch die Todsünde von Gott abwandte. Zu 2. Ein Umstand, der aus etwas, das keine Sünde ist, eine Sünde macht, konstituiert eine Art der Sünde. Ein solcher Umstand kann auch aus einer läßlichen Sünde eine Todsünde machen. Zu 3. Sich häufig zu betrinken, ist kein Umstand, der eine Art von Sünde konstituiert. Wie es eine läßliche Sünde ist, sich einmal zu betrinken, so ist es daher im strengen Sinne gesprochen auch eine läßliche Sünde, sich häufig zu betrinken. Aber durch etwas Hinzukommendes und indem es eine Veranlagung hervorbringt kann es eine Todsünde sein, sich häufig zu betrinken, zum Beispiel wenn es als Folge zu einem solchen Gefallen an Trunksucht führen sollte, daß eine Person auch bei Vernachlässigung einer göttlichen Vorschrift beschließen würde zu trinken. Zu 4. Aus einer böswilligen Absicht heraus zu sündigen bedeutet, aus einer Wahl heraus zu sündigen, das heißt wissentlich und willentlich. Dies geschieht auf zweifache Weise. Einmal dadurch,
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daß jemand die Dinge zurückweist, durch die er von einer Sünde abgehalten werden kann, zum Beispiel Hoffnung auf Verzeihung oder Furcht vor göttlicher Gerechtigkeit. Ein derartiger Umstand konstituiert eine Art von Sünde wider den heiligen Geist, die unverzeihlich genannt wird. Andererseits kann es nur durch Neigung des Habitus passieren, und so ein Umstand konstituiert weder eine Art, noch macht er aus einer läßlichen Sünde eine Todsünde. Denn nicht jeder, der willentlich und wissentlich ein eitles Wort sagt, sündigt tödlich. Zu 5. Obwohl der Umstand der Person eine Sünde verschlimmert, macht er dennoch nicht aus einer läßlichen Sünde eine Todsünde. Es sei denn, er konstituiert eine Art der Sünde, zum Beispiel wenn ein Priester gegen eine den Priestern gegebene Vorschrift oder gegen ein Gelübde verstößt. Auch die Behauptung des Hieronymus muß als hyperbolisch oder bei Gelegenheit Gesagtes verstanden werden. Denn Scherze im Munde eines Priesters können eine Gelegenheit zur Blasphemie anderer sein.
9. Artik el Die neunte Frage lautet: Sind alle Sünden gleich? 102 Das scheint der Fall zu sein. 1. Im Jakobusbrief 2, 10 heißt es: »Wer nämlich das ganze Gesetz einhält, aber in einem einzigen Punkte fehlt, der ist an allen schuldig geworden.«103 Hieronymus kommentiert die Stelle Kohelet 9, 18: »Wer gegen eines verstößt, soll viele gute Dinge verlieren«104 in seiner Auslegung so: Wer einem Laster unterliegt, der unterliegt allen Lastern.105 Aber außerhalb von allem ist nichts. Also kann keiner mehr sündigen, als der, der sich selbst einer Sünde unterwirft. Somit sind alle Sünden gleich. 102 Paralleltexte: Sent. II, d. 42 q. 2 a. 5. ScG III, 139. Sum. theol. I–II, q. 73 a. 2. Super Matth. 11, 22. De art. fidei I, lin. 326–384. 103 Jak. 2; Vulg. ›offendat autem in uno‹. 104 Koh. 9, 18; Vulg. ›qui in uno peccaverit multa bona perdet‹. 105 Hieronymus, In Eccl. 9, 18 (PL 23, 1090 A [1145 B]).
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2. Die Sünde ist der Tod der Seele. Aber beim Körper ist kein Tod größer als der andere, denn jeder Tote ist in gleicher Weise tot. Also ist keine Sünde größer als die andere. 3. Die Strafe entspricht der Schuld. Aber für jede Sünde wird es in der Hölle nach Jesaja 24, 22 eine Strafe geben: »Sie werden zusammengetrieben und in eine Grube gesperrt und im Gefängnis eingeschlossen«106. Also ist jede Sünde von gleichem Gewicht. 4. Sündigen ist nichts anderes, als eine Übertretung der Rechtbeschaffenheit der Vernunft oder des göttlichen Gesetzes. Aber wenn jemandem durch ein Urteil verboten wird, eine bestimmte Grenze zu übertreten, macht es in Bezug auf die Übertretung keinen Unterschied, ob er die gesetzte Grenze weit oder knapp überschreitet. Also macht es in Ansehung der Sünde der Übertretung keinen Unterschied, was auch immer ein Mensch tut, wenn er bei seinem Tun die Rechtbeschaffenheit der Vernunft und das göttliche Gesetz nicht einhält. 5. Das Unendliche ist nicht größer als das Unendliche. Aber jede Todsünde ist unendlich, da sie dem unendlichen Gut, nämlich Gott, widerspricht. Daher verdient sie auch eine unendliche Strafe. Also ist die eine Todsünde nicht größer als die andere. 6. Das Übel heißt so wegen dem Mangel an einem Guten. Aber jede Todsünde beraubt auf gleiche Weise der Gnade und läßt nichts von ihr zurück. Also sind alle Todsünden gleich. 7. Wenn etwas größer oder kleiner genannt wird, geschieht dies, indem man es mit dem vergleicht, was schlechthin so beschaffen ist.107 Etwas wird zum Beispiel mehr oder weniger weiß genannt in bezug auf das, was schlechthin weiß ist. Aber nichts ist schlechthin schlecht, so daß es alles Guten entbehrt. Also ist nichts mehr oder weniger schlecht. Somit sind alle Sünden gleich. 8. Die Sünden sind den Tugenden entgegengesetzt. Aber alle Tugenden sind gleich. Daher heißt es in der Offenbarung 21, 16, daß Länge, Breite und Höhe der Stadt gleich sind.108 Also sind auch alle Sünden gleich. 106 Jes. 24, 22. 107 Vgl. Aristoteles, Met. IV, 9; 1008 b 31 – 1009 a 5. 108 Offb. 21, 16.
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9. Wenn eine Sünde schwerer ist als eine andere, wird folgen, daß eine in einer größeren Angelegenheit begangene Sünde größer wäre als eine in einer kleineren begangene, zum Beispiel wenn gesagt werden sollte, daß es eine größere Sünde ist, viel zu stehlen als wenig zu stehlen. Aber das ist nicht wahr, denn daraus würde folgen, daß der, der eine kleinere Sünde begeht, auch eine größere Sünde begeht. Es heißt nämlich in Lukas 26: »Wer in dem, was klein ist, ungerecht ist, ist auch in größeren Angelegenheiten ungerecht.«109 Also ist keine Sünde schlimmer als die andere. 10. Die Sünde besteht im Abfall vom unveränderlichen Gut und der Hinwendung zu einem veränderlichen Gut. Aber eine derartige Hinwendung und Abwendung nimmt in sich nicht das Mehr oder Weniger auf. Denn da die Seele einfach ist, wendet sie sich dem ganz zu, zu dem sie sich hinwendet, und wendet sich ganz von dem ab, von dem sie sich abwendet. Also ist keine Sünde gewichtiger als eine andere. 11. Augustinus sagt im Buch Über die Dreieinigkeit, daß die Größe der menschlichen Sünde sich in der Größe des Heilmittels zeigt.110 Denn es erforderte nämlich den Tod Christi, sie zu tilgen. Aber eben dieses Heilmittel wirkt gegen alle Sünden. Also sind alle Sünden gleich schwer. 12. Wie Dionysius im 4. Kapitel von Über die göttlichen Namen ausführt, geht das Gute aus einer einheitlichen und ganzen Ursache hervor, das Übel hingegen aus einzelnen Mängeln.111 Aber jeder Mangel hebt die Unversehrtheit auf, demnach hebt jeder Mangel die gesamte Natur des Guten auf. Also ist keine Sünde gewichtiger als die andere. 13. Die Tugend ist einfach, da sie eine Art von Form ist. Also wird sie, wenn sie aufgehoben wird, vollständig aufgehoben. Deswegen aber ist die Sünde schlecht, weil sie die Tugend aufhebt. Also sind alle Sünden gleich schlecht, da jede einzelne in gleicher Weise die Tugend aufhebt.
109 Richtig: Lk. 16, 10. 110 Augustinus, De Trin. XIII, 17 (CCSL 50 A, 413). 111 Dionysius Areopagita, De div. nom. IV, 30 (Dion., 298).
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14. Aus demselben Grund hat etwas eine solche Beschaffenheit und ist in höherem Grade von solcher Beschaffenheit. Wenn also das, was weiß ist, den Gesichtssinn weitet, so weitet das, was in höherem Grade weiß ist, den Gesichtssinn stärker. Eine Handlung hat aber die Natur einer Sünde durch die Abkehr von Gott. Da also alle Sünden in der Abkehr von Gott übereinstimmen, werden alle Sünden gleich sein. 15. Je bedeutender die Person ist, die verletzt wird, um so gewichtiger ist die Sünde. Zum Beispiel begeht der eine schwerere Sünde, der einen König schlägt, als der, der einen Soldaten schlägt. Aber in jeder Sünde wird ein und derselbe verachtet, nämlich Gott. Also sind alle Sünden gleich. 16. Eine Gattung wird auf gleiche Weise von ihren Arten unterteilt. Aber die Sünde ist die Gattung aller Sünden. Also sind alle Sünden gleich, und jeder, der sündigt, sündigt auf gleiche Weise. 17. Das Übel wird wegen des Mangels an Gutem so genannt, die Größe des Mangels kann jedoch durch das erfaßt werden, was nach der Sünde zurückbleibt. Nach jeder Sünde aber bleibt dasselbe im Guten zurück. Denn es bleibt die Natur der Seele selbst und die Freiheit des Willens zurück, durch die der Mensch das Gute und das Schlechte wählen kann. Also ist keine Sünde in höherem Grade schlecht als die andere. 18. Die Umstände beziehen sich auf die Tugend als wesentliche Unterschiede. Wenn aber ein wesentlicher Unterschied entfernt wird, werden alle entfernt. Denn der Träger ist zerstört. Da also jede Sünde einen Umstand der Tugend zerstört, wird jede Sünde alle Umstände zerstören und somit wird eine Sünde nicht schwerer sein als die andere. Dagegen spricht: 1. Bei Johannes 19, 11 heißt es: »Deshalb hat der, der mich dir ausgeliefert hat, eine größere Schuld.«112 2. Nach Augustinus ist die Begierde die Ursache der Sünde.113 Aber nicht jede Begierde ist gleich. Also sind nicht alle Sünden gleich. 112 Joh. 19, 11. 113 Vgl. Augustinus, De lib. arb. I, 3 (CCSL 29, 215).
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Antwort: Die Meinung der Stoiker bestand darin, daß alle Sünden gleich sind. Daraus ist die Meinung bestimmter moderner Ketzer entstanden, die behaupten, daß es keine Ungleichheit gibt – weder unter den Sünden noch unter den Verdiensten und auf ähnliche Weise weder unter den Belohnungen noch unter den Strafen. Die Stoiker wurden aber zu dieser Folgerung verleitet, weil sie dachten, daß etwas einzig und allein deshalb die Natur der Sünde hat, weil es der Rechtbeschaffenheit der Vernunft widerspricht. So ist zum Beispiel klar, daß Ehebruch nicht deshalb Sünde ist, weil die Vereinigung mit einer Frau an sich selbst schlecht ist, sondern weil sie im Gegensatz zur Rechtbeschaffenheit der Vernunft geschieht. Dasselbe ist bei anderen Dingen offensichtlich. Es ist auch dasselbe, wenn die Handlung als dem göttlichen Gesetz widersprechend bezeichnet wird, sofern es die hier verhandelte Frage betrifft: beides schließt nämlich einen bestimmten Mangel ein. Der Mangel scheint aber nicht das Mehr oder Weniger zuzulassen. Wenn etwas daher durch einen Mangel an etwas schlecht ist, scheint es keinen Unterschied zu machen, auf welche Weise auch immer das geschieht, wofern nur ein Mangel vorliegt. Wenn zum Beispiel ein Richter für eine Person eine bestimmte Grenze festsetzt, macht es, wenn die Person sie überschritten hat, keinen Unterschied, ob viel oder wenig. Ähnlich haben die Stoiker behauptet, sofern eine Person nur die Rechtbeschaffenheit der Vernunft durch die Sünde überschreite, mache es keinen Unterschied, wie auch immer und aus welcher Ursache auch immer sie dies tut, als wenn eine Sünde zu begehen nichts anderes wäre, als bestimmte festgesetzte Linien zu überschreiten. Um diese Frage aufzulösen, muß hier dies alles berücksichtigt werden, damit wir erkennen, auf welche Weise das Mehr oder Weniger in den Dingen, die durch den Mangel bezeichnet werden, gefunden oder nicht gefunden werden kann. Wir müssen daher ins Auge fassen, daß es zwei Sorten von Mangel gibt: einen Mangel, der ein reiner Mangel ist, wie die Finsternis, die nichts vom Licht zurückläßt, und der Tod, der keinerlei Leben zurückläßt. Der andere Mangel ist aber nicht rein, sondern läßt etwas zurück. Daher ist er nicht nur ein Mangel, sondern auch konträrer Gegensatz, zum Beispiel die Krankheit, die nicht die gesamte
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Ausgewogenheit der Gesundheit zerstört, sondern nur etwas davon. Ähnlich verhält es sich beim Häßlichen, Unähnlichen, Ungleichen, Falschen und allen derartigen Dingen. Derartige Mängel scheinen sich von dem vorhergehenden dadurch zu unterscheiden, daß die ersten Mängel sozusagen bereits im Vernichtetsein bestehen, die zweiten besagen aber sozusagen, daß etwas auf dem Weg der Vernichtung ist. Da daher in den ersten Mängeln das Ganze geraubt wird, und weil das, was von ihm im Sinne einer Bejahung ausgesagt wird, nicht zur Natur des Mangels gehört, macht es bei solchen Beraubungen keinen Unterschied, aus welchem Grund und auf welche Weise auch immer jemand beraubt wird, so daß gesagt würde, er sei deswegen mehr oder weniger beraubt. Denn der ist nicht weniger gestorben, der an einer geschlagenen Wunde gestorben ist, als der, der an zweien oder dreien gestorben ist. Auch ist ein Haus nicht weniger finster, wenn eine Kerze von einer Decke völlig verdunkelt wird, als wenn sie von zweien oder dreien völlig verdunkelt wird. Aber bei der zweiten Sorte von Mängeln wird nicht das Ganze geraubt, und was von ihm im Sinne einer Bejahung gesagt wird, gehört zu der Natur dessen, das im Sinne einer Beraubung ausgesagt wird. Daher lassen solche Mängel das Mehr oder Weniger gemäß dem Unterschied desjenigen zu, was im Sinne einer Bejahung ausgesagt wird. Eine Krankheit wird zum Beispiel schwerer genannt, wenn die die Gesundheit aufhebende Ursache entweder größer oder vielfältiger gewesen ist. Dasselbe ist bei der Häßlichkeit oder der Unähnlichkeit oder bei dergleichen Dingen der Fall. Daher muß ein gewisser Unterschied in den Sünden ins Auge gefaßt werden. Denn die Unterlassungssünden, im eigentlichen Sinne gesprochen, bestehen nur in der Beraubung der Vorschrift, die mißachtet wird, wie oben ausgeführt worden ist.114 Daher macht bei einer Unterlassungssünde die Bedingung der damit verknüpften Handlung die Unterlassungssünde nicht im strengen Sinne größer oder kleiner, da sie sich als nebensächlich Hinzukommendes zu ihr verhält. Wenn jemandem zum Beispiel vorgeschrieben wird, zur Kirche zu gehen, wird bei der Unterlassungssünde nicht darauf geachtet, ob er in der Nähe der Kirche oder fern von ihr lebt, sofern 114 Vgl. De malo q. 2 a. 1.
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er nur nicht zur Kirche geht, außer vielleicht nebensächlich, insofern der Unterschied dieses Umstandes einer größeren oder kleinern Mißachtung zukommen würde. Dennoch sind deshalb nicht alle Sünden der Unterlassung gleich. Denn Vorschriften unterscheiden sich entweder wegen der unterschiedlichen Autorität des Vorschreibenden oder wegen der unterschiedlichen Würde oder Notwendigkeit der Vorschriften. Andererseits besteht die Sünde der Übertretung in der Mißgestalt einer Handlung. Diese Mißgestalt hebt jedoch nicht die ganze Ordnung der Vernunft auf, sondern etwas von ihr. Wenn jemand zum Beispiel ißt, wenn er nicht essen soll, bleibt immer noch übrig, daß er ißt, wo er essen soll und weswegen er essen soll. Auch kann, solange die Handlung andauert, der Anteil der Vernunft vollständig aufgehoben sein. Daher sagt Aristoteles im 4. Buch der Nikomachischen Ethik, daß das Übel, wenn es vollständig ist, unerträglich wird und sich selbst zerstört.115 Wie daher nicht jede Mißgestalt des Körpers gleich ist, sondern eine größer als eine andere ist, insofern mehr zur Schönheit gehörige Eigenschaften oder eine grundsätzlichere Eigenschaft geraubt werden, so ist nicht jede Mißgestalt oder Ungeordnetheit der Handlung gleich, sondern eine ist größer als die andere. Daher sind nicht alle Sünden gleich. Zu 1. Das Wort des Jakobus ist nicht so zu verstehen, daß der, der gegen eine Vorschrift des Gesetzes verstößt, soviel Strafe verdient, als wenn er alle überschritten hätte, sondern daß er auf gewisse Weise die Strafe für die Mißachtung aller Vorschriften nicht in allen, sondern in einer verdient. Wer nämlich eine Vorschrift mißachtet, mißachtet insofern alle Vorschriften, insofern er Gott mißachtet, von dem alle Vorschriften ihre Gewalt haben. Daher fügt Jakobus alsgleich hinzu: »Wer nämlich gesagt hat: ›Du sollst nicht töten!‹, hat auch gesagt: ›Du sollst nicht Ehebrechen!‹«116. Auf ähnliche Weise ist die Aussage des Hieronymus zu verstehen. Zu 2. Der Tod der Seele ist die Beraubung der Gnade, durch die die Seele mit Gott vereinigt war. Aber die Beraubung der Gnade ist nicht wesentlich die Schuld selbst, sondern die Wirkung der Schuld 115 Aristoteles, Eth. Nic. IV, 13; 1126 a 12–13. 116 Vgl. Jak. 2, 11.
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und ihrer Strafe, wie oben bei der Untersuchung des Übels ausgeführt wurde.117 Daher wird die Sünde nicht ihrem Wesen, sondern ihrer Wirkung nach als der Tod der Seele bezeichnet. Ihrem Wesen nach ist die Sünde eine mißgestaltete oder ungeordnete Handlung. Zu 3. In der Bestrafung der Verdammten ist etwas allen Gemeinsames, das der Mißachtung Gottes entspricht, zum Beispiel die Entbehrung der Schau Gottes und eine Ewigkeit des Schmerzes. In bezug auf dies wird von ihnen gesagt, daß sie zusammengetrieben werden, um zu einem Bündel gebunden zu werden. Aber es gibt auch einen Unterschied zwischen ihnen, insofern manche mehr gefoltert werden als andere. In bezug hierauf heißt es in Matthäus 23, daß sie wie Bündel von Unkraut zum Verbrennen zusammengesammelt werden.118 Zu 4. Jemand, der eine ihm von einem Richter vorgeschriebene Grenze überschreitet, sündigt nur, weil er sich nicht innerhalb der ihm vorgeschriebenen Grenze hält. Somit ist seine Sünde unmittelbar eine Unterlassungssünde. Wenn ihm aber unmittelbar vorgeschrieben würde, nicht zu gehen, so ist es einleuchtend, daß er um so schwerer bestraft würde, je mehr er weitergehen würde. Oder auf andere Weise ist zu sagen, daß bei den Dingen, die nur deswegen schlecht sind, weil sie verboten sind, derjenige, der die Vorschrift nicht einhält, völlig dessen ermangelt, zu dessen Einhaltung er gehalten ist. Aber bei den Dingen, die an sich selbst schlecht sind und nicht nur, weil sie verboten sind, wird das Gute, das dem Übel entgegengesetzt ist, nicht vollständig zerstört. Daher wird um so schwerer gesündigt, je mehr von ihm zerstört wird. Zu 5. Jemand wendet sich durch eine endliche Handlung vom unendlichen Gut ab. Daher ist die Sünde wesentlich endlich, obzwar sie auf das unendliche Gut bezogen ist. Zu 6. Die Sünde ist nicht dem Wesen, sondern der Ursache nach die Beraubung der Gnade, wie ausgeführt worden ist.119 Zu 7. Bei Beraubungen wird etwas nicht wegen der Annäherung an eine Grenze, sondern eher wegen der Entfernung mehr oder we117 Vgl. De malo q. 1 a. 4 und 5. 118 Richtig: Mt. 13, 30. 119 Vgl. De malo q. 2 a. 9 ad 2.
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niger genannt. Daher zeigt auch Aristoteles an derselben Stelle, daß deshalb, weil etwas mehr oder weniger falsch ist, es etwas absolut Wahres gibt.120 Dazu also, daß etwas mehr oder weniger schlecht ist, ist es nicht erforderlich, daß es ein absolutes Übel gibt, sondern daß es ein absolutes Gut gibt. Zu 8. Alle Tugenden sind gleich, nicht der Größe nach, denn der Apostel sagt, daß die Liebe größer ist, sondern dem Verhältnis nach, insofern jede einzelne Tugend sich gleich zu ihrer Handlung verhält;121 wie wenn jemand sagen würde, daß alle Finger seiner Hand dem Verhältnis und nicht der Größe nach gleich sind. Die Sünden aber sind auch nicht dem Verhältnis nach gleich. Denn sie hängen nicht wie die Tugenden von einer Ursache ab, die alle von der Weisheit oder der Liebe abhängen, sondern die Sünden haben unterschiedliche Wurzeln. Zu 9. Eine in einer größeren Angelegenheit begangene Sünde ist größer. Daher ist der Diebstahl einer größeren Sache eine schwerere Sünde, da er der der Gerechtigkeit angemessenen Gleichheit mehr entgegengesetzt ist. Das Wort des Herrn ist aber nicht so zu verstehen, daß, wer eine kleinere Sünde begeht, eine größere begehen würde. Denn viele sprechen ein eitles Wort, die nichts Gotteslästerliches sagen würden. Vielmehr ist es so zu verstehen, daß es leichter ist, bei kleineren Dingen die Gerechtigkeit zu bewahren als bei größeren. Wer sie daher in kleineren Angelegenheiten nicht bewahrt, der würde sie auch nicht in größeren bewahren. Zu 10. Obwohl die Seele in ihrem Wesen einfach ist, ist sie ihrem Vermögen nach dennoch vielfach, nicht nur insofern sie viele Vermögen hat, sondern da sie gemäß eines und desselben Vermögens sich zu vielen Dingen verhält und auf vielfache Weise zu jenen bewegt werden kann. Daher ist es nicht notwendig, daß jede Abwendung oder Hinwendung der Seele gleich ist. Zu 11. Wegen der Schwere, die sie von der Mißachtung des unendlich Guten haben, war es notwendig, daß alle Todsünden durch den Tod Christi geheilt werden. Aber dennoch hindert nichts, daß Gott durch eine Sünde mehr verachtet wird als durch eine andere. 120 Vgl. Aristoteles, Met. IV, 9; 1008 b 31–1009 a 5. 121 Vgl. 1 Kor. 13, 13.
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Zu 12. In jeder Sünde wird die Unversehrtheit des Guten aufgehoben, aber nicht das ganze Gute – vielmehr in einer Sünde mehr, in einer anderen weniger, wie ausgeführt worden ist.122 Zu 13. Die Sünde ist der tugendhaften Handlung direkt entgegengesetzt, zu der viele Umstände erforderlich sind. Außerdem gibt es verschiedene Tugenden, und die eine von ihnen ist größer als die andere. Daher müssen nicht alle Sünden gleich sein. Zu 14. Dieses Argument wäre schlüssig, wenn die Sünde nur eine Beraubung wäre. Aber da sie in ihrer Natur einen positiven Aspekt hat, läßt sie, wie ausgeführt worden ist, das Mehr oder Weniger zu.123 Zu 15. Die Größe einer Verachtung wird nicht nur gemessen in Beziehung auf den, der verletzt wurde, sondern auch in Beziehung auf die Handlung, durch die derjenige verachtet wurde. Diese kann mehr oder weniger intensiv sein. Zu 16. Alle Lebewesen sind in gleicher Weise Lebewesen, dennoch sind sie nicht gleiche Lebewesen, sondern ein Lebewesen ist gegenüber dem anderen größer und vollkommener. Ähnlich ist es nicht notwendig, daß alle Sünden deswegen gleich sind. Zu 17. Nach der Sünde bleibt sowohl die Natur der Seele als auch die Freiheit des Willens zurück. Dennoch wird die Anlage zum Guten verringert – durch eine Sünde mehr und durch eine andere weniger. Zu 18. Umstände verhalten sich weder in der Tugend noch in der Sünde als wesentliche Unterschiede. Sonst würde jeder Umstand eine Gattung oder Art der Tugend oder Sünde konstituieren. Vielmehr verhalten sie sich eher in der Art von Eigenschaften, wie oben ausgeführt worden ist.124 Außerdem ist das nicht wahr, daß durch die Entfernung eines wesentlichen Unterschiedes alle entfernt werden. Nach der Entfernung von »vernünftig« bleibt nämlich das »Leben« zurück, wie im Buch von den Ursachen ausgeführt wird,125 allerdings wegen der Zerstörung des Trägers nicht dasselbe numerische Ding, sondern dieselbe Natur. 122 123 124 125
Vgl. De malo q. 2 a. 9 c. Vgl. De malo q. 2 a. 9 c. Vgl. De malo q. 2 a. 6 und 7. Liber de causis, Prop. I, 11 (ed. Schönfeld, 2).
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10. Artik el Die zehnte Frage lautet: Ist eine Sünde schwerer, weil sie einem größeren Gut entgegengesetzt ist? 126 Das scheint nicht der Fall zu sein, denn: 1. Nach Augustinus wird etwas deshalb als Übel bezeichnet, weil es von einem Gut beraubt.127 Was also vom Guten mehr raubt, ist ein größeres Übel. Aber die erste Sünde, auch wenn sie einer kleineren Tugend entgegengesetzt wäre, raubt mehr vom Guten als die zweite. Denn sie beraubt den Menschen der Gnade und des ewigen Lebens. Also ist eine Sünde nicht deswegen schwerer, weil sie einem größeren Gut entgegengesetzt ist. 2. Nach dem Apostel im 1. Korintherbrief 13, 13 ist die Liebe größer als Glaube und Hoffnung.128 Der Haß, der der Liebe entgegengesetzt ist, ist jedoch keine größere Sünde als Unglaube und Verzweiflung, die dem Glauben und der Hoffnung entgegengesetzt sind. Eine Sünde ist also nicht größer, weil sie einem größeren Gut entgegengesetzt ist. 3. Daß jemand wissend oder unwissend sündigt, verhält sich zu dem Gut, dem die Sünde entgegengesetzt ist, in nebensächlicher Weise. Wenn also eine Sünde deswegen größer wäre als eine andere, weil sie einem größeren Guten entgegengesetzt ist, würde folgen, daß der, der wissend sündigt, nicht schwerer sündigen würde als der, der unwissend sündigt. Das ist offensichtlich falsch. 4. Die Größe der Strafe entspricht der Größe der Schuld. Aber wir lesen, daß manche Sünden gegen unseren Nächsten schwerer bestraft werden als gegen Gott begangene Sünden. Die Sünde der Blasphemie, die eine Sünde gegen Gott ist, wird zum Beispiel durch einfache Steinigung bestraft, wie in Levitikus 24, 16 festgestellt wird.129 Aber die Sünde der Glaubensspaltung wird durch einen ungewöhnlichen Tod vielfach bestraft, wie im Buch Numeri 26, 10 festgestellt
126 127 128 129
Paralleltexte: Sum. theol. I–II, q. 73 a. 4. Vgl. Augustinus, Ench. IV, 12 (CCSL 46, 54). 1 Kor. 13, 13. Lev. 24, 16.
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wird.130 Also ist eine Sünde, die gegen den Nachbarn begangen wird, schwerer als die gegen Gott begangene, obwohl die gegen Gott begangene Sünde trotzdem einem größeren Gut entgegengesetzt ist. Dagegen spricht: Aristoteles sagt im 8. Buch der Nikomachischen Ethik, daß das Schlechteste dem Besten so entgegengesetzt ist wie dem Guten das Übel.131 Antwort: Die Schwere der Sünde kann von zwei Seiten aus betrachtet werden: einerseits von seiten der Handlung selbst, andererseits von seiten des Handelnden. In bezug auf die Handlung sind jedoch zwei Dinge ins Auge zu fassen, nämlich die Art der Handlung und ihre hinzukommende Eigenschaft, die wir oben als Umstand bezeichneten.132 Die Art der Handlung wird aber durch den Gegenstand konstituiert, wie oben bereits ausgeführt worden ist.133 Daher wird das Gewicht, das eine Sünde von ihrer Art hat, von seiten des Gegenstandes oder der Materie ins Auge gefaßt. Entsprechend dieser Betrachtung wird eine Sünde gemäß ihrer Gattung, die einem größeren Gut der Tugend entgegengesetzt ist, schwerer genannt. Da daher, wie Augustinus sagt, das Gut der Tugend in der richtig geordneten Liebe besteht,134 wir aber Gott über alles andere lieben sollen, so sind die gegen Gott gerichteten Sünden wie Götzendienst, Blasphemie und dergleichen ihrer Gattung nach als die schwersten Sünden zu betrachten. Unter den gegen unseren Nächsten gerichteten Sünden aber sind einige größer als andere, um so mehr sie einem größeren Gut unseres Nächsten entgegengesetzt sind. Das größte Gut des Nächsten ist jedoch die Person des Menschen selbst. Diesem ist die Sünde des Mordes entgegengesetzt, der Num. 26, 10. Aristoteles, Eth. Nic. VIII, 10; 1160 b 9. Vgl. De malo q. 2 a. 5 und a. 8 sc. Vgl. De malo q. 2 a. 4. Vgl. Augustinus, De civ. Dei XV, 22 (CCSL 48, 488). Augustinus, De mor. eccl. I, 15 (PL 32, 1322). 130 131 132 133 134
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das wirkliche Leben des Menschen aufhebt, und die Sünde der Lust, die dem Leben des Menschen in seiner Möglichkeit entgegengesetzt ist. Denn sie ist eine Unordnung in der Handlung der menschlichen Fortpflanzung. Daher ist unter allen Sünden, die gegen die Mitmenschen gerichtet sind, der Mord seiner Gattung nach die größere. Den zweiten Platz nehmen Ehebruch, Hurerei und derartige fleischliche Sünden ein. Den dritten Platz aber halten Diebstahl, Raub und derartige Dinge, durch die der Nächste in seinen äußeren Gütern geschädigt wird. Aber innerhalb dieser einzelnen Gattungen gibt es verschiedene Grade, in denen das Maß der Sünde ihrer Gattung entsprechend angenommen werden muß, insofern das entgegengesetzte Gute mehr oder weniger auf Grund der Liebe geliebt werden soll. Aber auch auf seiten der Umstände gibt es eine Schwere in der Sünde, die ihren Grund nicht in der Art hat, sondern zufällig ist. Ähnlich wohnt auch auf seiten des Handelnden die Schwere der Sünde bei, insofern er mehr oder weniger freiwillig sündigt. Der Wille ist nämlich die Ursache der Sünde, wie wir oben ausgeführt haben.135 Aber auch diese Schwere gehört der Sünde nicht gemäß ihrer Art zu. Wenn daher die Schwere der Sünde entsprechend ihrer Art betrachtet wird, so wird sich eine um so größere Schwere der Sünde finden lassen, je größer das ihr entgegengesetzte Gut ist. Zu 1. In der Sünde finden sich zwei Arten der Beraubung: eine formale, durch die die Ordnung der Tugend aufgehoben wird. In Bezug auf diese macht es keinen Unterschied, ob es die erste oder zweite begangene Sünde ist. Denn die zweite Sünde kann mehr von der Ordnung der wirklichen Tugend rauben als die erste. Die andere ist hingegen die Beraubung des Guten, die die Wirkung der Sünde ist, nämlich die Beraubung der Gnade und der Ehre. In bezug auf diese zerstört die erste Sünde mehr als die zweite. Aber dies ist zufällig, da die zweite Sünde nicht findet, was die erste Sünde findet. Es sollte aber kein Urteil von den Dingen auf Grund dessen gefällt werden, was zufällig für sie ist. 135 Vgl. De malo q. 2 a. 2 und 3.
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Zu 2. Glaube und Hoffnung gehen der Liebe vorher. Daher sind der Unglaube, der dem Glauben entgegengesetzt ist, und die Verzweiflung, die der Hoffnung entgegengesetzt ist, am meisten der Liebe entgegengesetzt. Denn sie reißen sie bei ihrer Wurzel aus. Zu 3. Obwohl es einer besonderen Sünde – zum Beispiel dem Diebstahl – nebensächlich hinzukommt, wissentlich oder unwissentlich zu sündigen, sofern es ihre Art betrifft, kommt es ihr nichtsdestotrotz nicht nebensächlich hinzu, sofern es ihre Gattung betrifft, das heißt insofern sie Sünde ist. Denn es gehört zur Natur der Sünde, daß sie willentlich ist. Daher verringert die Unwissenheit, die das Willentliche verringert, auch die Natur der Sünde. Zu 4. Strafen, die von Gott im zukünftigen Leben zugefügt werden, entsprechen der Schwere der Schuld. Daher sagt der Apostel im Römerbrief 2, 2, daß »das Gericht Gottes der Wahrheit gegen die entspricht, die solches tun«136. Aber Strafen, die im gegenwärtigen Leben zugefügt werden, ob von Gott oder vom Menschen, entsprechen nicht immer der Schwere der Schuld. Denn manchmal wird eine kleinere Schuld zur Vermeidung einer größeren Gefahr zeitlich durch eine schwerere Strafe bestraft. Die Strafen im gegenwärtigen Leben werden nämlich als Heilmittel angewendet. Die Sünde der Glaubensspaltung ist jedoch die gefährlichste in den menschlichen Angelegenheiten, da sie die ganze Lenkung der menschlichen Gesellschaft zerstört. 11. Artik el Die elfte Frage lautet: Vermindert die Sünde das Gut einer Natur137? 138 Das scheint nicht der Fall zu sein, denn: 1. Kein vermindertes Ding ist vollständig. Aber die natürlichen Güter bleiben in den Dämonen nach der Sünde vollständig erhalten, 136 Röm. 2, 2. 137 Gemeint ist das Gut, das einem Ding auf Grund seiner Natur zu-
kommt, also im Gegensatz zu einem gnadenhaft verliehenen Gut oder einem Gut, das in der Sittlichkeit seines Trägers gründet. Nicht gemeint ist der Gegensatz zwischen dem natürlich Guten als dem metaphysisch Guten im Gegensatz zum sittlich Guten. 138 Paralleltexte: Sum. theol. I–II, q. 85 a. 1.
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wie Dionysius im 4. Kapitel von Über die göttlichen Namen sagt.139 Also wird das Gut einer Natur nicht durch die Sünde vermindert. 2. Eine Eigenschaft hebt nicht ihren Träger auf. Aber das Übel der Schuld ist im Gut der Natur als in seinem Träger. Also hebt das Übel der Schuld nichts vom Gut einer Natur auf. So vermindert sie diese selbst nicht. 3. Dagegen wurde eingewandt, daß das Gut einer Natur durch das Übel der Schuld nicht vermindert wird, was die Substanz des Trägers, sondern was die Eignung oder die Tauglichkeit betrifft. – Dagegen spricht: Die Beraubung hebt nichts von dem auf, was ihm selbst und der entgegengesetzten Form gemeinsam ist. Aber wie die Substanz des Trägers der Beraubung und der Form gemeinsam ist, so auch die Eignung oder die Tauglichkeit. Denn die Beraubung in einem Träger erfordert die Eignung für die entgegengesetzte Form. Also hebt die Beraubung nichts von der Tauglichkeit des Trägers auf. 4. Vermindert zu werden ist eine Art von Leiden. Das Leiden besteht jedoch im Aufnehmen, das Tätigsein hingegen mehr im Abgeben. Nichts wird also durch seine eigene Tätigkeit verringert. Aber die Sünde besteht in einem Tätigsein. Also wird das natürliche Gut eines Sünders nicht durch die Sünde vermindert. 5. Dagegen wurde eingewandt, daß die Sünde eine Handlung eines Vermögens ist, das nicht selbst vermindert wird, sondern nur dessen Eignung. – Dagegen spricht: Leidend wird ein Ding nicht nur genannt, wenn ihm etwas von seiner Substanz weggenommen wird, sondern auch, wenn ihm seine wesentliche Eigenschaft weggenommen wird. Das Wasser wird nämlich nicht nur leidend genannt, wenn es seine substantielle Form verliert, sondern auch, wenn es durch Erhitzung seine Kälte verliert. Die Eignung ist aber eine Eigenschaft eines Vermögens. Wenn also die Eignung vermindert wird, wird das Vermögen selbst durch seine eigene Handlung leiden. Das scheint gemäß den vorangegangenen Argumenten unmöglich.140 6. In den natürlichen Dingen leidet ein Handelndes. Dennoch leidet es nicht, insofern es handelt. Denn es handelt, insofern es in 139 Dionysius Areopagita, De div. nom. IV, 23 (Dion., 282). 140 Vgl. De malo q. 2 a. 11 arg. 2 und 3.
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Wirklichkeit ist, leidet aber, insofern es in Möglichkeit ist. So wird etwa die in Wirklichkeit warme Luft durch das Wasser gekühlt, insofern sie der Möglichkeit nach kalt ist, das Wasser aber durch die Luft erwärmt, insofern die Luft in Wirklichkeit warm ist. Aber das ist im Allgemeinen bei allen Dingen wahr, daß nichts in derselben Hinsicht in Wirklichkeit und in Möglichkeit ist. Also leidet nichts, insofern es tätig ist. Also wird auch ein Sünder durch seine eigene sündige Handlung nicht in seinem Gut, das in seiner Natur gründet, gemindert. 7. Verminderung ist eine Art von Handlung. Aber eine Handlung handelt nicht: das ergäbe nämlich ein unendliches Voranschreiten, denn alles, was handelt, würde eine Handlung verursachen. Obwohl also die Sünde eine Art von Handlung ist, scheint es, daß die Sünde kein Gut vermindert, das in der Natur eines Dinges gründet. 8. Da Verminderung eine Art von Bewegung ist, bedeutet vermindern bewegen. Aber nichts bewegt sich selbst. Etwas würde aber sich selbst bewegen, wenn es durch seine eigene Handlung bewegt würde. Also wird der Sünder durch seine sündige Handlung nicht in seinem Gut, das in seiner Natur gründet, gemindert. 9. Dionysius sagt im 4. Kapitel von Über die göttlichen Namen, daß das Übel nicht tätig ist – außer kraft des Guten.141 Aber eine kraft des Guten begangene Sünde verdirbt nicht das Gut, das in der Natur eines Dinges gründet. Denn das Vermögen des Guten ist nicht zerstörend, sondern eher erhaltend. Also vermindert die Sünde nicht das Gut, das in der Natur eines Dinges gründet. 10. Augustinus sagt im Enchiridion, daß beim Guten und Schlechten die Regel der Logiker fehlgeht, die besagt, daß Gegensätze nicht zugleich bestehen können.142 Sie würde aber nicht fehlgehen, wenn das Übel nicht in dem Guten wäre, das ihm selbst entgegengesetzt ist. Die Sünde ist also in dem Gut der Natur, das ihm entgegengesetzt ist, als seinem Träger. Aber keine Eigenschaft vermindert ihren Träger. Also vermindert die Sünde das Gut, das in der Natur eines Dinges gründet, auch nicht, insofern sie ihm entgegengesetzt ist. 141 Dionysius Areopagita IV, 32 (Dion., 305). 142 Augustinus, Ench. IV, 14 (CCSL 46, 55).
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11. Wenn die Sünde das Gut, das in der Natur eines Dinges gründet, verringern würde, würde sie die Freiheit der Wahl verringern, in der die Sünde ursprünglich besteht. Aber Bernhard von Clairvaux sagt im Buch Über die Wahlfreiheit, daß die Freiheit des Willens bei den Verdammten keinen Schaden leidet.143 Also wird ein Gut, das in der Natur des Dinges gründet, durch die Sünde nicht vermindert. 12. Wenn die Sünde die natürliche Eignung für das Gute vermindert, entweder auf seiten des Trägers oder auf seiten des Guts, für das der Träger tauglich ist, wird die Tauglichkeit gewiß als eine Art Mittleres zwischen diesen beiden betrachtet. Aber die Sünde vermindert weder die Tauglichkeit auf seiten des Trägers, noch vermindert sie den Träger selbst. Insofern die Tauglichkeit aber mit dem Gut der Tugend oder der Gnade verbunden ist, scheint besagte Tauglichkeit der Gattung der sittlichen Handlungen zuzugehören. Somit wird also das Gut, das in der Natur des Dinges gründet, auf keine Weise durch die Sünde vermindert. 13. Augustinus sagt im 8. Buch von Über Genesis dem Wortlaut nach, daß die Eingebung der Gnade wie eine Erleuchtung ist, und folglich die Sünde einer Verfinsterung des Geistes gleicht.144 Aber die Finsternis hebt von der Luft nicht die Tauglichkeit zum Licht auf. Also hebt auch die Sünde nichts von der Tauglichkeit zur Gnade auf. 14. Die natürliche Tauglichkeit zum Guten scheint dasselbe zu sein wie die natürliche Gerechtigkeit. Die Gerechtigkeit ist aber eine Art Rechtbeschaffenheit des Willens, wie Anselm im Buch Über die Wahrheit sagt.145 Die Richtigkeit aber kann nicht vermindert werden, denn alles Richtige ist gleich richtig. Also wird auch nicht das Gut, das in der Natur eines Dinges gründet, das also eine natürliche Veranlagung ist, durch die Sünde aufgehoben. 15. Augustinus sagt im Buch Über die Unsterblichkeit der Seele, wenn etwas verändert werde, werde das, was in ihm ist, verändert.146 Aber die Verminderung ist eine Art von Veränderung. Also wird 143 Bernhard von Clairvaux, De grat. et lib. arb. 9 (ed. Leclercq III, 186). 144 Augustinus, De Gen. ad litt. VIII, 12 (CSEL 28/1, 250). 145 Anselm von Canterbury, De verit. 12 (Opera Omnia I, ed. Schmitt,
194). 146 Augustinus, De immort. animae 2 (PL 32, 1022).
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durch die Verminderung des Trägers die Eigenschaft vermindert, die in ihm ist. Aber die Schuld ist in einem Gut der Natur als in einem Träger. Wenn also die Schuld das Gut, das in der Natur eines Dinges gründet, vermindert, vermindert sie sich selbst. Das ist widersinnig. 16. Nach Aristoteles im 2. Buch der Nikomachischen Ethik gibt es dreierlei in der Seele: das Vermögen, den Habitus und die Gemütsbewegung.147 Aber die Gemütsbewegung wird nicht durch die Sünde vermindert. Vielmehr werden die Gemütsbewegungen durch die Sünden vervielfacht. Daher werden sie im Römerbrief 7, 5 auch »Gemütsbewegungen der Sünden«148 genannt. Der Habitus der Tugend wird aber durch die Sünde vollständig aufgehoben, das Vermögen bleibt jedoch unversehrt. Es gibt also kein natürliches Gut in der Seele, das durch die Sünde vermindert wird. Dagegen spricht: 1. Über die Stelle Lukas 10, 30: »Sie schlugen ihn und machten sich davon«149 sagt die Glosse, daß die Unversehrtheit der menschlichen Natur durch die Sünden verletzt wird.150 Die Unversehrtheit wird aber nur durch Verminderung verletzt. Also vermindert die Sünde ein Gut, das in der Natur eines Dinges gründet. 2. Augustinus sagt im 11. Buch von Die Bürgerschaft Gottes, daß das Laster deshalb ein Übel ist, weil es einem natürlichen Gut schadet.151 Das wäre nicht der Fall, wenn es nicht etwas wegnehmen würde. Es vermindert also das Gut, das in der Natur eines Dinges gründet. 3. Augustinus sagt im 6. Buch von Über die Musik, daß die Seele durch die Sünde geschwächt worden ist.152 Es wird also das Gut, das in der Natur eines Dinges gründet, in ihr selbst durch die Sünde vermindert. Aristoteles, Eth. Nic. II, 5; 1105 b 20. Röm. 7, 5. Lk. 10, 30. Glossa ordin. in Luc. 10, 30 aus: Beda, In Luc. ev. expos. III, 10 (CCSL 120, 222). 151 Richtig: Augustinus, De civ. Dei XII, 6 (CCSL 48, 360). 152 Augustinus, De musica VI, 5 (PL 32, 1170). 147 148 149 150
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4. Das vernünftige Geschöpf verhält sich zur Gnade wie das Auge zum Licht. Aber das lange Zeit in der Finsternis verbleibende Auge wird untauglicher, das Licht zu sehen. Also wird die lange Zeit in der Sünde verbleibende Seele weniger befähigt, die Gnade zu empfangen. Somit wird das natürliche Gut, das die Veranlagung ist, durch die Sünde vermindert. Antwort: Weil Verminderung eine Art von Tätigkeit ist, ist zu untersuchen, auf wie viele Arten etwas als Tätigkeit bezeichnet wird, um zu wissen, auf welche Weise die Sünde das Gut, das in der Natur eines Dinges gründet, verringert. Es wird aber unstreitig eben von dem Tätigen, das die Tätigkeit hervorbringt, im eigentlichen Sinne gesagt, daß es tätig ist – in einem abgeleiteten Sinne aber von dem, durch das das Tätige tätig ist. So macht im eigentlichen Sinne zum Beispiel sicherlich der Maler die Wand weiß. Aber da er die Wand durch die Weiße weiß macht, wird gewöhnlich auch gesagt, daß die Weiße sie weiß macht. Von demjenigen, durch das das Tätige tätig ist, sagt man daher auch in einem abgeleiteten Sinne, es sei auf so viele Arten tätig, auf die das Tätige tätig ist, von dem das im eigentlichen Sinne gesagt wird. Von einem Tätigen wird aber grundsätzlich gesagt, daß es sowohl wesentlich als auch nebensächlich etwas bewirkt. Wesentlich nämlich, insofern es seiner eigenen Form entsprechend handelt, nebensächlich aber, insofern es ein Hindernis entfernt. Denn zum Beispiel erhellt die Sonne das Haus auf wesentliche Weise, nebensächlich hinzukommend erhellt aber auch der das Haus, der das Fenster öffnet, das ein Hindernis für das Licht war. Wiederum heißt es von der ursprünglichen Wirkursache, daß sie etwas in erster Linie und etwas anderes in der Folge bewirkt. Denn zum Beispiel konstituiert das Erzeugende an erster Stelle die Form, in der Folge aber verleiht es Bewegung und alles, was aus der Form hervorgeht. Daher sagt man vom Erzeuger, daß er der Beweger schwerer und leichter Körper ist, wie es im 8. Buch der Physik heißt.153 Was aber über die setzenden Wirkungen ausgeführt worden ist, muß auf ähnliche Weise von den beraubenden Wirkungen aufgefaßt werden: 153 Aristoteles, Phys. VIII, 8; 256 a 1.
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so ist nämlich das Zerstörende und Vermindernde genauso ein Bewegendes wie das Schaffende und Vergrößernde. Daher kann offensichtlich erklärt werden, daß auch von dem, das dem Licht ein Hindernis setzt, und sogar von dem Hindernis selbst gesagt wird, daß es verdunkelt, genauso wie von dem, was das Hindernis für das Licht entfernt, gesagt wird, daß es im Sinne eines nebensächlich Hinzukommenden erhellt – und sogar von der Entfernung des Hindernisses selbst, wenn auch in einem abgeleiteten Sinne. Wie aber das Licht sich durch die Sonne in der Luft verbreitet, so wird die Gnade der Seele von Gott mitgeteilt. Die Gnade steht nämlich über der Natur der Seele, und dennoch gibt es in der Natur der Seele oder jeder vernünftigen Natur eine gewisse Veranlagung zur Empfängnis der Gnade und durch die Empfängnis der Gnade wird sie in den ihr angemessenen Handlungen gestärkt. Die Sünde ist aber laut jener Passage aus Jesaja 59, 2 eine Art von Hindernis, das zwischen der Seele und Gott aufgestellt ist: »Eure Frevel sind zur Scheidewand geworden zwischen Euch und Eurem Gott.«154 Der Grund dafür ist folgender: wie die Luft innerhalb eines Hauses nicht durch die Sonne erleuchtet wird, außer sie erblickt geradlinig die Sonne, und als Hindernis der Erhellung das bezeichnet wird, was die Geradlinigkeit dieser Beziehung verhindert, so kann die Seele nicht von Gott durch den Empfang der Gnade erleuchtet werden, außer sie ist geradewegs auf Gott gerichtet. Diese Hinwendung wird aber durch die Sünde verhindert, die die Seele auf das Gegenteil wendet, nämlich das, was dem Gebot Gottes widerspricht. Daher ist offensichtlich, daß die Sünde eine Art von Hindernis ist, die die Empfängnis der Gnade verhindert. Aber jedes Hindernis einer Vollkommenheit oder Form macht – zur gleichen Zeit, da es eine Form oder Vollkommenheit, welche auch immer, ausschließt – das Aufnehmende weniger geeignet oder fähig, die Form zu empfangen. Darüber hinaus verhindert es als eine Folge die Wirkungen der Form oder der Vollkommenheit im Träger, besonders dann, wenn dieses Hindernis etwas sein sollte, das dem Träger habituell oder wirklich anhaftet. Es ist nämlich klar, daß das, was von einer Bewegung bewegt wird, nicht zugleich von ihrem 154 Jes. 59, 2; Vulg. ›iniquitates vestrae …‹.
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Gegensatz bewegt wird, und es ist auch weniger geeignet oder fähig, daß es durch einen entgegengesetzten Beweger bewegt wird. Auf ähnliche Weise ist auch das, was warm ist, weniger dafür geeignet, kalt zu sein. Es nimmt den Eindruck der Kälte nämlich schwieriger auf. So entfernt die Sünde, die ein Hindernis der Gnade ist, daher die Gnade nicht nur, sondern macht die Seele untauglicher oder unfähiger dazu, die Gnade aufzunehmen. Somit verringert sie die Eignung oder Tauglichkeit zur Gnade. Da eine derartige Fähigkeit ein bestimmtes Gut ist, das in der Natur eines Dinges gründet, verringert die Sünde ein Gut der Natur. Da die Gnade die Natur sowohl hinsichtlich des Verstandes, als auch des Willens als auch in Hinsicht auf die unteren Seelenvermögen, die dem Verstand gehorchen – nämlich den zornmütigen und den begehrlichen –, vervollkommnet, sagt man, daß die Sünde die Natur verwundet, indem sie die Gnade derartige Hilfsmittel für die Natur entfernt. Daher werden Unwissenheit, Schlechtigkeit und dergleichen Dinge bestimmte Wunden der Natur genannt, die aus der Sünde hervorgehen. Zu 1. Das Gut einer Natur bleibt unversehrt, was den Träger des natürlichen Guts anbetrifft. Aber durch die Sünde wird seine Eignung zur Gnade verringert, wie ausgeführt worden ist.155 Diese ist ein bestimmtes natürliches Gut. Zu 2. Wenn auch eine Eigenschaft nicht den Wesensbestand ihres Trägers aufhebt, kann sie dennoch die Tauglichkeit für eine andere Eigenschaft aufheben, wie zum Beispiel die Hitze die Eigenschaft zur Kälte verringert. So verhält es sich in der Frage, wie ausgeführt worden ist.156 Zu 3. Nach Aristoteles im 3. Buch der Physik ist die Möglichkeit, gesund zu sein, und die Möglichkeit, krank zu sein, wegen der einen Substanz des Trägers, die in Möglichkeit zu beiden ist, im selben Träger.157 Dennoch unterscheiden sie sich dem Begriff nach, da der Begriff der Möglichkeit aus der Wirklichkeit genommen wird. So 155 Vgl. De malo q. 2 a. 11 c. 156 Vgl. De malo q. 2 a. 11 c. 157 Aristoteles, Phys. III, 2; 201 a 35 – b 4.
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verringert daher die Sünde die Eignung zur Gnade nicht, insofern diese in der Substanz der Seele verwurzelt ist – auf diese Weise ist nämlich ein und derselbe Träger gleichermaßen auf beide Gegensätze bezogen –, sondern insofern sie auf das Gegenteil als davon abweichend hingeordnet ist. Zu 4. Für eine sittliche Handlung wirken die Handlungen mehrerer Seelenvermögen zusammen, von denen manche die anderen bewegen, wie die Vernunft den Willen und der Wille die zornmütigen und begehrlichen Seelenvermögen bewegt. Das Bewegende prägt aber etwas im Bewegten ein. Daher ist klar, daß bei der sittlichen Handlung nicht nur ein Abgeben, sondern auch ein Aufnehmen stattfindet. Deswegen kann durch sittliche Handlungen etwas wie ein Habitus oder eine Veranlagung oder auch etwas diesen Entgegengesetztes im Handelnden verursacht werden. Zu 5. Das fünfte Argument gestehen wir zu. Zu 6. Eine natürliche Handlung besteht nur im Abgeben. Daher verursacht die natürliche Handlung nichts im Handelnden, besonders in einfachen Handelnden, die nicht aus Handelndem und Leidendem oder Bewegendem und Bewegtem zusammengesetzt sind. Denn bei denen, die auf diese Weise zusammengesetzt sind, scheint die Erklärung dieselbe zu sein, die bei den sittlichen Handlungen gilt. Zu 7. Von der Handlung wird nicht im eigentlichen, sondern in einem abgeleiteten Sinne behauptet, daß sie handelt, da sie es ist, durch die das Handelnde handelt. Zu 8. Nichts bewegt sich in derselben Hinsicht selbst, aber in unterschiedlichen Hinsichten gibt es nichts, was das verhindern würde, wie aus dem 8. Buch der Physik klar ist.158 Wie ausgeführt worden ist, verhält es sich so bei sittlichen Handlungen.159 Zu 9. Ein einzelnes Gut wirkt zerstörend auf ein anderes einzelnes Gut wegen seiner Gegensätzlichkeit, die es gegenüber diesem hat. So hindert nichts, daß das Übel, insofern es kraft eines einzelnen Guten handelt, auf ein anderes Gut zerstörend wirkt, wie die Kälte für die Wärme zerstörerisch ist. Auf diese Weise zerstört die 158 Aristoteles, Phys. VIII, 10; 257 a 33 ff. 159 Vgl. De malo q. 2 a. 11 ad 4.
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Sünde durch die maßlose und ungeordnete Hinwendung zu einem Gut das Gut der Gerechtigkeit und verringert folglich die Eignung zur Gerechtigkeit. Zu 10. Gut und schlecht können auf zwei Weisen betrachtet werden: einmal hinsichtlich der allgemeinen Natur des Guten und Schlechten. Auf diese Weise wird jegliches Übel jedem beliebigen Gut entgegengesetzt. Dementsprechend sagt Augustinus, daß die Regel der Logiker fehlgeht, indem das Übel im Guten ist. Auf andere Weise können sie hinsichtlich der besonderen Natur dieses oder jenes Guts oder Übels betrachtet werden. Auf diese Weise ist nicht jedes beliebige Übel jedem beliebigen Gut entgegengesetzt, sondern dieses Übel diesem Gut, wie die Blindheit dem Gesichtssinn und die Maßlosigkeit der Mäßigung. Auf diese Weise betrachtet ist das Übel niemals im ihm entgegengesetzten Gut, noch geht auf diese Weise betrachtet die Regel der Logiker fehl. Zu 11. Die Freiheit der Wahl erleidet bei den Verdammten keinen Verlust in bezug auf die Freiwilligkeit, die weder vergrößert noch verringert wird. Aber sie erleidet einen Verlust in bezug auf die Freiheit von Schuld und Elend. Zu 12. Die Fähigkeit zur Gnade bezieht sich vollständig auf die Seite der Natur, auch insofern sie auf das Gute in sittlichen Handlungen geordnet ist. Zu 13. Die Sünde ist keine reine Beraubung wie die Finsternis, sondern sie ist etwas Positives und konstituiert daher ein gewisses Hindernis der Gnade. Aber die bloße Beraubung der Gnade verhält sich wie die Finsternis. Das Hindernis aber verringert die Eignung, wie ausgeführt worden ist.160 Zu 14. Die Tauglichkeit zur Gnade ist nicht dasselbe wie die natürliche Gerechtigkeit, sondern sie ist die Ordnung eines natürlichen Guts zur Gnade. Dennoch ist es nicht wahr, daß die natürliche Gerechtigkeit nicht verringert werden kann. Die Rechtbeschaffenheit kann nämlich auf diese Weise verringert werden, daß das, was als Ganzes richtig und gerade war, in einem Teil verbogen wird. Auf diese Weise wird die natürliche Gerechtigkeit verringert, insofern sie in jemandem verbogen wird. Bei einem Herumhurenden wird 160 Vgl. De malo q. 2 a. 11 c.
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zum Beispiel die natürliche Gerechtigkeit verbogen, was die Richtung seiner sinnlichen Begierden anbelangt. In gleicher Weise verhält es sich in den anderen Fällen. In keinem wird jedoch die natürliche Gerechtigkeit vollständig zerstört. Zu 15. Das, was in etwas ist, wird entsprechend der Bewegung dessen bewegt, in dem es ist, sofern es das betrifft, in dem es von ihm abhängt, nicht sofern es etwas anderes betrifft. Die im Körper existierende Seele hängt nämlich, was den Ort angeht, vom Körper ab, nicht aber was das Sein oder die Größe betrifft. Daher wird die Seele in nebensächlicher Weise durch die Bewegung des Körpers dem Ort nach bewegt. Jedoch wird die Seele weder durch die Verringerung des Körpers verringert, noch durch die Zerstörung des Körpers zerstört. Das Übel der Schuld hat seine Größe aber nicht durch das Gut der Natur, sondern mehr durch die Entfernung vom Gut der Natur, wie auch die Krankheit ihre Größe durch die Entfernung von der natürlichen Verfassung des Körpers hat. Daher wird das Übel der Schuld nicht durch die Verringerung des Guten der Natur verringert, wie auch die Krankheit nicht durch die Schwächung der Natur verringert, sondern eher vergrößert wird. Zu 16. In dem Vermögen ist auch die Tauglichkeit oder Eignung zum Gut der Gnade eingeschlossen. Diese Tauglichkeit wird freilich verringert, wie ausgeführt worden ist,161 obzwar das Vermögen selbst nicht verkleinert wird.
12. Artik el Die zwölfte Frage lautet: Kann die Sünde das vollständige Gut einer Natur zerstören? 162 Das scheint der Fall zu sein, denn: 1. Alles Begrenzte kann durch kontinuierliche Verringerung vollständig aufgehoben werden. Aber das Gut einer Natur, das in einer Tauglichkeit besteht, ist etwas Begrenztes, da es geschaffen
161 Vgl. De malo q. 2 a. 11 c. 162 Paralleltexte: Sent. II, d. 34 a. 5. ScG III, 12. Sum. theol. I, q. 48 a. 4;
I–II, q. 85 a. 2.
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ist. Wenn es also durch die Sünde verringert wird, wie ausgeführt worden ist,163 kann es vollständig aufgehoben werden. 2. Das Gut einer Natur, das in der Befähigung zur Gnade besteht, scheint durch die Abwendung von der Gnade verringert oder vernichtet zu werden. Aber die Abkehr besitzt eine Größe und schreitet nicht ins Unendliche voran, da die Hinwendung, die ihm entgegengesetzt ist, eine Größe besitzt. Die Liebe im Menschen ist nämlich nicht unendlich. Also besitzt die Verringerung des natürlichen Gutes eine Größe. Das wäre nicht der Fall, wenn immer etwas vom Gut der Natur zurückbleiben würde, da das Gut einer Natur natürlicherweise immer durch die Sünde verringert wird. Also scheint es, daß das Gut durch die Sünde vollständig aufgehoben werden kann. 3. Die Beraubung hebt eine Befähigung vollständig auf. Denn der Blinde ist auf keine Weise fähig zu sehen. Aber die Schuld ist eine Art von Beraubung. Also scheint es, daß sie das Gut einer Natur, das in der Befähigung besteht, vollständig aufhebt. 4. Wie Johannes von Damaskus ausführt, ist die Sünde geistige Finsternis.164 Aber die Finsternis kann das Licht vollständig ausschließen. Also kann die Schuld das Gute vollständig aufheben. 5. Wie sich das Gut der Gnade zum Übel einer Natur verhält, so verhält sich das Übel der Schuld zum Gut einer Natur. Aber durch die Gnade kann das gesamte Übel der Natur ausgeschlossen werden, das heißt der Zunder der bösen Begehrlichkeit, der die Neigung zur Schuld ist, wie bei den Seeligen klar ist. Also kann durch das Übel der Schuld das ganze Gut der Natur, das in der Befähigung zur Gnade besteht, aufgehoben werden. 6. Dort kann die Fähigkeit zur Gnade nicht zurückbleiben, wo die Unmöglichkeit zur Empfängnis der Gnade herrscht. Aber der Zustand der Verdammnis, zu dem man durch die Schuld hingelangt, führt zur Unmöglichkeit der Empfängnis der Gnade. Also kann durch die Schuld das gesamte Gut der Natur aufgehoben werden, das in der Befähigung zur Gnade besteht.
163 Vgl. De malo q. 2 a. 11. 164 Vgl. Johannes Damascenus, De fide II, 4 (ed. Buytaert, 75).
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7. Dionysius führt im 4. Kapitel von Über die göttlichen Namen aus, daß das Übel der Mangel einer natürlichen Fähigkeit ist.165 Das scheint am meisten beim Übel der Schuld der Fall zu sein. Also scheint es, daß ein Gut der Natur, das in einer Befähigung besteht, durch die Sünde vollständig fehlt. 8. Was auch immer ein Ding außerhalb der Ordnung der Natur setzt, scheint ein Gut der Natur aufzuheben. Aber die Sünde setzt den Sünder außerhalb der Ordnung der Natur. Denn Johannes von Damaskus sagt, daß sich der sündigende Engel abwandte von dem, was der Natur gemäß ist, und sich dem zuwandte, was wider die Natur ist.166 Also hebt die Sünde das Gut der Natur auf. 9. Die Beraubung raubt nur das, was ein Ding besitzt. Aber die Gnade ist vor der Sünde nicht in den Engeln gewesen. Also hat die Sünde des Engels nicht das Gut der Gnade weggenommen. Es bleibt also übrig, daß sie das Gut der Natur geraubt hat. 10. Verringerung ist eine Art von Bewegung. Die Bewegung des Ganzen und des Teiles ist aber dieselbe, zum Beispiel eines Erdklumpens und der ganzen Erde, wie es im 4. Buch der Physik heißt.167 Wenn also etwas von einem Gut der Natur durch die Sünde verringert wird, kann das ganze Gut der Natur durch die Sünde zerstört werden. Dagegen spricht: So lange der Wille bestehen bleibt, so lange bleibt die Befähigung zum Guten bestehen. Aber die Sünde hebt nicht den Willen auf, vielmehr besteht sie im Willen. Also scheint es, daß die Sünde das ganze Gut einer Natur, das in der Befähigung besteht, nicht aufheben kann. Antwort: Es ist unmöglich, daß durch die Sünde das Gut der Natur, das die Geeignetheit oder Befähigung zur Gnade ist, vollständig aufgehoben wird. Aber eine Schwierigkeit scheint daraus zu entstehen: denn 165 Dionysius Areopagita, De div. nom. IV, 35 (Dion., 316). 166 Vgl. Johannes Damascenus, De fide II, 4 (ed. Buytaert, 75). 167 Richtig: Aristoteles, Phys. III, 9; 205 a 11–12.
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da jene Fähigkeit begrenzt ist, scheint es, sie könne durch kontinuierliche Verringerung vollständig aufgehoben werden. Einige wollten diese Schwierigkeit zwar vermeiden, indem sie eine Ähnlichkeit mit dem begrenzten Kontinuum annahmen, das ins Unendliche teilbar ist, wenn die Einteilung gemäß demselben Verhältnis geschieht. Wenn zum Beispiel von einer begrenzten Linie ihr dritter Teil abgezogen wird, und wiederum der dritte Teil des Übriggebliebenen und so weiter, endet die Teilung niemals, sondern kann unendlich weitergehen. Dies ist jedoch nicht auf das vorliegende Problem übertragbar. Denn da die Teilung der Linie entsprechend derselben Proportion voranschreitet, ist der zweite abgezogene Teil immer kleiner als der Teil, der zuerst abgezogen wurde; wie ein Drittel des Ganzen größer ist als das Drittel der zwei übrig gebliebenen Teile und so weiter. Es kann aber nicht gesagt werden, daß besagte Fähigkeit durch die zweite Sünde weniger verringert wird als durch die erste, sondern vielmehr entweder gleich oder sogar mehr, wenn die Sünde schwerer gewesen ist. Daher muß anders gesagt werden, daß die Befähigung auf zweifache Weise verringert werden kann, einerseits durch Entzug, andererseits durch Hinzusetzung des Gegensatzes. Durch Entzug nämlich, wie zum Beispiel ein Körper fähig ist zur Erwärmung durch die Wärme, die er besitzt. Daher wird durch die Verringerung der Wärme seine Fähigkeit zur Erwärmung verringert. Durch Hinzufügung des Gegensatzes hingegen, wie das erhitzte Wasser eine natürliche Eignung oder Fähigkeit hat, kalt zu werden. Um so mehr Hitze jedoch zugefügt worden ist, um so mehr wird die Fähigkeit kalt zu sein verringert. Daher hat die zweite Art der Verringerung, die durch Hinzufügung des Gegensatzes geschieht, ihren Ort mehr in den erleidenden und aufnehmenden Vermögen, die erste hingegen in den tätigen Vermögen, obwohl jede Art sich in gewissem Maß in beiden Arten von Vermögen finden kann. Wenn daher die Verringerung der Fähigkeit durch Entfernung geschieht, dann kann die Fähigkeit durch Aufhebung dessen, was die Fähigkeit verursachte, vollständig aufgehoben werden. Wenn aber die Fähigkeit durch Hinzusetzung des Gegensatzes verringert wird, dann ist zu erwägen, ob die anwachsende Hinzusetzung des Gegensatzes den Träger aufheben kann oder nicht. Wenn sie nämlich den Träger zerstören kann,
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kann sie die Fähigkeit vollständig vernichten. Zum Beispiel kann die Hitze im Wasser so erhöht werden, daß das Wasser verdampft. Auf diese Weise wird die Fähigkeit, die aus der Art des Wassers hervorgeht, vollständig aufgehoben. Wenn aber durch die Hinzusetzung des Gegensatzes der Träger nicht zerstört werden kann, um wie viel auch immer das Entgegengesetzte vervielfacht wird, wird zwar die Fähigkeit bei Anwachsen des hinzugesetzten Gegensatzes immer verkleinert. Jedoch wird sie, wegen der Beständigkeit des Trägers, in dem eine so beschaffene Fähigkeit verwurzelt ist, niemals vollständig aufgehoben. So würde auch die Hitze, wieviel auch immer sie zunehmen würde, die Eignung der ersten Materie zur Form des Wassers nicht aufheben, die unzerstörbar ist. Es ist aber klar, daß die Befähigung der vernünftigen Natur zur Gnade wie die eines aufnehmenden Vermögens ist, und daß eine derartige Fähigkeit aus der vernünftigen Natur als solcher hervorgeht. Es wurde aber oben ausgeführt, daß die Verringerung dieser Befähigung durch Hinzusetzung des Gegensatzes geschieht, indem sich nämlich das vernünftige Geschöpf von Gott durch die Hinwendung zum Entgegengesetzten abwendet.168 Wenn daher die vernünftige Natur unzerstörbar ist und – wie oft auch immer die Sünden vervielfältigt werden – nicht zu sein aufhört, folgt, daß die Befähigung zum Gut der Gnade durch die Hinzusetzung der Sünde immer verringert wird, jedoch so, daß sie niemals vollständig aufgehoben wird. So schreitet in unserer Darlegung die Verringerung durch Hinzusetzten des Gegensatzes unendlich voran, wie umgekehrt bei den Kontinua die Hinzusetzung durch den Gegensatz zur Teilung unendlich wird, solange wie das, was von einer Linie abgezogen wird, einer anderen hinzugefügt wird. Zu 1. Dieses Argument würde gelten, wenn das Gut der Natur durch Entfernung verringert würde, wie bereits ausgeführt worden ist.169 Zu 2. Hinwendung und Abwendung haben eine bestimmte Grenze, die sie wirklich erreichen, da die Hinwendung oder Ab168 Vgl. De malo q. 2 a. 12 c. 169 Vgl. De malo q. 2 a. 12 c.
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wendung nicht in wirklicher Weise unendlich ist. Nichtsdestotrotz haben sie keine bestimmte Größe, insofern es das betrifft, was in Möglichkeit ist. Denn sowohl Verdienst als auch Unverdienst können unendlich vermehrt werden. Zu 3. Die Beraubung, die das Vermögen vernichtet, vernichtet die Fähigkeit vollständig, wie die Blindheit, die das Sehvermögen vernichtet. Eine Ausnahme liegt vielleicht vor, insofern die Fähigkeit oder Geeignetheit in der Wurzel des Vermögens bleibt, das heißt im Wesen der Seele. Die Beraubung, die die Wirklichkeit aufhebt, vernichtet jedoch nicht die Fähigkeit. Eine derartige Beraubung ist die Beraubung der Gnade, wie auch die Finsternis, die von der Luft das Licht raubt. Die Sünde ist aber nicht die eigentliche Beraubung der Gnade, sondern ein Hindernis für die Gnade, durch das die Gnade geraubt wird, wie oben ausgeführt worden ist.170 Zu 4. Die Finsternis schließt das ihr entgegengesetzte Licht aus, aber nicht die Eignung für das Licht, die zur Luft gehört. Auf ähnliche Weise wird durch die Sünde die Gnade ausgeschlossen, nicht aber die Befähigung zur Gnade. Zu 5. Die Neigung zum Übel, die der Zunder der bösen Begehrlichkeit genannt wird, folgt nicht aus der Natur, wie es die Befähigung zum Guten tut, sondern folgt auf die Zerstörung der Natur, die aus der Schuld hervorgeht. Daher kann der Zunder der bösen Begehrlichkeit durch die Gnade vollständig aufgehoben werden, nicht aber das Gut der Natur durch die Schuld. Zu 6. Die Unmöglichkeit zur Gnade, die bei den Verdammten besteht, kommt nicht durch die vollständige Entfernung der natürlichen Befähigung zum Guten zustande, sondern durch das Verharren des Willens im Bösen und durch die Unbeweglichkeit des göttlichen Urteils, daß ihnen die Gnade für immer vorenthalten wird. Zu 7. Der Mangel einer natürlichen Fähigkeit ist nicht so zu verstehen, daß die gesamte natürliche Fähigkeit mangelt, sondern daß es an seiner Vollkommenheit mangelt. Zu 8. Eine ähnliche Erwiderung muß man auf das achte Argument geben, daß nämlich die Sünde jemanden nicht vollständig
170 Vgl. De malo q. 2 a. 11.
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außerhalb der Ordnung der Natur, sondern außerhalb ihrer Vollkommenheit setzt. Zu 9. Die Beraubung nimmt nicht nur das weg, was ist, sondern auch das, was etwas natürlicherweise haben soll. Es kann nämlich jemand einer Sache beraubt sein, die er niemals hatte, solange er es von Natur aus hätte haben sollen. Dennoch ist es nicht wahr, daß die Engel zu Beginn ihrer Schöpfung die Gnade nicht besessen hätten. Denn Gott gestaltete gleichzeitig ihre Natur und spendete ihnen Gnade, wie Augustinus im 12. Buch von Die Bürgerschaft Gottes sagt.171 Zu 10. Dieses Argument würde gelten, wenn diese Verringerung durch Entfernung eines Teiles vor sich gehen würde.
171 Augustinus, De civ. Dei XII, 9 (CCSL 48, 364).
III. ÜBER DIE URSACHE DER SÜNDE
Die hier behandelten Fragen lauten: 1. Ist Gott die Ursache der Sünde? 2. Kommt die Handlung der Sünde von Gott? 3. Ist der Teufel die Ursache der Sünde? 4. Kann der Teufel den Menschen durch innere Überredung zur Sünde verführen? 5. Werden alle Sünden vom Teufel eingegeben? 6. Kann Unwissenheit die Ursache der Sünde sein? 7. Ist die Unwissenheit eine Sünde? 8. Kann Unwissenheit eine Sünde entschuldigen oder verringern? 9. Kann jemand, der im Besitz des Wissens ist, aus Schwäche sündigen? 10. Werden die Sünden, die aus Schwäche begangen werden, dem Menschen als eine tödliche Schuld zur Last gelegt? 11. Erleichtert oder erschwert Schwäche die Sünde? 12. Kann jemand aus Schlechtigkeit oder in vollem Bewußtsein eine Sünde begehen? 13. Begeht jener, der aus Schlechtigkeit sündigt, eine schwerere Sünde als derjenige, der aus Schwäche sündigt? 14. Ist jede aus Schlechtigkeit begangene Sünde eine Sünde wider den Heiligen Geist? 15. Kann eine Sünde wider den Heiligen Geist vergeben werden?
1. Artik el Die erste Frage lautet, ist Gott die Ursache der Sünde? 1 Das scheint der Fall zu sein, denn: 1 Paralleltexte: Sent. II, d. 32 q. 2 a. 1; d. 37 q. 2 a. 1. Sum. theol. I, q. 49 a. 2; q. 19 a. 9; I–II, q. 79 a. 1.
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1. Der Apostel sagt im Römerbrief 1, 28: »Gott überließ sie einer verworfenen Gesinnung, so daß sie taten, was sich nicht geziemt.«2 Darüber sagt die Glosse des Augustinus, die dem Buch Über die Gnade und den freien Willen entnommen ist: »Es ist offensichtlich, daß Gott in den Herzen der Menschen tätig ist, indem er ihre Willen zu dem hinneigt, was auch immer er will, ob zum Guten oder zum Schlechten.«3 Aber die Neigung des Willens zum Schlechten ist eine Sünde. Also ist Gott die Ursache der Sünde. 2. Dagegen wurde eingewandt, daß es von der Neigung des Willens zum Übel heißt, sie komme von Gott, insofern sie eine Strafe ist. Daher an derselben Stelle vom Gericht Gottes. – Dagegen spricht: Dasselbe kann nicht in derselben Hinsicht Strafe und Schuld sein, wie oben ausgeführt worden ist.4 Denn die Strafe schließt gemäß ihrer Natur den Willen aus, die Schuld ist aber ihrer Natur entsprechend willentlich. Wenn Gott also den Willen zum Schlechten neigt, scheint es, daß er auch selbst die Ursache der Schuld ist, insofern sie Schuld ist. 3. Wie die Schuld dem Gut der Gnade entgegengesetzt ist, so die Strafe dem Gut der Natur. Aber Gott wird dadurch, daß er die Ursache der Natur ist, nicht daran gehindert, die Ursache der Strafe zu sein. Also wird er auch dadurch, daß er die Ursache der Gnade ist, nicht daran gehindert, die Ursache der Schuld zu sein. 4. Was auch immer die Ursache einer Ursache ist, ist die Ursache ihrer Wirkung. Aber die Willensfreiheit, deren Ursache Gott ist, ist die Ursache der Sünde. Also ist Gott die Ursache der Sünde. 5. Das, zu dem ein von Gott verliehenes Vermögen neigt, ist von Gott verursacht. Aber manche von Gott verliehene Vermögen neigen zur Sünde, wie das zornmütige zum Mord und das begehrliche zum Ehebruch. Also ist Gott die Ursache der Sünde. 6. Wer auch immer seinen eigenen Willen oder den eines anderen zum Übel lenkt, ist die Ursache der Sünde. Zum Beispiel wenn ein Mensch beim Spenden eines Almosens seinen Willen dahin lenkt, 2 Röm. 1, 28. 3 Petrus Lombardus, Glossa in Rom. 1, 24 (PL 191, 1332 A) aus: Augu-
stinus, De grat. et lib. arb. 21 (PL 44, 909). 4 Vgl. De malo q. 1 a. 4 und 5.
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eitlen Ruhm anzustreben. Aber Gott lenkt den Willen des Menschen zum Schlechten, wie bereits ausgeführt worden ist.5 Also ist er die Ursache der Sünde. 7. Dionysius sagt im 4. Kapitel von Über die göttlichen Namen, daß die Ursachen der Übel bei Gott sind.6 Aber sie sind nicht umsonst in Gott. Also ist Gott die Ursache der Übel, zu denen die Sünden gezählt werden. 8. Augustinus sagt im Buch Über die Natur und die Gnade, daß die Gnade in der Seele wie ein Licht ist, durch das der Mensch das Gute tut und ohne das er das Gute nicht tun kann.7 So ist also die Gnade die Ursache des Verdienstes. So ist umgekehrt der Entzug der Gnade die Ursache der Sünde. Aber es ist Gott, der die Gnade entzieht. Also ist Gott die Ursache der Sünde. 9. Augustinus sagt im 2. Buch der Bekenntnisse: »Deiner Gnade schreibe ich zu, was auch immer für Übel ich nicht getan habe.«8 Es wäre aber nicht der Gnade zuzuschreiben, daß ein Mensch die Sünden nicht getan tat, wenn er trotz Entbehrung der Gnade fähig wäre, nicht zu sündigen. Also ist die Sünde nicht die Ursache dafür, daß jemand der Gnade beraubt wird, sondern die Beraubung der Gnade ist eher die Ursache für das Sündigen. So folgt wie vorher, daß Gott die Ursache des Sündigens ist. 10. Jedes Lob eines Geschöpfes sollte vorzüglich Gott zugeschrieben werden. Aber im Lob des gerechten Mannes heißt es im Buch Jesus Sirach 31, 10: »Er konnte sich verfehlen und verfehlte sich nicht.«9 Viel mehr trifft dies also noch auf Gott zu. Gott kann also sündigen und folglich die Ursache der Sünde sein. 11. Aristoteles sagt im 4. Kapitel der Topik: »Sogar Gott und der gute Mensch können Unrecht begehen.«10 Dies heißt aber sündigen. Also kann Gott sündigen.
5 6 7 8 9 10
Vgl. De malo q. 3 a. 1 arg. 1. Dionysius Areopagita, De div. nom. IV, 30 (Dion., 299). Augustinus, De nat. et grat. 26 (CSEL 60, 255). Augustinus, Confess. II, 7 (CCSL 27, 25). Sir. 31, 10. Aristoteles, Top. IV, 5; 126 a 34–35.
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12. Das ist eine gültige Schlußfolgerung: »Sokrates kann laufen, wenn er will. Also einfach: er kann laufen.« Aber das ist wahr: »Gott kann sündigen, wenn er will«. Denn allein schon der Wunsch zu sündigen ist sündigen. Also einfach: Gott kann sündigen. Somit folgt dasselbe wie vorher. 13. Wer die Gelegenheit zu einer Schuld gibt, scheint die Schuld verursacht zu haben. Aber Gott hat durch das Gebot, das er gegeben hat, dem Menschen die Gelegenheit zur Sünde gegeben, wie es im Römerbrief 7, 7–8 heißt.11 Also ist Gott die Ursache der Sünde. 14. Da das Übel durch das Gute verursacht wird, so scheint es, daß das größte Übel vom höchsten Gut verursacht wird. Aber das größte Übel ist die Schuld, die einen guten Menschen oder Engel schlecht macht. Also wird sie vom höchsten Gut verursacht, und das ist Gott. 15. Dieselbe Person darf die Herrschaft verleihen und entziehen. Aber Gott darf der Seele die Herrschaft über den Körper verleihen, also ist es auch sein Recht, sie zu entziehen. Die Unterwerfung des Fleisches durch den Geist wird aber nur durch die Sünde entzogen. Also ist Gott die Ursache der Sünde. 16. Was die Ursache einer Natur ist, ist die Ursache der eigentümlichen und natürlichen Bewegung derselben. Aber Gott ist die Ursache der Natur des Willens. Die Abwendung ist aber die eigentümliche und natürliche Bewegung des Willens, genau wie es die eigentümliche und natürliche Bewegung des Steins ist, abwärts zu fallen, wie Augustinus im Buch Über die Willensfreiheit sagt.12 Also ist Gott die Ursache der Abwendung. Somit, da die Natur der Schuld in der Abwendung besteht, scheint Gott die Ursache der Schuld zu sein. 17. Wer eine Sünde vorschreibt, ist die Ursache der Sünde. Aber es findet sich, daß Gott die Sünde vorschreibt. Denn wie es im 3. Buch der Könige 22, 22 heißt: Als der Lügengeist gesagt hatte: »Ich werde hingehen und zum Lügengeist werden im Mund der Propheten«, antwortete der Herr: »Geh hin und tu so!«13. Im Buch Hosea 1, 2 heißt es außerdem, daß der Herr Hosea vorschrieb, ein buhlerisches 11 Röm. 7, 7–8. 12 Augustinus, De lib. arb. III, 1 (CCSL 29, 275). 13 3 Kön. 22, 22.
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Weib zu nehmen und von ihr buhlerische Kinder zu bekommen.14 Also ist Gott die Ursache der Sünde. 18. Handeln und handeln können gehören demselben zu. Denn wie Aristoteles sagt, gehört die Handlung zu dem, dem das Vermögen zugehört.15 Aber Gott ist Ursache dessen, was das Vermögen zu sündigen besitzt. Also ist er die Ursache dessen, was sündigen ist. Dagegen spricht: 1. Augustinus sagt in seiner Schrift Über 83 verschiedene Fragen, daß der Mensch nicht durch Gott als seinen Urheber schlechter wird.16 Aber durch die Sünde wird der Mensch schlechter. Also ist Gott nicht der Urheber der Sünde. 2. Fulgentius von Rupe sagt, daß Gott nicht der Urheber der Sache ist, deren Rächer er ist.17 Aber Gott ist der Rächer der Sünde. Also ist er nicht der Urheber der Sünde. 3. Gott ist nur die Ursache dessen, was er liebt. Denn dies steht im Buch der Weisheit 11, 25: »Denn du liebst alles, was da ist, und verabscheust nichts von dem, was du gemacht hast.«18 Aber gemäß dem Buch der Weisheit 14, 9 haßt er die Sünde: »Denn Gott sind in gleicher Weise der Gottlose und sein gottloses Werk verhaßt.«19 Also ist Gott nicht der Urheber der Sünde. Antwort: Jemand ist auf zwei Wegen die Ursache der Sünde: auf eine Weise, da er selbst sündigt, auf andere Weise, da er das Sündigen von jemand anderem verursacht. Keines davon kann Gott zukommen. Denn daß Gott nicht sündigen kann, ist sowohl aus der allgemeinen Natur der Sünde als auch aus der besonderen Natur der sittlichen Sünde, die Schuld genannt wird, offensichtlich. Denn die allgemein so bezeichnete Sünde, wie sie sich in den Dingen der Natur 14 Hos. 1, 2. 15 Aristoteles, De somno 1; 454 a 8. 16 Augustinus, De diversis quaestionibus LXXXIII, q. 3 und 4 (CCSL
44 A, 12 und 13). 17 Fulgentius von Rupe, Ad Monimum I, 19 (CCSL 91, 19–20). 18 Weish. 11, 25. 19 Weish. 14, 9; Vulg. ›similiter autem …‹.
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und der Kunst findet, geht daraus hervor, daß jemand beim Handeln nicht zu dem Ziel gelangt, wegen dem er handelt. Das passiert wegen dem Mangel des tätigen Prinzips. Wenn zum Beispiel ein Grammatiker nicht richtig schreibt, geschieht dies wegen seines Mangels an Kunstfertigkeit, jedenfalls wenn er beabsichtigte, korrekt zu schreiben. Daß die Natur bei der Gestaltung eines Lebewesens fehlt, wie es bei den Geburten von Mißgeburten passiert, geschieht wegen des Ausfalls des tätigen Vermögens im Samen. Aber die Sünde, so wie sie eigentlich bei sittlichen Dingen genannt wird und die Natur der Schuld hat, geht daraus hervor, daß der Wille deshalb nicht sein angemessenes Ziel erlangt, weil er ein unangemessenes Ziel erstrebt. In Gott kann aber weder das tätige Prinzip mangelhaft sein, da seine Kraft unendlich ist, noch kann sein Wille sein angemessenes Ziel nicht erlangen. Denn sein Wille, der auch seine Natur ist, ist selbst das höchste Gut, das das letzte Ziel und die erste Regel für jeden Willen ist. Daher ist sein Wille natürlicherweise dem höchsten Gut innerlich und es kann ihm nicht daran mangeln. Genauso kann auch keinem Ding sein natürliches Streben fehlen, sein natürliches Gut zu ersehnen. So kann Gott nicht in der Weise die Ursache der Sünde sein, daß er selbst sündigt. Auf ähnliche Weise kann er aber auch nicht in der Weise die Ursache der Sünde sein, daß er das Sündigen anderer verursacht. Denn die Sünde, so wie wir jetzt von ihr sprechen, besteht in der Abwendung des geschaffenen Willens vom letzten Ziel. Es ist aber unmöglich, daß Gott den Willen von jemandem dazu bringen sollte, sich vom letzten Ziel abzuwenden. Denn er selbst ist das letzte Ziel. Was sich nämlich bei allen geschaffenen Tätigen findet, das muß notwendig durch die Nachahmung des ersten Tätigen besessen werden. Dieser gießt seine Ähnlichkeit über alle Dinge aus, insofern sie sie auffassen können, wie Dionysius im 9. Kapitel von Über die göttlichen Namen sagt.20 Aber jedes geschaffene Tätige wird wegen seiner eigenen Tätigkeit befunden, andere Dinge auf irgendeine Weise an sich anzuziehen, indem er sie mit sich ähnlich macht. Dies geschieht entweder durch die Ähnlichkeit der Form, wie wenn die Hitze etwas erhitzt, oder durch die Umwendung anderer zu seinem Ziel, wie der 20 Dionysius Areopagita, De div. nom. IX, 6 (Dion., 467).
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Mensch durch eine Vorschrift andere zu dem von ihm angestrebten Ziel bewegt. Dies ist also Gott angemessen, daß er alles zu sich selbst hinwendet. Daraus folgt, daß er nichts von sich abwendet. Er selbst ist aber das höchste Gut. Daher kann er nicht die Ursache für die Abwendung des Willens vom höchsten Gut sein, in der die Natur der Schuld besteht, so wie wir jetzt von Schuld sprechen. Es ist daher unmöglich, daß Gott die Ursache der Sünde ist. Zu 1. Von Gott sagt man gewiß nicht, daß er manche einer verworfenen Gesinnung überläßt oder ihren Willen zur Sünde neigt, indem er handelt oder sie bewegt, sondern eher indem er seine Unterstützung entzieht oder indem er sie nicht hindert. Genauso sagt man zum Beispiel von jemandem, der einem Fallenden nicht die Hand gibt, daß er die Ursache für den Fall von jenem ist. Aber es geschieht auf Grund seines gerechten Urteils, daß Gott seine Hilfe auf manche nicht so erstreckt, so daß sie nicht fallen werden. Zu 2. Die Antwort auf das zweite Argument ist aus dem Vorangehenden offensichtlich. Zu 3. Die Strafe ist einem bestimmten besonderen Gut entgegengesetzt. Es widerspricht aber nicht der Natur des höchsten Gutes, ein besonderes Gut zu entfernen. Denn ein besonderes Gut wird durch die Setzung eines anderen Guten entfernt, das manchmal besser ist. Zum Beispiel wird die Form des Wassers durch die Setzung der Form des Feuers entfernt. Ebenso wird auf ähnliche Weise durch die Strafe ein besonderes Gut der Natur durch die Setzung eines besseren Gutes entfernt – durch die Tatsache nämlich, daß Gott eine Ordnung der Gerechtigkeit unter den Dingen festgesetzt hat. Aber das Übel der Schuld tritt als eine Abkehr vom höchsten Gut auf, von dem das höchste Gut sich nicht abwenden kann. Daher kann Gott die Ursache der Strafe sein, aber nicht die Ursache der Schuld. Zu 4. Die Wirkung eines Verursachten, insofern es verursacht ist, wird auf die Ursache zurückgeführt. Wenn aber etwas aus einem Verursachten nicht hervorgeht, insofern es verursacht ist, muß dies nicht auf die Ursache zurückgeführt werden. So wird zum Beispiel die Bewegung des Beins durch das Bewegungsvermögen des Lebewesens verursacht, das das Bein bewegt. Aber das Hinken wird nicht durch das Bein verursacht, insofern es vom Bewegungsver-
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mögen bewegt wird, sondern insofern es an der Aufnahme der Einströmung des Bewegungsvermögens durch seinen Ausfall mangelt. Daher wird das Hinken nicht vom Bewegungsvermögen verursacht. Auf diese Weise wird daher die Sünde vom freien Willen verursacht, insofern es ihm an Gott mangelt. Daher ist es nicht notwendig, daß Gott die Ursache der Sünde ist, obzwar er die Ursache des freien Willens ist. Zu 5. Die Sünden gehen nicht aus der Neigung des zornmütigen Vermögens oder des Begehrungsvermögens hervor, so wie sie von Gott eingerichtet sind, sondern insofern es ihnen an der Ordnung seiner Einrichtung mangelt. Sie sind nämlich so im Menschen eingerichtet worden, daß sie der Vernunft unterliegen würden. Wenn sie sich daher entgegen der Ordnung der Vernunft zur Sünde neigen, kommt dies nicht von Gott. Zu 6. Jenes Argument ist nicht gültig. Denn Gott lenkt den Willen nicht durch Handeln oder Bewegen zum Übel, sondern dadurch, daß er die Gnade nicht setzt, wie ausgeführt worden ist.21 Zu 7. Die Ursachen der Übel sind besondere Güter, die mangelhaft sein können. Derartige besondere Güter sind aber in Gott wie die Wirkungen in der Ursache, insofern sie gut sind. Nur in diesem Ausmaß sagt man von den Ursachen der Übel, daß sie in Gott sind, nicht weil er selbst die Ursache der Übel ist. Zu 8. Gott teilt sich selbst allen Dingen für ihre Teilnahme mit, soweit diese ihn fassen können. Daher kommt die Tatsache, daß es einer Sache an der Teilhabe der Güte selbst mangelt, davon, daß sich in dieser ein Hindernis für die Teilhabe am Göttlichen findet. Daher liegt die Ursache nicht auf seiten Gottes, daß jemandem die Gnade nicht verliehen wird. Vielmehr kommt es daher, daß eben die Person, der die Gnade nicht mitgeteilt wird, ein Hindernis für die Gnade darbietet, insofern sie sich vom Licht abwendet, das sich nicht selbst abwendet, wie Dionysius sagt.22 Zu 9. Auf eine Weise ist vom Menschen entsprechend des Zustandes der ursprünglich geschaffenen Natur zu sprechen, auf eine andere Weise entsprechend des Zustandes der verdorbenen Natur. 21 Vgl. De malo q. 3 a. 1 c. 22 Vgl. Dionysius Areopagita, De div. nom. IV, 23 (Dion., 281).
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Denn entsprechend des Zustandes der ursprünglich geschaffenen Natur hatte der Mensch nichts, was ihn zum Übel antrieb, obzwar die Güte seiner Natur nicht ausreichte, die Herrlichkeit zu erlangen. Daher brauchte er die Hilfe der Gnade, um Verdienst zu erwerben, nicht aber um die Sünden zu vermeiden. Denn durch das, was er der Natur nach empfangen hatte, konnte er standhaft bleiben. Aber im Zustand der gefallenen Natur hat er einen Hang zum Schlechten. Daher benötigt er die Hilfe der Gnade, damit er nicht fällt. Bezüglich dieses Zustands weist Augustinus jegliches Übel, das er nicht getan hat, der Gnade zu. Aber dieser Zustand geht aus der vorangegangenen Schuld hervor. Zu 10. Etwas kann für ein niedrigeres Wesen löblich sein, das zum Lob des Höheren nicht hinreicht. Für einen Hund ist es zum Beispiel löblich, wutschnaubend zu sein, nicht aber für einen Menschen, wie Dionysius Areopagita feststellt.23 Auf ähnliche Weise gereicht es dem Menschen zum Lob, nicht zu übertreten, wenn er übertreten kann, aber es gereicht nicht zum Lob Gottes. Zu 11. Jene Aussage des Aristoteles versteht sich nicht von ihm, der durch seine Natur Gott ist, sondern von denen, die entweder entsprechend der Einbildung Götter genannt werden – wie die heidnischen Götter – oder entsprechend der Teilhabe. Ein Beispiel hierfür wären über das menschliche Maß hinaus tugendhafte Menschen, denen im 7. Buch der Nikomachischen Ethik heroische oder göttliche Tugend zugeschrieben wird.24 Nach manchen ist es möglich zu behaupten, daß von Gott gesagt werden kann, Gott könne Schlechtes tun. Denn er kann, wenn er will. Zu 12. Der Vordersatz jenes Bedingungsverhältnisses: »Sokrates kann laufen, wenn er will«, ist möglich. Daher folgt die Möglichkeit der Folgerung. Aber der Vordersatz in diesem Bedingungsverhältnis: »Gott kann sündigen, wenn er will«, ist unmöglich. Gott kann nämlich nicht das Schlechte wollen. Daher besteht keine Ähnlichkeit. Zu 13. Es gibt zwei Weisen von Gelegenheit, nämlich gegeben und genommen. Aber die Vorschrift eine Gelegenheit zur 23 Dionysius Areopagita, De div. nom. IV, 25 (Dion., 286). 24 Aristoteles, Eth. Nic. VII, 1; 1145 a 19–30.
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Sünde, jedoch nicht gegeben vom Vorschreibenden, sondern angenommen von dem, dem die Vorschrift gegeben worden ist. Daher sagt der Apostel im Römerbrief 7, 8 bezeichnenderweise: »Nachdem aber die Sünde durch das Gesetz einen Anlaß empfangen hatte« etc.25 Denn es wird gesagt, daß eine Gelegenheit zur Sünde gegeben ist, wenn etwas weniger Gerechtes getan wird, wodurch durch das Beispiel andere zur Sünde verleitet werden. Wenn aber jemand ein gerechtes Werk tut und jemand anderes dadurch zur Sünde verleitet wird, wird die Gelegenheit nicht gegeben, sondern genommen. So war es zum Beispiel, als die Pharisäer durch die Lehre Christi aufgebracht wurden. Aber der Auftrag war heilig und gerecht, wie es im Römerbrief 7, 12 heißt.26 Daher hat Gott durch seinen Auftrag keine Gelegenheit zur Sünde gegeben, sondern der Mensch hat sie genommen. Zu 14. Wenn das Gute als Gutes die Ursache des Übels wäre, würde folgen, daß das höchste Gut die Ursache für das größte Übel ist. Aber ein Gut ist die Ursache für ein Übel, insofern es mangelhaft ist. Daher ist es um so weniger die Ursache des Übels, je mehr es ein Gut ist. Zu 15. Die Aufhebung der Herrschaft des Geistes über das Fleisch widerspricht der natürlichen Ordnung der Gerechtigkeit. Daher kann Gott, der die Gerechtigkeit selbst ist, dies nicht zukommen. Zu 16. Die Bewegung der Abwendung wird dem Willen eigentümlich und natürlich genannt in Hinsicht auf den Zustand der verdorbenen Natur, nicht aber in Hinsicht auf den Zustand der Natur, wie er ursprünglich geschaffen worden ist. Zu 17. Die Antwort: »Gehe hin und tu so!« darf nicht als Befehl verstanden werden, sondern als Erlaubnis. So verhält es sich auch bei dem, was zu Judas gesagt wird: »Was du tust, tue schnell!«.27 Man spricht dann in der Bedeutung, in der Gottes Erlaubnis sein Wille genannt wird. Daß aber zu Hosea gesagt wird: »Nimm dir ein buhlerisches Weib!«28 etc., läßt sich als Vorschrift verstehen. Aber die 25 26 27 28
Röm. 7, 8. Röm 7, 12. Joh. 13, 27. Hos. 1, 2.
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göttliche Vorschrift macht, daß das keine Sünde ist, was ansonsten Sünde wäre. Wie Bernhard nämlich sagt, kann Gott von den Vorschriften der zweiten Tafel, durch die unmittelbar des Menschen Verhältnis zu seinem Nächsten geregelt wird, dispensieren.29 Denn das Gut des Nächsten ist ein bestimmtes einzelnes Gut. Er kann aber nicht von den Vorschriften der ersten Tafel dispensieren, durch die das Verhältnis des Menschen zu Gott geregelt wird, der andere nicht von sich selbst abwenden kann. er kann sich nicht selbst verneinen, wie im 2. Timotheusbrief 2, 13 festgestellt wird.30 Obwohl manche behaupten, daß diese angeführten Dinge, die Hosea betreffen, so zu verstehen sind, daß sie in einer prophetischen Vision aufgetreten sind. Zu 18. Durch diese Aussage des Aristoteles läßt sich einsehen, daß das, was handeln kann und was handelt, dasselbe ist, nicht aber daß alles, was die Ursache eines Vermögens ist, auch die Ursache seiner Handlung ist.
2. Artik el Die zweite Frage lautet: Kommt die Handlung der Sünde von Gott? 31 Das scheint nicht der Fall zu sein, denn: 1. Der Mensch wird nur deshalb die Ursache der Sünde genannt, weil er die Ursache der Handlung der Sünde ist. Denn niemand macht das Schlechte zu seinem bestimmten Gegenstand, wenn er eine Handlung ausführt, wie Dionysius im 4. Kapitel von Über die göttlichen Namen sagt.32 Aber Gott ist nicht der Urheber der Sünde, wie oben ausgeführt worden ist.33 2. Was auch immer die Ursache einer Sache ist, ist die Ursache dessen, was zu ihr auf Grund ihrer Art gehört. Wenn zum Beispiel 29 Bernhard von Clairvaux, De praec. et dispens. 3 (ed. Leclercq III, 257–258). 30 2 Tim. 2, 13. 31 Paralleltexte: Sent. II, d. 37 q. 2 a. 2. Sum. theol. I–II, q. 79 a. 2. 32 Dionysius Areopagita, De div. nom. IV, 19 (Dion., 236) und IV, 31 (Dion., 304). 33 Vgl. De malo q. 3 a. 1.
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jemand die Ursache von Sokrates ist, folgt, daß er die Ursache des Menschen ist. Aber es gibt bestimmte Handlungen, die auf Grund ihrer Art Sünden sind. Wenn daher die Handlung der Sünde von Gott kommt, folgt, daß die Sünde von Gott kommt. 3. Alles, was von Gott stammt, ist eine Sache. Aber die Handlung der Sünde ist keine Sache, wie Augustinus im Buch Über die Vollkommenheit der Gerechtigkeit des Menschen erklärt.34 Also stammt die Handlung der Sünde nicht von Gott. 4. Die Handlung der Sünde ist eine Handlung des freien Willens, der deswegen frei genannt wird, weil er sich selbst zur Handlung bewegt. Aber all das, dessen Handlung durch etwas anderes verursacht wird, wird von diesem anderen bewegt. Somit wird er weder von sich selbst bewegt, noch ist er frei. Die Handlung der Sünde stammt daher nicht von Gott. Dagegen spricht: Augustinus sagt im 3. Buch von Über die Dreifaltigkeit, daß der Wille Gottes die Ursache aller Arten und Bewegungen ist.35 Aber die Handlung des Willens ist eine Art von Bewegung des freien Willens. Also stammt die Handlung der Sünde von Gott. Antwort: Bei den älteren Autoren gab es bezüglich dieser Frage drei Meinungen. Manche sagten in vergangenen Zeiten, daß die Handlung der Sünde nicht von Gott stammt, da sie ihre Aufmerksamkeit auf die Mißgestalt der Sünde gerichtet hatten, die nicht von Gott kommt. Manche behaupteten hingegen, daß die Handlung der Sünde von Gott stammt, da sie ihre Aufmerksamkeit auf das Wesen der Handlung gerichtet hatten. Von diesem muß aus zwei Gründen angenommen werden, daß es von Gott stammt. Erstens nämlich aus einem allgemeinen Grund. Denn da Gott selbst durch sein Wesen seiend ist, weil sein Wesen sein Sein ist, ist es notwendig, daß alles, was auf irgendeine Art ist, aus ihm selbst abgeleitet wird. Es gibt nämlich nichts anderes, das sein eigenes Sein ist, sondern alle werden durch 34 Augustinus, De perf. iust. hom. 2 (CSEL 42, 5). 35 Augustinus, De Trin. III, 4 (CCSL 50, 136).
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eine Art von Teilhabe Seiende genannt. Alles aber, was durch Teilhabe auf eine Weise bezeichnet wird, wird von dem abgeleitet, das so wesentlich ist, wie alle feurigen Dinge von dem abgeleitet werden, das wesentlich Feuer ist. Es ist aber klar, daß die Handlung der Sünde eine Art Seiendes ist und in eine Kategorie des Seienden gehört. Daher ist es notwendig zu sagen, daß sie von Gott stammt. Zweitens leuchtet dasselbe jedoch aus einem besonderen Grund ein. Es ist nämlich notwendig, daß alle Bewegungen der zweiten Ursachen von einem ersten Bewegenden verursacht werden, genauso wie jede Bewegung der unteren Körper von der Bewegung des Himmels verursacht wird. Gott ist aber das erste Bewegende hinsichtlich aller Bewegungen – sowohl geistiger als auch körperlicher –, wie der Himmelskörper der Ursprung aller Bewegungen der unteren Körper ist. Da die Handlung der Sünde eine Art Bewegung des freien Willens ist, muß also behauptet werden, daß die Handlung der Sünde, insofern sie eine Handlung ist, von Gott stammt. Aber dennoch muß man seine Aufmerksamkeit darauf richten, daß die Bewegung des ersten Bewegers nicht von allen beweglichen Dingen gleichförmig aufgenommen wird, sondern in jedem einzelnen entsprechend seiner eigentümlichen Weise. Die Bewegung der sich nicht selbst bewegenden unbelebten Körper wird nämlich auf eine andere Weise von der Bewegung des Himmels verursacht als die Bewegung der Lebewesen, die sich selbst bewegen. Wiederum folgt das Sprießen einer Pflanze, in der das Fortpflanzungsvermögen nicht mangelhaft ist, sondern einen vollkommenen Sprößling erzeugt, auf eine andere Weise aus der Bewegung des Himmels als das Sprießen einer Pflanze, deren Fortpflanzungsvermögen schadhaft ist und einen unbrauchbaren Sprößling hervorbringt. Wenn etwas nämlich in der geeigneten Verfassung zur Aufnahme der Bewegung des ersten Bewegers ist, folgt entsprechend der Absicht des ersten Bewegers eine vollkommene Handlung. Wenn es aber nicht in der richtigen Verfaßtheit und Geeignetheit zur Aufnahme der Bewegung des ersten Bewegers ist, erfolgt eine unvollkommene Handlung. Dann wird das, was dort von einer Handlung gegenwärtig ist, auf den ersten Beweger als auf die Ursache zurückgeführt. Was dort hingegen an Mangel ist, wird jedoch nicht auf das erste Bewegende als auf die Ursache zurückgeführt. Denn ein derartiger Mangel in der Hand-
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lung folgt daraus, daß der Handelnde an der Ordnung des ersten Bewegers mangelt, wie ausgeführt worden ist.36 Alles, was zum Beispiel an Bewegung im Hinken ist, stammt vom Bewegungsvermögen des Lebewesens. Aber was dort an Mangel ist, kommt nicht vom Bewegungsvermögen, sondern vom Bein, insofern ihm die Anlage der Beweglichkeit durch das Bewegungsvermögen mangelt. So ist also zu sagen: da Gott der erste Ursprung der Bewegung aller Dinge ist, werden manche so von ihm bewegt, daß sie sich auch selbst bewegen – zum Beispiel die, die einen freien Willen besitzen. Wenn diese in der angemessenen Verfaßtheit und der angemessenen Ordnung zur Aufnahme der Bewegung sind, durch die sie von Gott bewegt werden, erfolgen gute Handlungen, die vollständig auf Gott als ihrer Ursache zurückgeführt werden. Wenn ihnen aber die angemessene Ordnung mangelt, erfolgt eine ungeordnete Handlung, die eine Handlung der Sünde ist. Somit wird das, was dort an Handlung ist, auf Gott als seine Ursache zurückgeführt, was dort aber an Unordnung oder Mißgestalt ist, hat nicht Gott zur Ursache, sondern nur den freien Willen. Deswegen läßt sich sagen, daß die Handlung der Sünde von Gott stammt, aber die Sünde nicht von Gott kommt. Zu 1. Bei dem Menschen, der sündigt, obwohl er an sich die Mißgestalt der Sünde nicht will, fällt dennoch die Mißgestalt der Sünde auf eine gewisse Weise unter den Willen des Sünders, weil er sich nämlich dafür entscheidet, eher der Mißgestalt der Sünde zu unterliegen, als von der Handlung abzulassen. Aber die Mißgestalt der Sünde fällt auf keine Weise unter den göttlichen Willen, sondern folgt daraus, daß sich der freie Wille von der Ordnung des göttlichen Willens entfernt. Zu 2. Die Mißgestalt der Sünde folgt nicht aus der Art der Handlung, insofern sie in der Gattung der Natur ist. Auf diese Weise wird sie jedoch von Gott verursacht. Vielmehr folgt sie aus der Art der Handlung, insofern sie sittlich ist, je nachdem ob sie vom freien Willen verursacht wird, wie in der anderen Frage ausgeführt worden ist.37 36 Vgl. De malo q. 3 a. 1. 37 Vgl. De malo q. 3 a. 1; q. 2 a. 2 und 3.
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Zu 3. »Seiend« und »Ding« werden von der Substanz schlechthin ausgesagt, von ihren Eigenschaften jedoch in einer bestimmten Hinsicht. Dementsprechend sagt Augustinus, daß die Handlung keine Sache ist. Zu 4. Wenn gesagt wird, daß ein Ding sich selbst bewegt, wird behauptet, daß dasselbe bewegend und bewegt ist. Wenn hingegen gesagt wird, daß etwas von einem anderen bewegt wird, wird behauptet, daß eines bewegend und ein anderes bewegt ist. Es ist aber offensichtlich, daß in dem Fall, in dem etwas ein anderes bewegt, aus der Tatsache, daß es der Beweger ist, nicht folgt, daß es der erste Beweger ist. Daher ist nicht ausgeschlossen, daß es von einem anderen bewegt wird und von diesem anderen die Eigenschaft hat, daß es bewegt. Ähnlich ist es nicht ausgeschlossen, wenn etwas sich selbst bewegt, daß es von einem anderen bewegt wird, von dem es die Fähigkeit hat, durch die es sich selbst bewegt. Daher ist es der Freiheit entgegengesetzt, daß Gott die Ursache des freien Willens ist. 3. Artik el Die dritte Frage lautet: Ist der Teufel die Ursache der Sünde? 38 Das scheint der Fall zu sein, denn: 1. Im Buch der Weisheit 2, 24 heißt es: »Durch den Neid des Teufels aber ist der Tod in die Welt gekommen.«39 Aber der Tod ist eine Folge der Sünde. Also ist der Teufel die Ursache der Sünde. 2. Die Sünde besteht in der Leidenschaft. Aber Augustinus sagt im 4. Buch von Über die Dreieinigkeit, daß der Teufel seinen Anhängern schlechte Leidenschaften einhaucht.40 Beda Venerabilis sagt in seinem Kommentar Über die Apostelgeschichte, daß der Teufel die Seele zur schlechten Leidenschaft hinzieht.41 Also ist der Teufel die Ursache der Sünde.
38 39 40 41
Paralleltexte: Sum. theol. I–II, q. 80 a. 1. Weish. 2, 24. Augustinus, De Trin. IV, 12 (CCSL 50, 180). Beda Venerabilis, Super Act. 5, 3 (PL 92, 954 D).
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3. Das Niedrigere ist von der Natur so eingerichtet, daß es vom Höheren bewegt wird. Aber wie die Vernunft des Menschen der Ordnung der Natur nach unter der engelischen Vernunft steht, so steht der menschliche Wille unter dem engelischen Willen. Denn das Begehrungsvermögen entspricht dem Verhältnis nach immer dem Auffassungsvermögen. Also kann ein schlechter Engel durch seinen schlechten Willen den Willen des Menschen zum Schlechten bewegen. Somit kann er die Ursache der Sünde sein. 4. Isidor von Sevilla sagt in seiner Schrift Über das höchste Gut, daß der Teufel das Herz der Menschen mit verborgenen Leidenschaften entflammt.42 Aber die Wurzel aller Übel ist die Leidenschaft, wie im ersten Timotheusbrief 6, 10 festgestellt wird.43 Also scheint es, daß der Teufel die Ursache der Sünde sein kann. 5. Alles, was sich zu zwei Alternativen unbestimmt verhält, braucht etwas Bestimmendes, damit es zur Handlung voranschreitet. Aber der freie Wille des Menschen verhält sich unbestimmt zu zwei Alternativen, nämlich zum Guten und zum Schlechten. Also muß er, damit er zur Handlung der Sünde voranschreitet, von etwas zum Schlechten bestimmt werden. Das scheint aber am meisten vom Teufel getan zu werden, dessen Wille zum Schlechten bestimmt ist. Also scheint es, daß der Teufel die Ursache der Sünde ist. 6. Augustinus sagt im Enchiridion, daß die Ursache der Sünde der veränderliche Wille ist, zuerst nämlich der des Engels, danach aber der des Menschen.44 Aber das erste in jedweder Gattung ist die Ursache derer, die später sind. Also scheint es, daß der schlechte Wille des Teufels die Ursache des schlechten Willens des Menschen ist. 7. Die Sünde besteht in der Überlegung. Daher heißt es Jesaja 1, 16: »Schafft das Übel Eurer Gedanken aus meinen Augen.«45 Aber wie es scheint, kann der Teufel in uns Gedanken verursachen, da das Denkvermögen ein an ein körperliches Organ gebundenes Vermögen ist, der Teufel aber die Körper verändern kann. Also scheint es, daß der Teufel unmittelbar die Ursache der Sünde sein kann. 42 43 44 45
Isidor von Sevilla, De summo bono III, 5 (PL 83, 666 B). 1 Tim. 6, 10. Augustinus, Ench. VIII, 23 (CCSL 46, 63). Jes. 1, 16.
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8. Augustinus sagt, man dürfe nicht sagen, daß es kein Laster ist, wenn das Fleisch wider den Geist aufbegehrt.46 Aber der Teufel scheint die Begierde hervorrufen zu können, denn die begehrliche Gewalt ist eine Handlung eines körperlichen Organs. Also scheint es, daß er unmittelbar die Sünde verursachen kann. 9. Augustinus sagt in Über Genesis dem Wortlaut nach, daß es eine Unordnung im Fleisch hervorruft, wenn die Abbilder von Dingen dem Menschen so dargestellt werden, daß sie nicht von den Dingen unterschieden werden.47 Aber, so sagt er, das kann durch das geistige Vermögen eines guten oder schlechten Engels hervorgerufen werden. Aber die Unordnung im Fleisch ist nicht ohne Sünde. Also scheint es, daß der Teufel unmittelbar die Ursache der Sünde sein kann. 10. Averroes führt in seinem Kommentar über das 11. Buch der Metaphysik die Worte des Themistios an, die besagen, daß die niedere Natur sozusagen inspiriert durch die höheren Ursachen handelt.48 Aber die höheren Ursachen sind eigentümlich und unmittelbar die Ursache dessen, was durch die niedrigeren Ursachen getan wird. Dasjenige also, was einem niederen Handelnden etwas einhauchen kann, scheint die Ursache von dessen Handlung zu sein. Aber der Teufel kann dem Menschen etwas einhauchen, wodurch er zur Sünde bewegt wird. Also scheint es, daß der Teufel unmittelbar die Ursache der Sünde sein kann. 11. Aristoteles fragt in der Eudemischen Ethik, was der Ursprung der Tätigkeit in der Seele sei, und zeigt, daß es etwas Äußerliches sein muß.49 Alles nämlich, was von neuem anfängt, hat eine Ursache. Der Mensch fängt nämlich deshalb zu handeln an, weil er will, zu wollen fängt er jedoch wegen einer vorhergehenden Überlegung an. Wenn er aber wegen einer vorhergehenden Überlegung eine vorhergehende Überlegung anstellen würde, führt dies entweder zu einem unendlichen Regreß oder man muß einen äußeren Ursprung behaupten, der den Menschen zuerst zur Überlegung 46 47 48 49
Augustinus, De civ. Dei XIX, 4 (CCSL 48, 665). Augustinus, De Gen. ad litt. XII, 12 (CSEL 28–1, 395). Averroes, In Metaph. XI (= XII), comm. 18 (VIII, fol. 305 D–E). Aristoteles, Eth. Eud. VII, 14; 1248 a 17–32.
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bewegt. Es sei denn, daß jemand vielleicht sagen sollte, dies komme vom Schicksal, woraus folgen würde, daß alle menschlichen Handlungen schicksalsartig wären. Aber bei guten Handlungen, so sagt er nämlich, ist dieser Ursprung Gott, der nicht die Ursache der Sünde ist, wie oben gezeigt wurde.50 Wenn also der Mensch anfängt zu handeln, zu wollen und zu überlegen, um eine Sünde zu begehen, so scheint es, daß es dafür eine äußerliche Ursache geben muß, die nichts anderes als der Teufel sein kann. Der Teufel selbst ist daher die Ursache der Sünde. 12. Welchem Vermögen auch immer ein Beweger zugrunde liegt, diesem Vermögen liegt auch die vom Beweger verursachte Bewegung zugrunde. Der Beweger des Willens ist aber etwas durch die Sinne oder den Verstand Aufgefaßtes. Diese beiden unterliegen der Macht des Teufels. Denn Augustinus sagt in seiner Schrift Über 83 verschiedene Fragen: »Dieses Übel«, das nämlich, das vom Teufel stammt, »kriecht herein auf allen Wegen der Sinne, gibt sich selbst Gestalt, nimmt Farben an, haftet den Geräuschen an, verbirgt sich im Zorn und in täuschender Rede, macht sich zum Träger von Gerüchen, fließt hinein mit Geschmäckern und umnebelt alle Gänge der Vernunft.«51 Also liegt es in der Macht des Teufels, daß er den Willen bewegt. Somit ist er die unmittelbare Ursache der Sünde. 13. Nach Jesaja 50, 1 kaufte der Teufel den Menschen für die Sünde: »Seht, um eurer Sünden willen wurdet ihr verkauft«52. Aber der Käufer zahlt dem Verkäufer den Preis. Also wird die Sünde im Menschen vom Teufel verursacht. 14. Hieronymus sagt: Wie Gott der Vollender des Guten ist, so ist der Teufel der Vollender des Schlechten, obgleich im Menschen gewisse Anreizmittel zum Laster sind.53 Aber Gott ist die wesentliche Ursache unserer guten Handlungen. Also scheint es, daß der Teufel auch die unmittelbare Ursache unserer Sünden ist. 50 Vgl. De malo q. 3 a. 1. 51 Augustinus, De diversis quaestionibus LXXXIII, q. 12 (CCSL 44 A,
19). 52 Jes. 50, 1. 53 Hieronymus, Adv. Iovin. II, 3 (PL 23, 286–287 [299 C]).
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15. Wie der gute Engel sich zum Guten verhält, so verhält sich der schlechte Engel zum Schlechten. Aber der gute Engel führt die Menschen zum Guten. Denn wie Dionysius erklärt, ist es das Gesetz der Göttlichkeit, zu den höchsten Dingen durch Mittlere zu führen.54 Also scheint es, daß ein schlechter Engel den Menschen zum Schlechten führen kann, und somit, daß der Teufel die Ursache der Sünde ist. Dagegen spricht: 1. Augustinus sagt in seiner Schrift Über 83 verschiedene Fragen: »Die Ursache der Verkehrung des Menschen geht auf seinen Willen zurück, egal ob er durch die Überredung von jemandem oder niemandem verkehrt wurde.«55 Aber der Mensch wird durch die Sünde verkehrt. Also ist die Ursache der Sünde des Menschen nicht der Teufel, sondern der menschliche Wille. 2. Augustinus sagt in seinem Buch Über die Willensfreiheit, daß nicht Einzelner die Ursache der menschlichen Sünde ist, sondern jeder sei die Ursache seiner eigenen Schlechtigkeit.56 3. Die Sünde des Menschen wird durch die freie Entscheidung hervorgerufen. Aber der Teufel kann nicht die freie Wahl des Menschen hervorrufen. Denn das würde der Freiheit widersprechen. Also ist der Teufel nicht die Ursache der Sünde. Antwort: Das, was etwas auf mehrfache Weise bewegt, wird als Ursache bezeichnet. Manchmal wird nämlich das Ursache genannt, was anordnend, beratend oder vorschreibend ist. Manchmal wird aber das Ursache genannt, was ausführend ist. Dies wird im eigentlichen und wahrhaften Sinne Ursache genannt, da die Ursache das ist, auf das eine Wirkung folgt. Auf die Handlung des Ausführenden aber erfolgt unmittelbar die Wirkung, nicht hingegen auf die Handlung des 54 Dionysius Areopagita, De eccl. hier. V–I, 4 (Dion., 1330). Vgl. auch De cael. hier. IV, 3 (Dion., 812). 55 Augustinus, De diversis quaestionibus LXXXIII, q. 4 (CCSL 44 A, 13). 56 Augustinus, De lib. arb. I, 1 (CCSL 29, 211).
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Anordnenden, Beratenden oder Vorschreibenden: »Denn die Empfehlung zwingt nicht wider jemandes Willen«57, wie Augustinus in seiner Schrift Über 83 verschiedene Fragen erklärt. So muß also gesagt werden, daß der Teufel auf die Art von jemandem, der innerlich oder äußerlich anordnet bzw. überredet, die Ursache der menschlichen Sünde sein kann, oder auch nach Art eines Vorschreibenden, wie bei denen offenbar ist, die sich offensichtlich selbst dem Teufel unterworfen haben. Aber in der Art einer Wirkursache kann der Teufel nicht die Ursache der Sünde sein. Wie nämlich in der Hervorbringung der Formen die Wirkursache das ist, aus dessen Tätigkeit unmittelbar die Form hervorgeht, so ist in der Hervorbringung der Handlungen die Wirkursache das, durch dessen Tätigkeit der Handelnde unmittelbar zum Handeln gelenkt wird. Aber die Sünde ist keine Form, sondern eine Handlung. Das also kann wesentlich die Ursache der Sünde sein, was den Willen unmittelbar zur Handlung der Sünde bewegen kann. Es muß aber bedacht werden, daß gesagt wird, der Wille werde auf zweifache Weise zu etwas gelenkt: einerseits von außen, andererseits von innen. Von außen nämlich als von dem erfaßten Gegenstand, da vom erfaßten Gut gesagt wird, es bewege den Willen. Auf diese Weise heißt es von dem Beratenden oder Empfehlenden, daß er den Willen bewegt, insofern er nämlich etwas als gut erscheinen läßt. Von innen aber wird der Wille bewegt als von dem, was die eigentliche Handlung des Willens hervorbringt. Der dem Willen vorgelegte Gegenstand bewegt den Willen aber nicht notwendig, obzwar die Vernunft manchmal mit Notwendigkeit einer vorgelegten Wahrheit zustimmt. Der Grund für diesen Unterschied ist, daß sowohl die Vernunft als auch der Wille notwendig zu demjenigen neigen, zu dem sie der Natur nach hingeordnet sind. Es ist nämlich natürlich, auf eines hingeordnet zu sein. Daher stimmt die Vernunft mit Notwendigkeit den ersten, natürlich bekannten Prinzipien zu und kann nicht deren jeweiligem Gegenteil zustimmen. Auf ähnliche Weise will der Wille natürlicherweise und mit Notwendigkeit Glückseligkeit, und niemand kann das Unglück wollen. 57 Augustinus, De diversis quaestionibus LXXXIII, q. 4 (CCSL 44 A,
13).
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Daher kommt es Verstand, daß die Dinge, die eine notwendige Verbindung zu den ersten natürlich bekannten Prinzipien haben, mit Notwendigkeit die Vernunft bewegen. Dies ist etwa bei den bewiesenen Schlußfolgerungen der Fall, wenn klar ist, daß im Falle ihrer Verneinung die ersten Prinzipien verneint werden müßten, aus denen sie notwendig folgen. Wenn es aber irgendwelche Schlußfolgerungen sind, die nicht in notwendiger Beziehung zu den ersten natürlich bekannten Prinzipien stehen, wie das bei den nicht notwendigen Gegenständen und den Gegenständen der Meinung der Fall ist, ist die Vernunft nicht gezwungen, diesen zuzustimmen. Auf ähnliche Weise stimmt auch die Vernunft nicht mit Notwendigkeit den notwendigen Folgerungen zu, die notwendig mit den ersten Prinzipien verknüpft sind, bevor sie eine derartige notwendige Verknüpfung erkennt. So wird es auch in bezug auf den Willen der Fall sein, daß der Wille zu nichts aus Notwendigkeit bewegt wird, was nicht zumindest eine notwendige Verknüpfung mit der Glückseligkeit zu haben scheint, die das natürlich Gewollte ist. Es ist aber offensichtlich, daß solche Einzelgüter keine notwendige Verknüpfung mit der Glückseligkeit besitzen, da der Mensch ohne eines von ihnen glücklich sein kann. Wie oft daher auch immer irgendeines von ihnen dem Menschen als ein Gut vorgestellt wird, der Wille neigt sich nicht mit Notwendigkeit dazu hin. Das vollkommene Gut, das Gott ist, ist jedoch notwendig mit der Glückseligkeit des Menschen verknüpft. Denn ohne es kann der Mensch nicht glücklich sein. Gleichwohl erscheint dem Menschen die Notwendigkeit dieser Verknüpfung in diesem Leben nicht als offensichtlich, da er Gott nicht in seinem Wesen sieht. Daher hängt der Wille des Menschen in diesem Leben nicht einmal Gott unabweichlich mit Notwendigkeit an. Aber der Wille derer, die Gott in seinem Wesen schauen und ihn dadurch offensichtlich als das Wesen des Guten und der Glückseligkeit des Menschen erkennen, können nie von ihm abweichen, wie auch unser Wille in diesem Leben nicht die Glückseligkeit nicht wollen kann. Es ist also klar, daß der Gegenstand den Willen nicht mit Notwendigkeit bewegt. Also bewegt keine Überredung den Menschen mit Notwendigkeit zur Handlung. Es bleibt also übrig, daß die wirkende und eigentümliche Ursache des handelnden Willens nur das ist, was innerlich tätig ist. Dies
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kann aber nur der Wille selbst als die zweite Ursache sein und Gott als die erste Ursache. Der Grund dafür ist, daß die Handlung des Willens nichts anderes ist als eine bestimmte Neigung des Willens zum Gewollten, wie auch das natürliche Streben nichts anderes ist als die natürliche Neigung zu einem Gegenstand. Aber die natürliche Neigung stammt sowohl von der natürlichen Form als auch von dem, was die Form gibt. Daher heißt es von der Aufwärtsbewegung des Feuers, sie stamme von seiner Leichtigkeit und von dem Schöpfer, der eine solche Form geschaffen hat. So geht die Bewegung des Willens daher unmittelbar von dem Willen und von Gott aus, der die Ursache des Willens ist und der allein im Willen tätig ist und den Willen zu allem, was er will, hinneigen kann. Gott ist aber nicht die Ursache der Sünde, wie oben gezeigt worden ist.58 Es bleibt also übrig, daß nichts anderes als der Wille selbst die unmittelbare Ursache der menschlichen Sünde ist. Somit ist also klar, daß der Teufel nicht die eigentliche Ursache der Sünde ist, sondern nur in der Weise eines Überredenden. Zu 1. Der Tod kam durch den Neid des Teufels in die Welt, indem er den ersten Menschen zur Sünde überredet hat. Zu 2. Vom Teufel wird gesagt, daß er dem Menschen in der Weise eines Überredenden eine schlechte Leidenschaft einhaucht oder die Seele sogar zu einer Leidenschaft der Schlechtigkeit hinzieht. Zu 3. Für das Niedrigere ist es natürlich, vom Höheren bewegt zu werden. Genauso wie es für das Leidende natürlich ist, von dem Tätigen durch äußere Veränderung, wie die Luft vom Feuer, bewegt zu werden. Eine äußere Veränderung erlegt dem Willen aber keine Notwendigkeit auf, wie gezeigt worden ist.59 Daher kann der Teufel, obwohl er der Ordnung der Natur nach höher steht als die menschliche Seele, dessen Willen dennoch nicht mit Notwendigkeit bewegen. Somit ist er nicht die eigentliche Ursache der Sünde. Denn als Ursache wird eigentlich das bezeichnet, auf das mit Notwendigkeit etwas folgt.
58 Vgl. De malo q. 3 a. 1. 59 Vgl. De malo q. 3 a. 3 c.
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Zu 4. Vom Teufel sagt man, daß er das Herz der Menschen mit Leidenschaften durch Überredung entflamme. Zu 5. Wenn sich der Wille unbestimmt zu zwei Alternativen verhält, wird er durch etwas zu einer bestimmt, nämlich durch den Entschluß der Vernunft. Es ist nicht notwendig, daß dies durch ein äußeres Tätiges geschieht. Zu 6. Die Sünde des Engels und die des Menschen stehen in keiner natürlichen Ordnung zueinander, sondern nur in einer Ordnung der Zeit. Es ereignete sich nämlich, daß der Teufel vor dem Menschen sündigte, und es hätte auch umgekehrt geschehen können. Daher muß es nicht sein, daß die Sünde des Teufels die Ursache für die Sünde des Menschen ist. Zu 7. In den Gedanken tritt nur dann eine Sünde auf, wenn jemand durch diese zum Schlechten gelenkt oder vom Guten entfernt wird. Das verbleibt in der freien Wahl des Willens, was auch immer die Gedanken hervorbringen. Wenn etwas daher die Ursache der Gedanken ist, ist es nicht notwendig, daß es die Ursache einer Sünde ist. Zu 8. Das Aufbegehren des Fleisches wider den Geist ist eine Handlung der Sinnlichkeit, in der eine Sünde liegen kann. Denn deren Bewegung kann durch den Verstand verhindert oder gezügelt werden. Wenn daher die Bewegung der Sinnlichkeit aus irgendeiner körperlichen Veränderung erwachsen sollte und der Verstand wirklich widersteht, was in der Wahl des Willens liegt, findet sich dort keine Sünde. Daher ist klar, daß jede Sünde in die Wahl des Willens gestellt ist. Zu 9. Die Tatsache, daß die Erscheinungen oder Abbilder der Dinge nicht von den Dingen selbst unterschieden werden, kommt daher, daß das höhere Vermögen, das urteilen und unterscheiden kann, gefesselt ist. So erscheint zum Beispiel ein einzelner Gegenstand wegen der Bewegung der Finger für die Berührung als zwei Gegenstände, es sei denn, daß ein anderes Vermögen wie der Gesichtssinn dem widerspricht. Auf diese Weise also, wenn der Vorstellung Abbilder vorgestellt werden, hängt der Mensch diesen wie den Dingen selbst an, es sei denn, es gibt ein anderes Vermögen wie einen Sinn oder den Verstand, das widerspricht. Wenn aber der Verstand gefesselt und der Sinn eingeschläfert ist, hängt er den Ab-
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bildern wie den Dingen selbst an, wie es in den Träumen und im Delirium geschieht. Auf diese Weise können die Dämonen also bewirken, daß die Menschen die Abbilder nicht von den Dingen unterscheiden, insofern sie, wenn Gott es zuläßt, die inneren sinnlichen Vermögen verwirren. Durch diese Verwirrungen wird der Gebrauch der menschlichen Vernunft gefesselt, der die besagten Vermögen zu seiner Tätigkeit braucht, wie bei den Besessenen einleuchtet. Wenn aber der Vernunftgebrauch gefesselt ist, wird dem Menschen nichts als Sünde angerechnet, wie es auch dem Tier nicht angerechnet wird. Daher wird dementsprechend der Teufel nicht die Ursache der Sünde sein, selbst wenn er die Ursache einer Handlung ist, die ansonsten eine Sünde wäre. Zu 10. Eine niedrigere Natur wird von höheren Ursachen mit Notwendigkeit bewegt. Daher sind die höheren Ursachen, von denen gesagt wird, daß sie die niedere Natur inspirieren, eigentümlich und unmittelbar die Ursache natürlicher Wirkungen. Aber die Inspiration durch den Teufel bewegt den Willen nicht mit Notwendigkeit. Somit besteht keine Ähnlichkeit. Zu 11. Gott ist das allgemeine Prinzip jeder Überlegung, jedes Wollens und jeder menschlichen Handlung, wie oben dargestellt worden ist.60 Aber das Auftreten von Irrtum, Sünde und Mißgestalt in der Überlegung, dem Willen und der Handlung des Menschen, wird von dem Mangel des Menschen verursacht, und es ist nicht nötig, dafür eine äußere Ursache zuzuschreiben. Zu 12. Der erfaßte Gegenstand bewegt den Willen nicht mit Notwendigkeit, wie gezeigt worden ist.61 Wie oft auch immer daher der durch den Sinn oder die Vernunft erfaßte Gegenstand Träger für die Macht des Teufels sein mag, so kann er dennoch nicht hinreichend den Willen zur Sünde bewegen. Zu 13. Der Teufel zahlt dem Menschen in der Weise eines Überredenden die Sünde. Zu 14. Diese Ähnlichkeit erstreckt sich nicht auf jede Hinsicht. Denn Gott ist der Urheber unserer guten Handlungen – sowohl als von außen überredend als auch als von innen bewegend. Der Teufel 60 Vgl. De malo q. 3 a. 3 c. 61 Vgl. De malo q. 3 a. 3 c.
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ist aber nur die Ursache der Sünde als von außen überredend, wie gezeigt worden ist.62 Zu 15. Der gute Engel führt den Menschen zu Gott, jedoch nicht durch die unmittelbare Bewegung seines Willens, sondern als Überredender. Auf diese Weise lenkt auch der Teufel den Menschen zur Sünde. 4. Artik el Die vierte Frage lautet: Kann der Teufel den Menschen durch innere Überredung zur Sünde verführen? 63 Das scheint nicht der Fall zu sein, denn: 1. Alles, was mit Absicht tätig ist, kennt die Wirkung dieser Tätigkeit. Aber der Teufel kann keine inneren Überlegungen sehen, wie im Buch Über Kirchendogmen ausgeführt wird.64 Also ist er nicht in der Lage, durch die Verursachung innerer Überlegungen innerlich zu überreden. 2. Die Formen existieren in den inneren Vermögen auf eine vollkommenere Weise als in der körperlichen Materie. Aber der Teufel kann keine Formen in die körperliche Materie einbilden, außer vielleicht durch den Gebrauch von natürlichem Samen. Denn die körperliche Materie fügt sich nicht dem Verlangen der gefallenen Engel, wie Augustinus im 3. Buch von Über die Dreieinigkeit erklärt.65 Also kann der Teufel keine Formen in die inneren Vermögen einbilden. 3. Aristoteles beweist im 7. Buch der Metaphysik, daß die Formen, die in Materie eingeprägt sind, nicht von den Formen, die frei von Materie sind, verursacht werden.66 Vielmehr werden sie von den Formen verursacht, die in die Materie eingeprägt sind. So wird zum Beispiel die Form von Fleisch und Knochen von den Formen verursacht, die in diesem Fleisch und in diesem Knochen eingeprägt sind. 62 63 64 65 66
Vgl. De malo q. 3 a. 3 c. Paralleltexte: Sum. theol. I–II, q. 80 a. 2. Gennadius von Marseille, De eccl. dogm. 81 (PL 58, 999 A). Augustinus, De Trin. III, 8 (CCSL 50, 139). Aristoteles, Met. VII, 7; 1033 b 19–1034 a 8.
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Aber die Formen der Sinnesvermögen werden in einem körperlichen Organ empfangen. Also können sie nicht vom Teufel verursacht werden, der eine immaterielle Substanz ist. 4. Unabhängig von der Naturordnung tätig zu sein, kommt allein ihm zu, der die Ordnung der Natur eingerichtet hat, nämlich Gott. Aber es gibt in den Tätigkeiten der inneren Seelenvermögen eine bestimmte natürliche Ordnung. Denn »die Vorstellung ist eine von der Tätigkeit eines Sinnesvermögens verursachte Bewegung«, wie es im 3. Buch von Über die Seele heißt.67 So wird in der weiteren Entwicklung ein Vermögen von einem anderen verursacht. Also kann der Teufel keine inneren Bewegungen oder Tätigkeiten der Vermögen der Seele verursachen, außer dies geht von den Sinnen aus. 5. Die Lebenstätigkeiten gehen aus einem inneren Ursprung hervor. Aber alle Tätigkeiten der inneren Vermögen sind bestimmte Lebenstätigkeiten. Also können sie nicht vom Teufel verursacht werden, sondern nur von einem inneren Ursprung. 6. Der Wirkung kommt dieselbe Art zu wie der Ursache. Aber die Handlungen der inneren Vermögen werden von den Sinnen verursacht. Also können sie nicht durch eine Handlung derselben Art vom Teufel verursacht werden. 7. Das Wahrnehmungsvermögen ist würdiger als das Ernährungsvermögen. Aber der Teufel kann keine Handlung des Ernährungsvermögens verursachen, um Fleisch oder Knochen zu formen. Also kann der Teufel keine Handlung irgendeines inneren Vermögens der Seele verursachen. Dagegen spricht: Es heißt vom Teufel, er verführe den Menschen nicht nur in sichtbarer Gestalt, sondern auch wenn er unsichtbar ist. Das wäre nicht der Fall, wenn nicht etwas Inneres den Menschen überreden würde. Also reizt der Teufel innerlich zur Sünde an. Antwort: Wie oben ausgeführt worden ist, kann der Teufel nicht die Ursache der menschlichen Sünde sein, indem er unmittelbar den Willen 67 Aristoteles, De an. III, 4; 429 a 1–2.
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des Menschen bewegt, sondern nur als ein Überredender.68 Er überredet den Menschen aber auf zweifache Weise zu etwas: sichtbar und unsichtbar. Sichtbar nämlich, wenn er etwa in irgendeiner Gestalt dem Menschen in sichtbarer Weise erscheint, wahrnehmbar durch die Sinne zu ihm spricht und zur Sünde überredet, wie er den ersten Menschen im Paradies in Gestalt einer Schlange verführt hat und Christus in der Wüste – in irgendeiner von ihm wahrnehmbaren Gestalt erscheinend. Man darf aber nicht glauben, daß er nur auf diese Weise den Menschen überredet. Denn dann würde folgen, daß auf Eingebung des Teufels keine anderen Sünden begangen würden außer denen, zu denen der Teufel in wahrnehmbarer Erscheinung überredet. Daher muß behauptet werden, daß er den Menschen auch unsichtbar zum Sündigen anreizt. Das tut er jedoch sowohl in der Weise eines Überredenden als auch in der Weise eines Befehlenden. In der Weise eines Überredenden jedoch, wie wenn dem Denkvermögen etwas als gut vorgestellt wird. Das kann auf dreifache Weise getan werden: denn es wird entweder in bezug auf die Vernunft, in bezug auf den inneren Sinn oder auch in bezug auf den äußeren Sinn vorgestellt. In bezug auf die Vernunft nämlich, da die menschliche Vernunft von der engelischen Vernunft zur Erkenntnis von etwas in der Weise einer Erleuchtung unterstützt werden kann, wie Dionysius sagt.69 Obzwar nämlich ein Engel eine Willenshandlung nicht unmittelbar verursachen kann, weil die Willenshandlung nichts anderes ist als eine bestimmte aus dem Inneren hervorgehende Handlung, kann er dennoch einen Eindruck auf den Willen machen, dessen Handlung im Empfangen von außen besteht. Daher heißt es, daß das Erkennen eine Art von Erleiden ist. Obwohl aber der Teufel der Ordnung seiner Natur entsprechend den Menschen durch die Erleuchtung seiner Vernunft zu etwas überreden könnte, wie es der gute Engel tut, tut der Teufel dies dennoch nicht. Denn je mehr die Vernunft erleuchtet wird, um so mehr kann sie sich vor der Täuschung hüten, die der Teufel anstrebt. Daher bleibt übrig, daß die innere Überredung des Teufels und jede Offenbarung von ihm nicht durch Erleuchtung der 68 Vgl. De malo q. 3 a. 3. 69 Dionysius Areopagita, De cael. hier. IV, 3 (Dion., 811).
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Vernunft geschieht, sondern nur durch eine Art von Eindruck auf die inneren oder äußeren Sinnesvermögen. Um aber zu sehen, auf welche Weise der Teufel auf die inneren Vermögen einen Eindruck bewirken kann, muß ins Auge gefaßt werden, daß ein körperliches Wesen von der Natur dazu bestimmt ist, von einem geistigen Wesen örtlich bewegt zu werden. Sie ist aber nicht dazu bestimmt, von ihr unmittelbar geformt zu werden, sondern von einem Tätigen, das körperlich ist, wie im 7. Buch der Metaphysik bewiesen wird.70 Daher gehorcht die körperliche Materie hinsichtlich der Ortsbewegung natürlicher Weise einem guten oder einem schlechten . Auf diese Weise können die Dämonen die Samen einsammeln, die sie zur Hervorbringung irgendwelcher wunderbarer Wirkungen gebrauchen, wie Augustinus im 3. Buch von Über die Dreieinigkeit sagt.71 Aber hinsichtlich der Gestaltung gehorcht die körperliche Materie keinem geistigen Geschöpf auf sein Verlangen hin. Daher können die Dämonen die körperliche Materie nicht gestalten, außer kraft des körperlichen Samens, wie Augustinus erklärt.72 Was auch immer also durch die Ortsbewegung der körperlichen Materie geschehen kann, kann ungehindert durch die Dämonen getan werden, außer sie werden von Gott daran gehindert. Aber die Erscheinung oder das Abbild der wahrnehmbaren Arten, die in den inneren Organen aufbewahrt wird, kann von einer Ortsbewegung der körperlichen Materie hervorgerufen werden. Das geschieht auf die Weise, die Aristoteles im Buch Über Schlaf und Wachen ausführt, wenn er die Ursache für die Erscheinung in Träumen angibt: wenn ein Lebewesen schläft, sinkt das meiste Blut in das Wahrnehmungsvermögen.73 In demselben Verhältnis steigen die Bewegungen oder die von den Sinnesobjekten zurückgelassenen Eindrücke herab, die in den Wahrnehmungsgeistern aufbewahrt werden, und bewegen das Auffassungsvermögen so, daß sie genau so erscheinen, als ob das Wahrnehmungsvermögen zu dieser Zeit von den Dingen selbst affiziert werden würde. 70 71 72 73
Aristoteles, Met. VII, 7; 1033 b 19–1034 a 8. Augustinus, De Trin. III, 8 (CCSL 50, 141). Vgl. Augustinus, De Trin. III, 8 (CCSL 50, 141). Aristoteles, De insomniis 3; 461 b 11 ff.
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Was also in den Schlafenden in den Erscheinungen der Träume auf Grund der natürlichen Ortsbewegung der Geister und Säfte auftritt, kann durch eine von Dämonen verursachte ähnliche Ortsbewegung auftreten. Manchmal geschieht dies nämlich bei Schlafenden, manchmal bei Wachenden, bei denen die Dämonen die inneren Geister und Säfte bewegen können, manchmal sogar durch und durch bis dahin, daß der Vernunftgebrauch vollständig gefesselt wird. Das ist offensichtlich bei den Besessenen. Es ist nämlich klar, daß die Vernunfttätigkeit durch eine große Verwirrung der Geister und Säfte behindert wird, wie bei den Verrückten, den Schlafenden und Betrunkenen offensichtlich ist. Manchmal geschieht dies aber ohne Fesselung der Vernunft. So bringen sogar Menschen, die wach sind und den Vernunftgebrauch besitzen, durch die willentliche Erregung der Geister und Säfte innerlich aufbewahrte Bilder wie aus einer Schatztruhe zum Wahrnehmungsvermögen hervor, damit sie bestimmte Dinge vorstellen. Da die Dämonen dies also bei den Wachenden tun und bei denen, die im Besitz des Vernunftgebrauches sind, empfängt jemand um so mehr und leichter eine auf ihren Ursprung zurückgeführte Vorstellung und verweilt bei ihrer Überlegung, je mehr er von einer Leidenschaft behindert wird. Denn, wie Aristoteles in demselben Buch sagt, ein in Leidenschaft Befindlicher wird von einer nicht sonderlich großen Ähnlichkeit bewegt, der Liebende zum Beispiel von einer nicht sonderlich großen Ähnlichkeit mit dem Geliebten.74 Daher werden die Dämonen Verführer genannt. Denn durch die Handlungen der Menschen lernen sie, welchen Leidenschaften die Menschen mehr unterliegen, so daß sie das, was sie beabsichtigen, dementsprechend wirksamer in die Einbildungskraft der Menschen einprägen können. Auf ähnliche Weise können die Dämonen auch durch die Bewegung der Wahrnehmungsgeister auf die äußeren Sinne einen Eindruck bewirken. Diese äußeren Sinne empfinden entsprechend der Verminderung oder Vermehrung der Wahrnehmungsgeister etwas entweder feinfühlender oder unempfindlicher. Aber jemand hört oder sieht feinfühlend, wenn die Wahrnehmungsgeister überreichlich und rein sind, und unempfindlicher, wenn das Gegenteil der Fall 74 Aristoteles, De insomniis 2; 460 b 5–7.
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ist. Auf diese Weise sagt Augustinus, daß dieses durch die Dämonen verursachte Schlechte sich durch alle Sinne einschleicht.75 So ist daher klar, auf welche Weise der Teufel innerlich zur Sünde überredet: durch Eindrücke auf die inneren und äußeren Sinnesvermögen. Auf die Weise eines Befehlenden kann er aber insofern die Ursache der Sünde sein, als er durch eine ähnliche Erregung der Geister und Säfte manche Menschen mehr zum Zorn oder zur Begierde oder zu etwas dergleichen veranlagt macht. Es ist nämlich klar, daß bei einem in gewissem Maß veranlagten Körper der Mensch eher zu Begierde, Zorn und derartigen Leidenschaften geneigt ist, durch deren Anfachung der Mensch zur Einwilligung veranlagt ist. So ist daher klar, daß der Teufel durch Überredung und Befehl innerlich zur Sünde anreizt, nicht aber durch die Ausführung der Sünde. Zu 1. Der Teufel kann die inneren Überlegungen nicht als solche, sondern in ihren Wirkungen sehen. Zu 2. Der Teufel bringt keinen Eindruck auf die Einbildungskraft hervor, indem er von neuem eine Form verursacht. Daher könnte der Teufel nicht bewirken, daß jemand, der blind geboren ist, Farben vorstellen würde. Aber er verursacht einen Eindruck durch Ortsbewegung, wie erklärt worden ist.76 Zu 3. Das dritte Argument ist auf gleiche Weise zu beantworten. Zu 4. Der Teufel verursacht dies nicht in Widerspruch zur Naturordnung, sondern durch die örtliche Bewegung der inneren Prinzipien, aus denen derartige Dinge natürlicher Weise hervorgehen. Zu 5–6. Aus dem Vorangehenden erhellt die Antwort auf das fünfte und sechste Argument. Zu 7. Auf dieselbe Art kann der Teufel durch eine Vermehrung der Geister und Säfte bewirken, daß etwas schneller oder langsamer verteilt würde. Das aber steht nicht in Bezug zu dieser Behauptung.
75 Augustinus, De diversis quaestionibus LXXXIII, q. 12 (CCSL 44 A,
19). 76 Vgl. De malo q. 3 a. 4 c.
5. Artik el Die fünfte Frage lautet: Werden alle Sünden vom Teufel eingegeben? 77 Das scheint der Fall zu sein, denn: 1. Johannes von Damaskus sagt, daß alle Übel und alle Unreinlichkeiten vom Teufel ersonnen worden sind.78 2. Dionysius sagt im 4. Kapitel von Über die göttlichen Namen, daß die Vielzahl der Dämonen die Ursache aller Übel ist, sowohl für sich selbst als auch für andere.79 3. Von jedem Sünder kann gesagt werden, was der Herr in Johannes 8, 44 zu den Juden sagt: »Ihr habt den Teufel zum Vater.«80 Das wäre aber nicht der Fall, wenn nicht jede Sünde auf irgendeine Weise vom Teufel verursacht würde. Also stammt jede Sünde aus der Eingebung des Teufels. 4. Isidor von Sevilla sagt in seiner Schrift Über das höchste Gut: »Die Menschen werden jetzt durch dieselbe Schmeichelei getäuscht, durch die unsere ersten Vorfahren im Paradies getäuscht worden sind.«81 Aber jene sind durch die Eingebung des Teufels getäuscht worden. Also wird auch jetzt jede Sünde auf Grund der Eingebung des Teufels begangen. Dagegen spricht: Im Buch Über Kirchendogmen heißt es: »Nicht alle unsere schlechten Gedanken werden vom Teufel hervorgerufen, sondern manchmal kommen sie durch die Bewegung unseres eigenen freien Willens empor.«82 Antwort: Etwas kann auf zweifache Weise die Ursache von etwas genannt werden: einerseits unmittelbar, andererseits mittelbar. Mittelbar 77 78 79 80 81 82
Paralleltexte: Sum. theol. I, q. 114 a. 3. Sum. theol. I–II, q. 80 a. 4. Johannes Damascenus, De fide II, 4 (ed. Buytaert, 77). Dionysius Areopagita, De div. nom. IV, 18 (Dion., 231). Joh. 8, 44. Isidor von Sevilla, De summo bono III, 5 (PL 83, 664 A). Gennadius von Marseille, De eccl. dogm. cap. 82 (PL 58, 999 A).
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nämlich, wie wenn etwas Tätiges eine Veranlagung zu einer Wirkung verursacht, so wird davon gesagt, daß es Gelegenheit bietet und die mittelbare Ursache jener Wirkung ist. Zum Beispiel wenn man sagt, daß der, der Holz trocknet, die Gelegenheit zum Verbrennen desselben bietet. Auf diese Weise muß man sagen, daß der Teufel die Ursache all unserer Sünden ist. Denn er selbst hat den ersten Menschen zur Sünde angestachelt, aus dessen Sünde eine gewisse Neigung zu allen Sünden in der gesamten menschlichen Gattung hervorging. Auf diese Weise sind die Behauptungen des Johannes von Damaskus und des Dionysius zu verstehen.83 Etwas wird hingegen die unmittelbare Ursache von etwas genannt, das unmittelbar für diese Sache tätig ist. Auf diese Weise ist der Teufel nicht die Ursache jeder Sünde. Denn nicht alle Sünden werden auf Grund einer Anstachelung durch den Teufel begangen, sondern manche durch die Freiheit der Wahl und die Verderbtheit des Fleisches. Denn, wie Origines darlegt, auch wenn es den Teufel nicht gäbe, hätten die Menschen ein Streben nach Nahrung, Beischlaf und anderen solchen Genüssen.84 In bezug auf diese tritt eine vielfältige Unordnung auf, wenn dieses Streben nicht durch die Vernunft gezügelt wird, und besonders wenn man die Verderbtheit unserer Natur voraussetzt. Eine derartige Sehnsucht zu hemmen und zu ordnen, unterliegt jedoch der freien Entscheidung. So ist es also nicht notwendig, daß jede Sünde aus der Eingebung des Teufels hervorgeht. Wenn manche Sünden dennoch aus der Eingebung des Teufels hervorgehen, werden die Menschen jetzt zu ihrer Vollendung von denselben Schmeicheleien getäuscht, durch die unsere ersten Vorfahren getäuscht wurden, wie Isidor von Sevilla sagt.85 Wenn die Sünden auch ohne die Eingebung des Teufels begangen werden, werden die Menschen durch diese dennoch Kinder des Teufels, insofern sie ihn selbst, der der erste Sünder war, nachahmen. Dennoch gibt es keine Gattung der Sünde, die nicht manchmal aus der Eingebung des Teufels hervorgeht. Daraus leuchtet die Antwort auf die Argumente ein. 83 Vgl. De malo q. 3 a. 6 arg. 1 und 2. 84 Origenes, Peri Archon III, 2 (GCS 22, 247). 85 Isidor von Sevilla, De summo bono, III, 5 (PL 83, 664 A).
6. Artik el In der sechsten Frage wird nach der Ursache der Sünde auf seiten des sündigenden Menschen gesucht. Sie lautet: Kann Unwissenheit die Ursache der Sünde sein? 86 Das scheint nicht der Fall zu sein, denn: 1. Die Unwissenheit verursacht das Unfreiwillige, wie Johannes von Damaskus sagt.87 Aber das Unfreiwillige ist der Sünde entgegengesetzt. Denn die Sünde ist so sehr willentlich, daß sie keine Sünde ist, wenn sie nicht willentlich ist, wie Augustinus erklärt.88 Also kann die Unwissenheit nicht die Ursache der Sünde sein. 2. Ursache und Wirkung sind miteinander verknüpft. Aber Unwissenheit und Sünde sind nicht miteinander verknüpft, da die Unwissenheit in der Vernunft liegt, die Sünde aber im Willen, wie Augustinus sagt.89 Also kann die Unwissenheit keine Ursache der Sünde sein. 3. Bei zunehmender Ursache wird die Wirkung vergrößert, wie durch Zunahme des Feuers die Hitze anschwillt. Bei Zunahme der Unwissenheit nimmt aber die Sünde nicht zu. Im Gegenteil kann die Unwissenheit so groß sein, daß die Sünde gänzlich ausgeschlossen ist. Also ist die Unwissenheit keine Ursache der Sünde. 4. Da es in der Sünde zwei Seiten gibt, nämlich die Abwendung und die Hinwendung, muß die Ursache der Sünde auf seiten der Hinwendung angenommen werden. Denn in Hinsicht auf die Abwendung hat die Sünde die Natur eines Übels, und das Übel hat keine Ursache, wie Dionysius im 4. Kapitel von Über die göttlichen Namen erläutert.90 Aber die Unwissenheit scheint die Sünde nicht in Bezug auf die Hinwendung zu betreffen, sondern eher in Bezug auf die Abwendung. Also ist die Unwissenheit nicht die Ursache der Sünde. 5. Wenn irgendeine Unwissenheit Ursache der Sünde ist, scheint die Unwissenheit am meisten sündhaft zu sein, die gewollte Unwis86 87 88 89 90
Paralleltexte: Sum. theol. I–II, q. 76 a. 1. Sent. libri Eth. III, 3. Johannes Damscenus, De fide II, 24 (ed. Buytaert, 146). Vgl. Augustinus, De vera religione 14 (CCSL 32, 204). Vgl. Augustinus, De duabus anim. 10 (CSEL 25/1, 68). Dionysius Areopagita, De div. nom. IV, 32 (Dion., 307).
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senheit genannt wird. Aber wenn jemand durch willentliche Unwissenheit einer Sünde verfällt, scheint die Ursache jener Sünde mehr der Wille zur Unwissenheit als die Unwissenheit selbst zu sein. Man darf also nicht sagen, daß die Unwissenheit die Ursache der Sünde ist. 6. Unwissenheit scheint die Ursache für Unschuld oder Erbarmen zu sein. Denn der Apostel sagt im 1. Brief an Timotheus 1, 13: »Aber ich habe Erbarmen gefunden, weil ich aus Unwissenheit handelte.«91 Das Erbarmen ist jedoch der Sünde entgegengesetzt. Denn je mehr jemand sündigt, um so weniger ist er erbarmenswert. Also ist die Unwissenheit nicht die Ursache der Sünde. 7. Es gibt vier Gattungen von Ursachen, und gemäß keiner von ihnen kann die Unwissenheit Ursache der Sünde sein. Denn die Unwissenheit ist keine Zweckursache, da sie nicht durch die Sünde erstrebt wird. Sie ist auch keine Materialursache, da die Materie der Sünde das ist, bezüglich dessen die Handlung der Sünde in Gang gesetzt wird, wie die Materie der Maßlosigkeit die Begiere ist. Sie ist aber auch keine Formalursache oder das Bewegende. Denn die Unwissenheit ist ein bestimmter Mangel, der Mangel hat jedoch weder die Natur einer Form noch eines Bewegenden. Also kann die Unwissenheit auf keine Weise die Ursache der Sünde sein. 8. Wie Beda ausführt, ist die Unwissenheit eine Art von Wunde, die aus der Sünde hervorgeht.92 Eher scheint also die Sünde Ursache der Unwissenheit zu sein, als daß die Unwissenheit die Ursache der Sünde ist. Dagegen spricht: 1. Isidor von Sevilla führt im 2. Buch von Über das höchste Gut aus: »Die Sünde wird auf dreierlei Weise begangen, nämlich aus Unwissenheit, Schwäche und Vorsätzlichkeit.«93 Es gibt also einige Sünden, die aus Unwissenheit begangen werden. Unwissenheit ist also die Ursache einiger Sünden. 91 1 Tim. 1, 13. 92 Dieses allgemein Beda zugeschriebene Zitat wurde von der kriti-
schen Edition nicht gefunden. 93 Isidor von Sevilla, De summo bono II, 17 (PL 83, 620 A).
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2. Augustinus sagt im 3. Buch von Über die freie Wahl, daß viele aus Unwissenheit begangene Handlungen zu Recht mißbilligt werden.94 Mißbilligte Handlungen sind aber Sünden im eigentlichen Sinne. Also werden manche Sünden aus Unwissenheit begangen, und so ist die Unwissenheit die Ursache mancher Sünden. Antwort: Unwissenheit kann die Ursache der Sünde sein und wird auf die Gattung der Wirkursachen oder bewegenden Ursachen zurückgeführt. Aber man muß wissen, daß ein Beweger auf zweifache Weise bewegt, wie im 7. Buch der Physik gesagt wird, nämlich wesentlich bewegend und hinzukommend bewegend, das heißt indem er ein Hindernis aufhebt.95 So ist in der Bewegung des schweren und leichten Körpers der wesentliche Beweger der Erzeuger, der dem schweren und leichten Körper die Form gibt, auf die eine derartige Bewegung erfolgt. Hinzukommend bewegt der, der das, was die Bewegung verhinderte, aufhebt, wie von dem, der den Pfeiler entfernt, gesagt wird, er bewege den auf den Pfeiler gesetzten Stein. Man muß aber wissen, daß wir, da in den menschlichen Handlungen ein praktisches Wissen leitend ist, durch ein solches Wissen nicht nur zu guten Handlungen geleitet, sondern auch von schlechten Taten abgehalten werden. Somit verhindert das Wissen selbst die Übel. Von der Unwissenheit, die ein derartiges Wissen aufhebt, wird also zu Recht behauptet, daß sie die Ursache der Sünde ist, indem sie das entfernt, was sie verhindert. Das erscheint in den Werken der Kunst offensichtlich. Das Wissen der Grammatik weist nämlich zum richtigen Sprechen an und verhindert Unrichtigkeiten in der Redeweise. Daher kann die Unkenntnis der Grammatik eine Ursache für die Unrichtigkeit der Redeweise als ein Aufhebendes dessen, was sie verhindert, bezeichnet werden oder eher als die Aufhebung selbst des Hindernisses. Auf ähnliche Weise gibt das praktische Wissen Anweisungen in den sittlichen Handlungen. Daher ist die Unkenntnis eines derartigen Wissens in der besagten Weise eine Ursache für die sittliche Sünde. 94 Augustinus, De lib. arb. III, 18 (CCSL 29, 305). 95 Aristoteles, Phys. VIII, 8; 255 b 17–256 a 3.
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Aber man muß wissen, daß zwei Arten von Wissen in den sittlichen Handlungen anleiten, die die Sünde verhindern können: ein allgemeines nämlich, durch das wir eine Handlung als richtig oder falsch beurteilen. Durch ein derartiges Wissen wird eine Person manchmal an der Sünde gehindert, zum Beispiel wenn jemand, der in Betracht zieht, daß Hurerei eine Sünde ist, von der Hurerei abläßt. Wenn durch die Unwissenheit ein derartiges Wissen entfernt würde, wäre die Unwissenheit die Ursache der Hurerei. Aber wenn dies eine Unwissenheit der Art wäre, die die Sünde nicht gänzlich entschuldigen würde, wie es manchmal geschieht, wie unten noch gezeigt wird,96 wäre eine derartige Unwissenheit Ursache der Sünde. Das andere Wissen aber, das in sittlichen Handlungen anweist und die Sünde verhindern kann, ist ein besonderes Wissen, nämlich ein Wissen von den Umständen der Handlung selbst: allgemeines Wissen bewegt nämlich nicht ohne besonderes Wissen, wie es im 3. Buch von Über die Seele heißt.97 Auf eine Weise aber kann jemand durch die Kenntnis eines Umstandes von der Sünde schlechthin abgehalten werden. Auf eine andere Weise kann jemand durch das Wissen eines Umstandes nicht schlechthin an einer Sünde gehindert werden, sondern an einer bestimmten Art von Sünde. Zum Beispiel wenn ein Jäger in etwas Vorüberlaufendem einen Menschen erkennen würde, würde er überhaupt nicht mit Pfeilen schießen. Aber da er nicht weiß, daß es sich um einen Menschen handelt, sondern glaubt, es handle sich um einen Hirsch, begeht er durch Abschießen des Pfeils einen Mord. Auf diese Weise verursacht die Unwissenheit des Umstandes einen Mord, was eine Sünde ist. Außer es ist eine Unkenntnis von der Art, die gänzlich entschuldigt, wie unten gezeigt wird.98 Wenn jedoch ein Jäger zwar einen Menschen töten will, aber nicht seinen Vater, und wenn er in ihm, der vorübergeht, seinen Vater erkennen würde, würde er nie mit einem Pfeil schießen. Aber da er in ihm nicht seinen Vater erkennt, tötet er ihn durch Schießen des Pfeils. Daher verursacht diese Unwissenheit offensichtlich die Sünde des Mordes, 96 Vgl. De malo q. 3 a. 8. 97 Aristoteles, De an. III, 11; 434 a 16–21. 98 Vgl. De malo q. 3 a. 8.
6. Artikel
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da dieser Jäger bei jedem Ereignis des Mordes schuldig ist, obzwar er nicht in allen Fällen des Vatermordes schuldig ist. So ist es daher offensichtlich, daß Unwissenheit auf verschiedene Weisen die Ursache einer Sünde sein kann. Zu 1. Auf zwei Arten kann die Unwissenheit das Willentliche nicht so vollständig ausschließen, daß die Natur der Sünde gänzlich aufgehoben würde. Einmal nämlich, wenn die Unwissenheit selbst willentlich ist, weil dann als Folge das, was aus der Unwissenheit folgt, als willentlich beurteilt wird. Auf andere Weise, wenn bei dem Nichtwissen von etwas dennoch ein anderes gewußt wird, das zur Natur der Sünde hinreicht, wie bezüglich der Person erörtert wurde, die durch das Abschießen von Pfeilen denjenigen tötet, von dem sie nicht weiß, daß es ihr Vater ist, aber dennoch weiß, daß es ein Mensch ist.99 Auf diese Weise begeht die Person dennoch willentlich einen Mord, obwohl sie unwillentlich einen Vatermord begeht. Zu 2. Obwohl die Vernunft und der Wille zwei unterschiedliche Vermögen sind, sind sie dennoch miteinander verbunden, insofern die Vernunft auf gewisse Weise den Willen bewegt, insofern das erkannte Gut der Gegenstand des Willens ist. Folgerichtig kann die Unwissenheit mit der Sünde verbunden sein. Zu 3. , daß bei zunehmender Ursache die Wirkung vergrößert wird, ist in bezug auf die wesentlichen Ursachen richtig, nicht aber in bezug auf die nebensächlich hinzukommenden Ursachen, von welcher Art das ist, was das Hindernis aufhebt. Zu 4. Die Unwissenheit ist auch im Hinblick auf die Hinwendung die Ursache der Sünde, insofern sie das Hindernis für die Hinwendung zur Sünde entfernt. Zu 5. Wie das, was den Pfeiler entfernt, und die Entfernung des Pfeilers selbst Ursache für den Fall des Steins genannt wird, so kann auch sowohl der Wille zur Entbehrung des Wissens selbst als auch die Beraubung des Wissens selbst Ursache der Sünde genannt werden. Dennoch darf nicht behauptet werden, daß nur jene Unwissenheit, die selbst eine Sünde ist, Ursache der Sünde ist. Denn die Un99 Vgl. De malo q. 3 a. 6 c.
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kenntnis eines Umstandes ist keine Sünde, aber dennoch kann sie eine Ursache der Sünde sein, wie gezeigt wurde.100 Zu 6. Die Unwissenheit kann in unterschiedlichen Hinsichten die Ursache Entgegengesetzter sein. Denn insofern sie das Wissen, das die Sünde verhinderte, entfernt, sagt man, daß sie die Ursache der Sünde ist. Insofern sie aber die Willentlichkeit aufhebt oder verringert, entschuldigt sie von der Sünde und wird für die Ursache des Erbarmens oder der Unschuld gehalten. Zu 7. Die Unwissenheit wird auf die Gattung der nicht wesentlich, sondern nebensächlich hinzukommend bewegenden Ursache zurückgeführt, wie ausgeführt worden ist.101 Zu 8. Nichts hindert, daß die Unwissenheit die Wirkung einer Sünde und die Ursache einer anderen Sünde ist, wie auch die glühende Begierde in uns durch die Sünde unseres ersten Vorfahren verursacht wurde und dennoch die Ursache vieler in einer Handlung bestehender Sünden ist.
7. Artik el Die siebte Frage lautet: Ist die Unwissenheit eine Sünde? 102 Das scheint nicht der Fall zu sein, denn: 1. Gegensätze gehören derselben Gattung an. Daher sagt Augustinus im 5. Buch von Über die Dreieinigkeit, daß »Mensch« und »Nicht-Mensch« beide in Hinsicht auf die Substanz ausgesagt werden. Aber die Unwissenheit ist dem Wissen entgegengesetzt.103 Das Wissen gehört jedoch zur Gattung des Habitus und demnach auch die Unwissenheit. Aber die Sünde gehört nicht zur Gattung des Habitus, sondern eher zur Gattung der Handlung. Denn »die
100 Vgl. De malo q. 3 a. 6 c. 101 Vgl. De malo q. 3 a. 6 c. 102 Paralleltexte: Sent. II, d. 22 q. 2 a. 1. Sum. theol. I–II, q. 76 a. 2.
Quodl. I, q. 9 a. 3. 103 Augustinus, De Trin. V, 7 (CCSL 50, 213).
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Sünde ist eine Tat oder ein Wort oder ein Begehren wider das Gesetz Gottes.«104 Also ist die Unwissenheit keine Sünde. 2. Die Gnade ist der Sünde mehr entgegengesetzt als das Wissen. Denn das Wissen kann zusammen mit der Sünde bestehen, nicht aber die Gnade. Aber die Beraubung der Gnade ist keine Sünde, sondern eine Strafe. Also ist die Unwissenheit, die die Beraubung des Wissens ist, auch keine Sünde, sondern eher eine Strafe. 3. Im Buch Über die Regeln der Theologie heißt es, daß keine Beraubung Belohnung oder Strafe verdient.105 Aber jede Sünde verdient Strafe. Also ist keine Beraubung eine Sünde. Die Unwissenheit ist aber eine Beraubung, also ist die Unwissenheit keine Sünde. 4. Durch den Verstand unterscheiden wir uns von den Tieren. Wenn also das entfernt wird, was der Vernunft zugehört, bleibt nur das zurück, was uns und den Tieren gemeinsam ist. Aber bei den Tieren gibt es keine Sünde. Also ist die Unwissenheit in uns, durch die das aufgehoben wird, was zur Vernunft gehört, keine Sünde. 5. Wenn eine Unwissenheit eine Sünde ist, muß jene Unwissenheit willentlich sein, somit schließt sie einen vorangegangenen Willen ein. Wenn aber der Wille der Vernunft vorangeht, besteht die Sünde in eben dem Willen zum Nichtwissen. Also ist nicht die Unwissenheit eine Sünde, sondern der Wille zur Unwissenheit. 6. Augustinus sagt in den Retraktationen: »Wer aus Unwissenheit gesündigt hat, von dem heißt es nicht unpassend, er habe unfreiwillig gesündigt. Obwohl auch dieser, was er unwissend getan hat, dennoch wollend getan hat, denn er wollte die Handlung der Sünde.«106 Die Handlung der Sünde besteht also nur im Willen. Die Unwissenheit selbst ist also keine Sünde. 7. Augustinus sagt im Buch Über die Willensfreiheit: »Dir wird keine Schuld angerechnet, wenn du gegen deinen Willen unwissend bist, sondern wenn du es versäumt hast, zu wissen.«107 Die eigentliche Vernachlässigung des Wissens ist also eine Sünde und nicht die Unwissenheit. 104 105 106 107
Augustinus, Contra Faustum XXII, 27 (CSEL 25/1, 621). Alanus de Insulis, Regulae de sacra theologia 75 (PL 210, 660 C). Augustinus, Retract. I, 15 (CSEL 36, 74). Augustinus, De lib. arb. III, 19 (CCSL 29, 306).
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8. Jede Sünde ist entweder eine vom Willen hervorgerufene Handlung oder eine vom Willen befohlene Handlung. Die Unwissenheit wird aber nicht vom Willen hervorgerufen, da sie nicht im Willen, sondern in der Vernunft ist. Ähnlich wird sie nicht vom Willen befohlen. Die Unwissenheit kann nämlich nicht gewollt sein, da alle Menschen natürlicherweise nach Wissen streben. 9. Jede Sünde ist willentlich. Das Willentliche aber ist im Überlegenden, wie es im 3. Buch der Nikomachischen Ethik heißt.108 Also kann die Unwissenheit, die die Überlegung ausschließt, keine Sünde sein. 10. Jede Sünde wird durch Reue aufgehoben. Aber die Unwissenheit bleibt nach der Reue bestehen. 11. Außer der Erbsünde bleibt keine Sünde in Wirklichkeit, sondern geht in Schuld über. Aber die Unwissenheit bleibt in Wirklichkeit, auch wenn sie in Schuld übergeht. Da sie also nicht die Erbsünde ist, weil sonst folgen würde, daß sie in allen wäre, scheint es, daß sie keine Sünde ist. 12. Die Unwissenheit verbleibt fortgesetzt im Unwissenden. Wenn die Unwissenheit also Sünde wäre, würde folgen, daß ein Unwissender eine unendliche Anzahl einzelner Momente hindurch sündigen würde. Dagegen spricht: 1. Im ersten Korintherbrief 14, 38 heißt es: »Erkennt einer das nicht, so soll er nicht erkannt werden«109, nämlich durch Verwerfung. Aber eine derartige Verwerfung ist der Sünde angemessen. Also ist die Unwissenheit eine Sünde. 2. Augustinus sagt im Buch Über die Willensfreiheit, daß Torheit »lasterhafte Unwissenheit über die zu erstrebenden und zu fliehenden Dinge ist.«110 Aber alles Lasterhafte ist eine Sünde. Also ist manche Unwissenheit Sünde.
108 Aristoteles, Eth. Nic. III, 4; 1111 a 22–23. 109 1 Kor. 14, 38. 110 Augustinus, De lib. arb. III, 24 (CCSL 29, 317).
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Antwort: Nichtwissen, Unwissenheit und Irrtum sind voneinander unterschieden. Das Nichtwissen drückt nämlich eine einfache Verneinung des Wissens aus. Unwissenheit bezeichnet aber manchmal die Beraubung des Wissens, und dann ist die Unwissenheit nichts anderes als das Fehlen des Wissens, das zu besitzen jemand von Natur aus bestimmt ist. Das gehört zur Natur jeder beliebigen Beraubung. Manchmal ist die Unwissenheit hingegen etwas dem Wissen Entgegengesetztes. Diese wird Unwissenheit einer verkehrten Veranlagung genannt, zum Beispiel wenn jemand einen Habitus verkehrter Grundsätze und falscher Meinungen hat, durch die er am Wissen der Wahrheit gehindert wird. Der Irrtum ist aber die Zustimmung zum Falschen, als wäre es das Wahre. Daher fügt er eine bestimmte über die Unwissenheit hinausgehende Handlung hinzu. Unwissenheit kann nämlich in einer Person bestehen, ohne daß sie über das, was sie nicht weiß, ein Urteil fällt. Dann ist sie unwissend und nicht irrend. Aber wenn sie schon ein falsches Urteil über diese Dinge fällt, die sie nicht weiß, dann wird sie eigentlich irrend genannt. Da die Sünde in einer Handlung besteht, hat der Irrtum offensichtlich den Charakter der Sünde. Denn es ist nicht frei von Vermessenheit, über Unbekanntes ein Urteil zu fällen, und am meisten in Angelegenheiten, bei denen Gefahr besteht. Das Nichtwissen hat hingegen von sich aus weder den Charakter der Schuld noch den der Strafe. Denn es ist weder Schuld noch Strafe, daß jemand die Dinge nicht weiß, die ihm nicht zukommen oder die zu wissen er nicht von Natur aus bestimmt ist. Daher gibt es bei den glückseligen Engeln ein Nichtwissen, wie Dionysius im 6. Kapitel von Über die kirchliche Hierarchie sagt.111 Aber die Unwissenheit an sich selbst betrachtet kennzeichnet die Natur der Strafe, jedoch hat nicht jede Unwissenheit die Natur der Schuld. Denn die Unwissenheit bezüglich der Dinge, die jemand zu wissen nicht gehalten ist, ist frei von Schuld. Jene Unwissenheit hingegen, bei der jemand die Dinge nicht weiß, die zu wissen er gehalten ist, ist nicht frei von Sünde. Aber jeder ist gehalten, die Dinge zu wissen, durch die er in den eigenen Handlungen geleitet wird. Daher ist jeder Mensch gehalten, die 111 Richtig: Dionysius Areopagita, De cael. hier. VII, 3 (Dion., 859).
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Dinge zu wissen, die zum Glauben gehören. Denn der Glaube leitet die Absicht. Außerdem sind sie gehalten, die Vorschriften der zehn Gebote zu kennen, die einen befähigen, die Sünde zu meiden und das Gute zu tun. Daher wurden sie auch vor dem gesamten Volk göttlich verkündet, wie im Buch Exodus 20, 22 ff. festgehalten ist.112 Die geheimeren Gebote wurden allerdings von Moses und Aaron vom Herrn gelernt. Neben diesen ist jedoch jeder Einzelne gehalten, die Dinge zu wissen, die zu seinem Amt gehören, wie die Bischöfe die Dinge zu wissen gehalten sind, die zum bischöflichen Amt gehören, und die Priester die Dinge, die zum Priesteramt gehören, und so auch bei den anderen. Die Unwissenheit über diese Dinge ist nicht frei von Schuld. Eine derartige Unwissenheit kann daher auf dreifache Weise betrachtet werden: einmal an sich selbst, und auf diese Weise hat sie nicht die Natur der Schuld, sondern der Strafe. Es ist nämlich oben ausgeführt worden, daß das Übel der Schuld eine Beraubung der Ordnung in einer Handlung ist, das Übel der Strafe hingegen die Beraubung einer Vollkommenheit im handelnden Subjekt ist.113 Daher hat die Beraubung der Gnade oder des Wissens die Natur einer Strafe, wenn sie an sich selbst betrachtet wird. Auf andere Weise kann eine derartige Unwissenheit in Hinsicht auf ihre Ursache betrachtet werden. Wie nämlich die Ursache des Wissens eine Neigung der Seele zum Wissen ist, so besteht die Ursache der Unwissenheit darin, die Seele nicht zum Wissen zu neigen. Eben dasjenige, das darin besteht, die Seele nicht zum Wissen von dem zu neigen, was einer wissen sollte, ist eine Unterlassungssünde. Daher wird die Sünde eine Handlungssünde sein, wenn eine Beraubung von dieser Art mit der vorangegangenen Ursache zusammengenommen wird – in der Weise, in der die Unterlassung eine Sünde genannt wird. Auf eine dritte Weise kann eine derartige Unwissenheit in Beziehung auf das betrachtet werden, was aus dieser folgt, und auf diese Weise ist sie manchmal die Ursache der Sünde, wie oben ausgeführt worden ist.114 112 Ex. 20, 22 ff. 113 Vgl. De malo q. 2 a. 2 und 3. 114 Vgl. De malo q. 3 a. 6.
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Die Unwissenheit kann auch der Erbsünde zugehören, wie Hugo von Sankt Viktor sagt.115 Das ist so zu betrachten: In der Erbsünde gibt es ein formales Element, nämlich die Abwesenheit der ursprünglichen Gerechtigkeit, die zum Willen gehört. Wie aber aus der ursprünglichen Gerechtigkeit, durch die der Wille mit Gott verbunden war, ein Überfließen von Vollkommenheit in die anderen Vermögen vollbracht wurde – so nämlich, daß die Vernunft durch das Wissen der Wahrheit erleuchtet wurde die zornmütigen und begehrlichen Vermögen Rechtbeschaffenheit von der Vernunft erhielten –, so gingen das Wissen der Wahrheit in der Vernunft und die Rechtbeschaffenheit in den zornmütigen und begehrlichen Vermögen durch den Entzug der ursprünglichen Gerechtigkeit vom Willen verloren. Auf diese Weise sind die Unwissenheit und der Zunder der bösen Begehrlichkeit die Materien in der Erbsünde, genauso wie die Hinwendung zu einem veränderlichen Gut die Materie in der Handlungssünde ist. Zu 1. Die Beraubung des Wissens und die der Gnade haben die Natur der Schuld, insofern sie zusammen mit ihrer Ursache aufgefaßt werden, die zur Gattung der Handlung gehört. Denn Nichthandeln und Handeln werden entsprechend der angeführten Regel des Augustinus in derselben Gattung betrachtet. Zu 2–3. Aus dem Vorangehenden erhellt die Lösung für das zweite und das dritte Argument. Zu 4. Obwohl die Unwissenheit eine bestimmte Vollkommenheit der Vernunft raubt, hebt sie dennoch nicht die Vernunft selbst auf, durch die wir uns von den Tieren unterscheiden. Daher ist das Argument nicht gültig. Zu 5. Die Wurzel jeder Sünde liegt im Willen, wie oben ausgeführt wurde.116 Dennoch folgt nicht, daß die gewollte Handlung deswegen keine Sünde ist. Daher folgt auch nicht, daß die Unwissenheit keine Sünde ist, obwohl die Wurzel der Sünde im Willen zur Unwissenheit besteht.
115 Hugo von Sankt Viktor, De sacramentis I–VII, 27 (PL 176, 293 D). 116 Vgl. De malo q. 2 a. 2 und 3.
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Zu 6. Augustinus spricht dort von der Sünde, die aus Unwissenheit begangen wird. Diese Sünde besteht aber manchmal nur im Wollen der Handlung und nicht in der Unwissenheit selbst. Es wurde nämlich oben festgestellt, daß nicht jede Unwissenheit, die Ursache einer Sünde ist, eine Sünde ist.117 Zu 7. Die Unwissenheit, die gänzlich unfreiwillig ist, ist keine Sünde. Das ist es, was Augustinus sagt: »Es wird dir nicht als Schuld angerechnet, wenn du gegen deinen Willen unwissend bist.« Dadurch aber, daß er hinzufügt: »aber wenn du es vernachlässigt hast zu wissen«, gibt er zu verstehen, daß der Grund für die Sündhaftigkeit der Unwissenheit die vorangegangene Vernachlässigung ist. Diese besteht in nichts anderem, als die Seele nicht zum Wissen der Dinge zu neigen, die jemand wissen sollte. Zu 8. Nichts hindert etwas daran, an sich selbst und natürlich gewollt zu sein, das wir dennoch wegen etwas damit Verknüpftem nicht wollen. Zum Beispiel wenn jemand natürlicherweise die Unversehrtheit seines Körpers erhalten und dennoch in der Zwischenzeit die Amputation seiner entzündeten Hand will, wenn er wegen dieser Gefahr um den ganzen Körper fürchtet. Ähnlich strebt der Mensch natürlicherweise nach Wissen, aber trotzdem weist er das Wissen wegen der Mühe des Lernens oder um nicht an der Sünde gehindert zu werden, die er liebt, zurück. Auf diese Weise ist die Unwissenheit auf gewisse Weise vom Willen befohlen. Zu 9. Obwohl der Unwissende das, worüber er unwissend ist, nicht kennt, erkennt er dennoch die Unwissenheit selbst oder das, wegen dem er die Unwissenheit nicht flieht. Auf diese Weise kann die Unwissenheit eine willentliche Sünde sein. Zu 10. Obwohl die Unwissenheit nach der Reue bestehen bleibt, wird dennoch die Schuld der Unwissenheit aufgehoben. Zu 11. Die Sünde der Unwissenheit besteht nicht in der Ermangelung des Wissens allein, sondern in dieser zusammen mit der vorangehenden Ursache, die das Versäumnis zu lernen ist. Diese Vernachlässigung würde jedoch nicht in Schuld übergehen, wenn sie in Wirklichkeit bleiben würde. Es gibt jedoch eine Unwissenheit, mit
117 Vgl. De malo q. 3 a. 6.
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wir alle geboren werden und die auf gewisse Weise zur Erbsünde zugehört, wie ausgeführt worden ist.118 Zu 12. Wie in anderen Unterlassungssünden jemand nicht fortgesetzt sündigt, wenn er nicht handelt, sondern nur in der Zeit, während der er verpflichtet ist zu handeln, so muß dies in ähnlicher Weise auch von der Unwissenheit gesagt werden.
8. Artik el Die achte Frage lautet: Kann Unwissenheit eine Sünde entschuldigen oder verringern? 119 Das scheint nicht der Fall zu sein, denn: 1. Das, was die Sünde erschwert, entschuldigt sie weder ganz noch teilweise. Vielmehr verschlimmert die Unwissenheit eine Sünde. Die Stelle: »Kennst du nicht die Güte Gottes«120 et cetera aus dem Römerbrief 2, 4 kommentiert Ambrosius nämlich: »Am schwersten sündigst du, wenn du unwissend bist.«121 Also entschuldigt Unwissenheit die Sünde weder im Ganzen noch zum Großteil. 2. In Fall 24 Frage 1 aus dem Decretum heißt es, daß der, der mit den Ketzern Gemeinschaft teilte, auf Grund der Tatsache, daß er nicht wußte, daß sie irren, mehr sündigte.122 So erschwert die Unwissenheit die Sünde also und entschuldigt sie nicht. 3. Aus Trunkenheit geht Unwissenheit hervor. Aber der Betrunkene, der auf Grund seiner Trunkenheit einen Totschlag oder eine andere Sünde begeht, verdient die »doppelte Schmähung«, wie es im 3. Buch der Nikomachischen Ethik heißt.123 Also verringert Unwissenheit eine Sünde nicht, sondern vergrößert sie.
118 Vgl. De malo q. 3 a. 7 c. 119 Paralleltexte: Sent. II, d. 22 q. 2 a. 2. Sum. theol. I–II, q. 76 a. 3 und
4. Super Rom. cap. 1 lect. 7. Super I Tim. cap. 1 lect. 3. In De div. Nom. cap. 4 lect. 22. Quodl. VIII, q. 6 a. 5. Sent. libri Ethic. III, 11 und V, 13. 120 Röm. 2, 4. 121 Richtig: Petrus Lombardus, Glossa in Rom. 2, 4 (PL 191, 1338 D). 122 Decretum C. 24 q. 1 c. 34 (ed. Friedberg I, 979). 123 Aristoteles, Eth. Nic. III, 11; 1113 b 31–32.
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4. Eine zu einer Sünde hinzugefügte Sünde wird größer. Aber die Unwissenheit selbst ist eine Art von Sünde, wie ausgeführt worden ist.124 Also verringert sie die Sünde nicht, sondern vergrößert sie. 5. Das, was als Gemeinsames in jeder Sünde gefunden wird, verringert die Sünde nicht. Aber die Unwissenheit wird als Gemeinsames in allen Sünden gefunden. Denn, wie es im 3. Buch der Nikomachischen Ethik heißt, jeder schlechte Mensch ist unwissend.125 Damit stimmt überein, was in den Sprichwörtern 14, 22 gesagt wird: »Sie gehen in die Irre, die schlecht handeln.«126 Also verringert oder entschuldigt die Unwissenheit eine Sünde nicht. Dagegen spricht: Die Sünde besteht vor allem in der Verachtung Gottes. Aber Unwissenheit verringert die Verachtung oder hebt sie vollständig auf. Also entschuldigt sie die Sünde entweder im Ganzen oder teilweise. Antwort: Da es zur Natur der Sünde gehört, daß sie willentlich ist, entschuldigt die Unwissenheit die Sünde um so viel im Ganzen oder zum Teil, so weit sie die Freiwilligkeit aufhebt. Es ist aber zu bedenken, daß die Unwissenheit die folgende Freiwilligkeit aufheben kann, nicht aber die vorangehende Willentlichkeit. Da sich aber die Unwissenheit in der Vernunft findet, kann die Ordnung der Unwissenheit im Verhältnis zur Willentlichkeit aus der Ordnung der Vernunft im Verhältnis zum Willen erschlossen werden. Denn die Handlung der Vernunft geht mit Notwendigkeit der Handlung des Willens voran, da das erkannte Gut der Gegenstand des Willens ist. Daher ist die Willenshandlung ausgeschlossen, wenn die Erkenntnis der Vernunft durch die Unwissenheit ausgeschlossen ist, und somit wird das Willentliche in Bezug auf das, was unbekannt ist, aufgehoben. Wenn daher in derselben Handlung etwas unbekannt und etwas bekannt ist, kann die Handlung in Bezug auf das, was bekannt ist, willentlich sein. Dennoch ist sie in Bezug 124 Vgl. De malo q. 3 a. 7. 125 Aristoteles, Eth. Nic. III, 3; 1110 b 28. 126 Spr. 14, 22.
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auf das, was unbekannt ist, immer unfreiwillig. Es kann dabei sein, daß die Mißgestalt der Handlung unbekannt ist. Wenn jemand zum Beispiel nicht weiß, daß die Hurerei eine Sünde ist, so begeht er die Hurerei gewiß freiwillig, aber er begeht die Sünde nicht willentlich. Es kann aber auch sein, daß ein Umstand der Handlung unbekannt ist: zum Beispiel wenn jemand sexuellen Verkehr mit einer Frau hat, die er für seine eigene hält, so verkehrt er zwar willentlich mit einer Frau, aber nicht willentlich mit einer fremden Frau. Obwohl Unwissenheit immer Nicht-Willentlichkeit hervorruft, verursacht sie dennoch nicht immer Unfreiwilligkeit. Denn »Nicht-Willentlichkeit« bezeichnet nur das Fehlen der Tätigkeit des Willens. Aber »unfreiwillig« sagt aus, daß der Wille dem, was geschieht, entgegengesetzt ist. Daher folgt auf das Unfreiwillige Traurigkeit, die jedoch nicht immer auf die - Willentlichkeit folgt. Es passiert nämlich manchmal folgendes: jemand verkehrt mit einer Frau, die seine Frau ist und die er für seine Frau hält, obwohl er aktuell nicht mit der Frau verkehren will, die nicht seine Frau ist, da er nicht weiß, daß sie nicht seine Frau ist. Dennoch wünscht er es habituell und würde es aktuell wollen, wenn er es wissen würde. Daher ist er nicht betrübt, sondern freut sich, wenn er später merkt, daß sie nicht seine Frau gewesen ist. Außer er hat seinen Willen geändert. Umgekehrt kann die Willenshandlung der Vernunfthandlung vorangehen, zum Beispiel wenn jemand erkennen will, und aus demselben Grund fällt die Unwissenheit unter den Willen und wird willentlich. Dies geschieht aber auf zweifache Weise: erstens nämlich, wenn jemand unmittelbar bezüglich des Heilswissens unwissend sein will, damit er nicht von der Sünde, die er liebt, abgehalten wird. Daher heißt es in Hiob 21, 14 von bestimmten einzelnen, daß sie zu Gott gesagt haben: »Bleib von uns fern! Von deinen Wegen wollen wir nichts wissen.«127 Zweitens wird die Unwissenheit mittelbar willentlich genannt, wenn eine Person nicht die Mühe zum Wissen aufwendet. Hierbei handelt es sich um Unwissenheit aus Vernachlässigung. Da aber von jemand nur dann gesagt wird, daß er etwas vernachlässigt, wenn er das unterläßt, das zu tun er verpflichtet ist, scheint 127 Hiob 21, 14.
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es nicht unter Vernachlässigung zu fallen, wenn jemand seine Seele nicht auf jedwede Erkenntnis richtet. Es fällt hingegen nur dann unter Vernachlässigung, wenn er seine Seele nicht auf die Erkenntnis der Dinge richtet, die er erkennen sollte: entweder schlechthin und zu jeder Zeit – daher wird die Unkenntnis des Rechts als Vernachlässigung angerechnet – oder in einem einzelnen Fall. Wer an einem Ort, wo Menschen vorbeizugehen pflegen, einen Pfeil abschießt, wird der Vernachlässigung für schuldig befunden, wenn er sich nicht um das Wissen bemüht hat, ob jemand zu dieser Zeit vorbeigeht. Eine derartige Unwissenheit, die aus Vernachlässigung hervorgeht, wird als willentlich beurteilt. Drittens wird die Unwissenheit dann in zufälliger Weise willentlich genannt, wenn nämlich jemand unmittelbar oder mittelbar etwas will, auf das die Unwissenheit selbst folgt: Unmittelbar nämlich, wie es beim Trunkenbold offensichtlich ist, der Wein in Überfülle trinken will, wodurch er des Verstandesgebrauchs beraubt wird. Mittelbar aber, wenn jemand es versäumt, den aufkommenden Bewegungen der Leidenschaften zu widerstehen, die bei wachsender Stärke den Vernunftgebrauch in einer besonderen Entscheidung fesseln. In dieser Beziehung wird jeder schlechte Mensch unwissend genannt. Da also das, was willentlich verursacht wird, in sittlichen Dingen als freiwillig angesehen wird, ist die Unwissenheit insoweit selbst willentlich, sofern es ihr an dem mangelt, was ihre Unfreiwilligkeit verursachen würde und folglich an dem, was die Sünde entschuldigt. Wenn jemand also unmittelbar nicht wissen will, damit er durch das Wissen nicht von der Sünde abgehalten wird, so entschuldigt eine solche Unwissenheit die Sünde weder im Ganzen noch zum Teil, sondern verschlimmert sie eher. Denn es scheint aus großer Liebe zur Sünde zu geschehen, daß jemand den Verlust des Wissens erleiden will, damit er sich frei in der Sünde betätigt. Wenn jemand aber mittelbar unwissend sein will, da er es vernachlässigt zu lernen, oder auch wenn er die Unwissenheit in zufälliger Weise will, indem er unmittelbar oder mittelbar etwas will, auf das Unwissenheit folgt, so ruft solch eine Unwissenheit nicht eine vollständige Unfreiwilligkeit in der folgenden Handlung hervor. Denn die folgende Handlung ist auf gewisse Weise freiwillig, gerade weil sie aus einer Unwissenheit hervorgeht, die willentlich ist. Aber dennoch verringert eine voran-
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gehende Unwissenheit den Charakter der Freiwilligkeit der Handlung. Denn die Handlung, die aus einer derartigen Unwissenheit hervorgeht, ist weniger willentlich, als wenn jemand ohne jede Unwissenheit wissentlich eine derartige Handlung wählen würde. Deshalb entschuldigt eine derartige Unwissenheit die folgende Handlung nicht gänzlich, sondern nur teilweise. Aber die folgende Handlung selbst und die vorangehende Unwissenheit stellen eine Sünde dar, wie der Wille und die äußere Handlung eine Sünde genannt werden. Daher kann es vorkommen, daß die Sünde nicht weniger durch die Willentlichkeit der Unwissenheit anwächst, als sie durch die verringerte Freiwilligkeit der Handlung entschuldigt wird. Wenn die Unwissenheit aber auf keine der erwähnten Arten willentlich ist, zum Beispiel wenn sie unüberwindbar ist und wenn sie ohne alle Ungeordnetheit des Willens ist, dann macht sie die folgende Handlung im Ganzen zu einer unfreiwilligen Handlung. Zu 1. Jene Aussage des Ambrosius pflegt so ausgelegt zu werden: »Am schwersten sündigst du«, das heißt am gefährlichsten, »wenn du unwissend bist«. Denn solange du nicht weißt, daß du sündigst, suchst du kein Heilmittel. Oder er spricht von der beabsichtigten Unwissenheit, durch die jemand unwissend sein will, damit er nicht von der Sünde abgehalten wird. Oder er spricht von der Unwissenheit von empfangenen Wohltaten. Denn es ist der höchste Grad an Undankbarkeit, daß jemand sich nicht bemüht, empfangene Wohltaten zu erkennen. Oder er spricht von der Unwissenheit des Unglaubens, die an sich selbst die schwerste Sünde ist. Obzwar sogar eine aus solcher Unwissenheit begangene Sünde nach jener Stelle des Apostels gemindert wird: »Ich habe Erbarmen erlangt, da ich in meinem Unglauben unwissend gehandelt habe.«128 Zu 2. Diese angeführte Stelle spricht von der Unwissenheit des Unglaubens. Zu 3. Der Betrunkene, der einen Totschlag begeht, verdient die doppelte Schmähung, weil er zwei Sünden begeht. Dennoch sündigt er im Totschlag weniger, als wenn er nüchtern töten würde. 128 1 Tim. 1, 13; Vulg. ›misericordiam Dei consecutus sum quia ignorans feci in incredulitate‹.
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Zu 4. Auch die Unwissenheit, die eine Sünde ist, insofern sie willentlich ist, verringert die Willentlichkeit der folgenden Handlung. Es ist möglich, daß sie mehr von der folgenden Sünde verringert, als die Größe ihrer eigenen Sünde beträgt. Zu 5. In ihm, der wegen seines Habitus und auf Grund einer Wahl sündigt, ist solch eine Unwissenheit rein absichtlich. Daher verringert sie die Sünde nicht. Die Unwissenheit desjenigen aber, der aus Leidenschaft sündigt, ist in unwesentlicher Weise willentlich, wie ausgeführt wurde, und verringert die Sünde.129 Denn das bedeutet, aus Schwäche zu sündigen, wodurch die Sünde verringert wird.
9. Artik el Die neunte Frage lautet: Kann jemand, der im Besitz des Wissens ist, aus Schwäche sündigen? 130 Das scheint nicht der Fall zu sein, denn: 1. Von niemandem wird gesagt, daß er etwas aus Schwäche tut, in dessen Willen das Vermögen liegt, davon abgehalten zu werden. Aber im Willen jedes Wissenden ist ein Vermögen, von der Sünde abgehalten zu werden. Denn in Jesus Sirach 15, 16 heißt es: »Wenn du den Geboten dienen willst, kannst du ihnen dienen.«131 Also sündigt niemand, der im Besitz des Wissens ist, aus Schwäche. 2. Keiner sündigt aus Schwäche, der die stärkste Hilfe gegen die Sünde besitzt. Aber jeder Wissende besitzt die stärkste Hilfe gegen die Sünde, nämlich die Gewißheit des Wissens. Also sündigt kein Wissender aus Schwäche. 3. Kein Vermögen kann in seine Tätigkeit übergehen, außer gemäß der Natur seines Gegenstandes, wie der Gesichtssinn nur farbige Dinge sehen kann. Aber der Gegenstand des Willens, in dessen Tätigkeit die Sünde grundsätzlich besteht, ist das erkannte Gut, wie es im 3. Buch von Über die Seele heißt.132 Also kann in der Willenstätigkeit keine Sünde sein, außer es ist irgendein Mangel in der 129 130 131 132
Vgl. De malo q. 3 a. 8 c. Paralleltexte: Sum. theol. I–II, q. 77 a. 2 und 3. Sent. libri Eth. VII, 3. Sir. 15, 16; Vulg. ›… conservabunt te‹. Aristoteles, De an. III, 10; 433 b 11–12.
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Erkenntnis des Guten. Aber das Wissen schließt einen derartigen Mangel aus. Also ist es nicht möglich, daß jemand, der im Besitz des Wissens ist, aus Schwäche sündigt. 4. Der Gegenstand des Willens ist nur das Gute oder ein scheinbares Gut. Denn das Übel ist kein Gegenstand des Wollens, wie Dionysius im 4. Kapitel von Über die göttlichen Namen sagt.133 Aber insofern der Gegenstand des Willens ein wahres Gut ist, findet sich in ihm keine Sünde. Also ist jede Sünde im Willen, insofern sein Gegenstand ein scheinbares und kein existierendes Gut ist. Das ist nicht ohne Unwissenheit. Also ist es nicht möglich, daß jemand im Besitz des Wissens aus Schwäche sündigt. 5. Dagegen wurde eingewandt, daß jener, der im Allgemeinen wissend ist, bezüglich des Besonderen, das getan werden muß, unwissend sein kann. Auf diese Weise wird er sündigen, zum Beispiel wenn jemand im Allgemeinen weiß, daß Diebstahl verboten ist, aber glaubt, daß er hier und jetzt begangen werden darf. – Dagegen spricht: Wie Aristoteles im 2. Buch der Lehre vom Satz beweist, sind die Meinungen über kontradiktorische Gegensätze sich konträr entgegengesetzt.134 Aber ein verneinendes Allgemeines und ein bejahendes Besonderes sind kontradiktorische Gegensätze. Da keiner gleichzeitig entgegengesetzte Meinungen haben kann, weil Gegensätze nicht gleichzeitig demselben zukommen können, scheint es also unmöglich, daß jemand, der Ehebruch im Allgemeinen für verboten hält, gleichzeitig im Einzelfall glauben kann, daß er zu begehen ist. 6. Dagegen wurde eingewandt, daß Meinungen über kontradiktorisch entgegengesetzte Dinge konträre Gegensätze sind, daß das Wissen jedoch nicht der Meinung entgegengesetzt ist. Denn sie gehören nicht zu einer Gattung. – Dagegen spricht: Das Wissen ist verschiedener von der falschen als von der wahren Meinung. Denn die Meinung ist begleitet von der Furcht vor dem Irrtum, nicht aber das Wissen. Wenn also jemand nicht gleichzeitig mit der falschen Meinung eine wahre entgegengesetzte Meinung haben kann, wird er weit weniger Wissen besitzen können. 133 Dionysius Areopagita, De div. nom. cap. IV, 32 (Dion., 306). 134 Aristoteles, Peri herm. II, 14; 23 b 35 ff.
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7. Wer auch immer das Allgemeine weiß und weiß, daß das Einzelne unter dem Allgemeinen enthalten ist, erkennt schlechterdings gleichzeitig das Einzelne, wie im 1. Buch der Zweiten Analytik darlegt wird.135 Wer zum Beispiel weiß, daß jedes Maultier unfruchtbar ist, weiß gleichzeitig, daß dieses Maultier unfruchtbar ist – vorausgesetzt er weiß, daß dieses Lebewesen ein Maultier ist. Wer aber weiß, daß Ehebruch verboten ist, würde, sofern er nicht wüßte, daß diese Handlung Ehebruch ist, nicht als wissend betrachtet werden, sondern als unwissentlich sündigend. Wenn er also nicht aus Unwissenheit sündigt, ist er nicht nur im Allgemeinen, sondern auch im Einzelfall wissend. 8. Gesprochene Worte sind Zeichen für die aufgefaßten Dinge, wie Aristoteles sagt.136 Aber der, der tätlich die Handlung des Ehebruchs wählt, würde, wenn er gefragt würde, antworten, daß dies eine Sünde und verboten ist. Also ist es nicht wahr, daß er im Besonderen unwissend ist, aber im Allgemeinen weiß, wie behauptet wurde.137 9. Augustinus sagt im 14. Buch von Die Bürgerschaft Gottes, daß Scham die Begierde auslöscht.138 Die Scham erwächst aber aus dem Wissen, also löscht das Wissen die Begierde aus. Die Schwäche der Seele bezieht sich aber hauptsächlich auf die Begierde, also verhindert das Wissen die Sünde, die aus Schwäche geschieht. Demnach ist es nicht möglich, daß jemand, der im Besitz des Wissens ist, aus Schwäche sündigt. 10. Von jenem, der weiß, daß das, was er tut, eine Sünde ist, heißt es, er sündige wissentlich. Aber die Natur der Sünde besteht in einer Beleidigung Gottes. Jedoch bändigt der Gedanke an die Beleidigung Gottes die Begierde, wie es in der Stelle des Psalms 118, 120 heißt: »In Furcht vor dir erschauert mein Fleisch, ich fürchte deine Gerichte.«139 Also verhindert das Wissen die Sünde, die aus der Schwäche, die zur Begierde gehört, entsteht. 135 136 137 138 139
Aristoteles, Anal. post. I, 2; 71 a 17–21. Aristoteles, Peri herm. I, 2; 16 a 3–4. Vgl. De malo q. 3 a. 9 arg. 5. Augustinus, De civ. Dei XIV, 20 (CCSL 48, 442). Ps. 118, 120.
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11. Beda zählt die Schwäche zu den vier Wunden, die aus der Sünde hervorgehen.140 Somit hat sie den Charakter einer Strafe. Aber die Strafe ist nicht die Ursache einer Sünde, sondern ist eher auf die Berichtigung der Sünde gerichtet. Also geschieht die Sünde des Wissenden nicht aus Schwäche. 12. Die Schwäche der Seele erstreckt sich auf die Leidenschaften, die im sinnlichen Teil sind. Die Sünde besteht hingegen in der Zustimmung des Willens, der im vernünftigen Seelenteil ist. Die Ursache muß aber mit der Wirkung verknüpft sein, denn jede Handlung geschieht durch Berührung. Also kann Schwäche nicht die Ursache einer Sünde sein. 13. Das Leidende wird mehr durch ein Tätiges verändert, das näher ist, als durch ein weiter entferntes. Aber, da es in der Vernunft ist, ist das Wissen dem Willen näher als die Schwäche oder die Leidenschaft. Diese ist nach der folgenden Matthäusstelle 26, 41 dem mit dem Fleisch verbundenen niederen Seelenteil zugeordnet: »Der Geist ist willig, aber das Fleisch ist schwach.«141 Also scheint es nicht möglich, daß jemand aus Schwäche seinem Gewissen zuwider handelnd sündigt. 14. Der höhere Seelenteil, in dem die Vernunft und der Wille enthalten sind, befiehlt auch den niederen Seelenteilen, in denen die Leidenschaften sind, nämlich dem zornmütigen und dem begehrlichen Seelenteil und sogar den Körpergliedern. Aber ein Mangel, der in den Gliedern des Körpers auftritt, verändert nicht den Befehl des Willens, sondern nur die Ausführung der Handlung. Also verändert auch kein Mangel, der im zornmütigen oder begehrlichen Seelenteil auftritt, den Befehl des Willens. Aber die Sünde besteht Befehl des Willens. Also geschieht keine Sünde aus Schwäche. 15. Durch die Leidenschaften erwerben wir uns weder Verdienst noch Schuld. Aber die Schuld selbst ist Sünde. Also geschieht keine Sünde aus Leidenschaft, die eine Schwäche der Seele ist.
140 Allgemein Beda zugeschrieben, aber von der kritischen Edition nicht gefunden. 141 Mt. 26, 41.
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Dagegen spricht: 1. Isidor von Sevilla sagt im Buch Über das höchste Gut, daß einige Sünden aus Schwäche begangen werden.142 2. Der Apostel sagt im Römerbrief 7, 5: »Die durch das Gesetz erregten sündhaften Leidenschaften wirkten in unseren Gliedern, so daß sie Frucht brachten für den Tod.«143 Was aber Frucht für den Tod hervorbringt, ist nach dem Römerbrief 6, 23 eine Sünde: »Der Sold der Sünde ist der Tod.«144 Also werden einige Sünden auf Grund von Leidenschaften, die die Schwächen der Seele sind, begangen. Antwort: Im allgemeinen wird von allen angenommen, daß einige Sünden aus Schwäche begangen werden. Diese würden von den Sünden aus Unwissenheit nicht unterschieden werden, außer es wäre möglich, daß jemand, der im Besitz des Wissens ist, aus Schwäche sündigt. Daher muß die Möglichkeit zugestanden werden, daß jemand, der wissend ist, aus Schwäche sündigt. Um darüber Klarheit zu gewinnen, muß erstens betrachtet werden, was wir unter der Bezeichnung »Schwäche« verstehen. Diese Bezeichnung ist aber von einer Ähnlichkeit mit der körperlichen Schwäche hergenommen. Manchmal ist der Körper aber schwach, wenn ein Körpersaft nicht dem ordnenden Vermögen des ganzen Körpers unterliegt, zum Beispiel wenn ein Körpersaft eine bestimmte Grenze der Wärme oder Kälte oder etwas dergleichen überschreitet. Wie es aber ein bestimmtes ordnendes Vermögen des Körpers gibt, so ist der Verstand das regulierende Vermögen aller inneren Erregungen. Wenn eine Erregung daher nicht entsprechend der Vernunftregel geordnet ist, sondern ausufernd oder mangelhaft ist, nennt man das »Seelenschwäche«. Dies tritt besonders in Bezug auf die Erregungen der sinnlichen Begierde auf, die Leidenschaften genannt werden – wie Furcht, Zorn, Begierde oder dergleichen. Daher nannten die Alten dergleichen Leidenschaften der Seele »Krankhei142 Isidor von Sevilla, De summo bono II, 17 (PL 83, 620 A). 143 Röm. 7, 5; Vulg. ›… membris nostris …‹. 144 Röm. 6, 23.
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ten der Seele«, wie Augustinus in seiner Schrift über Die Bürgerschaft Gottes sagt.145 Von dem, was der Mensch aus einer Leidenschaft heraus tut – zum Beispiel aus Zorn, Furcht, Begierde oder etwas derartigem –, heißt es also, daß er es aus Schwäche tut. Wie Aristoteles im 7. Buch der Nikomachischen Ethik feststellt, behauptet Sokrates in seiner Betrachtung über die Stärke und Gewißheit des Wissens, daß das Wissen nicht von der Leidenschaft überwunden werden kann, auf eine Weise nämlich, daß kein Mensch auf Grund einer Leidenschaft etwas gegen sein Wissen tun kann.146 Daher nannte er alle Tugenden Arten des Wissens und alle Laster oder Sünden nannte er Arten von Unwissenheit.147 Daraus folgt, daß niemand, der im Besitz des Wissens ist, aus Schwäche sündigt. Das widerspricht ganz offensichtlich unserer alltäglichen Erfahrung. Daher muß erwogen werden, daß man Wissen auf vielfache Weise besitzen kann. Einerseits im Allgemeinen, andererseits im Besonderen, einerseits als Habitus, andererseits in Verwirklichung. Erstens kann es aber gewiß aus Leidenschaft geschehen, daß das, was habituell gewußt wird, nicht in Wirklichkeit betrachtet wird. Denn es ist offensichtlich, daß ein anderes Vermögen an seiner Wirklichkeit entweder gehindert oder gänzlich abgewendet wird, wann immer ein Vermögen auf seine Wirklichkeit gerichtet ist. Wenn zum Beispiel jemand darauf konzentriert ist, jemanden zu hören, bemerkt er nicht, daß ein Mensch vorübergeht. Dies geschieht deshalb, weil alle Vermögen in einer Seele wurzeln, deren Aufmerksamkeit jedes einzelne Vermögen in seine Tätigkeit überführt. Wenn jemand entschlossen auf die Tätigkeit eines Vermögens gerichtet ist, verringert sich somit dessen Aufmerksamkeit auf die Verwirklichung eines anderen Vermögens. Daher wird der Mensch auf diese Weise, wenn die Begierde, der Zorn oder etwas Derartiges stark ist, an der Betrachtung des Wissens gehindert. Zweitens muß man ins Auge fassen, daß die Leidenschaften der Seele, da sie in der sinnlichen Begierde sind, Einzelnes betreffen: der 145 Augustinus, De civ. Dei XIV, 7 (CCSL 48, 423). 146 Aristoteles, Eth. Nic. VII, 2; 1145 b 21–27. 147 Aristoteles, Eth. Nic. VI, 11; 1144 b 29–30 und Aristoteles, Eth. Nic.
VII, 2; 1145 b 26–27.
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Mensch begehrt nämlich dieses Vergnügen, wie er auch dieses süße Ding schmeckt. Das Wissen betrifft aber das Allgemeine. Dennoch ist das allgemeine Wissen nicht Ursprung irgendeiner Handlung, außer insofern es auf das Besondere bezogen wird. Denn Handlungen beziehen sich auf besondere Fälle. Wenn daher die Leidenschaft bezüglich eines Besonderen stark ist, weist es die entgegengesetzte Bewegung des Wissens betreffs desselben Besonderen zurück – nicht nur durch die Ablenkung von der Betrachtung des Wissens, wie oben gesagt worden ist,148 sondern auch durch seine Verkehrung auf dem Wege der Gegensätzlichkeit. Somit wird jener, der von einer heftigen Leidenschaft ergriffen ist, auch wenn er auf eine Weise das Allgemeine betrachten würde, im Besonderen dennoch an dessen Erwägung gehindert. Drittens muß man ins Auge fassen, daß auf Grund einer körperlichen Veränderung der Gebrauch der Vernunft gefesselt werden kann, so daß sie entweder im Ganzen nichts überlegen oder nicht frei überlegen kann, wie das bei den Schlafenden und Wahnsinnigen offensichtlich ist. Durch die Leidenschaften findet aber eine Veränderung im Körper statt, so daß manchmal einige auf Grund von Zorn, Begierde oder einer derartigen Leidenschaft dem Wahnsinn verfallen sind. Daher fesseln derartige Leidenschaften, wenn sie stark sind, durch die körperliche Veränderung selbst auf gewisse Weise den Verstand, so daß er kein freies Urteil über Besonderes, das man zu tun hat, besitzt. Somit wird jemand, der hinsichtlich seines Habitus und im Allgemeinen wissend ist, durch nichts daran gehindert, daß er aus Schwäche sündigt. Zu 1. Im Willen des Menschen gibt es ein Vermögen, durch das er vor der Sünde bewahrt wird. Aber in diesem wird er durch die Leidenschaft geschwächt, so daß er bei gefesseltem Verstandesgebrauch nicht auf vollkommene Weise will, wie ausgeführt worden ist.149 Zu 2. Obwohl das Wissen an sich das Sicherste ist, wird es, wie ausgeführt worden ist, im Besonderen dennoch durch die Leiden-
148 Vgl. De malo q. 3 a. 9 c. 149 Vgl. De malo q. 3 a. 9 c.
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schaft behindert, so daß es gegen die Sünde keine Hilfe beitragen kann.150 Zu 3. Der Wille wird entsprechend dem Bedürfnis des erkannten Guts bewegt. Aber daß dieses besondere Wünschenswerte gemäß dem Verstandesurteil als Gut erkannt wird, wird manchmal durch eine Leidenschaft verhindert, wie ausgeführt worden ist.151 Zu 4. Der Wille neigt immer unter dem Aspekt des Guten zu etwas. Aber es geschieht zwar manchmal, daß etwas, das nicht gut ist, als gut erscheint, weil das Verstandesurteil auch im Allgemeinen verkehrt ist, und in diesem Fall handelt es sich um eine Sünde aus Unwissenheit. Manchmal geschieht es jedoch, weil es im Besonderen durch eine Leidenschaft behindert wird, und dann ist es eine Sünde aus Schwäche. Zu 5. Es ist für niemanden möglich, gleichzeitig entweder Wissen oder eine wahre Meinung über eine allgemeine Bejahung und eine falsche Meinung über eine besondere Verneinung zu besitzen oder umgekehrt. Aber es ist gut möglich, daß jemand dem Habitus nach ein Wissen oder eine wahre Meinung von einem der kontradiktorischen Gegensätze und gegenwärtig eine falsche Meinung über den anderen besitzt. Ein Wirkliches ist nämlich nicht einem Habitus, sondern einer Wirklichkeit entgegengesetzt. Zu 6. Die Antwort auf das sechste Argument ist aus dem Vorangehenden offensichtlich. Zu 7. Da eine Handlung der Sünde und der Tugend durch eine Wahl geschieht, die Wahl aber ein aus einer vorherigen Überlegung entspringendes Verlangen, die Überlegung aber eine Art Untersuchung ist, muß in jeder beliebigen Handlung der Tugend oder Sünde eine bestimmte quasi-syllogistische Schlußfolgerung vorliegen. Aber dennoch folgert der Gemäßigte auf eine andere Weise als der Ungemäßigte, der Enthaltsame anders als der Unenthaltsame. Der Mäßige wird nämlich nur entsprechend des Verstandesurteils bewegt. Daher benutzt er einen Schluß, der drei Sätze enthält. Auf diese Weise folgert er: Ehebruch ist verboten, diese Handlung ist Ehebruch, also ist sie verboten. Der Maßlose aber folgt gänzlich der 150 Vgl. De malo q. 3 a. 9 c. 151 Vgl. De malo q. 3 a. 9 c.
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Begierde. Somit benutzt auch er einen Schluß, der drei Sätze enthält und folgert auf diese folgende Art: alles Angenehme muß genossen werden, diese Handlung ist angenehm, also ist sie zu begehen. Aber der Enthaltsame und der Unenthaltsame werden auf folgende Weise auf zwei unterschiedliche Arten bewegt: gemäß der Vernunft nämlich zur Vermeidung der Sünde, gemäß der Begierde aber zum Begehen der Sünde. Aber im Enthaltsamen siegt das Verstandesurteil, im Unenthaltsamen hingegen die Bewegung der Begierde. Daher benutzen beide einen Schluß, der vier Sätze enthält – jedoch für gegenteilige Schlußfolgerungen. Der Enthaltsame schließt nämlich so: jede Sünde ist verboten. Dies behauptet er in Übereinstimmung mit dem Vernunfturteil. Aber entsprechend der Bewegung der Begierde wendet er in seinem Herzen hin und her, daß allem Angenehmen nachgegangen werden muß. Weil jedoch das Vernunfturteil in ihm siegt, wendet er den ersten Vordersatz an und schließt unter ihm: dieses ist eine Sünde, also ist es verboten. Der Unenthaltsame aber, in dem die Bewegung der Begierde siegt, wendet den ersten Vordersatz an und schließt unter ihm: das ist angenehm, also ist ihm nachzugehen. Das ist die eigentümliche Beschaffenheit dessen, der aus Schwäche sündigt. Daher ist offensichtlich, daß er dennoch im Besonderen unwissend ist, obzwar er im Allgemeinen wissend ist. Denn er nimmt die Prämisse nicht gemäß der Vernunft an, sondern gemäß der Begierde. Zu 8. Wie Aristoteles im 7. Buch der Nikomachischen Ethik erläutert, urteilt derjenige, der von der Leidenschaft besiegt ist, dennoch in seinem Herzen, daß diese Handlung zu begehen ist, auch wenn er äußerlich mit den Lippen sagt, daß diese Handlung zu vermeiden ist.152 Dies tut er genau wie der Betrunkene, der einige Worte vorträgt, die er nichtsdestotrotz innerlich nicht versteht. Daher sagt er etwas äußerlich und denkt innerlich etwas anderes. Zu 9. Gewiß besiegt das Wissen manchmal die Begierde, entweder durch Erregung der Scham oder durch Erregung der Furcht vor der Beleidigung Gottes. Aber nichts verhindert, daß manchmal auch das Wissen in besonderen Fällen von der Leidenschaft bezwungen wird. 152 Aristoteles, Eth. Nic. VII, 3; 1147 a 10–b 19.
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Zu 10. Die Erwiderung auf den zehnten Einwand leuchtet aus dem Vorhergehenden ein. Zu 11. Jede Strafe schreckt bei ihrer Betrachtung von der Sünde ab, aber nicht jede Strafe, insofern sie schon auferlegt worden ist, schreckt von der Sünde ab. Denn die Beraubung der Gnade ist eine Art von Strafe. Dennoch wird jemand nicht dadurch von der Sünde abgehalten, daß er der Gnade beraubt wird, sondern dadurch, daß er bedenkt, daß er der Gnade beraubt wird, wenn er sündigt. Ähnliches muß man von der Unwissenheit sagen. Zu 12. Die Zustimmung zu einer Handlung gehört zwar zum vernünftigen Streben, geschieht aber dennoch nicht ohne Hinneigung zum Besonderen, in dem die Leidenschaften der Seele am mächtigsten sind. Daher wird die Zustimmung durch die Leidenschaften manchmal verändert. Zu 13. Die Vernunft ist dem Willen näher als die Leidenschaft. Aber dem besonderen Wünschenswerten ist die Leidenschaft näher als die sich auf das Allgemeine beziehende Vernunft. Zu 14. Die Seele befiehlt dem Körper wie einem Sklaven, der sich dem Befehl des Herrn nicht widersetzen kann. Aber die Vernunft befiehlt dem zornmütigen und begehrlichen Vermögen durch ein königliches oder bürgerliches Prinzip, das freien Männern angemessen ist, wie Aristoteles im 1. Buch der Politik erklärt.153 Daher können das zornmütige und das begehrliche Vermögen auch dem Vernunftbefehl widerstehen, wie auch die freien Bürger manchmal dem Befehl des Herrschers widerstehen mögen. Zu 15. Durch die Leidenschaften erwerben wir uns weder Verdienste noch Schuld, so als wenn Verdienst oder Schuld prinzipiell in ihnen bestehen. Aber dennoch können sie hilfreich oder hinderlich für Verdienst und Schuld sein.
153 Aristoteles, Pol. I, 3; 1254 b 5–6.
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10. Artik el Die zehnte Frage lautet: Werden die Sünden, die aus Schwäche begangen werden, dem Menschen als eine tödliche Schuld zur Last gelegt? 154 Das scheint nicht der Fall zu sein, denn: 1. Dem Menschen wird nichts als tödliche Schuld angerechnet, was er nicht freiwillig tut. Aber derartige Sünden, die aus Schwäche begangen werden, begeht der Mensch nicht willentlich. Über diese sagt nämlich der Apostel im Brief an die Galater 5, 17: »Denn das Fleisch begehrt wider den Geist, […] damit ihr nicht das tut, was ihr eigentlich wollt.«155 Also werden derartige Sünden dem Menschen nicht als eine tödliche Schuld zur Last gelegt. 2. Kein leidendes Vermögen kann tätig werden, außer insofern es von seinem Tätigkeitsgrund bewegt wird. Aber es ist die dem Verstand durch seine Natur eigentümliche Bestimmung, den Willen zu bewegen. Wenn also das Verstandesurteil durch eine Leidenschaft behindert worden ist, scheint es, daß es nicht im Vermögen des Willens liegt, die Sünde zu vermeiden. Also wird sie ihm nicht als tödliche Schuld zur Last gelegt. 3. Eine Leidenschaft der Seele behindert durch ihre Nähe den Verstand und den Willen mehr als eine Leidenschaft des Körpers. Aber eine Leidenschaft des Körpers entschuldigt die ungeordneten Handlungen vollständig von der Schuld. Das ist bei den Taten offensichtlich, die durch Schlafende und geistig Verwirrte begangen werden. Also entschuldigt eine Leidenschaft der Seele noch viel mehr von einer Schuld. 4. Dagegen wurde eingewandt, daß eine Leidenschaft der Seele freiwillig ist, eine Leidenschaft des Körpers aber unfreiwillig. – Dagegen spricht: Die Wirkung ist nicht mächtiger als ihre Ursache. Da sie freiwillig ist, hat die Leidenschaft aber nicht die Natur einer tödlichen, sondern nur einer läßlichen Schuld. Also kann sie deswegen auch keine Todsünde verursachen. 5. Eine Sünde wird wegen ihrer Folge nicht ins Unendliche erschwert, so nämlich, daß das, was an sich läßlich war, wegen seiner 154 Paralleltexte: Sum. theol. I–II, q. 77 a. 8. 155 Gal. 5, 17.
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Folge tödlich wird. Aber die bloße Leidenschaft wäre keine Todsünde, wenn nicht eine schlechte Wahl folgen würde. Also zieht sich der Mensch nicht deshalb, weil eine schlechte Wahl folgt, die Schuld einer Todsünde zu. Also sind Sünden, die aus Schwäche begangen werden, keine Todsünden. Dagegen spricht: Der Apostel sagt im Römerbrief 7, 5: »Die sündhaften Leidenschaften wirkten in unseren Gliedern, so daß sie Frucht brachten für den Tod.«156 Aber nichts außer einer Todsünde bringt Frucht für den Tod. Also können Sünden, die aus Leidenschaft Schwäche begangen werden, Todsünden sein. Antwort: Da jemand manchmal aus Schwäche oder aus Leidenschaft Ehebruch und viele Schand- oder Missetaten begeht, wie Petrus es tat, als er Christus aus Furcht verleugnete, darf keiner darüber im Zweifel sein, daß die aus Schwäche begangenen Sünden manchmal Todsünden sind. Um das zu beweisen, muß man ins Auge fassen, daß die Notwendigkeit, die aus der Annahme von etwas erfolgt, das dem Willen unterliegt, nicht die Natur der Todsünde aufhebt. Wenn jemandem zum Beispiel ein Schwert in die lebenswichtigen Organe gestoßen wird, wird er mit Notwendigkeit sterben. Aber das Zustoßen der Klinge geschieht freiwillig. Daher wird der Tod von jenem, der mit der Klinge geschlagen wird, dem Schlagenden als Todsünde zur Last gelegt. Ähnliches muß man über diese Behauptung ausführen. Gesetzt nämlich, daß die Vernunft durch eine Leidenschaft gefesselt ist, so muß eine verkehrte Wahl erfolgen. Aber es liegt im Vermögen des Willens, diese Fesslung des Verstandes zurückzuweisen. Es wurde nämlich ausgeführt,157 daß die Vernunft dadurch gefesselt wird, daß die Aufmerksamkeit der Seele stürmisch auf eine Handlung des sinnlichen Begehrens gerichtet wird. Daher wird sie davon 156 Röm. 7, 5; Vulg. ›… peccatorum quae per legem erant operabantur …‹. 157 Vgl. De malo q. 3 a. 9.
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abgelenkt, im Besonderen zu bedenken, was sie habituell im Allgemeinen erkennt. Die Aufmerksamkeit auf etwas zu richten oder nicht zu richten steht jedoch im Vermögen des Willens. Daher steht es im Vermögen des Willens, die Fesslung der Vernunft zu verhindern. Die begangene Handlung, die aus einer solchen Fesslung hervorgeht, ist demnach freiwillig. Daher wird sie nicht von Schuld freigesprochen – auch nicht der tödlichen. aber die Fesslung der Vernunft in so hohem Maße von der Leidenschaft verursacht würde, daß es nicht im Vermögen des Willens läge, eine so beschaffene Fesslung abzuwenden – zum Beispiel, wenn jemand durch eine Leidenschaft der Seele dem Wahnsinn verfallen würde –, würde weder ihm noch einem anderen Wahnsinnigen zur Last gelegt werden, was auch immer er begehen würde, außer vielleicht, was den Beginn einer solchen Leidenschaft betrifft, der freiwillig gewesen ist. Denn der Wille besaß am Anfang die Macht zu verhindern, daß die Leidenschaft so weit voranschreiten würde. So wird etwa ein durch einen Betrunkenen begangener Mord diesem als Schuld zur Last gelegt, da der Ursprung der Trunkenheit willentlich gewesen ist. Zu 1. Das, was ein Mensch durch die Leidenschaft gefesselt begeht, will ein Mensch nicht begehen, wenn er frei von Leidenschaft ist. Aber nachdem die Vernunft durch die Leidenschaft gefesselt ist, wird er durch die Leidenschaft dazu geführt, es zu wollen. Zu 2. Der Wille wird nicht nur von der Erkenntnis der durch die Leidenschaft gefesselten Vernunft bewegt, sondern es liegt in seinem Vermögen, die Fesselung der Vernunft zu verhindern, wie ausgeführt worden ist.158 In diesem Maß wird ihm als Schuld zur Last gelegt, was er tut. Zu 3. Die körperlichen Leidenschaften abzuwenden, steht nicht in der Gewalt des Willens wie die Abwendung der seelischen Leidenschaften. Denn die körperliche Natur gehorcht dem vernünftigen Willen nicht wie die sinnliche Begierde. Daher besteht keine Ähnlichkeit. Zu 4. Nichts hindert, daß etwas, das schlechthin betrachtet keine Todsünde ist, dennoch in einem besonderen Fall eine Todsünde ist. 158 Vgl. De malo q. 3 a. 10 c.
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So ist es eine Todsünde, einem Armen, der an Hunger stirbt, keine Almosen zu geben, was jedoch in anderen Fällen keine Todsünde wäre. Ähnlich verhält es sich bei der vorliegenden Frage. Eine Leidenschaft nicht abwenden zu wollen, auch wenn das schlechthin keine Todsünde ist, ist dennoch in dem Fall eine Todsünde, wenn sie bis zur Zustimmung zu einer Todsünde anwächst. Zu 5. Eine zukünftige und unvorhergesehene Folge erschwert eine Sünde nicht ins Unendliche, aber eine verknüpfte und vorhergesehene Folge kann eine Sünde ins Unendliche erschweren, so daß das eine Todsünde ist, was ansonsten keine wäre. So ist es zum Beispiel keine Todsünde, einen Pfeil abzuschießen. Aber das Abschießen eines Pfeils in Verbindung mit der Tötung eines Menschen ist eine Todsünde. Auf ähnliche Weise ist es eine Todsünde, eine zu einer Todsünde neigende Leidenschaft nicht abzuwenden.
11. Artik el Die elfte Frage lautet: Erleichtert oder erschwert Schwäche die Sünde? 159 Es scheint, daß sie sie erschwert, denn: 1. Wie sich eine gute Leidenschaft zum Verdienst verhält, so verhält sich eine schlechte Leidenschaft zur Sünde. Aber eine gute Leidenschaft vergrößert das Verdienst. Es ist nämlich löblicher und verdienstvoller, daß jemand auf Grund von seiner barmherzigen Anteilnahme Almosen spendet als ohne barmherzige Anteilnahme, wie aus Augustinus 9. Buch von Die Bürgerschaft Gottes klar hervorgeht.160 Also ist es auch eine schändlichere und größere Sünde, eine Sünde mit Leidenschaft zu begehen. Aber aus Leidenschaft sündigen, bedeutet aus Schwäche sündigen, wie ausgeführt worden ist.161 Also erschwert Schwäche die Sünde. 2. Da jede Sünde aus zügelloser Begierde geschieht, wie Augustinus sagt,162 scheint jemand um so mehr zu sündigen, aus je größe159 160 161 162
Paralleltexte: Sum. theol. I–II, q. 77 a. 6. Augustinus, De civ. Dei IX, 5 (CCSL 47, 254). Vgl. De malo q. 3 a. 9. Augustinus, De lib. arb. I, 3 (CCSL 29, 215).
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rer Begierde er sündigt. Aber die Begierde ist eine Art von Leidenschaft der Seele und eine Schwäche. Also erschwert die Schwäche eine Sünde. 3. Durch Vergrößerung der Ursache wird die Wirkung vergrößert, wie etwa aus größerer Erhitzung größere Hitze hervorgeht. Wenn daher Schwäche die Ursache einer Sünde ist, folgt, daß eine größere Schwäche die Ursache einer größeren Sünde ist. Somit erschwert Schwäche eine Sünde. Dagegen spricht: Das, weswegen eine Sünde entschuldbar wird, erschwert die Sünde nicht, sondern verringert sie. Aber eine Sünde heißt wegen der Schwäche in höherem Grade entschuldbar. Also verschlimmert Schwäche die Sünde nicht, sondern verringert sie. Antwort: Aus Schwäche zu sündigen bedeutet, aus Leidenschaft zu sündigen, wie ausgeführt worden ist.163 Aber eine Leidenschaft der sinnlichen Begierde verhält sich auf zwei Arten zur Bewegung des Willens. Zum einen als vorangehend, zum anderen als nachfolgend. Als vorangehend nämlich, wenn zum Beispiel der Wille wegen einer Leidenschaft dazu geneigt wird, etwas zu wollen. Auf diese Weise verringert die Leidenschaft die Natur des Verdienstes und die Natur der Schuldhaftigkeit. Denn Verdienst und Schuldhaftigkeit bestehen in einer Wahl, die aus einer vorangehenden Überlegung hervorgeht. Die Leidenschaft trübt aber das Urteil der Vernunft oder fesselt es sogar. Um so reiner aber das Verstandesurteil gewesen ist, um so deutlicher ist die Wahl für Verdienst oder Schuldhaftigkeit. Wen daher sein Vernunfturteil dazu führt, eine Wohltat zu begehen, der handelt löblicher, als wer zu derselben Tat nur durch eine Leidenschaft der Seele geführt wird. Diese kann nämlich manchmal durch unangemessene Anteilnahme in die Irre gehen. Auf ähnliche Weise begeht jener eine größere Sünde, den seine Vernunfterwägung zur Sünde führt, als jener, der nur durch eine Leidenschaft der Seele zur Sünde verleitet wird. 163 Vgl. De malo q. 3 a. 9.
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Als nachfolgend wird die Leidenschaft aber betrachtet, wenn das niedere Begehren durch eine starke Bewegung des Willens zur Leidenschaft bewegt wird. Auf diese Weise fügt die Leidenschaft etwas zu Verdienst oder Schuldhaftigkeit hinzu. Denn die Leidenschaft ist ein Zeichen dafür, daß die Willensbewegung stärker ist. Auf diese Weise ist es wahr, daß jener, der mit größerer Anteilnahme ein Almosen spendet, ein größeres Verdienst erwirbt, und wer mit größerer Lust eine Sünde begeht, mehr sündigt. Denn dies ist ein Zeichen dafür, daß die Willensbewegung stärker ist. Aber das nennt man nicht aus Leidenschaft eine Wohltat tun oder eine Sünde begehen, sondern auf Grund der Wahl des Guten oder Schlechten stärker zu empfinden. Zu 1–2. Die Antwort auf den ersten und den zweiten Einwand ist aus dem Vorangehenden ersichtlich. Zu 3. Es gehört zur Natur der Sünde, willentlich zu sein. Willentlich wird aber das genannt, dessen Ursprung im Handelnden selbst liegt. Daher ist auch die Sünde um so schwerer, je mehr der innere Ursprung vergrößert wird. Um so größer aber die äußere Ursache ist, um so leichter wiegt die Sünde. Die Leidenschaft ist aber ein dem Willen äußerlicher Ursprung, die Bewegung des Willens hingegen ein innerer Ursprung. Daher ist die Sünde um so größer, je stärker die Bewegung des Willens gewesen ist. Aber die Sünde wird um so kleiner, je stärker die zur Sünde drängende Leidenschaft gewesen ist.
12. Artik el Die zwölfte Frage lautet: Kann jemand aus Schlechtigkeit oder in vollem Bewußtsein eine Sünde begehen? 164 Das scheint nicht der Fall zu sein, denn: 1. Der Mensch beabsichtigt das, was er in vollem Bewußtsein tut. Aber nach Dionysius im 4. Kapitel von Über die göttlichen Namen macht niemand das Schlechte zu seinem Gegenstand, wenn er eine 164 Paralleltexte: Sent. II, d. 43 a. 1. Sum. theol. I–II, q. 78 a. 1.
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Handlung ausführt.165 Also handelt niemand in vollem Bewußtsein schlecht. 2. Ein Vermögen kann nur durch seinen ihm eigenen Gegenstand bewegt werden. Aber der Gegenstand des Willens ist das erkannte Gute. Also kann keiner das wollen, von dem er weiß, daß es schlecht ist. Somit kann keiner in vollem Bewußtsein sündigen. 3. Dagegen wurde eingewandt, daß der Wille zu einem Gut neigt, das mit einem Übel verknüpft ist, und auf diese Weise heißt es von ihm, daß er ein Übel anstrebt. – Dagegen spricht: Die Dinge, die nicht der Wirklichkeit nach getrennt sind, können hinsichtlich einer Handlung der Seele getrennt werden – sowohl der Vernunft nach als auch der Begierde nach. Wir können nämlich »kugelförmig« ohne die wahrnehmbare Materie verstehen, und jemand kann ein Abt sein wollen, ohne daß er ein Mönch sein will. Obwohl das Übel also mit einem Gut verbunden sein kann, ist es scheinbar dennoch nicht notwendig, daß der Wille deswegen zu einem Übel neigt, weil er zu einem Gut neigt, mit dem ein Übel verbunden ist. 4. Eine Sache wird nicht nach einer unwesentlichen Eigenschaft, sondern nach dem, was der Sache an sich zukommt, benannt. Denn gemäß diesem wird über die Sache geurteilt. Aber deswegen, weil jemand an sich will, wird nicht von ihm gesagt, daß er das mit diesem Verknüpfte will – außer in nebensächlicher Weise. So liebt zum Beispiel der den Wein nur als Begleitumstand, der den Wein wegen seiner Süße liebt. Auf diese Weise will der, der ein mit einem Übel verknüpftes Gut will, jenes Übel nur nebenher. Also sollte nicht gesagt werden, daß er aus Schlechtigkeit sündigt, als ob er das Übel wollte. 5. Wer auch immer aus Schwäche sündigt, hat den Willen zu einem Übel, das mit einem Gut verknüpft ist. Wenn es auf Grund dieser Tatsache daher von jemandem heißt, daß er aus Schlechtigkeit sündigt, folgt auch, daß jener, der aus Schwäche sündigt, aus Schlechtigkeit sündigt. Das ist offenbar falsch. 6. Dagegen wurde eingewandt, daß der Wille dessen, der aus Schlechtigkeit sündigt, auf die vorhin ausgeführte Weise von sich 165 Dionysius Areopagita, De div. nom. IV, 19 (Dion., 236) und IV, 31 (Dion., 304).
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aus zum Schlechten bewegt wird, nicht aber der Wille dessen, der aus Schwäche sündigt. Dieser sündigt vielmehr sozusagen durch eine Leidenschaft bewegt. – Dagegen spricht: Von sich aus zu etwas bewegt zu werden, bedeutet gemäß seiner Form und Natur zu etwas geneigt zu werden, wie sich das Schwere von sich aus nach unten bewegt. Aber der Wille hat auf Grund seiner Form und seiner Natur keine Neigung zum Schlechten, sondern eher zum Guten. Also kann der Wille nicht von sich aus zum Schlechten streben. Somit wird niemand aus Schlechtigkeit sündigen. 7. Der Wille neigt gemäß der allgemeinen Natur des Guten von sich aus zum Guten. Es ist notwendig, daß er nach verschiedenen Gütern strebt – und zwar geneigt von einem anderen, das ihn bestimmt. Die unterschiedlichen Güter sind jedoch das wahre Gut und das scheinbare Gut. Zum wahren Gut strebt der Wille aber auf Grund eines Vernunfturteils. Also strebt er auch nicht von sich aus zu dem scheinbaren Gut, mit dem ein Übel verknüpft ist, sondern geneigt von einem anderen. Also sündigt niemand aus Schlechtigkeit. 8. Unter Schlechtigkeit versteht man manchmal die Schuld, insofern sie der Tugend entgegengesetzt ist, manchmal aber die Strafe nach den Ausführungen Bedas, daß es vier durch die Sünde zugezogene Wunden gibt: Unwissenheit, Schwäche, Schlechtigkeit und Begierde.166 Aber man kann nicht behaupten, daß jemand aus Schlechtigkeit sündigt, wenn unter Schlechtigkeit eine Schuld verstanden wird. Denn auf diese Weise wäre dasselbe Ursache seiner selbst, nämlich die Schlechtigkeit der Schlechtigkeit. Ebensowenig kann man es dann behaupten, wenn sie als Strafe aufgefaßt wird. Denn jede Strafe erstreckt sich auf die Natur der Schwäche. Auf diese Weise würde aus Schlechtigkeit sündigen bedeuten, daß man aus Schwäche sündigt. Das ist widersprüchlich. Daher sündigt niemand aus Schlechtigkeit. 9. Es kommt aber manchmal vor, daß jemand eine sehr leichte Sünde in vollem Bewußtsein begeht, zum Beispiel durch Sprechen eines eitlen Wortes oder durch eine launige Lüge. Aber von der 166 Diese allgemein Beda zugeschriebene Aussage wurde von der kritischen Edition nicht gefunden.
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Sünde, die aus Schlechtigkeit begangen wird, heißt es, sie sei sehr schwer. In vollem Bewußtsein zu sündigen, bedeutet also nicht, aus Schlechtigkeit zu sündigen. 10. Dionysius sagt im 4. Kapitel von Über die göttlichen Namen, daß das Gute Anfang und Ende jeder beliebigen Handlung ist.167 Aber dasjenige, weswegen jemand eine Sünde begeht, ist entweder ein innerer Grund, der zur Sünde neigt, wie der Habitus oder die Leidenschaft oder etwas Derartiges, oder es ist ein beabsichtigtes Ziel. Niemand sündigt also aus Schlechtigkeit. 11. Wenn jemand aus Schlechtigkeit sündigt, scheint dies am meisten bei dem der Fall zu sein, der die Sünde wählt. Aber nach Johannes von Damaskus wird jede Sünde auf Grund einer Wahl begangen.168 Also würde jede Sünde aus Schlechtigkeit begangen. 12. Die Schlechtigkeit ist der Tugend entgegengesetzt. Somit ist auch die Schlechtigkeit ein Habitus. Denn die Tugend ist ein Habitus und Gegensätze fallen unter dieselbe Gattung. Einige Habitus der Tugend sind aber im zornmütigen und begehrlichen Vermögen. So sagt Aristoteles über die Mäßigung und die Tapferkeit im dritten Buch der Nikomachischen Ethik, daß sie den unvernünftigen Teilen zugehören.169 Nicht diesen Seelenteilen kommt es jedoch zu zu wählen, sondern dem freien Willen. Von der Sünde also, die auf Grund einer Wahl begangen wird, darf nicht gesagt werden, daß sie aus Schlechtigkeit hervorgeht. 13. Derjenige, der aus Schlechtigkeit sündigt, scheint eben dieses zu wollen, das heißt sündigen und ein Übel begehen. Aber dies kann nicht passieren. Denn der Habitus zur Einhaltung der obersten Vorschriften des Sittengesetzes wird niemals ausgelöscht. Dieser murrt immer wider das Übel. Also sündigt niemand aus Schlechtigkeit. Dagegen spricht: 1. In Hiob 34, 27 heißt es: »Sie haben sich absichtlich von ihm abgewendet und alle seine Wege nicht befolgt«170. Aber sich von Gott 167 168 169 170
Dionysius Areopagita, De div. nom. IV, 31 (Dion., 303–304). Richtig: Nemesios von Emesa, De nat. hom. 40 (ed. Verbeke, 147). Aristoteles, Eth. Nic. III, 19; 1117 b 23–24. Hiob 34, 27; Vulg. ›… ab eo et omnes vias eius …‹.
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abwenden, heißt sündigen. Also sündigen manche Menschen absichtlich, was gleichbedeutend damit ist, aus Schlechtigkeit zu sündigen. 2. Augustinus sagt in den Bekenntnissen, daß er, als er die Birnen stahl, nicht die Birnen, sondern seinen eigenen Fehler liebte, nämlich den Diebstahl selbst.171 Aber das Übel selbst zu lieben, heißt aus Schlechtigkeit sündigen. Also sündigt manch einer aus Schlechtigkeit. 3. Neid ist eine Art von Schlechtigkeit. Aber manche Menschen sündigen aus Neid. Also sündigen manche Menschen aus Schlechtigkeit. Antwort: Wie Aristoteles im 3. Buch der Nikomachischen Ethik sagt, behaupteten einige, daß niemand freiwillig schlecht ist.172 Gegen diese wendet Aristoteles an derselben Stelle ein, es sei unvernünftig zu behaupten, jemand wolle Ehebruch begehen und nicht ungerecht sein.173 Der Grund dafür liegt darin, daß etwas nicht nur dann freiwillig genannt wird, wenn der Wille darauf ursprünglich und von sich aus als auf sein Ziel bewegt wird, sondern auch, wenn der Wille wegen eines Ziels darauf bewegt wird. Zum Beispiel will der Kranke nicht nur Gesundheit erlangen, sondern auch die bittere Medizin trinken, die er andernfalls nicht wollen würde, damit er Gesundheit erlangt. Auf ähnliche Weise wirft der Kaufmann seine Ware freiwillig ins Meer, damit das Schiff nicht untergeht. Wenn jemand also so sehr eine Freude genießen will, zum Beispiel Ehebruch oder irgendein Angenehmes dieser Art, so daß er nicht davor zurückschreckt, die Mißgestalt der Sünde zu erwerben, von der er wahrnimmt, daß sie mit dem Gewollten verknüpft ist, sagt man von ihm nicht nur, daß er jenes Gut will, das er ursprünglich will. Vielmehr wird man von ihm sagen, daß er auch die Mißgestalt selbst will, die zu leiden er wählt, um nicht des erstrebten Gutes beraubt zu werden. Daher will 171 Augustinus, Confess. II, 6 (CCSL 27, 23). 172 Aristoteles, Eth. Nic. III, 11; 1113 b 14–15. 173 Aristoteles, Eth. Nic. III, 12; 1114 a 11.
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der Ehebrecher sowohl ursprünglich die Freude als auch zweitens die Mißgestalt. Dazu bringt Augustinus in seiner Schrift Über die Bergpredigt des Herrn das Beispiel, daß jemand aus Liebe zu einer Magd sich freiwillig der harten Knechtschaft ihres Herrn unterwirft.174 Aber daß jemand ein veränderliches Gut so sehr will, daß er die Entfernung vom unveränderlichen Gut nicht flieht, kann auf zweifache Weise geschehen: auf eine Weise, daß jemand nicht weiß, daß mit jenem veränderlichen Gut eine derartige Entfernung verbunden ist. Dann sagt man von ihm, daß er aus Unwissenheit sündigt. Auf andere Weise durch etwas, das den Willen innerlich zu jenem Gut neigt. Etwas kann aber auf zweifache Weise zu einem anderen geneigt werden: einerseits durch ein anderes leidend, zum Beispiel wenn ein Stein nach oben geworfen wird – andererseits durch seine eigene Form, und dann wird es von sich selbst dazu geneigt, wie wenn ein Stein nach unten fällt. Auf eine ähnliche Weise wird der Wille zu einem veränderlichen Gut geneigt, mit dem die Mißgestalt der Sünde verbunden ist. Manchmal nämlich durch eine Leidenschaft, und dann sagt man von ihm, daß er aus Schwäche sündigt, wie oben ausgeführt worden ist.175 Manchmal hingegen durch einen Habitus, wenn durch die Gewohnheit die Neigung zu einem solchen Gut ihm sozusagen schon in einen Habitus und eine Natur verkehrt ist. Dann wird der Wille durch seine eigene Bewegung ohne irgendeine Leidenschaft zu jenem Gut geneigt. Das bedeutet, aus Wahl zu sündigen – entweder vorsätzlich, in vollem Bewußtsein oder sogar aus Schlechtigkeit. Zu 1. Kein Handelnder beabsichtigt das Übel als ursprünglich gewollt. Aber trotzdem wird in der Folge das Übel selbst für jemanden willentlich, indem er sich nicht scheut, sich ein Übel zuzuziehen, damit er das begehrte Gut genießen kann. Zu 2. Der Wille wird ursprünglich immer zu einem Gut bewegt. Auf Grund einer heftigen Bewegung zu einem Gut passiert es, daß ein Übel ertragen wird, das mit jenem Gut verknüpft ist. 174 Augustinus, De serm. Dom. II, 14 (CCSL 35, 139). 175 Vgl. De malo q. 3 a. 10 und 11.
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Zu 3. Manchmal passiert es, daß der Wille zu einem mit einem Übel verknüpften Gut geneigt wird und dennoch nicht zu jenem Übel geneigt ist: zum Beispiel wenn jemand die Freude, die im Ehebruch besteht, erstreben würde, jedoch die Mißgestalt des Ehebruchs scheuen und deswegen sogar die Freude ausschlagen würde. Aber manchmal passiert es, daß jemand sich wegen einer Freude auch willentlich die Mißgestalt der Schuld zuzieht. Zu 4. Jenes, das mit dem ursprünglich erstrebten Gut verbunden ist, wenn es unvorhergesehen und unbekannt ist, ist nur durch etwas Hinzukommendes gewollt, wie wenn jemand, der aus Unwissenheit sündigt, etwas will, von dem er nicht weiß, daß es Sünde ist und das dennoch in Wirklichkeit Sünde ist. Auf diese Weise will er das Übel nicht, außer durch etwas Hinzukommendes. Wenn er aber weiß, daß es eine Sünde ist, will er als Folge jenes Übel und nicht nur durch etwas Hinzukommendes, wie ausgeführt worden ist.176 Zu 5. Wenn gesagt wird, daß jemand wegen etwas sündigt, wird dadurch zu verstehen gegeben, daß jenes der erste Anfangsgrund der Sünde ist. Aber in der Person, die aus Schwäche sündigt, ist der Wille zum Übel nicht der erste Anfangsgrund der Sünde, sondern sie wird durch eine Leidenschaft verursacht. Aber in der Person, die aus Schlechtigkeit sündigt, ist das Wollen des Übels der erste Anfangsgrund der Sünde. Denn durch sich selbst und durch ihren eigenen Habitus wird ihr Wille zum Wollen des Übels geneigt, nicht durch einen anderen äußeren Ursprung. Zu 6. Die Form, durch die der Sünder handelt, ist nicht nur das Vermögen des Willens selbst, sondern der Habitus, der ihn innerlich in der Weise einer bestimmten Natur neigt. Zu 7. Die Lösung zum siebten Argument ist aus dem Vorangehenden offensichtlich. Zu 8. Wenn von jemandem gesagt wird, daß er aus Schlechtigkeit sündigt, kann dort unter Schlechtigkeit entweder ein Habitus verstanden werden, der der Tugend entgegengesetzt ist, oder eine Schuld, insofern die innere Willenshandlung oder Wahl Schuld genannt wird und die Ursache der äußeren Handlung ist. Daher folgt nicht, daß dasselbe Ursache seiner selbst ist. 176 Vgl. De malo q. 3 a. 12 c.
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Zu 9. Die Schlechtigkeit ist der Tugend entgegengesetzt, die eine gute Beschaffenheit des Geistes ist. Die läßliche Sünde ist aber nicht das Gegenteil der Tugend. Wenn jemand daher absichtlich eine läßliche Sünde begeht, geschieht sie nicht aus Schlechtigkeit. Zu 10. Das Gute ist zuerst und ursprünglich Anfang und Ende der Handlung, aber in zweiter Linie und nachfolgend kann sogar das Übel gewollt sein, wie ausgeführt worden ist.177 Zu 11. Sogar in der Sünde aus Schwäche kann eine Wahl stattfinden, nicht die erste Ursache der Handlung der Sünde ist, da sie durch Leidenschaft verursacht wird. Daher sagt man von einem derartigen Sünder nicht, daß er auf Grund einer Wahl sündigt, obwohl er beim Wählen sündigt. Zu 12. Wie die im zornmütigen oder begehrlichen Vermögen gegenwärtige Leidenschaft die Wahl verursacht, insofern sie für den Moment die Vernunft fesselt, so verursacht der in diesem Vermögen existierende Habitus eine Wahl, insofern er die Vernunft bindet. Er tut dies nicht in der Weise einer vorübergehenden Leidenschaft, sondern in der Weise einer innerlichen Form. Zu 13. Zu dem Habitus zur Einhaltung der obersten Vorschriften des Sittengesetzes gehören die allgemeinen Grundsätze des natürlichen Gesetzes, über die niemand irrt. Aber im Sünder wird die Vernunft durch eine Leidenschaft oder einen Habitus in bezug auf einzelne wählbare Dinge gefesselt. Erwiderungen auf die Einwände: Zu 1–2. Obwohl aus den Argumenten der Einwände das Richtige gefolgert wird, muß dennoch beim zweiten Argument folgendes bedacht werden: Wenn Augustinus sagt, daß er den Fehler selbst und nicht die Birnen, die er gestohlen hat, geliebt hat, ist dies nicht so aufzufassen, als könnten der Fehler selbst oder die Mißgestalt der Schuld zuerst und an sich gewollt sein. Sondern zuerst und an sich selbst war entweder gewollt, den Wünschen der anderen entsprechend zu handeln, die Erfahrung von etwas zu haben, etwas Verbotenes zu tun oder etwas Derartiges.
177 Vgl. De malo q. 3 a. 12 c.
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Zu 3. Im dritten Argument muß beachtet werden, daß nicht von jeder Sünde, die von einer anderen Sünde verursacht wird, gesagt werden kann, sie werde aus Schlechtigkeit begangen. Denn es kann sein, daß jene erste Sünde, die Ursache einer anderen ist, aus Schwäche oder Leidenschaft begangen worden ist. Dazu aber, daß jemand aus Schlechtigkeit sündigt, ist es notwendig, daß die Schlechtigkeit die erste Ursache der Handlung der Sünde ist, wie ausgeführt wurde.178 13. Artik el Die dreizehnte Frage lautet: Begeht jener, der aus Schlechtigkeit sündigt, eine schwerere Sünde als derjenige, der aus Schwäche sündigt? 179 Das scheint nicht der Fall zu sein, denn: 1. In der Offenbarung 3, 15–16 heißt es: »Wärest du doch kalt oder heiß! So aber, weil Du lau bist, so will ich dich ausspeien aus meinem Munde.«180 Heiß scheint aber der zu sein, der Gutes tut, lau hingegen der, der wie der Unenthaltsame aus Schwäche sündigt, völlig kalt jedoch der, der aus Schlechtigkeit sündigt, wie der Unmäßige. Also ist es gefährlicher aus Schwäche denn aus Schlechtigkeit zu sündigen. 2. In Jesus Sirach 42, 14 heißt es: »Weniger schlimm ist die Schlechtigkeit eines Mannes als die Güte einer Frau.«181 Das wird von einigen so aufgefaßt, daß unter »Mann« jemand verstanden wird, der entschlossen ist zu einer energischen Tat, unter »Frau« hingegen jemand, der beim Handeln schlaff und lau ist. Das erste scheint aber auf den Unmäßigen zuzutreffen, der aus Schlechtigkeit handelt, wie ausgeführt worden ist,182 das zweite hingegen auf den Unenthaltsamen, der aus Schwäche sündigt. Also ist es schlechter aus Schwäche denn aus Schlechtigkeit zu sündigen.
178 179 180 181 182
Vgl. De malo q. 3 a. 12 c. Paralleltexte: Sum. theol. I–II, q. 78 a. 4. Offb. 3, 15–16. Sir. 42, 14. Vgl. De malo q. 3 a. 13 arg. 1.
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3. In den Unterredungen mit den Vätern heißt es, daß es für einen Sünder leichter sei, zum Eifer der Vollkommenheit zu gelangen, als für einen schlaffen und lauen Mönch.183 Aber der größte Sünder ist der, der aus Schlechtigkeit handelt, schlaff hingegen ist der, der im Handeln schwach ist. Also ist es schlechter, aus Schwäche denn aus Schlechtigkeit zu sündigen. 4. Die Person ist in der gefährlichsten Weise schwach, der weder die Speise noch die Medizin nützt, die anderen zustatten kommt. Aber dem Unenthaltsamen, der aus Schwäche sündigt, nützt weder das Wissen noch die gute Absicht, da er durch die Leidenschaft abgelenkt wird. Also sündigt er am gefährlichsten. 5. Um so größer die Leidenschaft ist, durch die jemand zur Sünde gedrängt wird, um so leichter sündigt er. Aber der Drang, der aufgrund eines Habitus besteht, ist größer als der, der durch eine Leidenschaft besteht. Also sündigt jener weniger, der seinem Habitus nach zur Sünde geneigt wird, als der, der durch die Leidenschaft zur Sünde geneigt wird. Von dem ersten sagt man, daß er aus Schlechtigkeit sündigt, wie ausgeführt worden ist.184 Von dem zweiten heißt es, er sündige aus Schwäche. 6. Derjenige, der aus Schlechtigkeit sündigt, wird von der ihm innerlichen Form zum Übel bewegt, die ihn in der Weise der Natur bewegt. Insofern etwas aber auf natürliche Weise zu etwas bewegt wird, wird es mit Notwendigkeit und nicht willentlich dazu bewegt. Also sündigt jener nicht willentlich, der aus einer bestimmten Schlechtigkeit heraus sündigt. Somit sündigt er entweder überhaupt nicht oder nur sehr wenig. Dagegen spricht: Das, was zum Erbarmen neigt, verringert die Sünde. Aber nach Psalm 102, 13–14 neigt die Schwäche zum Erbarmen: »Der Herr erbarmt sich über alle, die ihn fürchten. Weiß er doch, welch ein Gebilde wir sind.«185 Also ist eine Sünde aus Schwäche leichter als eine Sünde, die aus Schlechtigkeit begangen wird. 183 Johannes Cassianus, Collat. IV, 19 (PL 49, 606 C – 607 A). 184 Vgl. De malo q. 3 a. 12. 185 Ps. 102, 13–14.
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Antwort: Die bei ansonsten gleichen Umständen aus Schlechtigkeit begangene Sünde ist schlimmer als die Sünde, die aus Schwäche begangen wird. Der Grund dafür ist auf dreifache Weise offensichtlich: Erstens nämlich: Da dasjenige willentlich genannt wird, dessen Ursprung im Handelnden selbst liegt, ist die Handlung um so mehr willentlich, je mehr ihr Ursprung im Handelnden selbst liegt. Folglich ist sie um so mehr eine Sünde, wenn die Handlung schlecht ist. Aus dem, was bereits ausgeführt worden ist,186 ist jedoch offensichtlich, daß der Ursprung der Sünde eine Leidenschaft ist, die in der sinnlichen Begierde besteht, wenn jemand aus Leidenschaft sündigt. Somit ist ein derartiger Ursprung dem Willen äußerlich. Wenn jemand jedoch auf Grund seines Habitus sündigt, was aus Schlechtigkeit zu sündigen bedeutet, dann neigt der Wille durch sich selbst zur Handlung der Sünde, als ob er durch seinen Habitus nach Art einer natürlichen Neigung zur Handlung der Sünde schon völlig geneigt wäre. Daher ist die Sünde freiwilliger und folglich schwerer. Zweitens: Da in ihm, der aus Schwäche oder Leidenschaft sündigt, der Wille so lange zur Sünde geneigt wird, so lange die Leidenschaft andauert, aber sofort nachdem die Sünde, die schnell vorbeigeht, vorübergegangen ist, der Wille von jener Neigung abgeht, zur Absicht des Guten zurückkehrt und Reue über die begangene Sünde empfindet. Aber in ihm, der aus Schlechtigkeit sündigt, wird der Wille auf Grund eines Habitus zur Handlung der Sünde geneigt. Dieser Habitus geht nicht vorüber, sondern bleibt als eine Art Form bestehen, die bereits innerlich und naturgemäß geworden ist. Die Personen, die auf diese Weise sündigen, verbleiben daher im Willen zur Sünde und bereuen nicht leicht. Daher vergleicht Aristoteles den Unmäßigen im 7. Buch der Nikomachischen Ethik mit einem, der an einer chronischen Krankheit leidet, zum Beispiel mit dem Schwindsüchtigen oder dem Wassersüchtigen.187 Den Unenthaltsamen vergleicht er hingegen mit dem, der an einer zu bestimmten Zeiten auftretenden Krankheit leidet, zum Beispiel dem Epileptiker. 186 Vgl. De malo q. 3 a. 9 und 10. 187 Aristoteles, Eth. Nic. VII, 8; 1150 b 32–35.
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Auf diese Weise ist es offensichtlich, daß die Person, die aus Schlechtigkeit sündigt, schlimmer und gefährlicher sündigt als die, die aus Schwäche sündigt. Drittens: Da jener, der aus Schwäche sündigt, einen auf ein gutes Ziel hin geordneten Willen besitzt. Denn er nimmt sich ein Gut vor und sucht es, weicht aber mitunter wegen einer Leidenschaft von seiner Absicht ab. Aber jener, der aus Schlechtigkeit sündigt, besitzt einen auf ein schlechtes Ziel hingeordneten Willen. Er hat nämlich die feste Absicht zu sündigen. Es ist aber klar, daß das Ziel bei den erstrebenswerten Dingen und denen, die man zu tun hat, wie ein Grundsatz in Dingen der Überlegung , wie Aristoteles im 2. Buch der Physik feststellt.188 Die Person aber würde am schwersten und gefährlichsten unwissend sein, die sich über die Grundsätze täuscht. Denn ein solcher kann nicht durch irgendwelche vorgängigen Grundsätze korrigiert werden. Derjenige hingegen, der nur über die Schlußfolgerungen irrt, kann durch Grundsätze korrigiert werden, bei denen er nicht irrt. So sündigt also der am schwersten und gefährlichsten, der aus Schlechtigkeit sündigt. Denn er kann nicht so leicht auf den Weg zurückgeführt werden wie der, der aus Schwäche sündigt, bei dem zumindest der gute Vorsatz bleibt. Zu 1. »Kalt« wird an dieser Stelle der Ungläubige genannt, der auf Grund der Tatsache, daß er aus Unwissenheit sündigt, nach dem ersten Brief des Apostels an Timotheus 1, 13 eine Entschuldigung hat: »Ich habe Erbarmen gefunden, weil ich aus Unwissenheit im Unglauben handelte.«189 »Lau« aber wird der christliche Sünder genannt, der bei derselben Gattung der Sünde schwerer sündigt, gemäß dem Apostelbrief an die Hebräer 10, 29: »Einer wie viel schwereren Strafe meint ihr wohl, wird der für schuldig erachtet werden, der das Blut des Bundes gemein geachtet hat«190 etc. Daher betrifft diese zitierte Stelle nicht das Behauptete. 188 Aristoteles, Phys. II, 15; 200 a 34–b 1. 189 1 Tim. 1, 13; Vulg. ›misericordiam Dei … in incredulitate‹. 190 Hebr. 10, 29; Vulg. ›quanto magis … supplicia qui Filium Dei con-
culcaverit et sanguinem …‹.
13. Artikel
233
Zu 2. Nach der Glosse wird dort eine eigenständige und tatkräftige Person »Mann« genannt, die, wenn sie auch manchmal sündigt, trotzdem aus der Sünde selbst die Gelegenheit des Guten herleitet, zum Beispiel Demut und größere Vorsicht.191 »Frau« wird dort aber eine uneigenständige Person genannt, die aus dem Guten, das sie tut, die Gelegenheit ihrer eigenen Gefahr herleitet, insofern dadurch durch Hochmut ihr Fall hervorgerufen wird. Oder es kann nach dem Buchstabensinn gesagt werden, daß die Ungerechtigkeit des Mannes besser ist, das heißt, daß es besser ist, bei einem ungerechten Mann zu verweilen als bei einer guten Frau. Denn der Mann würde leichter durch familiären Umgang mit einer guten Frau als mit einem schlechten Mann der Sünde verfallen. Das ist durch das klar, was im Text vorangeht: »Unter Frauen halte dich nicht auf«192, und was darauf folgt: »und die Frau verursacht Schande«193. Daher trifft dieses Argument nicht auf das zu, was in Frage steht. Zu 3. Derjenige, der beim Tun guter Werke schlaff ist, ist unvergleichlich besser als jener, der ein Übel tut. Auf Grund ebendieser Tatsache kann es passieren, daß der Sünder, der sein Übel betrachtet, manchmal so heftig gegen dieses Übel aufgebracht wird, daß in ihm die Leidenschaft für die Vollkommenheit entfacht wird. Aber die Person, die gut handelt, wenn auch auf nachlässige Weise, hat nichts, vor dem sie sich sehr erschrecken müßte. Daher ist sie in ihrem Zustand beruhigter und wird nicht so leicht zu besseren Dingen bewegt. Zu 4. Jener, der aus Schwäche sündigt, obzwar er bei der Sünde nicht vom Wissen und der guten Absicht unterstützt wird, kann nichtsdestotrotz nachher leicht darin unterstützt werden, allmählich durch Gewöhnung der Leidenschaft zu widerstehen. Aber eine Person, die aus Schlechtigkeit sündigt, kann nur schwerlich berichtigt werden, genauso wie derjenige, der sich über die Grundsätze täuscht, wie ausgeführt worden ist.194 191 192 193 194
Gregor der Große, Moral. XI, 49 (PL 75, 982 D – 983 A). Sir. 42, 12. Sir. 42, 14. Vgl. De malo q. 3 a. 13 c.
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Zu 5. Der Antrieb, der aus einer Leidenschaft hervorgeht, verringert die Sünde. Denn er ist sozusagen äußerlich. Der Antrieb aber, der aus dem Willen hervorgeht, vergrößert die Sünde. Denn je heftiger die Bewegung des Willens zum Sündigen ist, desto schwerer sündigt eine Person. Der Habitus macht die Willensbewegung aber heftiger. Daher sündigt jener schwerer, der auf Grund seines Habitus sündigt. Zu 6. Der Habitus der Tugend oder des Lasters ist eine Form der vernünftigen Seele. Aber jede Form ist in der Weise des Aufnehmenden in einem Ding. Zur Natur des vernünftigen Geschöpfs gehört es aber, daß es in seiner Wahl frei ist. Daher neigt der Habitus der Tugend oder des Lasters den Willen nicht mit Notwendigkeit, so daß jemand nicht gegen die Natur seines Habitus handeln könnte. Aber es ist schwer, dem entgegen zu handeln, zu dem der Habitus neigt. 14. Artik el Die vierzehnte Frage lautet: Ist jede aus Schlechtigkeit begangene Sünde eine Sünde wider den Heiligen Geist? 195 Das scheint nicht der Fall zu sein, denn: 1. Eine Sünde wider den Heiligen Geist ist eine Sünde in Worten. Das ist daraus ersichtlich, daß es bei Matthäus 12, 32 heißt: »wer etwas gegen den Heiligen Geist spricht« etc.196 Aber eine Sünde aus Schlechtigkeit kann auch im Herzen oder in der Tat sein. Also ist nicht jede Sünde aus Schlechtigkeit eine Sünde wider den Heiligen Geist. 2. Die Sünde wider den Heiligen Geist ist eine besondere Gattung der Sünde. Denn sie hat bestimmte Arten, wie aus Petrus Lombardus im 2. Buch der Sentenzen dist. 43 klar ersichtlich ist,197 nämlich Sturheit, Hoffnungslosigkeit und anderes dieser Art. Aber eine 195 Paralleltexte: Sent. II, d. 43 a. 1 und 2. Sum. theol. II–II, q. 14 a. 1. Super Matth. cap. 12, 31–32. Super Rom. cap. 2 lect. 1. Quodl. II, q. 8 a. 1. 196 Mt. 12, 32. 197 Vgl. Petrus Lombardus, Sententiae II, d. 43 c. unic. (ed. Coll. S. Bon. I, 533 ff.).
14. Artikel
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Sünde aus Schlechtigkeit ist keine besondere Gattung der Sünde: man kann nämlich gemäß jeder beliebigen Gattung der Sünde aus Schlechtigkeit wie aus Schwäche oder aus Unwissenheit sündigen. Also ist nicht jede Sünde aus Schlechtigkeit eine Sünde wider den Heiligen Geist. 3. Eine Sünde wider den Heiligen Geist ist eine Sünde der Blasphemie, wie aus der Stelle Lukas 12, 10 ersichtlich ist: »Wer aber gegen den Heiligen Geist gelästert hat, dem wird nicht vergeben werden.«198 Aber die Blasphemie ist eine besondere Sünde. Da die auf Grund einer bestimmten Schlechtigkeit begangene Sünde keine besondere Sünde ist, weil sie in jeder beliebigen Gattung der Sünde vorgefunden wird, scheint es daher, daß nicht jede Sünde aus Schlechtigkeit eine Sünde wider den Heiligen Geist ist. 4. Eine Sünde aus Schlechtigkeit wird der Person zugeschrieben, der die Sünde wegen ihrer selbst gefällt, wie Petrus Lombardus im 2. Buch der Sentenzen dist. 43 erklärt.199 Aber dadurch, daß einer Person die Tugend wegen ihrer selbst gefällt, wird keine besondere Art von Tugend konstituiert, also wird auch dadurch, daß einer Person die Schlechtigkeit wegen ihrer selbst gefällt, nicht eine bestimmte Art von Sünde konstituiert. Somit scheint es, da die Sünde wider den Heiligen Geist eine bestimmte Art der Sünde ist, daß nicht Sünde, die aus Schlechtigkeit geschieht, eine Sünde wider den Heiligen Geist ist. 5. Augustinus sagt in einem Brief an Bonifaz, daß jede Sünde, auf welche beliebige Weise auch immer der Mensch sich von Gott bis zum Ende seines Lebens entfernt hat, eine Sünde wider den Heiligen Geist ist.200 Aber dies ist auch bei einer Sünde, die aus Schwäche und Unwissenheit geschieht, möglich. Also ist es nicht dasselbe, wider den Heiligen Geist und aus Schlechtigkeit zu sündigen. 6. Petrus Lombardus sagt im 2. Buch der Sentenzen dist. 43, daß jene wider den Heiligen Geist sündigen, die glauben, daß ihre Schlechtigkeit die göttliche Güte überragt.201 Aber die, die so den198 199 200 201
Lk. 12, 10. Petrus Lombardus, Sententiae II, d. 43 c. unic. (ed. Coll. S. Bon. I, 533). Augustinus, Epist. 185, 11 (CSEL 57, 42). Petrus Lombardus, Sententiae II, d. 43 c. unic. (ed. Coll. S. Bon. I, 533).
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ken, irren, und alle Irrenden sind unwissend. Also scheint es, daß die Sünde wider den Heiligen Geist eher eine Sünde der Unwissenheit als der Schwäche ist. 7. Von einer Person sagt man auf zweifache Art, daß sie »auf Grund von etwas« : Einmal wie aus einem Vermögen, einem Habitus oder einer Veranlagung, die die Handlung hervorruft, auf andere Weise als durch ein zielursächlich Bewegendes. Aber es kann nicht gesagt werden, daß jemand, der eine Sünde wider den Heiligen Geist begeht, aus Schlechtigkeit wie durch einen Habitus oder eine Veranlagung, die die Handlung hervorruft, sündigt. Denn auf diese Weise wäre jede Sünde wider den Heiligen Geist. Ebenso wenig wie durch ein Ziel als Bewegendes, da die Schlechtigkeit, insofern sie Schlechtigkeit ist, keine Zielursache sein kann. Denn niemand handelt mit dem Übel als Ziel, wie Dionysius im 4. Kapitel von Über die göttlichen Namen sagt.202 Wenn aber die Schlechtigkeit als Bewegendes bezeichnet wird wegen dem scheinbaren Gut, mit dem sie verbunden ist, so geschähe jede Sünde aus Schlechtigkeit. Denn in jeder Sünde ist das Bewegende etwas, das als gut erscheint und das mit einem Übel verknüpft ist. Also ist die Sünde wider den Heiligen Geist nicht dasselbe wie eine Sünde aus Schlechtigkeit. 8. Es gibt zwei Arten von Schlechtigkeit: nämlich zum einen die Schlechtigkeit, die man sich zugezogen hat, gemäß dem, wie Beda sie als eine unter die vier Wirkungen zählt, die aus der Sünde der ersten Eltern hervorgehen.203 Die zweite ist die begangene Schlechtigkeit, die eine in einer Handlung bestehende Sünde ist. Aber als Sünde wider den Heiligen Geist kann nicht die Sünde aus der zugezogenen Schlechtigkeit bezeichnet werden, da die zugezogene Schlechtigkeit zum Mangel und der Schwäche der Natur gehört, und auf diese Weise die Sünde aus Schwäche die Sünde wieder den Heiligen Geist wäre. Auch die begangene Schlechtigkeit kann nicht als Sünde wider den Heiligen Geist bezeichnet werden, da es auf diese Weise notwendig sein würde, daß vor der Sünde wider den Heiligen Geist immer eine in einer Handlung bestehende Sünde vorhergehen 202 Dionysius Areopagita, De div. nom. IV, 19 (Dion., 236) und IV, 31 (Dion., 304). 203 Allgemein zugeschrieben, von kritischer Edition nicht gefunden.
14. Artikel
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müßte, was nicht bei jeder Art von Sünde wider den Heiligen Geist wahr ist. Also ist eine Sünde wider den Heiligen Geist keine Sünde aus Schlechtigkeit. 9. Die Sünde wider den Heiligen Geist wird von den Magistern eine Sünde genannt, die nicht leicht vergeben wird. Aber das trifft auf jede beliebige Sünde zu, die aus einem Habitus hervorgeht. Denn Augustinus sagt in den Bekenntnissen, daß aus einem verkehrten Willen die Lust folgt, aus der Lust die Gewohnheit zu sündigen und aus der Gewohnheit die Notwendigkeit.204 Also ist jede Sünde eine Sünde wider den Heiligen Geist, die auf Grund eines Habitus besteht, auch wenn sie nicht aus Schlechtigkeit, sondern aus Schwäche oder Unwissenheit geschieht. Denn der lasterhafte Habitus wird durch Gewohnheit verursacht. Also ist es nicht dasselbe, wider den Heiligen Geist und aus Schlechtigkeit zu sündigen. Dagegen spricht: 1. Petrus Lombardus sagt im 2. Buch der Sentenzen dist. 43, daß jener gegen den Heiligen Geist sündigt, dem die Schlechtigkeit wegen ihrer selbst gefällt.205 Aber von so jemandem sagt man, daß er aus Schlechtigkeit sündigt. Also ist es dasselbe, aus Schlechtigkeit und wider den Heiligen Geist zu sündigen. 2. Wie dem Vater die Macht und dem Sohn die Weisheit zueigen gemacht wird, so wird dem Heiligen Geist die Güte zueigen gemacht. Aber von demjenigen, der aus Schwäche sündigt, welche der Macht entgegengesetzt ist, wird gesagt, daß er wider den Vater sündigt, und von jenem, der aus Unwissenheit sündigt, die der Weisheit entgegengesetzt ist, wird gesagt, daß er wider den Sohn sündigt. Also heißt es von dem, der aus Schlechtigkeit sündigt, welche der Güte entgegengesetzt ist, daß er wider den Heiligen Geist sündigt. Antwort: Über die Sünde wider den Heiligen Geist ist von manchen auf verschiedene Weise gesprochen worden. Denn die heiligen Kirchen204 Augustinus, Confess. VIII, 5 (CCSL 27, 119). 205 Petrus Lombardus, Sententiae II, d. 43 c. unic. (ed. Coll. S. Bon. I,
533).
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lehrer vor Augustinus, nämlich Hilarius von Poitiers, Ambrosius von Mailand, Hieronymus und Johannes Chrysostomus, haben gesagt, es sei eine Sünde wider den Heiligen Geist, wenn jemand den Heiligen Geist lästert:206 entweder dadurch, daß der Heilige Geist als wesentlich angenommen wird, insofern die ganze Trinität Geist und heilig genannt werden kann, oder daß er als persönlich angenommen wird, insofern er die dritte Person in der Trinität ist. Diese Ansicht scheint hinlänglich mit dem Buchstaben des Evangeliums in Einklang zu stehen, durch den diese Frage ihren Ursprung hat. Denn wenn die Pharisäer lehrten, daß Christus die Dämonen mit dem Belzebub austreibt,207 lästerten sie sowohl wider die Göttlichkeit Christi als auch wider den Heiligen Geist, durch den Christus handelte, indem sie dem Fürst der Dämonen zuschrieben, was Christus durch die Kraft seiner Göttlichkeit oder durch den Heiligen Geist tat. Daher wird auch im Evangelium die Sünde wider den Heiligen Geist der Sünde entgegengesetzt, die wider den Sohn ist, das heißt die gegen die Menschlichkeit Christi gerichtet ist.208 Da aber gesagt wird, daß die Sünde wider den Heiligen Geist weder in diesem Zeitalter noch in der Zukunft vergeben wird, würde scheinbar folgen, daß jeder, der wider den Heiligen Geist oder die Göttlichkeit Christi sündigt, niemals Vergebung für seine Sünde erlangen kann. Das wendet Augustinus in seiner Schrift Über die Worte des Herrn ein,209 obwohl nichtsdestotrotz die Taufe, durch die Vergebung für die Sünden erteilt wird, den Juden, Heiden und Ketzern, die wider die Göttlichkeit Christi und den Heiligen Geist lästern, dennoch nicht verweigert wird. Daher scheint Augustinus in seinem Buch Über die Bergpredigt des Herrn die Sünde wider den Heiligen Geist auf die Personen einzuschränken, die nach der Kenntnisnahme der Wahrheit und dem 206 Hilarius von Poitiers, Comm. in Matth. 12 (PL 9, 989). Ambrosius von Mailand, Expos. in Luc. VII (CCSL 14, 253). Hieronymus, Comm. in Matth. II, 12, 32 (CCSL 77, 95). Johannes Chrysostomus, Catena super Matth. 12, 32. Vgl. Johannes Chrysostomus, In Matth. hom. 41 (PG 57, 449). 207 Vgl. Mt. 12, 24; Lk. 11, 15. 208 Vgl. Mt. 12, 32; Lk. 12, 10. 209 Augustinus, Sermo 71, 3 (PL 38, 447–448).
14. Artikel
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Empfang der Sakramente den Heiligen Geist nicht nur durch das Wort lästern wie die Ungläubigen durch Lästern der Person des Heiligen Geistes selbst, sondern auch entweder durch das Mißgönnen der Wahrheit und der Gnade, die vom Heiligen Geist kommt, im Herzen oder sogar durch die Tat der Leugnung.210 Dem steht nicht entgegen, daß die Pharisäer, zu denen der Herr diese Dinge gesagt hat, Ungläubige und noch nicht in die Sakramente des Glaubens eingeführt waren. Denn der Herr beabsichtigte nicht zu sagen, daß sie bis zu diesem Zeitpunkt auf eine Weise wider den Heiligen Geist gesündigt hätten, die nicht vergeben werden kann. Denn er selbst fügt hinzu: »Entweder: der Baum ist gut, dann ist auch seine Frucht gut« etc.211 Aber er beabsichtigte, sie zu warnen, damit sie nicht durch Blasphemie, wie sie sie begingen, über kurz oder lang an einem Grad unverzeihlicher Sünde angelangen würden. Dagegen jedoch wendet Augustinus wiederum in seiner Schrift Über die Worte des Herrn ein, daß der Herr nicht sagt, ihm, der gegen den Heiligen Geist gesündigt hat, werde in der Taufe keine Vergebung zuteil.212 Vielmehr erlange er in diesem Zeitalter und im zukünftigen auf keinerlei Weise Vergebung. Daher scheint diese Sünde den Getauften nicht mehr als den anderen zuzukommen, da gleichwohl keinem Sünder in der Kirche die Buße verweigert wird, sofern er bereut. Daher nimmt Augustinus diese Aussage in den Retraktationen zurück und fügt hinzu, daß nur dann von dem, der die ihm bekannte Wahrheit angreift, und dem, der die Gnade seines Bruders neidet, gesagt wird, daß er wider den Heiligen Geist sündigt, wenn er bis zum Tode darin verbleibt.213 Um darüber Klarheit zu gewinnen, muß man das ins Auge fassen, was er selbst darüber in seiner Schrift Über die Worte des Herrn sagt.214 Dort stellt er nämlich fest, man müsse darauf achten, daß nicht alles, was in der Heiligen Schrift auf unbestimmte Weise behauptet wird, als allgemeingültig aufgefaßt werden darf. Ein Beispiel dafür ist, was in Johannes 15, 210 211 212 213 214
Augustinus, De serm. Dom. I, 22 (CCSL 35, 81–85). Mt. 12, 33. Augustinus, Sermo 71, 3 (PL 38, 448). Augustinus, Retract. I, 19 (CSEL 36, 93). Augustinus, Sermo 71, 6–9 (PL 38, 450–452).
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22 gesagt wird: »Wäre ich nicht gekommen und hätte nicht zu ihnen geredet, so wären sie frei von der Sünde«215. Das ist nicht so zu verstehen, als ob sie frei von jeglicher Sünde sein würden, sondern daß sie von einer einzigen bestimmten Sünde frei sein würden, die sie durch die Verachtung der Predigt und Wunder Christi begingen. Somit, wenn also auf bestimmte Weise gesagt wird »Wer auch immer ein Wort wider den Heiligen Geist spricht«216, und es bei Markus und Lukas ähnlich heißt »Wer gelästert hat wider den Heiligen Geist« etc.,217 ist das so zu verstehen: »wer auf eine bestimmte Weise gelästert hat«. Es ist aber zu beachten, daß das »Wort« wider den Heiligen Geist nicht nur von der Rede, sondern auch dem Herzen und der Tat ausgesagt wird, und daß viele Worte, die derselben Sache zukommen, ein Wort genannt werden. So ist zum Beispiel bei den Propheten häufig zu lesen: »das Wort, das der Herr gesprochen hat« – nämlich zu Jesaja und Jeremias.218 Aber es ist offensichtlich, daß der Heilige Geist die Gottesliebe ist. In der Kirche kommt es aber durch die Barmherzigkeit zur Vergebung der Sünden. Daher ist die Vergebung der Sünden nach Johannes 20, 22–23 eine dem Heiligen Geist zueigen gemachte Wirkung: »Empfanget den Heiligen Geist. Welchen ihr die Sünden vergebt, denen sind sie vergeben«219. Von demjenigen wird also gesagt, daß er ein unverzeihliches Wort wider den Heiligen Geist spricht, der im Herzen, im Wort oder in der Tat die Vergebung der Sünden auf eine solche Weise zurückweist, daß er bis zu seinem Tod in der Sünde verbleibt. Daher besteht nach Augustinus die Sünde wider den Heiligen Geist darin, bis zum Tod verstockt zu bleiben. Wie aber die Vergebung der Sünde dem Heiligen Geist zueigen gemacht wird, so auch die Güte. Daher sagen die Gelehrten auf eine Weise in der Nachfolge des Augustinus,220 daß jener ein Wort oder 215 216 217 218 219 220
Joh. 15, 22. Mt. 12, 32. Mk. 3, 29; Lk. 12, 10. Vgl. z. B. Jes. 38, 4; Jer. 1, 4. Joh. 20, 22–23. Augustinus, Sermo 71, 12 (PL 38, 455).
14. Artikel
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eine Lästerung wider den Heiligen Geist spricht, . Wenn wir über die Sünde wider den Heiligen Geist gemäß der Ansicht der frühen Heiligen oder der Ansicht des Augustinus sprechen, ist dementsprechend nicht jede aus Schlechtigkeit begangene Sünde eine Sünde wider den Heiligen Geist, wie aus dem, was ausgeführt worden ist, klar ersehen werden kann. Wenn wir aber gemäß der Worte der Gelehrten sprechen, die nicht leichtfertig beiseite gesetzt werden dürfen, so kann Folgendes gesagt werden: wenn man in eigentlicher Weise über die Sünde wider den Heiligen Geist spricht, ist nicht jede Sünde aus Schlechtigkeit eine Sünde wider den Heiligen Geist. Wie oben ausgeführt wurde,221 wird nämlich von demjenigen gesagt, er sündige aus Schlechtigkeit, dessen Wille durch sich selbst zu etwas Gutem geneigt ist, das mit einem Übel verbunden ist. Das kann jedoch auf zweifache Weise geschehen. Denn sogar in den Dingen der Natur wird etwas auf zweifache Weise bewegt: entweder durch die Neigung – wie das Schwere nach unten – oder durch die Entfernung eines Hindernisses, wie das Wasser aus einem zerbrochenen Gefäß ausfließt. So wird also der Wille manchmal durch sich selbst durch die eigene Neigung auf Grund eines erworbenen Habitus auf ein derartiges Gut gelenkt, manchmal hingegen durch die Entfernung dessen, was ihn an der Sünde hinderte, wie Hoffnung, Furcht vor Gott und andere derartige Gaben des Heiligen Geistes, durch die der Mensch von der Sünde abgehalten wird. Daher sündigt im eigentlichen Sinne jener wider den Heiligen Geist, dessen Wille deshalb zur Sünde neigt, weil er solche Zügelungen des Heiligen Geistes abwirft. Deswegen werden auch Verzweiflung, Einbildung und Starrsinn zu den Arten der Sünde wider den Heiligen Geist gezählt, wie aus Petrus Lombardus 2. Buch der Sentenzen, dist. 43 offensichtlich ist.222 Nichtsdestotrotz kann allgemein gesprochen auch von jenem, der wegen der Neigung eines Habitus sündigt, gesagt werden, er sün221 Vgl. De malo q. 3 a. 12 und 13. 222 Petrus Lombardus, Sententiae II, d. 43 c. unic. (ed. Coll. S. Bon. I,
533 ff.).
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dige wider den Heiligen Geist. Denn auch er widersteht als Folge des Habitus der Güte des Heiligen Geistes. Zu 1. Nach der Meinung der früheren Heiligen ist die Sünde wider den Heiligen Geist eine Sünde des Wortes, durch das eine Person gegen den Heiligen Geist lästert. Nach anderen Meinungen muß man hingegen sagen, daß es auch eine Art von Wort sowohl im Herzen als auch in der Tat gibt, da wir etwas sowohl im Herzen als auch in der Tat sagen, nach jener Stelle aus dem 1. Korintherbrief 12, 3: »Keiner kann sagen ›Herr Jesus‹, außer Heiligen Geist«223, das heißt im Herzen, im Wort und in der Tat, wie die Glosse dort erklärt.224 Zu 2. Nach der Auslegung der früheren Heiligen und auch nach der Erklärung der Gelehrten kann eine Sünde wider den Heiligen Geist eine besondere Gattung von Sünde genannt werden, vorausgesetzt jedoch, daß die Sünde aus Schlechtigkeit im eigentlichen Sinne verstanden wird, insofern jemand deswegen sündigt, weil er von den Wohltaten des Heiligen Geistes abgeht, durch die er von der Sünde abgehalten wird. Wenn aber die Sünde aus Schlechtigkeit so aufgefaßt wird, insofern sie aus einer Neigung des Habitus hervorgeht, so ist sie keine besondere Gattung der Sünde, sondern ein bestimmter Umstand der Sünde, der in jeder beliebigen Gattung der Sünde gefunden werden kann. Auf ähnliche Weise muß man auch antworten, wenn die Sünde wider den Heiligen Geist nach der Auslegung des Augustinus die endgültige Verstocktheit ist.225 Zu 3. Unter der Lästerung wider den Heiligen Geist wird gemäß den früheren Heiligen eine besondere Sünde im Wort verstanden, aber nach Augustinus und den Magistern ist unter der Lästerung wider den Heiligen Geist jede Zurückweisung der Gaben des Heiligen Geistes enthalten: sowohl im Herzen als auch im Wort oder in der Tat.226
223 224 225 226
1 Kor. 12, 3. Petrus Lombardus, Glossa in I Cor. 12, 3 (PL 191, 1650 C). Vgl. De malo q. 3 a. 14 c. Vgl. De malo q. 3 a. 14 c.
14. Artikel
243
Zu 4. Wenn jemandem die Tugend wegen ihrer selbst auf Grund der Überlegung eines höheren Bewegenden gefallen würde, würde daraus eine besondere Art von Tugend hervorgehen. Wenn jemand sich zum Beispiel wegen der Liebe Gottes an der Keuschheit erfreuen würde, würde dies zur Tugend der Keuschheit gehören. Auf ähnliche Weise würde es auch zu besonderen Arten von Sünde zugehören, jemandem die Schlechtigkeit wegen der Verachtung der göttlichen Hoffnung oder Furcht gefallen würde: nämlich zur Verzweiflung und Einbildung, die Arten der Sünde wider den Heiligen Geist sind. Zu 5. Dieses Argument schließt gemäß der Intention des Augustinus. Auf diese Weise ist die Sünde wider den Heiligen Geist aber keine besondere Gattung der Sünde. Zu 6. Der Verzweifelte, von dem es heißt, er sündige wider den Heiligen Geist, glaubt, daß seine Schlechtigkeit die göttliche Güte überragt – nicht als eine Meinung, so nämlich würde er eine Sünde des Unglaubens begehen, sondern weil er in der Weise eines so Denkenden durch die Betrachtung seiner Verbrechen an der göttlichen Güte verzweifelt. Zu 7. Wie oben ausgeführt wurde,227 kann von jemandem auf eine Weise gesagt werden, daß er aus Schlechtigkeit sündigt, wenn er durch eine Neigung des Habitus sündigt, insofern die Schlechtigkeit ein der Tugend entgegengesetzter Habitus genannt wird. Es ist jedoch nicht wahr, daß wer auch immer auf diese Weise sündigt, aus Schlechtigkeit sündigt: denn nicht jeder, der ungerechte Handlungen begeht, hat bereits den Habitus der Ungerechtigkeit, obgleich der Mensch durch ungerechte Handlungen einen Habitus der Ungerechtigkeit erwirbt, wie im 2. Buch der Nikomachischen Ethik gesagt wird.228 Auf andere Weise kann es aufgefaßt werden, daß jemand aus Schlechtigkeit sündigt, da er ein Gut will, mit dem ein Übel verknüpft ist, und nicht durch eine Leidenschaft oder durch Unwissenheit zu jenem Übel geneigt wird. Auf diese Weise ist auch klar, daß nicht jeder Sünder aus Schlechtigkeit sündigt. 227 Vgl. De malo q. 3 a. 12 und 13. 228 Aristoteles, Eth. Nic. II, 4; 1105 a 26 ff. Vgl. auch Eth. Nic. V, 11;
1134 a 17.
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Zu 8. Von der zugezogenen Schlechtigkeit heißt es, sie sei eine bestimmte Neigung zum Übeltun, die uns wegen der Verderbtheit des Zunders der bösen Begehrlichkeit innewohnt. Die Schlechtigkeit wird nicht in diesem Sinne aufgefaßt, wenn gesagt wird, daß jemand aus Schlechtigkeit sündigt. Vielmehr wird die Schlechtigkeit als eine begangene Schlechtigkeit aufgefaßt, insofern die innere Wahl selbst Schlechtigkeit genannt wird. Auf diese Weise muß es verstanden werden, daß es immer die innere Handlung der Sünde ist, die Schlechtigkeit genannt wird, aus der die äußere Handlung der Sünde hervorgeht, wenn jemand aus Schlechtigkeit sündigt. Zu 9. Eine Sünde, die wegen der Neigung des Habitus begangen wird, hat eine bestimmte Natur in Übereinstimmung mit der sie Sünde wider den Heiligen Geist genannt werden kann. Aber eine Sünde wider den Heiligen Geist kann auch auf andere Weisen aufgefaßt werden, wie ausgeführt worden ist.229
15. Artik el Die fünfzehnte Frage lautet: Kann eine Sünde wider den Heiligen Geist vergeben werden? 230 Das scheint nicht der Fall zu sein, denn: 1. In Matthäus 12, 32 heißt es: Wer »wider den Heiligen Geist spricht, dem wird nicht vergeben werden, weder in dieser noch in der zukünftigen Welt.«231 Aber jede Vergebung geschieht in dieser oder in der zukünftigen Welt. Also wird eine Sünde wider den Heiligen Geist niemals vergeben. 2. Dagegen wurde eingewandt, daß es von ihr heißt, sie werde nicht vergeben, da sie sehr schwer vergeben wird. – Dagegen spricht: In Markus 3, 29 heißt es: »Wer aber gegen den Heiligen Geist gelästert hat, findet in Ewigkeit keine Vergebung, sondern ist ewiger Sünde schuldig.«232 Aber der ist nicht eines ewigen Vergehens schul229 Vgl. De malo q. 3 a. 14 c. 230 Paralleltexte: Sent. II, d. 43 a. 4. Sum. theol. II–II, q. 14 a. 3. Quodl.
II, q. 8 a. 1. Lect. super Matth. cap. 12, 31–32. Super Rom. cap. 2 lect. 1. 231 Mt. 12, 32. 232 Mk. 3, 29; Vulg. ›… non habebit …‹.
15. Artikel
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dig, dessen Sünde vergeben wird. Also wird die Sünde wider den Heiligen Geist auf keine Weise vergeben. 3. Man muß für die Vergebung jeder Sünde beten. Aber für die Sünde wider den Heiligen Geist darf man nicht beten. Denn im 1. Johannesbrief 5, 16 heißt es: »Es gibt eine Sünde zum Tode. Nicht von der sage ich, daß er Fürbitte einlegen soll.«233 Also kann die Sünde wider den Heiligen Geist auf keine Weise vergeben werden. 4. Augustinus sagt im Buch Über die Bergpredigt des Herrn, daß »die Schande dieser Sünde so groß ist, daß jemand nicht der Erniedrigung des Flehens unterliegen kann.«234 Aber da der Beginn der Sünde der Hochmut ist, wie es in Jesus Sirach 10, 15 heißt, kann eine Sünde nur durch Demut geheilt werden.235 Denn Gegensätze werden durch Gegensätze geheilt. Also kann eine Sünde wider den Heiligen Geist nicht vergeben werden. 5. Augustinus sagt in seiner Schrift Über 83 verschiedene Fragen, daß die Sünden der Schwäche und der Unwissenheit läßlich sind, nicht aber die aus Schlechtigkeit begangene Sünde.236 Aber Sünden werden läßlich genannt, weil sie verzeihlich sind. Also ist die Sünde aus Schlechtigkeit nicht entschuldbar, da sie eine Sünde wider den Heiligen Geist ist. Dagegen spricht: 1. Bei Johannes 12 heißt es: »Jede Sünde und Lästerung soll den Menschen vergeben werden.«237 2. Keiner begeht eine Sünde ohne die Aussicht, das Unmögliche erlangen zu können. Wenn es daher bei einer Sünde unmöglich wäre, daß sie vergeben wird, würde die Person, da sie über die Vergebung jener Sünde verzweifelt, die Sünde nicht begehen. Das ist offensichtlich falsch.
233 234 235 236
1 Joh. 5, 16; Vulg. ›… non pro illo dico ut roget quis‹. Augustinus, De serm. Dom. I, 22 (CCSL 35, 84). Sir. 10, 15. Augustinus, De diversis quaestionibus LXXXIII, q. 26 (CCSL 44 A,
32). 237 Richtig: Mt. 12, 31.
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3. Augustinus sagt, daß wir über niemanden verzweifeln sollen, solange er am Leben ist.238 Aber keine Sünde zieht den Menschen aus dem Zustand des Lebens heraus. Also darf man über keinen Menschen verzweifeln. Somit kann jede Sünde vergeben werden. Antwort: Die Wahrheit über diese Frage kann durch das geklärt werden, was bereits ausgeführt worden ist.239 Wenn die Sünde wider den Heiligen Geist nämlich dem Verständnis des Augustinus nach aufgefaßt wird,240 so ist es offensichtlich, daß eine Sünde wider den Heiligen Geist auf keine Weise vergeben werden kann. Sofern ein Mensch nämlich bis zum Tod ohne Reue in der Sünde verbleibt, wird ihm die Sünde auf keine Weise vergeben, wenn von den Todsünden gesprochen wird. Zu diesen wird die Verstocktheit gerechnet, die Augustinus für eine Sünde wider den Heiligen Geist hält.241 Es gibt jedoch einige leichte und läßliche Sünden, die in der zukünftigen Welt vergeben werden, wie Gregor der Große ausführt.242 Aber nach anderen Auffassungen wird die Sünde wider den Heiligen Geist nicht deshalb unverzeihlich genannt, weil sie auf keine Weise vergeben wird, sondern weil sie nur schwer vergeben wird. Das geschieht jedoch aus zwei Gründen. Erstens nämlich in bezug auf die Strafe, da eine Sünde verzeihlich genannt wird, für die es eine Entschuldigung gibt, so daß sie weniger bestraft werden sollte. So sagt man auch von der Hitze, sie werde gemildert, wenn sie verringert wird. Auf diese Weise wird eine Sünde, die aus Unwissenheit oder Schwäche begangen wird, verzeihlich genannt. Denn Unwissenheit und Schwäche erleichtern die Sünde, nicht aber die Schlechtigkeit. Auf ähnliche Weise schienen sogar die eine Entschuldigung zu haben, die wider die Menschlichkeit Christi lästerten, indem sie ihn einen Weinsäufer und Freßsack nannten. Denn sie wurden durch die Schwäche seines Fleisches zur Lästerung be238 239 240 241 242
Augustinus, Sermo 71, 13 (PL 38, 456). Vgl. De malo q. 3 a. 14. Augustinus, Sermo 71, 12 (PL 38, 455). Augustinus, Sermo 71, 12 (PL 38, 455). Gregor der Große, Dialog. IV, 39 (PL 77, 396 A–B).
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wegt. Aber jene, die die Göttlichkeit Christi und die Kraft des Heiligen Geistes lästern, haben keine Entschuldigung, die ihre Sünde erleichtern könnte. Auf andere Weise kann sie in bezug auf die Schuld unverzeihlich genannt werden. Um darüber Klarheit zu gewinnen, muß man bedenken, daß in den niederen Dingen etwas wegen der Beraubung eines tätigen Vermögens im niederen Ding unmöglich genannt wird, obzwar das göttliche Vermögen nicht ausgeschlossen ist. Wenn wir zum Beispiel sagen, daß Lazarus unmöglich auferstehen kann, wenn das erschaffene Prinzip des Lebens entfernt ist, so schließen wir dadurch trotzdem nicht aus, daß Gott ihn auferwecken kann. In ihm aber, der wider den Heiligen Geist sündigt, sind die für die Vergebung der Sünde verworfen, insofern jemand den Heiligen Geist und seine Gaben verschmäht, durch die die Vergebung der Sünden in der Kirche vollbracht wird. Auf ähnliche Weise befindet sich jener, der aus Schlechtigkeit sündigt, durch die Neigung des Habitus in einer Unwissenheit bezüglich des angemessenen Ziels, durch das er zum Guten zurückgeführt werden könnte, wie oben ausgeführt worden ist.243 Daher wird nach diesen Deutungen eine Sünde wider den Heiligen Geist unverzeihlich genannt. Denn diese Heilmittel, durch die der Mensch zur Vergebung der Sünde unterstützt wird, sind entfernt worden. Dennoch ist sie nicht unverzeihlich, wenn die Kraft der göttlichen Gnade als das tätige Prinzip, und der Zustand des noch nicht im Übel bestärkten freien Willens als das materiale Prinzip betrachtet wird. Zu 1. Die Textstelle »es wird nicht vergeben werden, weder in dieser noch in der zukünftigen Welt« ist auf verschiedene Weisen nach der Meinung des Augustinus und anderer interpretiert worden, wie ausgeführt worden ist.244 Dennoch löst Johannes Chrysostomus dieses Problem ohne Schwierigkeit, indem er sich darauf bezieht, daß die Juden für ihre gegen Christus geworfenen Lästerungen so-
243 Vgl. De malo q. 3 a. 12 und 13. 244 Vgl. De malo q. 3 a. 15 c.
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wohl in dieser Welt durch die Römer als auch in der zukünftigen Welt in der Verdammung der Hölle Strafe zu leiden hatten.245 Zu 2. Eine Sünde wider den Heiligen Geist wird ein ewiges Vergehen genannt, weil sie an sich selbst betrachtet ewig ist. Aber durch die Barmherzigkeit Gottes kann sie beendet werden. So heißt es auch von der Nächstenliebe, insofern sie an sich selbst betrachtet wird, daß sie unvergänglich sei, obwohl sie manchmal durch das Laster des Sünders vergeht. Zu 3. Eine Sünde zum Tode kann als das verstanden werden, in dem jemand bis zum Tode verbleibt. So darf für so jemanden nicht gebetet werden, da Fürbitten den Verdammten nicht nützlich sind, die ohne Bestrafung sterben. Wenn aber eine Sünde zum Tode als das aufgefaßt wird, was aus Schlechtigkeit begangen wird, so ist es nicht verboten, daß jemand für ihn betet. Aber nicht jeder ist so verdienstvoll, daß er durch Beten Gnade für ihn erlangen kann. Denn die Heilung von solchen Leuten ist sozusagen wundersam. Es ist, wie wenn zum Beispiel gesagt würde: »für die Wiederbelebung der Toten sage ich nicht, daß jemand beten sollte«, das heißt nicht jeder beliebige, sondern jemand sehr Verdienstvolles vor Gott. Zu 4. Diese Aussage ist in der Weise zu verstehen, daß derartige Leute nicht leicht demütig werden können, und nicht daß sie es überhaupt nicht können. Zu 5. »Läßlich« wird auf dreifache Weise ausgesagt: einmal gemäß der Gattung, wie zum Beispiel ein eitles Wort eine läßliche Sünde genannt wird. Andererseits hinsichtlich des Ergebnisses, wie die Bewegung der Begierde ohne Zustimmung eine läßliche Sünde genannt wird. Drittens wird sie hinsichtlich der Ursache läßlich genannt, indem sie nämlich eine mildernde Ursache hat, die die Sünde erleichtert. Auf diese Weise ist es zu verstehen, daß die Sünden aus Schwäche und Unwissenheit läßlich sind, nicht aber die absichtlich oder aus Schlechtigkeit begangenen Sünden.
245 Johannes Chrysostomus ex Catena in Matth. 12, 32. Vgl. Johannes Chrysostomus, In Matth. hom. 41 (PG 57, 449).
IV. VON DER ERBSÜNDE
Die hier behandelten Fragen lauten: 1. Wird man durch die Geburt mit irgendeiner Sünde infiziert? 2. Was ist die Erbsünde? 3. Ist die Erbsünde im Fleisch oder in der Seele als ihrem Träger? 4. Ist die Erbsünde früher in den Vermögen der Seele als in ihrem Wesen? 5. Ist die Erbsünde früher im Willen als in anderen Vermögen? 6. Wird die Erbsünde von Adam auf alle übertragen, die auf dem Wege des Samens aus ihm hervorgehen? 7. Werden jene, die nur der Materie nach von Adam abstammen, mit der Erbsünde infiziert? 8. Werden die Sünden der nächsten Vorfahren durch die Geburt auf die Nachkommen übertragen?
1. Artik el Die erste Frage lautet: Wird man durch die Geburt mit irgendeiner Sünde infiziert? 1 Das scheint nicht der Fall zu sein, denn: 1. In Jesus Sirach 15, 18 heißt es: »Der Mensch hat Leben und Tod, Gut und Böse vor sich; was auch immer er wünschen sollte, wird ihm gegeben werden«2. Daraus kann geschlossen werden, daß die Sünde, die der geistige Tod des Menschen ist, im Willen besteht. Aber nichts, womit der Mensch durch seine Geburt infiziert wird, hängt von seinem Willen ab. Also wird der Mensch durch seine Geburt mit keiner Sünde infiziert. 1 Parallelstellen: Sent. II, d. 30 q. 1 a. 2; d. 31 q. 1 a. 1. ScG IV, 50–52. Sum. theol. I–II, q. 81 a. 1. Super Rom. cap. 5 lect. 3. Comp. theol. I, 196. 2 Sir. 15, 18; Vulg. ›… quod placuerit ei dabitur illi‹.
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2. Eine Eigenschaft wird nur durch Übertragung ihres Trägers weitergegeben. Aber der Träger der Sünde ist die vernünftige Seele. Wenn die vernünftige Seele daher nicht durch die Geburt übertragen wird, wie im Buch Über Kirchendogmen behauptet wird, so scheint man auch durch die Geburt mit keiner Sünde infiziert zu werden.3 3. Dagegen wurde eingewandt, daß das Fleisch, das Ursache der Sünde ist, trotzdem übertragen wird, auch wenn der Träger der Sünde nicht übertragen wird. – Dagegen spricht: Zur Übertragung einer Eigenschaft genügt die Übertragung von dem, was nicht hinreichende Ursache ist, nicht. Denn durch ihre Setzung wird nicht die Wirkung gesetzt. Aber das Fleisch ist keine hinreichende Ursache der Sünde. Denn wie sehr das Fleisch auch immer zur Sünde drängt, es liegt dennoch im Vermögen des Willens zuzustimmen oder nicht zuzustimmen. So ist der Wille selbst die hinreichende Ursache der Sünde. Aber der Wille wird nicht übertragen. Also reicht die Übertragung des Fleisches nicht aus zur Übertragung irgendeiner Sünde. 4. Was jetzt unter Sünde verstanden wird, ist das, wofür man Strafe und Tadel verdient. Aber für keinen durch Geburt zugezogenen Mangel verdient man Tadel und Strafe. Denn wie Aristoteles im 3. Buch der Nikomachischen Ethik erklärt, wird jemand, wenn er auf Grund einer Krankheit blind ist, nicht getadelt.4 Er wird aber getadelt, wenn er auf Grund von Trunkenheit blind ist. Also hat kein Mangel, den man sich durch die Geburt zuzieht, die Natur der Sünde. 5. Augustinus unterscheidet am Anfang von Über den freien Willen zwei verschiedene Arten von Übeln: eines, das wir tun, was das Übel der Schuld ist, und ein anderes, das wir erleiden, was unter das Übel der Strafe fällt.5 Aber jeder Mangel, der von etwas anderem herrührt, hat die Natur des Erleidens, denn das Leiden ist eine Wirkung davon, einer Tätigkeit zu unterliegen. Also hat das, womit man durch Geburt von einem anderen infiziert wird, nicht die Natur der Sünde, sondern nur die Natur der Strafe. 6. Im Buch Über Kirchendogmen heißt es: »Unser Fleisch ist gut, 3 Gennadius von Marseille, De eccl. dogm. 14 (PL 58, 984 B). 4 Aristoteles, Eth. Nic. III, 12; 1114 a 25–28. 5 Augustinus, De lib. arb. I, 1 (CCSL 29, 211).
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nämlich insofern es von einem guten Gott geschaffen ist.«6 Aber das Gute ist nach jener Stelle Matthäus 7, 18 nicht die Ursache eines Übels: »Ein guter Baum kann keine schlechten Früchte tragen.«7 Also kann man nicht durch die Geburt des Fleisches mit der Erbsünde infiziert werden. 7. Nachdem die Seele mit dem Fleisch vereinigt ist, hängt sie mehr vom Fleisch ab als in ihrer Vereinigung selbst. Aber nachdem die Seele schon mit dem Fleisch vereinigt worden ist, kann sie vom Fleisch nur durch ihre Zustimmung infi ziert werden. Also gilt das auch bei der Vereinigung selbst. Man kann also nicht durch die Geburt des Fleisches mit der Erbsünde infiziert werden. 8. Wenn der verderbte Ursprung des Fleisches in der Seele die Sünde verursacht, wird der Ursprung eine um so größere Sünde verursachen, um so verderbter er gewesen ist. Aber bei denjenigen, die in Unzucht gezeugt werden, ist der Ursprung verderbter als bei denen, die in einer legitimen Ehe geboren werden. Es würde also folgen, daß jene, die in Unzucht gezeugt werden, bei ihrer Geburt mit einer größeren Sünde infiziert werden. Das ist offenbar falsch, da sie keine größere Strafe verdienen. 9. Wenn man durch die Entstehung des Fleisches mit der Erbsünde infiziert wird, geschieht dies nur, insofern das Fleisch verdorben ist. Entweder ist jene Verderbnis also sittlich oder natürlich. Aber sittlich kann sie nicht sein, da der Träger der sittlichen Verderbnis nicht das Fleisch, sondern die Seele ist. Gleichsam kann sie aber auch keine natürliche sein. Denn daraus würde folgen, daß die Seele durch eine natürliche Tätigkeit infiziert würde, nämlich durch die tätiger und erleidender Beschaffenheiten. Das ist offenbar falsch. Auf keine Weise wird man daher durch die Geburt des Fleisches mit der Sünde infiziert. 10. Der Mangel, der aus der Sünde unseres ersten Vorfahrens hervorging, ist nach Anselm die Entbehrung der ursprünglichen Gerechtigkeit.8 Da die ursprüngliche Gerechtigkeit etwas Geistiges 6 Gennadius von Marseille, De eccl. dogm. 76 (PL 58, 998 A). 7 Mt. 7, 18. 8 Anselm von Canterbury, De conceptu virg. 27 (Opera Omnia II, ed.
Schmitt, 170).
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ist, folgt auf diese Weise, daß auch besagter Mangel ein geistiger ist. Die Verderbnis des Fleisches ist jedoch etwas körperliches. Das Geistige und das Körperliche gehören aber in unterschiedliche Gattungen. Somit kann das Geistige keine körperliche Wirkung hervorbringen. Also konnte die Sünde unseres ersten Vorfahren keine Verderbnis in unserem Fleisch hervorrufen, durch die die Sünde auf dem Wege der Geburt auf uns übertragen würde. 11. Nach Anselm ist die Erbsünde die Entbehrung der ursprünglichen Gerechtigkeit.9 Also kam die ursprüngliche Gerechtigkeit der Seele des ersten Menschen entweder auf natürliche Weise durch seine Erschaffung zu oder sie ist ein aus göttlicher Freigebigkeit hinzugegebenes Geschenk gewesen. Wenn sie jedoch der Seele natürlich gewesen ist, hätte sie sie niemals durch eine Sünde verloren. Denn natürliche Gaben blieben auch in den Dämonen zurück, wie Dionysius im 4. Kapitel von Über die göttlichen Namen erklärt.10 Auf diese Weise würden auch alle Menschen die natürliche Gerechtigkeit besitzen, da das, was einer Seele natürlich ist, allen Seelen natürlich ist. Somit würde niemand mit der Erbsünde, das heißt mit der Entbehrung der ursprünglichen Gerechtigkeit, geboren. Wenn aber diese Gerechtigkeit ein aus göttlicher Freigebigkeit hinzugegebenes Geschenk gewesen ist, gibt Gott dieses Geschenk der Seele des Menschen also entweder bei der Geburt oder nicht. Wenn er es gibt, wird der Mensch nicht mit der Entbehrung der ursprünglichen Gerechtigkeit geboren und seine Seele kann auch nicht durch das Fleisch infiziert werden. Wenn es ihm aber von Gott nicht gegeben wird, scheint dies nicht der Seele zugeschrieben zu werden, sondern Gott, der sie nicht gegeben hat. Daher kann der Mensch auf keine Weise durch die Geburt mit der Sünde infiziert werden. 12. Die vernünftige Seele kommt nicht zu einer vorher schon bestehenden Form hinzu. Denn sie würde dann nicht als die wesentliche Form, sondern als nebensächliche Form zur Materie hinzukommen, die zu einem schon wirklich existierenden Träger hinzutritt. Es ist also notwendig, daß alle vorher bestehenden Formen 9 Anselm von Canterbury, De conceptu virg. 27 (Opera Omnia II, ed. Schmitt, 170). 10 Dionysius Areopagita, De div. nom. IV, 23 (Dion., 281).
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und folglich alle Eigenschaften mangelhaft sind, wenn die vernünftige Seele hinzukommt. So endet also auch die Verderbnis des Samens, wenn sie auf irgendeine Weise vom Erzeuger her anwesend war. Also kann die ankommende Seele nicht durch das Fleisch verunreinigt werden. 13. Bei zusammengesetzten Körpern geht die Bewegung aus der Natur des vorherrschenden Teils hervor. Folglich gehen alle Eigenschaften aus demjenigen hervor, das im Zusammengesetzten vorherrschend ist. Aber beim Menschen, der aus beiden zusammengesetzt ist, herrscht die Seele über den Körper und die Seele ist durch ihren Ursprung unverdorben. Obzwar also das Fleisch durch seine Geburt mit einer gewissen Verdorbenheit infiziert wird, scheint es dennoch, daß man vom Menschen bei seiner Geburt nicht sagen darf, daß er mit der Sünde infiziert ist, sondern daß er unverdorben ist. 14. Die Sünde ist dasjenige, wofür eine Strafe verdient wird. Aber für die Sünde, mit der man durch die Geburt infiziert wird, verdient man keine Strafe. Denn die Entbehrung der göttlichen Schau, die ihr allgemein als Strafe zugewiesen wird, scheint keine Strafe zu sein. Denn wenn ein Mensch ohne jede Sünde sterben würde und nicht im Besitz der Gnade wäre, könnte er nicht zur göttlichen Schau gelangen. In dieser besteht nach der Stelle Johannes 17, 3 das ewige Leben: »Dies ist das ewige Leben, daß sie dich, den wahren einen Gott erkennen mögen.«11 Und der Apostel sagt im Römerbrief 6, 23: »Die Gnade Gottes ist ewiges Leben.«12 Also gibt es keine Sünde, mit der man durch die Geburt infiziert wird. 15. Wie die erste Ursache vorzüglicher ist als die zweite, so ist die zweite Ursache vorzüglicher als die Wirkung. Aber wenn die Sünde von unserem ersten Vorfahren übertragen wird, ist die Verderbnis im Fleisch aus der Seele des ersten sündigenden Menschen hervorgegangen und vom Fleisch ist sie weiter auf die Seele des Menschen übertragen worden, der aus Adam geboren wird. Auf diese Weise ist die Seele des ersten Menschen wie die erste Ursache, das Fleisch wie die zweite Ursache und die Seele des hervorgebrachten Menschen 11 Joh. 17, 3. 12 Röm. 6, 23.
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wie die letzte Wirkung. Somit wird also die Seele des ersten Menschen edler sein und das Fleisch edler als die Seele des geschaffenen Menschen. Das ist widersinnig. Also kann die Sünde nicht durch die Geburt übertragen werden. 16. Etwas ist nur tätig, insofern es aktuell wirklich ist. Aber im Samen ist die Sünde nicht aktuell wirklich. Also kann die Seele nicht durch den verminderten Samen mit der Sünde infiziert werden. 17. Dasselbe kann nicht Ursache für die Infektion mit der Sünde und Ursache des Verdienstes sein. Aber die Handlung der Zeugung kann manchmal verdienstvoll sein, zum Beispiel wenn ein Mann im Zustand der Gnade mit seiner Frau verkehrt, um Nachkommen zu zeugen oder um eine Schuld zurückzugeben. Also wird die Ansteckung mit der Sünde in der Nachkommenschaft nicht dadurch verursacht werden können. 18. Eine besondere Ursache führt keine allgemeine Wirkung herbei. Aber die Sünde Adams ist ein bestimmtes Einzelereignis gewesen. Also hat sie nicht die gesamte menschliche Natur mit einer Sünde anstecken können. 19. In Ezechiel 18, 4 und 18, 20 sagt der Herr: »Alle Seelen gehören mir; der Sohn soll nicht den Frevel des Vaters tragen.«13 Er würde ihn aber tragen, wenn die, die von ihm abstammen, für die Sünde des ersten Menschen verurteilt würden. Also wird die Sünde nicht wegen seiner Sünde auf die Nachkommen Adams übertragen. Dagegen spricht: 1. Im Römerbrief 5, 12 heißt es: »Durch einen Menschen trat die Sünde in diese Welt.«14 Aber nicht durch Nachahmung, denn auf diese Weise ist die Sünde durch den Teufel in die Welt getreten nach jener Stelle im Buch der Weisheit 1: »Durch den Neid des Teufels trat der Tod in die Welt. Die aber werden ihm folgen, die auf seiner Seite sind.«15 Also wird die Sünde des ersten Menschen durch die verderbte Geburt auf seine Nachkommen übertragen.
13 Ez. 18, 4 und 20. 14 Röm. 5, 12. 15 Richtig: Weish. 2, 24–25.
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2. Augustinus sagt im 14. Buch von Die Bürgerschaft Gottes, daß der erste Mensch, verdorben durch eigenen Willen, verderbte Nachkommen gezeugt hat.16 Aber Verderbnis geht nur aus der Sünde hervor. Also werden die Kinder Adams durch ihre Geburt mit der Sünde infiziert. Antwort: Die Pelagianer leugneten, daß irgendeine Sünde durch Geburt übertragen werden kann. Aber dies schließt zu einem großen Teil die Notwendigkeit der durch Christus hervorgebrachten Erlösung aus. Diese scheint insbesondere deshalb notwendig gewesen zu sein, um die Infektion mit der Sünde auszulöschen, die vom ersten Vorfahren auf alle seine Nachkommen übertragen wurde, wie der Apostel im Römerbrief 5, 18 sagt: »Wie es durch das Vergehen eines einzigen für alle Menschen zur Verurteilung kam, so auch durch die Gerechtigkeit eines einzigen für alle Menschen bis zur Gerechtsprechung, die Leben gibt.«17 Es schließt ebenso die Notwendigkeit der Taufe der Kinder aus. Diese zeigt jedoch die allgemeine Gewohnheit der Kirche und leitet sich von den Aposteln her, wie Dionysius in Über die kirchliche Hierarchie ausführt.18 Daher muß schlechthin behauptet werden, daß die Sünde von dem ersten Vorfahren durch die Geburt auf die Nachkommen übertragen wird. Um dies offensichtlich zu machen, muß man bedenken, daß ein einzelner Mensch auf zweifache Weise betrachtet werden kann: einerseits, insofern er eine bestimmte einzelne Person ist, andererseits insofern er Teil einer Gemeinschaft ist. Auf jede der beiden Weisen kann ihm eine Handlung zugeschrieben werden. Denn jene Handlung, die er aus eigenem Willen und durch sich selbst tut, kommt ihm zu, insofern er eine einzelne Person ist. Aber insofern er Teil einer Gemeinschaft ist, kann ihm eine Handlung zukommen, die er nicht durch sich selbst und aus eigener Wahl begeht, die jedoch von der ganzen Gemeinschaft oder von der Mehrzahl der Gemeinschaft oder vom Führer der Gemeinschaft begangen wird. So sagt man 16 Richtig: Augustinus, De civ. Dei XIII, 14 (CCSL 48, 395). 17 Röm. 5, 18. 18 Dionysius Areopagita, De eccl. hier. VII–III, 11 (Dion., 1468 ff.).
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nach Aristoteles zum Beispiel von dem, was der Herrscher eines Staates tut, der Staat tue es.19 Denn eine derartige Gemeinschaft von Menschen wird als ein Mensch betrachtet, so daß verschiedene zu verschiedenen Aufgaben bestimmte Menschen sozusagen verschiedene Glieder eines natürlichen Körpers sind, wie der Apostel es im 1. Brief an die Korinther 12, 12 in bezug auf die Mitglieder der Kirche ausführt.20 Auf diese Weise muß die gesamte Vielzahl der Menschen, die die menschliche Natur von dem ersten Vorfahren empfangen hat, als eine Gemeinschaft oder eher als ein einziger Körper eines einzigen Menschen betrachtet werden. In dieser Vielheit kann dann jeder einzelne Mensch, auch Adam selbst, entweder als einzelne Person oder als ein Glied dieser Vielheit betrachtet werden, die durch natürliche Geburt von einem Menschen abstammt. Man muß auch bedenken, daß dem ersten Menschen bei seiner Erschaffung von Gott ein bestimmtes übernatürliches Geschenk gegeben worden war, nämlich die ursprüngliche Gerechtigkeit, durch die seine Vernunft Gott unterworfen war und die niederen Vernunftvermögen und der Körper der Seele. Dieses Geschenk war dem ersten Menschen aber nicht nur als einer einzelnen Person, sondern als dem Ursprung der gesamten menschlichen Natur gegeben worden, damit es nämlich von ihm durch Geburt auf die Nachkommen übertragen würde. Dieses empfangene Geschenk hat der erste Mensch durch die Sünde aus freiem Willen in genau dem Sinn verloren, in dem es ihm gegeben worden war, nämlich für sich und für seine gesamte Nachkommenschaft. Daher ereilt der Mangel dieses Geschenks dann seine gesamte Nachkommenschaft. Somit wird jener Mangel auf die Weise auf seine Nachkommen übertragen, auf welche die menschliche Natur übertragen wird. Diese wird jedoch nicht durch das Ganze übertragen, sondern durch einen Teil davon – nämlich durch das Fleisch, dem Gott die Seele eingeflößt hat. Wie die von Gott eingeflößte Seele wegen des Fleisches, mit dem sie verbunden ist, der von Adam abstammenden menschlichen Natur zugehört, so erstreckt sich somit auch der besagte Mangel auf die Seele wegen des Fleisches, das sich von Adam fortpflanzt – nicht 19 Aristoteles, Eth. Nic. IX, 9; 1168 b 31–32. 20 1 Kor. 12, 12.
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nur gemäß der körperlichen Substanz, sondern auch gemäß des samenhaften Vermögens. Das heißt nicht nur im Sinne der Materie, sondern wie von einem tätigen Ursprung. So empfängt nämlich der Sohn vom Vater die menschliche Natur. Wenn also dieser Mangel, der auf eine derartige Weise durch die Geburt auf diesen Menschen übertragen wird, betrachtet wird, insofern dieser Mensch eine bestimmte einzelne Person ist, so kann ein derartiger Mangel nicht die Natur der Schuld haben. Um die Natur der Schuld zu haben, ist es erforderlich, daß er willentlich ist. Wenn aber jener gezeugte Mensch als ein bestimmtes Mitglied des Ganzen der menschlichen Natur betrachtet wird, die sich vom ersten Vorfahren fortpflanzt, so als wenn alle Menschen ein Mensch wären, so hat der Mangel wegen seinem freiwilligen Anfang die Natur der Schuld. Dieser ist die in einer Handlung bestehende Sünde des ersten Vorfahren. Wie wenn wir sagen sollten, daß die Bewegung der Hand, um einen Mord zu begehen, insofern wir die Hand an sich selbst betrachten, nicht die Natur der Schuld besitzt. Denn die Hand wird mit Notwendigkeit von einem anderen bewegt. Wenn wir sie aber als Teil des ganzen Menschen betrachten, der willentlich handelt, so hat die Bewegung die Natur der Schuld, da sie auf diese Weise freiwillig ist. Wie daher vom Mord nicht gesagt wird, daß er die Schuld der Hand, sondern die Schuld des gesamten Menschen ist, so wird von einem derartigen Mangel nicht gesagt, daß er eine persönliche Sünde ist, sondern eine Sünde der gesamten Natur. Sie betrifft die Person auch nur, insofern die Natur die Person ansteckt. Wie verschiedene Teile des Menschen tätig sind, um eine Sünde zu begehen – nämlich der Wille, die Vernunft, die Hand, das Auge und so weiter – und es dennoch nur eine Sünde ist wegen der Einheit des Ursprungs, nämlich dem Willen, von dem die Natur der Sünde auf alle Tätigkeiten der Teile übertragen wird, so wird sie auch auf Grund des Ursprungs in der gesamten menschlichen Natur betrachtet, als wäre sie eine Erbsünde. Aus diesem Grund sagt der Apostel im Römerbrief 5, 12: »In dem alle gesündigt haben«.21 Das kann nach Augustinus auf folgende Weise verstanden werden: »in dem«, nämlich dem ersten Menschen, oder »in der«, der Sünde des ersten 21 Röm. 5, 12.
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Menschen, so daß die Sünde des ersten Menschen ist, als wäre sie die gemeinsame Sünde aller.22 Zu 1. Die Sünde, die man sich durch die Geburt zuzieht, wird ihres Ursprungs freiwillig genannt, nämlich dem Willen des ersten Vorfahren, wie oben ausgeführt wurde.23 Zu 2. Diese Sünde begleitet die gesamte menschliche Natur. Daher ist der Träger dieser Sünde die Seele, insofern sie Teil der menschlichen Natur ist. Wie die menschliche Natur übertragen wird, obzwar die Seele nicht übertragen wird, so wird also auch die Erbsünde übertragen, obzwar die Seele nicht übertragen wird. Zu 3. Das Fleisch ist keine hinreichende Ursache für eine in einer Tätigkeit bestehende Sünde. Es ist jedoch eine hinreichende Ursache für die Erbsünde, wie auch die Übertragung des Fleisches eine hinreichende Ursache, jedoch in der Weise der Materie, der menschlichen Natur ist. Zu 4. Für das, womit man sich durch Geburt infiziert, wird weder Strafe noch Tadel verdient, wenn man sich auf die Person bezieht. Denn auf diese Weise hat es nicht die Natur des Freiwilligen. Aber wenn man sich auf die Natur bezieht, so hat es die Natur des Freiwilligen, wie ausgeführt wurde.24 Auf diese Weise verdient man dafür Tadel und Strafe. Zu 5. Der Mangel, mit dem man durch Geburt infiziert wird, hat zwar den formalen Aspekt, durch ein anderes zu existieren, wenn man ihn auf die Person bezieht, nicht aber wenn man sich auf die Natur bezieht. Denn auf diese Weise existiert er sozusagen durch einen innerlichen Ursprung. Zu 6. Unser Fleisch ist seiner eigenen Natur nach gut. Aber insofern es wegen der Sünde des ersten Vorfahren der ursprünglichen Gerechtigkeit beraubt ist, verursacht es die Erbsünde. Zu 7. Wie ausgeführt wurde, ist die Erbsünde, im eigentlichen Sinne gesprochen, eine Sünde der Natur und nicht der Person, außer
22 Augustinus, De pecc. mer. et rem. I, 10 (CSEL 60, 12). 23 Vgl. De malo q. 4 a. 1 c. 24 Vgl. De malo q. 4 a. 1 c.
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auf Grund einer infizierten Natur.25 Der Zeugungsakt dient eigentümlich der Natur, denn er ist auf die Erhaltung der Art hingeordnet. Aber daß das Fleisch bereits mit der Seele vereinigt ist, gehört zur Anlage der Person. Daher verursacht das Fleisch eher die Erbsünde, insofern es im Zeugungsakt betrachtet wird, als insofern es schon vereinigt ist. Zu 8. Bei jenen, die aus Unzucht geboren werden, ist zwar der Ursprung doppelt verderbt, nämlich durch die Sündhaftigkeit der Natur, die von Adam übertragen wird, und durch die Sündhaftigkeit der Person, das heißt des zeugenden Vaters. Von dieser Sündhaftigkeit wird keine Infektion auf den Nachkommen übertragen. Denn jeder, der zeugt, überträgt die Erbsünde, insofern er wie Adam zeugt, nicht insofern er wie Petrus und Martin zeugt. Das heißt er zeugt kraft dessen, was er von Adam hat, und nicht kraft dessen, was ihm selbst eigen ist. Zu 9. Die Verderbnis, die im Fleisch ist, ist zwar in ihrer Wirkung natürlich, aber in Absicht und Vermögen sittlich. Denn wegen der Sünde unseres ersten Vorfahren ist sein Fleisch von diesem Vermögen verlassen worden, so daß der Same von ihm abgelöst werden könnte, durch den die ursprüngliche Gerechtigkeit bei anderen fortgepflanzt würde. Auf diese Weise ist im Samen der Mangel dieses Vermögens der Mangel der moralischen Verderbnis und eine Art Absicht von ihm, so wie wir sagen, daß es die Absicht der Farbe ist, in der Luft zu sein, und die Absicht der Seele, im Samen zu sein. Deswegen gibt es im Samen auch das Vermögen, eine ähnliche Infektion hervorzubringen, wie es dort ein Vermögen gibt, um die menschliche Natur im gezeugten Nachkommen hervorzubringen. Zu 10. Nichts hindert, daß eine körperliche Wirkung von einer geistigen Ursache hervorgebracht wird. Denn auch Boethius sagt in seiner Schrift Über die Dreieinigkeit, daß die Formen, die in der Materie sind, von den Formen kommen, die ohne Materie sind.26 Auch in uns selbst wird das untere Streben vom Willen bewegt, auf dessen Bewegung eine körperliche Veränderung erfolgt.
25 Vgl. De malo q. 4 a. 1 c. 26 Boethius, De Trin. 2 (PL 64, 1250 D).
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Zu 11. Die natürliche Gerechtigkeit ist dem ersten Menschen aus göttlicher Freigebigkeit hinzugegeben gewesen. Aber daß sie dieser Seele von Gott nicht gegeben wird, liegt nicht an Gott, sondern an der menschlichen Natur, in der sich ein damit unvereinbares Hindernis findet. Zu 12. Die Verderbnis der Erbsünde ist nicht der Wirklichkeit, sondern der Möglichkeit nach in der Weise im Samen, in der auch die menschliche Natur dort der Möglichkeit nach ist. Dieses tätige Vermögen ist zwar der zunderartige Geist im Samen, wie Aristoteles im Buch Über die Entstehung der Lebewesen sagt, nicht aber in der Materie, die eine Form verliert und eine andere annimmt.27 Zu 13. Wie Dionysius im 4. Kapitel von Über die göttlichen Namen sagt, geht das Gute aus einer ganzen und unversehrten Ursache hervor, aber das Übel geht auch aus einzelnen Mängeln hervor.28 Daher genügt auch der Mangel, der sich auf seiten des Körpers findet, um die Unversehrtheit der menschlichen Natur aufzuheben. Zu 14. Die Entbehrung der göttlichen Schau kommt einer Person auf zweifache Weise zu: einmal so, daß sie in sich selbst nicht das besitzt, wodurch sie zur göttlichen Schau gelangen könnte. Auf diese Weise würde die Entbehrung der göttlichen Schau ihm zukommen, der nur im Besitz natürlicher Fähigkeiten sogar ohne Schuld wäre. Auf diese Weise ist die Entbehrung der göttlichen Schau nämlich keine Strafe, sondern ein jede geschaffene Natur begleitender Mangel. Denn kein Geschöpf kann durch seine eigenen natürlichen Fähigkeiten zur Schau Gottes gelangen. Auf andere Weise kann einer Person die Entbehrung der Schau Gottes derartig zukommen, daß sie in sich etwas hat, wegen dem sie es verdient, daß sie die Schau Gottes entbehrt. Auf diese Weise ist die Entbehrung der Schau Gottes sowohl für die Erbsünde als auch für die in einer Tätigkeit bestehende Sünde eine Strafe. Zu 15. Es gibt zwei Arten von Ursache: eine ursprüngliche, die kraft der eigenen Form tätig ist. Diese ist vorzüglicher als die Wirkung, insofern sie Ursache ist. Die andere ist die werkzeugliche Ursache, die nicht kraft ihrer eigenen Form wirkt, sondern insofern sie 27 Aristoteles, De gen. an. II, 3; 736 b 29 ff. 28 Dionysius Areopagita, De div. nom. IV, 30 (Dion., 298).
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von einem anderen bewegt wird. Diese muß nicht vorzüglicher sein als die Wirkung, wie eine Säge nicht edler ist als ein Haus. Auf diese Weise ist aber der körperliche Same die Ursache der menschlichen Natur im Nachkommen und auch der Erbschuld in seiner Seele. Zu 16. Ein Tätiges ist auf mehrfache Weise in Wirklichkeit: einmal gemäß seiner eigenen Form, die entweder die Form der Wirkung gemäß einer Ähnlichkeit der Art enthält, wie Feuer Feuer erzeugt, oder nur gemäß des Vermögens, wie die Sonne Feuer erzeugt. Auf andere Weise gemäß der Bewegung von einem anderen. Auf diese Weise handelt das Instrument wie ein aktuell wirklich Seiendes. Auf diese Weise ist auch der Samen aktuell wirklich, insofern in ihm die Bewegung und Absicht der erzeugenden Seele ist, nach Aristoteles im Buch Über die Entstehung der Lebewesen.29 Dadurch hat er das Vermögen der Verursachung sowohl der menschlichen Natur als auch der Erbsünde. Zu 17. Ein gerechter Mann erwirbt sich beim Verkehr mit einer Frau Verdienst, sofern es seine eigene Frau ist. Nicht auf diese Weise überträgt er die Erbsünde, sondern durch das, was er von Adam hat, wie oben ausgeführt wurde.30 Zu 18. Adam, insofern er der Ursprung der gesamten menschlichen Natur gewesen ist, besaß die Natur einer universalen Ursache. Auf diese Weise ist kraft seiner Handlung die gesamte menschliche Natur, die von ihm fortgepflanzt wird, verdorben worden. Zu 19. Die Sünde des ersten Menschen ist sozusagen eine gemeinsame Sünde der ganzen menschlichen Natur, wie ausgeführt wurde.31 Aus diesem Grund wird jemand, wenn er für die Sünde des ersten Vorfahren bestraft wird, nicht für die Sünde eines anderen, sondern für seine eigene Sünde bestraft.
29 Aristoteles, De gen. animal. II, 3; 736 b 29 ff. 30 Vgl. De malo q. 4 a. 1 ad 8. 31 Vgl. De malo q. 4 a. 1 c.
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2. Artik el Die zweite Frage lautet: Was ist die Erbsünde? 32 I. Es scheint, daß sie Begierde ist, denn: 1. Augustinus sagt im Buch Über die Taufe der Kinder : »Abgesehen davon, daß er ein Beispiel für Nachahmung ist, hat Adam in sich auch alle, die aus seinem Stamm hervorgehen sollten, mit der versteckten Verderbnis seiner fleischlichen Begierde angesteckt.«33 Deshalb sagt der Apostel im Römerbrief 5, 12 zu recht: »In ihm haben alle gesündigt.«34 Aber die Erbsünde ist das, in dem alle gesündigt haben, wie ausgeführt worden ist.35 Also ist die Erbsünde Begierde. 2. Anselm sagt im Buch Über die unbefleckte Empfängnis: »Er wurde so geschaffen, daß er die ungeordnete Begierde nicht empfinden sollte.«36 Aber, wie er in demselben Buch sagt: »Die Sünde besteht nicht nur dann, wenn der Mensch nicht hat, was er haben soll, sondern auch dann, wenn er hat, was er nicht haben soll.«37 Also ist die Erbsünde die zugezogene Begierde. 3. Augustinus sagt im Buch Zurücknahmen, daß die Schuld der Begierde in der Taufe vernichtet wird.38 Aber in der Taufe wird eigentlich die Schuld der Erbsünde aufgehoben. Also besteht die Erbsünde in der Begierde. Dagegen spricht: 1. Johannes von Damaskus sagt im 2. Buch von Über den Glauben, daß die Sünde daher kommt, daß jemand sich von dem abwendet, was gemäß der Natur ist, und sich dem zuwendet, was der
Parallelstellen: Sent. II, d. 30 q. 1 a. 3. Sum. theol. I–II, q. 82 a. 1 und 3. Augustinus, De pecc. mer. et rem. I, 9 (CSEL 60, 11). Röm. 5, 12. Vgl. De malo q. 4 a. 1. Richtig: Anselm von Canterbury, De concord. praesc. et praed. q. 3 c. 7 (Opera Omnia II, ed. Schmitt, 274). 37 Richtig: Anselm von Canterbury, Cur Deus homo I, 24 (Opera Omnia II, ed. Schmitt, 92). 38 Augustinus, Retract. I, 15 (CSEL 36, 73). 32 33 34 35 36
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Natur widerspricht.39 Daher kommt die Behauptung, daß die Sünde wider die Natur ist. Aber die Begierde ist natürlich. Diese hat nämlich die Natur allen Lebewesen gelehrt. Also ist die Begierde nicht die Erbsünde. 2. Dagegen wurde eingewandt, die Begierde sei gemäß der verdorbenen Natur natürlich, nicht aber gemäß der Natur, wie sie geschaffen worden ist. – Dagegen spricht: Die Begierde ist die eigentümliche Tätigkeit des Begehrungsvermögens. Aber das Begehrungsvermögen ist sogar gemäß der geschaffenen Natur natürlich. Folglich ist die Begierde es auch. 3. Keine Sünde ist auf das Gute und das Übel bezogen. Aber die Begierde ist sowohl auf das Gute wie die Weisheit als auch auf das Übel wie den Diebstahl bezogen. Also ist die Begierde an sich selbst nicht die Erbsünde. 4. Die Begierde bezeichnet entweder einen Habitus oder eine Handlung. Aber insofern sie eine Handlung bezeichnet, ist sie eine in einer Tätigkeit bestehende Sünde und nicht die Erbsünde. Insofern sie jedoch einen Habitus bezeichnet, kann sie nicht die Erbsünde sein. Denn der Habitus in einem Menschen, der durch seine eigenen schlechten Handlungen erworben ist, ist keine Sünde. Ansonsten würde er immerfort sündigen und fehlen. So trägt die in diesem Menschen durch die Handlung des ersten Vorfahren verursachte habituelle Begierde noch viel weniger den Namen der Sünde. Auf keine Weise ist also die Begierde die Erbsünde. 5. Jeder Habitus ist entweder natürlich, erworben oder eingegeben. Aber die Erbsünde ist kein natürlicher Habitus. Denn nach Dionysius im 4. Kapitel von Über die göttlichen Namen ist nichts, was einem gemäß der Natur inne ist, schlecht für es.40 Ähnlich ist sie auch kein erworbener Habitus, da erworbene Habitus durch Handlungen verursacht werden, wie offensichtlich ist durch das 2. Buch der Nikomachischen Ethik des Aristoteles.41 Die Erbsünde wird auch nicht durch Handlungen erworben, sondern durch Geburt übertra39 Johannes Damascenus, De fide II, 30 (ed. Buytaert, 162). Vgl. auch ibid. IV, 20 (ed. Buytaert, 356). 40 Dionysius Areopagita, De div. nom. IV, 25 (Dion., 287). 41 Aristoteles, Eth. Nic. II, 1; 1103 a 18 ff.
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gen. Ähnlich ist sie auch kein eingegebener Habitus, da nur Gott, der innerhalb der Seele wirkt, Ursache solch eines Habitus ist. Gott kann aber nicht die Ursache der Sünde sein. Daher ist die Erbsünde auf keinerlei Weise habituelle Begierde. 6. Nach der allgemeinen Auffassung der Theologen geht bei guten Handlungen der Habitus der Handlung vorher. Denn der Habitus ist von Gott eingegeben, die Handlung wird aber von uns getan. Bei den schlechten Handlungen hingegen geht die Handlung dem Habitus voraus. Wenn also die Erbsünde habituelle Begierde ist, wird folgen, daß die schlechten Handlungen, die in einer Tätigkeit bestehende Sünden sind, der Erbsünde vorhergehen würden. Das ist widersinnig. 7. Man behauptet von der Erbsünde, daß sie der Zunder jeder Sünde ist. Aber Sünden werden nicht nur durch die Begierde, sondern auch durch Schlechtigkeit oder Unwissenheit verursacht, wie oben gezeigt wurde.42 Also ist die Erbsünde nicht Begierde. 8. Wenn die Begierde die Erbsünde ist, ist sie dies entweder wesentlich. Auf diese Weise wäre die Erbsünde nach der Taufe nicht vernichtet, da die Begierde zurückbleibt. Das ist widersinnig. Oder man nennt die Begierde wegen etwas anderem, das mit ihr verknüpft ist, Erbsünde. Auf diese Weise ist jenes andere eigentlicher die Erbsünde. Also ist die Erbsünde nicht Begierde. 9. Eine Eigenschaft wird durch die Prinzipien des Trägers verursacht. Aber der Träger der Erbsünde ist die Seele. Die Ursache der Begierde ist aber nicht die Seele, sondern das Fleisch. Also ist die Begierde nicht die Erbsünde. 10. Die Begierde scheint die Erbsünde in besonderem Maße zu sein, insofern sie die Notwendigkeit des Begehrens selbst voraussetzt. Aber diese Notwendigkeit kann auf zwei Weisen aufgefaßt werden: auf eine Weise, daß sie die Notwendigkeit ist, den Bewegungen der Begierde zuzustimmen. Diese Notwendigkeit kann jedoch nicht Erbsünde genannt werden. Denn sie überdauert die Taufe nicht, die Erbsünde aber überdauert in ihrer Wirkung und geht in ihre Schuld über. Auf die andere Weise aber ist sie eine Notwendigkeit, die Bewegungen der Begierde zu empfinden, aber dies kann 42 Vgl. De malo q. 3 a. 7 und 12.
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auch nicht die Erbsünde sein. Denn entweder wäre sie durch sich selbst die Erbsünde oder durch etwas anderes. Wenn sie es durch sich selbst ist, würde folgen, daß die Erbsünde nach der Taufe zurückbleiben würde. Denn eine solche Notwendigkeit bleibt nach der Taufe zurück. Wenn sie es hingegen durch ein anderes ist, nämlich durch die Entbehrung der göttlichen Gerechtigkeit, scheint auch dies nicht möglich zu sein. Denn die Notwendigkeit, derartige Bewegungen zu empfinden, verhält sich zur Erbsünde wie das wirkliche Empfinden sich zu der in einer Tätigkeit bestehenden Sünde verhält. Aber die Bewegungen der Begierde in Wirklichkeit zu empfinden, ist keine in einer Tätigkeit bestehende Sünde, weil damit die Entbehrung der Gnade verknüpft ist. Andernfalls würde bei jenen, die ohne Gnade sind, jede Bewegung der Begierde eine Sünde sein. Das ist offenbar falsch, da sie manchmal durch die natürliche Vernunft den Bewegungen der Begierde widerstehen. Also ist auch die Notwendigkeit, derartige Bewegungen zu empfinden, wegen der damit verknüpften Entbehrung der ursprünglichen Gerechtigkeit Erbsünde. Somit ist die Begierde in keiner Weise die Erbsünde. 11. Wenn die Begierde die Erbsünde ist, ist sie dies entweder wesentlich oder ursächlich. Sie ist sie aber nicht wesentlich, da die Begierde nach Augustinus die Ursache der Erbsünde ist, die Ursache dem Wesen der Sache jedoch äußerlich ist.43 Ähnlich ist die Begierde aber auch nicht ursächlich die Erbsünde. Denn die Ursache geht der Wirkung voran. Die Begierde geht der Entbehrung der ursprünglichen Gerechtigkeit, in der am meisten die Natur der Erbsünde besteht, jedoch nicht voran, sondern folgt eher aus ihr. Auf keine Weise ist die Erbsünde also die Begierde. 12. Wie im Zustand der verderbten Natur das Begehrungsvermögen der Vernunft widersteht, so auch das zornmütige Vermögen. Also sollte die Begierde nicht mehr Erbsünde genannt werden als der Zorn.
43 Vgl. z. B. Augustinus, Contra Julian. V, 3 (PL 44, 787).
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II. Ebenso wurde behauptet, daß die Erbsünde Unwissenheit ist, denn: 1. Anselm sagt in seiner Schrift Über die Vorherbestimmung, daß die Unfähigkeit der menschlichen Natur, die Gerechtigkeit zu besitzen und zu verstehen, der Erbsünde angerechnet wird.44 Aber die Unfähigkeit zu verstehen fällt unter die Unwissenheit. Also ist die Erbsünde Unwissenheit. 2. In demselben Buch heißt es, daß der Schönheit der menschlichen Natur ihre Verringerung als Sünde angerechnet wird.45 Aber die Schönheit der menschlichen Natur besteht am meisten im Glanz des Wissens. Also scheint es, daß die Erbsünde, die der menschlichen Natur angerechnet wird, eine Verringerung des Wissens ist, das heißt Unwissenheit. 3. Hugo von Sankt Viktor sagt, daß das Laster, das wir uns durch unsere Geburt zugezogen haben, durch Unwissenheit im Geist und durch Begierde im Fleisch besteht.46 Also ist die Erbsünde nicht mehr Begierde als Unwissenheit. Dagegen spricht: 1. Die Unwissenheit ist verschieden von der Begierde und ist nicht im selben Träger. Aber dasselbe ist nicht in verschiedenen Gattungen, noch ist es in verschiedenen Trägern. Also kann die Erbsünde, wenn sie Begierde ist, nicht Unwissenheit sein. 2. Wie der Verstand durch die Erbsünde einen Mangel leidet, so auch die niederen Vermögen wie das Zeugungsvermögen und auch der Körper selbst. Wenn also von der Unwissenheit, die ein Mangel des Verstandes ist, behauptet wird, sie sei die Erbsünde, so mit demselben Grund auch von allen Mängeln der niederen Vermögen und auch des Körpers selbst. Das scheint widersinnig.
44 Anselm von Canterbury, De concord. praesc. et praed. q. 3 c. 7 (Opera Omnia II, ed. Schmitt, 273). 45 Anselm von Canterbury, De concord. praesc. et praed. q. 3 c. 7 (Opera Omnia II, ed. Schmitt, 273). 46 Hugo von Sankt Viktor, De sacramentis I–VII, 28 (PL 176, 299 A).
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III. Ebenso wurde behauptet, daß die Erbsünde in der Entbehrung der ursprünglichen Gerechtigkeit besteht, denn: Anselm argumentiert in seiner Schrift Über die unbefleckte Empfängnis auf folgende Weise: Jede Sünde ist eine Ungerechtigkeit und schließt folglich jede Gerechtigkeit aus. Aber die Erbsünde schließt keine andere Gerechtigkeit aus als die ursprüngliche. Also ist die Erbsünde die Entbehrung der ursprünglichen Gerechtigkeit.47 Dagegen spricht: 1. Von der Schuld heißt es, daß sie von der Beraubung der selig machenden Gnade herrührt. Aber die ursprüngliche Gerechtigkeit schließt die selig machende Gnade nicht ein. Denn der erste Mensch ist in der ursprünglichen Gerechtigkeit gebildet worden, nicht jedoch in der selig machenden Gnade, wie durch Petrus Lombardus im 2. Buch der Sentenzen offensichtlich ist.48 Also konstituiert die Entbehrung der ursprünglichen Gerechtigkeit nicht die Natur der Sünde. 2. Die ursprüngliche Gerechtigkeit wird nicht durch die Taufe wiederhergestellt, da die niederen Vermögen sich immer noch gegen die Vernunft auflehnen. Wenn also die Erbsünde die Entbehrung der göttlichen Gerechtigkeit wäre, würde folgen, daß die Erbsünde nicht durch die Taufe aufgehoben würde. Das ist ketzerisch. 3. Der Träger soll in die Definition einer Eigenschaft gesetzt werden. Aber wenn gesagt wird, daß die Erbsünde die Entbehrung der ursprünglichen Gerechtigkeit ist, wird der Träger nicht erwähnt. Also ist die Definition unzulänglich. 4. Wie die ursprüngliche Gerechtigkeit durch die Erbsünde aufgehoben wird, so wird die Gnade durch die in einer Tätigkeit bestehende Sünde aufgehoben. Aber die Entbehrung der Gnade ist nicht die in einer Tätigkeit bestehende Sünde selbst, sondern deren Wirkung. Also ist die Entbehrung der ursprünglichen Gerechtigkeit auch nicht die Erbsünde selbst. 47 Anselm von Canterbury, De conceptu virg. 24 (Opera Omnia II, ed. Schmitt, 167). 48 Petrus Lombardus, Sententiae II, d. 24 c. 1. (ed. PP. Coll. S. Bon. I, 420).
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IV. Ebenso wurde behauptet, daß die Erbsünde Strafe und Schuld ist, denn: 1. Über jenen Psalm 84, 2: »Herr, du hast dein Land gesegnet«49 sagt die Glosse, daß das, was wir uns durch Adam zuziehen, Strafe und Schuld ist.50 Dies ist jedoch die Erbsünde. Also ist die Erbsünde Strafe und Schuld. 2. Ambrosius von Mailand sagt, daß das Laster oder die Strafe die Natur verderben, die Schuld Gott beleidigt.51 Aber die Erbsünde tut beides. Also ist sie Schuld und Strafe. Dagegen spricht: 1. Hugo von Sankt Viktor sagt, daß die Erbsünde eine Schwäche unserer sterblichen Natur ist, aus der sich die Notwendigkeit der Begierde ergibt.52 Aber Schwäche bezeichnet eine Strafe. Also ist die Erbsünde nur Strafe. 2. Wenn Anselm über die Erbsünde spricht, vergleicht er sie mit der Sklaverei, die manche für die Sünde ihres Vaters erleiden, der das Verbrechen der Majestätsbeleidigung begangen hat.53 Aber eine solche Sklaverei ist bloß eine Strafe. Daher ist die Erbsünde nur eine Strafe. 3. Augustinus sagt im 15. Buch von Die Bürgerschaft Gottes, daß die Erbsünde eine Krankheit der Natur ist.54 Aber Krankheit bezeichnet eine Strafe. Also ist die Erbsünde nur eine Strafe. Antwort: Die Wahrheit über diese Frage kann auf Grundlage dessen eingesehen werden, was oben ausgeführt worden ist. Es wurde nämlich oben behauptet, daß die Erbsünde dieser oder jener Person zugeschrieben wird, insofern sie als bestimmter Teil einer von Adam 49 Ps. 84, 2. 50 Petrus Lombardus, Glossa super Ps. 84, 2 (PL 191, 795 D). 51 Ambrosius von Mailand, Apologia David altera 3 (PL 14, 893 B [935
A]). 52 Hugo von Sankt Viktor, De Sacramentis I–VII, 31 (PL 176, 302 A). 53 Vgl. Anselm von Canterbury, De conceptu virg. 28 (Opera Omnia
II, ed. Schmitt, 171). 54 Richtig: Augustinus, De civ. Dei XIV, 19 (CCSL 48, 442).
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abstammenden Vielheit betrachtet wird, wie wenn er ein bestimmter Körperteil eines Menschen wäre.55 Es wurde auch ausgeführt, daß sie eine Sünde eines sündigenden Menschen ist, insofern sie auf das Ganze und auf den ersten Ursprung des Sündigens bezogen wird, obzwar die Ausführung der Sünde durch verschiedene Glieder geschieht.56 So ist daher die Erbsünde in diesem oder in jenem Menschen nichts anderes als das, was ihm selbst durch die Geburt wegen der Sünde des ersten Vorfahren zukommt, wie die Sünde in der Hand oder im Auge nichts anderes ist als das, was der Hand oder dem Auge durch die Bewegung des ersten Ursprungs des Sündigens zukommt. Das ist der Wille, obzwar im einen Fall die Bewegung durch einen natürlichen Ursprung stattfindet, im anderen Fall hingegen durch den Befehl des Willens. Das aber, was der Hand von der Sünde eines einzelnen Menschen zukommt, ist eine bestimmte Wirkung und ein Eindruck der ersten ungeordneten Bewegung, die im Willen war. Daher ist es notwendig, daß sie etwas ihr Ähnliches erzeugt. Die ungeordnete Bewegung des Willens ist aber die Hinwendung zu einem zeitlichen Gut ohne eine angemessene Hinordnung zum angemessenen Ziel. Diese Ungeordnetheit ist nämlich eine Abwendung vom unveränderlichen Gut, und dieses ist sozusagen der formale Bestandteil, jenes hingegen sozusagen der materiale Bestandteil. Denn die formale Natur der sittlichen Handlung wird ihrer Beziehung auf ihr Ziel entnommen. Daher ist auch das, was der Hand von der Sünde eines Menschen zukommt, als ihre Neigung zu einer Wirkung ohne eine Ordnung der Gerechtigkeit. Nun aber, wenn die Willensbewegung sich auf etwas erstreckt, das nicht empfänglich für die Sünde ist, zum Beispiel auf eine Lanze oder ein Schwert, sagen wir nicht, daß darin die Sünde ist. Wir sagen dies höchstens uneigentlich und in der Weise einer Wirkung, insofern Lanze oder Schwert als bestimmt durch die Handlung der Sünde bewegt werden und die Wirkung der Sünde erreichen. Wir sagen nicht, daß die Lanze oder das Schwert selbst sündigen. Denn sie sind kein Teil des sündigenden Menschen wie die Hand oder das Auge. 55 Vgl. De malo q. 4 a. 1. 56 Vgl. De malo q. 4 a. 1.
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So ist daher in der Sünde des ersten Vorfahren ein formaler Teil gewesen, nämlich die Abwendung vom unveränderlichen Gut, und ein materialer Teil, nämlich die Hinwendung zu einem veränderlichen Gut. Daher jedoch, daß er sich vom unveränderlichen Gut abgewandt hat, verlor er die ursprüngliche Gerechtigkeit. Daher hingegen, daß er sich auf ungeordnete Weise einem veränderlichen Gut zuwandte, sind seine niederen Vermögen, die zur Vernunft aufgerichtet werden sollten, zu niedrigeren Vermögen hinabgezogen worden. So entbehrt also auch bei denen, die aus seinem Stamm geboren werden, der höhere Teil der Seele die angemessene Ordnung auf Gott, die sie durch die ursprüngliche Gerechtigkeit besessen hatte. Ebenso unterliegen auch die niederen Vermögen nicht der Vernunft, sondern sie verwandelten sich gemäß ihres eigenen Triebes in niedrigere. Sogar der Körper selbst neigt zum Verfall gemäß der Neigung der Gegensätze, aus denen er zusammengesetzt ist. Aber der höhere Teil der Seele und auch bestimmte niedere Vermögen, die dem Willen unterliegen und so gestaltet sind, damit sie ihm gehorchen, ziehen sich die derartige Folge der ersten Sünde in der Weise der Schuld zu. Denn derartige Teile sind empfänglich für die Schuld. Aber die niederen Vermögen, die nicht dem Willen unterliegen – nämlich die Vermögen der vegetativen Seele wie auch der Körper selbst – nehmen die derartige Folge in der Weise einer Strafe auf und nicht als Schuld. Es sei denn vielleicht uneigentlich, insofern nämlich solch eine der Sünde folgende Strafe die Sünde fortdauern läßt, insofern das Zeugungsvermögen durch die Absonderung des körperlichen Samens dazu dient, die Erbsünde zugleich mit der menschlichen Natur zu übertragen. Aber unter den höheren Vermögen, die den Mangel aufnehmen, der durch die Geburt in der Weise der Schuld übertragen wird, gibt es einen, der alle anderen bewegt, nämlich den Willen. Alle anderen werden hingegen von ihm zu ihren Handlungen bewegt. Aber immer ist das, was auf seiten des Tätigen und Bewegenden ist, als wäre es eher formaler. Was jedoch auf seiten des Bewegbaren und Leidenden ist, ist, als wäre es eher materialer. Da die Entbehrung der ursprünglichen Gerechtigkeit auf seiten des Willens ist, auf seiten der niederen, vom Willen bewegten Vermögen hingegen die Neigung zum ungeordneten Streben, die Begierde genannt werden
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kann, folgt daher: die Erbsünde in diesem oder in jenem Menschen ist nichts anderes als die Begierde zusammen mit der Entbehrung der ursprünglichen Gerechtigkeit, so daß aber die Entbehrung der ursprünglichen Gerechtigkeit sich in der Erbsünde wie der formale Teil verhält, die Begierde hingegen wie der materiale Teil. Wie auch in der in einer Tätigkeit bestehenden Sünde sich die Abwendung vom unveränderlichen Gut als der formale Teil verhält, die Hinwendung zum veränderlichen Gut jedoch als der materiale, so kann auf ähnliche Weise in der Erbsünde die Seele als abgewandt und hingewandt aufgefaßt werden – genau wie in der in einer Tätigkeit bestehenden Sünde die Handlung ist, als wäre sie abgewandt und hingewandt. I. Die Argumente, durch die bewiesen wird, daß die Erbsünde Begierde ist, sind also zuzugeben. Erwiderungen auf die Einwände: Zu 1. Etwas kann dem Menschen auf zweifache Weise natürlich sein. Einmal, insofern er ein Lebewesen ist. Auf diese Weise ist es für ihn natürlich, daß, allgemein gesprochen, das Begehrungsvermögen zu dem bewegt wird, was gemäß den Sinnen angenehm ist. Andererseits, insofern er ein Mensch ist, das heißt ein vernünftiges Lebewesen. Auf diese Weise ist es für ihn natürlich, daß das Begehrungsvermögen gemäß der Ordnung der Vernunft zum sinnlich Angenehmen bewegt wird. Also ist die Begierde, durch die das Begehrungsvermögen geneigt ist, zum sinnlich Angenehmen entgegen der Vernunft bewegt zu werden, gegen die Natur des Menschen, insofern er Mensch ist. So kommt sie der Erbsünde zu. Zu 2. Wie das Begehrungsvermögen dem Menschen natürlich ist gemäß der Natur, wie sie konstituiert ist, so ist es ihm auch natürlich, daß es der Vernunft unterliegt – nach der Aussage des Aristoteles im 3. Buch von Über die Seele, das sinnliche Streben gehorche dem Streben der Vernunft, so wie eine Sphäre von der anderen bewegt werde.57 Zu 3. Die Begierde ist zwar gut, insofern sie der Ordnung der Vernunft folgt, sie ist aber von Übel, insofern sie der Vernunftord57 Aristoteles, De an. III, 11; 434 a 12–15.
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nung widerspricht. Denn wie Dionysius im 4. Kapitel von Über die göttlichen Namen sagt, besteht das Übel für den Menschen darin, der Vernunft zu widersprechen.58 Daher kommt es, daß es bei einem Menschen ein Übel ist, entgegen der Vernunft zu toben, obwohl es bei einem Hund gut ist. Zu 4. Die Begierde, insofern sie der Erbsünde zugehört, ist keine aktuell wirkliche, sondern eine habituelle Begierde. Aber man muß bemerken, daß wir durch einen Habitus zu etwas geneigt gemacht werden. Ein Tätiges kann aber auf zweifache Weise geneigt sein, etwas zu tun: einmal durch eine Form, die dazu geneigt macht, wie der Körper durch seine Form, die er von seinem Erzeuger hat, nach unten strebt. Andererseits durch Entfernung dessen, was ihn gehindert hat, wie der Wein ausfließt, wenn die Faßreifen zerbrechen, die das Ausfließen verhinderten, und ein angesporntes Pferd kopfüber rast, wenn das Zaumzeug kaputtgeht, durch das es zurückgehalten wurde. So kann die Begierde also auf zweifache Weise habituell genannt werden: einmal als eine Veranlagung oder ein Habitus, der zur Begierde neigt, wie wenn in jemandem durch häufige wirkliche Begierde ein Habitus der Begierde erzeugt würde. Auf diese Weise sagt man von der Begierde nicht, daß sie die Erbsünde ist. Andererseits kann die habituelle Begierde als die Neigung selbst oder die Veranlagung zur Begierde aufgefaßt werden, die daher kommt, daß das Begehrungsvermögen nicht vollkommen der Vernunft unterliegt, nachdem die Fessel der ursprünglichen Gerechtigkeit weggenommen wurde. Auf diese Weise ist im Hinblick auf die Materie gesprochen die Erbsünde habituelle Begierde. Wenn die im Sinne einer Position aufgefaßte habituelle Begierde nicht die Natur einer in einer Tätigkeit bestehenden Sünde hat, insofern sie von Handlungen einer Person verursacht wird, folgt daraus dennoch nicht, daß deswegen die als Entfernung eines Hindernisses aufgefaßte habituelle Begierde nicht die Natur der Erbsünde hat, insofern sie durch die Handlung des ersten Vorfahren verursacht ist. Denn die Erbsünde wird nicht aus dem gleichen Grund Sünde genannt wie die in einer Tätigkeit bestehende Sünde. Denn die in einer Tätigkeit bestehende Sünde besteht im wirklichen Willen einer Per58 Dionysius Areopagita, De div. nom. IV, 32 (Dion., 309).
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son. Daher hat das, was einer derartigen Handlung nicht zukommt, nicht die Natur einer in einer Tätigkeit bestehenden Sünde. Aber die Erbsünde gehört zur Person entsprechend der Natur, die sie von einem anderen durch die Geburt empfangen hat. Daher hat jeder Mangel, der sich in der Natur eines Nachkommens findet und der sich von der Sünde des ersten Vorfahren herleitet, die Natur der Erbsünde, solange er in einem Träger ist, der Schuld aufnehmen kann. Denn wie Augustinus im 1. Buch der Retraktationen sagt: Die Begierde wird eine Sünde genannt, da sie durch die Sünde hervorgebracht worden ist.59 Zu 5. Wie ein lasterhafter Habitus, der dieser Person eigen ist, durch die Handlungen dieser Person erworben ist, so auch die habituelle Begierde, die zu einer Sünde der Natur gehört. Sie ist erworben durch die freiwillige Handlung des ersten Vorfahren. Aber im eigentlichen Sinne ist sie weder natürlich noch eingegeben. Zu 6. Dieser Einwurf geht von dem Habitus aus, der im Sinne einer Setzung persönlich genannt wird. Aber die Erbsünde ist kein solcher Habitus. Zu 7. Unter der Erbsünde werden sowohl die Schlechtigkeit als auch die Unwissenheit begriffen. Denn wie die Begierde, mit der man durch Geburt infiziert wird, nichts anderes ist, als daß die niederen Vermögen von der Zügelung durch die ursprüngliche Gerechtigkeit verlassen werden, so ist die sich zugezogene Schlechtigkeit nichts anderes, als daß der Wille selbst von der ursprünglichen Gerechtigkeit verlassen wird. Daher verfällt er jeder Neigung, das Übel zu wählen. Somit verhält sich die Schlechtigkeit in der Erbsünde als der formale Teil, die Begierde aber als materialer Teil, gemäß dem, was oben ausgeführt worden ist.60 Über die Unwissenheit soll aber später geredet werden. Zu 8. Etwas wird wegen eines anderen ein so Beschaffenes genannt, nicht nur als wäre es so wegen eines als Eigenschaft Hinzukommenden, sondern auch als wäre es auf Grund eines formalen Prinzips so. Ein Körper wird zum Beispiel wegen der Seele lebendig genannt. Dennoch folgt nicht, daß der Körper nicht Teil des lebendi59 Augustinus, Retract. I, 15 (CSEL 36, 73). 60 Vgl. De malo q. 4 a. 2 c.
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gen Dinges ist. Auf ähnliche Weise wird die Begierde wegen der Entbehrung der ursprünglichen Gerechtigkeit Erbsünde genannt. Wie ausgeführt worden ist, verhält sich die ursprüngliche Gerechtigkeit zu ihr wie das Formale zum Materialen.61 Daher folgt nicht, daß die Begierde nicht zur Erbsünde gehört. Zu 9. Eine natürliche Eigenschaft wird durch die Prinzipien ihres Trägers verursacht, nicht aber eine unnatürliche Eigenschaft. Von dieser Art ist die Erbsünde. Dennoch ist auch die Erbsünde vom Willen des ersten Vorfahren verursacht. Zu 10. Insofern die Begierde nicht etwas ist, das zur Erbsünde gehört, bezeichnet sie nicht die Notwendigkeit, den ungeordneten Bewegungen der Begierde zuzustimmen, sondern sie bezeichnet die Notwendigkeit, sie zu erfahren. Diese bleibt zwar nach der Taufe zurück, aber sie bleibt nicht mit der Entbehrung der ursprünglichen Gerechtigkeit zurück, in der die Sündenstrafe gründet. Daher heißt es, daß sie in ihrer Wirkung bleibt und in die Schuld übergeht. Dennoch ist es nicht notwendig, daß die Notwendigkeit, die Bewegungen der Begierde zu erfahren, nicht die Natur der Erbsünde hat. Der Grund liegt darin, daß das Erfahren einer derartigen Bewegung nicht die Natur einer in einer Tätigkeit bestehenden Sünde hat wegen der Entbehrung der Gnade. Denn eine Tatsünde besteht in einer Handlung, da sie eine ungeordnete Handlung ist. Daher ist der Mangel, der die in einer Tätigkeit bestehende Sünde konstituiert, die Ungeordnetheit der Handlung selbst, nicht hingegen die Entbehrung der Gnade, die ein Mangel im Träger der Sünde ist. Aber die Erbsünde ist eine Sünde der Natur. Daher wird die Ungeordnetheit der Natur durch den Entzug der ursprünglichen Gerechtigkeit als die Natur der Erbsünde aufgefaßt. Zu 11. Begierde kann auf zwei Arten betrachtet werden. Einmal, insofern sie in einem anderen Menschen ist. Auf diese Weise wird die Begierde, die im Vater ist, als Ursache für die Erbsünde betrachtet, die im Sohn ist, und gehört nicht zu seinem Wesen, sondern geht ihm voraus. Andererseits kann sie betrachtet werden, insofern sie in demselben Menschen ist. Auf diese Weise ist sie Ursache in der Weise der Materie, die zum Wesen eines Dinges gehört, und 61 Vgl. De malo q. 4 a. 2 c.
2. Artikel
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ist sozusagen nach Art der Materie vorgängig, wie auch der Körper der Seele in der Ordnung der Materialursache vorhergeht. Denn es wurde oben ausgeführt, daß auf Grund des Fleischs, dem die Begierde zugehört, die Seele infiziert wird, zu der die Entbehrung der ursprünglichen Gerechtigkeit gehört.62 Zu 12. Auch der Verfall des zornmütigen Vermögens ist wie der Verfall des Begehrungsvermögens auf materielle Weise in der Erbsünde eingeschlossen. Dennoch wird die Erbsünde aus zwei Gründen eher nach dem Begehrungsvermögen benannt: erstens nämlich, da alle Leidenschaften des Begehrungsvermögens von der Liebe hervorgebracht werden, die im Begehrungsvermögen ist, und in Freude oder Leid enden, die auch im Begehrungsvermögen sind. Daher kann – allgemein gesprochen – sowohl die Bewegung des Begehrungsvermögens als auch die des zornmütigen Vermögens Begierde genannt werden. Zweitens, da die Erbsünde durch die Handlung der Erzeugung übertragen wird, in der ein höchster Grad an Genuß ist, in dem die Ungeordnetheit des Begehrungsvermögens offenbar ist. Daher wird das Begehrungsvermögen nicht nur verdorben, sondern auch infiziert genannt, insofern durch eine solche Handlung die Erbsünde übertragen wird. II. Erwiderungen auf die Argumente dafür, daß die Erbsünde in der Unwissenheit bestünde: Unter den anderen Vermögen wird sogar die Vernunft durch den Willen bewegt. Somit wird auch ein Mangel der Vernunft der Materie nach unter der Erbsünde begriffen. Dieser Mangel ist nämlich die Abwesenheit jenes natürlichen Wissens, das der Mensch im ersten Stand besessen hätte. Auf diese Weise ist die Unwissenheit der Materie nach unter der Erbsünde enthalten. Antworten auf die Erwiderungen: Zu 1. Da die Erbsünde eine Sünde der Natur ist, so folgt: wie die menschliche Natur aus vielen Teilen zusammengesetzt ist, so gehören viele Sünden zur Erbsünde, nämlich Mängel verschiedener Teile der menschlichen Natur. 62 Vgl. De malo q. 4 a. 1.
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Zu 2. Die Teile, die nicht dazu geboren sind, der Vernunft zu gehorchen, sind für die Schuld nicht empfänglich. Daher hat bei diesen der übertragene Mangel nicht die Natur der Schuld, sondern nur der Strafe. Die Vernunft ist aber aufnahmefähig für die Schuld. Denn jemand kann durch die Handlung der Vernunft, insofern sie willentlich ist, sowohl Verdienst als auch Fehl erwerben. Daher besteht hier keine Ähnlichkeit. III. Erwiderung auf die Argumente dafür, daß die Erbsünde in der Entbehrung der ursprünglichen Gerechtigkeit bestünde: Die Entbehrung der ursprünglichen Gerechtigkeit ist wie an die Form gebunden in der Erbsünde, wie ausgeführt worden ist.63 Erwiderungen auf die Einwände: Zu 1. Die ursprüngliche Gerechtigkeit schließt die selig machende Gnade ein. Ich halte es auch nicht für wahr, daß der Mensch mit rein natürlichen Ausstattungen geschaffen worden ist. Wenn sie jedoch die selig machende Gnade nicht einschließt, ist es deswegen dennoch nicht ausgeschlossen, daß die Entbehrung der ursprünglichen Gerechtigkeit die Natur der Schuld hat. Denn auf Grund der Tatsache, daß jemand wider die Vorschrift der natürlichen Vernunft sündigt, erwirbt er Schuld. Denn die Rechtschaffenheit der Gnade gibt es nicht ohne die Rechtschaffenheit der Natur. Zu 2. In der Taufe wird die ursprüngliche Gerechtigkeit in bezug darauf, daß der höhere Teil der Seele mit Gott verbunden ist, wiederhergestellt. Durch die Beraubung dieser Vereinigung wohnte der Seele die Schuld des Fehlens inne, aber nicht in bezug darauf, daß die unteren Vermögen der Vernunft gehorsam sind. Denn aus einem derartigen Mangel kommt die Begierde, die nach der Taufe zurückbleibt. Zu 3. In der Definition der Gerechtigkeit wird der Wille genannt. Denn die Gerechtigkeit ist, wie Anselm sagt, die Rechtbeschaffenheit des Willens.64 Da die Gerechtigkeit also in der Definition der 63 Vgl. De malo q. 4 a. 2 c. 64 Anselm von Canterbury, De veritate 12 (Opera Omnia I, ed. Schmitt,
194). Vgl. auch De conceptu virg. 3 (Opera Omnia II, ed. Schmitt, 143).
3. Artikel
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Erbsünde genannt wird, fehlt dort nicht das Subjekt. Wie wenn »plattnasig« [lat.: simus] in der Definition von jemandem genannt wird, so ist es nicht notwendig, daß dort der Begriff »Nase« [lat.: nasus] genannt wird, der in der Definition von »plattnasig« genannt wird. Zu 4. Die Beraubung der Gnade ist nicht in der Tätigkeit selbst, sondern im Träger der Handlung. Daher ist sie keine in einer Tätigkeit bestehende Sünde. Aber die Entbehrung der ursprünglichen Gerechtigkeit findet sich in der Natur. Daher kann sie zur Erbsünde gehören, die eine Sünde der Natur ist. IV. Erwiderung auf die Argumente, daß die Erbsünde nur Strafe oder Strafe und Schuld ist: Wie oben ausgeführt wurde, ist die Erbsünde, wenn sie auf diesen Menschen bezogen wird, wie er eine besondere Person ohne Berücksichtigung der Natur ist, in diesem Sinne eine Strafe.65 Wenn sie aber auf den Ursprung bezogen wird, in dem alle gesündigt haben, so hat sie die Natur der Schuld. Daraus leuchtet leichthin die Antwort auf die Einwände ein.
3. Artik el Die dritte Frage lautet: Ist die Erbsünde im Fleisch oder in der Seele als ihrem Träger.66 Es scheint, daß sie im Fleisch und nicht in der Seele ist, denn: 1. Die Seele ist von Gott geschaffen. Aber die Unreinheit der Sünde hat sie nicht von Gott. Sie hat sie jedoch auch nicht von sich selbst, da die Erbsünde auf diese Weise eine in einer Tätigkeit bestehende Sünde wäre. Also ist die Erbsünde keinesfalls in der Seele. 2. In wem auch immer die Erbsünde ist, der hat in Adam gesündigt, nach jenem Wort des Apostels im Römerbrief 5, 12: »In ihm haben alle gesündigt.«67 Aber die Seele dieses Menschen hat nicht 65 Vgl. De malo q. 4 a. 1. 66 Parallelstellen: Sum. theol. I–II, q. 83 a. 1. 67 Röm. 5, 12.
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in Adam gesündigt, da er nicht dort war. Also ist die Erbsünde nicht in der Seele. 3. Augustinus sagt in seiner Schrift Gegen die fünf Häresien, daß die Strahlen der Sonne durch den Niederschlag zerstreut und nicht verunreinigt werden.68 Aber die Seele ist eine Art geistiges Licht, und so ist es kräftiger als das körperliche Licht. Also wird die Seele durch die Unreinheit des Fleisches nicht befleckt. 4. Die Strafe entspricht der Schuld. Aber die Strafe für die Erbsünde ist der Tod, der nicht die Seele allein, sondern die Zusammensetzung aus Leib und Seele betrifft. Also ist die Erbsünde nicht in der Seele, sondern in der Zusammensetzung. 5. Etwas ist in der Ursache wahrer als in der Wirkung. Wenn also die Ursache der Ansteckung der Seele vom Fleisch herrührt, scheint es, daß die Erbsünde mehr im Fleisch als in der Seele ist. Dagegen spricht: Ambrosius sagt, daß dasselbe Ding Träger der Tugend und des Lasters ist.69 Aber das Fleisch ist nicht der Träger der Tugend. Also ist es auch nicht der Träger des Lasters. Antwort: Um diese Frage zu verstehen, müssen zwei Unterscheidungen ins Auge gefaßt werden. Erstens nämlich, daß man auf zweifache Weise von etwas sagt, es sei in einem Ding: auf eine Weise als in seinem eigentümlichen Träger, auf andere Weise als in seiner Ursache. Der eigentümliche Träger einer Beschaffenheit ist aber der Beschaffenheit selbst verhältnismäßig gleich, zum Beispiel wenn wir den eigentümlichen Träger der Glückseligkeit und der Tugend ins Auge fassen wollen. Da Glückseligkeit und Tugend dem Menschen eigentümlich sind, wird der eigentümliche Träger von jedem dieser beiden das sein, was dem Menschen eigentümlich ist, nämlich der vernünftige Teil der Seele, wie Aristoteles im 1. Buch der Nikomachischen Ethik zeigt.70 Von der Ursache gibt es aber zwei Arten, nämlich die werk68 Pseudo–Augustinus, Advers. quinque haereses 5 (PL 42, 1107). 69 Ambrosius von Mailand, De Noe et arca 12 (CSEL 32/1, 439). 70 Aristoteles, Eth. Nic. I, 10; 1097 b 22–1098 a 20.
3. Artikel
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zeughafte Ursache und die Hauptursache. In seiner Hauptursache ist etwas jedoch gemäß der Ähnlichkeit der Form. Entweder sind sie in derselben Art, wenn es sich um eine gleichartige Ursache handelt, zum Beispiel wenn ein Mensch einen Menschen zeugt oder Feuer Feuer hervorbringt. Oder gemäß einer höheren Form, wenn es sich um kein gleichartiges Tätiges handelt, wie die Sonne den Menschen hervorbringt. In ihrer werkzeughaften Ursache ist eine Wirkung jedoch vermöge der Kraft, die das Werkzeug von der Hauptursache empfängt, insofern es von ihr bewegt wird. Denn auf eine Weise ist die Form des Hauses in den Steinen und im Holz als in seinem eigentümlichen Träger, auf eine andere Weise in der Seele des Handwerkers als der Hauptursache und auf noch eine andere Weise in der Säge und der Axt als der werkzeughaften Ursache. Es ist aber offensichtlich, daß es dem Menschen eigentümlich ist, Träger der Sünde zu sein. Daher ist es notwendig, daß der Träger jeder Sünde das ist, was dem Menschen eigentümlich ist, nämlich die vernünftige Seele, durch die der Mensch ein Mensch ist. Auf diese Weise ist die Erbsünde in der vernünftigen Seele als ihrem eigentümlichen Träger. Aber der fleischliche Samen ist auf die Weise, wie er die werkzeughafte Ursache der Übertragung der menschlichen Natur auf die Nachkommen ist, auch die werkzeughafte Ursache der Übertragung der Erbsünde. Auf diese Weise ist die Erbsünde im Fleisch, das heißt im fleischlichen Samen, geradezu wie in einer werkzeughaften Ursache. Zweitens ist ins Auge zu fassen, daß es zwei Arten von Ordnung gibt, nämlich die der Natur und die der Zeit. Der Ordnung der Natur nach ist zwar das Vollkommene vor dem Unvollkommenen und die Wirklichkeit vor der Möglichkeit. Der Ordnung der Erzeugung und der Zeit nach ist jedoch umgekehrt das Unvollkommene vor dem Vollkommenen und die Möglichkeit vor der Wirklichkeit. So ist also der Ordnung der Natur nach die Erbsünde zuerst in der Seele, in der sie als ihrem eigentümlichen Träger ist. Sie ist dort eher als im Fleisch, in dem sie als ihrer werkzeughaften Ursache ist. Aber im Fleisch ist sie der Ordnung der Erzeugung und der Zeit nach früher. Zu 1. Die vernünftige Seele hat die Unreinheit der Sünde weder durch sich selbst noch von Gott, sondern durch die Vereinigung mit
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dem Fleisch. Auf diese Weise wird sie nämlich Teil der von Adam übertragenen menschlichen Natur. Zu 2. Da die Erbsünde eine Sünde der Natur ist, kommt sie der Seele nur insofern zu, als sie Teil der menschlichen Natur ist. Aber die menschliche Natur ist gemäß eines ihrer Teile ihrem Ursprung nach in Adam gewesen, nämlich gemäß des Fleischs und entsprechend der Anlage zur Seele. Insofern sagt man vom Menschen, daß er die Erbsünde in Adam begangen hat. Zu 3. Augustinus führt jenes Beispiel an, um zu zeigen, daß das Wort Gottes durch die Vereinigung mit dem Fleisch nicht befleckt wird. Denn das Wort Gottes wird mit dem Fleisch nicht wie eine Form vereint. Somit verhält es sich wie das nicht mit einem Körper vermischte Licht, wie die Lichtstrahlen nicht durch den Niederschlag verunreinigt werden. Aber die Seele wird als seine Form mit dem Körper vereinigt. Daher wird sie mit dem verkörperten Licht verglichen, das durch die Vermischung verunreinigt wird, wie es bei dem Lichtstrahl klar ist, der verdunkelt wird, wenn er durch wolkige Luft hindurchgeht. Zu 4. Der Tod, insofern er eine Strafe für die Erbsünde ist, wird dadurch verursacht, daß die Seele die Kraft verloren hat, durch die sie ihren Körper frei von Verfall erhalten kann. Auf diese Weise kommt jene Strafe auch der Seele ursprünglich zu. Zu 5. In seiner Hauptursache ist etwas vorzüglicher als in seiner Wirkung, nicht jedoch in seiner werkzeughaften Ursache. Auf diese Weise ist aber sowohl die menschliche Natur als auch die Erbsünde im fleischlichen Samen. Wie daher die menschliche Natur im Samen nicht wahrer als im schon entwickelten Körper ist, so ist auch die Erbsünde nicht wahrer im Fleisch als in der Seele.
4. Artik el Die vierte Frage lautet: Ist die Erbsünde früher in den Vermögen der Seele als in ihrem Wesen? 71 Das scheint der Fall zu sein, denn: 1. Wie oben ausgeführt wurde,72 ist die Erbsünde nach Anselm die Entbehrung der ursprünglichen Gerechtigkeit.73 Aber die ursprüngliche Gerechtigkeit ist im Willen, wie er selbst sagt.74 Also ist die Erbsünde zuerst im Willen, der ein bestimmtes Vermögen ist. 2. Wie oben ausgeführt wurde, ist die Erbsünde nach Augustinus die Begierde.75 Aber die Begierde gehört zu den Vermögen der Seele. Also ist die Erbsünde zuerst in den Vermögen. 3. Man sagt von der Erbsünde, daß sie der Zunder der Sünde ist, insofern sie zu Handlungen der Sünde geneigt macht. Aber die Neigung zu einer Handlung gehört zu einem Vermögen. Also ist die Erbsünde in den Vermögen der Seele. 4. Die Erbsünde ist eine bestimmte Ungeordnetheit, die der Ordnung der ursprünglichen Gerechtigkeit entgegengesetzt ist. Aber die Ungeordnetheit kann nicht im Wesen der Seele sein, in der es keine Unterschiedenheit gibt, die die Voraussetzung für Ordnung und Unordnung ist. Die Vermögen der Seele sind aber unterschieden. Also ist die Erbsünde nicht zuerst im Wesen der Seele, sondern in den Vermögen. 5. Die Erbsünde dieser Person, die geboren wird, leitet sich von der Sünde Adams ab, die die Vermögen der Seele früher als das Wesen verdorben hat. Aber eine Wirkung ist ihrer Ursache ähnlich. Also infiziert die Erbsünde auch die Vermögen der Seele früher als das Wesen. 6. Die Seele ist hinsichtlich ihres Wesens die Form des Körpers, die ihm Sein und Leben gibt. Daher ist der Mangel, der zum Wesen der Seele gehört, ein Mangel des Lebens. Das ist der Tod oder die 71 Parallelstellen: Sent. II, d. 31 q. 2 a. 1. Sum. theol. I–II, q. 83 a. 2. 72 Vgl. De malo q. 4 a. 1 arg. 10. 73 Anselm von Canterbury, De conceptu virg. 27 (Opera Omnia II,
ed. Schmitt, 170). 74 Anselm von Canterbury, De conceptu virg. 3 (Opera Omnia II, ed. Schmitt, 143). 75 Augustinus, Retract. I, 15 (CSEL 36, 73).
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Notwendigkeit zu sterben. Aber ein derartiger Mangel hat nicht die Natur der Schuld, sondern der Strafe. Also ist die Erbschuld nicht im Wesen der Seele. 7. Die Seele ist nur insofern für die Sünde empfänglich, insofern sie vernünftig ist. Sie wird aber hinsichtlich vernünftiger Vermögen vernünftig genannt. Also ist die Sünde früher in den Vermögen als im Wesen. Dagegen spricht: 1. Die Seele infiziert sich durch ihre Vereinigung mit dem Fleisch mit der Erbsünde. Aber die Seele wird auf Grund ihres Wesens mit dem Fleisch als dessen Form vereinigt. Also ist die Erbsünde zuerst im Wesen der Seele. 2. Die Erbsünde ist nicht zuerst eine Sünde der Person, sondern der Natur, wie oben ausgeführt wurde.76 Aber die Seele konstituiert die menschliche Natur durch ihr Wesen, insofern sie die Form des Körpers ist. Durch ihre Vermögen ist sie jedoch der Ursprung der Handlungen, die zur Person gehören. Denn die Handlungen gehören nach Aristoteles dem Individuum zu.77 Also ist die Erbsünde früher im Wesen der Seele als in den Vermögen. 3. Die Erbsünde ist in einem Menschen eine, die Vermögen sind hingegen viele, die trotzdem alle in dem einen Wesen der Seele vereinigt werden. Aber eine Eigenschaft tritt nicht an mehreren Trägern auf, außer insofern sie vereinigt werden. Also ist die Erbsünde früher im Wesen der Seele als in den Vermögen. 4. Mit der Erbsünde infiziert man sich durch die Geburt. Aber die Geburt zielt auf das Wesen der Seele, da das Ziel der Zeugung die gezeugte Form ist. Also gehört die Erbsünde unmittelbar zum Wesen der Seele. 5. Die Erbsünde ist nach Anselm die Entbehrung der ursprünglichen Gerechtigkeit.78 Aber die ursprüngliche Gerechtigkeit ist eine Art der menschlichen Natur und kein der Person gegebenes Ge76 Vgl. De malo q. 4 a. 1. 77 Aristoteles, Met. I, 1; 981 a 16–17. 78 Anselm von Canterbury, De conceptu virg. 27 (Opera Omnia II,
ed. Schmitt, 170).
4. Artikel
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schenk gewesen. Ansonsten wäre sie nicht auf die Nachkommenschaft übertragen worden. Somit gehörte sie zum Wesen der Seele, die die Natur und Form des Körpers ist. Aus demselben Grund ist also auch die Erbsünde früher im Wesen der Seele als in den Vermögen gewesen. 6. Alles das, was früher in den Vermögen der Seele als in ihrem Wesen ist, ist in der Seele, insofern sie auf einen Gegenstand bezogen ist. Was aber in der Seele durch ihre Beziehung auf den Träger ist, ist früher im Wesen der Seele als in ihren Vermögen. Die Erbsünde ist jedoch nicht durch ihre Beziehung auf einen Gegenstand in der Seele, sondern durch ihre Beziehung auf den Träger. Dieser ist das Fleisch, von dem sie infi ziert wird. Also ist die Erbsünde früher im Wesen der Seele als in den Vermögen. Antwort: Die Erbsünde ist in gewisser Weise sowohl im Wesen der Seele als auch in ihren Vermögen. Denn der Mangel aus der Schuld des ersten Vorfahren erstreckt sich auf die ganze Seele. Aber man muß erwägen, ob sie früher im Wesen der Seele ist als in ihren Vermögen. Denn auf den ersten Blick mag es jemandem scheinen, daß sie auf Grund dessen zuerst im Wesen ist, daß die Erbsünde eine ist und die Vermögen der Seele in ihrem Wesen als ihrer gemeinsamen Wurzel vereint sind. Dieser Grund ist aber nicht zwingend, denn die Vermögen der Seele sind auch auf andere Weise vereint, nämlich durch eine Einheit der Ordnung und auch durch die Einheit eines ersten bewegenden und lenkenden Vermögens. Aber man muß die Suche nach dieser Wahrheit woanders aufnehmen. Da die Erbsünde vom Fleisch auf die Seele übertragen wird, kann kein Zweifel daran bestehen, daß auf irgendeine Weise – wenigstens der Ordnung der Erzeugung und der Zeit nach – die Erbsünde früher im Wesen der Seele als in den Vermögen ist. Denn die Seele wird durch ihr Wesen unmittelbar mit dem Körper als Form vereinigt, nicht jedoch durch ihre Vermögen, wie anderswo gezeigt worden ist.79 Doch wenn jemand sagen sollte, daß die Erbsünde der Ordnung der Erzeugung und der Zeit nach früher im Wesen der 79 Vgl. De anima a. 9.
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Seele als in den Vermögen der Seele ist, hingegen in den Vermögen der Ordnung der Natur nach früher ist, wie vorher in bezug auf die Seele und das Fleisch gesagt worden ist,80 kann dies nicht behauptet werden. Denn das Wesen der Seele verhält sich nicht auf die gleiche Weise zu den Vermögen wie der Körper sich zur Seele verhält. Denn der Körper verhält sich zur Seele wie die Materie zur Form. Die Materie geht der Form jedoch der Ordnung der Erzeugung und der Zeit nach voran. Die Form geht aber der Ordnung der Vollkommenheit und der Natur nach der Materie voran. Das Wesen der Seele verhält sich aber zu den Vermögen wie die substantielle Form zu den folgenden natürlichen Eigenschaften. Die Substanz ist jedoch sowohl der Zeit als auch der Natur nach sowie gemäß der Definition vor ihren Eigenschaften, wie im 7. Buch der Metaphysik bewiesen wird.81 Daher ist die Erbsünde in jeder Hinsicht früher im Wesen der Seele als in den Vermögen und wird vom Wesen der Seele auf die Vermögen übertragen, wie auch das Fortschreiten der Natur vom Wesen der Seele zu den Vermögen geht. Die Erbsünde aber bezieht sich auf die Natur, wie ausgeführt wurde.82 Zu 1. Die ursprüngliche Gerechtigkeit war nicht so im Willen, daß sie nicht vorher im Wesen der Seele wäre. Sie war nämlich ein der Natur gespendetes Geschenk. Zu 2. Die Begierde ist der Materie nach und sozusagen durch Übertragung von einem Höheren die Erbsünde, wie vorher ausgeführt worden ist.83 Zu 3. Das Wesen der Seele bezieht sich auf die Vermögen wie die wesentliche Form auf die folgenden Eigenschaften, wie zum Beispiel die Form des Feuers auf die Wärme. Die Wärme ist aber nur kraft der Wesensform des Feuers wirksam. Ansonsten würde es nicht zur Hervorbringung der Wesensform wirksam sein. Daher ist die Wesensform der erste Ursprung der Handlung. Auf diese Weise ist auch 80 81 82 83
Vgl. De malo q. 4 a. 3. Aristoteles, Met. VII, 1; 1028 a 31 – b 2. Vgl. De malo q. 4 a. 1. Vgl. De malo q. 4 a. 2.
5. Artikel
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das Wesen der Seele der frühere Ursprung der Handlung als das Vermögen. Zu 4. Die Ungeordnetheit in den Vermögen der Seele kommt vom Mangel der Natur, der zuerst und ursprünglich zum Wesen der Seele gehört. Zu 5. In Adam verdirbt die Person die Natur. Daher ist in ihm der Verfall in den Vermögen der Seele früher gewesen als im Wesen. Aber in dem Menschen, der aus Adam geboren wird, verdirbt die Natur die Person. Daher erstreckt sich in diesem der Verfall früher auf das Wesen als auf die Vermögen. Zu 6. Das Wesen der Seele ist nicht nur die Form des Körpers, die ihm Leben gibt, sondern sie ist auch der Ursprung der Vermögen. Auf diese Weise ist die Erbsünde früher im Wesen der Seele. Zu 7. Die vernünftigen Vermögen werden selbst aus dem Wesen der Seele abgleitet, insofern sie die Wirkursache der Natur ist. Daher wird es vom Wesen der Seele auf die Vermögen übertragen, aufnahmefähig für die Sünde zu sein.
5. Artik el Die fünfte Frage lautet: Ist die Erbsünde früher im Willen als in anderen Vermögen? 84 Das scheint nicht der Fall zu sein, denn: 1. Die Sünde ist eine Art Infektion. Aber unter den Vermögen der Seele gilt das Zeugungsvermögen als in höherem Grade infiziert. Also ist die Erbsünde zuerst im Zeugungsvermögen und nicht im Willen. 2. Die Entbehrung der ursprünglichen Gerechtigkeit, die Anselm als die Erbsünde bezeichnet, wird gemäß dem aufgefaßt, daß die niederen Vermögen gegen die Vernunft aufbegehren.85 Aber ein derartiges Aufbegehren findet sich in den niederen Vermögen. Also ist die Erbsünde zuerst in den niederen Vermögen. 84 Parallelstellen: Sent. II, d. 31 q. 2 a. 1. Sum. theol. I–II, q. 83 aa. 3–4. De ver. q. 25 a. 6. 85 Anselm von Canterbury, De conceptu virg. 27 (Opera Omnia II, ed. Schmitt, 170).
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3. In einer Sünde, die in einer Tätigkeit besteht, folgt die Abwendung vom unveränderlichen Gut der Hinwendung zu einem veränderlichen Gut. Aber in der Erbsünde verhält sich die Begierde wie die Hinwendung in der Tatsünde, wie oben ausgeführt wurde.86 Also ist die Erbsünde zuerst in den niederen Vermögen, da die Begierde sich in den niederen Vermögen findet. 4. Wie ausgeführt wurde, ist die Erbsünde Entbehrung der ursprünglichen Gerechtigkeit.87 Die Gerechtigkeit ist aber eine sittliche Tugend. Alle sittlichen Tugenden finden sich jedoch in den unvernünftigen Seelenteilen, wie ein Kommentator über das 3. Buch der Nikomachischen Ethik ausführt.88 Also ist auch die Erbsünde zuerst in den unvernünftigen Seelenteilen. 5. Die Erbsünde ist eine Art Verkehrung der Herrschaft der Seele. Aber die Herrschaft der Seele gehört zur Vernunft. Also ist die Erbsünde früher in der Vernunft als im Willen. 6. Die Strafe für die Erbsünde ist die Entbehrung der göttlichen Schau, die dem Verstand zukommt. Aber die Strafe entspricht der Schuld. Also ist die Erbsünde früher in der Vernunft als im Willen. Dagegen spricht: Anselm sagt in seinem Buch Über die unbefleckte Empfängnis, daß die Gerechtigkeit die Rechtbeschaffenheit des Willens ist.89 Aber die Erbsünde ist die Beraubung der ursprünglichen Gerechtigkeit. Also ist die Erbsünde zuerst im Willen. Antwort: Der Träger der Tugend oder des Lasters wird für einen Teil der Seele gehalten, insofern er an etwas von einem höheren Vermögen teilhat. So sind zum Beispiel das zornmütige Vermögen und das Begehrungsvermögen Träger mancher Tugenden, insofern sie an der Vernunft teilhaben. Daher muß man sagen, daß das vernünftige Vgl. De malo q. 4 a. 2. Vgl. De malo q. 4 a. 5 arg. 2. Anonymus in Ethic. III (ed. Heylbut, p. 169, 21–25). Anselm von Canterbury, De conceptu virg. 3 (Opera Omnia II, ed. Schmitt, 143). 86 87 88 89
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Vermögen zuerst und wesentlich der Träger der Tugend ist. Um also herauszufinden, was der erste Träger der Erbsünde in den Vermögen der Seele ist, muß man ins Auge fassen, welches jenes Vermögen ist, durch das alle empfänglich für die Sünde sind. Denn notwendig muß auf jenes Vermögen die Erbsünde zuerst vom Wesen der Seele übertragen werden. Es ist aber offensichtlich, daß die Sünde, wie wir jetzt von der Sünde sprechen, das ist, wofür Strafe verdient wird. Strafe und Tadel werden aber für unsere Handlungen verdient, da sie willentlich sind. Daher wird es vom Willen auf die anderen Vermögen der Seele übertragen, daß sie für die Sünde empfänglich sind. Daher ist klar, daß die Erbsünde unter allen Vermögen der Seele zuerst im Willen ist. Zu 1. Wie oben ausgeführt wurde, heißt es von der Infizierung mit der Sünde, daß sie in jemandem entweder wirklich als in ihrem eigentümlichen Träger oder dem Vermögen nach als in ihrer Ursache ist.90 Die Ursache der Erbsünde ist aber die Handlung der Erzeugung. Diese kommt nämlich dem Zeugungsvermögen als dem hervorbringenden Prinzip zu, dem Begehrungsvermögen als dem erstrebenden und befehlenden Prinzip, dem Berührungssinn aber als dem Prinzip, das Genuß empfindet und fördert. Daher sagt man von der Infektion mit der Erbsünde, daß sie sich zuerst in jenen Vermögen der Möglichkeit nach als ihrer Ursache findet, nicht jedoch als ihrem eigentümlichen Träger. Zu 2. Das Aufbegehren der niederen Vermögen gegen die höheren Vermögen geschieht durch den Entzug der Kraft, die in den höheren Vermögen war, wie oben ausgeführt wurde.91 Daher ist die Erbsünde mehr in den höheren Vermögen als in den niederen. Zu 3. Die Abwendung geht der Ordnung der Erzeugung nach aus der Hinwendung hervor, aber die Natur der Tatsünde wird in der Abwendung erlangt. Ähnlich wird die Natur der Erbsünde in der Beraubung der ursprünglichen Gerechtigkeit erlangt. Daher ist die Erbsünde zuerst im Willen.
90 Vgl. De malo q. 4 a. 3. 91 Vgl. De malo q. 4 a. 2.
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Zu 4. Die Aussage des Kommentators besitzt nicht bei allen sittlichen Tugenden Wahrheit, sondern nur bei jenen, die die Leidenschaften betreffen. Diese sind in den unvernünftigen Teilen. Die Gerechtigkeit betrifft aber nicht die Leidenschaften, sondern die Handlungen, wie im 5. Buch der Nikomachischen Ethik gesagt wird.92 Daher ist die Gerechtigkeit nicht im zornmütigen Vermögen und im Begehrungsvermögen, sondern im Willen. So sind die vier ursprünglichen Tugenden in den vier Vermögen, die für die Tugend empfänglich sind: die Weisheit nämlich in der Vernunft, die Gerechtigkeit im Willen, die Mäßigung im Begehrungsvermögen und die Tapferkeit im zornmütigen Vermögen. Zu 5. Die Verkehrung der Herrschaft der Vernunft hat die Natur der Schuld nur, insofern sie willentlich ist. Somit hat es die Vernunft auch vom Willen, daß sie Träger der Sünde sein kann. Zu 6. Die Entbehrung der göttlichen Schau ist eine Strafe, insofern sie dem Willen entgegengesetzt ist. Darin besteht nämlich die Natur der Strafe, wie oben ausgeführt wurde.93 Somit gehört sie, insofern sie Strafe ist, zum Willen.
6. Artik el Die sechste Frage lautet: Wird die Erbsünde von Adam auf alle übertragen, die auf dem Wege des Samens aus ihm hervorgehen? 94 Das scheint nicht der Fall zu sein, denn: 1. Der Tod ist die Strafe für die Erbsünde. Aber wenn der Herr am Ende der Welt kommt, um zu richten, werden manche, die immer noch am Leben sein werden, nicht sterben, wie Hieronymus in einem Brief an Marcella sagt.95 Also werden sie nicht mit der Erbsünde geboren werden.
92 Aristoteles, Eth. Nic. V, 1; 1129 a 3–5. 93 Vgl. De malo q. 1 a. 4. 94 Parallelstellen: Sent. II, d. 31 q. 1 a. 2. Sum. theol. I–II, q. 81 a. 3. Su-
per Rom. cap. 5 lect. 3. 95 Hieronymus, Epist. 59 (CSEL 54, 543).
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2. Dagegen wurde eingewandt, daß diese Meinung des Hieronymus nicht von allen geteilt wurde, und das Argument somit nicht notwendig schlüssig ist. – Dagegen spricht: Das, was mit Notwendigkeit aus dem folgt, was sich auf eine Meinung stützt, ist weder irrig noch gegen den Glauben, wie das Unmögliche nicht aus dem nicht Notwendigen, aber Falschen folgt. Aber es stützt sich auf eine Meinung, daß manche aus Adam gezeugte Menschen nicht sterben müssen. Also ist das, was daraus folgt, auch nicht falsch, sondern stützt sich auf eine Meinung, daß nämlich manche Menschen ohne Sünde geboren werden. 3. Wie Augustinus im Enchiridion sagt, wird in den drei ersten Bitten des Vaterunsers für ewige Dinge gebeten, in den übrigen vieren für zeitliche.96 Aber unter den anderen vieren wird für die Vergebung der Sünden gebeten, von denen eine in der Notwendigkeit besteht, mit der Erbsünde gezeugt zu werden. Da es also widersprüchlich ist, zu sagen, das Gebet der ganzen Kirche werde nicht erhört, scheint es, daß manchen in diesem zeitlichen Leben Kinder ohne die Erbsünde geboren werden könnten. 4. Keiner kann von einem anderen bekommen, was dieser nicht hat. Aber im Getauften ist keine Erbsünde, da sie durch die Taufe aufgehoben wird. Also zieht sich keiner die Erbsünde zu, der von einem getauften Vater gezeugt wird. 5. Im Römerbrief 11, 16 sagt der Apostel: »Wenn die Wurzel heilig ist, sind es auch die Zweige.«97 Und der Herr sagt Matthäus 7, 17: »Ein guter Baum trägt gute Früchte.«98 Wenn also der Vater sowohl heilig als auch gut ist, zeugt er keinen mit der Erbsünde infizierten Sohn. 6. »Wenn sich die entgegengesetzte Art in der entgegengesetzten Gattung findet, dann auch die in Frage stehende Art in der in Frage stehenden Gattung.«99 Aber der sündige Mensch erzeugt einen Sünder. Also erzeugt der Gerechte auch einen Gerechten. Also zeugt er kein Kind, das mit der Erbsünde infiziert ist. 96 97 98 99
Augustinus, Ench. XXX, 115 (CCSL 46, 110). Röm. 11, 16. Mt. 7, 17. Aristoteles, Top. IV, 4; 124 b 4–5.
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7. Der Apostel sagt im Römerbrief 5, 15: »Das Vergehen Adams ist nicht wie das Geschenk Christi«, sondern das Geschenk Christi ist viel mächtiger.100 Aber die von Adam auf einen Menschen übertragene Sünde wird von diesem auf seinen Sohn fortgepflanzt. Also wird auch das jemandem durch die Taufe bescherte Geschenk Christi von diesem auf den Sohn übertragen. Somit werden die Kinder der Getauften ohne Erbsünde geboren. 8. Augustinus sagt im Buch Über die Taufe der Kinder: »Die Übertretung des ersten Sünders hat nicht mehr geschadet, als die Fleischwerdung oder Erlösung des Erlösers ihm genützt hat.«101 Aber die Erlösung des Erlösers nützt nicht allen Menschen. Also schadet auch die Übertretung Adams nicht allen Menschen. Somit ziehen sich auch nicht alle, die von Adam auf dem Wege des Samens gezeugt werden, von ihm die Erbsünde zu. 9. Durch die Zerstörung des Niedrigeren wird das Höhere nicht zerstört. Denn wenn der Mensch nicht ist, folgt nicht, daß dann das Lebewesen nicht ist, sondern umgekehrt. Aber die menschliche Natur ist gegenüber jeder beliebigen Person mit menschlicher Natur höher. Also konnte auch die persönliche Infizierung Adams selbst nicht die gesamte menschliche Natur mit der Erbsünde verderben. 10. Durch die Taufe wird die Zerstörung der Natur entweder aufgehoben oder nicht. Wenn sie aufgehoben wird, wird die Erbsünde nicht durch eine Handlung der Natur auf die Nachkommenschaft übertragen. Wenn sie aber nicht aufgehoben wird, dann bezieht sich die Zerstörung gleichermaßen auf die Seele des Erzeugers und auf die Seele des gezeugten Nachkommen. Wenn sie also die Seele des Erzeugers nicht mit der Erbschuld ansteckt, wird auch die Seele des gezeugten Nachkommen nicht mit der Erbschuld angesteckt werden. 11. Anselm sagt in seiner Schrift Über die unbefleckte Empfängnis, daß die Erbsünde im Samen nicht mehr ist als im Speichel.102 Aber nichts kann auf ein anderes das übertragen, was es nicht hat. 100 Petrus Lombardus, Glossa in Rom. 5, 15 (PL 191, 1392 D). 101 Augustinus, De pecc. mer. et rem. II, 30 (CSEL 60, 119). 102 Anselm von Canterbury, De conceptu virg. 7 (Opera Omnia II,
ed. Schmitt, 149).
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Also verursacht die Zeugung, die aus dem Samen Adams entsteht, im Nachkommen nicht die Erbsünde. 12. Augustinus sagt im Buch Über die Vollkommenheit der Gerechtigkeit des Menschen: »Was aus Naturnotwendigkeit geschieht, entbehrt der Schuld.«103 Aber alles, was durch den Samen im Nachkommen verursacht wird, wird durch ihn aus Naturnotwendigkeit verursacht. Damit entbehrt es der Schuld. Also ziehen sich die, die durch den Samen aus Adam gezeugt werden, nicht die Erbsünde zu. 13. Der Samen ist eine Art Körper. Aber die Tätigkeit eines Körpers ist nicht augenblickhaft, sondern verläuft in einer Zeit. Aber die Seele wird durch die Schuld in einem Augenblick infiziert. Also wird eine derartige Infizierung nicht durch den Samen verursacht. 14. Aristoteles sagt im 15. Buch von Über die Lebewesen, daß der Same ein Sekret aus überschüssiger Nahrung ist.104 Somit ist der Samen, aus dem dieser Mensch gezeugt ist, nicht in Adam gewesen. Aber die Erbsünde ziehen manche sich zu, insofern sie in Adam gesündigt haben, wie der Apostel im Römerbrief 5, 12 sagt.105 Also wird die Erbsünde nicht von Adam auf dem Wege der Erzeugung durch den Samen auf alle Menschen übertragen. 15. Das naheliegende Tätige ist wirksamer als das entfernte. Ein Zeichen davon ist, daß das nächste Tätige etwas ihm in der Art ähnliches erzeugt, nicht aber das entfernt Tätige, so wie der gezeugte Mensch dem zeugenden Menschen in der Art ähnlich ist, nicht jedoch der Sonne. Aber wie die Infizierung der Natur in Adam gewesen ist, so ist sie auch im nächsten Vorfahren. Also darf man nicht sagen, daß jener, der jetzt gezeugt wird, sich die Erbsünde von Adam zuzieht, sondern von seinen unmittelbaren Vorfahren. 16. Augustinus sagt in seiner Schrift Über die Ehe und die Begierde, daß nicht die Fortpflanzung, sondern die Lust die Erbsünde auf den Nachkommen überträgt.106 So scheint es, daß die Sünde nicht auf den Nachkommen übertragen würde, wenn die Zeugung 103 104 105 106
Augustinus, De perf. iust. hom. 4 (CSEL 42, 8). Aristoteles, De animal. XV (= De gen. animal. I, 18); 726 a 26. Röm. 5, 12. Augustinus, De nupt. et conc. I, 24 (CSEL 42, 239).
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ohne Lust wäre. Aber die Zeugung ohne Lust und mit Lust verursacht keine unterschiedliche Veranlagung im Samen, außer gemäß der größeren und kleineren Stärke der Wärme. Denn da der Same eine Art aus Elementen zusammengesetzter Körper ist, wird eine unterschiedliche Veranlagung von ihm im Tätigsein auf die tätigen Beschaffenheiten der Elemente zurückgeführt. Aber eine der Art nach verschiedene Wirkung wird nicht von einer nur der größeren oder geringeren Stärke der Wärme nach verschiedenen Ursache hervorgebracht. Wie also die Fortpflanzung ohne Begierde die Erbsünde nicht übertragen würde, so auch nicht die Fortpflanzung mit Lust. 17. Liebe verringert die Begierde. Die Liebe kann aber ins Unendliche vergrößert werden. Da die Begierde nicht unendlich ist, scheint es daher, daß die Begierde durch die Liebe vollständig aufgehoben werden kann. Somit ist es nicht notwendig, daß alle mit der Erbsünde geboren werden. 18. Die Begierde bezieht sich entweder auf die Unordnung der Sinnlichkeit oder auf einen schlechten Willen. Aber beide werden nicht bei den Gerechten gefunden, die erzeugen. Also ziehen sich diejenigen, die von diesen gezeugt werden, nicht die Erbsünde zu. 19. Wie das Gute sich nach Dionysius verbreitet, so schränkt das Übel ein.107 Aber das Gut Adams, zum Beispiel seine Reue, wird nicht auf alle verteilt. Also viel weniger noch sein Übel. 20. Die Sünde wird von Adam auf die anderen übertragen, insofern sie in Adam gesündigt haben. Aber Adam hat durch das Essen des verbotenen Apfels gesündigt. Man kann aber nicht sagen, daß alle den verbotenen Apfel gegessen haben, als Adam ihn gegessen hat. Also auch nicht, daß sie gesündigt haben, als er gesündigt hat. Somit wird die Erbsünde nicht von Adam auf alle übertragen. Dagegen spricht: 1. Der Apostel sagt im Römerbrief 5, 12: »Durch einen Menschen ist die Sünde in diese Welt getreten und durch die Sünde der Tod. So ging der Tod auf alle über, von ihm, in dem alle gesündigt haben.«108 107 Dionysius Areopagita, De div. nom. IV, 4 (Dion., 168). 108 Röm. 5, 12.
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2. Augustinus sagt im Buch An Petrus über den Glauben, daß es so, wie es bei den Menschen keine Begattung ohne Begierde geben kann, auch keine Empfängnis ohne Sünde geben kann.109 Antwort: Es ist irrig zu sagen, daß manche ohne Erbsünde auf dem Wege des Samens von Adam abstammen. So gäbe es nämlich manche Menschen, die die von Christus hervorgebrachte Erlösung nicht benötigen würden. Daher muß schlechthin zugestanden werden, daß alle, die durch den Samen von Adam fortgepflanzt werden, sich sofort im Moment ihrer Belebung die Erbsünde zuziehen. Das kann durch das gezeigt werden, was oben ausgeführt wurde.110 Denn es wurde oben gesagt, daß die Erbsünde sich auf die Weise zur gesamten aus Adam fortgepflanzten menschlichen Natur verhält, wie die Sünde der Handlung sich zu einer einzelnen menschlichen Person verhält, als wenn alle Menschen, insofern sie von Adam stammen, ein Mensch wären, dessen verschiedene Körperteile verschiedene Personen sind. Es ist aber klar, daß die Tatsünde sich zuerst in einem Ursprung findet, nämlich im Willen, der zuerst aufnahmefähig für die Sünde ist, wie oben ausgeführt wurde.111 Von ihm geht sie auf die anderen Vermögen der Seele und auch auf die Glieder des Körpers über, insofern sie vom Willen bewegt werden. Auf diese Weise sind sie nämlich willentliche Handlungen. Das ist für die Natur der Sünde erforderlich. So muß daher auch die Erbsünde zuerst in Adam als in einer Art Prinzip betrachtet werden, von dem sie auf alle übergeht, die von ihm bewegt werden. Wie aber die Teile eines Menschen durch den Befehl des Willens bewegt werden, so wird der Sohn vom Vater durch das Zeugungsvermögen bewegt. Daher sagt Aristoteles im 2. Buch der Physik, daß der Vater die Ursache des Sohnes als Beweger ist, und im Buch Über die Entstehung der Lebewesen heißt es, daß im Samen eine Art Bewegung von der Seele des Vaters ist, die die Mate109 Pseudo-Augustinus (= Fulgentius von Rupe), De fide ad Petrum 2 (CCSL 91 A, 721). 110 Vgl. De malo q. 4 a. 1. 111 Vgl. De malo q. 4 a. 5.
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rie zum Empfang der Form bewegt.112 So wird daher eine derartige Bewegung, die in der Abstammung vom ersten Vorfahren gründet, auf alle übertragen, die durch den Samen aus ihm hervorgehen. Daher schleppen alle, die von ihm durch den Samen hervorgehen, von ihm die Erbsünde fort. Zu 1. Hieronymus stellt dies nicht als Behauptung auf, sondern gibt dies als Meinung von manchen wieder. Dies ist offensichtlich in dem Brief, den er an Minervius über die Auferstehung des Fleisches schreibt, in dem er darüber mehrere Meinungen aufstellt.113 Unter diesen gibt er wider, daß manche der Meinung gewesen sind, jene, die bei der Ankunft des Herrn lebend gefunden werden, würden deswegen niemals sterben. Denn der Apostel sagt im 1. Brief an die Thessaloniker 4, 17 in ihrer Person sprechend: »Wir, die Lebenden, werden zugleich mit ihnen auf den Wolken entrückt werden in die Luft, um Christus in der Luft zu treffen.«114 Das legen andere so aus, nicht daß sie nicht sterben, sondern daß sie kaum im Tod verbleiben werden und sofort wiederauferstehen. Dies ist die verbreitetere Meinung. Zu 2. Zugestanden, daß jene, die bei der Ankunft des Herrn lebend gefunden werden, niemals sterben sollten, so folgt nicht mit Notwendigkeit, daß sie sich nicht mit der Erbsünde infiziert haben werden. Denn die der Erbsünde eigentümliche Strafe besteht in der Notwendigkeit zu sterben, gemäß den Worten des Apostels im Römerbrief 8, 10: »Denn der Körper ist wegen der Sünde gestorben«115. Das bedeutet, zur Notwendigkeit zu sterben verurteilt zu sein, wie Augustinus auslegt.116 Es kann aber passieren, daß manche die Notwendigkeit haben zu sterben, die trotzdem nie sterben werden, da ihr Tod durch göttliche Kraft verhindert wird. Genauso wie es möglich ist, daß sich ein von Natur aus schwerer Körper wegen eines Hindernisses nicht nach unten bewegt. 112 Aristoteles, Phys. II, 5; 194 b 30–31. Aristoteles, De gen. animal. II, 3; 736 b 29 ff. 113 Hieronymus, Epist. 119 (CSEL 55, 454). 114 1 Thess. 4, 17. 115 Röm. 8, 10. 116 Augustinus, De pecc. mer. et rem. I, 6 (CSEL 60, 8).
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Zu 3. Diese Schuld der Zeugung mit der Erbsünde wird in diesem Leben nicht in bezug darauf vergeben, daß jemand ohne Sünde zeugen würde, sondern in bezug darauf, daß jemand, der mit der Sünde geboren wird, durch die Kraft Christi von der Sünde gereinigt wird. Denn unter »Schulden« werden die Sünden verstanden, wie Augustinus im Buch Über die Bergpredigt des Herrn auslegt.117 Zu 4. Die Erbsünde ist der ursprünglichen Gerechtigkeit entgegengesetzt, durch die der höhere Teil der Seele sowohl mit Gott vereinigt war als auch die niederen Vermögen beherrschte und sogar den Körper vor dem Verfall bewahren konnte. In der Taufe wird also die Erbsünde in bezug darauf aufgehoben, daß die Gnade gespendet wird, durch die der höhere Teil der Seele mit Gott vereinigt wird. Der Seele wird aber nicht das Vermögen gegeben, durch das sie den Körper vor dem Verfall bewahren kann, oder durch das der höhere Teil der Seele die niederen Teile ohne Aufbegehren erhalten kann. Daher bleiben nach der Taufe auch die Notwendigkeit zu sterben und die Begierde, die die Materie in der Erbsünde ist. Somit hat sie in bezug auf den höheren Teil der Seele an der Erneuerung durch Christus teil, aber in bezug auf die niederen Vermögen der Seele und den Körper selbst verbleibt immer noch das Alte, das von Adam herrührt. Es ist aber ganz offensichtlich, daß der Mensch nicht durch den höheren Teil der Seele zeugt, sondern durch die niederen Teile und durch den Körper. Daher überträgt der getaufte Mensch auf den Nachkommen nicht die Erneuerung durch Christus, sondern die Altlast Adams. Deswegen überträgt er die Erbsünde nichtsdestotrotz auf den Nachkommen, obzwar er selbst frei von der Erbsünde ist, insofern sie Schuld ist. Zu 5. Die Erwiderung auf das fünfte Argument ist klar durch die vorangehende Erwiderung. Zu 6. Die Art dieses Argumentierens ist gültig in bezug darauf, was dem Entgegengesetzten zukommt, insofern es das Entgegengesetzte ist, nicht aber in bezug darauf, was beiden Entgegengesetzten gemeinsam ist. Denn wenn das Schwarze den Gesichtssinn zusammenzieht, folgt daraus, daß das Weiße ihn ausdehnt. Aber es folgt nicht, daß das Weiße unsichtbar ist, wenn das Schwarze sichtbar 117 Augustinus, De serm. Dom. II, 8 (CCSL 35, 116).
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ist. Denn sichtbar zu sein, kommt ihm gemäß der Farbe zu, die die Gattung von beiden ist. Aber die Altlast Adams ist in bezug auf die niederen Vermögen und den Körper selbst sowohl dem Gerechten als auch dem Sünder gemeinsam und in dieser Hinsicht erzeugt ein Sünder einen Sünder. Daher folgt nicht, daß der Gerechte einen Nachkommen ohne Sünde zeugt. Zu 7. Das Geschenk Christi ist mächtiger als das Vergehen Adams, da es die Menschen in einen höheren Zustand zurückversetzt, als Adam ihn vor der Sünde gehabt hat – nämlich den Zustand der Herrlichkeit, der frei von der Gefahr des Sündigens ist. Aber es ist notwendig, daß dies durch die Übereinstimmung mit Christus getan wird, so daß die Wirkung der Ursache ähnlich ist. Denn wie Christus das Alte der Strafe auf sich genommen hat, damit er uns durch seinen Tod vom Tod erlösen würde, und auf diese Weise durch seine Auferstehung das Leben erneuert hat, so werden auch die Menschen durch Christus zuerst durch die Gnade mit Christus in Übereinstimung gebracht, während das Alte der Strafe bestehen bleibt. Endlich werden sie durch die Auferstehung in die Herrlichkeit überführt. Wegen dieser Bestrafung, die in den Getauften in bezug auf die niederen Vermögen verbleibt, übertragen sie die Erbsünde. Es ist auch nicht widersinnig, daß die Strafe die Ursache der Schuld ist. Denn die niederen Vermögen sind für die Schuld nur empfänglich, insofern sie von den höheren Vermögen bewegt werden können. Nachdem die Schuld von den höheren Vermögen der Seele genommen wurde, verbleibt die Natur der Schuld daher nicht der Wirklichkeit, sondern der Möglichkeit nach in den niederen Vermögen, insofern sie der Ursprung der menschlichen Zeugung sind. Zu 8. Wie die Sünde Adams allen schadet, die dem Fleisch nach aus ihm geboren werden, so nutzt die Erlösung Christi allen, die dem Geist nach aus ihm geboren werden. Zu 9. Die schlechthin aufgefaßte Natur ist von mehreren als die Person aussagbar. Aber die Natur in der Person betrachtet ist in die Grenzen der Person eingeschränkt. Auf diese Weise kann die Person die Natur infizieren. Da von der Person des ersten Vorfahren alle, die von ihm dem Samen nach fortgepflanzt werden, ihre Natur empfangen, wird ein derartiger Verfall der Natur auf alle übertragen. Genauso würde die Verseuchung sich auf den ganzen aus
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der Quelle entspringenden Fluß ausdehnen, wenn das Wasser in der Quelle verseucht würde. Zu 10. In der Seele des getauften Vorfahren ist etwas, das der Verderbnis der Erbsünde widersteht, nämlich das Sakrament Christi. Dieses Hindernis ist jedoch nicht in der Seele des in die Welt gesetzten Nachkommen. Oder man muß sagen, daß die Infizierung der Natur nur durch die Handlung der Erzeugung auf die Seele übergeht, die eine Handlung der Natur ist. Daher geht sie nicht auf die Seele des Erzeugers über, sondern auf die Seele des Gezeugten, der das Ziel der Zeugung ist. Zu 11. Die Sünde ist nicht der Wirklichkeit, sondern der Möglichkeit nach im Samen, insofern er Ursprung der menschlichen Zeugung ist, wie oben ausgeführt wurde.118 Zu 12. Der Erbschaden hat die Natur der Schuld nicht davon, daß er mit Notwendigkeit durch die Zeugung mittels des Samens übertragen wird, sondern davon, daß die Natur mit einer Infizierung behaftet ist. Diese wird wegen ihres Ursprunges als freiwillig betrachtet, wie oben ausgeführt wurde.119 Zu 13. Der Samen bringt die Ansteckung der Seele auf dieselbe Weise hervor, wie er die Vollendung der menschlichen Natur hervorbringt. Wie daher die Tätigkeit des Samens in einer kontinuierlichen Zeit stattfindet, die Vollendung der menschlichen Natur hingegen trotzdem augenblicklich durch die Hinzukunft der letzten Form geschieht, so wird auch die Ansteckung mit der Erbsünde augenblicklich verursacht, obwohl die Tätigkeit des Samens nicht augenblickhaft ist. Zu 14. Manche haben geglaubt, daß die Erbsünde vom ersten Vorfahren auf die Nachkommen nur übertragen werden kann, wenn alle Menschen der Materie nach in Adam gewesen sind. Daher behaupteten sie, daß der Same kein Überschußprodukt der Nahrung ist, sondern von Adam selbst übertragen wird. Aber das ist unmöglich. Denn auf diese Weise wäre der Samen etwas von der Substanz des Erzeugers Abgetrenntes. Was jedoch von der Substanz einer Sache abgetrennt wird, entfernt sich von der Natur derselben und ist 118 Vgl. De malo q. 4 a. 1. 119 Vgl. De malo q. 4 a. 1.
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auf dem Weg des Verfalls. Daher kann es nicht der Ursprung der Erzeugung derselben Natur sein. Deswegen schließt Aristoteles, daß der Same nicht etwas von der Substanz Abgetrenntes ist, sondern ein Überschußprodukt der Nahrung. Dadurch ist aber nicht ausgeschlossen, daß man sich die Erbsünde nicht vom ersten Vorfahren zuzieht. Denn die Verfassung des Gezeugten hängt mehr vom Tätigen ab, das der Materie ihre Veranlagung und ihre Form gibt, als von der Materie, die sich von der früheren Veranlagung entfernt und die frühere Form verliert und eine neue Veranlagung und Form von dem Tätigen empfängt. Daher ist es in bezug auf die Zuziehung der Erbsünde nicht wichtig, woher auch immer die Materie des menschlichen Körpers gekommen ist, sondern durch welches Tätige es in die Art der menschlichen Natur verwandelt wurde. Zu 15. Das nahe und das entfernte Tätige können auf zwei Arten unterschieden werden: einmal an ihnen selbst, andererseits durch etwas Hinzukommendes. Durch etwas Hinzukommendes nämlich, wie wenn die Entfernung und die Distanz nur hinsichtlich des Ortes und hinsichtlich der Zeit betrachtet werden oder hinsichtlich einer derartigen nebensächlichen Ursache, insofern sie Ursache ist. Auf diese Weise ist es richtig, daß das nahe Tätige eine größere Wirkung hervorbringt als das entfernte Tätige. So erwärmt auch das nahe Feuer mehr als das entfernte Feuer, und das hinsichtlich der Zeit nahe Übel bewegt die Seele mehr als das entfernte. An sich selbst werden das nahe und das entfernte Tätige aber hinsichtlich der natürlichen Ordnung der Ursachen im Verursachen unterschieden. Auf diese Weise hat das entfernte Tätige einen größeren Einfluß auf die Wirkung als das nahe Tätige. Denn im Buch von den Ursachen heißt es, daß jede Erstursache mehr Einfluß auf ihre Wirkung ausübt als die Zweitursache, da die Zweitursache nur kraft der Erstursache wirkt.120 Aber daß die Wirkung manchmal ihre Art vom nahen Tätigen empfängt und nicht vom entfernten Tätigen, geschieht nicht wegen eines Mangels der Einwirkung, der vom entfernten Tätigen kommt, sondern wegen des Mangels der Materie, die eine so hervorragende Form nicht aufnehmen kann. Wenn die Materie aufnahmefähig für die Form des ursprünglich Tätigen ist, wird sie daher 120 Liber De causis prop. 1 et comm. (ed. Schönfeld, 2).
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eher diese Form als die Form des nächsten Tätigen aufnehmen. So erhält zum Beispiel das Haus die Form der Kunst mehr durch den Handwerker als durch die Werkzeuge. Da sich also die Altlast der Erbsünde bei allen findet, insofern sie vom ersten Vorfahren bewegt werden, wie oben ausgeführt wurde,121 überträgt niemand die Erbsünde, außer insofern er kraft des ersten Handelnden zeugt. Deswegen sagt man, daß er sich die Erbsünde mehr von Adam als von seinem nächsten Vorfahren zuzieht. Zu 16. Die Begierde bezeichnet das wirkliche ungeordnete Begehren. Oben wurde aber ausgeführt, daß die Materie der Erbsünde die habituelle Begierde ist. Diese entspringt daraus, daß die Vernunft nicht das Vermögen hat, die niederen Vermögen vollständig zu zähmen.122 Die wirkliche Begierde, die in der Begattung auftritt, ist auf diese Weise daher Zeichen der habituellen Begierde, die sich in der Weise der Materie zur Erbsünde verhält. Die Ursache aber, daß jemand die Erbsünde auf den Nachkommen überträgt, ist das, was in ihm von der Erbsünde auch nach der Taufe zurückbleibt, wie ausgeführt worden ist123 – nämlich die Begierde oder der Zunder der Sünde. Somit ist also klar, daß die aktuelle Begierde nicht die Ursache dafür ist, daß die Erbsünde übertragen wird, sondern ein Zeichen der Ursache. Wenn es daher auf wundersame Weise geschähe, daß die wirkliche Begierde während der Begattung vollständig entfernt würde, würde sich der Nachkomme nichtsdestotrotz bei bleibender Ursache die Erbsünde zuziehen. Wenn daher Augustinus sagte, daß die Begierde die Sünde überträgt, setzte er die Bezeichnung für das Bezeichnete. Der Einwand ging aber von dieser wirklichen Begierde aus, die mit größerer Hitze tätig ist. Dennoch kommt nicht die gesamte Ursache von der Hitze, sondern die wesentlichere Ursache ist die aus dem Vermögen der Seele, die als ursprüngliche Ursache im Samen wirksam ist, wie Aristoteles sagt.124 Zu 17. Die Liebe verringert die wirkliche Begierde, insofern das Begehrungsvermögen der Vernunft gehorcht. Aber im Zustand der 121 122 123 124
Vgl. De malo q. 4 a. 1. Vgl. De malo q. 4 a. 6 ad 4. Vgl. De malo q. 4 a. 6 ad 7. Vgl. De malo q. 4 a. 6 c.
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verdorbenen Natur ist es nicht so gehorsam, daß es nicht etwas von seiner eigenen Bewegung zurückbehalten würde – auch entgegen der Ordnung der Vernunft. Daher wird die Begierde nicht vollständig zerstört, egal um wie viel die Liebe in diesem Leben vergrößert wird. Zu 18. Auch bei den Gerechten ist in der Handlung der Zeugung wirkliche Begierde, wenn das begehrliche Streben unmäßig zum fleischlichen Genuß neigt. Auch der Wille beachtet wegen der Heftigkeit der Leidenschaft, auch wenn er nichts gegen die Vernunft tut oder will, dennoch nicht die Ordnung der wirklichen Vernunft. Zu 19. Der Ursprung der Sünde kommt von uns, der Ursprung des verdienstvollen Guten kommt hingegen von Gott. Daher ist in Adam ein Gut gewesen, das allen gewährt werden konnte, nämlich die ursprüngliche Gerechtigkeit, die er dennoch von Gott hatte. Aber das Übel, das er auf die anderen übertrug, hatte er durch sich selbst. So kann eher gesagt werden, daß Gott der Überträger des Guten war, der Mensch hingegen der Überträger des Übels ist. Das Gut der Reue Adams wurde aber nicht auf die anderen übertragen. Denn dessen Ursprung ist die diesem Menschen persönlich geschenkte Gnade gewesen. Zu 20. Essen bezeichnet eine persönliche Handlung, aber Sündigen kann sowohl der Person als auch der Natur zukommen. Daher sagt man von denen, die die menschliche Natur von Adam empfangen, daß sie in Adam gesündigt, nicht aber in Adam gegessen haben. 7. Artik el Die siebte Frage lautet: Werden jene, die nur der Materie nach von Adam abstammen, mit der Erbsünde infiziert? 125 Das scheint der Fall zu sein, denn: 1. Die Seele wird mit der Erbsünde durch die Infektion des Fleisches, mit dem es vereinigt wird, infiziert. Aber das Fleisch des sündigenden Menschen ist mit der Infektion der Sünde wirklich infiziert, 125 Parallelstellen: Sent. II, d. 31 q. 1 a. 2 ad 3 und ad 4; d. 33 q. 1 a. 1 ad 5. Sum. theol. I–II, q. 81 a. 4.
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der Same hingegen nur der Möglichkeit nach. Denn da der Samen der vernünftigen Seele entbehrt, ist er für die Erbsünde nicht empfänglich. Der Mensch, der wundersamerweise aus dem Fleisch, zum Beispiel der Rippe, dem Fuß oder der Hand, von jemandem, der die Erbsünde trägt, geformt würde, würde sich also den Makel der Erbsünde mehr zuziehen, als wenn er aus dem Samen gezeugt würde. 2. Über Genesis 3126 sagt eine bestimmte Glosse, daß in Adams Rippen die gesamte Nachkommenschaft verdorben worden ist.127 Denn die Nachkommenschaft ist nicht vorher im Ort des Lebens von Adam abgesondert worden, sondern nachher im Ort der Verbannung. Aber wenn ein Mensch aus dem Körper eines anderen Menschen geformt würde, zum Beispiel aus der Hand oder dem Fuß, würde dessen Fleisch im Ort der Verbannung abgesondert. Also würde er sich die Verderbtheit der Erbsünde zuziehen. 3. Die Erbsünde ist eine Sünde der gesamten menschlichen Natur, wie oben ausgeführt wurde.128 Aber jener Mensch, der aus dem Fleisch eines anderen Menschen geformt würde, würde der menschlichen Natur zugehören. Also würde er sich die Erbsünde zuziehen. 4. In der Zeugung des Menschen und jedes anderen Lebewesens wird die Materie des Körpers von der Frau versorgt. Aber die Seele wird mit der Infektion der Sünde dadurch infiziert, daß sie mit der körperlichen Materie vereinigt wird. Auch wenn Adam nicht gesündigt hätte, obwohl Eva gesündigt hätte, hätte sich also die von beiden geborene Nachkommenschaft die Erbsünde nicht wegen der Infektion des männlichen Samens, sondern nur wegen der Materie zugezogen. 5. Der Tod und jede Zerstörung gehen aus der Notwendigkeit der Materie hervor. Aber die Materie wird von der Mutter versorgt. Wenn Eva also durch ihr Sündigen sterblich und leidensfähig geworden wäre und Adam nicht gesündigt hätte, wären die Söhne, die geboren worden wären, leidensfähig und sterblich gewesen. Also hätten sie sich mit der Erbsünde infiziert. 126 Richtig: Gen. 4, 1. 127 Glossa ordin. super Gen. 4, 1. Vgl. Augustinus, De Gen. ad litt. IX,
4 (CSEL 28/1, 272). 128 Vgl. De malo q. 4 a. 1 und 2 und a. 6 ad 9.
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6. Johannes von Damaskus sagt im 3. Buch seiner Darlegung des orthodoxen Glaubens, daß der Heilige Geist, indem er über die Jungfrau kam, diese reinigte.129 Aber man kann nicht sagen, daß jene Reinigung überflüssig gewesen wäre. Denn die geschaffene Natur tut nichts Überflüssiges und noch viel weniger der Heilige Geist. Wenn der Leib Christi also ohne vorangehende Reinigung von der Jungfrau empfangen worden wäre, hätte er sich gleichwohl die Erbsünde zugezogen. So scheint es, daß dies selbst genügt, sich die Erbsünde zuzuziehen, daß jemand der Materie nach das Fleisch aus Adam empfängt. Dagegen spricht: Augustinus sagt im 10. Buch von Genesis dem Wortlaut nach, daß Christus nicht in Adam gesündigt hat und auch nicht den Zehnten in Adams Rippen gezahlt hat.130 Denn er ist dort nicht gemäß dem samenhaften Vermögen, sondern nur gemäß seiner körperlichen Substanz gewesen. Antwort: Die Wahrheit in bezug auf diese Frage kann aus dem entnommen werden, was bereits ausgeführt worden ist. Denn oben wurde festgestellt, daß die Erbsünde vom ersten Vorfahren auf seine Nachkommen übertragen wird, insofern die Nachkommen durch die Geburt vom ersten Vorfahren bewegt werden.131 Es ist aber klar, daß es der Materie nicht zukommt zu bewegen, sondern bewegt zu werden. Wie auch immer jemand also der Materie nach aus Adam oder seinen Nachkommen hervorgeht, er würde sich auf keine Weise mit der Erbsünde infizieren, wenn er nicht auf dem Wege des Samens aus ihm hervorgehen würde. Genauso würde er sich auch nicht mit der Erbsünde infizieren, wenn ein Mensch von neuem aus der Erde geformt würde. Denn in bezug auf die Verfaßtheit des Menschen macht es keinen Unterschied, aus welcher Materie er geformt wird, sondern durch welches Tätige er geformt wird. Denn von dem Täti129 Johannes Damascenus, De fide III, 2 (ed. Buytaert, 171). 130 Augustinus, De Gen. ad litt. X, 19 und 20 (CSEL 28/1, 321–324). 131 Vgl. De malo q. 4 a. 6.
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gen erhält er seine Form und Verfassung, wie ausgeführt wurde,132 die Materie behält ihre frühere Form oder Verfassung jedoch nicht zurück, sondern erhält in der Zeugung eine neue. Zu 1. Wenn ein Mensch durch den Finger oder das Fleisch eines anderen Menschen geformt würde, könnte dies nur geschehen, wenn dieses Fleisch von seiner Verfassung verdorben oder geschwunden wäre. Denn das Entstehen des einen ist das Vergehen des anderen. Daher würde die Ansteckung, die im Fleisch vorangegangen wäre, nicht zurückbleiben, um die Seele anzustecken. Zu 2. Diese Glosse ist nicht so zu verstehen, also ob der Ort der Verbannung die Ursache für die Infektion mit der Erbsünde ist. Denn auch wenn der Mensch nach der Sünde im irdischen Paradies geblieben wäre, hätte er die Erbsünde auf die Nachkommen übertragen. Die Ursache für die Übertragung der Erbsünde ist hingegen der Verfall der menschlichen Natur im ersten Vorfahren, der Ort der Verbannung aber ist ein Begleitumstand der Verderbnis. Daher wird der Ort in dieser Glosse als Begleitumstand der Ursache und nicht als die Ursache angesehen. Zu 3. Die Erbsünde gehört nicht schlechthin zur menschlichen Natur, sondern insofern sie sich auf dem Wege des Samens von Adam herleitet, wie ausgeführt wurde.133 Zu 4. Die Kinder, die von Adam abstammen würden, wenn Adam nicht gesündigt und Eva gesündigt hätte, würden nicht mit der Erbsünde infiziert werden. Denn die Erbsünde empfängt man durch die die menschliche Natur hervorbringende Kraft, die nach Aristoteles im Samen des Mannes ist.134 Obwohl Eva zuerst gesündigt hat, sagt der Apostel daher dennoch in bezeichnender Weise, daß die Sünde durch den einen Menschen in die Welt getreten ist.135 Zu 5. Manche haben geglaubt, daß jene, die aus Adam, wenn er nicht gesündigt, und Eva, wenn sie gesündigt hätte, geboren würden, deswegen sterblich und leidensfähig wären, weil diese Dinge aus 132 133 134 135
Vgl. De malo q. 4 a. 6 ad 14. Vgl. De malo q. 4 a. 6. Aristoteles, De gen. an. II, 3; 736 b 29 ff. Röm. 5, 12.
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der Materie folgen, die die Mutter versorgt. In diesem Fall wären die Sterblichkeit und Leidensfähigkeit keine Mängel der Strafe, sondern natürliche Mängel. Aber man muß angemessener sagen, daß sie weder leidensfähig noch sterblich wären. Denn wenn Adam nicht gesündigt hätte, hätte er die natürliche Gerechtigkeit auf die Nachkommen übertragen, zu der gehört, daß nicht nur die Seele Gott unterliegt, sondern auch der Körper der Seele unterliegt. Dadurch sind Leidensfähigkeit und Sterblichkeit ausgeschlossen. Zu 6. Wegen eben der Tatsache, daß Christus von der Jungfrau ohne den männlichen Samen empfangen worden ist, wurde behauptet, daß er sich die Erbsünde nicht zuziehen würde. Die Reinigung ging aber vorher, nicht als ob es notwendig wäre, damit er ohne Erbsünde empfangen werden würde, sondern da dem Fleisch, das das Wort Gottes empfing, vollkommene Reinheit angemessen war.
8. Artik el Die achte Frage lautet: Werden die Sünden der nächsten Vorfahren durch die Geburt auf die Nachkommen übertragen? 136 Das scheint der Fall zu sein, denn: 1. David, der aus einer gesetzlichen Ehe geboren worden ist, sagt in Psalm 50, 7: »Siehe, ich bin in Schuld geboren und in Sünden hat mich meine Mutter empfangen.«137 Deswegen scheint es der Fall zu sein, daß es viele Sünden in einem Menschen gibt. Aber das wäre nicht möglich, wenn die Sünden der nächsten Vorfahren nicht durch die Geburt auf ihre Nachkommen übergehen würden, sondern nur die Sünde des ersten Menschen. Also geht die Sünde der nächsten Eltern durch Geburt auf die Nachkommen über. 2. Wie die menschliche Natur in Adam gewesen ist, so ist sie in jedem einzelnen Menschen. Aber Adam hat durch seine in einer Handlung bestehende Sünde die menschliche Natur verdorben und hat sie verdorben auf die Nachkommen übertragen. Denn er 136 Parallelstellen: Sent. II, d. 33 q. 1 a. 1. ScG IV, 52. Sum. theol. I–II, q. 81 a. 2. Super Rom. cap. 5 lect. 3. Comp. theol. I, 197. 137 Ps. 50, 7.
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hat die Art von Natur weitergegeben, die er besaß. Also verdirbt auch jeder andere durch seine in einer Handlung bestehende Sünde die menschliche Natur in sich selbst. Die so beschaffene Verderbtheit überträgt er auf die Nachkommen. So gehen die Tatsünden der nächsten Vorfahren durch Geburt auf die Nachkommen über – genau wie auch die Sünde des ersten Vorfahren. 3. Dagegen wurde eingewandt, daß in Adam die menschliche Natur gesund gewesen ist, und er sie daher durch seine in einer Handlung bestehende Sünde verderben konnte. Bei den anderen Menschen ist die Natur aber schon verdorben. Daher kann sie durch deren Tatsünden nicht verdorben werden. – Dagegen spricht: Am Ende der Offenbarung (22, 11) heißt es: »Der Gerechte handle weiter gerecht, der Unreine bleibe unrein.«138 Aber in den Unreinheiten der Sünde zu sein, bedeutet verdorben zu sein. Also kann die Natur, die in jemandem verdorben ist, immer noch weiter verdorben werden. 4. Dagegen wurde eingewandt, daß jene Verderbnis der Natur, die aus der Sünde des ersten Vorfahren hervorgegangen ist, aus einer heilen Natur eine verderbte machte, und daher die Übertragung der Erbsünde verursachen konnte. Aber die anderen Verderbnisse seiner Natur, die aus Tatsünden hervorgehen, tun dies nicht. Daher verursachen sie keine Übertragung der Erbsünde. – Dagegen spricht: Verglichen mit dem einen Äußersten hat das Mittlere die Natur des anderen Äußersten. Zum Beispiel verhält sich grau zu weiß wie schwarz und zu schwarz wie weiß. Aber das weniger Verdorbene ist ein Mittleres zwischen dem Unversehrten und dem mehr Verdorbenen. Daher bringen also die Verderbnis der Natur, durch die sie von gesund in verdorben umgewandelt wird, und die Verderbnis, durch die sie von weniger verdorben zu mehr verdorben verändert wird, dieselbe Wirkung hervor. 5. Dagegen wurde eingewandt, daß die menschliche Natur im ersten Menschen als einem ersten Ursprung war. Daher konnte sie in ihm verdorben werden, nicht aber in den anderen Menschen. – Dagegen spricht: Wenn der erste Mensch nicht gesündigt hätte, aber irgendeiner seiner Nachkommen gesündigt hätte, wäre in ihm die menschliche Natur verdorben worden, und er hätte eine solche Na138 Offb. 22, 11.
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tur auf die Nachkommen übertragen. Dennoch wäre in ihm die menschliche Natur nicht als in einem ersten Ursprung gewesen. Also ist es für die Übertragung der Erbsünde nicht notwendig, daß die menschliche Natur durch den ersten Ursprung der Natur verdorben wird. 6. In Exodus 20, 5 heißt es: »Ich bin ein eifersüchtiger Gott, ich verfolge die Schuld der Väter an den Söhnen, an der dritten und vierten Generation.«139 Das kann sich nur auf die Tatsünden der nächsten Vorfahren beziehen. Also werden die Sünden der nächsten Vorfahren auf ihre Nachkommen übertragen. 7. Dagegen wurde eingewandt, daß das eben Ausgeführte vom Übergang der Sünden in bezug auf die Bestrafung verstanden wird und nicht in bezug auf die Schuld. – Dagegen spricht: Die Wirkung kann nicht ohne Ursache auftreten. Aber die Strafe ist eine Wirkung der Schuld. Wenn also die Strafe übertragen wird, muß auch die Schuld übertragen werden. 8. Dagegen wurde eingewandt, daß die Strafe nicht immer in derselben Person eine Schuld voraussetzt, sondern manchmal auch in einem anderen. – Dagegen spricht: Die Strafe kommt von Gott und ist gerecht. Die Gerechtigkeit ist aber eine Art Gleichheit. Die Strafe muß also die Ungleichheit der Schuld zur Gleichheit zurückführen. Das kann aber passieren, wenn die Gleichheit durch die Strafe in derselben Person hervorgebracht wird, in der die Ungleichheit durch Schuld vorherging, so nämlich, daß der, der entsprechend seinem eigenen Willen gegen den Willen Gottes gehandelt hat, etwas dem Willen Gottes Entsprechendes entgegen seinem eigenen Willen erleidet. Also ist es notwendig, daß die Schuld auf denselben übertragen wird, auf den die Strafe übertragen wird. 9. Nach Matthäus 20 sagten die Juden: »Sein Blut komme über uns und unsere Kinder.«140 Das legt Augustinus in einer bestimmten Predigt Über das Leiden des Herrn so aus: »Schau, die Güter, die sie auf ihre Erben übertragen durch solch ein Zeugnis ihres Sakrilegs. Sie zeichnen sich selbst mit dem Makel des Blutes und verderben
139 Ex. 20, 5. 140 Richtig: Mt. 27, 25.
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ihre Nachkommen.«141 Also geht die Tatsünde anderer Menschen als Adam auf ihre Nachkommen über, auch in bezug auf den Makel. 10. Als Adam sündigte, haben wir alle in ihm gesündigt, wie der Apostel sagt.142 Das kommt daher, daß wir in ihm gemäß der Natur des Samens waren, wie Augustinus sagt.143 Aber wie wir gemäß der Natur des Samens in Adam gewesen sind, so auch in unseren nächsten Vorfahren. Also haben wir auch in ihren Sünden gesündigt, und so übertragen sie ihre Sünden durch Geburt auf uns. 11. Der Tod, der die Beraubung des Lebens ist, ist eine Strafe für die Erbsünde. Aber das Leben der Menschen wird immer mehr und mehr verringert. Denn im Anfang der Welt lebten die Menschen länger als jetzt. Da also die Strafe wächst, scheint es, daß sie durch die Schuld vergrößert wird. Somit wird durch die Tatsünden der nächsten Vorfahren etwas zur Erbsünde, die vom ersten Vorfahren übertragen wird, hinzugefügt. 12. Vor der Einrichtung der Beschneidung wurden die Kinder nur durch den Glauben der Eltern gerettet, wie Gregor ausführt.144 Also wurden sie durch die Ungläubigkeit der Eltern verdammt. Aber die Ungläubigkeit ist eine Tatsünde. Also geht die Tatsünde der nächsten Vorfahren auf die Nachkommen über. 13. In der Hervorbringung einer Wirkung ist das wirksamer, was gemäß der Art und in Wirklichkeit gegenwärtig ist, als das, was nur der Art nach gegenwärtig ist. Aber eine vorgestellte Unreinheit des Körpers, die nur der Art nach im Erzeuger ist, geht auf die Nachkommen über. Daher sagt Hieronymus in seiner Schrift Über Hebräische Fragen, daß eine bestimmte Frau durch den Anblick eines auf der Wand bildlich dargestellten Äthiopiers ein schwarzes Kind gebar.145 Also geht die Unreinheit der Sünde, die in der Seele des Vaters sowohl in Wirklichkeit als auch der Art nach ist, noch viel mehr auf die Nachkommen über. 141 Augustinus, Sermo 28 De feria VI passionis dominicae (ed. A. Mai, Novae Patrum Bibliothecae I, 62). 142 Röm. 5, 12. 143 Augustinus, De Gen. ad litt. X, 20 (CSEL 28/1, 323). 144 Gregor der Große, Moral. IV, 3 (CCSL 143, 160). 145 Hieronymus, Lib. Hebr. Quaest. in Gen. 30 (CCSL 72, 38).
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14. Jemand kann einem anderen dasjenige, was er von sich selbst hat, mehr mitteilen als das, was er von einem anderen hat. Aber die nächsten Vorfahren übertragen auf ihre Nachkommen die Verderbnis der Erbsünde, die von Adam auf sie übertragen worden ist. Also übertragen sie viel mehr die Verderbnis ihrer Tatsünden. 15. Nach dem kanonischen Recht und dem Zivilrecht werden die Kinder für die Sünden ihrer Eltern verantwortlich gemacht. Denn die Söhne heidnischer Priester werden versklavt, obwohl sie von einer freien Mutter geboren sind. Auch die Erben eines Diebes werden für den Diebstahl des Vaters nach kanonischem Recht haftbar gemacht, auch wenn nichts von den gestohlenen Gütern in ihre Hände gefallen ist, sogar wenn kein Zeuge gegen ihren Vater vorgebracht wurde. Auch die Söhne derer, die das Verbrechen der Majestätsbeleidigung begehen, tragen die Schande ihrer Eltern. Also gehen die Sünden der Eltern auf die Kinder über. 16. Kinder haben eine größere Ähnlichkeit mit ihren nächsten Vorfahren als mit dem ersten Vorfahren und stehen in unmittelbarerer Beziehung zu ihnen. Wenn also die Sünde des ersten Vorfahren auf alle Nachkommen übergeht, tun dies die Sünden der nächsten Eltern viel mehr. 17. Die Dinge, die zum Körper gehören, werden durch die Übertragung des Körpers weitergegeben. Aber bestimmte Tatsünden gehören zum Körper. der Apostel sagt im 1. Korintherbrief 6, 18: »Jede Sünde, die der Mensch begeht, bleibt außerhalb des Leibes. Wer aber Unzucht treibt, versündigt sich gegen den eigenen Leib.«146 Also werden derartige Sünden von den nächsten Vorfahren durch Geburt auf ihre Nachkommen übertragen. Dagegen spricht: 1. Die Sünde ist dem Verdienst entgegengesetzt. Aber die Verdienste der Eltern werden nicht auf die Nachkommen übertragen, ansonsten würden nicht alle als Kinder des Zorns geboren werden. Also gehen auch die Tatsünden der nächsten Vorfahren nicht auf die Nachkommen über.
146 1 Kor. 6, 18.
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2. Bei Ezechiel 18, 20 heißt es: »Ein Sohn soll nicht die Schuld seines Vaters tragen.«147 Er würde sie aber tragen, wenn sie vom Vater auf ihn übergehen würde. Also gehen die Sünden der nächsten Vorfahren nicht auf die Kinder über. Antwort: Augustinus greift diese Frage im Enchiridion auf und läßt sie unbeantwortet.148 Aber bei sorgfältiger Betrachtung erweist es sich als unmöglich, daß die Tatsünden der nächsten Vorfahren durch die Geburt auf die Nachkommen übergehen. Um das zu beweisen, muß man bemerken, daß ein Erzeuger in der Weise der Gleichnamigkeit und Gleichartigkeit dem Gezeugten die Natur seiner Gattung und folglich alle Eigenschaften, die zu der Art gehören, mitteilt. Wie nämlich der Mensch einen Menschen zeugt, so zeugt ein lachlustiger Mensch einen lachlustigen Menschen. Wenn aber die Kraft des Erzeugers stark ist, überträgt er die Ähnlichkeit mit ihm auch in bezug auf die individuellen Eigenschaften auf den Gezeugten. Aber das ist wahr von den Eigenschaften, die in gewisser Weise zum Körper gehören, nicht jedoch von den Eigenschaften, die nur zur Seele gehören, am meisten zur erkennenden Seele, die kein Vermögen in einem körperlichen Organ ist. Denn ein blonder Mensch zeugt oft einen blonden Sohn und ein großer Mensch einen großen Sohn. Niemals aber zeugt ein Grammatiker einen Grammatiker oder ein Physiker einen Physiker. Da aber durch die Sünde das Geschenk der Gnade weggenommen wird, muß dasselbe in der Sünde betrachtet werden, was im Geschenk der Gnade betrachtet wird, das durch die Sünde aufgehoben wird. Es ist im Beginn der menschlichen Schöpfung dem ersten Menschen jedoch ein bestimmtes grundloses Geschenk göttlich gegeben worden, nicht auf Grund seiner Person allein, sondern auf Grund der gesamten von ihm sich herleitenden menschlichen Natur. Dieses Geschenk war die ursprüngliche Gerechtigkeit. Zudem war die Kraft dieses Geschenkes nicht nur im höheren Teil der Seele, der die vernünftige Seele ist, sondern es breitete sich auf die 147 Ez. 18, 20. 148 Augustinus, Ench. XIII, 47 (CCSL 46, 75).
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niederen Teile der Seele aus, die vermöge des besagten Geschenks vollständig der Vernunft unterworfen waren, und weiter sogar bis zum Körper. Solange das besagte Geschenk blieb, konnte im Körper nichts geschehen, was der Vereinigung desselben mit der Seele entgegengesetzt gewesen ist. Daher ist es aus zwei Gründen vernünftig anzunehmen, daß dieses Geschenk auf die Nachkommen übertragen worden wäre: Erstens nämlich, da es die Natur gemäß dem Geschenk Gottes begleitete, wenn auch nicht durch die Ordnung der Natur. Zweitens, da es sich sogar auf den Körper erstreckte, der durch die Zeugung übertragen wird. Dieses Geschenk ist aber durch die erste Sünde des ersten Vorfahren weggenommen worden. Daher ist es auch vernünftig, daß diese Sünde aus demselben Grund durch Geburt auf seine Nachkommen übertragen wird. Aber andere Tatsünden, sowohl die des ersten Vorfahren selbst als auch die der anderen, sind dem Geschenk der Gnade entgegengesetzt. Dieses wird dem Menschen auf Grund seiner Person allein auf göttliche Weise verliehen. Wiederum ist dessen Kraft allein in der vernünftigen Seele und wird nicht auf den Körper übertragen, so daß durch eine derartige Gnade die Vergänglichkeit des Körpers aufgehoben wird. Daher werden weder die Gnade selbst noch auch die Tatsünden welches Vorfahren auch immer übertragen – auch Adams selbst – abgesehen von dessen erster Sünde. Sie werden nämlich auf dem Wege der Geburt auf die Nachkommenschaft übertragen. Die Tatsünden der nächsten Eltern können aber auf die Kinder wegen des andauernden Umgangs der Kinder mit ihnen durch Nachahmung übertragen werden. Zu 1. Die Erbsünde ist in einem Menschen bloß eine. Aber aus vier Gründen wird sie an der Stelle »In Sünden hat mich meine Mutter empfangen«149 im Plural benutzt. Erstens, nach dem Brauch der Schrift, nach dem der Plural für den Singular benutzt wird. Das ist offensichtlich in Matthäus 2, 20: »Die, die nach dem Leben des Kindes trachteten, sind gestorben.«150 Das wird von Herodes allein gesagt. Zweitens, da die Erbsünde auf gewisse Weise die Ursache 149 Psalm. 50, 7. 150 Mt. 2, 20; Vulg. ›defuncti sunt …‹.
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der folgenden Sünden ist, und so enthält sie dem Vermögen nach in sich viele Sünden. Drittens, da in der in einer Handlung bestehenden Sünde des ersten Vorfahren, durch die die Erbsünde hervorgebracht wird, eine vielfältige Unförmigkeit der Sünde gewesen ist. Denn dort war Hochmut, Ungehorsam, Fresserei und Diebstahl. Viertens, da die Verderbnis der Erbsünde sich auf verschiedene Teile des Menschen erstreckt. Aber dennoch kann aus diesem Grund die Erbsünde in einem Menschen nicht vielfältig genannt werden, es sei denn in einer bestimmten Hinsicht. Zu 2. Adam hat durch seine Tatsünde die menschliche Natur verdorben, indem er den Entzug des gnadenhaften Geschenks, das auf seine Nachkommen übergehen konnte, verursachte. Das geschieht aber nicht durch die Tatsünden der nächsten Vorfahren, wie aus dem Gesagten einleuchtet. Obwohl sie zu dieser Verderbnis etwas durch den Entzug der Gnade oder der Geeignetheit zur Gnade selbst, die ein persönliches Geschenk ist, hinzufügen. Zu 3 – 5. Aus dem Vorangehenden leuchtet die Lösung zu diesen Argumenten ein. Zu 6. Dies wird gesagt, da die Sünde in bezug auf die Strafe von den Vätern auf die Nachkommen übergeht. Dennoch muß man bedenken, daß es zwei Arten von Strafe gibt. Eine ist geistig und sie gehört zur Seele. Mit solch einer Strafe wird der Sohn niemals wegen des Vaters bestraft. Dies kommt daher, daß die Seele des Sohnes nicht von der Seele des Vaters herstammt, sondern unmittelbar von Gott geschaffen wird. Dieser Grund wird in Ezechiel 18, 4 angegeben: »Wie die Seele des Vaters mir gehört, so gehört mir auch die Seele des Sohnes«, und Vers 20: »Der Sohn soll nicht die Ungerechtigkeit des Vaters tragen.« Die andere Strafe ist die des Körpers oder der Dinge, die zum Körper gehören. In bezug auf diese Strafe werden die Söhne manchmal für die Väter bestraft, besonders wenn sie die Eltern in der Schuld bestärken. Denn in bezug auf den Körper, der vom Vater übertragen wird, ist der Sohn wie ein Teil des Vaters. Zu 7. Die zeitliche Strafe, mit der ein Sohn manchmal bestraft wird, hat als ihre Ursache eine vorangehende Schuld im Vater. Zu 8. Insofern der Sohn ein Teil des Vaters ist, wird in der Strafe des Sohns auch der Vater bestraft.
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Zu 9. Die Kinder der Juden sind schuldig am Blut Christi, insofern sie durch ihre Billigung Nachahmer der Schlechtigkeit ihrer Väter sind. Zu 10. Im ersten Vorfahren und in den nächsten Vorfahren sind wir gemäß einer Mitteilung der Natur, jedoch nicht gemäß der Mitteilung in der Person. Daher haben wir nach dem durch die Sünde verursachten Entzug am Geschenk der Natur teil, aber nicht an dem persönlichen Geschenk nach dem Entzug durch die Sünde. Zu 11. Daß die Menschen jetzt ein kürzeres Leben führen als zu Beginn der Schöpfung, liegt weder an der Erschwerung der Erbsünde noch an einer kontinuierlichen Schwächung der Natur, wie manche gesagt haben. Ansonsten würde durch den Fortgang der Zeit das Leben des Menschen immer kürzer und kürzer werden. Das ist offensichtlich falsch. Denn die Menschen leben jetzt so lange wie zur Zeit Davids, der sagte: »Unser Leben währt siebzig Jahre.«151 Daher verdankte sich jene Länge des Lebens der göttlichen Macht, damit das menschliche Geschlecht sich vermehren würde. Zu 12. Von Beginn des menschlichen Geschlechts an konnte das Heilmittel gegen die Erbsünde nur angewandt werden vermöge des Mittlers zwischen Gott und Mensch, Jesus Christus. Der Glaube der Alten zusammen mit einer Beteuerung des Glaubens diente daher den Kindern zum Heil, nicht insofern er eine verdienstvolle Handlung auf seiten des Gläubigen war, sondern auf seiten der geglaubten Sache, nämlich des Vermittlers selbst. Daher war es nicht erforderlich, daß es eine Handlung des lebendigen Glaubens war. Auf diese Weise haben nämlich auch die Sakramente, die später eingerichtet wurden, ihre Wirkung, insofern sie bestimmte Beteuerungen des Glaubens sind. Daher folgt nicht, daß der Unglaube der Eltern den Kindern schaden würde, außer nebensächlich, insofern er ein Heilmittel für die Sünde entfernt. Zu 13. Die Vorstellungskraft ist ein bestimmtes Vermögen in einem körperlichen Organ. Daher gibt es in Übereinstimmung mit der vorgestellten Art eine Veränderung im körperlichen Geist. Auf diesem gründet die Form gebende Kraft, die im Samen tätig ist. Daher kommt es manchmal in der Vorstellungskraft des Elternteils beim 151 Ps. 89, 10.
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Geschlechtsakt selbst zu einer Veränderung in der Form des Nachkommens, wenn die Vorstellung stark ist. Aber die Ansteckung der Sünde, besonders der Tatsünde, verbleibt vollständig in der Seele und erstreckt sich nicht auf den Körper. Daher liegt kein ähnlicher Fall vor. Zu 14. In diesem Argument werden verschiedene Dinge für gleich gehalten. Zu 15. Jenes Argument ist schlüssig in bezug auf die Übertragung der Sünde hinsichtlich der körperlichen Strafe. Zu 16. Ein Mensch würde sich eine Sünde eher von seinem nächsten Vorfahren als vom ersten zuziehen, wenn durch die Sünde des nächsten Vorfahren ein Geschenk der Natur aufgehoben würde, wie es durch die Sünde des ersten Vorfahren weggenommen wurde. Zu 17. Von demjenigen, der Unzucht betreibt, heißt es nicht deshalb, daß er gegen seinen Körper sündigt, weil der Makel dieser Sünde im Körper ist – eher ist er in der Seele wie auch die Gnade, der er entgegensteht –, sondern weil sich diese Sünde im körperlichen Genuß und in einer Art körperlicher Erleichterung hervortut, was bei keiner anderen Sünde geschieht. Denn in der Sünde der Völlerei kommt es zu keiner körperlichen Erleichterung, in den geistigen Sünden kommt es aber zu keinem körperlichen Genuß.
V. VON DER STRAFE FÜR DIE ERBSÜNDE
Die hier behandelten Fragen lauten: 1. Ist die Entbehrung der Schau Gottes eine hinreichende Strafe für die Erbsünde? 2. Wird für die Erbsünde eine sinnlich fühlbare Strafe verdient? 3. Leiden die, die nur mit der Erbsünde belastet sterben, das Elend inneren Schmerzes? 4. Stellen der Tod und andere Mängel dieses Lebens eine Strafe für die Erbsünde dar? 5. Sind der Tod und Mängel dieser Art für den Menschen natürlich? 1. Artik el Die erste Frage lautet: Ist die Entbehrung der Schau Gottes eine hinreichende Strafe für die Erbsünde? 1 Das scheint nicht der Fall zu sein, denn: 1. Wie es im 2. Buch der Physik heißt, ist das vergebens, was auf ein Ziel gerichtet ist, das nicht erreicht wird.2 Aber der Mensch ist natürlicherweise auf die Glückseligkeit gerichtet als auf sein letztes Ziel. Diese Glückseligkeit besteht jedoch in der Schau Gottes. Also existiert der Mensch vergebens, wenn er nicht zur Schau Gottes gelangt. Aber wegen der Erbsünde hört Gott nicht auf, die Erzeugung des Menschen zu verursachen, wie Johannes von Damaskus sagt.3 Da bei den göttlichen Werken nichts vergebens ist, scheint es daher, daß der Mensch wegen der Sünde, die er sich durch seine Geburt zuzieht, sich nicht die Schuld für den Verlust der göttlichen Schau einhandelt. 1 Es gibt keine Paralleltexte. 2 Aristoteles, Phys. II, 10; 197 b 25–26. 3 Johannes Damascenus, De fide IV, 24 (ed. Buytaert, 367).
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2. Ezechiel 19 heißt es: »Alle Seelen gehören mir; wie die Seele des Sohnes mir gehört, so gehört mir auch die Seele des Vaters.«4 Daraus kann angenommen werden, daß alle Seelen unmittelbar von Gott geschaffen sind, und daß eine nicht von der anderen übertragen wird. Daher darf jemand für die Erbsünde, die von unserem ersten Vorfahren übertragen wird, nicht durch eine Strafe geahndet werden, die nur der Seele zukommt. Aber die Entbehrung der Schau Gottes ist eine Strafe, die nur die Seele betrifft, wie auch die Schau Gottes allein der Seele zukommt. Also ist die Entbehrung der Schau Gottes nicht die angemessene Strafe für die Erbsünde. 3. Augustinus sagt im Enchiridion, daß die Strafe für die, die nur für die Erbsünde bestraft werden, am mildesten ist.5 Aber Chrysostomus sagt in Über Matthäus, daß die Entbehrung der göttlichen Schau die größte der Strafen und unerträglicher als die Hölle ist.6 Also ist die Entbehrung der göttlichen Schau nicht die angemessene Strafe für die Erbsünde. 4. Dagegen wurde eingewandt, daß die Entbehrung der göttlichen Schau allein eine kleinere Strafe ist als die Entbehrung der göttlichen Schau zusammen mit der sinnlich fühlbaren Strafe, die für die in einer Handlung bestehende Sünde verdient wird. – Dagegen spricht: Da die Strafe eine Art von Übel ist, besteht sie in der Beraubung eines Guts. Aber das Verhältnis der Beraubungen zueinander entspricht dem Verhältnis derer zueinander, die beraubt werden. Denn die Taubheit verhält sich auf dieselbe Weise zur Blindheit wie das Hören zum Sehen. Aber durch die Entbehrung der göttlichen Schau wird der Mensch Gottes beraubt, durch die körperliche Strafe wird er hingegen eines bestimmten geschaffenen Gutes beraubt, nämlich des sinnlichen Genusses oder etwas Derartiges. Aber ein zum ungeschaffenen Gut hinzugefügtes geschaffenes Gut macht nicht glücklicher. Denn Augustinus sagt zu Gott sprechend in den Bekennt nissen: »Wer dich und jene kennt«, das heißt die geschaffenen Dinge, »ist wegen ihnen nicht glücklicher, sondern ist wegen dir 4 Richtig: Ezechiel 18, 4; Vulg. ›… ut anima patris, ita et anima fi lii mea est‹. 5 Augustinus, Ench. XXIII, 93 (CCSL 46, 99). 6 Chrysostomus, In Matth. hom. 23 (PG 57, 317).
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allein glücklich.«7 Wer also durch die Entbehrung der Schau Gottes nur des ungeschaffenen Gutes beraubt wird, ist nicht weniger unglücklich als jener, der mit dieser eine sinnlich fühlbare Strafe erleidet. 5. Dagegen wurde eingewandt, daß er, obzwar er in bezug auf die wesentliche Belohnung nicht weniger glücklich ist, nichtsdestotrotz in Hinsicht auf die nebensächliche Belohnung weniger glücklich ist. – Dagegen spricht: Die nebensächliche Belohnung verhält sich zur Glückseligkeit als nebensächliche Eigenschaft. Aber durch Steigerung einer nebensächlichen Eigenschaft wird nicht das vermehrt, dessen nebensächliche Eigenschaft sie ist. Denn ein Mensch ist nicht deswegen mehr Mensch, weil er weißer ist. Also wird die Glückseligkeit, die wesentlich im Genuß des höchsten Gutes besteht, nicht durch die Hinzufügung von welchem geschaffenen Gut auch immer vergrößert. 6. Da das ungeschaffene Gut ein geschaffenes Gut unendlich übertrifft, verhält sich das geschaffene Gut zum unerschaffenen Gut wie der Punkt zur Linie. Aber die Linie wird durch die Hinzufügung eines Punktes nicht größer gemacht. Also wird auch die Glückseligkeit, die im Genuß des ungeschaffenen Guts besteht, durch Hinzufügung eines geschaffenen Guts nicht größer. 7. Dagegen wurde eingewandt, daß die Schau Gottes, obwohl Gott ein unendliches Gut ist, dennoch kein unendliches Gut ist. Denn Gott wird von der geschaffenen Vernunft auf begrenzte Weise geschaut. Daher wird, wer der göttlichen Schau beraubt wird, nicht eines unendlichen Guts beraubt. – Dagegen spricht: Er, dem seine Vollkommenheit entzogen wird, wird seiner Vollkommenheit beraubt. Aber der Gesichtssinn ist die Vollkommenheit des Sehenden. Wem also sein Gesichtssinn weggenommen wird, der wird des Gesehenen selbst beraubt. Auf diese Weise wird der, der der Schau Gottes beraubt wird, eines unendlichen Guts beraubt, da das Gesehene selbst ein unendliches Gut ist. 8. Gott selbst ist die Belohnung des Menschen, da er zu Abraham in Genesis 17 gesagt hat: »Ich der Herr bin deine übergroße
7 Augustinus, Confess. V, 4 (CCSL 27, 60).
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Belohnung«8. Wer also der vorzüglichsten Belohnung beraubt wird, die in der göttlichen Schau besteht, wird Gottes selbst beraubt, der das unendliche Gut ist. 9. Für die Erbsünde wird eine mildere Strafe verdient als für eine läßliche Sünde; ansonsten wäre die Strafe für die Erbsünde nicht die mildeste, wie Augustinus sagt.9 Aber für eine läßliche Sünde wird eine körperliche Strafe verdient, nicht aber die Entbehrung der göttlichen Schau. Daher scheint es, daß die Entbehrung der göttlichen Schau nicht die Strafe für die Erbsünde sein sollte. Denn unzweifelhaft ist die Entbehrung der Schau Gottes ohne körperliche Strafe größer als die körperliche Strafe ohne Entbehrung der Schau Gottes. 10. Dagegen wurde eingewandt, daß auch für eine läßliche Sünde die Entbehrung der göttlichen Schau wie auch die sinnlich fühlbare Strafe für eine Zeit verdient wird. – Dagegen spricht: Die hinzugefügte Ewigkeit erschwert die Strafe der Entbehrung der göttlichen Schau mehr als die zeitliche Bestrafung des Sinnes. Denn es gibt niemanden, der gut veranlagt ist, der nicht eher jeder beliebigen zeitlichen Strafe unterliegen wollen würde, als für immer der göttlichen Schau zu entbehren. Wenn also die Erbsünde durch die ewige Entbehrung der Schau Gottes bestraft wird, wird sie mehr bestraft als die läßliche Sünde. Somit ist sie nicht die mildeste der Strafen. 11. Nach den Gesetzen verdient der Erbarmen, der für das Laster eines anderen gelitten hat.10 Aber der, der nur für die Erbsünde bestraft wird, hat für das Laster eines anderen gelitten, nämlich des ersten Vorfahren. Also verdient er Erbarmen. Also verdient er nicht die schwerste Strafe, die in der Entbehrung der göttlichen Schau besteht. 12. Augustinus sagt im Buch Über zwei Seelen: »Irgendjemanden für schuldig zu halten, weil er nicht getan hat, was er nicht tun konnte, ist die größte Ungerechtigkeit und unsinnig.«11 Aber nichts Derartiges kommt Gott zu. Da also das Kind, das geboren wird, die 8 9 10 11
Richtig: Gen. 15, 1. Augustinus, Ench. XXIII, 93 (CCSL 46, 99). Vgl. Cod. Iustin. V, 27 7 1 (ed. Krueger, 217). Augustinus, De duabus anim. 12 (CSEL 25/1, 73).
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Erbsünde nicht vermeiden konnte, scheint es, daß das Kind deswegen nicht die Schuld irgendeiner Strafe verdient. 13. Die Erbsünde ist die Beraubung der ursprünglichen Gerechtigkeit, wie Anselm sagt.12 Aber er, der die ursprüngliche Gerechtigkeit besitzt, verdient nicht die göttliche Schau. Denn er könnte dafür befunden werden, Gnade zu sein. Also entspricht die Entbehrung der göttlichen Schau der Erbsünde auch nicht als Strafe. 14. Wie man in Genesis 3, 12 liest, hat Adam sich entschuldigt, indem er sagte: »Die Frau, die du mir gegeben hast, gab mir und ich aß«13. Die Entschuldigung wäre hinreichend gewesen, um nicht bestraft zu werden, wenn er der Verführung der Frau nicht hätte widerstehen können. Aber Gott gab der Seele das Fleisch, dessen Infektion sie nicht widerstehen kann. Also scheint es nicht, daß er sich dafür irgendeiner Strafe schuldig machen sollte. 15. Auch wenn er niemals gesündigt hätte, würde der mit natürlichen Vermögen ausgestattete Mensch ohne Schau Gottes, zu der er nur durch die Gnade gelangen kann, gewesen sein. Aber die Strafe wird zu Recht für die Sünde verdient. Also kann die Entbehrung der göttlichen Schau keine Strafe für die Erbsünde genannt werden. Dagegen spricht: 1. Gregor sagt im 4. Buch von Moralia in Job: »Der pilgernde Geist kann das Licht nicht sehen, wie es ist, denn die Fesselung seiner Verurteilung verbirgt es vor ihm.«14 2. Innozenz III. sagt in seiner Dekretalensammlung, daß die Entbehrung der göttlichen Schau als Strafe für die Erbsünde verdient wird.15 Antwort: Die angemessene Strafe für die Erbsünde ist die Entbehrung der Schau Gottes. Um das einzusehen, muß man überlegen, daß zwei 12 Anselm von Canterbury, De conceptu virg. 27 (Opera Omnia II, ed. Schmitt, 170). 13 Gen. 3, 12. 14 Gregor der Große, Moral. IV, 25 (CCSL 143, 191). 15 Innozenz III., Decretal. III tit. 42, 3 (ed. Friedberg II, 646).
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Bedingungen zur Vollkommenheit eines Dinges zu gehören scheinen. Von diesen besteht eine darin, daß es für ein großes Gut geeignet ist oder daß es dieses wirklich besitzt, die andere aber darin, daß es äußere Hilfe entweder überhaupt nicht oder kaum benötigt. Deshalb ist die erste Bedingung wichtiger als die zweite. Denn was für ein großes Gut geeignet ist, obwohl es zum Erlangen dessen viel Hilfe benötigt, ist viel besser als jenes, das nur für ein kleines Gut geeignet ist, das es jedoch ohne äußere Hilfe oder mit wenig Hilfe erlangen kann. So sagen wir auch, daß der Körper eines Menschen besser veranlagt ist, wenn er die vollkommene Gesundheit erlangen kann – obzwar mit Hilfe von viel Medizin, als wenn er ohne Hilfe von Medizin nur eine gewisse unvollkommene Gesundheit erlangen kann. Das vernünftige Geschöpf übertrifft also jedes andere Geschöpf darin, daß es durch Schau und Genuß Gottes für das höchste Gut befähigt ist, obgleich zur Erlangung davon die Grundlagen seiner eigenen Natur nicht ausreichen. Vielmehr benötigt er dazu die Hilfe der göttlichen Gnade. Aber darüber muß man bedenken, daß eine bestimmte göttliche Hilfe allgemein für jedes vernünftige Geschöpf notwendig ist, nämlich die Hilfe der heiligenden Gnade. Diese benötigt jedes vernünftige Geschöpf, damit es zur vollkommenen Glückseligkeit gelangen kann, nach jenem Wort des Apostels im Römerbrief 6, 23: »Die Gnade Gottes ist ewiges Leben.«16 Aber neben dieser Hilfe ist dem Menschen eine übernatürliche Hilfe wegen seiner zusammengesetzten Natur nötig gewesen. Denn der Mensch ist aus Seele und Körper zusammengesetzt und aus einer vernünftigen und sinnlichen Natur. Diese Zusammensetzungen, wenn sie ihrer eigenen Natur überlassen werden, beschweren sozusagen die Vernunft und hindern sie, so daß sie nicht frei zum höchsten Gipfel der Betrachtung gelangen kann. Diese Hilfe ist aber die ursprüngliche Gerechtigkeit gewesen, durch die der Geist des Menschen Gott auf so eine Weise unterworfen sein würde, daß ihm die niederen Vermögen und der Körper selbst vollständig unterworfen sein würden. Die Vernunft würde auch nicht daran gehindert, nach Gott zu streben. Wie der Körper wegen der Seele da ist und die Sinne wegen der Vernunft, so 16 Röm. 6, 23.
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ist diese Hilfe, durch die der Körper unter der Kontrolle der Seele und die sinnlichen Vermögen unter der Kontrolle des vernünftigen Geistes gehalten werden, sozusagen eine Art Veranlagung zu jener Hilfe, durch die der menschliche Geist zur Schau Gottes und zu seinem Genuß geordnet ist. Diese Hilfe der ursprünglichen Gerechtigkeit wird aber wegen der Erbsünde entzogen, wie oben ausgeführt worden ist.17 Wenn aber jemand von sich selbst aus durch Sündigen dasjenige wegwirft, durch das er zum Erwerben eines Gutes veranlagt worden war, verdient er, daß ihm jenes Gut entzogen wird, zu dessen Erlangung er ausgestattet worden war. Gerade der Entzug jenes Gutes ist eine angemessene Strafe dafür. Daher ist die angemessene Strafe für die Erbsünde der Entzug der Gnade und folglich der göttlichen Schau, auf die der Mensch durch die Gnade hingeordnet wird. Zu 1. Der Mensch wäre vergeblich und umsonst geschaffen worden, wenn er die Glückseligkeit nicht erlagen könnte, wie jedes Ding, das sein letztes Ziel nicht erlangen kann. Daher hat Gott, damit der Mensch nicht vergebens und umsonst geschaffen gewesen sein würde, wenn er mit der Erbsünde geboren wird, von Beginn des menschlichen Geschlechts an dem Menschen ein Heilmittel vorgeschlagen. Durch dieses, nämlich den Vermittler selbst zwischen Gott und dem Menschen Jesus Christus, würde er von jener Nutzlosigkeit befreit. Durch den Glauben an ihn kann das Hindernis der Erbsünde entfernt werden. Daher heißt es in Psalm 88, 48: »Erinnere dich, was meine Substanz ist; denn hast du alle Kinder der Menschen umsonst geschaffen?«18 Das legt die Glosse des Augustinus so aus, daß sie sagt, daß David die Fleischwerdung des Sohnes erbittet, der von seiner Substanz Fleisch annehmen mußte, und durch ihn mußten die Menschen von der Nutzlosigkeit befreit werden.19 Zu 2. Die Seele des Kindes, das ohne Taufe stirbt, wird durch die Entbehrung der göttlichen Schau nicht für die Sünde Adams bestraft, insofern sie dessen persönliche Sünde gewesen ist, sondern es 17 Vgl. De malo q. 4 a. 8. 18 Ps. 88, 48. 19 Petrus Lombardus, Glossa in Ps. 88, 48 (PL 191, 830 D).
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wird für die Ansteckung mit der Erbschuld bestraft. Diese zieht es sich durch die Vereinigung mit dem Körper zu, der von dem ersten Vorfahren gemäß seiner Verursachung durch den Samen übertragen wird. Denn es wäre ungerecht, daß die Schuld der Strafe übertragen würde, wenn nicht auch die Ansteckung der Schuld übertragen würde. Daher schickt der Apostel im Römerbrief 5, 12 der Übertragung der Strafe auch die Übertragung der Schuld voraus, wenn er sagt: »Durch einen Menschen trat die Sünde in die Welt, und durch die Sünde der Tod«20. Zu 3. Die Schwere einer Strafe kann auf zwei Arten aufgefaßt werden: auf eine Weise, insofern es das Gut selbst, das durch das Übel der Strafe geraubt wird, betrifft. Auf diese Weise ist die Entbehrung der göttlichen Schau und des Genusses Gottes die schwerste aller Strafen. Auf andere Weise im Hinblick auf den, der bestraft wird. Auf diese Weise ist die Strafe um so schwerer, je mehr das, was entzogen wird, demjenigen, dem es entzogen wird, eigentümlicher und verwandter ist. Wir würden zum Beispiel sagen, daß ein Mensch mehr bestraft wird, wenn ihm sein väterliches Erbgut weggenommen würde, als wenn er daran gehindert würde, in den Besitz eines Königreichs zu gelangen, auf das er kein natürliches Recht hat. Auf diese Weise sagt man, daß die Entbehrung der göttlichen Schau allein die mildeste aller Strafen ist, insofern die Schau des göttlichen Wesens ein bestimmtes gänzlich übernatürliches Gut ist. Zu 4. Ein geschaffenes Gut, das einem ungeschaffenen Gut hinzugefügt wird, macht daraus kein größeres Gut und verursacht kein größeres Glück. Der Grund dafür besteht in Folgendem: wenn zwei, die an etwas Anteil haben, verbunden werden, kann das in ihnen anwachsen, an dem sie Anteil haben. Aber wenn ein Teilhabendes dem, das wesentlich so beschaffen ist, hinzugefügt wird, macht es dieses nicht größer. So können zum Beispiel zwei miteinander vereinigte heiße Dinge größere Hitze hervorbringen. Aber wenn da eines wäre, das durch das ihm zu Grunde liegende Wesen warm wäre, würde seine Hitze in keinem Fall anwachsen, wenn ihm ein heißer Gegenstand hinzugefügt würde. Da also Gott das Wesen selbst der Güte ist, wie Dionysius im Buch Über die göttlichen Namen sagt, alle an20 Röm. 5, 12.
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deren aber durch Teilhabe gut sind, wird Gott in keinem Fall besser, wenn ihm ein Gut hinzugefügt wird.21 Denn die Güte jedes anderen Dinges ist in ihm enthalten. Da die Glückseligkeit nichts anderes ist als die Erlangung des vollkommenen Gutes, wird also kein anderes Gut, welches auch immer es sei, das der göttlichen Schau oder dem Genuß des Göttlichen hinzugefügt wird, größere Glückseligkeit hervorbringen. Andernfalls wäre Gott durch die Erschaffung der Geschöpfe glücklicher geworden. Dennoch gilt nicht die gleiche Beweisführung in bezug auf Glückseligkeit und Unglück: Denn wie die Glückseligkeit in der Vereinigung mit Gott besteht, so besteht das Unglück in der Abkehr von Gott, von dessen Ähnlichkeit und Teilhabe eine Person allerdings durch die Beraubung irgendeines Gutes abfällt. Daher macht jedes geraubte Gut unglücklicher, obzwar nicht jedes beliebige hinzugefügte Gut glücklicher macht. Denn durch das hinzugefügte Gut hängt der Mensch Gott nicht mehr an, als wenn er unmittelbar mit ihm vereinigt ist, aber durch das entzogene Gut entfernt er sich weiter von ihm. Zu 5. Die Hinzufügung einer nebensächlichen Belohnung macht nicht glücklicher. Denn die nebensächliche Belohnung hängt von einem geschaffenen Gut ab, die wahre Glückseligkeit des Menschen hängt hingegen nur vom ungeschaffenen Gut ab. Aber wie das geschaffene Gut eine bestimmte Ähnlichkeit und Teilhabe mit dem ungeschaffenen Gut besitzt, so ist die Erlangung des geschaffenen Guts eine Art von Glückseligkeit durch Ähnlichkeit, durch die jedoch die wahre Glückseligkeit nicht vermehrt wird. Zu 6. Wie ein Punkt eine Linie nicht vergrößert, so vergrößert ein geschaffenes Gut nicht die Glückseligkeit. Zu 7–8. Wir gestehen das siebte und achte Argument zu. Denn eine Person, die der göttlichen Schau und des göttlichen Genusses beraubt wird, wird Gottes selbst beraubt. Zu 9. Die läßliche Sünde ist verglichen mit der Erbsünde auf gewisse Weise größer und auf gewisse Weise kleiner. Denn die läßliche Sünde hat im Verhältnis zu dieser oder jener Person mehr von der Natur der Sünde als die Erbsünde. Die läßliche Sünde ist nämlich eine freiwillige Handlung durch den Willen dieser Person, nicht 21 Dionysius Areopagita, De div. nom. I, 5 (Dion., 39).
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aber die Erbsünde. Aber die Erbsünde ist in Beziehung auf die Natur schwerer, da sie die Natur eines größeren Gutes beraubt als die läßliche Sünde die Person beraubt, nämlich des Guts der Gnade. Deswegen verdient man für die Erbsünde die Entbehrung der göttlichen Schau. Denn zur Schau Gottes wird nur auf dem Wege der Gnade gelangt, die die läßliche Sünde nicht ausschließt. Zu 10. Die Fortdauer der Strafe ist die Folge der Fortdauer der Schuld, die aus der Abwesenheit der Gnade hervorgeht. Denn die Schuld kann nur durch die Gnade vergeben werden. Da durch die Erbsünde, nicht aber durch die läßliche Sünde die Gnade ausgeschlossen wird, verdient man für die Erbsünde eine fortdauernde Strafe, nicht aber für die läßliche Sünde. Zu 11. Dieses Kind, das ohne Taufe stirbt, ist zwar, was die Ursache angeht, mit der Sünde eines anderen beladen worden, da es sich nämlich die Sünde von jemand anderem zugezogen hat. Dennoch wurde es mit seiner eigenen Sünde beladen, insofern es sich die Schuld vom ersten Vorfahren zugezogen hat. Daher verdient es Erbarmen, das verringert, aber nicht vollständig befreit. Zu 12. Dieses Kind, das ohne Taufe stirbt, ist nicht deswegen schuldig, weil es nichts getan hat. Dies wäre nämlich eine Unterlassungssünde. Es ist jedoch deswegen schuldig, weil es sich die Ansteckung mit der Erbsünde zugezogen hat. Zu 13. Das ist ein gültiges Argument entsprechend der Meinung derer, die behaupten, daß die heiligende Gnade nicht in der Natur der ursprünglichen Gerechtigkeit eingeschlossen ist. Ich glaube jedoch, daß das falsch ist. Denn da die ursprüngliche Gerechtigkeit im Anfang in der Unterwürfigkeit des menschlichen Geistes unter Gott bestand, die nur durch die Gnade standfest sein kann, konnte die ursprüngliche Gerechtigkeit nicht ohne Gnade bestehen. Daher verdienten die Personen die Anschauung Gottes, die die ursprüngliche Gerechtigkeit besaßen. Aber auch wenn die besagte Meinung angenommen würde, wäre das Argument immer noch nicht schlüssig. Denn auch wenn die ursprüngliche Gerechtigkeit die Gnade nicht einschließen würde, war sie trotzdem eine Art Veranlagung, die zur Gnade vorbestimmte. Aus diesem Grund ist sogar das, was der ursprünglichen Gerechtigkeit entgegengesetzt ist, auch der Gnade entgegengesetzt, genauso wie das, was der natürlichen Gerechtigkeit
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entgegengesetzt ist, der Gnade entgegengesetzt ist, wie Diebstahl, Mord und andere derartige Dinge. Zu 14. Wenn der Mann der Verführung der Frau nicht hätte widerstehen können, wäre er von der in einer Handlung bestehenden Sünde ausreichend entschuldigt gewesen, die vom eigenen Willen begangen wird. Auf diese Weise ist auch die Seele dieses Kindes von der Schuld der in einer Handlung bestehenden Sünde entschuldigt, nicht aber von der Erbschuld, mit der es sich durch die Vereinigung mit dem Fleisch infiziert. Zu 15. Der nur mit natürlichen Vermögen ausgestattete Mensch würde zwar der göttlichen Schau entbehren, wenn er so sterben würde, aber dennoch würde ihm nicht die Schuld dafür zukommen, sie nicht zu haben. Denn es ist eine Sache, den Besitz nicht zu verdienen, was nicht die Natur einer Strafe, sondern eines Mangels hat, und ein andere Sache ist es, den Nichtbesitz zu verdienen, was die Natur einer Strafe hat.
2. Artik el Die zweite Frage lautet: Wird für die Erbsünde eine sinnlich fühlbare Strafe verdient? 22 Das scheint der Fall zu sein, denn: 1. Augustinus sagt im Hypognosticon, daß Kinder, die ohne Taufe sterben, die Hölle erfahren werden.23 Aber »Hölle« bezeichnet die körperliche Strafe. Also wird für die Erbsünde eine sinnlich fühlbare Strafe verdient. 2. Augustinus sagt in seiner Schrift An Petrus über den Glauben: »Behaupte fest und zweifle auf keine Weise, daß Kinder, die ohne das Sakrament der Taufe von dieser Welt geschieden sind, durch ewige Pein zu bestrafen sind.«24 Aber »Pein« bezeichnet die körperliche Strafe. Also wird für die Erbsünde eine körperliche Strafe verdient. 22 Paralleltexte: Sent. II, d. 33 q. 2 a. 1. 23 Pseudo-Augustinus, Hypogn. V, 1 ff. (PL 45, 1647 ff.). 24 Pseudo-Augustinus (= Fulgentius von Rupe), De fide ad Petrum 27
(CCSL 91–A, 753).
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3. Über die Stelle aus Hiob 9, 17: »Er hat meine Wunden ohne Ursache vermehrt«25, sagt Gregor der Große im 8. Buch der Moralia in Job, daß »die Sakramente nicht von der Erbschuld befreien, und obwohl sie hier aus eigenem Willen nichts getan haben, gelangen sie dort zur Pein.«26 Aber »Pein« bezeichnet die körperliche Strafe. Also verdient man durch die Erbsünde eine körperliche Strafe. 4. Die Erbsünde dieses Kindes scheint von derselben Art zu sein wie die Handlungssünde unseres ersten Vorfahren, da sie aus dieser wie die Wirkung aus ihrer eigentümlichen Ursache hervorgeht. Aber für die Handlungssünde des ersten Vorfahren wird eine körperliche Strafe verdient. Also auch für die Erbsünde dieses Kindes. 5. Ein Wirksames, das mit einem Leidensfähigem verbunden ist, erzeugt die sinnlich fühlbare Strafe. Aber die Seelen der Kinder sind leidensfähig und auch ihre Körper nach der Wiederauferstehung, da sie nicht die Gabe der Fühllosigkeit besitzen. Also werden sie in der Gegenwart des Feuers eine sinnlich fühlbare Strafe erleiden. 6. Nach der Verurteilung wird die Strafe der Sünder vollzogen werden. Aber die Bestrafung der ohne Taufe gestorbenen Kinder, die nur für die Erbsünde bestraft werden, könnte nach der Verurteilung nicht vollzogen werden, würde zu der Entbehrung der göttlichen Schau, die sie bereits jetzt erleiden, nicht irgendeine Strafe der Empfindung hinzugefügt. Also wird für die Erbsünde eine sinnlich fühlbare Strafe verdient. 7. Strafe verdient man für Schuld. Aber die Ursache der Erbsünde ist das Fleisch. Daher scheint es, daß man für die Erbsünde im besonderen eine körperliche Strafe verdient. Denn außer der körperlichen Strafe ist dem Fleisch keine Strafe angemessen. 8. Wenn jemand mit der Erbsünde und gleichzeitig mit einer läßlichen Sünde stirbt, wird er die fortdauernde Bestrafung der Empfindung erleiden. Aber die fortdauernde Bestrafung verdient man nicht für die läßliche Sünde. Also verdient man die fortdauernde sinnliche Bestrafung für die Erbsünde.
25 Hiob 9, 17. 26 Richtig: Gregor der Große, Moral. IX, 21 (CCSL 143, 479).
2. Artikel
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Dagegen spricht: 1. Bernhard von Clairvaux sagt, daß nur der eigene Wille in der Hölle brennt.27 Aber die Erbsünde ist keine Sünde des eigenen Willens. Eher geht sie aus dem Willen eines anderen hervor. Also verdient man für die Erbsünde nicht die Bestrafung des Sinnes. 2. Papst Innozenz III. sagt in seiner Dekretalensammlung, daß eine sinnlich fühlbare Strafe für die wirkliche Sünde verdient wird.28 Aber die Erbsünde ist keine wirkliche Sünde. Also verdient man für sie keine sinnlich fühlbare Strafe. Antwort: Wie allgemein gesagt wird, verdient man durch die Erbsünde keine sinnlich fühlbare Strafe, sondern nur die Strafe des Verlusts, das heißt die Entbehrung der göttlichen Schau. Dies scheint aus drei Gründen vernünftig: Erstens nämlich, da jede Person ein Zugrundliegendes einer Natur ist. Daher ist sie unmittelbar durch sich selbst auf die Dinge hin geordnet, die zur Natur gehören, zu den Dingen aber, die über der Natur stehen, durch die Vermittlung der Natur. Daß eine Person daher bei den Dingen einen Verlust erleidet, die über der Natur sind, kann entweder durch einen Fehler der Natur oder auch einen Fehler der Person passieren. Daß sie aber bei den Dingen einen Verlust erleidet, die zur Natur gehören, scheint nur von einem der Person eigenen Fehler herrühren zu können. Wie aber aus dem, was bereits ausgeführt worden ist, offensichtlich ist,29 ist die Erbsünde ein Fehler der Natur. Die wirkliche Sünde ist hingegen ein Fehler der Person. Die Gnade und die göttliche Schau stehen jedoch über der menschlichen Natur. Daher werden die Beraubung der Gnade und die Entbehrung der göttlichen Schau von einer Person nicht nur wegen einer wirklichen Sünde, sondern auch wegen der Erbsünde verdient. Die Bestrafung der Empfindung ist aber der Unversehrtheit der Natur und ihrer guten Veranlagung entgegen-
27 Bernhard von Clairvaux, Sermones de tempore, sermo 3 in tempore resurrect. (ed. Leclorcq V, 105). 28 Innozenz III., Decretal. III, tit. 42, 3 (ed. Friedberg II, 646). 29 Vgl. De malo, q. 5 a. 1 ad 9.
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gesetzt, und daher wird die Bestrafung der Empfindung von jemandem nur für eine wirkliche Sünde verdient. Zweitens, da die Strafe in einem Verhältnis zur Schuld steht. Daher wird für die wirkliche Todsünde, in der sich sowohl die Abkehr vom unveränderlichen Gut als auch die Hinwendung zu einem veränderlichen Gut findet, sowohl die Strafe des Verlusts verdient, nämlich die Entbehrung der göttlichen Schau entsprechend der Abwendung, und auch die sinnlich fühlbare Strafe, die der Hinwendung entspricht. Aber in der Erbsünde ist keine Hinwendung, sondern nur eine Abwendung, oder etwas der Abwendung Entsprechendes, nämlich der Verzicht der Seele auf die ursprüngliche Gerechtigkeit. Daher ist für die Erbsünde keine sinnlich fühlbare Strafe angemessen, sondern nur die Strafe des Verlustes, nämlich die Entbehrung der göttlichen Schau. Drittens, da die sinnlich fühlbare Strafe niemals für eine habituelle Veranlagung verdient wird. Denn jemand wird nicht deswegen bestraft, weil er zum Stehlen disponiert ist, sondern dafür, daß er wirklich stiehlt. Jedoch wird irgendein Verlust für eine habituelle Beraubung ohne jede Wirklichkeit verdient. So ist zum Beispiel eine Person, weil sie kein Wissen von den Buchstaben besitzt, auf Grund eben dieser Tatsache unwürdig, daß sie zur Bischofswürde befördert wird. In der Erbsünde findet sich aber auch die Begierde in Form einer habituellen Veranlagung. Diese bringt die Veranlagung eines Kindes zur Begierde hervor, wie Augustinus sagt, und einen Erwachsenen macht sie wirklich begierig.30 Daher verdient ein mit der Erbsünde gestorbenes Kind keine sinnlich fühlbare Strafe, sondern nur die Strafe des Verlusts, da es nämlich aufgrund der Beraubung der ursprünglichen Gerechtigkeit nicht würdig ist, zur göttlichen Schau geführt zu werden. Zu 1. Die Bezeichnungen »Pein«, »Marter«, »Hölle«, »Folter« oder ähnliche Ausdrücke, die sich unter den Worten der Heiligen finden, muß man in einem weiten Sinne als »Strafe« verstehen – in der Weise, in der die Art für die Gattung gesetzt wird. Die Heiligen gebrauchten aber diese Weise zu sprechen, damit sie den Irrtum der 30 Vgl. Augustinus, De pecc. mer. et rem. II, 4 (CSEL 60, 73).
2. Artikel
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Pelagianer abscheulich machten, die behaupteten, daß die Kinder ohne Sünde wären, und daß sie keine Strafe verdienten.31 Zu 2–3. Aus der vorhergehenden Erwiderung leuchtet die Erwiderung auf das zweite und dritte Argument, sowie auf alle ähnlichen ein. Zu 4. In der einen Sünde unseres ersten Vorfahren haben alle gesündigt, wie der Apostel im Römerbrief 5, 12 sagt.32 Aber zu dieser einen Sünde verhalten sich nicht alle auf dieselbe Weise. Jene Sünde kommt Adam nämlich durch eigenen Willen zu und sie ist dessen in einer Handlung bestehende Sünde. Daher hat er die wirkliche Strafe für die so beschaffene Sünde verdient. Aber anderen kommt die Erbsünde durch Geburt zu und nicht durch den wirklichen Willen. Daher verdienen die anderen für eine derartige Sünde keine sinnlich fühlbare Strafe. Zu 5. Im Zustand des künftigen Lebens wirken Feuer und andere wirksame Dinge dieser Art nicht gemäß einer Naturnotwendigkeit auf die Seele oder den Körper des Menschen, sondern eher gemäß der Ordnung der göttlichen Gerechtigkeit. Denn das ist ein Zustand, in dem für Verdienst empfangen wird. Daher werden die Kinder nichts von wirkenden Dingen dieser Art erleiden. Denn die göttliche Gerechtigkeit erfordert es nicht, daß die Kinder, die nur mit der Erbsünde sterben, die sinnlich fühlbare Strafe verdienen. Zu 6. Die Strafe der mit der Erbsünde gestorbenen Kinder wird nach dem Urteil vollzogen werden, insofern sie selbst, die durch diese Strafe bestraft werden müssen, bei der Wiederauferstehung der Leiber werden vollendet werden. Zu 7. Obwohl die Erbsünde durch das Fleisch auf die Seele übertragen wird, hat sie dennoch nur insofern die Natur der Schuld, als sie sich auf die Seele erstreckt. Daher verdient man die Strafe nicht für die Veranlagung des Fleisches. Wenn manchmal das Fleisch bestraft wird, geschieht dies wegen der Schuld der Seele. 31 Wie zitiert von Augustinus, De haeres. 88 (CCSL 46, 341), Petrus Lombardus, Glossa in Rom. 5, 12–13 (PL 191, 1388 B–C); entnommen aus: Augustinus, De pecc. mer. et rem. I, 9 (CSEL 60,10), Pseudo-Augustinus, Hypogn. praef. (PL 45, 1614) und Hypogn. V, 1 (PL 45, 1647). 32 Röm. 5, 12.
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Zu 8. Diese Annahme scheint nicht für viele möglich zu sein, daß jemand mit der Erbsünde und nur mit der läßlichen Sünde stirbt. Denn der Mangel an Alter, insofern er von einer Todsünde entschuldigt, entschuldigt wegen des Mangels an Vernunftgebrauch viel mehr von einer läßlichen Sünde. Nachdem sie aber den Vernunftgebrauch besitzen, sind sie gehalten, ihr Heil zu betreiben. Wenn sie das getan haben, werden sie schon ohne Erbsünde sein, wenn die Gnade hinzukommt. Wenn sie es aber nicht getan haben, ist so eine Unterlassung eine Todsünde für sie. Wenn es aber trotzdem möglich wäre, daß jemand mit der Erbsünde und einer läßlichen Sünde stirbt, sage ich, daß er durch eine ewige sinnlich fühlbare Strafe bestraft würde. Denn die Ewigkeit der Strafe geht, wie ausgeführt wurde,33 mit der Entbehrung der Gnade einher, aus der die Ewigkeit der Schuld hervorgeht. Daher kommt es, daß die läßliche Sünde in ihm, der mit einer Todsünde stirbt, da sie niemals vergeben wird, wegen der Entbehrung der Gnade durch eine ewige Strafe bestraft wird. Die Schlußfolgerung wäre ähnlich, wenn jemand mit der Erbsünde und einer läßlichen Sünde sterben würde.
3. Artik el Die dritte Frage lautet: Leiden die, die nur mit der Erbsünde belastet sterben, das Elend inneren Schmerzes? 34 Das scheint der Fall zu sein, denn: 1. Alles, was natürlicherweise erstrebt wird, verursacht Elend und Schmerz, falls man es nicht besitzt, wenn es Zeit ist, es zu besitzen. Das ist offensichtlich in dem Fall, daß jemand keine Nahrung hat, wenn es die Natur erfordert. Aber der Mensch erstrebt natürlicherweise die Glückseligkeit. Die Zeit sie zu besitzen, ist jedoch nach diesem Leben. Wenn daher jene, die mit der Erbsünde sterben, keine Glückseligkeit erlangen, da sie der göttlichen Schau entbehren, scheint es, daß sie Elend leiden.
33 Vgl. De malo q. 5 a. 1 ad 10. 34 Paralleltexte: Sent. II, d. 33 q. 2 a. 2.
3. Artikel
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2. Wie sich die getauften Kinder zum Verdienst Christi verhalten, so verhalten sich die ungetauften zur Schuld Adams. Aber die getauften Kinder sind glücklich wegen des Verdienstes Christi. Also leiden die nicht getauften Kinder wegen der Schuld Adams. 3. Es gehört zur Natur der Strafe, daß sie dem Willen entgegengesetzt ist. Aber alles, was dem Willen entgegengesetzt ist, ist schmerzhaft, wie Aristoteles im 5. Buch der Metaphysik ausführt.35 Wenn sie also eine Strafe erleiden, ist es notwendig, daß sie deswegen betrübt werden. 4. Ständig von jemandem getrennt zu sein, den man liebt, ist besonders schmerzhaft. Aber die Kinder lieben auf natürliche Weise Gott. Also, da sie sich auf ewig von ihm getrennt wissen, scheint es, daß es dies nicht ohne Elend geben kann. Dagegen spricht: Den Schmerz der Strafe oder das Leid der Strafe verdient man für den Genuß der Schuld, nach jener Stelle der Apokalypse 18, 7: »In gleichem Maß in dem sie in Prunk und Luxus lebten, laßt sie Qual und Trauer erfahren.«36 Aber in der Erbsünde ist kein Genuß gewesen. Also wird auch in der Strafe kein Schmerz oder Elend sein. Antwort: Manche haben behauptet, daß die Kinder Schmerz oder inneres Elend über die Entbehrung der göttlichen Schau fühlen, obwohl jener Schmerz bei ihnen nicht die Natur eines Gewissenswurmes hat. Denn sie sind sich nicht bewußt, daß es in ihrem Vermögen lag, die Erbschuld zu vermeiden. Aber es scheint keinen Grund zu geben, warum die äußere sinnlich fühlbare Bestrafung von ihnen weggenommen werden sollte, wenn ihnen inneres Elend zugeschrieben wird, das viel mehr von einer Strafe hat und der mildesten Strafe mehr entgegengesetzt ist, die Augustinus ihnen zuschreibt.37 Daher scheint es den anderen, daß sie auch kein inneres Elend empfinden, was vernünftiger ist. 35 Aristoteles, Met. V, 6; 1015 a 28. 36 Offb. 18, 7. 37 Augustinus, Ench. XXIII, 93 (CCSL 46, 99).
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Dafür werden verschiedenartige Gründe angeführt. Manche behaupten nämlich, daß die Seelen der mit der Erbsünde gestorbenen Kinder sich in solch einer Finsternis der Unwissenheit befinden, daß sie weder wissen, daß sie für die Glückseligkeit geschaffen wurden, noch irgendetwas darüber denken. Daher erleiden sie keinerlei Elend darüber. Das zu behaupten, scheint aber nicht vernünftig. Erstens nämlich, da die Kinder es entsprechend dem oben bestimmten Argument nicht verdienen, daß sie irgendeinen Schaden in den natürlichen Gütern erleiden. Denn in den Kindern ist keine wirkliche Sünde vorhanden, die im eigentlichen Sinne eine persönliche Sünde ist. Es ist der abgetrennten Seele außerdem natürlich, daß sie nicht weniger, sondern mehr im Denken erblüht, als die Seelen, die hier sind. Daher ist es nicht wahrscheinlich, daß sie mit so großer Unwissenheit geschlagen sind. Zweitens, da dementsprechend jene, die zur Hölle verdammt sind, in einer besseren Verfassung wären, sofern es ihren edleren Teil anbetrifft, nämlich die Vernunft. Denn sie würden in einer geringeren Finsternis der Unwissenheit existieren. Es gibt jedoch niemanden, wie Augustinus sagt, der es nicht vorzöge, mit gesundem Geist Schmerz zu leiden, als mit krankem Geist glücklich zu sein.38 Deshalb weisen andere die Ursache dafür, daß die Kinder nicht bestraft werden, der Verfassung ihres Willens zu. Denn nach dem Tod wird die Verfassung des Willens in der Seele nicht verändert, weder zum Guten noch zum Schlechten. Da die Kinder vor dem Gebrauch der Vernunft keine ungeordnete Tätigkeit des Willens besitzen, werden sie sie auch nach dem Tod nicht besitzen. Es beinhaltet aber eine Ungeordnetheit des Willens, daß jemand darüber Schmerz empfindet, das nicht zu besitzen, was er niemals erlangen konnte. So wäre es zum Beispiel ungeordnet, wenn ein Bauer darüber betrübt wäre, daß er kein Königreich erbt. Da daher die Kinder nach dem Tod wissen, daß sie niemals jenen himmlischen Ruhm erlangen hätten können, werden sie über dessen Entbehrung keinen Schmerz empfinden. Indem wir diese beiden Meinungen miteinander verbinden, können wir jedoch einen mittleren Weg nehmen. So sagen wir, daß die 38 Augustinus, De civ. Dei XI, 27 (CCSL 48, 347).
3. Artikel
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Seelen der Kinder zwar nicht des natürlichen Wissens entbehren, so wie es für die abgetrennte Seele ihrer Natur entsprechend angemessen ist, sie entbehren jedoch des übernatürlichen Wissens, das uns hier durch den Glauben eingepflanzt wird. Denn in diesem Leben besaßen sie niemals wirklich den Glauben, noch haben sie das Sakrament des Glaubens empfangen. Es gehört aber zur natürlichen Erkenntnis, daß die Seele sich als für die Glückseligkeit geschaffen weiß, und daß die Glückseligkeit im Empfangen des vollkommenen Guts besteht. Aber daß jenes vollkommene Gut, zu dem der Mensch geschaffen worden ist, jene Herrlichkeit ist, die die Heiligen besitzen, geht über die natürliche Erkenntnis hinaus. Daher sagt der Apostel im 1. Brief an die Korinther 2, 9: »Kein Auge hat gesehen und kein Ohr hat gehört und keinem Menschen ist es in das Herz gekommen, was Gott denen bereitet hat, die ihn lieben«39; und später in Vers 10 fügt er hinzu: »Uns aber hat es der Herr durch seinen Geist enthüllt.«40 Diese Offenbarung kommt nämlich dem Glauben zu. Daher wissen die Seelen der Kinder nicht, daß sie eines derartigen Guts beraubt sind, und empfinden darüber keinen Schmerz. Aber das Wissen, das sie auf Grund ihrer Natur besitzen, besitzen sie ohne Schmerz. Zu 1. Die Seelen der in Erbsünde gestorbenen Kinder kennen zwar die Glückseligkeit im allgemeinen gemäß ihrem allgemeinen Begriff, aber nicht im besonderen. Daher leiden sie nicht an ihrem Verlust. Zu 2. Wie der Apostel im Römerbrief 5, 15 sagt, ist das Geschenk Christi größer als die Sünde Adams.41 Daher ist es nicht notwendig, daß die ungetauften Kinder wegen der Sünde Adams leiden, wenn die getauften Kinder wegen des Verdienstes Christi glücklich sind. Zu 3. Die Strafe widerspricht nicht immer dem aktuell wirklichen Willen, zum Beispiel wenn jemand in Abwesenheit verleumdet oder sogar seiner Güter ohne sein Wissen beraubt wird. Aber 39 1 Kor 2, 9; Vulg. ›oculus non vidit nec … quae praeparavit Deus iis qui diligunt illum‹. 40 1 Kor 2, 10. 41 Röm. 5, 15.
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die Strafe muß immer dem aktuell wirklichen oder dem habituellen Willen widersprechen oder zumindest der natürlichen Neigung, wie oben ausgeführt worden ist, als wir das Übel der Strafe abhandelten.42 Zu 4. Die in der Erbsünde gestorbenen Kinder sind zwar für immer von Gott getrennt, sofern es den Verlust der Herrlichkeit betrifft, von der sie kein Wissen besitzen, trotzdem jedoch nicht in bezug auf die Teilhabe an den natürlichen Gütern, von denen sie ein Wissen besitzen.
4. Artik el Die vierte Frage lautet: Stellen der Tod und andere Mängel dieses Lebens eine Strafe für die Erbsünde dar? 43 Das scheint nicht der Fall zu sein, denn: 1. Seneca sagt: »Der Tod gehört zur Natur des Menschen und ist keine Strafe.«44 Aus demselben Grund sind es also auch die anderen Mängel nicht, die zum Tod führen. 2. Alles, was sich gemeinschaftlich bei vielen findet, kommt ihnen wegen etwas zu, was sich gemeinschaftlich bei ihnen findet. Aber der Tod und die anderen zum Tod führenden Mängel sind dem Menschen mit anderen Lebewesen gemeinsam. Also finden sie sich gemäß etwas Gemeinsamen in ihnen. Aber den anderen Lebewesen kommen sie nicht auf Grund einer Schuld zu, die es bei ihnen nicht geben kann. Also ist das auch bei den Menschen nicht der Fall. Somit sind sie keine Strafe für die Erbsünde. 3. Die Strafe sollte im richtigen Verhältnis zur Sünde stehen. In Deutoronomium 26 heißt es: »Entsprechend dem Maß des Vergehens soll auch das Maß der Schläge sein.«45 Aber die Schuld der Ge42 Vgl. De malo q. 1 a. 4 und 5. 43 Paralleltexte: Sent. II, d. 30 q. 1 a. 1. Sent. III, d. 16 q. 1 a. 1. ScG IV,
52. Sum. theol. I–II, q. 85 a. 5. Sum. theol. II–II, q. 164 a. 1. Super Rom. cap. 5 lect. 3. Super Hebr. cap. 9 lect. 5. Comp. theol. I, 193. 44 Seneca, De remediis fortuitorum II. 45 Richtig: Deut. 25, 2; Vulg. ›pro mensura peccati …‹.
4. Artikel
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burt ist bei allen gleich, die von Adam abstammen. Die besagten Mängel sind jedoch nicht gleich. Denn einige werden sofort kränklich geboren, einige auf verschiedene Weise verkrüppelt, einige in guter Verfassung. Derartige Mängel sind daher keine Strafe für die Erbsünde. 4. Derartige Mängel sind bestimmte sinnlich fühlbare Strafen. Aber die sinnlich fühlbare Bestrafung verdient man für die Sünde wegen der unangemessenen Hinwendung zu einem veränderlichen Gut. Diese Hinwendung findet sich jedoch nicht in der Erbsünde. Also entsprechen ihr Mängel dieser Art nicht als Strafe. 5. Menschen werden nach diesem Leben schwerer bestraft als in diesem Leben. Aber nach diesem Leben verdient man für die Erbsünde keine körperliche Bestrafung, wie ausgeführt worden ist.46 Also ist das auch in diesem Leben nicht der Fall. Somit folgt dasselbe wie vorher. 6. Die Strafe entspricht der Schuld. Aber die Strafe kommt dem Menschen zu, insofern er Mensch ist. Wenn daher der Tod und andere derartige Dinge dem Menschen nicht zukommen, insofern er Mensch ist, da sie auch anderen Lebewesen zukommen, scheint es, daß derartige Mängel keine Strafe sind. 7. Die Erbsünde ist die Beraubung der ursprünglichen Gerechtigkeit, die dem Menschen aufgrund seiner Seele zugekommen war. Aber derartige Mängel gehören zum Körper. Also entsprechen sie der Erbsünde nicht als Strafe. 8. Wenn Adam nicht gesündigt hätte, hätten seine Kinder sündigen können. Wenn sie gesündigt hätten, würden sie sterben. Aber sie würden nicht wegen der Erbsünde sterben, die nicht in ihnen gewesen wäre. Also ist der Tod keine Strafe für die Erbsünde. Dagegen spricht: 1. Im Römerbrief 6, 23 heißt es: »Der Lohn der Sünde ist der Tod«47. Und im Römerbrief 8, 10 heißt es: »Der Körper ist wegen der Sünde gestorben.«48 In Genesis 2, 17 heißt es außerdem: »An 46 Vgl. De malo q. 5 a. 2. 47 Röm. 6, 23. 48 Röm. 8, 10.
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welchem Tag auch immer du von ihm essen wirst, wirst du den Tod sterben.«49 2. Augustinus sagt im 13. Buch von Über die Dreieinigkeit,50 im 15. Buch von Über die Bürgerschaft Gottes51 und in Gegen den Brief vom Fundament,52 daß derartige Mängel von der Verdammung der Sünde kommen. Isidor von Sevilla sagt ebenso im Buch Über das höchste Gut, daß den Menschen weder das Wasser ertränken, noch das Feuer verbrennen würde, noch andere derartige Dinge vorkommen würden, wenn er nicht gesündigt hätte.53 Also sind alle derartigen Mängel eine Strafe für die Erbsünde. Antwort: Ohne jeden Zweifel muß man nach dem katholischen Glauben behaupten, daß der Tod und alle derartigen Mängel des gegenwärtigen Lebens eine Strafe für die Erbsünde sind. Aber man muß wissen, daß es zwei Arten von Strafe gibt: eine nämlich, wie sie für die Sünde festgesetzt wurde, die andere aber begleitend. Wir sehen zum Beispiel, daß ein Richter einen Menschen für ein Vergehen zur Blindheit verurteilt, auf seine Blindheit folgen jedoch viele Beschwerlichkeiten, zum Beispiel daß er bettelt und andere derartige Dinge. Aber die Blindheit selbst ist die für das Vergehen festgesetzte Strafe. Denn der Richter beabsichtigt, daß der Verbrecher für sein Vergehen des Gesichtssinnes beraubt wird. Aber die folgenden Mängel zieht er nicht in Betracht. Daher kommt es, wenn mehrere wegen desselben Vergehens des Gesichtssinnes beraubt werden, daß bei dem einen mehr Beschwerlichkeiten als bei dem anderen folgen. Dennoch gereicht dies dem Richter nicht zur Ungerechtigkeit. Denn die Unbequemlichkeiten dieser Art waren von ihm nicht für das Vergehen verhängt worden, sondern sie folgten in Hinsicht auf seine Absicht unbeabsichtigt. Das Gleiche kann 49 Gen. 2, 17; Vulg. ›in quocumque enim die comederis ex eo morte morieris‹. 50 Augustinus, De Trin. XIII, 16 (CCSL 50 A, 409). 51 Augustinus, De civ. Dei XV, 6 (CCSL 48, 458). 52 Augustinus, Cont. epist. Fund. 1 (CSEL 25/1, 193). 53 Richtig: Pseudo-Isidor von Sevilla, De ordine creaturarum 10 (PL 83, 940 A).
4. Artikel
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in bezug auf die vorliegende Frage gesagt werden. Denn dem Menschen, als er zuerst geschaffen worden war, war von Gott eine Art von Hilfe der ursprünglichen Gerechtigkeit gegeben worden. Durch sie wurde er vor allen Mängeln dieser Art bewahrt. Dieser Hilfe ist die gesamte menschliche Natur jedoch durch die Sünde des ersten Vorfahren beraubt worden, wie aus dem, was oben ausgeführt worden ist, klar ist.54 Auf die Beraubung dieser Hilfe folgen verschiedene Beschwerlichkeiten, die sich bei verschiedenen Personen auf verschiedene Weise finden, obzwar sie dieselbe Schuld der Erbsünde teilen. Dennoch scheint zwischen dem strafenden Gott und dem richtenden Menschen folgender Unterschied zu bestehen, daß der menschliche Richter die folgenden Ereignisse nicht beurteilen kann. Daher kann er sie auch nicht abwägen, während er eine Strafe für eine Schuld verhängt. Deswegen ist es begründet, daß die Ungleichheiten derartiger Unannehmlichkeiten seine Gerechtigkeit nicht schmälern. Aber Gott sieht alle zukünftigen Ereignisse vorher. Von daher würde es seiner Ungerechtigkeit zuzukommen scheinen, wenn derartige Unannehmlichkeiten ungleich auftreten würden bei Personen, denen die Schuld in gleicher Weise zuzuschreiben ist. Daher behauptete Origines, um den Zweifel darüber aufzuheben, daß die Seelen unterschiedliche Verdienste erworben haben vor ihrer Vereinigung mit den Körpern.55 Entsprechend dieser Verschiedenheit ereilen sie in den Körpern, mit denen sie vereint werden, kleinere oder größere Beschwerlichkeiten. Daher kommt es, wie Origines selbst sagt, daß manche gerade geborenen Kinder von einem Dämon geplagt werden, blind geboren werden oder andere derartige Beschwerlichkeiten erleiden.56 Aber dies widerspricht der apostolischen Lehre. Denn der Apostel sagt im Römerbrief 9, 11, wenn er über Jakob und Esau spricht: »Ihre Kinder waren noch nicht geboren und hatten weder Gutes noch Böses getan«57. Dieselbe Lehre Vgl. De malo, q. 5 a. 1. Vgl. Origines, Peri Archon II, 8 (GCS 22, 162). Vgl. Origines, Peri Archon III, 3 (GCS 22, 261). Röm. 9, 11; Vulg. ›cum enim nondum nati fuissent aut aliquid boni egissent aut mali‹. 54 55 56 57
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gilt aber von allen. Daher darf man nicht sagen, daß die Seelen vor ihrer Vereinigung mit dem Körper gute oder schlechte Verdienste hatten. Es widerspricht auch der Vernunft. Denn da die Seele natürlicherweise ein Teil der menschlichen Natur ist, ist sie unvollständig, wenn sie ohne Körper existiert, wie es bei jedem vom Ganzen abgesonderten Teil der Fall ist. Es wäre aber widersprüchlich für Gott gewesen, sein Werk mit unvollständigen Dingen zu beginnen. Daher ist es nicht vernünftig, daß er die Seele vor dem Körper geschaffen haben würde, genauso wie es unvernünftig sein würde, wenn er die Hand ohne den Menschen geschaffen hätte. Daher müssen wir auf andere Weise sagen, daß diese so beschaffene Unterschiedlichkeit, die unter diesen Mängeln im Menschen auftritt, von Gott vorhergesehen und geordnet ist. Jedoch gewiß nicht wegen irgendwelcher in einem anderen Leben erworbener Verdienste, jedoch manchmal wegen mancher Sünden der Eltern. Denn das Kind ist wegen des Körpers, der von ihm übertragen wurde, ein Teil des Vaters, nicht jedoch wegen der Seele, die unmittelbar von Gott geschaffen wird. Daher ist es nicht unvernünftig, daß das Kind für die Sünde des Vaters körperlich bestraft wird, wenn auch nicht durch eine geistige Strafe, die sich auf die Seele bezieht. So wird der Mensch auch in anderen Angelegenheiten von ihm bestraft. Manchmal hingegen werden Mängel dieser Art nicht als Bestrafung irgendeiner Sünde verhängt, sondern als ein Hilfsmittel gegen zukünftige Sünde oder für den Fortschritt der Tugend, entweder von ihm, der dies leidet, oder von einem anderen. So sagt der Herr auch in Johannes 9, 3 vom blind Geborenen: »Weder er noch seine Eltern haben gesündigt, sondern das Wirken Gottes sollte an ihm offenbar gemacht werden«58, was für das menschliche Heil förderlich war. Aber eben die Tatsache, daß der Mensch in einer solchen Verfassung ist, daß ihm durch derartige Beschwerlichkeiten oder Mängel geholfen werden muß, entweder um die Sünde zu vermeiden oder um die Tugend zu befördern, gehört zur Schwäche der menschlichen Natur. Diese stammt von der Sünde des ersten Vorfahren her. Genauso gehört auch die Tatsache, daß der Körper des Menschen so veranlagt ist, daß es des Schneidens bedarf, um ihn zu heilen, zu seiner 58 Joh. 9, 3.
4. Artikel
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Schwäche. Somit vergelten alle diese Mängel die Erbsünde als eine begleitende Bestrafung. Zu 1. Jene Hilfe, die dem Menschen von Gott gegeben wurde, die ursprüngliche Gerechtigkeit nämlich, ist aus reiner Gnade gegeben gewesen. Daher konnte sie durch die Vernunft nicht betrachtet werden. Deshalb betrachteten Seneca und die anderen heidnischen Philosophen derartige Mängel nicht unter dem Aspekt der Strafe. Zu 2. Den anderen Lebewesen ist kein derartiges Hilfsmittel übertragen worden, sie haben auch vorher nichts durch Schuld verloren, von wo derartige Unbequemlichkeiten hervorgehen würden, wie es beim Menschen der Fall ist. Daher liegt kein vergleichbares Argument vor. Wie bei dem, der wegen der Blindheit, in der er geboren wurde, strauchelt, ein derartiges Stolpern nicht die Natur einer Strafe hat, insofern es die menschliche Gerechtigkeit betrifft, sondern eines natürlichen Mangels. Bei dem aber, der auf Grund eines Verbrechens geblendet wurde, hat es die Natur einer Strafe. Zu 3. Derartige Mängel sind keine für die Sünde bestimmte Strafe, sondern eine begleitende Strafe, wie oben ausgeführt worden ist.59 Zu 4. Die bestimmte sinnlich fühlbare Bestrafung wird nur durch die wirkliche Hinwendung verdient, aber die begleitende Strafe ist von einer anderen Art. Zu 5. Der Zustand von Personen nach dem Tod ist nicht einer des Fortschritts in der Tugend oder des Fehlens durch die Sünde, sondern des Empfangens im Verhältnis zu den Verdiensten. Daher werden alle Mängel, die nach dem Tod auftreten, für die Schuld verhängt und sind weder auf den Fortschritt der Tugend noch auf die Vermeidung der Sünde ausgerichtet. Daher kommt es, daß die Kinder nach dem Tod nicht die sinnlich fühlbare Bestrafung verdienen. Zu 6. Etwas, das im Menschen die Natur der Schuld hat, zum Beispiel einen Menschen zu töten, kann sich zwar auch in anderen Lebewesen finden, jedoch ohne die Natur der Schuld. Diese besteht darin, daß es dem Willen entsprechend ist. Das kann bei den Tieren nicht der Fall sein. Auf ähnliche Weise haben die Mängel, die dem 59 Vgl. De malo q. 5 a. 4 c.
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Menschen und anderen Lebewesen gemeinsam sind, im Menschen die Natur der Strafe, die darin besteht, daß sie dem Willen entgegengesetzt ist, nicht aber in den anderen Lebewesen. Denn der Begriff der Strafe und der Schuld bezieht sich auf den Menschen, insofern er Mensch ist. Zu 7. Durch die ursprüngliche Gerechtigkeit wurde die angemessene Gestalt des Körpers unter der Seele erhalten, obwohl sie selbst in der Seele war. Daher folgen die körperlichen Mängel in angemessener Weise auf die Erbsünde, durch die die Erbsünde verloren wurde. Zu 8. Nach manchen wäre Adam sofort in der Gerechtigkeit worden, wenn er nicht gesündigt hätte, als er verführt wurde. Auch alle seine Nachkommen wären bestärkt in der Gerechtigkeit geboren worden. Gemäß dieser Ansicht ist der Einwand unangebracht. Ich hingegen glaube, daß das falsch ist. Denn die Verfassung des Körpers im ersten Zustand entsprach der Verfassung der Seele. Solange der Körper daher lebewesenartig war, war auch die Seele, noch nicht vollständig vergeistigt, veränderlich. Die Zeugung gehört aber zum Leben eines Lebewesens. Daraus folgt, daß die Kinder Adams nicht in der Gerechtigkeit bestärkt geboren worden wären. Wenn also jemand von Adams Nachkommen gesündigt hätte, obwohl Adam nicht gesündigt hätte, wäre er wegen seiner eigenen wirklichen Sünde gestorben, wie Adam gestorben ist. Seine Nachkommen jedoch wären wegen der Erbsünde gestorben.
5. Artik el Die fünfte Frage lautet: Sind der Tod und Mängel dieser Art für den Menschen natürlich? 60 Das scheint der Fall zu sein, denn: 1. Der Körper des Menschen ist aus Entgegengesetzten zusammengesetzt. Aber alles aus Gegensätzen Zusammengesetzte ist natürlicherweise vergänglich. Also ist der Mensch natürlicherweise sterblich und unterliegt folglich den übrigen Mängeln. 2. Dagegen wurde eingewandt, daß die Tatsache, daß der Körper des Menschen wegen der in ihm existierenden Gegensätzlichkeit 60 Paralleltexte: Sum. theol. I–II, q. 85 a. 6.
5. Artikel
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vernichtet wird, aus dem Entzug der ursprünglichen Gerechtigkeit resultiere. Daher ist es nicht natürlich, sondern zur Strafe gehörig. – Dagegen spricht: Wenn Tod und Vergänglichkeit beim Menschen aus dem Entzug der ursprünglichen Gerechtigkeit hervorgehen, die diese Mängel verhindert hat, folgt, daß derartige Mängel durch die Sünde verursacht werden, wie durch das, was ein Hindernis entfernt. Aber die Bewegung, die aus der Entfernung des Hindernisses folgt, ist eine natürliche, auch wenn das, was das Hindernis entfernt, ein willentlich Tätiges ist. So ist zum Beispiel auch die Bewegung eines Steines eine natürliche, wenn ein Mensch einen Pfeiler entfernt und der daraufliegende Stein hinunterfällt. Also sind Tod und Vergänglichkeit dem Menschen nichtsdestotrotz natürlich. 3. Der Mensch im ersten Zustand ist unsterblich gewesen, sozusagen fähig, nicht zu sterben. Im mittleren Zustand aber ist er auf jede Weise sterblich, er besitzt sozusagen die Notwendigkeit zu sterben. Aber die Unsterblichkeit des letzten Zustandes, der die Herrlichkeit ist, wird nicht natürlich sein, sondern empfangen durch die Gnade. Also ist auch die Unsterblichkeit des ersten Zustandes nicht natürlich gewesen. Es ist daher natürlich gewesen zu sterben. 4. Wenn er sich selbst überlassen wird, stirbt der Mensch gemäß der Beschaffenheit seiner Natur. Aber daß er im ersten Zustand vor dem Tod bewahrt worden war, kam durch ein göttlich gegebenes Geschenk zustande. Aber wenn in einem Ding etwas außer dessen Natur von Gott getan wurde, ist ihm die entgegengesetzte Verfaßtheit nichtsdestoweniger natürlich. Wenn Gott etwa Wasser kochend heiß machen würde, wäre es nichtsdestoweniger der Natur nach kalt. Also war der Mensch nichtsdestotrotz im ersten Zustand natürlicherweise sterblich. 5. Wie es dem Menschen übernatürlicherweise gegeben worden ist, daß er nicht sterben kann, so ist es ihm auch übernatürlicherweise gegeben, daß er Gott schauen kann. Aber dies, daß der Mensch der göttlichen Schau entbehrt, ist nicht gegen die Natur, also auch nicht daß er der Unsterblichkeit entbehrt. Der Tod ist also nicht wider die Natur. 6. Der Körper des Menschen war auch vor der Sünde aus vier Bestandteilen zusammengesetzt, und so waren in ihm tätige und leidende Beschaffenheiten. Aus diesen geht aber natürlicherweise
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Verfall hervor. Das Tätige macht sich nämlich natürlicherweise das Leidende ähnlich. Wenn das getan ist, wird das Leidende zerstört und folglich das Zusammengesetzte selbst. Also war der Körper des Menschen auch vor der Sünde natürlicherweise vergänglich. 7. Das Leben des Menschen wird durch die Wirksamkeit der natürlichen Wärme erhalten, die ein natürlicherweise Wirksames ist. Aber jedes natürlich Wirksame erleidet beim Wirken eine Verringerung, denn beim Wirken unterliegt es nach Aristoteles selbst einem Leiden.61 Für alles Begrenzte ist es aber notwendig, daß es vollständig aufgebraucht wird, wenn fortgesetzt etwas von ihm aufgegeben wird. Da die natürliche Wärme im Körper des Menschen begrenzt gewesen ist, ist es daher notwendig, daß sie endlich entsprechend seiner Natur verbraucht wird. Somit wäre der Mensch auch vor der Sünde natürlicherweise gestorben. 8. Der Körper des Menschen war begrenzt. In ihm trat aber Verderbnis auf, ansonsten hätte er keine Nahrung benötigt. Da also durch fortgesetzte Verderbnis jedes Begrenzte irgendwann verbraucht wird, scheint es, daß es für den Körper des Menschen auch vor der Sünde notwendig natürlich gewesen ist zu verfallen. 9. Augustinus sagt, die Fähigkeit, nicht zu sterben, sei dem Menschen dank dem Baum des Lebens zugekommen.62 Aber dies scheint unmöglich zu sein. Denn wenn der Baum des Lebens vergänglich war, konnte er keine Unsterblichkeit verliehen haben. Wenn er aber unvergänglich war, hatte ihn der Mensch nicht als Nahrung benutzen können. Also hatte der Mensch nicht die Fähigkeit, nicht zu sterben, sondern er wäre natürlicherweise und mit Notwendigkeit gestorben. 10. Was an sich selbst möglich ist, wird niemals durch ein anderes notwendig gemacht. Daher kann das, was durch sich selbst vergänglich ist, niemals durch ein anderes unvergänglich gemacht werden. Denn das Vergängliche und das Unvergängliche unterscheiden sich hinsichtlich der Gattung, wie es im 10. Buch der Metaphysik heißt.63 Die Dinge aber, die sich der Gattung nach unterscheiden, können 61 Aristoteles, Phys. III, 2; 201 a 23. 62 Augustinus, De Gen. ad lit. VI, 25 (CSEL 28/1, 197). 63 Aristoteles, Met. X, 12; 1058 b 28–29.
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sich nicht ineinander verwandeln. Aber der Körper des Menschen war an sich selbst vergänglich, weil er ja aus Gegensätzen zusammengesetzt ist. Also konnte er auf keine Weise durch etwas anderes unvergänglich gemacht werden. Somit würde er also natürlicherweise sterben, auch wenn er nicht gesündigt hätte. 11. Wenn der Mensch vor der Sünde fähig war, nicht zu sterben, hatte er die Fähigkeit, nicht zu sterben, entweder durch die Gnade oder durch die Natur. Wenn er sie durch die Gnade besaß, dann konnte er sie verdienen. Dem widerspricht Petrus Lombardus im 2. Buch der Sentenzen d. 24.64 Wenn er sie aber durch die Natur besaß, dann konnte er zwar verletzt, aber nicht vollständig vernichtet werden. Denn der Mensch wurde durch die Sünde des gnadenhaft Geschenkten beraubt und in bezug auf die natürlichen Dinge verletzt, wie es in der Glosse über Lukas 10 heißt.65 Auf keine Weise war also im Menschen vor der Sünde die Fähigkeit, nicht zu sterben. 12. Bei jedem aus Entgegengesetzten Zusammengesetzten ist es nach den Philosophen notwendig, daß eine Ungleichheit besteht.66 Denn wenn die Entgegengesetzten gleichermaßen der Verfassung eines Zusammengesetzten zukämen, würde eines nicht mehr an der Form teilhaben als das andere, sondern alle wären gleichermaßen wirklich. Aber aus mehreren wird nicht eines, außer eines verhält sich zum anderen wie die Möglichkeit zur Wirklichkeit. Aber die Ungleichheit ist notwendig ein Grund für Verfall. Denn das, was stärker ist, verdirbt dasjenige, das schwächer ist. Also war der Körper des Menschen aus natürlicher Notwendigkeit vergänglich, auch wenn der Mensch nicht gesündigt hätte. 13. Der Mensch besitzt vor der Sünde und nach der Sünde dieselbe wesentliche Natur. Ansonsten würde er nicht von derselben Art sein. Aber nach der Sünde kommt dem Menschen gemäß der Natur seines wesentlichen Seins die Notwendigkeit zu sterben zu. Das ist deswegen der Fall, weil die Materie sich in Möglichkeit zu 64 Petrus Lombardus, Sent. II, d. 24 c. 1. (ed. Coll. S. Bon. I, 421). 65 In der kritischen Edition nicht gefunden. Vgl. jedoch: Petrus Lom-
bardus, Sent. II, d. 25 c. 7 und d. 35 c. 4. (ed. Coll. S. Bon. I, 432 und 497). 66 Vgl. z. B. Aristoteles, De gen. et corr. I, 10; 328 a 28 ff.
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einer anderen Form befindet. Also wäre er auch vor der Sünde mit natürlicher Notwendigkeit gestorben. 14. Dagegen wurde eingewandt, daß der Mensch vor der Sünde von Gott davor bewahrt wurde zu sterben. – Dagegen spricht: Das, woraus hervorgeht, daß Gegensätze gleichzeitig sind, wird niemals durch Gott getan. Aber daraus, daß etwas, das in Möglichkeit ist, der Wirksamkeit eines Tätigen unterliegt und nicht vergeht, folgt, daß Gegensätze gleichzeitig sind, nämlich in Möglichkeit und nicht in Möglichkeit zu sein. Denn es gehört zur Natur eines in Möglichkeit Seienden, daß es durch ein Tätiges in die Wirklichkeit überführt wird. Der Körper des Menschen wäre also vor der Sünde nicht unvergänglich gewesen, wenn Gott das Vergehen verhindert hätte. 15. Augustinus sagt im 8. Buch von Über Genesis dem Wortlaut nach, daß Gott die Dinge so lenkt, daß er zuläßt, daß sie ihre eigenen Bewegungen ausführen.67 Aber die eigentümliche und natürliche Bewegung von aus Gegensätzen zusammengesetzten Körpern besteht darin, daß sie zum Verfall neigen. Dies wurde also von Gott nicht verhindert. 16. Das, was über der natürlichen Ordnung steht, kann durch kein geschaffenes Vermögen getan werden. Denn jedes geschaffene Vermögen ist gemäß der sich dem Samen verdankenden Grundlagen, die in die Natur gepflanzt sind, wirksam, wie Augustinus im 3. Buch von Über die Dreieinigkeit sagt.68 die ursprüngliche Gerechtigkeit war eine Art geschaffenes Geschenk. Also konnte der Mensch durch sein Vermögen nicht vor dem Verfall bewahrt werden. 17. Was sich bei allen oder den meisten findet, ist nicht wider die Natur. Aber der Tod wird nach der Sünde bei allen Menschen gefunden. Also ist er nicht wider die Natur. Dagegen spricht: 1. Alles, was für ein Ziel da ist, entspricht dem Ziel. Aber der Mensch ist zum Zwecke der ewigen Glückseligkeit geschaffen wor-
67 Richtig: Augustinus, De civ. Dei VII, 30 (CCSL 47, 212). 68 Augustinus, De Trin. III, 8 (CCSL 50, 140–141).
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den. Also kommt ihm gemäß seiner Natur ewige Glückseligkeit zu. Also sind Tod und Verfall seiner Natur entgegengesetzt. 2. Die Materie entspricht der Form gemäß der Natur. Aber die erkennende Seele, die die Form des menschlichen Körpers ist, ist unvergänglich. Also ist auch der menschliche Körper natürlicherweise unvergänglich. Somit sind Tod und Verfall wider die Natur des menschlichen Körpers. Antwort: Nach Aristoteles im 2. Buch der Physik wird das Natürliche auf zweifache Weise ausgesagt. Entweder bezeichnet es das, was eine Natur hat, wie wir Körper natürlich nennen, oder es bezeichnet das, was aus der Natur hervorgeht, als der Natur gemäß seiend.69 Wir sagen zum Beispiel, daß es für das Feuer natürlich ist, sich nach oben zu bewegen. Auf diese Weise sprechen wir hier vom Natürlichen, das gemäß der Natur ist. Da »Natur« sich auf zwei Dinge beziehen kann, nämlich auf die Form und auf die Materie, wird etwas in zweifacher Hinsicht natürlich genannt: Entweder hinsichtlich der Form oder hinsichtlich der Materie. Hinsichtlich der Form nämlich, wie es dem Feuer natürlich ist, daß es erwärmt. Denn die Wirktätigkeit geht aus der Form hervor. Hinsichtlich der Materie aber, wie es dem Wasser natürlich ist, daß es vom Feuer erwärmt werden kann. Da die Form eigentlicher Natur ist als die Materie, ist dasjenige natürlicher, was gemäß der Form natürlich ist, als was gemäß der Materie natürlich ist. Aber das, was aus der Materie hervorgeht, kann auf zwei Arten aufgefaßt werden: Einmal insofern es der Form entspricht. Das ist es, was ein Handelnder in der Materie wählt. Andererseits insofern es nicht der Form entspricht, vielmehr sowohl der Form als auch dem Ziel widerspricht, aber was aus der Notwendigkeit der Materie erfolgt. Eine derartige Bedingung wird vom Handelnden nicht gewählt oder angestrebt. Der Handwerker zum Beispiel, der eine Säge zum Schneiden herstellt, sucht Eisen. Denn es ist eine für die Form der Säge geeignete Materie und eignet sich wegen seiner Härte zu ihrem Zweck. Jedoch findet sich im Eisen eine Veranlagung, gemäß 69 Aristoteles, Phys. II, 1; 192 b 32–193 a 1.
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derer sich das Eisen weder für die Form noch für den Zweck eignet, zum Beispiel daß es zerbrechlich ist oder daß es Rost ansammelt oder derartige Dinge, die ein Hindernis für den Zweck sind. Daher werden sie nicht vom Handelnden gewählt, sondern würden eher von ihm verschmäht werden, wenn es möglich wäre. Deshalb sagt Aristoteles auch im 19. Buch von Über die Lebewesen, daß in den nebensächlichen Eigenschaften des Individuums nicht die Zweckursache gesucht werden darf, sondern nur die Materialursache.70 Sie gehen nämlich aus der Verfaßtheit der Materie, nicht aus der Absicht des Handelnden hervor. Somit ist dem Menschen also etwas gemäß seiner Form natürlich, zum Beispiel das Erkennen, das Wollen und anderes Derartiges. Andere Dinge sind ihm jedoch gemäß seiner Materie natürlich. Das ist der Körper. Die Beschaffenheit des menschlichen Körpers kann aber auf zweifache Weise betrachtet werden: Einmal hinsichtlich seiner Eignung für die Form, andererseits hinsichtlich dessen, was in ihm nur aus der Notwendigkeit der Materie folgt. Hinsichtlich der Eignung des Körpers für die Form ist es aber notwendig, daß der menschliche Körper aus den Elementen zusammengesetzt ist und aus einer harmonischen Zusammensetzung von diesen. Da nämlich die Seele des Menschen in Möglichkeit erkennend ist, ist sie mit dem Körper vereint, damit sie vermittelst der Sinne erkennbare Formen empfängt, durch die sie in Wirklichkeit erkennend wird. Denn die Vereinigung der Seele mit dem Körper geschieht nicht um des Körpers willen, sondern wegen der Seele. Denn die Form existiert nicht um der Materie willen, sondern die Materie existiert wegen der Form. Aber der erste Sinn ist der Tastsinn, der sozusagen die Grundlage der anderen ist. Das Organ des Tastsinnes muß jedoch ein Mittleres zwischen Entgegengesetzten sein, wie im zweiten Buch von Über die Seele bewiesen wird.71 Daher ist der für eine derartige Seele geeignete Körper ein aus Gegensätzen zusammengesetzter Körper gewesen. Es folgt aber aus der Notwendigkeit der Materie, daß er vergänglich ist.
70 Aristoteles, De animal. XIX (= De gen. an. V), 1; 778 a 30 – b 10. 71 Aristoteles, De an. II, 22; 422 b 23–27.
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Aber hinsichtlich dieser Bedingung besitzt er keine Eignung für die Form, sondern steht eher in einem Widerspruch zur Natur. Tatsächlich kommt es zu keinem Verfall eines natürlichen Dinges gemäß der Übereinstimmung mit der Form. Denn da die Form der Grund des Seins ist, ist der Verfall, der der Weg zum Nichtsein ist, ihr entgegengesetzt. Daher sagt Aristoteles im 2. Buch von Über den Himmel und die Erde, daß das Vergehen des Alters und alle Mängel wider die besondere Natur dieser durch die Form bestimmten Sache sind, obwohl sie der gesamten Natur gemäß seien. Durch deren Vermögen wird die Materie in die Wirklichkeit irgendeiner Form überführt, zu der sie in Möglichkeit ist.72 Wenn ein Ding erzeugt wird, ist es notwendig, daß ein anderes zerstört wird. Aber auf eine besondere Weise ist das Vergehen, das aus der Notwendigkeit der Materie hervorgeht, der Form, die die erkennende Seele ist, nicht angemessen. Denn die anderen Formen sind wenigstens durch etwas Hinzukommendes vergänglich, aber die erkennende Seele ist weder an sich noch durch etwas Hinzukommendes vergänglich. Wenn daher der Natur ein aus Elementen zusammengesetzter Körper hätte gefunden werden können, der unvergänglich wäre, wäre ein solcher Körper ohne Zweifel der Seele gemäß der Natur angemessen. Wie es die passendste Materie für eine Säge wäre, wenn ein unzerbrechliches und rostfreies Eisen gefunden werden könnte, und ein Handwerker eine derartige Materie suchen würde. Aber da eine derartige Materie nicht gefunden werden kann, nimmt er eine solche, wie er kann, nämlich hart, aber zerbrechlich. Auf ähnliche Weise wird die Seele natürlicherweise mit einem organischen, aber vergänglichen Körper versehen. Denn es kann kein aus Elementen zusammengesetzter Körper gefunden werden, der hinsichtlich der Natur der Materie unvergänglich ist. Aber Gott, der der Schöpfer des Menschen ist, konnte diese Notwendigkeit der Materie durch seine Allmacht daran hindern, in die Wirklichkeit überzugehen. Daher ist es dem Menschen vor der Sünde durch die Macht Gottes geschenkt worden, vor dem Tod bewahrt zu werden, solange bis er sich solcher Wohltätigkeit durch seine Sünde als unwürdig erwies. Genauso würde auch der Hand72 Aristoteles, De caelo II, 9; 288 b 15–16.
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werker, wenn er könnte, dem Eisen, mit dem er arbeitet, die Eigenschaft der Unzerbrechlichkeit verleihen. Somit sind also der Tod und das Vergehen dem Menschen hinsichtlich der Notwendigkeit der Materie natürlich, aber hinsichtlich der Natur seiner Form wäre ihm die Unsterblichkeit angemessen. Um dies jedoch zu gewähren, reichen die natürlichen Ursachen nicht hin. Jedoch kommt dem Menschen gemäß der Seele eine gewisse natürliche Neigung dazu zu, ihre Vollendung kommt aber aus einer übernatürlichen Macht. Genauso sagt Aristoteles im 2. Buch der Nikomachischen Ethik, daß wir durch die Natur eine Neigung für die sittlichen Tugenden haben, sie jedoch in uns durch Gewohnheit entwickelt werden.73 Insofern die Unsterblichkeit uns natürlich ist, sind Tod und Vergehen unserer Natur entgegengesetzt. Zu 1. In bezug auf die Notwendigkeit der Materie besitzt dieses Argument Gültigkeit. Zu 2. Hier ist das Gleiche zu sagen wie bei der Erwiderung auf das erste Argument. Zu 3. Dieses Argument besitzt hinsichtlich der Unsterblichkeit nicht in bezug auf die Veranlagung, sondern in bezug auf die Vollendung Gültigkeit. Zu 4. Dem Wasser widerspricht es auf Grund seiner Form zu kochen, die Unsterblichkeit aber ist dem Menschen nicht entgegengesetzt, wie ausgeführt wurde.74 Daher liegt kein ähnlicher Fall vor. Dennoch muß man sagen, daß die Dinge, die in den Dingen durch Gott werden, zwar übernatürlich, aber nicht widernatürlich sind. Denn eine natürliche Abhängigkeit vom Schöpfer gehört zu jedem geschaffenen Ding, viel mehr nämlich den unteren Körpern die Abhängigkeit von den Himmelskörpern zukommt. Nichtsdestotrotz sind die Dinge wie Ebbe und Flut des Meeres, die bei den unteren Körpern unter dem Einfluß der Himmelskörper auftreten, nicht widernatürlich, wie Averroes in seinem Kommentar zum 3. Buch von Über Himmel und Erde ausführt.75 73 Aristoteles, Eth. Nic. II, 1; 1103 a 24–26. 74 Vgl. De malo q. 5 a. 5 c. 75 Averroes, In De caelo III, comm. 20 (V, fol. 187 H).
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Zu 5. Die göttliche Schau übersteigt die menschliche Natur nicht nur hinsichtlich der Materie, sondern auch hinsichtlich der Form. Denn sie übersteigt die Natur der menschlichen Vernunft. Zu 6. Im zusammengesetzten Körper sind gegensätzliche Eigenschaften so, wie entgegengesetzte Elemente in der Welt sind. Wie sich die entgegengesetzten Elemente nicht gegenseitig zerstören, da sie durch die Macht des Himmelskörpers erhalten werden, von dem ihre Bewegungen geregelt werden, so werden die entgegengesetzten Eigenschaften im zusammengesetzten Körper durch die wesentliche Form geregelt und erhalten, damit sie sich nicht gegenseitig vernichten. Diese ist eine Art von Eindruck des Himmelskörpers. In diesen unteren Körpern ist nämlich nichts zur Erreichung der Art tätig, außer durch die Kraft des Himmelskörpers. Daher wird der zusammengesetzte Körper so lange im Sein erhalten, wie die Form ihr tätiges Vermögen vom Einfluß des Himmelskörpers hat. Dadurch kommt es, daß der Himmelskörper durch Annäherung und Entfernung bei jenen niederen Körpern Werden und Vergehen verursacht, und daß die Zeitdauern aller unteren Körper durch die Periodizität der Himmelskörper gemessen werden. Wenn es daher irgendeine Form gäbe, deren tätiges Vermögen auf Grund des Einflusses ihrer Ursache immer bestehen bleiben würde, würde aus der Tätigkeit der tätigen und leidenden Beschaffenheiten niemals das Vergehen hervorgehen. Zu 7. Obzwar die Kraft eines physischen Wirktätigen durch das Erleiden verringert wird, kann sie dennoch wiederhergestellt werden. Daher sehen wir in Teilen des Universums eine Wiederherstellung des wirktätigen Vermögen stattfinden. Das geschieht dadurch, daß die warmen Elemente, deren Kraft im Winter durch die Abwesenheit der Sonne verringert wird, im Sommer durch die Anwesenheit der Sonne wieder hergestellt werden. Dies geschieht bei jedem beliebigen zusammengesetzten Körper, solange die Kraft der Form, die die Zusammensetzung der Elemente erhält, dauert. Zu 8. Der Verlust der Feuchtigkeit, der im Körper Adams durch die Tätigkeit der natürlichen Wärme stattfand, wurde durch die aufgenommene Nahrung wieder ausgeglichen. Auf diese Weise konnte sie erhalten werden, so daß sie nicht vollständig verbraucht wurde.
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Zu 9. Jenes, das durch die Nahrungsaufnahme hervorgebracht wird, ist, als wäre es ein Äußerliches hinsichtlich dessen, auf das das Vermögen der menschlichen Art zuerst begründet wurde. Wie daher die Stärke des Weines durch Beimischung von Wasser allmählich verringert wird und letztlich wegfällt, so wird die Kraft der Art durch die Beimischung der Feuchtigkeit der Nahrung allmählich verringert und fällt endlich aus. Daher ist es notwendig, daß ein Lebewesen vergeht und letztlich stirbt, wie es im 1. Buch von Über das Werden und Vergehen heißt.76 Gegen diesen Verlust half der Baum des Lebens durch Wiederherstellung der Kraft der Art zu ihrer vormaligen Lebenskraft durch ihre eigene Kraft. Aber nicht so, daß er einmal als Nahrung genommen die Kraft ewiger Dauer spenden würde. Denn er war vergänglich, daher konnte er durch sich selbst nicht die Ursache unvergänglicher Dauer sein. Aber er stärkte die natürliche Kraft, gemäß einer bestimmten Zeit länger zu dauern, an deren Grenze er wieder genommen werden konnte, um länger zu leben – immer wieder, bis der Mensch in den Stand der Gnade überführt würde. In diesem würde er die Nahrung nicht länger brauchen. So war der Baum des Lebens daher ein Hilfsmittel bis zur Unsterblichkeit. Aber die ursprüngliche Ursache der Unsterblichkeit war die der Seele von Gott verliehene Kraft. Zu 10. Das, was seiner Natur nach möglich ist, wird niemals durch ein anderes gemäß seiner Natur notwendig gemacht, so nämlich, daß es die Natur der Notwendigkeit hätte. Dennoch wird das, was durch sie selbst möglich ist, durch ein anderes notwendig gemacht, obzwar nicht auf natürliche Weise. So geschieht es bei allen erzwungenen Dingen, die infolge eines anderen notwendig genannt werden, wie es im 5. Buch der Metaphysik heißt.77 Zu 11. Die Fähigkeit, nicht zu sterben, verdankte sich der Gnade, aber – so einige – nicht der seligmachenden Gnade. Daher konnte sich der Mensch in diesem Zustand kein Verdienst erwerben. Nach der Meinung anderer wurde dieses Geschenk der Unsterblichkeit jedoch durch die seligmachende Gnade hervorgebracht, und der Mensch konnte sich in diesem Zustand Verdienst erwerben. 76 Aristoteles, De gen. et corr. I, 17; 322 a 31–33. 77 Aristoteles, Met. V, 6; 1015 a 28.
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Zu 12. Die Ungleichheit der Elemente wird in einer Zusammensetzung durch die Kraft der Form erhalten, solange die Form durch ihre Ursache erhalten wird. Zu 13. Die Materie ist in Möglichkeit zu einer anderen Form. Aber dennoch kann die andere Form nicht durch ein äußerlich Tätiges in die Wirklichkeit überführt werden. Es sei denn, daß jenes Tätige stärker als die Kraft der Form ist, die sie durch den Einfluß ihrer Ursache hat. Die Ursache dieser Form, nämlich die menschliche Seele, ist jedoch Gott allein, dessen Kraft ins Unendliche die Kraft jedes anderen Tätigen übersteigt. Solange er daher den Menschen durch seine Kraft im Sein erhalten wollte, konnte er durch kein äußeres oder inneres Tätiges verderbt werden. Wie wir auch klar sehen, daß durch die Kraft des Himmelskörpers materielle Formen entgegen der Tätigkeit verderbender Tätiger im Sein erhalten werden. Zu 14. Es gehört zur Natur der Möglichkeit, daß sie durch ein Tätiges in die Wirklichkeit überführt wird. Aber eine in Möglichkeit existierende Wirklichkeit verhindert die Überführung einer Möglichkeit in eine andere Wirklichkeit. Daher wird sie nicht durch ein äußeres Tätiges in die Wirklichkeit überführt werden. Es sei denn, daß das Tätige stärker ist als die Kraft, die die Form in der Materie entweder aus sich selbst oder aus dem Erhaltenden hat. Denn ein wenig Feuer kann keine große Menge Wasser vernichten. Daher ist es nicht verwunderlich, wenn durch den göttlichen Einfluß die menschliche Seele im Zustand der Unschuld jedem entgegengesetzt Wirksamen widerstehen konnte. Zu 15. Die eigentümlichen Bewegungen der Dinge, die zu ihrer Vollkommenheit gehören, verhindert Gott nicht durch seine Regierung. Aber die Bewegungen der Dinge, die ihren Mängeln zukommen, werden manchmal durch Gott aus der Fülle seiner Güte heraus aufgehoben. Zu 16. Die Form selbst ist eine Wirkung des Tätigen. Daher ist es ein und dasselbe, was das Tätige der Wirkung nach macht und die Form der Form nach. So sagt man zum Beispiel vom Maler wie auch von der Farbe, daß sie die Wand färben. Auf diese Weise verursacht daher Gott allein der Wirkung nach die Unsterblichkeit des Menschen. Aber die Seele verursacht dies der Form nach durch das ihr
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göttlich eingegebene Geschenk, entweder im Zustand der Unschuld oder im Zustand des Herrlichkeit. Zu 17. Dieses Argument besitzt in bezug auf das Gültigkeit, was schlechthin wider die Natur ist. Denn dies tritt auf keinen Fall bei vielen oder bei den meisten auf. Aber der Tod ist auf eine gewisse Weise der Natur gemäß und auf eine gewisse Weise wider die Natur, wie ausgeführt worden ist.78 Erwiderung auf die Einwände der Gegenseite: Die Antwort auf diese leuchtet durch das ein, was bereits ausgeführt worden ist. Denn jene ewige Glückseligkeit, auf die der Mensch ausgerichtet ist, übersteigt seine Natur. Daher ist es nicht notwendig, daß die Unsterblichkeit dem Menschen durch die Natur zukommt. Ähnlich ist auch der Körper der menschlichen Seele angemessen, obzwar er vergänglich ist, wie ausgeführt wurde.79
78 Vgl. De malo q. 5 a. 5 c. 79 Vgl. De malo q. 5 a. 5 c.
VI. VON DER MENSCHLICHEN WILLENSENTSCHEIDUNG
Die hier behandelte Frage lautet: Besitzt der Mensch bei seinen Handlungen eine freie Wahl oder wählt er aus Notwendigkeit?
1. Artik el Die erste Frage lautet: Besitzt der Mensch bei seinen Handlungen eine freie Wahl oder wählt er aus Notwendigkeit? 1 Es scheint, daß er nicht frei, sondern aus Notwendigkeit wählt, denn: 1. Im Buch Jeremia 10, 23 heißt es: »Der Mensch vermag weder seinen Weg zu bestimmen, noch liegt es beim Mann, daß er umhergeht und seine Schritte lenkt.«2 Aber dasjenige, worin der Mensch Freiheit hat, gehört ihm so, als wäre es in seine Gewalt gestellt. Also scheint es, daß der Mensch nicht die freie Wahl seiner Wege und seiner Handlungen besitzt. 2. Dagegen wurde eingewandt, daß dies sich auf die Ausführungen der Entscheidungen bezieht, die mitunter nicht in der Gewalt des Menschen liegen. – Dagegen spricht: Der Apostel erklärt im Römerbrief 9, 10: »Es liegt nicht beim Wollenden«, nämlich zu wollen, »noch beim Laufenden«, nämlich zu laufen, »sondern beim erbarmenden Gott«.3 Aber wie das Laufen zur äußeren Ausführung der Handlung gehört, so gehört das Wollen zur inneren Wahl. Also liegen auch die inneren Entscheidungen nicht in der Macht des Menschen, sondern werden dem Menschen von Gott eingegeben.
1 Paralleltexte: De verit. q. 24 a. 1. Sum. theol. I, q. 83 a. 1. I–II, q. 13
a. 6. 2 Jer. 10, 23. 3 Röm. 9, 16.
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3. Dagegen wurde eingewandt, daß der Mensch durch einen gewissen inneren Antrieb zur Entscheidung bewegt wird, nämlich auf unbewegte Weise von Gott selbst. Dennoch steht dies nicht im Gegensatz zur Freiheit. – Dagegen spricht: Obwohl jedes Lebewesen sich durch das eigene Streben bewegt, haben die anderen vom Menschen verschiedenen Lebewesen dennoch keine freie Wahl. Denn ihr Vermögen zu streben wird von einem äußeren Beweger bewegt, nämlich durch die Kraft eines Himmelskörpers oder durch die Tätigkeit irgend eines anderen Körpers. Wenn daher der menschliche Wille auf unbewegte Weise von Gott bewegt wird, folgt, daß der Mensch in seinen Handlungen nicht die freie Wahl hat. 4. Dasjenige heißt gewaltsam, dessen Grund außerhalb desjenigen liegt, der beim Erleiden der Gewalt nichts beiträgt. Wenn also der Willensentscheidung der Grund von außerhalb, nämlich Gott, herrührt, so scheint es, daß der Wille aus Gewalt und aus Notwendigkeit heraus bewegt wird. Er besitzt also bei seinen Handlungen nicht die freie Wahl. 5. Es ist unmöglich, daß der Wille des Menschen vom Willen Gottes abweicht. Denn wie Augustinus im Enchiridion feststellt, tut der Mensch entweder, was Gott will, oder Gott erfüllt seinen Willen an ihm.4 Aber der Wille Gottes ist unveränderlich, also auch der Wille des Menschen. Also gehen alle menschlichen Entscheidungen aus einer unwandelbaren Entscheidung hervor. 6. Keine Tätigkeit eines Vermögens kann ohne ihren Gegenstand bestehen, wie die Tätigkeit des Sehens nur bei Sichtbarem auftreten kann. Aber der Gegenstand des Willens ist das Gute. Also kann der Wille nichts wollen als das Gute. Er will deshalb aus Notwendigkeit das Gute und hat nicht die freie Wahl zwischen dem Guten oder dem Bösen. 7. Jedes Vermögen, zu dem sein Gegenstand sich wie das Bewegende zum Bewegbaren verhält, ist ein leidendes Vermögen, und sein Tätigsein besteht im Leiden. So bewegt etwa das sinnlich Wahrnehmbare den Sinn. Daher ist der Sinn ein leidendes Vermögen und die sinnliche Wahrnehmung ist eine Art von Leiden. Aber der Gegenstand des Willens verhält sich zum Willen wie das Bewegende 4 Augustinus, Ench. XXVI, 100 (CCSL 46, 103).
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zum Bewegbaren: Aristoteles führt nämlich im 3. Buch von Über die Seele5 und im 9. Buch der Metaphysik6 aus, daß das Erstrebenswerte auf unbewegte Weise bewegt, das Vermögen zu streben bewegt jedoch als Bewegtes. Also ist der Wille ein leidendes Vermögen und das Wollen besteht im Leiden. Aber jedes leidende Vermögen wird aus Notwendigkeit von seinem Beweger bewegt, insofern dieser zureichend ist. Also scheint es, daß der Wille aus Notwendigkeit vom Erstrebenswerten bewegt wird. Also steht es dem Menschen nicht frei, zu wollen oder nicht zu wollen. 8. Dagegen wurde eingewandt, daß der Wille notwendiger Weise nach dem letzten Ziel strebt, da jeder Mensch mit Notwendigkeit glücklich sein will, daß er aber nicht notwendig nach den Mitteln zu diesem Ziel strebt. – Dagegen spricht: Wie das Ziel ist auch das Mittel zum Ziel Gegenstand des Willens. Denn beides hat die Beschaffenheit des Guten. Wenn der Wille aus Notwendigkeit zum Ziel bewegt wird, scheint es daher auch, daß er aus Notwendigkeit zu den Mitteln zum Ziel bewegt wird. 9. Wo derselbe Beweggrund und dasselbe Bewegte vorliegen, da liegt auch dieselbe Art der Bewegung vor. Aber wenn jemand ein Ziel und die Mittel zu diesem Ziel will, wird dasselbe bewegt, nämlich der Wille, und auch das Bewegende ist dasselbe. Denn jemand will die Mittel zum Ziel nur, insofern er das Ziel will. Insofern nämlich jemand aus Notwendigkeit das letzte Ziel will, so will er auch aus Notwendigkeit die Mittel zum Ziel. 10. Wie der Verstand ist auch der Wille ein von der Materie getrenntes Vermögen. Aber der Verstand wird mit Notwendigkeit von seinem Gegenstand bewegt. Der Mensch wird nämlich gezwungen, einer Wahrheit durch die Gewalt des Grundes mit Notwendigkeit zuzustimmen. Also wird auch der Wille aus demselben Grund von seinem Gegenstand notwendiger Weise bewegt. 11. Die Bestimmung des ersten Bewegers verbleibt in allen folgenden. Denn alle folgenden Beweger bewegen , insofern sie vom ersten Beweger bewegt wurden. Aber in der Ordnung der Willensbewegungen ist das als erstrebenswert Erfaßte das Erste. Also 5 Aristoteles, De an. III, 10; 433 b 11–12. 6 Richtig: Aristoteles, Met. XII, 7; 1072 a 26.
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scheint die Notwendigkeit auf alle folgenden Beweger überzugehen, da die Auffassung des Erstrebenswerten notwendigerweise erlitten wird, wenn durch einen Beweis dargelegt wird, daß etwas gut ist. Somit wird der Wille nicht frei, sondern aus Notwendigkeit zum Wollen bewegt. 12. Eine Sache ist ein stärkerer Beweggrund als ein Begriff. Aber nach dem 4. Buch der Metaphysik des Aristoteles ist das Gute in den Dingen, das Wahre aber im Geist.7 Somit ist das Gute eine Sache, das Wahre aber ein Begriff. Also hat das Gute mehr die Beschaffenheit eines Beweggrundes als das Wahre. Aber das Wahre bewegt notwendigerweise die Vernunft, wie ausgeführt wurde.8 Also bewegt das Gute den Willen aus Notwendigkeit. 13. Die Liebe, die zum Willen gehört, ist eine stärkere Bewegung als die Erkenntnis, die zum Verstand gehört. Denn die Erkenntnis verähnlicht, wohingegen die Liebe verwandelt, wie von Dionysius im 4. Kapitel von Über die göttlichen Namen gezeigt wird.9 Deshalb kann der Wille leichter bewegt werden als der Verstand. Wenn also der Verstand aus Notwendigkeit bewegt wird, so scheint dies weit mehr für den Willen zu gelten. 14. Dagegen wurde eingewandt, daß die Tätigkeit des Verstandes eine auf die Seele hin gerichtete Bewegung, die Tätigkeit des Willens hingegen eine Wegbewegung von der Seele ist. Somit hat der Verstand mehr die Beschaffenheit eines Leidenden, der Wille aber mehr die Beschaffenheit eines Tätigen. Daher leidet er nicht notwendig von seinem Gegenstand. – Dagegen spricht: Die Zustimmung gehört zum Verstand wie die Einwilligung zum Willen. Die Zustimmung bezeichnet aber eine auf die Sache hingerichtete Bewegung, der zugestimmt wird, wie auch die Einwilligung auf die Sache hingeht, zu der eingewilligt wird. Daher ist die Bewegung des Willens nicht in höherem Grade von der Seele weggehend als die Bewegung des Verstandes. 15. Wenn der Wille in Bezug auf einiges Gewollte nicht aus Notwendigkeit bewegt wird, muß man sagen, daß er sich auf Gegen7 Aristoteles, Met. VI, 4; 1027 b 25–27. 8 Vgl. De malo q. 6 a. 1 arg. 10. 9 Dionysius Areopagita, De div. nom. IV, 13 (Dion., 215).
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sätzliches bezieht. Was nämlich nicht notwendigerweise seiend ist, kann auch nicht-seiend sein. Aber alles, was die Möglichkeit zu Entgegengesetztem besitzt, wird nur durch ein wirkliches Seiendes, das dasjenige, was in Möglichkeit war, in das Wirklichsein überführt, in die Wirklichkeit des einen von ihnen gebracht. Dasjenige aber, das etwas ins Wirklichsein überführt, nennen wir dessen Ursache. Wenn der Wille also mit Bestimmtheit etwas will, muß es eine Ursache geben, die ihn selbst dieses wollen läßt. Wenn aber die Ursache gesetzt ist, muß auch notwendig die Wirkung gesetzt werden, wie Avicenna zeigt.10 Denn wenn bei gesetzter Ursache das Ausbleiben der Wirkung möglich wäre, bedarf es eines anderen, das von der Möglichkeit in die Wirklichkeit überführt, und somit war das erste nicht zureichende Ursache. Also wird der Wille aus Notwendigkeit bewegt, etwas zu wollen. 16. Keine Kraft, die sich auf Entgegengesetztes bezieht, ist tätig. Denn jede tätige Kraft kann das ausführen, worauf sich ihre Tätigkeit bezieht. Wenn aber das Mögliche gesetzt ist, folgt nicht das Unmögliche. Es würden aber zwei Gegensätze gleichzeitig vorhanden sein, was unmöglich ist. Aber der Wille ist ein tätiges Vermögen. Also bezieht er sich nicht auf Entgegengesetztes, sondern wird aus Notwendigkeit zu einem bestimmt. 17. Der Wille beginnt manchmal zu wählen, nachdem er vorher nicht gewählt hat. Entweder wird er folglich von der Verfassung, in der er vorher war, verändert oder nicht.11 Wenn nicht, so folgt, daß er so, wie er vorher nicht wählte, auch jetzt nicht wählt. Somit würde er wählen, ohne zu wählen, was unmöglich ist. Wenn aber seine Verfassung verändert wird, muß sie von etwas verändert worden sein. Denn alles, was bewegt wird, wird von etwas bewegt. Das Bewegende tut dem Bewegten aber Notwendigkeit an, anders würde es dasselbe nicht hinreichend bewegen. Also wird der Wille aus Notwendigkeit bewegt. 18. Dagegen wurde eingewandt, daß diese Begründungen Geltung haben für das natürliche Vermögen, das in der Materie ist, nicht aber 10 Avicenna, Met. I, 7 (ed. van Riet, 46). 11 Gemeint ist, daß er durch die Veränderung der Verfassung zu wäh-
len beginnt.
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für das immaterielle Vermögen, das der Wille ist. – Dagegen spricht: Ursprung der gesamten menschlichen Erkenntnis ist die Sinneswahrnehmung. Vom Menschen kann also nur das erkannt werden, was unter die Sinneswahrnehmung fällt, entweder es selbst oder seine Wirkungen. Aber die eigentliche Handlung, die sich auf Entgegengesetzte bezieht, fällt nicht unter die Sinneswahrnehmung. Aber unter ihren Wirkungen, die unter die Sinneswahrnehmung fallen, finden sich keine zwei entgegengesetzten Tätigkeiten, die zugleich bestehen, sondern wir sehen immer, daß ein bestimmtes eines in die Wirklichkeit übergeht. Also können wir nicht urteilen, daß sich im Menschen irgendein tätiges Vermögen auf Entgegengesetzte bezieht. 19. Da das Vermögen auf die Tätigkeit hin ausgesagt wird, verhält sich Vermögen zu Vermögen wie Tätigkeit zu Tätigkeit. Aber zwei entgegengesetzte Tätigkeiten können nicht zugleich bestehen. Also kann sich auch kein Vermögen auf zwei Entgegengesetzte beziehen. 20. Nach Augustinus im 1. Buch von Über die Dreifaltigkeit ist nichts für sich selbst die Ursache dafür, daß es ist.12 Also ist aus demselben Grund nichts für sich selbst die Ursache, daß es bewegt wird. Also bewegt der Wille sich nicht selbst. Da er aber anfängt, tätig zu sein, nachdem er es vorher nicht war, ist es notwendig, daß er von etwas bewegt wird, und alles derartige wird auf irgend eine Weise bewegt. Daher sagen wir auch von Gott, daß er nicht zu wollen anfängt, nachdem er vorher nicht gewollt hatte – wegen seiner Unveränderlichkeit. Also muß der Wille notwendig von einem anderen bewegt werden. Was aber von einem anderen bewegt wird, erleidet von dem anderen Notwendigkeit. Also will der Wille notwendig und nicht mit Freiheit. 21. Alle Vielfalt wird auf ein Einfaches zurückgeführt. Aber die menschlichen Bewegungen sind verschieden und vielfältig. Also werden sie auf eine Bewegung als ihre Ursache zurückgeführt, . Aber was durch die Himmelsbewegung bewegt wird, geht mit Notwendigkeit vonstatten. Denn die natürliche Ursache bringt ihre Wirkung mit Notwendigkeit hervor, wenn nicht etwas Verhinderndes vorliegt. Aber die 12 Augustinus, De Trin. I, 1 (CCSL 50, 28).
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Bewegung des Himmelskörpers kann nichts daran hindern, daß ihre Wirkung erfolgt. Denn es wäre notwendig, daß auch die Tätigkeit des Hinderlichen auf einen himmlischen Ursprung als ihre Ursache zurückgeführt würde. Also scheint es, daß die menschlichen Bewegungen aus Notwendigkeit und nicht aus freier Wahl hervortreten. 22. Wer tut, was er nicht will, hat die freie Wahl. Aber der Mensch macht das, was er nicht will. Im Römerbrief 7, 15 heißt es: »Das Böse, das ich hasse, tue ich.«13 Also hat der Mensch keine freie Wahl. 23. Augustinus sagt im Enchiridion, daß »der Mensch, wenn er den Willen zum Bösen gebraucht, sich und diesen zu Grunde richtet«.14 Aber man kann nicht frei wählen, wenn man nicht die Wahlfreiheit hat. Also hat der Mensch keine freie Wahl. 24. Augustinus sagt im 8. Buch der Bekenntnisse: »Wenn der Gewohnheit nicht widerstanden wird, entsteht Notwendigkeit.«15 Also scheint wenigstens bei denen, die etwas zu tun gewohnt sind, der Wille aus Notwendigkeit bewegt zu werden. Dagegen spricht: 1. In Jesus Sirach 15, 14 heißt es: »Gott hat den Menschen im Anfang geschaffen und ihn der Macht seiner eigenen Entscheidung überlassen.«16 Das wäre aber nicht der Fall, wenn er keine freie Wahl hätte, die im Erstreben des vorher Erwogenen besteht, wie im 3. Buch der Nikomachischen Ethik ausgeführt wird.17 Also hat der Mensch bei seinen Handlungen die freie Wahl. 2. Nach Aristoteles beziehen sich die vernünftigen Vermögen auf Entgegengesetztes.18 Der Wille ist aber ein vernünftiges Vermögen: Er ist nämlich in der Vernunft, wie es im 3. Buch von Über die Seele heißt.19 Also bezieht sich der Wille auf Entgegengesetztes und wird nicht mit Notwendigkeit zu einem hinbewegt. 13 14 15 16 17 18 19
Röm. 7, 15. Augustinus, Ench. XVII, 30 (CCSL 46, 65). Augustinus, Confess. VIII, 5 (CCSL 27, 119). Sir. 15, 14. Aristoteles, Eth. Nic. III, 6; 1112 a 14–15. Aristoteles, Met. IX, 2; 1046 b 4–5. Aristoteles, De an. III, 9; 432 b 5.
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3. Nach dem 3. und 6. Buch der Nikomachischen Ethik ist der Mensch der Herr über seine Handlungen und in ihm selbst gibt es Handeln und Nichthandeln.20 Aber das wäre nicht der Fall, wenn er keine freie Wahl hätte. Also hat der Mensch die freie Wahl bei seinen Handlungen. Antwort: Einige haben behauptet, der Wille des Menschen werde aus Notwendigkeit dazu bewegt, etwas zu wählen. Doch sie haben nicht behauptet, daß der Wille gezwungen würde. Denn nicht alles Notwendige bedeutet Zwang, sondern nur dasjenige, dessen Ursache außerhalb liegt. Daher finden sich auch manche natürlichen Bewegungen, die notwendig, aber nicht erzwungen sind. Das Zwingende widerspricht nämlich sowohl dem Natürlichen wie auch dem Willentlichen, da beider Ursache innerlich ist, die Ursache des Zwingenden aber äußerlich. Diese Meinung ist allerdings ketzerisch. Sie hebt nämlich den Grund für Lohn und Strafe in den menschlichen Handlungen auf. Was nämlich jemand auf solche Weise aus Notwendigkeit tut, daß er es nicht vermeiden kann, das scheint weder verdienstvoll noch tadelnswert zu sein. Man muß sie auch zu den Meinungen zählen, die der Philosophie entgegenstehen. Denn sie widerspricht nicht nur dem Glauben, sondern zerstört alle Grundlagen der Moralphilosophie. Wenn nämlich nichts bei uns liegt, sondern wir aus Notwendigkeit zum Wollen bewegt werden, werden Überlegung, Ermahnung, Gebot, Bestrafung, Lob und Tadel aufgehoben, wovon die Moralphilosophie handelt. Derartige Meinungen aber, die die Grundlagen irgendeines Teiles der Philosophie zerstören, werden ihr entgegenstehende genannt, wie die Behauptung, daß nichts bewegt wird, was die Anfangsgründe der Naturwissenschaft zerstört. Zur Aufstellung solcher Setzungen sind manche Menschen teils aus Widersetzlichkeit gedrängt worden, teils wegen sophistischer Gründe,
20 Aristoteles, Eth. Nic. III, 1; 1110 a 17–18. Aristoteles, Eth. Nic. VI, 10; 1144 a 10–11.
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die sie nicht lösen konnten, wie es im 4. Buch der Metaphysik heißt.21 Zur Klärung der Wahrheit bezüglich dieser Frage muß man also zuerst erwägen, daß es so wie bei den anderen Dingen auch bei den Menschen eine Ursache für ihre Tätigkeiten gibt. Diese tätige oder bewegende Ursache ist bei den Menschen im eigentlichen Sinne der Verstand und der Wille, wie es im 3. Buch von Über die Seele heißt.22 Diese Ursache stimmt allerdings teils mit der tätigen Ursache in den Dingen der Natur überein, teils weicht sie von ihr ab. Sie stimmen nämlich darin überein, daß, so wie sich in den Dingen der Natur eine Form findet, die Ursprung der Tätigkeit ist, und eine der Form folgende Neigung, die natürliches Streben genannt wird und aus denen die Tätigkeit hervorgeht, sich so auch beim Menschen eine Erkenntnisform und eine der erkannten Form folgende Neigung des Willens finden, aus denen die äußere Handlung hervorgeht. Aber es besteht ein Unterschied darin, daß die Form der Naturdinge eine durch die Materie vereinzelte Form darstellt, weshalb auch die aus ihr hervorgehende Neigung auf eines hin ausgerichtet ist. Aber die erkannte Form ist ein Allgemeines, unter dem vieles begriffen werden kann. Da nun die Tätigkeiten ihr Sein in den Einzeldingen haben, von denen keines dem allgemeinen Vermögen gleichkommt, verbleibt die Neigung in einem unbestimmten Verhalten zu vielem. Wenn etwa der Handwerker die Form des Hauses im allgemeinen, unter der verschiedene Gestalten des Hauses zusammengefaßt werden, entwirft, kann sein Wille sich dazu neigen, daß er das Haus viereckig, rund oder anders gestaltet. Der tätige Grund in den vernunftlosen Lebewesen hält sich aber in der Mitte zwischen beiden. Denn die durch den Sinn erfaßte Form ist wie auch die Form in den Naturdingen individuell, und deshalb folgt aus ihr wie bei den Naturdingen die Neigung zu einer einzelnen Handlung. Aber dennoch wird nicht immer dieselbe Form vom Sinn aufgenommen, wie es bei den Naturdingen der Fall ist. Denn das Feuer ist immer warm, aber bald eines, bald ein anderes, zum Beispiel bald eine angenehme, bald eine unangenehme Form. Daher 21 Aristoteles, Met. IV, 10; 1009 a 19–22. 22 Aristoteles, De an. III, 10; 433 a 13–18.
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flieht es in dem einen Fall, im anderen folgt es ihm nach. Hierin stimmt es mit dem Grund der menschlichen Tätigkeit überein. Zweitens muß man beachten, daß ein Vermögen auf zwei Weisen bewegt wird: Einmal von Seiten des Trägers, zum anderen von Seiten des Gegenstandes. Von Seiten des Trägers nämlich, wie etwa der Gesichtssinn durch eine Veränderung in der Verfassung des Organs zu einer mehr oder weniger klaren Gesichtswahrnehmung bewegt wird. Von Seiten des Gegenstandes aber, wie etwa der Gesichtssinn bald ein Weißes, bald ein Schwarzes wahrnimmt. Die erste Veränderung bezieht sich aber auf die Ausführung der Handlung, daß nämlich gehandelt oder nicht gehandelt wird beziehungsweise besser oder schlechter gehandelt wird. Die zweite Veränderung aber bezieht sich auf die Artbestimmung der Handlung. Denn die Art der Handlung wird durch ihren Gegenstand bestimmt. Es ist aber zu beachten, daß die Artbestimmung der Handlung bei den Naturdingen allerdings von der Form herrührt, die Ausführung aber vom Tätigen, das die Bewegung verursacht. Das Bewegende aber wirkt wegen eines Zieles. Daher bleibt übrig, daß der erste Anfangsgrund der Bewegung hinsichtlich der Ausführung der Handlung vom Ziel ausgeht. Wenn wir aber die Gegenstände des Willens und des Verstandes betrachten, entdecken wir, daß der Gegenstand der Vernunft der erste und eigentümliche innerhalb der Gattung der Formalursachen ist. Sein Gegenstand ist nämlich das Seiende und das Wahre. Aber der Gegenstand des Willens ist das erste und eigentümliche innerhalb der Gattung der Endursachen. Denn sein Gegenstand ist das Gute, unter das alle Ziele zusammengefaßt werden wie unter dem Wahren alle geistig erfaßten Formen. Daher ist auch das eigentliche Gute, insofern es eine bestimmte erkennbare Form ist, unter dem Wahren enthalten wie etwas bestimmtes Wahres. Das eigentlich Wahre, insofern es Ziel einer vernünftigen Handlung ist, ist als ein bestimmtes besonderes Gut unter dem Guten enthalten. Wenn wir also die Bewegung der Seelenvermögen von Seiten der die Art der Handlung bestimmenden Gegenstände betrachten, so stammt der erste Anfangsgrund der Bewegung aus der Vernunft: Auf diese Weise bewegt nämlich das erkannte Gut auch den Willen selbst. Wenn wir aber die Bewegungen der Seelenvermögen von Sei-
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ten der Ausführung der Handlung betrachten, so stammt der Grund der Bewegungen aus dem Willen. Denn immer bewegt das Vermögen, zu dem das Hauptziel gehört, das Vermögen, zu dem die Mittel zum Ziel gehören, zur Tätigkeit, so wie das Militär den Sattler zum Arbeiten bewegt. Auf diese Weise bewegt der Wille auch sich selbst und alle anderen Vermögen. Ich erkenne nämlich, weil ich will, und in ähnlicher Weise bediene ich mich aller anderen Vermögen und Habitus, weil ich will. Deshalb bestimmt Averroes auch den Habitus im 3. Buch von Über die Seele so, daß der Habitus dasjenige ist, dessen sich jemand bedient, wenn er will.23 Somit muß man also die Bewegung des Willens sowohl hinsichtlich der Ausführung der Handlung als auch hinsichtlich der Bestimmung der Handlung, die vom Gegenstand herrührt, betrachten, um zu zeigen, daß der Wille nicht aus Notwendigkeit bewegt wird. Hinsichtlich der Ausführung der Handlung ist also zuerst deutlich, daß der Wille von sich selbst bewegt wird. Wie er nämlich die anderen Vermögen bewegt, so bewegt er auch sich selbst. Daraus folgt nicht, daß der Wille sich in Bezug auf dasselbe in Möglichkeit und in Wirklichkeit befindet. Wie nämlich der Mensch sich selbst gemäß dem Verstande auf dem Wege der Erforschung zum Wissen bewegt, insofern er von einem wirklich Bekannten zu etwas Unbekanntem gelangt, das nur der Möglichkeit nach bekannt war, so bewegt sich der Mensch dadurch, daß er etwas wirklich will, dahin, daß er etwas anderes wirklich will. So wie er sich dadurch, daß er die Gesundheit will, dahin bewegt, Arznei nehmen zu wollen. Weil er nämlich die Gesundheit will, beginnt er, mit sich darüber zu Rate zu gehen, was zur Gesundheit beiträgt, und endlich, nachdem er mit sich zu Rate gegangen ist, will er die Arznei nehmen. So geht also dem Willen, die Arznei zu nehmen, die Überlegung voraus. Diese wiederum geht aus dem Willen hervor, etwas überlegen zu wollen. Da also der Wille sich durch die Überlegung bewegt, die Überlegung aber eine Untersuchung ist, die keine Beweiskraft besitzt, sondern einen Weg zu Gegensätzlichem darstellt, bewegt sich der Wille nicht aus Notwendigkeit. Aber da der Wille nicht stets über23 Averroes, In De anima III, comm. 18 (VI1, fol. 161 B; ed. Crawford,
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legen will, ist es notwendig, daß er von jemandem dazu bewegt wird. Wenn er aber von sich selbst bewegt wird, ist es wiederum notwendig, daß der Willensbewegung eine Überlegung vorangeht und der Überlegung eine Tätigkeit des Willens. Da dies nicht ins Unendliche fortgesetzt werden kann, muß man notwendigerweise behaupten, daß im Hinblick auf die erste Willensbewegung der Wille desjenigen, der nicht immer im Zustand der Wirklichkeit will, von jemand Außenstehendem bewegt wird, durch dessen Antrieb der Wille zu wollen anfängt. Einige haben daher die Meinung vertreten, daß dieser Antrieb von einem Himmelskörper kommt. Aber das kann nicht der Fall sein. Denn da der Wille nach Aristoteles im 3. Buch von Über die Seele im Verstand ist,24 der Verstand oder die Vernunft aber kein körperliches Vermögen ist, ist es unmöglich, daß die Kraft eines Himmelskörpers den Willen selbst unmittelbar bewegt. Die Behauptung aber, der Wille der Menschen werde wie das Strebevermögen der Tiere von der Einwirkung eines Himmelskörpers bewegt, entspricht der Meinung derer, die behaupten, die Vernunft sei nicht vom Sinn unterschieden. Auf diese nämlich bezieht Aristoteles im Buch Über die Seele die Behauptung einiger, die sagen, der Wille sei so bei den Menschen, »wie ihn am Tag der Vater der Menschen und der Götter« – das heißt der Himmel oder die Sonne – »bestimmt«.25 Wie Aristoteles in dem Kapitel Über das gute Schicksal folgert, bleibt also übrig, daß dasjenige, was den Willen und die Vernunft zuerst bewegt, etwas über dem Willen und der Vernunft ist, nämlich Gott.26 Er, da er alles gemäß der Natur der beweglichen Dinge bewegt – wie das Leichte nach oben und das Schwere nach unten –, bewegt auch den Willen seiner Beschaffenheit entsprechend, so daß er sich nicht aus Notwendigkeit, sondern unbestimmt zu Vielem verhält. Es zeigt sich also in der Betrachtung der Bewegung des Willens hinsichtlich der Ausführung der Handlung, daß er nicht aus Notwendigkeit bewegt wird.
24 Aristoteles, De an. III, 9; 432 b 5. 25 Aristoteles, De an. III, 3; 427 a 26. 26 Aristoteles, Ethic. Eud. VII, 14; 1248 a 17–32.
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Wenn aber die Bewegung des Willens hinsichtlich des Gegenstandes betrachtet wird, der die Willenshandlung dazu bestimmt, dieses oder jenes zu wollen, ist zu beachten, daß der den Willen bewegende Gegenstand ein für ihn als angemessen erkanntes Gut ist. Wenn deshalb ein Gut vorgelegt wird, das unter dem Gesichtspunkt des Guten erfaßt wird, nicht aber unter dem Gesichtspunkt des Angemessenen, wird es den Willen nicht bewegen. Da sich Erwägungen und Entscheidungen aber auf Einzelnes beziehen, mit dem es die Handlung zu tun hat, ist es erforderlich, daß das, was als gut und angemessen erfaßt wird, im Einzelnen und nicht nur im Allgemeinen als gut und angemessen erfaßt wird. Wenn daher etwas hinsichtlich aller Teile, die erwogen werden können, als gut angemessen erfaßt wird, wird es den Willen aus Notwendigkeit bewegen. Deswegen erstrebt der Mensch aus Notwendigkeit die Glückseligkeit, die nach Boethius »ein vollkommener Zustand der Zusammenfassung aller Güter« ist.27 Ich sage aber »aus Notwendigkeit«, insofern es die Bestimmung der Handlung betrifft, da er ja nicht das Gegenteil wollen kann – nicht aber insofern es die Ausführung der Handlung betrifft, da man ja einmal nicht über die Glückseligkeit nachdenken wollen kann. Denn die Handlungen der Vernunft und des Willens selbst sind ja Teilhandlungen. Wenn es sich aber um ein solches Gut handelt, daß sein Gutsein bei ihm nicht in allen Teilaspekten, die erwogen werden können, gefunden wird, wird es nicht aus Notwendigkeit bewegen, auch hinsichtlich der Bestimmung der Handlung. Es wird nämlich jemand das Gegenteil davon wollen können, auch wenn er daran denkt, weil es vielleicht hinsichtlich eines anderen betrachteten Teilaspektes ein Gut oder ein Angemessenes ist; zum Beispiel daß ein Gut für die Gesundheit kein Gut für den Genuß ist. Dasselbe gilt auch von anderen Dingen. Und daß der Wille auf das hin geneigt wird, was ihm als dieser einzelnen Besonderheit mehr als einer anderen entsprechend dargeboten wird, kann auf drei unterschiedliche Arten geschehen: Einmal, insofern eine das Übergewicht hat, und alsdann wird der Wille gemäß der Vernunft bewegt: zum Beispiel, wenn ein Mensch 27 Boethius, Cons. Philos. III pr. 2 (CCSL 94, 38).
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das der Gesundheit Zuträgliche dem, was dem Verlangen zuträglich ist, vorzieht. Zum anderen insofern der Mensch an einen bestimmten Umstand und nicht an einen anderen denkt. Dies geschieht häufig bei einer Gelegenheit, die sich entweder von innen oder von außen darbietet, daß ihm ein derartiger Gedanke kommt. Drittens geschieht es wegen der Veranlagung des Menschen. Denn nach Aristoteles gilt: »Was für ein Mensch einer ist, ein solches Ziel erscheint ihm.«28 Daher wird der Wille des Zornigen auf andere Weise zu etwas bewegt als der Wille des Ruhigen. Denn beiden ist nicht dasselbe angemessen, wie auch die Speise vom Gesunden und vom Kranken unterschiedlich aufgenommen wird. Wenn also die Veranlagung, durch die einem etwas als gut und angemessen erscheint, natürlich ist und nicht dem Willen unterliegt, wählt der Wille dieses aus natürlicher Notwendigkeit, wie alle Menschen natürlicherweise nach Sein, Leben und Erkennen streben. Wenn aber eine solche Veranlagung nicht naturhaft, sondern dem Willen unterworfen ist – zum Beispiel wenn jemand durch einen Habitus oder eine Leidenschaft dazu bestimmt ist, daß ihm etwas in diesem Einzelfall entweder als gut oder schlecht erscheint – wird der Wille nicht aus Notwendigkeit bewegt. Denn er könnte diese Veranlagung entfernen, so daß ihm etwas nicht mehr auf diese Weise erscheint, wie wenn jemand zum Beispiel den Zorn in sich beruhigt, damit er nicht mehr über jemanden wie ein Zorniger urteilt. Man kann aber leichter eine Leidenschaft loswerden als einen Habitus. So wird also der Wille, insofern es den Gegenstand anbelangt, zu einigem aus Notwendigkeit bewegt, nicht aber zu allem. Was aber die Ausführung der Handlung anbelangt, so wird er nicht aus Notwendigkeit bewegt. Zu 1. Jene Verwirklichung kann auf zweifache Weise verstanden werden: Einmal, daß der Prophet von der Ausführung der Entscheidung spricht. Es liegt nämlich nicht in der Macht des Menschen, daß er im Wirken das erfüllt, was er im Geist überlegt. Andererseits kann man es so verstehen, daß auch der innere Wille von irgendeinem höheren Grund bewegt wird, der Gott ist. In diesem Sinne 28 Aristoteles, Eth. Nic. III, 13; 1114 a 32 – b 1.
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sagt der Apostel, es liege nicht beim Wollenden, nämlich zu wollen, noch beim Laufenden zu laufen, als einem ersten Grund, sondern es geschehe auf Antrieb Gottes.29 Zu 2. Von daher ist die Lösung zum 2. Einwand offenkundig. Zu 3. Die vernunftlosen Lebewesen werden durch den Antrieb eines höheren Handelnden zu etwas bestimmt entsprechend der Weise der besonderen Form, deren Empfängnis das sinnliche Streben folgt. Aber Gott bewegt zwar auf unveränderliche Weise den Willen auf Grund der Wirksamkeit seiner bewegenden Kraft, die nicht ausfallen kann. Aber wegen der Natur des bewegten Willens, der sich zu verschiedenen Dingen unbestimmt verhält, ergibt sich keine Notwendigkeit, sondern die Freiheit bleibt bestehen. So ist auch die göttliche Vorsehung in allen Dingen unfehlbar tätig, und dennoch entstehen aus nicht notwendigen Ursachen die Wirkungen auf nicht notwendige Weise, insofern Gott alles im angemessenen Verhältnis bewegt, ein jedes seiner Art entsprechend. Zu 4. Wenn der Wille von Gott bewegt wird, so trägt er etwas bei: Er selbst ist es nämlich, der tätig ist, aber von Gott bewegt. Wenn deshalb auch seine Bewegung von außen als von dem ersten Ursprung herrührt, ist sie dennoch nicht gewaltsam. Zu 5. Der Wille des Menschen stimmt auf gewisse Weise nicht mit dem Willen Gottes überein, insofern er nämlich etwas will, von dem Gott nicht will, daß er es will, wenn er zum Beispiel sündigen will. Obgleich Gott auch nicht will, daß der Wille dies nicht will. Denn wenn Gott dies wollte, geschähe es. Alles nämlich, was der Herr will, geschieht. Obgleich auf diese Weise der Wille zum Willen Gottes in Widerspruch steht, was die Willensbewegung angeht, kann er dennoch niemals in Widerspruch stehen, was das Resultat oder das Ergebnis angeht. Denn der Wille des Menschen zeitigt immer das Ergebnis, daß Gott im Menschen seinen Willen erfüllt. Aber was die Art des Wollens angeht, muß der Wille des Menschen mit dem Willen Gottes nicht notwendig übereinstimmen. Denn Gott will alles von Ewigkeit her und auf unendliche Weise, nicht aber der Mensch. Deswegen heißt es in Jesaja 55, 9: »So hoch
29 Röm. 9, 16.
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der Himmel über die Erde erhoben ist, so erhaben sind meine Wege über die euren.«30 Zu 6. Daraus, daß das Gute der Gegenstand des Willens ist, kann gefolgert werden, daß der Wille alles nur unter dem Aspekt des Guten will. Aber da unter dem Aspekt des Guten vieles und verschiedene Dinge zusammengefaßt werden, kann daraus nicht gefolgert werden, daß der Wille aus Notwendigkeit zu diesem oder jenem bewegt wird. Zu 7. Das Tätige bewegt nicht aus Notwendigkeit, außer wenn es die Kraft des Erleidenden übertrifft. Da sich aber der Wille bezüglich des allgemeinen Guten in Möglichkeit befindet, übertrifft kein Gut die Kraft des Wollenden so, als bewegte es ihn aus Notwendigkeit, von dem abgesehen, das in jeder Hinsicht gut ist. Das ist allein das vollkommene Gut, das heißt die Glückseligkeit. Sie vermag der Wille unmöglich nicht zu wollen, so nämlich, daß er ihr Gegenteil will. Er kann sie dennoch momentan der Wirklichkeit nach nicht wollen, da er das Denken an die Glückseligkeit ablenken kann, insofern er es ist, der die Vernunft zu ihrer Tätigkeit bewegt. Was das angeht, so will er die Glückseligkeit nicht aus Notwendigkeit, wie jemand, sofern er die Wärmequelle von sich wegstoßen könnte, wenn er es wollte, sich auch nicht aus Notwendigkeit zu wärmen brauchte. Zu 8. Das Ziel ist der Grund, die Mittel für das Ziel zu wollen. Daher verhält sich der Wille nicht zu beiden in gleicher Weise. Zu 9. Wenn zum Ziel nur auf einem Weg gelangt werden könnte, dann läge derselbe Grund dafür vor, das Ziel und die Mittel dazu zu wollen. Aber so verhält es sich im vorliegenden Fall nicht. Denn zur Glückseligkeit kann auf vielen Wegen gelangt werden. Obgleich der Mensch aus Notwendigkeit die Glückseligkeit will, so will er daher die Mittel, die zur Glückseligkeit führen, dennoch nicht aus Notwendigkeit. Zu 10. Zwischen Vernunft und Willen besteht einerseits Ähnlichkeit, andererseits Unähnlichkeit. Unähnlichkeit besteht in Bezug auf die Ausführung der Handlung, denn die Vernunft wird vom Willen zur Handlung bewegt, der Wille von keinem anderen Vermögen als von sich selbst. Aber was den Gegenstand anbelangt, besteht 30 Jes. 55, 9.
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bei beiden Ähnlichkeit. Wie nämlich der Wille aus Notwendigkeit von einem in jeder Hinsicht guten Gegenstand bewegt wird, nicht aber von einem Gegenstand, der unter irgendeinem Gesichtspunkt als schlecht angesehen werden kann, so wird auch der Verstand aus Notwendigkeit vom notwendig Wahren, das nicht als Falsches angesehen werden kann, bewegt, nicht aber vom nicht notwendigen Wahren, das als Falsches angesehen werden kann. Zu 11. Die Bestimmung des ersten Bewegers bleibt in denen, die von ihm bewegt werden, fortbestehen, insofern sie von ihm bewegt werden. Auf diese Weise nehmen sie nämlich Ähnlichkeit mit ihm an. Es ist jedoch nicht notwendig, daß sie eine vollständige Ähnlichkeit mit ihm annehmen. So ist der erste bewegende Grund unbewegt, nicht aber die anderen. Zu 12. Eben daraus, daß das Wahre ein Begriff ist, der sich sozusagen im Geist befindet, folgt, daß es in höherem Grade formgebend ist als das Gute und in höherem Grade ein Beweggrund in seiner Natur als Gegenstand. Aber in seiner Natur als Ziel ist das Gute ein stärkerer Beweggrund, wie ausgeführt wurde.31 Zu 13. Man sagt, daß die Liebe den Liebenden in den Geliebten verwandelt, insofern der Liebende durch die Liebe zu dem geliebten Gegenstand hin bewegt wird. Die Erkenntnis verähnlicht aber, insofern ein Abbild des Erkannten im Erkennenden entsteht. Ersteres gehört zur Veränderung, die vom Handelnden ausgeht, der ein Ziel verfolgt. Das zweite nun gehört zur Veränderung, die gemäß der Form geschieht. Zu 14. Zustimmung bezeichnet nicht die Bewegung des Verstandes zur Sache, sondern mehr zum Begreifen der Sache, das im Geiste stattfindet. Diesem stimmt der Intellekt zu, wenn er es als wahr beurteilt. Zu 15. Nicht jede Ursache bringt mit Notwendigkeit eine Wirkung hervor, auch wenn sie ein zureichender Grund ist, aus dem Grund, weil die Ursache gehindert werden kann, so daß einmal ihre Ursache nicht eintritt. Das ist etwa bei den natürlichen Ursachen der Fall, die ihre Wirkungen nicht mit Notwendigkeit hervorbringen, sondern nur in den meisten Fällen, da sie in den selteneren Fällen 31 Vgl. De malo q. 6 a. 1 c.
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gehindert werden. So ist es daher nicht notwendig, daß jene Ursache, die den Willen etwas wollen läßt, dies aus Notwendigkeit tut. Denn durch den Willen kann selbst ein Hindernis gesetzt werden. Entweder indem er die derartige Überlegung, die ihn zum Wollen antreibt, beiseite schafft oder durch die Erwägung des Gegenteils. Denn das, was als gut vorgestellt wird, ist nämlich in irgendeiner Hinsicht nicht gut. Zu 16. Aristoteles zeigt im 8. Buch der Metaphysik durch jenes Beweismittel nicht, daß ein Vermögen, das sich auf Gegensätzliches bezieht, kein tätiges Vermögen ist, sondern daß ein tätiges Vermögen, das sich auf Gegensätzliches bezieht, nicht aus Notwendigkeit seine Wirkung hervorbringt.32 Würde das nämlich behauptet, würde offensichtlich daraus folgen, daß Gegensätzliches zugleich bestünde. Wenn aber zugegeben würde, daß irgendein tätiges Vermögen sich auf Entgegengesetztes bezieht, folgt nicht, daß die Entgegengesetzten gleichzeitig bestehen. Denn auch wenn jedes der Entgegengesetzten, auf die sich das Vermögen bezieht, möglich ist, ist das eine mit dem anderen dennoch unvereinbar. Zu 17. Der Wille, wenn er von neuem zu wählen anhebt, wird von seiner vorigen Verfassung verändert, insofern er vorher der Möglichkeit nach wählend war und später in Wirklichkeit wählend ist. Diese Veränderung geht zwar von einem Bewegenden aus, insofern der bloße Wille selbst sich selbst zum Handeln bewegt und insofern er auch von einem äußeren Tätigen bewegt wird, nämlich von Gott. Dennoch wird er nicht mit Notwendigkeit bewegt, wie ausgeführt worden ist.33 Zu 18. Der Anfang der menschlichen Erkenntnis liegt im Sinnlichen. Dennoch ist es nicht notwendig, daß alles, was auch immer vom Menschen erkannt wird, den Sinnen unterworfen ist oder durch eine sinnliche Wirkung unmittelbar erkannt wird. Denn auch der Verstand selbst erkennt sich selbst durch seine Tätigkeit, die keinem Sinn unterworfen ist. Auf ähnliche Weise erkennt er aber auch die innere Willenshandlung, insofern durch die Tätigkeit der Vernunft der Wille auf irgendeine Weise bewegt wird und auf eine 32 Richtig: Aristoteles, Met. IX, 4; 1048 a 5–10. 33 Vgl. De malo q. 6 a. 1 c und ad. 15.
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andere Weise die Verstandestätigkeit durch den Willen verursacht wird, wie ausgeführt worden ist – wie auch die Wirkung durch die Ursache erkannt wird und die Ursache durch die Wirkung.34 Selbst wenn zugestanden wird, daß das Vermögen des Willens, das sich auf Gegensätzliches bezieht, nur durch eine sinnlich wahrnehmbare Wirkung erkannt werden kann, ist das Argument immer noch nicht gültig. Wie nämlich das Allgemeine, das überall und immer ist, von uns durch Einzelne erkannt wird, die hier und jetzt sind, und die erste Materie, die in Möglichkeit zu verschiedenen Formen steht, von uns durch die Aufeinanderfolge der Formen erkannt wird, die sich jedoch nicht gleichzeitig in der Materie befinden, so wird auch das Vermögen des Willens, das sich zu Entgegengesetztem verhält, von uns zwar nicht dadurch erkannt, daß die entgegengesetzten Handlungen gleichzeitig sind, sondern weil sie sich aufeinanderfolgend abwechselnd aus demselben Ursprung heraus nachfolgen. Zu 19. Dieser Satz: »Wie Tätigkeit sich zu Tätigkeit verhält, so verhält sich Vermögen zu Vermögen« ist in gewisser Weise wahr und in gewisser Weise falsch. Wenn man nämlich unter der Tätigkeit das versteht, was gleichmäßig dem Vermögen als seinem allgemeinen Gegenstand entspricht, so ist die Behauptung wahr. Auf diese Weise verhält sich nämlich das Gehör zum Gesicht wie der Ton zur Farbe. Wenn man aber dasjenige, was der allgemeine Gegenstand umfaßt, als eine einzelne Tätigkeit versteht, so ist die Aussage nicht wahr. Es ist nämlich das Sehvermögen eines, während dennoch das Weiße und das Schwarze nicht dasselbe sind. Zu 20. Dasselbe bewegt sich in Bezug auf dasselbe nicht selbst. Aber in Bezug auf ein anderes kann es sich selbst bewegen. So nämlich bringt sich der Verstand, insofern er die Gründe wirklich erkennt, hinsichtlich der Schlußfolgerungen vom Zustand der Möglichkeit in die Wirklichkeit; und der Wille, insofern er ein Ziel will, bringt sich hinsichtlich der Mittel zum Ziel in die Wirklichkeit. Zu 21. Die Willensbewegungen, da sie vielfältig sind, werden auf einen einfachen Ursprung zurückgeführt. Das ist jedoch kein Himmelskörper, sondern Gott, wie ausgeführt wurde, wenn unter Ur-
34 Vgl. De malo q. 6 a. 1 c.
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sprung das verstanden wird, was den Willen unmittelbar bewegt.35 Wenn wir aber von der Bewegung des Willens sprechen, insofern er bei Gelegenheit von einem äußeren Wahrnehmbaren bewegt wird, so wird die Willensbewegung auf einen Himmelskörper zurückgeführt. Trotzdem wird der Wille nicht aus Notwendigkeit bewegt. Denn es ist nicht notwendig, daß der Wille in Gegenwart von ihm angenehmen Dingen diese erstrebt. Dennoch ist es nicht wahr, daß die Wirkungen, die unmittelbar von den Himmelskörpern verursacht werden, mit Notwendigkeit aus diesen hervorgehen. Wenn nämlich jede Wirkung aus einer Ursache hervorgehen würde und jede Ursache mit Notwendigkeit ihre Wirkung erzeugen würde, hätte dies zur Folge, daß alles notwendig wäre, wie Aristoteles im 6. Buch der Metaphysik erklärt.36 Aber beides ist falsch. Denn einige Ursachen, auch wenn sie zureichende sind, bringen ihre Wirkungen nicht mit Notwendigkeit hervor. Denn sie können gehindert werden, wie sich bei allen natürlichen Ursachen zeigt. Es ist abermals nicht wahr, daß alles Werdende eine natürliche Ursache hat. Denn die Dinge, die nebenbei werden, werden nicht durch eine tätige natürliche Ursache. Denn das, was nebenbei ist, ist ja kein Seiendes und eines. So wird daher das Dazwischentreten des Hindernden, da es nebenbei geschieht, nicht auf einen Himmelskörper als auf eine Ursache zurückgeführt werden. Denn der Himmelskörper ist in der Weise eines naturhaft Tätigen tätig. Zu 22. Der, der tut, was er nicht will, besitzt keine Handlungsfreiheit, aber er kann Willensfreiheit besitzen. Zu 23. Der sündigende Mensch büßt die Willensfreiheit ein, was seine Freiheit von Schuld und Elend, nicht aber was seine Freiheit von Zwang betrifft. Zu 24. Eine Gewohnheit bewirkt nicht schlechthin Notwendigkeit, sondern vor allem bei unvermuteten Fällen. Denn aus Überlegung kann ein noch so sehr Gewohnter gegen seine Gewohnheit handeln.
35 Vgl. De malo q. 6 a. 1 c. 36 Aristoteles, Met. VI, 3; 1027 a 29 ff.
VII. ÜBER DIE LÄSSLICHE SÜNDE
Die hier behandelten Fragen lauten: 1. Wird die läßliche Sünde zu Recht der Todsünde entgegengesetzt? 2. Verringert die läßliche Sünde die Gottesliebe? 3. Kann aus einer läßlichen Sünde eine Todsünde werden? 4. Macht ein Umstand aus einer läßlichen Sünde eine Todsünde? 5. Kann sich in der höheren Vernunft eine läßliche Sünde finden? 6. Kann es in der Sinnlichkeit eine läßliche Sünde geben? 7. Konnte der Mensch im Zustand der Unschuld eine läßliche Sünde begehen? 8. Sind die ersten Bewegungen in den Ungläubigen läßliche Sünden? 9. Kann ein guter oder ein schlechter Engel eine läßliche Sünde begehen? 10. Wird die läßliche Sünde ohne Gottesliebe mit einer ewigen Strafe bestraft? 11. Wird irgendeine läßliche Sünde nach diesem Leben im Fegefeuer vergeben? 12. Werden die läßlichen Sünden in diesem Leben durch die Besprengung mit Weihwasser, die Salbung des Körpers und andere derartige Dinge vergeben?
1. Artik el Die erste Frage lautet: Wird die läßliche Sünde zu Recht der Todsünde entgegengesetzt? 1 Das scheint nicht der Fall zu sein, denn: 1. Wie Augustinus im 12. Buch der Schrift Gegen Faustus sagt: 1 Paralleltexte: Sent. II, d. 42 q. 1 a. 3 und 4. Sum. theol. I–II, q. 72 a. 5; q. 88 a. 1.
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»Die Sünde ist ein Wort, eine Tat oder ein Begehren wider das ewige Gesetz.«2 Aber jede Sünde, die dem ewigen Gesetz widerspricht, ist eine Todsünde. Also wird die Sünde nicht angemessen in tödlich und läßlich unterteilt. 2. Die Sünde verdient ihrer Natur nach Strafe. Aber die Vergebung ist der Strafe entgegengesetzt, die diese aufhebt. Also widerspricht es der Natur der Sünde, läßlich, das heißt verzeihlich zu sein. Aber kein Unterschied, der eine Gattung unterteilt, widerspricht dieser. Also kann die Sünde nicht angemessen in tödlich und läßlich unterteilt werden. 3. Wer auch immer sich etwas ungeordnet zuwendet, wendet sich einem veränderlichen Gut zu. Wer sich aber einem veränderlichen Gut zuwendet, wendet sich vom unveränderlichen Gut ab. Denn in jeder beliebigen Bewegung weicht, wer an ein Ziel herangeht, von einem anderen ab. Jeder, der sündigt, wendet sich also vom unveränderlichen Gut ab. Darin aber besteht die Todsünde. Wer daher auch immer sündigt, begeht eine Todsünde. Das heißt also, daß von den Sünden nicht eine tödlich und die andere läßlich ist. 4. Jede Sünde besteht in der ungeordneten Liebe eines Geschöpfs. Aber jeder Liebende liebt entweder, indem er das Geliebte gebraucht oder indem er es genießt. Wer aber ein Geschöpf liebt, indem er es als Mittel gebraucht, sündigt nicht. Denn er bezieht es auf das Ziel der Glückseligkeit, was eigentlich gebrauchen heißt, wie Augustinus im 1. Buch von Über die christliche Lehre sagt.3 Wenn er aber ein Geschöpf liebt, indem er es genießt, begeht er eine Todsünde, denn er setzt das letzte Ziel in ein Geschöpf. Wenn er ein Geschöpf liebt, begeht er also entweder keine Sünde oder er begeht eine Todsünde. Somit folgt dasselbe wie vorher. 5. Von den Dingen, die durch Entgegensetzung unterschieden werden, geht eines nicht ins andere über. Denn die Weiße wird niemals die Schwärze noch umgekehrt. Aber läßlich wird zu tödlich: Denn über »die Glückseligen von ihnen«4 sagt eine bestimmte Glosse: »Nichts ist so sehr läßlich, daß es nicht tödlich werden kann, 2 Augustinus, Contra Faustum XXII, 27 (CSEL 25/1, 621). 3 Augustinus, De doct. Christ. I, 3 (CCSL 32, 8). 4 Vgl. Ps. 31, 1.
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wenn es Zustimmung findet.«5 Also darf die läßliche Sünde nicht der Todsünde entgegengesetzt werden. 6. Wenn etwas keine Zustimmung findet, ist es keine Sünde, da es nicht freiwillig ist. Wenn es aber Zustimmung findet, ist es eine Todsünde, wie durch die angeführte Glosse offensichtlich ist.6 Also ist es entweder keine Sünde oder es ist Todsünde. 7. Was eine Veranlagung zu etwas hervorbringt, wird nicht gegen jenes unterschieden. Denn bei Gegensätzen bringt nicht einer die Veranlagung zum anderen hervor. Aber die läßliche Sünde veranlagt zur Todsünde. Also darf die läßliche Sünde der Todsünde nicht entgegengesetzt werden. 8. Anselm sagt in seinem Buch Warum Gott Mensch geworden ist, daß es sich für den Willen des vernünftigen Geschöpfs geziemt, dem göttlichen Willen unterworfen zu sein.7 Wer das aufhebt, hebt die Gott angemessene Ehre auf und entehrt ihn. Gott zu entehren, bedeutet jedoch, eine Todsünde zu begehen. Aber jeder, der sündigt, entehrt Gott auf diese Weise, da er seinen Willen nicht dem göttlichen Willen unterwirft. Jeder, der sündigt, begeht also eine Todsünde. 9. Der Mensch ist durch ein Gebot gehalten, alles, was er tut, auf Gott als das Ziel hin zu ordnen. Denn im 1. Korintherbrief 10, 31 heißt es: »Ob ihr also eßt oder trinkt oder etwas anderes tut: tut alles zur Verherrlichung Gottes.«8 Aber die läßliche Sünde ist nicht auf Gott beziehbar. Jeder, der läßlich sündigt, handelt also gegen ein Gebot und begeht demnach eine Todsünde. 10. Augustinus sagt in seiner Schrift Über 83 verschiedene Fragen: »Das ist das ganze und einzige Übel des Menschen, daß er das gebraucht, was er genießen soll, und das genießt, was er gebrauchen soll«.9 Aber beides davon ist eine Todsünde. Denn jener, der die 5 Unter dem Namen Augustinus bei Gratian, Decretum D. 25 c. 3 § 4 (ed. Friedberg I, 92). 6 Vgl. De malo q. 7 a. 1 arg. 5. 7 Anselm von Canterbury, Cur Deus homo I, 11 (Opera Omnia II, ed. Schmitt, 68). 8 1 Kor. 10, 31; Vulg. ›Sive manducatis sive bibitis …‹. 9 Augustinus, De diversis quaestionibus LXXXVIII; q. XXX (CCSL 44 A, 38).
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Dinge, die er genießen soll, als Mittel gebraucht, setzt das letzte Ziel nicht in Gott, der allein zu genießen ist. Wer aber die Dinge, die als Mittel gebraucht werden sollen, genießt, setzt das letzte Ziel in ein Geschaffenes. Jedes von beiden bringt eine Todsünde hervor. Also ist jedes schuldhafte Übel eine Todsünde. 11. Da die Strafe der Schuld entspricht, scheint die Natur der Schuld dieselbe zu sein, wo dieselbe Strafe vorliegt. Aber für die läßliche Sünde wird dieselbe Strafe wie für die Todsünde verhängt. Denn Augustinus sagt in einer Predigt Über das Fegefeuer, daß es eine läßliche Sünde ist, vor einer höhergestellten Person zu kriechen.10 Dennoch wird ein Kleriker für Kriecherei herabgesetzt, wie in Unterscheidung 67 behauptet wird.11 Also ist die Natur der läßlichen Sünde dieselbe wie die der Todsünde. Also wird die läßliche Sünde nicht angemessen der Todsünde entgegengesetzt. 12. Dagegen wurde eingewandt, daß sich die läßliche Sünde von der Todsünde in ihrem Träger unterscheidet. Denn die läßliche Sünde ist in der sinnlichen Begierde, die Todsünde aber in der Vernunft. – Dagegen spricht: Nach Augustinus in seinem Buch Über die Dreieinigkeit gehört die Zustimmung zu einer Handlung zur höheren Vernunft.12 Aber es gibt Zustimmungen zu einer Handlung, die läßliche Sünden sind – zum Beispiel die Zustimmung zu einem eitlen Wort. Also ist die zugewiesene Unterscheidung nicht stimmig. 13. Die ersten Bewegungen der geistigen Sünden sind läßliche Sünden. Aber sie sind nicht in der Sinnlichkeit, sondern eher in der Vernunft. Also ist die läßliche Sünde nicht nur in der Sinnlichkeit. 14. Dasjenige, was wir mit dem Tier gemeinsam haben, scheint nicht Träger der Sünde zu sein, da es im Tier keine Sünde gibt. Aber die Sinnlichkeit haben wir mit dem Tier gemeinsam. Also kann weder die läßliche Sünde noch die Todsünde in der Sinnlichkeit sein. 15. Notwendigkeit schließt den Charakter der Sünde aus. Denn bei den Handlungen, die aus Notwendigkeit geschehen, gibt es weder Lob noch Tadel. Aber die sinnliche Begierde ist der Notwendig10 Augustinus (zugeschrieben), Sermo 104 (PL 39, 1947). 11 Richtig: Decretum D. 46 c. 3 (ed. Friedberg I, 168). 12 Augustinus, De Trinitate XII, 12 (CCSL 50, 372).
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keit unterworfen. Denn sie ist an ein körperliches Organ gebunden. Also kann in der Sinnlichkeit keine Sünde sein. 16. Anselm sagt, daß nur der Wille bestraft wird.13 Strafe verdient man aber für eine Sünde. Demnach ist allein im Willen Sünde, nicht also in der Sinnlichkeit. 17. Wenn die Todsünde in der höheren Vernunft ist, wird sie entweder vermittelt oder unmittelbar in ihr sein. Aber unmittelbar und durch sich kann die Todsünde nicht in ihr sein. Denn die höhere Vernunft kann nicht irren. Es ist ihr nach Augustinus nämlich eigen, daß sie die ewigen Gründe betrachtet, in denen es keinen Irrtum gibt.14 »Sie irren aber, die schlecht handeln«, wie es in den Sprichwörtern 14, 22 heißt.15 Desgleichen kann sie nicht vermittelt in ihr sein und zwar deshalb, weil sie die niederen Vermögen nicht einschränkt. Denn das liegt nicht in ihrer Macht. Denn durch die Erbsünde hat sie die Fähigkeit verloren, die niederen Vermögen einzuschränken, wie Augustinus sagt.16 Also kann die Todsünde nicht in der höheren Vernunft sein. 18. Außerdem wurde dagegen eingewandt, daß die läßliche Sünde und die Todsünde sich darin unterscheiden, daß eine Person, die eine Todsünde begeht, ein Geschaffenes mehr als Gott liebt, der läßliche Sünder das Geschöpf aber weniger als Gott liebt. – Dagegen spricht: Angenommen, daß jemand einen einfachen Diebstahl nicht für eine Todsünde hält, und während er eine solche Meinung hat, einen Diebstahl begeht, den Diebstahl aber unterlassen würde, wenn er wüßte, daß dies wider Gottes Gesetz ist. Es steht fest, daß jener eine Todsünde begeht, da die Unkenntnis des Gesetzes ihn nicht entschuldigt. Dennoch liebt er Gott mehr als den Diebstahl. Denn dasjenige wird mehr geliebt, wegen dem etwas anderes unterlassen wird. Also liebt nicht jeder, der eine Todsünde begeht, ein Geschaffenes mehr als Gott. 19. Mehr und weniger unterscheiden sich nicht der Art nach. Aber tödlich und läßlich unterscheiden sich der Art nach. Also unter13 Anselm von Canterbury, De conceptu virg. 4 (Opera Omnia II, ed. Schmitt, 145). 14 Vgl. z. B.: Augustinus, De Trinitate XII, 7 (CCSL 50, 367). 15 Spr. 14, 22. 16 Vgl. z. B. Augustinus, De pecc. mer. et rem. II, 22 (CSEL 60, 107).
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scheiden sie sich nicht darin, daß in ihnen ein Geschöpf mehr oder weniger als Gott geliebt wird. 20. Überall, wo sich das Mehr und das Weniger findet, wird auch das Gleiche gefunden. Denn wenn das, was überschüssig ist, vom Größeren entfernt wird, bleibt das Gleiche übrig. Aber man kann ein Geschöpf mehr und auch weniger als Gott lieben. Demnach kann man ein Geschöpf auch genauso wie Gott lieben. Also wird es zwischen der läßlichen Sünde und der Todsünde eine mittlere Sünde geben. Somit wird die Unterteilung nicht ausreichend sein. 21. Wiederum wurde behauptet, daß die Todsünde und die läßliche Sünde sich in bezug auf die Wirkung darin unterscheiden, daß die Todsünde die Gnade raubt, die läßliche Sünde aber nicht. – Dagegen spricht: Gnade kann es nicht ohne Tugend geben. Aber die läßliche Sünde hebt nach Augustinus in seiner Schrift Über die Sitten der katholischen Kirche die Tugend auf, die in der wohlgeordneten Liebe besteht.17 Die läßliche Sünde hebt hingegen die geordnete Liebe auf, ansonsten wäre sie keine Sünde. Also hebt auch die läßliche Sünde die Gnade auf. 22. Zur Gnade gehört es, den Menschen auf Gott als sein Ziel hin zu ordnen. Aber die läßliche Sünde zerstört die Ordnung auf Gott als auf ein Ziel. Also zerstört die läßliche Sünde die Gnade. 23. Wer auch immer Gott beleidigt, der besitzt nicht dessen Gnade. Aber man beleidigt Gott durch die läßliche Sünde, da man dafür von Gott bestraft wird. Daher zerstört die läßliche Sünde die Gnade. 24. Wiederum wurde eingewandt, daß die läßliche Sünde sich von der Todsünde hinsichtlich der Schuld unterscheidet. Denn durch eine Todsünde macht man sich der ewigen Strafe schuldig, durch die läßliche Sünde aber einer zeitlichen Strafe. – Dagegen spricht: Augustinus sagt in seinem Kommentar Über das Johannesevangelium, daß die Ungläubigkeit eine Sünde ist, durch deren Beibehaltung alle Sünden beibehalten werden.18 Auf diese Weise ist klar, daß die läßlichen Sünden der Ungläubigen nicht vergeben werden. Aber bei bleibender Schuld wird die Schuld der Strafe nicht 17 Augustinus, De mor. Eccl. I, 15 (PL 32, 1322). 18 Augustinus, In Johannis evangelium tractatus LXXXIX, 1 (CCSL 36,
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aufgehoben. Also werden die läßlichen Sünden der Ungläubigen durch eine ewige Strafe geahndet. Also unterscheidet sich die läßliche Sünde nicht so von der Todsünde, so daß sie ihr entgegengesetzt werden könnte. Dagegen spricht: 1. Im 1. Johannesbrief 1, 8 heißt es: »Wenn wir sagen, daß wir frei von Sünde sind, führen wir uns selbst in die Irre.«19 Aber darunter kann man nicht die Todsünde verstehen, wie Augustinus sagt.20 Denn die Heiligen sind frei von der Todsünde. Also gibt es eine läßliche Sünde, die von der Todsünde unterschieden werden kann. 2. Augustinus sagt in seiner 7. Predigt Über das Johannesevangelium, daß ein Verbrechen etwas ist, für das man Verdammung verdient.21 Aber für eine läßliche Sünde verdient man keine Verdammung. Also wird die läßliche Sünde angemessen der Todsünde entgegengesetzt. Antwort: »Das Läßliche« wird wegen »Vergebung« so bezeichnet.22 Etwas wird aber aus drei Gründen wegen der Vergebung eine läßliche Sünde genannt. Erstens nämlich, weil die Sünde bereits Vergebung gefunden hat. In diesem Sinne sagt Ambrosius von Mailand, daß die Todsünde durch die Beichte zur läßlichen Sünde wird.23 Das wird nach Meinung mancher »läßlich auf Grund des Ergebnisses« genannt. Es ist aber klar, daß diese läßliche Sünde nicht der Todsünde entgegengesetzt wird. Zweitens wird eine Sünde deshalb läßlich genannt, weil sie in sich selbst einen Grund für ihre Vergebung enthält, nicht jedoch in der Weise, daß sie nicht bestraft wird, sondern so, daß sie weniger bestraft wird. Auf diese Weise wird das als läß19 1 Joh. 1, 8; Vulg ›… ipsi nos seducimus …‹. 20 Richtig: Petrus Lombardus, Glossa in I Tit. 1, 5 (PL 192, 386 A). 21 Richtig: Augustinus, In Johannis evangelium tractatus XLI, 9 (CCSL
36, 362). 22 Dieser Gedanke kann in der Übersetzung nicht adäquat wiedergegeben werden: »Läßlich« heißt lateinisch »veniale« und »Vergebung« »venia«. 23 Ambrosius von Mailand, De paradiso 14 (CSEL 32/1, 328).
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liche Sünde bezeichnet, was aus Schwäche oder Unwissenheit geschieht, da die Schwäche die Sünde entweder vollständig oder teilweise entschuldigt. Dies wird nach manchen »läßlich auf Grund der Ursache« genannt. Dennoch wird nicht einmal diese läßliche Sünde der Todsünde entgegengesetzt. Denn es kann jemand aus Unwissenheit oder Schwäche eine Todsünde begehen, wie in den vorherigen Untersuchungen ausgeführt worden ist.24 Aus einem dritten Grund wird etwas eine läßliche Sünde genannt, da es an sich selbst betrachtet die Vergebung, das heißt die Beendigung der Strafe, nicht ausschließt. Auf diese Weise wird die läßliche Sünde der Todsünde entgegengesetzt, die an sich selbst betrachtet eine ewige Strafe verdient und so die Vergebung, das heißt die Beendigung der Strafe, ausschließt. Diese Sünde wird nach einigen »der Gattung nach läßlich« genannt. Um aber den Unterschied herauszufinden, der die läßliche Sünde von der Todsünde unterscheidet, müssen wir ins Auge fassen, daß diese sich sicherlich hinsichtlich der Schuld unterscheiden. Denn die Todsünde verdient eine ewige, die läßliche Sünde hingegen eine zeitliche Strafe. Aber dieser Unterschied geht aus der Natur der Todsünde und der läßlichen Sünde hervor, konstituiert ihn jedoch nicht. Denn die Sünde ist nicht deswegen von einer bestimmten Art, da eine Strafe dieser Art für sie verdient wird, sondern eher umgekehrt. Die Sünde ist nämlich von einer solchen Beschaffenheit und deshalb wird eine Strafe von dieser Beschaffenheit für sie verdient. Auf ähnliche Weise unterscheiden sie sich auch hinsichtlich ihrer Wirkung. Denn die Todsünde raubt die Gnade, die läßliche Sünde jedoch nicht. Aber auch das ist nicht der Unterschied, den wir suchen. Denn jener Unterschied geht aus der Natur der Sünde hervor. Deshalb nämlich, weil sie eine derartig beschaffene Sünde ist, ruft sie eine solche Wirkung hervor und nicht umgekehrt. Der Unterschied aber, der sich auf Seiten des Trägers findet, würde eine unterschiedliche Art von Sünde konstituieren, wenn die läßliche Sünde immer in der Sinnlichkeit und die Todsünde immer in der Vernunft wäre. Denn auf diese Weise wird nach Aristoteles in der Nikomachischen Ethik die Verstandestugend von der sittlichen Tu24 Vgl. De malo q. 3 a. 8 und 10.
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gend unterschieden, nämlich hinsichtlich ihres Trägers.25 Denn die sittliche Tugend ist in einem vernünftigen Träger durch Teilnahme, das heißt im Streben, die Verstandestugend ist aber im Verstand selbst. Aber das ist nicht wahr, denn die läßliche Sünde kann auch im Verstand selbst sein, wie oben in dem Einwand gezeigt worden ist.26 Daher kann nicht einmal gemäß diesem Unterschied ein unterschiedlicher Begriff dieser zwei Sünden behauptet werden. Ein vierter Unterschied, der die Art des Begehrens betrifft, konstituiert zwar eine unterschiedene Art der Sünde, jedoch nur in bezug auf die Handlung des Willens, die auf der Seite des Handelnden liegt. Aber die läßliche Handlung besteht nicht nur in einer inneren Willenshandlung, sondern auch in einer äußeren Handlung. Es gibt nämlich bestimmte äußere Handlungen, die ihrer Gattung nach läßliche Sünden sind, wie ein eitles Wort auszusprechen, eine scherzhafte Lüge oder etwas Ähnliches. Es gibt auch manche äußere Handlungen, die ihrer Gattung nach Todsünden sind, wie Mord, Ehebruch, Blasphemie und Dinge dieser Art. Die Verschiedenheit, die sich auf seiten der Willenstätigkeit findet, konstituiert jedoch keinen Unterschied in der Gattung der äußeren Handlungen. Denn etwas, das seiner Gattung nach gut ist, kann auf Grund des verkehrten Willens des Handelnden schlecht geraten. Das ist zum Beispiel der Fall, wenn jemand für eitlen Ruhm ein Almosen gibt. Auf ähnliche Weise kann etwas, das seiner Gattung nach läßlich ist, wegen dem Willen des Handelnden tödlich werden. Das ist etwa dann der Fall, wenn jemand in Verachtung Gottes ein eitles Wort spricht. Aber die äußeren Handlungen unterscheiden sich ihrer Gattung nach durch ihren Gegenstand. Daher heißt es im allgemeinen, daß die der Gattung nach gute Handlung die ist, die auf einer angemessenen Materie beruht, und die der Gattung nach schlechte Handlung eine ist, die auf einer unangemessenen Materie beruht. Das seiner Gattung nach läßliche Übel muß also deshalb so bezeichnet werden, weil es auf einer nicht angemessenen Materie beruht. In der gleichen Weise verhält es sich bei dem der Gattung nach tödlichen Übel.
25 Aristoteles, Eth. Nic. I, 20; 1103 a 1–5. 26 Vgl. De malo q. 7 a. 1 arg. 13.
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Um Klarheit über diesen Punkt zu gewinnen, muß man ins Auge fassen, daß die Sünde in einer Art Unordnung der Seele besteht, wie die Krankheit in einer Art Unordnung des Körpers. Daher ist die Sünde sozusagen eine Art Krankheit der Seele und die Verzeihung ist das für die Sünde, was die Heilung für die Krankheit ist. Wie es daher einige heilbare Krankheiten und einige unheilbare Krankheiten gibt, die tödlich genannt werden, so gibt es auch einige sozusagen heilbare Sünden, die läßlich genannt werden, und einige Sünden, die an sich selbst betrachtet unheilbar sind, obwohl sie von Gott geheilt werden können. Diese werden tödlich genannt. Es wird aber die Krankheit unheilbar und tödlich genannt, durch die die Grundlage des Lebens zerstört wird. Denn wenn dieses zerstört wird, dann bleibt nichts zurück, durch das es wiederhergestellt werden kann. Daher kann eine derartige Krankheit nicht geheilt werden, sondern führt zum Tod. Es gibt aber auch eine Krankheit, die keine der Grundlagen des Lebens zerstört, sondern etwas, das aus den Grundlagen des Lebens hervorgeht, das durch die Grundlagen des Lebens wiederhergestellt werden kann. Das ist etwa bei dem Dreitagefieber27 der Fall, das in dem Überschuß der Galle besteht. Dieser kann die Kraft der Natur überwältigen. Das Grundprinzip in den Handlungen ist jedoch nach Aristoteles im 6. Buch der Nikomachischen Ethik das Ziel.28 Daher ist das Grundprinzip des geistigen Lebens, das in der Rechtbeschaffenheit der Handlung besteht, das Ziel der menschlichen Handlungen. Dies ist die Liebe zu Gott und zum Nächsten: »Der Zweck des Gebotes ist die Liebe«, wie es im 1. Brief an Timotheus 1, 5 heißt.29 Denn durch die Liebe wird die Seele mit Gott vereinigt, der das Leben der Seele ist, so wie die Seele das Leben des Körpers ist. Daher ist die Sünde tödlich, wenn die Gottesliebe unmöglich gemacht wird. Denn dort bleibt keine Grundlage des Lebens zurück, durch die jener Verlust wiederhergestellt werden kann. Er kann aber nur durch den Heiligen Geist wiederhergestellt werden. Denn wie es im Römerbrief 4 heißt: »Die Liebe Gottes ist in unsere Herzen eingeflößt worden, durch 27 Malaria tertiana: Gutartige Verlaufsform der Malaria. 28 Aristoteles, Eth. Nic. VI, 5; 1140 b 16–17. 29 1 Tim. 1, 5.
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den Heiligen Geist, der uns geschenkt worden ist.«30 Wenn es sich aber um einen derartigen Mangel der Rechtbeschaffenheit handelt, der die Gottesliebe nicht unmöglich macht, wird die Sünde läßlich sein. Denn durch die zurückbleibende Liebe können wie durch das Grundprinzip des Lebens alle Mängel wiederhergestellt werden. »Denn die Liebe deckt alle Sünden zu«31, wie es im Buch der Sprichwörter 10, 12 heißt. Es kann aber auf zweifache Weise geschehen, daß irgendeine Sünde die Liebe unmöglich macht oder nicht unmöglich macht. Einerseits auf seiten des Sünders, andererseits wegen der Gattung selbst der Tat. Auf seiten des Sünders aber auf zwei Weisen: einerseits weil die Handlung der Sünde von einer solchen Art von Vermögen ist, zu der es nicht gehört, auf das Ziel hinzuordnen. Daher gehört es auch nicht zu ihr, vom Ziel abzuweichen. Daher kann die Bewegung der Sinnlichkeit keine Todsünde sein, sondern nur eine läßliche Sünde. Denn etwas auf ein Ziel hinzuordnen, kommt nur der Vernunft zu. Auf andere Weise deshalb, weil das Vermögen, das auf das Ziel hinordnen und vom Ziel abwenden kann, eine Handlung, die auch von sich selbst her dem Ziel nicht entgegengesetzt ist, auf ein entgegengesetztes Ziel hinordnen kann. Wenn jemand zum Beispiel ein eitles Wort spricht in Verachtung Gottes, was der Gottesliebe widerspricht, so wird das eine Todsünde sein. Aber nicht auf Grund der Gattung der Handlung, sondern auf Grund des verkehrten Willens des Handelnden. Auf eine andere Weise kann eine Sünde der Gottesliebe auf Grund der bloßen Gattung der Handlung entgegengesetzt sein oder nicht entgegengesetzt sein, das heißt auf Grund des Gegenstandes oder der Materie, die der Gottesliebe entgegengesetzt ist oder nicht entgegengesetzt ist. So ist nämlich auch eine Speise wegen ihr selbst dem Leben entgegengesetzt, zum Beispiel giftiges Essen. Eine andere Speise ist dem Leben hingegen nicht entgegengesetzt, obwohl sie ein Hindernis für eine dem Leben eigentümliche Bedingung darstellt. Das ist zum Beispiel der Fall bei einer Speise, die grobkörnig und nicht 30 Richtig: Röm. 5, 5. 31 Spr. 10, 12.
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leicht verdaulich ist. Es ist auch dann der Fall, wenn sie nicht gut verdaulich ist, weil sie nicht dem gesollten Maß entsprechend zu sich genommen wird. So findet sich auch in den menschlichen Handlungen etwas, das von sich selbst her der Liebe zu Gott und dem Nächsten entgegengesetzt ist. Gemeint sind die Handlungen, durch die die Unterwerfung des Menschen unter Gott und seine Achtung vor ihm zerstört werden, wie zum Beispiel Blasphemie, Idiolatrie und andere derartige Dinge. Gemeint sind auch jene Handlungen, die das Zusammenleben der menschlichen Gesellschaft aufheben, wie Diebstahl, Mord und andere derartige Handlungen. Die Menschen könnten nämlich nicht zusammenleben, wo jene Handlungen überall und ohne Unterschied vollzogen werden würden. Diese Sünden sind ihrer Gattung nach Todsünden, ganz gleich mit welcher Absicht oder welchem Willen sie begangen werden. Es gibt aber einige Sünden, die nicht geradewegs die vorhin besagten Dinge ausschließen, obwohl sie eine bestimmte Unordnung einschließen. Das ist zum Beispiel dann der Fall, wenn ein Mensch bezüglich etwas lügen sollte, das kein Gegenstand des Glaubens ist und nicht um seinen Nächsten zu schaden, sondern um zu erfreuen oder sogar zu helfen, oder wenn jemand beim Essen oder Trinken das rechte Maß überschreitet oder andere derartige Dinge. Daher sind diese Sünden ihrer Gattung nach läßliche Sünden. Zu 1. Es gibt zwei Arten von Unterscheidung. Eine, in der eine univoke Gattung in ihre Arten unterteilt wird, die gleicherweise an der Gattung teilhaben, wie das Lebewesen in Ochse und Pferd. Die andere ist die Unterscheidung von dem, was einer Analogie nach gemeinsam ist, in die Dinge, von denen der gemeinsame Begriff gemäß des Früheren und Späteren ausgesagt wird. So wird zum Beispiel das Seiende unterteilt in Substanz und Akzidenz und in Möglichkeit und Wirklichkeit. Bei derartigen Dingen ist der gemeinsame Begriff in einen allein vollständig aufgehoben, in den anderen aber in einer gewissen Hinsicht und später. Von dieser Art ist die Unterteilung der Sünde in läßlich und tödlich. Daher entspricht die besagte Bestimmung der Sünde zwar vollständig der Todsünde, unvollkommen und in gewisser Hinsicht aber der läßlichen Sünde. Daher heißt es zutreffend, daß die läßliche Sünde dem Gesetz nicht
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widerspricht, sondern außer ihm steht. Denn sie weicht in etwas von der Ordnung des Gesetzes ab, zerstört sie jedoch nicht. , die die Erfüllung des Gesetzes ist, wie es im Römerbrief 12 heißt.32 Zu 2. Läßlich ist ein Unterschied, der den Begriff der Sünde vermindert. Ein derartiger Unterschied findet sich in all den Dingen, die auf unvollkommene und eingeschränkte Weise an etwas Gemeinsamen teilhaben. Zu 3. Das Ziel hat die Natur einer Bestimmung, nicht aber das Mittel zum Ziel. In der läßlichen Sünde wendet man sich aber nicht einem veränderlichen Gut als seinem Ziel zu. Daher wird sie nicht zu einem veränderlichen Gut als einer von Gott verschiedenen Bestimmung zugewandt, so daß sie deswegen notwendig von Gott abgewendet würde. Zu 4. Jener, der läßlich sündigt, genießt das Geschöpf nicht, sondern benutzt es. Er bezieht es nämlich habituell auf Gott, wenn auch nicht aktuell wirklich. Er handelt darin auch nicht gegen die Vorschrift, da er nicht immer gehalten ist, es aktuell wirklich auf Gott zu beziehen. Zu 5. Die läßliche Sünde wird als bloß läßlich niemals zur Todsünde, wie die Weiße niemals zur Schwärze wird. Aber eine Handlung, die ihrer Gattung nach läßlich ist, kann wegen dem Willen einer Person, die ein Geschöpf als ihr Ziel konstituiert, zur Todsünde werden. Denn auch das, was seiner Natur nach kalt ist, kann warm werden, wie zum Beispiel das Wasser. Zu 6. Eine läßliche Sünde kann tödlich werden, wenn sie gewollt ist: nicht auf jede Weise, sondern als ein Ziel. Zu 7. Manchmal wird etwas einem anderen entgegengesetzt, weil beide sich ihrem Wesen nach entgegengesetzt sind, wie weiß und schwarz oder warm und kalt. Von diesen veranlagt nicht eins zum anderen. Manchmal werden jedoch Dinge in Beziehung zueinander unterschieden, weil sie nach dem Begriff des Vollkommenen und Unvollkommenen entgegengesetzt sind, von denen eins auf das andere wie das Akzidenz zur Substanz und die Möglichkeit zur Wirklichkeit hingeordnet ist. Auf diese Weise wird auch die 32 Richtig: Röm. 13, 10.
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läßliche Sünde von der Todsünde unterschieden und veranlagt zu ebendieser. Zu 8. Der Wille des vernünftigen Geschöpfs ist dazu verpflichtet, Gott unterworfen zu sein. Aber dies geschieht durch gebietende und verbietende Vorschriften. Von diesen verpflichten die verbietenden Vorschriften immer und in jedem Zeitpunkt, die gebietenden hingegen verpflichten immer, jedoch nicht in jedem Zeitpunkt. Wenn jemand also läßlich sündigt, dann bringt er gewiß nicht die Gott angemessene Ehre dar, indem er in Wirklichkeit die gebietende Vorschrift einhält. Aber dies bedeutet nicht, tödlich zu sündigen, wie der eine Todsünde begeht, der Gott entehrt, indem er eine verbietende Vorschrift überschreitet oder die gebietende Vorschrift nicht zu der Zeit erfüllt, in der er dazu verpflichtet ist. Zu 9. Da diese Vorschrift des Apostels auffordernd ist, verpflichtet sie nicht dazu, daß sie in jedem Moment wirklich beachtet wird. Sie wird jedoch immer habituell beachtet, solange der Mensch Gott habituell zu seinem Ziel hat. Das ist durch die läßliche Sünde nicht ausgeschlossen. Zu 10. Augustinus spricht dort vom vollendeten Übel der Schuld, das die Todsünde ist. Zu 11. Zu schmeicheln, nur um zu gefallen, das ist der Gattung nach eine läßliche Sünde, da es eine Art Eitelkeit ist. Aber zu schmeicheln, um zu betrügen, ist nach den Worten des Propheten Jesaja 10 eine Todsünde: »Mein Volk, die dich gesegnet nennen, dieselben betrügen dich.«33 Von einer solchen Schmeichelei spricht der Kanon. Daher heißt es dort, daß der Kleriker, der seine Zeit mit Schmeichelei und Verrat verbringt, im Rang herabgesetzt werden soll. Zu 12. Jener Unterschied auf Seiten des Trägers ist nicht konstitutiv für die Todsünde und die läßliche Sünde, sondern er ist begleitend. Daher hindert nichts, daß sich in der höheren Vernunft eine läßliche Sünde findet. Zu 13. Auf das dreizehnte Argument muß auf ähnliche Weise wie auf das zwölfte Argument geantwortet werden. Zu 14. Bei den Tieren hat die Sinnlichkeit nicht auf irgendeine Weise an der Vernunft teil wie bei uns, wie es im 1. Buch der Niko33 Richtig: Jes. 3, 12.
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machischen Ethik heißt.34 Demgemäß kann sie bei uns Träger der Sünde sein. Zu 15. Auch das körperliche Organ selbst gehorcht auf gewisse Weise der Vernunft. Auf Grund dessen kann in seiner Tätigkeit eine Sünde auftreten – ähnlich bei der Sinnlichkeit. Zu 16. Die Sünde ist allein im Willen wie in einem ersten Beweger. In den anderen Kräften ist sie hingegen wie durch den Willen befohlen und bewegt. Zu 17. Die Todsünde kann sowohl geradewegs als auch vermittelt in der höheren Vernunft sein. Auch wenn sie nämlich nicht irrt, inwiefern sie die ewigen Gründe anschaut, kann sie dennoch irren, insofern sie von ihnen abgewandt werden kann. Ähnlich muß man auch sagen, daß aus der Erbsünde nicht gefolgert werden muß, daß die unteren Vermögen auf keine Weise der Vernunft gehorchen. Vielmehr muß gefolgert werden, daß sie ihr nicht vollständig gehorchen wie im Zustand der Unschuld. Zu 18. Jener Unterschied ist stimmig, insofern der Unterschied zwischen der Todsünde und der läßlichen Sünde auf seiten des Wollens aufgefaßt wird. Aber einige Handlungen sind auf Grund ihrer Gattung tödlich. Diese sind immer Todsünden, egal mit welchem Willen sie begangen werden. Von diesen geht das Gegenargument aus. Aber bei diesen ist die Tat selbst ihrer Gattung nach der Liebe Gottes entgegengesetzt. Wenn jemand zum Beispiel einen anderen verletzt, so handelt er durch die bloße Tat wider die Liebe. Zu 19. Wenn das Mehr und das Weniger aus verschiedenen Gründen hervorgehen, konstituieren sie einen Artunterschied, und so verhält es sich bei dem, was in Frage steht. Denn etwas als Ziel zu lieben und etwas als Mittel zum Ziel zu lieben, das hat nicht denselben Grund für die Liebe. Zu 20. Es kann gut passieren, daß jemand, dem die Gottesliebe fehlt, ein Geschöpf mehr als Gott liebt, eines genauso wie Gott und eines weniger als Gott. Aber es kann nicht sein, daß jemand ein Geschöpf auf eine solche Weise genauso wie Gott liebt, daß er keines mehr als Gott liebt. Denn der Mensch muß in einem Ding das letzte Ziel seines Willens haben. 34 Aristoteles, Eth. Nic. I, 20; 1102 b 30–31.
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Zu 21. Dieser Unterschied ist eine Folge und nicht konstitutiv für die Todsünde und die läßliche Sünde. Derjenige, der läßlich sündigt, entbehrt der Ordnung der Liebe in einer Handlung bezüglich der Mittel zum Ziel, nicht aber schlechthin in bezug auf das Ziel selbst. Daher zerstört die Sünde weder die Tugend noch die Gnade. Zu 22. Es ist eine Sache, nicht auf Gott hingeordnet zu sein, was der läßlichen Sünde zukommt, und eine andere Sache, die Ordnung auf Gott auszuschließen. Das kommt der Todsünde zu. Zu 23. Die Person, die läßlich sündigt, bestraft Gott nicht als einen, den er haßt, sondern als Sohn, den er liebt, indem er ihn reinigt und berichtigt. Zu 24. Die läßlichen Sünden derer, die im Unglauben sterben oder in irgendeiner beliebigen Todsünde, werden nicht wegen ihnen allein ewig bestraft, da sie nicht die Gnade rauben, sondern wegen der daran angeknüpften Sünde des Unglaubens, durch die die Gnade geraubt wird. 2. Artik el Die zweite Frage lautet: Verringert die läßliche Sünde die Gottesliebe? 35 Das scheint der Fall zu sein, denn: 1. Augustinus sagt im 10. Buch der Bekenntnisse: »Weniger liebt Dich der, der neben Dir etwas liebt, das er nicht wegen Dir liebt.«36 Aber jener, der läßlich sündigt, liebt etwas neben Gott, das er nicht wegen Gott liebt. Ansonsten würde er keine Sünde begehen, indem er es liebt. Also liebt jener, der läßlich sündigt, Gott weniger. 2. Gegensätze beziehen sich von Natur aus auf dasselbe Ding. Vermehrung und Verringerung sind jedoch Gegensätze. Aber nach jener Stelle des Briefes an die Philipper 1, 9 wächst die Liebe: »Ich bete darum, daß eure Liebe immer reicher wird.«37 Also wird sie auch verringert. Aber sie wird durch die Todsünde nicht verringert, vielmehr vollständig . Also wird sie durch die läßliche Sünde verringert. 35 Paralleltexte: Sent. I, d. 17 q. 2 a. 5. Sum. theol. II–II, q. 24 a. 10. 36 Augustinus, Conf. X, 29 (CCSL 27, 176). 37 Phil. 1, 9.
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3. Dagegen wurde eingewandt, daß die Liebe, was ihre Erwerbung betrifft, durch die läßliche Sünde verringert wird. Denn die läßliche Sünde , daß jemand weniger von der Liebe empfängt. Aber nachdem die Liebe bereits eingegeben worden ist, kann sie nicht durch die läßliche Sünde verringert werden. – Dagegen spricht: Aristoteles sagt im 2. Buch der Nikomachischen Ethik, daß es dieselben Dinge sind, durch die die Tugend erzeugt, verdorben und verringert wird.38 Wenn die läßliche Sünde daher die Ursache dafür ist, daß weniger Liebe durch Eingebung erworben wird, wird sie auch die Ursache dafür sein, daß die Liebe, die man besitzt, verringert wird. 4. Was auch immer den Unterschied verringert, der eine Art konstituiert, verringert dessen Wesen. Aber »schwer zu verändern« ist der Artunterschied, der einen Habitus konstituiert, den die läßliche Sünde verringert. Denn durch die läßliche Sünde wird der Mensch mehr dazu geneigt, der Todsünde zu verfallen, durch die die Liebe verloren wird. Also verringert die läßliche Sünde den Habitus der Liebe. 5. Jede Liebe ist entweder eine der Begierde oder sie ist Liebe zu Gott, wie von Augustinus im 19. Buch von Über die Dreieinigkeit angenommen wird.39 Aber jener, der läßlich sündigt, liebt ein Geschöpf, jedoch nicht mit der Liebe, die Liebe zu Gott ist. Denn »die Liebe zu Gott handelt nicht ungehörig«, wie es im 1. Korintherbrief 13, 4 heißt.40 Also liebt er es mit dem Verlangen der Begierde. Aber die Vergrößerung der Begierde scheint eine Verringerung der Liebe zu Gott zu bedeuten. Denn wie Augustinus im Buch Über 83 verschiedene Fragen sagt: die Verringerung der Begierde ist die eigentliche Nahrung der Liebe zu Gott.41 Also scheint es, daß die läßliche Sünde die Liebe zu Gott verringert. 6. Augustinus sagt im 8. Buch von Über Genesis dem Wortlaut nach, daß die Liebe oder die Gnade sich zur Seele verhalten wie das Aristoteles, Eth. Nic. II, 1; 1103 b 6–8. Augustinus, De trin. IX, 8 (CCSL 50, 304). 1 Kor. 13, 4. Augustinus, De diversis quaestionibus LX X XVIII, q. X X XVI, 1 (CCSL 44 A, 54). 38 39 40 41
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Licht sich zur Luft verhält.42 Aber das Licht in der Luft wird verringert, wenn dem Licht ein Hindernis entgegengesetzt ist, zum Beispiel wenn die Luft durch den Nebel dichter wird. Also werden auch die Liebe oder die Gnade durch die läßliche Sünde, die eine Art Hindernis für die Liebe oder eine Umwölkung des Geistes ist, verringert. 7. All jenes, das schrittweise vergeht, kann verringert werden. Aber die Liebe vergeht schrittweise. Also kann die Liebe verringert werden. Der Untersatz wird auf zwei Arten bewiesen. Erstens nämlich, da alles, was vergeht, dem Verfall unterliegt. Aber die Liebe vergeht. Also unterliegt sie dem Verfall. Etwas von ihr kommt es also zu zu vergehen, und ein Teil von ihr bleibt immer noch bestehen. Auf diese Weise vergeht sie schrittweise. Zweitens auf folgende Weise: wenn sie existiert, wird die Liebe nicht zerstört. Wenn sie überhaupt nicht ist, wird sie auch nicht zerstört, da sie bereits zerstört ist. Also wird sie zerstört, wenn sie zum Teil ist und zum Teil nicht ist. Sie wird also schrittweise zerstört. Also kann sie verringert werden. Aber sie kann nicht durch die Todsünde verringert werden und demnach wird sie durch eine läßliche Sünde verringert. 8. Wie die Ungeordnetheit in der Todsünde schlechthin ist, so ist die Ungeordnetheit in der läßlichen Sünde in einer gewissen Hinsicht. Aber die Ungeordnetheit schlechthin, die die Todsünde ist, hebt die Ordnung der Liebe schlechthin auf. Also hebt die Ungeordnetheit in einer gewissen Hinsicht die Wohlordnung der Liebe in einer gewissen Hinsicht auf. Also verringert sie selbige. 9. Aus vielen Handlungen läßlicher Sünden wird ein Habitus erzeugt. Aber die Handlung der läßlichen Sünde verhindert die Handlung der Liebe. Also verhindert auch der Habitus der läßlichen Sünde den Habitus der Liebe. Also verringert er selbige. 10. Jede Beleidigung verringert die Zuneigung. Aber die läßliche Sünde ist eine Art Beleidigung, da sie den Charakter der Schuld hat. Also verringert die läßliche Sünde die Zuneigung der Liebe zu Gott. 11. Bernhard von Clairvaux sagt in einer bestimmten Predigt Über die Reinigung, nicht auf dem Weg Gottes voranzuschreiten, 42 Augustinus, De Gen. ad lit. VIII, 12 (CSEL 28/1, 250).
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bedeute, ihn zurückzugehen.43 Aber jener, der eine läßliche Sünde begeht, schreitet nicht auf dem Weg Gottes voran. Also geht er ihn zurück. Dem wäre nicht so, wenn nicht die läßliche Sünde die Liebe zu Gott verringern würde. 12. Jede Tugend ist stärker, wenn sie vereinigt ist, als wenn sie auf viele verstreut wird. Daher ist auch die auf eine Person vereinte Liebe stärker als die auf mehrere zerstreute. Aus diesem Grund sagt Aristoteles im 8. Buch der Nikomachischen Ethik, es sei unmöglich, mehrere Personen inniglich zu lieben.44 Aber derjenige, der läßlich sündigt, zerstreut seine Liebe auf andere Dinge als auf Gott. Also wird in ihm die Tugend der Gottesliebe verringert. 13. Im Buch der Sprichwörter 24, 10 heißt es: »Der gerechte Mann fällt siebenmal am Tag und steht wieder auf.«45 Das legt die Glosse als den Fall aus, der durch die läßliche Sünde auftritt.46 Also fällt er vom vollkommenen Grad der Gottesliebe ab. Durch die läßliche Sünde wird also die Gottesliebe vermindert. 14. Durch die Gottesliebe verdient der Mensch die Herrlichkeit des ewigen Lebens. Aber durch die läßliche Sünde wird der Mensch aufgehalten, das ewige Leben zu erlangen. Also wird die Gottesliebe durch die läßliche Sünde vermindert. 15. Die Dinge, die das körperliche Leben oder die Gesundheit erschweren, vermindern selbiges. Aber die läßliche Sünde ist eine Art Hemmnis des geistigen Lebens, das durch die Gottesliebe besteht, wie oben ausgeführt worden ist.47 Also verringert selbige die Gottesliebe. 16. Die Tätigkeit geht aus der Form hervor. Was also die Tätigkeit hemmt, vermindert die Form. Aber die läßliche Sünde hemmt die Tätigkeit der Gottesliebe. Also vermindert sie die Liebe selbst. 17. Inbrunst ist die eigentümliche Eigenschaft der Gottesliebe. Daher heißt es im Römerbrief 12, 11: »Sei inbrünstig im Geiste!«48 43 Bernhard von Clairvaux, In purificatione S. Mariae sermo 2 (ed. Leclercq IV, 340). 44 Aristoteles, Eth. Nic. VIII, 6; 1158 a 10–15. 45 Spr. 24, 16. 46 Glossa Ordin in Prov. 24, 16. 47 Vgl. De malo q. 7 a. 1. 48 Röm. 12, 11.
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Aber die läßliche Sünde vermindert die Inbrunst der Gottesliebe, wie allgemein behauptet wird. Also vermindert sie die Gottesliebe. Dagegen spricht: 1. Was unendlich weit von etwas entfernt ist, vermindert selbiges nicht, noch vergrößert es selbiges, wenn es hinzugefügt oder abgezogen wird. Das ist beim Punkt und der Linie offensichtlich. Aber die läßliche Sünde ist unendlich weit von der Gottesliebe entfernt. Denn die Gottesliebe liebt Gott als unendlich Gutes und die läßliche Sünde liebt das Geschaffene als ein bestimmtes begrenztes Gut. 2. Durch die Verminderung der Gottesliebe wird die Belohnung des ewigen Lebens vermindert, die der Größe der Gottesliebe entspricht. Aber die läßliche Sünde vermindert nicht die Belohnung des ewigen Lebens. Ansonsten wäre ihre Bestrafung ewig, nämlich die ewige Verminderung der Herrlichkeit. Also vermindert die läßliche Sünde nicht die Gottesliebe. 3. Alles Endliche wird durch fortschreitende Verminderung vollständig zerstört. Aber die Gottesliebe ist eine Art endlicher Habitus in der Seele. Wenn also die läßliche Sünde die Gottesliebe vermindert, zerstört sie in ihrer Vervielfältigung selbige vollständig. Antwort: Vergrößerung und Verminderung werden im Hinblick auf die Größe betrachtet. Um Klarheit über diese Frage zu gewinnen, muß deshalb ins Auge gefaßt werden, worin die Größe der Liebe besteht. Da aber die Gottesliebe eine Art von Form und ein Habitus oder eine Tugend ist, muß ihre Größe auf zweifache Weise betrachtet werden. Einerseits nämlich, insofern sie Form ist, andererseits insofern sie eine Form dieser Art ist, das heißt ein Habitus oder eine Tugend. Eine bestimmte Größe der Form wird aber auf Grund eines nebensächlich Hinzukommenden besessen und eine bestimmte Größe auf Grund des Wesens. Auf Grund eines nebensächlich Hinzukommenden jedoch, wie von der Größe der Form gesagt wird, sie sei eine bestimmte Größe auf Grund des Trägers – so wie die Weiße auf Grund der Fläche, an der sie auftritt. Aber jene Größe spielt keine Rolle in der Untersuchung. Denn der Geist, der der Träger der
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Gottesliebe ist, besitzt keine Ausdehnung. Aber die Größe der Form, die auf Grund des Wesens von einer Form besessen wird, wird in zweifacher Weise aufgefaßt. Auf eine Weise auf seiten der Wirkursache. Je stärker nämlich die wirktätige Kraft gewesen ist, eine um so vollkommenere Form führt sie herbei, indem sie vollkommener den Träger von der Möglichkeit in die Wirklichkeit überführt. So erhitzt zum Beispiel große Wärme mehr als geringe Wärme. In anderer Weise auf seiten des Trägers, der nämlich um so vollkommener die Form von der Tätigkeit des Tätigen empfängt, um so besser er dazu veranlagt gewesen ist. So erhitzt zum Beispiel trockenes Holz besser als grünes Holz und die Luft wird – vom selben Feuer – besser erhitzt als das Wasser. Auf eine dritte Weise wird die Größe irgendeiner Form auf seiten des Gegenstandes betrachtet, insofern sie eine Tugend oder ein Habitus ist. Diejenige Tugend wird nämlich groß genannt, die etwas Großes vollbringen kann, und jeder Habitus hat sowohl seine Art als auch seine Größe durch seinen Gegenstand. Wenn wir also die Größe der Gottesliebe auf seiten des Gegenstandes betrachten, so kann er auf keine Weise vermindert oder vergrößert werden. Denn die Dinge, deren Natur in etwas Unteilbarem besteht, werden weder vergrößert noch vermindert. Das ist der Grund dafür, warum jede Art der Zahl weder der Vergrößerung noch der Verminderung entbehrt, da jede durch die Einheit vervollständigt wird. Denn wenn eine Einheit hinzugefügt wird, entsteht dadurch eine neue Art. Der Gegenstand der Gottesliebe hat aber eine unteilbare Natur und besteht in einem Ziel. Der Gegenstand der Gottesliebe ist nämlich Gott, insofern er das höchste Gut und das letzte Ziel ist. Aber auf seiten der tätigen Ursache und auf seiten des Trägers kann die Gottesliebe größer oder kleiner sein. Auf seiten des Wirkenden jedoch nicht wegen dessen größerer oder kleinerer Tugend, sondern wegen der Weisheit oder dem Willen Gottes. In Entsprechung mit dieser teilt Gott verschiedene Maße der Gnade und Gottesliebe den Menschen zu, nach jener Stelle aus Epheser 4, 7: »Jedem einzelnen von uns wurde die Gnade entsprechend dem Maß von Christi Gabe verliehen.«49 Auf seiten des Trägers aber, insofern der Mensch sich 49 Eph. 4, 7.
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mehr oder weniger durch gute Werke zur Gnade oder Liebe veranlagt. Dennoch muß man wissen, daß sich die guten Werke des Menschen auf eine Weise zur Größe der Liebe verhalten, insofern es das Ins-Sein-Treten selbst der Liebe betrifft, und auf andere Weise in Bezug auf die Liebe, die bereits besessen wird. Denn bevor die Liebe besessen wird, beziehen sich die Werke des Menschen auf Selbige und auf ihre Größe nicht in der Weise des Verdienstes, sondern nur in der Weise einer materialen Veranlagung. Aber wenn die Gottesliebe bereits besessen wird, verdient sie es, durch ihre eigenen Werke vergrößert zu werden und wenn sie vergrößert wurde, verdient sie es, vervollkommnet zu werden, wie Augustinus sagt.50 Die läßliche Sünde kann aber nicht die Ursache dafür sein, daß die Gottesliebe, die man besitzt, verringert wird: weder auf seiten der tätigen Ursache, nämlich Gott, noch auf seiten dessen, was die Ursache aufnimmt, nämlich des Menschen. Auf seiten der tätigen Ursache kann nämlich keine Verminderung stattfinden. Denn die läßliche Sünde kann keine Verminderung der Gottesliebe verdienen, wie eine aus Gottesliebe begangene Handlung ihre Vergrößerung verdient. Denn eine Person verdient das, zu dem ihr Wille geneigt ist. Wer aber läßlich sündigt, ist nicht so dem Geschöpf zugeneigt, daß er auf irgendeine Weise von Gott abgewandt ist. Denn er ist nicht zum Geschöpf als zu einem Ziel zugeneigt, sondern als zu einem Mittel zum Ziel. Wer sich aber bezüglich dessen, was ein Mittel zum Ziel ist, auf ungeordnete Weise verhält, dessen Zuneigung bezüglich des Ziels wird deshalb nicht vermindert. Wenn jemand zum Beispiel seine Medizin auf nicht ordnungsgemäße Weise einnimmt, so ist deswegen nicht seine Sehnsucht nach Gesundheit vermindert. Daher ist es offensichtlich, daß die läßliche Sünde nicht die Verminderung der Liebe verdient, die jemand bereits besitzt. Auf ähnliche Weise kann die läßliche Sünde die Gottesliebe nicht auf Seiten des Trägers vermindern. Das ist aus zwei Gründen offensichtlich. Erstens nämlich, weil die läßliche Sünde nicht auf dieselbe Weise in der Seele ist, in der die Gottesliebe in der Seele ist. Denn die Gottesliebe ist in der Seele gemäß ihres höheren Teils, insofern sie auf etwas, das als ihr höchstes Gut und ihr endgültiges Ziel fungiert, 50 Augustinus, Epist. 186, 3 (CSEL 57, 53).
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hin geordnet ist. Die läßliche Sünde impliziert eine gewisse Unordnung, die jedoch nicht die Ordnung auf das endgültige Ziel betrifft. Wenn sie also auch entgegengesetzt wäre, würde sie die Gottesliebe nicht verringern, wie auch die Schwärze im Fuß die Weiße des Kopfes nicht vermindert. Zweitens, da die Form im Träger durch irgendeine Beimischung des Entgegengesetzten vermindert wird, gemäß der Aussage von Aristoteles: »Das ist weißer, dem weniger Schwarzes beigemischt ist.«51 Die läßliche Sünde steht aber in keinem Gegensatz zur Liebe, da sie sich gemäß der Vernunft nicht auf denselben Gegenstand beziehen. Denn die läßliche Sünde ist keine Unordnung bezüglich des letzten Ziels, das Gegenstand der Liebe ist. Daher vermindert die läßliche Sünde in keiner Weise die Gottesliebe, die man bereits besitzt. Dennoch kann die läßliche Sünde eine Ursache dafür darstellen, daß von Anfang an weniger Liebe aufgenommen wird, insofern sie nämlich eine Handlung des freien Willens verhindert, durch die der Mensch zur Aufnahme der Gnade veranlagt wird. Auf diese Weise kann sie sogar verhindern, daß die bereits besessene Liebe anwächst, indem sie nämlich die verdienstvolle Handlung verhindert, durch die eine Person ein Anwachsen der Gottesliebe verdient. Zu 1. Jene Person, die läßlich sündigt, liebt etwas zusammen mit Gott, das sie, wenn auch nicht wirklich, so doch habituell wegen Gott liebt. Zu 2. Die Gottesliebe kann die Ursache ihres Anwachsens verdienstvoll auf seiten des Menschen haben und wirkend auf seiten der göttlichen Güte, zu der immer gehört, zu Gott zu bewegen. Aber sie kann keine Ursache für ihre Verminderung haben – weder verdienstlich auf seiten des Menschen, wie ausgeführt worden ist, und auch nicht wirkend auf seiten Gottes.52 Denn von ihm kommt es nicht, daß der Mensch sich verschlechtert, wie Augustinus in seiner Schrift Über 83 verschiedene Fragen ausführt.53 51 Aristoteles, Top. III, 5; 119 a 27–28. 52 Vgl. De malo q. 7 a. 2 c. 53 Augustinus, De diversis quaestionibus LXXXIII, q. 3 und q. 4 (CCSL
44 A, 12 und 13).
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Zu 3. Dieses Argument wäre schlüssig, wenn die läßliche Sünde die unmittelbare Ursache der kleineren Gottesliebe bei ihrem InsSein-Treten wäre. Aber sie ist nicht die unmittelbare Ursache, sondern sozusagen zufällig, insofern sie nämlich eine freie Willenshandlung vermindert, durch die jemand zur Liebe hingeordnet wird. Aber die Handlung des freien Willens ist zwar bei Erwachsenen für die Einflößung der Gnade oder der Gottesliebe erforderlich. Sie wird aber nicht zur Beibehaltung des schon angenommenen Habitus erfordert. Daher wird die Gottesliebe, die man bereits besitzt, nicht vermindert, wenn die Handlung verhindert wird. Zu 4. Schwer veränderbar zu sein, ist nicht der konstituierende Unterschied für einen Habitus. Veranlagung und Habitus sind auch keine verschiedenen Arten, ansonsten könnte nicht ein und dieselbe Beschaffenheit, die vorher eine Veranlagung gewesen ist, später ein Habitus werden. Aber das leicht Veränderbare und das schwer Veränderbare verhalten sich in bezug auf dieselbe Sache wie Vollkommenes und Unvollkommenes. Zugegeben aber, daß das schwer Bewegliche ein konstitutiver Unterschied wäre, würde dieses Argument immer noch nicht folgen. Der Grund dafür ist, daß ein Habitus auf zwei Weisen leicht verändert werden kann. Auf eine Weise nämlich durch ihn selbst, weil er nämlich kein so vollkommenes Sein im Träger besitzt. Auf diese Weise würde alles, was das verringern würde, was bezüglich des Habitus schwer zu verändern ist, den Habitus selbst vermindern. Auf andere Weise durch ein Hinzukommendes – auf Grund dessen nämlich, was eine Veranlagung zum Entgegengesetzten herbeiführt. Es ist ähnlich, wie wenn wir sagen, daß die Form des Wassers durch die Aufnahme der Wärme weniger schwer veränderbar wird und dennoch steht fest, daß die wesentliche Form nicht vermindert wird. Auf diese Weise vermindert die läßliche Sünde die Veranlagung, in bezug auf die Gottesliebe schwer veränderbar zu sein. Auf diese Weise ist es auch zu verstehen, daß manche sagen, die läßliche Sünde vermindere die Liebe in bezug auf die Verwurzelung im Träger. Nicht jedoch durch sich selbst, sondern durch etwas Hinzukommendes, wie ausgeführt worden ist.54 54 Vgl. De malo q. 7 a. 2 c.
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Zu 5. Von der Verminderung der Begierde heißt es, sie sei Nahrungsmittel oder Bewahrung der Gottesliebe, aber nicht ihre Vergrößerung. Denn die Verringerung der Begierde vermindert nämlich die läßlichen Sünden, die zum Verlust der Gottesliebe veranlagen. Zu 6. Der dicke Dunst wird in demselben Teil der Luft aufgenommen, in dem das Licht aufgenommen wird, und daher vermindert er das Licht. Aber die läßliche Sünde betrifft nicht den höchsten Teil der Seele, sofern es ihre Beziehung auf das höchste Gut betrifft. Daher kann sie die schon in Besitz befindliche Gottesliebe nicht vermindern, obwohl sie ihre Größe im Erwerb derselben behindern kann. Genauso würde die Finsternis der Luft außerhalb des Hauses nicht die Helligkeit vermindern, die auf Grund einer inneren Ursache im Haus ist. Sie würde aber die Stärke der Helligkeit vermindern, die von einem Strahl außerhalb des Hauses herrührt. Die Vollkommenheit des höheren Teils der Seele hängt aber, was ihre Erzeugung betrifft, von der guten Verfassung der unteren Teile ab, nicht jedoch in bezug auf ihre Erhaltung. Der Mensch bezieht sich nämlich der Natur nach durch die niederen und sinnlichen Teile der Seele auf die inneren erkennbaren Gegenstände. Daher kann auch der Ausfall des Gesichtssinnes und des Gehörs an der Erwerbung des Wissens hindern. Er vermindert jedoch nicht das bereits erworbene Wissen. Zu 7. Dies ist nicht allgemeingültig wahr, daß alles, was fortschreitend zerstört wird, vermindert wird. Denn die wesentliche Form wird fortschreitend verloren, wenn die vorangehende Veränderung betrachtet wird. Das entspricht dem, daß Aristoteles im 6. Buch der Physik sagt, daß das, was zerstört wird, zerstört wurde und zerstört werden wird und dennoch die wesentliche Form nicht vermindert wird.55 Auf diese Weise wird die Gottesliebe manchmal fortschreitend verloren, wenn die vorhergehende Veranlagung zum Verlust ins Auge gefaßt wird. Aber wenn der bloße Verlust an sich selbst betrachtet wird, wird sie nicht fortschreitend verloren. Die Behauptung, daß die Gottesliebe, da sie zerstört wird, Träger der Zerstörung ist, ist gänzlich falsch. Denn von der Weiße oder irgendeiner Form heißt es nicht, daß sie zerstört wird, da sie selbst Trä55 Aristoteles, Phys. VI, 8; 237 b 16–20.
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ger der Zerstörung ist. Vielmehr ist der Träger der Weiße der Träger der Zerstörung, insofern er aufhört, weiß zu sein. Auf ähnliche Weise muß man folgendes feststellen: Wenn die bloße Zerstörung der Form an sich selbst aufgefaßt wird, wie sie sich am Ende der Bewegung findet, sind »zerstört werden« und der erste Augenblick vom »Zerstörtsein« identisch, wie es dasselbe ist, erleuchtet zu werden und erleuchtet zu sein. Aber in dem Moment, in dem etwas zerstört worden ist, ist es nicht mehr, wie es im 8. Buch der Physik heißt.56 Wenn daher die Gottesliebe zerstört wird, dann existiert sie nicht. Zu 8. Die Unordnung im schlechthinnigen Sinne zerstört die Ordnung der Gottesliebe im schlechthinnigen Sinn. Denn sie berührt die Seele gemäß des höheren Teils. Die Unordnung in gewisser Hinsicht zerstört einen Aspekt der Ordnung der Liebe in einer Handlung, insofern die Ordnung der Liebe vom höheren Teil der Seele auf die niedrigeren übertragen wird. Aber von der Gottesliebe selbst, wie sie im höchsten Teil der Seele ist, wird nichts vermindert, wie die Schwärze, die im Fuß ist, nichts von der Weiße, die im Kopf ist, vermindert. Zu 9. Aus vielen läßlichen Sünden kann ein Habitus hervorgehen, aber durch diesen Habitus wird die Gottesliebe weder zerstört noch vermindert. Denn sie ist weder im selben Träger, noch betrifft sie dieselbe Materie. Zu 10. Da die läßliche Sünde keine Abwendung einschließt, hat sie im eigentlichen Sinne gesprochen nicht die Natur einer Beleidigung. Zu 11. Jemand schreitet nicht nur dann auf dem Weg Gottes voran, wenn die Liebe wirklich vergrößert wird, sondern wenn er zum Wachsen der Liebe veranlagt wird. Auf gleiche Weise wächst ein Kind während der gesamten Zeit des Wachstums nicht nur wirklich, sondern manchmal wächst es wirklich, manchmal wird es zum Wachsen veranlagt. Auf ähnliche Weise macht jemand nicht nur durch die Verminderung der Gottesliebe wirklich Rückschritte auf dem Weg Gottes, sondern auch dadurch, daß er davon abgehalten wird, voranzuschreiten, also dadurch, daß er zum Abfallen veranlagt wird. Beides wird durch die läßliche Sünde verursacht. 56 Richtig: Aristoteles, Phys. VI, 7; 235 b 28–29.
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Zu 12. Die Liebe, die gemäß derselben Natur auf viele zerstreut wird, wird vermindert. Aber die Ausgießung der Liebe gemäß einer Natur vermindert nicht die Liebe, die gemäß einer anderen Natur ist. Wenn jemand zum Beispiel viele Freunde besitzt, liebt er deshalb seinen Sohn oder sein Eheweib nicht weniger. Aber wenn er viele Frauen haben würde, würde die Liebe vermindert werden, die sich auf eine Frau bezieht. Auch wenn er viele Söhne haben würde, würde die Liebe vermindert werden, die sich auf einen Alleingeborenen bezieht. Aber durch die läßliche Sünde wird die Liebe eines Menschen nicht auf die Geschöpfe gemäß der Natur eines Ziels zerstreut, insofern Gott geliebt wird. Daher wird die Liebe zu Gott nicht im Habitus, sondern vielleicht in der Wirklichkeit vermindert. Zu 13. Durch die läßliche Sünde fällt eine Person zwar nicht von der Liebe selbst oder vom vollkommenen Grade der Liebe ab, aber von der Liebe in einer Handlung. Zu 14. Die läßliche Sünde vermindert nichts von der Herrlichkeit, sondern hält nur vom Erlangen der Herrlichkeit zurück. Auf ähnliche Weise vermindert sie nichts von der Liebe, sondern hindert nur an ihrer Wirklichkeit und ihrer Vergrößerung. Zu 15. Manche Dinge verhindern die Vollkommenheit oder die Wirklichkeit der Gesundheit, die dennoch nicht die Gesundheit vermindern. Das ist bei schwer verdaulichen Speisen der Fall, insofern sie die leichte Verdauung verhindern. Zu 16. Die Tätigkeit kann auf zweifache Weise vermindert werden. In einer Weise, sofern es die leichte Ausführung der Tätigkeit betrifft, so daß nämlich ein Mensch nicht so viel tun kann. Auf diese Weise vermindert das, was die Tätigkeit vermindert, das Prinzip der Tätigkeit, das die Form ist. Auf andere Weise, sofern es die Ausführung der Tätigkeit betrifft. Auf diese Weise ist es nicht notwendig, daß das, was die Tätigkeit vermindert, die Form vermindert. Denn der Pfeiler, der den Stein davon abhält, nach unten zu fallen, vermindert nicht die Schwere des Steins. So vermindert auch der, der den Menschen fesselt, nicht seine Fähigkeit zu gehen. Auf diese Weise vermindert die läßliche Sünde die Tätigkeit der Liebe, nicht aber auf die erste Weise. Zu 17. Die Inbrunst kann auf zweifache Weise aufgefaßt werden. Auf eine Weise, insofern sie die Stärke der Neigung des Liebhabers
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zum Geliebten bezeichnet. Die so beschaffene Inbrunst ist der Liebe wesentlich und wird nicht durch die läßliche Sünde vermindert. Auf andere Weise wird sie Inbrunst der Liebe genannt, insofern die Bewegung der Liebe auch in die niederen Vermögen überfließt, auf eine solche Weise, daß nicht nur das Herz sozusagen in Gott frohlockt, sondern auch das Fleisch. Eine derartige Inbrunst wird durch die läßliche Sünde ohne Verminderung der Gottesliebe vermindert.
3. Artik el Die dritte Frage lautet: Kann aus einer läßlichen Sünde eine Todsünde werden? 57 Das scheint der Fall zu sein, denn: 1. Augustinus sagt in seiner Auslegung der Stelle »Wer nicht an den Sohn glaubt, wird das Leben nicht schauen«58 in Über Johannes: »Viele kleine Sünden, wenn sie verharmlost werden, sind tödlich.«59 Aber eine Sünde wird deshalb als Todsünde bezeichnet, weil sie geistig tötet. Also ergeben viele kleine, also läßliche Sünden eine Todsünde. 2. Über den Psalm 39, 13: »Zahlreicher sind sie als die Haare auf meinem Kopf«60, sagt die Glosse des Augustinus: »Du bist den Felsen entkommen. Hüte dich, damit du nicht vom Sand begraben wirst.«61 Unter »Sand« werden aber die kleinen, also läßlichen Sünden verstanden. Also begraben oder töten die vielen läßlichen Sünden den Menschen. Somit folgt dasselbe wie vorher. 3. Dagegen wurde eingewandt, daß es von den vielen läßlichen Sünden heißt, sie würden einen Menschen töten oder begraben, insofern sie zur Todsünde veranlagen. – Dagegen spricht: Augustinus sagt in seiner Augustinusregel: »Der Hochmut liegt im Hinterhalt der guten Taten, damit er sie zugrunde richtet.«62 So scheint es, daß 57 58 59 60 61 62
Paralleltexte: Sent. II, d. 24 q. 3 a. 6. Sum. theol. I–II, q. 88 a. 4. Joh. 3, 6. Augustinus, In Johannis evangelium tractatus XII, 14 (CCSL 36, 129). Ps. 39, 13. Petrus Lombardus, Glossa in Ps. 39, 13 (PL 191, 405 A). Augustinus, Regula 2 (PL 32, 1379).
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sogar die guten Taten eine Veranlagung zur Todsünde darstellen. Aber dennoch heißt es von ihnen nicht, daß sie töten oder begraben. Also kann auch von den läßlichen Sünden nicht auf Grund des eben Ausgeführten behauptet werden, daß sie begraben oder töten. Es scheint also, daß die läßliche Sünde durch sich selbst zur Todsünde wird. 4. Die läßliche Sünde ist eine Veranlagung zur Todsünde. Aber aus einer Veranlagung wird ein Habitus, wie Aristoteles in den Kategorien erklärt.63 Also wird aus der läßlichen Sünde eine Todsünde. 5. Die Bewegung der Sinnlichkeit ist eine läßliche Sünde. Aber bei Hinzukommen der Zustimmung der Vernunft wird sie zur Todsünde, wie Augustinus in seiner Schrift Über die Dreieinigkeit klar macht.64 Also kann eine läßliche Sünde zur Todsünde werden. 6. Eine Bewegung des Unglaubens, die eine läßliche Sünde ist, kann, indem sie sich einstiehlt, in der höheren Vernunft selbst auftreten. Aber die dazukommende Zustimmung zerstört nicht die erste Bewegung, die eine läßliche Sünde war. Dennoch bringt sie eine Todsünde hervor. Also kann aus einer läßlichen Sünde eine Todsünde werden. 7. Die läßliche Sünde und die Todsünde unterscheiden sich manchmal hinsichtlich des unterschiedlichen Ranges der Personen. Denn in Gratians Decretum heißt es, daß es für den Laien eine läßliche Sünde ist, zerstrittene Personen nicht zu versöhnen, für einen Bischof scheint es hingegen eine Todsünde zu sein.65 Denn er wird dafür im Rang herabgesetzt, wie es in Unterscheidung 53 heißt.66 Aber eine Person niederen Ranges kann in einen höheren Rang befördert werden. Also kann aus einer läßlichen Sünde eine Todsünde werden. 8. Nach Johannes Chrysostomus sind Gelächter und Gescherze läßliche Sünden.67 Aber Gelächter wird zur Todsünde. Denn in den 63 64 65 66 67
Aristoteles, Cat. 8; 9 a 10–13. Augustinus, De trin. XII, 12 (CCSL 50, 371–372). Decretum D. 25 c. 3 § 7 (ed. Friedberg I, 93). Richtig: Decretum D. 90 c. 11 (ed. Friedberg I, 315). Johannes Chrysostomus, In Matth. hom. VI, 6 (PG 57, col. 70–71).
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Sprichwörtern 13 heißt es: »Auch beim Lachen kann ein Herz leiden, das Ende der Freude ist Gram«68, nach der Glosse: »ewiger« [Gram].69 Dieser wird jedoch nur für eine Todsünde verdient. Also kann aus einer läßlichen Sünde eine Todsünde werden. 9. [Von den Dingen, die nur durch etwas nebensächlich Hinzukommendes unterschieden sind, kann eines das andere werden. Aber die läßliche Sünde und die Todsünde sind nur durch etwas nebensächlich Hinzukommendes unterschieden. Denn die Dinge, die wesentlich voneinander unterschieden sind, werden nicht ineinander überführt, die läßliche Sünde und die Todsünde werden jedoch ineinander überführt. Denn nichts ist so sehr läßlich, daß es nicht tödlich werden kann, wenn es gewollt ist. Auf gleiche Weise wird auch eine tödliche Schuld durch die Beichte läßlich gemacht. Daher kann die läßliche Sünde eine Todsünde werden.]70 10. Das kleinste Gut wird durch Annäherung an Gott zum größten, wie die Bewegung des freien Willens durch die Einformung der Gnade verdienstvoll wird. Also kann durch die Entfernung von Gott auch das kleinste Übel zum größten werden. Das kleinste Übel in der Gattung der Sünden ist jedoch die läßliche Sünde, das größte Übel hingegen ist die Todsünde. Also kann aus einer läßlichen Sünde eine Todsünde werden. 11. Boethius sagt im Buch Über den Trost der Philosophie, daß die Sünden sich zur Seele wie die Krankheiten zum Körper verhalten.71 Aber die kleinste Krankheit kann durch Vergrößerung eine sehr schwere Krankheit werden. Also kann die kleinste Sünde, nämlich die läßliche, zur schwersten, nämlich zur Todsünde, werden. 12. Die Rangstufen der Engel werden der Form nach durch die Geschenke der Gnade konstituiert. Aber die Rangstufen der Engel unterscheiden sich der Gattung nach. Also unterscheiden sich auch 68 Richtig: Spr. 14, 13. 69 Glossa interlin. super Prov. 14, 13. 70 Argument 9 ist im Text der Leonina-Ausgabe nicht enthalten, da es
offensichtlich einer späteren Version des Textes entstammt. Die Antwort auf diesen Einwand wird aber von der Leonina-Ausgabe im Text wiedergegeben. Der hier übersetzte Text findet sich in den editorialen Fußnoten der Leonina-Ausgabe. 71 Boethius, Con. Philos. IV pr. 6 (CCSL 94, 81).
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die Geschenke der Gnade der Gattung nach. Aber durch Vergrößerung des Verdienstes kann manch einer, der es zuerst verdiente, in eine niedrigere Rangstufe der Engel aufgenommen zu werden, es später verdienen, in eine höhere aufgenommen zu werden. Also wird die geringere Gnade größer, obwohl sie sich der Art nach unterscheiden. Aus dem gleichen Grund kann also aus einer läßlichen Sünde eine Todsünde werden. 13. Der Zustand der Unschuld übersteigt den Zustand der verderbten Natur nicht ins Unendliche. Aber jede läßliche Bewegung ist im Zustand der Unschuld tödlich gewesen. Also kann auf diese Weise im Zustand der verdorbenen Natur das Läßliche tödlich werden. 14. Das Gute und das Schlechte unterscheiden sich mehr voneinander als zwei Übel, nämlich das läßliche und das tödliche Übel. Denn das Gute und das Schlechte unterscheiden sich der Gattung nach, zwei Übel stimmen aber in der Gattung überein. Denn gut und schlecht sind unterschiedliche Gattungen, wie es in den Kategorien heißt.72 Aber die der Zahl nach selbe Handlung kann gut und schlecht sein, zum Beispiel wenn ein Diener mit Murren auf Grund des Befehls seines Herrn ein Almosen gibt, der es auf Grund der Liebe vorschreibt. Also kann die der Zahl nach selbe Handlung viel mehr eine läßliche Sünde und eine Todsünde sein. 15. Die Sünde ist nach Psalm 37, 5 eine Art Gewicht der Seele: »Denn meine Sünden schlagen mir über dem Kopf zusammen, sie erdrücken mich wie eine schwere Last.«73 Aber das kleinste Gewicht kann durch Hinzufügung so schwer werden, daß es die Kraft des Tragenden übersteigt. Also kann die läßliche Sünde durch Hinzufügung zur Todsünde werden und die Tugend ausschließen. 16. Nach Augustinus im 12. Buch von Über die Dreieinigkeit ist das Vorwärtsschreiten in jeder beliebigen Sünde genauso beschaffen wie in der Sünde der ersten Eltern: die Sinnlichkeit nimmt den Platz der Schlange, der Verstand den Platz der Frau und die höhere Vernunft den Platz des Mannes ein.74 Aber es war unmöglich, daß 72 Aristoteles, Cat. 11; 14 a 23–25. 73 Ps. 37, 5. 74 Augustinus, De trin. XII, 12 (CCSL 50, 371–372).
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der Mann vom Baum des Lebens essen würde, ohne daß er eine Todsünde begehen würde. Also kann in der höheren Vernunft nur die Todsünde sein. Was also im niederen Teil läßlich ist, wird, wenn es in den höheren Teil gelangt, tödlich werden. 17. Wenn der Habitus verdammenswert ist, wird auch die aus jenem Habitus hervorgehende Handlung verdammenswert sein. Aber in einem ungläubigen Heiden, dem die Erbsünde nicht vergeben worden ist, bleibt der Habitus der ersten Verdammung, zu der die Verderbnis des Zunders der bösen Begehrlichkeit gehört. Also sind auch die ersten aus einer derartigen Verderbnis hervorgehenden Bewegungen verdammenswert und Todsünden. Es bleibt jedoch unverändert, daß sie an sich selbst läßliche Sünden sind. Also kann aus einer läßlichen Sünde eine Todsünde werden. Dagegen spricht: 1. Die Dinge, die unendlich voneinander verschieden sind, gehen nicht ineinander über. Aber die Todsünde und die läßliche Sünde sind unendlich voneinander verschieden. Denn die eine verdient eine zeitliche Strafe, die andere eine ewige. Also kann aus einer läßlichen Sünde keine Todsünde werden. 2. Die Dinge, die sich der Gattung oder der Art nach unterscheiden, gehen nicht ineinander über. Aber die läßliche Sünde und die Todsünde sind der Gattung oder auch der Art nach voneinander unterschieden. Also kann aus einer läßlichen Sünde niemals eine Todsünde werden. 3. Eine Beraubung wird nicht zu einer anderen. Denn die Blindheit wird niemals zur Taubheit. Aber die Todsünde schließt die Beraubung des Zieles ein, die läßliche Sünde hingegen die Beraubung der Ordnung auf das Ziel. Also kann aus einer läßlichen Sünde niemals eine Todsünde werden. Antwort: Diese Frage kann auf drei Arten verstanden werden. Auf eine Art kann sie nämlich so aufgefaßt werden, ob eine Sünde, die der Zahl nach ein und dieselbe ist und vorher läßlich gewesen war, später eine Todsünde werden könne. Zweitens kann sie so verstanden werden, ob eine Sünde, die ihrer Gattung nach läßlich ist, auf irgendeine
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Weise zu einer Todsünde werden kann. Drittens kann sie so verstanden werden, ob viele läßliche Sünden eine Todsünde ergeben. Wenn die Frage also in der ersten Weise verstanden wird, muß man sagen, daß die läßliche Sünde nicht zur Todsünde werden kann. Denn da die Sünde, wie wir jetzt von ihr sprechen, eine sittlich schlechte Handlung bezeichnet, muß sie eine einheitliche sittliche Handlung sein, damit sie der Zahl nach ein und dieselbe Sünde ist. Ein Handlung ist aber deshalb sittlich, weil sie willentlich ist. Daher muß die Einheit der sittlichen Handlung gemäß des Willens betrachtet werden. Es kommt nämlich manchmal vor, daß eine Handlung der Zahl nach eine ist, insofern sie unter die Gattung der Natur fällt, jedoch wegen der Verschiedenheit des Willens nicht eine ist, insofern sie unter die Gattung der sittlichen Handlungen fällt. Dies ist zum Beispiel der Fall, wenn jemand, während er zur Kirche geht, auf dem ersten Teil des Weges eitlen Ruhm erstreben sollte, auf dem zweiten Teil hingegen Gott zu dienen beabsichtigen sollte. So kann daher in einer Handlung, die hinsichtlich der natürlichen Art eine ist, im ersten Teil der Bewegung eine läßliche Sünde vorliegen und im zweiten eine Todsünde. Das wäre der Fall, wenn der Wille so sehr in seiner Begierde anwachsen sollte, daß er seine läßlich sündige Tat sogar in Verachtung Gottes begeht, zum Beispiel das Aussprechen eines eitlen Wortes oder etwas Derartiges. So liegt in diesem Fall nicht eine Sünde vor, sondern zwei Sünden, da sie hinsichtlich der Gattung der sittlichen Handlungen nicht eine Handlung ist. Wenn die Frage aber auf die zweite Art verstanden wird, so muß man sagen, daß das, was auf Grund seiner Gattung eine läßliche Sünde ist, eine Todsünde werden kann – jedoch nicht durch die Gattung, sondern durch das Ziel. Um darüber zur Klarheit zu gelangen, muß man erwägen, daß in der sittlichen Handlung zwei Gegenstände unterschieden werden können, nämlich der Gegenstand der äußeren Handlung und der Gegenstand der inneren Handlung. Denn eine äußere Handlung gehört zur Gattung der sittlich bedeutsamen Handlungen, insofern sie willentlich ist. Diese Gegenstände sind manchmal identisch, zum Beispiel nämlich, wenn jemand an einen Ort gehen will und dahin geht. Manchmal unterscheiden sie sich aber, und der eine kann gut und der andere schlecht sein. Wenn jemand zum Beispiel ein Almosen gibt, um den Menschen zu gefal-
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len, ist der Gegenstand der äußeren Handlung gut, der Gegenstand der inneren Handlung ist jedoch schlecht. Da die äußere Handlung, insofern sie willentlich ist, in der Gattung der sittlichen Handlungen konstituiert wird, muß die sittliche Art der Handlung ihrer Form nach gemäß dem Gegenstand der inneren Handlung betrachtet werden. Daher sagt Aristoteles im 5. Buch der Nikomachischen Ethik, daß derjenige, der Ehebruch begeht, um zu stehlen, ein gierigerer Mensch ist als ein Ehebrecher.75 So geht daher eine äußere Handlung, die der Art nach, die sie von dem äußeren Gegenstand hat, eine läßliche Sünde ist, gemäß dem Gegenstand der inneren Handlung in eine Art der Todsünde über. Das ist zum Beispiel der Fall, wenn jemand ein eitles Wort spricht, weil er zur Begierde anstacheln will. Es kann aber auch vorkommen, daß etwas an sich selbst eine läßliche Sünde ist – nicht wegen des Gegenstandes, sondern wegen seiner Unvollkommenheit. Die Bewegung der Begierde Ehebruch zum Beispiel, die in der Sinnlichkeit auftritt, fällt nämlich in bezug auf ihren Gegenstand unter die Gattung der Todsünden. Aber sie erlangt die sittliche Schlechtigkeit nicht vollständig, weil ihr die Vernunfterwägung fehlt. Daher kann sie keine Todsünde sein, die in der Gattung der sittlichen Handlungen ein vollständiges Übel ist. Eine derartige Sünde kann aber zur Todsünde werden, wenn sie zur Vollständigkeit gelangt, zum Beispiel wenn die überlegte Zustimmung der Vernunft hinzukommt. Wenn sie aber auf die dritte Weise verstanden wird, so muß man sagen, daß viele läßliche Sünden zwar nicht unmittelbar und der Wirkung nach eine Todsünde ergeben, so nämlich, daß viele läßliche Sünden die Schuld einer Todsünde besäßen. Das ist aus zwei Gründen klar. Erstens nämlich, da jedes Mal, wenn aus vielen Angehäuften eines wird, auf beiden Seiten dieselbe Art von Größe vorliegen muß. Denn auf diese Weise wird aus vielen kleinen Linien eine Linie. Wo aber eine andere Natur der Größe vorliegt, wird aus vielen nicht eines. Denn weder wird aus vielen Zahlen eine Linie noch umgekehrt. Die läßliche Sünde teilt aber mit der Todsünde nicht dieselbe Natur der Größe. Denn die Größe der Todsünde geht aus der Abwendung vom letzten Ziel hervor, die Größe der läßlichen Sünde 75 Aristoteles, Eth. Nic. V, 3; 1130 a 24–28.
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besteht hingegen durch die Ungeordnetheit der Mittel, die zum Ziel dienen. Zweitens, da, wie oben ausgeführt wurde,76 die läßliche Sünde nicht die Liebe zu Gott verringert, die durch die Todsünde aufgehoben wird. Indem sie jedoch eine Veranlagung hervorbringen, führen viele läßliche Sünden dazu, eine Todsünde zu begehen. Denn durch die Vervielfältigung der Handlungen wird ein Habitus erzeugt, und die Begierde und der Genuß in der Sünde wachsen. Sie können so sehr anwachsen, daß man leichter zur Todsünde geneigt wird. Dennoch ist diese Anlage keine notwendige Voraussetzung für eine Todsünde. Denn der Mensch kann auch ohne vorangehende läßliche Sünden eine Todsünde begehen, und wenn die besagte Veranlagung zu läßlichen Sünden vorangeht, kann der Mensch durch die Liebe zu Gott der Todsünde widerstehen. Zu 1. Viele kleine Sünden töten, indem sie eine Veranlagung hervorbringen, wie ausgeführt worden ist.77 Zu 2. Eine ähnliche Antwort wie auf das erste Argument muß auch auf das zweite Argument gegeben werden. Zu 3. Die guten Werke bringen keine Veranlagung zur Todsünde hervor, wie die läßlichen Sünden das tun. Aber sie können unfallartig eine Art von Gelegenheit darstellen. Zu 4. Eine Veranlagung verhält sich zum Habitus wie das Vollkommene zum Unvollkommenen. Aber dies kann auf zwei Arten der Fall sein. Auf eine Weise, daß das Vollkommene und das Unvollkommene sich in derselben Art finden. Auf diese Weise wird die Veranlagung zum Habitus. Auf die andere Weise so, daß das Vollkommene und das Unvollkommene sich in verschiedenen Arten finden. Auf diese Weise wird die Veranlagung niemals dasjenige werden, zu dem es veranlagt. Denn die Wärme wird nicht zur Form des Feuers. Ebenso wird die läßliche Sünde auch nicht zur Todsünde. Zu 5. Diejenige Bewegung, die in der Sinnlichkeit eine läßliche Sünde gewesen ist, wird niemals eine Todsünde. Aber die hinzukommende Zustimmung wird durch sich selbst eine Todsünde sein.
76 Vgl. De malo q. 7 a. 2. 77 Vgl. De malo, q. 7 a. 3 c.
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Zu 6. Daß sich die Ungläubigkeit einstiehlt, findet nicht immer in der höheren Vernunft statt, sondern manchmal kann sie in der Einbildungskraft auftreten, zum Beispiel wenn sich jemand die drei Personen in Gott wie drei Menschen vorstellt und plötzlich dazu bewegt wird, das zu glauben. Manchmal kann sie aber im niederen Verstand auftreten, zum Beispiel wenn jemand erwägt, daß bestimmte Dinge in bezug auf die Geschöpfe wider den Glauben an die Dreieinigkeit sind. Manchmal kann sie aber in der höheren Vernunft sein, zum Beispiel wenn jemand plötzlich auf ungeordnete Weise anfängt, über die Personen der Dreieinigkeit in Gott nachzudenken. Eine derartige Einschleichung in die höhere Vernunft ist auch eine läßliche Sünde. Die hinzukommende Zustimmung ist jedoch eine andere Bewegung. Somit folgt nicht, daß dieselbe Sünde läßlich und tödlich ist. Zu 7. Die Person besitzt fortgesetzte Dauer. Daher kann sie auf einen höheren Rang erhoben werden. Aber die Sünde ist eine sofort vorübergehende Handlung, daher liegt kein ähnlicher Fall vor. Zu 8. Äußerster Gram nimmt nicht das Ende jeder Freude in Besitz, sondern der Freude, in der etwas Geschaffenes genossen wird. Zu 9. Die Sünde, die auf Grund ihrer Gattung tödlich ist, ist immer tödlich und niemals wird sie eine läßliche Sünde, wenn darunter »läßlich auf Grund der Gattung« verstanden wird. Die Behauptung aber, daß die Beichte aus der Todsünde eine läßliche Sünde macht, nimmt »läßlich« im Sinne bloßer Gleichnamigkeit. Das ist durch die Unterscheidung von »läßlich« offensichtlich, die oben getroffen wurde.78 Zu 10. Das kleinste Gut in der Gattung der menschlichen Handlungen kann eine Handlung bedeuten, die auf Grund ihrer Gattung gut ist, aber nicht verdienstvoll, da die Gnade nicht eingeformt ist. Aber diese der Zahl nach selbe Handlung wird niemals eine verdienstvolle Handlung, die in der Gattung der menschlichen Handlungen ein größtes Gut genannt werden kann, wie auch eine läßliche Sünde niemals zur Todsünde wird. Zu 11. Die Krankheit ist wie die Gesundheit keine Handlung, sondern eine Veranlagung oder ein Habitus. Daher kann sie von 78 Vgl. De malo q. 7 a. 1.
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einem unvollkommeneren in einen vollkommeneren Zustand überführt werden, während sie der Zahl nach dieselbe bleibt. Aber die Sünde ist eine vorübergehende Handlung. Daher liegt in dieser Hinsicht keine Ähnlichkeit vor, sondern die Ähnlichkeit wird nur in bezug darauf festgestellt, daß die Sünde auf dieselbe Art eine Ungeordnetheit der Handlung ist, wie die Krankheit eine Ungeordnetheit der Natur ist. Zu 12. Da eine Rangstufe unter den Engeln als Teil einer Hierarchie betrachtet wird, die ein heiliger Vorrang ist, ist offensichtlich, daß eine Rangstufe wesentlich im Geschenk der Gnade besteht, und daß die Unterscheidungen gemäß der Unterscheidung der gnadenhaften Geschenke vorgenommen werden, obwohl die Unterscheidung der natürlichen Güter der Materie und der Veranlagung nach vorausgesetzt ist. Aber man muß ins Auge fassen, daß das Geschenk der Gnade auf zweifache Weise betrachtet werden kann: auf eine Weise in bezug darauf, daß es eine Vereinigung mit Gott verursacht. In dieser Hinsicht unterscheiden sich die Rangstufen der Engel nicht, sondern stimmen überein. Daher sagt Dionysius, daß die gesamte Hierarchie der Engel eine Ähnlichkeit und Einheit mit Gott aufweist, soweit dies möglich ist.79 Auf eine andere Weise kann das Geschenk der Gnade betrachtet werden, insofern es auf die Tätigkeit hin ordnet. In dieser Hinsicht wird die Gnade in den verschiedenen Rangstufen unterschieden, insofern sie auf verschiedene Aufgaben hin geordnet sind. Von den Menschen wird aber gesagt, daß sie nicht wegen der Aufgaben in die Rangstufen der Engel aufgenommen werden, sondern wegen dem Maß der Gnade und des göttlichen Genusses. Daher folgt nicht, daß die Gnade sich bei den Menschen gemäß ihres unterschiedlichen Zustandes der Vollkommenheit der Art nach unterscheidet. Zu 13. Im Zustand der Unschuld konnte der Mensch nicht läßlich sündigen. Jedoch nicht so, daß er in der Lage war, die Handlungen zu tun, die ihrer Gattung nach läßlich sind und die für ihn tödlich wären, sondern da er die Dinge, die ihrer Gattung nach läßlich sind, überhaupt nicht tun konnte. Denn in ihm konnte sich keine Ungeordnetheit der niederen Vermögen über die Mittel zum Ziel finden, 79 Dionysius Areopagita, De cael. hier. III, 2 (Dion., 787).
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außer es würde im höheren Teil in ihm die Ungeordnetheit hinsichtlich des Ziels vorhergehen. Zu 14. Die Handlung des Dieners und die Handlung des Herrn gehen aus einem unterschiedlichen Willen hervor. Daher liegt nicht eine sittliche Handlung vor. Zu 15. In allen körperlichen Gewichten liegt eine Art von Größe vor, nicht aber in der Todsünde und der läßlichen Sünde. Daher ist das Argument nicht schlüssig. Zu 16. Indem der Mann vom Baum der Erkenntnis des Guten und Bösen gegessen hat, hat er wider das göttliche Gebot gehandelt. Daher hat er eine Todsünde begangen. Ähnlich begeht die höhere Vernunft eine Todsünde, jedes Mal wenn sie sündigt, indem sie wider das göttliche Gebot handelt. Aber sie sündigt nicht immer wider das göttliche Gebot. Daher ist das Argument nicht schlüssig. Zu 17. Das, was behauptet wurde, ist falsch, daß nämlich die Handlung verdammenswert sei, wenn der Habitus verdammenswert ist. Denn die Todsünde besteht nicht in einem Habitus, sondern in einer Handlung. Daher muß nicht jede Bewegung, die aus der Neigung jenes Habitus hervorgeht, eine Todsünde sein, wenn aus vielen Handlungen von Todsünden ein Habitus erzeugt wird. Niemand besitzt nämlich einen so bestärkten Habitus der Wollust oder eines anderen Lasters, daß er nicht manchmal in Übereinstimmung mit der Vernunft ihren Bewegungen widersteht. Dennoch wäre es absurd zu behaupten, daß eine derartige Bewegung, ihm, der ihr widersteht, als Todsünde angelastet würde. Obzwar die habitualisierte Begierde bei den ungläubigen Heiden verdammungswürdig ist, muß daher dennoch nicht jede Bewegung der Begierde in der Art einer Todsünde verdammenswert sein. Wie oben ausgeführt wurde, wird andererseits auch der Zündstoff zur Begierde nicht in der Weise einer Setzung, sondern einer Beraubung Habitus der Begierde genannt, nämlich wegen des Entzuges der ursprünglichen Gerechtigkeit.80 Daher muß die Bewegung, die aus dem natürlichen Vermögen selbst hervorgeht, nicht immer eine Sünde sein, viel weniger noch eine Todsünde. Man darf also nicht sagen, daß die ersten Bewegungen der Sinnlichkeit bei den Ungläubigen Todsün80 Vgl. De malo q. 5 a. 2.
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den sind. Bei den Gläubigen wären sie nämlich noch viel eher Todsünden. Denn bei ansonsten gleichen Umständen sündigt der Gläubige in derselben Handlung mehr als der Ungläubige. Das geht ganz klar aus jener Stelle des Apostelbriefs an die Hebräer 10, 29 hervor: »Meint ihr nicht, daß eine noch viel härtere Strafe der verdient, der das Blut des Bundes verachtet hat?«81 Und im 2. Petrusbrief 2, 21 heißt es: »Es wäre besser für sie, den Weg der Gerechtigkeit gar nicht erkannt zu haben, als ihn erkannt zu haben und sich danach wieder von dem heiligen Gebot abzuwenden, das ihnen überliefert worden ist.«82 Die Antworten auf die Argumente der Gegenseite sind aber durch das offensichtlich, was oben ausgeführt wurde.83
4. Artik el Die vierte Frage lautet: Macht ein Umstand aus einer läßlichen Sünde eine Todsünde? 84 Das scheint der Fall zu sein, denn: 1. Augustinus sagt in seiner Predigt Über das Fegefeuer, wenn der Zorn lange Zeit geschürt werde und die Trunkenheit eine andauernde sei, würden sie zu den Todsünden gezählt.85 Aber derartige Sünden sind auf Grund ihrer Gattung läßliche Sünden. Ansonsten wären sie immer Todsünden. Also wird eine läßliche Sünde durch den Umstand der Beharrlichkeit und der langen Dauer zur Todsünde. 2. Hartnäckiger Genuß ist eine Todsünde, wie Petrus Lombardus im 2. Buch der Sentenzen dist. 24 sagt.86 Aber wenn er nicht hartnäckig ist, ist er eine läßliche Sünde. Also macht der Umstand der Hartnäckigkeit aus einer läßlichen Sünde eine Todsünde. Hebr. 10, 29. 2 Petr. 2, 21. Vgl. De malo q. 7 a. 3 c. Paralleltexte: Sent. IV, d. 16 q. 3 a. 2. Sum. theol. I–II, q. 88 a. 5. Augustinus (zugeschrieben), Sermo 104 (PL 39, 1946). Die wahre Quelle scheint zu sein: Decretum D. 25 c. 3 (ed. Friedberg I, 93). 86 Petrus Lombardus, Sententiae II, d. 24 c. 12 (ed. Coll. S. Bon. I, 425). 81 82 83 84 85
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3. Gut und schlecht unterscheiden sich in den menschlichen Handlungen mehr als die läßliche Sünde und die Todsünde. Denn gut und schlecht unterscheiden sich der Gattung nach. Sie sind nämlich Gattungen anderer Dinge, wie es in den Kategorien heißt.87 Aber da die läßliche Sünde und die Todsünde beide schlecht sind, stimmen sie in der Gattung überein. Ein Umstand macht jedoch aus einer guten Handlung eine schlechte. Also macht ein Umstand aus einer läßlichen Sünde viel mehr noch eine Todsünde. 4. Zu den anderen Umständen wird das »wegen dem« gezählt. Dieser Umstand gehört nämlich zum Ziel. Aber wegen ihrem Ziel wird aus einer läßlichen Sünde eine Todsünde, wie ausgeführt worden ist.88 Also macht ein Umstand aus einer läßlichen Sünde eine Todsünde. Dagegen spricht: Ein Umstand ist etwas, das einer sittlichen Handlung hinzukommt, wie der Name selbst anzeigt. Aber eine Todsünde zu sein, gehört zur Art der Sünde. Da nichts Hinzukommendes die Art dessen konstituiert, dem es hinzukommt, scheint es daher, daß ein Umstand aus einer läßlichen Sünde keine Todsünde machen kann. Antwort: Eine sittliche Handlung wird ihrer Gattung nach entsprechend ihrem Gegenstand gut oder schlecht genannt. Neben dieser Güte oder Schlechtigkeit können ihm aber zwei Arten von Güte oder Schlechtigkeit zukommen: nämlich eine durch das beabsichtigte Ende, die andere durch einen Umstand. Da das Ziel der erste Gegenstand des Willens ist, erhält die innere Handlung ihre Gattung durch das Ziel. Wenn nun die innere Handlung durch das Ziel die Natur einer Todsünde hat, wird die äußere Handlung in die Art der inneren Handlung übergehen und eine Todsünde werden, wie oben ausgeführt worden ist.89 Aber ein Umstand konstituiert nicht immer eine Art der sittlichen Handlung, sondern nur dann, wenn er eine neue Ab87 Aristoteles, Cat. 11; 14 a 23–25. 88 Vgl. De malo q. 7 a. 3. 89 Vgl. De malo q. 7 a. 3.
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scheulichkeit hinzufügt, die zu einer anderen Art von Sünde gehört. Wenn jemand zum Beispiel mit einer Frau verkehrt, und darüber hinaus, daß sie nicht seine Frau ist, noch hinzukommt, daß sie die Frau eines anderen ist, so trägt sich dort auch die Abscheulichkeit der Ungerechtigkeit zu. Daher konstituiert dieser Umstand eine neue Art, und im eigentlichen Sinne gesprochen ist er jetzt kein Umstand, sondern wird zum Artunterschied einer sittlichen Handlung. Wenn also der hinzugefügte Umstand eine Mißgestalt von der Art hinzufügt, die gegen das Gebot Gottes verstößt, dann wird aus dem, was auf Grund seiner Gattung läßlich ist, eine Todsünde. Das also, was auf Grund seiner Gattung eine läßliche Sünde ist, kann durch einen Umstand, der weiterhin die Natur eines Umstandes behält, keine Todsünde werden, sondern nur durch jenen Umstand, der eine andere Art von Sünde konstituiert. Aber manchmal passiert es, daß etwas nicht auf Grund seiner Gattung eine läßliche Sünde ist, nämlich von seiten des Gegenstandes, sondern mehr wegen der Unvollkommenheit der Handlung, da sie nicht bis zur überlegten Einwilligung der Vernunft gelangt, die die Natur einer sittlichen Handlung vollendet. Dann macht ein derartiger Umstand, der das Vervollständigende der sittlichen Handlung ist, aus der läßlichen Sünde eine Todsünde, zum Beispiel die hinzukommende abgewogene Zustimmung. Zu 1. Der Zorn verursacht eine Bewegung, dem Nächsten zu schaden. Dem Nächsten zu schaden, ist auf Grund seiner Gattung jedoch eine Todsünde, denn es ist der Liebe hinsichtlich der Nächstenliebe entgegengesetzt. Aber wenn die Bewegung im niederen Begehren verbleibt und die Vernunft nicht darin einwilligt, dem Nächsten schweren Schaden zuzufügen, ist sie auf Grund der Unvollendetheit der Handlung eine läßliche Sünde. Wenn der Zorn hingegen lange Zeit geschürt wird, ist es unmöglich, daß die Überlegung der Vernunft nicht hinzukommt. Darunter, den Zorn lange zu schüren, versteht man aber nicht, wann auch immer er für lange Zeit andauert, sondern weil jemand ihm durch den Gebrauch der Vernunft widerstehen kann. Dann wird die Bewegung des Zorns nicht geschürt, auch wenn er andauert. In ähnlicher Weise muß man über die Trunkenheit sprechen. Denn an sich selbst betrachtet wen-
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det die Trunkenheit auf so eine Weise wirklich von Gott ab, daß die Vernunft des Betrunkenen sich während der Trunkenheit Gott nicht zuwenden kann. Diese Trunkenheit ist deswegen nicht immer eine Todsünde, weil der Mensch nicht gehalten ist, seine Vernunft immer wirklich Gott zuzuwenden. Aber wenn ein Mensch ständig betrunken ist, scheint es, daß er sich nicht darum sorgt, daß seine Vernunft Gott zugewandt ist. In einem derartigen Zustand der Trunkenheit besteht eine Todsünde. So nämlich scheint es, daß er wegen seines Weingenusses die Zuwendung der Vernunft zu Gott verachtet. Zu 2. Vom hartnäckigen Genuß gilt das Gleiche wie auch vom lang andauernden Zorn. Zu 3. Wenn ein Umstand aus einer guten Handlung eine schlechte macht, konstituiert er eine neue Art von Sünde. Auf diese Weise führt er die Handlung in eine andere Gattung sittlicher Handlungen über. In so einem Fall kann er aus einer läßlichen Sünde auch eine Todsünde machen. Zu 4. Insofern das Ziel Gegenstand einer Handlung ist, konstituiert es die Art einer sittlichen Handlung. Aus diesem Grund kann es aus einer läßlichen Sünde eine Todsünde machen.
5. Artik el Die fünfte Frage lautet: Kann sich in der höheren Vernunft eine läßliche Sünde finden? 90 Das scheint nicht der Fall zu sein, denn: 1. Augustinus sagt im 12. Buch von Über die Dreieinigkeit, daß die höhere Vernunft den höheren Wahrheiten anhaftet.91 Daher scheint es, daß es nur durch Abwendung von den ewigen Wahrheiten eine Sünde in der höheren Vernunft geben kann. Aber jede Sünde dieser Art ist eine Todsünde. Also kann es in der höheren Vernunft nur die Todsünde geben. 2. Eine Sünde kann in einem Vermögen nur dann auftreten, wenn die Handlung sich auf irgendeine Weise ungeordnet auf ih90 Paralleltexte: Sent. II, d. 24 q. 3 a. 5. De verit. q. 15 a. 5. Sum. theol. I–II, q. 74 a. 9–10. 91 Augustinus, De trin. XII, 7 (CCSL 50, 367).
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ren Gegenstand bezieht. Auf gleiche Weise kann in der Tätigkeit des Sehvermögens ein Fehler nur in bezug auf die Farbe auftreten. Aber der Gegenstand der höheren Vernunft ist das höchste Ziel, das das ewige Gut ist. Also kann in der höheren Vernunft nur dann eine Sünde auftreten, wenn sie sich in ungeordneter Weise auf das letzte Ziel bezieht. Aber jede Sünde dieser Art ist eine Todsünde. Denn die läßliche Sünde tritt bei den Dingen auf, die die Mittel zum Ziel sind, wie oben ausgeführt wurde.92 Also kann in der höheren Vernunft nur die Todsünde auftreten. 3. Die höhere Vernunft ist dasjenige, was am Licht der Gnade teilhat. Aber das Licht der Gnade ist mächtiger als das körperliche Licht. Das körperliche Licht mangelt aber nur dann in seiner Tätigkeit, wenn es zerstört oder verringert wird, viel weniger ist dies daher beim geistigen Licht der Fall. Also kann nur dann eine mangelhafte Tätigkeit in der höheren Vernunft auftreten, wenn die Gnade vernichtet oder verringert ist. Aber durch eine läßliche Sünde wird die Gnade weder aufgehoben noch verringert, wie oben ausgeführt worden ist.93 Also kann der Mangel der läßlichen Sünde nicht in der höheren Vernunft auftreten. 4. Der Gegenstand der höheren Vernunft ist ein zu genießendes Gut, und zwar das ewige Gut. Aber jede menschliche Verkehrung besteht im Genuß des zu Gebrauchenden und im Gebrauch des zu Genießenden, wie Augustinus in seiner Schrift Über 83 verschiedene Fragen feststellt.94 Also kann die Sünde in der höheren Vernunft nur dadurch auftreten, daß das zu Genießende, nämlich Gott, gebraucht wird. Das bedeutet aber, etwas mehr als Gott zu lieben, was die Ursache für eine Todsünde ist. Denn benutzen heißt, etwas auf ein anderes als sein Ziel zu beziehen. Also kann in der höheren Vernunft nur die Todsünde auftreten. 5. Die höhere und die niedere Vernunft sind nicht verschiedene Vermögen, sondern unterscheiden sich darin, daß die höhere Vernunft von den ewigen Wahrheiten ausgeht, die niedere Vernunft 92 Vgl. De malo q. 7 a. 1. 93 Vgl. De malo q. 7 a. 1. 94 Augustinus, De diversis quaestionibus LXXXVIII, q. 30 (CCSL 44
A, 38).
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aber von den zeitlichen Wahrheiten, wie Augustinus im 12. Buch von Über die Dreieinigkeit erklärt.95 Aber wenn von den ewigen Wahrheiten ausgegangen wird, kann eine Sünde nur dadurch auftreten, daß jemand über die ewigen Wahrheiten irrt, was immer eine Todsünde ist. Also kann in der höheren Vernunft nur eine Todsünde und keine läßliche Sünde auftreten. 6. Nach Aristoteles im Buch Über die Seele hat die Vernunft immer recht.96 Aber die Sünde ist der Richtigkeit entgegengesetzt. Also kann in der höheren Vernunft keine läßliche Sünde auftreten. 7. Aristoteles sagt im 1. Buch der Nikomachischen Ethik, daß wir die Vernunft des Enthaltsamen und des Unenthaltsamen loben.97 Somit wird die Vernunft sowohl bei den Guten als auch bei den Schlechten gelobt. Aber in dem, was gelobt wird, ist keine Sünde. Also tritt in der Vernunft weder die Todsünde noch die läßliche Sünde auf. 8. Die Vernunft bringt Überlegung hervor. Wenn also in der Vernunft irgendeine Sünde ist, muß sie als Folge einer Überlegung in ihr sein. Denn alles, was in einem anderen ist, ist in ihm in der Weise dessen, in dem es ist. Aber eine Sünde, die auf Grund einer Überlegung besteht, wird mit Absicht oder aus bewußter Schlechtigkeit begangen, was die größte Todsünde ist. Denn dabei handelt es sich um eine Sünde wider den heiligen Geist. Also kann in der höheren Vernunft nur die Todsünde auftreten. 9. Zur höheren Vernunft gehört es, die ewigen Gründe zu Rate zu ziehen. Aber das zu Rate ziehen ist eine Art von Überlegung. Also sündigt die höhere Vernunft nur aus überlegter Zustimmung. Somit folgt dasselbe wie vorher. 10. Wegen der Verachtung wird die läßliche Sünde zur Todsünde, wie oben ausgeführt worden ist.98 Aber daß jemand aus Überlegung sündigt, scheint nicht ohne Verachtung zu geschehen. Es scheint daher, daß die Sünde der höheren Vernunft, da sie aus Überlegung geschieht, niemals läßlich, sondern immer tödlich ist. 95 96 97 98
Augustinus, De trin. XII, 7 (CCSL 50, 367). Aristoteles, De an. III, 10; 433 a 26. Aristoteles, Eth. Nic. I, 20; 1102 b 14–15. Vgl. De malo q. 7 a. 3.
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11. In den niederen Vermögen der Seele findet sich die läßliche Sünde durch Einschleichung. Aber die Sünde, insofern sie in der höheren Vernunft durch Einschleichung stattfindet, scheint keine läßliche Sünde sein zu können. Also kann in der höheren Vernunft auf keine Weise eine läßliche Sünde auftreten. Beweis des Untersatzes: eine Sünde, die durch Einschleichung geschieht, wird bei hinzukommender Überlegung von einer läßlichen Sünde dadurch zu einer Todsünde, daß die überlegende Vernunft sich auf ein größeres Gut richtet, dem zuwider zu handeln eine größere Sünde ist. Wenn sich die Begierde zum Beispiel durch Einschleichung erhebt, wird in dem Gegenstand, der betrachtet wird, nur der Gesichtspunkt des Angenehmen ins Auge gefaßt. Wenn aber die Vernunft überlegt, faßt sie etwas Höheres ins Auge, nämlich das Gebot Gottes, das der Begierde entgegengesetzt ist. Durch die Verachtung dieses Gebotes auf Grund der Begierde begeht der Mensch eine Todsünde. Aber es kann nichts Höheres angenommen werden als der Gegenstand der höheren Vernunft, der das ewige Gut ist. Wenn also eine Sünde durch Einschleichung bezüglich des eigentümlichen Gegenstandes der höheren Vernunft läßlich wäre, könnte sie durch die überlegte Zustimmung in der höheren Vernunft nicht zu einer Todsünde werden. Aber es steht fest, daß sie auf Grund der überlegten Zustimmung eine Todsünde ist. Also ist sie auch dann eine Todsünde, wenn sie auf Grund von Einschleichung auftritt. Auf keine Weise kann sich also eine läßliche Sünde in der höheren Vernunft finden. 12. Die höhere Vernunft ist der Ursprung des geistigen Lebens, genauso wie das Herz beim Lebewesen der Ursprung des körperlichen Lebens ist. Daher wird sie nach jener Stelle aus den Sprichwörtern 4, 23 auch mit dem Herzen verglichen: »Mehr als alles hüte dein Herz; denn von ihm geht das Leben aus.«99 Aber im körperlichen Herzen kann es keine Krankheit geben, die nicht tödlich ist. Also gibt es auch in der höheren Vernunft keine läßliche Sünde, sondern nur die Todsünde.
99 Spr. 4, 23; Vulg. ›omni custodia serva cor tuum, quia ex ipso vita pro-
cedit‹.
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Dagegen spricht: 1. Augustinus sagt im 12. Buch von Über die Dreieinigkeit, daß jede Einwilligung zu einer Handlung der höheren Vernunft zukommt.100 Aber manch eine Einwilligung zu einer Handlung ist eine läßliche Sünde, wie wenn jemand zum Beispiel darin einwilligt, daß er ein eitles Wort spricht. Denn die Einwilligung in eine läßliche Sünde ist läßlich, wie die Einwilligung in eine Todsünde tödlich ist. Also kann sich eine läßliche Sünde in der höheren Vernunft finden. 2. Wie der Wille seine Freude am Guten hat, so die Vernunft am Wahren. Aber der Wille kann läßlich sündigen, wenn er ein geschaffenes Gut liebt, das kleiner ist als ein ungeschaffenes Gut. Also kann die höhere Vernunft läßlich sündigen, wenn sie sich an der geschaffenen Wahrheit erfreut, die unter der unerschaffenen Wahrheit steht. Antwort: Da die Vernunft dem Streben seine Richtung gibt, kann die Sünde in der Vernunft auf zwei unterschiedliche Weisen auftreten. Auf eine Weise in bezug auf die eigentümliche Handlung der Vernunft, nämlich wenn sie durch das Festhalten des Falschen bei Zurückweisung des Wahren in etwas irrt. Auf andere Weise dadurch, daß das Streben nach der Überlegung der Vernunft auf ungeordnete Weise zu etwas gelenkt wird. Wenn nämlich die Überlegung der Vernunft von irgendwelchen zeitlichen Gründen ergriffen wird – zum Beispiel, daß etwas nach Meinung der Menschen nützlich oder unnütz ist, passend oder unpassend –, heißt es davon, daß es eine Sünde in der niederen Vernunft ist. Wenn sich die Überlegung aber auf ewige Gründe bezieht – zum Beispiel, daß es mit dem göttlichen Gebot übereinstimmt oder ihm widerspricht –, sagt man davon, daß es eine Sünde im höheren Vermögen ist. Denn die Vernunft wird höhere Vernunft genannt, die den ewigen Gründen anhaftet, wie Augustinus im 12. Buch von Über die Dreieinigkeit sagt.101 Sie haftet ihnen aber auf zweifache Weise an: nämlich sowohl indem sie sie anschaut, als auch indem sie sie bedenkt. Sie haftet ihnen nämlich betrachtend 100 Augustinus, De trin. XII, 12 (CCSL 50, 372). 101 Augustinus, De trin. XII, 7 (CCSL 50, 367).
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an als ihrem eigentümlichen Gegenstand. Beratschlagend haftet sie ihnen aber als ein Mittleres an, dem sie sich annähert, um das Streben oder die Handlung zu lenken. Auf beiden Wegen kann in der höheren Vernunft jedoch sowohl eine läßliche Sünde als auch eine Todsünde auftreten. Denn insofern sie den ewigen Gründen, die ihr eigentümlicher Gegenstand sind, betrachtend anhaftet, kann sowohl eine überlegte Handlung als auch eine unüberlegte Handlung auftreten, die Einschleichung genannt wird. Denn obwohl es der Vernunft zukommt zu überlegen, ist es dennoch notwendig, daß in jeder Überlegung eine unbedingte Betrachtung eingeschlossen ist. Denn die Überlegung ist nichts anderes als eine Art Unterredung und sozusagen eine bewegliche Betrachtung. Aber in jeder Bewegung findet sich etwas Unteilbares, wie sich auch in der Zeit der Augenblick und in der Linie der Punkt findet. Wenn daher in der höheren Vernunft bezüglich ihres eigentümlichen Gegenstandes auf Grund von Einschleichung eine Sünde gewesen ist, wird es sich um eine läßliche Sünde handeln, zum Beispiel wenn jemand plötzlich glaubt, daß Gott unmöglich dreieinig und einer sein kann. Denn das ist keine Todsünde, bevor die Vernunft ihre Aufmerksamkeit darauf richtet, daß dies Gottes Gebot widerspricht. Denn es gehört zur Natur der Todsünde, daß sie dem Gebot Gottes widerspricht. Wenn daher die Vernunft durch Überlegung begriffen hat, daß es dem Gebot Gottes widerspricht, nicht zu glauben, wird aus der Sünde eine Todsünde werden, wenn sie nicht glaubt. Insofern sie aber den ewigen Gründen anhaftet, indem sie sie als Mittleres betrachtet, kann es keine Sünde durch Einschleichung geben. Denn die Betrachtung selbst schließt Überlegung ein. Dennoch können nichtsdestotrotz auf diese Weise auch in der höheren Vernunft eine läßliche Sünde und eine Todsünde auftreten. Im Betrachten suchen wir nämlich sowohl das, durch das etwas werden kann, als auch das, durch das etwas besser wird. Daher kann die Sünde auf zweifache Weise beim Betrachten der ewigen Wahrheiten auftreten. Einmal insofern in der Folge einer Überlegung dieser Art etwas angenommen wird, das dem Ziel gänzlich widerspricht, so daß nicht zum Ziel gelangt werden kann, wenn es gesetzt ist. Dann handelt es sich um eine Todsünde. Zum Beispiel begeht jemand eine
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Todsünde, der überlegt hat, daß ein Diebstahl dem göttlichen Gebot widerspricht, und ihn nichtsdestotrotz wählt. Wenn aber etwas angenommen wird, was das Ziel nicht ausschließt, aber ohne das dennoch besser zum Ziel gelangt werden kann, weil es in etwas vom Ziel abhält oder zu einem entgegengesetzten Ziel veranlagt, dann handelt es sich um eine läßliche Sünde. Das ist zum Beispiel der Fall, wenn jemand ein eitles Wort spricht, auch wenn er überlegt, daß das eine läßliche Sünde ist, die zur Todsünde veranlagt und in etwas von der Rechtbeschaffenheit der Gerechtigkeit mangelt, die zu Gott führt. Zu 1. Es ist nicht notwendig, daß jede Sünde der Vernunft aus der Abwendung von den ewigen Wahrheiten hervorgeht. Denn manchmal sündigt sie durch Zustimmung zu etwas, das den ewigen Wahrheiten nicht entgegengesetzt ist, wie oben ausgeführt worden ist.102 Zu 2. Bezüglich eines Zieles können zwei Arten von Ungeordnetheit auftreten. Entweder weil vom Ziel zurückgewichen wird, und dies ist eine Todsünde. Oder weil etwas angenommen wird, das an der Erlangung des Ziels hemmt, und das ist eine läßliche Sünde. Zu 3. Das körperliche Licht ist aus Naturnotwendigkeit tätig. Daher ist es immer tätig, solange es unversehrt bleibt, und seine Tätigkeit wird niemals verringert. Aber der Gebrauch der Liebe und der Gnade unterliegt der Wahl des Willens. Daher gebraucht der Mensch, der im Besitz der Liebe ist, seine Vollkommenheit nicht immer, sondern begeht manchmal eine weniger vollkommene Handlung. Zu 4. Augustinus spricht dort von der Todsünde, die schlechthin verkehrt und schlecht ist. Die läßliche Sünde kann aber nicht Verkehrtheit im eigentlichen Sinne genannt werden und ist nur in einer bestimmten Hinsicht schlecht, wie oben ausgeführt worden ist.103 Zu 5. Wenn die von den ewigen Gründen ausgehende Vernunft etwas annimmt, das diesen Gründen entgegengesetzt ist, begeht sie eine Todsünde. Aber manchmal begeht sie nicht deshalb eine Sünde, weil das, was sie annimmt, entgegengesetzt ist, sondern weil es zum Entgegengesetzten veranlagt und hemmt. 102 Vgl. De malo q. 7 a. 5 c. 103 Vgl. De malo q. 7 a. 1 ad 1.
5. Artikel
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Zu 6. Von der Vernunft heißt es, daß sie immer recht hat. Entweder meint man damit, daß sie sich auf die ersten Grundsätze bezieht, über die sie nicht irrt, oder daß der Irrtum nicht aus der Eigenschaft der Vernunft hervorgeht, sondern eher aus dem Fehlen der Vernunft. Aus der Eigentümlichkeit der Einbildungskraft geht hingegen der Irrtum hervor, insofern sie die Abbilder der abwesenden Dinge empfängt. Zu 7. Sowohl der Enthaltsame als auch der Unenthaltsame besitzen zumindest bezüglich des Allgemeinen die rechte Vernunft. Denn sogar der Unenthaltsame urteilt durch die rechte Vernunft, daß es schlecht ist, sich dem unehrenhaften Genuß hinzugeben, obwohl er wegen seiner Leidenschaft von dieser allgemeinen Überlegung abweicht. Dennoch folgt daraus nicht, daß die Vernunft eines jeden beliebigen Sünders bezüglich des Allgemeinen gelobt wird. Denn der Unbeherrschte beurteilt auch unabhängig von einer gegenwärtigen Leidenschaft den Genuß des unehrenhaften Genusses als gut, gleichsam als würde er eine verkehrte Vernunft gebrauchen. Zu 8. Auch wenn die Vernunft überlegt, ist es nichtsdestotrotz notwendig, daß sie eine absolute Betrachtung besitzt, die in die Überlegung selbst eingeschlossen ist, wie ausgeführt worden ist.104 Dennoch ist es nicht notwendig, daß sie jedes Mal, wenn sie aus Überlegung sündigt, aus voll bewußter Schlechtigkeit sündigt, sondern nur dann, wenn sie etwas der Tugend Entgegengesetztes annimmt, wie im 7. Buch der Nikomachischen Ethik ausgeführt wird.105 Die läßliche Sünde ist der Tugend aber nicht entgegengesetzt. Da man also durch Überlegung in die läßliche Sünde einwilligt, sündigt man deshalb nicht aus Schlechtigkeit. Zu 9. Aus dem Vorangehenden leuchtet die Antwort auf das neunte Argument ein. Zu 10. Die überlegte Zustimmung bringt nicht die Verachtung Gottes hervor, außer dasjenige, dem zugestimmt wird, wird erkannt als Gott widersprechend. Zu 11. Der Gegenstand der höheren Vernunft, der der allerhöchste ist, kann hinsichtlich einer höheren Erkenntnis und hinsichtlich 104 Vgl. De malo q. 7 a. 5 c. 105 Aristoteles, Eth. Nic. VII, 4; 1148 a 2–4.
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einer niederen Erkenntnis betrachtet werden. Denn die Erkenntnis, die Gott vom ewigen Gut hat, das er selbst ist, geht über die Erkenntnis hinaus, die der Mensch mittels der menschlichen Vernunft von ihm hat. Daher wird der Mensch in seiner Erkenntnis durch die göttliche Erkenntnis berichtigt, insofern er an die göttliche Offenbarung glaubt. Wenn jemand also plötzlich erfaßt, daß Gott nicht dreieinig und einer ist, erfaßt er dies mittels der menschlichen Vernunft und das ist eine läßliche Sünde. Wenn er aber überlegt, richtet er sich auf diese göttliche Erkenntnis. Dabei betrachtet er, daß es der göttlichen Offenbarung widerspricht, daß jemand nicht an den dreieinigen, einzigen Gott glauben sollte. Daher wird die Sünde zur Todsünde, als wäre sie durch eine höhere Mitte der Erkenntnis zur Gegensätzlichkeit zurückgeführt. Zu 12. Eine Krankheit, die die natürliche Zirkulation des Herzens verändert oder etwas von ihm entfernt, ist immer tödlich. Aber eine Schwäche, die zu einer Ungeordnetheit in seiner Bewegung führt, ist nicht immer tödlich. Auf ähnliche Weise ist eine Sünde tödlich, die die Liebe von der höheren Vernunft entfernt, nicht jedoch eine Sünde, die eine Ungeordnetheit in einer Handlung verursacht.
6. Artik el Die sechste Frage lautet: Kann es in der Sinnlichkeit eine läßliche Sünde geben? 106 Das scheint nicht der Fall zu sein, denn: 1. Ambrosius von Mailand sagt, daß nur das empfänglich für das Laster ist, was auch für die Tugend empfänglich ist.107 Aber die Sinnlichkeit ist nicht empfänglich für die Tugend. Die Sinnlichkeit wird nämlich durch die Schlange bezeichnet, wie Augustinus im 3. Buch von Über die Dreieinigkeit feststellt.108 Also kann die Sinnlichkeit nicht die Ursache eines Lasters sein. 2. Nach Augustinus ist jede Sünde im Willen. »Denn die Sünde 106 Paralleltexte: Sent. II, d. 24 q. 3 a. 2. De verit. q. 25 a. 5. Sum. theol. I–II, q. 74 a. 3–4. Quodl. IV, q. 11 a. 1. 107 Ambrosius von Mailand, De noe et arca 12 (CSEL 32/1, 439). 108 Augustinus, De trin. XII, 12 (CCSL 50, 371–372).
6. Artikel
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wird nur durch den Willen begangen.«109 Aber die Sinnlichkeit ist vom Willen verschieden. Also ist die Sinnlichkeit keine läßliche Sünde. 3. In den Tieren findet sich keine Sünde. Aber die Sinnlichkeit ist uns und den Tieren gemeinsam. Also kann es in der Sinnlichkeit keine Sünde geben. 4. Dagegen wurde eingewandt, daß die Sinnlichkeit bei den Tieren nicht wie bei uns durch die Vernunft gelenkt werden kann. Daher kann sie in uns Träger der Sünde sein, nicht aber in den Tieren. – Dagegen spricht: Nach dieser Behauptung wird die Sinnlichkeit nur Träger der läßlichen Sünde sein, insofern sie der Vernunft gehorcht. Aber das, »auf Grund dessen etwas eine bestimmte Beschaffenheit besitzt, ist mehr und früher so beschaffen.«110 Also muß es mehr der Vernunft als der Sinnlichkeit zugeschrieben werden, Träger der läßlichen Sünde zu sein. Nach der Topik des Aristoteles irren nämlich die, die nicht den ersten Träger einer Eigenschaft auszeichnen.111 5. Eine Veranlagung und der Habitus sind in demselben Träger. Aber die läßliche Sünde ist eine Veranlagung zur Todsünde. Da die Todsünde also nicht in der Sinnlichkeit sein kann, wird auch die läßliche Sünde nicht in der Sinnlichkeit sein können. 6. Augustinus sagt im Buch Über Genesis gegen die Manichäer: Wenn jemand der Bewegung der Sinnlichkeit nicht zustimmt, wird er nicht gefährdet, sondern belohnt.112 Aber niemand, der eine läßliche Sünde begeht, wird dafür belohnt. Also ist die Bewegung der Sinnlichkeit keine läßliche Sünde. 7. Augustinus sagt in seiner Predigt Über die Werke der Barmherzigkeit: »Jede Sünde ist eine Verachtung Gottes, weil seine Gebote verachtet werden.«113 In jenem Teil der Seele, der das Gebot Gottes wahrnehmen kann, kann also eine Sünde sein. Das kann aber nicht die Sinnlichkeit, sondern nur die Vernunft sein. Also kann die läßliche Sünde nicht in der Sinnlichkeit sein. 109 110 111 112 113
Augustinus, De duabus anim. 10 (CSEL 25/1, 68). Vgl. Aristoteles, Anal. post. I, 6; 72 a 29. Aristoteles, Top. VI, 9; 147 b 29–34. Augustinus, De Gen. cont. Man. II, 14 (PL 34, 207). Augustinus, Sermo de operibus misericordiae.
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8. Keiner sündigt in dem, was er durch den Willen nicht vermeiden kann. Aber nach dem Römerbrief 7, 15 kann der Mensch durch seinen Willen nicht vermeiden, daß die Bewegung der Begierde entfacht wird: »Denn ich tue nicht das Gute, das ich tun will«,114 nämlich nicht zu begehren, wie die Glosse auslegt.115 Also ist die Bewegung der Sinnlichkeit keine Sünde. Dagegen spricht: Petrus Lombardus sagt im 2. Buch der Sentenzen d. 24, daß die Begierde eine läßliche Sünde sein wird, wenn sie nur in der Sinnlichkeit ist.116 Das ist dem 12. Buch von Augustinus Über die Dreieinigkeit entnommen.117 Antwort: Im eigentlichen Sinne gesprochen bezieht sich die Sünde auf eine Handlung, wie durch das Vorangehende offensichtlich ist.118 Da wir aber jetzt von der Sünde in sittlichen Angelegenheiten sprechen, kann die Sünde in der Tätigkeit jenes Vermögens auftreten, dessen Tätigkeit sittlich sein kann. Eine Tätigkeit ist aber dadurch eine sittliche, daß sie von der Vernunft und dem Willen geordnet und befohlen wird. Daher kann in der Tätigkeit jedes Teils des Menschen, der der Vernunft gehorcht, eine Sünde sein. Aber nicht nur der körperliche Teil gehorcht der Vernunft und dem Willen des Menschen in bezug auf die äußere Handlung, sondern auch das sinnliche Streben in bezug auf gewisse innere Bewegungen. Daher kann sowohl in den äußeren Handlungen als auch in den Bewegungen des sinnlichen Strebens, das Sinnlichkeit genannt wird, eine Sünde auftreten. Aber man muß ins Auge fassen, daß die Sünde nicht der Sinnlichkeit oder dem körperlichen Teil, sondern der Vernunft zugeschrieben wird, wenn das innere Begehren oder der äußere Teil in Übereinstimmung mit dem Befehl des Willens tätig sind. Denn die 114 115 116 117 118
Röm. 7, 15. Glossa interlin. in Rom. 7, 15. Petrus Lombardus, Sententiae II, d. 24 c. 9. (ed. Coll. S. Bon. I, 424). Augustinus, De trin. XII, 12 n. 17 (CCSL 50, 371–372). Vgl. De malo q. 2 a. 1 und 2.
6. Artikel
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Handlung wird mehr dem ursprünglichen und ersten Handelnden als dem Werkzeug zugeschrieben. Ein äußeres Glied kann aber nur tätig sein, wenn es entweder durch die Vernunft oder wenigstens durch die Vorstellungskraft oder das Gedächtnis und das sinnliche Begehren bewegt wird. Daher sagt man von den äußeren Gliedern – zum Beispiel der Hand oder dem Fuß – niemals, daß die Sünde in ihnen ist. Aber die Sinnlichkeit wird manchmal ohne Befehl der Vernunft und des Willens bewegt und dann sagt man, daß die Sünde in der Sinnlichkeit ist. Aber dennoch kann dies keine Todsünde, sondern nur eine läßliche Sünde sein. Denn die Todsünde geht aus der Abwendung vom letzten Ziel hervor, auf das die Vernunft ordnet. Aber die Sinnlichkeit kann sich darauf nicht erstrecken. Daher kann in der Sinnlichkeit keine Todsünde, sondern nur eine läßliche Sünde sein. Da nämlich die Bewegung der Sinnlichkeit von der Vernunft befohlen wird, wie bei dem offensichtlich ist, der etwas Tödliches begehren will, ist eine Bewegung dieser Art eine Todsünde. Sie wird aber nicht der Sinnlichkeit, sondern der befehlenden Vernunft zugeschrieben. Zu 1. Ambrosius spricht von dem Laster der Todsünde, das der Tugend entgegengesetzt ist. Aber die läßliche Sünde ist der Tugend nicht entgegengesetzt, obwohl nach Aristoteles im 2. Buch der Nikomachischen Ethik einige Tugenden zu den unvernünftigen Teilen der Seele gehören, jedoch nicht, insofern sie zum sinnlichen Seelenteil gehörig sind, sondern insofern sie durch Teilhabe vernunftgemäß sind.119 Zu 2. Augustinus nimmt von jeder Sünde an, daß sie im Willen als ihrem ersten Beweger oder dem Wirkvermögen ist. Denn daß die Bewegung der Sinnlichkeit eine läßliche Sünde ist, kommt daher, daß der Wille dies verhindern kann. Zu 3. Die Sinnlichkeit ist Träger der Sünde, insofern sie der Vernunft gehorcht. So ist sie uns aber nicht mit den Tieren gemeinsam. Zu 4. Wenn sich eine Handlung des Willens oder der Vernunft in einer Sünde findet, dann kann sie unmittelbar der Vernunft oder 119 Richtig: Aristoteles, Eth. Nic. II, 19; 1117 b 23–24.
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dem Willen als dem ersten Beweger und dem ersten Träger zugeschrieben werden. Aber wenn sich dort keine Handlung des Willens oder der Vernunft findet, sondern nur eine Handlung der Sinnlichkeit, die Sünde genannt wird, weil sie durch die Vernunft und den Willen verhindert werden kann, dann wird die Sünde der Sinnlichkeit zugeschrieben. Zu 5. Wenn die Veranlagung und der Habitus sich wie Vollkommenes und Unvollkommenes in derselben Art unterscheiden, dann sind sie in demselben Träger. Ansonsten ist das nicht notwendig. Denn die Güte der Vorstellung ist eine Veranlagung zum Wissen. Auf ähnliche Weise kann die Bewegung der Sinnlichkeit eine Veranlagung zur Todsünde sein, die in der Vernunft ist. Zu 6. Wenn eine unerlaubte Bewegung in der Sinnlichkeit auftritt, kann sich die Vernunft zu ihr auf dreifache Weise verhalten. Auf eine Weise als etwas ihr Widerstehendes. Dann liegt dort keine Sünde vor, sondern Verdienst einer Belohnung. Manchmal verhält sie sich aber als Befehlendes, zum Beispiel wenn jemand absichtlich die Bewegung der unerlaubten Begierde anreizt. Wenn dann das Unerlaubte in der Gattung der Todsünde ist, wird dort eine Todsünde sein. Manchmal aber verhält es sich weder als Verhinderndes noch als Befehlendes, sondern als Zustimmendes. Dann liegt eine läßliche Sünde vor. Zu 7. Augustinus spricht dort von der Todsünde, die schlechthin Sünde ist. Denn die läßliche Sünde ist in gewisser Hinsicht eine Sünde, wie oben ausgeführt wurde.120 Zu 8. Da das sinnliche Streben von einer Wahrnehmung bewegt wird und trotzdem ein Vermögen in einem körperlichen Organ ist, kann dessen Bewegung auf zweifache Weise aufkommen. Auf eine Weise aus der körperlichen Veranlagung, auf andere Weise aus irgendeiner Wahrnehmung. Die körperliche Veranlagung unterliegt aber nicht dem Befehl der Vernunft. Jede Wahrnehmung unterliegt hingegen dem Befehl der Vernunft. Denn die Vernunft kann den Gebrauch jedes Wahrnehmungsvermögens verhindern, am meisten in der Abwesenheit eines durch den Tastsinn wahrnehmbaren Gegenstandes, der manchmal nicht entfernt werden kann. Da die Sünde 120 Vgl. De malo q. 7 a. 6 ad 4.
7. Artikel
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in der Sinnlichkeit ist, insofern sie der Vernunft gehorchen kann, ist die erste Bewegung der Sinnlichkeit, die aus einer Veranlagung des Körpers hervorgeht, daher keine Sünde. Manche nennen diese Bewegung »unfreiwillig«. Aber die zweite Bewegung der Sinnlichkeit, die durch irgendeine Wahrnehmung angereizt wird, ist eine Sünde. Denn die erste kann die Vernunft auf keine Weise verhindern, die zweite kann sie hingegen in bezug auf einzelne Bewegungen vermeiden, nicht jedoch in bezug auf alle. Denn wenn sie ihre Betrachtung von einem Gegenstand abwendet, stößt sie auf einen anderen, woraus eine unerlaubte Bewegung aufsteigen kann.
7. Artik el Die siebte Frage lautet: Konnte der Mensch im Zustand der Unschuld eine läßliche Sünde begehen? 121 Das scheint der Fall zu sein, denn: 1. Über die Stelle aus dem 1. Timotheusbrief 2, 14: »Adam wurde nicht betrogen«122 sagt die Glosse: »Unerfahren in der göttlichen Strenge war es möglich, daß Adam so betrogen wurde, daß er das, was er tat, für läßlich hielt.«123 Deshalb scheint es, daß Adam im Zustand der Unschuld glaubte, eine läßliche Sünde begehen zu können, bevor er eine Todsünde beging. Aber er hat die Verfassung seines Zustandes besser gekannt als wir. Wir dürfen also nicht sagen, daß er keine läßliche Sünde begehen konnte. 2. Dagegen wurde eingewandt, daß unter »läßlich« dort nicht »läßlich auf Grund der Gattung« verstanden wird, wie etwa ein eitles Wort eine läßliche Sünde genannt wird. Vielmehr nennt man es läßlich, weil es leicht vergeben werden kann. – Dagegen spricht: Über jenes: »Denk daran, ich bitte dich, daß du wie Ton mich geschaffen hast«124 sagt Gregor der Große im 7. Buch der Moralia in Job: »Im Menschen ist die Schuld läßlich, während sie im Engel un-
121 122 123 124
Paralleltexte: Sent. II, d. 21 q. 2 a. 3. Sum. theol. I–II, q. 83 a. 3. 1 Tim. 2, 14. Petrus Lombardus, Glossa in 1 Tim. 2, 14 (PL 192, 341 C). Hiob 10, 9.
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verzeihlich ist«.125 Wenn Adam also gedacht hätte, daß seine Sünde läßlich, das heißt verzeihlich ist, wäre er nicht betrogen gewesen. Also ist die Glosse nicht so auszulegen, daß dort »läßlich« als »verzeihlich« aufgefaßt wird. 3. Die läßliche Sünde ist eine Veranlagung zur Todsünde. Aber eine Veranlagung geht einem Habitus vorher. Also ging im Menschen die läßliche Sünde der Todsünde voran. 4. Wir können eine läßliche Sünde begehen. Wenn Adam also nicht läßlich sündigen konnte, war dies nur wegen der Unversehrtheit seines Zustandes der Fall. Aber die Unversehrtheit des ersten Zustandes ist der läßlichen Sünde weniger entgegengesetzt als der Todsünde. Die hat er jedoch begangen. Also konnte er viel mehr noch eine läßliche Sünde begehen. 5. Die Sünden sind den tugendhaften Handlungen entgegengesetzt. Aber die tugendhaften Handlungen waren im Zustand der Unschuld nicht von einer anderen Gattung, als sie es jetzt sind. Also waren es auch die sündigen Handlungen nicht. Wenn also manche Sünden jetzt läßliche Sünden sind, waren sie es auch im Zustand der Unschuld. 6. Wir gelangen zum weniger Entfernten früher als zum weiter Entfernten. Aber die Todsünde ist von der Rechtbeschaffenheit des ersten Zustandes weiter entfernt als die läßliche Sünde. Also gelangte Adam früher zur läßlichen Sünde als zur Todsünde. 7. Adam konnte sündigen und gut handeln. Aber er konnte ein größeres Gut oder ein kleineres Gut tun. Also konnte er auch ein größeres und ein kleineres Übel begehen, indem er eine Todsünde und eine läßliche Sünde beging. 8. Im vernünftigen Geschöpf findet sich ein Zustand, in dem es eine Todsünde und eine läßliche Sünde begehen kann, wie es bei uns der Fall ist. Es findet sich aber ein anderer Zustand, in dem weder eine läßliche Sünde noch eine Todsünde begangen werden kann, wie im Zustand der Herrlichkeit. Es findet sich aber auch ein Zustand, in dem keine läßliche Sünde, sondern nur eine Todsünde begangen werden kann. Also gibt es einen Zustand, in dem eine läßliche Sünde und keine Todsünde begangen werden kann, solange dieser Zustand 125 Eher: Gregor der Große, Moral. IX, 50 (CCSL 143, 510).
7. Artikel
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andauert. Aber dieser Zustand kann kein anderer sein als der Zustand der Unschuld. Also konnte im Zustand der Unschuld eine läßliche Sünde begangen werden, solange dieser Zustand dauerte. 9. Im Buch Kohelet 7, 30 heißt es, Gott habe den Menschen wohlgestaltet geschaffen. Demnach war die Herrschaft der Seele im Zustand der Unschuld gut geordnet.126 Aber die gut geordnete Herrschaft kann zuerst geschwächt werden, bevor sie vollständig zerstört wird. Also konnte auch die Herrschaft der Seele vorher durch die läßliche Sünde geschwächt werden, bevor sie durch die Todsünde vollständig zerstört wurde. 10. Die Gnade zerstört nicht die Natur. Aber der freie Wille des Menschen besitzt durch die Natur die Kraft, gut zu handeln, eine Todsünde zu begehen und eine läßliche Sünde zu begehen. Also schloß das gnadenhafte Geschenk der ursprünglichen Gerechtigkeit nicht die Möglichkeit aus, läßlich zu sündigen. 11. Nichts hindert, daß ein Mangel in der Tätigkeit eines niedrigeren Tätigen auftritt, obwohl es keinen Mangel in der Tätigkeit des höheren Tätigen gibt. Zum Beispiel kann es einen Mangel in der keimenden Kraft der Pflanze geben, ohne daß ein Mangel in der Bewegung der Sonne vorliegt. Aber in der Seele verhalten sich Vernunft und Sinnlichkeit wie Höheres und Niedrigeres zueinander. Also konnte sogar im Zustand der Unschuld eine läßliche Sünde in der Tätigkeit der Sinnlichkeit auftreten, obwohl keine Todsünde in der Tätigkeit der Vernunft war. 12. Augustinus sagt im 11. Buch von Über Genesis dem Wortlaut nach: »Adam wurde verführt von seiner Sehnsucht nach Erfahrung, als er sah, daß die Frau nach dem Essen der Frucht nicht starb. Dennoch denke ich nicht, daß Adam, wenn er mit einem rein geistigen Gemüt ausgestattet war, möglicherweise geglaubt haben konnte, daß Gott ihnen aus Neid verboten hatte, von der Frucht des Baumes zu essen.«127 Aber Adam besaß nach der Sünde kein rein geistiges Gemüt. Also verführte ihn die Begierde nach Erfahrung vor der Sünde. Aber die Sehnsucht des Erfahrens ist eine läßliche Sünde. Also ging in Adam die läßliche Sünde der Todsünde vorher. 126 Koh. 7, 30. 127 Augustinus, De Gen. ad lit. XI, 42 (CSEL 28/1, 378).
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13. Eine plötzliche Bewegung des Unglaubens ist eine läßliche Sünde. Aber bevor Eva sündigte, war in ihr eine plötzliche Bewegung des Unglaubens. Das geht offensichtlich aus der Tatsache hervor, daß sie wie im Zweifel sagte: »Damit wir vielleicht nicht sterben.«128 Also hat sie, bevor sie eine Todsünde beging, läßlich gesündigt. 14. Nach dem Enchiridion des Augustinus sind die Sünden in der Seele wie die Krankheiten im Körper.129 Aber bevor er sich den Tod erwarb, infizierte Adam sich mit einer Krankheit, die seine Kraft schwächte. Also erwarb er sich aus dem gleichen Grund vor dem geistigen Tod durch die Todsünde durch die läßliche Sünde eine Schwäche. 15. Augustinus sagt im 11. Buch von Über Genesis dem Wortlaut nach: »Wir dürfen nicht denken, daß der Versucher den Fall des Menschen verursacht haben würde, wenn nicht zuerst ein gewisser Stolz, der unterdrückt hätte werden sollen, in der Seele des Menschen erstanden wäre.«130 Aber der Stolz konnte nicht unterdrückt werden, nachdem er in ihn eingewilligt hatte. Also war er erstanden in ihm, bevor er durch Widerspruch zu unterdrücken war. Aber eine auf diese Weise zu unterdrückende Bewegung ist eine läßliche Sünde. Also ist in Adam vor der Zustimmung eine läßliche Sünde gewesen. 16. Der Mensch wurde durch den Versucher dazu gebracht, durch die Todsünde zu fallen. Aber der Stolz, der hätte unterdrückt werden sollen, ging dem Fall voran, wie dieselben Worte des Augustinus verlauten lassen.131 Also ist die läßliche Sünde in ihm vor der Todsünde gewesen. Dagegen spricht: 1. Die erste Sünde des Menschen ist nach dem Brief des Apostels an die Römer 5, 12 die Ursache des Todes gewesen: »Durch einen Menschen kam die Sünde in die Welt und durch die Sünde der 128 129 130 131
Gen. 3, 3. Augustinus, Ench. III, 11 (CCSL 46, 53). Augustinus, De Gen. ad lit. XI, 5 (CSEL 28/1, 338). Augustinus, De Gen. ad lit. XI, 5 (CSEL 28/1, 338).
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Tod.«132 Aber die Sünde heißt deshalb Todsünde, weil sie die Ursache des Todes ist. Also mußte die erste Sünde des Menschen eine Todsünde gewesen sein. 2. Anselm sagt in seinem Buch Über die unbefleckte Empfängnis: »Wie es die Ordnung des Tieres ist, ohne Vernunft zu handeln, so ist es die Ordnung der menschlichen Natur, mit Vernunft zu handeln.«133 Wer aber eine läßliche Sünde begeht, der handelt nicht mit Vernunft, ansonsten wäre sie kein Übel. Denn Dionysius sagt im 4. Kapitel von Über die göttlichen Namen, daß es ein Übel für den Menschen ist, ohne Vernunft zu sein.134 Also konnte der Mensch im Zustand der Unschuld, in dem die Ordnung der Natur intakt war, keine läßliche Sünde begehen. 3. Jede Bewegung entsteht durch das vorherrschende Prinzip. Aber im Menschen war in der Zeit der Unschuld die Gerechtigkeit vorherrschend. Also entsprach jede Bewegung jenes Zustandes der Gerechtigkeit. Während der Dauer jenes Zustandes konnte der Mensch also keine läßliche Sünde begehen. Antwort: Allgemein wird angenommen, daß Adam im ersten Zustand keine läßliche Sünde beging, bevor er eine Todsünde beging. Es könnte aber jemand urteilen, daß dies deshalb der Fall ist, weil die Sünden, die für uns läßlich sind, für den Menschen im Zustand der Unschuld wegen der Hervorragendheit seines Standes tödlich gewesen wären. Aber das kann man nicht behaupten. Es ist natürlich möglich, daß ein und dieselbe Sünde wegen der Hervorragendheit der Person schwerer wiegt. Aber der Umstand der Person erschwert nicht unendlich, so daß er aus einer läßlichen Sünde eine Todsünde machen würde. Es sei denn, er führt sie in eine andere Art der Sünde über. Denn nur ein derartiger Umstand macht aus einer läßlichen Sünde
132 Röm. 5, 12. 133 Anselm von Canterbury, De conceptu virg. 10 (Opera Omnia II,
ed. Schmitt, 152). 134 Dionysius Areopagita, De div. nom. IV, 32 (Dion., 309).
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eine Todsünde, wie oben festgestellt worden ist.135 Dies passiert aber, wenn etwas einer Vorschrift für eine Person wegen der Bedingung ihres Standes entgegengesetzt ist, was bei einer niederen Person nicht die Natur von etwas hat, das gegen ein Gebot widerspricht. So verstößt zum Beispiel die Ehelichung einer Frau bei einem Priester gegen das Gebot, das Gelübde der Enthaltsamkeit zu erfüllen, nicht aber bei einem Laien, der kein Gelübde abgelegt hat. Auf diese Weise ist das, was bei einem Laien entweder eine läßliche oder keine Sünde ist, bei einem Priester eine Todsünde. Wenn aber die Handlung der höheren Person nicht gegen ein besonders für ihn aufgestelltes Gebot verstößt, ist es keine Todsünde. Denn jede Todsünde widerspricht einem Gebot des göttlichen Gesetzes, wie oben ausgeführt worden ist.136 Eine Ausnahme könnte vielleicht sein, daß durch Zufall ein öffentliches Ärgernis verursacht wird. Obwohl auch das einem Gebot widerspricht, eine Gelegenheit für den Fall des Bruders zu bereiten. Aber man kann nicht sagen, daß die Handlungen der läßlichen Sünden beim ersten Menschen im Zustand der Unschuld auf andere Weise dem Gebot entgegengesetzt gewesen wären als bei uns. Daher kann man nicht sagen, daß eben die Sünden, die bei uns läßlich sind, wegen der Hervorragendheit seines Zustandes tödlich gewesen wären, wenn er sie begangen hätte. Vielmehr muß man eher sagen, daß sein Zustand von einer solchen Verfassung war, daß er, während der so beschaffene Zustand andauerte, auf keine Weise eine läßliche Sünde begehen konnte. Der Grund dafür besteht darin, daß der Mensch im Zustand der Unschuld so beschaffen war, wie Augustinus im 14. Buch von Über die Bürgerschaft Gottes sagt, daß, solange der höhere Teil der Seele fest an Gott hing, alle unteren Teile dem höheren unterlagen. Das gilt nicht nur für die unteren Teile der Seele, sondern auch für den Körper selbst und die verschiedenen äußeren Glieder.137 Der höhere Teil des Menschen, nämlich der Geist, konnte von seiner Rechtbeschaffenheit, durch die er Gott unterlag, aber nur durch eine Tod135 Vgl. De malo q. 7 a. 4. 136 Vgl. De malo q. 7 a. 1 arg. 1. 137 Augustinus, De civ. Dei XIV, 15 (CCSL 48, 436–438) und XIV, 19
(CCSL 48, 442).
7. Artikel
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sünde entfernt werden. Diese besteht in der Abwendung von Gott. Es konnte daher keine Ungeordnetheit bei den unteren Seelenteilen geben, bevor der Mensch eine Todsünde beging. Daher ist klar, daß keine läßliche Sünde, die vor der Überlegung der Vernunft in der Sinnlichkeit ist, im Zustand der Unschuld auftreten konnte. Denn jede Bewegung der niederen Teile war in Übereinstimmung mit der Ordnung des höheren Teils. Aber da es nach dem, was oben ausgeführt worden ist,138 auch in der höheren Vernunft eine läßliche Sünde geben kann, könnte es jemandem so scheinen, daß wenigstens diese läßliche Sünde im Zustand der Unschuld in Adam auftreten konnte. Aber auch in bezug darauf findet sich dieselbe Erklärung, wenn man sorgfältig überlegt. Denn da die Vermögen gemäß ihrer Gegenstände unterschieden werden, ist die Ordnung der Gegenstände auch in Übereinstimmung mit der Ordnung der Vermögen. Aber sogar unter den Gegenständen der Vernunft gibt es eine Ordnung des höheren und des niedrigeren, sowohl bei den Denkgegenständen als auch bei denen der Handlung. Wie nämlich der Grundsatz, der nicht hergeleitet werden kann, bei den Denkgegenständen das höchste ist, so verhält es sich mit dem Ziel in den sittlichen Dingen. Solange daher die höhere Vernunft des Menschen richtig auf das Ziel geordnet gewesen wäre, hätte er wegen der fehlerlosen Ordnung der niederen Vermögen zu den höheren gemäß der Verfassung jenes Zustandes auf keine Weise in bezug auf die Mittel zu diesem Ziel fehlen können. Genauso kann auch bei den Denkgegenständen kein Mangel in bezug auf die Schlußfolgerungen auftreten, solange der Mensch die richtige Beurteilung bezüglich der Grundsätze besitzt. Es sei denn, daß ein Mangel in der Verbindung der Grundsätze zu den Schlußfolgerungen vorliegt. Es ist aber aus dem, was oben ausgeführt worden ist,139 offensichtlich, daß die Todsünde aus der Abwendung vom Ziel hervorgeht, die läßliche Sünde hingegen eine Art Ungeordnetheit bezüglich der Mittel zum Ziel ist. Daher war es unmöglich, daß der Mensch im Zustand der Unschuld eine läßliche Sünde früher als eine Todsünde begehen konnte. 138 Vgl. De malo q. 7 a. 5. 139 Vgl. De malo q. 7 a. 1.
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Zu 1. In dieser Glosse wird »läßlich« nicht als läßlich der Gattung nach verstanden, wie wir jetzt von läßlich sprechen, sondern läßlich bedeutet »leicht zu vergeben«. Zu 2. Die Sünde des ersten Menschen ist zwar verzeihlich gewesen, wie Gregor sagt, da sie vergeben werden konnte, nicht jedoch so leicht, wie er selbst dachte, daß sie nämlich ohne Verlust seines Standes vergeben werden würde. Zu 3. Etwas veranlagt auf zwei verschiedene Arten etwas zu etwas anderem. Auf eine Weise gemäß einer notwendigen und natürlichen Ordnung, wie die Wärme zur Form des Feuers veranlagt. Auf die andere Weise nicht notwendig und sozusagen zufällig, wie der Zorn zum Fieber veranlagt. Es ist jedoch nicht immer notwendig, daß der Zorn dem Fieber vorhergeht, und auf diese Weise veranlagt die läßliche Sünde zur Todsünde und geht ihr nicht immer vorher. Zu 4. Sowohl die läßliche Sünde als auch die Todsünde widersprechen der Unversehrtheit des ersten Zustandes in solch einem Ausmaß, daß diese Unversehrtheit mit keiner von beiden verträglich ist. Aber die Todsünde ist ihr in solch einem Ausmaß stärker entgegengesetzt, daß sie, nicht aber die läßliche Sünde, die Unversehrtheit des ersten Zustandes zerstören konnte. Zu 5. Jenes Argument basiert auf der Voraussetzung, daß die Sünden, die bei uns läßlich sind, von Adam hätten begangen werden können, jedoch bei ihm Todsünden gewesen wären. Das ist auf Grund dessen, was bereits ausgeführt wurde,140 offensichtlich falsch. Zu 6. Das Argument ist gültig, wenn der weiter entfernte Ort nur über einen bestimmten Ort, der weniger weit entfernt ist, erreicht werden kann. Aber wenn man über verschiedene weniger weit entfernte Orte zu dem einen weiter entfernten Ort gelangen kann, ist es nicht nötig, daß irgendein bestimmter Ort von diesen vorher erreicht würde. Zum Beispiel ist das der Fall, wenn man auf verschiedenen Wegen an einen Ort gelangen kann. Dann ist es nicht notwendig, daß vorher an einem bestimmten weniger weit entfernten Ort auf einem dieser Wege angekommen würde. Ähnlich ist es
140 Vgl. De malo q. 7 a. 7 c.
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nicht notwendig, daß der Mensch eine läßliche Sünde früher als eine Todsünde begeht. Zu 7. Von Beginn an konnte Adam eine schwerere oder leichtere Todsünde begehen. Dennoch folgt daraus nicht, daß er eine läßliche Sünde begehen konnte. Denn nicht jede kleinere Sünde ist läßlich. Zu 8. Argumente dieser Art sind nicht in allen Fällen schlüssig. Denn eines kann ohne ein anderes gefunden werden wie der Träger ohne Hinzukommendes oder die Form ohne Materie. Jedoch kann das andere nicht ohne jenes gefunden werden. Auf ähnliche Weise kann man sagen, daß auch dann, wenn sich ein Zustand findet, in dem es bloß eine Todsünde geben kann, es deswegen nicht notwendig ist, daß sich ein Zustand finden muß, in dem es nur eine läßliche Sünde geben würde. Obwohl wir sagen können, daß es einen Zustand gibt, in dem es keine Todsünde, sondern nur eine läßliche Sünde geben konnte – und zwar bei den Heiligen im Mutterschoß141, bei Jeremias nämlich, Johannes dem Täufer und den Aposteln, von denen es heißt: »Ich habe ihre Säulen auf festen Grund gestellt«142, ist das der Fall. Von diesen glaubt man, daß sie durch die Gnade bestärkt gewesen sind, so daß sie keine Todsünde, sondern nur eine läßliche Sünde begehen können. Zu 9. Die Tatsache, daß eine Herrschaft vorher geschwächt wird, bevor sie völlig zerstört wird, kann entweder von einem Mangel des Regenten herrühren, dem es an Weisheit oder Gerechtigkeit fehlt, oder von einem Mangel der Untergebenen, die nicht in vollkommener Weise gehorchen. Aber im Zustand der Unschuld war der Geist des Menschen in Weisheit und Gerechtigkeit vollkommen, und seine niederen Vermögen gehorchten ihm auf vollkommene Weise. Daher konnte die Herrschaft der Seele nicht durch eine läßliche Sünde geschwächt werden, bevor sie durch die Todsünde verdorben worden war. Zu 10. Die Vollkommenheit der Natur wird nicht durch die Gnade zerstört, sondern der Mangel der Natur wird durch die Gnade aufgehoben. Sündigen zu können, gehört aber zu einem Mangel. Daher 141 Gemeint sind die Heiligen, die bereits im Mutterschoß von der Gnade des Heiligen Geistes erfüllt sind. 142 Ps. 74, 4.
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kann er auch so vom Menschen entfernt werden, daß er nicht sündigen kann. Das ist am meisten bei den Seligen offensichtlich. Zu 11. Das Auftreten eines Mangels in der Tätigkeit eines niedrigeren Wirktätigen, wenn kein Mangel in dem höheren Wirktätigen vorhanden ist, kann daher kommen, daß das niedrigere Tätige dem höheren nicht vollständig unterliegt. Das war im Zustand der Unschuld aber nicht der Fall. Daher ist das Argument nicht schlüssig. Zu 12. Die Sehnsucht nach Erfahrung folgte auf den Stolz, den der Mann auf Grund des Wortes der Frau empfunden hat. Dies erklären die Worte des Augustinus, der sagt, daß die Begierde nach Erfahrung den Mann wegen seines Geistesstolzes lockte.143 Jener Stolz ist die erste Sünde des Menschen gewesen. Es handelte sich dabei um eine Todsünde, da er sich wider Gott überhob. Trotzdem kann die Begierde, das Verbotene zu erfahren, eine Todsünde sein. Es muß jedoch auf die Zeit vor dem Erwachen des Stolzes bezogen werden, daß der Mensch als mit einem rein geistigen Gemüt ausgestattet bezeichnet wird. Trotzdem kann man sagen, daß der Mensch auch nach der Sünde ein rein geistiges Gemüt besaß, nicht jedoch auf Grund der unkörperlich geistigen Kraft der Gnade, sondern auf Grund der unkörperlich geistigen Kraft einer klar sehenden Vernunft. Zu 13. Was sogar in Worten hervorbricht, kann man keine plötzliche Bewegung des Unglaubens oder Zweifels nennen. Jedoch ging sogar dem Zweifel der Frau, der in Worten ausbrach, eine Art Stolz in ihrem Geist voran. Dieser wurde durch die Worte der Schlange angestachelt, durch die er sie in bezug auf das verführte, was im Befehl eines Höheren enthalten war. Sofort erstand nämlich im Geist der Frau der Stolz, durch den sie davor zurückschreckte, von den Geboten Gottes gezügelt zu sein. Daraus folgte unmittelbar der Zweifel. Zu 14. Die eigentliche Notwendigkeit zu sterben, der der Mensch sofort unterworfen wurde, wird nach der Stelle aus dem Römerbrief 8, 10 eine Art Tod des Menschen genannt: »Der Körper ist nämlich wegen der Sünde gestorben.«144 So wird auch die Todsünde der Tod 143 Augustinus, De Gen. ad lit. XI, 42 (CSEL 28/1, 378). 144 Röm. 8, 10.
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der Seele genannt. Aber der gegenwärtige Tod entspricht im Verhältnis der zukünftigen Verdammung. Zu 15. »Erstehender Stolz, der unterdrückt werden sollte«, wird gesagt, damit er nicht ersteht. Denn wenn der Vorschlag des Verführers gemacht wurde, hätte der Mensch so vorbereitet sein sollen, daß er es nicht zulassen würde, daß der Stolz sich einschleicht. Zu 16. Dieser Fall wird aufgefaßt gemäß der Handlung der äußeren Sünde oder auch gemäß dem Verlust des Standes. Diesem ging der Stolz voran, so wie die Ursache der Wirkung vorangeht.
8. Artik el Die achte Frage lautet: Sind die ersten Bewegungen in den Ungläubigen läßliche Sünden? 145 Das scheint nicht der Fall zu sein, denn: 1. Anselm sagt im Buch Über die Gnade und den freien Willen: »Die, die nicht in Christus sind und die das Fleisch empfinden, folgen der Verdammung, auch wenn sie nicht dem Fleisch folgen.«146 Aber das Fleisch fühlen und dem Fleisch nicht folgen, ist die erste Bewegung der Begierde. Also scheint es, daß die ersten Bewegungen der Begierde bei den Ungläubigen, die nicht in Jesus Christus sind, keine läßlichen Sünden, sondern Todsünden sind. Denn die Verdammung verdient man nur durch eine Todsünde. 2. Der Apostel sagt im Römerbrief 7, 15: »Denn ich tue nicht das Gute, das ich will«, nämlich nicht zu begehren.147 Aus diesem Grund folgert er, daß es nicht verdammenswert in ihm ist, wenn er nicht dem Fleisch folgt, da er in Jesus Christus war, wenn er sagt: »Es gibt also keine Verdammung für die«, dafür nämlich, daß sie begehren, »die in Jesus Christus sind, die nicht dem Fleisch folgen.«148 Durch
145 Paralleltexte: Sum. theol. I–II, q. 89 a. 5. Quodl. IV, q. 11 a. 2. Super Rom. cap. 8 lect. 1. 146 Anselm von Canterbury, De gratia et libero arbitrio q. 3 c. 7 (Opera Omnia II, ed. Schmitt, 274). 147 Röm. 7, 15. 148 Röm. 8, 1.
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Entfernung der Ursache wird aber die Wirkung entfernt. Also ist es für sie, die nicht in Jesus Christus sind, verdammenswert. 3. Wie Anselm in demselben Buch sagt, war der Mensch so geschaffen, daß er die Begierde nicht empfinden sollte.149 Aber diese Verpflichtung scheint dem Menschen durch die Gnade der Taufe, die die Ungläubigen nicht besitzen, erlassen worden zu sein. Auch wenn er nicht zustimmt, handelt der Ungläubige also jedes Mal, wenn er begehrt, gegen die Pflicht und sündigt demnach tödlich. Dagegen spricht: Bei ansonsten gleichen Umständen sündigt ein Christ mehr als ein Ungläubiger. Das ist aus dem ersichtlich, was der Apostel im Brief an die Hebräer 10, 29 sagt: »Was meint ihr, eine wie viel härtere Strafe der verdient, der den Sohn Gottes mit Füßen getreten hat« etc.150 Aber ein Christ begeht mit der Erfahrung der Begierde keine Todsünde, wenn er nicht zustimmt. Also tut das der Ungläubige noch viel weniger. Antwort: Manche behaupteten, daß in einem Ungläubigen auch die ersten Bewegungen der Begierde Todsünden sind. Aber das kann nicht sein. Denn die Bewegung der Sinnlichkeit kann auf zweifache Weise betrachtet werden: einmal an sich selbst. Auf diese Weise ist offensichtlich, daß sie keine Todsünde sein kann. Denn die Todsünde besteht in der Abwendung vom höchsten Ziel und in der Mißachtung von Gottes Gebot. Die Sinnlichkeit ist aber weder empfänglich für das Gebot Gottes, noch kann sie zum höchsten Ziel gelangen. Daher kann ihre Bewegung an sich selbst betrachtet auf keine Weise eine Todsünde sein. Auf andere Weise kann sie hinsichtlich ihres Ursprunges betrachtet werden, der in der Erbsünde besteht. Auf diese Weise kann sie nicht mehr von der Natur haben als die Erbsünde. Denn eine Wirkung als solche kann nicht mächtiger als ihre Ursache sein. Aber die Erbsünde ist zwar im Ungläubigen 149 Anselm von Canterbury, De concordia praesc. et praed. q. 3 c. 7 (Opera Omnia II, ed. Schmitt, 274). 150 Hebr. 10, 29.
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sowohl hinsichtlich der Schuld als auch hinsichtlich der Strafe: im Gläubigen hingegen bleibt zwar die Strafe, jedoch die Schuld wird aufgehoben, wie oben ausgeführt wurde, als die Erbsünde untersucht wurde.151 Deswegen ist die Bewegung der Sinnlichkeit bei den Gläubigen zwar eine läßliche Sünde, insofern sie eine Handlung der Person ist. Aber insofern man durch die Geburt damit infiziert wird, führt sie nicht zur sträflichen Verdammung, sondern nur zu einer bestimmten Strafwürdigkeit. In dem Ungläubigen ist sie jedoch auf ähnliche Weise eine läßliche Sünde, insofern sie eine persönliche Handlung ist. Aber insofern sie sich von der Erbsünde herleitet, führt sie zu einem Grad sträflicher Verdammung, jedoch nicht der Verdammung, die der in einer Handlung bestehenden Todsünde zukommt, sondern die der Verdammung der Erbsünde zukommt. Zu 1. Diejenigen, die nicht in Christus sind und das Fleisch empfinden, erlangen die Verurteilung, die der Erbsünde angemessen ist, aber nicht die für die Todsünde angemessene Verurteilung. Zu 2. Wenn der Apostel sagt: »Es gibt also keine Verdammung« etc., will er den Schluß ziehen, daß das Aufbegehren des Zunders der bösen Begehrlichkeit bei denen, die in Jesus Christus sind, der Verurteilung für die Erbsünde ermangelt. Daraus kann gefolgert werden, daß bei denen, die nicht die Gnade Jesu Christi erlangt haben, der Zunder der bösen Begehrlichkeit zusammen mit der Erbschuld besteht. Zu 3. Jene Verpflichtung, das Fleisch nicht zu empfinden, ist die Verpflichtung, die ursprüngliche Gerechtigkeit zu besitzen. Woraus folgt, daß eine Person, die sie oder etwas, das sie wie die Gnade der Taufe ersetzt, nicht besitzt, die Erbsünde besitzt, nicht aber, daß sie in jeder ihrer Bewegungen die Todsünde besitzt.
151 Vgl. De malo q. 4 a. 6 ad 4.
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9. Artik el Die neunte Frage lautet: Kann ein guter oder ein schlechter Engel eine läßliche Sünde begehen? 152 Das scheint der Fall zu sein, denn: 1. Gregor der Große sagt in einer Predigt zu Christi Himmelfahrt: »Der Mensch stimmt mit dem Engel überein, insofern er erkennt.«153 Aber die läßliche Sünde kann im Menschen auch durch den erkennenden Teil auftreten, nämlich durch die höhere und die niedere Vernunft, wie oben ausgeführt wurde.154 Also kann die läßliche Sünde aus dem gleichen Grund im Engel sein. 2. Die Todsünde besteht darin, daß jemand ein Geschaffenes mehr als Gott liebt. In der läßlichen Sünde wird hingegen etwas weniger als Gott geliebt. Aber der Engel konnte das Geschaffene mehr als Gott lieben, da er eine Todsünde begangen hat. Also konnte er auch läßlich sündigen, indem er das Geschaffene weniger als Gott liebte. Denn wer mehr lieben kann, der kann auch weniger lieben. 3. Die Todsünde ist unendlich weit von der läßlichen Sünde entfernt. Das ist durch den Unterschied der Strafen offensichtlich. Denn für die eine Sünde verdient man eine zeitliche Strafe, für die andere eine ewige Strafe. Aber der Engel ist nicht unendlich vom Menschen verschieden. Denn da schlechte Engel, die Dämonen genannt werden, manchmal Taten begehen, die beim Menschen läßlich sind, zum Beispiel wenn sie sich selbst in eitler Rede betätigen oder andere dazu anreizen, scheint es, daß in den Engeln nicht Todsünden, sondern läßliche Sünden sind. 4. Eine Sünde, die ihrer Gattung nach läßlich ist, wird nur durch Geringschätzung zur Todsünde. Aber manchmal reizen die Dämonen zu Dingen, die ihrer Gattung nach läßlich sind. Wie sie selbst manchmal sagen, tun sie dies weder aus Verachtung Gottes, noch um den Menschen zur Todsünde zu verführen. Also sündigen sie läßlich.
152 Paralleltexte: Sum. theol. I–II, q. 89 a. 4. 153 Gregor der Große, In Evang. II, hom. 29 (PL 76, 1214 B). 154 Vgl. De malo q. 7 a. 5 und 6.
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Dagegen spricht: Die läßliche Sünde tritt im Besonderen durch Einschleichung auf. Aber Einschleichung findet weder bei den guten noch bei den schlechten Engeln statt. Denn sie besitzen einen gottähnlichen Verstand, wie Dionysius sagt.155 Also kann weder bei den guten noch bei den schlechten Engeln eine läßliche Sünde auftreten. Antwort: In einem guten oder schlechten Engel kann es keine läßliche Sünde geben. Der Grund dafür ist, daß der Engel keinen schließenden Verstand besitzt, wie wir ihn haben. Es gehört aber zur Natur des schließenden Verstandes, daß er manchmal seine Prinzipien und seine Schlußfolgerungen getrennt voneinander betrachtet. So kann es vorkommen, daß er von einem zum anderen geht, jetzt dies, dann dies betrachtend. Dies kann aber in einem gottähnlichen und nicht schließenden Verstand nicht passieren, sondern er betrachtet die Schlußfolgerungen immer in den Prinzipien selbst, ohne jeden Schluß von einem auf das andere. Es wurde aber ausgeführt, daß sich bei den Dingen des Strebens und der Handlung das Ziel so zu den Mitteln zum Ziel verhält, wie sich in den Beweisen ein unbeweisbares Prinzip zu den Schlußfolgerungen verhält.156 Deshalb kann es bei uns vorkommen, daß wir manchmal nur über die Mittel zum Ziel nachdenken oder mit ihnen beschäftigt sind, und manchmal denken wir nur über das Ziel nach oder sind mit ihm beschäftigt. Das kann bei den Engeln nicht geschehen, sondern die Bewegung des Geistes eines Engels ist immer zugleich auf das Ziel und die Mittel zum Ziel gerichtet. Daher kann es bei ihnen nie zu einer Unordnung über die Mittel zum Ziel kommen, außer es liegt gleichzeitig eine Ungeordnetheit über das Ziel selbst vor. Bei uns kann es aber auf Grund der läßlichen Sünde zu einer Ungeordnetheit über die Mittel zum Ziel kommen, auch wenn der Geist des Menschen habituell fest auf das Ziel gerichtet ist. Daher kann es im Menschen die läßliche Sünde ohne Todsünde geben, nicht aber bei den Engeln. Vielmehr geht bei ihnen jede Ungeordnetheit aus der Abwendung 155 Dionysius Areopagita, De div. nom. VII, 2 (Dion., 401). 156 Vgl. De malo q. 7 a. 7 c.
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vom letzten Ziel hervor, wodurch eine Todsünde verursacht wird. Denn ein Engel sündigt deshalb, weil er an einem geschaffenen Gut festhält, indem er sich vom ungeschaffenen Gut abwendet. Zu 1. Wir haben zwar hinsichtlich der Vernunft etwas mit den Engeln gemeinsam, aber der Gattung nach. Dennoch liegt hinsichtlich der Art ein großer Unterschied vor, da der Verstand der Engel gottähnlich, unser Verstand aber schließend ist, wie ausgeführt worden ist.157 Zu 2. Der Engel besitzt keine zusammengesetzte Natur wie der Mensch, der durch seine sinnliche und körperliche Natur dazu gebracht wird, etwas zu lieben, das er nicht lieben darf, oder es in einem unerlaubten Ausmaß zu lieben. Der Engel kann hingegen nur deshalb sündigen, weil er ein ihm angenehmes Gut liebt, ohne es auf Gott zu beziehen. Das bedeutet, sich von Gott abzuwenden und eine Todsünde zu begehen. Daher kann er nur durch die Abwendung von Gott etwas auf ungeordnete Weise lieben. Zu 3. Bei allen seinen willentlichen Handlungen begeht der Teufel eine Todsünde. Denn die Handlungen des freien Willens in ihm gehen immer aus dem Streben nach einem verkehrten Ziel hervor. Zu 4. Wegen eben dieser Tatsache, daß er die Menschen zu frivoler Rede verführt, hat der Dämon die verkehrte Absicht, sie zur Todsünde zu verführen. nur mit ihm Umgang zu haben, wird dem Menschen als Sünde angelastet, so sehr, daß wir nicht einmal die Wahrheit von ihm erfragen dürfen, wie Johannes Chrysostomus sagt.158 Daher verbot ihm der Herr auch, die Wahrheit über seine Göttlichkeit zu offenbaren, wie in Markus 1, 24–25 und Lukas 4, 34–35 behauptet wird.159 Auch sollte dem Wort des Teufels nicht geglaubt werden, da er ein Lügner ist und der Vater der Lügen, wie es in Johannes 8, 44 heißt.160
157 Vgl. De malo q. 7 a. 9 c. 158 Johannes Chrysostomus, Catena aurea super Marcum 1, 25. Vgl.
Johannes Chrysostomus, De Lazaro concio II (PG 48, 983–984). 159 Mk. 1, 24–25. Lk. 4, 34–35. 160 Joh. 8, 44.
10. Artik el Die zehnte Frage lautet: Wird die läßliche Sünde ohne Gottesliebe mit einer ewigen Strafe bestraft? 161 Das scheint nicht der Fall zu sein, denn: 1. Wenn die Ursache entfernt wird, wird die Wirkung entfernt. Aber eine Todsünde wird deshalb mit dem ewigen Tod bestraft, weil sie ein ewiges Gut zerstört. Denn Augustinus sagt im 21. Buch von Die Bürgerschaft Gottes : »Der Mann, der in ihm selbst das Gut zerstörte, das ewig sein konnte, ist des ewigen Übels würdig geworden.«162 Dies macht die läßliche Sünde aber nicht. Also wird die läßliche Sünde verbunden mit einer Todsünde nicht durch eine ewige Strafe bestraft. 2. Wie es in Deuteronomium 25, 2 heißt: »Wie es seiner Schuld entspricht, soll er eine Anzahl von Schlägen erhalten.«163 Aber die läßliche Sünde wird nicht dadurch größer, daß sie mit einer Todsünde verbunden ist. Aber wenn sie ohne Todsünde in einem Menschen ist, der die Gottesliebe besitzt, dann wird sie nicht mit einer ewigen Strafe bestraft. Also wird sie auch nicht mit einer ewigen Strafe bestraft, wenn sie mit einer Todsünde verbunden ist. 3. Dagegen wurde eingewandt, daß die läßliche Sünde in einer Person, die ohne Gottesliebe stirbt, wegen dem Umstand der endgültigen Verstocktheit durch die Verbindung mit einer Todsünde erschwert wird. – Dagegen spricht: Die endgültige Verstocktheit ist nach Augustinus in seiner Schrift Über das Wort des Herrn eine Sünde wider den Heiligen Geist.164 Wenn also eine Sünde auf Grund der endgültigen Verstocktheit erschwert wird, wird aus ihr eine Sünde wider den Heiligen Geist werden. Somit wird sie dann keine läßliche Sünde, sondern eine Todsünde sein. 4. Sogar bei einer Person, die im Besitz der Gottesliebe ist, kann es vorkommen, daß sie vor dem Tod eine läßliche Sünde, die sie begangen hat, nicht bereut. Dennoch wird sie für die läßliche Sünde 161 162 163 164
Paralleltexte: Sum. theol. I–II, q. 89 a. 6. Augustinus, De civ. Dei XXI, 12 (CCSL 48, 778). Deut. 25, 2; Vulg. ›pro mensura peccati …‹. Augustinus, Sermo 71, 12 (PL 38, 455).
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nicht mit einer ewigen Strafe bestraft. Also erschwert die endgültige Verstocktheit die mit einer Todsünde verbundene läßliche Sünde nicht so sehr, daß sie diese selbst der ewigen Strafe würdig macht. 5. Je höher der Stand eines Menschen ist, um so schwerer scheint ein und dieselbe Sünde für ihn zu sein. Aber derjenige, der die Gottesliebe besitzt, ist in einem höheren Stand als der, der im Stand der Todsünde ist. Also wiegt die läßliche Sünde in ihm schwerer. 6. Manchmal kommt es vor, daß jemand, der in der Todsünde stirbt, Buße tut von einer begangenen läßlichen Sünde, indem er den Willen ändert, den er in diesem Leben vom läßlichen Sündigen hatte. Aber die Seele verbleibt mit demselben Willen, in dem sie diesen Körper verläßt. Also wird die läßliche Sünde in ihm, der so gestorben ist, nach dem Tod nicht gegenwärtig sein. Also wird er für sie nicht ewig bestraft. 7. Gott bestraft immer milder als es verdient wird. Daher heißt es auch in Psalm 76, 10, daß Gott sein Mitleid nicht im Zorn verschließt.165 Aber Gott mildert die Strafe für die läßliche Sünde im künftigen Leben nicht hinsichtlich ihrer Härte. Denn nach Augustinus ist die Strafe des Fegefeuers härter als jede beliebige gegenwärtige Strafe.166 Viel mehr noch ist dies bei der Höllenstrafe wahr. Also mildert er die Strafe hinsichtlich ihrer Dauer. Demnach wird die mit einer Todsünde verbundene läßliche Sünde nicht ewig bestraft. 8. Wie die Todsünde ohne Gnade ist, so auch die Erbsünde. Aber die mit der Erbsünde verbundene läßliche Sünde wird nicht ewig bestraft. Denn sie wird nicht in der Vorhölle der Kinder bestraft, da es dort keine sinnlich fühlbare Bestrafung gibt. Sie wird auch nicht in der Hölle der Verdammten bestraft, da dort nur die Todsünde bestraft wird. Im Fegefeuer wird aber niemand ewig bestraft. Also wird auch die mit der Todsünde verknüpfte läßliche Sünde nicht ewig bestraft werden. 9. Dagegen wurde eingewandt, daß die läßliche Sünde nicht mit der Erbsünde verbunden sein kann, außer die Todsünde ist gleichzeitig gegenwärtig. Denn der Mensch kann vor dem Gebrauch der 165 Ps. 76, 10. 166 Augustinus, Enarr. in ps. 37, 2 (CCSL 38, 384) und Sermo 161, 4
(PL 38, 879).
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Vernunft nicht läßlich sündigen. Nachdem er den Gebrauch der Vernunft besitzt, ist er aber im Zustand der Todsünde, bis er sich Gott zuwendet. Wenn er sich Gott zuwendet, wird er bereits die Gnade besitzen, die die Erbsünde zerstört. – Dagegen spricht: Es fällt unter ein aufforderndes Gebot, daß eine Person sich tätig Gott zuwendet. Aber die auffordernden Gebote, auch wenn sie immer verbinden, verbinden dennoch nicht zu jedem Zeitpunkt. Man sündigt also nicht sofort tödlich, wenn man sich sofort bei Besitz des Vernunftgebrauchs nicht tätig Gott zuwendet, man kann dann aber läßlich sündigen. Also kann es die Erbsünde zusammen mit der läßlichen Sünde ohne die Todsünde geben. 10. Die Strafe für die Todsünde steht hinsichtlich der Härte in einem proportionalen Verhältnis zur Strafe für die läßliche Sünde. Denn die Härte beider Strafen ist begrenzt. Alles Begrenzte aber steht zu jedem beliebigen Begrenzten in einem proportionalen Verhältnis. Wenn die läßliche Sünde, die mit der Todsünde verbunden ist, also wie die Todsünde eine ewige Strafe verdient, dann wird es außer hinsichtlich der Härte keinen Unterschied der Strafen geben. In irgendeinem proportionalen Verhältnis überschreitet dann die Strafe für die Todsünde die Strafe für die läßliche Sünde. Die läßlichen Sünden können also zu einer so großen Anzahl vermehrt werden, daß sie die gleiche Strafe wie eine Todsünde verdienen werden. Das ist aber falsch. Denn aus vielen läßlichen Sünden entsteht keine Todsünde, wie oben ausgeführt worden ist.167 Also ist auch der erste Punkt falsch, aus dem das folgt, nämlich daß die läßliche Sünde, die mit einer Todsünde verbunden ist, mit einer ewigen Strafe bestraft wird. Dagegen spricht: Daß die Strafe für die läßlichen Sünden ein Ende findet, kommt durch das Verdienst ihrer Grundlage. Das ist durch den 1. Brief des Apostels an die Korinther offensichtlich.168 Diese Grundlage ist lebendiger Glaube, wie Augustinus im 21. Buch von Die Bürgerschaft
167 Vgl. De malo q. 7 a. 3. 168 1 Kor. 3, 11–12.
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Gottes und im Buch Über den Glauben und die Werke sagt.169 Diese Grundlage ist aber in der Person, die mit der Todsünde stirbt. Daher wird die Strafe für die läßlichen Sünden bei ihm nicht an ein Ende gelangen. Antwort: Der Grund dafür, daß man Schuld verdient, besteht darin, daß die Schuld durch die Strafe berichtigt wird. Denn der Mensch vernachlässigt durch die Sünde auf Grund seines eigenen Willens die Ordnung der göttlichen Gerechtigkeit. Diese Ordnung wird allerdings nur wiederhergestellt, insofern in Bezug auf den Menschen Gerechtigkeit getan wird, wenn er entgegen seinem Willen gemäß dem göttlichen Willen bestraft wird. Gemäß der Ordnung der göttlichen Gerechtigkeit entspricht die ewige Strafe jedoch sowohl auf Grund der Art der Sünde als auch auf Grund dessen, daß sie dem Träger innewohnt, der Todsünde. Auf Grund der Art der Sünde nämlich, weil die Todsünde geradewegs der Liebe zu Gott und dem Nächsten entgegengesetzt ist, durch die die Strafe der Sünde erlassen wird. Wer aber wider eine Person sündigt, verdient es genau wegen dieser Tatsche, daß er des Wohlwollens dieser Person beraubt wird. Genauso werden etwa in den menschlichen Angelegenheiten diejenigen, die wider das Gemeinwesen sündigen, wegen eben dieser Tatsache für immer der Gemeinschaft mit dem Gemeinwesen beraubt – entweder durch ewige Verbannung oder sogar durch den Tod. Wie Augustinus im 21. Buch von Die Bürgerschaft Gottes sagt, wird bei diesem nicht die erforderliche Kürze der Zeit, um den Tod zu verhängen, ins Auge gefaßt. Vielmehr wird eher ins Auge gefaßt, daß der Delinquent durch den Tod für immer der Wohltat des Gemeinwesens beraubt wird, obwohl die begangene Schuld vielleicht in einem Augenblick oder in einer sehr kurzen Zeit vollzogen worden sein mag.170 Daher verdient auch er, der eine Todsünde begeht, insofern er wider die Gottesliebe sündigt, daß er der Vergebung beraubt wird, die eine Wirkung der Gottesliebe ist. 169 Augustinus, De civ. Dei XXI, 26 (CCSL 48, 796). Augustinus, De fide et oper. 16 (CSEL 41, 70). 170 Augustinus, De civ. Dei XXI, 11 (CCSL 48, 777).
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Wenn der Herr vergibt, geschieht dies nicht wegen des Verdienstes des Menschen, sondern auf Grund von Gottes Erbarmen. Hinsichtlich des Anhaftens am Träger schließt die Sünde jedoch eine ewige Strafe ein, da sie den Menschen der Gnade beraubt, durch die die Sünde vergeben werden kann. So lange die Sünde jedoch bestehen bleibt, wird er nicht von der Strafe erlöst. Denn in den Werken Gottes kann nichts ungeordnet sein. Genauso würde ein Mensch, der sich in eine Grube stürzen würde, aus der er aus eigener Kraft nicht herauskommen kann, sofern es in seiner Macht liegt, machen, daß er dort für immer wäre. So führt auch die Person, die eine Todsünde begeht, sofern es in ihrer Macht liegt, sich in ewige Strafe. Da die läßliche Sünde nicht der Gottesliebe entgegengesetzt ist, verdient sie auf Grund der Art der Sünde jedoch keine ewige Strafe, im eigentlichen Sinne auch nicht auf Grund ihres Anhaftens am Träger, da sie nicht der Gnade beraubt. Verbunden mit einer Todsünde wird sie jedoch durch etwas nebensächlich zu ihr Hinzukommendes unverzeihlich, insofern sie sich in einem der Gnade beraubten Träger findet. Somit wird sie durch etwas nebensächlich zu ihr Hinzukommendes mit einer ewigen Strafe bestraft. Zu 1. Dieses Argument ist gültig in Bezug auf die Ursache der ewigen Strafe, die auf der Art der Handlung gründet. Auf solche Weise verdient die läßliche Sünde auch keine ewige Strafe, sondern auf eine andere, wie ausgeführt wurde.171 Zu 2. Die Härte der Strafe entspricht geradewegs der Größe der Sünde, aber die Ewigkeit der Strafe entspricht der Unzerstörbarkeit derselbigen. Diese kommt tatsächlich manchmal durch etwas nebensächlich Hinzukommendes einer läßlichen Sünde zu. Zu 3. Diese Verstocktheit, die der Gottesliebe entgegengesetzt ist, konstituiert eine Sünde wider den Heiligen Geist. Eine läßliche Sünde nicht zu bereuen, konstituiert keine Sünde wider den Heiligen Geist, da sie der Gottesliebe entgegengesetzt ist. Aber trotzdem besitzt die letzte Verstocktheit durch etwas Hinzukommendes Unzerstörbarkeit, insofern sie mit einer Todsünde verbunden ist. 171 Vgl. De malo q. 7 a. 10 c.
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Zu 4. Eine Person, die über eine läßliche Sünde keine Reue empfindet, aber eine Todsünde bereut, ist nicht verstockt, was der Vergebung der Sünde entgegengesetzt ist. Daher ist es keine Ursache ewiger Strafe. Zu 5. Nicht wegen der Schwere der läßlichen Schuld selbst wird die mit einer Todsünde verknüpfte läßliche Sünde länger bestraft, sondern wegen ihrer Unzerstörbarkeit, die aus dem mit ihr Verknüpften hervorgeht, wie ausgeführt worden ist.172 Trotzdem ist es nicht immer wahr, daß die läßlichen Sünden verknüpft mit einer Todsünde kleiner sind als verknüpft mit der Liebe. Eher sind sie sehr häufig größer, insofern sie aus einer größeren ungeordneten Begierde hervorgehen, die nicht durch die Gottesliebe beschränkt wird. Bei denen aber, die im Besitz der vollkommenen Gottesliebe sind, treten die läßlichen Sünden zum größten Teil durch Einschleichung auf und werden nach dem zweiten Buch der Chronik 30, 18–19 kraft der Gottesliebe schnell vergeben: »Der Herr, der Gütige, entsühne jeden, der seinen Sinn darauf richtet, den Herrn, den Gott seiner Väter zu suchen, auch wenn er nicht die Reinheit besitzt, die dem Heiligtum gebührt.«173 Zu 6. Die Sünde, nachdem sie die Wirklichkeit verlassen hat, kann als zurückbleiben. Diese wird nicht durch jede Veränderung des Willens aufgehoben, sondern nur durch diejenige, die die Gottesliebe hervorbringt. Zu 7. Auch wenn die läßliche Sünde in der Hölle bestraft wird, wird ihre Strafe in Bezug auf die Härte gemildert, obwohl sie schwerer bestraft wird, als sie vom Menschen bestraft würde. Denn sie besitzt eine größere Schwere, insofern sie auf Gott bezogen wird, insoweit sie von Gott bestraft wird, als insofern sie auf den Menschen bezogen wird, insoweit sie vom Menschen bestraft wird. Zu 8. Es ist nicht möglich, daß jemand ohne Todsünde mit der Erbsünde und der läßlichen Sünde stirbt. Denn vor dem Gebrauch der Vernunft wird das Kind in solchem Ausmaß von der Todsünde entschuldigt, daß es trotzdem nicht die Schuld für eine Todsünde verdient, auch wenn es eine Handlung beginge, die ihrer Gattung 172 Vgl. De malo q. 7 a. 10 c. 173 2 Chr. 30, 18–19.
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nach eine Todsünde wäre. Daher wird es von der Schuld für eine läßliche Sünde noch viel mehr entschuldigt. Denn was eine größere Sünde entschuldigt, entschuldigt eine kleinere Sünde noch viel mehr. Aber nachdem der Mensch den Vernunftgebrauch besitzt, begeht er eine Todsünde, wenn er nicht das in seiner Macht stehende tut, um sein Heil zu finden. Wenn er es aber tut, folgt die Gnade, durch die er von der Erbsünde befreit sein wird. Zu 9. Obwohl die auffordernden Gebote allgemein gesprochen nicht zu jedem Zeitpunkt verbinden, ist der Mensch nach jener Stelle Matthäus 6, 23 dennoch durch das natürliche Gesetz dazu verpflichtet, daß er zuerst um sein eigenes Heil besorgt ist: »Suche zuerst das Reich Gottes«174. Denn das letzte Ziel fällt natürlicherweise zuerst in das Streben, genauso wie die ersten Grundsätze natürlicherweise zuerst in die Erkenntnis fallen. Auf ähnliche Weise setzen nämlich alle Sehnsüchte die Sehnsucht nach dem letzten Ziel voraus, wie alle Erkenntnisse die Erkenntnis der ersten Grundsätze voraussetzen. Zu 10.175 [Auf das letzte Argument sollte folgendes erwidert werden: Obwohl bei den Dingen, die verschiedener Natur sind, ein endliches proportionales Verhältnis vorliegt, kann das Unvollkommenere, wie sehr es auch immer vervollkommnet wird, dennoch nicht dem Vollkommenen gleich werden. Die Schwärze ist nämlich immer unvollkommener als die Weiße, um wie viel auch immer sie verstärkt wird. Die Strafe, die eigens für die Todsünde verdient wird, ist der Entzug der göttlichen Schau. Eine derartige Strafe entspricht nicht der Strafe für eine läßliche Sünde. Daher ist es unmöglich, die für die läßliche Sünde angemessene Strafe der Strafe gleichzumachen, die für die Todsünde verdient wird. Oder man muß sagen, daß die körperliche Strafe, die in der Hölle für die Todsünde und die läßliche Sünde verhängt wird, sich nicht unendlich unterscheidet, da beide endlich sind und darin übereinstimmen, daß sie sich einem veränderlichen Gut zuwenden, was sogar im Fall der Todsünde begrenzt ist. Obwohl vielleicht die Reue des Gewissens, die »Ge174 Mt. 6, 33. 175 Die Antwort auf den zehnten Einwand fehlt. Der Originaltext zur
folgenden Übersetzung findet sich in der editorischen Fußnote S. 184 der Leonina Edition.
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wissenswurm« genannt wird, in dem einen unvergleichlich größer ist als in dem anderen. Aber die unendliche Entfernung der Todsünde von der läßlichen Sünde kommt von der Abwendung von Gott. Diese tritt nur in der Todsünde auf. Wegen ihr wird man für immer der göttlichen Schau beraubt, nicht aber auf Grund einer läßlichen Sünde, außer durch etwas nebensächlich Hinzukommendes, wie ausgeführt wurde.176 Dennoch folgt nicht, daß aus der Vervielfältigung der läßlichen Sünden die Strafe der Stärke nach mit der Strafe für die Todsünde gleich wird. Vielmehr wird sie hinsichtlich der Ausdehnung gleich, da sie auf mehrere Weisen bestraft werden wird. Somit folgt das Argument nicht.]
11. Artik el Die elfte Frage lautet: Wird irgendeine läßliche Sünde nach diesem Leben im Fegefeuer vergeben?177 Das scheint nicht der Fall zu sein, denn: 1. In Buch Kohelet 11, 3 heißt es: »Wenn ein Baum nach Süden oder Norden fällt – wohin der Baum auch falle, da bleibe er liegen.«178 Aber das Fallen des Menschen geschieht durch den Tod. Also wird er nach dem Tod immer in jenem Zustand verbleiben, in dem er gestorben ist. Also wird dem Menschen nach dem Tod keine Sünde vergeben. 2. Die Sünde ändert sich nur, wenn der Wille zu Sündigen, der die Ursache der Sünde selbst war, sich verändert. Denn die Wirkung wird nicht aufgehoben, solange die Ursache fortbesteht. Aber der Wille kann sich nach dem Tod nicht verändern, wie sich auch der Engel nach dem Fall nicht verändert. Denn bei den Menschen entspricht der Tod dem Fall der Engel, wie Johannes von Damaskus sagt.179
176 Vgl. De malo q. 7 a. 10 c. 177 Parallelstellen: Sent. IV, d. 21 q. 1 a. 3 qc. 1. 178 Koh. 11, 3; Vulg. ›Si ceciderit lignum ad Austrum aut ad Aquilonem
in quocumque loco ceciderit ibi erit‹. 179 Johannes Damascenus, De fide II, 4 (ed. Buytaert, 77).
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Also kann die läßliche Sünde nach diesem Leben nicht vergeben werden. 3. Dagegen wurde eingewandt, daß die Todsünde, da sie schlechthin willentlich ist, zu ihrer Vergebung eine wirkliche Veränderung des Willens erfordert, nicht aber die Erbsünde, die keine willentliche Sünde durch den Willen der Person ist, und auch nicht die läßliche Sünde, die nicht schlechthin freiwillig ist. Denn der Mensch kann es nicht verhindern, läßlich zu sündigen. Er kann jedoch diese oder jene läßliche Sünde vermeiden. – Dagegen spricht: Augustinus sagt in seiner Schrift Über die Reue, daß der Mensch nur dann ein neues Leben beginnen kann, wenn er sein altes Leben bereut.180 Aber die Vergebung der Sünde gehört zum Beginn eines neuen Lebens, jede Sünde – auch die Erbsünde und die läßliche Sünde – gehört hingegen zum Alter des Lebens. Da also die Reue eine wirkliche Veränderung des Willens kennzeichnet, scheint es, daß weder die Erbsünde noch die läßliche Sünde ohne eine wirkliche Veränderung des Willens vergeben werden kann. 4. Wegen demselben Habitus ist eines von zwei Gegensatzgliedern wohlgefällig und das andere mißgefällig. So ist es uns etwa auf Grund des Habitus der Freigebigkeit wohlgefällig, großzügig zu geben, und Geiz ist uns mißgefällig. Aber durch den Habitus der Liebe ist uns das Gut der Gnade wohlgefällig, also ist uns wegen dem Habitus der Liebe das Übel der Schuld mißgefällig. Wenn also das habituelle Mißfallen zur Vergebung einer läßlichen Sünde hinreichen würde, würde eine läßliche Sünde niemals zugleich mit der Liebe bestehen. 5. Die Vergebung der läßlichen Sünde gehört zum Fortschritt im geistigen Leben. Aber da der Fortschritt des geistigen Lebens dem Zustand des Pilgers entspricht, kann er nach dem Tod, der den Zustand des Pilgers beendet, nicht stattfinden. Also kann die läßliche Sünde nach diesem Leben nicht vergeben werden. 6. Aus demselben Grund scheint jemand eine wesentliche oder zufällige Belohnung zu verdienen oder ihm eine Sünde vergeben zu werden. Denn aus eben dem Grund, aus dem sich etwas einem der Gegensätze nähert, entfernt es sich von dem anderen. Aber der 180 Augustinus, Sermo 351, 2 (PL 39, 1537).
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Mensch kann nach dem Tod weder eine wesentliche noch eine zufällige Belohnung verdienen. Also kann er aus demselben Grund weder für die läßliche noch für die Todsünde Vergebung empfangen. 7. Der Mensch fällt leichter der Sünde anheim, als sie ihm vergeben wird. Denn der Mensch ist ein Geistwesen, das durch sich selbst zur Sünde voranschreitet, aber nicht aus ihr zurückkehrt. Nach dem Tod kann der Mensch aber nicht läßlich sündigen. Also kann ihm auch die läßliche Sünde nicht vergeben werden. 8. Keine Sünde, die eine ewige Strafe verdient, wird nach diesem Leben vergeben. Aber die läßliche Sünde scheint eine ewige Strafe zu verdienen. Wenn ein Mensch nämlich dafür das ewige Leben verdienen kann, daß er einer läßlichen Sünde widersteht, kann der Mensch umgekehrt auch dafür, daß er eine läßliche Sünde begeht, eine ewige Strafe verdienen. Also kann die läßliche Sünde nach diesem Leben nicht vergeben werden. 9. Im Fegefeuer gibt es sowohl Gnade als auch Strafe. Aber dort wird die läßliche Sünde nicht wegen der Strafe vergeben: Einerseits, weil die Strafe als Wirkung einer Schuld nicht die Schuld entfernt, andererseits, weil aus demselben Grund jede Strafe die Schuld aufheben würde, was bei der Höllenstrafe falsch zu sein scheint. Genauso wird sie auch nicht auf Grund der Gnade vergeben, da die Gnade der läßlichen Sünde nicht entgegengesetzt, sondern mit ihr verträglich ist. Also wird die läßliche Sünde im Fegefeuer nicht vergeben. 10. Dagegen wurde eingewandt, daß die läßliche Sünde im Fegefeuer vergeben wird, weil der Mensch es sich in diesem Leben verdient hat, daß die läßliche Sünde ihm vergeben würde. – Dagegen spricht: Das Verdienst Christi ist wirkmächtiger als das Verdienst irgendeines Menschen. Aber keiner kann durch die Sakramente, die ihre Wirkmächtigkeit vom Verdienst Christi haben, von einer zukünftigen Sünde erlöst werden. Also kann eine Person es noch viel weniger verdienen, daß ihm eine zukünftige Sünde vergeben wird. 11. Wie die Todsünde der Gottesliebe entgegengesetzt ist, so ist die läßliche Sünde der Inbrunst der Gottesliebe entgegengesetzt. Aber die Inbrunst der Gottesliebe, die die läßliche Sünde entfernt, kann es im zukünftigen Leben nicht geben. Denn dort wird es keine
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neue Bewegung des Willens geben. Also wird es nicht möglich sein können, daß die läßliche Sünde vergeben wird, wie auch die Todsünde nicht vergeben werden kann, außer durch hinzukommende neue Gottesliebe. 12. Alles, was mit dem Vorhergehenden zusammenbestehen kann, kann auch mit der Folge zusammenbestehen. Wenn zum Beispiel das Weiße mit dem Menschen zusammenbestehen kann, kann es auch mit dem Lebewesen zusammenbestehen. Ansonsten würde folgen, daß Gegensätze gleichzeitig zusammenbestehen. Aber auf die endgültige Gnade folgt mit Notwendigkeit die Herrlichkeit, mit der die läßliche Sünde nicht zusammenbestehen kann. Folglich kann sie auch nicht mit der endgültigen Gnade zusammenbestehen. Also kann sie nach diesem Leben nicht vergeben werden. 13. Der Zustand des Fegefeuers ist ein mittlerer Zustand zwischen dem Zustand des gegenwärtigen Lebens und dem Zustand der künftigen Herrlichkeit. Aber im gegenwärtigen Leben finden sich sowohl Schuld als auch Strafe, im Zustand der Herrlichkeit weder Schuld noch Strafe. Zwischen diesen gibt es als Mittleres entweder Schuld ohne Strafe oder Strafe ohne Schuld. Aber Schuld kann es nicht ohne Strafe geben, weil dies der Ordnung der göttlichen Gerechtigkeit widersprechen würde. Also wird es im Fegefeuer Strafe ohne Schuld geben. Keine Schuld kann also nach diesem Leben im Fegefeuer vergeben werden. 14. Kein Sakrament der Kirche ist umsonst eingerichtet. Da aber die letzte Ölung für die Vergebung der läßlichen Sünden eingerichtet ist, würde sie umsonst eingerichtet scheinen, wenn die läßlichen Sünden nach diesem Leben im Fegefeuer vergeben werden könnten. Also können sie nach diesem Leben nicht vergeben werden. 15. Die Veranlagung, die aus der Form hervorgeht, bleibt nicht in der Materie, nachdem die Form nicht mehr da ist. Denn wenn das Feuer gelöscht ist, bleibt die Wärme nicht in der Materie des Feuers. Also bleibt auch die Veranlagung der Materie nicht in der von der Materie getrennten Form. Aber die läßliche Sünde ist eine Veranlagung des Menschen auf Seiten der Materie. Denn die läßlichen Sünden werden auf Grund des Verfalls des Körpers, der die Seele beschwert, begangen. Denn im Zustand der intakten Natur hatte es keine läßlichen Sünden geben können, wie oben ausgeführt
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worden ist.181 Also bleibt die läßliche Sünde nicht in der vom Körper getrennten Seele, und so kann diese nach diesem Leben nicht vergeben werden. 16. Wenn ein großes Gut in Entfernung rückt und ein großes Übel droht, wird ein starkes Verlangen erregt, das Gut zu erlangen und das Übel zu vermeiden. Aber die abgetrennte Seele, die im Fegefeuer der Strafe unterworfen ist, wird von einem großen Übel bedroht, nämlich der harten Strafe des Fegefeuers, und wird davon abgehalten, das größte erhoffte Gut, nämlich das ewige Leben, zu erlangen. Also wird in der abgetrennten Seele sofort eine inbrünstige Sehnsucht erregt. Aber die Inbrunst der Gottesliebe gestattet bei sich keine läßliche Sünde. Also kann der abgetrennten Seele im Fegefeuer keine läßliche Sünde innewohnen. Also kann die läßliche Sünde im Fegefeuer nicht vergeben werden. 17. Das Feuer des Fegefeuers bestraft die Seele, insofern es ein Werkzeug der göttlichen Gerechtigkeit ist. Es wird aber nicht von ihm behauptet, daß es ein Werkzeug der göttlichen Barmherzigkeit ist, dem es zukommt, die Sünden zu vergeben. Also wird nach diesem Leben die läßliche Sünde im Fegefeuer nicht vergeben. Dagegen spricht: 1. Gregor der Große sagt in Dialoge IV: »Es wird uns zu verstehen gegeben, daß uns bestimmte leichte Schulden nach diesem Leben vergeben werden.«182 2. Über den Matthäusvers 3, 11: »Er wird euch taufen mit dem Heiligen Geist und mit Feuer«183, sagt die Glosse: »In der Gegenwart reinigt er mit dem Heiligen Geist. Nachher, wenn irgendein Makel aufgetreten ist, reinigt er ihn mit dem Feuer des Fegefeuers.«184 Das ist bezüglich leichter Sünden zu glauben. 3. Augustinus sagt, daß »in diesem Übergang nicht kapitale, aber kleine Sünden durch das Feuer gereinigt werden.«185 181 182 183 184 185
Vgl. De malo q. 7 a. 7. Gregor der Große, Dialog. IV, 39 (PL 77, 396 A–B). Mt. 3, 11; Vulg. ›Ipse … igni‹. Glossa ordin. in Mt. 3, 11. Augustinus, Sermo 104 (PL 39, 1946) (Autorschaft unsicher). Die
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4. Ambrosius von Mailand sagt in seiner Schrift Vom Segen des Todes: »Wie die fleischlichen Augen die körperhafte Sonne nicht sehen können, wenn sich ein Makel in ihnen findet, so können auch die geistigen Augen mit einem Makel behaftet die geistige Sonne nicht sehen.«186 Aber die läßliche Sünde ist eine Art Makel der Seele. Also kann es der Seele nicht zukommen, Gott zu sehen, solange sie den Makel der läßlichen Sünde hat. Ein derartiger Mangel muß also im Fegefeuer gereinigt werden. Antwort: Um diese Frage zu klären, muß man zuerst wissen, was »eine Sünde wird vergeben« bedeutet. Es bedeutet nichts anderes, als »eine Sünde wird nicht angerechnet«. Daher wird in Psalm 31, 2 – nachdem in Vers 1 behauptet wurde: »Gesegnet sind die, deren Ungerechtigkeiten vergeben sind« – erklärend hinzugefügt: »Gesegnet ist der Mann, dem der Herr die Sünde nicht angerechnet hat.«187 Eine Sünde wird jemandem aber insofern angerechnet, als der Mensch durch sie daran gehindert wird, das letzte Ziel zu erlangen, das die ewige Glückseligkeit ist. Der Mensch wird durch die Sünde sowohl wegen der Schuld als auch auf Grund der Sühne der Strafe daran gehindert, sie zu erlangen. Auf Grund der Schuld, da die ewige Glückseligkeit, weil sie das vollkommene des Menschen ist, unverträglich mit irgendeiner Verringerung der Güte ist. Auf Grund eben dieser Tatsache aber, daß jemand die Handlung einer Sünde begangen hat, verdient er eine bestimmte Verringerung der Güte, insofern er nämlich tadelnswert geworden ist und eine gewisse Ungebührendheit für solch ein großes Gut besitzt. Aber auch auf Grund der Sühne der Strafe wird er an der vollkommenen Glückseligkeit gehindert, die allen Schmerz und jede Strafe ausschließt: »Denn Kummer und Seufzen sollen dort entfliehen«, wie es in Jesaja 36, 10 heißt.188 richtige Quelle des Zitats scheint zu sein: Decretum, D. 25 c. 3 (ed. Friedberg I, 93). 186 Ambrosius von Mailand, De bono mortis 11 (CSEL 32/1, 746). 187 Ps. 31, 1–2. 188 Jes. 35, 10.
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Jedoch verhindert jedes von diesen die vollkommene Glückseligkeit in der Todsünde auf andere Weise als in der läßlichen Sünde. Denn in der Todsünde erleidet der Mensch die Verringerung der Güte durch die Beraubung des Ursprungs, der zum Ziel führt, nämlich durch die Beraubung der Gottesliebe. Aber durch die läßliche Sünde erleidet der Mensch eine Verminderung und ein Hindernis auf Grund einer bestimmten Unangemessenheit der Handlung, gleichwie durch ein Hindernis, das in der Handlung selbst gegenwärtig ist, durch die er vorangeschritten war zum Ziel, jedoch ohne den Verlust des lenkenden Ursprungs. So kann zum Beispiel auch ein schwerer Gegenstand daran gehindert werden, daß er nach unten fällt: entweder auf Grund des Vergehens der Schwere in ihm oder auf Grund eines auftretenden Hindernisses, durch das dessen Bewegung verhindert wird, so daß er sein natürliches Ziel nicht erreicht. Sogar in Bezug auf die Sühne der Strafe liegt ein Unterschied vor. Denn auf Grund der Todsünde verdient man eine ausrottende Strafe, als jemand, der ein Feind geworden ist, auf Grund der läßlichen Sünde hingegen eine berichtigende Strafe. Also wird die läßliche Sünde auf andere Weise vergeben als die Todsünde. Denn in Bezug auf die Schuld muß, damit die Todsünde nicht angerechnet wird, durch eine neue Eingebung der Liebe und Gnade das Hindernis aufgehoben werden, das aus der Beraubung des Ursprungs hervorgeht. Dies aber ist bei der läßlichen Sünde nicht erforderlich, da die Liebe fortbesteht. Vielmehr muß das Hindernis durch einen starken Trieb aufgehoben werden, der dem Hindernis entgegengesetzt ist, das in der Weise eines läßlichen Hindernisses verhängt worden war. Auf dieselbe Weise kann das Hindernis, das aus dem Verfall der Schwere im Stein hervorgeht, nur durch die neuerliche Erzeugung der Schwere aufgehoben werden. Das Hindernis, das durch ein eintretendes Hindernis entstand, wird hingegen durch eine gewaltige Bewegung, die das Hindernis selbst entfernt, aufgehoben. So wird also die läßliche Sünde auch in Bezug auf die Schuld durch die Inbrunst der Liebe vergeben, die Todsünde aber durch Eingebung der Gnade. In Bezug auf die Strafe wird die Todsünde hingegen nicht vergeben, da sie eine unbeendbare und ewige Strafe mit sich führt. Die läßliche Sünde wird jedoch durch die Ableistung der zeitlich begrenzten Strafe vergeben. Wie jedoch jede
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von beiden in diesem Leben vergeben werden kann, erscheint daraus hinreichend ersichtlich. Im zukünftigen Leben kann eine Todsünde hinsichtlich der Schuld jedoch niemals vergeben werden. Denn nach diesem Leben wird die Seele nicht durch eine wesentliche Veränderung mittels einer neuerlichen Eingebung der Gnade und der Liebe verändert. Da die Schuld nicht vergeben worden ist, wird auch die Strafe nicht erlassen, wie oben ausgeführt worden ist.189 Aber über die läßliche Sünde haben manche behauptet, daß sie bei denen, die die Liebe besitzen, in Bezug auf die Schuld in diesem Leben immer vergeben wird, nach diesem Leben aber in Bezug auf die Strafe, nämlich durch die Ableistung der Strafe. Dies scheint zwar bei denen wahrscheinlich genug, die mit dem Gebrauch der Vernunft dieses Leben verlassen. Denn es ist nicht wahrscheinlich, daß eine Person, die in der Liebe existiert und weiß, daß ihr Tod bevorsteht, nicht durch einen Trieb der Liebe zu Gott und gegen alle Sünden bewegt würde, die er begangen hat, auch die läßlichen. Und dies reicht aus zur Vergebung der läßlichen Sünde in Bezug auf die Schuld und vielleicht sogar in Bezug auf die Strafe, wenn die Liebe stark wäre. Aber manchmal kommt es vor, daß manche Personen in eben den Handlungen der läßlichen Sünden vollkommen eingenommen sind – entweder mit der Absicht, läßlich zu sündigen, oder mit einer Leidenschaft, die sie des Vernunftgebrauchs beraubt – und durch den Tod verhindert werden, bevor sie den Vernunftgebrauch zurückerlangen können. Bei diesen Personen ist es offensichtlich, daß die läßlichen Sünden in diesem Leben nicht vergeben werden. Dennoch werden sie deshalb nicht ewiglich daran gehindert, das ewige Leben zu erlangen, zu dem sie auf keine Weise gelangen, bis sie vollständig von aller begangenen Schuld frei sind. Daher muß man sagen, daß die läßlichen Sünden nach diesem Leben in Bezug auf die Schuld auf die Weise vergeben werden, auf die sie in diesem Leben vergeben werden, nämlich durch eine Handlung der Liebe für Gott. Diese ist den in diesem Leben begangenen läßlichen Sünden entgegengesetzt. Da es jedoch nach diesem Leben keinen Zustand des Verdiensterwerbs gibt, hebt jene Bewegung der 189 Vgl. De malo q. 7 a. 10.
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Liebe in ihnen zwar das Hindernis der läßlichen Schuld auf, jedoch wird nicht wie in diesem Leben die Absolution oder Verringerung der Strafe verdient. Zu 1. Die läßliche Sünde verändert nicht den Zustand oder Ort des Menschen, sondern ist eine Art Hindernis, durch das er darin gehemmt wird, das letzte Ziel zu erlangen. Zu 2. Im zukünftigen Leben gibt es keine wesentliche Veränderung des Willens, nämlich in Bezug auf das Ziel oder in Bezug auf die Liebe oder die Gnade. Dennoch kann es eine unwesentliche Veränderung durch die Entfernung eines Hindernisses geben. Denn das Hindernde zu entfernen bedeutet unwesentlich zu bewegen, wie es im 8. Buch der Physik heißt.190 Zu 3. Der Wille wird aus demselben Grund zur Sehnsucht nach dem einen Gegensatz und zur Verabscheuung des anderen bewegt. Keiner aber, der den Gebrauch des freien Willens besitzt, kann ein neues Leben beginnen, das aus der Eingebung der Gnade resultiert, außer er erstrebt und liebt das Gut der Gnade. Daher muß er jedes entgegengesetzte Übel verabscheuen. Er muß dies jedoch so tun, daß er die Todsünden, die er durch seinen eigenen Willen begangen hat und die der Gnade direkt entgegengesetzt sind, im einzelnen verabscheut, damit er auf diese Weise, nach Entfernung der Ursache, die die Gnade verminderte, durch Verdruß über die Todsünde, die Wirkung aufhebt, nämlich die Beraubung der Gnade – und zwar durch ihre Eingebung. Die Erbsünde wird jedoch nicht durch den eigenen Willen dieser Person empfangen. Aber die läßliche Sünde wird zwar durch den eigenen Willen dieser Person begangen, nichtsdestotrotz ist sie nicht die Ursache für die Beraubung der Gnade. Daher wird das Mißfallen nicht im Einzelnen erfordert, sondern nur im Allgemeinen, insofern die läßliche Sünde ein Maß des Widerstandes für die Gnade besitzt. Zu 4. Das habituelle Mißfallen genügt nicht zur Vergebung der läßlichen Sünde, sondern es wird wirkliches Mißfallen erfordert. Dennoch ist allgemeines Mißfallen ausreichend.
190 Aristoteles, Phys. VIII, 8; 255 b 24.
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Zu 5. Die Vergebung der Schuld bringt nicht wesentlich einen geistigen Fortschritt hervor, das heißt hinsichtlich eines Anwachsens des geistigen Gutes, sondern nur als Hinzukommendes, nämlich in Bezug auf die Entfernung des Hindernisses. Zu 6. Der Verdienst wesentlicher oder nebensächlicher Herrlichkeit gehört unmittelbar zum geistigen Fortschritt, der aus der Vergrößerung des geistigen Guts hervorgeht. Daher ist der Grund kein ähnlicher. Zu 7. Nach dem Tod geht die Seele in einen anderen Zustand über, der dem der Engel ähnlich ist. Daher kann sie aus demselben Grund wie der Engel keine läßliche Sünde begehen. Da in ihr jedoch der Gebrauch der Liebe zurückbleibt, der die Ursache für die Vergebung der läßlichen Sünde ist, kann ihm auch nach dem Tod die läßliche Sünde vergeben werden. Zu 8. Eine läßliche Sünde zu vermeiden, kann in zweifacher Weise verstanden werden. Auf eine Weise als eine reine Verneinung und auf diese Weise wird das ewige Leben nicht verdient. Denn auch der Schlafende begeht keine läßliche Sünde und erwirbt dennoch kein Verdienst. Auf andere Weise als eine Bejahung, wie von jenem gesagt wird, er vermeide die läßliche Sünde, der keine läßliche Sünde begehen will. Da dieser Wille aus der Liebe hervorgehen kann, daher kann es den Verdienst des ewigen Lebens einbringen, die läßliche Sünde zu vermeiden. Aber eine läßliche Sünde zu begehen widerspricht nicht der Liebe, und daher verdient es keine ewige Strafe. Zu 9. Sofern es die Strafe angeht, wird die Vergebung der läßlichen Sünde im Fegefeuer durch das Fegefeuer verursacht. Dadurch leistet der Mensch durch sein Leiden das ab, was er schuldig ist. Auf diese Weise beendet er seine Schuldigkeit. Aber was die Schuld angeht, wird die läßliche Sünde nicht durch die Strafe vergeben, weder insofern sie wirklich ausgehalten wird, da sie nicht verdienstvoll ist, noch insofern sie reflektiert wird. Denn es wäre keine Bewegung der Liebe, daß jemand die läßliche Sünde wegen der Strafe verabscheut, sondern eher wäre es eine Bewegung der unterwürfigen oder natürlichen Furcht. Was die Schuld angeht, wird also die läßliche Sünde im Fegefeuer kraft der Gnade vergeben, nicht nur insofern sie im Habitus ist, da sie so mit der läßlichen Sünde verträglich ist, son-
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dern insofern sie in eine Handlung der Liebe hinausgeht, die läßliche Sünde verabscheuend. Zu 10. Keiner kann die Vergebung einer zukünftigen Schuld verdienen. Dennoch kann er sich einen Zustand im Fegefeuer verdienen, in dem ihm seine Schuld vergeben werden kann. Zu 11. Nach dem Tod wird es keine neue Willensbewegung geben, die ihre Wurzel nicht entweder wegen der Natur oder der Gnade in diesem Leben haben würde. Dennoch wird es nach diesem Leben viele wirkliche Willensbewegungen geben, die jetzt nicht auftreten, da es Bewegungen der Seele in Übereinstimmung mit den Dingen geben wird, die sie dann erkennen und erfahren wird. Zu 12. Wenn das als Ursache Vorhergehende und die Folge irgendeines Bedingungsverhältnisses gleichzeitig gegeben sind, kann alles, was zusammen mit dem Vorhergehenden bestehen kann, auch mit dem Nachfolgenden bestehen. Wenn sie aber nicht gleichzeitig sind, ist das nicht notwendig der Fall. Wenn ein Lebewesen lebt, folgt nämlich, daß es sterben wird, dennoch kann nicht alles, was mit dem Leben zusammen bestehen kann, auch mit dem Tod zusammen bestehen. Ähnlich kann nicht alles, was mit der endgültigen Gnade zusammen bestehen kann, auch mit der Herrlichkeit bestehen. Zu 13. Was in Bezug auf eine Sache ein Mittlers ist, muß nicht in Bezug auf alles ein Mittleres sein. Daher ist der Zustand des Fegefeuers zwar ein Mittleres hinsichtlich mancher Dinge zwischen dem Zustand des gegenwärtigen und dem Zustand der Herrlichkeit, nicht aber in Bezug darauf, daß es dort Schuld ohne Strafe oder Strafe ohne Schuld gibt. Zu 14. Alle Sakramente des neuen Gesetzes sind zur Übertragung der Gnade eingerichtet. Aber eine Eingebung der neuen Gnade ist zur Vergebung der läßlichen Sünden nicht erforderlich, wie ausgeführt worden ist.191 Daher ist weder die letzte Ölung noch irgendein Sakrament des neuen Gesetzes ursprünglich gegen die läßliche Sünde eingerichtet worden, obzwar durch sie die läßlichen Sünden vergeben werden. Vielmehr ist die letzte Ölung zur Vernichtung der Überbleibsel der Sünde eingerichtet. 191 Vgl. De malo q. 7 a. 11 c.
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Zu 15. Obzwar aus der Verderbnis des Körpers eine Ursache der läßlichen Sünden hervorgeht, sind die läßlichen Sünden dennoch nicht im Körper als ihrem Träger, sondern in der Seele. Daher sind die läßlichen Sünden keine Veranlagungen der Materie, sondern der Form. Zu 16. Aus diesem Argument folgt nicht, daß die läßliche Sünde im Fegefeuer überhaupt nicht vergeben wird, sondern daß sie dort sofort vergeben wird. Das scheint recht wahrscheinlich. Zu 17. Wie bereits ausgeführt wurde, kommt es nicht durch die Strafe zur Vergebung der Schuld, sondern durch den Gebrauch der Gnade, die eine Wirkung der göttlichen Barmherzigkeit ist.192
12. Artik el Die zwölfte Frage lautet: Werden die läßlichen Sünden in diesem Leben durch die Besprengung mit Weihwasser, die Salbung des Körpers und andere derartige Dinge vergeben? 193 Das scheint nicht der Fall zu sein, denn: 1. Die Mitteilung der Gnade ist die Besonderheit der Sakramente des Neuen Gesetzes. Aber die genannten Dinge bezeichnet man nicht als Sakramente. Also teilen sie nicht die Gnade mit. Folglich führen sie nicht die Vergebung irgendeiner Schuld herbei. 2. Die Todsünde kann nicht zugleich mit der Gnade bestehen. Allerdings kann die läßliche Sünde mit ihr bestehen. Somit genügt die Eingebung der Gnade zur Vergebung der Todsünde, hingegen genügt sie nicht zur Vergebung der läßlichen Sünde. Es scheint also, daß für die Vergebung einer läßlichen Sünde mehr erforderlich ist als für die Vergebung einer Todsünde. Aber durch die genannten Dinge kann die Todsünde nicht vergeben werden, viel weniger also die läßliche Sünde. 3. Die läßliche Sünde wird durch eine Handlung der Liebe vergeben. Aber eine Handlung der Liebe kann nicht durch die angenom192 Vgl. De malo q. 7 a. 11 c. 193 Parallelstellen: Sent. IV, d. 16 q. 2 a. 2 qc.4; d. 21 q. 2 a. 1. Sum. theol.
III, q. 87 a. 3.
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menen Dinge verursacht werden, sondern sie geht aus dem Inneren hervor. Also kann die läßliche Sünde nicht durch die genannten Dinge vergeben werden. 4. Derartige Dinge verhalten sich zu allen läßlichen Sünden in gleicher Weise. Wenn also durch sie eine läßliche Sünde vergeben wird, werden aus dem gleichen Grund alle vergeben. Somit, wenn sie in Bezug auf die Schuld vergeben werden, können jene, die ohne Todsünde sind, wiederholt sagen: »Wir haben keine Sünde«. Das widerspricht dem, was im ersten Brief des Johannes 1, 8 behauptet wird.194 Wenn durch derartige Dinge die Sünde auch in Bezug auf die Strafe vergeben wird, werden die meisten sofort nach dem Tod gen Himmel fahren, ohne die Strafe des Fegefeuers zu leiden, was unsinnig scheint. Also werden durch die besagten Dinge die läßlichen Sünden nicht vergeben. Dagegen spricht: Nichts in den Gebräuchen der Kirche wird vergebens getan. Aber in der Weihung des Wassers findet die Vergebung der Schuld Erwähnung. Also wird manch eine Schuld durch die Besprengung mit Weihwasser vergeben, jedoch keine tödliche Schuld und demnach eine läßliche. Antwort: Wie oben ausgeführt worden ist, werden die läßlichen Sünden durch die Inbrunst der Liebe vergeben.195 Daher können alle Dinge, welche von ihrer Natur her so eingerichtet sind, daß sie die Inbrunst der Liebe hervorrufen, die Vergebung von läßlichen Sünden verursachen. Die Handlung der Liebe gehört jedoch zum Willen, der aber auf dreifache Weise zu etwas geneigt wird. Manchmal nämlich nur, indem die Sache gezeigt wird, manchmal aber durch den Verstand zusammen mit einem inneren Instinkt, der von einer höheren Ursache kommt, nämlich Gott, manchmal aber mit diesem sogar durch die Neigung eines inneren Habitus. Es gibt also manche Dinge, die die Vergebung einer läßlichen Sünde hervorbringen, insofern sie 194 1 Joh. 1, 8. 195 Vgl. De malo q. 7 a. 11.
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den Willen auf die drei besagten Weisen zu einer inbrünstigen Handlung der Liebe neigen. Auf diese Weise werden läßliche Sünden durch die Sakramente des Neuen Gesetzes vergeben. Denn auch die Vernunft betrachtet sie als gewisse heilsame Heilmittel. Nicht nur die göttliche Tugend betreibt in ihnen auf verborgene Weise das Heil, sondern auch das Geschenk der habituellen Gnade wird durch diese verliehen. Es gibt aber andere Dinge, die die Vergebung der läßlichen Sünden auf zwei der besagten Weisen hervorbringen. Denn sie verursachen nicht die Gnade, aber sie regen die Vernunft an, etwas zu betrachten, was die Inbrunst der Liebe anregt. Es wird auch in frommer Weise geglaubt, daß die göttliche Kraft durch die Erregung der Inbrunst der Liebe innerlich tätig ist. Auf diese Weise verursachen Weihwasser, der Segen des Bischofs und derartige sakramentähnliche Zeichen und Handlungen die Vergebung der läßlichen Sünde. Es gibt aber einige Dinge, die die Vergebung der läßlichen Sünde durch Anreizung der Inbrunst der Liebe einzig und allein auf dem Wege der Reflexion verursachen, wie das Vaterunser, das Schlagen der Brust und andere derartige Dinge. Zu 1. Für die Vergebung der läßlichen Sünde ist es nicht notwendig, daß neue Gnade mitgeteilt wird. Daher kann die läßliche Sünde wegen etwas vergeben werden, das kein Sakrament ist. Zu 2. Ohne die Inbrunst der Liebe wird einer Person, die im Besitz vom Gebrauch des freien Willens ist, keine neue Gnade mitgeteilt. Daher sind zur Vergebung der Todsünde mehr Dinge erforderlich als zur Vergebung der läßlichen Sünde. Zu 3. Die besagten Dinge verursachen die Inbrunst der Liebe durch die bloße Neigung des Willens, wie ausgeführt worden ist.196 Zu 4. Obwohl derartige Dinge sich gleichmäßig zu allen läßlichen Sünden verhalten, verhält sich trotzdem die von ihnen erregte Inbrunst nicht immer gleichmäßig zu allen. Vielmehr beachtet sie manchmal manche im Besonderen und ist gegen manche wirkungsvoller tätig. Wenn sie sie im Allgemeinen beachtet, kann es passieren, daß sie nicht die gleiche Wirkung in allen zeitigt. Denn manchmal ist das Verlangen des Menschen habituell dazu geneigt, bestimmte 196 Vgl. De malo q. 7 a. 12 c.
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läßliche Sünden zu begehen, so nämlich, daß sie nicht mißfällig sein würden, sie im Gedächtnis behalten werden würden, oder sie vielleicht begangen werden würden, wenn die Gelegenheit gegenwärtig wäre. Selten kommt es vor, daß Menschen, die in diesem sterblichen Leben leben, von derartigen Mängeln frei sind. Daher können wir nicht mit Zuversicht sagen: »Wir sind frei von Sünde.« Sogar wenn ein Mensch durch diese Heilmittel für eine Stunde ein Freisein von allen läßlichen Sünden in Bezug auf die Schuld erlangen würde, folgt dennoch nicht, daß er hinsichtlich aller Bestrafung befreit ist, außer vielleicht die Inbrunst seiner Liebe ist so groß, daß es zur Vergebung aller Strafe hinreicht.
NACHWORT
I. Text und Übersetzung Der Text der Quaestiones Disputatae De Malo liegt seit dem Jahr 1982 als Band XXIII der zuverlässigen Ausgabe der Gesamtwerke des Thomas von Aquin der Commissio Leonina vor, auf die sich diese Übersetzung durchgängig stützt. Im Gegensatz zu anderen modernen europäischen Sprachen gibt es bisher keine Gesamtübertragung dieser Quaestionen ins Deutsche.1 Eine deutsche Gesamtübersetzung des Textes stellte bisher also noch ein Desiderat dar.2 In diesem Teilband finden sich die qq. 1–7 übersetzt. 1 Folgende Übertragungen liegen bisher vor und konnten benutzt werden: Ins Englische: Thomas Aquinas, Disputed Questions On Evil. Ed.: J. A. Oesterle; J. T. Oesterle, Notre Dame [Indiana], 1995; Thomas Aquinas, On Evil: With an Introduction and Notes. Ed.: B. Davies. Trans.: R. J. Regan, Oxford – New York, 2003 [Cens.: Pasnau, R.: The Review of Metaphysics 57/3 (2003) 599–601]. Ins Spanische: Tomás de Aquino, Cuestiones disputadas sobre el mal. Presentación, traducción y notas. Ed.: E. Téllez Maqueo. Intr.: M. Beuchot, Pamplona, 1997. (= Colección filosófica 128). Tomás de Aquino, Cuestiones disputadas de los pecados. Ed.: H. Giannini; M. I. Flisfisch, Madrid, 2001. Ins Italienische: Tommaso d’Aquino, I vizi capitali. Dalle Questioni disputate sul male. Introduzione, traduzione e note. Testo latino a fronte. Ed.: U. Galeazzi, Milano, 1996; Tommaso d’Aquino, Il male. Testo latino a fronte. Introduzione, traduzione e apparati. Ed.: F. Fiorentino, Milano 2001 (= Testi a fronte, 40). Tommaso d’Aquino, Le questioni disputate, t. 7: Questione disputata sul male (questioni 7–16). Ed.: R. Coggi, Bologna, 2003. Tommaso d’Aquino, I vizi capitali. Dalle Questioni disputate sul male. Introduzione, traduzione e note. Testo latino a fronte. Ed.: U. Galeazzi, Milano 1996. 2 Vom Übersetzer verwendete Teilübersetzungen: Thomas von Aquin, Über das Böse. Übers.: J. Pieper. Der Katholische Gedanke 9 (1936), 293– 305; Thomas von Aquin, Die menschliche Willensfreiheit. Texte zur tho-
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Nachwort
Die Quaestiones Disputatae De Malo wurden in der zweiten Hälfte der sechziger Jahre des 13. Jahrhunderts abgehalten, während Thomas’ Aufenthalt in Santa Sabina in Rom. Überliefert sind sie nur in der noch zu Thomas’ Lebzeiten erschienenen Universitätsedition. Quaestio 16 wurde scheinbar erst hinzugefügt, nachdem die Universitätsedition bereits veröffentlicht war. Ältere Handschriften enthalten sie nicht. Veröffentlicht wurden die Quaestionen 1–15 um 1270, die Frage 16 im Jahr 1272. Es ist möglich, daß Thomas diese Quaestionen in Paris während der Schuljahre 1269/70 lehrte.3 Entsprechend den Vorgaben der Reihe versuchte der Übersetzer einen flüssigen und lesbaren deutschen Text herzustellen. Auf skrupulöse Anmerkungen zur Übersetzung wurde nur dann nicht verzichtet, wenn von Thomas intendierte Doppeldeutigkeiten oder Etymologien im Deutschen nicht adäquat wiedergegeben werden konnten. Lateinische Termini wie Akt, Potenz etc., die in manchen Übersetzungen nicht übertragen werden, wurden nur in solchen Fällen übernommen, wo eine Verdeutschung den Gebrauch des Wörterbuchs nötiger gemacht hätte als die Verwendung des lateinischen Originals.
II. Aufbau des Gesamtwerkes De malo umfaßt insgesamt 16 Quaestionen mit 101 Artikeln. Alle Quaestionen beschäftigen sich mit dem Übel und den Formen des moralischen Übels: dem Übel als solchem (q. 1), der Sünde und ihren Ursachen (q. 2 und 3), der Erbsünde und ihrer Bestrafung (q. 4 und 5), der menschlichen Willensfreiheit (q. 6), der läßlichen Sünde (q. 7), der Todsünde und ihren 7 Ausformungen (q. 8–15), sowie zuletzt den Dämonen (q. 16).
mistischen Freiheitslehre. Hrsg.: G. Siewerth. Übers.: P. Wehbrink, Düsseldorf 1954. 3 Zur Datierung von De malo vgl. Jean-Pierre Torrell O. P, Magister Thomas. Leben und Werk des Thomas von Aquin, Freiburg u. a. 1995, S. 216 f.
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q. 1. q. 2. q. 3. q. 4. q. 5. q. 6. q. 7. q. 8. q. 9. q. 10. q. 11. q. 12. q. 13. q. 14. q. 15. q. 16.
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Über das Übel (5 Artikel) Über die Sünden (12 Artikel) Über die Ursache der Sünde (15 Artikel) Über die Erbsünde (8 Artikel) Über die Strafe für die Erbsünde (5 Artikel) Über die freie Wahl (1 Artikel) Über die läßliche Sünde (12 Artikel) Über die Todsünden (4 Artikel) Über den eitlen Ruhm (3 Artikel) Über den Neid (3 Artikel) Über die Trägheit (4 Artikel) Über den Zorn (5 Artikel) Über die Habsucht (4 Artikel) Über die Freßsucht (4 Artikel) Über die Verschwendung (4 Artikel) Über die Dämonen (12 Artikel)
III. Hauptthesen der qq. 1 bis 7 Sicherlich sind nicht alle Artikel der übersetzten Quaestionen von – zumindest philosophisch – gleicher Relevanz. Dennoch wird im Folgenden versucht, einen einführenden Überblick über die von Thomas untersuchten Gegenstände zu geben. Dem Übersetzer besonders bedeutsam erscheinende Themen werden ausführlicher diskutiert: dies betrifft besonders die Ausführungen über das Übel als solches, die dem Handelnden zuschreibbaren Ursachen der Sünde und die Untersuchung über die Freiheit des Willens. Andere Fragen sind zwar sicher nicht im selben Maße relevant, aber für das Vorgehen von Thomas doch aufschlußreich, insofern er versucht, scheinbar widernatürliche Vorgänge wie den Einfluß des Teufels auf das Sinnesvermögen oder die Übertragung der Erbsünde vom Fleisch auf die Seele rational einsichtig zu machen und in Einklang mit seinen naturphilosophischen und metaphysischen Überlegungen zu bringen. Diese Aspekte wurden deshalb ebenfalls hervorgehoben.
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1. Das Übel als solches Die erste Quaestio, die sich in 5 Artikel gliedert, gibt zunächst eine allgemeine Begriffsbestimmung des Übels. Sie ist die einzige Quaestio, die explizit vom Übel im Allgemeinen und nicht dem besonderen Übel der Sünde spricht.4 Sie hat insofern eher funktionalen Wert für die nachfolgenden Fragen, muß doch vor der Untersuchung der verschiedenen Formen der Sünde und ihrer jeweiligen Möglichkeitsbedingungen die Frage nach dem Übel an sich, seiner generellen Möglichkeitsbedingung und seiner Einteilbarkeit gestellt werden. Der Status des Übels (q. 1 aa. 1–3) Den Aufbau der ersten drei Artikel von Quaestio 1 kann Thomas von seinen Vorgängern übernehmen. So schreibt Wilhelm von Auxerre in seiner Summa aurea II, tr. 11 c. 3: »dicto de malo an est et quid est, tertia quaestio principialis est de malo unde est. Ille enim due quaestionibus praeambulae sunt ad istam.«5 Zunächst ist also der ontologische Status, danach das Wesen und zuletzt Herkunft und Sinn des Übels zu bestimmen. Das thomasische Verständnis des Übels als Privation (Beraubung) des Guten – daß dem Übel also kein eigenständiges Sein zugeschrieben werden darf – »gehört zu denjenigen Lehrstücken, die die Kirchenväter von der antiken Philosophie übernommen haben.«6 Thomas selbst beruft sich in De malo vornehmlich auf Augustinus und Pseudo-Dionysius Areopagita als Vertreter der Privationstheo-
4 Vgl. Torrell (1996), S. 203. 5 Ed. J. Ribaillier, 1982 I, 339. Ebenso behaupteten bereits Plotin, Augu-
stinus und Dionysius Areopagita die Vorgängigkeit der Frage nach dem Seinsstatus des Übels vor der Frage nach seiner Herkunft. Diese Anordnung der Fragen nach dem Übel, ob es ist, was es ist und woher es kommt, findet sich auch in Thomas Summa theologiae. Vgl. dazu: Rolf Schönberger, »Die Existenz des Nichtigen. Zur Geschichte der Privationstheorie«. In: Friedrich Hermanni; Peter Koslowski (Hrsg.), Die Wirklichkeit des Bösen. Systematisch-theologische und philosophische Annäherungen, München 1998, S. 15 f. 6 Schönberger (1998), S. 17.
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rie.7 Die Privationsthese folgt bei Thomas aus der Konvertibilität von »sein« und »gut«.8 Das Übel ist nach Thomas die Beraubung einer erforderlichen Vollkommenheit oder einer Vollkommenheit, die einer Sache auf Grund ihrer Natur zukommt. Die Privation ist insofern von der bloßen Endlichkeit oder der Beschränktheit eines Wesens streng zu unterscheiden.9 Diese Privationstheorie war bis in die Neuzeit hinein den Streitigkeiten und Gegnerschaften ansonsten verschiedenartigster Denker entzogen. Dieser 2000-jährigen fast einhelligen Behauptung der Privationstheorie steht nun aber eine fast ebenso einhellige 200-jährige Ablehnung gegenüber.10 Die Privationslehre als Betonung der Nichtigkeit des Bösen wird dabei häufig mit einer Verharmlosung des Bösen gleichgesetzt. So meint etwa Schelling in seiner Freiheitsschrift, eine Erklärung des Bösen, die dieses nur als Mangel bestimme, wäre gar nicht in der Lage, die Durchsetzungsfähigkeit des Bösen zu erklären.11 Dagegen müsse das Böse als positive Verkehrtheit verstanden werden. Mangel, Beraubung und Einschränkung seien »Begriffe, die der eigentlichen Natur des Bösen völlig widerstreiten. Denn schon die einfache Überlegung, daß es der Mensch, die vollkommenste aller sichtbaren Kreaturen ist, der des Bösen allein fähig ist, zeigt, daß der Grund desselben keineswegs in Mangel oder Beraubung liegen könne. Der 7 Bei Pseudo-Dionysius heißt es in Die Namen Gottes, Stuttgart 1988, S. 65: »Das Böse ist mithin Privation, Defekt, Schwäche, Missverhältnis, […] Substanzloses und das nie und nimmer irgend etwas Seiende.« 8 De malo q. 1 a. 1 c. Vgl. etwa: Friedrich Hermanni, Das Böse und die Theodizee. Eine philosophisch-theologische Grundlegung, Gütersloh 2002, S. 96. 9 Der Gedanke, daß das Übel Mangel eines gesollten Gutes ist, wird zum ersten Mal von Anselm von Canterbury, De conc. virg., 5 (II, 146) expliziert: »malum non est aliud quam absentia debiti boni.« Vgl. dazu: Schönberger (1998), S. 31. Bei Leibniz verschwindet dieser Unterschied, die reine Endlichkeit oder Beschränktheit als solche wird zu einem Übel. 10 Vgl. Schönberger (1998), S. 19. 11 In Zur Geschichte der neueren Philosophie heißt es über die Privationstheorie von Leibniz, die Schelling allerdings mit der christlich-scholastischen identifiziert, sie könne »das Böse in seinen großen Erscheinungen« (SW X, S. 57) nicht erklären, sondern nur das »niederträchtige oder gemein Böse« (S. 57).
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Teufel nach der christlichen Ansicht war nicht die limitierteste Kreatur, sondern vielmehr die illimitierteste.«12 Nach Thomas muß nun aber angesichts des Begriffs des Übels zwischen dem Träger eines Übels und dem Übel selbst unterschieden werden. Dabei muß ersterer durchaus ein positives Etwas sein und der höhere Grad seiner Vollkommenheit widerspricht nicht dem Mangelcharakter des Übels, dessen Träger er ist. So wäre der Verlust der Sehkraft für ein Lebewesen, dessen Augen von Natur aus limitiert sind, auch nur ein sehr limitiertes Übel.13 In welcher Weise existiert dann aber das Übel, wenn es als Beraubung kein substantielles Sein besitzen soll? Da eine Privation ja immer an Etwas auftreten muß, stellt sich die Frage, woran sie auftritt. Der Träger des Übels muß nach Thomas selbst ein Gut sein. Das Übel existiert also im Guten. Das Gute wird aber auf dreifache Art ausgesagt, und nicht jede Art von Gut kann Träger des Übels sein. Zum einen bezeichnet »gut« die Vollkommenheit einer Sache selbst (etwa die Sehkraft), zum anderen die Sache, die eine Vollkommenheit besitzt (das sehende Auge). Weder die Vollkommenheit selbst, noch das, was sie aktuell besitzt, können jedoch Träger des Übels sein. Aber neben diesen beiden wird auch ein Träger, der in Möglichkeit seiend ist, gut genannt. So besitzt etwa die Seele die Möglichkeit zur Tugend und das Auge die Möglichkeit des Sehens auch dann, wenn diese Vollkommenheiten nicht realisiert sind. Das Übel wurde aber als die Beraubung einer erforderlichen oder natürlichen Vollkommenheit bestimmt. Nicht jede Einschränkung einer Sache ist ein Übel, sondern die Einschränkung dessen, was einem Ding seiner Möglichkeit nach zukommen sollte. Insofern ist das Übel auch um so größer, je mehr eine Sache veranlagt ist, ein Gut zu besitzen, und je größer und natürlicher das zu besitzende Gut ist. Das Übel tritt also am potentiellen Träger eines Guten auf und verhindert dessen 12 F. W. J. Schelling, Über das Wesen der menschlichen Freiheit und die damit zusammenhängenden Gegenstände, hrsg. v. Thomas Buchheim, Hamburg 1997, S. 40 (SW VII, S. 368). 13 Außerdem unterscheidet er zwischen einem Übel an sich und dem, was nur für eine bestimmte Sache ein Übel ist. Letztere Distinktion gewinnt dann Bedeutung in der Frage nach der Bestrafung. Denn die Strafe ist an sich selbst ein Gut, für den Delinquenten hingegen ist sie ein Übel.
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Aktualisierung. Insofern könnte man sagen, daß das potentiell vollkommenste Wesen bei mangelnder Realisierung dieser Möglichkeit Träger des größten Übels ist.14 Deshalb kann auch das (mit Thomas müßte man sagen: der Möglichkeit nach) vollkommenste Wesen in der Schöpfung – der Mensch – Träger des größten Übels sein. Ein von Natur in seinen Möglichkeiten äußerst beschränktes Wesen ist hingegen selten Träger eines großen Übels. Auch ein weiteres Argument Schellings, nämlich die zerstörerische Kraft des Bösen, die die Privationstheorie gar nicht recht begreiflich machen könne, wird von Thomas antizipiert und diskutiert.15 Zwar könne das Übel als Wirkursache tatsächlich keine Kraft entfalten, aber als Formalursache – eben als Mangel – habe das Übel zerstörerische und korrumpierende Kraft. So ist das Übel nach Thomas nicht causa efficiens, sondern causa deficiens. Das Übel zerstört also nicht durch Tätigkeit und Bewegung. Was bei einem Übel an Tätigkeit ist, kommt von dem, was dort noch an Gutem vorhanden ist, wie beim Hinken die Bewegung durch die (gute) Kraft des Beines erzeugt wird, der Mangel in dieser Bewegung aber aus der Formalursache als causa deficiens hervorgeht. Nun entfällt diese Erklärung der Wirksamkeit des Bösen natürlich, wenn die Formalursache als Erklärung für Naturvorgänge entfällt. Außerdem scheint diese Erklärung gerade die Fälle des eigentlich Bösen nicht zu erklären, um die es etwa Schelling als Kritiker der Privationstheorie geht: das sittliche Böse. Andere Formen des Übels – auch Krankheit – würde man ja nicht mit dem Terminus »böse« belegen. Das Lateinische rubriziert dies aber bekanntlich alles unter »malum«. Beim Bösen selbst scheint nun aber die Erklärungskraft der Privation an ihre Grenzen zu stoßen. Denn – um ein Beispiel des Thomas zu gebrauchen – die Ermordung eines Menschen mittels eines Pfeils ist eben nicht als Ausfallserscheinung einer gelungenen Jagd verstehbar, wohingegen die Blindheit als Blindheit ohne Bezug auf Sehkraft nicht einmal beschreibbar wäre, da sich die Blindheit eines Menschen dann nicht vom Fehlen der Sehkraft bei einer Pflanze unterscheiden würde. Das moralisch Böse scheint die Pri14 Vgl. De malo q. 1. a. 2. ad 10. 15 Vgl. insbesondere De malo q. 1 a. 1 arg. 8 f.
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vationstheorie also gar nicht verständlich machen zu können. So ließe sich fragen, ob zwischen dem moralischen Übel und dem natürlichen Übel nicht ein weit größerer Unterschied besteht, als der für beide verwendete Begriff »malum« nahe legt und für die Erklärungskraft der Privationstheorie notwendig ist. So sieht es Kant ja als einen der unschätzbaren Vorzüge der deutschen Sprache an, zwischen dem »Übel« und dem »Bösen« unterscheiden zu können.16 So scheint die Privationstheorie des Thomas auf einer – im Deutschen vermeidbaren – Äquivokation zu beruhen. Dagegen spricht aber, daß auch Autoren wie Schelling zur Explikation ihrer Theorie des Bösen selbst gerne das Phänomen der Krankheit heranziehen – obwohl er zum einen kein Vertreter der Privationstheorie ist und zum anderen zwischen »böse« und »schlecht« unterscheiden kann. Die Strukturanalogie scheint also nicht gebunden an die mangelnde sprachliche Unterscheidung. Daß die Privationstheorie nicht an der Erklärung des Bösen scheitert, zeigt sich hingegen an Thomas Untersuchung der Sünden. »Si quidem deus est, unde malum?«17 In welcher Weise kann man überhaupt die Frage nach einer Ursache für das Übel – als eines an sich Nichtigen – stellen? Der Seinslosigkeit des Übels muß eine Art von Grundlosigkeit entsprechen.18 So kann nach Thomas das Übel keine wesentliche Ursache haben. Hierfür macht er drei Gründe geltend: das Übel kann nicht gewollt werden, da alles Erstrebenswerte 16 So gründet für Kant die Auffassung, daß der Mensch alles nur unter dem Aspekt des Guten sucht und alles Schlechte meidet, darin, »daß die Ausdrücke des boni und mali eine Zweideutigkeit enthalten, daran die Einschränkung der Sprache schuld ist, nach welcher sie eines doppelten Sinnes fähig sind« (KpV A 104): nämlich als Annehmliches und Gutes bzw. Unannehmliches und Böses. »Die deutsche Sprache hat das Glück, die Ausdrücke zu besitzen, welche diese Verschiedenheit nicht übersehen lassen. Für das, was die Lateiner mit einem einzigen Worte bonum benennen, hat sie zwei sehr verschiedene Begriffe, und auch eben so verschiedene Ausdrücke.« (KpV A 105.) (In der Übersetzung wird deshalb auch »malum« durchgängig mit »Übel« oder »schlecht« und nicht mit »böse« wiedergegeben.) 17 Boethius, De consolatione philosophiae, I pr.4 (CCSL 94, 9). 18 Vgl. Schönberger (1998), S. 41.
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die Natur des Guten besitzt. Der Ehebrecher etwa begeht den Ehebruch nicht wegen des Schlechten in dieser Tat – wegen der Schuld –, sondern wegen des Lustgewinns, der ihm als gut erscheint. Eine wesentliche Ursache erstrebt aber gewissermaßen ihre Wirkung. Zum zweiten hat die wesentliche Ursache Ähnlichkeit mit ihrer Wirkung. Die wesentliche Ursache ist aber tätig, insofern sie wirklich ist, was der Natur des Guten, aber nicht des Übels zukommt. Zuletzt nimmt eine wesentliche Ursache Formen von Ordnung in Anspruch, insofern sie auf ihre Wirkung hingeordnet ist. Das Übel ist aber gerade die Folge des Fehlens solcher Ordnung. Aber weil das Übel der Ausfall natürlicher Ordnung ist, bedarf es einer Ursache: denn nur derjenige Mangel wird überhaupt als Übel bezeichnet, der einer Sache unnatürlich ist. »Murphy’s Law« beschriebe nach Thomas also nur eine Regel, aber gibt noch nicht selbst den Grund an, warum Dinge, die schiefgehen können, zumeist auch schiefgehen. Das Eintreten von jedem einzelnen Fall dieser Regel bedarf einer Ursache. Der Mangel kommt einer Sache also auf unnatürliche Weise zu, was einer Ursache bedarf. Wenn das Übel aber keine wesentliche Ursache haben kann, so bleibt ihm nur eine Ursache per accidens: eine zufällige oder auch unfallartige Ursache. Diese zufällige oder unfallartige Ursache des Schlechten kann aber nur das Gute selbst sein, denn wäre es das Übel, so würde man in einen unendlichen Regreß geraten. Das Gute ist solch eine Ursache, insofern das Gute mangelhaft ist oder insofern das Übel unbeabsichtigte Folge ist, die Ursache also eine ungewollte Nebenwirkung zeitigt. Als mangelhaftes Gut bringt es ein Übel hervor, wie etwa ein mißgebildeter Baum schlechte Früchte hervorbringen kann. Was bei den natürlichen Übeln gilt, gilt in ähnlicher Weise auch bei den Willenshandlungen. Hier ist der Wille selbst das unvollkommene Gut, das unbeabsichtigt oder auf Grund seiner Unvollkommenheit ein Übel hervorbringt. Die Mangelhaftigkeit des Willens als Grund für den bösen Willen anzusetzen, ist nun keine Iteration, insofern die Schlechtigkeit des Willens schon in Anschlag gebracht werden muß, um das zu Erklärende verständlich zu machen. Vielmehr ist die Mangelhaftigkeit des Willens vor der schlechten Tat bloße Negation, indem er etwas nicht besitzt, das er an sich aber auch gar nicht besitzen sollte: nämlich eine bestimmte Regel oder
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ein Maß für diese bestimmte Handlung. Das Übel setzt nun erst ein, da der Wille ohne ein solches Maß oder eine Regel handeln will. Denn da er die Handlung will, müßte er auch die Regel für diese Handlung besitzen. Der Mangel, eine Regel nicht zu besitzen, wird erst in diesem Moment zu einem moralisch relevanten Mangel. Schuld und Strafe (q. 1 a. 4 f.) Die sich anschließende Frage nach der angemessenen Einteilung des Übels hat bereits nicht mehr das Übel als solches, sondern das für das vernünftige sittliche Geschöpf spezifische Übel zum Gegenstand. Besteht das Übel des natürlichen Geschöpfs immer nur im Ausfall eines ganz besonderen, für ihn spezifischen Gutes, so erstrebt das vernünftige Geschöpf hingegen die allgemeine Natur des Guten selbst. Nur bei einem vernünftigen Geschöpf wird das Übel auf angemessene und vollkommene Weise in Schuld und Strafe eingeteilt. Denn eine vollständige Einteilung muß den logischen Raum des Eingeteilten vollständig erschöpfen. Ansonsten bliebe ungewiß, ob ein Fall auftreten kann, der von der Einteilung nicht erfaßt wird. Das Einteilungskriterium muß deshalb einen kontradiktorischen Gegensatz zwischen den beiden Arten konstituieren, da erst dadurch die Möglichkeit eines Dritten logisch ausgeschlossen ist. Beim Übel des vernünftigen Geschöpfs entspricht die Einteilung in Schuld und Strafe einer solchen kontradiktorischen Entgegensetzung: die Schuld ist freiwilliges Übel – das getane Übel – und die Strafe ist unfreiwilliges – erlittenes – Übel. Der Wille als das, durch dessen Vorhandensein oder Fehlen das Übel eingeteilt wird, kommt aber nur der vernünftigen Natur zu. Die Einteilung ist deshalb relevant, weil sie auf die Beantwortung der Frage, welches dieser beiden Arten von Übel nun schlechter ist – ob es besser ist, Schlechtes zu tun oder zu erleiden –, Auswirkungen hat. Diese Frage findet sich bereits in den platonischen Dialogen immer wieder. Das Leiden ist nach Sokrates deshalb vorzuziehen, weil das Tun von Schlechtem in dieser Welt das Erleiden von Schlechtem nach diesem Leben notwendig nach sich zieht. Aus der Sicht von Thomas wird damit die Frage aber gar nicht beantwortet. Denn letztlich beantwortet dies nur die Frage, welche Art von Leiden vorzuziehen ist: sinnliches Leid oder der Entzug der Glückseligkeit. Thomas meint hingegen,
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die Strafe habe weniger von der Natur des Übels, auch wenn unter die Strafen nicht nur sinnliche Strafen, sondern ebenso der Entzug des höchsten Gutes – also des letzten Ziels alles menschlichen Strebens – fällt. Sie ist nicht wegen einer mit ihr verknüpften Folge, sondern wegen ihrer selbst schlechter. Denn letztere macht ihren Träger schlechter und muß insofern diese Beschaffenheit auch in höherem Grade besitzen. Das ist deshalb der Fall, weil die Schuld das Übel in der Wirklichkeit des Willens ist, die Strafe aber nur Beraubung dessen, was der Mensch der Möglichkeit nach zu einer guten Tätigkeit gebrauchen kann, weil erstere also auf die Wirklichkeit, letztere aber als Beraubung auf die Möglichkeit bezogen ist. Außerdem ist die Schuld weiter von Gott entfernt, der nicht Urheber einer Schuld, wohl aber einer Strafe sein kann. So bringt Gott die Strafe unter anderem deshalb hervor, um Schuld zu vermeiden.
Die Sünde in ihrem Wesen und ihren Umständen betrachtet (q. 2) In der zweiten Quaestio wendet sich Thomas dem Problem der Sünde zu. Diese wird ihrerseits zunächst im Allgemeinen – also vor der Differenzierung in ihre spezifischen Formen von Erbsünde, läßliche Sünde und Todsünde – betrachtet. Jede Sünde schließt eine Handlung ein. Denn Freiwilligkeit muß die Voraussetzung sein, um überhaupt von einer Sünde sprechen zu können. Freiwilligkeit liegt jedoch nur bei einer Handlung vor. Nun ist das Unterlassen einer Handlung mitunter aber selbst eine Sünde, nämlich eine Unterlassungssünde. Diese besteht in der Abwesenheit einer Handlung, und zwar im Versäumnis einer (äußeren) Handlung, insofern einer Aufforderung durch ein Gebot oder Gesetz nicht nachgekommen wird. Aber nach Thomas bedarf auch die Unterlassungssünde als Ursache einer Handlung. Denn wie die Ruhe eines bewegten Körpers, so benötigt auch die Unterlassung einer gesollten Handlung selbst eine Ursache. Dies können auch unverschuldete Ursachen wie Krankheit etc. sein. Damit die Unterlassung jedoch sündhaft ist, muß ihre Ursache spezifischer Art sein, nämlich eine Willenshandlung. Also schließt zwar nicht jede Sünde eine
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äußere Handlung, aber eine Willenshandlung ein. Bei der Unterlassungssünde ist dies der Wille, die Handlung zu unterlassen. Wenn allerdings nur bei Vorliegen einer Willenshandlung überhaupt von einer Sünde gesprochen werden kann, scheint die Sünde selbst ausschließlich in der Handlung des Willens und nicht in der äußeren Handlung zu bestehen. Denn ob die äußere Handlung zustande kommt, ist der Person mitunter – anders als ihre Willenshandlung – nicht zuschreibbar, da dies gar nicht unbedingt von ihrem Vermögen abhängt. Insofern könnte sie für die äußere Handlung – die zu ihrer Realisierung auf gewisse kontingente Gegebenheiten angewiesen ist – gar nicht verantwortlich gemacht werden. Diese Ansicht wurde im Hinblick auf moralische Handlungen äußerst prominent durch Kant vertreten: Nur der Wille ist gut, denn für den Erfolg einer Handlung kann der Handelnde nicht verantwortlich gemacht werden.19 Wie nur der gute Wille gut genannt werden kann, so auch nur der sündhafte Wille sündhaft. Dies ist nach Thomas aber nur richtig, wenn man die Sünde ausschließlich unter dem eingeschränkten Aspekt der Schuldhaftigkeit betrachtet. Das ist aber nicht die einzig mögliche Bedeutung von Sünde (peccatum). Faßt man die Bedeutung von »peccatum« nämlich allgemeiner, und zwar als Fehlverhalten, so besteht die Sünde auch in der äußeren Handlung. Betrachtet man an der Sünde hingegen das Übel als solches, so ist auch nur die Beraubung als solche sündhaft. Dann gilt, was Augustinus sagte, daß nämlich die Sünde nichts ist,20 also – so 19 »Der gute Wille ist nicht durch das, was er bewirkt, oder ausrichtet, nicht durch seine Tauglichkeit zu Erreichung irgend eines vorgesetzten Zweckes, sondern allein durch das Wollen, d. i. an sich, gut […]. Wenn gleich durch eine besondere Ungunst des Schicksals, oder durch kärgliche Ausstattung einer stiefmütterlichen Natur, es diesem Willen gänzlich an Vermögen fehlete, seine Absicht durchzusetzen; wenn bei seiner größten Bestrebung dennoch nichts von ihm ausgerichtet würde, und nur der gute Wille (…) übrig bliebe: so würde er wie ein Juwel doch für sich selbst glänzen, als etwas, das seinen vollen Wert in sich selbst hat. Die Nützlichkeit oder Fruchtlosigkeit kann diesem Werte weder etwas zusetzen, noch abnehmen.« (GMS BA 3.) 20 Vgl. Augustinus, In Johannis evangelium tractatus I, 1 (CCSL 36, 7): »Peccatum nihil est, et nihil fiunt homines cum peccant.«
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Thomas – weder innere noch äußere Handlung. Das ist nach Thomas allerdings die am wenigsten passende Bedeutung, da die Sünde nicht die Abweichung von der Regel der Vernunft oder dem Gebot Gottes als solches, sondern die abweichende Handlung ist. Deshalb ist für Thomas der angemessenste Sprachgebrauch der, nach dem sowohl die äußere als auch die innere Handlung als Sünde bezeichnet werden kann. Dabei besteht aber die Sünde auch in diesem Sinne ihrem Ursprung nach nur in der Willenshandlung.21 Thomas entwickelt damit eine Position, die einerseits den Ursprung in das vom Menschen zu Verantwortende – nämlich seine Willenshandlung – legt, aber andererseits das Gelingen der äußeren Handlung für die sittliche Qualität der Handlung nicht als irrelevant betrachten muß. Wenn nun aber die Willenshandlung Ursache für die Sündhaftigkeit der äußeren Handlung ist, so gilt es zu fragen, ob äußeren Handlungen als solchen – das heißt, ohne auf die ihnen zu Grunde liegende Willenshandlung zu sehen – überhaupt schon eine moralische Qualität zugeschrieben werden kann oder ob äußere Handlungen ihre moralische Qualität immer erst durch die Willenshandlung erhalten. Das scheint widersinnig, weil manche Handlungen wie Mord oder Ehebruch gar nicht mit einer moralisch guten Willenshandlung verbunden sein können. Thomas argumentiert nun, daß das Spezifikum des Menschen in seiner Vernünftigkeit besteht. Somit sind Handlungen insofern spezifisch menschliche Handlungen, insofern sie in einer Beziehung zur Vernunft stehen. Als spezifisch menschliche Handlungen betrachtet können äußere Handlungen an sich selbst betrachtet gut oder schlecht sein. Durch die Beziehung auf die Vernunft kommen nämlich Unterschiede in den Blick, die manchen Handlungen, wenn man sie als bloße Handlungen eines Lebewesens betrachtet, gar nicht zukommen. Die Beziehung auf die Vernunft kann somit die Güte oder Schlechtigkeit einer Handlung konstituieren, die der Handlung im Hinblick auf die rein biologische Verfassung des Menschen gar nicht zukommt. Unter rein biologischen Gesichtspunkten läßt sich gar kein sittlicher Unterschied zwi21 Das gilt nicht nur bei äußeren Handlungen, die an sich positiv wären, aber wegen der verderbten Absicht schlecht sind, sondern auch bei Handlungen wie Diebstahl oder Mord, die an sich selbst schlecht sind.
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schen dem Verkehr mit der eigenen Frau und dem Verkehr mit der Frau eines anderen Mannes feststellen. Beide erscheinen als Tätigkeiten der Fortpflanzung, so Thomas. Aber weil der Mensch eine bestimmte Art von Lebewesen ist, kann man seine Handlungen auch unter einer anderen Perspektive betrachten. So sind »das Eigene« und »das Fremde« Unterschiede, die durch die Vernunft bestimmt werden. Insofern sind beide Handlungen für ein vernünftiges Wesen nicht indifferent, sondern enthalten einen bedeutenden Unterschied: das eine ist eben Ehebruch und insofern ist die Handlung an sich moralisch schlecht. Auf Grund ihrer Art als menschliche Handlungen können äußere Handlungen also schlecht sein. Ebenso gibt es aber Handlungen, die entsprechend ihrer Art betrachtet weder gut noch schlecht sind. Ihre spezifische Güte oder Schlechtigkeit hat eine Handlung nämlich durch den Bezug ihres Gegenstandes auf die Vernunft, insofern er eine Abweichung oder eine Übereinstimmung mit der Vernunft impliziert. Es gibt aber Arten von Gegenständen, die weder Abweichung noch Übereinstimmung mit der Vernunft hervorrufen. Solche Handlungen sind ihrer Art nach unbestimmt. Eine konkrete sittliche Handlung ist hingegen durch ihre Umstände immer entweder gut oder schlecht. Keine konkrete Handlung des Menschen ist unbestimmt, da eine Handlung ihren gesamten Umständen nach entweder so ist, wie sie sein sollte oder nicht. Dabei bestimmt Thomas die menschlichen Handlungen jedoch als solche, die aus einem überlegten Willen hervorgehen. Der Umstand einer Handlung kann entweder die Person des Handelnden, die Handlung selbst oder die Ursache der Handlung betreffen. »Umstand« ist gewisser Weise selbst ein relationaler Begriff, insofern es vom Aspekt abhängt, unter dem eine Handlung betrachtet wird, ob ein Umstand nur ein Umstand ist. Wird eine Handlung nämlich im Allgemeinen betrachtet – etwa der Verkehr mit einer Frau – so ist es ein Umstand dieser Handlung, ob diese Frau die Frau eines anderen bzw. nicht die eigene Frau ist. Im Besonderen – als Ehebruch betrachtet – ist dies hingegen kein äußerlicher Umstand der Handlung mehr, sondern konstituiert die Art dieser Handlung. Der Umstand konstituiert die Art der Handlung entweder, indem er an sich selbst eine spezifische Differenz der allgemeineren Gattung ist, oder indem er die Handlung in eine ganz andere Gattung über-
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führt. Dabei wirkt sich der Umstand – sofern er die Art verändert – immer erschwerend auf das Gewicht der Sünde aus. Ein Umstand kann aber auch einfach nur die Schwere der Sünde verschlimmern, wenn er nämlich an sich selbst keine Schlechtigkeit beinhaltet, aber Bestimmung eines anderen Umstandes ist, der eine Schlechtigkeit beinhaltet. Dies ist etwa bei quantitativen Bestimmungen der Fall. Wenn sich ein Umstand hingegen indifferent gegenüber der Vernunft verhält, kann er auch gar keinen Einfluß auf die Sünde haben. So spielt es keine Rolle, jemanden in einem roten oder grünen Hemd zu ermorden. Die Schwere einer Sünde unterscheidet sich zum einen durch das Gewicht der Vorschrift, dem sie widerspricht. Zum anderen kann sie, da die Sünde in einer mißgestalteten Handlung besteht, die etwas von der Ordnung der Vernunft aufhebt, entweder mehr oder weniger von dieser Ordnung aufheben. Ihrer Gattung nach unterscheiden sich die Sünden in Bezug auf ihre Schwere dadurch, welchem Gut sie entgegengesetzt sind. So sind die gegen Gott gerichteten Sünden die schwersten Sünden. Innerhalb dieser Gattungen gibt es dann noch einmal Grade der Schwere. Daneben konstituieren äußerliche Umstände und der Grad der Freiwilligkeit der Sünde die Schwere derselben. Diese haben aber keinen Einfluß auf die Art der Sünde. Die Ursachen der Sünde Innerhalb der Ursachen der Sünde lassen sich bereits formal zwei Arten von Ursachen unterscheiden, die eine Sünde hervorbringen könnten: dem Handelnden äußere Ursachen und ihm zuschreibbare Ursachen (Wissensschwäche, Willensschwäche, böse Absicht). Thomas diskutiert dabei zwei mögliche, dem sündigenden Menschen äußerliche Ursachen der Sünde: Gott und den Teufel. Gott als Ursache der Sünde (q. 3 aa. 1 f.) Eine Sünde geht entweder daraus hervor, daß auf Grund des Mangels des tätigen Prinzips das erstrebte Ziel nicht erreicht wird oder ein unangemessenes Ziel erstrebt wird. Da Gottes Kraft unendlich ist und sein Wille, der seine Natur ist, selbst höchstes Gut, letztes
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Ziel und erste Regel jedes Willens ist und es seinem Willen deshalb nicht am höchsten Gut mangeln kann, ist keines von beiden bei ihm möglich. Gott kann auch nicht die Sünde anderer verursachen. Denn er wendet alles sich selbst zu. Da er selbst aber das höchste Gut ist, kann er nicht die Ursache für die Abwendung des Sünders vom höchsten Gut sein. Gott als der erste Beweger scheint jedoch die Handlung insofern verursachen zu müssen, als die Handlung der Sünde als Bewegung des freien Willens selbst eine Bewegung ist. Mit dem freien Willen begabte Wesen werden aber so von Gott bewegt, daß sie sich auch selbst bewegen. Sie können nun die Bewegung Gottes als der ersten Ursache in angemessener Weise oder nur unvollständig und mangelhaft aufnehmen. Ist ersteres der Fall, so wird ihre ganze Bewegung auf Gott als ihrer Ursache zurückgeführt. Ist letzteres der Fall, so wird das, was dort an Mißgestalt ist, nicht auf Gott zurückgeführt, sondern nur das, was dort an der Bewegung Gottes ist. Der Teufel als Ursache der Sünde (q. 3 aa. 3–5) Der Teufel ist nicht die direkte Wirkursache der Sünde des Menschen, sondern überredet diesen zur Sünde. Er läßt dabei dem Sünder ein schlechtes Strebensziel als gut erscheinen. Damit liegt der durch den Teufel verursachten Sünde keine Notwendigkeit zu Grunde, denn der Wille wird zu Einzelgütern nicht mit Notwendigkeit bewegt, sondern nur zur Glückseligkeit als seines natürlichen Gutes. Das vollkommene Gut ist mit der Glückseligkeit notwendig verknüpft. Die Einzelgüter haben hingegen keine notwendige Verknüpfung mit der Glückseligkeit, denn der Mensch kann auch ohne sie glücklich werden. Insofern kann der Teufel keine Sünde erzwingen. Wirkursache des handelnden Willens kann nur der Wille selbst, als die zweite Ursache der Handlung, und Gott als die erste Ursache und Schöpfer des Willens, dem er seine natürliche Neigung gegeben hat, sein. Da Gott aber nicht Wirkursache der Sünde sein kann, kann nur der Wille selbst unmittelbare Ursache der Sünde sein. Der Mensch ist also für seine Sünden allein verantwortlich. Gleichzeitig versucht Thomas, das Wirken des Teufels auf den Menschen rational verständlich zu machen, indem er zeigt, daß dieses nicht in Widerspruch zur Ordnung der Natur steht. Der Teufel kann den
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Menschen nämlich in wahrnehmbarer Gestalt verführen – etwa als Schlange –, aber auch ohne wahrgenommen zu werden. Dazu muß er auf die äußeren oder inneren Sinnesvermögen einwirken können, so Thomas. Damit ist nun die metaphysische Frage impliziert, wie reiner Geist auf körperliche Materie einwirken kann.22 Thomas argumentiert, daß Engel zwar eine Ortsbewegung in der körperlichen Materie verursachen, diese jedoch nicht gestalten können. Dadurch kann der Teufel durch Bewegung der Körpersäfte und der inneren Geister in der Erinnerung aufbewahrte Bilder im Menschen hervorrufen und durch Leidenschaften den Gebrauch der Vernunft des Menschen fesseln, der ihn von einer Sünde abhalten würde. Auf gleiche Weise können sie auch auf die äußeren Sinne einwirken. Damit steht das Wirken des Teufels nicht in Widerspruch zur Naturordnung, sondern wirkt bewegend auf die inneren Vermögen bzw. Organe ein, die auf natürliche Weise Leidenschaften und Bilder hervorbringen. Wissensschwäche (q. 3 aa. 6–8) Nach Thomas ist die Unwissenheit Wirkursache der Sünde, indem sie etwas aufhebt, das die Sünde verhinderte oder hätte verhindern können, nämlich das praktische Wissen. Durch dieses werden wir – mittels eines praktischen Syllogismus – zu guten Handlungen geleitet und von schlechten Handlungen abgehalten.23 Entsprechend der Vielfältigkeit des Wissens – und den Bestandteilen eines praktischen Syllogismus – kann die Unwissenheit auch auf mehrfache Weise die Ursache der Sünde sein, insofern sie entweder das allgemeine Wissen, daß etwas Sünde ist, oder das Wissen von einem besonderen Umstand einer Handlung aufheben kann. So kann man entweder darüber unwissend sein, daß der Beischlaf mit einer verheirateten Frau eine Sünde ist, oder man kann unwissend darüber 22 Das Wirken der Engel ist nicht nur eine theologische Frage, sondern auch eine naturphilosophische und metaphysische Frage. Vgl. Thomas Marschler: »Der Ort der Engel. Eine scholastische Standardfrage zwischen Naturphilosophie, Metaphysik und Theologie«. In: FZPhTh 53 (2006), 41–76. 23 Zum praktischen Syllogismus siehe unten.
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sein, daß diese bestimmte Frau verheiratet ist. Die bloße Tatsache, daß an sich verbotene Handlungen mitunter aus Unwissenheit begangen werden, dürfte dabei noch nicht umstritten sein. Inwieweit solche Handlungen dem Handelnden als Sünde zur Last gelegt werden müssen, bedarf sehr wohl der Klärung. Die Willentlichkeit – als Voraussetzung für das Vorliegen einer Sünde – wird nach Thomas dann nicht durch die Unwissenheit aufgehoben, wenn die Unwissenheit entweder selbst willentlich ist oder etwas anderes gewußt wird, das für das Vorliegen einer Sünde ausreicht.24 Die Unwissenheit kann aber auch selbst eine Sünde sein. Dabei sind drei Formen der Unwissenheit zu unterscheiden: zunächst gibt es das Nichtwissen als die bloße Negation des Wissens. Dieses bloße Nichtwissen ist als Folge der natürlichen Begrenztheit des Menschen noch keine Sünde, wie es auch kein Übel für den Menschen ist, nicht fliegen zu können. Die eigentliche Unwissenheit kann in zwei Formen auftreten: Sie kann privativ sein, wenn sie die Beraubung eines natürlich gesollten Wissens darstellt. Als solche fällt sie in Analogie etwa zur Blindheit unter die Übel. Sie kann aber auch der konträre Gegensatz zum Wissen sein, nämlich als ein Habitus verkehrter Grundsätze, der das Wissen der Wahrheit verhindert. Die Unwissenheit an sich selbst hat die Natur einer Strafe, aber die Unwissenheit bezüglich der Dinge, die ein Mensch wissen sollte, ist schuldhaft: das betrifft das handlungsleitende Wissen, Glaubensdinge und die Vorschriften der zehn Gebote, die jeder kennen sollte. Die dritte Form des Allgemeinbegriffs Unwissenheit ist der Irrtum als die Zustimmung zum Falschen. Dies impliziert eine Handlung, die weder in der Unwissenheit noch im Nichtwissen vorliegt. Der Irrtum hat als eine Handlung den Charakter der Sünde, »denn es ist nicht frei von Vermes-
24 Die willentliche Unwissenheit kann unmittelbar willentlich sein – wenn jemand etwas nicht wissen will, damit er sündigen kann – oder mittelbar, wenn eine Person zu faul ist, sich Wissen zu erwerben, oder etwas will, worauf Unwissenheit folgt. Dies verringert den Charakter der Freiwilligkeit. Den eigenen Vater zu erschlagen, ist eine Sünde und schuldhaft, auch wenn man nicht um die Identität des Ermordeten weiß: man ist dann der Sünde des Mordes schuldig.
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senheit, über Unbekanntes ein Urteil zu fällen«25. Die Unwissenheit entschuldigt aber andererseits die Sünde in genau dem Maße, in dem sie ihre Freiwilligkeit aufhebt. Die Willentlichkeit wird in Bezug auf das Ungewußte aufgehoben. Aber auch hier gibt es Formen des nicht Freiwilligen, nämlich die bloße Nichtwillentlichkeit und die Unfreiwilligkeit. Nichtwillentlichkeit besagt nur das bloße Fehlen einer Willenstätigkeit. Unfreiwilligkeit hingegen besagt, daß der Wille dem Geschehen entgegengesetzt ist. Ein Zeichen für das Vorliegen von Unfreiwilligkeit ist die sich an die Sünde anschließende Traurigkeit und Reue. Willensschwäche (q. 3 aa. 9–11) Im Dialog Protagoras schließt Sokrates aus, daß das Wissen durch die Lust überwunden werden könne. Vielmehr sei das, was im Alltag als akrasia26 erscheint, letztlich nichts als Unwissenheit des Handelnden darüber, was das Beste für ihn sei. Der Grund für die Leugnung der Akrasie ist die enge Verknüpfung von Wissen und Handeln bei Sokrates: wer weiß, welche Handlungsoption die beste ist, der handelt dementsprechend. Insofern kann man diese Position als intellektualistisch bezeichnen. Begründet wird diese Handlungstheorie durch »einen ethischen und psychologischen egoistischen Hedonismus«27. Denn das (ethisch) Beste ist nach Sokrates auch das für den Handeln25 Diese Auffassung über den Irrtum und die Zustimmung zum Falschen als Sünde wirkt fort bis in Descartes’ vierte Meditation. In dieser bestimmt auch Descartes den Irrtum als schuldhafte Handlung. 26 In Protagoras verwendet Platon keine eigene Bezeichnung für das Problem des Überwundenwerdens des Wissens durch das Angenehme oder die Lust. Die Bezeichnung »akrasia«, die Aristoteles verwenden wird – bei Thomas mit incontinentia übersetzt –, findet sich bei Platon nicht. In den Dialogen Timaios, Politeia und den Nomoi verwendet Platon die Begriffe »akratia« und »akrateia«. Vgl. Thomas Spitzley, Handeln wider besseres Wissen. Eine Diskussion klassischer Positionen, Berlin / New York 1992 (= Quellen und Studien zur Philosophie Bd. 30), S. 5. In den späteren Schriften wird die These deutlich differenziert. Der Begriff »Willensschwäche« bezeichnet dieses Phänomen nur ungenau, besser wäre »Unbeherrschtheit«. 27 Spitzley (1992), S. 59.
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den Angenehmste und Lustvollste. Aber auch das triebhafte Streben intendiert das Angenehmste. Niemand könne also wider besseres Wissen sündigen: »Eine ohne Erkenntnis vollzogene fehlerhafte Handlung aber, das wißt ihr auch wohl selbst, hat ihren Grund in der Unwissenheit. Der Lust unterlegen zu sein ist also dies: die größte Unwissenheit«28. Damit leugnet Sokrates also die Möglichkeit des sittlichen Mangels der Unbeherrschtheit, der heute zumeist unter dem Problem der Willensschwäche diskutiert wird.29 Der Grund für die sokratische Leugnung der Unbeherrschtheit lag darin, daß die Vernunft als das Mächtigste im Menschen nicht durch die Leidenschaften hin- und hergerissen werden können sollte. Dem stimmt auch Aristoteles zu: »Denn es ist unverständlich, daß das Stärkste und Sicherste in uns von irgend etwas überwunden werden können sollte. Wissen ist ja das Beständigste und Zwingendste in uns.«30 Die sokratische Verknüpfung von Wissen und Handeln besteht also bei Aristoteles fort. Trotzdem nimmt Aristoteles die Möglichkeit der Unbeherrschtheit an: Der Unbeherrschte weiß, »daß das, was er tut, verkehrt ist, und handelt aus Leidenschaft doch so«31. Denn, wie auch Thomas ausführt, daß niemand, der im Besitz des Wissens ist, im Gegensatz zu diesem handeln kann, widerspricht unserer alltäglichen Erfahrung. Aber weil Aristoteles die Einschätzung des Wissens als des Mächtigsten im Menschen mit Platon teilt und durch die Verknüpfung von rationaler Einsicht und Handeln wird die Erklärung des Phänomens der Willensschwäche zur Herausforderung.32 Diese scheinbare Paradoxie kann Aristoteles dank seiner Unterscheidung von Akt und Potenz bzw. Habitus auflösen. Wissen ist insofern ein »doppelsinniger Ausdruck«33. Wie ein Sehender bei geschlossenen Augen die Sehfähigkeit weiterhin Platon, Prot. 357 d–e. Vgl. etwa: Richard Hare, Freedom and Reason, Oxford 1963, Kap. 5. Aristoteles, MM II, 5; 1200 b. Aristoteles, Eth. Nic. VII, 2; 1145 b. Vgl. Michael Kühler, Rezension zu Tobias Hoffmann / Jörn Müller / Matthias Perkams (Hrsg.), Das Problem der Willensschwäche in der mittelalterlichen Philosophie. In: Allgemeine Zeitschrift für Philosophie 32,2 (2007), 193–198, S. 193. 33 Aristoteles, Eth. Nic. VII, 5; 1146 b. 28 29 30 31 32
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hat, ohne doch im Moment zu sehen, diese Fähigkeit also nicht gebraucht, so besteht ein Unterschied zwischen dem bloßen Besitz eines Wissens und seiner Anwendung oder seinem Gebrauch.34 Man kann Wissen haben und aktuell anwenden, oder es zwar potentiell besitzen, ohne es gleichzeitig aktuell anzuwenden, wie im Schlaf oder im Zustand der Trunkenheit. »In solcher Verfassung befindet sich nun eben der leidenschaftlich Erregte.«35 Das Wissen ist beim Unbeherrschten nur habituell bzw. potentiell vorhanden, aber nicht aktualisiert.36 Der Unbeherrschte geht nicht vorsätzlich übermäßiger Lust nach und weicht Schmerzen aus, sondern »gegen seinen Vorsatz und gegen sein besseres Urteil«37. Aber noch eine zweite Differenzierung im Wissensbegriff ist relevant. Denn der Zusammenhang von Wissen und Handeln erfolgt über einen praktischen Syllogismus. Man muß also Wissen vom Obersatz (universal) und vom Untersatz (partikular) des Syllogismus haben. Im Akratiker liegen nun zwei Syllogismen vor, ein Syllogismus der Begierde und einer der Vernunft, wobei der Untersatz jeweils identisch ist, der Obersatz aber verschieden.38 Der Unbeherrschte besitzt zwar das Wissen um den Obersatz des Syllogismus der Vernunft, wendet es aber nicht an. Er handelt freiwillig, »da er [der Unbeherrschte; S. Sch.] in gewisser Weise weiß, was er tut und weshalb er es tut«39. Er handelt nicht aus Unwissenheit, sondern in Unwissenheit. 34 Vgl. Aristoteles, Eth. Nic. VII, 5; 1146 b. 35 Aristoteles, Eth. Nic. VII, 5; 1147 a. 36 »Der Unenthaltsame ist auch nicht wie einer, der Wissen hat und
Gebrauch davon macht, sondern wie einer, der schläft oder betrunken ist.« (Aristoteles, Eth. Nic. VII, 11; 1152 a.) 37 Aristoteles, Eth. Nic. VII, 6; 1148 a. 38 Der Syllogismus der Vernunft könnte also folgendermaßen aussehen: Ehebruch ist verboten (universal). Diese Handlung ist Ehebruch (partikular) → Diese Handlung ist verboten (Konklusion). Der Syllogismus der Begierde: Ehebruch ist genußvoll (OS). Diese Handlung ist Ehebruch (partikular) → Diese Handlung ist genußvoll (Konklusion). Entscheidende Textpassagen: 1147 a 31 – 1147 b 3 und 1147 b 9 – 12. Vgl. insbesondere Spitzley (1992), S. 80–93. 39 Aristoteles, Eth. Nic. VII, 11, 1152 a.
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Thomas diskutiert ebenfalls die Frage des Handelns wider besseren Wissens und führt dabei nun explizit die Schwäche (infirmitas) als Ursache der Sünde ein.40 Unter der Seelenschwäche versteht er analog zur körperlichen Schwäche – die in der Ungeordnetheit der Körpersäfte besteht – die Unordnung der Leidenschaften der Seele. Aus Schwäche sündigen bedeutet deshalb aus Leidenschaft sündigen. Dabei schließt Thomas sich in der Erklärung dieses Handelns weitgehend Aristoteles an.41 Auch nach Thomas lenkt die Vernunft das Handeln durch das Wissen von allgemeinen und besonderen Propositionen mittels eines praktischen Syllogismus. Er bedient sich außerdem der aristotelischen Unterscheidung von habituellem und aktuellem Wissen. Die Leidenschaft selbst kann Ursache dafür sein, daß etwas habituell Gewußtes nicht aktuell ins Auge gefaßt wird. Thomas übernimmt die aristotelische Unterscheidung von allgemeinem und besonderem Wissen. Das allgemeine Wissen ist nur Ursprung einer Handlung, insofern es auf etwas Besonderes bezogen wird. Die Leidenschaften betreffen Besonderes. Insofern kann die Leidenschaft nicht nur die Aktualisierung des allgemeinen Wissens (des Obersatzes), sondern auch das Wissen des Besonderen (des Untersatzes) verhindern. Der Beherrschte und der Unbeherrschte können also bei Thomas auch unterschiedliche Untersätze verwenden. Zudem ist bei ihm – anders als bei Aristoteles – auch der Syllogismus des Unbeherrschten handlungsanweisend.42 Zuletzt kann die 40 Zu Thomas’ Sicht der incontinentia vgl. etwa: B. Kent, »Transitory Vice: Thomas Aquinas on Incontinence«. In: Journal of the History of Philosophy 27 (1989), 199–223. 41 Nach Spitzley (1992), S. 112 ist Thomas Verständnis von incontinentia »eher als eine Weiterentwicklung und Verfeinerung des aristotelischen Ansatzes auf[zufassen] und weniger als eine eigenständige Position«. In seinem Kommentar zur Ethik des Aristoteles (Sententia libri Ethicorum, Buch VII) diskutiert Thomas ebenfalls das Problem der akrasia bzw. incontinentia. 42 Außerdem differenziert Thomas nicht zwischen bloß dispositionalem und höherstufig-dispositionalem Wissen. (Vgl. Spitzley (1992), S. 123.) Bei Thomas könnte ein Syllogismus der Vernunft wie folgt aussehen: Man darf keine Sünde begehen (OS). Diese Handlung des Ehebruchs ist eine Sünde (US) → Man darf diese Handlung des Ehebruchs nicht begehen
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Leidenschaft noch eine körperliche Veränderung wie den Wahnsinn hervorrufen, wodurch die Vernunft gefesselt und ein freies Urteil über das Besondere verhindert wird. Wie für Aristoteles ist auch nach Thomas der Unbeherrschte für seine Handlung verantwortlich. Denn seine Schwäche ist insofern freiwillig, als ihr eine verkehrte Wahl vorhergeht, durch die der Vernunftgebrauch gefesselt wurde und das Wissen nicht aktualisiert werden konnte. Es liegt allein im Vermögen des Willens, die Aufmerksamkeit der Vernunft auf die Handlung des sinnlichen Begehrens zu richten, wodurch die Vernunft gefesselt wird. Der Wille hätte also bereits die Fesselung der Vernunft verhindern können. Prinzipiell ist der Unbeherrschte also verantwortlich. Thomas führt hier allerdings gegenüber Aristoteles eine neue Unterscheidung ein: der Schwache sündigt zwar mit Entscheidung (secundum electionem) bzw. wählend (eligens), aber nicht aus Entscheidung (ex electione).43 Bei der Frage, inwieweit die Leidenschaft bei der Handlung das Verdienst oder die Schuld vergrößert oder vermindert, ist eine Unterscheidung zu treffen, deren Verwischung bekanntlich auch in der Auseinandersetzung Schillers mit Kants kategorischem Imperativ zu Irritationen führte: nämlich die Unterscheidung, ob eine Handlung aus Leidenschaft oder mit Leidenschaft begangen wird.44 Eine Leidenschaft kann der Willensbewegung nämlich vorangehen, wenn der Wille auf Grund von oder aus Leidenschaft etwas will. Insofern verringert die Leidenschaft Schuld und Verdienst, weil (K). Der Syllogismus des Unbeherrschten schlösse hingegen folgendermaßen: Das Lustvolle ist zu begehen (OS). Dieser Ehebruch ist lustvoll (US) → Dieser Ehebruch ist zu begehen (K). 43 De malo q. 3 a. 12 ad 11. Vgl. Risto Saarinen, Weakness of the will in medieval thought. From Augustine to Buridan, Leiden u. a. 1994, S. 122 f. 44 So schreibt Schiller in einem seiner Xenien: »Gerne dien ich den Freunden, doch tu ich es leider mit Neigung, und so wurmt es mir oft, daß ich nicht tugendhaft bin. Da ist kein anderer Rat, du musst suchen sie zu verachten, und mit Abscheu dann zu tun, was die Pflicht dir gebietet.« (Goethe FA 1,1, Nr. 880 und 881.) Bei Kant hat hingegen nur die aus Leidenschaft begangene Handlung keinen sittlichen Wert. Schiller identifiziert es also miteinander, eine Handlung aus und mit Leidenschaft zu begehen.
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für deren Bemessung das Vernunfturteil maßgeblich ist und dieses durch die Leidenschaft beeinträchtigt wird. Aus Leidenschaft zu sündigen oder Gutes zu tun vermindert also Schuld oder Verdienst. Die Leidenschaft kann aber auch Zeichen einer stärkeren Willensbewegung sein, wenn sie nämlich auf die Willensbewegung folgt. Hier wird also mit Leidenschaft gehandelt, und mit Leidenschaft Gutes bzw. Schlechtes tun ist verdienstvoller bzw. sträflicher. Schlechtigkeit (q. 3 aa. 12–15) Im Dialog Protagoras wird behauptet, daß Unrecht immer unfreiwillig begangen werde: »Denn ich möchte wohl meinen, daß kein einsichtiger Mann glaubt, irgend ein Mensch tue freiwillig unrecht oder begehe Schimpfliches und Schlechtes aus freien Stücken; vielmehr wissen sie genau, daß alle, die Schimpfliches und Schlechtes begehen, dies unfreiwillig tun«45. Dem stehen die – von Thomas zitierten – Ausführungen des Augustinus entgegen, in denen er das Wollen der Schlechtigkeit an sich zum Motiv für einen in der Jugend begangenen Birnendiebstahl erklärt.46 Thomas nimmt in Annäherung an Aristoteles eine mittlere Position zwischen Platon und Augustinus ein. Aristoteles setzt den Unbeherrschten, der sich unvorsätzlich der Lust hingibt, vom Zügellosen (akolastos) ab, bei dem die Hingabe eine vorsätzliche ist. Der Unbeherrschte und der Unmäßige bzw. Zügellose geben sich zwar beide der Lust hin, nur glaubt der letztere, »daß es sich so gehöre«47. Der Unmäßige ist überzeugt, sein unmäßiger Sinnengenuß sei gut. Seine Handlungsmaxime (der Obersatz seines praktischen Syllogismus) lautet, »man müsse rückhaltlos den sinnlichen Lüsten nachgehen«48. Anders als der Unbeherrschte erkennt er sein Handeln nicht als lasterhaft. In gewisser Weise kann er deshalb unheilbar verdorben sein.49 Aristoteles stellt sich somit Platon, Prot. 345 e. Augustinus, Confess. II, 6 (CCSL 27, 23). Aristoteles, Eth. Nic. VII, 11; 1152 a. Aristoteles, Eth. Nic. VII, 9; 1151 a. Vgl. Tobias Hoffmann, »Aquinas on the moral progress of the weak willed«. In: Tobias Hoffmann u. a. (Hrsg.), Das Problem der Willensschwäche in der mittelalterlichen Philosophie. The Problem of Weakness of Will 45 46 47 48 49
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auch hier nicht die Frage, ob jemand wissentlich und willentlich das Schlechte um des Schlechten willen wählt. Der Unbeherrschte weiß, daß er schlecht handelt, ist aber insofern gut, als er im Wissen um die richtigen Handlungsprinzipien nach und vor seiner schlechten Tat das Gute realisieren möchte. Der Zügellose ist zwar verwerflicher, wählt aber auch nicht bewußt das Böse, denn er selbst glaubt ja, das Gute zu wählen. Für Thomas ergibt sich in der Folge von Augustinus zusätzlich das Problem, ob man das Schlechte wollen könne, wo doch der eigentümliche Gegenstand des Willens das Gute ist. Thomas versucht zu erklären, wie sich der Wille selbst auf das Schlechte richten kann. Nun schränkt er die Frage bereits dahingehend ein, daß »aus Schlechtigkeit sündigen« nur »absichtlich sündigen« und nicht »um der Schlechtigkeit willen sündigen« heißt. Die Erzählung des Augustinus müsse man deshalb auch so verstehen. daß Augustinus nicht wegen der Mißgestalt der Schuld die Sünde gewählt hätte, sondern wegen einem Gut, das mit dieser Mißgestalt verbunden war. Daß jemand aber ursprünglich ein Übel an sich selbst will, wie das Beispiel von Augustinus nahe zu legen scheint, kann weder für Aristoteles noch für Thomas der Fall sein. Freiwillig wird etwas aber eben auch dann genannt, wenn es wegen etwas damit Verknüpftem gewählt wird. Das ist bei dem absichtlich schlecht Handelnden der Fall. Thomas bedient sich hier aber des aristotelischen »freiwillig Unfreiwilligen«. Denn auch er verwendet das Beispiel des Kaufmanns, der seine Ware ins Meer wirft, um das Sinken des Schiffes zu verhindern.50 Nur ist die Handlung – anders als für Aristoteles – für Thomas nicht unfreiwillig freiwillig, sondern eine freiwillige. Eine wirkliche »Freiheit zum Bösen« gesteht Thomas nicht zu, vielmehr wird das Böse unter dem Schein des Guten gewollt. Die Frage nach der absichtlichen Sünde stellt sich auf Grund dieser Überlegungen also so, wie jemand ein veränderliches Gut so sehr wollen kann, daß er dafür den Verlust des unveränderlichen Gutes in Kauf nimmt. Hierbei unterscheidet Thomas zwei Gründe: die Unwissenheit und die Willensneigung zu jenem Gut. Die Willensin Medieval Philosophy, Leuven u. a. 2006 (= Recherches de Théologie et Philosophie médiévales. Bibliotheca 8), 221–247, S. 223. 50 Vgl. Aristoteles, Eth. Nic. III, 1; 1110 a.
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neigung kann nun durch eine Leidenschaft (Willensschwäche) oder durch einen Habitus (eine Gewohnheit) hervorgerufen werden. Im letzteren Fall liegt eine Sünde aus Schlechtigkeit oder eine absichtliche Sünde vor. Denn der Wille neigt sich durch seine eigene Bewegung jenem Gut zu. Von Aristoteles unterscheidet sich Thomas nun aber, sofern nach ihm die aus Schlechtigkeit sündigende Person nicht auf Grund ihrer Natur, sondern auf Grund eines Habitus schlecht handelt. Aristoteles schreibt dagegen: »Der Unbeherrschte also scheint nur durch Gewöhnung schlecht zu sein, der Zügellose dagegen von Natur. Daraus folgt, daß der Zügellose schwerer zu behandeln ist. Denn Gewöhnung kann man mit Gewöhnung vertreiben, die Natur dagegen kann durch nichts beseitigt werden.«51 Für Thomas handelt der aus Schlechtigkeit Sündigende bei jeder Handlung freiwillig und nicht in Folge der verdorbenen Natur, was seine Freiwilligkeit einschränken würde. Infolgedessen ist die Sünde aus Schlechtigkeit schwerer als die des Unbeherrschten. So hält auch Thomas die aus Schlechtigkeit begangene Sünde für schwerer als die aus Schwäche begangene und macht dafür drei Gründe geltend: zum einen ist sie freiwilliger. Denn beim Schlechten neigt der Wille wegen seines eigenen Habitus zur Sünde, wohingegen die Leidenschaft als eine Begierde dem Willen des Willensschwachen äußerlich ist. Zum anderen hört beim Willensschwachen die Neigung zur Sünde auf, wenn die Leidenschaft vorübergegangen ist. Dann kehrt er zur richtigen Ansicht über das Gute zurück. Am Ende seiner Sünde steht die Reue. Der Habitus des aus Schlechtigkeit sündigenden Menschen geht jedoch nicht vorüber. Zuletzt besitzt der Willensschwache einen auf das gute Ziel hingeordneten Willen und weicht nur durch seine Leidenschaft davon ab. Der Wille des Schlechten hingegen ist auf das falsche Ziel geordnet, denn er hat die Absicht zu sündigen. Deshalb kann er schwerer auf den rechten Weg zurückgeführt werden, denn er irrt über die Prinzipien des Handelns.52 51 Aristoteles, MM II, 6; 1204 a. An anderer Stelle heißt es: »Im Zügellosen […] ist die Wurzel faul.« (MM II, 6; 1203 a.) 52 Zu Thomas’ Konzeption der Überwindung der Willensschwäche vgl. Hoffmann (2006).
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Da der Heilige Geist die Gottesliebe ist, wird ihm die Güte zueigen gemacht. Allgemein gesprochen kann man deshalb von demjenigen, der aus Schlechtigkeit und damit auf Grund seines Habitus sündigt, sagen, er sündige wider den Heiligen Geist. Denn als Folge seines Habitus widersteht er der Güte des Heiligen Geistes. Dennoch ist nicht jede Sünde aus Schlechtigkeit unvergebbar. Denn die Sünde wider den Heiligen Geist kann in mehrfacher Weise aufgefaßt werden: zum einen als Verstocktheit bis zum Tode, und als solche kann sie nicht vergeben werden. In anderem Sinne ist sie aber nur schwer vergebbar, entweder weil die Entschuldigung fehlt oder weil die Hilfsmittel des Heiligen Geistes verschmäht werden.
Die Erbsünde und ihre Bestrafung In Quaestio 4 wird eine spezifische Sünde in den Blick genommen, nämlich die Erbsünde. Zunächst wird die Frage gestellt, ob es die Erbsünde überhaupt gibt, und danach, worin sie besteht. Sodann folgen die Frage nach dem Träger der Erbsünde und zuletzt die Frage nach möglichen Ursachen für das Auftreten der Erbsünde in eben diesem Menschen. Die folgende Quaestio 5 schließt mit der Untersuchung der Strafe für die Erbsünde an die vorige Frage unmittelbar an. Der Status der Erbsünde (q. 4) Für den christlichen Glauben ist das Auftreten der Erbsünde eine heilsgeschichtliche Notwendigkeit: denn die Erlösung durch den Gottessohn Christus war – genauso wie die Taufe der Kinder – gerade deshalb notwendig, um die von Adam bei der Geburt auf alle Nachkommen übertragene Infektion mit der Erbsünde aufzuheben. Für die philosophierende Vernunft hingegen stellt es einerseits ein metaphysisches, andererseits ein moralisches Problem dar, daß man durch die Geburt mit einer Sünde infiziert werden soll. Denn zum einen scheint die Sünde doch der Seele zuzugehören, die Infektion bei der Geburt müßte jedoch durch das Fleisch erfolgen. Umgekehrt ist es zunächst ebenso unverständlich, wie die Sünde Adams als etwas Geistiges eine körperliche Wirkung (die Verderbnis des Fleisches) hervorbringen können soll. Das sittliche Problem besteht
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darin, wie man sich ohne eigene Handlung die Schuld einer Sünde zuziehen kann. Kann das Faktum der Erbsünde nur geglaubt werden, so versucht Thomas doch die Möglichkeit der Erbsünde rational einsichtig zu machen: Insofern der Mensch Teil einer Gemeinschaft ist, kann ihm eine Handlung zugeschrieben werden, die er nicht persönlich begangen hat, die aber vom Anführer der Gemeinschaft oder der Gemeinschaft im Ganzen begangen wird. Analog dazu können alle Menschen, die die Natur des Menschen von Adam empfangen haben, wie Glieder im Körper eines Menschen betrachtet werden, also als Glieder einer Gemeinschaft. Dadurch wird verständlich, daß es nicht den Prinzipien der Moralphilosophie – nach denen Schuld und Strafe Verantwortlichkeit für eine Tat voraussetzen – widerspricht, wenn den Nachkommen Adams die Schuld für dessen Sünde zukommt. Die metaphysische Möglichkeit für die Übertragung der Strafe wird auf andere Weise verständlich: Adam als Ursprung der gesamten menschlichen Natur war nämlich bei seiner Erschaffung ein übernatürliches Geschenk verliehen worden – die ursprüngliche Gerechtigkeit. Der erste Mensch hat dieses Geschenk durch seine Sünde für sich und seine Nachkommen verloren. Dieser Mangel wird nun auf dieselbe Weise wie die menschliche Natur – deren Ursprung Adam ist – auf die Nachkommen übertragen: durch das Fleisch. Adam besaß als Ursprung der Menschheit nämlich die Natur einer universalen Ursache. Thomas fragt nun nicht nach der Ursache der Erbsünde als solcher, also der Bedingung für den Sündenfall Adams, sondern nach der Übertragung der Erbsünde auf den einzelnen Menschen. Kein Kind kann durch den männlichen Samen gezeugt werden, ohne daß dabei die Erbsünde übertragen wird. Denn ansonsten wären die so geborenen Kinder der Erlösung durch Christus nicht bedürftig. Sofort im Moment ihrer Belebung infizieren sich die durch den natürlichen Geschlechtsakt gezeugten Kinder mit der Erbsünde. Vom Willen geht die Sünde dann auf die anderen Seelenteile und den Körper über, insofern sie vom Willen bewegt werden. Die Erbsünde wird durch die Kraft empfangen, die die menschliche Natur hervorbringt. Nach Aristoteles liegt diese im Samen.53 53 Vgl. Aristoteles, De gen. an. II, 3; 736 b 29 ff. So ist Christus, obzwar
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Im einzelnen Menschen ist die Erbsünde das, was ihm auf Grund der Sünde Adams durch seine Geburt zukommt. Durch die ursprüngliche Gerechtigkeit war der Wille Gott unterworfen und dadurch wiederum war das sinnliche Streben auf geordnete Weise der Vernunft unterworfen. Diese haben die Nachkommen Adams durch dessen Sündenfall verloren, und dieser Verlust ist sozusagen der »Kern« der Erbsünde. Bezogen auf die einzelne Person und ohne Berücksichtigung der Natur ist sie eine Strafe, bezogen auf den Ursprung, in dem alle Menschen gesündigt haben, ist sie Schuld. In seiner Sünde wandte Adam sich einerseits vom ewigen Gut ab, andererseits wandte er sich einem zeitlichen Gut zu. Durch die Abwendung vom ewigen Gut verlor er die ursprüngliche Gerechtigkeit, die Hinordnung des höheren Seelenteils auf Gott. Durch die Hinwendung zum zeitlichen Gut wurden die niederen Vermögen, die vormals der Vernunft unterlagen, zu niedrigeren Regungen hinabgezogen. Die Erbsünde ist also im einzelnen Menschen die Entbehrung der ursprünglichen Gerechtigkeit, durch die der Wille Gott unterworfen war, und damit einhergehend die Begierde als das ungeordnete, nicht der Vernunft unterworfene Streben. Der Materie nach ist auch die Unwissenheit unter der Erbsünde enthalten, insofern sie auch vom Willen bewegt wird und Schuld allen den Teilen des Menschen zukommen kann, die vom Willen bewegt werden. Der Träger der Erbsünde im Menschen muß das sein, was ihm als Menschen zukommt. Denn es ist die Eigentümlichkeit des Menschen, Träger der Erbsünde zu sein. Der Träger muß deshalb die vernünftige Seele sein. Der fleischliche Samen hingegen ist als instrumentelle Ursache der Übertragung der menschlichen Natur auf die Nachkommen nur die werkzeughafte Ursache der Übertragung der Erbsünde. Auf diese Weise ist die Erbsünde auch im Fleisch. Die Bestrafung der Erbsünde (q. 5) Das Wesen des Menschen ist ganz auf Gott hingeordnet. Nur in der Anschauung Gottes kann der Mensch seine vollkommene Erfüllung finden. Seine Glückseligkeit wird in der Schau Gottes bestehen. Geer durch seine Inkarnation vom Fleische Adams ist, dennoch frei von der Erbsünde, weil er nicht durch den Samen gezeugt wurde.
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rade diese Schau zu entbehren ist nun aber die angemessene Strafe für den Sündenfall Adams – obwohl die Strafe für die Erbsünde nach Augustinus die mildeste Strafe darstellen soll.54 Allerdings hat der Mensch durch den Ungehorsam Adams nicht das Vermögen, Gott zu schauen, verloren, sondern nur dessen Realisation. Dieses Vermögen war aber auch vor dem Sündenfall nicht so beschaffen, daß es der Mensch ganz aus eigener Kraft hätte verwirklichen können. Dazu war er immer schon auf die Gnade Gottes angewiesen. Aber weil der Mensch vor dem Sündenfall im Besitz der ursprünglichen Gerechtigkeit war und seine sinnlichen Triebe deshalb gänzlich der Vernunft unterworfen waren, konnte er nur nach Gott streben. Durch die Erlösungstat Jesu Christi kann der Mensch die durch den Sündenfall verlorene ursprüngliche Gerechtigkeit wiedererlangen – auf diese Erlösungstat ist er nun angewiesen. Die Möglichkeit, das vollkommene Gut zu erlangen, wird damit also nicht zur bloß logischen Möglichkeit, und andererseits wird das Fehlen dieser Anschauung nicht zu einer bloßen Beschränkung – denn der Mensch besitzt auch nach dem Sündenfall die reale Möglichkeit, Gott zu schauen. Erst dadurch wird dieser Verlust der Wirklichkeit ja überhaupt erst zur Strafe – gleichzeitig aber nicht zur unendlichen Strafe, da es ihm nie natürlicher Weise – kraft seiner eigenen Natur – zukam, Gott zu schauen, sondern er immer schon der Hilfe Gottes bedurfte. Aber bereits in diesem Leben wird der Mensch für die Erbsünde bestraft. So sind der Tod und andere Mängel dieses Lebens Strafen für die Erbsünde. Sie begleiten jedoch nur die eigentliche Strafe für die Erbsünde: den Verlust der ursprünglichen Gerechtigkeit. Denn durch diese ist der Mensch vor allen Mängeln dieser Art bewahrt worden. Dies widerspricht auch nicht der Natürlichkeit des Todes für den aus Gegensätzen zusammengesetzten menschlichen Körper. Denn der Tod ist nur für die Materie des Menschen (seinen Körper) natürlich und nicht für seine Form (die Seele). Die Form ist aber natürlicher als die Materie, also ist die Natur der Form natürlicher als der Materie. Wie jede Materie ist auch der Körper einerseits passend für die Form, andererseits kann ihm manches natürlich sein, was der Form geradezu entgegengesetzt ist. So ist Eisen zwar we54 Vgl. Augustinus, Ench. XCIII (CCSL 46, 99).
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gen seiner Härte die geeignete Materie für die Form der Säge, insofern Eisen aber zerbrechlich ist, ist es ungeeignet. Ähnlich muß der menschliche Körper aus Elementen zusammengesetzt sein, um für die Seele tauglich zu sein. Deswegen muß der Körper aus Gegensätzen zusammengesetzt sein. Deshalb folgt aus der Natur der Materie, daß der Körper vergänglich ist. Insofern ist er nicht für die Form geeignet und ist nicht natürlich. Denn die Form ist der Grund des Seins, der Verfall ist der Form entgegengesetzt. Der Form als erkennender Seele ist er in besonderem Maße entgegengesetzt, da sie an sich selbst unvergänglich ist. Es gibt aber keinen aus Elementen zusammengesetzten Körper, der unvergänglich wäre. Gott konnte insofern das Vergehen des Körpers im paradiesischen Zustand nur auf Grund seiner Allmacht verhindern. Der Seele hingegen wäre die Unsterblichkeit angemessen.
Die Willensfreiheit (q. 6) Quaestio 6 stellt eine Zäsur innerhalb der Fragen von De malo dar. Bevor Thomas zur Untersuchung der vom Einzelnen begangenen Sünden übergeht, behandelt er das Problem der Willensfreiheit.55 Damit ist die Frage impliziert, ob der Einzelne für die von ihm begangenen Sünden überhaupt verantwortlich ist. Nur wenn der Mensch Ursprung seiner Handlung ist, kann sie ihm auch zugeschrieben werden. Insofern widerspricht die Leugnung der Freiheit nicht nur dem Glauben, sondern auch der Philosophie. Denn sie zerstört die Prinzipien der Moralphilosophie, indem sie Lob und Tadel, sowie Handlungsanweisungen überhaupt sinnlos macht. Bei anderen Dingen liegt es in ihrer Natur, auf bestimmte Weise tätig zu sein. Die Formen, durch die die Tätigkeiten anderer Dinge bestimmt sind, sind immer durch Materie vereinzelt. Daß der Wille auf diese Weise bewegt wird, scheidet von vornherein aus.56 Zwar 55 Vgl. Jean-Pierre Torrell O. P, Magister Thomas. Leben und Werk des Thomas von Aquin, Freiburg u. a. 1995, S. 217 f. 56 Das Streben der Tiere ist – sofern es eine Art von Selbsttätigkeit besitzt – ein Mittleres zwischen dinglichem und menschlichem Streben.
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geht die äußere Handlung auch beim Menschen aus einer durch den Verstand gegebenen Erkenntnisform und einer dieser Form folgenden Neigung des Willens hervor, nur ist die dem Willen durch den Verstand gegebene Form eine allgemeine, so daß die Neigung des Willens allein auf Grund dieser Tatsache nicht vollständig determiniert ist. Denn die Neigung des Willens verhält sich gegenüber den Einzelfällen, die unter die erkannte Form fallen, unbestimmt. Das Streben des Menschen also in der Weise des Strebens der natürlichen Dinge zu determinieren, hieße damit, dieses Streben völlig fehlzudeuten. Freiheit setzt auch ein Anderskönnen, ein Wählen (die prohairesis des Aristoteles)57 voraus und kann nicht nur darin bestehen, daß man wie der Gott Spinozas der Notwendigkeit des eigenen Wesens gehorcht. Die Frage nach der Willensfreiheit wird vornehmlich als eine des Verhältnisses von Wille und Vernunft diskutiert:58 Wie verhalten sich Erkenntnis und Wollen zueinander? Wie können Wille und Vernunft zusammen agieren, damit man von einem freien Willensentschluß sprechen kann? Die Möglichkeit von Willensfreiheit im Sinne einer Selbstbewegung des Willens würde nämlich dadurch aufgehoben werden, daß der Wille durch das Gut bewegt wird, das von der Vernunft erkannt und daraufhin dem Willen vorgesetzt wird. Der Wille scheint aber nur das wollen zu können, was vom Verstand als gut erkannt wurde. So heißt es etwa bei Augustinus: »nil volitum, nisi cognitum«59. Es scheinen sich also zwei Alternativen anzubieten: Entweder der Wille ist frei von der Vernunft, dann führt diese Wahlfreiheit zu bloßer Beliebigkeit (Voluntarismus).60 Oder der Wille wird durch die Vernunft determiniert und ist insofern nicht frei (Determinismus). Gegenüber den früheren Texten, versucht Thomas in De malo (wie auch in Summa theologiae I–II) den Aspekt der Selbstbewegung des Willens stärker hervorzuhe57 Auch nach Aristoteles kann erst durch die Wahl die Handlung des Menschen zum Gegenstand von Lob und Tadel werden. 58 Vgl. dazu Rolf Schönberger, Thomas von Aquin zur Einführung, Hamburg 1998, S. 134–149. 59 Augustinus, De trin. VIII 4, 6 (CCSL 50 A, 275). 60 Nach Aristoteles ist eine Handlung aber nur dann im vollen Sinne frei, wenn sie aus einer Überlegung hervorgeht.
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ben.61 Dazu muß zunächst zwischen Vernunft und Wille unterschieden werden. Vernunft und Wille sind zwar beide verschiedene Vermögen, aber der Wille ist dennoch ein rationales Streben. Insofern wendet sich Thomas gegen einen reinen Voluntarismus. Vernunft und Wille sind hinsichtlich ihres Formalobjektes unterschieden, denn das Formalobjekt des Willens ist das Gute, das des Verstandes ist das Wahre. Das Gute bewegt das Wollen als Ziel, nicht als causa efficiens im Sinne eines Motivs. Jedoch kann dieses Formalobjekt den Willen noch nicht determinieren. Denn das Ziel der einzelnen und konkreten Handlung ist niemals das Gute im Allgemeinen. Der Wille will zwar alles unter dem Aspekt des Guten, aber unter diesem sind verschiedene Dinge zusammengefaßt. In einer Handlung erstreben wir nicht ein allgemeines Gut, sondern wir wollen bestimmte Güter. Diese erscheinen uns aber nicht schlechthin als gut, sondern in einer gewissen Hinsicht. Daß der menschliche Wille also notwendig das Gute im Allgemeinen und nicht besondere Güter will, läßt seiner Freiheit also gerade Raum. Hingegen ist das Streben der anderen Dinge auf ein je bestimmtes Gut gerichtet. Insofern muß der Wille kein einzelnes Gut wollen. Der Wille wird durch sich selbst und durch seinen Gegenstand, also auf zweifache Weise, bewegt. Dadurch lassen sich zwei Formen von Freiheit unterscheiden, entsprechend den Hinsichten, unter denen man den Willensakt betrachten kann: denn das reine Zustandekommen des Willensaktes muß davon unterschieden werden, daß ein Willensakt von eben dieser Art zustande kommt. So kann Thomas zwischen der Freiheit der Spezifikation, die die Art der Handlung betrifft, und der Freiheit des Vollzuges unterscheiden. Der Wille als Vermögen ist demnach in zweifacher Hinsicht in Möglichkeit: 61 Vgl. Yul Kim, Selbstbewegung des Willens bei Thomas von Aquin, Berlin 2007 (= Veröffentlichungen des Grabmann-Institutes zur Erforschung der mittelalterlichen Theologie und Philosophie Bd. 51), S. 17. Zur Frage, ob diese Entwicklung in der Freiheitslehre des Thomas einen grundlegenden Wandel von einer intellektualistisch-deterministischen zu einer dem Voluntarismus näher stehenden Position – als Reaktion auf die Kritik an seiner früheren Lehre von Seiten der Voluntaristen – bedeutet, sowie zum Problem der Lehrveränderung von Thomas von Aquin vgl. Kim (2007), Kap. V.
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zu seiner Tätigkeit überhaupt und der Spezifikation dieser Tätigkeit. Zur Tätigkeit selbst wird der Wille nur durch sich selbst bewegt. Die inhaltliche Bestimmung erfolgt durch die Vernunft. Aber die Leistung der Vernunft, durch die diese dem Willen ein Gut als erstrebenswert vorsetzt, ist wiederum die Tätigkeit eines Vermögens. Diese muß ihrerseits gewollt sein. Als Vermögen der Seele wird die Vernunft dann gebraucht, wenn wir es wollen. Das Denken und Erkennen muß also gewollt werden. Wille und Verstand bewegen sich gegenseitig: der Verstand spezifiziert die Handlung des Willens, der Wille verursacht die Tätigkeit der Vernunft als solcher. Da dies aber unterschiedliche Hinsichten der Tätigkeit und ihrer Aktualisierung sind, liegt kein Zirkel vor. Sie bewegen sich in unterschiedlichen Hinsichten gegenseitig. Das Verhältnis der jeweiligen Formalobjekte zueinander klärt dieses Verhältnis noch einmal: Mit dem Guten als solchem hat der Wille ein universales Gut, die Vernunft mit dem Wahren ein besonderes Gut zum Formalobjekt. Der Wille kann den Verstand bewegen, weil dessen Gut unter sein Formalobjekt fällt. So muß der Wille nicht einmal die Glückseligkeit in jedem Moment der Wirklichkeit nach wollen, da er als Urheber der Vernunfttätigkeit die Vernunft vom Denken an die Glückseligkeit ablenken kann. Andererseits kann der Verstand beurteilen, ob es sich bei ebendiesem Gut um ein wirkliches (wahres) Gut oder nur um ein scheinbares gut handelt – und so kann man tatsächlich sagen, daß die Wurzel der Freiheit auch in der Vernunft liegt und die Freiheit vernünftig ist.62
Die läßliche Sünde Die Unterscheidung der läßliche Sünden und Todsünden (q. 7 aa. 1–4) Im Gegensatz zur Todsünde ist die läßliche Sünde eine Sünde, die an sich selbst betrachtet die Vergebung nicht ausschließt. Die Todsünde verdient hingegen an sich selbst betrachtet ewige Strafe. Beide Sünden unterscheiden sich also hinsichtlich ihrer Schuld. Das ist 62 Vgl. Siewerth (1954), S. 50.
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aber nur eine Folge der Natur von Todsünde und läßlicher Sünde. Der Unterschied in der Schuld wird durch die Materie der Handlung oder den Träger der Sünde konstituiert: Analog zur heilbaren Krankheit, die in einer Unordnung der Körpersäfte besteht, gleichen die läßlichen Sünden einer heilbaren Unordnung der Seele. Wie der heilbar kranke Körper, so kann auch die Seele des läßlichen Sünders aus eigener Kraft wieder gesunden. Denn wie Krankheiten deshalb heilbar sind, weil durch sie nicht die Grundlagen des Lebens zerstört werden, so verhält es sich auch bei der läßlichen Sünde. Das Prinzip des geistigen Lebens ist dabei die Liebe zu Gott und dem Nächsten. Deshalb ist diejenige Sünde tödlich, die die Gottesliebe aufhebt, denn die Gesundheit kann dann nicht mehr durch die Seele selbst restituiert werden. Bei der läßlichen Sünde hingegen können durch die zurückbleibende Gottesliebe alle Mängel restituiert werden. Die läßliche Sünde vermindert nämlich nicht die Gottesliebe. Auf Seiten ihres Gegenstandes kann die Gottesliebe gar nicht vermindert werden, denn dieser ist Gott. Dieser kann als absolut unteilbar weder vergrößert noch vermindert werden. Aber auf Seiten der Wirkursache und des Trägers kann die Liebe zu Gott größer oder kleiner sein. Denn Gott weist jedem ein unterschiedliches Maß an Gottesliebe zu. Und der Mensch als Träger bringt in sich selbst eine mehr oder weniger große Veranlagung zur Gottesliebe hervor. Die läßliche Sünde kann zwar nicht die Ursache dafür sein, daß die besessene Gottesliebe vermindert wird. Denn wer läßlich sündigt, ist geschaffenen Dingen nicht so zugeneigt, daß er sich von Gott abwenden würde. Sie kann aber verhindern, daß der Mensch mehr Gottesliebe aufnimmt. Eine der Zahl nach selbe Handlung kann nicht von einer läßlichen zu einer tödlichen Sünde werden. Die läßliche Sünde und die Todsünde sind nicht von derselben Art von Größe. Sie sind so unterschieden, daß aus einer läßlichen Sünde keine Todsünde werden kann, wenn sich die ihr zu Grunde liegende Willenshandlung nicht verändert. Dann läge aber nicht mehr dieselbe sittliche Handlung vor. Allerdings kann durch das Hinzukommen der überlegten Wahl aus einer läßlichen Sünde eine Todsünde werden.
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Der Ort der läßlichen Sünde (q. 7 aa. 5–9) Die Vernunft betrachtet die ewigen Prinzipien. In diese Betrachtung können sich jedoch Irrtümer einschleichen. Diese Irrtümer sind an sich läßliche Sünden, solange die Vernunft nicht darauf reflektiert, daß sie mit diesem Irrtum gegen ein Gebot Gottes verstößt. Aber die Vernunft betrachtet diese Prinzipien nicht nur in theoretischer Absicht, sondern auch als Handlungsanleitungen. Auch hierbei kann entweder eine läßliche Sünde oder eine Todsünde auftreten: eine läßliche Sünde, wenn die Überlegung eine Handlung als Hindernis auf dem Weg zu Gott erkennt und sie dennoch gewählt wird, und eine Todsünde, wenn der Mensch erkennt, daß sie ihn gänzlich von Gott abbringt und sie trotzdem wählt Die Bewegung der Sinnlichkeit kann dagegen keine Todsünde sein, weil sie nicht auf das höchste Ziel geordnet ist und insofern nicht von ihm abweichen kann. Wenn der Begierde nicht nachgegeben wird, wenn sie also bloß in der Sinnlichkeit bleibt, ist sie eine läßliche Sünde. Die Sünde kann nämlich in der Tätigkeit jedes Vermögens auftreten, dessen Tätigkeit sittlich relevant sein kann. Die Tätigkeit ist dann sittlich, wenn sie von der Vernunft und vom Willen geordnet und befohlen ist. Das sinnliche Streben gehorcht in Bezug auf bestimmte innere Bewegungen der Vernunft. Manchmal aber bewegt sie sich ohne Befehl des Willens und der Vernunft, dann sagt man, die Sünde sei in der Sinnlichkeit. Aber eine Todsünde kann sich nicht in der Sinnlichkeit finden, weil diese sich nicht auf das letzte Ziel bezieht. Solange der höhere Seelenteil fest an Gott hing, waren auch alle niederen Teile der Seele und der Körper der Vernunft unterworfen. Der höhere Teil konnte sich aber nur durch eine Todsünde von Gott abwenden: denn in der Abwendung von Gott besteht die Todsünde. Solange war keine Unordnung in den unteren Seelenteilen möglich. Die Sünde kann außerdem nur deshalb beim Menschen läßlich sein, weil sein Verstand diskursiv ist. Denn dadurch können die Schlußfolgerungen und Prinzipien getrennt sein, weil sein Geist in praktischen Dingen nicht immer zugleich auf das Ziel und die Mittel dazu gerichtet ist. Bei ihm kann es zu einer Unordnung bezüglich der Mittel zum Ziel kommen, ohne daß er sich vom Ziel abwendet. Die Ungeordnetheit seiner Handlungen muß also nicht aus der Abwendung vom ersten Ziel hervorgehen.
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Bestrafung und Vergebung der läßlichen Sünde (q. 7 aa. 10–12) Eine Strafe ist die Korrektur einer Sünde, durch die die gerechte Ordnung verletzt wurde. Da der Mensch sich in der Sünde dem Willen Gottes widersetzt, um seinem eigenen Willen zu folgen, muß umgekehrt der Sünder in der Strafe entgegen seinem eigenen Willen gemäß dem göttlichen Willen bestraft werden. Weil die Todsünde der Gottesliebe entgegengesetzt ist, verdient sie eine ewige Strafe und keine Vergebung. Diese ist nämlich eine Wirkung der Gottesliebe. Auf Seiten der Person wird der Mensch dann nicht von der Strafe erlöst, wenn er der Gnade beraubt ist. Aus eigener Kraft kann er sich dann nämlich nicht mehr von der Strafe befreien. Die läßliche Sünde ist jedoch weder der Gottesliebe entgegengesetzt, noch beraubt sie den Träger der Gnade. Aber verbunden mit einer Todsünde kann sie wegen dieser nicht vergeben werden, weil der Träger durch diese Todsünde der Gnade beraubt ist.
ABKÜRZUNGSVERZEICHNIS
Buytaert
Johannes Damascenus, De fide orthodoxa. Versions of Burgundio and Cerbanus, ed. E. M. Buytaert, Louvain 1955 (= Franciscan Institute Publications. Text series 8).
CCSL
Corpus Christianorum. Series Latina, Turnhout 1953 ff.
Crawford
Averroes. Corpus commentariorum Averrois in Aristotelem, Versiones latinae, Cambridge Mass. Commentarium magnum in Aristotelis De anima libros, ed. F. S. Crawford VI,1, 1953.
CSEL
Corpus Scriptorum Ecclesiasticorum Latinorum, Wien 1866 ff.
Coll. S. Bon.
Magistri Petri Lombardi Sententiae in IV libros distinctae, ed. Collegii S. Bonaventurae ad Claras Aquas, Grottaferrata (Romae) 1971 (= Spicilegium Bonaventurianum 4–5).
Dion.
Dionysiaca. Recueil donnant l’ensemble des traductions latines des ouvrages attribués au Denys de l’Aréopage et synopse marquant la valeur de citations presque innombrables allant seules depuis trop longtemps, remises enfin dans leur contexte au moyen d’une nomenclature rendue d’un usage très facile, Brügge 1937.
Friedberg
Corpus Iuris Canonici, ed. Aemilius Friedberg, Leipzig 1879. (Photomechanischer Nachdruck der Akademischen Druck- u. Verlagsanstalt, Graz 1959)
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Abkürzungsverzeichnis
GCS
Die griechischen christlichen Schriftsteller der ersten drei Jahrhunderte, Leipzig-Berlin 1897 ff.
Goethe FA
J. W. von Goethe, Sämtliche Werke. Briefe, Tagebücher und Gespräche. Frankfurter Ausgabe in 40 Bänden, Frankfurt am Main 1985 ff.
Heylbut
Eustratii et Michaelis et anonyma in Ethica Nicomachea Commentaria, ed. G. Heylbut (Commentaria in Aristotelem graeca, XX), Berlin 1892.
Holmberg
Das Moralium Dogma Philosophorum des Guillaume de Conches, ed. J. Holmberg, Uppsala 1929.
Krueger
Corpus Iuris Civilis: Codex Iustitianus, ed. P. Krueger, Berlin 1892.
Leclercq
Bernardus Claraevallensis, Opera, ed. J. Leclercq et al., Rom 1957 ff.
Pattin
Simplicius latine: Simplicius. Commentaire sur les Catégories d’ Aristote. Übersetzung von Guillaume de Moerbeke, ed. A. Pattin (Corpus latinum Commentariorum in Aristotelem graecorum V, 1 und 2), Louvain-Paris 1971–1975.
PG
Patrologiae cursus completus, Series Graeca, ed. J.-P. Migne, Paris 1857 ff.
PL
Patrologiae cursus completus, Series Latina, ed. J.-P. Migne, Paris 1844 ff.
Schmitt
Anselm von Canterbury, Opera Omnia, ed. Fr. S. Schmitt, 6 vol., Edinburgh 1946-1961. (Neudruck Stuttgart-Bad Cannstatt 1968)
Schönfeld
[Anonymus;] Das Buch von den Ursachen / Liber
Abkürzungsverzeichnis
505
de causis. Lateinisch – deutsch, übersetzt und mit einer Einleitung versehen von A. Schönfeld und R. Schönberger, Hamburg 2004 (= Philosophische Bibliothek 553). SW
F. W. J. Schelling, Werke. Nach der Originalausgabe in neuer Anordnung ed. von Manfred Schröter. Münchner Jubiläumsdruck, München 1927.
Van Riet
Avicenna Latinus, ed. S. Van Riet und G. Verbeke, Louvain (u. a.) 1968 ff.
Verbeke
Nemesius von Emesa, De natura hominis, ed. G. Verbeke, Leiden 1975 (= Corpus Latinum commentariorum in Aristotelem Graecorum. Suppl. 1).
THOMAS VON AQUIN
Quaestiones Disputatae Regensburger Ausgabe herausgegeben von Rolf Schönberger
band 1–6 Über die Wahrheit (De veritate) band 7–9 Über das Vermögen Gottes (De potentia Dei) band 10 Über die Tugenden (De virtutibus) band 11–12 Über das Übel (De malo) band 13 Über die Seele (De anima)