Quaestiones disputatae: Vom Übel II: De malo II, q. 8-16 9783787319121, 9783787333691

In den 16 Quaestionen zur Erörterung der Frage nach dem Ursprung und dem Wesen des Schlechten und Bösen in der Welt und

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German Pages 405 [417] Year 2010

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Quaestiones disputatae: Vom Übel II: De malo II, q. 8-16
 9783787319121, 9783787333691

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THOMAS VON AQUIN

Quaestiones Disputatae

Thomas von Aquin

Quaestiones Disputatae

THOMAS VON AQUIN

Quaestiones Disputatae Vollständige Ausgabe der Quaestionen in deutscher Übersetzung Herausgegeben von Rolf Schönberger Band 12

FELIX MEINER VERLAG HAMBURG

THOMAS VON AQUIN

Vom Übel De malo Teilband 2 Übersetzt von Christian Schäfer

FELIX MEINER VERLAG HAMBURG

Gedruckt mit freundlicher Unterstützung der Universitätsstiftung Lucia und Dr. Otfried Eberz, Regensburg.

Bibliographische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliographie; detaillierte bibliographische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar. ISBN 978-3-7873-1912-1

© Felix Meiner Verlag GmbH, Hamburg 2010. Alle Rechte, auch die des auszugsweisen Nachdrucks, der fotomechanischen Wiedergabe und der Übersetzung, vorbehalten. Dies betrifft auch die Vervielfältigung und Übertragung einzelner Textabschnitte durch alle Verfahren wie Speicherung und Übertragung auf Papier, Transparente, Filme, Bänder, Platte und andere Medien, soweit es nicht §§ 53 und 54 URG ausdrücklich gestatten. – Satz: post scriptum, www.post-scriptum.biz. Druck: Strauss Buch, Mörlenbach. Bindung: Litges & Dopf, Heppenheim. Gedruckt auf alterungsbeständigem, säurefreiem Werkdruckpapier. Printed in Germany.

INHALT

VIII. Über die Hauptsünden 1. Artikel 2. Artikel 3. Artikel 4. Artikel

Wie viele Hauptlaster gibt es und welche? . Stellt Hochmut eine eigene Sünde dar? . . Hat der Hochmut seinen Sitz im Vermögen zur Zornaufwallung? . . . . . . . . . . . . Welche sind die Arten des Hochmuts? . . .

. . . . 3 . . . . 20 . . . . 32 . . . . 45

IX. Über die Eitelk eit 1. Artikel 2. Artikel 3. Artikel

Handelt es sich bei der Eitelkeit um eine Sünde? 51 Ist Eitelkeit eine Todsünde? . . . . . . . . . . . . . 57 Welche sind die Töchter der Eitelkeit? . . . . . . . 65

X. Über den Neid 1. Artikel 2. Artikel 3. Artikel

Ist Neid eine Sünde? . . . . . . . . . . . . . . . . . 69 Ist Neid eine Todsünde? . . . . . . . . . . . . . . . 76 Stellt Neid eines der hauptsächlichen Laster dar? 83

XI. Über die Tr ägheit 1. Artikel 2. Artikel

Ist Trägheit eine Sünde? . . . . . . . . . . . . . . . 87 Stellt Trägheit eine besondere Sünde dar? . . . . . 94

VI

3. Artikel 4. Artikel

Inhalt

Ist Trägheit eine Todsünde? . . . . . . . . . . . . 97 Stellt Trägheit ein Hauptlaster dar? . . . . . . . 102

XII. Über den Zor n 1. Artikel 2. Artikel 3. Artikel 4. Artikel 5. Artikel

Ist jeder Zorn schlecht, oder sind einige Spielarten von Zorn gut? . . . . . . . . . . . Kann Zorn eine Sünde sein oder nicht? . . . Ist Zorn eine Todsünde? . . . . . . . . . . . . Ist Zorn eine weniger schwerwiegende Sünde als Haß, Neid und anderes von der Art? . . . Stellt Zorn ein Hauptlaster dar? . . . . . . .

. . 105 . . 116 . . 121 . . 129 . . 133

XIII. Über die Habgier 1. Artikel 2. Artikel 3. Artikel 4. Artikel

Stellt Habgier ein eigenes Laster für sich dar? Ist Habgier eine Todsünde? . . . . . . . . . . Ist Habgier eines der Hauptlaster? . . . . . . Ist Leihen mit Zinsnahme eine Todsünde? . .

. . . .

. . . .

137 143 149 152

. . . .

. . . .

167 173 180 185

XIV. Über die Völlerei 1. Artikel 2. Artikel 3. Artikel 4. Artikel

Stellt Völlerei immer eine Sünde dar? Ist Völlerei eine Todsünde? . . . . . . Welche sind die Arten der Völlerei? . Ist Völlerei ein Hauptlaster? . . . . .

. . . .

. . . .

. . . .

. . . .

Inhalt

VII

XV. Über die Wollust 1. Artikel 2. Artikel 3. Artikel 4. Artikel

Ist jede Handlung aus Wollust eine Sünde? . . Ist jede Handlung aus Wollust eine Todsünde? Welche sind die Arten der Wollust? . . . . . . Ist Wollust ein Hauptlaster? . . . . . . . . . .

. . . .

189 197 208 210

XVI. Über die Dämonen 1. Artikel 2. Artikel 3. Artikel 4. Artikel

5. Artikel 6. Artikel

7. Artikel 8. Artikel 9. Artikel 10. Artikel 11. Artikel

Haben die Dämonen natürlicherweise mit ihnen verbundene Körper? . . . . . . . . . . . . . . . . Sind die Dämonen von Natur aus böse oder willentlich böse? . . . . . . . . . . . . . . . . . . Hat der Teufel danach getrachtet, Gott gleich zu sein, als er sündigte? . . . . . . . . . . . . . . Hat der Teufel bereits im ersten Augenblick seines Geschaffenseins gesündigt und konnte er das überhaupt? . . . . . . . . . . . . . . . . . Kann sich der freie Wille in den Dämonen nach der Sünde wieder aufs Gute zurückbesinnen? . . Ist das Verstandesvermögen des Teufels nach der Sünde so verdunkelt, daß in ihm Irrtum oder Täuschung stattfinden kann? . . . . . . . . Kennen die Dämonen die Zukunft? . . . . . . . Kennen die Dämonen die Gedanken in unserem Herzen? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Können Dämonen Körper verwandeln, indem sie deren Gestaltgebung ändern? . . . . . . . . . Können Dämonen Körper von einem Ort zum anderen bewegen? . . . . . . . . . . . . . . . . . Können Dämonen den denkenden Teil der Seele hinsichtlich der inneren oder äußeren Sinneswahrnehmung verändern? . . . . . . . . . . . .

215 233 248

260 277

290 306 322 332 342

347

VIII

inhalt

12. Artikel Können Dämonen den Verstand eines Menschen verändernd beeinflussen? . . . . . . . . . . . . . 358

Nachwort 1. 2. 3. 4.

Text und Übersetzung . . . . . . . . . . . . . . . . . Entstehungszeit und innere Gliederung von De malo Die Hauptgedanken der qq. 8–15 . . . . . . . . . . . Die Dämonen der q. 16 . . . . . . . . . . . . . . . . .

. . . .

. . . .

. . . .

367 371 374 395

Abkürzungsverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 403

THOMAS VON AQUIN

Vom Übel

VIII. ÜBER DIE HAUPTSÜNDEN

Die hier behandelten Fragen lauten: 1. Wie viele Hauptlaster gibt es und welche? 2. Stellt Hochmut eine eigene Sünde dar? 3. Hat der Hochmut seinen Sitz im Vermögen zur Zornaufwallung? 4. Welche sind die Arten des Hochmuts?

1. Artik el 1 Die erste Frage lautet: Wie viele Hauptlaster gibt es und welche? Wie es scheint, gibt es sieben; denn2: 1. Gregor der Große sagt im 31. Buch seiner Moralschriften : »Es gibt sieben hauptsächliche Laster, nämlich Eitelkeit, Neid, Zorn, Trägheit, Habgier, Völlerei und Wollust«.3 – Dagegen spricht, daß die Hauptsünden offenbar so genannt werden, weil von ihnen her andere ihren Anfang nehmen.4 Nun stammen aber alle Laster aus einem einzigen oder bloß zweien. In 1 Tim. 6, 10 heißt es nämlich: »Denn die Wurzel aller Übel ist die Begierde«; und in Sir. 10, 15: »Hochmut ist der Anfang aller Sünde«. Also gibt es nicht sieben Hauptsünden. 2. Dagegen wurde eingewandt, daß der Apostel an der zitierten Stelle von der Begierde nicht wie von einer besonderen Sünde spricht, sondern insofern sie eine allgemeine Verwirrung des Begehrens darstellt. – Dagegen spricht: Sofern die Begierde hier eine Einzelsünde ist, handelt es sich um ein maßloses Begehren nach Reichtum, das 1 Paralleltexte: Sum. theol. I–II, q. 84 a. 3–4; Sent. II d. 42 q. 2 a. 3. 2 Vgl. das nahezu gleiche Argument bei Petrus Lombardus, Sent. II,

d. 42 c. 6. 3 Gregor der Große, Moralia XXXI, 45, 87 (PL 76, 621 A). 4 Vgl. Petrus Lombardus, wie Anm. 2.

4

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Habsucht genannt wird.5 Und von dieser Begehrlichkeit spricht der Apostel an dieser Stelle, was sich aus dem ergibt, was in 1 Tim. 6, 9 steht: »Wer aber reich werden will, gerät in Versuchungen und in die Schlingen des Teufels«. Daher ist diese Begierde, welche die Wurzel aller Übel ist, eine eigene Einzelsünde. 3. Die Laster sind den Tugenden entgegengesetzt. Nun gibt es aber nur vier Kardinaltugenden, wie Ambrosius in seiner Kommentierung von Lk. 6, 20–22 »Selig sind die geistig Armen« sagt.6 Es gibt also nur vier Hauptlaster.7 4. Es scheint doch folgendermaßen zu sein: Eine Sünde entsteht aus einer anderen, auf welche die erste abzielt. So zum Beispiel, wenn jemand um des Geldgewinns willen lügt, die Lüge also aufgrund der Habgier entsteht. Doch kann jedes beliebige Laster auf jedes andere beliebige Laster abzielen. Daher ist kein Laster hauptsächlicher als ein anderes. 5. Jene Dinge, die natürlicherweise auseinander hervorgehen, kann man nicht als gleichermaßen hauptsächlich bezeichnen. Aber der Neid entsteht doch natürlicherweise aus dem Hochmut. Deshalb darf man den Neid nicht als eine Hauptsünde neben dem Hochmut annehmen. 6. Es scheinen jene Laster die bedeutendsten oder hauptsächlichen zu sein, die auch bedeutende Zwecke verfolgen.8 Wenn man sich jedoch die unmittelbaren Ziele der Laster vergegenwärtigt, sind es sehr viel mehr als sieben; und bezüglich der Fernziele gibt es keinen Unterschied zwischen Völlerei und Wollust, da sie beide in der Fleischeslust ihren entferntesten Ausrichtungspunkt haben.9 Auch daher ist es nicht sachgemäß, sieben Hauptlaster anzusetzen. 7. Häresie ist ein eigenes lasterhaftes Fehlverhalten. Die Häresie desjenigen, der ihr aus schierer Unwissenheit verfällt, geht jedoch aus keinem der oben aufgezählten Laster hervor. Somit gibt es ein 5 Vgl. unten q. 13 a. 1. 6 Ambrosius, Super Lucam V, 62 (PL 15, 1653 C [1738 C]). 7 Vgl. das nahezu gleiche Argument bei Thomas von Aquin, Sum. theol.

I–II, q. 84 a. 4 arg. 1. 8 Vgl. Petrus Lombardus, Sent. II d. 42 c. 6. 9 Das Wortspiel ist im Deutschen schwer nachzuahmen: »remotus« heißt »entfernt«, aber auch »verwerflich«.

1. Artikel

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Laster, das aus keinem der oben genannten hervorgeht, und daher sind diese sieben nicht genug. 8. Es kommt auch vor, daß eine Sünde aus guter Absicht entsteht, etwa wenn jemand stiehlt, um ein Almosen geben zu können. So eine Sünde ist dann aber von keinem der oben genannten Laster bedingt. Also entstehen nicht alle Sünden aufgrund der sieben angeführten Laster. 9. Völlerei scheint sich am Geschmackssinn auszurichten, die Wollust hingegen am Tastsinn. Doch bereiten auch andere Sinne einen gewissen Genuß. Also sollten die hauptsächlichen Laster genauso an den anderen Sinnen festgemacht werden. 10. Alle Sünden scheinen dem Strebensvermögen anzurechnen zu sein, denn es ist der Wille, der uns sündigen oder sittlich gut leben läßt, wie Augustinus sagt.10 Aber die Selbstausrichtung des Strebevermögens geht von der Seele zu den Dingen. Nun findet man in den Dingen nur Gutes und Böses, wie im 6. Buch der Metaphysik zu lesen ist.11 Also sollten nur zwei Laster als hauptsächliche veranschlagt werden: eines im Hinblick auf das Gute und eines im Hinblick auf das Böse. 11. Der Wille, dem die Sünde anzurechnen ist, ist ein Verstandesstreben, das mit den Dingen im allgemeinen befaßt ist, insofern es nämlich der Erfassensweise des Verstandes folgt, welche eine Ausrichtung auf das Allgemeine hat. Nun sind die ausschlaggebenden Allgemeinbegriffe in Sachen des Strebens Gutes und Böses, die selbst keiner übergreifenden Einordnungsklasse mehr angehören, sondern selbst Einordnungsklassen für andere Dinge darstellen, wie in den Kategorien steht.12 Deshalb sollten also die hauptsächlichen Laster nicht nach Einzelgütern oder Einzelübeln unterschieden werden, sondern nur ganz allgemein, so daß bloß zwei anzugeben seien, gemäß der Unterscheidung von gut und böse. 12. Das Böse kommt auf mehr Weisen zustande als das Gute. Denn dieses verdankt sich einer einzigen und alles abdeckenden Ur10 Augustinus, Retractationes I, 9, 4 (PL 32, 596), wie Thomas, Sum. theol. I–II, q. 20 a. 1 s. c. 1 auch angibt. 11 Aristoteles, Met. VI, 4; 1027 b 25–27. 12 Aristoteles, Cat. 11; 14 a 23–25.

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sache, das Böse hingegen vielen verschiedenen Einzeldefekten, wie Dionysius Areopagita sagt.13 Doch scheinen vier Hauptsünden ihre Bestimmung gemäß ihrer Ausrichtung auf Gutes zu erfahren: so Völlerei und Wollust in bezug auf die Genußgüter, die Habsucht auf die Gebrauchsgüter, und auch der Hochmut auf die Ehrengüter, da »er sich in die guten Werke einschleicht, um sie zu vernichten«, wie Augustinus schreibt.14 Also müssen die verbleibenden Hauptlaster mehr als drei sein. 13. Wie das 11. Buch der Metaphysik lehrt,15 gehorchen die unterschiedlichen Einordnungsklassen entsprechenden unterschiedlichen Prinzipien. Nun ist das Ziel beim Handeln und Streben aber dem Prinzip in theoretischen Dingen vergleichbar, wie im 7. Buch der Nikomachischen Ethik steht.16 Daher können die verschiedenen Einordnungsklassen der Laster nicht auf die Zielsetzung eines einzigen Lasters zurückgeführt werden. Und somit können die vielen Laster nicht aus einem einzigen entstehen. 14. Wenn ein Laster aus einem anderen hervorgeht, indem es seine Ausrichtung an dessen Zielmaßgabe nimmt, so folgt daraus, daß beider Zielmaßgabe ein und dieselbe ist. Es geschieht also gemäß einer Maßgabe oder verschiedener. Falls jedoch nach verschiedenen, so ist nicht von nur einer Zielmaßgabe zu sprechen, sondern von vielen: Denn die Vielzahl und Verschiedenheit der den Vermögen, den Grundhaltungen und dem Tun der Seele gemäßen Objekte wird eher nach der Formmaßgabe dieser Objekte bestimmt als nach der inhaltlichen Bestimmung dieser Dinge selbst. Und so wird ein jedes nicht nach (Ziel)Maßgabe des anderen seine Ausrichtung haben, sondern ein jedes wird für sich seine eigene (Ziel)Maßgabe haben. Wenn andererseits beider Zielsetzung gemäß derselben Formmaßgabe ein und dieselbe ist, dann sind beide Laster der Art nach dieselben, ganz genau wie bei den natürlichen Dingen, die von derselben Art sind, wenn sie dieselbe Formmaßgabe teilen. Die Zielsetzung ist nämlich für moralische Dinge artdefinierend, genauso wie die Formmaßgabe 13 14 15 16

Dionysius Areopagita, De div. nom. IV, 30 (Dion. I, 298). Augustinus, Regula 2 (PL 32, 1379). Aristoteles, Met. XI (= XII), 4; 1070 a 31–33. Aristoteles, Eth. Nic. VII, 8; 1151 a 16 f.

1. Artikel

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für die natürlichen. So würde also der Ursprung des einen Lasters nicht in einem anderen liegen können, sondern es ergäbe sich eine gewisse Einförmigkeit der Laster. Und deswegen dürfen die oben aufgezählten Laster nicht als hauptsächliche betrachtet werden. 15. Aristoteles sagt im 5. Buch der Nikomachischen Ethik, daß derjenige, der Ehebruch um eines Diebstahls willen begeht, kein Ehebrecher ist, sondern ein Dieb.17 Folglich scheint es so zu sein, daß wenn ein Laster sich an der Zielsetzung eines anderen ausrichtet, es dessen artgemäße Bestimmung annimmt. Demnach entsteht kein Laster aus einem anderen. 16. Über das Psalmwort 18, 14: »So werde ich gereinigt sein von großer Sünde«, sagt die Glosse, daß »die große Sünde der Hochmut ist, und daß wer diesen nicht kennt, aller Laster bar ist«.18 Woraus sich zu ergeben scheint, daß die Überheblichkeit ein Allgemeinlaster ist. Nun ist das Allgemeine nicht ein Gegenteil des Einzelnen. Daher darf die Überheblichkeit nicht als ein Hauptlaster neben anderen betrachtet werden, wie einige das vorbringen.19 17. Über die Stelle im Römerbrief 7, 7: »Ich hätte ja von der Begierde nichts gewußt, wenn nicht das Gesetz gesagt hätte: Du sollst nicht begehren …«, sagt die Glosse: »Gut ist das Gesetz, das mit dem Verbot der Begierde alles Übel verbietet«.20 Und so scheint es, daß auch die Begierde ein Allgemeinlaster ist. Folglich sollte die Begierde oder Habgier nicht wie ein besonderes Laster unter den sieben Hauptlastern aufgelistet werden. 18. Angeblich haben die hauptsächlichen Laster höchste Zweckbindungen, wie bereits gesagt wurde.21 Die Reichtümer aber, die doch für die Habgier den Zweck abgeben, haben nicht den Rang höchster Zwecke, da sie lediglich als Mittel um eines anderen willen angestrebt werden, woraus Aristoteles im 1. Buch der Nikomachi17 Aristoteles, Eth. Nic. V, 3; 1130 a 24–29. 18 Glosse des Petrus Lombardus zu Ps. 17, 4 (PL 191, 214 A) aus Augu-

stinus, Enn. in Psalmos 17, 14 (CCL 38, 104 f.). 19 So Albertus Magnus, In II Sent., d. 42 a. 8. ad 3. 20 Glosse des Petrus Lombardus zu Röm. 7, 7 (PL 191, 1415 C) aus Augustinus, Contra Adversarium Legis et Prophetarum II, 7, 28 (PL 42, 654). 21 Vgl. arg. 6.

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schen Ethik den Beweis entwickelt, daß das Glück nicht im Reichtum liegen kann.22 Und deswegen darf man die Habgier nicht für eines der Hauptlaster halten. 19. Die Leidenschaften der Seele haben die Neigung zur Sünde, weshalb sie in Röm. 7,5 auch »Leidenschaften der Sünden« heißen. Die erste aller Leidenschaften jedoch ist die Liebe, aus der auch alle Seelenqualen entstehen, wie Augustinus im 14. Buch von Die Bürgerschaft Gottes sagt.23 Daher muß die maßlose Liebe in höchster Weise für ein Hauptlaster gehalten werden, insbesondere nachdem Augustinus im selben Buch sagt, daß die bis zur Gottesverachtung gesteigerte Selbstliebe die Bürgerschaft Babylons begründet habe.24 20. Wie aus dem im 14. Buch von Die Bürgerschaft Gottes des Augustinus Gesagten hervorgeht, werden vier Leidenschaften der Seele für die hauptsächlichen gehalten, nämlich Freude und Trauer, Hoffnung und Angst.25 Unter den sieben Hauptlastern findet man nun solche, die man dem Vergnügen oder der Freude zurechnen muß, wie zum Beispiel die Völlerei und die Wollust, und außerdem solche, die man der Trauer zurechnen muß, wie die Trägheit und den Neid. Daher sollten doch wohl auch einige Hauptlaster der Hoffnung und der Furcht anzulasten sein, vor allem schon deswegen, weil einige (einzelne) Laster aus der Hoffnung hervorgehen, sagt man doch, daß es die schiere Hoffnung ist, die den Wucherer hervorbringt.26 In vergleichbarer Weise kommen einige Laster aus der Furcht, sagt doch Augustinus über das Psalmwort 79, 17: »Der Kehricht verbrennt im Feuer«, alle Sünde entstehe aus Böses entfachender Liebe und zum Schlechten erniedrigender Furcht.27

22 Aristoteles, Eth. Nic. I, 9; 1097 a 24 – 1097 b 6. 23 Augustinus, De civ. Dei XIV, 7, 2 (CCSL 48, 422). Vgl. Thomas, Sum.

theol. I–II, q. 25 a. 2 s. c. 24 Augustinus, De civ. Dei XIV, 28 (CCSL 48, 451). Vgl. auch Augustinus, Enn. in Psalmos 64, 1, 2 (CCL 39, 824). 25 Augustinus, De civ. Dei XIV, 7, 2 (CCSL 48, 422 f.). 26 Vgl. Raimund von Pennafort, Summa de paenitentia (ed. Ochoa, p. 541). 27 Vgl. Augustinus, Enn. in Psalmos 79, 17, 13 (CCSL 39, 1118) sowie die Glosse des Petrus Lombardus zu den Ps. 79, 17 (PL 191, 706 B).

1. Artikel

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21. Zorn wird nicht unter die hauptsächlichen Leidenschaften gerechnet. Also scheint es doch, daß man ihn nicht als eines der Hauptlaster ansehen sollte. 22. Den Haupttugenden sind die Hauptlaster entgegengesetzt.28 Die Nächstenliebe jedoch ist eine Haupttugend und wird als Mutter und Wurzel der Tugenden bezeichnet,29 und ihr entgegengesetzt ist der Haß. Also müßte auch der Haß als Hauptlaster angesehen werden. 23. Außerdem steht in 1 Joh. 2, 16: »Alles, was in der Welt ist: die Begierde des Fleisches, die Begierde der Augen und das Prahlen mit dem Besitz«. Aber man nennt jemanden weltzugewandt – oder in der Welt – der Sünde wegen. Also sollten nur die drei hier genannten Haltungen als Hauptlaster angesetzt werden. 24. Augustinus sagt in seiner Predigt Über das Fegefeuer, daß es viele Todsünden gebe, als da sind: Gottlosigkeit, Mord, Ehebruch, Hurerei, falsches Zeugnisgeben, Raub, Diebstahl, Hochmut, Neid, Habgier, lange aufrechterhaltener Jähzorn und fortgesetzte Trunkenheit.30 Und so steht es auch in den (Gratianischen) Dekreten, Distinctio 26, im Kapitel »Falls jemand …«.31 Daher sind die sieben zuvor angegebenen Hauptlaster offenbar zu Unrecht auf diese Weise bestimmt worden. Antwort: Zunächst muß man festhalten, daß die hauptsächlichen Laster in der Wortbedeutung das ›Haupt‹ im Namen tragen, und daß ›Haupt‹ (oder ›Kopf‹) auf dreierlei Weise verstanden werden kann: Erstens wird darunter ein bestimmtes Körperteil verstanden, genau wie in 1 Kor. 11, 4: »Wenn ein Mann betet oder prophetisch redet und da28 Während die Kardinaltugenden (virtutes cardinales) vier sind (siehe oben 3.), sind die Haupttugenden (virtutes principales) mehr an der Zahl, da den vier Kardinaltugenden, Maß, Tapferkeit, Weisheit, Gerechtigkeit, hier die drei christlichen des Korintherbriefs zugerechnet werden: Glaube, Liebe (charitas), Hoffnung. 29 Vgl. Petrus Lombardus, Sent. III d. 23 c. 3 n. 2 und c. 9 n. 2. 30 Sermo 104, 2 (unter den angeblichen Werken des Augustinus, PL 39, 1946). 31 Decretum Gratiani, eigentlich distinctio 25, 3, 6 (ed. Friedberg I, 93).

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bei sein Haupt bedeckt hat, entehrt er sein Haupt«. Da aber mit dem Kopf bei den Lebewesen gewissermaßen alles anfängt, hat sich von daher eine Bedeutung von ›Haupt‹ eingebürgert, die zweitens jeden Anfang bezeichnet, ganz so wie in Klgl. 4, 1: »Hingeschüttet sind die heiligen Steine am Kopfende jeder Straße«, und in Ez. 16, 25: »An den Hauptpunkten aller Straßen hast du deine Kulthöhen errichtet«. Drittens bezeichnet ›Haupt‹ den Fürsten oder Herrscher eines Volks, weil ja auch im Einzelorganismus die anderen Körperteile sozusagen vom Kopf regiert werden; auf diese Weise wird das Wort in 1 Sam. 15, 17 aufgefaßt: »Bist du nicht, obwohl du dir gering vorkommst, das Haupt der Stämme Israels?« sowie in Am. 6, 1: »Die Häupter der Völker, die mit Pomp einherziehen ins Haus Israel«. Gemäß diesen drei Bedeutungen von ›Haupt‹ wird nun von ›Hauptlastern‹ (oder ›hauptsächlichen Lastern‹) gesprochen. Denn manchmal werden die hauptsächlichen Laster im Sinne von ›Haupt‹ als einem Körperteil bezeichnet, und daher auch die Hauptsünden als solche, deren Bestrafung den Kopf (also ›das Leben‹) kostet.32 Wir aber reden hier nicht in diesem Sinne über die Hauptlaster, sondern von ›Haupt-‹, insofern ›Haupt‹ einen obersten Beginn meint, weshalb Gregor der Große die hauptsächlichen Laster auch die anfänglichen nennt.33 Doch muß man auch wissen, daß eine Sünde aus einer anderen auf vier Arten hervorgehen kann: Zum einen durch das Verlustiggehen der Gnade, mit deren Hilfe der Mensch von der Sünde Abstand gewinnt, gemäß 1 Joh. 3, 9: »Jeder, der von Gott stammt, tut keine Sünde, weil Gottes Samen in ihm bleibt«. Demgemäß ist die erste Sünde, die der Gnade verlustig gehen läßt, Grund der Sünden im Gefolge des Gnadenverlusts, und jede Sünde kann dann Ursache jeder anderen sein. Diese Art der Verursachung entspricht aber nur dem Charakter des Wegräumens eines Hindernisses. Was jedoch bloß Hindernisse ausräumt, verursacht lediglich beiläufig, wie im 7. Buch der Physik steht.34 Nun gibt es keine Wissenschaft oder Glaubenslehre, die beiläufige Verursachung zum Gegenstand hat, 32 Vgl. Albertus Magnus, In II Sent. d. 42 a. 6 solutio. 33 Gregor der Große, Moralia XXXI, 45, 88 (PL 76, 621 A–C). 34 Aristoteles, Phys. VII, 8; 255 b 24.

1. Artikel

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wie im 6. Buch der Metaphysik gesagt wird.35 Weshalb es nicht gemäß dieser Auffassungsweise von Ursache oder Anfangsgrund sein kann, daß man von ›hauptsächlichen‹ Lastern spricht. – Oder zweitens, eine Sünde bringt eine andere durch Neigung hervor, das heißt, indem die Selbstausrichtung oder die innere Grundhaltung, die zur Sünde hinneigen lassen, durch eine vorhergehende Sünde bedingt ist. Nach dieser Auffassung vom Entstehen der Sünden bringt jede Sünde eine ihr artgemäß ähnliche hervor. Deswegen werden die hauptsächlichen Laster auch nicht aus dieser Auffassung von Verursachung heraus so genannt. – Oder drittens, eine Sünde bringt die andere durch die inhaltliche Vorgabe hervor, das heißt, indem die eine der anderen Stoff zum Sündigen liefert: wie etwa die Völlerei der Wollust, und der Geiz der Streiterei.36 Doch auch nicht wegen dieser Auffassung von Verursachung werden die hauptsächlichen Laster so genannt. Denn was den inhaltlichen Gegenstand des Sündigens abgibt, ist nicht Ursache des Sündenvollzugs, sondern nur der Möglichkeit und Gelegenheit zur Sünde. – Oder viertens, eine Sünde bringt die nächste durch Zielsetzung hervor, das heißt, indem der Mensch eine Sünde in Hinblick auf eine weitere begeht: So wie die Habgier den Betrug hervorbringt, weil man betrügt, um sich Geld zu verschaffen. In diesem Fall wird eine Sünde von der anderen in ihrem Vollzug und gestaltgebend hervorgebracht. Bezüglich dieser Art der Verursachung nun werden die hauptsächlichen Laster so genannt, und somit entspricht dieser Auffassung auch die dritte Bedeutungsweise von ›Haupt‹. Es ist nämlich offensichtlich, daß der Fürst seine Untergebenen für seine Zwecke bestimmt, genauso wie ein Heer nach den Zielsetzungen seines Befehlshabers geordnet ist, und so wird das ja auch im 11. Buch der Metaphysik gesagt.37 Weshalb 35 Aristoteles, Met. VI, 2; 1026 b 4 f. 36 Gemeint ist wohl: Wie geiziges Verhalten den inhaltlichen Anlaß zu

Streitereien geben kann, so ist grundsätzlich in dieser Verständnisweise eine Sünde möglicherweise der Anlaß zu einer weiteren (der sie sozusagen den inhaltlichen Anknüpfungspunkt gibt), aber nicht der Grund. Die Sache mit Völlerei und Wollust wird im Deutschen zugänglicher, wenn man statt dessen die »außerkanonische« Nomenklatur »Unmäßigkeit« und Wollust setzt. 37 Aristoteles, Met. XI, 5; 1075 a 13–15.

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nach den Worten Gregors die hauptsächlichen Laster wie Befehlshaber sind, und die aus ihnen entstehenden Laster wie Heerscharen.38 Es kann jedoch auf zwei Arten geschehen, daß eine Sünde sich an der Zweckvorgabe einer anderen ausrichtet. Zum einen von seiten des Sünders selbst her gesehen, dessen Wille mehr auf das Ziel der einen Sünde ausgerichtet ist als auf das einer anderen. Das aber ist für die Sünden selbst unwesentlich, und so geschieht es nicht deswegen, daß einige Laster als hauptsächliche bezeichnet werden. – Zum anderen gemäß der Eigenart der Ziele, daß immer eines eine gewisse innere Übereinstimmung mit anderen hat, wodurch sie miteinander dieselbe Ausrichtung bekommen: Wie die Täuschung, die dem Betrug als Zielsetzung dient, auf das Anhäufen von Geld ausgerichtet ist, was wiederum die Zielsetzung der Habgier abgibt. Auf diese Weise ist nun die Rede von den hauptsächlichen Lastern zu verstehen. Daher werden auch jene Laster die hauptsächlichen genannt, die vor allem als Ziele in sich selbst angestrebt werden, so daß andere Laster sich an diesen so gearteten Zielen ausrichten können. Nun ist zu bedenken, daß man desselben Antriebsgrundes wegen Gutes anstrebt und Böses meidet. Wie etwa der Schlemmer das Erfreuliche der Speisen sucht und die Betrübnis ihres Fehlens meiden will, und genauso steht es um die anderen Laster. Dadurch lassen sich die hauptsächlichen Laster gemäß des Kriteriums von gut und böse passend unterscheiden, nämlich so, daß wo auch immer sich ein besonderer Beweggrund für ein Erstreben oder Meiden ergibt, sich auch ein Hauptlaster von einem anderen unterscheiden läßt. Es ist also zu bedenken, daß das Gute seiner Wesensart gemäß das Strebevermögen auf sich zieht, daß aber der Umstand, daß dasselbe Vermögen das Gute auch meidet, einem besonderen Beweggrund verdankt ist, der in Verbindung zu diesem Gut gesehen werden muß. Diese Gründe lassen es auch als richtig erscheinen, andere Hauptlaster als solche, die auf ein Gut ausgerichtet sind, in Erwägung zu ziehen. Nun ist das Gute für den Menschen ein dreifaches: nämlich das der Seele, das des Leibes und das der äußeren Güter.39 Demnach 38 Gregor der Große, Moralia XXXI, 45, 88 (PL 76, 621 A–C). 39 Aristoteles, Eth. Nic. I, 12; 1098 b 12–14.

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streben Hochmut und Eitelkeit nach dem Gut der Seele, welches ein in der Vorstellung begründetes ist,40 nämlich Ehre und Ruhm. Am leiblichen Gutergehen, welches in Form von Lebensmitteln der Selbsterhaltung des Einzelnen dient, richtet sich hingegen die Genußsucht aus, während sich die Wollust am leiblichen Gutergehen ausrichtet, welches, wie etwa beim Liebesgenuß, der Erhaltung der Art dient. Zum Bereich der äußeren Güter schließlich gehört dann die Habgier. Daß jedoch ein Gut gemieden wird, geschieht insofern, als dies eine Verhinderung durch ein fehlgeleitetes gewolltes Gutes darstellt. Gegen das Gute bietet im Sinne der Verhinderung das Strebevermögen eine zweifache Bewegung auf, nämlich eine des Vermeidens und eine dagegen aufgebotene der inneren Auflehnung. Was die Vermeidensbewegung betrifft, nimmt man demgemäß zwei Hauptlaster an, je nachdem, ob das Gut, welches das angestrebte Gute hindert, in sich oder in einem anderen betrachtet wird: und zwar in sich selbst, wenn etwa ein geistiges Gut die Ruhe oder Ergötzung des Körpers behindert, wie das bei der Trägheit der Fall ist, die nichts anderes ist als die Betrübnis über ein geistiges Gut, insofern es der körperlichen Bequemlichkeit im Weg steht.41 In einem anderen aber, insofern das Wohl eines anderen die eigenen Vorzüge in den Schatten stellt, und das ist der Fall beim Neid, der ein Unmut über das Gut des anderen ist.42 Der Zorn hingegen fügt den Fall der Auflehnung gegen das Gute hinzu. Zu 1. Genauso wie in den Tugenden ein doppelter Zweck beobachtet werden kann, nämlich ein letzter und allgemeiner, der im Glück liegt, und ein besonderer, der im charakteristischen Gut jeder einzelnen Tugend liegt, dürfen auch in den Lastern ihnen jeweils charakteristische Zwecke angenommen werden, nach denen die hauptsächlichen Laster bestimmt werden, wie bereits gesagt wurde.43 40 Aristoteles, De an. III, 9; 433 b 11–12. 41 Vgl. die Glosse des Petrus Lombardus zu den Ps. 106, 18 (PL 191, 977

A) nach Augustinus, Enn. in Psalmos 106, 6 (CCSL 40, 1573). 42 Vgl. Johannes Damascenus, De fide II, 14 (ed. Buytaert, 121), und Nemesius, De natura hominis 19 (ed. Verbeke, 101). 43 Vgl. Antwort.

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Man kann aber auch einen letzten und allgemeinen Zweck bei ihnen benennen, der im eigenen Wohl liegt, denn danach richten sich ja alle Zwecksetzungen der genannten Hauptlaster aus. Das eigene Wohl jedoch ist nur insofern das Ziel der Laster, als es verfehlt angestrebt wird, und es wird verfehlt angestrebt, insofern es im Widerspruch zum göttlichen Gesetz angestrebt wird. Aus demselben Grund wird ja auch gesagt, daß in jeder Sünde zweierlei vorliegt: nämlich die Hinwendung zu einem vergänglichen Gut und die Abkehr vom unvergänglichen.44 So wird also im Hinblick auf die Hinwendungsbewegung als Ursprung aller Sünden ein allgemein gefaßter Drang angenommen, und zwar das verfehlte Streben nach dem eigenen Wohlergehen. Im Hinblick auf die Abkehrbewegung ist als Ursprung der Sünden eine allgemeine Überheblichkeit anzunehmen, die ausmacht, daß sich der Mensch Gott nicht unterwirft. Weshalb in Sir. 10, 14 steht: »Der Anfang der Hoffart des Menschen ist der Abfall von Gott«. Daher werden die Begierde und der Hochmut, insofern sie in einer unbestimmten Allgemeinheit ausgesagt werden, eben nicht Hauptlaster genannt, da sie ja nicht besondere Laster sind, sondern eher Wurzel- oder Anfangsgründe der Laster, genauso wie ja auch gesagt wird, daß das Glücksstreben die Wurzel aller Tugenden ist. Man kann allerdings auch sagen, daß Begierde und Hochmut, insofern sie Einzelsünden sind, ebenso eine gewisse Begründungsstruktur für alle Sünden bieten in Anbetracht der Zielsetzungslogik. Denn das Ziel der Habgier verhält sich zu den Zielsetzungen aller anderen Laster wie eine Art Prinzip, insofern als man mit Reichtum all das erwerben kann, was alle anderen Laster begehren. Denn die Kaufkraft des Geldes ermöglicht alles auf diese Weise Erstrebenswerte, wie im Buch Koh. 10, 19 steht: »Das Geld macht alles möglich«. Das der Überheblichkeit eigene Ziel, nämlich das Hervorstechen an Ruhm und Ehre,45 ist sozusagen der Endpunkt aller so gearteten Zielsetzungen, denn großer Reichtum und der so ermöglichte Genuß des Erstrebten kann dem Menschen zu Ruhm 44 Vgl. Augustinus, De lib. arb. I, 6, 35 (CCSL 29, 235) und III, 1, 1 (CCSL 29, 274). 45 Vgl. Prosper von Aquitanien, Sententiae ex Augustino delibatae 294 (CCSL 68-A, 329).

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und Ehre gereichen. Und obgleich in der Durchführung das eine dieser Ziele wie ein Prinzip wirkt, und das andere wie ein Konvergenzpunkt für andere Ziele, so darf man doch noch nicht deswegen nur diese beiden Laster als hauptsächliche ansetzen, da die Strebensabsicht nicht allein hauptsächlich auf diese Ziele gerichtet ist. Zu 2. Damit ergibt sich auch die Lösung für den zweiten Einwand. Zu 3. Die Tugend kommt so zustande, daß die Vernunftanordnung sich der Willenskraft aufdrängt, während das Laster gleichzeitig mit dem Umstand eintritt, daß sich das willentliche Streben von der Vernunftordnung entfernt. Doch dieses Aufdrängen der Vernunftordnung gegenüber der Willenskraft und das Entfernen des willentlichen Strebens von der Vernunftordnung folgen nicht derselben Richtlinie. Woraus man zwar schließen darf, daß, obwohl es stimmt, daß das Laster der Tugend entgegengesetzt ist, man noch nicht annehmen darf, das vorrangige Laster sei der vorrangigen Tugend entgegengesetzt, da der Grund für die Entstehung von Tugend und Laster nicht derselbe ist. Zu 4. Je nach der inneren Verfassung des Sünders mag es zwar geschehen, daß jedes beliebige Laster sich jedes beliebige Ziel aussucht. Doch aufgrund des für gewöhnlich feststellbaren Wechselspiels der Ziel- oder Zwecksetzungen der Laster untereinander gehen einige von ihnen auf bestimmte Weise aus anderen hervor, und das durchaus häufiger. In ethischen Erwägungen jedoch hält man sich wie in der Erforschung der Natur an das, was für die meisten Fälle gilt. Zu 5. Aus dem vorher Gesagten46 geht hervor, daß Neid zumeist aus Hochmut erwächst: Denn man betrübt sich deswegen am meisten über das Wohl eines anderen, weil es der eigenen Hochschätzung behindernd im Weg steht. Da jedoch der Neid auch seinen eigenen Antriebsgrund in der Abkehrbewegung vom Guten hat, wird er als ein vom Hochmut unterschiedenes Hauptlaster gewertet. Zu 6. Die Hauptlaster werden nicht einfachhin aufgrund der unmittelbaren Zwecksetzungen aller möglichen Einzelsünden ausgemacht, sondern aufgrund nur einiger, aus denen für gewöhnlich andere hervorgehen. Dadurch unterscheidet sich auch die Völlerei von 46 Vgl. Antwort.

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der Wollust, da der Genuß, den die eine verfolgt, von anderer Beschaffenheit ist als der, den die andere im Auge hat. Zu 7. Offenbar ist viererlei zur Verdunklung der Erkenntnis zu rechnen: nämlich Unkenntnis, Unwissenheit, Irrtum und Häresie. Unter diesen ist die Unkenntnis am meisten verbreitet, da sie schlicht ein Fehlen an Erkanntem bedeutet: Weshalb sie Dionysius im 6. Kapitel seiner Himmlischen Hierarchie47 in bestimmter Weise auch bei den Engeln vorliegen sieht. Die Unwissenheit dagegen ist eine bestimmte Art der Unkenntnis, nämlich die betreffs der Dinge, die man von Geburt an zu wissen die Anlage hat und daher auch wissen sollte. Der Irrtum hingegen fügt der Unwissenheit noch eine Ausrichtung des Geistes am Gegenteil der Wahrheit hinzu: Denn es ist das Merkmal des Irrtums, dem Falschen anstelle des Wahren zuzustimmen.48 Die Häresie aber fügt der Irrtumsbestimmung einerseits noch etwas inhaltlich hinzu, denn sie ist ein Irrtum in Glaubensdingen, und andererseits auch im Hinblick auf den im Irrtum befindlichen Menschen, da sie eine Verstocktheit mit einschließt, die allein für das Zustandekommen von Häresie verantwortlich ist49 – diese Verstocktheit resultiert nämlich aus der Überheblichkeit. Denn es zeugt von großer Überheblichkeit, daß der Mensch sein eigenes Gutdünken der göttlicherseits geoffenbarten Wahrheit vorzieht. Daher muß die dem Irrtum anzulastende Häresie, um als Sünde zu gelten, aus einem der oben genannten Laster erwachsen sein, denn es wird dem Menschen als Sünde angerechnet, daß er sich nicht darum schert, dasjenige, was er zu wissen gehalten ist, auch in Erfahrung zu bringen. Das scheint jedoch auf die Trägheit zurückzuführen zu sein, bei der es ja darum geht, sich von einem geistigen Gut abzuwenden, insofern dieses dem körperlichen Wohlergehen im Weg ist. Zu 8. Die Hauptlaster werden so genannt, weil aus ihnen für gewöhnlich weitere Laster hervorgehen. – Obwohl es mitunter auch vorkommt, daß ein Laster aus einem Gut hervorgeht. Und trotzdem kann man sagen, daß selbst wenn jemand stiehlt, um Almosen ge47 Dionysius, De eccl. hier. VI, 3 (Dion. II, 1404). 48 Vgl. Augustinus, Ench. 17 (CCSL 46, 57). 49 Vgl. Decretum Gratiani 24, 3, 31 (ed. Friedberg I, 998) und Hugo de

Saint-Cher, Postillae in Bibliam, Osea 2, 16.

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ben zu können, auch diese Sünde auf irgendeine Weise aus einem der hauptsächlichen Laster hervorgeht: Denn etwas Böses um eines Guten willen tun zu wollen, kommt auch von einer bestimmten Unwissenheit oder von einem Irrtum her. Doch, wie gesagt50: Unwissenheit und Irrtum lassen sich auf die Trägheit zurückführen. Zu 9. Wollust und Völlerei frönen den Freuden des Tastsinns. Denn wie Aristoteles im 3. Buch der Nikomachischen Ethik feststellt,51 wird der Schlemmer nicht deswegen so genannt, weil er sich am Geschmack der Speise erfreut, sondern weil er ihre Aufnahme sozusagen als etwas dem Berührungssinn Angenehmes empfindet. Die Freuden, welche die anderen Sinne bieten, sind nämlich keine ranghöchsten Zielvorgaben, denn sie beziehen sich entweder – wie beim Menschen – auf die Wahrheitserkenntnis, oder eben – wie bei den anderen Lebewesen – auf die Freuden des Berührungssinns: Denn der Hund, der die Fährte des Hasen aufnimmt, erfreut sich nicht am Geruch, sondern am Fraß, der ihn erwartet.52 Deswegen werden die anderen Hauptlaster nicht im Hinblick auf die anderen Sinnenfreuden als solche festgelegt. Zu 10. Gutes und Schlechtes liegt in den Dingen unter verschiedenen Bedingungen vor, weshalb es auch nicht einsichtig ist, daß nur ein Hauptlaster sich am Guten ausrichtet. Zu 11. Unter einem weiteren Allgemeinbegriff lassen sich viele sehr viel enger gefaßte einrechnen, wie unter eine allgemeinste Gattung verschiedene Untergattungen,53 die auch alle unter das Begriffsvermögen fallen. Genauso kann sich das Vernunftstreben in je verschiedener Weise auf verschiedene Arten von Gütern verlegen. Zu 12. Sünden werden nicht hinsichtlich des Unterschieds von gut und böse auseinander gehalten, denn ein und dieselbe Sünde kann mit etwas Gutem und dem diesem entgegengesetzten Übel befaßt sein, wie bereits gesagt wurde.54 50 Vgl. zu 7. 51 Aristoteles, Eth. Nic. III, 20; 1118 a 33 – b 1. 52 Das Beispiel stammt aus Aristoteles, Eth. Nic. III, 19; 1118 a 18 f., wie

Thomas in Sum. theol. I–II, q. 31 a. 6 angibt. 53 Vgl. Porphyrius, Isagoge, cap. ›De specie‹ (ed. Minio-Paluello, 11). Sowie Petrus Lombardus, Summulae logicales 2, 7 (ed. De Rijk, 18). 54 Vgl. Antwort.

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Zu 13. Was verschiedenen sozusagen allgemeinsten Gattungen angehört, gehorcht verschiedenen Prinzipien der Sache nach – wenn auch vielleicht in Analogie betrachtet denselben Prinzipien, wie im 10. Buch der Metaphysik ausgeführt.55 Was aber in einer allgemeinsten Gattung begriffen ist, wenn auch vielleicht auf verschiedene Untergattungen verteilt, kann aufgrund der gemeinsamen Teilhabe an jener übergeordneten Gattung denselben Prinzipien gehorchen. Auf diese Weise können einige Laster aus verschiedenen Gattungen auf ein und dasselbe Prinzip zurückgeführt werden, das heißt auf eine Zielsetzung, die ihren gemeinsamen Entstehungsgrund erklärt. Zu 14. Wenn eine Sünde sich an der Zielmaßgabe einer anderen ausrichtet, ist die Zielsetzung beider dieselbe und geschieht aus demselben Grund, nicht jedoch nach derselben Folgeordnung, denn für die eine Sünde ist es das nächstliegende Ziel, für die andere das entferntere. Woraus jedoch nicht geschlossen werden kann, daß hier zwei gleichartige Laster vorliegen, da in Fragen der Moral die Artbestimmung nicht nach dem entfernten, sondern nach dem nächstliegenden Ziel geschieht. Zu 15. Es muß festgehalten werden, daß niemand wegen einer Einzelhandlung oder einzelnen Leidenschaftsaufwallung Dieb oder Ehebrecher genannt wird, sondern wegen seiner grundsätzlichen Einstellung, so wie Aristoteles es im 5. Buch der Nikomachischen Ethik 56 auch vom Gerechten und Ungerechten ausführt. Nun kommt die Absicht zu einer Tat aus der grundsätzlichen Einstellung des Täters, und daher begeht derjenige, der stiehlt, um Ehebruch zu begehen, tatsächlich im Vollzug die Sünde des Diebstahls, doch geht seine Absicht trotzdem aus einer ehebrecherischen Grundeinstellung hervor, weshalb er auch nicht als Dieb, sondern als Ehebrecher bezeichnet wird. Zu 16. Wie gesagt57: Der Hochmut kann auf zweierlei Weise aufgefaßt werden. Zum einen, insofern er eine Auflehnung gegen Gottes Gebot mit einschließt, und so betrachtet ist er die Wurzel aller 55 Aristoteles, Met. XII, 4; 1070 a 3–33. 56 Aristoteles, Eth. Nic. V, 11; 1134 a 17–23. 57 Vgl. Antwort.

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Sünden, wie Gregor schreibt,58 weshalb er ihn auch nicht unter die hauptsächlichen Laster zählt, sondern statt dessen die Eitelkeit. Zum anderen kann der Hochmut als das maßlose Streben danach, auf irgendeine Weise herauszuragen, aufgefaßt werden, und so betrachtet wird er als eines der Hauptlaster in eine Reihe mit den anderen gestellt. Und nachdem das menschliche Streben nach eitlem Ansehen offenbar genau darauf aus ist, solchermaßen herauszuragen, setzt Gregor der Große anstelle dieser Eigenart des Hochmuts die Eitelkeit. Zu 17. Ganz ähnlich muß man sagen, daß an gleicher Stelle auch die Begierde im Sinne einer gemeinsamen Wurzel aufgefaßt wird. Zu 18. Da Reichtum seiner Bestimmung nach zu den Gebrauchsgütern gehört, entfernt er sich darin von der Bestimmung eines übergeordneten Ziels. Das wird jedoch ausgeglichen durch die allfältige Verwendungsmöglichkeit des Reichtums, der sozusagen der Möglichkeit nach alles Erstrebenswerte, was die Welt zu bieten hat, enthält. Zu 19. Lieben heißt, jemandem Gutes wollen, wie Aristoteles im 2. Buch der Rhetorik schreibt.59 Offenbar liebt also derjenige sich selbst, der für sich nach Gütern strebt, und deshalb wird die Selbstliebe nicht eigens als Wurzel von Sünden oder als Hauptlaster geführt, denn alle diese Wurzel- oder Hauptlaster schließen eine maßlose Selbstliebe mit ein. Zu 20. Furcht und Hoffnung sind Leidenschaften des aufbegehrenden Charakters. All dessen Leidenschaften lassen sich aber aus dem des begehrenden herleiten, und daher lassen sich auch die hauptsächlichen unter den Lastern nicht von Furcht und Hoffnung her bestimmen, sondern eher aus Vergnügen und Betrübnis. Denn obwohl einige Laster aus Furcht und Hoffnung entstehen, so entstehen ihrerseits die Furcht und die Hoffnung selbst aus etwas anderem, nämlich aus der Liebe oder der Begierde nach irgendeinem Gut. Zu 21. Der Zorn weist eine bestimmte eigene Bewegungsaufwallung auf, nämlich ein inneres Aufbegehren gegen etwas. Daher wird, obschon auch diese aus anderen inneren Bewegungen hervorgeht, 58 Gregor der Große, Moralia XXXI, 45, 87 (PL 76, 621 A). 59 Aristoteles, Rhet. II, 4; 1380 b 35 f.

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der Zorn trotzdem als eigenes Hauptlaster gewertet, da er damit gegenüber den anderen einen gewissen Eigenaspekt aufweist. Zu 22. Man nennt Hauptlaster nicht deswegen so, weil sie im Gegensatz zu einer bedeutenden Tugend stehen. Daher stimmt es also nicht, daß der Haß ein Hauptlaster ist, obgleich die (Nächsten-)Liebe die schlechthinnige Tugend darstellt. Zu 23. Jene drei Dinge, die Johannes erwähnt, lassen sich unter bestimmte erste Ursprünge und Wurzelgründe der Sünden einrechnen, nämlich unter Hochmut und Begehrlichkeit: Denn unter der Begehrlichkeit allgemein findet sich die Begierde des Fleisches genauso wie die der Augen. Zu 24. Augustinus nennt solche Laster die hauptsächlichen, die mit dem Verlust des Lebens [eigentlich: Hauptes] bestraft werden. Und somit ist das Hauptlaster dann dasselbe wie die Todsünde.

2. Artik el 60 Die zweite Frage lautet: Stellt Hochmut eine eigene Sünde dar? Dies scheint nicht der Fall zu sein; denn: 1. Jede als eigenständig anzusehende Sünde verdirbt eine bestimmte Tugendhaftigkeit und ein bestimmtes Seelenvermögen. Der Hochmut jedoch verdirbt alle Tugenden und Seelenvermögen. Denn Gregor der Große sagt im 34. Buch seiner Moralschriften61: »Da der Hochmut sich keineswegs mit der Vernichtung einer Tugend zufrieden gibt, wendet er sich gegen alle Seelenaspekte und zersetzt den ganzen Körper wie eine epidemische und alles verpestende Krankheit«. Und Isidor von Sevilla schreibt in seinem Buch Über das höchste Gute,62 daß der Hochmut die Vernichtung der Tugenden bedeutet. Also ist der Hochmut keine eigene Sünde für sich. 60 Paralleltexte: Sum. theol. I–II, q. 84 a. 2; II–II q. 162 a. 2; Sent. II, d. 5 q. 1 a. 3. 61 Gregor der Große, Moralia XXXIV, 23, 48 (PL 76, 744 D). 62 Isidor von Sevilla, De summo bono (= Sententiae) II, 38, 7 (PL 83, 639 C).

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2. Seinen eigenen Willen über den eines Höhergestellten zu setzen, heißt hochmütig sein. Jeder aber, der eine Todsünde begeht, setzt seinen eigenen Willen über den eines Höheren, nämlich über den Gottes. Und ist damit hochmütig. So ist also jede Sünde Hochmut, und so ist dieser also keine eigene Sünde. 3. Dagegen wurde eingewandt, daß der Hochmut, insofern er Verliebtheit in die eigene Vortrefflichkeit bedeutet, eine eigene Sünde darstellt, jedoch ein allgemein gefaßtes sündiges Verhalten, insofern er eine Verachtung Gottes beinhaltet. − Dagegen spricht, daß jede besondere Sünde ihren eigenen Gegenstandsbereich aufzuweisen hat, wie die Völlerei die Speise, die Wollust die Liebesdinge, die Habgier die Reichtümer. Der Hochmut als Liebe zur eigenen Vortrefflichkeit weist aber einen solchen eigenen Gegenstandsbereich nicht auf. Denn wie Gregor der Große im 34. Buch der Moralschriften sagt63: »Der eine bläht sich vor Hochmut des Goldes wegen auf, der andere der Redefertigkeit wegen, einer wegen geringer und weltlicher Dinge, wieder ein anderer wegen höchster himmlischer Tugenden«. So ist also der Hochmut als Verliebtheit in die eigene Vortefflichkeit keine eigene Sünde. 4. Doch ebensowenig scheint der Hochmut unter Einschluß der Gottesverachtung ein allgemein gefaßtes sündhaftes Verhalten zu sein. Denn wer auch immer aus Schwäche oder Unkenntnis sündigt, tut es nicht aus Verachtung.64 Viele jedoch, die aus Schwäche oder Unkenntnis sündigen, begehen Todsünden. So wird nicht jede Todsünde aus Verachtung begangen, und also ist auch der Hochmut, insofern er die Verachtung Gottes einschließt, keine allgemeine Sünde. 5. Außerdem ist dem allgemeinen Übel kein besonderes Gut entgegengesetzt, sondern ein allgemeines. Die Gottesverachtung hat aber ein besonderes Gut zum Gegensatz, nämlich die Gottesverehrung, die besonders der Gabe der Gottesfurcht entstammt. So ist die Gottesverachtung keine allgemein sündhafte Einstellung und demzufolge genauso wenig der Hochmut, insofern er Gottesverachtung 63 Gregor der Große, Moralia XXXIV, 23, 49 (PL 76, 745 C). 64 Vgl. Isidor, De summo bono (= Sententiae) II, 17, 3 (PL 83, 620 A) aus

Gregor der Große, Moralia XXV, 11, 28 (PL 76, 339 A). Vgl. auch Petrus Lombardus, Sent. II, d. 22 c. 4 n. 11.

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mit einschließt, und somit ist die vorher getroffene Unterscheidung nichtig. 6. Dasjenige, was allen einzelnen Sünden ihre Bösartigkeit verleiht, ist die allgemein sündhafte Einstellung. Der Hochmut aber macht ja genau das, wie Gregor der Große im Verlauf seiner Kommentierung des Buches Ezechiel sagt.65 Somit ist der Hochmut eine allgemein sündhafte Einstellung. 7. Wie die Tugenden, so werden auch die Sünden nach ihrem Gegenstand unterschieden. Nun hat aber der Hochmut dieselbe Gegenstandsausrichtung wie andere Sünden: Etwa im Hinblick auf die eigene Vortrefflichkeit mit dem Neid, dem es um die Güter der anderen leid ist,66 mit der Eitelkeit, die in den Augen der Menschen der eigenen Vortrefflichkeit wegen Hochschätzung genießen will,67 und mit dem Zorn, der auf Rache aus ist,68 das heißt: auf den Vorzug, die Oberhand über andere zu gewinnen. Daher ist der Hochmut keine eigene, von anderen unterschiedene Sünde. 8. Dasjenige, ohne das keine Sünde bestehen könnte, ist allen Sünden gemeinsam. Der Hochmut ist aber genau das: Augustinus sagt nämlich in seinem Werk Über Natur und Gnade,69 daß keine Sünde ohne Bezug auf Hochmütigkeit zu finden ist, und Prosper von Aquitanien sagt in seiner Schrift Über das beschauliche Leben,70 daß niemals eine Sünde ohne Hochmut sein kann, konnte oder auch nur könnte. Also ist der Hochmut eine allgemein sündhafte Einstellung. 9. Was mit jeder Sünde austauschbar ist, ist eine allgemeine Sündhaftigkeit. Und von solcher Art ist auch der Hochmut: Denn Augustinus sagt in Über Natur und Gnade,71 daß »hochmütig sein 65 Vgl. Gregor der Große, Moralia XXXIV, 23, 48 (PL 76, 744 D). 66 Vgl. Johannes Damascenus, De fide 2 (ed. Buytaert, 121), sowie Ne-

mesius, De natura hominis 19 (ed. Verbeke, 101). 67 Vgl. q. 9 a. 1. 68 Aristoteles, Rhet. II, 2; 1378 b 1–2, nach Thomas, Sum. theol. I–II, q. 46 a. 1. 69 Augustinus, De natura et gratia 29 (CSEL 60, 257). 70 (Pseudo-)Prosper von Aquitanien (= Iulianus Pomerius), De vita contemplativa III, 2, 1 (PL 59, 476 B). 71 Augustinus, De natura et gratia 2 (CSEL 60, 257).

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genauso viel heißt wie sündigen und sündigen soviel wie hochmütig sein«. Und daher ist der Hochmut die allgemeine Sündhaftigkeit. 10. Über den Ausspruch Sir. 10, 14 »Der Anfang der Sünde des Menschen ist der Abfall von Gott«, sagt die Glosse72: »Es gibt keine größere Apostasie als sich von Gott abzuwenden, was zu Recht als Hochmut bezeichnet wird«. Jeder aber, der eine Todsünde begeht, wendet sich von Gott ab. Also ist er hochmütig und somit ist der Hochmut eine allgemein sündhafte Grundhaltung. 11. Im selben Kapitel sagt die Glosse73 außerdem noch etwas anderes: »Hüten wir uns vor Begierde und Hochmut, denn sie sind nicht zwei Übel, sondern eins«. Also ist der Hochmut keine eigene, von anderen unterschiedene Sünde. 12. Über den Ausspruch Hiob 18, 17 »um von seinem Tun den Menschen abzubringen«, sagt die Glosse74: »Die Gebote des Schöpfers durch Sündigen zu übertreten, heißt gegen ihn in Hochmut aufzubegehren«. Jeder aber, der sündigt, übertritt die Gebote Gottes, denn Augustinus sagt im 20. Buch von Gegen Faustus,75 daß »die Sünde in der Rede, im Tun oder im Begehren gegen das ewige Gesetz« besteht. Daher handelt jeder, der sündigt, aus Hochmut, und jede Sünde ist daher Hochmut. 13. Außerdem sagt Anselm von Canterbury,76 daß die Seele notwendiger Weise ihr eigenes Gut will. Doch was man aus Notwendigkeit tut, ist keine Sünde. Also ist der Hochmut keine Sünde und somit auch keine eigene Sünde für sich. 14. Wenn der Hochmut eine eigene Sünde wäre, dann doch wohl auch eines der sieben Hauptlaster. Aber Isidor zählt in seinem Buch Über das höchste Gute77 den Hochmut nicht unter die sieben Hauptlaster, sondern nennt an seiner Statt die Eitelkeit. Also ist der Hochmut keine eigene Sünde. Glossa ordinaria in Ecclesiasticum X, 14. Vgl. Anm. 72. Glossa ordinaria in Iob XVIII, 17. Augustinus, Contra Faustum, XXII, 27 (CSEL 25 1, 621), gemäß dem Wortlaut bei Petrus Lombardus, Sent. II, d. 36 c. 1 n. 1. 76 Anselm von Canterbury, De casu diaboli 13 (ed. Schmitt, I, 257). 77 Isidor, De summo bono (= Sententiae) IV, 40, 2 (PL 83, 11178 D). 72 73 74 75

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15. Zudem sagt Augustinus in Über die Willensfreiheit,78 daß der Hochmut die Liebe zum eigenen Besten ist. Das aber ist doch allen Sünden gemeinsam. Daher ist der Hochmut ein allgemeines sündhaftes Grundverhalten. 16. Was allen Sünden als formale Vorgabe innewohnt, ist keine eigene Sünde für sich. Das trifft aber auf den Hochmut zu: Augustinus sagt nämlich in Über die Willensfreiheit,79 daß sündigen heißt, sich in Verachtung des unvergänglichen Guten den vergänglichen Gütern hinzugeben. Das eine, also die Verachtung des unvergänglichen Guten, ist einer Abkehrhandlung anzulasten, welche die formale Vorgabe in allen Sünden ist, genauso wie die Hinwendung zu Gott aus Liebe die formale Vorgabe der Tugenden darstellt. Die Gottesverachtung aber ist dem Hochmut anzurechnen. Daher will es so scheinen, daß der Hochmut ein allgemein sündhaftes Verhalten darstellt. 17. Nichts, was aus Gottes Verfügung entsteht, ist Sünde. Doch ist der Hochmut oder Stolz von Gott verfügt. In Jes. 60, 15 steht nämlich: »Ich mache dich zum ewigen Stolz für alle Generationen«, wozu die Glosse des Hieronymus80 sagt, es gebe einen guten und einen schlechten Stolz. Und in Spr. 8, 18 steht über die Weisheit Gottes: »Reichtum und Ehre sind bei mir, stolzer Besitz und Gerechtigkeit«. Also ist stolzer Hochmut keine eigene Sünde für sich. Dagegen spricht: 1. Was Augustinus in Über Natur und Gnade81 sagt: »Laß ihn nachforschen und er wird finden, daß nach Gottes Gebot der Hochmut eine von allen anderen sehr verschiedene Sünde ist«. 2. Und außerdem an selber Stelle, daß vieles unrecht getan wird, was nicht aus Hochmut geschieht. Also ist der Hochmut kein alle Sünden betreffendes Verhalten. 78 Augustinus, De lib. arb. III, 24, 72 (CCSL 29, 318). 79 Augustinus, De lib. arb. I, 6, 35 (CCSL 29, 235) sowie III, 1, 1 (CCSL

29, 274). 80 Glossa ordinaria in Isaiam LX, 10 aus Hieronymus, In Isaiam XVII, 61 (CCSL 73 A, 710). 81 Augustinus, De natura et gratia 29 (CSEL 60, 257).

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3. Zudem hat ja kein solches Verhalten eine weitere Sünde als Vorbedingung. Der Hochmut aber doch: In Sir. 10, 14 steht nämlich, daß »der Anfang menschlichen Hochmuts der Abfall von Gott« ist. Und daher ist der Hochmut kein alle Sünden betreffendes Verhalten. 4. Jede Sünde in einer Reihe mit anderen ist eine besondere Sünde. Und genau das gilt vom Hochmut, wie aus 1 Joh. 2, 16 ersichtlich: »Denn alles, was in der Welt ist, die Begierde des Fleisches, die Begierde der Augen und der Hochmut des Lebenswandels«. Daher ist der Hochmut kein allgemein sündhaftes Verhalten. 5. Eine Sünde, der eine ihr einzeln zuzuweisende Einzelhandlung entspricht, ist eine eigene Art von Sünde. Und das trifft auch auf den Hochmut so zu, wie nämlich Augustinus in Über Natur und Gnade82 sagt: Man muß sich beim Tun des Guten allein vor dem Hochmut hüten. Und Gregor der Große schreibt,83 der Hochmut sei die erste innere Regung bei der Abkehr von Gott und so ziemlich das Letzte, woran der denke, der zu Gott zurückkehren will. Und deshalb stellt der Hochmut eine eigene Art von Sünde dar. 6. Worauf man Superlative anwendet, das ist nur auf eines bezogen.84 Der Hochmut ist aber die größte Sünde, wie die Glosse85 über das Psalmwort 18, 14 sagt: »Und rein bin ich von schwerer Schuld«. Daher stellt der Hochmut eine eigene Art von Sünde dar. Antwort: Zur besseren Einsicht in die vorliegende Frage wird es nötig sein, festzustellen, worum es sich bei der Sünde des Hochmuts eigentlich handelt. So wird anschließend nachzuvollziehen sein, ob er eine eigene Sünde darstellt. Demgemäß ist zunächst zu bedenken, daß jede Sünde ein natürliches Streben zur Grundlage hat. Doch da der Mensch Gottes Ähnlichkeit über verschiedene natürliche Veranlagungen anstrebt – in82 Augustinus, De natura et gratia 32 (CSEL 60, 260). 83 Eigentlich (wie Thomas selbst in Sum. theol. II–II, q. 162 a. 7. ad 4

richtig angibt) die Glossa in Psalmos des Petrus Lombardus 18,14 (PL 191, 213 D), aus Augustinus, Enn. in Psalmos 18, 14 (CCSL 38, 105). 84 Aristoteles, Top. V, 5; 134 b 24. 85 Glosse des Petrus Lombardus zu Psalm 18, 14 (PL 191, 214 A) nach Augustinus, Enn. in Psalmos 18, 14 (CCL 38,104).

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sofern nämlich jedes natürlich angestrebte Gute in gewisser Weise dem göttlichen Guten ähnelt –, sagt Augustinus im 2. Buch seiner Bekenntnisse86: »Die Seele treibt Unzucht« – das heißt: sie sündigt – »wenn sie sich von Dir abkehrt, und außerhalb Deiner all das sucht, was sie nie ganz rein und unvermischt finden wird, es sei denn, sie kehrt zu Dir zurück«. Da es aber Sache der Vernunft ist, das Streben zu leiten – und zwar vor allem in Hinsicht darauf, daß sie von Gottes Gebot unterrichtet ist –, wird das Streben, so es sich nach Maßgabe der Vernunft auf ein naturgemäß gewolltes Gut verlegt, ein rechtes und tugendhaftes Streben sein. Sollte es hingegen aus der Vernunftmaßgabe ausbrechen oder von ihr abweichen, wird es beidesmal eine Sünde sein. Genauso, wie das Streben nach Wissen dem Menschen naturgemäß ist87 und daher stets tugendhaft und löblich sein wird, wenn man Erkenntnis nach Maßgabe des rechten Vernunftgebrauchs sucht. Wenn es hingegen aus einer der Maßregelvorgaben der Vernunft ausbricht, wird das Streben zur Sünde der Neugier, und wenn es von ihnen abweicht, zur Sünde der Gleichgültigkeit. Nun ist unter vielen anderen Dingen, die der Mensch naturgemäß wünscht, eines die eigene Vortrefflichkeit. Denn es ist nicht nur für den Menschen, sondern für alles mögliche ein wesensgemäßer Zustand, Vollkommenheit im erstrebten Gut zu wünschen, und das besteht eben in einer gewissen Vortrefflichkeit. Wenn daher also das Streben die Vortrefflichkeit nach Maßgabe der von Gott unterrichteten Vernunft angeht, so gilt es als gehörig und der Seelengröße zuzurechnen, nach dem Ausspruch des Apostels in 2 Kor. 10, 13: »Wir aber wollen uns nicht maßlos rühmen« – wie an fremden Maßstäben –, »sondern jenen Maßstab anlegen, den Gott uns zugeteilt hat«. Wer hinter diesem Maßstab zurückbleibt, verfällt dem Laster der Kleinlichkeit. Wenn dagegen dieser Maßstab überschritten wird, hat man es mit dem Laster des Hochmuts zu tun, wie das Wort ja schon zeigt: Denn hochmütig sein heißt nichts anderes als sich im Streben nach Vortrefflichkeit hoch über das eigene Maß 86 Augustinus, Conf. II, 6, 14 (CSEL 33,40). 87 Vgl. Aristoteles, Met. I, 1; 980 a 21, wie Thomas, De ver. q. 2 a. 3 arg.

15 angibt.

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hinauswagen. Weswegen Augustinus im 14. Buch von Die Bürgerschaft Gottes88 auch sagt, daß der Hochmut »das Streben nach maßlos übersteigerter Selbsterhöhung« ist. Weil jedoch nicht alles unter derselben Maßgabe steht, passiert es durchaus, daß dem einen etwas nicht als Hochmut angerechnet wird, was man dem anderen als solchen anlastet. So wie man es einem Bischof nicht als Hochmut auslegen würde, wenn er all das ausübt, was der hohen Würde seines Amts obliegt, während es hingegen für einen einfachen Priester als hochmütig zu werten wäre, sollte er dasselbe tun wollen. Wenn also die Vortrefflichkeit ihre eigene Bewandtnis als ein bestimmtes Strebensziel hat, so ist doch offenkundig, daß der Hochmut, auch wenn er inhaltlich in vielen verschiedenen Dingen vorliegt, eine eigene Sünde ist. Handlung und Grundhaltung nämlich unterscheiden sich ihrer Artbestimmung nach gemäß der formalen Bestimmung ihrer Gegenstände. Deswegen schreibt Augustinus,89 als er in seinem Zwiegespräch mit Gott den verschiedenen Sünden im einzelnen ihren Gegenstandsbereich zuweist, die, indem sie einem Streben das Ziel abgeben, gleichsam einen Abklatsch der Gottähnlichkeit bilden, über den Hochmut: »Weil Du ein über alles erhabener Gott bist, erhebt sich auch der Hochmut in Deiner Nachahmung«. Dennoch kann unter Umständen der Hochmut als gewissermaßen allgemeine Sündenneigung auf zweierlei Weise angesehen werden: Einmal durch Ausbreitung auf anderes, und dann hinsichtlich seiner Wirkung. Was das Erstgenannte betrifft, ist zu beachten, daß nach Augustinus im 14. Buch von Die Bürgerschaft Gottes,90 genauso wie die Gottesliebe die Bürgerschaft Gottes begründet, die maßlose Selbstliebe das Sündenbabel begründet; und genauso wie in der Liebe zu Gott er selbst das Letztziel für all das ist, was man mit rechter Hingabe liebt, so in der Liebe zur eigenen Vortrefflichkeit ein Letztziel besteht, dem alles andere untergeordnet wird. Wer nämlich wünscht, viel Reichtum, Wissen, Ehre oder was auch immer sonst 88 Augustinus, De civ. Dei XIV, 13, 1 (CCSL 48, 434). 89 Augustinus, Conf. II, 6, 13 (CSEL 33,39). 90 Augustinus, De civ. Dei XIV, 28 (CCSL 48, 451); Enn. in Psalmos 64,

1, 2 (CCSL 39, 824).

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anzuhäufen, zielt mit all dem und allem dergleichen doch darauf ab, irgendwie herauszustechen. Bei allen arbeitsverrichtenden Fertigkeiten und erworbenen inneren Haltungen ist aber zu bedenken, daß die Fertigkeit oder Haltung, welcher das Ziel angehört, auch jene Fertigkeiten und Haltungen beeinflussend bestimmt, die sich um das drehen, was auf dieses ausgerichtet ist. Wie zum Beispiel die Fertigkeit, ein Schiff zu steuern, welcher der Gebrauch des Schiffs als deren Ziel zuzurechnen ist, auch die Fertigkeit des Schiffsbaus bestimmt. Und so muß man es auch in allem anderen sehen. Deswegen bestimmt auch die Nächstenliebe, die gleichzeitig Liebe Gottes ist, alle anderen Tugenden. Und obwohl sie in Anbetracht ihres eigenen Gegenstandsbereichs eine besondere Tugend darstellt, ist sie doch per Ausweitung ihres Wirkungsbereichs allen Tugenden gemeinsam und wird daher Grundgestalt und Mutter aller Tugenden genannt.91 Ähnlich ist der Hochmut, obwohl er in Anbetracht des eigenen Gegenstandsbereichs eine besondere Sünde darstellt, doch in der Ausweitung seines ihm eigenen Wirkungsbereichs das gemeinsam Sündige für alle Sünden, und wird daher Wurzel und König aller Sünden genannt, wie aus dem 31. Buch der Moralschriften Gregors des Großen hervorgeht.92 Hinsichtlich des Zweiten muß man dagegen bedenken, daß man jede Sünde sowohl gemäß ihrer Gesinnung als auch gemäß ihrer Wirkung betrachten kann. Es geschieht nämlich ab und zu, daß etwas in Anbetracht seiner Wirkung eine Sünde ist, nicht aber in Anbetracht der Gesinnung. Wie etwa, wenn jemand, der seinen Vater umbrächte in der Meinung, es sei ein Feind,93 der Wirkung nach die Sünde des Vatermords begeht, nicht aber der Gesinnung nach. Wie auch von einem geäußert wurde, daß »die Milesier zwar [in der Gesinnung] nicht dumm sind, aber sich doch [der Wirkung nach] so verhalten, als wären sie’s«.94 Wenn also die Sünde des Hochmuts 91 Glosse des Petrus Lombardus zu Röm. 1, 17 (PL 191, 1324 B); Sent. II, d. 23 c. 3 n. 2 und c. 9 n. 2. 92 Gregor der Große, Moralia XXXI, 45, 87 (PL 76, 620–621). 93 Vgl. Aristoteles, Eth. Nic. III, 3; 1111 a 11–12; Johannes Damascenus, De fide 2, 24 (ed. Buytaert, 146). 94 Vgl. Aristoteles, Eth. Nic. VII, 8; 1151 a 9–10, Thomas folgt der Übersetzung des Robert Grosseteste (ed. Gauthier, 287).

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hinsichtlich der Wirkung betrachtet wird, kann man sagen, daß sie allgemein in allen sündhaften Handlungen vorgefunden werden kann. Es ist nämlich eine der Auswirkungen des Hochmuts, sich nicht der Maßgabe eines Höheren unterstellen zu wollen, was ja auch jeder Sünder tut, insofern er sich Gottes Gebot nicht gern beugen will. Gemessen an der Gesinnung hingegen ist es nicht so, daß immer in jeder sündhaften Handlung Hochmut im Spiel ist, denn es wird dabei nicht jedesmal in tatsächlicher Verachtung Gottes und seines Gebots gehandelt, sondern manchmal auch aus Unwissenheit,95 und manchmal aus Schwäche oder irgendeiner Leidenschaft heraus. Weswegen Augustinus in seinem Buch Über Natur und Gnade96 auch sagt, daß die Sünde des Hochmuts von allen anderen unterschieden ist. Zu 1. Der Hochmut löscht in seinem Auswucherungszustand alle Tugenden aus und verdirbt alle Seelenvermögen, wie bereits gesagt.97 Zu 2. Den eigenen Willen dem eines Höheren vorzuziehen ist zweifelsohne eine hochmütige Handlung, aber diese geht nicht immer aus hochmütiger Gesinnung hervor, wie bereits gesagt.98 Zu 3. Der Hochmut hat eine eigene inhaltliche Festlegung, wenn man die formale Bestimmung seines Gegenstandsbereichs betrachtet, wie bereits gesagt.99 Obwohl: Die formale Bestimmung könnte sich in allem finden. Wie denn auch die Großmütigkeit eine eigene Tugend darstellt, und trotzdem auf die innere Größe in jeder Tugend abzielt, wie Aristoteles im 4. Buch der Nikomachischen Ethik sagt.100 Zu 4. Insofern Hochmut die Gottesverachtung als seine Gesinnung in sich birgt, kann er keine allgemein sündhafte Haltung sein. Vielmehr ist er sogar wesentlich spezieller gefaßt als in seiner Bedeutung als Streben nach übersteigerter Vortrefflichkeit. Dieses gibt es nämlich nicht nur in der Form der Gottesverachtung, sondern 95 Zur Unwissenheit als Veranlassung der Sünde im Gegensatz zur Unkenntnis vgl. a. 1 ad 7. 96 Augustinus, De natura et gratia 29 (CSEL 60, 257). 97 Vgl. Antwort. 98 Vgl. Antwort. 99 Vgl. Antwort. 100 Aristoteles, Eth. Nic. IV, 8; 1123 b 30.

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auch in Form der Verachtung des Menschen. Die Gottesverachtung der Wirkung nach betrachtet jedoch hält sich in allen sündhaften Handlungen durch, auch in denen, die aus Schwäche oder Unwissenheit begangen werden, wie aus dem vorher Gesagten hervorgeht.101 Zu 5. Wie der Hochmut durch Ausweitung oder Wirkung in allen Sünden weiterhin anwesend ist, obwohl er doch eine eigene Sünde darstellt, so kann in gleicher Weise auch die Gottesfurcht in allen tugendhaften Handlungen vorgefunden werden, obwohl sie doch eine eigene Gnadengabe darstellt. Zu 6. Hochmut drückt allen vorher erwähnten Sünden den Stempel der Bösartigkeit auf. Nicht etwa weil der Hochmut mit der Bösartigkeit gleichzusetzen wäre, sondern in den beiden genannten Hinsichten. Zu 7. Neid, Eitelkeit und Zorn teilen mit dem Hochmut nicht denselben Gegenstandsbereich, sondern der ihre richtet sich nach dem des Hochmuts als an ihrem Ziel aus. Denn genau darum betrübt sich der Neid über das Gut des Nächsten, wünscht sich die Eitelkeit Lob und der Zorn Rache102: Sie alle erstreben damit eine Art von Vortrefflichkeit. Woraus nicht geschlossen werden kann, daß der Hochmut dasselbe sei wie sie, wohl aber, daß er sie bestimmt, wie aus dem Gesagten hervorgeht.103 Zu 8. Das, was die im Einwandstext genannten Autoritäten lehren, wird über den Hochmut in Anbetracht seiner Wirkung ausgesagt, ohne die keine Sünde als solche bestehen kann, nicht aber hinsichtlich der dem Hochmut eigenen Gesinnung. Zu 9. Ähnliches gilt für das neunte Argument: Hier nämlich läßt sich der Hochmut gemessen an der Wirkung frei austauschen mit dem, was die Sündenhandlung ausmacht. Gleichwohl kann man zum achten wie zum neunten Einwand feststellen, daß Augustinus im Buch Über Natur und Gnade104 diese Meinungen nicht in eigener Sache vorträgt, sondern einem anderen 101 Vgl. q. 8 a. 1 ad 7. 102 Vgl. Aristoteles, Rhet. II, 2; 1378 b 1–2, so Thomas, Sum. theol. I–II,

q. 46 a. 1. 103 Vgl. Antwort. 104 Augustinus, De natura et gratia 29 (CSEL 60, 257).

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in den Mund legt, der sein Diskussionsgegner ist. Deshalb verwirft er sie auch anschließend und sagt, daß Sünde nicht immer aus Hochmut erwächst. Zu 10. Von Gott abzuirren ist soviel wie hochmütig sein der Wirkung nach. Zu 11. Genauso muß man elftens sagen, daß der sündhafte Verstoß gegen Gottes Gebot als Hochmut hinsichtlich der Wirkung zu gelten hat, wenn auch nicht immer der Gesinnung nach. Zu 12. Der Wirkung nach betrachtet findet sich der Hochmut in jeder Sünde, und der Hochmut ist somit gleichbedeutend mit der Abkehr vom unwandelbaren Gut, während die Begierde die Hinwendung zu einem wandelbaren Guten darstellt. Aus beidem ergibt sich die eine Sünde wie aus ihrem formalen und inhaltlichen Prinzip,105 weil jede Sünde eine Abkehr vom ewigen Gut darstellt und eine Hinwendung zum zeitlichen. Zu 13. Im Streben nach dem Guten für sich kann es zur Sünde kommen, wenn man aus der Maßgabe der Vernunft ausschert, wie bereits gesagt.106 Zu 14. Gregor der Große nennt im 13. Buch der Moralschriften107 den Hochmut nicht unter den vorrangigen Lastern, sondern als ihren König und ihre Wurzel, insofern der Hochmut nämlich seine Oberherrschaft über alle Sünden erstreckt. Das schließt aber nicht aus, daß der Hochmut eine eigene Sünde darstellt. Zu 15. Die schrankenlose Hingabe ans eigene Wohl ist ein allgemeiner Wesenszug aller Sünden, und somit auch des Hochmuts in Anbetracht dessen, daß das, was der Gattung eigentümlich ist, auch der Art eigentümlich ist. Dennoch kann man sagen, daß Hochmut die Hingabe ans eigene Wohl im eigentlichen Sinne darstellt, wenn man nämlich das ›eigen‹ Genannte ganz genau nimmt: Das heißt, daß jemand sein Wohl nicht als ein von einem Höheren verliehenes liebt, wie es im eigentlichen Sinne zum Hochmut gehört, daß jemand also sein Wohl nicht als von einem anderen gegeben anerkennen will. 105 Vgl. q. 4 a. 2. 106 Vgl. Antwort. 107 Gregor der Große, Moralia XIII, 45, 87 (PL 76, 620–621).

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Zu 16. Hier ist zu bemerken, daß das Argument den Hochmut hinsichtlich seiner Wirkung betrifft. Auf diese Weise nämlich wird das unveränderliche Gut in jeder Sündenhandlung der Verachtung preisgegeben, nicht jedoch immer der Gesinnung nach. Zu 17. Man kann den Hochmut oder Stolz einerseits danach beurteilen, daß er über die Maßgabe der Vernunft hinausgeht, und dann ist der Hochmut auch immer eine Sünde. Und das ist ja auch die verbreitete Begriffsbedeutung. Andererseits kann man den Hochmut oder Stolz auch danach beurteilen, daß er über etwas anderes hinausgeht, und auf diese Weise verstanden, kann er etwas Gutes sein, wie Hieronymus hier sagt; etwa wenn jemand handelt, um Ratschlägen nachzukommen, die über die gewöhnlichen Handlungen hinausgehen, die von Vorschriften befohlen werden. Ebenso kann man sagen, daß, wo geschrieben steht »Ich mache dich zum ewigen Stolz für alle Generationen«, der Stolz inhaltlich bestimmt wird, im Sinne von »ich werde dir große Vorzüge verleihen, wie sie den Weltlichem zugewandten Menschen mit Stolz erfüllen«. Und ähnlich kann, was ›stolzer Besitz‹ genannt wird, so verstanden werden, also als das, worüber der Mensch für gewöhnlich mit Stolz erfüllt wird. 3. Artik el 10 8 Die dritte Frage lautet: Hat der Hochmut seinen Sitz im Vermögen zur Zornaufwallung109? Dies scheint nicht der Fall zu sein; denn: 1. Da das Zürnen einen Teil des sinnlichen Verlangens darstellt, so muß jede seiner Regungen eine Leidenschaft sein, weil nämlich

108 Paralleltext: Sum. theol. II–II, q. 162 a. 3. 109 Irascibile ist – für den Übersetzer ausgesprochen ärgerlich – im

Deutschen nicht adäquat mit einem Wort wiederzugeben. Die bisherigen Übertragungsvorschläge wie »Überwindungsvermögen« oder »Zornesmut« sind entweder wenig verständnisfördernd, oder gewaltsam, oder lassen sich nicht durchhalten, oder alles zusammen. Auch der Jähzorn ist mit dem irascibile bestimmt nicht gemeint. Für die vorliegende Übersetzung bilde ich lieber eine Art Begriffsfeld mit folgenden Hilfsausdrücken,

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die Leidenschaften der Seele Regungen des sinnlichen Verlangens sind. Der Hochmut aber scheint nicht in einer der Zornaufwallung zugehörigen Leidenschaft zu bestehen, weder in der Furcht, noch im Wagemut, noch in der Hoffnung oder der Verzweiflung, und auch nicht in der Wut. Also findet sich der Hochmut nicht in diesem Vermögen. 2. Da die heftige Aufwallung der sinnlichen Dimension der Seele zugehört, kann ihr Ausrichtungsgegenstand nur ein sinnenfälliges Gut sein. Der Hochmut jedoch sucht seine Ausrichtungsgegenstände nicht allein in den sinnenfälligen Gütern, sondern auch im Geistigen und in den Verstandesdingen, wie Gregor der Große im 34. Buch seiner Moralschriften schreibt.110 Also kann der Hochmut nicht im Vermögen des aufbegehrenden Zorns als seinem Träger sein. 3. In den Dämonen gibt es keine sinnliche Seelendimension, da sie ja körperlos sind. Wenn also der Hochmut im aufbegehrenden Vermögen läge, würde daraus folgen, daß er nicht bei den Dämonen vorfindbar sein könnte, was aber offenbar falsch ist. 4. Im eigentlichen Sinne betrachtet ist Hochmut Gottesverachtung. Das aufbrausende Vermögen kann diesen Ausrichtungsgegenstand »Gott« aber nicht erreichen, da es ja ein Vermögen der sinnlich empfindenden Seelendimension ist. Also ist der Hochmut nicht darin als in seinem Träger. die alle für das irascibile stehen sollen: (Vermögen zur/m) Zornaufwallung, Aufbrausen, Aufbegehren, Zornesmut. Sachlich gemeint ist damit jedesmal die Disposition zu innerer Revolte oder herrischem Aufbrausen in Fragen der Selbsteinschätzung, was eigentlich eher ein Verlieren der Beherrschung ist und sich in aufsteigendem Groll oder im unkontrollierten Wutanfall bei gekränktem Stolz o. ä. manifestiert (worauf ja auch die Definition des Avicenna im 5. Einwand und die Antwort des Thomas in ad 5 hinweisen). Vorwiegend fällt der Entscheid zugunsten des Begriffs »(Vermögen zum) Aufbegehren«, da Thomas meist zwei innere Kräftefelder kontrastierend oder auch komplementär gegenüberstellt: das concupiscibile, das das Begehren ausdrückt, und das irascibile (vgl. das Corpus des Antwortteils und in den Einzelantworten etwa ad 6). Im Deutschen ergibt sich dann mit »Begehren« und »Aufbegehren« eine sprachlich gut faßbare Gegenüberstellung dieser Vermögen. 110 Gregor der Große, Moralia XXXIV, 3, 49 (PL 76, 745 C).

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5. Avicenna111 bestimmt das zornhaft aufbegehrende Vermögen dadurch, daß es uns dazu bewegt, alles Schädliche und Verderbliche vermittels des Verlangens zu siegen zurückzuweisen. Das aber ist nicht Sache des Hochmuts, da der das Schädliche nicht von sich weist, sondern vielmehr darauf aus ist, in irgend etwas Gutem ganz besonders herauszuragen. Also hat der Hochmut seinen Sitz nicht im zornig aufbegehrenden Vermögen. 6. Der Hochmut ist die Ursache von Neid. Der Neid jedoch entsteht im begehrenden Seelenvermögen, weil er »Haß auf fremdes Glück ist«.112 Der Hochmut hat seinen Sitz also nicht im aufbegehrenden Vermögen [sondern im begehrenden]. 7. Es scheint, daß er nicht im zornig aufbegehrenden Vermögen, sondern eher im vernunftgemäßen vorzufinden ist. Wo nämlich Gregor der Große im 23. Buch der Moralschriften113 die vier Arten von Hochmut bestimmt, sagt er: »Denn auf vier verschiedene Arten erweist sich alle Aufgeblähtheit der Überheblichen: Weil sie nämlich entweder glauben, daß das Gut, über das sie verfügen, ihnen selbst zu verdanken ist; oder aber wenn sie glauben, daß es ihnen von oben verliehen wurde, dennoch meinen, es sei ihnen ihrer Verdienste wegen gegeben; oder wenn sie sich dessen rühmen, was sie gar nicht haben; oder sie verachten alle anderen Güter und trachten, daß man nur die beachten möge, die sie allein besitzen«. All das aber: schätzen, annehmen, meinen, aussprechen und sich mit anderen vergleichen, gehört zum Vernunftgebrauch. Also hat der Hochmut in der Vernunft seinen Sitz. 8. In Spr. 11, 2 heißt es: »Bei den Bescheidenen ist die Weisheit zu Hause«. Die Weisheit aber sitzt in der Vernunft. Also auch die Bescheidenheit. Und also auch der Hochmut als Gegenteil der Bescheidenheit. Gegensätze finden sich nämlich ihrer Natur gemäß in ein und demselben Zugrundeliegenden.114

111 Avicenna, De an. I, 5 (ed. van Riet, 83). 112 Augustinus, Enn. in Psalmos 104, 25, 17 (CCSL 40, 1545), wie weiter

unten (q. 10 a. 2) angegeben wird. 113 Gregor der Große, Moralia XXIII, 6, 13 (PL 76, 258 C). 114 Aristoteles, Top. II, 4; 111 a 14.

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9. Bernhard von Clairvaux sagt in seinem Buch Über die zwölf Stufen der Demut,115 daß die Vollendung der Demut die Erkenntnis der Wahrheit ist. Die Wahrheitserkenntnis aber ist Sache der Vernunft, also ist auch die Demut zur Vernunft zu zählen. Und deshalb auch der Hochmut. 10. Aristoteles sagt im 3. Buch der Nikomachischen Ethik,116 daß der Hochmütige Stärke vortäuscht. Täuschung aber ist Sache der Vernunft, da sie etwas darstellt, was nur der Vernunft zukommt, wie Aristoteles in seiner Poetik schreibt.117 Also hat der Hochmut seinen Sitz in der Vernunft. 11. Die Glosse118 sagt zu Hab. 2, 5 »Wie der Wein den Trinker täuscht …«, daß der Hochmut zufürderst bewirkt, daß man höher von sich denkt, als man tatsächlich ist. Das Denken aber ist ein Vernunftakt, daher ist die erste Regung des Hochmuts in der Vernunft anzusiedeln. Und daher auch der Hochmut selbst. 12. Über das Psalmwort 118, 1 »Wohl denen, deren Weg ohne Tadel ist« sagt Ambrosius,119 daß nur das Gebot Gottes die Macht des Hochmuts fernzuhalten vermag. Gottes Gebot aber findet sich in der Vernunft, also auch der Hochmut, den es fernhält. 13. Im 31. Buch der Moralschriften120 sagt Gregor der Große, daß der Hochmut der König aller Laster ist. Wie ein König zu herrschen ist aber Sache der Vernunft. Also gehört der Hochmut in die Vernunft. 14. Über Jer. 49, 16 »Dein Hochmut und dein vermessener Sinn usf.« sagt die Glosse121: »Nicht der Irrtum, sondern der Hochmut macht einen zum Häretiker«. Häresie findet sich nun aber in der Vernunft, und daher also auch der Hochmut. 115 Bernhard von Clairvaux, De duodecim gradibus humilitatis 2, 3 und 5 (ed. Leclercq III 18 und 20). 116 Aristoteles, Eth. Nic. III, 15; 1115 b 29–30. 117 Eigentlich Averroes, Expositio Poeticae, nach der Übersetzung von Hermannus Alemannus (Minio Paluello 44–45). 118 Glossa ordinaria et interlinaria ad Habacuc II, 5. 119 Ambrosius, Expositio in Psalm. 118 sermo 7, 10 (PL 15,1283 D [1531 C]). 120 Gregor der Große, Moralia XXXI, 45, 87 (PL 76, 620 D). 121 Glossa interlinaria in Jeremiam IL, 16.

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15. Im 12. Buch von Über die Dreifaltigkeit 122 sagt Augustinus, daß die Sünde im niederen Vernunftvermögen sitzt, insofern es vom höheren Vernunftvermögen nicht zurückgehalten oder sogar noch mit Beifall bedacht wird. Somit scheint es, als sei die erste Sünde in der höheren Vernunfttätigkeit. Der Hochmut jedoch ist die erste Sünde. Also befindet sich der Hochmut im höheren Vernunftvermögen. 16. Augustinus sagt123 – und genauso steht es auch in (Gratians) Dekreten, 15 q. 1124 –, Hochmut stelle eine Bewegungsausrichtung auf das dar, was die Gerechtigkeit verbietet. Die Gerechtigkeit gehört aber der Sache nach zur Vernunft, da sie den Menschen lehrt, dem anderen das Gebührende zukommen zu lassen. Also ist der Hochmut dem Verstand anzulasten. 17. Augustinus sagt125 – und genauso steht es in (Gratians) Dekreten, 23 q. 4126 –, daß »Gott niemals die Gefäße des Zorns zerschlagen würde, wenn er nicht in ihnen aus eigenem Antrieb entstandene Missetaten vorfinden würde«. Als aus eigenem Antrieb bezeichnet man jedoch etwas, das der Herrschaft der Vernunft unterstellt ist. Da nun aber die Gefäße des Zorns vor allem des Hochmuts wegen zerstört werden, scheint es so, als gehöre der Hochmut zur Vernunft gerechnet. 18. Seneca schreibt in einem seiner Briefe,127 daß das höchste Gut des Menschen im Vernunftvermögen liegt. Dieses Gut ist aber wie gesagt128 die Tugend, die der Hochmut jedoch verdirbt. Also ist der Hochmut in der Vernunft und nicht im aufbegehrenden Seelenvermögen. 19. Außerdem scheint der Hochmut im Willen zu sitzen statt im zornartig aufwallenden Seelenvermögen. Denn über Mt. 3, 15 »So

122 Augustinus, De Trin. XII, 12, 17 (CCSL 50, 371–372) gemäß Petrus Lombardus, Sent. II, d. 24 c. 9–12. 123 Augustinus, De duabus animabus 11 (CSEL 25 1, 70). 124 Decretum 15, 1, I pars § 5 (ed. Friedberg I, 745). 125 (Pseudo-)Augustinus (= Fulgentius), Ad Monimum I, 26 (CCSL 9, 27). 126 Decretum 23, 4, 23 (ed. Friedberg I, 907). 127 Seneca, Epistolae Morales IX, 5, 9. 128 Vgl. a. 2.

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können wir die Gerechtigkeit ganz erfüllen …«, sagt die Glosse129: »das heißt: die vollkommene Demut«. Die Gerechtigkeit ist aber im Willen beheimatet, und daher auch die Demut [als Gegenteil des Hochmuts]. 20. Zum Hochmut gehört allem Anschein nach insbesondere die Ehrsucht. Auf Ehren auszusein ist aber Sache des Willens. Daher ist der Hochmut im Willen. 21. Hochmütig sein heißt, sein Gemüt hoch über andere erheben.130 Daher scheint es, daß der Hochmut in besonderer Weise einem höheren Vermögen angehört, das über die anderen erhaben ist. Dieses Vermögen jedoch ist der Wille, der alle anderen in Bewegung setzt. Daher scheint es auch, daß der Hochmut dem Willen zuzurechnen ist und nicht dem zornartig aufreizbaren Vermögen. 22. Der Hochmut scheint im Begehrensvermögen vorzufinden zu sein. Im Sentenzenbuch des Prosper131 ist nämlich zu lesen, daß »der Hochmut die Liebe zur eigenen Vortrefflichkeit« ist. Die Liebe aber gehört zum Begehrensvermögen. Und also auch der Hochmut. 23. Nach Augustinus132 gehört es zum Hochmut, Erfreuliches zu suchen und Trauriges zu fliehen. Das ist aber Sache des Begehrensvermögens. Also ist der Hochmut im Begehrensvermögen angesiedelt. 24. Es zeichnet den Hochmut aus, sich am eigenen Gutergehen zu erfreuen. Das aber entspricht ja genau dem Begehrensvermögen. Und deswegen scheint der Hochmut in diesem zu sein, und nicht im aufbegehrenden Seelenvermögen.

129 Glossa ordinaria in Matthaeum III, 15. 130 Im lateinischen Original: Superbire est superire. Vgl. Peter von

Hales, Commentarium in Priscianum Maiorem (ms. Brügge Stadsbibliotheek 535, f. 56 ra). 131 Prosper von Aquitanien, Sententiae ex Augustino delibatae 94 (CCSL 68 A, 329). 132 Eigentlich Bernhard von Clairvaux, De duodecim gradibus humilitatis 12, 40 (ed. Leclercq III 46).

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Dagegen spricht: 1. Gregor der Große bezeichnet im 2. Buch seiner Moralschriften133 die Gabe der Ehrfurcht als dem Hochmut entgegengesetzt. 2. Augustinus sagt im 14. Buch von Die Bürgerschaft Gottes,134 daß der Hochmut »das Streben nach maßloser Erhabenheit« ist. Das hart zu Erarbeitende ist aber Strebensgegenstand des Vermögens inneren Aufbegehrens. Also ist der Hochmut diesem anzurechnen. 3. Die Kleinlichkeit ist offenkundig das dem Hochmut entgegengesetzte Laster. Doch wie der Großmut, so ist auch sie im aufbegehrenden Seelenmoment beheimatet. Also auch der Hochmut. Antwort: Zur Lösung dieser Frage bedarf es zuerst einer Überlegung darüber, in welchem Seelenvermögen Sünde und Tugend überhaupt zu finden sein können, bevor dann überlegt werden kann, welche der Wirksamkeiten der Seele sozusagen die Grundlage für den Hochmut bietet. So ist zunächst zu beachten, daß jede sündhafte oder tugendsame Handlung willentlich ist. In uns gibt es nun zwei Prinzipien willentlichen Handelns, nämlich die Vernunft oder das Verstandesvermögen und das Strebensvermögen. Denn diese beiden können bewegungsverursachend wirken, wie im 3. Buch von Über die Seele steht,135 und das insbesondere, sofern man die eigentlich menschlichen Handlungen betrachtet. Als Begriffsvermögen unterscheidet sich die Vernunft jedoch vom Strebensvermögen dadurch, daß die Verrichtung der Vernunft wie jeder anderen Begreifenskraft dadurch zustande kommt, daß das Begriffene im Begreifenden ist. Für den Verstand bedeutet wirklich vollzogenes Verstehen soviel wie wirkliche Aneignung des Verstandenen, und für die wirklich vollzogene Wahrnehmung ist der Wahrnehmungsinhalt dasselbe wie sich das Wahrgenommene wirklich angeeignet zu haben. Die Verrichtung des Strebensvermögens jedoch besteht darin, daß das Strebenssubjekt zum erstrebten Objekt hin erst bewegt wird. Nun ist es aber offensichtlich dem Hochmut eigentümlich, daß jemand maßlos nach 133 Gregor der Große, Moralia II, 49, 77 (CCSL 143, 106). 134 Augustinus, De civ. Dei XIV, 13, 1 (CCSL 48, 434). 135 Aristoteles, De an. III, 9; 433 a 13–18.

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eigener Vortrefflichkeit strebt, ganz so, als ob er sich über das erhebe, was er ist, wie im Psalm 9, 18 geschrieben steht: »Du übst Gerechtigkeit an Waisen und Erniedrigten, auf daß der Mensch nicht weiter vermessen wage, sich über die Erde zu erheben«. Daraus ist zu ersehen, daß der Hochmut dem Strebensvermögen zuzurechnen ist. Da aber das Strebensvermögen in gewisser Weise vom Erfassungsvermögen in Gang gebracht wird – insofern nämlich das erfaßte Gut das Streben anregt – ist es geboten, das Strebensvermögen gemäß verschiedenen Erfassungsweisen zu unterscheiden, und zwar bedingt dadurch, daß das Passive dem Aktiven und Bewegenden verhältnismäßig angeglichen ist und sich die verschiedenen Vermögen ihrem Ausrichtungsgegenstand nach unterscheiden lassen. Nun gibt es ein Vermögen zum Erfassen von Allgemeinbestimmungen, nämlich den Intellekt oder die Vernunft, und eines zum Erfassen von Individuellem, nämlich das sinnliche oder Vorstellungsvermögen. Woraus sich ein doppeltes Strebensvermögen ergibt: eines in der Vernunft, Wille genannt, und ein anderes im Sinnlichen, genannt Sinnlichkeit oder Trieb. Das vernunftverdankte Streben, das Wille heißt, hat das übergeordnete Gute zum eigentümlichen Strebensziel und ist daher nicht in mehrere Vermögen unterschieden. Das Streben der Sinne hingegen erreicht die übergeordnete Idee des Guten nicht, sondern nur einige einzelne Spielarten von solchem Gutem, das sinnlich zugänglich und vorstellbar ist, weshalb es zweckdienlich ist, das sinnliche Streben auch gemäß der verschiedenen Auffassungsweisen des so gearteten Guten unterscheidend aufzuteilen. Einiges gilt nämlich deshalb als erstrebenswert, weil es den Sinnen angenehm ist, und nach dieser Auffassungsweise von »gut« ist es also ein Objekt des begehrenden Vermögens. Anderes gilt auf andere Weise als erstrebenswert, wie etwa dadurch, daß es in der Vorstellungswelt von Lebewesen einen hohen Rang einnimmt, weil es dem Lebewesen erlaubt, Schädliches von sich abzuwenden und eigenmächtig das eigene Gut zu gebrauchen. Dieses Gut hat nichts von sinnlichem Vergnügungswert an sich und bringt von mal zu mal auch spürbaren Schmerz im Gefolge, wie etwa wenn ein Tier um das Gewinnen kämpft. Nach dieser Auffassungsweise von »gut« als in der Vorstellungswelt spricht man von einem Objekt des aufbegehrenden Ver-

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mögens. Nun ist es offensichtlich, daß sich das Einzelne unter das Allgemeine einrechnen läßt, daß dieses Verhältnis aber nicht austauschbar ist. Und somit kann der Wille sich auf alles verlegen, worauf sich Begehren und Aufbegehren richten können, und noch auf vieles mehr. Während diese beiden jedoch ihr Ziel mit Leidenschaft verfolgen, tut es der Wille leidenschaftslos, weil er sich dazu keines körperlichen Organs bedient. Und so können alle inneren Regungen, die im Begehren und Aufbegehren leidenschaftlich vorliegen – wie etwa die Liebe, die Freude, die Hoffnung und alles von dieser Art – auch im Willen sein, aber eben ohne Leidenschaft. Aus dem weiter oben Gesagten136 ist offenkundig, daß eine Vorzüglichkeit der angestrebte Ausrichtungsgegenstand des Hochmuts ist. Wäre diese aber für den Hochmut nur eine solche der Sinnenfreude oder der Vorstellungskraft, dann müßte er allein dem Vermögen inneren Aufbegehrens zugeschrieben werden. Da jedoch der Hochmut nach Gregor im 33. Buch der Moralschriften137 genauso um die geistige Vorzüglichkeit kreist, wie sie eben in geistigen Gütern vorzufinden ist, und darüber hinaus auch in den reinen Geistwesen vorzufinden ist, in denen kein sinnliches Streben vorliegt, muß man zugestehen, daß der Hochmut sowohl im aufbegehrenden Vermögen sitzt, was die sinnlich faßbare oder vorstellbare Vortrefflichkeit betrifft, als auch im Willen, soweit es die geistige Vorzüglichkeit angeht und diese etwa auch bei bösen Geistwesen vorkommt. Zu 1. Erstens ist daher zu antworten, daß der Hochmut ein maßloses Vortrefflichkeitsstreben darstellt. Nun verhält sich die Hoffnung zum schwer zu erlangenden zukünftigen Gut in selber Weise wie das Verlangen zum als absolut veranschlagten Guten. Deshalb ist es offenkundig, daß der Hochmut vor allem zur Hoffnung gehört, die eine Leidenschaft des inneren Aufbegehrens darstellt, denn auch die Anmaßung, die einem Übermaß von Hoffnung entspricht, scheint doch ganz insbesondere Sache des Hochmuts zu sein. Zu 2. Wie oben bereits gesagt, ist der Hochmut, der sich auf die nichtsinnliche Vortrefflichkeit verlegt, nicht Sache des Aufbegeh136 Vgl. a. 2. 137 Gregor der Große, Moralia XXXIV, 23, 49 (PL 76, 745 C).

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rensvermögens, sondern des Willens. Dennoch kann es auch in Fällen solcher Vortrefflichkeit ab und an dazu kommen, daß man sich in der Vorstellung Folgen aus ihr ausmalt, bei denen dann doch von Hochmut als Sache des Aufbegehrens gesprochen werden kann. Wie etwa, wenn jemand seiner Vortrefflichkeit in der Ausübung einer Wissenschaft wegen Lob erhält oder irgendeinen spürbaren Ehrenzuwachs davon hat. Zu 3. Wenngleich der Hochmut der Dämonen nicht in der Leidenschaftsaufwallung ist, so doch im Willen – wie bereits gesagt.138 Zu 4. Antriebsmomente sind in zweifacher Hinsicht aufzufassen. Einerseits wie ein Antriebsziel, das ein Wohin angibt. In diesem Sinne kann Gott nicht das Antriebsziel des aufbegehrenden Vermögens sein. Andererseits im Sinne eines Antriebsziels, das ein Wovon der Bewegung angibt, und in diesem Sinne kann das, wovon man sich in Verachtung abwendet, auch der Antrieb der Verachtung sein. So gesehen verbietet nichts, in Gott das Antriebsziel des Aufbegehrens zu sehen, insofern nämlich das nicht durch Gottesverehrung gezügelte innere Aufbegehren sich in Abwendung vom eigentlichen Antriebsziel zu einem eigenen hinreißen läßt. Zu 5. Mag auch das aufbrausende Vermögen als innere Kraft Grundlage vieler Leidenschaften sein, so wird es doch vom Zorn sozusagen als deren letztentscheidende her definiert. Deshalb bestimmt Avicenna die aufbrausende Energie ausschließlich in Hinsicht auf die Leidenschaft des Zorns und nicht in Hinsicht auf andere Leidenschaften. Zu 6. Neid ist nicht dem Aufbegehrungsvermögen anzulasten, sondern dem Begehrensvermögen, da er ja ein sich Grämen über das Wohlergehen anderer ist.139 Dieser Gram aber gehört zum Begehren, genau wie das Ergötzen, und genauso gehören der Haß und die Liebe hierher. Läge der Neid jedoch im Aufbegehren, so würde deshalb noch nichts dagegen sprechen, daß der Hochmut als die Ursache des Neides in diesem Aufbegehren sitzt. Denn nichts verbietet anzunehmen, daß eine Handlung oder Leidenschaft, die irgend138 Vgl. Antwort. 139 Vgl. Johannes Damascenus, De fide 2, 14 (ed. Buytaert, 121); Neme-

sius, De natura hominis 19 (ed. Verbeke, 101).

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einem Vermögen zuzuschreiben ist, Ursache einer anderen Handlung oder Leidenschaft ist, die demselben Vermögen angehört. So wie die Liebe Ursache der Sehnsucht ist, obwohl sich doch beide im Begehrensvermögen finden. Zu 7. Eine Handlung kann auf dreifache Weise zu einem Laster gehören: erstens unmittelbar, zweitens vorgängig und drittens als Folge. So gehört Rachsucht etwa unmittelbar und wesensgemäß zum Zorn, diesem aber geht der Gram über eine erlittene Verletzung voran, und zur Folge gehört die Freude über die Bestrafung desjenigen, der die Verletzung verursacht hat. Daher gehört genauso der maßlose Vortrefflichkeitsanspruch unmittelbar und sozusagen wesensgemäß zum Hochmut, diesem voraus geht jedoch die Selbsteinschätzung, solcher Vortrefflichkeit auch zu entsprechen, und zur Folge des Hochmuts gehört, daß man diese Selbsteinschätzung und sein entsprechendes Verlangen in Wort und Tat zur Schau trägt. Von diesen drei besprochenen Weisen ist die erste der Aufbegehrensaufwallung anzurechnen, die anderen beiden hingegen der Vernunft. Denn die Auffassungsgabe der Vernunft geht der Strebensbewegung voraus, und die Maßgabe der Vernunft über die äußere Verrichtung folgt ihr. Zu 8. Demut und Weisheit finden sich in ein und demselben Menschen, insofern die Demut zur Weisheit bereit macht: Der Demütige nämlich unterstellt sich zum Erlernen einer Sache der Führung der Weisen statt auf eigenem Gutdünken zu beharren. Doch ist nicht zwingendermaßen die Weisheit im selben Seelenaspekt zu finden wie die Demut, da das, was als niedriger anzusetzen ist, durchaus zu dem, was höherrangig ist, bereit machen kann, wie im Fall des vorgestellten Guts und der Wissenschaft. Zu 9. Wahrheitserkenntnis geht der Demut voran, da, sobald jemand die Wahrheit bedenkt, er maßvoll an sich halten wird. Zu 10. Die Einbildung verhält sich zum Hochmut als Folge, da nämlich dem Umstand, daß jemand nach Vortrefflichkeit strebt, auf dem Fuße folgt, daß man diese nach außen hin zeigt, um irgendwie anderen gegenüber besser dazustehen. Zu 11. Von sich selbst groß zu denken wird als erste Hochmutsäußerung angesehen, weil solches dem Verlangen nach Vortrefflichkeit vorangeht.

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Zu 12. Insofern die Vernunft die niederen Impulse beherrscht und antreibt, hält sie diese auch von ungehörigen Regungen ab. Deshalb schließt das Gesetz Gottes, das der Vernunft eingeschrieben ist, den Hochmut aus: nicht formal, wie das Schwarzsein ausschließt, daß Weißsein der Fall ist – denn sonst wäre ein und dasselbe beides – sondern wirkursächlich, wie wenn ein Maler sich entschließt, die schwarze Farbe für sein Gemälde nicht zu verwenden. Deswegen ist es ausgeschlossen, daß der Hochmut in der Vernunft wohnt, in der sich doch Gottes Gesetz eingeschrieben findet. Zu 13. König der anderen Laster wird der Hochmut deshalb genannt, weil er seine Macht über die Abstimmung seiner eigenen Zwecksetzung mit der der anderen Laster auf alle diese anderen erstreckt, nicht aber, weil er in der Vernunft seinen Sitz hätte. Zu 14. Zum vierzehnten Einwand ist zu sagen, daß von der dort genannten Autorität die Häresie als Auswirkung des Hochmuts dargetan wird. Doch spricht nichts dagegen, daß das, was in einem Seelenvermögen sitzt, Wirkung in einem anderen Seelenvermögen zeitigt. Zu 15. Die erste Sünde ist als in der Vernunft wie vorgängig, jedoch als im Verlangen wesensgemäß anzusehen, insofern nämlich das Strebensvermögen sich nach Maßgabe der Vernunft zu etwas Verbotenem hingezogen fühlt oder vor ihm zurückschreckt. Zu 16. Die Sünde hat ihren Sitz in einem der niederen Seelenvermögen, da sie ja ein Abweichen vom rechten Vernunftgebrauch darstellt. Weshalb, wenn die Gerechtigkeit irgendwie zur Vernunft gehört, nicht schon deswegen jede Sünde in die Vernunft als ihrem Träger zu verlegen ist. Zu 17. Eine Sünde wird nicht nur dann willentlich und selbstverschuldet genannt, wenn sie dem Willen entstammt, sondern auch, wenn sie von ihm bestimmt wird, der ja alle niederen Impulshandlungen bestimmt. Deshalb spricht nichts dagegen, daß eine willentliche Sünde in einem der niederen Seelenvermögen vorzufinden ist. Zu 18. Wie im 6. Buch der Nikomachischen Ethik steht,140 nahm Sokrates an, daß alle Tugenden eine Art von Wissen darstellten, und daher nahm er weiterhin an – genauso wie die Stoiker, die ihm darin 140 Aristoteles, Eth. Nic. VI, 11; 1144 b 29–30.

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folgten141 – daß alle Tugenden ihrem Wesen nach in der Vernunftbegabung lägen. Da jedoch durch die sittliche Tugendhaftigkeit das Strebensvermögen sehr viel unmittelbarer vervollkommnet wird als die eigentliche Vernunft, sollte man besser mit Aristoteles sagen,142 daß die sittlichen Tugenden dem Strebensvermögen innewohnen, das ja auch, und zwar durch Teilhabe, vernünftig ist, soweit es nämlich von der Vernunftausübung angeleitet wird. Zu 19. Auf irgendeine Weise ist jede Tugend auch Gerechtigkeit, da diese zur Befolgung des (natürlichen) Gesetzes anleitet, wie im 5. Buch der Nikomachischen Ethik steht.143 Obwohl nun die Gerechtigkeit in den Bereich des Willens gehört, so ist es doch nicht zwingend, daß alle Tugenden, die, wie gesagt, von ihr abhängen, als in der Vernunft oder im Willen angesiedelt angesehen werden müssen, weil Vernunft und Wille ja auch andere Seelenkräfte in Gang zu setzen imstande sind. Zu 20. Das Verlangen nach erfahrbaren oder vorstellbaren Ehrungen ist, sofern sie zu erkämpfen sind oder einer Vortrefflichkeit frönen lassen, nicht nur Sache des Willens, sondern auch des aufbegehrenden Vermögens. Zu 21. Hochmütig zu sein heißt, sich hoch über das eigene Maß hinauszuwagen, was nicht nur in bezug auf alles Höherrangige zutrifft, sondern auch auf das Niederrangige. Zu 22. Alle Leidenschaften des aufbegehrenden Seelenvermögens haben ihren Ausgangspunkt in der Liebe, die eine Leidenschaft des Begehrens ist, und ihren Endpunkt in Vergnügen oder Gram, die ebenfalls dieser zugerechnet werden müssen. Nichts verbietet also, daß das, was dieser zugerechnet wird, dem im aufbegehrenden Seelenvermögen sitzenden Hochmut vorangeht oder als Folge zugewiesen werden kann. Und daraus ergibt sich auch die Lösung für das Folgende.

141 Vgl. Augustinus, De civ. Dei IX, 4 (CCSL 47, 251). 142 Aristoteles, Eth. Nic. VI, 11; 1144 b 28–30. 143 Aristoteles, Eth. Nic. V, 2; 1129 b 29–30.

4. Artik el 14 4 Die vierte Frage stellt sich nach den verschiedenen Arten des Hochmuts, die Gregor der Große im 24. Buch der Moralschriften aufzählt145 wie folgt: »Es gibt nämlich vier Arten, auf die die Aufgeblähtheit der Hoffärtigen zu Tage tritt: Wenn sie entweder denken, sie hätten alles Treffliche von sich selbst aus; oder sie nehmen zwar hin, daß es ihnen von oben verliehen wurde, vermeinen aber, sie verdienten es; oder sie rühmen sich dessen, worüber sie eigentlich gar nicht verfügen; oder sie wollen aus Verachtung aller anderen alle Blicke nur auf sich selbst gelenkt wissen«. Es scheint so, als ob diese Aufzählung der verschiedenen Arten des Hochmuts nicht sachgemäß sei; denn: 1. Daß jemand vermeint, etwas Vortreffliches niemand anderem zu verdanken als sich selbst, ist eigentlich Sache des Unglaubens, da es doch der rechte Glaube einschließt, daß Gott der Urheber alles Guten ist. Also darf die Haltung, daß man niemand als sich selbst das eigene Wohl zu verdanken habe, nicht als eine Spielart des Hochmuts angesetzt werden, sondern eher als eine Unterart des Irrtums oder des Unglaubens. 2. Von allen Gütern, die man in diesem Leben haben kann, ist das höchste das der Gnade, dessen sich manche manchmal hochmütig rühmen. Doch ist es der pelagianischen Ketzerei eigentümlich, zu glauben, daß dem Menschen aufgrund eines Verdienstes die Gnade zuteil wird.146 Daher darf man es nicht als eine Art von Hochmut betrachten, daß jemand glaubt, das, was er habe, sei ihm von Gott aufgrund seines Verdienstes gegeben. 3. Sich mit dem zu brüsten, was man nicht besitzt, gehört in den Bereich des Lügens, was wiederum ein vom Hochmut verschiedenes Laster angeht. Also darf man das nicht als eine Spielweise des Hochmuts ansehen.

144 Paralleltexte: Sum. theol. II–II, q. 162 a. 4; Sent. II, d. 42 q. 2 a. 4.; Lectura super I ad Corinthios c. 4 lect. 2. 145 Gregor der Große, Moralia XXIII, 6, 13 (PL 76, 258 C). 146 So z. B. Petrus Lombardus, Sent. II, d. 28 ganz.

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4. Gerne gesehen zu werden ist Sache der Eitelkeit, die nicht dem Hochmut gleichzusetzen ist, sondern vielmehr dessen Tochter ist, wie Gregor der Große im 24. Buch der Moralschriften sagt.147 Es darf also nicht als eine Art von Hochmut gewertet werden, wenn jemand ausschließlich alle Blicke auf sich gelenkt wissen will. 5. Hieronymus sagt,148 nichts zeuge so sehr von Hochmut, wie daß man sich als undankbar erweist. Die Undankbarkeit aber wird unter den oben angegebenen vier Arten von Hochmut gar nicht genannt. Und so scheint es, als habe Gregor der Große eine unvollständige Aufzählung der verschiedenen Arten von Hochmut geboten. 6. Im 14. Buch von Die Bürgerschaft Gottes sagt Augustinus,149 daß es typisch für den Hochmut sei, sich aus einer begangenen Sünde herauszureden. Das aber wird unter den genannten Arten des Hochmuts nicht mit aufgezählt. Also werden diese dort nur ungenügend charakterisiert. 7. Es scheint doch vor allem typisch für den Hochmut zu sein, daß man in Vermessenheit etwas verfolgt, was weit höher ist als man selbst. Das wird aber unter den vier oben genannten Auffassungsweisen gar nicht erwähnt. Daher sieht es danach aus, daß diese dort nur ungenügend abgehandelt werden. Dagegen spricht: Die Autorität Gregors, so wie oben angeführt, was eigentlich allein schon ausreichen dürfte. Antwort: Als grundlegend ist festzuhalten, daß, wie Dionysius Areopagita im 4. Kapitel von Über die göttlichen Namen sagt,150 das Gute einem und allesabdeckenden Grund entstammt, das Übel aber aus vielen Einzeldefekten, genauso wie Schönheit daraus erwächst, daß alle Gliedmaßen des Körpers sich in harmonischer Übereinstimmung befinden, während es hinreicht, daß nur eines davon abweicht, damit 147 148 149 150

Gregor der Große, Moralia, XXXI, 45, 87 (PL 76, 621 A). Hieronymus, Brief 148, 4 (CSEL 56, 332). Augustinus, De civ. Dei XIV, 14 (CCSL 48, 436). Dionysius Areopagita, De div. nom. IV, 30 (Dion. I, 298).

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Häßlichkeit entsteht. Genauso gehört es zur Tugend, daß das Verlangen des Menschen sich nach Anleitung durch die Vernunft und eigener Maßgabe auf irgendeine Vortrefflichkeit verlegt. Das Übel des Hochmuts besteht darin, daß jemand beim Versuch, ein besonderes Gut zu erreichen, jedes ihm eigene Maß übersteigt. Und so gibt es genauso viele Arten von Hochmut wie Weisen, dieses zu tun. Dies kann nun aber auf drei verschiedene Arten geschehen. Erstens in Anbetracht des über das Strebende herausragenden Guts selbst, wenn nämlich jemandes Verlangen nach etwas strebt, das weit über seinen eigenen Möglichkeiten liegt, was demnach also der dritten Art von Hochmut entspricht, in der man sich dessen rühmt, was man nicht besitzt. Zweitens in Anbetracht der Erreichensweise, wenn etwa jemand von sich aus oder aufgrund seiner Verdienste über etwas Besonderes verfügt, was er ohne die Zuwendung eines anderen nicht haben könnte; und so kommt man auf die ersten zwei Arten des Hochmuts, denn daß etwas unser ist, erklärt sich auf zwei Weisen: einfachhin, wie wenn wir etwas vollführen; oder aufgrund irgendeiner Vorbereitung, wie wenn wir etwas verdienen. Drittens kann man das eigene Maß in Anbetracht des Besitzens übersteigen, wie etwa, wenn man großes Aufhebens darum macht, etwas in besserer Weise als andere zu besitzen, was man eigentlich auf dieselbe Weise wie die anderen besitzen sollte. Zu 1. Das Meinungsbildungsvermögen der Vernunft kann auf zweifache Weise in die Irre gehen: zum einen grundsätzlich, zum andern im Einzelnen wegen irgendeiner Leidenschaft. Wenn also die rechte Einschätzung aller Aspekte des Glaubens und der Sitte grundsätzlich verfehlt ist, so handelt es sich um die Sünde der Ketzerei, nicht jedoch, wenn dies nur aufgrund einer Leidenschaftsanwandlung in Einzelaspekten geschieht, denn so steht es in Spr. 14, 22: »jeder, der Böses tut, handelt irrtümlich«. Wenn daher zum Beispiel jemand der Ansicht wäre, Unzucht sei grundsätzlich überhaupt nie Sünde, wird er wohl als ein Ungläubiger angesehen werden, während man denjenigen, der Unzucht treibt, weil er wegen einer begehrlichen Leidenschaftsaufwallung die Unzucht wie ein Gut verfolgt, keinesfalls deswegen des Unglaubens zeihen würde. Ähnlich im Fall, daß einer grundsätzlich die Meinung verträte, Gott sei

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nicht der Urheber alles Guten, oder das Gut der Gnade erwachse aus dem eigenen Verdienst: er würde als Häretiker gelten; ganz anders aber, wenn er aufgrund maßloser, aus Begehrlichkeiten aufkochender Vorzüglichkeitsliebe in einem einzelnen Urteilsvermögen des Verstandes einen Schaden hat und von sich vermeint, er habe etwa allein aus sich selbst oder aufgrund eigenen Verdienstes ein Gut aufzuweisen: dieser Mensch würde als hochmütig gelten. Zu 2. Damit ergibt sich auch die Lösung zum zweiten Einwand. Zu 3. Das Sich Rühmen wird nicht als äußerer Vollzug, der sich zum Hochmut wie gesagt151 als dessen Folge verhält, für eine Art von Hochmut angesehen, sondern in Anbetracht der inneren Gefühlsregung, aus der eine Äußerung dieser Art hervorgeht. Etwa indem ein Mensch Großes von sich vorgibt sowie zu haben, was er nicht hat, und sein Geist sich auf solche Großartigkeiten verlegt, die ihm nicht zukommen, es sei denn, er besäße, was er nicht besitzt. Zu 4. Auch das Bedürfnis, ausschließlich alle Blicke auf sich gelenkt zu wissen, steht mit dem Hochmut in einem Folgezusammenhang. Die vierte Art von Hochmut besteht nämlich wesentlich darin, daß der Mensch große Stücke auf sich hält, und sobald er dann unter gegebenen Umständen als Einzelner unter allen anderen herausragen könnte, so wird seine Seele auch dazu verführt, das umzusetzen. Zu 5. Die ersten beiden Arten des Hochmuts stehen im engen Zusammenhang mit der Undankbarkeit. Es gilt nämlich derjenige als undankbar, der eine ihm aus Gefälligkeit oder gnadenhalber erwiesene Wohltat nicht als solche anerkennt oder der Meinung ist, er habe sie aufgrund seiner Verdienste erwiesen bekommen. Zu 6. Wie Aristoteles im 5. Buch der Nikomachischen Ethik sagt,152 ist das Fehlen von Üblem als austauschbar mit dem Guten anzusehen. Und daher gehört der Fall, daß sich jemand aus einer ihm anzulastenden Sünde herausreden will, genauso zur dritten Art von Hochmut wie der Fall, daß sich jemand dessen rühmt, was er sich selbst nicht anrechnen darf. Zu 7. Die Sünde des Hochmuts tritt manchmal offensichtlicher in dem zutage, was ihr vorausgeht oder nachfolgt, als in dem, worin 151 Vgl. a. 3. 152 Aristoteles, Eth. Nic. V, 1; 1129 b 8–9.

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sie wesentlich besteht. Deswegen hat Gregor der Große seine Liste der Auftretensweisen des Hochmuts im Hinblick auf solche vorhergehenden oder Folgehandlungen aufgestellt, obwohl eigentlich alle Arten von Hochmut wesentlich in einer psychischen Vermessenheit bestehen.

IX. ÜBER DIE EITELKEIT

Die hier behandelten Fragen lauten: 1. Handelt es sich bei der Eitelkeit um eine Sünde? 2. Ist Eitelkeit eine Todsünde? 3. Welche sind die Töchter der Eitelkeit?

1. Artik el 1 Die erste Frage lautet: Handelt es sich bei der Eitelkeit um eine Sünde? Dies scheint nicht der Fall zu sein; denn: 1. Die Eitelkeit besteht doch darin, daß man seine eigenen Vorzüge vor anderen zur Geltung bringen will, was aber keine Sünde, sondern lobenswert ist. In Mt. 5, 16 steht nämlich: »Laßt euer Licht vor allen Menschen leuchten, auf daß sie eure guten Taten sehen mögen«. Daher ist die Eitelkeit keine Sünde. 2. Außerdem besteht das eitle Verlangen darin, daß jemand möchte, daß seine Vorzüge bei anderen Lob finden. Genau das aber wird uns vom Apostel in Röm. 12, 17 ans Herz gelegt: »Zeigt gute Taten nicht nur vor Gott, sondern auch vor allen Menschen«. Also ist Eitelkeit keine Sünde. 3. Jede Sünde besteht in der Fehlleistung eines natürlichen Strebens. Die Eitelkeit strebt aber nach gar nichts, was natürlicherweise angestrebt wird2: Natürlicherweise Strebensgegenstand ist nämlich, daß der Mensch die Wahrheit und sich selbst erkennt. Also ist Eitelkeit keine Sünde. 1 Paralleltexte: Sum. theol. II–II, q. 132, a. 1; Lectura super Galatas c. 5 lect. 7. 2 Das »non«, das einige Handschriften hier haben und das die Editio Leonina in Klammern setzt, ist dem Sinn nach falsch: aliquid quod sit naturaliter appetibile.

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4. In Eph. 5, 1 steht geschrieben: »Ahmt Gott in allem nach als seine geliebten Kinder«. Dadurch aber, daß der Mensch sucht, Ehrbezeugungen zu erfahren, ahmt er doch Gott nach, der von uns Ehrerbietung verlangt. Also ist das Streben nach Ehrerweisen offenkundig keine Sünde. 5. Zu erstreben, was dem Menschen als Lohn ausbezahlt wird, ist keine Sünde. Nun wird dem Menschen jedoch Ruhm als Lohn in Aussicht gestellt, da nämlich in Hiob 22, 29 steht: »Der Erniedrigte wird Ruhm ernten«; und in Spr. 3, 35: »Die Weisen werden Ruhm empfangen«. Also ist das Streben nach Ruhm oder Ehre keine Sünde. 6. Was zu tugendhaftem Tun anregt, ist offenkundig keine Sünde. Das Streben nach Ruhm tut aber genau das. Denn Cicero sagt im 1. Buch seiner Tuskulanen 3: »Alle widmen sich des Ruhmes wegen den Studien«. Also ist das Streben nach Ruhm keine Sünde. 7. Was von Guten und Bösen gleichermaßen angestrebt wird, ist offensichtlich keine Sünde. Doch sagt Sallust in seiner Verschwörung des Catilina: »Der Gute ebenso wie der Schlechte wünscht sich Ruhm, Ehre und Macht«.4 Also ist das Verlangen nach Ruhm keine Sünde. 8. Augustinus zufolge5 entspricht die Eitelkeit dem wohlgefälligen Urteil der Menschen über einen der ihren. Das zu erstreben ist aber keine Sünde, wie er selbst sagt6: »Wer seinen Ruf mißachtet, ist grausam gegen sich«. Also ist Eitelkeit keine Sünde. 9. Was Objekt der Begierde ist, ist selbst keine Sünde, auch wenn die Begierde selbst es sehr wohl ist, wie aus dem Fall von Geld und Geldgier ersichtlich. Eitelkeit aber ist der Gegenstand der Begierde, wie aus dem zu ersehen ist, was in Gal. 5, 26 steht: »Laßt uns nicht nach eitlem Ruhm trachten«. Also ist die Eitelkeit keine Sünde. 10. Sünde und Tugend stehen einander in Bezug auf ein und denselben Gegenstandsbereich entgegen. Die eitle Ruhmsucht steht aber dem wahren Ruhm gar nicht entgegen, da sie sich nämlich offenbar auf selber Grundlage finden lassen. Also ist Eitelkeit keine Sünde. 3 4 5 6

Marcus Tullius Cicero, Tusculanae disputationes I, 24. C. Sallustius Crispus, Bellum Catilinae XI, 2. Vgl. Augustinus, De civ. Dei V, 19, 4 (CCSL 47, 145). Augustinus, Sermo 355, 1, 2 (PL 39, 1569).

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Dagegen spricht: Was den Menschen vom Glauben abhält, durch den sich der Weg zu Gott eröffnet, ist Sünde. Das trifft aber genau auf das Streben nach menschlicher Ehrbezeugung zu, denn in Joh. 5, 44 steht: »Wie vermögt ihr zu glauben, die ihr Ehrbezeugungen voneinander empfangt und nicht nach der Ehre sucht, die allein von Gott kommt?«. Daher ist Eitelkeit eine Sünde. Antwort: Um diese Frage zu klären, ist es geboten, zuerst festzustellen, was Ehre oder Ruhm bedeutet, und anschließend, was eitler Ruhm ist, und so wird drittens zu erschließen sein, auf welche Weise die Eitelkeit eine Sünde darstellt. Dazu ist zu beachten, daß, wie Augustinus in seinem Kommentar zum Johannesevangelium sagt,7 Ruhm (gloria) mit Berühmtheit (claritas) in Verbindung steht, und daß daher im Evangelium ›verherrlicht werden‹ (glorificari) und ›verklärt werden‹ (clarificari) gleichbedeutend verwendet werden.8 Nun schließt Berühmtheit auch immer eine gewisse Offensichtlichkeit mit ein, die dafür verantwortlich ist, daß etwas überhaupt in seinem Glanze bemerkt und gesehen wird. Daher schließt der Ruhm seinerseits eine gewisse Offenlegung von irgendetwas Gutem ein. Wenn sich dabei allerdings etwas Übles bei jemandem offenlegen läßt, spricht man nicht mehr von Ruhm, sondern eher von Schande. Deswegen sagt Ambrosius in seinem Kommentar zum Römerbrief, daß der Ruhm »ein deutliches Bemerktwerden in Verbindung mit Lob« ist.9 Die Untersuchung dessen, was Ruhm bedeutet, geschieht nach dem dreifachen Bedeutungsgrad des Begriffs »Ruhm«. Seinem intensivsten Verständnis zufolge besteht Ruhm darin, daß jemandes Vorzüge der großen Menge offenbar werden. Berühmt nämlich heißen wir, was allen oder vielen klar zutage liegt. Deshalb meint Ci7 Augustinus, In Ioannis Evangelium tract., C, 1 (CCSL 36, 588). 8 Das Wortspiel mit der Lichtmetaphorik von gloria – vanagloria – cla-

ritas – evidentia – splendor – manifestatio kann im Deutschen nicht adäquat nachempfunden werden. 9 Eigentlich Augustinus, Contra Maximinum II, 13, 2 (PL 42, 770).

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cero: »Ruhm ist weite Bekanntheit, die mit Lob einhergeht«.10 Und Livius läßt Fabius mit den Worten auftreten: »Es ist nicht die Zeit für Ruhmestaten, wenn ich nur eine Person um mich habe«.11 Und dennoch spricht man von Ruhm noch in einer zweiten Weise und läßt auch die Bedeutung gelten, wenn jemandes Vorzüge nur wenigen oder sogar bloß einem Menschen offenbar werden. In einer dritten Weise redet man auch dann noch von Ruhm, wenn jemandes Vorzug nur in seiner Eigenbetrachtung besteht, wenn also jemand das eigene Gute unter dem Gesichtspunkt betrachtet, daß es vielen Menschen klar offenliegen und in zutage getretener Klarheit bestaunt werden sollte. Und daher sagt man dann von jemandem, er rühme sich einer Sache, wenn er wünscht oder auch dadurch erfreut wird, daß seine Vorzüge einer Vielzahl oder einigen wenigen offenbar werden, oder sogar nur einer Person – oder bloß sich selbst. Um jedoch zu erfahren, was leerer Ruhm oder eitles Rühmen ist, so muß man wissen, daß man das Wort »eitel« auf dreifache Weise auffassen kann: Manchmal zum Beispiel als angewendet auf etwas, das keine Begründung hat, weshalb Falsches gerne als eitel bezeichnet wird und Ps. 4, 2 sagt: »Warum liebt ihr die Eitelkeit und sucht die Lüge?«. Manchmal jedoch wird das als eitel aufgefaßt, was Dauerhaftigkeit und Festigkeit vermissen läßt, weshalb in Koh. 1, 2 steht: »Alles ist ganz eitel«, was der Vergänglichkeit der Dinge wegen so gesagt wird. Und dann nennen wir es auch eitel oder vergebens, ein angestrebtes Ziel nicht zu erreichen,12 wie etwa wenn man von jemandem sagt, er habe eine Arznei vergebens genommen, weil er davon nicht gesund geworden ist. Weswegen in Jes. 49, 4 steht: »All meine Arbeit war ganz eitel, und ich habe meine Kraft grundlos und ganz vergebens aufgebraucht«. Somit kann nun in dreifacher Hinsicht von der Eitelkeit des Rühmens gesprochen werden: Zunächst natürlich, wenn jemand sich fälschlicherweise rühmt, etwa eines Guts, das er gar nicht besitzt. Weswegen in 1 Kor. 4, 7 gesagt wird: »Was besitzt du, was du nicht empfangen hättest? Wenn du es aber empfangen hast, warum 10 Marcus Tullius Cicero, De inventione II, 55, 166. 11 Titus Livius, Ab urbe condita XXII, 39, 9. 12 Vgl. Aristoteles, Phys. II, 10; 197 b 25–26.

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rühmst du dich seiner, als ob du es nicht empfangen hättest?«. Zweitens sprechen wir in dem Sinne davon, daß sich jemand einer leicht vergänglichen Sache rühmt, wie in Jes. 40, 6 gesagt: »Alles Fleischliche ist wie Gras, und all sein Ruhm wie die Blumen des Feldes«. In einer dritten Weise sprechen wir dann davon, wenn das menschliche Rühmen sich nicht an einem angemessenen Ziel ausrichtet. Es liegt nämlich in der Natur des Menschen, nach Wahrheitserkenntnis zu streben, weil dadurch seine Vernunfttätigkeit ihre Erfüllung findet. Seine eigenen Vorzüge von anderen anerkannt haben zu wollen entspricht jedoch keinem Streben nach Selbsterfüllung. So gesehen ist es eine gewisse Art von Eitelkeit, wenn etwas getan wird, ohne einem Zweck zu dienen. Nun kann sich das Rühmen auch lobenswerterweise auf dreierlei verlegen. Und zwar erstens auf den Ruhm Gottes. Daß Gutes in jemandem offenbar wird, geschieht nämlich zum Ruhme Gottes; denn als erster Urheber von allem Guten ist es ja vor allem sein Gut. Deshalb steht in Mt. 5, 16: »So soll euer Licht scheinen vor allen Menschen, auf daß sie eure guten Taten sehen mögen und euren Vater rühmen, der im Himmel ist«. Zweitens ist das von Nutzen für das Heil der Mitmenschen, die beim Anblick des Guten zur Nachahmung begeistert werden, wie in 1 Kor. 10 [eigentlich: Röm. 15, 2] steht: »Jeder erfreue seinen Nächsten durch Gutes, das ihm zur Erbauung diene«. Zum dritten kann diese Haltung auch zum Nutzen für den Einzelnen selbst ausschlagen, der dadurch, daß er bedenkt, wie das Gute in ihm von anderen Lob empfängt, dafür Dankbarkeit verspürt und bestärkt darin verharrt. Weshalb Paulus wiederholt den Christgläubigen ihre guten Taten in Erinnerung ruft, auf daß sie bestärkt darin fortfahren mögen.13 Daher liegt Eitelkeit also dann vor, wenn jemand eine Zurschaustellung seiner Vorzüge aus anderen als den drei eben genannten Gründen anstrebt oder sich an solch einer Zurschaustellung erfreut. Doch ist es offensichtlich, daß nach jeder ihrer untersuchten Spielarten die Eitelkeit ein Fehlgehen des Strebens miteinschließt, das die Sündhaftigkeit ausmacht. Daher ist Eitelkeit in allen ihren Spielarten eine Sünde. Jedenfalls aber ist sie in der dritten Form am ver13 Zum Beispiel in Röm. 12, 17 und 2 Kor. 8, 21.

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breitetsten, da man sich darin sowohl dessen eitel rühmen kann, was man hat, als auch dessen, was man nicht besitzt, und sowohl geistlicher Güter wie weltlicher. Zu 1. So läßt sich zum ersten Frageeinwand antworten, daß der Herr im dort zitierten Text gebietet, unsere guten Taten anderen zum Ruhme Gottes bekannt zu machen, weshalb auch hinzugefügt geschrieben steht: »… auf daß sie eure guten Taten sehen mögen und euren Vater rühmen, der im Himmel ist«.14 Doch darin ist keine Eitelkeit. Zu 2. Paulus gebietet, daß wir um des Nutzens willen mit Bedacht vor anderen Menschen Gutes zeigen, weshalb weiter dort steht: »Wenn möglich, lebt friedsam mit jedermann, sofern es in eurer Macht steht«.15 Diese Absichtshaltung jedoch läßt jede Eitelkeit außen vor. Zu 3. Alles Vollkommene teilt sich natürlicherweise nach Möglichkeit anderem mit, und dasselbe kommt einem jeden in der Nachahmung des ersten Vollkommenen zu, nämlich Gott, der ja seine Güte allen Dingen zukommen läßt. Nun wird Gutes von einem zu anderen in Anbetracht seines Seins und in Anbetracht seines Wissens mitgeteilt, und daher scheint es zu kommen, daß es zum natürlichen Streben gehört, das Gute, das man hat, anderen bekannt zu machen. Zu 4. Gottes Güte zu erkennen ist der Endzweck für alle vernunftbegabten Geschöpfe, denn darin besteht die Glückseligkeit. Deswegen verweist die Herrlichkeit Gottes nicht mehr weiter auf anderes, sondern es ist vielmehr Gott selbst eigentümlich, daß sie um ihrer selbst willen gesucht wird. Hingegen macht es kein vernünftiges Wesen glückselig, das Gute in einem anderen Geschöpf zu erkennen, weshalb keine geschöpfliche Herrlichkeit um ihrer selbst willen angestrebt werden kann, sondern immer nur um etwas anderes willen. Zu 5. Lohn wird nur für wahren Ruhm in Aussicht gestellt, nicht für eitlen, und nur die Erkenntnis Gottes führt zum wahren Ruhm. Dieser aber ist niemals sündhaft. 14 Mt. 5, 16. 15 Röm. 12, 18.

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Zu 6. Viele Menschen bemühen sich um geistliche Güter, weil sie dazu um weltlicher willen gebracht werden, doch ist es nicht deswegen so, daß das unbändige Verlangen nach irdischen Gütern frei von Laster wäre. Gleichermaßen ist es nicht so, daß, wenn viele um des Ruhms der Tugend willen gute Taten vollbringen, deswegen das unbändige Streben nach Ruhm frei von Lasterhaftigkeit wäre. Denn die tugendhaften Taten werden nicht des Ruhmes wegen vollbracht, sondern um des der Tugend eigenen Guten, oder letztlich vielmehr um Gottes willen. Zu 7. Wie Sallust an der zitierten Stelle hinzufügt: »die Guten suchen den Ruhm auf dem rechten Pfad«,16 das heißt, auf dem der Tugend. Das aber bedeutet nicht, den Ruhm in Nichtigem zu verfolgen, sondern sich rechtens um ihn zu bemühen. Zu 8. Das vorteilhafte Urteil über jemanden ist dann als Eitelkeit anzusehen, wenn es ohne Ansehen des wahren Gewinns angestrebt wird. Zu 9. Insofern Ruhm das bedeutet, was andere über das Gute an uns denken, ist er ein Gegenstand des Verlangens. So aufgefaßt ist er keine Sünde, denn als solchen kann man ihn auf gute oder schlechte Weise verlangen. Anders verhält sich die Sache, wenn der Ruhm im Verlangen selbst liegt: dann nämlich trägt er das Zeichen der Nichtigkeit und der Sündhaftigkeit. Zu 10. Leerer und wahrer Ruhm können zwar im selben Individuum aufreten, aber nicht in gleicher Hinsicht.

2. Artik el 17 Die zweite Frage lautet: Ist Eitelkeit eine Todsünde? Das scheint der Fall zu sein; denn: 1. Nur die Todsünde läßt des ewigen Lohns verlustig gehen. Und die Eitelkeit verursacht genau das. In Mt. 6, 1 steht nämlich: »Hütet euch davor, eure Gerechtigkeit allen Menschen öffentlich zur Schau zu stellen, auf daß ihr von ihnen bestaunt werdet, sonst werdet ihr 16 C. Sallustius Crispus, Bellum Catilinae XI, 2. 17 Paralleltext: Sum. theol. II–II, q. 132 a. 3.

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keinen Lohn empfangen bei eurem Vater, der im Himmel ist«. Also ist Eitelkeit eine Todsünde.18 2. Außerdem sagt Johannes Chrysostomus in Bezugnahme auf dieselbe Stelle, daß die Eitelkeit »sich heimlich einschleicht und unbemerkt alles zunichte macht, was im Innern ist«.19 Doch nur die Todsünde kann innere und geistige Güter zunichte machen, und daher ist Eitelkeit eine Todsünde. 3. In Hiob 31, 26–28 steht: »Ich sah die Sonne, als sie schien und den Mond, als er hell aufging, und im Geheimen freute sich mein Herz, und ich küßte meine Hand mit den Lippen, was eine große Schuld ist«. Und Gregor der Große erklärt im 22. Buch seiner Moralschriften,20 daß hierbei die Eitelkeit gemeint ist. Daher ist Eitelkeit eine äußerst schwerwiegende Todsünde. 4. Hieronymus sagt,21 daß nichts so gefährlich ist wie das Verlangen nach Ruhm, die Sünde der Angeberei und ein Gemüt, das im Wissen um die eigenen Vorzüge ganz aufgebläht ist. Was aber im höchsten Maße gefährlich ist, gilt als tödlich. Also ist die Eitelkeit eine Todsünde. 5. [ Nicht eindeutig überliefert ]22 6. Wer auch immer etwas entwendet, das Gottes Eigen ist, begeht eine vielleicht noch schlimmere Todsünde als wer das Eigentum seines Nächsten stiehlt. Wer sich aber in Eitelkeit selbst rühmt, maßt sich an, was allein Gott gehört, denn in Jes. 42, 8 steht geschrieben: »Ich werde meinen Ruhm nicht an einen anderen vergeben«. Und in 1 Tim. 1, 17: »Gott allein der Ruhm und die Ehre«. Daher scheint Eitelkeit eine Todsünde zu sein. 18 Dasselbe Argument findet sich wortwörtlich bei Thomas, Sum. theol. II–II, q. 132 a. 3 arg. 1. 19 Aus Thomas, Catena Aurea in Matthaeum 6,1; vgl. Johannes Chrysostomos, In Matthaeum, Predigt 19, 1 (PG 57, 273). 20 Gregor der Große, Moralia XXII, 6 (PL 76, 218). 21 Hieronymus, Brief 78, 41 (CSEL 55, 83). 22 Die Herausgeber der Leonina rekonstruieren den handschriftlich nicht wiederherzustellenden Text aus späteren Druckversionen wie folgt: »Jede Hauptsünde ist auch eine Todsünde. Eitelkeit aber zählt zu den Hauptsünden. Daher ist Eitelkeit eine Todsünde«. Vgl. dazu auch unten die Antwort auf 5.

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7. Die Sünde der Götzenverehrung besteht offenbar darin, die Herrlichkeit Gottes einem Geschöpf zuzusprechen, wie in Röm. 1, 23 steht: »Sie haben die Herrlichkeit des unvergänglichen Gottes in ein vergängliches Abbild nach Menschengestalt verkehrt«. Wer jedoch großen Ruhm anstrebt, scheint doch für sich in Anspruch nehmen zu wollen, was Gottes ist, da aller Ruhm im eigentlichen Sinne Gott zu schulden ist, wie oben gesagt«.23 Somit entspricht das eitle sich Rühmen der Götzenverehrung und daraus folgt, daß Eitelkeit eine Todsünde ist. 8. Augustinus sagt im 5. Buch von Die Bürgerschaft Gottes,24 daß es eine Eigentümlichkeit großer Tugendhaftigkeit ist, den Ruhm gering zu achten. Großes Übel aber steht im Gegensatz zu großem Gut. Daher ist die Ruhmsucht eine große Sünde. 9. Eitelkeit will das Wohlgefallen der anderen, denn gemäß Aristoteles ist »der Ruhm etwas, was niemand unbedingt haben wollte, wenn nicht Anwesende dessen inne würden«.25 Das Wohlgefallen anderer zu suchen, ist jedoch eine Todsünde, da es vom Dienst an Christus ausschließt, wie in Gal. 1, 10 steht: »Würde ich immer noch versuchen, den Menschen zu gefallen, wäre ich kein Diener Christi«. Also ist Eitelkeit eine Todsünde. 10. Wie die Form bei den natürlichen Dingen artdefinierend ist, so der Bezugsgegenstand bei den moralischen. Welche Dinge auch immer aber eine gemeinsame natürliche Formgebung teilen, unterscheiden sich nicht der Art nach, also auch im Moralischen nicht diejenigen, die einen Bezugsgegenstand miteinander teilen. Nun unterscheiden sich läßliche Sünden und Todsünden der Art nach. Da aber die Eitelkeit nur einen Bezugsgegenstand hat, kann es nicht so sein, daß die eine Eitelkeit Todsünde ist und die andere Eitelkeit läßlich. Nun ist es aber offensichtlich, daß Eitelkeit in bestimmten Fällen eine Todsünde darstellt. Daher ist jede Eitelkeit eine Todsünde.

23 Vgl. a. 1 arg. 6. 24 Augustinus, De civ. Dei V, 19 (CCSL 47, 155). 25 Aristoteles, Top. III, 3; 118 b 21–22. Thomas folgt der Wiedergabe

des Boethius (ed. Minio Paluello, 57).

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Dagegen spricht: 1. Die Glosse über den Ausspruch bei Mt. 10, 14 »Schüttelt den Staub von euren Füßen« sagt26: »Staub ist die selbsteingenommene Frivolität irdischen Denkens, der sich nicht einmal die besten Gelehrten in ihrem Bemühen um die ihnen Anvertrauten entziehen können«. Was aber selbst die größten Gelehrten nicht vermeiden können, ist eine läßliche Sünde. Also ist die selbsteingenommene Frivolität irdischer Denkwege, wie sie insbesondere die Eitelkeit kennzeichnet, eine läßliche Sünde. 2. Johannes Chrysostomus schreibt in seinem Werk Über das Matthäusevangelium,27 daß, während alle anderen Sünden sich in den Dienern des Teufels finden, die Eitelkeit auch in den Dienern Christi vorzufinden ist. Das aber ist bei Todsünden unmöglich. Also ist die Eitelkeit keine Todsünde. 3. Eine Sünde in Worten und Werken ist schlimmer als eine nur im Herzen begangene.28 Doch ist nicht jede Eitelkeitsäußerung in Wort und Werk eine Sünde. Daher kann man keinesfalls sagen, daß jede Eitelkeit, die im Herzen begangen wird, eine Todsünde sei. Antwort: Die richtige Beantwortung dieser Frage läßt sich aus der vorhergehenden erhellen.29 Dort nämlich wurde ausgeführt, daß man dann von Eitelkeit spricht, wenn sich jemand unwahrer oder vergänglicher Dinge rühmt, oder wenn jemand sein Rühmen nicht an einem angemessenen Ziel ausrichtet. Insofern es die beiden ersten Punkte betrifft, dürfte klar sein, daß hier nicht jede Form von Eitelkeit eine Todsünde ist. Denn niemand würde doch behaupten, daß derjenige eine Todsünde begeht, der sich seiner Sangeskunst rühmt im Glauben, er singe gut, obwohl er eigentlich ein schrecklicher Sänger ist, und genausowenig derjenige, der sich rühmt, im Besitz eines besonders guten Rennpferdes zu 26 Glossa ordinaria in Matthaeum X, 14. 27 Johannes Chrysostomus, Opus imperfectum in Matthaeum (eigent-

lich apokrypher Herkunft), Predigt 13 (PG 56, 704). 28 Vgl. Petrus Lombardus, Sent., d. 42 c. 4 n. 2. 29 Nämlich aus a. 1.

2. Artikel

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sein. Was nun die dritte Art von Eitelkeit betrifft, scheinen durchaus größere Zweifel am Platz zu sein: Denn wenn der Eitelkeitsfaktor darin besteht, daß etwas nicht auf ein angemessenes Ziel hin ausgerichtet ist,30 so ist der menschliche Ruhm dann nicht eitel, wenn er sich an Gott ausrichtet, oder er endet in Todsünde, wenn er sich nicht an Gott als seinem Ziel ausrichtet, sondern selbst als Ziel aller Absicht angesetzt wird. Dann nämlich würde man sich an etwas Geschaffenem als Letztziel erfreuen, was nie ohne Sünde geschieht.31 Deswegen sollte man bedenken, daß es auf zweierlei Weise geschehen kann, daß eine Handlung nicht auf Gott als ihr Ziel ausgerichtet ist: Einerseits in Anbetracht der Handlung selbst, dadurch nämlich, daß sie selbst keine Zielausrichtung hat, und so eine ausrichtungslose Handlung kann nie auf das Letztziel bezogen sein, sei nun die entsprechende Sünde läßlich oder eine Todsünde. Denn eine ausrichtungsfreie Handlung ist kein angemessenes Mittel, um einen guten Zweck zu erreichen, genauso wenig wie eine falsche Voraussetzung ein gutes Mittel ist, wahres Wissen zu erlangen. Andererseits kann dasselbe in Anbetracht der handelnden Person bedacht werden, und zwar derjenigen, deren Geist sich nicht auf das angemessene Ziel verlegt, sei es im Vollzug der Handlung oder als Grundhaltung. Daraus nämlich ergibt sich, daß die Handlung, die aus diesem Geiste vollführt wird, auf etwas anderes ausgerichtet ist als auf den Endzweck aller Dinge, und dann ist es so, daß jede menschliche Handlung ohne Ausrichtung auf Gott als ihr Endziel eine Todsünde ist. Ich spreche hier wohlgemerkt von dem Fall, daß der menschliche Geist tatsächlich oder im Sinne einer Grundhaltung nicht auf Gott ausgerichtet ist: Denn es geschieht durchaus manchmal, daß der Mensch eine Handlung nicht tatsächlich auf Gott hin ausrichtet, obwohl diese Handlung von sich aus keinerlei innere Fehlerhaftigkeit aufweist, derentwegen sie nicht auf Gott hin ausgerichtet sein könnte. Und dennoch: Weil der menschliche Geist in der Grundanlage seine Ausrichtung auf Gott als sein letztes Ziel hat, ist diese Handlung dann nicht nur keine Sünde, sondern sogar verdienstreich. 30 Vgl. Aristoteles, Phys. II, 10; 197 b 25–26. 31 Vgl. Augustinus, De div. quaest., 30 (CCSL 44 A, 38).

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Und somit ist festzuhalten, daß, wenn das Ruhmesstreben eitel genannt wird, weil es aus dem Grund, daß sich der menschliche Geist im Rühmen Gott weder im Tatvollzug noch gewohnheitsmäßig zukehrt, nicht auf Gott als Ziel ausgerichtet ist, Eitelkeit immer eine Todsünde darstellt. Denn dann tritt der Fall ein, daß sich der Mensch, statt sich auf Gott als Endziel auszurichten, tatsächlich oder im Sinne einer Grundhaltung eines erschaffenen Dinges rühmt. Wenn das Ruhmesstreben allerdings deswegen als eitel gilt, weil es als Handlung selbst nicht auf Gott als Letztziel gerichtet ist, wenn also die Handlung keinen Zielbezug haben kann, weil sie kein Richtmaß hat, ist die Eitelkeit nicht immer eine Todsünde, da jede Richtungslosigkeit im Rühmen eine Ausrichtung auf Gott verunmöglicht. So etwa, wenn sich jemand dessen rühmt, wessen er sich nicht rühmen sollte, oder über das rechte Maß hinaus, oder beim Rühmen irgendeinen anderen zu beobachtenden Umstand außer Acht läßt; von einer Todsünde läßt sich aber nicht unbedingt sprechen, wenn solche Umstände mißachtet werden, sondern nur dann, wenn die Handlung in ihrer Abirrung gegen das Gebot Gottes gerichtet ist. Damit ist festzuhalten, daß die Sünde der Eitelkeit nicht immer eine Todsünde darstellt. Zu 1. Daher ist zum ersten Frageeinwand zu sagen, daß der Herr hier davon spricht, daß jemand gerechte Werke um des menschlichen Ruhmes als eines letzten Zieles willen vollführt: in diesem Fall nämlich ist Eitelkeit eine Todsünde und bringt den Sünder um den ewigen Lohn. Eigentlich kann man auch sagen, daß die Eitelkeit als läßliche Sünde um den ewigen Lohn bringt, wenn auch nicht einfachhin, sondern in Beziehung zu einer bestimmten Handlung gesetzt, und zwar wenn die Eitelkeit dafür verantwortlich ist, daß die Handlung, die sie hervorbringt, deswegen nicht den ewigen Lohn empfangen kann, wie es eben der Fall bei läßlichen Sünden ist. Dennoch ist es nicht so, daß die Eitelkeit als läßliche Sünde den Menschen schlechthin um den Lohn des ewigen Lebens bringt. Zu 2. Die Eitelkeit macht die inneren Werte des Menschen auf zweierlei Weise zunichte: Einmal in Anbetracht der Handlungen, die aus ihnen hervorgehen, und durch die man das ewige Leben nicht als Lohn empfangen wird, wenn sie aus Eitelkeit verrichtet

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werden, selbst wenn die Eitelkeit hier eine läßliche Sünde wäre. Und dann in Anbetracht der inneren Haltung selbst, insofern die Eitelkeit den Menschen seiner inneren Kraft und Werte beraubt, was sie aber nur dann zustande bringt, wenn sie eine Todsünde darstellt. Zu 3. Die Berechtigung dieses dritten Arguments hängt von einer Auffassung von Eitelkeit ab, in der diese den Menschen sich seiner Vorzüge in sich selbst zu rühmen verleitet, ohne sie im Einzelfall oder als Grundhaltung für gottverdankt zu halten, also von Eitelkeit als Todsünde. Zu 4. Als gefährlich bezeichnet man das, was leicht auch zum Tod führen kann, und das tut die Eitelkeit, indem sie dem Menschen falsches Selbstvertrauen einflößt. Daher spricht man von Eitelkeit nicht so sehr ihrer eigenen Schwere wegen als einer höchst gefährlichen Sünde, als vielmehr deswegen, weil sie zu schwerer Sünde bereit macht. Zu 5. Man soll sich nicht in der Meinung täuschen, daß alle sogenannten Hauptsünden allein dieser Zuweisung wegen auch Todsünden sind. Denn daraus würde folgen, daß jede aus Völlerei oder Zorn begangene Sünde eine Todsünde ist, was offensichtlich falsch ist. Und genausowenig ist es richtig zu sagen, jede Eitelkeit sei Todsünde, obgleich die Eitelkeit eines der Hauptlaster darstellt. Da aber das als Hauptlaster bezeichnet wird, woraus andere Sünden entstehen, seien diese nun Todsünden oder läßlich, kann man sagen, daß jede Sünde, die in dieser Weise als hauptursächlich verantwortlich für andere Todsünden ist, selbst eine Todsünde darstellt. Das gilt für den Fall, daß man als Hauptsünde eine solche versteht, aus der eine andere hervorgeht, der sie als Absichtsziel dient. Denn es ist offensichtlich, daß jeder, der so sehr im Bann einer Sünde steht, daß er bereit wäre, um ihrer Erfüllung willen eine Todsünde zu begehen, auch in ihrer Erfüllung eine Todsünde begeht. Also wäre etwa für denjenigen, der so sehr von den Freuden des Gaumens im Bann gehalten wird, daß er derentwegen auch Todsünden begehen würde, die Völlerei selbst eine Todsünde. Und gleicherweise ist die Eitelkeit eine Todsünde, wenn jemand aus Eitelkeit eine Todsünde begeht. Zu 6. Wie in einem Königreich dem König auf eine Weise Ehre und Ruhmesbezeugung geschuldet wird, und in einer anderen Weise den Heerführern oder Militärs, so auch im Weltganzen: Ge-

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wisse Ehr- und Ruhmesbezeugungen werden Gott allein geschuldet, und wenn sonst jemand sie sich anmaßen wollte, so würde er für sich beanspruchen, was Gottes ist, genauso wie wenn in irgendeinem Königreich ein einfacher Soldat nach dem Ruhm strebte, der nur einem König zusteht und somit königliche Würden für sich in Anspruch nähme. Doch nicht jeder, der in solch eitler Weise ruhmsüchtig ist, strebt nach Ehre und Ruhm wie sie allein Gott geschuldet werden, sondern wie man sie Menschen gewisser großer Vorzüge wegen entgegenbringt. Dennoch versündigt man sich darin manchmal gegen Gott, wenn man diese Ruhmesbezeugung nämlich nicht an eine angemessene Zielsetzung rückbindet. Und so kommt es, daß man, ohne sich Gott in Ehren der Sache nach gleichzustellen, es doch durch die Art und Weise tut, in der man sie sich zu eigen macht. Denn für Gott allein trifft es zu, daß sein Ruhm nicht noch einem weiteren Ziele dienen muß. Zu 7. Wer auch immer sich göttliche Würden und Ehren anmaßen würde, wie viele Tyrannen es gemacht haben sollen,32 der würde in der Tat dem Götzendienst frönen; doch nicht alle, die sich eitel rühmen, maßen sich auf diese Weise göttliche Ehren an, und daher sind sie nicht alle Götzendiener. Zu 8. Geringere Sünden zu vermeiden trägt zur Fülle der Tugendhaftigkeit bei, wie aus dem Herrenwort in Mt. 5, 21 f. hervorgeht, daß die größere Tugendfülle in der Gerechtigkeit liegt, die nicht nur Mord, sondern auch Zorn vermeidet, als in der des Alten Gesetzes, die schlicht den Mord verbietet. Daher läßt sich daraus, daß die Geringschätzung der Eitelkeit von großer Tugendhaftigkeit zeugt, noch nicht ableiten, daß die Eitelkeit eine große Sünde ist. Zu 9. Anderen Menschen zu gefallen kann man auf gute oder schlechte Weise wünschen. Wollte nämlich jemand das Gefallen der Menschen derart suchen, daß er sie dadurch zum Guten inspirierte, so ist das tugendsam und lobenswert, und deswegen sagt Paulus auch in 1 Kor. 10, 33 [sowie in Röm. 15, 2]: »Jeder sei seinem Nächsten zu Diensten für Gutes zur Erbauung, wie auch ich es allen in allem bin«. Aber die Sünde der Eitelkeit besteht darin, den Menschen allein irdischen Ruhmes wegen zu Gefallen sein zu wollen. Das ist 32 Vgl. z. B. Suetonius, De vita Caesarum IV, 22.

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manchmal eine Todsünde, und zwar wenn jemand der Ansicht ist, der Zweck seiner Handlung liege im Gefallen der Menschen und dieses dabei höher schätzt als Gottes Gebote zu befolgen, womit er sich von der Gottesgefolgschaft ausschließt. Manchmal ist es aber auch eine läßliche Sünde, wenn jemand übersteigerte Freude am Gefallen der anderen Menschen findet, jedoch ohne gegen Gott zu sein, sondern Gott untertan. Zu 10. In Dingen der Moral ist der Bezugsgegenstand nicht aufgrund seiner materialen, sondern aufgrund seiner formalen Verfassung artdefinierend. Ob die Eitelkeit eine läßliche oder eine Todsünde ist, liegt in der Unterscheidung ihres Bezugsgegenstands in seiner formalen Verfaßtheit, das heißt in der Verschiedenheit der Zwecke und Mittel, die Zwecke zu verfolgen. Denn eine Todsünde liegt vor, wenn der Zweck ins Gefallen der Menschen verlegt ist, und eine läßliche Sünde, wenn nicht.

3. Artik el 33 Die dritte Frage stellt sich nach den Töchtern der Eitelkeit, als da sind: Ungehorsam, Prahlerei, Heuchelei, Streitsucht, Eigensinn, Zwietracht und Anmaßung von Unerhörtem.34 Es scheint so zu sein, als würden diese fälschlich dafür gehalten; denn: 1. Alle diese Dinge machen doch den Eindruck, als gehörten sie zum Hochmut, dessen Tochter auch die Eitelkeit selbst ist. Alle Lasterhaftigkeiten dieser Art sollten also nicht für Töchter der Eitelkeit gehalten werden, sondern zusammen mit der Eitelkeit für Töchter des Hochmuts. 33 Paralleltexte: Sum. theol. II–II, q. 21 a. 4; q. 37 a. 2; q. 38 a. 2; q. 132

a. 5. 34 Die praesumptio novitatum hat keine eigentliche modernsprachliche Entsprechung. Einige englische Übersetzungen haben »eccentricity«, was aber das Gemeinte sicherlich nur entfernt trifft. Da praesumptio in der kirchlichen Literatur auch gerne als Nahbegriff zu superbia gebraucht wird, sei hier die Wiedergabe mit »Anmaßung von Unerhörtem« versucht.

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2. Man soll eine allgemeine Sündhaftigkeit nicht von einer anderen Sünde herleiten. Ungehorsam aber ist eine allgemein sündhafte Einstellung, sagt doch auch Ambrosius, die Sünde sei »eine Gesetzesüberschreitung und Ungehorsam gegen Himmelsgebote«.35 Daher darf man den Ungehorsam nicht für eine Tochter der Eitelkeit halten. 3. Prahlerei ist die dritte Art von Hochmut, wie aus dem oben Gesagten hervorgeht.36 Wenn also die Prahlerei eine Tochter der Eitelkeit wäre, dann auch der Hochmut. Was aber offensichtlich falsch ist, weil der Hochmut die Mutter aller Sünden ist, wie Gregor der Große im 31. Buch der Moralschriften sagt.37 4. Streitereien und Zwietracht scheinen doch am ehesten dem Zorn zu entstammen. Zorn läßt sich aber als Todsünde von Eitelkeit abgrenzend unterscheiden. Daher soll man Streit und Zwietracht nicht für Töchter der Eitelkeit ansehen. Dagegen spricht: Die Autorität Gregors, der im 31. Buch seiner Moralschriften 38 genau diese genannten als Töchter der Eitelkeit anführt. Antwort: Man nennt ein Laster aus derselben Überlegung heraus Haupt oder Mutter anderer Laster: daß nämlich weitere Laster aus ihm entstehen, indem sie sich an ihm ausrichten. Das nämlich entspricht unserem Verständnis von Haupt, sofern das Haupt beherrschende Gewalt über alles unter ihm Befindliche innehat und wir den Sinn jeder Herrschaft nur von ihrem Ziel her begreifen. Es entspricht aber auch unserem Verständnis von Mutter, da eine Mutter in ihrem Innern mit ihrem Nachwuchs schwanger geht. Und so wird ein Laster die Mutter jener anderen Laster genannt, wenn sie mit den Gedanken an seine Zielsetzung schwanger gehen und somit letztlich aus ihm hervorgehen.39 35 36 37 38 39

Ambrosius, De paradiso 8 (CSEL 32, 1, 296). Vgl. q. 8 a. 4 arg. 1. Gregor der Große, Moralia XXXI, 45, 87 (PL 76, 620 D). Gregor der Große, Moralia XXXI, 45, 88 (PL 76, 621 A). Was die (etwas angestrengte) Etymologisierung mit conceptio ver-

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Daher also, weil der eigentümliche Zweck der Eitelkeit in der Zurschaustellung der eigenen Vorzüge liegt, werden jene Laster als Töchter der Eitelkeit bezeichnet, die dem Menschen in seinem Bestreben, die eigenen Vorzüge sehen zu lassen, dienlich sind. Und das auf zweierlei Weise: unmittelbar, aber auch mittelbar. Unmittelbar etwa mit Worten, und das ist der Fall bei der Prahlerei. Sodann auch durch wahre Tatbestände, die Bewunderung hervorrufen, und das ist die Anmaßung von Unerhörtem – denn was an solchem geschieht, wird für gewöhnlich sehr von den Leuten angestaunt. Oder auch durch nur ausgedachte Taten, und das ist die Heuchelei. Eine mittelbare Zurschaustellung eigener Vorzüge liegt hingegen dann vor, wenn jemand sich zu zeigen bemüht, im Vergleich zu anderen nicht schlechter zu sein. Und das in vier Hinsichten: Einmal bezüglich des Denkvermögens, und dann ist es Eigensinn, aufgrund dessen ein Mensch sich einem besseren Urteil verschließt, um auf seinem eigenen zu beharren; zweitens hinsichtlich des Willens, was der Zwietracht entspricht, wenn nämlich der Mensch seinen eigenen Willen nicht mit dem besserer in Übereinstimmung bringt; drittens hinsichtlich des Gesprochenen, dann ist es Streitsucht und besteht darin, daß jemand nicht mit Worten von jemand anderem übertroffen werden will; und viertens hinsichtlich des Getanen, und zwar wenn jemand das, was er tut, nicht der Weisung eines Vorgesetzten unterstellen will. Zu 1. Im allgemeinen wird – wie oben gesagt40 – der Hochmut als Mutter aller Laster betrachtet. Unter ihm werden sieben Hauptsünden aufgezählt, von denen die Eitelkeit ihm am nächsten steht. Denn die Vortrefflichkeit, die der Hochmut erstrebt, versucht die Eitelkeit zur Schau zu stellen und möchte daraus eine gewisse eigene Vortrefflichkeit erlangen. Daraus wiederum ergibt sich, daß alle Töchter der Eitelkeit eine gewisse Verwandtschaft mit dem Hochmut haben. Zu 2. Ungehorsam wird als Tochter der Eitelkeit angesehen, insofern er eine besondere Sünde darstellt, denn dann ist er nichts weiter sucht, läßt sich im Deutschen am besten mit dieser zeugmatischen Karikatur einer Wortherkunft wiedergeben. 40 Vgl. das Gregorzitat von Argument 3.

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als die Mißachtung einer Vorschrift. Insofern Ungehorsam jedoch eine allgemein sündhafte Haltung darstellt, bedeutet er, daß man sich ganz und gar Gottes Geboten entzieht, was manchmal nicht aus offener Mißachtung, sondern aus Schwäche oder Unwissenheit geschehen kann, wie Augustinus in seinem Buch Über Natur und Gnade schreibt.41 Zu 3. Prahlerei wird hinsichtlich der Gemütsbewegung, mit der jemand über sein Maß hinaus Vortrefflichkeit sucht, als eine Art von Hochmut bezeichnet, wie oben gesagt.42 Hinsichtlich der äußeren Handlung jedoch, mit der jemand seine Vorzüglichkeit in Worten hervorkehrt, gehört Prahlerei zur Eitelkeit. Zu 4. Streitlust und Zwietracht entstehen nie aus Zorn, es sei denn, daß auch Eitelkeit mit im Spiel ist, wenn also jemand nicht geringer als jemand anders erscheinen will und dabei seinen Willen nicht dem eines anderen unterstellen will oder es nicht duldet, daß seine Worte von geringerem Wert als die eines anderen erscheinen.

41 Augustinus, De natura et gratia 29 (CSEL 60, 257). 42 Vgl. q. 8 a. 4.

X. ÜBER DEN NEID

Die hier behandelten Fragen lauten: 1. Ist Neid eine Sünde? 2. Ist Neid eine Todsünde? 3. Stellt Neid eines der hauptsächlichen Laster dar?

1. Artik el 1 Die erste Frage lautet: Ist Neid eine Sünde? Das scheint nicht der Fall zu sein; denn: 1. Wie Aristoteles im 2. Buch der Nikomachischen Ethik sagt2: Für Leidenschaften bekommt man weder Lob noch Vorwürfe. Nun ist aber der Neid eine Leidenschaft. Denn Johannes Damascenus sagt im 2. Buch (seines Werks Über den Glauben),3 daß »Neid der Kummer über das Wohl anderer ist«. Daher kann man niemandem seines Neides wegen einen Vorwurf machen. – Den man jedoch jedem bei jeder Sünde machen kann. Also ist Neid keine Sünde. 2. Was nicht willentlich vollführt wird, ist auch keine Sünde, wie Augustinus sagt.4 Da aber Neid eine Bekümmerung darstellt, ist er nichts willentlich Vollführtes, denn wie Augustinus im 14. Buch von Die Bürgerschaft Gottes sagt, »Kummer betrifft solche Dinge, die uns ohne unser willentliches Zutun befallen«.5 Also ist Neid keine Sünde. 3. Da das Übel dem Guten entgegengesetzt ist, kann das Gute nicht zur Sünde bewegen, die ein Übel ist, denn kein Gegensatz bewegt zum ihm Entgegengesetzten.6 Der Beweggrund für den Neid 1 2 3 4 5 6

Paralleltext: Sum. theol. II–II, q. 36 a. 2. Aristoteles, Eth. Nic. II, 5; 1105 b 31–32. Johannes Damascenus, De fide 2, 14 (ed. Buytaert, 121). Augustinus, De vera rel. 14, 27 (CCSL 32, 204). Augustinus, De civ. Dei XIV, 6 (CCSL 48, 421). Vgl. Petrus Hispanus, Summulae logicales 7, 66 (ed. de Rijk, 121).

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aber ist Gutes, denn Remigius sagt,7 Neid sei Schmerzempfinden über fremdes Gut. Also ist Neid keine Sünde. 4. Augustinus sagt im 14. Buch von Die Bürgerschaft Gottes,8 daß in jeder Sünde eine verkehrte Hinwendung zu einem vorübergehenden Gut vorliegt. Der Neid aber stellt keine Hinwendung zu einem vorübergehenden Guten dar, sondern eher eine Abkehr davon, da er doch ein Kummer über fremdes Gut ist. Also ist Neid keine Sünde. 5. In seinem Buch Über die Willensfreiheit sagt Augustinus,9 daß jede Sünde aus Wollust entsteht. Der Neid als Kummer tut das aber nicht, da Wollust das Streben nach Vergnügen ist. Also ist der Neid keine Sünde. 6. Was unmöglich der Fall sein kann, kann auch keine Sünde sein. Nun scheint es aber unmöglich zu sein, jemanden zu beneiden: Da nämlich das Gute das ist, wonach alles strebt,10 kann sich niemand über das Gute grämen, was ja neidisch sein bedeutet. Also kann Neid keine Sünde sein. 7. Jede Sünde besteht in einer Handlung. Doch insofern der Neid in einem Kummer besteht, beeinträchtigt er das Handeln, das doch um einer Ergötzung willen vollführt wird. Der Neid beeinträchtigt also das Sündigen und ist mithin selbst keine Sünde. 8. Moralischer Handlungsvollzug wird je nach dem formalen Bestimmungsgrund seines Ausrichtungsgegenstands gut oder schlecht genannt. Der Ausrichtungsgegenstand des Neids ist das Gute, wie bereits gesagt.11 Denn, wie schon oben bemerkt,12 Neid heißt soviel wie Gram über fremdes Gut. Daher ist der Neid im Vollzug etwas Gutes. Und also keine Sünde. 9. Man unterscheidet das Übel der Strafe vom Übel der Schuld, wie aus den Ausführungen des Augustinus im 1. Buch von Über 7 Ein Quellennachweis fehlt. Mögliche Belegstellen (bei anderen Autoren) sind Nemesius, De natura hominis 19 (ed. Verbeke, 10), und Johannes Damascenus, De fide 2, 14 (ed. Buytaert, 121). 8 Augustinus, De civ. Dei XIV, 13, 1 (CCSL 48, 434). 9 Augustinus, De lib. arb. I, 3, 8 (CCSL 29, 215). 10 Vgl. Aristoteles, Eth. Nic. I, 1; 1094 a 2–3. 11 Vgl. arg. 3. 12 Vgl. arg. 3.

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die Willensfreiheit 13 hervorgeht. Neid aber ist gewissermaßen ein strafendes Übel, und so sagt auch Isidor von Sevilla in seinem Buch Über das höchste Gute, daß »Groll, das heißt Neid, seinen Urheber bestraft«.14 Also ist Neid nicht schuldhaft. 10. Augustinus sagt im 14. Buch von Die Bürgerschaft Gottes,15 daß jede Sünde fehlgeleiteter Liebe entspricht. Neid aber ist keine fehlgeleitete Liebe, denn Liebe verursacht Freude über das Wohl von Freunden und Kummer über ihr Wehe. Also ist Neid keine Sünde. 11. Es scheint schlimmer zu sein, jemanden um seine geistigen Güter zu beneiden, als um seine körperlichen. Der Neid um geistige Vorzüge ist aber keine Sünde, denn Hieronymus schreibt an Leta bezüglich der Erziehung ihrer Tochter: »Laß sie Gefährtinnen haben, die mit ihr lernen, die sie beneiden möge und durch deren Lob sie angespornt werde«.16 Also ist Neid keine Sünde. Dagegen spricht: In Dingen der Moral sind Extreme fehler- oder lasterhaft. Und Neid ist ein moralisches Extrem, wie aus dem 2. Buch der Nikomachischen Ethik hervorgeht.17 Also ist Neid eine Sünde. Antwort: Neid ist gattungsgemäß eine Sünde. Da das moralische Handeln seine Artbestimmung oder Gattungszuweisung von seinem Ausrichtungsgegenstand her empfängt, kann man erkennen, ob ein moralisch bewertbares Handeln gattungsgemäß übel ist, wenn die Handlung selbst nicht richtigerweise mit ihrem Bearbeitungs- oder Ausrichtungsgegenstand übereinstimmt. Und man sollte bedenken, daß gut und böse den Ausrichtungsgegenstand der Willenskraft darstellen, vergleichbar mit wahr und falsch beim Denkvermögen. Alle Vollzüge der Willenskraft lassen sich auf zwei Grundausrich13 Augustinus, De lib. arb. I, 1, 1 (CCSL 29, 211). 14 Isidor von Sevilla, De summo bono (= Sententiae) III, 25, 1 (PL 83,

700 A). 15 Augustinus, De civ. Dei XIV, 7, 2 (CCSL 48, 422). 16 Hieronymus, Brief 107, 4 (CSEL 55, 294). 17 Aristoteles, Eth. Nic. II, 9; 1108 b 4–5.

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tungen zurückführen, nämlich den Drang zu etwas hin und den Drang weg von etwas, und auch das ist vergleichbar den Vollzügen des Denkvermögens in seiner Bezugnahme bejahender oder verneinender Art zu etwas. Das heißt, daß der Drang zu etwas im Willen der Bejahung im Denken entspricht und der willentliche Drang fort von etwas der bedenkenden Verneinung, wie Aristoteles im 6. Buch der Nikomachischen Ethik sagt.18 Das Gute nun hat es an sich, Anziehung zu bewirken, da alles nach dem Guten strebt, wie im 1. Buch der Nikomachischen Ethik steht,19 und umgekehrt hat es das Üble an sich, Abstoßung zu bewirken, da es mit dem Willen und dem vorsätzlichen Streben unverträglich ist, wie Dionysius Areopagita im 4. Kapitel von Über die göttlichen Namen sagt.20 Daher also stimmt jeder willentliche Handlungsvollzug im Sinne eines Dranges nach etwas dann nicht mit seinem Bearbeitungs- oder Ausrichtungsgegenstand überein, wenn sein Gegenstand übel ist. Alle derartigen Handlungen, wie die aus Liebe zum Bösen oder aus Freude darüber, sind somit gattungsgemäß schlecht, ähnlich wie es ein Fehlverhalten des Denkvermögens ist, Falsches zu behaupten. Ähnlich stimmt auch jede Handlung im Sinne eines Dranges weg von etwas dann nicht angemessen mit ihrem Bearbeitungs- oder Ausrichtungsgegenstand überein, wenn der Gegenstand gut ist. Alle derartigen Handlungen, wie die aus Haß und Abneigung gegen das Gute und aus Gram darüber, sind gattungsgemäß Sünde, da es ja auch ein Fehlverhalten im Denken ist, die Wahrheit zu verneinen. Dafür nun, daß eine Handlung gut ist, genügt es aber noch nicht, daß sie einen Drang zum Guten und weg vom Bösen einschließt, es sei denn, es handelt sich um einen Drang zum angemessenen Guten und weg vom ihm entgegengesetzten Übel. Denn es bedarf um so vieles mehr, um Gutes aus seiner vollkommenen und vollständigen Ursache zustandekommen zu lassen, als das Böse, das aus einzelnen Defekten entsteht, wie Dionysius im 4. Kapitel von Über die göttlichen Namen sagt.21 Neid aber hat den Kummer über Gutes zum 18 19 20 21

Aristoteles, Eth. Nic. VI, 2; 1139 a 21–22. Aristoteles, Eth. Nic. I, 1; 1094 a 2–3. Dionysius Areopagita, De div. nom. IV, 32 (Dion. I, 306). Dionysius Areopagita, De div. nom. IV, 30 (Dion. I, 298).

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Inhalt, und daraus ist zu ersehen, daß der Neid aus seiner Gattungszuordnung heraus eine Sünde ist. Zu 1. Zum ersten ist also zu erwidern: Weil Leidenschaft eine innere Bewegung des sinnlichen Strebens ist, wie Johannes Damascenus im 2. Buch (von Über den Glauben) sagt,22 kann Leidenschaft für sich betrachtet weder eine Tugend noch ein Laster sein noch auch etwas Löbliches oder Verwerfliches, denn all das ist Sache der Vernunft. Doch insofern das sinnliche Streben in gewisser Weise darin vernunftzugehörig ist, daß es der Vernunft gehorchen kann, können auch die Leidenschaften selbst löblich oder verwerflich sein, soweit sie kanalisiert oder gezügelt werden können. Weshalb Aristoteles an der zitierten Stelle sagt,23 daß man niemanden lobt oder tadelt, weil er einfachhin zornig wird, sondern wenn er auf irgendeine bestimmbare Weise in Zorn gerät, das heißt gemäß vernünftig nachvollziehbarer Gründe oder ohne sie. Zu 2. Die zur Stützung des zweiten Arguments angeführte Autorität behauptet nicht, daß Kummer als innere Bewegung unwillentlich ist, sondern daß ihr Bezugsgegenstand auf irgendeine Weise willensfrei ist. Doch nichts spricht dagegen, daß eine willentliche Handlung, auch wenn sie auf etwas Unwillentliches ausgerichtet ist, als gut oder schlecht gewertet wird, insofern man nämlich etwas Unwillentliches gut oder schlecht verrichten kann. Zu 3. Gutes als solches führt immer zum Guten. Doch kann es durchaus geschehen, daß jemand aus einer schlechten Gesinnung oder Gefühlslage heraus zum Übel des Neids verleitet wird, genauso wie es geschehen kann, daß jemandem gesunde Nahrung schadet, wenn er in schlechter körperlicher Verfassung ist. Zu 4. Übel bedeutet soviel wie Fehlen von Gutem, wie Aristoteles im 5. Buch der Nikomachischen Ethik schreibt.24 Und so ist die Abkehr vom Guten aus Gram darüber gleichbedeutend mit der Hinkehr zum Bösen, das im Gefolge der verkehrten Liebe zu einem vergänglichen Gut einhergeht. 22 Johannes Damascenus, De fide 2, 22 (ed. Buytaert, 132). 23 Aristoteles, Eth. Nic. II, 5; 1105 b 33 – 1106 a 1. 24 Aristoteles, Eth. Nic. V, 1; 1129 b 8–9.

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Zu 5. Genauso wie das Gute natürlicherweise dem Übel gegenüber vorrangig ist, das nämlich seine Beraubung darstellt, sind auch die Gefühlsregungen in der Seele, deren Ausrichtungsgegenstand das Gute ist, natürlicherweise jenen vorrangig, deren Ausrichtungsgegenstand das Üble ist, und deshalb gehen die letzteren aus den ersteren hervor. Und so entstehen Haß und Gram aus Liebe, aus einem Begehren oder Vergnügen, und demgemäß auch Neid aus einer Begierde. Zu 6. Gutes als Gutes genommen kann niemandem Kummer verursachen, doch wenn man Gutes so auffaßt, als sei es ein wirkliches oder eingebildetes Übel, kann es sehr wohl bekümmern. So gesehen ist Neid der Kummer über das Gut anderer, und zwar insofern es ein Hindernis der Auffassung von der eigenen Vortrefflichkeit darstellt. Zu 7. Wie Vergnügen das eigene Tun zur Erfüllung bringt, so verhindert es auch die Einmischung durch anderes Tun, wie Aristoteles im 10. Buch der Nikomachischen Ethik sagt.25 Zum Beispiel: Wer am Wissensgewinn Freude hat, lernt hingebungsvoller und kümmert sich weniger um anderes. Daher verhindert der Kummer um das Gut des Nächsten Handlungen, die diesem zum Guten gereichen, und bewegen im Gegenteil zu Handlungen, durch die das Wohl des Nächsten behindert wird. Zu 8. In der Liebe zum Guten gibt es keine Sünde, es sei denn, das, was geliebt wird, ist nicht wirklich Gutes, sondern Übles, auch wenn es als Gutes aufgefaßt wird. Ebenso beim Grämen über das Gute, das als Übel aufgefaßt wird, obwohl es nichts wirklich Übles ist, sondern nur als Übel erscheint: Das Grämen ist nichtsdestotrotz etwas Schlechtes, weil es nicht mit seinem Ausrichtungsgegenstand in Übereinstimmung ist, der doch in Wirklichkeit ein Gut ist. Denn das moralische Handeln erhält seine Beurteilung als gutes von seinem Ausrichtungsgegenstand und insofern es sich in Übereinstimmung mit ihm befindet. Zu 9. Bestimmte Strafen stehen in Folgeverbindung mit bestimmten Sünden, und dann ist ein und dasselbe eine Sünde und eine Strafe in je verschiedener Hinsicht: und zwar eine Sünde, in25 Aristoteles, Eth. Nic. X, 5; 1175 a 29 – b 24.

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sofern es aus dem fehlgeleiteten Willen eines Menschen hervorgeht, und somit nicht aus Gott, eine Strafe hingegen, insofern es eine gewisse strafende Betrübnis zur Folge hat, und dafür ist Gott verantwortlich, wie der Psalm 50, 21 sagt: »Ich werde dich tadeln und dir Vorhaltungen machen«; sowie Augustinus im 1. Buch der Bekenntnisse : »Du hast es so verfügt, o Herr, und so kommt es, daß jede verfehlte Gesinnung ihre eigene Strafe ist«.26 Und in diesem Sinne kann Neid sowohl Sünde wie Strafe sein. Zu 10. Jede Sünde ist schlechtgeratene Liebe der Ursache nach, nicht dem Wesen nach. Denn jede Bewegung in der Seele, einschließlich des Kummers, kommt aus Liebe, wie Augustinus im dort zitierten Werk sagt.27 Zu 11. Wo Aristoteles im 2. Buch der Rhetorik eine Unterscheidung zwischen Ereiferung und Neid trifft, sagt er, daß der Eifer für Gutes tugendhaft ist, »neidisch zu sein jedoch ist schlecht und die Eigenschaft schlechter Menschen«.28 Denn wer eifersüchtig ist, bemüht sich im Verlangen darüber, genauso gut zu sein wie andere, darum, Gutes zu erhalten, den Neidvollen hingegen bringt der Neid dazu, sich darum zu bemühen, daß der Nächste es nicht habe. Der Neid nämlich stellt eine Betrübnis darüber dar, daß der Nächste Güter besitzt, die man selbst nicht hat, Eifersucht aber bedeutet Kummer darüber, daß man selbst Güter nicht besitzt, die der Nächste hat. Hieronymus nun hat an der im Verlauf des genannten Arguments als autoritativ angeführten Stelle29 den Neid als Eifersucht interpretiert: Denn es ist lobenswert, daß jemand sich bemüht, beim Lernen auch das lernen zu wollen, was andere erlernen, gemäß dem Wort des Paulus in 1 Kor. 12, 31: »Bemüht euch um bessere Gnadengaben«.

26 27 28 29

Augustinus, Conf. I, 12 (CSEL 33, 17). Augustinus, De civ. Dei XIV, 7, 2 (CCSL 48, 422). Aristoteles, Rhet. II, 11; 1388 a 33–34. Hieronymus, Brief 107, 4 (CSEL 55, 294).

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2. Artik el 30 Die zweite Frage lautet: Ist Neid eine Todsünde? Das scheint nicht der Fall zu sein; denn: 1. Gregor der Große sagt im 22. Buch seiner Moralschriften 31: »Es geschieht häufig, daß uns das Verderben unserer Feinde freut und ihre Herrlichkeit uns Trauer bereitet, ohne daß wir deswegen gegen die Nächstenliebe verstießen«. Das aber heißt neidisch sein. Also hebt der Neid die Nächstenliebe nicht auf und kann somit auch nicht als Todsünde bezeichnet werden. 2. Johannes Damascenus sagt im 2. Buch von Über den Glauben,32 daß Leidenschaft eine Bewegung des sinnlichen Strebevermögens ist. Diese Bewegungsfähigkeit nun wird Sinnenhaftigkeit genannt, wie Augustinus im 12. Buch von Über die Dreifaltigkeit schreibt.33 Als Leidenschaft der Seele hat der Neid also in der Sinnenhaftigkeit seinen Platz, in der es nur läßliche Sünden gibt, wie Augustinus im selben Werk sagt.34 Also ist Neid keine Todsünde. 3. So wie alles, was gattungsgemäß eigentlich gut ist, sich schlecht vollführen lassen kann, nicht aber das, was gattungsgemäß schlecht, auch gut – wie Augustinus in Gegen die Lüge sagt35 −, so läßt sich jede gattungsgemäß läßliche Sünde auch so begehen, daß sie zur tödlichen wird, aber auf keinen Fall umgekehrt, wie aus den Beispielen des Mordes und des Ehebruchs hervorgeht. 4. Eine tatsächlich begangene Sünde ist schwerwiegender als eine nur im Herzen begangene, vorausgesetzt, beide gehören in dieselbe Gattung von Sünde.36 Aber durch Taten das Wohl des Nächsten zu behindern, ist nicht immer eine Todsünde. Also ist es auch nicht immer eine Todsünde, sich über das Wohl des Nächsten zu bekümmern, das heißt neidisch zu sein. Paralleltext: Sum. theol. II–II, q. 36 a. 3. Gregor der Große, Moralia XXII, 11, 23 (PL 76, 226 D). Johannes Damascenus, De fide 2, 22 (ed. Buytaert, 132). Augustinus, De trin. XII, 12, 17 (CCSL 50, 371–372), gemäß Petrus Lombardus, Sent. II, d. 24 c. 9–12. 34 Vgl. Anm. 33. 35 Augustinus, Contra mendacium 7, 18 (CSEL 41, 489 f.). 36 Vgl. Petrus Lombardus, Sent. II, d. 42 c. 4 n. 2. 30 31 32 33

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5. Vollkommene Menschen sind frei von Todsünden. Aber nicht immer ganz von insgeheimem Neid. Also ist Neid keine Todsünde. 6. Kleine Kinder, die noch nicht sprechen können, sind frei von Todsünden, da sie ja noch keinen Vernunftgebrauch haben, und Todsünden finden sich nur in der Vernunft. Dennoch können kleine Kinder neidisch sein, denn Augustinus sagt im 1. Buch der Bekenntnisse37: »Ich habe ein eifersüchtiges Kind schon gesehen und selbst kennengelernt: Es konnte noch nicht reden und blickte bleich und verbitterten Ausdrucks auf seinen Milchbruder«. Also ist Neid keine Todsünde. 7. Jede Todsünde steht im Gegensatz zur christlichen Liebesordnung. Der Neid aber, der doch einen Kummer über fremdes Gut darstellt, insofern es dem eigenen zum Schaden ausschlägt, verstößt nicht gegen die Liebesordnung. Dieser zufolge hat jeder sich selbst mehr zu lieben als den anderen, und seinen Nächsten mehr als einen Fernerstehenden, wie Ambrosius sagt.38 Also ist Neid keine Todsünde. 8. Jede Todsünde hat eine Tugend zum Gegenteil. Neid jedoch hat keine Tugend zum Gegenteil, wohl aber eine Leidenschaft, die Aristoteles im 2. Buch der Nikomachischen Ethik 39 »Nemesis« nennt. Also ist Neid keine Todsünde. Dagegen spricht: 1. Gregor der Große sagt im 6. Buch der Moralschriften40 in seiner Auslegung von Spr. 14,30 »Neid ist Verwesung der Gebeine« folgendes: »Durch das Laster der Neidhaftigkeit werden vor Gottes Blicken selbst große Taten von Tugendhaftigkeit zugrunde gerichtet«. Und das bringt nur eine Todsünde fertig. Daher ist der Neid eine Todsünde. 2. In der Weganweisung des Klemens heißt es,41 daß Petrus gesagt habe, drei Sünden verdienten gleichermaßen bestraft zu wer37 Augustinus, Conf. I, 7, 11 (CSEL 33, 10). 38 Eigentlich Origenes, In canticum canticorum homilia 2, 8 (PG 13,

54 A). 39 Aristoteles, Eth. Nic. II, 7; 1108 a 30 – b 1. 40 Gregor der Große, Moralia, eigentlich V, 46, 85 (CCSL 143, 282). 41 Eigentlich in (Pseudo)Clemens, Epistola I ad Iacobum, gemäß Rufi-

nus (PG 1, 480 C).

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den: wenn einer mit den Händen mordet, wenn er mit der Zunge verleumdet, und wenn er im Herzen neidet oder haßt. Mord jedoch ist eine Todsünde. Und also auch der Neid. 3. Isidor von Sevilla sagt in Über das höchste Gute42: »Es gibt keine Tugend, deren Gegenteil nicht im Neid zu finden wäre, denn nur das Elend kennt keinen Neid«. Doch nur eine Todsünde kann das Gegenteil jeder Tugend darstellen. Also ist Neid eine Todsünde. 4. Wie Augustinus über das Psalmwort (104, 25) »Er wendete ihre Herzen darauf, sein Volk zu hassen«, sagt: »Neid ist der Haß auf das Glück anderer«.43 Haß aber ist nicht nachlassender Zorn, wie er selbst im 11. Buch von Über Genesis dem Wortlaut nach schreibt.44 Also ist Neid etwas nicht Nachlassendes und kann deswegen keine läßliche, wie unvermittelt auftretende Sünde sein. 5. Nur die Todsünde tötet im Geistigen. Genau das aber tut der Neid gemäß Hiob 5, 2: »Der Neid tötet den Kindischen«. Und über 2 Kor. 2, 15 »Wir sind der Duft Christi«, sagt die Glosse45: »Dieser Duft belebt den, der liebt, und tötet den Neidvollen«. Also ist der Neid eine Todsünde. Antwort: Wie bereits gesagt,46 wird Gattung und Art einer moralisch bewertbaren Handlung von uns nach ihrem Inhalt oder ihrem Ausrichtungsgegenstand bestimmt. Weshalb eine solche Handlung auch je nach ihrer Gattungszuordnung gut oder schlecht genannt wird. Die Seele jedoch lebt aus der Nächstenliebe, die uns mit Gott verbindet, der jeder Seele das Leben schenkt. Deshalb heißt es in 1 Joh. 3, 14: »Wer nicht liebt, verbleibt im Tode«, denn der Tod ist die Beraubung von Leben.

42 Isidor von Sevilla, De summo bono (= Sententiae) III, 25, 4 (PL 83, 700 B). 43 Augustinus, En. in Psalmos CIV, 25, 17 (CCSL 40, 1545). 44 Augustinus, eigentlich Sermo 49, 7 (PL 38, 324); Sermo 58, 7 (CCL 39, 661); Epistola 38, 2 (CSEL 34, 65). 45 Glosse des Petrus Lombardus zu 2 Kor. 2, 15 (PL 192, 20 D) aus Augustinus, Sermo 273, 5 (PL 38, 1250). 46 Vgl. a. 1.

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Wenn man also eine Handlung an ihrem Inhalt mißt, und darin etwas der Nächstenliebe Gegenteiliges erkennt, wird diese Handlung gattungsgemäß eine Todsünde darstellen. Einen Menschen zu töten etwa hat etwas der Nächstenliebe Widersprechendes, denn diese lehrt, den Nächsten zu mögen, zu wünschen, er lebe, existiere und genieße noch andere Güter. Das nämlich macht auch die Freundschaft aus, wie Aristoteles im 9. Buch der Nikomachischen Ethik sagt.47 Und daher ist Mord gattungsgemäß eine Todsünde. Wenn man jedoch eine Handlung an ihrem Ausrichtungsgegenstand mißt und darin nichts der Nächstenliebe Widersprechendes vorzufinden ist, handelt es sich nicht gattungsgemäß um eine Todsünde, wie im Fall des leeren Geschwätzes und ähnlichem. All das jedoch kann zur Todsünde ausschlagen, wenn etwas ergänzend noch dazukommt, wie bereits weiter oben erklärt.48 Der Neid nun hat schon im Vergleich des Vollzugs zum Ausrichtungsgegenstand etwas der Nächstenliebe Widersprechendes. Denn genau das macht die Freundschaft aus, daß wir – nach den Worten des 9. Buchs der Nikomachischen Ethik49 – den Freunden wie uns selbst Gutes wünschen, weil ein Freund gleichsam ein anderes Ich ist. Deshalb steht es ganz offenkundig der Nächstenliebe entgegen, daß jemand über das Glück eines anderen bekümmert ist, denn die Nächstenliebe lehrt, den Nächsten zu mögen. Augustinus sagt daher in Über die wahre Frömmigkeit,50 daß »wer einen guten Sänger beneidet, den guten Sänger nicht mag«. Somit ist der Neid gattungsgemäß eine Todsünde. Dennoch ist zu beachten, daß man auch in einer Todsündengattung solche Handlungen vorfinden kann, die aufgrund ihrer Unvollständigkeit keine Todsünde darstellen, will sagen, aufgrund des Umstands, daß die Sinngebung der Gattungszuordnung zur Todsünde nicht vollständig erfüllt wird. Das kann auf zwei verschiedene Weisen geschehen: einmal von Seiten des Urhebers der Handlung, insofern diese nicht aus der Überlegung des Verstandes erwächst, die 47 48 49 50

Aristoteles, Eth. Nic. IX, 4; 1166 a 4–5. Vgl. q. 7 a. 3. Aristoteles, Eth. Nic. IX, 4; 1166 a 30–32. Augustinus, De vera rel. 47, 90 (CCSL 32, 246).

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das eigentliche und hauptsächliche Wirkprinzip des menschlichen Handelns ist; weshalb plötzliche innere Bewegungen, selbst wenn sie als Totschlag oder Ehebruch einzuordnen wären, keine Todsünden sind, da sie die Sinngebung als Einstufung einer moralischen Handlung nicht vollständig erfüllen, deren Prinzip die Vernunft ist. Zum zweiten kann es von Seiten des Ausrichtungsgegenstandes geschehen, das heißt, wenn er seiner Geringfügigkeit wegen nicht vollständig einem rechten Verständnis von einem Ausrichtungsgegenstand entspricht, denn das Geringfügige sieht der Verstand wie etwas Nichtiges an,51 wie in der Anwendung auf den Diebstahl zu ersehen: Sollte nämlich jemand vom Acker eines anderen eine Ähre nehmen oder etwas dergleichen, nimmt doch niemand an, er begehe eine Todsünde, denn das wird sowohl von dem, der die Sache wegnimmt, wie von dem, dem sie gehört, sozusagen für nichts erachtet. All dem zufolge kann es also geschehen, daß, obwohl der Neid gattungsgemäß eine Todsünde ist, eine bestimmte Neidaufwallung keine Todsünde darstellt, und zwar der Unvollständigkeit der Neidhandlung selbst wegen. Sei es nun, daß diese abrupt ist und nicht aus verstandesgemäßer Überlegung stammt, sei es, daß sich jemand über das Gut eines anderen grämt, das so gering ist, daß es eigentlich schon gar kein Gut mehr ist. Also etwa in dem Fall, daß jemand einen anderen beneidet, weil er ihn beim Spielen, sagen wir im Wettlaufen oder einem ähnlichen spielerischen Zeitvertreib, besiegt. Zu 1. Die Definition einer Sache stellt nicht das fest, was sie beiläufig charakterisiert, sondern nur das, was sie an sich ausmacht. Wenn also gesagt wird, daß Neid der Kummer über das Glück oder die Großartigkeit eines anderen ist, so muß das so verstanden werden, daß man sich genau über das Glück des anderen grämt, insofern dieses eben von der Art ist, daß man sich darüber grämt, wenn man auf einzigartige Weise besser als andere sein will. Von Neid im strengen Sinne wird also gesprochen, wenn einer sich darüber grämt, von jemand anderem an Großartigkeit oder Glück übertroffen zu werden. Nun kann es aber auch vorkommen, daß jemand sich 51 Vgl. Aristoteles, Rhet. II, 2  ; 1378 b 12–13, so auch Thomas, Sum. theol. I–II q. 46 a. 3.

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über das Glück anderer aus anderen Gründen grämt, die nicht dem Neid zuzurechnen sind, sondern manchmal eben anderen Lastern. Wer nämlich jemanden haßt, grämt sich über dessen Glück, doch nicht, insofern dieses eine bestimmte Vortrefflichkeit darstellt, sondern einfach deswegen, weil es ein Gut für jemanden darstellt, den er haßt. Denn wenn man seinem Feind Böses wünscht, folgt daraus, daß man sich über all das, was er Gutes hat, grämt. Somit liegt der Unterschied zwischen dem Neiderfüllten und dem Haßerfüllten darin, daß der Neiderfüllte sich nur über das Gut des anderen grämt, wenn er sich dadurch zurückgesetzt fühlt oder in der Einzigartigkeit seiner eigenen Großartigkeit bedroht, der Haßerfüllte aber über alles Gute, was seinem Feind widerfährt. Es kann auch noch andere Gründe geben, derentwegen sich jemand über das Glück eines anderen grämt, zum Beispiel weil er befürchtet, daß ihm oder jemandem, den er liebt, daraus Schaden erwachsen könnte. Was aber eher der Angst als dem Neid anzurechnen ist, wie Aristoteles im 2. Buch seiner Rhetorik sagt. Nun kann Angst etwas Gutes oder Schlechtes sein. Weshalb es in sündhafter Weise geschehen kann, wenn die Angst ein Übel bedeutet, oder ohne Sünde, wenn die Angst etwas Gutes heißt. Deswegen sagt Gregor der Große in seiner Erklärung der besagten Stelle: »Wir denken so, wenn wir glauben, daß der Fall einiger den Aufstieg anderer bedeutet, und fürchten, daß das Fortkommen des einen für viele ungerechte Unterdrückung bedeutet«.52 Und daher fügt er auch hinzu, daß Kummer solcher Art ohne jeden Neid vonstatten geht. Zu 2. Wenn die innere Bewegung bloß eine sinnliche ist, kann sie keine Todsünde darstellen; wenn einen aber Gram überkommt aus vernünftiger Überlegung, so kommt er nicht nur aus dem Sinnlichen, sondern auch aus der Vernunft, und kann daher sehr wohl eine Todsünde sein. Obwohl man auch sagen muß: Manchmal bezeichnen solche Zuweisungen für die Leidenschaften schlicht die Willensäußerungen und dann wird der Kummer nicht im sinnlichen Vermögen sein, sondern im Vernunftvermögen. Zu 3. Was gattungsgemäß eine Todsünde ist, kann keine läßliche Sünde sein, wenn die Handlung vollständig vollführt ist, obwohl sie 52 Gregor der Große, Moralia XXII, 11, 23 (PL 76, 226 D).

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es sehr wohl sein kann, wenn diese Handlung Unvollständigkeiten aufweist wie die oben bereits angesprochenen.53 Zu 4. Jemandes Gut zu verhindern, kann der Unvollständigkeit der betreffenden Handlung wegen geschehen, ohne daß eine Todsünde begangen wird, wenn nämlich dasjenige, was da behindert wird, nicht vollständig einem hinreichenden Verständnis vom Guten entspricht, sei es, weil es zu geringfügig ist, sei es, weil es dem Sollensanspruch des Guten nicht Genüge tut. Zu 5. Eine plötzliche Neidaufwallung ist keine qualifizierte Neidhandlung. Und von der Art sind die Neidanfälle von Kindern, die noch nicht der Sprache mächtig sind. Zu 6. Damit ergibt sich auch die Lösung auf den sechsten Einwand. Zu 7. Die Betrübnis um das Glück eines Anderen, die jemandem daraus erwächst, daß es ihm oder den Seinigen Schaden bringen könnte, entsteht aus Angst und nicht aus Neid. Und das kann manchmal auch ohne Sünde geschehen, wie bereits gesagt.54 Zu 8. Neid betrifft zwei Ausrichtungsgegenstände, denn er bedeutet einen Kummer über das Wohlergehen eines anderen Menschen. Und demnach kann Neid zu zwei Tugenden das Gegenteil bilden: Denn was das Wohlergehen als Gegenstand des Kummers betrifft, so bildet Mitleid als Schmerz über das Unglück der Guten das Gegenteil von Neid; was aber den anderen guten Menschen betrifft, über dessen Wohlergehen der Kummer geht, so ist sein Gegenteil der hingebungsvolle Eifer für ausgleichende Gerechtigkeit, was man unter »Nemesis« versteht, das heißt, wenn jemand sich darüber betrübt, daß es einigen Bösen in ihrer Schlechtigkeit auch noch gut ergeht. Und obgleich Mitleid und Nemesis als Bekümmerung Leidenschaften zu sein scheinen, so kann man sie doch, insofern sie unter dem Zeichen vernünftiger Wahl stehen, für Tugenden halten. Ähnlich ist auf das, was in der Sektion der Einwände gegen die Argumente vorgebracht wird, einfach zu antworten: 53 Vgl. Antwort. 54 Vgl. ad 1.

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Zu 1. Gregor der Große spricht hier vom Neid als einer Todsünde. Und auch der heilige Petrus spricht dort von solch einem Neid im Herzen, welcher tatsächlich dieselbe Strafe verdient wie Mord, soweit es die Art der Strafe angeht, denn beide verdienen die ewige Bestrafung. Zu 2. Damit ergibt sich auch die Antwort auf den zweiten Einwand. Zu 3. Die Todsünde steht der Tugend des Sünders entgegen. Wie Isidor sagt, steht der Neid aber jeglicher Tugend nicht nur des Sünders, sondern auch eines anderen entgegen. Und daher kann man daraus kein Argument zaubern, daß Neid eine Todsünde sei. Zu 4. Neid ist kein Haß auf einen Menschen, sondern auf dessen Glück, soweit wir unter den Haß auch alle die zum Bösen führenden Leidenschaften der Seele einrechnen, die der Haß hervorruft. Daß Haß aber als nicht nachlassender Zorn bezeichnet wird, darf man nicht so auffassen, daß jeglicher Zorn das ist, wie wenn es einen bezeichnenden Umfang des Haßgefühls ausmachte, sondern so, daß nicht nachlassender Zorn den Haß hervorbringt. Zu 5. Die im fünften Argument genannten Autoritäten sprechen vom Neid, insofern er eine Todsünde darstellt.

3. Artik el 55 Die dritte Frage lautet: Stellt Neid eines der hauptsächlichen Laster dar? Das scheint nicht der Fall zu sein; denn: 1. Es ist einem Hauptlaster eigentümlich, Töchter zu haben, ohne jedoch selbst Tochter eines anderen Lasters zu sein. Nun ist aber der Neid die Tochter des Hochmuts, wie Augustinus in Über die heiligmäßige Jungfräulichkeit sagt.56 2. Neid ist eine Art von Kummer, wie bereits gesagt.57 Kummer aber stellt gewissermaßen einen Endpunkt unserer Strebensbewe55 Paralleltext: Sum. theol. II–II, q. 36 a. 4. 56 Augustinus, De sancta virginitate 31 (CSEL 41, 268). 57 Vgl. a. 2 ad 1.

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gung dar: Der Mensch nämlich ist dann bekümmert, wenn ihm etwas Übles widerfährt, das er vorher befürchtet hatte. Neid ist also kein Hauptlaster, da es zur Beschaffenheit eines Hauptlasters gehört, daß aus ihm alle anderen Laster hervorgehen.58 3. Jedem Hauptlaster werden einige Töchter zugerechnet. Doch Neid scheint keine zu haben, denn im 30. Buch seiner Moralschriften zählt Gregor der Große59 fünf solche Töchter auf, als da sind: Haß, Verbreitung von Gerüchten, üble Nachrede, Schadenfreude und Ärger über das Wohlergehen anderer. Nichts davon scheint aber doch als Tochter des Neids gelten zu können, denn Haß kommt aus Wut, Gerüchte zu verbreiten, üble Nachrede und Schadenfreude hingegen stammen aus dem Haß, Ärger über das Wohlergehen anderer schließlich scheint doch das Gleiche zu sein wie Neid. Also ist Neid keines der hauptsächlichen Laster. Dagegen spricht: Gregor der Große zählt im 31. Buch der Moralschriften den Neid unter die hauptsächlichen Laster.60 Antwort: Wie oben gesagt61: Hauptlaster sind solche, aus denen andere Laster hervorgehen, welchen sie als Zielursache dienen. Ziele jedoch stehen für Gutes. In selber Weise zielt das Strebevermögen auf Gutes und auf den Genuß von Gutem, das heißt auf Erfreutsein. Und in selbem Maße wie das Strebevermögen im Hinblick auf das Gute zum Handeln gebracht wird, so auch im Hinblick auf das Erfreutsein. Nun muß man bedenken, daß, wie das Gute das Ziel der Strebebewegung ist, die man Trachten nennt, so das Übel das Ziel der Strebensbewegung, die man als Vermeiden bezeichnet.62 Wie nämlich jemand, wenn er ein Gut erreichen will, nach diesem trachtet, so 58 59 60 61 62

Vgl. q. 8 a. 1. Gregor der Große, Moralia XXXI, 45, 88 (PL 76, 621 B). Gregor der Große, Moralia XXXI, 45, 87 (PL 76, 621 A). Vgl. q. 8 a. 1. Vgl. Aristoteles, Eth. Nic. VI, 2; 1139 a 21–22.

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vermeidet jemand, wenn ein Übel nicht geschehen soll, dieses Übel; und wie das Erfreutsein der Genuß des Guten ist, so ist Kummer ein schlechter Zustand, bei dem das Gemüt vom Übel niedergedrückt wird. Und daher wird der Mensch in seinem Bestreben, Kummer zu vermeiden, dazu gebracht, vieles zu tun, was den Kummer oder solches, was Kummer bereitet, fern hält. Weil Neid somit einen Kummer über die Herausragendheit eines anderen darstellt, die hierbei gewissermaßen als ein Übel aufgefaßt wird, kommt es dazu, daß der Mensch aus Neid dazu neigt, etwas Unstatthaftes gegen seinen Nächsten zu unternehmen, und so betrachtet ist Neid eines der Hauptlaster. In Hinsicht auf alles, was der Neid sucht, läßt sich etwas als Ausgangspunkt ausmachen und etwas als Zielpunkt. Ausgangspunkt ist, daß man versucht, alles Rühmliche eines anderen von vornherein zu verhindern, weil man darüber Gram verspürt, und zwar indem man, was er an Gutem vorzuweisen hat, herabsetzt oder Schlechtes über ihn sagt, sei es hinter vorgehaltener Hand, wie beim Verbreiten von Gerüchten, sei es ganz offen, wie im Fall übler Nachrede. Der Zielpunkt, den der Neid sucht, läßt sich auf zweifache Weise ausmachen: einmal in Bezug auf den, der beneidet wird, und dann endet das Neidgefühl manchmal in Haß, so daß man sich nicht nur über die Überlegenheit eines anderen grämt, sondern ihm darüber hinaus alles mögliche Schlechte wünscht. Zum andern läßt sich der Zielpunkt, auf den das Neidgefühl aus ist, in bezug auf den Neidvollen selbst festlegen: Wer wirklich in seinem Zielvorhaben Erfolg hat, alles Preiswürdige seines Nächsten herabzusetzen, freut sich darüber, und dann redet man von einer der Töchter des Neids, nämlich Schadenfreude. Wenn man aber keinen Erfolg mit seinem Vorhaben hat, den Ruhm seines Nächsten zu schmälern, grämt man sich darüber, und dann redet man von einer anderen Tochter des Neids, nämlich vom Ärger über das Wohlergehen anderer. Zu 1. Wie Gregor der Große im 31. Buch der Moralschriften sagt,63 stellt Hochmut allgemein die Mutter aller Laster dar. Aber

63 Gregor der Große, Moralia XXXI, 45, 87 (PL 76, 620 D).

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daß der Neid eine Tochter der Hochmütigkeit ist, schließt ihn nicht davon aus, selbst ein Hauptlaster zu sein. Zu 2. Obwohl Kummer hier hinsichtlich der Ausführung einen Endpunkt darstellt, so ist er doch ein Erstes in der Absichtshaltung, da aus der Vermeidung von Kummer viele andere Bewegungen ihren Ausgang nehmen. Zu 3. Es spricht gar nichts dagegen, daß ein und dasselbe Laster aus verschiedenen anderen nach verschiedenen Gesichtspunkten hervorgeht. So entsteht Haß aus Wut nach dem Gesichtspunkt, daß jemand, der erzürnt wird, einen anderen verletzt, aus Neid hingegen nach dem Gesichtspunkt, daß das Gut dessen, den man beneidet, als Behinderung der eigenen Vortrefflichkeit aufgefaßt wird. Ähnlich entstehen Verbreitung von Gerüchten, üble Nachrede und Schadenfreude aus Haß, insofern man damit alles Gute seines Feindes gering hält und ihm Böses bereitet. Aus Neid entstehen sie nur in Hinsicht darauf, die Vorzüge des anderen gering erscheinen zu lassen. Ärger über das Wohlergehen anderer ist manchmal dem Neid selbst gleichzusetzen, manchmal aber auch als eine seiner Töchter anzusehen: Insofern man sich nämlich über das Wohlergehen eines anderen grämt, soweit man etwas gegen die einzigartige Vortrefflichkeit des anderen hat, ist das dasselbe wie Neid. Wenn man sich hingegen über das Wohl des anderen deswegen grämt, weil es besteht, obwohl man selbst es zu verhindern sucht, so handelt es sich um eine Tochter des Neids.

XI. ÜBER DIE TRÄGHEIT 1

Die hier behandelten Fragen lauten: 1. Ist Trägheit eine Sünde? 2. Stellt Trägheit eine besondere Sünde dar? 3. Ist Trägheit eine Todsünde? 4. Stellt Trägheit ein Hauptlaster dar?

1. Artik el 2 Die erste Frage lautet: Ist Trägheit eine Sünde? Das scheint nicht der Fall zu sein; denn: 1. Tugend und Sünde gehören derselben Gattung an, da sie ja Gegensätze zueinander bilden.3 Doch gehört Tugend gattungsgemäß zur Liebe, denn Augustinus sagt in Die Sitten der Kirche4 und im 15. Buch von Die Bürgerschaft Gottes5, daß die Tugend der Liebesordnung entspricht. Da jedoch die Trägheit nicht der Liebesord1 »Gleichgültigkeit«, »Bequemlichkeit«, »Trägheit« oder »Müßiggang« übersetzen im folgenden das lateinische Wort accidia nur recht unzulänglich. Es geht eigentlich um ein mitunter gefährlich melancholisches »Sichhängenlassen« oder eine resignierte »Trübsinnigkeit«. Der lateinische Terminus folgt dem griechischen akêdia, was die Wörterbücher mit »sorglose Indifferenz«, »Vernachlässigung« (als geistige Haltung) oder mit ähnlichen Hilfsausdrücken wiedergeben, während das Adjektiv akêdês »vernachlässigt« heißen soll und bei Homer bezeichnenderweise »unbestattet« (von Leichen), was im Epos und seiner ethischen Welt die moralische Dimension der Vernachlässigung unterstreicht. Wie zu sehen sein wird, behandelt Thomas das Phänomen der accedia im folgenden auch insbesondere in seiner für das monastische Leben gefährlichen Einzelausprägung der resignierten Laxheit und Verwahrlosung gegenüber geistigen Dingen. 2 Paralleltext: Sum. theol. II–II, q. 35 a. 1. 3 Aristoteles, Met. X, 10; 1058 a 10–11; Top. IV, 3; 123 b 3. 4 Augustinus, De moribus Ecclesiae I, 15, 25 (PL 32, 1322). 5 Augustinus, De civ. Dei XV, 22 (CCSL 48, 488).

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nung angehört, sondern eher eine Art Bekümmerung darstellt, wie Johannes Damascenus sagt,6 scheint es, daß Trägheit keine Sünde ist. 2. Die Glosse über das Psalmwort 106, 1 »Bekennen wir …« 7 zählt viele Versuchungen auf, nämlich Irrtum, Schwierigkeiten im Überkommen von Begierden, Langeweile und die Beunruhigungen der Welt. Doch Irrtum, Schwierigkeit und die Beunruhigungen der Welt sind keine Sünden und daher ist auch die Langeweile, die ja der Trägheit entspricht, keine Sünde. 3. Alle Sünden werden doch von Menschen begangen, wie in Hos. 13, 9 steht: »Dein Verhängnis kommt von Dir selbst, Israel«. Doch weil Trägheit eine Art Bekümmerung ist, ist sie nicht menschengemacht, denn über die Stelle 2 Kor. 9, 7 »Nicht aus Kummer oder Notwendigkeit« sagt die Glosse: »Wenn du etwas aus Kummer tust, so bist du der Urheber der Handlung, aber es bist nicht du, der handelt«.8 Also ist Trägheit keine Sünde. 4. Eine Handlung kann nicht zugleich verdienstvoll und sündhaft sein. Doch manch eine mit Trägheit verrichtete Handlung ist verdienstvoll. Etwa, wenn jemand eines Gelübdes wegen oder aus Gehorsam fastet, das Fasten selbst aber bekümmert und somit Trägheit vorliegt, die doch einer Resignation über das geistliche Gut der Tugend entspricht. Also ist Trägheit nicht immer eine Sünde. 5. Johannes Damascenus sagt im 2. Buch von Über den Glauben9, daß Trägheit eine bedrückende Niedergeschlagenheit ist. Doch Bedrückung scheint eher eine Bestrafung als eine Schuld zu sein. Also ist Trägheit keine Sünde, sondern eher eine Strafe. 6. Trägheit scheint eine Niedergeschlagenheit oder ein Gelangweiltsein gegenüber einem inneren Gut auszudrücken,10 worüber ja auch die Glosse zum Psalmwort 106, 18 »Ihre Seele verachtet alle 6 Johannes Damascenus, De fide 2, 14 (ed. Buytaert, 121). 7 Glosse des Petrus Lombardus zu Psalm 106, 1 (PL 191, 973 A) aus

Augustinus, En. in Psalmos 106, 1, 4–7 (CCSL 40, 1572–1574). 8 Glosse des Petrus Lombardus zu 2 Kor. 9, 7 (PL 192, 63 B), aus Augustinus, En. in Psalmos 91, 4, 5 (CCSL 39, 1282). 9 Johannes Damascenus, De fide 2, 14 (ed. Buytaert, 121). 10 Vgl. Hugo von St. Victor, Expositio orationis dominicae (PL 175, 774 B).

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Nahrung« spricht.11 Wenn also Trägheit eine Sünde ist, dann entweder, weil sie das geistliche Gut nicht annimmt, oder weil sie es verachtet und dafür ein körperliches vorzieht. Sie kann aber nicht deswegen Sünde sein, weil sie geistliches12 Gut nicht annimmt, da Nichtannahme keine Handlung, sondern eine Art Beraubung ist, jedes Lob und Tadeln jedoch folgen einer Handlung, wie Aristoteles im 1. Buch der Nikomachischen Ethik13 sagt, wobei das Tadeln der Sünde zugewiesen sein sollte. Wenn Trägheit eine Sünde ist, so bleibt nur, daß sie eine Sünde ist, weil sie in Verachtung eines geistigen Guts ein körperliches Gut verfolgt. Doch scheint das Verfolgen des Guten Sache des begehrenden Seelenvermögens zu sein, so wie das Vermeiden von Übel Sache des aufbegehrenden. Also scheint es, als gehöre die Trägheit eher in das Begehrensvermögen, obwohl es doch eigentlich eher so aussehen will, als gehöre sie zum aufbegehrenden. 7. Im 11. Buch seiner Moralschriften sagt Gregor der Große,14 daß die Trägheit eine innere Niedergeschlagenheit des Geistes ist, die ausmacht, daß man weniger hingebungsvoll betet und singt. Doch steht es nicht in der Macht des Menschen, mit Hingabe zu beten. Und also auch nicht, Trägheit zu vermeiden. Trägheit ist mithin keine Sünde, denn niemand sündigt in Dingen, die für ihn unvermeidlich sind.15 8. Im 2. Buch von Über den Glauben bezeichnet Johannes Damascenus16 die Trägheit als eine Art von Kummer, der ja nun eine der vier Leidenschaften ist. Doch sind die Leidenschaften keine Sün11 Glosse des Petrus Lombardus zu Psalm 106, 18 (PL 191, 977 A) aus Augustinus, En. in Psalmos 106, 6 (CCSL 40, 1573). 12 »Spirit(u)alis« changiert in der Bedeutung hier und im nachstehenden Text zwischen »geistig« und »geistlich«. Im folgenden ist zumeist die im Deutschen weitere Wortbedeutung gebraucht. 13 Aristoteles, Eth. Nic. I, 18; 1101 b 14–15. 14 Der gemeinte Text scheint aus Gregor der Große, Moralia XXXI, 45, 88 (PL 76, 621 B), und Guillermus Peraldus, Summa de Vitiis et Virtitibus tr. 5 p. 2 c. 13 (ed. Venedig, 1571, p. 295), entnommen zu sein. 15 Vgl. Augustinus, De lib. arb. III, 18, 50 (CCSL 29, 304), wie unten q. 14 a. 1. 16 Johannes Damascenus, De fide 2, 14 (ed. Buytaert, 121).

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den, denn man wird für sie weder gelobt noch getadelt.17 Also ist Trägheit keine Sünde. 9. Was der Weise wählt, ist keine Sünde. Doch der Weise wählt die Trägheit oder den Kummer, denn in Koh. 7, 5 steht: »Das Herz des Weisen ist dort, wo Kummer herrscht«. Also ist die Trägheit oder Trauer keine Sünde. 10. Was Gott belohnt, ist keine Sünde. Gott belohnt aber die Traurigkeit, denn in Mal. 3, 14 wird bösen Menschen folgende Aussage in den Mund gelegt: »Welchen Gewinn haben wir davon gehabt, daß wir seine Gebote gewahrt haben und in Trauer vor ihm gewandelt sind?« Also ist die Trägheit oder Trauer keine Sünde. Dagegen spricht, daß Gregor der Große im 31. Buch der Moralschriften die Trägheit in einer Reihe mit den anderen Sünden aufzählt,18 und ähnlich macht es Isidor von Sevilla in seinem Werk Über das höchste Gute.19 Antwort: Wie aus der Aussage des Johannes Damascenus hervorgeht, ist die Trägheit eine Art Kummer, weshalb Gregor der Große in seinen Moralschriften20 manchmal statt ›Trägheit‹ auch den Ausdruck ›Kummer‹ verwendet. Doch, wie Johannes Damascenus sagt21: Gegenstand des Kummers ist ein gegenwärtiges Übel. Wie aber das Gute zweifach bestimmbar ist, als eines, das ein wahrhaftes Gut ist, und als ein anderes, das ein scheinbares Gut ist, da es nur je nachdem genommen ein Gut darstellt – denn was kein Gut einfachhin darstellt, ist auch kein wahrhaftiges Gut –, so ist auch das Übel zweifach bestimmbar: als eines, das wahrhaft und einfachhin ein Übel ist, und als ein anderes, das nur scheinbar und je nachdem ein Übel ist, doch einfachhin genommen ein wahres Gutes darstellt. 17 Vgl. Aristoteles, Eth. Nic. II, 5; 1105 b 31–32, wie oben q. 10 a. 1. 18 Gregor der Große, Moralia XXXI, 45, 87 (PL 76, 621 A). 19 Isidor von Sevilla, De summo bono (= Sententiae) IV, 40, 2 (PL 83,

1178 D). 20 Gregor der Große, Moralia XXXI, 45, 87 (PL 76, 621 A). 21 Johannes Damascenus, De fide 2, 12 (ed. Buytaert. 119).

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Wie also Liebe, Begehren und Vergnügen löblich sind, wenn sie sich auf wahrhaft Gutes beziehen, aber verwerflich, wenn sie sich auf nur scheinbares und nicht wahrhaft Gutes beziehen, so sind auch Erbitterung, Widerwille und Kummer bezüglich dessen, was wahrhaft übel ist, löblich, bezüglich dessen, was nur je nachdem oder scheinbar ein Übel und eigentlich wahrlich Gutes ist, verwerflich und Sünde. Trägheit nun ist ein Überdruß oder Kummer bezüglich eines inneren und geistigen Gutes, wie Augustinus22 über das Psalmwort 106,18: »Ihre Seele verachtet alle Nahrung« sagt. Weil aber ein inneres und geistliches Gut nur ein scheinbares Übel sein kann, wenn es nämlich den fleischlichen Lüsten im Weg steht, so ist es offenkundig, daß es die Trägheit von sich aus charakterisiert, Sünde zu sein. Doch muß man bedenken, daß die Trägheit, insofern sie ja ein Kummer ist, auf zweierlei Weise betrachtet werden kann: zum einen danach, eine Tätigkeit des sinnlichen Strebens zu sein, zum anderen danach, eine Verrichtung des geistigen Strebens zu sein, das der Wille darstellt. Ihrer Bezeichnung nach sind Tätigkeiten dieser Art, sofern sie solche des sinnlichen Strebens sind, Leidenschaften, sofern sie solche des geistigen Strebens sind, einfach Willensregungen. Die Sünde aber sitzt von sich aus und eigentlich im Willen, wie Augustinus sagt.23 Und wenn also die Trägheit die Willensregung bezeichnet, die ein Vermeiden eines inneren und geistlichen Gutes bedeutet, so kann sie vollständig als Sünde gerechnet werden; sobald die Trägheit aber so gedeutet wird, daß sie eine Regung des sinnlichen Strebens ist, so kann sie nur dann als Sünde gerechnet werden, wenn sie aus dem Willen hervorgeht, nämlich in Anbetracht dessen, daß solch eine Regung vom Willen unterdrückt werden kann. Wo dies nicht geschieht, weist sie in gewissem Maße die Wesensbeschaffenheit von Sünde auf, wenn auch nicht in vollständiger Weise. Zu 1. Liebe ist die bestimmende Grundlage aller Gefühlsregungen, wie sich gemäß dem 14. Buch von Die Bürgerschaft Gottes 22 Augustinus, En. in Psalmos 106, 6 (CCSL 40, 1573). 23 Augustinus, De vera rel. 14, 27 (CCSL 32, 204).

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ergibt.24 Wenn also gesagt wird, daß Tugend der Liebesordnung entspricht, so geschieht das aufgrund des Begründungszusammenhangs und nicht als Aussage über die Wesensbestimmung,25 denn nicht jede Tugend ist im Wesen mit Liebe gleichzusetzen, doch läßt sich jede tugendgemäße Gefühlsregung aus gut angelegter Liebe herleiten, und genauso jede sündige aus schlecht angelegter. Zu 2. Die Argumentationsweise im zweiten Frageeinwand läuft ins Leere. Denn es ist nicht so, daß, was auch immer von etwas ausgesagt wird, das eine Gemeinsamkeit mit anderen teilt, auch von diesem anderen ausgesagt wird. Was nämlich zusammen unter einer gemeinsamen Hinsicht aufgezählt wird, kommt in eben dieser Hinsicht überein, doch nicht notwendigerweise in einer beliebigen anderen. Die vier genannten Versuchungen kommen daher genau in jener Gemeinsamkeit überein, eine Versuchung zu sein, doch verbietet sich dadurch nicht die Annahme, daß eine von ihnen eine Sünde ist und die andere nicht. So kann die Versuchung des Fleisches nicht ohne Sünde sein, die Versuchung durch den Feind hingegen gänzlich sündenlos.26 Zu 3. Handlungen, die aus Kummer oder Angst begangen werden, sind als Mischungen aus Ungewolltem und Gewolltem zu betrachten, wie im 3. Buch der Nikomachischen Ethik gesagt wird.27 Soweit sie ungewollt sind, stammen sie nicht aus uns selbst. Nichtsdestotrotz: Die Regung von Traurigkeit stammt sehr wohl aus uns selbst. Zu 4. Es steht doch nichts der Annahme entgegen, daß etwas Getanes für sich betrachtet Kummer verursacht, und dennoch etwas Erfreuliches sein kann, insofern es dem Dienst an Gott gereicht, weshalb man auch sagt, die Märtyrer hätten in Tränen gesät, wie Augustinus erklärt.28 Auch ist diese bekümmerte Leidenschaft keine Trägheit, da sie nicht ein inneres Gut, sondern ein äußeres 24 Augustinus, De civ. Dei XIV, 7, 2 (CCSL 48, 442). 25 Vgl. Alain de Lille, Regulae de sacra Theologia 12 und 18 (PL 210,

629 f.). 26 Vgl. Petrus Lombardus, Sent. II, d. 21 c. 6 n. 3. 27 Aristoteles, Eth. Nic. III, 1 ; 110 a 11–12. 28 Augustinus, Sermo 31, 1, 1–2 (PL 38, 192–195).

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Übel ist. Denn die Märtyrer erfreuten sich an dem inneren Gut, und diese Freude war in dem Maße verdienstvoller, wie das äußere Übel kummervoller. Ähnlich ist, wenn jemand aus eigenen Stükken einer Gehorsamsleistung oder einem Befehl nachkommt und darüber bekümmert ist, damit etwas Nervenaufreibendes oder Anstrengendes zu tun, diese Bekümmertheit keine Trägheit, da hier kein Kummer über ein innerliches Gut vorliegt, sondern über ein äußerliches Übel. Zu 5. Kummer gilt insofern als bedrückend, als er ein Bestreben niederhält, damit es nicht in die Tat umgesetzt wird. Demgemäß ist die Bedrückung durch Kummer im Guten ihrer Beschaffenheit nach eher Schuld als Strafe, weil ihr Bestimmungsgrund aus uns selbst kommt. Zu 6. Das aufbegehrende und das begehrende Seelenvermögen werden nicht gemäß Anstreben und Vermeiden unterschieden, denn es kommt demselben Vermögen zu, das Gute anzustreben und das ihm entgegengesetzte Übel zu meiden. Jedoch kann man sie danach unterscheiden, daß es dem aufbegehrenden Seelenaspekt zukommt, das beschwerliche Gute oder Schlechte zu suchen oder zu meiden, dem begehrenden dagegen, das Gute schlechthin anzustreben oder zu fliehen. In Übereinstimmung damit gehören Hoffnung und Angst in derselben Weise zum aufbegehrenden Seelenvermögen wie Freude und Kummer zum begehrenden, weshalb sich die Trägheit, da sie im Sinnenstreben angesiedelt ist, im begehrenden Seelenvermögen vorfindet. Noch folgt daraus, daß die Trägheit ein geistiges Gut vermeiden will, daß sie keine Sünde sei, da das Vermeiden selbst ja schon eine Strebensbewegung darstellt und nicht nur ein Ausbleiben solch einer Bewegung. Und selbst wenn sie lediglich so ein Ausbleiben darstellte, das heißt eine Verweigerung geistigen Guts, so könnte das doch als Schuld gewertet werden, und dann spricht man von einer Unterlassungssünde. Zu 7. Die Frömmigkeit des Menschen ist von Gott gegeben. Doch in dem Maße, wie der Mensch sich der Frömmigkeit öffnen oder auch verschließen kann, ist dann das entsprechende Fehlen an Frömmigkeit eine Sünde. – Wenn auch bei der zitierten Autorität nicht gesagt wird, daß Trägheit Unfrömmigkeit gleichkäme, sondern bloß, daß sie aus ihr hervorkommt.

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Zu 8. Johannes Damascenus spricht hier von der Trägheit nicht als Sünde, das heißt, insofern sie einen Kummer über ein inneres geistiges Gut darstellt, sondern allgemeiner, insofern sie einer Niedergeschlagenheit über jedwedes Übel gleichkommt. Von daher redet er von ihr als einer Art von Leidenschaft und nicht als einer Sünde. Zu 9. und 10. Zum neunten und zehnten Argument ist zu sagen, daß der Gedankengang dort dem Kummer über das, was schlechthin übel ist, entwächst, was löblich ist.

2. Artik el 29 Die zweite Frage lautet: Stellt Trägheit eine besondere Sünde dar? Das scheint nicht der Fall zu sein; denn: 1. Da Trägheit eine Art von sich Grämen darstellt, bildet sie einen Gegensatz zum Vergnügen. Nun ist Vergnügen keine besondere Tugend, denn jeder tugendhafte Mensch empfindet Genugtuung im Vollzug der eigenen Tugendhaftigkeit, wie aus dem 1. Buch der Nikomachischen Ethik hervorgeht.30 Daher ist Kummer über ein geistiges Gut keine besondere Sünde für sich. 2. Was sich aus jeder Sünde ergibt, ist doch selbst keine besondere Sünde. Doch Resignation gegenüber dem Guten ist die Folge jeder Sünde, denn das, was jemandem schadend entgegensteht, bekümmert ihn, und ein tugendhaftes geistiges Gut steht im Gegensatz zu jeder Sünde. Daher ist Trägheit keine besondere Sünde. 3. Dagegen wurde eingewandt, daß Trägheit sich als Bekümmernis über ein geistiges Gut nur in einer bestimmten Hinsicht darstellt, nämlich insofern, wie sie körperliche Ruhe verhindert. – Dagegen spricht: Das Verlangen nach körperlicher Ruhe entspricht den Sünden des Fleisches. Und etwas zu wünschen und sich über seine Verhinderung zu bekümmern hat dieselbe Bedeutung. Wenn also Trägheit nur deshalb eine besondere Art von Sünde darstellte, weil sie körperliche Ruhe verhindert, so wäre Trägheit eine Sünde des 29 Paralleltext: Sum. theol. II–II, q. 35 a. 2. 30 Aristoteles, Eth. Nic. I, 13; 1099 a 7–21.

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Fleisches, obwohl Gregor der Große sie unter die geistigen Sünden zählt, wie aus dem 21. Buch seiner Moralschriften hervorgeht.31 Daher ist Trägheit keine besondere Art von Sünde. Dagegen spricht: Gregor der Große zählt im 31. Buch der Moralschriften 32 die Trägheit neben anderen Arten von Sünden auf, und daher ist sie eine eigene Sündenart. Antwort: Wenn Trägheit schlechthin Bekümmernis über jegliches geistige Gut in jeder Hinsicht wäre, so folgte daraus mit Notwendigkeit, daß sie keine besondere Sünde ist, sondern sie ergäbe sich aus jedweder Sünde. Damit man also Trägheit als eigene Sünde ansetzen kann, ist es geboten, daß sie eine Bekümmerung über ein geistiges Gut in einer besonderen Hinsicht darstellt. Nun kann nicht behauptet werden, daß diese besondere Hinsicht die Behinderung eines körperlichen Guts ist, denn dann wäre die Trägheit als Sünde ununterscheidbar von jener, die auf das körperliche Wohl aus ist. Denn man erfreut sich an etwas und flieht dessen Verhinderung aus derselben Überlegungstendenz, genauso wie in den Naturdingen aus derselben natürlichen Kräftewirkung das Schwere den höhergelegenen Ort verläßt und dem niedrigergelegenen entgegenstrebt. Deswegen ist es auch zu beobachten, daß, wie jemand aus Völlerei an Speise Vergnügen hat, er desselben Lasters wegen über die Enthaltsamkeit von Speise bekümmert ist. Dasjenige, was dem leiblichen Wohl hinderlich ist, ist der Grund dafür, daß ein geistiges Gut Kummer auslöst, doch ist das nicht der Grund, warum der Kummer über dieses Gut eine eigene Sünde darstellt. So ist zu bedenken, daß nichts der Annahme entgegensteht, etwas für sich genommen als etwas eigenes Gutes zu werten, was dann dennoch vielen Dingen als gemeinsames Ziel dient. Und dementsprechend ist Nächstenliebe eine eigene Tugend, da sie zufürderst 31 Gregor der Große, Moralia, eigentlich XXXI, 45, 88 (PL 76, 621 C); vgl. Thomas, Sum. theol. I–II, q. 72 a. 2. 32 Gregor der Große, Moralia XXXI, 45, 87 (PL 46, 621 A).

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und hauptsächlich Liebe zum göttlichen Guten ist, in zweiter Linie aber Liebe, die man für das Wohl des anderen hegt, was allem, oder doch vielem anderen guten Verhalten das Ziel abgibt. So kann eine Handlung aus irgendeiner besonderen Tugend heraus, sagen wir aus Keuschheit, in zweifacher Hinsicht liebenswert und erfreulich sein: einerseits, insofern sie eine zu dieser Tugend gehörige Handlung darstellt, also der Keuschheit eigentümlich ist, andererseits, insofern die Handlung zum göttlichen Guten hin ausrichtet, und dann ist sie etwas der Nächstenliebe Eigentümliches. Sich über dieses besondere, nämlich das innere und göttliche Gut zu bekümmern, macht es aus, daß die Trägheit auch eine besondere Sünde für sich darstellt, genauso wie das Lieben dieses Guts ausmacht, daß die Nächstenliebe eine besondere Tugend für sich ist. Dieses göttliche Gute jedoch bekümmert den Menschen des Gegensatzes von Geist und Fleisch wegen, denn wie der Apostel in Gal. 5, 17 sagt: »Die Begierde des Fleisches richtet sich gegen den Geist«. Wenn also der Ruf des Fleisches im Menschen überhand nimmt, so ärgert er sich über das geistige Gut als etwas ihm im Weg befindliches, genauso wie ein Mensch mit krankhaft verändertem Geschmacksinn an zuträglicher Speise Mißfallen findet und sich über sie grämt, wenn es ihm eigentlich doch zugute käme, sie aufzunehmen. Solch ein Grämen und eine Abscheu oder ein Gelangweiltsein dem geistigen oder göttlichen Guten gegenüber ist Trägheit, die eine besondere Sünde für sich darstellt. Und deswegen, um dieser Trägheit zu wehren, warnt der Weise in Sir. 6, 26: »Beuge deine Schultern und trage sie« – die geistige Weisheit – »und werde nicht müde in ihren Fesseln«. Zu 1. Das Erfreuen am geistigen und göttlichen Guten läßt sich der besonderen Tugend der Nächstenliebe zuordnen, im Sinne von Gal. 5, 22: »Die Frucht des Geistes ist Liebe, Freude, Hoffnung«. Zu 2. Jedweder Sünder grämt sich über ein geistiges Gut je nach der besonderen Maßgabe genau jener Tugend, die zu seiner Sünde den Gegensatz bildet. Über die Trägheit selbst jedoch grämt er sich nach Maßgabe des göttlichen Gutes geistiger Art, welches den besonderen Gegenstand der Nächstenliebe bildet. Zu 3. Die Antwort auf das dritte Argument ergibt sich aus dem

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bereits Gesagten33: Denn daß das geistige Gut der körperlichen Bequemlichkeit entgegensteht, macht es zum Gegenstand der Klage, doch macht das nicht die eigentliche Besonderheit der Sünde aus.

3. Artik el 3 4 Die dritte Frage lautet: Ist Trägheit eine Todsünde? Das scheint nicht der Fall zu sein; denn: 1. Bei vollkommenen Menschen läßt sich keine Todsünde finden, Trägheit jedoch findet sich bei ihnen, wie der Apostel Paulus in 2 Kor. 6, 10 an ihrer Stelle sprechend sagt: »Als ob wir bekümmert wären, doch immer in Freuden«. Also ist Trägheit keine Todsünde. 2. Außerdem verstößt jede Todsünde gegen ein Gebot Gottes. Doch scheint Trägheit überhaupt keinem Gebot zu widersprechen, da ja auch unter den zehn Geboten keines das Vergnügen betrifft. Mithin ist Trägheit keine Todsünde. 3. Da man Kummer gegenüber einem gegenwärtigen Übel verspürt, wie Johannes Damascenus im 2. Buch von Über den Glauben sagt,35 muß die Trägheit, die eine gewisse Art von Kummer ist, ebenfalls gegenüber einem gegenwärtigen Übel verspürt werden, aber einem, das zwar als Übel angesehen wird, in Wirklichkeit jedoch ein Gut darstellt. Gegenüber dem wahren, das heißt dem ungeschaffenen Gut, kann das nicht geschehen: und zwar sowohl, weil die Gegenwart solch eines Guts keineswegs Überdruß oder Kummer bereitet, da doch in Weish. 8, 16 von der göttlichen Weisheit gesagt wird: »Weder das Gespräch noch das Beisammensein mit ihr erzeugt Überdruß«, als auch, weil in Gegenwart des ungeschaffenen Guten keine Todsünde bestehen kann. So bleibt, Trägheit als Kummer über ein geschaffenes gegenwärtiges Gut zu werten. Die Abkehr von einem geschaffenen Gut jedoch macht noch keine Todsünde aus, sondern nur die Abkehr von einem unveränderlichen Ungeschaffenem. Daher ist die Trägheit keine Todsünde. 33 Vgl. Antwort. 34 Paralleltext: Sum. theol. II–II, q. 35 a. 3. 35 Johannes Damascenus, De fide 2, 14 (ed. Buytaert, 119).

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4. Eine tatsächliche vollführte Sünde ist nicht weniger schlimm als eine im Herzen vollführte, solange beide derselben Gattung zuzurechnen sind. Sich im Tatvollzug eines geschaffenen geistigen Guts zu entschlagen, das zu Gott führt, ist keine Todsünde. Wer nämlich nicht fastet oder betet, begeht keine Todsünde. Also ist auch die im Herzen durch Kummer bedingte Enthaltsamkeit von geschaffenen Gütern nicht immer eine Todsünde. Und so ist Trägheit nicht schon ihrer Gattungseinordnung wegen eine Todsünde, denn dann wäre sie ja immer eine Todsünde, genauso wie Mord oder Ehebruch. 5. Dagegen wurde eingewandt, daß die Zurückhaltung der Tat betreffs eines gesollten geschaffenen Guten eine Todsünde darstellt. – Dagegen spricht, daß manchmal solche Handlungen, die nicht gesollt sind, geistiger sind, und dennoch ist sich ihrer zu enthalten keine Todsünde, es sei denn, sie würden durch ein Gelübde einen Sollensanspruch aufweisen. Und eigentlich liegt gar keine Sünde vor, wenn jemand sich nicht an das der Jungfräulichkeit oder der Armut bindet. Also ist auch nicht jeder Kummer über ein geistiges Gut eine Todsünde. 6. Im Handlungsvollzug vor einem geistigen Gut zurückzuhalten, ist nur insofern eine Todsünde, als man als Mensch diesem Gut eigentlich verpflichtet ist. Doch selbst wenn diese Verpflichtung zum Tun des geistigen Guten besteht, so besteht doch keine Verpflichtung, es mit Freuden zu tun, denn das ist ein Zeichen einer inwendigen Grundeinstellung,36 und dazu können daher jene, die so eine tugendhafte Grundeinstellung nicht haben, nicht gezwungen werden. Also ist auch die Trägheit gegenüber einem gesollten geistigen Gut keine Todsünde. 7. Jede Todsünde bildet einen Gegensatz zum geistlichen Leben. Doch dieses verlangt nicht notwendig, daß man mit Freuden handelt, sondern es genügt, daß man überhaupt handelt. Andernfalls würde jeder, der pflichtgemäß handelt ohne daran Freude zu haben, eine Todsünde begehen. Daher ist Trägheit, auch wenn sie der geistigen Freude entgegenarbeitet, keine Todsünde. 8. Nicht jede Begehrensaufwallung ist eine Todsünde, denn ein Hang dazu bedroht uns aus der Verderbtheit unserer Natur her. Von 36 Vgl. Aristoteles, Eth. Nic. II, 3; 1104 b 3–4.

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derselben Verderbtheit her bedroht uns aber auch der Hang, Ruhe zu suchen und Mühen zu meiden, und das scheint ein Merkmal der Trägheit zu sein. Also ist nicht jede Trägheit eine Todsünde. Dagegen spricht: 1. Johannes Damascenus sagt, Trägheit sei eine Art von Kummer.37 Allerdings nicht Kummer gemäß dem, was Gott gefällt, denn dann wäre sie ja gar keine Sünde. Mithin ist sie ein Kummer über Irdisches. Dieser aber führt zum Tode, wie Paulus in 2 Kor. 7, 10 sagt. Daher ist Trägheit eine Todsünde. 2. Im 22. Buch von Über Genesis dem Wortlaut nach sagt Augustinus,38 daß, als Jakob an seine Söhne folgendes Wort richtet: »Ihr führt mein Greisenalter mit Bekümmerung in die Unterwelt hinab«, er offensichtlich aus einer Angst heraus spricht, aus übergroßem Kummer so betrübt zu werden, daß er nicht zur ewigen Ruhe der Seligen, sondern zum unterirdischen Ort der Sünder gelange.39 Alles aber, was vom Ort der Seligen weg und zum Bestrafungsort der Sünder hinführt, ist eine Todsünde. Daher ist der Kummer in Form der Trägheit eine Todsünde. 3. Über das Psalmwort 42, 5 »Warum bekümmerst Du Dich, meine Seele?« sagt die Glosse40: »Es lehrt, den Kummer über Irdisches zu meiden, der die Geduld, die Liebe und die Hoffnung auslöscht und das gesamte gute Leben zerstört«. Also ist Trägheit eine Todsünde, denn als solche bezeichnen wir das, was die Nächstenliebe und alle weiteren Tugenden auslöscht. Antwort: Aus dem vorher Gesagten41 wird ohne Schwierigkeit klar, daß die Trägheit in ihrer Eigenschaft als Sünde für sich auch gattungsgemäß eine Todsünde ist. Denn sie stellt eine gewisse Bekümmerung Johannes Damascenus, De fide 2, 14 (ed. Buytaert, 121). Augustinus, De Gen. ad litt. XII, 33, 64 (CSEL 28, 1, 429). Vgl. Gen. 44, 29. Glosse des Petrus Lombardus zu Psalm 42, 5 (PL 191, 426 C–D), aus Cassiodorus, Expositio in Psalmos 42, 5 (CCSL 97, 390). 41 Vgl. q. 10 a. 2. 37 38 39 40

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dar, die aus dem Widerwillen der menschlichen Leidenschaftlichkeit gegen das geistige, göttliche Gute entsteht. Solch ein Widerwille widerspricht ganz offenbar der Nächstenliebe, die zum göttlichen Guten gehört und sich daran erfreut. Denn da es die Todsünde ausmacht, der Nächstenliebe entgegenzustehen, durch welche die Seele ihr Leben hat, folgt daraus offenkundig, daß Trägheit gattungsgemäß eine Todsünde ist, wie auch in 1 Joh. 3, 14 steht: »Wer nicht liebt, der bleibt im Tode«. Auch ist zu bedenken, daß genauso wie der Neid als Kummer über das Wohl des Nächsten gattungsgemäß eine Todsünde ist, das heißt, insofern diese der Liebe als Wertschätzung des Mitmenschen widerspricht, so auch die Trägheit als Kummer über das göttliche Gute geistiger Art gattungsgemäß eine Todsünde darstellt, insofern sie der Liebe als Wertschätzung Gottes widerspricht. Doch läßt sich in allen Sünden, die gattungsgemäß als eine Todsünde gelten können, erweisen, daß die unvollkommene Vollführung von Sünden, die dieser Sündengattung angehören, eben keine Todsünde darstellt, da sie ohne vernünftige Überlegung geschehen. Daher sind Trägheitsanwandlungen solcher Art läßliche Sünden, genau wie das oben schon über die Neidanwandlungen gesagt wurde.42 Wenn aber die Leidenschaft des Fleisches so sehr die Überhand über die Vernunft gewinnt, daß der Mensch sich aus Überlegung über das göttliche Gute geistiger Art grämt, so ist die entsprechende Willensbewegung ganz deutlich eine Todsünde. Zu 1. Auch bei vollkommenen Menschen können Trägheitsanwandlungen vorkommen, vor allem im sinnlichen Bereich, weil nämlich niemand so vollkommen ist, daß in ihm nicht ein Rest von Widerspenstigkeit des Fleisches gegen den Geist bestünde. Doch scheint der Apostel Paulus an besagter Stelle nicht über den Kummer bezüglich einem geistigen Gut zu sprechen, welchen die Trägheit darstellen würde, sondern eher über den Kummer hinsichtlich vorübergehender Übel.

42 Vgl. q. 10 a. 2.

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Zu 2. Trägheit widerspricht dem Gebot der Heiligung des Sabbats, das, soweit es ein moralisches Gebot darstellt, das Ruhen des Geistes in Gott vorschreibt. Zu 3. Insofern Gott in unserem Geiste gegenwärtig ist, läßt er dort keinen Kummer und keine Todsünde zu. Somit ist die Trägheit kein Kummer über Gottes Gegenwart selbst, sondern über eines seiner Güter, das durch Teilhabe göttlich ist. Zu 4. Trägheit ist kein innerer Rückzug von jeglichem geistigen Gut, sondern vor solch einem, dem der Geist notwendigerweise anhängen sollte, und das ist das göttliche Gute, wie bereits geschildert.43 Zu 5. [Und damit ergibt sich auch die Lösung für das fünfte Argument.44] Zu 6. Der Gedankengang in diesem Argument betrifft das geistige Gut besonderer Handlungsweisen einzelner Tugenden, denn Vergnügen zu empfinden ist in keinem Gebot vorgeschrieben, wohl aber, daß der Mensch sich an Gott erfreut, und daß er Gott liebt, da Freude der Liebe auf dem Fuße folgt. Zu 7. Trägheit widerspricht der Nächstenliebe. Die Freude, die aus dieser hervorgeht, ist ein notwendiger Bestandteil geistigen Lebens, genauso wie die Nächstenliebe selbst, und so ist Trägheit eine Todsünde. Zu 8. Genauso wie die Begierde, die wegen der Verderbtheit der Natur entsteht und nur im Sinnlichen vorliegt, als unvollkommende Anwandlung keine Todsünde ist, ist auch die in vergleichbarer Weise geartete Trägheit keine Todsünde.

43 Vgl. Antwort. 44 Handschriftlich nicht eindeutig überliefert, von den Herausgebern

der Leonina aber so rekonstruiert.

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4. Artik el 45 Die vierte Frage lautet: Stellt Trägheit ein Hauptlaster dar? Das scheint nicht der Fall zu sein; denn: 1. Genauso wie Vergnügen aus Liebe hervorgeht, so der Kummer aus Haß. Doch Haß ist keines der Hauptlaster, und daher noch viel weniger die Trägheit, die eine Art Bekümmerung ist. 2. Hauptlaster sind solche, die für das Begehen weiterer Sünden die Grundlage hergeben. Die Trägheit aber scheint das nicht zu tun, sondern vielmehr handlungsunfähig zu machen. Denn Trägheit ist bedrückender Kummer, wie Johannes Damascenus sagt.46 Also ist die Trägheit keine Hauptsünde. 3. Es kennzeichnet ein Hauptlaster, Töchter zu haben. Doch scheint Trägheit nicht die Töchter zu haben, die Gregor der Große ihr im 31. Buch seiner Moralschriften zuschreibt.47 Denn Böswilligkeit ist allen Sünden gemeinsam, Groll hingegen kennzeichnet den Haß, der aus Wut entsteht. Kleinlichkeit hingegen und Verzweiflung kommen aus dem aufbegehrenden Seelenvermögen, doch findet man die Trägheit nicht in diesem vor, sondern eher im begehrenden. Unvermögen gegenüber Gebotenem scheint dasselbe wie Trägheit zu sein, während Zerstreutheit des Geistes dem Eigentlichen der Trägheit zu widersprechen scheint, denn das besteht in der Fesselung des Geistes. Daher sollte die Trägheit nicht als Hauptlaster angesehen werden. Dagegen spricht: Das autoritative Gewicht Gregors, der das im 32. Buch der Moralschriften nun einmal so sagt,48 wo er die Trägheit unter die Hauptlaster rechnet.

45 Paralleltexte: Super libros Sententiarum II, d. 42 q. 2 a. 3; Sum. theol. II–II, q. 35 a. 4. 46 Johannes Damascenus, De fide 2, 14 (ed. Buytaert, 121). 47 Gregor der Große, Moralia XXXI, 45, 88 (PL 76, 621 A). 48 Gregor der Große, Moralia XXXI, 45, 87 (PL 76, 621 A).

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Antwort: Wie oben bemerkt,49 ist ein Hauptlaster ein Laster, aus dem andere Laster hervorgehen, indem sie es sich als Zielursache setzen. Genauso wie Menschen sich eines Vergnügens wegen verleiten lassen, vieles zu tun oder zu fliehen, so auch, um Kummer zu vermeiden, denn beides scheint demselben Grundsatz zu gehorchen, das Gute zu suchen und das Böse zu meiden. Und wie gesagt50: Da Trägheit eine Art Sich-Grämen über ein inneres göttliches Gut ist, genauso wie der Neid über das Wohlergehen des Nächsten, so ist Trägheit deswegen ein Hauptlaster, weil aus ihr, ähnlich wie aus Neid, viele Laster entstehen, sofern nämlich der Mensch doch auch vieles ohne rechtes Maß vollführt, um jenen Kummer zu meiden, den ihm das Wohlergehen seines Nächsten verursacht. Weil nun kein Mensch lange im Kummer verharren und ohne Vergnügen bleiben kann, wie Aristoteles im 8. Buch der Nikomachischen Ethik sagt,51 kommt es zu zweierlei Reaktionen auf den Kummer: einmal, daß man sich von allem, was Trauer bereitet, zurückzieht, und zweitens, daß man sich dem zuwendet, was Freude bereitet. Demgemäß sagt Aristoteles im 2. Buch der Nikomachischen Ethik,52 daß jene, die sich an geistigen Dingen nicht erfreuen können, sich meist auf die körperlichen Vergnügungen verlegen. Entsprechend läßt man aus der Bekümmerung, die über geistige Güter verspürt wird, das Gemüt sich auf all das Verbotene verlegen, woran der aufs Fleischliche bedachte Geist Gefallen findet. In der Vermeidungsbewegung gegenüber dem Kummer läßt sich nun dieser Vorgang ersehen, daß der Mensch erst den Kummer vermeiden und dann anderes suchen will. Zu dieser Vermeidung von geistigen Gütern, die man genießen kann, zählt auch der Rückzug von einem erhofften göttlichen Gut, was man dann Verzweiflung nennt; und genauso der vom Tun von etwas geistig Gutem, was als Unwilligkeit gegenüber Gebotenem zu gelten hat, sofern es allgemein das betrifft, was zur Erlösung nötig ist; sofern es aber die schwierige49 50 51 52

Vgl. q. 8 a. 1. Vgl. a. 3. Aristoteles, Eth. Nic. VIII, 5; 1157 b 15–16; VIII, 6; 1158 a 23–24. Aristoteles, eigentlich Eth. Nic. X, 9; 1176 b 19–21.

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ren Dinge betrifft, die unter die evangelischen Räte fallen, handelt es sich um Kleingeistigkeit. Außerdem mag es auch vorfallen, daß, wenn jemand gegen seinen Willen zum Tun guter Taten angehalten wird, die ihm zuwider sind, er dann zuerst eine gewisse Entrüstung gegenüber den geistlichen Würdenträgern oder gegenüber wem auch immer, der ihn dazu anhält, verspürt, und dann spricht man von Groll; dann aber mag er auch Entrüstung und Haß gegen die geistigen Güter selbst verspüren, und das ist Bösartigkeit im strikten Sinne. Zu 1. Unter den Tugenden wird die Liebe, aus der doch das Vergnügen entsteht, für die hauptsächliche Tugend gehalten, das heißt eigentlich die Nächstenliebe, da das göttliche Gute und das Wohl des Menschen an sich liebenswert ist, aber nicht an sich hassenswert, sondern nur insofern es aus irgendeinem beiläufigen Umstand Kummer bereitet. Und daher begreift man die Hauptlaster eher danach, daß sie Kummer bereiten denn Haß. Zu 2. Trägheit bedingt tatsächlich einen Stillstand gegenüber den Dingen, die Kummer verursachen, zu deren Gegenteil jedoch macht sie handlungsbereit. Zu 3. Im betreffenden Zitat Gregors ist Bösartigkeit nicht als das angeführt, was allen Sünden gemeinsam ist, sondern nur insofern sie eine gewisse Feindseligkeit gegenüber geistigen Gütern darstellt. Auch spricht nichts dagegen, daß Groll aus Wut und Trägheit entsteht, da ein- und dasselbe doch in verschiedener Hinsicht aus verschiedenen Gründen entstehen kann. Daß jedoch Kleingeisterei und Verzweiflung zum aufbegehrenden Vermögen gehören, verhindert noch nicht, daß sie aus Trägheit entstehen können, da die Leidenschaften des aufbegehrenden Vermögens alle aus denen des begehrenden hervorgehen. Verstockung schließlich gegenüber gebotenem Tun entspricht nicht dem Kummer selbst, sondern ist dessen Wirkung. Somit entsteht Kummer aus Trägheit, als ob das Herz von dem, was es träge macht, ebenfalls niedergedrückt würde, und daher treibt es das Herz auch umher zu anderen Dingen, wenn es solche Bedrückung zu meiden sucht.

XII. ÜBER DEN ZORN 1

Die hier behandelten Fragen lauten: 1. Ist jeder Zorn schlecht, oder sind einige Spielarten von Zorn gut? 2. Kann Zorn eine Sünde sein oder nicht? 3. Ist Zorn eine Todsünde? 4. Ist Zorn eine weniger schwerwiegende Sünde als Haß, Neid und anderes von der Art? 5. Stellt Zorn ein Hauptlaster dar?

1. Artik el 2 Die erste Frage lautet: Ist jeder Zorn schlecht, oder sind einige Spielarten von Zorn gut? Es scheint so, als sei jeder Zorn übel; denn: 1. Hieronymus sagt in seiner Auslegung des Matthäuswortes 5, 22 »Wer gegen seinen Bruder im Zorn aufbraust …« folgendes: »In einigen Codices wird hinzugefügt ›ohne Grund‹; ansonsten wird richtigerweise der Satz so wiedergegeben und der Zorn insgesamt verworfen. Wenn wir nämlich angehalten sind, für unsere Verfolger zu beten, ist doch jeder Anlaß zum Zorn zu verwerfen. So ist der Zusatz ›ohne Grund‹ zu streichen, da menschlicher Zorn nicht Gottes Gerechtigkeit vollführen kann«.3 Also ist jeglicher Zorn übel und verboten. 1 Ira kann nach Auskunft der Wörterbücher »Zorn« genauso heißen wie »Wut«. Da Thomas jedoch im folgenden auch von »gerechtem Zorn« u. ä. spricht und von der ira auch u. a. als »Eifer«, wird für diese Übersetzung dem »Zorn« sachgemäß der Vorzug gegeben. 2 Paralleltexte: Sum. theol. II–II, q. 158 a. 1; Lectura super Ephesos cap. 4 lect. 8. 3 Hieronymus, Super Matthaeum I, 5, 22 (CCSL 77, 27–28).

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2. Wie Dionysius Areopagita in Kapitel 4 von Über die göttlichen Namen sagt,4 ist zornige Wildheit dem Hunde wesensgemäß, nicht aber dem Menschen. Was aber dem Wesen des Menschen widerspricht, ist übel und Sünde, wie bei Johannes Damascenus aus dem 1. Buch von Über den Glauben hervorgeht.5 Also ist jeglicher Zorn eine Sünde. 3. Wie Dionysius am selben Ort sagt,6 geschieht das Böse in der menschlichen Seele gegen jede Vernunft. Der Zorn jedoch ist immer widervernünftig, denn Aristoteles sagt im 7. Buch der Nikomachischen Ethik, »der Zorn scheint in gewisser Hinsicht auf die Vernunft zu hören, sie dabei aber mißzuverstehen«,7 was soviel heißt wie unvollständig zu hören, wie er hinterher erklärt. Also ist Zorn immer von Übel. 4. In Mt. 7, 3 f. macht der Herr demjenigen Vorhaltungen, der einen Balken im Auge hat und seinem Bruder einen Splitter aus dem Auge ziehen will. Wieviel mehr sind also demjenigen Vorhaltungen zu machen, der sich einen Balken ins Auge steckt, um dann einem anderen den Splitter aus dem Auge zu ziehen. Doch solches tut derjenige, der zürnt, um einen anderen zur Besserung zu bringen, denn Cassianus sagt im 8. Buch seiner Klosteranweisungen: »Heftige Zornaufwallungen, aus welchem Grund auch immer, blenden das Auge des Herzens.«8 Also sind jedem Vorhaltungen zu machen, der im Zorn entbrennt, um seinen Bruder zur Besserung zu mahnen, und noch mehr demjenigen, der aus irgend einem anderen Grund dem Zorn die Zügel schießen läßt. 5. Die Vollendung des Menschen besteht in der Nachahmung Gottes, weswegen in Mt. 5, 48 geschrieben steht: »Seid vollkommen, wie auch euer Vater vollkommen ist«. Doch wie Weish. 12, 18 sagt: »Gott urteilt mit Gleichmut«. »Zorn jedoch verunmöglicht die Ruhe des Geistes«, wie Gregor der Große im 5. Buch der Moralschriften Dionysius Areopagita, De div. nom. IV, 32 (Dion. I, 286). Johannes Damascenus, De fide, eigentlich 2, 30 (ed. Buytaert, 162). Dionysius Areopagita, De div. nom. IV, 32 (Dion. I, 309). Aristoteles, Eth. Nic. VII, 6; 1149 a 25–26; Thomas zitiert nach der Übersetzung des Robert Grosseteste (ed. Gauthier, 282). 8 Cassianus, De institutione coenobiorum VIII, 6 (CSEL 17, 155). 4 5 6 7

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meint.9 Jeglicher Zorn also entfernt von menschlicher Vollkommenheit, insofern er uns von Gottes Ebenbildlichkeit trennt. 6. Alles, was gut oder moralisch bedeutungslos ist, kann zu einer tugendhaften Handlung nützen, da der Gebrauch von Gutem eine Tugendhandlung darstellt, wie Augustinus im 2. Buch von Über die Freiheit des Willens sagt.10 Doch keine Art von Zorn ist einer Tugend nützlich, sagt doch auch Cassianus im eben genannten Werk: »Wo der Apostel sagt: ›jeglicher Zorn weiche von euch‹, da macht er keine Ausnahme für den notwendigen oder nützlichen Zorn«.11 Und auch Cicero sagt im 4. Buch der Tuskulanen12: »Tapferkeit benötigt keinen Beistand von seiten des Zorneseifers, sie ist vollkommen hinreichend mit ihren eigenen Waffen ausgestattet«. Also ist Zorn nie etwas Gutes. 7. Im 5. Buch seiner Moralschriften sagt Gregor der Große13: »Wenn Zorn die Ruhe des Geistes zerstört, so zersetzt und spaltet er diesen dermaßen, daß er nicht mehr mit sich selbst in Übereinstimmung ist, und die Kraft seiner Ähnlichkeit mit sich selbst verliert«. Und daraus wird es offensichtlich, daß der Zorn der Seele äußerst schadet. Wie aber Augustinus in seinem Handbüchlein sagt,14 wird etwas böse genannt, weil es schadet. Also ist jeder Zorn etwas Böses. 8. Über das Bibelwort Lev. 19, 17 »Hasse nicht deinen Bruder in deinem Herzen« sagt die Glosse,15 daß Zorn eine Wollust an Vergeltung ist. Vergeltung zu suchen, verstößt jedoch gegen das Gebot Gottes, denn hinzugefügt wird an selber Stelle (Lev. 19, 18): »Du sollst keine Vergeltung suchen«. Also ist Zorn immer eine Sünde. 9. Dinge, die einander ähnlich sind, beurteilt man auch ähnlich,16 also sollte man auch in ähnlicher Weise das beurteilen, was in ähnliGregor der Große, Moralia V, 45, 78 (CCSL 143, 276). Augustinus, De lib. arb. II, 19, 50 (CCSL 29, 271). Cassianus, De institutione coenobiorum VIII, 5 (CSEL 17, 155). Marcus Tullius Cicero, Tusculanae disputationes IV, 23, 52. Gregor der Große, Moralia V, 45, 78 (CCSL 143, 276). Augustinus, Enchiridion 12 (CCSL 46, 54). Glossa ordinaria in Leviticum XIX, 18. Vgl. Boethius, De differentiis topicis III (PL 64, 1197 D), und Petrus Hispanus, Summulae logicales 5, 33 (ed. de Rijk, 74). 9 10 11 12 13 14 15 16

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cher Weise bezeichnet wird. Und der Zorn wird als eines unter anderen Hauptlastern verzeichnet. Alles andere aber, was als Hauptlaster bezeichnet wird, ist immer übel und niemals gut, wie festzustellen ist, wenn man jedes einzeln durchgeht. Also ist Zorn immer von Übel und niemals gut. 10. Entstehungsgründe, auch wenn sie in ihrer Gewichtung ganz gering sind, können doch in ihrer Wirkkraft ganz erheblich sein, wie Aristoteles sagt.17 Die Hauptlaster aber sind sozusagen Entstehungsgründe für die Sünden, also sind sie erheblich wirksam im Bösen und haben somit keinerlei Beimischung von Gutem. Und daher ist keinerlei Zorn etwas Gutes. 11. Was die besten Betätigungen des Menschen unterbindet, ist schlecht. Aber selbst derjenige Zorn, den man aus Eifer für die rechte Sache empfindet, unterbindet so eine bestmögliche menschliche Tätigkeit, nämlich die Kontemplation.18 Denn Gregor der Große sagt im 5. Buch seiner Moralschriften: »Selbst wenn man aus Bemühung für das Rechte innerlich verwirrt wird, wird die Kontemplation als etwas, das nur ruhigen Herzens verspürt werden kann, vernichtet.«19 Also ist jeglicher Zorn schlecht. 12. Wie Cicero im 3. Buch der Tuskulanen sagt,20 sind Leidenschaften sozusagen Krankheitszustände der Seele. Jeder körperliche Krankheitszustand aber ist ein Übel für den Körper, also ist auch jede Leidenschaft der Seele für diese ein Übel. Nun ist der Zorn eine Art seelische Leidenschaft. Und so ist jeglicher Zorn Übel. 13. In der Topik sagt Aristoteles,21 daß, wer Leidenschaften verspürt und sich ihrer enthält, jemand ist, der Leidenschaften verspürt, ohne von ihnen beherrscht zu werden; ein ausgewogener und gleichmütiger Mensch aber ist solch einer, der gar keiner Leidenschaft erliegt. Das ist so gemeint, daß tugendhaftes Sein darin besteht, von keiner Leidenschaft betroffen zu werden, und somit widerstrebt jede Leidenschaft der Tugend. Der Tugend zu widerstreben jedoch ist im17 18 19 20 21

Aristoteles, De caelo I, 9; 271 b 12. Vgl. Gregor der Große, Moralia V, 45, 82 (CCSL 143, 279). Gregor der Große, Moralia V, 45, 82 (CCSL 143, 279). Marcus Tullius Cicero, Tusculanae disputationes III, 10. Aristoteles, Topik IV, 5; 125 b 22–27.

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mer von Übel. Also ist das auch der Zorn, da er doch eine Leidenschaft ist. 14. Wer auch immer sich anmaßt, was Gottes ist, der sündigt. Und wer auch immer im Zorn entbrennt, maßt sich Rache an, die aber Gott allein zusteht, gemäß Dtn. 32, 35: »Mein ist die Rache, und ich übe die Vergeltung«. Denn Zorn entspricht dem Streben nach Rache, wie Aristoteles sagt.22 Also sündigt jeder, der zürnt. 15. Valerius Maximus erzählt über Archytas von Tarent, daß, als ihn einmal ein Sklave beleidigte, er diesem sagte: »Ich würde dich schwer bestrafen, wenn ich nicht so zornig mit dir wäre«.23 Daraus läßt sich entnehmen, daß der Zorn eine angemessene Zurechtweisung verunmöglicht. 16. Wenn es überhaupt einen guten Zorn geben sollte, dann doch nur den, der sich gegen die Sünde empört. Es ist aber gar kein Zorn von dieser Sorte, weil der Zorn als Leidenschaft des sinnlichen Strebensvermögens sich nur gegen ein sinnliches Übel empört. Also ist kein Zorn etwas Gutes. Dagegen spricht: 1. Die Aussage des Johannes Chrysostomos in seinem Matthäuskommentar 24: »Wer ohne Grund erzürnt, wird angeklagt werden, wer jedoch mit Grund, der nicht. Denn ohne Zorn würden weder die Lehre fortschreiten können noch Gerichtsverfahren aufrecht erhalten noch auch Verbrechen verfolgt werden können.« Also sind einige Formen von Zorn gut und notwendig. 2. Gottes Vorschriften führen nur zum Guten. Doch werden wir von einem Gottesgebot aufgerufen, zu zürnen, gemäß Eph. 4, 26: »Erzürnt und verweigert euch der Sünde«. Und die Glosse dazu erklärt: »Hegt gegen die Sünder Zorn, denn es ist eine natürliche Seelenbewegung, die zum Vorgehen gegen Verbrecher zu gehören pflegt. Also werden wir geheißen, zu zürnen und somit wird gleich22 Aristoteles, Rhetorik II, 2; 1378 b 1–2, so auch Thomas, Sum. theol. I–II, q. 46 a. 1. 23 Valerius Maximus, Facta et dicta mirabilia IV, 1, 1. 24 Johannes Chrysostomus, Opus imperfectum in Matthaeum (eigentlich apokrypher Herkunft) Predigt 11 (PG 56, 690).

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zeitig klargemacht, daß solch ein Zorn gut ist«.25 Also ist nicht jeder Zorn schlecht. 3. Gregor der Große sagt im 5. Buch seiner Moralschriften: »Diejenigen, die wollen, daß wir nur über uns selbst zürnen, nicht aber mit den Verbrechen in unserer Umgebung, haben kein rechtes Verständnis davon. Wenn wir nämlich geheißen werden, unseren Nächsten zu lieben wie uns selbst, so folgt daraus auch, daß wir über sein Fehlgehen genauso Zorn empfinden sollten wie über unsere eigenen Fehlleistungen«.26 4. Im 3. Buch von Über den Glauben sagt Johannes Damascenus,27 daß Christus Zorn verspürt hat, daß in ihm jedoch keine Sünde war, wie in 1 Petr. 2, 22 steht. Also ist nicht jeder Zorn sündhaft. 5. Jede Sünde ist zu verurteilen, nicht aber jeder, der zürnt, wie Aristoteles im 2. Buch der Nikomachischen Ethik sagt.28 Also ist nicht jeder Zorn sündhaft. Antwort: Über diese Frage gab es ehedem eine große Auseinandersetzung unter den Philosophen: Die Stoiker29 nämlich meinten, jeder Zorn sei von Übel, die Peripatetiker30 hingegen, daß gewisse Arten von Zorn gut seien. Damit man ersieht, was davon mehr der Wahrheit entspricht, muß man bedenken, daß bezüglich des Zorns wie jedweder sonstigen Leidenschaft zweierlei zu beachten ist, sozusagen eine formale und eine materielle Seite. In formaler Hinsicht ist zu beachten, daß Zorn aus dem Streben der Seele hervorgeht, will sagen, daß Zorn ein Streben nach Rache darstellt,31 in materieller Hinsicht aber, daß 25 Glosse des Petrus Lombardus zu Eph. 4, 26 (PL 192, 206 A), aus Ps.Ambrosius, In Ephesos 4, 26 (CSEL 81-3, 106). 26 Gregor der Große, Moralia V, 45, 82 (CCSL 143, 279). 27 Johannes Damascenus, De fide 3, 20 (ed. Buytaert, 259 f.). 28 Aristoteles, Eth. Nic. II, 5; 1105 b 33 – 1106 a 1. 29 Nach Augustinus, De civ. Dei IX, 4 (CCSL 47, 251), wie Thomas in Sum. theol. II–II q. 158 a. 1 und De ver. q. 26 a. 8 ad 7 angibt. 30 Nach Augustinus, vgl. Anm. 29. 31 Vgl. Aristoteles, Rhet. II, 2; 1378 b 1–2, so auch Thomas, Sum. theol. I–II, q. 46 a. 1.

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Zorn einer starken körperlichen inneren Bewegung zuzurechnen ist, nämlich daß Zorn darin besteht, daß Blut stärker um das Herz herum hochsteigt.32 Wenn man also den Zorn nach dem Formalen an ihm betrachtet, dann kann er sowohl im sinnlichen Streben wie im erkennenden, das heißt im Willen, sein, insofern etwa jemand willens sein könnte, Rache zu üben. Demgemäß läßt sich ausmachen, daß Zorn etwas Gutes wie etwas Schlechtes sein kann. Denn es ist offenbar tugendsam, daß jemand Vergeltung gemäß der Sollensordnung der Gerechtigkeit sucht, etwa wenn er diese Vergeltung deshalb üben will, um einer Sünde entgegenzuwirken, ohne dabei gegen die rechte Ordnung zu verstoßen. Das nämlich heißt der Sünde zürnen. Allerdings ist der Zorn dann Sünde, wenn jemand Vergeltung suchen sollte, ohne alle Ordnung einzuhalten, sei es, daß er damit gegen geltendes Recht verstößt, oder daß er mit der Vergeltung eher auf die Vernichtung des Sünders abzielt als auf die Sünde selbst. Das nämlich heißt, seinem Bruder zürnen. Darüber hätte es wohl auch zwischen Stoikern und Peripatetikern keinen Streit gegeben, denn auch die Stoiker geben zu, daß der Vergeltungswille manchmal tugendhaft ist. Was jedoch das Zweite betrifft, nämlich die materielle Seite des Zorns oder die heftige Herzensbewegung, so drehte sich der ganze Meinungsstreit darum, da solch eine heftige Bewegung das Urteil der Vernunft verhindert, in dem doch in erster Linie das Gute an der Tugend zu finden ist. Und deshalb, weswegen auch immer jemand zürnen mag, scheint das der Tugend abträglich zu sein, und in entsprechendem Maße erscheint jeder Zorn lasterhaft. Wenn man die Sache jedoch recht betrachtet, wird man finden, daß die Stoiker in ihrer Überlegung in dreifacher Hinsicht geirrt haben: und zwar zum ersten darin, daß sie nicht zwischen dem schlechthin Besten und dem jeweils Besten unterschieden haben. Es kommt nämlich vor, daß etwas schlechthin Besseres nicht das Bessere in einer bestimmten Situation ist, wie etwa Philosophie zu treiben für sich betrachtet besser ist, als begütert zu sein; für einen Notleidenden aber ist es besser, begütert zu sein, wie im 3. Buch der 32 Vgl. Aristoteles, De an. I, 2; 403 a 31.

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Topik gesagt wird.33 Schnell wütend zu sein ist gut für einen Hund, weil das seiner natürlichen Veranlagung entspricht, jedoch ist es das nicht für den Menschen. Weil nun der Mensch wesensgemäß aus Seele und Leib und seiner vernünftigen und sinnlichen Natur besteht, gehört es zum Gutsein des Menschen, daß er im Ganzen und als solches der Tugend unterstellt bleibt, das heißt sowohl in Hinsicht auf seinen Vernunftaspekt als auch hinsichtlich des sinnlichen Aspekts, als auch hinsichtlich der körperlichen Beschaffenheit. Deshalb ist es für die Tugendhaftigkeit eines Menschen erforderlich, daß der Wille nach gerechter Vergeltung nicht nur im vernünftigen Seelenteil angesiedelt ist, sondern auch im sinnlichen vorhanden und selbst im körperlichen, und der Körper selbst dazu drängt, sich in den Dienst der Tugend zu stellen. Zweitens haben die Stoiker nicht bedacht, daß der Zorn und andere Leidenschaften ähnlicher Art sich in zweierlei Weise dem Urteil der Vernunft gegenüber verhalten können: einmal vorausgehend und dann sind Zorn und die ähnlich gearteten Leidenschaften notwendigerweise immer das Vernunfturteil verhindernde Dinge, da die Seele über die Wahrheit am besten in einer gewissen Ruhe des Geistes urteilen kann – weshalb Aristoteles auch sagt,34 daß die Seele in der Beruhigung wissend und klug wird. Zum zweiten kann sich der Zorn zum Urteil der Vernunft als Folge verhalten, weil nämlich, nachdem die Vernunft ihr Urteil gefällt und eine Art und Weise der Vergeltung befohlen hat, die Leidenschaft aufkocht, beides auch in die Tat umzusetzen. In dem Fall verhindern Zorn und ähnlich geartete Leidenschaften keineswegs das bereits getroffene Vernunfturteil, sondern helfen vielmehr zu dessen sofortiger Umsetzung und sind darin der Tugenhaftigkeit von Nutzen. Deshalb sagt Gregor der Große im 5. Buch der Moralschriften: »Man muß sich äußerst davor hüten, daß der Zorn, der doch ein Werkzeug der Tugendhaftigkeit darstellt, dem Geist gebietet und ihm vorsteht wie ein Herr; sondern vielmehr soll der Zorn stets der Vernunft auf dem Fuße folgen wie eine dienstbereite Magd. Wenn der Zorn nämlich

33 Aristoteles, Top. III, 2; 118 a 10–11. 34 Vgl. Aristoteles, Phys. VII, 6; 247 b 23–24.

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der Vernunft als Untertan dient, so erhebt man sich kraftvoller gegen die Laster.«35 Drittens irrten die Stoiker in ihrer falschen Auffassung vom Zorn und den anderen Leidenschaften.36 Obwohl nämlich nicht alle Wollensbewegungen Leidenschaften sind, so versäumten es die Stoiker doch, beide richtig dadurch zu unterscheiden, daß die anderen Wollensbewegungen im Willen ihren Sitz haben, die Leidenschaften aber im sinnlichen Streben – und zwar weil die Stoiker zwischen Willen und sinnlichem Streben keine Unterscheidung trafen. Eine solche trafen sie nur so, daß sie die Leidenschaften als das Maß wohlgeordneter Vernunft überschreitende Strebenswegungen bezeichneten. Deshalb nannten sie sie gleichsam Krankheiten der Seele, wie die körperlichen Krankheiten die Grenzverletzungen gegen das gesunde Maß im Körper darstellen. Und somit kam es ihnen in den Sinn, daß jeder Zorn und jede Leidenschaft schlecht sei. Aber Zorn bezeichnet in Wahrheit eine nicht näher ausgemachte Bewegung des sinnlichen Strebens und so eine innere Bewegung kann durchaus von der Vernunft bestimmt sein. Und insofern er dem Vernunfturteil folgt, dient der Zorn der Vernunft zur schnellen Umsetzung ihres Urteilsspruchs. Genau das erfordert aber die menschliche Natur ihrer Beschaffenheit nach: daß das sinnliche Streben von der Vernunft her bestimmt wird. Daher muß man notwendig mit den Peripatetikern darin übereinstimmen, daß einige Arten von Zorn gut und der Tugend förderlich sind. Zu 1. Hieronymus spricht an der zitierten Stelle über denjenigen Zorn, mit dem man seinem Bruder zürnt, wie sich aus dem Herrenwort ergibt, das er dort auslegt. Jeder so geartete Zorn aber ist schlecht, während der Zorn, der sich gegen die Sünde erhebt, gut ist, wie bereits ausgeführt.37 Zu 2. Daß der Zorn die Vernunft beherrscht, entspricht nicht der menschlichen Natur, vielmehr ist es für den Menschen naturgemäß, daß die Zornaufwallung der Vernunft gehorcht. 35 Gregor der Große, Moralia V, 45, 83 (CCSL 143, 280). 36 So Marcus Tullius Cicero, Tusculanae disputationes III, 10. 37 Vgl. Antwort.

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Zu 3. Im Zitat des dritten Arguments spricht Aristoteles über den Zorn des Unbeherrschten, der sich nicht der Vernunft unterstellt. Zu 4. Wenn der Zorn dem Vernunfturteil folgt, so verstört er zwar die Vernunft ein wenig, doch hilft er zur schnellen Umsetzung des Vernunfturteils, und deswegen hebt er die Anordnung der Vernunft nicht auf, die durch ein bereits vorhergehendes Vernunfturteil festgelegt wurde. Deshalb sagt auch Gregor der Große im 5. Buch der Moralschriften,38 daß der lasterhafte Zorn das Auge des Geistes trübt, der Zorn für eine gerechte Sache es aber nicht trübt, sondern lediglich stört. Zu 5. Gott ist unkörperlich, und genau so, wie er daher ohne körperliche Gliedmaßen Werke vollführt, so auch ohne sinnliche Neigungen. Doch zur Tugendhaftigkeit des Menschen gehört es, sich der Regungen des sinnlichen Strebens zu bedienen, genauso wie der körperlichen Gliedmaßen. Zu 6. Der dem Urteil der Vernunft vorhergehende Zorn dient der Tugendhaftigkeit nicht, sondern er schadet ihr. Folgt der Zorn hingegen dem Vernunfturteil, so dient er zu dessen Umsetzung, wie bereits gesagt.39 Zu 7. Man muß die betreffende Aussage Gregors in Bezug auf lasterhaftes Zürnen verstehen. Woraus sich erklärt, daß er selbst im Darauffolgenden eine andere Art von löblichem und tugendsamem Zorn beschreibt. Zu 8. Im Gesetz Gottes wird nur jene Rache untersagt, die bloß aus Vergeltungssucht verübt wird, nicht aber jene aus Gerechtigkeitseifer. Zu 9. Man sollte Urteile nicht nach der Bezeichnung der Dinge treffen, sondern nach deren Wesensbeschaffenheit. Daher sollte man Dinge mit ähnlicher Benennung nicht derselben Beurteilung unterwerfen, um nicht den Fehlschluß der Äquivokation zu begehen.40 Dazu muß man wissen, daß, wie Aristoteles im 4. Buch der Nikomachischen Ethik sagt,41 Laster, die das Gegenteil des Sanftmu38 39 40 41

Gregor der Große, Moralia V, 45, 82 (CCSL 143, 279). Vgl. Antwort. Vgl. z. B. Petrus Hispanus, Summulae logicales 7, 26 (ed. de Rijk, 98). Aristoteles, Eth. Nic. IV, 13; 1125 b 26–27.

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tes darstellen, keine eigene Bezeichnung haben, weshalb hier die Bezeichnung »Leidenschaft« für die des »Hauptlasters« eintritt. Weil nun Leidenschaften gut und schlecht sein können, kann es auch der Zorn in gleicher Weise sein. Die anderen Hauptlaster hingegen werden mit den entsprechenden eigentlichen Bezeichnungen für Laster belegt und sind deshalb immer von übel. Zu 10. Wie Dionysius im 4. Kapitel von Über die göttlichen Namen sagt,42 ist das Böse allein aus der Kraft des Guten heraus handlungsfähig, und daher haben die Hauptlaster ihren Prinzipienstatus für Sünden nicht aus dem Bösen her begründet, sondern eher aus dem Guten, und zwar, weil ihre Zielsetzungen wünschenswert erscheinen und zum Handeln in gewisser Hinsicht anregen. Woraus sich ersehen läßt, daß man die Hauptlaster nicht als zuhöchst und rein böse einschätzen darf. Dennoch kann man sagen, daß der Zorn, insofern er ein Hauptlaster darstellt, niemals gut ist. Zu 11. Nicht alles, was Besseres verhindert, ist schlecht. Denn dann wäre die Ehe etwas Übles, da sie das jungfräuliche Leben verhindert. Mehr noch: was zu einer gegebenen Zeit ein Verhinderungsgrund für ein bestimmtes Gut ist, kann für dieselbe Zeit sogar besser sein. Obwohl also etwa die geistige Kontemplation für sich genommen die beste aller menschlichen Tätigkeiten ist, kann es dennoch in gewissen Fällen besser sein, zur Handlung überzugehen, und dabei hilft die Zornesregung durchaus von mal zu mal. Zu 12. Der Gedankengang des zwölften Arguments geht von einem Begriff von Zorn aus, der eine ungeordnete Regung voraussetzt, genauso wie die Stoiker das auffaßten. Zu 13. In der Topik führt Aristoteles43 beispielhaft auch solches an, was seiner eigenen Meinung nach nicht richtig ist, was ihm aber im Urteil anderer als wahrscheinlich vorkommt. Dazu gehört auch seine Aussage, daß Tugendhaftigkeit darin besteht, von keiner Leidenschaft betroffen zu werden, dieses nämlich erschien nach Meinung der Stoiker als wahrscheinlich. Im 2. Buch der Nikomachischen Ethik44 jedoch tadelt Aristoteles die Meinung derer, die sagten, 42 Dionysius, De div. nom. IV, 32 (Dion. I, 305). 43 Aristoteles, Top. IV, 5; 125 b 22–27. 44 Aristoteles, Eth. Nic. II, 5; 1105 b 31–32.

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daß Tugenden sozusagen einer Leidenschaftslosigkeit entsprächen. Dennoch darf man behaupten, daß Tugendhaftigkeit darin besteht, nicht ordnungslos von Leidenschaften gebeutelt zu werden. Zu 14. Wer über die Sünde seines Bruders in Zorn gerät, sucht nicht eigene Vergeltung, sondern die Gottes. Denn die Sünde ist doch nichts anderes als eine Beleidigung Gottes, und so maßt sich derjenige, der gerechterweiese zürnt, nicht das an, was Gottes ist. Zu 15. Archytas hatte die Art der Bestrafung noch nicht festgelegt, und wollte deswegen in Zorn entbrannt nicht strafen, um nicht das rechte Maß der Bestrafung zu überschreiten. Zu 16. Zweierlei sollte man in Bezug auf den Zorn beachten: nämlich den Grund für den Zorn, wie ihn die Vernunft vorgibt, und das kann durchaus eine Sünde darstellen. Und dann den Schaden, auf den das sinnliche Streben aus ist, und das ist immer etwas Sinnenfälliges. 2. Artik el 45 Die zweite Frage lautet: Kann Zorn eine Sünde sein oder nicht? Das scheint nicht der Fall zu sein; denn: 1. Zorn ist doch eine Art Leidenschaft. Doch durch Leidenschaften erlangen wir keine Verdienste noch büßen wir solche ein, und wir werden für Leidenschaften auch nicht gelobt oder getadelt, wie aus dem hervorgeht, was Aristoteles im 2. Buch der Nikomachischen Ethik schreibt.46 Also ist Zorn keine Sünde. 2. Genauso wie ein lahmer Mensch ein Mensch ist, so ist die gefallene Natur doch nichts desto weniger Natur. Zu zürnen gehört jedoch zur gefallenen Natur, und daher ist Zorn etwas naturgemäßes. Doch nichts, was der Natur gemäß ist, stellt eine Sünde dar. Also tut es auch der Zorn nicht. 3. Was von sich aus eine Ausrichtung auf das Gute oder das Üble erfahren kann, sollte nicht als Sünde betrachtet werden. Nun kann

45 Paralleltexte: Sum. theol. II–II, q. 158 a. 2; Lectura super ad Ephesos cap. 4 lect. 8. 46 Aristoteles, Eth. Nic. II, 5; 1105 b 31–32.

2. Artikel

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aber der Zorn auf etwas Gutes wie auf etwas Übles gerichtet werden. Also ist der Zorn nicht von sich aus eine Sünde. 4. Die den natürlichen Seelenkräften eigenen Verrichtungen sind keine Sünden, da die Sünde der Natur widerstrebt, wie Johannes Damascenus im 2. Buch von Über den Glauben sagt.47 Nun ist der Zorn eine Verrichtung des aufbegehrenden Seelenvermögens, das auch sozusagen eine natürliche Seelenkraft ist. Also ist Zorn keine Sünde. 5. Wie Augustinus sagt,48 ist jede Sünde willentlich. Doch ist der Zorn nichts Willentliches, denn wie Aristoteles im 7. Buch der Nikomachischen Ethik sagt,49 handelt der Zornerfüllte aus Betrübnis, und diese gehört zu denjenigen Dingen, die uns gegen unseren Willen zustoßen, wie Augustinus im 14. Buch von Die Bürgerschaft Gottes schreibt.50 Also ist Zorn keine Sünde. 6. Was nicht in unserer Macht steht, ist keine Sünde, denn niemand sündigt in denjenigen Dingen, die er nicht vermeiden kann, wie Augustinus sagt.51 Der Zorn aber liegt nicht in unserer Macht, denn über das Psalmwort 4, 5 »Sündigt nicht, wenn ihr in Zorn geratet«, meint die Glosse,52 daß sich die Zornesregung nicht in unserer Gewalt befindet. Also ist Zorn keine Sünde. 7. Aristoteles sagt,53 daß Zorn das Aufsteigen von Blut um das Herz herum ist. Das aber hat nichts Sündiges an sich. Also ist Zorn keine Sünde. 8. Im Brief an den Mönch Antonius schreibt Hieronymus,54 daß das Zürnen menschlich ist, daß es aber christlich ist, niemanden dabei zu verletzen. Was aber an sich menschlich ist, stellt keine Sünde dar. Also ist Zorn keine Sünde. 47 48 49 50

Johannes Damascenus, De fide 2, 30 (ed. Buytaert, 162). Augustinus, De vera rel. XIV, 27 (CCSL 32, 204). Aristoteles, Eth. Nic. VII, 6; 1149 b 20–21. Augustinus, De civ. Dei XIV, 6 (CCSL 48, 421) und XV, 2 (CCSL 48,

438). 51 Augustinus, De lib. arb. III, 18, 50 (CCSL 29, 304). 52 Glosse des Petrus Lombardus zu Psalm 4, 5 (PL 191, 86 C) aus Cas-

siodor, Expositiones in Psalmos 4, 5 (PL 70, 49 C). 53 Aristoteles, De an. I, 2; 403 a 31. 54 Hieronymus, Epistola ad Antonium monachum (= Brief 12; CSEL 54, 42).

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9. In jeder Sünde liegt eine Hinwendung zu einem wandelbaren Gut vor.55 Im Zorn aber nicht, sondern vielmehr eine Wendung zum Bösen, das heißt dazu, seinem Nächsten Schaden zuzufügen. Also ist Zorn keine Sünde. Dagegen spricht: Der Apostel Paulus sagt in Eph. 4, 31: »Alle Entrüstung und aller Zorn ist von uns abgefallen«. Dieses würde er nicht sagen, wenn es sich dabei nicht um Sünden handelte. Also ist Zorn eine Sünde. Antwort: Zorn beinhaltet eine gewisse Strebensbewegung, aber eben keine vermeidende, sondern eine etwas verfolgende, da es sich nämlich um das Bestreben handelt, etwas zu erreichen. Da dessen angemessener Ausrichtungsgegenstand nicht das Böse, sondern Gutes ist, so wurde oben bereits gesagt,56 daß alle Strebensbewegungen, deren Ausrichtungsgegenstand das Übel ist, auch selbst Übel sind, falls dieses Streben als eines der Zielverfolgung gelten kann: also etwa das Böse zu lieben, zu verlangen oder sich daran zu erfreuen. Zorn jedoch schließt gewissermaßen ein Streben nach Üblem mit ein, nämlich einen Schaden, den man seinem Nächsten gerne zufügen will, doch nicht unter dem Blickwinkel, Böses zu tun, sondern Gutes, das heißt unter dem Blickwinkel der gerechten Vergeltung. Der Zornige will einem anderen Menschen nämlich Böses zufügen, um ein ihm selbst zugefügtes Unrecht zu vergelten. Denn die Strebensbewegungen werden eher gemäß dem Formalen an ihrem Ausrichtungsgegenstand als gemäß dem Inhaltlichen an ihm unterschieden. Deshalb sollte man eher annehmen, daß Zorn in der Verfolgung des Guten besteht und nicht in der des Üblen, weil dasjenige, was er anzielt, der inhaltlichen Bestimmung nach schlecht, in der formalen jedoch gut ist. Und obwohl jedes Anstreben von Üblem selbst übel ist, so ist doch nicht jedes Anstreben von Gutem gut, sondern man muß überlegen, ob das betreffende Gute ein wirkliches und schlechthin 55 Vgl. Augustinus, De lib. arb. I, 6, 35 (CCSL 29, 235) und III, 1, 1 (CCSL 29, 274). 56 Vgl. q. 10 a. 1.

2. Artikel

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aufzufassendes Gutes ist, oder eher ein scheinbares und jeweiliges Gutes. Das anzustreben, was wahrhaft und schlechthin Gutes ist, ist gut, wie etwa die Liebe und die Hinneigung zur Weisheit und die Freude über sie. Dagegen ist es etwas Schlechtes, dasjenige anzustreben, was scheinbar und nur je nachdem gut, in Wirklichkeit aber und für sich betrachtet schlecht ist. Das ergibt sich im Falle der Völlerei und der Wollust, bei denen man doch die Begierde nach Scheinbarem und nicht wahrhaft Gutem tadelt. Also muß man zur hier vorgesetzten Frage feststellen, daß, solange der Zorn ein wahrhaft gerechtes Vergeltungsstreben darstellt, dieser Zorn gut und tugendhaft ist und als gerechte Ereiferung bezeichnet wird. Wenn hingegen die Vergeltung nur scheinbar und nicht wirklich gerecht sein sollte, so ist der Zorn eine Sünde, und diesen nennt Gregor der Große im 5. Buch der Moralschriften57 den lasterhaften Zorn. Eine so gewollte Vergeltung ist jedoch offenbar nur gerecht aufgrund einer vorhergehenden Beleidigung, für welche die Vernunft Vergeltung fordert. Sie ist jedoch nicht wahrhaft und schlechthin gerechtfertigt, da sie nicht der gesollten Gerechtigkeitsordnung folgt. Also etwa, weil der Zornige vielleicht größere Vergeltung sucht, als er soll, oder weil er versucht, auf eigene Faust Vergeltung zu üben, obwohl ihm das nicht zusteht, oder weil er Vergeltung mit falscher Zielsetzung sucht. Daher sagt Aristoteles im 7. Buch der Nikomachischen Ethik,58 daß der Zornige zwar anfänglich die Stimme der Vernunft vernimmt, nämlich insofern er beurteilen kann, daß eine Beleidigung vergolten werden sollte. Doch hört er diese Stimme der Vernunft nicht richtig, da er nicht lange genug abwartet, um der rechten Vergeltungsordnung nach Maßgabe der Vernunft nachzukommen. Daher vergleicht Aristoteles den Zorn mit übereiligen Bediensteten, die einen Befehl ausführen, noch bevor sie ihn vollständig vernommen haben, und dann eben einen Fehler begehen. Zu 1. Man bezeichnet Leidenschaften ja weder als lobens- noch als tadelnswert, denn sie schließen für sich besehen nichts mit ein, was der Vernunft entspräche oder widerstrebte. Wenn man nun einer 57 Gregor der Große, Moralia V, 45, 82 (CCSL 143, 279). 58 Aristoteles, Eth. Nic. VII, 6; 1149 a 25–28.

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Leidenschaft etwas hinzufügte, daß sie der Vernunft entspricht, wird die Leidenschaft lobenswert sein, erbringt hingegen diese Hinzufügung einen Mißklang mit der Vernunft, wird die Leidenschaft tadelnswert sein. Und wie gesagt59: Zorn wird als Sünde aufgefaßt, insofern er die Vernunft nicht vollkommen vernimmt. Dennoch wird Zorn nicht nur eine Sünde genannt, sofern er eine Leidenschaft, also eine Regung des sinnlichen Strebens, darstellt, sondern wie gesagt60 auch, sofern damit eine Tätigkeit des geistigen Strebens, das heißt des Willens, bezeichnet wird. Zu 2. Einem hinkenden Menschen kann etwas zukommen, insofern er ein Mensch ist, und das kommt dann dem Menschen an sich zu, einem hinkenden Menschen hingegen nur beiläufig. Und auch das, was auf den Menschen beiläufig zutrifft, kann ihm, insofern er ein hinkender Mensch ist, zukommen. Ähnlich kommt der gefallenen Natur der Zorn insofern zu, als die Natur eine gefallene ist, denn daraus ergibt es sich, daß die Zornesregung von der Vernunftordnung abweicht. Zu 3. Wie oben gesagt61: Weil das der Sanftmut entgegengesetzte Laster keine eigene Bezeichnung hat, wird dafür die Bezeichnung einer an sich ethisch gleichgültigen Leidenschaft herangezogen, und so kommt es, daß wir Zorn als Sünde bezeichnen. Das gilt so jedoch nur in bezug auf das Üble am Zorn. Zu 4. Ähnliches ist hinsichtlich des vierten Arguments anzuführen: Zorn nämlich hat als Bezeichnung für die Tätigkeit eines natürlichen Vermögens zu gelten, das eine in bezug auf Gutes und Böses gleichgültige Leidenschaft darstellt. Zu 5. Ein zorniger Mensch handelt aus einer Bekümmerung heraus, die eine Folge zugefügter Verletzung ist. Woraus man nicht erschließen kann, daß Zorn etwas Unwillentliches ist, wohl aber, daß etwas Ungewolltes Grund des Zorns ist. Denn niemand gerät in Zorn, außer es würde ihm etwas gegen seinen Willen angetan. Zu 6. Im sechsten Argument spricht die Glosse über den zügellosen Zorn, wie er sich im Sinnlichen befindet, ohne daß auch ein 59 Vgl. Antwort. 60 Vgl. a. 1. 61 Vgl. a. 1.

3. Artikel

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vollständiges Bedenken der Sache durch die Vernunft erfolgt wäre. Solche sinnlichen Regungen liegen zwar im Einzelfall in unserer eigenen Verfügungsgewalt, da wir eine Regung dadurch verhindern können, daß wir unsere Aufmerksamkeit auf andere Dinge lenken, doch können wir es nicht verhindern, daß eine ungezügelte Regung in uns aufkommt. Zu 7. Die im siebten Argument angeführte Definition des Zornes wurde gemäß des materiellen Aspekts des Zorns so getroffen, denn sie stützt sich auf den körperlichen Vorgang des Aufsteigens von Blut um das Herz herum. Diese Körperregungen aber erfolgen aus der Strebensbewegung, die das Formale am Zorn ist, und daraus entsteht das Eigentliche der Sünde. Zu 8. Manchmal benutzt man die Bezeichnung »Mensch« zur Bezeichnung der menschlichen Schwachheit, wie etwa in 1 Kor. 3, 3: »Da immer noch Eifersucht und Streit unter euch herrscht: seid ihr denn etwa nicht dem Fleisch zugewandt und wandelt nach Art der Menschen?« Nur auf diese Weise wird zügelloses Zürnen als menschlich bezeichnet, da es der menschlichen Schwachheit entspricht. Zu 9. Der Ausrichtungsgegenstand des Zorns ist das Schlechte, das als etwas Gutes auftritt, und nur deswegen stellt er auch eine Hinwendung zu etwas Gutem dar.

3. Artik el 62 Die dritte Frage lautet: Ist Zorn eine Todsünde? Das scheint der Fall zu sein; denn: 1. Über Eph. 4, 26 »Laßt die Sonne nicht über Eurem Zorn untergehen« sagt die Glosse,63 daß Christus nirgendwo seinen Aufenthalt nimmt, wo der Zorn wohnt. Das Einzige jedoch, was Christus in der Seele neben sich nicht duldet, ist die Todsünde. Also ist der Zorn eine Todsünde.

62 Paralleltext: Sum. theol. II–II, q. 158 a. 3. 63 Glosse des Petrus Lombardus zum Epheserbrief 4, 26 (PL 192, 206 C).

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2. In Mt. 5, 21–22 sagt der Herr: »Ihr habt gehört, daß euren Vätern gesagt wurde: ›Du sollst nicht töten, wer jedoch töten sollte, der wird vor Gericht gebracht‹. Ich aber sage euch, daß jeder, der seinem Bruder zürnt, vor das Gericht gebracht wird«. Daraus wird ersichtlich, daß nach dem Neuen Gesetz auf Zorn dieselbe Strafe steht wie im Alten auf Mord. Im Alten Gesetz aber war Mord immer eine Todsünde. Also ist nach dem Neuen Gesetz der Zorn eine Todsünde. 3. Was auch immer die ewige Verdammnis verdient, ist eine Todsünde. Nun verdient sie der Zorn aber, denn die Glosse zu Mt. 5, 22 sagt,64 daß drei Dinge verschiedene Strafen der ewigen Verdammnis je nach einzelnen Sündenarten zum Ausdruck bringen wollen, nämlich der Richterspruch, das Gericht und die Hölle. Also ist Zorn eine Todsünde. 4. Im 5. Buch der Moralschriften sagt Gregor der Große65: »Durch den Zorn geht die Gerechtigkeit verloren, wird die Eintracht zerstört, der Glanz des Heiligen Geistes zum Verblassen gebracht«. Das alles aber geschieht nur durch die Todsünde. Also ist der Zorn eine Todsünde. 5. Jedes lüsterne Verlangen nach etwas, was Christus sich selbst vorbehalten hat, ist eine Todsünde. Doch wie Augustinus im 14. Buch von Die Bürgerschaft Gottes sagt66: »Zorn ist die Lust, Rache zu nehmen«. Vergeltung aber hat Christus sich selbst vorbehalten, nach Dtn. 32, 35: »Mein ist die Vergeltung, und ich werde zurückzahlen«, oder nach einer anderen Textversion: »Mein ist die Rache«. Also ist Zorn eine Todsünde. 6. Was Übeltaten vermehrt, ist offenbar selbst eine Übeltat, und also auch eine Todsünde. Zorn aber mehrt Missetaten, wie die Glosse67 über Spr. 29, 22 »Der Zornerfüllte erregt Streit« sagt. Also ist Zorn eine Todsünde. 7. Nichts verdirbt den Verstand, es sei denn eine ganz beson64 Glossa ordinaria in Matthaeum V, 22, aus Augustinus, De sermone Domini in monte I, 9, 24 (CCSL 35, 25). 65 Gregor der Große, Moralia V, 45, 78 (CCSL 143, 276). 66 Augustinus, De civ. Dei XIV, 15, 2 (CCSL 48, 438). 67 Glossa ordinaria in Proverbios XXIX, 22.

3. Artikel

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dere Sünde, ähnlich wie ganz besondere Eigenschaften von sinnlich fassbaren Gegenständen die Sinne verderben.68 Nun verdirbt Zorn die Vernunft, denn Gregor der Große sagt im 5. Buch der Moralschriften,69 daß Zorn das Auge des Geistes trübt. Daher ist Zorn eine ganz besonders herausragende Sünde, und von solcher Art ist die Todsünde. 8. Was der Vernunft zuwiderläuft, ist offenbar eine Todsünde. Zügelloser Zorn läuft aber dem Vernunfturteil zuwider, wie aus dem oben Gesagten hervorgeht.70 Also ist Zorn eine Todsünde. 9. Was dem Menschen naturwidrig ist, stellt eine Todsünde dar,71 und das trifft auf den Zorn zu. Denn von Natur aus ist der Mensch ein sanftmütiges Lebewesen,72 der Zorn jedoch läuft dem Sanftmut entgegen. Also ist Zorn eine Todsünde. 10. Was auch immer den Taten der Nächstenliebe zuwiderläuft, ist eine Todsünde. Doch Zorn läuft der Liebestat zuwider, die das Gute für den Nächsten will, und er will auch das, was dem Nächsten schadet. Also ist Zorn eine Todsünde. 11. Eine Sünde wird Todsünde genannt, weil sie geistig tötet. Doch in Ijob 5, 22 steht geschrieben: »Der Zorn tötet den Dummkopf«. Also ist Zorn eine Todsünde. Dagegen spricht: 1. Die Glosse sagt über das Psalmwort 4, 5 »Zürnt und sündigt nicht dabei«73: »Zorn, der nicht wirksam umgesetzt wird, ist läßlich«. Was aber seiner Gattungszuweisung nach und schon bevor es umgesetzt wird, eine Todsünde darstellt, wird nie durch bloße Zustimmung eine läßliche Sünde. Also ist der Zorn nicht seiner Gattungsbestimmung nach eine Todsünde.

68 69 70 71 72

Vgl. Aristoteles, De an. II, 24; 424 a 28–32. Gregor der Große, Moralia V, 45, 82 (CCSL 143, 279). Vgl. a. 1. Vgl. Johannes Damascenus, De fide 2, 30 (ed. Buytaert, 162). Vgl. Aristoteles, Top. V, 1; 128 b 17; V, 2; 130 a 27–28, und V, 3; 132

a 7. 73 Glosse des Petrus Lombardus zu Psalm 4, 5 (PL 191, 86 C) aus Cassiodor, Expositiones in Psalmos 4, 5 (CCSL 97, 58).

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2. Eine in die Tat umgesetzte Sünde ist nicht weniger Sünde als eine im Herzen begangene.74 Eine zornige Tat ist aber nicht immer eine Todsünde. So etwa, wenn jemand im Zorn seinem Nächsten einen kleinen Schaden zufügt, sei es, daß er ihn leicht wegstößt oder ausschimpft oder irgend etwas anderes dieser Art tut. Also ist der Zorn auch so betrachtet seiner Gattungsbestimmung nach keine Todsünde. 3. Im 9. Buch von Die Bürgerschaft Gottes sagt Augustinus,75 daß es nach christlicher Lehre unerheblich ist, ob jemand zürnt, was vielmehr zählt, ist, warum eine fromme Seele in Zorn gerät. Nun kann aber keine Todsünde mit der Frömmigkeit zusammen Bestand haben. Also ist Zorn keine Todsünde. 4. Wie oben festgestellt,76 gibt es auch den tugendhaften Zorn und einen Zorn, der eine Todsünde darstellt. Also gibt es dazwischen auch so eine Art von Zorn, die eine läßliche Sünde darstellt. 5. Keine Todsünde hat zusammen mit dem Heiligen Geist Bestand. Der Zorn kann das aber haben. Denn in 2 Kön. 2, 15 kann man nachlesen, daß der Geist Elias auf Elischa ruhte, der doch unmittelbar darauf die jungen Knaben verfluchte, und »zwei Bären kamen aus dem Wald und zerrissen zweiundvierzig von ihnen« (2 Kön. 2, 24). Und das scheint doch nun ein Ausdruck höchsten Zorns zu sein. Also ist Zorn keine Todsünde. 6. Das Gesetz des Neuen Bundes läßt keine Todsünde zu. Den Zorn jedoch schon, wie aus der Glosse77 zu Eph. 4, 26 »Zürnt und sündigt dabei nicht« hervorgeht. Also ist Zorn keine Todsünde. 7. Gemäß Aristoteles im 7. Buch der Nikomachischen Ethik 78 ist Begierde gemeiner als Zorn. Begierde ist aber nicht immer eine Todsünde. Also der Zorn genausowenig. 8. Eine Todsünde ist keine Strebensbewegung, die einer vollkommenen Überlegung durch die Vernunft abkürzend zuvorkommt. Vgl. Petrus Lombardus, Sent. II, 42, 4, 2. Augustinus, De civ. Dei IX, 5 (CCSL 47, 254). Vgl. a. 1. Glosse des Petrus Lombardus zum Epheserbrief 4, 26 (PL 192, 206 A) aus (Pseudo-)Ambrosius, In Ephesos 4, 26 (PL 17, 391 D [413 B]). 78 Aristoteles, Eth. Nic. VII, 6; 1149 b 23–25. 74 75 76 77

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Das aber tut der Zorn jedesmal, da er doch niemals die Vernunft vollständig vernimmt, wie im 7. Buch der Nikomachischen Ethik 79 gesagt wird. Also ist Zorn keine Todsünde. Antwort: Da moralische Handlungen ihre Artbestimmung aus ihren Gegenständen ziehen, muß man auch nach diesen beurteilen, ob die Handlungen gattungsgemäß gut oder schlecht sind. Und wenn als schlecht befunden, ob sie Todsünden oder läßliche Sünden sind. Nun wurde bereits gesagt, daß der Ausrichtungsgegenstand des Zorns, insofern er eine Sünde darstellt, die ungerechte Vergeltung ist, also nichts anderes als der Schaden, den man seinem Nächsten entgegen den Sollensansprüchen der Gerechtigkeit zufügt.80 Das schließt seiner Wesensbestimmung nach eine Todsünde ein. Da nämlich der Sollensanspruch der Gerechtigkeit einem Gottesgebot entspricht,81 widerspricht alles, was dem Geist dieses Sollensanspruchs entgegensteht, einem Gottesgebot und ist deswegen eine Todsünde. Also ist lasterhafter Zorn gattungsgemäß eine Todsünde,82 da er nichts weiter ist als der Wille, seinem Nächsten ungerechterweise zu schaden, weil vorher eine Beleidigung erfolgt ist. Wie in Bezug auf andere Sünden bereits bemerkt,83 kann es geschehen, daß eine Sünde gattungsgemäß Todsünde ist, und dennoch wegen der Unvollständigkeit der Ausführung nur läßlich sein kann. Und oben wurde ausgeführt,84 daß eine menschliche Handlung in zweifacher Hinsicht unvollständig sein kann: Einmal vom Handelnden her betrachtet, und dann ist die unvollständige menschliche Handlung die, welche nur darin besteht, daß die Sinnlichkeit dem Vernunfturteil zuvorkommt, welches doch die eigentliche Handlungsvorgabe im Menschen darstellt. Solche Tendenzen des Sinnenstrebens zu einer Todsünde, und selbst zum Begehen von 79 80 81 82 83 84

Aristoteles, Eth. Nic. VII, 6; 1149 a 25–26. Vgl. a. 2. Vgl. Ex. 20, 15. Vgl. Gregor der Große, Moralia V, 45, 82 (CCSL 143, 279). Vgl. q. 10 a. 2 und q. 11 a. 3. Vgl. q. 10 a. 2.

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Ehebruch und Mord, stellen also läßliche Sünden dar. Auf andere Weise wird eine Handlung unvollständig genannt im Hinblick auf den Gegenstand der Handlung, der seiner Geringfügigkeit wegen wie für nichts erachtet wird. Denn die Vernunft erachtet das Geringfügige bisweilen wie für nichts, wie Aristoteles im 3. Buch der Politik sagt.85 Und demgemäß ist, obwohl fremdes Gut zu nehmen gattungsgemäß eine Todsünde darstellt, dennoch das Wegnehmen von etwas so Geringfügigem, daß es fast keinen Wert und keine Bedeutung besitzt, keine Todsünde. Also etwa, wenn jemand eine kleine Traube aus jemand anderes Weinberg wegnimmt. Auf beide genannten Weisen kann man auch in der Gattung der Sünden aus Zorn läßliche Sündenhandlungen vorfinden: Zum einen ist es eine läßliche Sünde als eine plötzliche Zornesaufwallung, die der Vernunft ihre Zustimmung versagt; zum anderen, weil der zugefügte Schaden gering ist, etwa wenn jemand im Zorn gegen einen Buben, um ihn zurechtzuweisen, seine Hand erhebt und ihn an den Haaren oder am Ohr zupft oder etwas anderes vergleichbarer Harmlosigkeit tut. Wenn aber jemand Vergeltung sucht, ohne auf deren Gerechtigkeit zu achten und dabei unter Zustimmung seiner vernünftigen Überlegung einem anderen schweren Schaden zufügt, dann ist ein solcher Zorn immer eine Todsünde. Da also eine gewisse Art von Zorn eine Todsünde darstellt und eine gewisse andere eine läßliche Sünde, muß man für beide Arten jeweils einzeln Antwort geben. Zu 1. Die Glosse spricht hier vom lasterhaften Zorn, der als innere Bewegung vollständig ist, sowohl in Hinsicht auf den Handelnden als auch in Hinsicht auf den Gegenstand der Handlung. Dann nämlich ist der Zorn, wie bereits gesagt, immer eine Todsünde. Zu 2. – 4. Ähnlich muß auch die Antwort auf die Argumente 2, 3 und 4 lauten. Zu 5. Gott behält sich gewisse Vergeltungsformen für sich allein vor. Was offensichtliche Vergehen betrifft, hat er aber die Vergeltung anderen eingeräumt, denen eine ordnungsgemäße Machtstel85 Eigentlich Aristoteles, Rhet. II, 2; 1378 b 12–13, so auch Thomas, Sum. theol. I–II, q. 46 a. 3.

3. Artikel

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lung übertragen wurde. Über den Menschen in so einer Machtposition sagt nämlich Röm. 13, 4, daß er »ein Rächer im Vollzug des Zornesgottes gegen den, der Böses tut, ist«. Betreffs der heimlichen Sünden jedoch hat Gott sich selbst Urteil und Vergeltung vorbehalten, gemäß 1 Kor. 4, 4: »Urteilt nicht vor der Zeit«. Auch um seiner selbst willen Vergeltung zu üben hat Gott sich vorbehalten. Denn für einen Mensch soll nicht um seiner selbst willen vergolten werden, sondern der Schuld wegen, die gegen ihn begangen wurde, die auch eine Beleidigung Gottes darstellt. Wenn daher jemand Vergeltung um seiner selbst willen oder im Widerspruch zur rechtmäßigen Gesetzesordnung sucht, so nimmt er für sich in Anspruch, was Gottes ist, und begeht somit eine Todsünde, es sei denn, der Vollzug seiner Handlung ist, wie bemerkt,86 unvollständig. Zu 6. Die Vergrößerung von Übeln geschieht nicht nur durch die Hinzufügung von weiteren Übeln, sondern auch dadurch, daß Gelegenheit für Übles gegeben wird. Auf diese Weise kann der läßlich sündhafte Zorn zu einer Vergrößerung von Übeln führen. Zu 7. Auf zweierlei Weise läßt sich der Verstand oder die Vernunft beeinträchtigen: Entweder an sich und unmittelbar als Verhinderung, und so tut das allein die Todsünde dem Vernunfturteil an. Oder mittelbar und nichtnotwendig, wenn der Vernunftgebrauch durch einen körperlichen Umstand behindert wird. Auf diese Weise kann auch der läßlich sündhafte Zorn den Vernunftgebrauch behindern. Dennoch spricht man von einer Blendung der Vernunft durch den Zorn nur dann, wenn dieser die Vernunft dazu bringt, einer sündhaften Handlung zuzustimmen. Zu 8. Die Vernunft führt alles gemäß Zielerwägungen. Also widerspricht all das, was das angemessene Ziel verhindert, der Vernunft, und das tut nur die Todsünde. Wenn die Verhinderung der Ausrichtung aber nur das betrifft, was zu ihrer Umsetzung wichtig ist, ohne das Ziel selbst zu verhindern, so ist sie nicht im eigentlichen Sinne widervernünftig, sondern geht an der Vernunft vorbei und ist somit eine läßliche Sünde. Zu 9. Der Zorn widerspricht dem Wesen des Menschen als vernunftbegabtem Lebewesen, insofern der Zorn der Vernunft entgegen86 Vgl. a. 2.

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steht. Das alles aber trifft nur auf den Zorn zu, der auch wirklich eine Todsünde darstellt. Zu 10. Nächstenliebe wünscht das Wohl des Nächsten unter Maßgabe des Guten, und deswegen ist Haß das Gegenteil der Nächstenliebe. Zorn jedoch wünscht, wie gesagt, dem Nächsten Schlechtes, nicht um des Schlechten willen, sondern unter der leitenden Maßgabe, gerechte Vergeltung zu üben. Hinsichtlich des Ausrichtungsgegenstands, der gerecht erscheint, es aber nicht wirklich ist, verstößt der Zorn gegen die Gerechtigkeit. Als Leidenschaft bildet Zorn hingegen das Gegenteil von Sanftmut, des gesunden Mittelwegs in dieser Sache. Zu 11. Das in Argument 11 aufgeführte Autoritätenzitat muß man als bezüglich der vollständig ausgeführten lasterhaften Zornesregung ausgesagt verstehen. [Antwort auf die Gegenargumente:] Zu 1. Zum ersten der Argumente, die zur Entgegnung angeführt wurden, ist zu bemerken, daß die Glosse dort vom Zorn spricht, wie er sich allein im Sinnlichen findet, und der, wie gesagt wird, nicht durch äußere Tathandlung, sondern auch mit innerer Zustimmung ausgeführt wird, die bei Gott wie eine ausgeführte Tat ihre Geltung hat. Zu 2. Der Argumentationsgang der zweiten Entgegnung erklärt sich aus der Zornesart, die hinsichtlich des Ausrichtungsgegenstands unvollständig ist. Zu 3. Eine fromme Seele braust in zorniger Ereiferung auf, die tugendsam ist, wie oben gesagt.87 Zu 4. Es gibt kein Mittleres zwischen gerechter und ungerechter Vergeltung, und somit auch nicht zwischen tugenddienlichem Zorn und jenem, der eine Todsünde darstellt; außer vielleicht der unvollständige Zorn, der läßlich ist. Zu 5. Elischa hat diese Buben aus Ereiferung für Gottes Gerechtigkeit verflucht, nicht aus sündhaftem Zorn wie wegen Vergeltung aus Verachtung.

87 Vgl. a. 1.

4. Artikel

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Zu 6. Der Apostel Paulus erlaubt eine Aufwallung unvollständigen Zorns, wie sie bloß im Sinnlichen vorkommt. Zu 7. Eine vollständige Begierde nach etwas, das gattungsgemäß eine Todsünde darstellt, ist selbst auch eine Todsünde. Eine unvollständige hingegen ist eine läßliche Sünde, wie oben auch über den Zorn so gesagt. Zu 8. Zorn vernimmt zwar nicht vollständig die Stimme der Vernunft, wo sie abrät, wohl aber manchmal, wenn sie zurät.

4. Artik el 88 Die vierte Frage lautet: Ist Zorn eine weniger schwerwiegende Sünde als Haß, Neid und anderes von der Art? Das scheint nicht der Fall zu sein; denn: 1. Wie Augustinus im Handbüchlein sagt,89 wird etwas deswegen ein Übel genannt, weil es Schaden anrichtet. Je mehr Schaden eine Sünde also verursacht, desto schlimmer ist sie. Nun fügt aber der Zorn dem Menschen größeren Schaden zu als der Neid. Hugo von St. Victor sagt nämlich in seinem Werk Über die fünf Siebenerreihen90: »Der Hochmut entfernt den Menschen von Gott, der Neid entfernt ihn von seinem Nächsten, und der Zorn von sich selbst«. Also ist der Neid keine schwerwiegendere Sünde als der Zorn. 2. Wirkungen gleichen ihren Ursachen. Nun ist Zorn die Wirkung des Neids, wie Hugo im selben Buch sagt.91 Also ist der Zorn in nichts weniger eine Sünde als der Neid. 3. Auch scheint es doch, daß der Zorn keine geringere Sünde ist als der Haß. Die Schwere einer Sünde wird nämlich gemäß ihrer Wirkung festgestellt, die Auswirkung von Haß und Zorn ist jedoch dieselbe, nämlich seinem Nächsten Schaden zuzufügen. Also ist Haß keine schwerwiegendere Sünde als der Zorn.

88 89 90 91

Paralleltexte: Sum. theol. I–II, q. 46 a. 6; II–II, q. 158 a. 4. Augustinus, Enchiridion 12 (CCSL 46, 54). Hugo von St. Victor, De quinque septenariis 2 (PL 175, 406 B–C). Hugo von St. Victor, De quinque septenariis 2 (PL 175, 407 A).

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4. Auch will es so aussehen, als sei der Zorn eine schwerere Sünde als die Fleischeslust. Denn etwas übertrifft etwas anderes genau dann, wenn es in seinem höchsten Punkt das andere an dessen höchstem Punkt übertrifft, so Aristoteles im 3. Buch der Topik.92 Das Höchstmaß an Sünde in der Gattung des Zorns, nämlich der Mord, übertrifft an Schwere nun jedwede Sünde in der Gattung der Fleischeslust. Also ist der Zorn ganz schlicht genommen eine schwerere Sünde als jede Fleischeslust. 5. Je schlimmer eine Sünde, desto größere Buße fordert sie. Buße jedoch läßt sich mehr mit Zorn als mit Fleischeslust in Verbindung bringen. Denn wie Aristoteles im 7. Buch der Nikomachischen Ethik sagt93: »Wer zürnt, der sündigt im Kummer, der Lüsterne aber ohne Bekümmerung«. Also ist Zorn eine schwerere Sünde als Lüsternheit. 6. In Ez. 16, 44 steht geschrieben: »Wie die Mutter, so die Töchter«. Gotteslästerung jedoch, die von Gregor dem Großen als Tochter des Zorns bezeichnet wird,94 ist eine ganz schlimme Sünde. Also ist Zorn eine schwerwiegendere Sünde als all die vorher genannten Laster. Dagegen spricht: Augustinus vergleicht in seinen Regeln den Zorn einem Stöckchen, den Haß aber einem Balken.95 Antwort: Man muß hier um Unterscheidung bemüht sein, wo man irgendeine Übereinstimmung vorfindet. Die Sünde des Zorns kommt mit den drei anderen genannten Sünden überein, was den Ausrichtungsgegenstand angeht: Der Gegenstand des Zorns ist ja, wie gesagt,96 unter Vorgabe von etwas Gutem Böses zuzufügen. In Bezug auf das Böse nun stimmt der Zorn mit dem Haß überein, der jemandem Böses wünscht, und mit dem Neid, der sich über das Gute grämt; 92 93 94 95 96

Aristoteles, Top. III, 2; 117 b 33–39. Aristoteles, Eth. Nic. VII, 6; 1149 b 20–21. Gregor der Große, Moralia XXXI, 45, 88 (PL 76, 621 B). Augustinus, Regula ad servos Dei 10 (PL 32, 1384). Vgl. a. 2.

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in Bezug auf das gewünschte Gute hingegen stimmt der Zorn mit der Begierde, die ebenfalls ein maßloses Streben nach etwas Gutem ist, überein. Ohne alle Ausrichtungsrücksichten gesprochen bleibt der Zorn aber an Schwerwiegendheit hinter den drei oben genannten Lastern zurück. Haß nämlich sucht das Schlechte für den Nächsten unter Anzielung des Schlechten, und der Neid stellt sich dem Gut des Nächsten unter Anzielung von Schlechtem entgegen. Der Zorn jedoch sucht das Übel für den Mitmenschen und die Verhinderung seines Wohls allein um eines Guten willen, nämlich wegen der gerechten Vergeltung. Was also ausmacht, daß Haß und Neid von sich aus Böses anzuzielen oder Gutes zu verhindern trachten, das macht es auch aus, daß der Zorn seiner Machart wegen Gutes anzielt, akzidentell aber Böses. Nun ist, was von sich aus etwas ausmacht, ausschlaggebender als dasjenige, was nur akzidentell etwas ausmacht,97 und daher übertreffen Neid und Haß die Sünde des Zorns an Bösartigkeit. Ähnlich entstehen Sünden der Lüsternheit daraus, daß ein Gut angestrebt wird, nämlich dasjenige Gut, das im sinnlichen Vergnügen liegt, während der Zorn ohne Maß dasjenige Gut anstrebt, das als das vermeintlich Gerechte bestimmt werden kann, und somit als ein vernunftgemäßes Gut. Da nun aber das vernunftgemäße Gut höher zu werten ist als das in den Sinnen liegende, so nähert sich die Zornaufwallung eher einer Tugendhandlung als die Begierdeaufwallung, und so ist schlicht gesagt Zorn weniger sündhaft als Lüsternheit. Deshalb meint Aristoteles im 7. Buch der Nikomachischen Ethik,98 daß der aus Lüsternheit Ungehaltene schlimmer ist als der im Zorn Ungezügelte. Diese vergleichende Betrachtung wird aus den Gattungsbestimmungen der Sünden selbst deutlich: Denn nichts würde doch dagegen sprechen, daß der Zorn durch Hinzufügung irgendwelcher Umstände schlimmer ist als die anderen genannten. Zu 1. Neid entfernt zwar den Menschen von seinem Mitmenschen wegen eines Haders gegen ihn, der Zorn entfernt den Men97 Vgl. Aristoteles, Phys. II, 10; 198 a 7. 98 Aristoteles, Eth. Nic. VII, 6; 1149 b 23–25.

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schen aber nicht auf dieselbe Weise von sich selbst. Vielmehr geschieht das mittelbar gesprochen dadurch, daß durch eine Zornaufwallung des Körpers der Vernunftgebrauch behindert wird, durch den der Mensch eigentlich sein Leben selbst setzt. Zu 2. Gemäß Aristoteles99 wird Zorn durch eine Bekümmerung verursacht, und da der Neid eine Bekümmerung ist, kann es auch vorkommen, daß Neid zornverursachend wirkt. Dennoch ist es nicht richtig, Neid und Zorn gleichzusetzen, da eine Wirkung nicht immer ihrer Ursache in allem gleicht, obwohl beide eine gewisse Ähnlichkeit miteinander aufweisen. Zu 3. Zorn und Haß gehen verschiedene Wege darin, dem Mitmenschen Schaden zuzufügen. Diese Verschiedenartigkeit läßt sich in vielerlei Dingen erkennen, wie Aristoteles im 2. Buch der Rhetorik sagt100: Und zwar erstens darin, daß der Zorn nur nach Maßgabe der gerechten Vergeltung Schaden zufügen will, und er sucht nur deswegen demjenigen zu schaden, der uns verletzt haben oder uns angehörende Personen verletzt haben mag, damit eine Vergeltung erfolge. Haß hingegen kann sich auf irgendwelche Fremden beziehen, die uns niemals verletzt haben, einfach nur deswegen, weil ihre Bestrebungen unserem Streben entgegenstehen. Zweitens darin, daß der Zorn sich immer auf irgendwelche Einzelpersonen bezieht, denn er entsteht ja als Antwort auf irgendwelche ungerechten Handlungen, Handlungen sind aber immer solche von Einzelpersonen;101 Haß dagegen kann man auch gegen Allgemeines empfinden, wie wenn ein Mensch allgemein alle Räuber haßt.102 Drittens darin, daß der Zornige dem anderen nur bis zu dem Maße zu schaden sucht, das erfüllt sein muß, damit ihm die vergeltende Gerechtigkeit vollbracht erscheine, und dann läßt er es mit dem Zorn auch gut sein; Haß hingegen ist im Bösen unersättlich, da er das Übel für seinen Mitmenschen an sich verfolgt. Viertens darin, daß der Zornige 99 Aristoteles, Eth. Nic. VII, 6; 1149 b 20–21. 100 Aristoteles, Rhet. II, 4; 1381 b 37 ff. 101 Vgl. Aristoteles, Met. I, 1; 981 a 16–17, so auch Thomas, Super

Met. V, 3; 1014 a 20–25. 102 Aristoteles, Rhet. II, 4; 1382 a 6–7, so auch Thomas, Sum. theol. I, q. 80 a. 2 ad 2.

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möchte, daß derjenige, dem er Schaden zufügt, sich klar darüber ist, daß ihm jetzt Böses widerfährt, weil er selbst jemandem ein Unrecht getan hat; denjenigen jedoch, der haßt, kümmert es gar nicht, auf welche Weise auch immer das zugefügte Böse gerechtfertigt ist. Und aus all dem geht hervor, daß Haß eine schwerwiegendere Sünde ist als Zorn. Zu 4. Der Beweisgang des vierten Arguments lastet darauf, daß der Mord dort eine Unterart des Zorns darstellt; das ist er aber gar nicht, sondern er ist dessen Folge. Und es geschieht durchaus, daß aus einem kleineren Übel manchmal ein größeres als dessen Folge entsteht. Zu 5. Man kann für Lüsternheit mehr büßen müssen als für Zorn, da Zorn mehr Vernunftmomente hat. Die Bekümmerung aber, die mit dem Zorn einhergeht, hat nichts mit Buße zu tun, da sie nicht die Zorneshandlung betrifft, sondern die Ursache für den Zorn, nämlich das zugefügte Unrecht. Zu 6. Das Böse kann nur aus der Kraft des Guten heraus Wirksamkeit entfalten. Deshalb entwickeln sich Sünder so, daß sie mit dem Sündigen bei dem anfangen, was noch eher nach Gutem aussieht, und daher oft von geringeren Sünden anfangend zu schwerwiegenderen weitergehen. Daher ist es nicht richtig zu sagen, daß Zorn genauso schwer wiegt wie Gotteslästerung.

5. Artik el 103 Die fünfte Frage lautet: Stellt Zorn ein Hauptlaster dar? Das scheint nicht der Fall zu sein; denn: 1. Ein Haupt hat selbst nicht wiederum ein Haupt. Der Zorn aber schon: nämlich die Bekümmerung, wie auch Aristoteles sagt.104 Also ist Zorn keines der Hauptlaster. 2. Außerdem ist jedes Hauptlaster auch eine eigene Sünde für sich. Der Zorn aber scheint eine eher allgemeine Form von Sündenhandlungen zu sein, da er nicht zu einer einzigen Tugend den 103 Paralleltexte: Sum. theol. I–II, q. 84 a. 4; II–II, q. 158 a. 6. 104 Aristoteles, Eth. Nic. VII, 6; 1149 b 20–21.

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Gegensatz bildet, sondern zu vielen, nämlich sowohl zur Nächstenliebe, als auch zur Gerechtigkeit, als auch zur Mäßigung. Also ist Zorn kein Hauptlaster. 3. Anderen hauptsächlichen Lastern lassen sich gewisse andere Laster wiederum gegenüberstellen, also etwa die Kleingeistigkeit dem Hochmut oder die Trägheit der eitlen Freude. Dem Zorn aber läßt sich kein anderes Laster gegenüberstellen. Also ist er auch keins der hauptsächlichen Laster. Dagegen spricht: In der Glosse zum Zitat aus Spr. 29, 22 steht geschrieben: Von Zorn erfüllt zu sein »ist das Tor zu allen Lastern; wenn es geschlossen ist, werden die Tugenden inneren Frieden verleihen, wenn es offensteht, wappnet sich der Geist, um allerhand Schandtaten zu begehen«.105 Antwort: Wie schon gesagt106: Ein Hauptlaster ist ein solches, aus dem andere hervorgehen, weil sie seine Zweckursache teilen. Nun ist es durchaus so, daß vieles ohne Maßhalten geschieht um der Zweckerfüllung des Zorns willen, also um Vergeltung zu üben. Was solchermaßen ohne Maßhalten vollführt wird, ist eine Sünde, und deswegen ist Zorn ein Hauptlaster. Gregor der Große führt nun im 31. Buch seiner Moralschriften sechs Töchter des Zorns an107: Streiterei, Selbstüberschätzung, Beleidigungen, Ausfälligkeiten, Unmut und Gotteslästerung. Und das deswegen, weil Zorn auf dreierlei Weise bedacht werden kann: einmal, insofern er im Herzen ist, zweitens, sofern er im Munde geführt wird, und drittens, sofern er in die Tat umgesetzt wird. Insofern er im Herzen gehegt wird, entsteht das lasterhafte Tun aus der Ursache des Zorns, also der erlittenen Ungerechtigkeit, denn erlittener Schaden läßt Zorn nur dann aufkommen, wenn er unter 105 Glossa ordinaria in Proverbia XXIX, 22, aus Beda, Super parabolas Salomonis allegorica III, 29 (PL 91, 1022 C). 106 Vgl. q. 10 a. 3. 107 Gregor der Große, Moralia XXXI, 45, 88 (PL 76, 621 B).

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dem Gesichtspunkt betrachtet wird, daß er ungerecht zustandekam und daher vergolten werden muß. Je schlechter gestellt oder untergebener aber eine Person einer anderen gegenüber ist, desto ungerechter ist der von ihr zugefügte Schaden, und so türmt der Zornige in Anbetracht des ihm angefügten Schadens im Geiste die erlittene Ungerechtigkeit noch auf und schreitet davon dazu fort, die Schmach an der Person, die sie zugefügt hat, zu vergelten. Das ist Unmut im eigentlichen Sinne. Eine andere lasterhafte Handlung wird vom Zorn, den man im Herzen hegt, im Hinblick auf das, was der Zornerfüllte erstrebt, verursacht. Denn dieser denkt sich verschiedene Wege und Weisen aus, wie er sich wohl rächen könnte, und durch solche Gedanken wird sein Geist aufgebläht, in dem Sinne, wie in Hiob 15, 2 steht: »Der Weise wird niemals seinen Bauch mit Ingrimm füllen«. Und somit entsteht aus Zorn Selbstüberschätzung. Der Zorn äußert sich aber auch sprachlich, und zwar einmal gegen Gott, weil er die zugefügte Ungerechtigkeit zuläßt, und so entsteht aus Zorn Gotteslästerung, und dann auch gegen den Mitmenschen, der die Ungerechtigkeit zufügt, woraus sich zwei Stufen von Zorn ergeben, von denen in Mt. 5, 22 die Rede ist. Deren eine ist, wenn jemand ohne an sich zu halten ausfällig wird, ohne im engeren Sinne zu beleidigen, wie wenn man einem Mitbruder gegenüber »verflucht auch!« sagt, was einem Zornigen eben so entfährt. Und somit entsteht aus Zorn Ausfälligkeit, also ein zügelloser verbaler Ausrutscher, der eine innere Zornesbewegung kundtut. Eine weitere Stufe des Zorns besteht darin, daß jemand sich zu verletztenden Äußerungen hinreißen läßt, wie wenn man seinem Mitbruder sagte »verfluchter Dummkopf!«, und dann ist das eine Beleidigung. Insofern der Zorn sich im Handeln äußert, entstehen Streitereien, und unter diese sind auch all ihre Folgen zu rechnen, als da sind: Verwundungen, Totschlag und anderes dergleichen. Zu 1. Der Kummer, aus dem der Zorn hervorgeht, beschränkt sich nicht nur auf die Art, in der er ein Hauptlaster darstellt (nämlich Trägheit). Und daher wird Zorn nicht unter die Hauptlaster eingezählt. Zu 2. Zorn ist eine besondere Art von Sünde, hat aber verschiedene Tugenden in verschiedenen Hinsichten zum Gegensatz. In

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Hinsicht auf die Zügellosigkeit der Leidenschaft selbst hat Zorn das Maßhalten zum Gegenteil, im Hinsicht auf den absichtlich zugefügten Schaden die Nächstenliebe, in Hinsicht auf das in Betracht gezogene scheinbar Gerechte die wahre Gerechtigkeit. Am meisten aber hat Zorn die Mäßigung zum Gegenteil, die nämlich könnte ihn zügeln. Zu 3. Es gibt durchaus auch ein Laster, das ein Gegenteil zum Zorn bildet, nämlich eine allzu große Nachsicht gegenüber dem Zorn. Hierüber sagt Johannes Chrysostomus108 bezüglich der Stelle Mt. 5, 22 »Wer seinem Bruder zürnt« folgendes: »Unvernünftige Duldsamkeit bringt lasterhaftes Tun hervor, nährt Bedachtlosigkeit und lädt nicht nur böse, sondern auch gute Menschen dazu ein, Schlechtes zu tun«. Da jedoch dieses Laster keine eigene Bezeichnung hat, erscheint es so, als habe der Zorn kein Laster als sein Gegenteil aufzuweisen.

108 Johannes Chrysostomus, Opus imperfectum im Matthaeum (eigentlich apokrypher Herkunft) homilia 11 (PG 56, 690).

XIII. ÜBER DIE HABGIER

Die hier behandelten Fragen lauten: 1. Stellt Habgier ein eigenes Laster für sich dar? 2. Ist Habgier eine Todsünde? 3. Ist Habgier eines der Hauptlaster? 4. Ist Leihen mit Zinsnahme eine Todsünde?

1. Artik el 1 Die erste Frage lautet: Stellt Habgier ein eigenes Laster für sich dar? Das scheint nicht der Fall zu sein, denn: 1. Jedes eigene Laster hat doch einen eigenen Gegenstandsbereich, da in Dingen der Moral stets die Artbestimmung nach Maßgabe des Ausrichtungsgegenstands des Handelns erfolgt. Habgier allerdings hat keinen besonderen Ausrichtungsgegenstand, sondern einen ganz allgemeinen, Augustinus sagt nämlich im 3. Buch von Über den freien Willen2: »Die Habgier, die auf griechisch philarguria heißt, muß so aufgefaßt werden, daß sie sich, wo immer sich die Möglichkeit eröffnet, daß man mehr will, als genug ist, nicht nur auf Silber und Geld, sondern auf alles, was maßlos begehrt werden kann, verlegt«. Also ist Habgier keine eigene Sünde. 2. Was unter sich noch verschiedene Untergruppen von Sünden vereint, ist keine besondere Einzelsünde. Die Habgier tut das aber, da sich unter ihr auch der Hochmut eingerechnet findet, der ein zügelloses Streben nach Großartigkeit darstellt.3 Gregor der Große nämlich sagt in seiner Predigt über Mt. 4, 1 »Jesus wurde geführt, etc.« folgendes: »Habgier gibt es nicht nur nach Geld, sondern auch nach

1 Paralleltext: Sum. theol. II–II, q. 118 a. 2. 2 Augustinus, De lib. arb. III, 17, 48 (CCSL 29, 303–304). 3 Vgl. Augustinus, De civ. Dei XIV, 13, 1 (CCSL 48, 434).

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Hochachtung, wenn Erhabenheit über jedes Maß hinaus angestrebt wird«.4 Also ist Habgier keine eigene Sünde für sich. 3. Cicero sagt, daß »Habgier der unmäßige Drang zu besitzen« ist.5 Doch sagt man zu Recht, daß wir alles besitzen, was zu uns gehört, also auch sowohl unsere eigentlichen Grundbestandteile, als auch unsere qualitativen und quantitativen Bestimmungen, als auch alles nur äußerlich uns unwesensgemäß Zukommende, wie Aristoteles in der Kategorienschrift sagt.6 Also ist Habgier keine aufs Besondere eingeschränkte Sünde. 4. Wie im 2. Buch der Nikomachischen Ethik steht,7 hat jede besondere Sünde auch eine ihr entgegengesetzte vorzuweisen. Die Habgier aber nicht, wie aus dem 5. Buch der Nikomachischen Ethik hervorgeht.8 Also ist die Habgier keine besondere Sünde für sich. 5. Was zu allen Sündengattungen in Beziehung steht, ist offenbar keine eigene Sünde für sich. Die Habgier tut das aber, weil in 1 Tim. 6, 10 steht: »Die Begierde ist die Wurzel aller Übel«, und damit ist die Habgier angesprochen, wie Augustinus im 11. Buch von Über Genesis dem Wortlaut nach sagt.9 Also ist die Habgier keine besondere Sünde. 6. Sollte Habgier eine besondere Sünde für sich sein, so doch zufürderst deswegen, weil Habgier ein zügelloses Verlangen nach Geld darstellt. In diesem Sinne aber ist Habgier auch ein allgemein sündhaftes Verhalten, denn jede Sünde besteht in der Hinwendung zu einem wandelbaren Gut, wie Augustinus sagt.10 Fast alle irdischen Güter jedoch lassen sich mit Geld erwerben, ganz im Sinne von Koh. 10, 19: »Geld macht alles möglich«. Daher ist Habgier auf keinen Fall eine eigene Sünde. 4 Gregor der Große, In Evangelium I, 16, 2 (PL 76, 1136 A). 5 Marcus Tullius Cicero, Tusculanae disputationes IV, 11, 26; bei Tho-

mas angeführt nach Hugo von St. Victor, De sacramentis christianae fidei 2, 13, 1 (PL 176, 526 A). 6 Aristoteles, Cat. 15; 15 b 17–33. 7 Aristoteles, Eth. Nic. II, 10; 1108 b 11 ff. 8 Aristoteles, Eth. Nic. V, 10; 1133 b 32–33. 9 Augustinus, De Gen. ad litt. XI, 15, 19 (PL 34, 436). 10 Augustinus, De lib. arb. I, 6, 35 (CCSL 29, 235), und III, 1, 1 (CCSL 49, 274).

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7. Was eine besondere Sünde für sich darstellt, steht nicht gleich mehreren Tugenden entgegen, wie im 10. Buch der Metaphysik steht.11 Habgier aber tut das. Denn sie bildet einen Gegensatz zur Nächstenliebe, wie Augustinus in Über Genesis dem Wortlaut nach sagt;12 und zur Großzügigkeit, wie der Volksmund sagt;13 sowie zur Gerechtigkeit, wie Johannes Chrysostomus14 über Mt. 5, 6 »Selig, die hungern und dürsten nach der Gerechtigkeit« sagt: Gerechtigkeit sei entweder eine allgemein tugendhafte Einstellung oder eine besonders zu betrachtende, die das Gegenteil zur Habgier bildet. Also ist Habgier keine solche besondere Sünde. 8. Es ist für die Habgier kennzeichnend, zu horten, was nicht gehortet werden sollte. Doch sollte man insbesondere geistliche Güter nicht horten, da sie durch Mitteilung nicht weniger werden, sondern reicher, und also dreht sich die Habgier um geistliche Güter. Nun ist es aber offenkundig, daß sie sich auch um leibliche Güter kümmert und somit schließlich allgemein um alle Güter. Also ist sie keine besondere lasterhafte Haltung, sondern eine allgemeine. Dagegen spricht: 1. Man trifft keine Unterscheidung von besonderem Einzelnen gegen Allgemeines. Aber von Habgier gegenüber besonderen Sündenarten schon: Denn Gregor der Große unterscheidet im 31. Buch der Moralschriften15 Habgier von den anderen Hauptlastern. Auch die Glosse zu Gen. 3, 1 sagt, daß der Teufel den ersten Menschen in Unmäßigkeit, Hochmut und Habgier versucht habe.16 Also wird Habsucht gegenüber anderen Sünden unterschieden. Sie ist somit eine besondere Sünde für sich. 2. Eine besondere Sünde hat eine ebensolche Tugend zum Gegenteil. Insofern sie eine besondere Tugend ist, stellt Gerechtigkeit das Aristoteles, Met. X, 5; 1055 a 19–20. Augustinus, De Gen. ad litt. XI, 15, 19 (PL 34, 437). Vgl. dazu z. B. Summa fratris Alexandri II–II, 581 (p. 568). Johannes Chrysostomus, gemäß der Catena aurea in Matthaeum 5, 6; Vgl. in Matthaeum homilia 15, 3 (PG 57, 227). 15 Gregor der Große, Moralia XXXI, 45, 87 (PL 76, 621 A). 16 Glossa ordinaria in Genesim 3, 1, aus Gregor der Große, In Evangelium I homilia 16, 2 (PL 76, 1136 A). 11 12 13 14

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Gegenteil zur Habgier dar, wie die autoritative Aussage des Johannes Chrysostomus an der oben zitierten Stelle zeigt. Also ist Habgier eine solche besondere Sünde. 3. Die Wurzel hat die Bedeutung eines Prinzips. Doch werden Prinzipien von dem unterschieden, dessen Prinzip sie sind, da nichts sein eigenes Prinzip oder sein eigener Grund ist.17 Da nun Habgier nach den Worten des Apostels Paulus [in 1 Tim. 6, 10] die Wurzel aller Übel ist, ist es auch offenkundig, daß die Habgier eine von allen anderen verschiedene Sünde darstellt. Und somit ist sie keine allgemein sündhafte Einstellung, sondern eine besondere. Antwort: Wie Isidor von Sevilla in seinen Etymologien sagt,18 bedeutet Habgier in der primären Auffassung des Wortes das zügellose Verlangen nach Geld, da man »habgierig« so verwendet wie »geldsüchtig«. Dazu paßt auch, daß Habgier im Griechischen philargiria heißt, also etwa »Verlangen nach Silber«.19 Daher scheint Habgier nach der primären Wortauffassung zu urteilen ein besonderes Laster für sich zu sein, weil Geld auch ein besonderer Gegenstand ist. Doch wird diese Bedeutung in verallgemeinernder Übertragung auf die zügellose Begierde nach allen möglichen Gütern ausgeweitet, und so betrachtet ist Habgier eine allgemein sündhafte Einstellung, da bei jeder Sünde die Hinwendung eines zügellosen Strebens zu irgendeinem wandelbaren Gut vorliegt. Und deswegen sagt Augustinus im 11. Buch von Über Genesis dem Wortlaut nach,20 daß es die Habgier als allgemeine Grundhaltung gibt, und daß es durch diese geschieht, daß man etwas über das gesunde Maß hinaus begehrt, und daß es Habgier in besonderem Sinne gibt, die für gewöhnlich als Verlangen nach Geld bezeichnet wird. Der Grund für diese Unterscheidung ist folgender: In Anbetracht dessen, daß Habgier ein zügelloses Verlangen nach Besitz darstellt, 17 Vgl. z. B. Aristoteles, De an. II, 9  ; 416 b 16–17; Augustinus, De Trin. I, 1, 1 (PL 42, 820). 18 Isidor von Sevilla, Ethymologiae X, 9 (PL 82, 369 A). 19 Vgl. Augustinus, De lib. arb. III, 17, 48 (CCSL 29, 303). 20 Augustinus, De Gen. ad litt. XI, 15, 19 (PL 34, 436 und 437).

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kann man »besitzen« allgemein auffassen und andererseits in einem besonderen Sinne, so wie wir sagen, wir besäßen etwas, weil wir darüber verfügen können, was wir damit tun. Entsprechend kann man Habsucht allgemein fassen als zügelloses Verlangen danach, irgendwelche Dinge zu besitzen, oder in besonderem Sinne als Verlagen des Besitzes von dem, was alle unter der Bezeichnung »Geld« verstehen,21 da die Dinge nach Geldmaß bewertet werden, wie Aristoteles im 4. Buch der Nikomachischen Ethik sagt.22 Da aber Sünde zu Tugend das Gegenteil bildet, sollte man darauf Acht haben, daß sowohl Gerechtigkeit als auch Freigebigkeit mit Besitz und Gelddingen befaßt sind, wenn auch in je eigener Weise. Die Gerechtigkeit nämlich beschäftigt sich mit der Maßgabe für die festgelegte Gleichheit in den besessenen Dingen selbst, also daß jeder das hat, was ihm zusteht. Die Freigebigkeit hingegen betrifft eine Maßgabe in den Gemütsregungen, nämlich daß keiner das Geld zu sehr lieben oder begehren soll, und daß man es mit Vergnügen, oder doch ohne Bekümmerung ausgeben soll, wo und wenn immer es sich so gehört. Daher sprechen einige23 von der Habgier als dem Gegenteil der Freigebigkeit, und gemeint ist dann damit, daß die Habgier ein Fehlverhalten im Ausgeben von Geld und ein Anhäufen von Gütern durch Ankauf oder Hortung aus übersteigerter Liebe zum Geld ist. Dagegen spricht Aristoteles im 5. Buch der Nikomachischen Ethik24 von Habgier als dem Gegenteil von Gerechtigkeit, und dann wird der als Habgieriger bezeichnet, der fremdes Gut über das gerechterweise Zustehende hinaus für sich in Anspruch nimmt oder zurückhält; wie aus dem 4. Buch der Nikomachischen Ethik hervorgeht,25 bezeichnet Aristoteles das Gegenteil der Freigebigkeit nicht als Habgier, sondern als Geiz. Der oben zitierte Autoritätsnachweis bei Johannes Chrysostomos stimmt damit überein, genauso wie der Ausspruch in Ez. 22, 27: »Ihre Führer in ihrer Mitte sind wie Wölfe, die ihre Beute reißen, um Blut zu vergießen, und um sich habgierig zu bereichern«. 21 22 23 24 25

Vgl. Aristoteles, Cat.15; 15 b 26. Aristoteles, Eth. Nic. IV, 1; 1119 b 26–27. Z. B. Summa fratris Alexandri, II–II n. 581 (p. 568). Aristoteles, Eth. Nic. V, 1; 1129 a 31 – b10. Aristoteles, Eth. Nic. IV, 5; 1122 a 13–14.

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Zu 1. Zum ersten Argument ist zu bemerken, daß Augustinus dort über die Habgier im allgemeinen Sinne spricht. Zu 2. Ähnlich muß auch die Antwort zum zweiten Argument lauten. Zu 3. Im engeren Sinne sprechen wir davon, Dinge zu besitzen, wenn wir vollkommene Verfügung darüber haben. Wenn Cicero also hier davon spricht, daß Habgier ein zügelloser Drang nach Besitz ist, sollte man das daher so verstehen, wie das uns vollkommen verfügbare Eigentum.26 Zu 4. Das vierte Argument hat nur in Bezug auf Habgier als das Gegenteil von Gerechtigkeit seine Gültigkeit. Denn, wie im 5. Buch der Nikomachischen Ethik ausgeführt wird27: Gerechtigkeit ist die rechte Mitte zwischen dem Zuviel und dem Zuwenig, nicht aber die rechte Mitte zwischen zwei Schlechtigkeiten, wie das bei anderen Tugenden der Fall ist. Daß jemand sich dadurch bereichert, daß er über das gerechte Maß hinaus etwas für sich annimmt oder zurückbehält, ist durchaus eine Art von Schlechtigkeit und der Habgier anzurechnen; daß aber jemand weniger bekommt, als ihm gerechterweise zusteht, ist keine Ungerechtigkeit, die man begeht, sondern eine, die man erleidet, also vielmehr eine Strafe als eine Schuld. Und von dieser Seite her betrachtet hat die Habgier keine andere Sünde als ihr Gegenteil aufzuweisen. Zu 5. Mit den anderen Sünden hat die Habgier nicht als deren Gattung zu tun, sondern als ihre Wurzel und ihr Anfang. Daher darf man daraus nicht schließen, daß Habgier eine allgemein sündhafte Haltung sei, sondern nur, daß sie sozusagen eine allgemeine Quelle für sündhaftes Verhalten darstellt. Zu 6. Was man mit Geld erstehen kann, ist oft aus demselben Grund erstrebenswert wie das Geld selbst, daß es nämlich für die Notwendigkeiten des Lebens genutzt werden kann. Damit läßt sich alles, was als Besitz bezeichnet werden kann, auch als Geld begreifen und bildet damit auch den Gegenstand der engeren Begriffsauffas26 Possessio kann im Lateinischen genauso »Besitz« heißen wie »Eigentum«. Thomas scheint in seiner Unterscheidung diese begriffliche Unschärfe des Lateinischen klären zu wollen. 27 Aristoteles, Eth. Nic. V, 10; 1133 b 32–33.

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sung von Habgier. Es gibt aber auch Dinge, die man mit Geld erstehen kann und die dennoch aus einem anderen Grund erstrebenswert sind, und dann anderen Einzellastern angerechnet werden müssen: Etwa das Übertreiben von Würdigungen und Lob dem Ehrgeiz und der Eitelkeit. Oder die Freuden des Gaumens der Völlerei und die Liebesdinge der Wollust. Zu 7. Zwar stellt die Habgier je nachdem das Gegenteil von Gerechtigkeit oder von Freigebigkeit dar, insofern sie aber irdische Güter als ein Letztziel vorgibt, stellt sie wie jede andere Todsünde das Gegenteil zur christlichen Nächstenliebe dar. Zu 8. Geistige Güter soll man nicht für sich behalten, sondern mit anderen teilen, doch läßt sich das nicht auf gleiche Weise bewerkstelligen wie bei Besitzgütern. Daher fällt das eigentlich nicht in den Bereich der Habgier.

2. Artik el 28 Die zweite Frage lautet: Ist Habgier eine Todsünde? Das scheint der Fall zu sein; denn: 1. Vom Reiche Gottes schließt nur die Todsünde aus. Und genau das tut die Habgier, denn in Eph. 5, 5 steht: »Kein Ehebrecher, kein Unreiner und kein Habgieriger, das heißt, keiner, der Götzendienst treibt, wird Erbe des Reiches Christi und Gottes sein«. Also ist Habgier eine Todsünde. 2. Jede Sünde, die der Nächstenliebe entgegensteht, ist eine Todsünde, denn aus der Nächstenliebe hat die Seele das Leben, wie in 1 Joh. 3 [eigentlich 2, 15] geschrieben steht: »Wenn jemand die Welt liebt, ist die vollkommene Liebe des Vaters nicht in ihm«. Habgier nun ist ein Gegensatz zur Nächstenliebe. Augustinus sagt nämlich in Über 83 verschiedene Fragen,29 daß Begierde Gift für die Nächstenliebe ist. Also ist Habgier, wofür die Begierde hier steht, eine Todsünde.

28 Paralleltext: Sum. theol. II–II, q. 118 a. 4. 29 Augustinus, De diversis quaestionibus, 36, 1 (PL 40, 25).

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3. In 1 Joh. 2, 15 steht: »Wenn jemand die Welt liebt, ist die vollkommene Liebe des Vaters nicht in ihm«. Habgier jedoch kommt aus der zügellosen Liebe zur Welt. Dergestalt verschließt die Habgier dem Menschen die Liebe Gottes und ist daher eine Todsünde. 4. Was der Gerechtigkeit als Gegensatz entgegensteht, ist offenbar eine Todsünde, denn Gerechtigkeit hat das Gewicht einer gebotenen Pflicht.30 Habgier nun steht der Gerechtigkeit entgegen, da sie nämlich Dinge für sich behält, die man zum Wohle anderer hergeben könnte. So sagt Basilius: »Es ist das Brot des Hungernden, das du hast, das Kleid des Nackten, das du für dich behältst, das Geld des Bedürftigen, das du besitzt; deswegen könntest du ebensovielen helfen wie du schadest«.31 Und deswegen ist Habgier eine Todsünde. 5. Eine Gnadengabe ist etwas Vollkommeneres als die Tugend. Habgier aber bildet den Gegensatz zu einer Gnadengabe, nämlich zur Frömmigkeit, wie in der Glosse zu Lk. 11 [eigentlich 6, 35] steht.32 Also ist Habgier eine Todsünde. 6. Eine Todsünde stellt eine Abkehr von einem ewigen Gut durch Hinkehr zu einem veränderlichen dar. Das aber findet sich in höchstem Maße bei der Habgier, die ein zügelloses Streben nach einem unsteten Gut ist. Also ist sie eine Todsünde. 7. Offenbar ist doch das eine Todsünde, was den Geist zu irdischen Dingen niederdrückt, so daß er sich nicht zu den höheren erheben kann. Genau das aber tut die Habgier, denn Gregor der Große sagt im 13. [eigentlich 14.] Buch der Moralschriften,33 daß »die Habgier den Geist so sehr beschwert, den sie angreift, daß er sich nicht mehr zu den höheren Dingen aufschwingen kann«. Daher ist Habgier eine Todsünde. 8. Die schlimmsten Sünden zeichnen sich durch Unverbesserlichkeit aus, denn man sagt,34 daß die Sünden wider den Geist, die doch 30 Vgl. Ex 20, 15. 31 Basilius gemäß der Catena aurea in Lucam 12, 18; vgl. Basilius, Ho-

milias in Lucam 12, 18 »Destruam horrea mea« n. 7 (PG 31, 277 A), nach der von Thomas benutzten Übersetzung des Rufinus (PG 31, 1752 C). 32 Eigentlich Glossa ordinaria zu Lk 6, 35. 33 Gregor der Große, eigentlich Moralia XIV, 53, 63 (PL 75, 1072). 34 Vgl. q. 3 a. 15.

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die allerschlimmsten sind, nicht vergeben werden. Nun ist Habgier nicht zu heilen, wie Aristoteles im 4. Buch der Nikomachischen Ethik sagt.35 Also ist Habgier eine Todsünde und zwar eine von der allerschlimmsten Art. Dagegen spricht: 1. In der Glosse zu 1 Kor. 3, 12 »Wenn jemand auf diesem Fundament gebaut« usw., steht: »Wer über Weltliches nachsinnt und darüber, wie er der Welt gefalle, der baut auf Holz, Heu und Stroh«,36 was aber ein Kennzeichen der Habgier als Sünde darstellt. Bezeichnet wird jedoch damit eine läßliche Sünde, keine Todsünde, [in 1 Kor. 3, 15] wird nämlich hinzugefügt: »Solch einer wird wie durch Feuer erlöst«. Und deswegen ist Habgier keine Todsünde. 2. Habgier bedeutet einen Gegensatz zu Verschwendungssucht. Doch ist diese nicht gattungsgemäß eine Todsünde. Und somit auch nicht die Habgier, weil sich Gegensätze nur in derselben Gattung finden.37 3. Im eigentlichen Sinne ist es Sache der Habgier, über Gebühr weltliche Güter anzuhäufen. Das aber ist nicht in jedem Falle eine Todsünde, da es keinem Gebot widerspricht. Also ist Habgier keine Todsünde. 4. Fremdes Gut für sich anzunehmen, ist offenbar tadelnswert. Doch wie Aristoteles im 4. Buch der Nikomachischen Ethik sagt,38 wollen Habgierige das manchmal auch gar nicht. Also ist Habgier nur manchmal ein Übel und infolgedessen auch keine Todsünde. Antwort: Wie schon vorher bemerkt,39 wird das Wort Habgier in zweierlei Weise verwendet: bisweilen wird es nämlich als Gegenteil zur Gerechtigkeit verstanden, und dann ist Habgier immer eine Todsünde, es sei denn, die Handlung sei so vernachlässigbar, wie weiter oben 35 36 37 38 39

Aristoteles, Eth. Nic. IV, 5; 1121 b 12–13. Glosse des Petrus Lombardus zu 1 Kor. 3, 12 (PL 191, 1557 A). Vgl. Aristoteles, Met. X, 10; 1058 a 10–11; Top. IV, 3; 123 b 3. Aristoteles, Eth. Nic. IV, 5; 1121 b 23. Vgl. a. 1.

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bereits im Zusammenhang mit anderen Lastern ausgeführt.40 Denn so gesehen ist es ein Erkennungsmerkmal der Habgier, fremdes Gut ungerechterweise anzunehmen oder für sich zu behalten, und das ist immer eine Todsünde, obwohl die ersten Willensregungen in dieser Handlungsweise keine Todsünde sind. Manchmal wird Habgier aber auch für den Gegensatz zur Freigebigkeit gehalten, was Aristoteles im 4. Buch der Nikomachischen Ethik »Geiz« nennt.41 So genommen ist es das Kennzeichen der Habgier, in der Liebe und der Begierde zum Geld zu übertreiben und zu all dem, was mit Geld gekauft werden kann. Wenn wir nun allgemein von solcher Liebe und Begierde sprechen, ist Habgier nicht immer eine Todsünde, wenn aber im strikten Sinne, dann ist Habgier immer eine Todsünde. Lieben und begehren sollte man nämlich das Gute, das Gute aber ist im ersten und eigentlichen Sinne das Wozu. Nun ist das, was auf ein Wozu hin angelegt ist, nur insofern gut, als es diese Anlage zum Guten hin hat, und nicht durch sich selbst. So kommt es, daß sich Liebe und Begehren eigentlich und hauptsächlich an einem Wozu ausrichten, und nur in nachgeordneter Hinsicht an den Mitteln dazu. Daher wird Habgier in den Fällen eine Todsünde sein, in denen wir sagen können, sie sei eine Liebe und Begierde nach weltlichen Gütern, und zwar solcherart, daß sie als Zwecke angesetzt werden. Da es nicht mehrere letzte Zwecke geben kann, kommt die Hinwendung zu geschaffenen Gütern als Zwecksetzung einer Abkehr vom ewigen Guten gleich, das doch eigentlich den letzten Zweck von allem darstellen sollte. Wenn hingegen Habgier als maßlose Liebe oder Begierde nach den Dingen dieser Welt in einem allgemeinen Auffassungssinne gelten kann, dann ist sie nicht immer eine Todsünde. Denn in der Glosse42 zum Zitat aus 1 Kor. 3, 12 »Wenn jemand gebaut hat« usw., steht zu lesen: »Einige lieben noch immer das Weltliche und sind in die irdischen Geschäfte verwickelt, doch so, daß sie ihr Herz Christus nicht verschließen und nichts davon Christus vorziehen«.

40 Vgl. q. 10 a. 2 und q.12 a. 3. 41 Aristoteles, Eth. Nic. IV, 5; 1122 a 13–14. 42 Glosse des Petrus Lombardus zu 1 Kor. 3, 12 (PL 191, 1557 B).

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Zu 1. Der Apostel Paulus sagt ja nicht einfachhin, daß kein Habgieriger Teil am Reiche Christi und Gottes haben wird; sondern er fügt hinzu »weil er ein Götzendiener ist«. Denn diejenige Habgier schließt vom Reiche Christi und Gottes aus, die sich dem Götzendienst vergleichen läßt, weil sie die Ehre, die Gott geschuldet wird, dem Geschaffenen entgegenbringt, indem sie ihren Zweck in irdische Güter setzt, obwohl das nur Gott zukommt. Zu 2. Die Begehrlichkeit, welche die Nächstenliebe auslöscht, ist diejenige, die ihr Ziel in irdischen Gütern hat. Jene aber, die das nicht tut, doch gleichwohl über die Stränge schlägt, löscht die Nächstenliebe nicht aus, verhindert jedoch ihre Ausführung. Zu 3. Damit ergibt sich auch die Lösung für den dritten Einwand. Zu 4. Das vierte Argument trifft nur auf die Habgier zu, welche man als Gegensatz zur Gerechtigkeit zu verstehen hat. Die Habgier jedoch, die dasselbe wie Unfreigiebigkeit ist, stellt nicht durchgehend einen Gegensatz zur Gerechtigkeit dar. Denn man kann es auch so an Freigebigkeit fehlen lassen, daß man nicht hergibt, was herzugeben lobenswert wäre, was herzugeben aber keine Pflicht darstellt, oder daß man bekümmert und zeternd das hergibt, was man hergibt. Basilius spricht im zitierten Fall davon, daß jemand dazu angehalten wird, seine Güter für die Armen abzutreten, etwa wenn er im Überfluß lebt, gemäß Lk. 11, 14 »Gebt das, was übrig bleibt, als Almosen«. Solche Habgier ist auch das Gegenteil zum frommen Handeln, wie die Glosse zum Lukasevangelium sagt.43 Zu 5. Damit ergibt sich auch die Lösung für den fünften Einwand. Zu 6. Das Argument des sechsten Einwandes erklärt sich aus der Auffassung von Habgier als Einstellung, die ihren Zweck in irdischen Dingen sieht. Zu 7. Ähnlich muß auch die Antwort auf den siebten Einwand lauten. Zu 8. Unheilbare Habgier ist anders aufzufassen als eine Sünde gegen den Heiligen Geist. Als solche nämlich wird die unheilbare und vollständige Ausrichtung des Willens am Sündhaften bezeichnet. Denn wer aus Unkenntnis sündigt, entscheidet sich dafür ja nur wie zufällig, da er sich dafür entscheidet, ohne von dessen Sünd43 Glossa ordinaria zu Lk. 6, 35.

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haftigkeit zu wissen. Wer hingegen aus Schwäche sündigt, der entscheidet sich zwar für die Sünde an sich, doch aus einem schnell vorübergehenden Grund, nämlich durch eine Leidenschaftswallung. Der aber, der aus Böswilligkeit sündigt, der entscheidet sich für eine Sünde wie etwas für sich Erstrebenswertes, und das ist die unheilbare Einstellung, die das Schlimme seiner Sünde ausmacht.44 Habgier jedoch wird in Anbetracht der menschlichen Grundverfassung des Handelnden als nicht zu heilen veranschlagt, da das Leben des Menschen stets von der Knappheit an irdischen Gütern bedroht ist, und das beschwört dann die Habgier herauf. Diese Güter nämlich werden deswegen angestrebt, um die Mängel dieses Lebens zu beheben. [Antwort auf die Gegenargumente:] Zu 1. Die Antwort zum ersten Einwand gegen die vorhergehenden Argumente muß so ausfallen: Dieser Einwand ist nur gültig, soweit er diejenige Habgier betrifft, die nicht den Sinn und Zweck in den irdischen Gütern sieht, welche sie unmäßig liebt oder begehrt. Zu 2. Habgier oder Unfreigiebigkeit bildet sehr viel mehr einen Gegensatz zur Tugend der Freigebigkeit als zur Verschwendungssucht, wie Aristoteles im 4. Buch der Nikomachischen Ethik nachweist.45 Und so ist Verschwendungssucht nicht genauso einfach eine Todsünde wie Unfreigiebigkeit und Habgier. Zu 3. Das Horten irdischer Güter in ungerechter Weise ist immer eine Todsünde. Deshalb steht in Hab. 2, 6: »Wehe dem, der anhäuft, was nicht sein ist«. Ganz ähnlich ist das Zusammentragen irdischer Güter, selbst ohne Verstoß gegen die Gerechtigkeit, eine Todsünde, wenn es diese Güter zu letzten Zwecken erhebt. Zu 4. Für sich betrachtet, ist es nicht sündhaft, Fremdes nicht anzunehmen, doch ist es tadelnswert, es nur deswegen nicht anzunehmen, um es nicht an andere weitergeben zu müssen.

44 Vgl. Isidor von Sevilla, De summo bono (= Sententiae) II, 17, 3 (PL 83, 620 A) gemäß Gregor dem Großen, Moralia XXV, 11, 28 (PL 76, 339 A); vgl. Petrus Lombardus, Sent. II, 22, 4, 11. 45 Aristoteles, Eth. Nic. IV, 5; 1122 a 13–16.

3. Artik el 4 6 Die dritte Frage lautet: Ist Habgier eines der Hauptlaster? Das scheint nicht der Fall zu sein; denn: 1. Habgier bildet, wie schon gesagt,47 einer Auffassungsart nach den Gegensatz zur Freigebigkeit. Diese ist aber keine der Haupttugenden. Und also ist auch die Habgier kein Hauptlaster. 2. Wie bereits weiter oben ausgeführt48: Als ein Hauptlaster gilt ein solches, aus dem andere hervorgehen, die es sich als Zwecksetzung aussuchen. Auf die Habgier scheint das aber gar nicht zuzutreffen. Denn Geld als Strebensgegenstand der Habgier kann nicht als Ziel dienen, sondern wird als etwas angestrebt, das einen gewissen Nutzen zum Erreichen eines Ziels hat, wie Aristoteles im 1.  Buch der Nikomachischen Ethik sagt.49 Also ist Habgier kein Hauptlaster. 3. Aus einem Hauptlaster gehen andere Laster hervor. Habgier jedoch entsteht ihrerseits aus anderen Lastern, denn Gregor der Große sagt in den Moralschriften,50 daß sie manchmal aus Überlegenheitsgefühl entsteht, manchmal aus Ängstlichkeit; nämlich dann, wenn jemand aus Angst, er könne aus Mangel seinen Lebensunterhalt nicht mehr bestreiten, seinen Geist habgierig werden läßt, und wenn andere, die aus dem Bestreben heraus, mächtiger oder vermögender zu erscheinen, dazu verleitet werden, fremdes Gut für sich zu erwünschen. Also ist Habgier keines der Hauptlaster. Dagegen spricht: Gregor der Große rechnet im 31. Buch der Moralschriften51 die Habgier unter die Hauptlaster.

46 Paralleltexte: Super libros Sententiarum II, d. 42 q. 2 a. 3; Sum. theol. II–II, q. 118 a. 7 und 8. 47 Vgl. a. 1. 48 Vgl. q. 12 a. 5. 49 Aristoteles, Eth. Nic. I, 5; 1096 a 6–7. 50 Gregor der Große, Moralia XV, 25, 30 (PL 75, 1096 B). 51 Gregor der Große, Moralia XXXI, 45, 87 (PL 76, 621 A).

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Antwort: Habgier sollte unter die Hauptlaster gezählt werden. Der Grund dafür ist, daß, wie gesagt,52 ein Hauptlaster deswegen so genannt wird, weil es einen übergeordneten Zweck bietet, an dem sich viele andere Laster beschaffenheitsgemäß ausrichten, und auf diese Weise entstehen aus solch einem Laster viele andere, weil es dafür als Ursprung die Zielursache hergibt. Ziel des gesamten menschlichen Lebens ist nun die Glückseligkeit, nach der alle streben.53 Daher hat im Bereich der Zielsetzungen alles eine gewisse übergeordnete Stellung, was in den menschlichen Angelegenheiten wirklich oder nur augenscheinlich eine Teilhabe an irgendeiner Form von Glückseligkeit verspricht. Nun hat Glück drei Voraussetzungen, wie Aristoteles im 1. Buch der Nikomachischen Ethik sagt,54 nämlich daß es sich um ein vollkommenes Gut handelt, daß es für sich ausreichend ist, und daß es Vergnügen bereitet. Doch scheint ein Gut insofern vollkommen zu sein, als es eine bestimmte Vorzüglichkeit aufzuweisen hat, und so ist offenbar die Vorzüglichkeit das zufürderst Erstrebenswerte, und daher werden Hochmut und Eitelkeit zu den Hauptlastern gerechnet. In den Sinnesdingen hingegen besteht das größte Vergnügen in unmittelbarem Kontakt mit Speisen oder in Liebesangelegenheiten, und deswegen rechnet man Völlerei und Wollust unter die Hauptlaster. Schließlich verspricht von den irdischen Gütern insbesondere der Wohlstand etwas Ausreichendes zu sein, wie Boethius im 2.  und 3. Buch von Der Trost der Philosophie schreibt,55 weshalb auch die Habgier, die eine maßlose Gier nach Reichtum darstellt, zu den Hauptlastern gezählt werden sollte. Der Habgier zählt Gregor der Große im 31. Buch der Moralschriften56 auch sieben Töchter zu, nämlich Verrat, Betrug, Täuschung, Meineid, Unstetigkeit, Gewaltsamkeit und Hartherzigkeit gegen das 52 Vgl. q. 12 a. 5. 53 Augustinus, De Trin. XIII, 3 (CCSL 50 A, 389), gemäß Thomas,

Sum. theol. I–II, q. 5 a. 8 sed contra. 54 Aristoteles, Eth. Nic. I, 9; 1097 a 30 ff., und I, 13; 1099 a 24–25. 55 Boethius, De consolatione 3, 3 (PL 63, 732 B – 733 A); eine entsprechende Stelle in De consolatione 2 ist nicht aufzufinden. 56 Gregor der Große, Moralia XXXI, 45, 88 (PL 76, 621 B).

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Mitleidsempfinden. Man kann deren Unterscheidung folgendermaßen verstehen: Habgier kommt in zwei Charakterzügen vor, und der erste besteht darin, es mit dem Für-sich-Behalten zu übertreiben. So betrachtet entsteht aus Habgier die Hartherzigkeit gegenüber mitleidigem Tun oder die Unmenschlichkeit, und zwar, weil der Habgierige sein Herz verhärtet, damit er nicht aus Mitleid jemand anderem aus seinem Besitz gebend Hilfe leistet. Der zweite Charakterzug an der Wurzel von Habgier liegt darin, es damit zu übertreiben, Dinge für sich zu nehmen. So betrachtet läßt sich Habgier zunächst danach beurteilen, was im Herzen des Habgierigen vorgeht: So entsteht aus ihr zunächst unsteter Sinn, da sie den Menschen überflüssige Sorgen und Beunruhigungen bereitet, »denn Geld kriegt der Habgierige nie genug«, wie in Koh. 5, 9 steht. Zweitens läßt sich Habgier so betrachtet nach der Tatausführung beurteilen, denn dann wird beim Beschaffen von fremdem Gut auch durchaus manchmal Gewalt angewendet, weshalb eben von Gewaltanwendung auch die Rede war. Bisweilen aber wird dabei auch mit Hinterlist vorgegangen, und wenn das durch Rede geschieht, so ist das Täuschung im einfachen Sprechen, wobei jemand einen anderen zur eigenen Bereicherung hintergeht. Geschieht das hingegen beim eidlich bekräftigten Sprechen, so handelt es sich um Meineid. Liegt die Hinterlist jedoch im Tatvollzug, so handelt es sich Dinge betreffend um Betrug, Personen betreffend um Verrat, wie aus dem Fall des Judas hervorgeht, der aus Habgier zum Verräter Jesu wurde.57 Zu 1. Tugenden gehen aus der Maßgabe der Vernunft hervor, Laster hingegen aus Neigungen des sinnlichen Strebens. Daher ist es nicht sachgemäß, einem Hauptlaster eine Haupttugend vergleichend gegenüber zu stellen, da die Vorrangstellung von Lastern und Tugenden eine jeweils andere Bestimmungsmaßgabe hat. Zu 2. Geld hat in gewisser Hinsicht Ähnlichkeit mit Glück, denn, obwohl Geld nur einen Gebrauchszweck hat, weist es doch einen Universalitätsaspekt auf, da doch »alles dem Geld gehorcht«, wie Koh. 10, 19 lehrt. Und in dieser Hinsicht gedeutet ist Habgier, wie oben bereits gesagt, ein Hauptlaster. 57 Judas: Vgl. Mt. 26, 14–16; Mk. 14, 10–11; Lk. 22, 3–6.

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Zu 3. Wie schon einmal ausgeführt wurde,58 spricht nichts dagegen, daß ein Hauptlaster, aus dem viele andere Laster im Großen und Ganzen hervorgehen, selbst auch wiederum aus anderen Lastern hervorgeht.

4. Artik el 59 Die vierte Frage lautet: Ist Leihen mit Zinsnahme eine Todsünde? Das scheint nicht der Fall zu sein; denn: 1. Keine Todsünde ist in Gottes Geboten gestattet. Das Leihen mit Zinsnahme ist es aber, da doch in Dtn. 23, 19–20 gesagt wird: »Du sollst deinem Bruder kein Geld herleihen und dafür Zinsen verlangen, und auch sonst nichts; wohl aber einem Fremden«. Also ist Geldverleih mit Zinsnahme keine Todsünde. 2. Dagegen wurde eingewandt, daß dies jenem Volk eigentlich weniger gestattet als seiner Hartherzigkeit wegen zugestanden worden ist, genauso wie der Scheidebrief.60 − Dagegen spricht: Was als Übel toleriert wird, läßt sich nicht als gerechter Lohn in Aussicht stellen. Dieser nämlich wird als etwas Gutes und Erstrebenswertes vorgestellt. Nun wird im göttlichen Gebotekatalog das Leihen mit Zinsnahme als gerechter Lohnerwerb in Aussicht gestellt, denn in Dtn. 28, 12 steht: »Du sollst vielen Heidenvölkern (auf Zins) leihen, doch selbst sollst du von keinem auf Zins borgen«. Also ist das Leihen unter Zins keine Todsünde. 3. Das Übergehen eines (evangelischen) Rates stellt keine Todsünde dar, denn wie in 1 Kor. 7,28 gesagt wird: Eine Frau begeht keine Sünde, wenn sie heiratet, obwohl sie den (evangelischen) Rat der Jungfräulichkeit damit mißachtet. Nun wird das Leihen ohne Zinsnahme in Lk. 6, 27 und 6, 35 unter die Räte gezählt, wenn gesagt wird: »Liebet eure Feinde, tut jenen Gutes, die euch hassen, und gebt zu leihen, ohne etwas dafür zu erwarten« – wodurch nach Meinung 58 Vgl. q. 8 a. 1. 59 Paralleltexte: Super libros Sententiarum III, d. 37 a. 6; Sum. theol.

II–II, q. 78 a. 1; Quaestiones quodlibetales III, q. 7 a. 2. 60 Vgl. Dt. 24, 1 und 3; Mt. 5, 31 und 19, 7; Mk. 10, 4.

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vieler61 der Wucher untersagt wird. Also ist das Leihen unter Zinsnahme keine Todsünde. 4. Genauso wie ein Mensch seine Häuser oder Pferde besitzt, so auch sein Geld. Doch kann dieser Mensch sein Haus oder Pferd gegen einen Preis vermieten. Also kann aus der gleichen Überlegung heraus der Mensch eine Gebühr für das Geld erheben, das er verleiht. 5. Es scheint kein rechtswidriger Vertrag vorzuliegen, wenn jemand durch ihn zu etwas gezwungen wird, woran er durch das Naturrecht ohnehin gehalten ist.62 Nun ist ein Mensch von Naturrechts wegen gehalten, denjenigen zu entlohnen, der ihm eine Wohltat erwiesen hat. Und das tut der, der Geld verleiht, da er nämlich einem Bedürftigen finanziell aushilft. Es ist daher offenbar kein ungehöriges Abkommen, wenn jemand als Gegenleistung zu solch einer erbrachten Wohltat durch Vertragsfestlegung denjenigen, der sich etwas leiht, dazu zwingt, dem Verleiher etwas zurückzugeben. 6. Positives Recht leitet sich vom Naturrecht her, wie Cicero in seiner Rhetorik sagt.63 Nun erlaubt das bürgerliche Recht die Zinsnahme,64 und deswegen verstößt es auch nicht gegen das Naturrecht, Zinsen beim Geldverleihen zu nehmen. Also ist das auch keine Sünde. 7. Um eine Sünde zu sein, müßte das Verleihen unter Zinsnahme im Gegensatz zu einer Tugend stehen, und weil es in einer Abmachung besteht, nämlich im Verleih, scheint es sich am ehesten mit der Gerechtigkeit im Gegensatz zu befinden, denn Gerechtigkeit hat dererlei Abmachungen zum Gegenstand, wie im 5. Buch der Nikomachischen Ethik gesagt wird.65 Doch zur Gerechtigkeit bildet es diesen Gegensatz nicht: Denn man kann ja nicht behaupten, daß der Leihnehmer eine Ungerechtigkeit erleidet, weder durch sich 61 Alexander von Hales, Glossa in libros Sententiarum III, 37, 19 (p. 486) und 25 (p. 490); Albertus Magnus, Super Sent. III, 37, 13; Bonaventura, In Evangelium Lucae 6, 35 (VII 157). 62 Vgl. Marcus Tullius Cicero, Rhetorica oder De inventione II, 53, 161. 63 Marcus Tullius Cicero, Rhetorica oder De inventione II, 22, 65 und 53, 160. 64 Vgl. Institutio II, 4 § 2 (ed. Krueger, 13); Digesta VII, 5, 1 (ed. Mommsen, 107), gemäß Thomas, Sum. theol. II–II, q. 78 a. 1 ad 3. 65 Aristoteles, Eth. Nic. V, 4; 1130 b 30–32.

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selbst, denn so etwas geht gar nicht, wie Aristoteles im 5. Buch der Nikomachischen Ethik beweist,66 noch von jemand anderem, denn eine Ungerechtigkeit von anderen erfährt man nur durch Betrug oder Gewaltanwendung. Keiner der beiden Fälle steht hier zur Frage, denn der Leihnehmer zahlt den Zins willentlich und im Bewußtsein dessen, was er tut. Er erleidet daher keineswegs eine Ungerechtigkeit. Auch der Zinsnehmer tut also nichts Ungerechtes, und daher sündigt er auch nicht. 8. Dagegen wurde eingewandt, daß dabei eben doch ein Gewaltelement mit hineinspielt, da der Leihnehmer sozusagen gezwungenermaßen Zinsen zahlt. – Dagegen spricht: Die Beimischung eines gewaltsamen Aspekts findet dort statt, wo irgendeine Notwendigkeit droht, wie aus dem Falle hervorgeht, wo jemand Ladung über Bord wirft, um sein Schiff vor dem Versinken zu retten.67 Doch leihen Menschen bisweilen unter Zinsvertrag, ohne daß sie große Not bedrückt. Wenigstens in solchen Fällen also ist Verleihen mit Zinsnahme keine Todsünde. 9. Jeder kann seinen Besitz veräußern. Jemand, der Zinsen zahlt, ist Besitzer des Geldes, das er dem Verleiher gibt. Daher kann der eine das Geld veräußern, und der andere kann es mit Fug und Recht behalten. 10. Beim Leihvertrag treffen zwei Personen eine Übereinkunft, nämlich der Schuldner und der Geldverleiher. Dieser aber kann das, was ihm geschuldet wird, auch rechtmäßig erlassen. Also kann auch der Schuldner ohne Sünde mehr zurückzahlen. 11. Es ist viel schlimmer, einen Menschen zu töten, als Bezahlung für geliehenes Geld zu nehmen. Doch ist es in einigen Fällen gestattet, einen Menschen zu töten. Und also ist es noch viel mehr gestattet, in gewissen Fällen Geld gegen Zins zu verleihen. 12. Wozu ein Mensch sich selbst verpflichtet, kann ihm auch mit Recht abverlangt werden. Wer einen Leihvertrag eingeht, geht damit auch die Verpflichtung ein, Zinsen zu zahlen. Daher kann der Geldverleiher den Zins auch mit Recht verlangen.

66 Aristoteles, Eth. Nic. V, 17; 1138 a 4–28. 67 Vgl. das Beispiel bei Aristoteles, Eth. Nic. III, 1; 1110 a 8–11.

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13. Simonie wird begangen unabhängig davon, welche Gegenleistung erbracht wird,68 sei es Lob, Dienstleistung oder materielle Geschenke. Wenn also Bezahlung für das Verleihen von Geld eine Todsünde wäre, so aus vergleichbaren Gründen offenbar auch, daß das Annehmen jedweden Geschenks für verliehenes Geld eine Todsünde wäre. Und das scheint doch allzu hart zu sein. 14. Es gibt zwei Arten von Ausgleichszahlungen69: Einmal, wenn etwas nicht zur Verfügung steht, weil also jemand etwas nicht kauft, was er hätte kaufen können, doch zu dieser Ausgleichszahlung ist niemand gezwungen. Zum anderen, weil etwas nicht mehr da ist, weil also etwas jemandem aus seinem Besitzstand weggenommen wird, und solche Ausgleichszahlungen erweisen sich als zwingend. Nun kann es manchmal geschehen, daß jemand wegen verliehenen Geldes an dem, was er hatte, geschädigt ist. Und so scheint es, daß er dafür ohne zu sündigen Zinsen als Ausgleich nehmen darf. 15. Offenbar ist es doch löblicher, jemandem Geld für irgendeinen Gebrauchszweck zu leihen, als nur aus Prahlerei. Wenn jedoch jemand nur aus Zurschaustellung, also um zu zeigen, wie begütert er ist, einem anderen von seinem Geld herleiht, kann er ohne eine Sünde zu begehen eine Belohnung dafür erhalten. Umso mehr kann man das also, wenn man etwas von seinem Geld zur Linderung fremder Not abtritt. 16. Die Taten Christi werden uns in der Heiligen Schrift zum Vorbild hingestellt, damit wir ihnen nacheifern, ganz gemäß Joh. 13, 15: »Ich gab euch ein Beispiel, auf daß ihr tuet, wie ich getan habe«. Nun sagt der Herr über sich selbst in Lk. 19, 23: »Bei meiner Wiederkunft werde ich es mit Zinsen zurückfordern«, und zwar das geliehene Geld. Also ist das Einfordern von Zins keine Sünde. 68 Vgl. Decretum Gratiani C, 3, 8 (ed. Friedberg I, 414), gemäß Thomas, Sum. theol. II–II, q. 100 a. 5. 69 Vgl. Aegidius von Lescines, De usuris cap. 7. Das lateinische Wort, das hier – und zwar nur hier – von Thomas verwendet und im Text mit »Ausgleichszahlung« übersetzt wird, ist »interesse«, also eigentlich »Dazwischensein«. Aus Aegidius geht hervor, daß damit die Ausgleichszahlung gemeint ist für die möglichen Einnahmeausfälle oder Geschäftsnachteile während des Zeitraums zwischen dem Verleih und der Rückzahlung des Geldes.

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17. Wer einem, der eine Todsünde begeht, zustimmt, begeht selber eine Todsünde. In Röm. 1, 32 steht nämlich: »Todeswürdig handeln nicht nur diejenigen, die solches tun, sondern auch diejenigen, die den Tätern zustimmen«. Wer aber nun Geld unter Zinsen zu leihen nimmt, stimmt doch dem Tun dessen, der Zinsen nimmt, zu. Wenn also das eine Todsünde darstellt, dann auch das andere. Das aber ist offenkundig falsch, weil es durch die vielfache Praxis vieler guter Menschen widerlegt wird. 18. Wer jemanden, der eine Todsünde begeht, darin unterstützt, sündigt selbst, wie etwa, wenn jemand einem Wutentbrannten oder Mordlustigen eine Waffe leiht. Also würde es doch scheinen, daß wenn ein Geldverleiher eine Todsünde bei der Zinsnahme begeht, auch die todeswürdig sündigen, die Geld bei ihm anlegen. 19. Dagegen wurde eingewandt, daß wer ohne Not Geld mit Zins zu leihen nimmt, oder sein Geld bei einem Zinsverleiher anlegt, eine Todsünde begeht, nicht jedoch der, der dasselbe aus schierer Not tut. – Dagegen spricht: Daß Geld gegen Zinsen zu leihen genommen wird, geschieht nur, um einen zwischenzeitlichen Schaden abzuwenden. Allerdings darf man auch angesichts eines solchen niemals zur Sündenhandlung eines anderen seine Zustimmung oder gar einen Anlaß geben, da man das Seelenheil des Mitmenschen höher zu schätzen hat als alle zeitlichen Güter. Daher sind die oben genannten Geldverleiher nicht frei von Todsünde. 20. Offenbar ist Diebstahl eine größere Sünde, als Geld zu einem Zinssatz zu verleihen, denn ersteres ist auf Seiten des Opfers gänzlich unfreiwillig, zweiteres hingegen von Seiten dessen, der sich Geld ausleiht, irgendwie freiwillig. Nun kann aber Diebstahl in gewissen Fällen erlaubt sein, wie daraus hervorgeht, daß die Kinder Israels von den Ägyptern Gefäße zu leihen nahmen, die sie nicht zurückgaben, wie in Ex. 12, 35–36 steht. Also kann weit eher der Geldverleih mit Zinsnahme ohne Sünde vonstatten gehen. Dagegen spricht: 1. Gregor von Nyssa sagt: »Wenn jemand den bösartigen Gedanken des Wucherzinses Diebstahl oder Meuchelei nennte, so wird er sich damit nicht versündigen: Denn welchen Unterschied macht es, ob man etwas in seinem Besitz hat, weil man es durch eine Lücke in

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der Wand gestohlen oder es unrechtmäßigerweise durch Wucherzins aus fremder Not erlangt hat?«.70 Meuchelmord und Diebstahl sind nun aber Todsünden. Also ist auch der Geldverleih um Zinsen eine Todsünde. 2. Außerdem: »Wenn etwas in einer Aussage als wahr behauptet wird, so auch entsprechend die Behauptung des Gegenteils in der gegenteiligen Aussage«, wie Aristoteles sagt.71 Nun führt es den Menschen zum [ewigen] Leben, kein Geld um Zinsen zu verleihen, denn in Ez. 18, 17 steht, daß diejenigen, die solches nicht tun, das Leben haben werden, und in den Psalmen (14, 5 und 24, 5): »Wer sein Geld nicht für Zinsen hergibt«, »der wird den Segen des Herrn empfangen«. Zinsen zu nehmen führt also zum Tode und verwirkt den Segen Gottes. Es ist somit eine Todsünde. 3. Alles, was dem Gebot Gottes widerspricht, ist eine Todsünde. Doch Geld um Zinsen zu verleihen widerspricht einem Gebot von Gottes Gesetz, da in Ex. 22, 25 steht: »Wenn du dein Geld zu Zinsen an die Armen meines Volkes verleihst, die bei dir wohnen, so solltest du sie nicht bedrängen wie ein Eintreiber, noch mit der Zinslast niederdrücken«. Also ist der Geldverleih zu Zinsen eine Todsünde. Antwort: Geld unter Erhebung von Zinsen zu verleihen ist eine Todsünde. Und zwar ist es nicht deshalb eine Sünde, weil es (von Gott) verboten ist, sondern vielmehr deswegen verboten, weil es schon für sich genommen eine Sünde ist: Es ist nämlich gegen die natürliche Gerechtigkeit. Das geht aus der rechten Betrachtung des Wesens der Zinsnahme hervor: Das Wort usura (Zins) kommt nämlich von usus (Gebrauch),72 weil für den Gebrauch von Geld Lohn entgegengenommen wird, als ob der Gebrauch des verliehenen Geldes selbst verkauft würde. 70 Gregor von Nyssa, aus Catena aurea super Lucam 6, 35; vgl. Gregor von Nyssa, Super Ecclesiasten 4 (PG 44, 672 B–C). 71 Aristoteles, Top. IV, 4; 124 b 4–5; Thomas folgt der Deutung des Boethius (Minio-Paluello 75). 72 Vgl. Huguccio, Liber derivarionum s. v. ›utor‹ (ms. Paris B. N. lat. 17880 f. 209 ra).

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Nun ist aber zu bedenken, daß verschiedene Dinge auch unterschiedlichem Gebrauch zugeführt werden. Bei einigen besteht der Gebrauch im Verzehr oder Aufbrauchen der Dinge selbst, wie es den rechten Gebrauch von Wein darstellt, ihn zu trinken, wobei der Wein selbst ja verbraucht wird, und genauso besteht der rechte Gebrauch von Weizen oder Brot darin, daß sie gegessen werden, und das entspricht dem Aufbrauchen von Weizen oder Brot. Ebenso besteht nun der rechte Gebrauch von Geld darin, daß es im Austausch für den Erwerb anderer Dinge ausgegeben wird, denn Geld wurde um des Tauschens willen erfunden, wie Aristoteles im 2. Buch der Politik sagt.73 Andererseits gibt es aber auch Dinge, deren Gebrauch nicht in ihrem Verbrauch besteht, wie der Gebrauch eines Hauses im Bewohnen besteht. Das Wesentliche des Bewohnens besteht jedoch nicht darin, daß das Haus eingerissen wird, und sollte durch das Bewohnen das Haus Schaden erleiden oder Verbesserungen erfahren, so geschieht das im beiläufigen Sinne. Dasselbe gilt ebenso von Pferden, Kleidung und ähnlichem. Weil Dinge dieser Art nicht durch Gebrauch im eigentlichen Aussagesinne verbraucht werden, kann das Ding selbst oder sein Gebrauch getrennt oder gemeinsam vermietet oder verkauft werden. So kann man etwa ein Haus verkaufen, sich dessen Gebrauch jedoch noch für eine Zeit vorbehalten, oder man kann den Gebrauch eines Hauses veräußern, das Haus selbst aber als seinen Besitz und sein Eigentum behalten. Bei den Dingen aber, deren Gebrauch in ihrem Verbrauch besteht, ist der Gebrauch nichts anderes als die Sache selbst, so daß der erstandene Gebrauch solcher Dinge mit ihrem Besitz zusammenfällt und umgekehrt. Wenn also jemand Geld verleiht unter der Abmachung, daß ihm das Geld vollständig zurückgezahlt wird, und zusätzlich für den Gebrauch des Geldes noch ein Entgelt einfordert, so ist es doch offenkundig, daß er den Gebrauch des Geldes und das Geld als Sache selbst getrennt verkauft. Doch ist der Gebrauch des Geldes – wie bereits gesagt74 – mit dem Geld der Sache nach identisch, und daher verkauft der Geldverleiher nichts oder dasselbe zweimal, nämlich das Geld, dessen 73 Aristoteles, Pol. eigentlich I, 7; 1257 a 35–36. 74 Vgl. Antwort.

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Gebrauch im Verbrauch besteht, und das widerspricht ganz offenbar dem Geist jeder natürlichen Gerechtigkeitsvorstellung. Daher ist Geldverleih zu Zinsen seiner Beschaffenheit nach eine Todsünde, und dasselbe gilt für alles andere, was im Gebrauch verbraucht wird, wie also etwa ganz offensichtlich für Wein, Weizen und ähnliche solche Dinge. Zu 1. Den Juden wurde der Geldverleih mit Zinsnahme an Fremde nicht als gerechtfertigt erlaubt, sondern lediglich zugestanden, so daß sie dafür also keiner zeitlichen Bestrafung unterzogen würden. Der Grund dafür war, daß sie einen Hang zur Habgier hatten. So wurde den Juden das kleinere Übel zugestanden, nämlich die Zinsnahme von Heiden, um ein größeres Übel zu vermeiden, nämlich Zinsen von Juden zu nehmen, die doch den wahren Gott verehrten. Später jedoch wurden sie von den Propheten verwarnt, daß sie gänzlich von den Zinsen lassen sollten, wie aus dem hervorgeht, was die Autoritäten im Abschnitt »Dagegen spricht …« anführen. Zu 2. Manchmal wird das Wort ›verleihen‹ im weiten Sinne für das Verleihen für und ohne Zinsen genommen, wie aus Sir. 29, 7 ersichtlich wird: »Viele haben aus Gemeinheit nichts hergeliehen«, das heißt, auch ohne Zinsen nichts verliehen. Verleih nun betrifft diejenigen, die im Überfluß haben, und wenn also hier gesagt wird »Du sollst verleihen«, so ist damit gemeint »ohne Zinsen«, damit derart zu verstehen gegeben werde, daß die Juden so sehr in irdischen Gütern gedeihen würden, daß sie selbst anderen leihen könnten, ohne von anderen zu leihen nehmen zu müssen. Zu 3. Oberflächlich betrachtet kann der Sinn des genannten Evangelientextes sein, daß das Verleihen einem der evangelischen Räte entspricht, einem Gebot aber, daß, wenn dies geschieht, es ohne Absicht auf Zinsbereicherung geschehen sollte. Was das Erste betrifft, fällt das Verleihen unter die evangelischen Räte. Oder man kann sagen, daß es einige Gebote und Verbote gibt, die es auch wirklich sind, die aber dennoch über den Geboten nach Verständnis der Pharisäer stehen. Wie etwa im Fall von Mt. 5, 21–22 über das Gebot »Du sollst nicht töten«, was die Pharisäer auf die Mordtat bezogen sahen, der Herr jedoch fügt hinzu: »Wer seinem Bruder auch nur zürnt, wird vor das Gericht kommen«. Es ist in derselben Absicht,

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daß er auch gegen die Meinung der Pharisäer, es sei nicht generell verboten, Geld gegen Zinsen zu verleihen, das Verleihen ohne Absicht auf Zinsbereicherung zu den evangelischen Räten erhebt. Oder man könnte auch sagen,75 daß hier gar nicht vom Verleihen ohne Absicht auf Zinsbereicherung die Rede ist, sondern von der Hoffnung, die wir auf den Menschen setzen, denn wir sollten nicht Gutes tun in der Hoffnung auf Entlohnung von seiten anderer Menschen, sondern allein in der Hoffnung auf Entlohnung durch Gott. Zu 4. Einige behaupten, daß sich Häuser und Pferde im Gegensatz zu Geld durch den Gebrauch aufbrauchen und man daher für den Gebrauch Entschädigung verlangen darf.76 Doch das ist keine richtige Begründung, denn so könnte niemand gerechterweise mehr für die Miete verlangen als den Abnutzungswert des Hauses durch das Bewohnen. Daher muß man sagen, daß der Gebrauch des Hauses selbst rechtens verkauft wird, nicht aber der von Geld, wegen der oben erwähnten Gründe.77 Zu 5. Wie Aristoteles im 9. Buch der Nikomachischen Ethik 78 sagt, geschieht eine Entschädigung für eine erbrachte Wohltat in einer Zweckfreundschaft anders als in einer ehrlichen Freundschaft. Denn in jener wird die Entscheidung an dem Vorteil gemessen, den der Empfänger davon hatte, in dieser hingegen an der Zuneigung des Gebenden. Nun ist es kein Zeichen ehrlicher Freundschaft, jemanden durch einen festgelegten Vertrag zur Rückerstattung empfangener Wohltaten zu verpflichten, denn in so einer Freundschaft weckt der Wohltäter eine innere Regung des Freundes, nämlich die empfangene Wohltat umsonst und freizügig bei gegebener Gelegenheit zurückzuerstatten. Die Rückerstattung durch vertragliche Festlegung ist jedoch ein Kennzeichen der Zweckfreundschaft, und deswegen darf niemand gezwungen werden, mehr zurückzuzahlen als er empfangen hat. Der Empfänger hat nicht mehr bekommen 75 Vgl. Glossa ordinaria zu Lukas VI, 35, und Beda, In Lucae Evangelium expositio 2, 6, 35 (PL 92, 407 C–D). 76 Vgl. Summa fratris Alexandri III, 380 (p. 566), und Bonaventura, Super III Sententiarum d. 37 dub. 7. 77 Vgl. Antwort. 78 Aristoteles, Eth. Nic. IX, 1; 1164 a 33 – b10.

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als eben die Summe Geldes, da deren Gebrauch, der dem Verbrauch des Geldes entspricht, nichts anderes ist als das Geld selbst. Er darf also nicht verpflichtet werden, mehr Geld zurückzuzahlen, als er empfangen hat. Zu 6. Das positive Recht ist hauptsächlich auf das allgemeine Wohl des Volkes ausgelegt. Nun geschieht es aber manchmal, daß aus der Verhinderung eines Übels der Gemeinschaft großer Nachteil erwächst, und so macht das positive Recht hier und da eine Ausnahme als Zugeständnis, nicht etwa, weil das so Zugestandene gerecht wäre, sondern damit die Gemeinschaft nicht größeren Schaden nehme. So läßt ja auch Gott Übel in der Welt geschehen, damit nicht das Gute verhindert werde, das er selbst aus diesem Übel entstehen zu lassen weiß. Genauso hat das positive Recht das Zinswesen wegen der vielen Vorteile erlaubt, die einige eine Zeit lang durch den Geldverleih haben, selbst wenn sie dafür Zinsen entrichten müssen. Zu 7. Wer Zinsen zahlen muß, erleidet Ungerechtigkeit nicht durch sich selbst, sondern vom Geldverleiher. Dieser tut jenem freilich damit nicht gänzlich Gewalt an, aber doch in einem gewissen Grade, da er einem Darlehensbedürftigen eine schwere Bedingung auferlegt, nämlich mehr zurückzuzahlen, als ihm geliehen wurde. Das ist so, wie wenn jemand einem Bedürftigen etwas zu einem viel höheren Preis verkaufte, als es wert ist, denn solch ein Verkauf würde ein Unrecht darstellen, genauso wie eben das Zinsdarlehen. Zu 8. Als Notdurft oder Bedürftigkeit kann man zweierlei auffassen, wie im 5. Buch der Metaphysik steht79: Einmal den Umstand, daß man ohne etwas nicht sein kann, wie etwa der Mensch notwendig der Speise bedarf; und dann auch, daß man zwar ohne etwas Bestimmtes sein kann, aber nicht gleichermaßen gut und angemessen, und nach dieser Auffassungsweise werden alle Gebrauchsgegenstände als notwendig bezeichnet. Der Leihnehmer aber ist immer in der einen oder anderen Weise bedürftig oder in Not. Zu 9. Wer dem Geldverleiher Zinsen bezahlt, der tut das nicht ganz freiwillig, sondern in einer gewissen Weise gezwungen, wie bereits ausgeführt.80 79 Aristoteles, Met. V, 6; 1015 a 20–26. 80 Vgl. oben ad 7.

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Zu 10. Wie Geldverleiher gerechterweise aus eigenem Willen weniger zurückfordern können als sie geliehen haben, so auch der Schuldner mehr als er schuldet, und der Verleiher darf das dann rechtermaßen auch annehmen. Wenn das aber in einem Darlehnsvertrag niedergelegt wird, so ist der Vertrag und die Geldannahme unerlaubt. Zu 11. Das Töten ist hier allgemein zu betrachten, genauso wie das Verleihen. Beides kann gut und schlecht vollführt werden. Einen Unschuldigen zu töten schließt aber immer etwas bestimmt Böses ein, und kann nie als gut durchgeführt werden, genausowenig wie das Leihen auf Zinsen. Zu 12. Wenn eine Verpflichtung rechtermaßen besteht, so kann auch rechtermaßen eingefordert werden, wozu sich ein Mensch verpflichtet hat. Doch die Zinsverpflichtung ist selbst ihrem Wesen nach ungerecht, weswegen der Zinsforderer nicht gerechterweise einfordern kann, wozu er einen anderen unrechtmäßig verpflichtet hat. Zu 13. Auf zwei Weisen kann der Geldverleiher aus dem gegebenen Darlehen eine Gegenleistung von Geld, Lob oder Dienstleistung erwarten: In einer Weise als Schuldrückzahlung aus einer stillschweigenden oder ausgesprochenen Verpflichtung, doch dann wird er alles, was er als Leistung erwartet, unrechtmäßig erwarten. Und in einer anderen Weise kann er die Leistung nicht wie etwas Geschuldetes und ohne diese Verpflichtung Verrichtetes erwarten, und so kann der, der etwas herleiht, eine Gegenleistung von dem erwarten, dem er etwas leiht, genauso wie einer, der einem anderen einen Dienst verrichtet, darauf baut, daß er ihm freundschaftlich zu gegebener Zeit einen Dienst rückerstattet. Nun unterscheiden sich jedoch die Beurteilungen des Simonisten und des Zinsnehmers, da der Simonist nicht das, was ihm gehört, hergibt, sondern das, was Christi ist, und so sollte der Simonist keinen Gewinn für sich selbst erwarten, sondern nur für die Ehre Christi und den Vorteil der Kirche, der Geldverleiher jedoch gibt nur das her, was sein ist, so daß er nach Maßgabe des oben Gesagten irgendeine freundschaftliche Gegenleistung erwarten darf. Zu 14. Auf zweifache Weise kann der Geldverleiher durch Geldverleih Schaden an seinem Besitzstand leiden: Auf eine Weise, weil

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ihm das Geld nicht fristgemäß zurückgezahlt wird, und in diesem Fall wird der Schuldner Verzugszinsen zum Ausgleich zu zahlen haben. Auf eine andere Weise bei Rückzahlung in Unterbietung der Frist, und dann muß der Schuldner keine Ausgleichszahlung leisten; der Geldverleiher hätte sich nämlich absichern sollen, daß er nicht geprellt davonkommt, und der Schuldner hat keinen Anlaß, der Dummheit des Verleihers wegen selbst Schaden zu nehmen. Ähnliches geschieht beim Kauf einer Sache: Deren Preis richtet sich ja auch nur danach, wieviel sie wert ist, und nicht danach, wie sehr der Verlust der Sache dem Verkäufer weh tut. Zu 15. Dinge lassen sich auf zweierlei Weise gebrauchen, wie Aristoteles im 1. Buch der Politik sagt81: Es gibt einen eigentlichen und hauptsächlichen Gebrauch, und einen nachgeordneten und allgemeinen. So ist es der eigentliche und hauptsächliche Gebrauch von Schuhwerk, daß es getragen wird, der nachgeordnete der, daß es eingetauscht werden kann. Umgekehrt ist es nun bei Geld der hauptsächliche Gebrauch, zum Tausch zu dienen, denn dafür wird Geld ja gemacht, der nachgeordnete aber kann jedweder andere Gebrauch sein, etwa als Sicherheit oder um zur Prahlerei zu dienen. Nun ist der Tausch ein Gebrauch, der die Tauschsache selbst sozusagen aufbraucht, insofern er sie nämlich vom Tauschenden wegnimmt. Wenn daher jemand sein Geld einem anderen zu Tauschgeschäften überläßt, die ja den eigentlichen Gebrauch des Geldes darstellen, und dafür einen Preis über das Leihkapital hinaus verlangt,82 so verstößt er dabei gegen die Gerechtigkeit. Sollte einer jemand anderem hingegen sein Geld für einen anderen Gebrauch leihen, in dem es nicht aufgebraucht wird, so gilt dasselbe wie bei Dingen, die durch Gebrauch nicht aufgebraucht werden und rechtens vermietet und gepachtet werden. Wenn also jemand einem anderen Geld in einem verschlossenen Sack gibt, um es sicher aufzubewahren und daraufhin einen Lohn dafür zu bekommen, so ist das keine Zinsnahme, da es hier keinen Leihvertrag gibt, sondern eher ein Miet81 Aristoteles, Pol. I, 7; 1257 a 5–14. 82 Vgl. Decretum Gratiani C. 14 q. 3 c. 4 (ed. Friedberg I, 735); Decre-

tale V, 19, 10 und 19 (ed. Friedberg II, 814 und 816); Glossa interlinaria in Lucam VI, 35).

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oder Pachtvertrag. Dasselbe gilt, wenn Geld aus Prahlerei verliehen wird, genauso wie es umgekehrt Wucher wäre, wenn einer jemandem Schuhe zu Tauschgeschäften liehe und dafür einen Preis über den Wert der Schuhe hinaus verlangte. Zu 16. Der im sechzehnten Argument zitierte Text nennt die Vermehrung geistiger Güter, die Gott uns zu unserem eigenen Besten abfordert, im metaphorischen Sinne Zinsen. Aus metaphorischer Rede kann man jedoch kein Argument zimmern.83 Zu 17. Es ist eine Sache, mit der Schlechtigkeit eines anderen übereinzustimmen, und eine sehr verschiedene, die Schlechtigkeit eines anderen zum Guten zu nutzen. Wer nämlich der Schlechtigkeit eines anderen zustimmt, dem gefällt es, daß jener Schlechtes tut, und er verleitet ihn vielleicht sogar noch dazu, und das ist immer eine Sünde. Hingegen gebraucht derjenige die Schlechtigkeit eines anderen, der das, was jemand an Bösem tut, zum Guten wendet, und so nutzt auch Gott die Sünden der Menschen, um aus ihnen noch etwas Gutes entstehen zu lassen. Daher darf auch der Mensch die Sünde eines anderen zum Guten nutzen. Das läßt sich genauso bei Augustinus nachlesen,84 der auf Publiculas Frage, ob es erlaubt sei, sich der eidlichen Erklärung derer zu bedienen, die ganz offensichtlich auf falsche Götter schwören, was doch klarerweise eine Sünde darstellt, antwortet: Wer den Gebrauch des Glaubens dessen, der offenkundig auf falsche Götter schwört, zum Guten nutzt und nicht zum Schlechten, der schließt sich nicht der Sünde dessen an, der bei Götzen geschworen hat, sondern der gutgemeinten Abmachung, durch die er sein Wort verläßlich geben wollte. Wer aber daran Gefallen fände, daß ein anderer bei falschen Göttern schwöre und ihn noch dazu ermunterte, der würde sündigen. Ähnlich muß man zu dem hier verhandelten Problem sagen, daß derjenige nicht sündigt, der um etwas Guten willen die Schlechtigkeit des Geldverleihers nutzt und daher von ihm Geld zu Zinsen zu leihen nimmt. Sollte er hingegen einen Geldverleiher, der eigentlich gar keine Anstalten macht, Zinsen zu verleihen, dazu überreden, dies zu tun, so würde

83 Vgl. Petrus Lombardus, Sent. III, d. 11 c. 2 n. 4. 84 Augustinus, Brief 47, 2 (PL 33, 184).

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er zweifelsohne in jedem Falle sündigen, weil er sich mit dem Sünder in Übereinstimmung befindet. Zu 18. Wenn jemand einem Geldverleiher Geld überließe, in der Absicht, sich dann aus den Zinsen zu bereichern, so sündigt er zweifelsohne durch die Zustimmung zur Sünde. Dasselbe scheint auch auf denjenigen zuzutreffen, der sein Geld wissentlich demjenigen überläßt, von dem er glaubt, daß er es dazu gebrauchen wird, sich mit Zinsen zu bereichern, was er sonst nicht könnte. Wenn jemand hingegen sein Geld einem Geldverleiher zu anderen Dingen als zum Verleihgeschäft überläßt, also nicht zu dessen Bereicherung, sondern irgendeiner Notlage wegen, so schlägt er eigentlich eher Nutzen aus dessen Schlechtigkeit denn daß er mit seiner Sünde übereinstimmte, oder er überließe ihm bloß die Grundlage seines Sündigens, und daher kann dies auch ohne Sünde vonstatten gehen. Zu 19. Man darf nicht um der Vermeidung irgendeiner körperlichen Unannehmlichkeit willen der Sünde eines anderen Menschen zustimmen. Doch kann man um der Vermeidung einer Unannehmlichkeit willen die Schlechtigkeit eines anderen nutzen, oder ihm die Grundlage für seine Sündenhandlung geben statt entziehen. Zum Beispiel: Wenn ein Räuber jemanden ermorden wollte, und dieser dann, um die Lebensgefahr abzuwenden, dem Räuber das Versteck seines Geldschatzes zur Plünderung verriete, so würde der Überfallene nicht sündigen. Dafür stehe das Verhalten der zehn Männer aus Jer. 41, 8, die dem Ismael sagten: »Töte uns nicht, wir haben einen Schatz in einem Acker«. Zu 20. Daß die Kinder Israels die an sie ausgeliehenen Gefäße mit sich nahmen, war kein Diebstahl, da diese durch die Machtvollkommenheit dessen, der Herr aller Dinge ist, in ihren Besitz übergegangen waren.

XIV. ÜBER DIE VÖLLEREI

Die hier behandelten Fragen lauten: 1. Stellt Völlerei immer eine Sünde dar? 2. Ist Völlerei eine Todsünde? 3. Welche sind die Arten der Völlerei? 4. Ist Völlerei ein Hauptlaster?

1. Artik el 1 Die erste Frage lautet: Stellt Völlerei immer eine Sünde dar? Das scheint nicht der Fall zu sein; denn: 1. Niemand sündigt in Dingen, die man gar nicht vermeiden kann, wie Augustinus in Über den freien Willen sagt.2 Nun kann niemand die Völlerei vermeiden, denn Gregor der Große sagt im 30. Buch der Moralschriften,3 daß »beim Essen Vergnügen und Bedürfnis ineinander gehen, so daß man nie recht weiß, wie weit das Bedürfnis geht oder wann es in Vergnügen übergeht«. Also ist Völlerei keine Sünde. 2. Augustinus sagt im 10. Buch der Bekenntnisse4: »Wen gibt es denn, o Herr, der nicht ein wenig mehr als über das Maß des Bedürfnisses hinaus Nahrung zu sich nimmt?«. Das ist aber doch das Kennzeichen der Völlerei. Also ist es unmöglich, Völlerei zu vermeiden, und daher ist sie keine Sünde. 3. Im 2. Buch von Über den freien Willen sagt Augustinus,5 daß es keine Schuld gibt, wo Natur und Not die Herrschaft haben. Beide

1 2 3 4 5

Paralleltext: Sum. theol. II–II, q. 148 a. 1. Augustinus, De lib. arb. III, 18, 50 (CCSL 29, 304). Gregor der Große, Moralia XXX, 18, 62 (PL 76, 558 B). Augustinus, Conf. X, 31, 47 (CSEL 33, 262). Augustinus, eigentlich De lib. arb. III, 1, 1 (CCSL 29, 274).

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aber verführen uns dazu, der Völlerei zu frönen. So zeigt sich, daß Völlerei keine Sünde darstellt. 4. Hunger entspricht einem Streben nach Nahrung, wie Aristoteles im 2. Buch von Über die Seele sagt.6 Maßloser Hunger ist somit ein maßloses Streben nach Nahrungsaufnahme, worin ja auch das Eigentliche der Völlerei besteht. Doch steht es nicht in unserer Macht, nicht maßlos zu hungern, und somit auch nicht, Völlerei zu vermeiden. Daher ist sie keine Sünde. 5. Augustinus schreibt im 10. Buch seiner Bekenntnisse7: »Du hast mich gelehrt, daß ich mit der Einnahme von Nahrung wie mit der von Medizin umgehen solle«. In der Einnahme von Medizin besteht aber keine Sünde, und offenbar genauso wenig in der Völlerei, die in der Einnahme von Nahrung besteht. 6. Wie aus der Aussage des Aristoteles im 2. Buch der Nikomachischen Ethik8 hervorgeht, bildet jede Sünde zu einer Tugend einen Gegensatz wie ein Extrem zu einer Mitte. Das tut die Völlerei aber gar nicht im Vergleich zur Mäßigung oder Nüchternheit, da es so sein müßte, daß die Tugend dann durch ein Fehlen an Nahrungsaufnahme ins Schlechte gewendet würde. Nun ist das aber offensichtlich falsch, da es ein Kennzeichen der Enthaltsamkeit ist, wie aus dem Fasten und Ähnlichem ersichtlich. Also ist Völlerei keine Sünde. Dagegen spricht: Offenbar ist doch wohl das als Sünde anzusehen, wodurch wir wie durch einen Feind vom geistigen Kampf abgehalten werden. Das tut nun aber die Völlerei, denn Gregor der Große sagt im 20. Buch seiner Moralschriften,9 daß »wir gar nicht bis zum inneren Konflikt des geistigen Kampfes aufsteigen, wenn wir nicht zuerst den in uns selbst vorfindbaren Feind niederringen, nämlich die Völlerei und den Appetit«. Daher ist Völlerei eine Sünde.

6 7 8 9

Aristoteles, De an. II, 5; 414 b 12. Augustinus, Conf. X, 31, 44 (CSEL 33, 259). Aristoteles, Eth. Nic. II, 7; 1107 a 2–6. Gregor der Große, eigentlich Moralia XXX, 18, 58 (PL 76, 555 D).

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Antwort: Das Übel der Seele besteht darin, an der Vernunft vorbeizuleben, wie Dionysius Areopagita im 4. Kapitel von Über die göttlichen Namen sagt.10 Wohin auch immer sie also von der Maßgabe der Vernunft abweicht, darin besteht die Sünde. Diese stellt nämlich nichts anderes dar als eine ordnungslose und (daher) üble Tat. Nun kann man gegen die Maßgabe der Vernunft in äußeren Tathandlungen verstoßen oder mit den innerlichen Leidenschaften der Seele, die durch die Vernunftmaßgabe ihre Ordnung empfangen sollten. Doch ist es so, daß in solchen Leidenschaften umso größere Sünde liegen kann, als es sich als schwierig erweist, sie unter die Vernunftmaßgabe zu zwingen. Unter allen Leidenschaften ist es am schwierigsten, das Lustempfinden in die Ordnung zu bringen, und am allerschwersten diejenigen Lustanwandlungen, die »wir von Anfang des Lebens an« haben.11 Von dieser Art sind die Lustempfindungen betreffs der Speisen und Getränke, ohne die nämlich das menschliche Leben nicht geführt werden kann. Daher kommen gerade in solchen Vergnüglichkeiten oft Verstöße gegen die rechte Ordnung der Vernunft vor. Wenn also die Gier nach solchen Vergnügungen die Vernunftmaßgabe übersteigt, liegt die Sünde der Völlerei vor. Deshalb sagt man, daß »Völlerei ein maßloses Streben zu essen« ist.12 Die Sünde der Völlerei besteht hingegen nicht in äußeren Handlungen hinsichtlich der Nahrungsaufnahme selbst, es sei denn als Folge betrachtet, und zwar der als solcher maßlosen Gier nach Speise. Das ist genauso wie bei allen anderen Lastern, die die Leidenschaften betreffen. Deswegen sagt Augustinus im 10. Buch der Bekenntnisse13: »Ich fürchte nicht die Unreinheit der Speise, sondern die der Begierde«. Daraus ist ersichtlich, daß es Völlerei hauptsächlich mit Leidenschaften zu tun hat und der Mäßigung entgegen arbeitet, da sich bei ihr alles um die Begierden und die Genüsse von Essen und Trinken dreht. 10 Dionysius Areopagita, De div. nom. IV, 32 (Dion. I, 309). 11 Aristoteles, Eth. Nic. II, 3; 1105 a 3, Thomas zitiert nach der alten

lateinischen Übersetzung (ed. Gauthier, 9). 12 Hugo von St. Victor, De sacramentiis 2, 13, 1 (PL 176, 526 A). 13 Augustinus, Conf. X, 31, 46 (CSEL 33, 261).

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Zu 1. Gemäß dem 3. Buch der Nikomachischen Ethik14 entspricht es der Vernunftmaßgabe, daß der Mensch soviel Speise zu sich nimmt, wie zur Selbsterhaltung und zur Erhaltung eines gesunden Zustands nötig sowie zum gesellschaftlichen Zusammensein mit den Mitmenschen. Wenn man daher in Übereinstimmung mit dieser Vernunftmaßgabe Speisen verlangt und zu sich nimmt, so tut man das bedürfnisentsprechend. Wenn man jedoch darin übertreibt, so geht man jenseits der Vernunftmaßgabe in eine Verletzung der tugendhaften Ausgleichsmitte zur Erfüllung seiner Begierde über. Doch wie Aristoteles im 2. Buch der Nikomachischen Ethik sagt15: Von der rechten Tugendmitte weicht man hin und wieder weit ab, und das bemerkt man dann leicht, manchmal aber nur ein wenig, und das ist dann unmerklich, weshalb es auch nur wenig Sündhaftes an sich hat. Und als darauf bezogen muß man die Aussage Gregors verstehen. Zu 2. Nicht jeder, der über die Grenze des Bedürfnisses hinaus Speisen verzehrt, begeht damit die Sünde der Völlerei. Denn es kann ja der Fall sein, daß etwas, das er als für sich notwendig erachtet, eigentlich überflüssig ist, und dann ist sein Verlangen nach Speise nicht maßlos, da es nicht von der Vernunftmaßgabe abweicht. Nun stellt die Völlerei wie gesagt16 nicht in erster Linie und an sich den maßlosen Verzehr von Speisen dar, sondern das maßlose Verlangen danach. Das rechte Maß des Verzehrs wiederum wird durch die natürliche Maßgabe des Körpers gesetzt. Daher kann es auch eher mit ärztlicher Kunst als durch Klugheitserwägung festgestellt werden. Ob aber das Verlangen maßlos ist oder nicht, das kann die Klugheit dennoch sehr wohl unterscheiden, obwohl auch das nicht leicht zu erkennen ist, wo nur wenig von der Vernunft abgewichen wird, wie bereits ausgeführt.17 Doch ist man als Mensch dazu in der Lage, vornehmlich mit Gottes Hilfe. Und daher fügt Augustinus nach der zitierten Aussage hinzu: »Wer auch immer es ist« – der Speise nicht über die Grenze des Bedürfnisses hinaus zu sich nimmt – »ist hoch zu preisen, laßt ihn Deinen Namen lobpreisen«.18 14 15 16 17 18

Aristoteles, Eth. Nic. III, 21; 1119 a 16–20. Aristoteles, Eth. Nic. II, 11; 1109 b 18–20. Vgl. Antwort. Vgl. ad 1. Augustinus, Conf. X, 31, 47 (CSEL 33, 262).

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Zu 3. Natur und Bedürfnis gebieten den Verzehr von Nahrung, doch im Vollzug der Völlerei wird das natürliche Bedürfnis überschritten, nach dessen Vorgabe die Vernunft das Verlangen zügelt. Zu 4. Das Verlangen nach Speise ist in zweifacher Weise aufzufassen: Nach einer als natürliches Verlangen, durch das die triebhaften, aufnehmenden, verdauenden und ausscheidenden Funktionen dem Ernährungsimpuls dienen, der eine Grundausstattung der vegetativen Seele ist.19 Solch ein Verlangen ist der Hunger, der nicht irgendeiner sinnlichen Erfassung, sondern natürlicher Bedürftigkeit folgt. Deshalb ist übermäßiger Hunger kein moralischer Fehler, sondern er verringert eher die Schuld, wenn er ihn nicht sogar gänzlich entschuldigt. Nach der zweiten Auffassungsweise ist das Verlangen nach Speise ein sinnliches Verlangen infolge einer sinnlichen Erfassung, und hierin finden sich die Leidenschaften der Seele. Wo unmäßige Gier solches Verlangen hinsichtlich des Essens erfaßt, liegt Völlerei vor. Der Argumentgang ergab sich hier also aus einem Mißverständnis. Zu 5. Lebensmittel und Arznei kommen darin überein, daß wir beide zur Behebung der Unzulänglichkeiten unserer körperlichen Natur einnehmen. In zweierlei Hinsicht jedoch unterscheiden sich beide: erstens darin, daß Arzneimittel nach Maßgabe ärztlicher Kunst eingenommen werden, weshalb eher der verabreichende Arzt beschuldigt wird, wenn die Einnahme nicht regelgemäß erfolgt, als der Kranke, der die Arznei einnimmt. Lebensmittel dagegen nimmt jeder meist nach eigenem Gutdünken zu sich, und deswegen wird es ihm auch als Sünde angerechnet, wenn er wegen seines unmäßigen Verlangens nach der Freude, die Speisen bereiten, diese über das Maß hinaus vertilgt. Zweitens, weil die Einnahme von Medikamenten nicht erfreulich ist wie die von Speisen, und daher gibt es bei Arzneimitteln keine Sünde aus einem unmäßigem Verlangen nach dem darin liegenden Vergnügen, wie es sie beim Verzehr von Speisen gibt. Dennoch: sollte ein Kranker irgendein Medikament, weil es Vergnügen bereitet, über das gesollte Maß und die Verord19 Wörtlich bei Moses Maimonides, Dux neutrorum I, 71 (Justinian Fr. 31 v). Vgl. auch Nemesius, De natura hominis 23 (ed. Verbeke, 105) ; Johannes Damascenus, De fide 2, 12 (ed. Buytaert, 123).

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nung des Arztes hinaus sowie aus Begierde nach Vergnügen zu sich nehmen, so würde auch er dem Laster der Völlerei frönend sündigen. Zu 6. Das Zuviel, das Zuwenig und die rechte Mitte wird bei den moralischen Tugenden nicht nach absoluter Quantität festgelegt, sondern im Maßverhältnis zur rechten Vernunft, nach der die rechte Mitte für das Tugendhafte bestimmt wird, wie aus der Definition der Tugend selbst im 2. Buch der Nikomachischen Ethik hervorgeht.20 So kommt es vor, daß manchmal die Tugend der absoluten Quantität nach bemessen eine Extremposition einnimmt, dem Maßverhältnis zur rechten Vernunft nach bestimmt jedoch die richtige Mittelstellung, wie Aristoteles im 4. Buch der Nikomachischen Ethik am Beispiel des Großherzigen vorführt,21 der »freilich in Großherzigkeit extrem ist«, da er doch auf das Größte aus ist, dadurch aber »in dem, was es zu tun gilt, die rechte Mitte hält«. Was die absolute Quantität betrifft, sind daher Jungfräulichkeit, Armut und Fasten Extrempositionen, hinsichtlich des Verhältnisses zum rechten Vernunftgebrauch sind sie jedoch die richtige mittlere Position, und sollte jemand von diesem abweichen, und sei es auch im Übertreiben von Enthaltsamkeit, ist dies eine Sünde. Deswegen sagt Gregor der Große im 30. Buch der Moralschriften22: »Wenn das Fleisch über Gebühr bedrückt wird, so wird es auch zur Verrichtung guter Taten geschwächt, so daß es nicht mehr zum Gebet oder zum Predigen ausreicht, während es doch strebte, die Kräfte des Lasters in uns zu ersticken. Und so geschieht es, daß wir auch den Mitmenschen, den wir lieben, erschlagen, während wir den Feind verfolgen«.

20 Aristoteles, Eth. Nic. II, 7; 1106 b 36 – 1107 a 2. 21 Aristoteles, Eth. Nic. IV, 8; 1123 b 13–14, Thomas folgt der Überset-

zung von Robert Grosseteste (ed. Gauthier, 212). 22 Gregor der Große, Moralia XXX, 18, 63 (PL 76, 558 C).

2. Artik el 23 Die zweite Frage lautet: Ist Völlerei eine Todsünde? Das scheint der Fall zu sein; denn: 1. Über das Schriftwort Hebr. 12, 16 »daß keiner unzüchtig ist oder gottabgewandt wie Esau«, sagt die Glosse,24 daß Esau seiner Freßsucht wegen als gottvergessen gilt, deswegen also, weil er der Völlerei frönte. Niemand aber wird so etwas genannt, es sei denn um einer Todsünde willen. Also ist Völlerei eine Todsünde. 2. Tugenden werden nur durch Todsünden untergraben. Und das werden sie nun auch durch Völlerei. Gregor der Große sagt nämlich im 30. Buch der Moralschriften: »Wo das Laster der Völlerei herrscht, geht alles verloren, was tapfer vollführt wurde, und wird der Bauch nicht in Schranken verwiesen, fallen alle Tugenden gleichzeitig der Zerstörung anheim«.25 Also ist Völlerei eine Todsünde. 3. Was auch immer gegen die tugendsame rechte Mitte verstößt, verstößt auch gegen die Tugend, deren Wesen im rechten Mittel liegt, und stellt daher eine Todsünde dar. Die Völlerei tut das aber, wie bereits gesagt wurde.26 Also stellt sie eine Todsünde dar. 4. Es ist eine schlimmere Sünde, sich selbst umzubringen, als einen anderen. Ähnlich ist es doch offenbar eine schlimmere Sünde, seinem eigenen Körper Schaden zuzufügen, als dem eines anderen. Durch Völlerei fügt man seinem eigenen Körper jedoch Schaden zu, denn in Sir. 37, 33–34 heißt es: »Im Übermaß von Essen steckt Krankheit« und »viele schon sind an Trunksucht gestorben«. Also ist Völlerei eine Todsünde, genauso wie der Zorn, der darauf aus ist, dem Mitmenschen Schaden zuzufügen. 5. Wie die Über- und Unterordnung guter Taten in den Geboten (Gottes) deutlich wird, so die der Sünden in den Verboten. Nun betraf aber das erste Verbot an den Menschen das Laster der Völlerei, wie aus Gen. 2, 17 hervorgeht, wo der Herr dem Adam verbietet, 23 Paralleltexte: Sum. theol. II–II, q. 148 a. 2; Lectura super Epistulam ad Romanos cap. 13 lect. 3; Lectura super Epistulam ad Galatas cap. 5 lect. 5. 24 Glosse des Petrus Lombardus zu Hebr. XII, 16 (PL 192, 505 C). 25 Gregor der Große, Moralia XXX, 18, 59 (PL 76, 556 A–B). 26 Vgl. a. 1.

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vom Baum der Erkenntnis von Gut und Böse zu essen. Also ist die Sünde der Völlerei die erste und schwerwiegendste, und daher offensichtlich eine Todsünde. 6. Die Todsünde besteht in einer Abkehr von Gott.27 Nun veranlaßt die Völlerei den Menschen zu dieser Abkehr, da sie ihn zum Götzendiener werden läßt, ganz nach Ex. 32, 6: »Das Volk setzte sich, um zu essen und zu trinken, und erhob sich zum Tanz«, und zwar zu Ehren eines Götzen.28 Völlerei verleitet außerdem zur Unzucht, da doch in Hos. 4, 10 steht: »Sie werden essen und doch nicht satt, sie trieben Unzucht und hörten nicht auf«. Also ist Völlerei eine Todsünde. 7. Hieronymus sagt im 1. Buch von Gegen Iovinianus,29 daß »die Gier nach Speisen, die wie die Mutter der Habgier ist, die Seele in Fesseln schlägt«. Das geschieht der Seele aber nur durch eine Todsünde. Also ist die Völlerei eine Todsünde. 8. Im selben Buch sagt Hieronymus,30 daß es naturwidrig ist, sich den Lüsten anheimzugeben. Das Naturwidrige ist aber auch eine Todsünde, da man doch zugeben muß, daß es auch der Vernunft widerspricht. Also ist Völlerei, die doch eine Lustaufwallung ist, eine Todsünde. 9. Was auch immer eine Todsünde zur Folge hat, ist selbst eine Todsünde. Völlerei aber hat stets Todsünden zur Folge, da doch die Glosse über das Psalmwort 135, 10 »Der Ägypten samt dessen Erstgeborenen niederstreckte« ausführt: »Wollust, Hochmut und Habsucht sind es, die der Bauch als erste hervorruft«.31 Also ist Völlerei eine Todsünde. 10. In Sir. 39, 31–32 steht: »Grundlage aller für den Menschen notwendigen Dinge sind Wasser, Feuer und Eisen, Salz, Milch und Weizenbrot sowie Honig, Weintrauben, Öl und Kleidung: All das wird von heiligmäßigen Menschen in Gutes, von Frevlern und Sün27 Vgl. Augustinus, De lib. arb. I, 6, 35 (CCSL 29, 235), und III, 1, 1 (CCSL 29, 274). 28 Vgl. Glossa ordinaria zu Ex. XXXII, 6. 29 Hieronymus, eigentlich Contra Iovinianum 2, 8 (PL 23, 297 C [311 A]). 30 Hieronymus, eigentlich Contra Iovinianum 2, 9 (PL 23, 299 A [312 B]). 31 Glosse des Petrus Lombardus zu Ps. 135, 10 (PL 191, 1197 D) aus Cassiodorus, Expositio zu Ps. 135, 10 (PL 70, 971 B).

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dern in Übles verwandelt«; und in der Glosse dazu: »Durch Sünder, das heißt durch solche, die derartige Dinge mißbrauchen, werden diese zu Übeln, das heißt sie gereichen zur ewigen Verdammnis«.32 Nun wird der Mißbrauch dieser Dinge meist durch Völlerei hervorgerufen. Also verdient Völlerei die ewige Verdammnis und ist somit eine Todsünde. 11. Was den Menschen zu einer tierhaften Lebensweise bringt, ist eine Todsünde schlimmster Art. Nun sagt aber Aristoteles im 3. Buch der Nikomachischen Ethik,33 daß die Unmäßigkeit, als deren Teil die Völlerei anzusehen ist, den Menschen tierhaft werden läßt. Also ist Völlerei eine Todsünde. 12. Götzendienst ist eine Todsünde. Völlerei jedoch ist in gewisser Weise Götzendienst, denn in Röm. 16, 18 heißt es, daß einige nicht Christus dem Herrn dienen, sondern ihrem Bauche, und in Phil. 4 [eigentlich 3, 18–19]: »Viele führen ein Leben, dessen Ziel der Untergang ist, und ihr Bauch ist ihr Gott«. Also ist Völlerei eine Todsünde. Dagegen spricht: 1. Bei heiligmäßigen Männern ist keine Todsünde zu finden. Völlerei aber schon, denn Augustinus sagt im 10. Buch der Bekenntnisse34: »Manchmal hat sich Trunkenheit bei Deinem Diener eingeschlichen; sei mir gnädig, daß dies fern von mir sei«. Trunksucht gehört aber mit zur Völlerei. Also ist Völlerei keine Todsünde. 2. Außerdem steht jede Todsünde im Gegensatz zu einem Gebot des (göttlichen) Gesetztes. Die Völlerei jedoch nicht, wie die Durchsicht der einzelnen Gebote des Dekalogs lehrt. Also ist Völlerei keine Todsünde. 3. Gregor der Große sagt im 10. Buch der Moralschriften 35 bei der Auslegung des Schriftwortes Hiob 11, 11 »Er weiß um die Eitelkeit des Menschen« folgendes: »Von der Eitelkeit, so Hiob, werden wir zum Unrechttun verleitet, wenn wir uns zuerst in leichteren Untaten ergehen, daß wir aus lauter Gewöhnung an die Vergehen 32 33 34 35

Glossa interliniaria zu Sir. XXXIX, 31–32. Aristoteles, Eth. Nic. III, 20; 1118 b 3–4. Augustinus, Conf. X, 31, 45 (CSEL 33, 260). Gregor der Große, Moralia X, 11, 21(PL 75, 933 A).

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im Leichten später gar nicht mehr fürchten, Schlimmeres zu begehen«, und er fügt neben anderen Beispielen auch folgendes über die Völlerei hinzu: »Wenn wir uns auf Völlerei verlegen, verfallen wir unmittelbar dem Wahn der Leichtfertigkeit«, und damit ist also die Völlerei unter die leichten Vergehen eingerechnet. Todsünden bezeichnet man aber nicht als leicht. Also ist Völlerei keine Todsünde. 4. Augustinus sagt in seiner Predigt über das Fegefeuer36: »Sooft man mehr an Speise oder Getränk zu sich nimmt, als nötig wäre, so soll man wissen, daß dies zu den geringfügigen Sünden gehört«. Nun ist es ein Kennzeichen der Völlerei, mehr an Speisen oder Getränken zu sich zu nehmen, als nötig ist. Somit ist Völlerei keine Todsünde. Antwort: Fragt man über eine Sünde allgemein, ob sie eine Todsünde sei, so ist das so aufzufassen wie die Frage, ob diese Sünde ihrer Gattung nach eine Todsünde ist. Denn, wie im Vorstehenden schon mehrmals gesagt,37 man kann in jeder Todsündengattung, bei Mord etwa oder Ehebruch, auch irgendeinen Beweggrund ausfindig machen, der einer läßlichen Sünde entspricht, und ähnlich in jeder Gattung läßlicher Sünde irgendeine Tathandlung, die einer Todsünde entspricht, wie etwa bei der Sündensorte nichtiger Rede, wenn diese einer Todsünde zum Zweck dient. Nun geschieht die Artzuweisung einer moralischen Handlung nach ihrem Ausrichtungsgegenstand.38 Wenn also der Ausrichtungsgegenstand einer Sündenhandlung im Gegensatz zur christlichen (Nächsten)Liebe steht, in der doch das Leben des Geistes besteht, so muß notwendig diese Sünde ihrer Gattung oder Art nach eine Todsünde sein; wie zum Beispiel Gotteslästerung und Mord ihrem Ausrichtungsgegenstand nach der Chri36 Augustinus, Sermo 104, 3, unter den dem Augustinus zugeschriebenen Werken (PL 39, 1946). Die eigentliche Quelle scheint Decretum Gratiani D. 25 c. 3 (ed. Friedberg I, 93) zu sein. 37 Vgl. q. 10 a. 2; q. 11 a. 3; q. 13 a. 2. 38 Vgl. Aristoteles, De an. II, 6; 415 a 18–20, wie Thomas, z. B. Super libros Sententiarum I, d. 48 a. 2 arg. 2, angibt.

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stenliebe als Liebe zu Gott beziehungsweise als Liebe zum Nächsten widersprechen, weshalb auch beide Todsünden sind. Die Sünde der Völlerei nun besteht darin, das Vergnügen, das Speisen bereiten, maßlos zu begehren. Für sich betrachtet ist jedoch dieses Vergnügen, das eine Speise bereitet, kein Gegensatz zur christlichen Liebe, und zwar weder was die Liebe zu Gott betrifft, noch die zum Nächsten. Insofern aber Völlerei Unmäßigkeit als Zusatz hat, kann in gewisser Weise so ein Gegensatz entstehen oder nicht. Die Begierde nach jenem Vergnügen kann auf zwei verschiedene Weisen maßlos sein. Auf eine Weise so, daß sie die (Hin) Ordnung zum letzten Ziel vereitelt, was dann geschieht, wenn der Mensch solch ein Vergnügen als sein letztes Ziel anstrebt, da es einem Menschen unmöglich ist, mehrere letzte Ziele zu haben. Solch eine Maßlosigkeit befehdet die Christenliebe insofern sie die Liebe zu Gott darstellt, der als letztes Ziel geliebt werden soll. Auf andere Weise kann sich die maßlose Begierde auf die Mittel beziehen, welche die rechte Ordnung zum letzten Ziel unberührt lassen, also etwa, wenn jemand zu viel Speise begehrt, doch nicht so sehr, daß er um dessentwillen Gottes Gebote zu brechen bereit wäre. So eine Unmäßigkeit steht nicht im Konflikt mit der rechten christlichen Liebe. Nun gehört es zur Wesensbestimmung der Völlerei, maßlos in der Begierde zu sein, nicht jedoch unbedingt, daß es eine Maßlosigkeit ist, welche die Ordnung bezüglich des letzten Ziels aufhebt. Daher hat die Völlerei ihrer Artbestimmung nach nichts von einer Todsünde an sich. Sie kann jedoch hin und wieder eine Todsünde sein und dann auch wieder eine läßliche Sünde gemäß der beiden beschriebenen Auffassungsarten von Maßlosigkeit. Zu 1. Esau wird in diesem Argument deswegen als gottvergessend aus Freßsucht genannt, weil seine Gier nach Speisen derart unmäßig war, daß er sein Erstgeburtsrecht dafür verkaufte;39 er hat demnach das Vergnügen an Speise gewissermaßen wie einen Selbstzweck begehrt. Zu 2. Jede Sünde hebt die Tugendhaftigkeit auf zweifache Weise auf: einmal unmittelbar als Gegensatz zu einer Tugend, und die 39 Vgl. Gen. 25, 33.

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Völlerei als Todsünde hebt Tugend so auf, genauso wie die übrigen Todsünden. Zum zweiten dispositiv, und dann heben selbst die läßlichen Sünden die Tugenden auf, wie auch in Sir. 18 [eigentlich 19, 1] steht: »wer sich im Kleinen nicht kümmert, der versinkt langsam«. Zu 3. Jede Sünde, sowohl die läßliche wie die Todsünde, vernichtet im Vollzug die tugendhafte Mitte, denn sie wäre keine Sünde, wenn sie nicht vom vernunftgemäßen Mittel abwiche. Doch nur diejenige Sünde, die zur Liebe einen Gegensatz bildet, von der doch alle Tugenden abhängen, kann eine tugendhafte Gesinnung zerstören, und demzufolge vernichtet die Völlerei als läßliche Sünde das Mittlere der Tugend nur im Einzelvollzug, nicht aber in der Grundgesinnung. Zu 4. Dem Mitmenschen Schaden zuzufügen ist an und für sich ja der Gegenstandsbereich des Zorns,40 denn dieser will ungerechte Vergeltung, die darin besteht, dem Mitmenschen zu schaden. Nun ist es aber nicht der der Völlerei eigentümliche Gegenstandsbereich, seinem eigenen Körper Schaden zuzufügen, sondern das folgt zuweilen der Zielverfolgung ohne Absichtsäußerung auf dem Fuße, und somit ist dieses Schaden nichts, was der Bestimmung der Völlerei entspräche. Dennoch: Sollte jemand sich wissentlich aus maßloser Gier nach Speise durch zuviel Essen oder schädliche Nahrung körperlich schweren Schaden zufügen, so ist er nicht frei von Todsünde. Zu 5. Das Verbot an Adam betraf nicht das Laster der Völlerei, denn er hätte den Apfel ohne Sünde essen können, wäre dieser nicht mit einem Verbot belegt gewesen.41 Das aber war eine maßregelnde Vorschrift,42 dazu gedacht, daß der Mensch den Unterschied lerne zwischen dem Gut des Gehorsams und dem Übel des Ungehorsams, wie Augustinus in Über Genesis dem Wortlaut nach sagt.43 Woraus 40 Aristoteles, Rhet. II, 2; 1378 b 1–2, wie Thomas, Sum. theol. I–II, q. 46 a. 1, angibt. 41 Das Wort »Apfel« findet sich nicht in Gen. 2, 17 und 3, 3, es steht aber bei Augustinus, En. in Psalmos 70, 2, 7 (PL 36, 897). Vielleicht einer Falschinterpretation von Hld. 8, 5 entnommen. 42 Vgl. Bonaventura, Super II Sententiarum d. 17 dub. 5. 43 Augustinus, De Gen. ad litt. VIII, 14, 31 (PL 34, 384).

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folgt, daß die erste Sünde des Menschen nicht Völlerei war, sondern Ungehorsam oder Überheblichkeit. Zu 6. Völlerei macht anfällig für Götzendienst und Wollust, doch nicht so, daß beides wesensgemäß zur Völlerei gehörte. So folgt daraus nicht, daß die Sünde der Völlerei eine Todsünde ist, da auch eine läßliche Sünde anfällig machen kann für Todsünden. Zu 7. Todsünde schlechthin fesselt die Seele, da sie die Seele davon abhält, von sich aus zur christlichen Liebesordnung zurückzufinden. Eine läßliche Sünde hingegen fesselt die Seele von mal zu mal, insofern sie den Vollzug von Tugendhandlungen verhindert. Und somit schlägt Völlerei die Seele auf verschiedene Weise in Bande, je nachdem, ob sie eine läßliche Sünde ist oder eine Todsünde. Zu 8. Das Wesen des Menschen liegt in der Vernunft, weshalb alles, was vernunftwidrig ist, auch der Natur des Menschen widerspricht. Von Begierden weggetragen zu werden ist daher dem Menschen wesensungemäß, insofern es die Maßgabe der Vernunft sprengt, sei es, weil es die (Hin)Ordnung zum Ziel (des Menschen) aufhebt, was schlechthin vernunftwidrig ist, sei es, weil dadurch die Ordnung der Mittel zum Ziel aufgehoben wird, was immer nur je nachdem vernunftwidrig ist, oder eher vernunftverfehlend. Zu 9. Man spricht von diesen drei als Wirkweisen der Völlerei, insofern die Völlerei zu jenen Lastern bereit macht. Daraus folgt jedoch nicht, daß Völlerei immer eine Todsünde ist. Zu 10. Etwas zu gebrauchen heißt soviel wie etwas dem Endziel zuführen, das uns glücklich macht. Deswegen mißbrauchen jene im eigentlichen Sinne die geschaffenen Dinge, die in ihnen ein Ziel gesetzt sehen ohne sie auf das Letztziel zu beziehen. Das nun würde die Verdammnis verdienen sowohl im Fall der Völlerei wie in allen anderen Sünden, durch die der Mensch auf solche Weise die Dinge der Schöpfung mißbraucht. Zu 11. Aristoteles sagt ja nicht, daß Unbeherrschtheit schlechthin den Menschen tierhaft werden läßt, sondern daß die Freude an solchen Vergnügungen und sie über alles zu lieben tierhaft ist. Das ist so, weil es sich dabei um Vergnügungen handelt, die wir mit den Tieren gemeinsam haben. Es gibt nämlich auch andere Vergnügungen, die dem Menschen eigentümlich sind. Wer aber in solche Vergnügen seine Ziele setzt, der liebt sie über alles.

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Zu 12. Diejenigen, welche in den leibesfüllenden Vergnügungen der Speise ihr Lebensziel sehen, das sie doch nur in Gott sehen sollten, dienen ihrem Bauche wie einem Gott. Bezüglich der Gegeneinwände erweist sich die Antwort als recht einfach, denn sie ergeben sich aus der Auffassung der Völlerei als läßlicher Sünde. Was den zweiten von ihnen betrifft, sollte jedoch noch erwidert werden, daß dort ja der Eindruck erweckt wird, daß Völlerei überhaupt nie eine Todsünde sei, da sie keinem Gebot widerspricht. Die Vorschriften des Dekalogs gebieten und verbieten, was der natürlichen Vernunft offenkundig zutage liegt, daß geschehen soll oder nicht, denn die Gebote fallen ja unter das allgemeine Verstehen aller. Deshalb widersprechen nicht alle Todsünden unmittelbar den Zehn Geboten, sondern nur in rückführender Zusammenziehung, wie etwa das Verbot der Unzucht einfachhin sich auf das Gebot »du sollst nicht ehebrechen« zusammengezogen findet. Ähnlich widerspricht das Verbot der Völlerei als Todsünde in Zusammenziehung dem Gebot der Sabbatheiligung, unter welcher die geistige Ruhe verstanden wird,44 die wiederum durch die Unbeherrschtheit der Völlerei verhindert wird.

3. Artik el 45 Die dritte Frage bezieht sich auf die Arten von Völlerei, die Gregor der Große im 30. Buch der Moralschriften aufzählt46: »Das Laster der Völlerei führt uns auf fünf verschiedene Arten in Versuchung. Manchmal nämlich kommt sie dem Hunger zuvor, manchmal wünscht sie luxuriösere Speisen, manchmal eine raffiniertere Zubereitung dieser Speisen, manchmal läßt sie uns das Sättigungsmaß in der Menge an Essen übersteigen, und manchmal sündigt man allein schon in der Inbrunst des übergroßen Wollens«. Alle fünf Ar44 Vgl. Petrus Lombardus, Sent. III d. 37 c. 2 n. 4. 45 Paralleltext: Sum. theol. II–II, q. 148 a. 4. 46 Gregor der Große, Moralia XXX, 18, 60 (PL 76, 556–557).

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ten sind zusammengefaßt in dem Merkspruch »Voreilig, vornehm, übermäßig, übertrieben, begierig«.47 Es scheint, daß diese fünf Spielarten der Völlerei unrichtigerweise so unterschieden werden; denn: 1. Sie unterscheiden sich nur im Hinblick auf diverse Umstände: »voreilig« nämlich hinsichtlich der Zeit, »vornehm« hinsichtlich der Speise selbst, und so jeweils auch mit den anderen. Nachdem nun aber Umstände die Handlungen nur wie beiläufig bestimmen, können sie auch nicht artunterscheidend wirken. Daher sollte man die verschiedenen Arten von Völlerei nicht nach den fünf genannten Merkmalen unterscheiden. 2. Bei jeder Sünde kann man die richtige Linie hinsichtlich verschiedener Umstände übertreten, wie zum Beispiel, wenn ein Mensch ohne Großzügigkeit Geld nimmt, obwohl es nicht die rechte Zeit dafür und wo es fehl am Platz ist, und ganz ähnlich betreffs der anderen Umstände, doch unterscheidet man danach nicht die verschiedenen Arten des Fehlens an Großzügigkeit. Also darf man auch nicht die verschiedenen Arten von Völlerei nach den genannten Umständen unterscheiden. 3. Wie die Zeit als ein Umstandsfaktor verstanden wird, so auch der Ort und die Person des Sünders. Wenn also eine Art von Völlerei nach Maßgabe der Zeit festgelegt wird, so sollte man auch weitere Arten im Hinblick auf den Ort und die sieben weiteren Umständearten festsetzen, so daß man auf sieben oder acht Arten von Völlerei käme.48 4. Nach Aristoteles, im 3. Buch der Nikomachischen Ethik,49 betrifft die Mäßigung, die den Gegensatz zur Völlerei bildet, die Freuden des Geschmackssinns nicht des Geschmacks wegen, sondern insofern er ein Berührungssinn ist. Doch »besonders vornehm« und »begierig« scheinen auf den Wohlgeschmack Bezug zu nehmen, und der ist nun einmal das Bezugsobjekt des Geschmackssinns. Also 47 Derselbe Sinnspruch taucht mehrmals in der Summa fratris Alexandri II–II n. 591 (p. 579) und bei Albertus Magnus, Super Sententiarum IV, 33, 20, auf. 48 Über die Lehre von den sieben Umständen vgl. q. 2 a. 6. 49 Aristoteles, Eth. Nic. III, 20; 1118 a 26–32.

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zählt Gregor der Große die diesen beiden entsprechenden Arten von Völlerei unrichtigerweise auf. 5. Im 10. Buch der Bekenntnisse sagt Augustinus50: »Das Volk in der Wüste verdient die Vorwürfe, nicht weil es Fleisch zu essen verlangte, sondern weil es in Begierde nach Essen gegen Gott murrte«. Gregor der Große aber sagt im 30. Buch der Moralschriften,51 daß das Volk »das Manna verachtete und Fleisch als Speise verlangte, weil es dieses für feiner hielt«. Feine Speisen zu verlangen ist also offenbar kein Zeichen der Sünde der Völlerei, und so scheint es, daß die besagten Arten von Völlerei unsachgemäß angegeben werden. Dagegen spricht: Die Autorität Gregors, der diese Arten solchermaßen unterscheidet.52 Antwort: Um die Arten moralischer Akte zu unterscheiden, muß man vor allem auf die Beweggründe achten, welche die eigentlichen Gegenstände willentlicher Handlungen darstellen, denn das Ausrichtungsobjekt, das die Willenshandlung in Bewegung setzt, ist sozusagen wie die Formmaßgabe dieser Handlung. Deswegen werden willentliche Handlungen genauso nach ihren verschiedenen inneren Beweggründen unterschieden wie das, was im Reich natürlicher Dinge passiert, gemäß der verschiedenen Formen von Antriebsgründen. Nun kann es jedoch manchmal geschehen, daß ein und derselbe Beweggrund die Ursache dafür hergibt, daß der Mensch nach Maßgabe verschiedener Umstände die rechte Tugendmitte verletzt, und dann werden die verschiedenen Sündenarten nicht nach den verschiedenen ordnungsverhindernden Umständen bestimmt: wie etwa durch Habgier der Mensch dazu gebracht wird, sich fremdes Gut anzueignen sowohl zu einer Zeit, zu der es nicht geschehen sollte, als auch an einem Ort, an dem er nicht sollte, als auch von Personen, von denen er nicht sollte, und das alles durch ein und denselben Beweg50 Augustinus, Conf. X, 31, 46 (CSEL 33, 262). 51 Gregor der Große, Moralia XXX, 18, 60 (PL 76, 557 A). 52 Gregor der Große, Moralia XXX, 18, 60 (PL 76, 556–557).

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grund, nämlich Geld anzuhäufen. Und also werden Arten von Habgier nicht solchermaßen unterschieden. Gäbe es hingegen verschiedene Beweggründe zum Sündigen, dann gäbe es schon verschiedene Arten von Habgier, zum Beispiel wenn jemand dazu geneigt gemacht würde, gewisse Rahmenregeln zu brechen, indem er zuwenig gibt, andere jedoch, indem er zuviel für sich beansprucht. Deshalb bleibt festzustellen, daß die genannten Arten der Völlerei nach verschiedenen Beweggründen unterschieden werden: Denn wie gesagt, die Sünde der Völlerei besteht in einer maßlosen Begierde nach Essensfreuden; die Maßlosigkeit aber kann sich entweder auf die Freuden oder auf die Begierde selbst beziehen. Nun kann der Grund für das Erfreuen entweder ein natürlicher oder ein künstlich hervorgebrachter sein. Und zwar ein natürlicher, wenn jemand zum Beispiel übermäßig Gefallen daran findet, kostspielige und erlesene Speisen zu sich zu nehmen, wie in Amos 6,4 steht: »Ihr, die ihr Lämmer aus der Herde und Kälber aus der Mitte der Rinderweide eßt«. Ein künstlich geschaffener Grund für dieses Erfreutsein liegt zum Beispiel dann vor, wenn jemand allzu sehr an ausgesprochen aufwendig hergerichteten Speisen hängt. Und so spricht man angesichts des einen von »vornehm«, angesichts des anderen von »begierig«. Von Seiten der Begierde hingegen läßt sich die Maßlosigkeit nach ihren verschiedenen Beweggründen dreifach unterscheiden: Begierde ist nämlich eine innere Bewegung des Strebensvermögens, die auf Vergnügensempfindung abzielt. Der maßlosen Gewalt dieser Bewegung kann man nach drei Aspekten gewahr werden, und zwar sogar körperlich: erstens dann, wenn die Bewegung ihrem angestrebten Ziel zuvorkommt, also wenn sie in ihrem Ungestüm sich überstürzt, um zu ihrem Ziel durchzustoßen. Genauso läßt die Begierde, so sie maßlos und ungestüm ist, keinen Verzug gegenüber dem Verzehr zu und überstürzt sich, um zum Essen zu kommen, woraus man ersieht, warum man von »voreilig« spricht. Zweitens kann man das Ungestüme der Bewegung nach der Zielerreichung selbst betrachten. Denn auch was körperlich mit Ungestüm in Bewegung ist, trifft nicht richtig wie gedacht mit seinem vorgegebenen Ziel zusammen, und ganz ähnlich geschieht es, daß, wenn die Begierde nach Speise ganz gewaltig groß ist, der Mensch sich maßlos

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im Verzehr der Speise verhält, und dazu rechnet man das, was mit »übermäßig« bezeichnet wird. Zum Dritten läßt sich die ungestüme Maßlosigkeit der körperlichen Bewegung als nach dem Erreichen des vorgegebenen Ziels betrachten, da sie dort nicht Halt macht, sondern weitermachen will. Ähnliches geschieht, wenn jemand maßlos nach Speisen giert und diese Gier sich aber nicht stillen läßt, und man daher weiter ißt, ohne sich mit dem zu begnügen, was die Natur an Nahrungsaufnahme verlangt. Das ist es, was man durch das »übertrieben« bezeichnet. Zu 1. Die genannten Arten von Völlerei werden nicht nach verschiedenen Umständen, sondern nach verschiedenen Beweggründen so unterschieden, ganz so, wie oben ausgeführt.53 Zu 2. – 3. Damit ergibt sich auch die Lösung für das zweite und dritte Argument, denn die Überschreitung der verschiedenen Umstandsbegrenzungen erwächst aus verschiedenen Beweggründen. Zu 4. Der Schlemmer hat nicht deswegen Gefallen an erlesenen und aufwendig hergerichteten Speisen, um sich ein geschmackliches Urteil zu bilden, wie es die Weinkoster tun, nach der Eigenart des Geschmacks als Geschmack. Die Maßlosigkeit an solchen Vergnügen entspräche ja auch eher der Neugier als der Völlerei. Der Schlemmer jedoch findet Gefallen am Verzehr der erlesenen und fein hergerichteten Speisen, der freilich sozusagen eher einem Gefallen an der unmittelbaren Berührungsempfindung entspricht. Zu 5. Erlesene Speisen zu essen ist keine Sünde, wie Augustinus sagt. Doch kann die maßlose Begierde nach erlesenen Speisen nach dem Darlegungsvorhaben Gregors eine Sünde sein.

53 Vgl. Antwort.

4. Artik el 54 Die vierte Frage lautet: Ist Völlerei ein Hauptlaster? Das scheint nicht der Fall zu sein; denn: 1. Wie bei der Völlerei die Vergnügensempfindung im Geschmackoder Tastsinn liegt, so gibt es wohl auch andere in anderen Sinnen. Doch werden keine anderen Laster nach Maßgabe der Vergnügensempfindungen festgesetzt, die andere Sinne bereithalten. Also sollte auch die Völlerei, bei der es doch um die Vergnügensempfindung des Geschmacksinns geht, nicht als Hauptlaster gelten. 2. Gemäß dem 31. Buch von Gregors des Großen Moralschriften55 gilt Hochmut nicht als Hauptlaster, sondern als König der Laster, weil aus ihm alle anderen Laster hervorgehen. Nun ist aber die Trunkenheit die Wurzel aller Laster, da doch in (Gratians) Dekreten56 steht: »Vor allem wird den Klerikern die Trunkenheit untersagt, die Zündstoff und Nahrung aller Laster ist«. Nun ist aber doch Trunksucht gewissermaßen eine Art von Völlerei. Und daher darf man diese nicht einfach unter die Hauptlaster einreihen. 3. Man zählt kein Hauptlaster unter die Töchter eines anderen. Unreinheit57 jedoch, die Gregor der Große im 31. Buch seiner Moralschriften als Tochter der Völlerei ansetzt,58 ist doch Sache der Wollust, wie in Eph. 5, 3 steht: »Jede Unzucht ist Unreinheit« usf. Da nun Wollust ein Hauptlaster darstellt, so scheint es demnach, daß Völlerei kein Hauptlaster ist, sondern jenseits der Hauptlaster steht. 4. Wie Bernhard von Clairvaux sagt,59 ist es recht genommen die Eigenheit von Hochmütigen, nach erfreulichen Dingen zu verlangen. Der Hochmut jedoch ist keine Tochter irgendeines Hauptlasters. Nachdem Gregor der Große unpassende Fröhlichkeit als Tochter der Paralleltexte: Sum. theol. II–II, q. 148 a. 5, und oben q. 8 a. 1. Gregor der Große, Moralia XXXI, 45, 87 (PL 76, 620 D). Decretum Gratiani D. 35 c. 9 (ed. Friedberg I, 133). Daß hier sexuelle Unreinheit, insbesondere der Samenerguß außerhalb des Zeugungsaktes, gemeint ist, läßt sich weiter unten aus der Antwort ad 3 ersehen. 58 Gregor der Große, Moralia XXXI, 45, 88 (PL 76, 621 B). 59 Bernhard von Clairvaux, De gradibus humilitatis 12, 40 (ed. Leclercq III, 46). 54 55 56 57

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Völlerei ansetzt,60 sieht es doch ganz danach aus, daß Völlerei kein Hauptlaster ist. Dagegen spricht, daß Gregor der Große im 31. Buch der Moralschriften die Völlerei mit den anderen Hauptlastern in einem Zuge nennt. Antwort: Wie in den vorhergehenden Fragen bereits ausgeführt,61 wird immer dasjenige ein Hauptlaster genannt, aus dem andere Laster hervorgehen, indem sie es sich als Zielursache setzen. Und zwar, weil der Ausrichtungsgegenstand eines Lasters von vornherein und in hohem Maße erstrebenswert erscheint, vor allem, wenn er eine Ähnlichkeit mit der Glückserfüllung aufweist, nach der doch alle von Natur aus streben.62 Eine der Vorbedingungen des Glücks jedoch ist das Vergnügen,63 ohne welches es nicht erfüllt werden kann, und so stellt die Sünde der Völlerei, die doch eines der allergrößten Vergnügen betrifft, wie es nämlich in Speisen und Getränken besteht, auch ein Hauptlaster dar. Nun entstehen aus der Völlerei gewisse Laster, die als ihre Töchter bezeichnet werden, weil sie aus dem maßlosen Vergnügen an Speisen und Getränken hervorgehen können. Das läßt sich entweder von seiten des Körperlichen her betrachten, und so ist dann Unreinheit eine Nachfolge der Völlerei, da sie leicht aus dem übermäßigen Verzehr von Speisen hervorgeht; oder von seiten der Seele, deren Aufgabe es ist, den Körper zu beherrschen, da diese Beherrschung wegen des maßlosen Vergnügens an Speisen und Getränken auf vielfache Weise unterbunden wird. Das betrifft zunächst die Vernunft, deren Scharfsinn durch übermäßigen Verzehr von Speisen oder durch die Sorge darum getrübt wird, da in der Konsequenz die Vernunft selbst betroffen ist, wenn die ihr unterstehenden körperlichen Vermögen wegen übermäßiger Nahrungsaufnahme beeinträchtigt werden. Die 60 61 62 63

Gregor der Große, Moralia XXXI, 45, 88 (PL 76, 621 B). Vgl. q. 13 a. 3 und q. 12 a. 5. Vgl. Augustinus, De Trin. XIII, 3 (CCSL 50 A, 389). Vgl. Thomas von Aquin, Sum. theol. I–II, q. 4 a. 1.

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Stumpfsinnigkeit in ihrem Bezug zur Verstandeskraft wird somit als Tochter der Völlerei angesehen. Sodann geht das die Maßlosigkeit in den Neigungen an, die durch die Einschläferung der Vernunftleitung gegen jede Ordnung ausgerichtet werden. Dann spricht man von unlauterer Fröhlichkeit. Drittens folgt daraus wirre Rede, und zwar als leeres Gelaber, denn da die Vernunft die Worte nicht mehr erwägt, ergibt sich, daß man in überflüssiges Geschwätz abschweift. Viertens folgt auch eine Verwirrung im Tun, und so entsteht die Possenreißerei, das heißt eine gewisse Clownerei in den Körpergesten, die aus dem Aussetzen der Vernunft hervorgeht, deren Aufgabe die rechte Abstimmung der Körperglieder wäre. Und daher ist Völlerei ein Hauptlaster mit fünf Töchtern, wie Gregor der Große im 31. Buch seiner Moralschriften sagt64: Nämlich taktlose Fröhlichkeit, Possenreißerei, Geschwätzigkeit, Unreinheit und Stumpfsinn. Zu 1. Das Vergnügungsempfinden der anderen Sinne entsteht aus dem Beisammensein mit der Vergnügen bereitenden Sache gemäß einer Ähnlichkeitsangleichung, die Vergnügungsempfindung des Berührungssinns jedoch aus einem körperlichen Beisammensein mit der Vergnügen bereitenden Sache. Und somit werden Hauptlaster mit Bezug auf unmittelbare Berührungsempfindung als vordringlichere und größere angesetzt, und nicht solche mit Bezug auf die anderen Sinne mit Ausnahme des Geschmacksinns, der selbst aber eine Art Berührungssinn ist. Zu 2. Aus Trunkenheit entstehen nicht deswegen alle Laster, weil sie anderen den Boden wie eine Zielursache bereitet, sondern weil sie alle Schranken fallen läßt, indem sie nämlich das Vernunfturteil beiseite schafft, das den Menschen vom Sündigen abhält. Daraus folgt also nicht, daß Völlerei oder Trunksucht wie der Hochmut das Oberhaupt aller Laster ist, sondern nur von bestimmten Lastern, die unmittelbar und als ihre eigentümlichen Wirkungen aus der Völlerei hervorgehen. Zu 3. Körperliche Selbstbefleckung kann aus einer biologischen Ursache entstehen, etwa aus der Begierde nach einer wahrgenom64 Gregor der Große, Moralia XXXI, 45, 88 (PL 76, 621 B).

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menen Lustquelle, und das gehört vornehmlich in den Bereich der Wollust. Sie kann aber auch von einer inneren körperlichen Ursache stammen, etwa von Spermaldruck aus Samenüberproduktion, der zum Erguß führt, und in Anbetracht dessen bezeichnet man Unreinheit als Tochter der Völlerei. Zu 4. Es ist ein Kennzeichen des Hochmuts, Erfreuliches zu erstreben, doch ein Kennzeichen der Völlerei, daß, wie weiter oben ausgeführt,65 aus dem Erfreulichen taktlose Fröhlichkeit folgt, weil die Vernunft beeinträchtigt wird.

65 Vgl. Antwort.

XV. ÜBER DIE WOLLUST

Die hier behandelten Fragen lauten: 1. Ist jede Handlung aus Wollust eine Sünde? 2. Ist jede Handlung aus Wollust eine Todsünde? 3. Welche sind die Arten der Wollust? 4. Ist Wollust ein Hauptlaster?

1. Artik el 1 Die erste Frage lautet: Ist jede Handlung aus Wollust eine Sünde? Das scheint nicht der Fall zu sein; denn: 1. Unzucht ist so eine Handlung, wird aber unter die Dinge gerechnet, die für sich betrachtet keine Sünden sind, sondern erlaubt: Denn in Apg. 15, 28–29 steht: »Es gefiel dem Heiligen Geist und uns, euch keine weiteren Bürden aufzuerlegen als diese allernötigsten: euch der Götteropfer zu enthalten, von Blut, von Ersticktem und Unzucht«. Doch ist keine Speise für sich betrachtet eine Sünde, wie 1 Tim. 4, 4 sagt: »Nichts von dem, was mit Danksagung (gegenüber Gott) empfangen wird, ist zurückzuweisen«. Also ist auch die Unzucht keine Sünde, und somit auch nicht jeder wollüstige Akt. 2. Mit einer Frau zu schlafen ist ein natürlicher Akt, und soweit nur dieses selbst betroffen ist, stellt es keine Sünde dar, genauso wenig wie diese Frau zu betrachten, da beide Akte eines eigenen natürlichen Vermögens sind. Nun ist es aber keine Sünde, eine fremde Frau anzusehen. Und also auch nicht, mit ihr zu schlafen.2 3. Wenn Unzucht eine Sünde ist, so wegen des Vermögens, aus dem der Akt hervorgeht, von dessen Objekt her oder des Zieles we1 Paralleltext: Sum. theol. II–II, q. 153 a. 2–3. 2 Der lateinische Text spielt mit den Worten cognoscere, »erkennen«

in der sexuellen Konnotation der biblischen Sprache, die hier mit »schlafen mit« wiedergegeben ist, und »sehen«, »betrachten«, beides Verben des Erkennens.

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gen. Des Vermögens wegen ist Unzucht keine Sünde, da das Vermögen, aus der sie hervorgeht, ein natürliches ist. Genauso wenig von ihrem Objekt her, denn das ist die von Gott doch dazu erschaffene Frau, wie in Gen. 2, 18 gesagt: »Laßt uns dem Menschen eine Hilfe machen, die ihm gleicht«. Und es kann durchaus so sein, daß es auch nicht von der Zielsetzung her Sünde ist, zum Beispiel wenn jemand durch Unzucht das Ziel verfolgte, Nachkommen zur Mehrung der Ehre Gottes zu zeugen. Also ist doch offenbar nicht jede Unzucht eine Sünde. 4. Nach Aristoteles im 15. Buch von Über die Lebewesen,3 ist der Same ein Überfluß an Nahrung. Nun ist es aber erlaubt, anderen Stoffwechselüberfluß auf welche Weise auch immer auszustoßen, und das ohne Sünde. Es scheint doch also, daß dies beim Samenausstoß ähnlich geschieht. Somit ist dann nicht jeder wollüstige Akt eine Sünde. 5. Was gattungsgemäß eine Sünde darstellt, darf auch nicht um eines guten Zieles willen vollführt werden, wie Röm. 3,8 sagt: »Es ist nicht so, wie einige behaupten, daß wir sagten: laßt uns Übles tun, um Gutes zu bewirken«. Doch wie ein Kommentator zum 5. Buch der Nikomachischen Ethik schreibt4: ein gerechter und tugendhafter Mann begeht Ehebruch mit der Frau des Tyrannen, um den Tyrannen töten und das Vaterland befreien zu können. Also ist auch Ehebruch keine Sünde an und für sich, und deswegen umso weniger andere Akte der Unzucht. 6. Keine Tat eines Gerechten ist eine Sünde insofern er gerecht ist. Nun ist aber offenbar Unzucht eine gerechte Tat, denn in Gen. 38, 26 steht, daß Judas von Tamar sagt, mit der er Unzucht getrieben hatte: »Sie ist gerechter als ich« oder »sie ist gerechtfertigt meinetwegen«, wie es im hebräischen Original nach Auskunft des Hieronymus steht.5 Also ist Unzucht keine Sünde. 3 Aristoteles, eigentlich De gen. an. I, 18; 726 a 26, vgl. Albertus Magnus, De animalibus XV tr. 2 c. 5 n. 100 (St II 1035). 4 Anonymus, In Ethicam Aristotelis V, 14 (ed. Heylbut, 249 lin. 28–32), Thomas folgt der Übersetzung des Robert Grosseteste (ms. Oxford All Souls Coll. 84 f. 99 va.). 5 Hieronymus, Hebraicae quaestiones in Genesim 38 (PL 23, 996 B [1047 B]).

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7. Augustinus sagt im 7. Buch von Die Bürgerschaft Gottes,6 daß jedes Laster naturwidrig ist. Unzucht ist das aber gar nicht, denn zur Stelle Röm. 1, 26 »ihre Frauen vertauschten den natürlichen Verkehr mit dem widernatürlichen« erklärt die Glosse7: »Der natürliche Verkehr besteht im geschlechtlichen Zusammenkommen von Mann und Frau«. Also ist er keine Sünde. 8. Keine Sünde wird auf ein Gebot Gottes hin begangen. Unzucht jedoch manchmal schon, denn in Hos. 1, 2 steht: »Der Herr sprach zu Hosea: Geh, nimm dir eine Hure zur Frau und zeuge Hurenkinder mit ihr«. Also ist doch Unzucht für sich genommen keine Sünde. 9. Zu jedem Laster, das in einem Zuviel besteht, gibt es ein entgegengesetztes, das in einem Zuwenig besteht. Nun bedeutet Wollust sozusagen ein Zuviel an Begierden nach Liebesfreuden, das entgegengesetzte Zuwenig aber, die Jungfräulichkeit oder die lebenslange Enthaltsamkeit, ist keine Sünde, sondern etwas löbliches. Dagegen spricht: 1. In Hebr. 13, 4 steht: »Halte die Ehe in allem in Ehren und dein Ehebett rein, denn Unzüchtige und Ehebrecher wird Gott verurteilen«. Das aber, wofür der Mensch vor Gottes Gericht gestellt wird, ist eine Sünde. Also sind Unzucht und Ehebruch und alle derartigen Handlungen aus Wollust Sünden. 2. In Tob. 4, 13 steht: »Bewahre dich, mein Sohn, vor aller Unzucht und laß nicht zu, daß du eine Frau außer deiner eigenen erkennst«. Sexuelle Handlungen aber außerhalb des Beischlafs mit der angetrauten Ehefrau werden Unzucht genannt. Also ist jeder solche Akt eine Sünde. Antwort: Es ist so: Wollust ist ein Laster, das einen Gegensatz zur Mäßigung darstellt, insofern diese die Begierden nach den Freuden der Berührung in Liebesdingen beschwichtigt, genauso wie Völlerei zur 6 Augustinus, eigentlich De civ. Dei XI, 17 (CCSL 48, 336) und XIV, 11, 1 (CCSL 48, 431). 7 Glosse des Petrus Lombardus zu Röm. 1, 26 (PL 191, 1333 C) aus Aimo, Expositio in Rom 1, 26 (PL 117, 376 A).

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Mäßigung im Gegensatz steht, insofern sie diese Begierden im Essen und Trinken beruhigt. Daraus folgt, daß Wollust insbesondere eine Regellosigkeit bezüglich eines Zuviel in den Begierden nach den Liebesfreuden darstellt. So eine Unmäßigkeit kann nun eine der bloß inneren Leidenschaften sein oder auch fortgesetzt in eine äußere Handlung, die in sich selbst ungehörig ist und nicht nur wegen der ungehörigen Begierden, aus denen sie hervorgeht. Zu diesen nämlich gehört es, daß ihretwegen eine Handlung vollführt wird, die auch für sich genommen ungehörig ist. Wie etwa aus der Geldgier zu ersehen ist: Diese kann nämlich ein maßloses Begehren danach darstellen, das einem geschuldete Geld zu bekommen oder für sich zu behalten, und dann ist das nicht an und für sich lasterhaft, sondern nur insofern, als es einer maßlosen Begierde gehorcht. Manchmal folgt aus der maßlosen Begierde nach Geld aber auch, daß man auch den Besitz anderer erlangen oder für sich behalten möchte, und dann ist beides allein schon für sich ungehörig, und nicht nur, weil es aus maßloser Begierde entspringt. Daß beides nun dem Laster fehlender Großzügigkeit zuzurechnen ist, ergibt sich aus dem von Aristoteles im 4. Buch der Nikomachischen Ethik Gesagten.8 Ähnliches läßt sich über die Wollust sagen. Denn manchmal stellt sie bloß eine Maßlosigkeit in der inneren Begehrlichkeit dar, wie im Fall dessen, der aus so einer Begehrlichkeit mit einer Frau verkehrt, denn dann ist die Tat nicht in sich selber ungehörig, sondern nur deswegen, weil sie einem unordentlichen Begehren entstammt. Manchmal aber geht mit diesem Begehren auch eine ungehörige Handlung in sich selbst einher, wie sie jeder Gebrauch der Geschlechtsorgane außerhalb des ehelichen Verkehrs darstellt. Daß nun jeder solche Akt in sich selbst betrachtet ungehörig ist, ergibt sich daraus, daß jede menschliche Handlung als ungehörig bezeichnet wird, die nicht ihrem gebührenden Ziel angemessen ist. So ist das Essen dann unmäßig, wenn es nicht der körperlichen Gesundheit angemessen ist, der es als ihrem Ziel ja verpflichtet ist. Ziel des Gebrauchs der Geschlechtsorgane ist die Zeugung und Aufzucht von Nachkommenschaft, und daher ist jeder Gebrauch dieser Organe, der nicht auf die Zeugung von Nachkommen ausgerichtet und 8 Aristoteles, Eth. Nic. IV, 5; 1121 b 16 – 1122 a 13.

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ihrer Aufzucht verpflichtet ist, in sich selbst schon ungehörig. Jedweder Akt jedoch der besagten Körperteile jenseits des Verkehrs von Mann und Frau ist offenkundig nicht auf die Zeugung von Nachkommen ausgerichtet. Jeder Geschlechtsverkehr zwischen Mann und Frau außerhalb einer rechtmäßigen Ehe geht aber auch an der gebührenden Aufzucht von Nachkommenschaft vorbei. Denn die Institution der Ehe wurde eingeführt, um den wahllosen geschlechtlichen Verkehr zu unterbinden, welcher die Ermittlung des Vaters von Kindern verunmöglicht. Wenn nämlich jeder mit jeder beliebigen Frau verkehren könnte, und ohne, daß sie etwa ganz auf ihn festgelegt wäre, so würde jede Sicherheit der Zuweisung der Nachkommen schwinden und im Gefolge auch die Bemühung des Vaters um die Erziehung der Kinder. Das widerspricht dem, was der menschlichen Natur entspricht, da es den Menschen wesensgemäß angelegen ist, ihre eigene Nachkommenschaft mit Sicherheit auszumachen und ihre Kinder großzuziehen. Dies nämlich obliegt eher den Vätern als den Müttern, da die Erziehung in den Händen der Mütter die Kleinkinder angeht, danach aber liegt es in Händen des Vaters, das Kind zu erziehen, zu unterweisen und sein ganzes Leben zu bereichern.9 So sieht man es auch bei anderen Lebewesen, daß bei solchen Tierarten, deren Nachkommenschaft der gemeinsamen Aufzucht durch Vater und Mutter bedürfen, es keine wechselnden Geschlechtspartner gibt, sondern das Männchen auf ein Weibchen sich festlegt, wie aus dem Beispiel all der Vögel hervorgeht, die zusammen nisten.10 So ist ganz offenkundig, daß jede Geschlechtsgemeinschaft zwischen Mann und Frau außerhalb einer rechtmäßigen Ehe, die den Verkehr mit wechselnden Geschlechtspartnern ausschließt, in sich schon rechter Ordnung entbehrt. An dieser Stelle behandeln wir jedoch nicht die Frage, ob diese Ordnung bedeutet, man dürfe nur eine Frau haben oder auch mehrere, ob sie auflösbar ist oder unauflöslich, denn das alles betrifft Fragen des ehelichen Zusammenseins. Wie aber auch immer dem sei, festzuhalten bleibt, daß jeder geschlechtliche Ver9 Vgl. Thomas, Sum. theol. II–II, q. 101 q. 2 ad 2. 10 Vgl. Thomas, Super libros Sententiarum IV, d. 33 q. 1 a. 1 ad. 4: ›si-

cut patet in turture et columba et huiusmodi‹.

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kehr zwischen Mann und Frau außerhalb der Eheordung ungehörig ist. Somit ist jede wollüstige Handlung eine Sünde, sei es der Ordnungslosigkeit der Handlung selbst wegen oder der Ordnungslosigkeit nur der Begierde wegen, die vordringlich und an und für sich die Wollust ausmacht. Denn Augustinus sagt im 12. Buch von Die Bürgerschaft Gottes11: »Wollust ist kein Laster von schönen und wohlgefälligen Körpern, sondern von mißgeleiteten Seelen, die körperliche Lüste lieben und die Mäßigung mißachten, die uns für geistig schöne und wohlgefällige Dinge bereitmacht«. Zu 1. So ist zum ersten Argument folgende Antwort zu geben12: Da die Apostel in der Urkirche die Bekehrten aus den Heidenvölkern mit denen aus dem Judentum in eins zu bringen bemüht waren, so schafften sie alle Hindernisse zu dieser Vereinigung beiseite, indem sie von jeder Partei das abzulegen verlangten, was den anderen zu sehr zur Last fallen könnte. Deshalb untersagten sie den Heidenchristen Dinge, die den Judenchristen widerwärtig waren, nicht unter dem Gesichtspunkt, ob sie denn Sünden seien oder nicht, sondern allein deswegen, weil sie Unwillen erregten. Nun hielten die Heidenchristen jede Speise als zum Verzehr für sich erlaubt, was auch richtig war, die Judenchristen jedoch scheuten davor zurück wegen ihres althergebrachten Gesetzes betreffs ihrer Lebensgewohnheiten. Daher verboten die Apostel den Heidenchristen für jene Zeit diejenigen Speisen, die den Judenchristen am meisten zuwider waren. Genauso betrachteten auf der anderen Seite die Heidenchristen fälschlicherweise die Unzucht nicht als schlechthin sündig, was die Judenchristen dank der Belehrung durch das Gesetz richtigerweise als eine Sünde verabscheuten. Und so untersagten die Apostel auch dies als Sünde und auch als etwas, das Zwietracht heraufbeschwor. Zu 2. Nichts verhindert doch die Richtigkeit der Annahme, daß mir etwas zu betrachten erlaubt ist, nicht aber zu anderem Gebrauch. Wie es ja auch in mein Verfügen gestellt ist, in der Straße ausgestell11 Augustinus, De civ. Dei XII, 8 (CCSL 48, 362). 12 Dieselbe Argumentdarlegung findet sich bei Thomas, Super libros

Sententiarum IV, d. 1 q. 2 a. 5 sol. 3, und Sum. theol. I–II, q. 103 a. 4.

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tes Gold zu betrachten, nicht aber, es zu besitzen. Ähnlich darf man eine Frau betrachten oder sich ihrer sogar als Magd bedienen, nicht aber zum Geschlechtsverkehr, es sei denn innerhalb der Maßgabe einer rechtmäßigen Eheverbindung. Zu 3. Was aus Wollust getan wird, ist eine Sünde aufgrund des entsprechenden Seelenvermögens, insofern das begehrliche nämlich nicht unter der Vernunftordnung steht, und aufgrund des Objekts des Tuns, da jede Handlung, die zur Zeugung und Aufzucht von Nachkommenschaft geeignet ist, nicht nur eben eine Frau als Objekt benötigt, sondern eine ehelich angenommene Frau, wie bereits gesagt.13 Auch das Ziel dessen, was aus Wollust geschieht, ist seiner Natur nach maßlos, selbst dann, wenn das Ziel in der Gesinnung des Handelnden gut erscheint, was ja zur Entschuldigung der Handlung nicht ausreicht, wie aus dem Beispiel dessen hervorgeht, der stiehlt, um Almosen geben zu können. Zu 4. Wie Aristoteles im selben Buch sagt,14 ist der Same ein Überfluß aus dem Stoffwechsel, der aber zur Zeugung von Nachkommenschaft benötigt wird, und daher ist jeder willentliche Abstoß des Samens unstatthaft, es sei denn, er geschehe gemäß des von der Natur gesetzten Zwecks. Andere solche überschüssigen Ausflüsse wie Schweiß, Urin und dergleichen sind dafür nicht vonnöten, und deswegen spielt es keine Rolle, auf welche Weise sie ausgestoßen werden. Zu 5. Dem genannten Kommentator sollte man in dieser Sache nicht zustimmen, denn man darf um gar keines Vorteils willen Ehebruch begehen, genauso wenig wie man um eines Vorteils willen eine Lüge sagen darf, wie Augustinus in seinem Werk Gegen die Lüge sagt.15 Zu 6. Tamar wird ja nicht deswegen als gerechtfertigt bezeichnet, weil sie Unzucht verübte, sondern weil sie Nachkommenschaft nur aus dem Geschlecht haben wollte, aus dem ihr ein Ehemann zustand. 13 Vgl. Antwort. 14 Nämlich Aristoteles, De gen. an. I, 18; 724 b 21 ff. Vgl. Albertus

Magnus, De animalibus XV tr. 2 c. 5 n. 88 (St II 1029 ff.). 15 Augustinus, eigentlich De mendacio 14, 25 (PL 40, 505).

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Zu 7. Auf zweifache Weise kann man die wollüstige Handlung als naturwidrig bezeichnen: Einmal absolut gesprochen, da sie der Natur jedes Lebewesens zuwiderläuft. Dementsprechend wird jeder wollüstige Akt außerhalb des Verkehrs von Mann und Frau als naturwidrig bezeichnet, da er nicht der Fortpflanzung entspricht, welche in jeglicher Art von Lebewesen aus der Vereinigung der beiden Geschlechter hervorgeht. Von dieser Auffassungsweise spricht die Glosse. Auf eine andere Weise spricht man von etwas als naturwidrig, weil es der eigentümlichen Natur des Menschen widerspricht, dem es obliegt, den Zeugungsakt auf eine entsprechende Aufzucht hin anzulegen, und so genommen ist jede Unzucht naturwidrig. Zu 8. Aufgrund des Gebotes Gottes, in dessen Verfügungsgewalt alles ist, war das, was andernfalls Diebstahl gewesen wäre, eben keiner, als die Kinder Israels die Ägypter plünderten, wie Ex. 12, 35–36 erzählt. Genauso war die besagte Unzucht (des Hosea), die andernfalls unzüchtig gewesen wäre, es eben nicht, wegen der Vollmacht Gottes, der über dem Ehegebot steht. Von einer Hure und Hurenkindern ist dort nicht deswegen die Rede, weil es Unzucht war, sondern weil sie anderenfalls Unzucht gewesen wäre. Zu 9. Jungfräulichkeit oder beständige Enthaltsamkeit bildet nicht den Extremgegensatz zur Wollust, sondern vielmehr die richtige Mitte des Verhaltens, da doch diese in Tugendfragen nicht der Quantität nach festgelegt wird, sondern gemäß des rechten Vernunftgebrauchs, wie Aristoteles im 4. Buch der Nikomachischen Ethik anhand des Beispiels vom Großmütigen zeigt.16 Eine Extremhaltung im Sinne eines Zuwenig wäre es, wenn jemand am rechten Vernunftgebrauch vorbei sich des geschlechtlichen Verkehrs enthielte, wie am Beispiel dessen zu sehen, der es verschmäht, seinen ehelichen Pflichten gegenüber seiner Frau nachzukommen, oder sich des Verkehrs aus Furcht vor Dämonen enthält, wie es Zauberer und Vestalinnen tun.

16 Aristoteles, Eth. Nic. IV, 8; 1123 b 13–14.

2. Artik el 17 Die zweite Frage lautet: Ist jede Handlung aus Wollust eine Todsünde? Das scheint nicht der Fall zu sein; denn: 1. Über das Schriftwort 1 Tim. 4, 8 »Frömmigkeit ist allen von Nutzen« sagt die Glosse des Ambrosius von Mailand18: »Der höchste Gipfel christlicher Lebensübung besteht in Mitleid und Frömmigkeit; und wenn jemand sein Leben danach ausrichtet und einen Rückfall ins Fleischliche erleidet, so wird er zweifelsohne dafür bestraft werden, doch nicht dem Tode anheimgegeben«. Doch wer auch immer todeswürdig sündigt, der wird nicht nur bestraft, sondern zugrunde gehen. Also sündigt nicht jeder todeswürdig, der durch einen Fehltritt des fleischlichen Begehrens eine wollüstige Tat vollführt. 2. Jede Todsünde steht im Gegensatz zu einer der Vorschriften von Gottes Gesetz. Unter den Sünden aus Wollust trifft das aber nur auf den Ehebruch zu, und zwar durch das Gebot »Du sollst nicht ehebrechen«. Also ist unter den Akten aus Wollust allein Ehebruch eine Todsünde. 3. Dagegen wurde eingewandt, daß im Verbot ehelicher Untreue, also des Ehebruchs, ein Verbot jedes unrechtmäßigen Beischlafs einbegriffen ist. – Dagegen spricht: Im Verbot einer größeren Sünde ist das einer geringeren nicht mit einbegriffen. Nun ist Ehebruch eine größere Sünde als einfache Unzucht. Und daher ist im Verbot des Ehebruchs das Verbot einfacher Unzucht nicht mit einbegriffen. 4. Jede Todsünde steht im Gegensatz zur Nächstenliebe, durch welche die Seele das Leben empfängt, gemäß 1 Joh. 3, 14: »Vom Tod sind wir ins Leben versetzt worden, weil wir unsere Brüder lieben«. Doch einfache Unzüchtigkeit steht weder im Gegensatz zur Gottesliebe, da sie keine Sünde gegen Gott darstellt, noch zur Liebe gegen den Nächsten, da dem Nächsten daraus doch kein Schaden erwächst. Denn eine Frau, die in freier Entscheidungsgewalt über sich 17 Paralleltext: Sum. theol. II–II, q. 154 a. 2–4. 18 Glosse des Petrus Lombardus zu 1 Tim. 4,8 (PL 192, 348 D) aus

(Pseudo)Ambrosius In Timotheum 4, 8 (PL 17, 474 [500 C]).

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selbst einem Akt einfacher Unzucht ihre Zustimmung gibt, erleidet doch dadurch keine Ungerechtigkeit, da niemand willentlich Ungerechtigkeit erleidet, wie Aristoteles im 5. Buch der Nikomachischen Ethik sagt.19 Also ist Unzucht für sich betrachtet nicht gattungsgemäß eine Todsünde. 5. In seinem Werk Über das höchste Gute sagt Isidor von Sevilla,20 daß wenn die Freude an Unzucht dem Menschen mehr gefällt als die Liebe zur Keuschheit, die Sünde dann immer noch den Menschen beherrscht. Woraus aber zu ersehen ist, daß Unzucht und die Tugend der Keuschheit im Menschen zusammen vorliegen können. Das aber kann keine Todsünde. Folglich ist Unzucht keine Todsünde. 6. Auf zwei Weisen kann eine Todsünde gemindert werden: Einmal wegen der Schwachheit des Menschen, zum anderen wegen der Größe der Anfechtung. Nun leidet der Mensch größere Schwachheit betreffs der Sünde der Wollust als betreffs der Sünde der Völlerei. Denn das Streben nach Fortpflanzung, dem die Sünde der Wollust anzurechnen ist, ist hier nicht nur verdorben wie das nach Nahrungsaufnahme, dem die Sünde der Völlerei zugehört, sondern es ist auch angekränkelt.21 Ähnlich ist die Anfechtung von Seiten des Teufels in Sachen Wollust größer als in Sachen Völlerei. Der Teufel nämlich verführt den Menschen vor allem mit der Wollust, wie aus dem hervorgeht, was in Hiob 40, 11 steht: »Kraft ist in seinen Lenden, und seine Macht ist in seinem Bauchnabel«, was Gregor der Große der Sünde der Wollust zuschreibt.22 Somit scheint es, daß die Sünde der Wollust weniger schwer wiegt als die der Völlerei. Nun ist aber nicht jede Handlung aus Völlerei eine Todsünde, wie oben gesagt.23 Und also ist nicht jede Handlung aus Wollust auch eine Todsünde. 7. Die Verderbnis der menschlichen Natur besteht in der Auflehnung des Fleisches gegen den Geist. Diese Auflehnung jedoch kam 19 Aristoteles, Eth. Nic. V, 17; 1138 a 12. 20 Isidor von Sevilla, De summo bono (= Sententiae) II c. 39 n. 17 (PL

83, 642 B). 21 Vgl. z. B. Summa fratris Alexandri II–II, 239 (p. 254), und Bonaventura, Super II Sententiarum d. 31 a. 1 q. 3. 22 Gregor der Große, Moralia XXXII, 14, 20 (PL 76, 648 A). 23 Vgl. q. 14 a. 2.

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aus der Sünde der Völlerei. Daher sagt Bernhard von Clairvaux24 in seiner Auslegung des Genesis-Wortes (3, 6) »Die Frau sah, daß der Baum« usw., daß die Auflehnung des Fleisches gegen den Geist sich aus der maßlosen Begierde nach dem verbotenen Baum ergeben hat. Somit ist das Streben nach Nahrung, dem solch eine Begierde anzurechnen ist, verderbter als das zur Fortpflanzung. Und daher, weil nicht jede Handlung aus Völlerei eine Todsünde darstellt, ist es offenbar noch sehr viel weniger jegliche Handlung aus Wollust. 8. Strafe und Schuld stehen in gegenseitigem Übereinstimmungsverhältnis. Aus dem Seelenvermögen zur Nahrungsaufnahme – wie bei der Sünde unseres Urvaters – folgte jedoch eine größere Bestrafung als aus jedem anderen. Denn Hunger, Durst und anderes von der Art, das den Menschen sogar an den Rand des Todes bringen kann, gehören zum Ernährungsvermögen. Also ist die diesem zugemessene Schuld größer als die dem Fortpflanzungsvermögen zugemessene. Und so kommt man zum selben Ergebnis wie zuvor. 9. Die Todsünde kann nur in der Vernunft ihren Sitz haben, wie aus dem 22. Buch von Augustinus, Über die Dreifaltigkeit, hervorgeht.25 Nun kommt es jedoch manchmal zu Handlungen aus Wollust ohne vernünftige Überlegung, wie aus dem Fall Lots ersichtlich, der unwissentlich seinen Töchtern beiwohnte, wie in Gen. 19, 33–37 steht. Daraus läßt sich doch ersehen, daß eine Handlung aus Wollust nicht in jedem Fall eine Todsünde ist. 10. Im Fall verdunkelter Vernunft wird dem Menschen sein Tun nicht als Todsünde angelastet. Nun wird beim Vollzug der Wollust die Vernunft gänzlich verdunkelt. Denn über die Aussage von 1 Kor. 6, 18 »Wer Unzucht treibt, der versündigt sich an seinem Körper«, sagt die Glosse26: »Hierbei wird die Seele eigentlich zur Sklavin des Körpers, insofern zu diesem Augenblick und unter dem unmittelbaren Eindruck der so schimpflichen Handlung der Mensch nichts anderes zu denken oder zu erstreben in der Lage ist, da diese 24 Bernhard von Clairvaux, Sermones in Cantica 72, 7–8 (ed. Leclercq II, 230). 25 Augustinus, eigentlich De Trin. XII, 12, 17 (PL 42, 1008). 26 Glosse des Petrus Lombardus zu 1 Kor. 6, 18 (PL 191, 1584 A) aus (pseudo)Ambrosius In I Cor. 6, 18 (PL 17, 215 A [226 C]).

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Unterjochung und Verdunklung durch die Lüsternheit den Geist gefangen hält«. Und also ist die lüsterne Handlung offensichtlich keine Todsünde. 11. Über Dtn. 23, 17 »Keine Hure soll unter euch sein« usw., sagt die Glosse: »Das verbietet, denen beizuwohnen, deren Schändlichkeit läßlich ist«.27 Also ist der Beischlaf mit Prostituierten eine läßliche Sünde. 12. Die rechte Sexualbeziehung von Mann und Frau geschieht um der Zeugung und Erziehung von Kindern willen. Nun kann manchmal auch eine außereheliche Beziehung in angemessener Weise die Zeugung und Erziehung von Kindern mit sich bringen. Also ist nicht jede solche außereheliche Geschlechtsbeziehung eine Todsünde. 13. Dem Gut der Zeugung und Erziehung von Nachkommen entspricht doch sehr viel weniger derjenige, der diese von vornherein ausschließt, als derjenige, der eine außereheliche Beziehung mit einer Frau hat. Wenn also letzteres eine Todsünde wäre, weil es die Zeugung und Erziehung von Kindern ausschließt, so wäre doch in viel höherem Maße die sexuelle Enthaltsamkeit eine Todsünde, weil durch sie die Zeugung von Kindern gänzlich ausgeschlossen wird. 14. Klar ist, daß aus dem Beischlaf mit einer unfruchtbaren und betagten Frau keine Nachkommenschaft entsteht. Im Stand der Ehe kann man diesen jedoch ohne Todsünde vollziehen. Also ist es auch möglich, daß andere wollüstige Handlungen, aus denen sich weder die Zeugung noch die angemessene Erziehung von Kindern ergibt, ohne Todsünde geschehen können. 15. In Mt. 5, 28 heißt es, daß, wenn die Seele von Begierde gereizt ist, kein schuldhaftes Vergehen vorliegt, selbst wenn es sich um eine Sünde handelt.28 16. Das Vergnügen, das darin liegt, sich Unzucht bloß im Geiste auszumalen, bedeutet keine Todsünde. Nun ist aber auch die Zustimmung zu einer läßlichen Sünde keine Todsünde, und somit 27 Glossa ordinaria in Deuteronomium XXIII, 17 aus Augustinus, Quaestiones in Heptateuchum V, 37 (CCSL 33, 295). 28 Eigentlich Glossa interlinaria in Matthaeum V, 28 aus Hieronymus, In Matthaeum I 5, 28 (PL 26, 38 [39 C]).

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ist auch die Zustimmung der Vernunft zu solch einem Vergnügen keine Todsünde, obwohl es sich um einen wollüstigen Akt handelt. Und daher ist nicht jeder solche Akt eine Todsünde. 17. Was für den einen eine Todsünde ist, ist für den anderen keine. Nun ist Übereinstimmung zum Vergnügen zwischen Eheleuten keine Todsünde, da ja auch der Akt selbst für sie keine Todsünde darstellt. Also ist die Zustimmung zum wollüstigen Vergnügen auch für andere keine Todsünde, und somit ist nicht jede Handlung aus Wollust eine Todsünde. 18. Unter wollüstige Handlungen gehören auch Berührungen, Umarmungen und Küsse. Doch scheint so etwas doch keine Todsünde darzustellen. Denn obwohl der Apostel in Eph. 5, 3–4 gesagt hat »Keine Unzucht, Unreinheit, Habgier oder sittenloses Verhalten«, was nach Aussage der Glosse29 nämlich in Umarmungen und Küssen bestehen kann, »und auch von dümmlichen Geschwätz oder Albernheit soll bei euch nicht einmal die Rede sein«, so fügt er nachher (Eph. 5, 5) hinzu: »Kein Unzüchtiger, Unreiner oder Habsüchtiger wird Erbe am Reiche Christi und Gottes sein«, wobei er Sittenlosigkeit, Geschwätz und Albernheit hier wegläßt. Und so scheint es, daß all diese keine Todsünden darstellen, die vom Reiche Gottes ausschließen. Dagegen spricht: 1. Der Apostel Paulus sagt in Gal. 5, 19: »Die Werke des Fleisches sind offenkundig, nämlich Unzucht, Unreinheit, Schamlosigkeit, Wollust«. Und dann (Gal. 5, 21) fügt er hinzu: »Wer solches tut, wird das Reich Gottes nicht besitzen«. Doch nur die Todsünde schließt die Tür zum Gottesreich. Daher ist jede Handlung aus Wollust eine Todsünde. 2. In Mt. 5, 28 steht: »Wer eine Frau lüstern ansieht, hat in seinem Herzen schon Ehebruch mit ihr begangen«, und damit begeht er eine Todsünde. Bei allen wollüstigen Handlungen ist die erste und zumindeste genau die, eine Frau anzusehen. Also sind doch umso mehr alle anderen Akte Todsünden.

29 Glosse des Petrus Lombardus zu Eph. 5, 4 (PL 192, 209 C).

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Antwort: Wie oben schon gesagt,30 kann eine wollüstige Handlung auf zwei verschiedene Weisen aus dem Ruder laufen: einmal wegen der bloßen Abirrung in der lüsternen Begierde, und dann wegen derjenigen in der Handlung selbst. Wenn es sich daher um eine Sünde aus Wollust wegen reiner Abirrung in der Begierde handelt, etwa im Falle, daß jemand seiner Ehefrau aus bloßer Brunft beiwohnte, so muß man eine Unterscheidung treffen. Manchmal nämlich ist die Abirrung von der Art, daß sie die Hinwendung zum Letztziel verhindert, etwa wenn jemand so sehr nach Liebesfreuden strebt, daß er auch nicht um Gottes Gebots willen davon ablassen möchte und unbedingt mit dieser Frau schlafen will oder auch genauso gut mit irgendeiner anderen, christliches Ehegebot hin oder her: In diesem Fall handelt es sich um eine Todsünde, weil die Begierde nicht in eheliche Schranken verwiesen wird. Andere Male hingegen hebt die Abirrung der Begehrlichkeit nicht die Hinwendung zum Letztziel auf. Etwa, wenn jemand trotz seiner übersteigerten Gier nach Liebesfreuden gerade noch davor zurückschrecken würde, mit irgendeiner Frau, einer bestimmten oder einer anderen, außer seiner Ehefrau, zu schlafen, bevor er damit gegen Gottes Gebot verstieße. Dann verbleibt das Begehren in den ehelichen Bahnen und eine läßliche Sünde, genau wie oben über die Völlerei gesagt.31 Wenn jedoch die wollüstige Handlung eine Sünde wegen der Abirrung im Handlungsvollzug selbst darstellt, weil dieses Handeln nämlich nicht an der Zeugung und Erziehung von Kindern seinen Ausrichtungspunkt hat, so sage ich, daß es immer eine Todsünde ist. Denn wir sehen doch, daß nicht nur Mord eine Todsünde ist, der das Leben eines Menschen auslöscht, sondern auch der Diebstahl, durch welchen man der äußeren Güter verlustig geht, die darin ihren Zweck haben, den Menschen am Leben zu erhalten. Weshalb in Sir. 34, 25 steht: »Das Brot der Bedürftigen ist das Leben des Armen; wer ihn betrügt, ist blutrünstig«. Näher aber als jedes äußere Gut ist der menschliche Samen, der einen Menschen der Möglichkeit nach einschließt, dem menschlichen Leben. Deswegen sagt 30 Vgl. a. 1. 31 Vgl. q. 14 a. 2.

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ja auch Aristoteles in seiner Politik,32 daß im menschlichen Samen etwas gleichsam Göttliches liege, insofern er nämlich ein Mensch der Möglichkeit nach ist. Und somit ist die Abirrung, was den Samenausstoß betrifft, auch eine betreffs der nächsten Möglichkeit menschlichen Lebens. Woraus nun zu ersehen ist, daß jede solche Handlung aus Wollust gattungsgemäß eine Todsünde ist, weil das innere Streben seine Bestimmung als gutes oder schlechtes daraus empfängt, worauf es ausgerichtet ist, und so ergibt sich, daß selbst das Streben nach solch einer durch Abirrung bestimmten Handlung eine Todsünde darstellt, wenn es denn vollständig ist, das heißt: gemäß voller Vernunftüberlegung. Wo nicht, da handelt es sich um eine läßliche Sünde. Zu 1. Ambrosius spricht an der dort zitierten Stelle von der Schwäche des Fleisches als läßlicher Sünde, wie offenkundig im ehelichen Verkehr und wie bereits ausgeführt.33 Vielleicht kann man aber mit besserem Recht auch sagen, daß er ebenfalls von ihr als einer Todsünde redet. Doch sollte man nicht einfachhin der Auffassung sein, daß wenn jemand in solch ständiger fleischlicher Anfälligkeit bis ans Sterbebett verbleibt, er seiner guten Werke wegen der ewigen Verdammnis entkommt. Sondern weil häufig wiederholte Werke der Nächstenliebe den Menschen dafür bereitmachen, leichter zu bereuen und, nachdem sie bereut haben, die verübten Sünden williger zu sühnen. Deswegen lastet der Herr auch in Mt. 25, 41–46 den Verdammten allein das Fehlen an Barmherzigkeit an, nämlich daß sie sich nicht bemüht haben, ihre vergangenen Sünden durch Werke der Barmherzigkeit zu sühnen, wie Augustinus im 21. Buch von Die Bürgerschaft Gottes sagt.34 Zu 2. Das Gebot »Du sollst nicht ehebrechen« ist so zu verstehen, daß es jeden unrechten Gebrauch der Geschlechtsorgane als gattungsgemäß sündig untersagt.

32 Aristoteles, eigentlich De gen. an. II, 3; 737 a 7–10; vgl. Albertus Magnus, De animalibus XVI tr. 1 c. 13 n. 70 (St. II 1098). 33 Vgl. Antwort. 34 Augustinus, De civ. Dei XXI, 27, 3 (CCSL 48, 801).

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Zu 3. Die Gebote des Dekalogs werden dem Volk unmittelbar von Gott übergeben, und daher händigte er sie in einer Form aus, daß sie der natürlichen Vernunft jedes Menschen offen zutage liegen, auch der Vernunft gemeiner Leute. Nun kann ja wirklich jeder durch natürlichen Vernunftgebrauch sofort feststellen, daß Ehebruch eine Sünde ist, und deswegen ist das Verbot des Ehebruchs in den Dekalog aufgenommen. Unzucht hingegen und anderes abartiges Verhalten wird im Anschluß daran in den gesetzlichen Geboten, die Gott seinem Volk durch Moses mitgeteilt hat, untersagt,35 weil die Abirrung, die darin besteht, dem Nächsten keinen offenbaren Schaden zufügt und deswegen nicht allen, sondern nur den Weisen klar kenntlich ist, durch die es dann auch anderen zur Kenntnis gelangen soll. Zu 4. Alle Abirrungen aus Wollust außerhalb der Ehebeziehung sind Sünden gegen den Nächsten, insofern sie dem Gut von Zeugung und Erziehung von Kindern entgegen stehen, wie schon ausgeführt.36 Zu 5. Die Liebe zur Enthaltsamkeit kann nicht nur denjenigen erfreuen, der keusch lebt, sondern auch den, der diese Tugend entbehrt, insofern als der Mensch durch Gebrauch des natürlichen Vernunftvermögens das Gute an der Tugend schätzt, es liebt und von ihm erfreut ist, auch wenn er über diese Tugend selbst gar nicht verfügt. Zu 6. Die Aussage des sechsten Einwands bezieht sich auf das Ausmaß der Sünde, wie es gemäß der Umstände aufgefaßt wird. Dieses wird aber übertroffen durch das Ausmaß von Sünde, das nach der Handlungsart festgestellt wird. Woraus hervorgeht, daß, egal wie sehr man zum Mord verführt werden mag, dieser doch eine schwerwiegendere Sünde bleibt als eitles Schwätzen, auch wenn man zu diesem nicht von anderen verführt wurde. Ähnlich gilt: selbst wenn der Mensch eher zu wollüstigen Handlungen verführt werden kann und sich ihnen gegenüber anfälliger zeigt als vergleichsweise gegenüber der Völlerei, so folgt daraus noch nicht, daß die Sünde der Wollust weniger schwer wiegt als die der Völlerei. Denn trotz allem ist die wollüstige Handlung für sich genom35 Ex. 20, 15–17. 36 Vgl. a. 1.

2. Artikel

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men eine Todsünde, da es bei ihr ungehörigerweise um etwas geht, das der Nächstenliebe zuwiderläuft. Es folgte vielleicht höchstens in jenen Fällen, wo die Handlung aus Wollust eine läßliche Sünde darstellt: denn wenn jemand Speise über das nötige Maß hinaus zu sich nimmt, so sündigt er darin läßlich, wie auch derjenige, der mit seiner Frau jenseits jedes Anstandsmaßes geschlechtlich verkehrt, es sei denn, irgendetwas Zusätzliches machte daraus jeweils eine Todsünde. Sollte jemand allerdings gestohlenes oder von Rechts wegen verbotenes Essen zu sich nehmen, so begeht er eine Todsünde, doch sündigt er immer noch weniger als der, welcher Unzucht treibt, da Speise und jedwede äußerliche Sache zum menschlichen Leben in einem weniger intensiven Verhältnis stehen als der menschliche Samen, wie bereits gesagt.37 Zu 7. In der Sünde unseres Stammvaters Adam war Völlerei zwar das gegenständlich, Hochmut jedoch das formal und hauptsächlich Ausschlaggebende, da dieser den Menschen veranlaßte, sich nicht der Maßgabe der göttlichen Gebote beugen zu wollen. Daraus nun entstand die Auflehnung des Fleisches gegen den Geist, wie Augustinus im 14. Buch von Die Bürgerschaft Gottes sagt,38 und nicht aus dem Laster der Völlerei. Zu 8. Die Auflehnung des Fleisches gegen den Geist, die am meisten in den Geschlechtsorganen spürbar wird, ist die größere Strafe als Hunger oder Durst, denn diese ist bloß körperlich, jene aber betrifft den Geist. Zu 9. Augustinus sagt im 12. Buch von Über die Dreifaltigkeit,39 daß es Sache der Vernunft ist, einer Handlung zuzustimmen. Deswegen gibt es keine Unzuchtshandlung ohne Vernunftüberlegung, außer vielleicht bei solchen Menschen, die des Vernunftgebrauchs entbehren. Wenn nun der Vernunftgebrauch wegen einer ungehörigen Ursache behindert ist, so befreit das noch nicht von Sündhaftigkeit, wie aus dem Beispiel Lots ersichtlich, der im Vollrausch Inzest beging, es sei denn, seine Trunkenheit wäre sündelos zustande 37 Vgl. Antwort. 38 Augustinus, De civ. Dei XIV, 15, 1 (CCSL 48, 437) und XIV, 19 (CCSL

48, 442). 39 Augustinus, De Trin. XII, 12, 17 (PL 42, 1008).

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gekommen, wie es dem Noah geschah, weil er die starke Wirkung des Weins nicht kannte.40 Wenn also die Ursache solch eines Fehlverhaltens schuldlos ist, so wird einem die daraus erfolgende Handlung aus Wollust oder aus jeder anderen Sündenhaltung nicht als sündhaft angelastet, wie das ja auch bei Verrückten und Wutrasenden ganz offenbar so ist. Zu 10. Im Geschlechtsakt selbst kann die Vernunft nicht zur Überlegung kommen, sie hätte es aber vorher tun können, als sie dem Akt die Zustimmung gab, und daher wird das auch als Sünde angesehen. Zu 11. Dem elften Argument liegt ein Schreibfehler im zitierten Text41 zugrunde: Es sollte dort nicht stehen »deren Schändlichkeit läßlich ist«, sondern: »deren Schändlichkeit käuflich ist«. Zu 12. Der Zeugungsakt richtet sich am Guten für die Art aus, was ein allgemeines Gut ist. Das Allgemeingut aber wird durch das Gesetz geregelt, das Gut des Einzelnen hingegen steht unter der Ausrichtungsmaßgabe jedes Einzelnen selbst. Was deshalb die Handlungen des Ernährungsvermögens betrifft, die doch auf die Erhaltung des Einzelnen ausgerichtet sind, kann jeder für sich die jeweils zuträgliche Speise aussuchen. Anders beim Zeugungsakt: Über den zu entscheiden, steht nicht einfach jedem selbst zu, wie auch Aristoteles im 2. Buch der Politik sagt,42 sondern einem Gesetzgeber, dem es zusteht, über die Zeugung von Nachkommenschaft zu entscheiden. Das Gesetz betrachtet nun aber nicht, was in irgendeinem bestimmten Fall geschehen mag, sondern was allgemein und für gewöhnlich vor sich geht. Und wenn trotzdem deswegen von Fall zu Fall auch im Akt der Unzucht der Absicht der Natur zu Zeugung und Erziehung von Nachkommenschaft nachgekommen wird, ist der Akt selbst nichtsdestoweniger für sich betrachtet ungehörig und eine Todsünde. Zu 13. Dem menschlichen43 wie dem göttlichen44 Gesetz nach könnte es nicht ohne Schuld abgehen, daß jemand sich in der Zeit, Vgl. Gen. 9, 21. Vgl. Summa fratris Alexandri II–II, 618 (p. 599). Aristoteles, eigentlich Pol. VII, 16; 1334 b 29 ff. Vgl. Valerius Maximus, Facta et dicta memorabilia II, 9, 1, gemäß Thomas, Sum. theol. II–II, q. 152 a. 2 arg. 3. 44 Gen. 1, 28, gemäß Thomas, ScG III, 136. 40 41 42 43

2. Artikel

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in der die Menschheit in ihrem Bestand Gefahr lief, gänzlich des Zeugungsaktes enthielt. Doch im Zustand der Gnade ist es vordringlich nötig, eher Wert auf die Vermehrung von Geistlichem zu legen, und dazu sind zölibatär Lebende besser befähigt. Daher wird es im jetzigen Zeitalter der Gnade als tugendhafter erachtet, sich des Zeugungsaktes zu enthalten.45 Zu 14. Allgemeine Gesetze werden nicht in Anbetracht isolierter Einzelfälle erlassen, sondern angesichts allgemeiner Erwägungen.46 Daher werden in gattungsgemäß der Wollust zuzurechnenden Handlungen diejenigen als naturwidrig bezeichnet, aus denen der allgemeinen Artbestimmung nach keine Zeugung erfolgen kann, nicht aber solche, aus denen die Zeugung irgendeines zufälligen Einzelumstands wegen nicht zustandekommen kann, also etwa des Alters oder einer Krankheit wegen. Zu 15. Das Argument im fünfzehnten Einwand betrifft diejenige Handlung aus Wollust, die allein wegen der Ungehörigkeit der Begierde lasterhaft ist, jedoch nicht die Hinwendung auf das Letztziel verhindert. Zu 16. Einer gattungsgemäß läßlichen Sünde die innere Zustimmung zu geben, ist keine Todsünde. Das Vergnügen im Denken an die Unzucht ist aber schon gattungsgemäß eine Todsünde, genauso wie die Unzucht selbst, und wenn es eine läßliche Sünde darstellte, so wäre das nicht wesensgemäß so, sondern wegen einer Unvollständigkeit hinsichtlich des Handlungsvollzugs, weil die Vernunftüberlegung fehlt. Wenn die Vernunft in Überlegung zum Vollzug kommt, setzt das die Handlung wieder ins ihrem Wesen Gattungsgemäße und so ist sie wieder Todsünde. Zu 17. Wie Aristoteles im 10. Buch der Nikomachischen Ethik sagt,47 steckt die Freude an Gutem und Bösartigem im erfreulichen Handeln. Und wie der sexuelle Verkehr für Verheiratete keine Todsünde ist, wohl aber für Unverheiratete, so besteht auch ein Unter45 Vgl. Hieronymus, Adversus Iovinianum II n. 4 (PL 23, 288 B ff. [301 B]), und Petrus Lombardus, Sententiae IV d. 33 c. 2. 46 Vgl. Digesta I tit. 3 lege 3 et 4 (ed. Mommsen I, 5), gemäß Thomas in Sum. theol. I–II, q. 96 a. 1 sed contra. 47 Aristoteles, Eth. Nic. X, 8; 1175 b 24–36.

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schied zwischen Vergnügen und der Zustimmung zum Vergnügen. Denn Zustimmung zum Vergnügen kann keine schlimmere Sünde sein als die Zustimmung zum Verkehr, wie aus dem 12. Buch von Augustinus Über die Dreifaltigkeit hervorgeht.48 Zu 18. Anfassen, Umarmen und Küssen, insofern sie das Vorspiel zum Verkehr bilden, setzen die innere Zustimmung zu ihm voraus, sofern sie aber nur das in ihnen selbst bestehende Vergnügen wollen, setzen sie die Zustimmung zu diesen Vergnügungen voraus, was auch eine Todsünde darstellt. Also liegt in beiden Fällen Todsünde vor. Da beide jedoch nicht artgemäß Todsünden sind, wie das für Unzucht und Ehebruch gilt, sondern nur durch die Hinordnung auf anderes, nämlich zu den oben angeführten Zustimmungen, so hat der Apostel Paulus das mit dem dummen Geschwätz und der Albernheit nicht noch einmal wiederholt, sondern nur das, was für sich genommen eine Todsünde ist.

Artikel 3 49 Die dritte Frage zielt auf die Arten von Wollust, als da sind: Unzucht, Ehebruch, Inzucht, Schändung, Entführung und Sünden gegen die Natur. Es scheint, daß diese Unterscheidung der Unterarten von Wollust an der Sache vorbeigeht; denn: 1. Die Unterscheidung im Bezugsgegenstand von Handlungen macht nicht deren Artunterschied aus. Die oben aufgezählten unterscheiden sich lediglich ihrem Bezugsgegenstand nach: Ob nämlich jemand einer verheirateten oder jungfräulichen Frau Schaden antut, oder einer Frau, die keines von beidem ist. Also handelt es sich bei den genannten nicht um verschiedene Arten von Wollust. 2. An sich betrachtet besteht Wollust ja in der Vergnügungsempfindung an Liebesfreuden, wie sie im Verkehr von Mann und Frau bestehen. Nun ist es aber für eine Frau nicht wesensbestim48 Augustinus, De Trin. XII, 12, 17 (PL 42, 1007). 49 Paralleltexte: Sum. theol. II–II, q. 154 a. 1, 6–9 und 11; Super libros

Sententiarum IV, d. 41 a. 4.

3. Artikel

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mend, verheiratet, unverheiratet oder Jungfrau zu sein. Daher unterscheiden sich die oben genannten Handlungen ausschließlich im Unwesentlichen und bilden daher keine eigenen Handlungsarten, da solche Unterscheidungen sich nicht artbildend auswirken. 3. Wollust bildet an sich einen Gegensatz zur Mäßigung. Einige der genannten Handlungen jedoch bilden einen Gegensatz zur Gerechtigkeit, vor allem Ehebruch und Vergewaltigung. Daher ist es offenbar so, daß damit die Arten von Wollust unsachgemäß angesetzt werden. Dagegen spricht, daß der Meister Petrus Lombardus im 4. Buch der Sentenzen50 diese Arten so aufzählt. Antwort: Wie oben bereits gesagt,51 ist bei der Sünde der Wollust in zwei verschiedenen Weisen von einer Verfehlung zu sprechen: Einmal in Anbetracht der Begierde, und hier ergibt sich aus der Verfehlung des Maßes nicht immer eine Todsünde. Zum anderen in Anbetracht der Handlung selbst, wenn sie das Maß verfehlt, und dann handelt es sich immer um eine Todsünde. Daher werden die vorangehend aufgezählten Arten von Wollust auch gemäß der letztgenannten Auffassungsweise verstanden, die das schwerwiegendere Sündenmaß anspricht. Nun ist eine Handlung aus Wollust entweder deswegen verfehlt, weil aus ihr keine Zeugung von Kindern erfolgen kann, wobei es sich dann um ein naturwidriges Laster handelt, oder, weil ihr keine angemessene Erziehung der Kinder folgt, da die Frau dem Mann nicht als die seine im Sinne einer gesetzlichen Ehe angehört. Das wiederum kann auf dreifach Weise vorkommen: Erstens, weil sie einfach nicht die seine ist, dann ist es Unzucht im Sinne von Geschlechtsverkehr eines Unverheirateten mit einer Unverheirateten. Solches wird (im Lateinischen) als fornicatio bezeichnet und leitet sich von fornix ab, das heißt von Triumphbogen, da zu solchen Triumphschauspielen Frauen kamen,

50 Petrus Lombardus, Sent. IV, d. 41 c. 5–9. 51 Vgl. a. 1 und a. 2.

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die sich prostituierten.52 Zweitens, weil die Frau nicht die seine sein kann: Entweder des Verwandtschaftsgrades wegen, der eine solchem Verkehr widersprechende Scheu voneinander verlangt, was als Inzest bezeichnet wird,53 also als Geschlechtsverkehr mit Bluts- oder sonstwie Verwandten; oder wegen irgendeiner Unantastbarkeit oder rituellen Reinheit der Frau, denn das wäre Schändung,54 worunter man die gewaltsame Entehrung einer Jungfrau versteht. Drittens, weil ein anderer die Frau die seine nennt, sei es durch rechtmäßige Ehe, dann ist es Ehebruch, sei es in anderer Weise, etwa wenn ein Mädchen aus dem Hause ihres Vaters, unter dessen Obhut sie steht, geraubt wird, was Entführung oder Vergewaltigung ist.55 Zu 1. Man kann also zum ersten Einwand sagen, daß die dort aufgezählten sexuellen Handlungen nicht nur inhaltliche Unterschiede aufweisen, sondern auch verschiedene Spielarten von Handlungsverunstaltungen begründen und daher sehr wohl verschiedene Sündenarten darstellen. Zu 2. Zwar ist es richtig, daß dadurch noch nichts Wesensbestimmendes für die Frau als Frau angeführt ist, aber dennoch für die Frau, insofern sie als Ehefrau betrachtet wird. Zu 3. Nachdem die Abirrung der Ungerechtigkeit hier letztlich zur Unbeherrschtheit ausschlägt, so ist alles hier Angeführte gattungsgemäß zur Unbeherrschtheit zu rechnen.

Artikel 4 56 Die vierte Frage lautet: Ist Wollust ein Hauptlaster? Das scheint nicht der Fall zu sein; denn: 52 Vgl. Isidor von Sevilla, Differentiae I, 263 (PL 83, 37 B) und Etymologiae X, 111 (PL 82, 378 C). 53 Vgl. Petrus Lombardus, Sent. IV, d. 41 c. 8. 54 Vgl. Petrus Lombardus, Sent. IV, d. 41 c. 6. 55 Vgl. Petrus Lombardus, Sent. IV, d. 41 c. 9. 56 Paralleltexte: oben q. 8 a. 1; Super libros Sententiarum II, d. 42 q. 2 a. 3; Sum. theol. I–II, q. 84 a. 4; II–II, q. 153 a. 4.

4. Artikel

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1. Die geschlechtliche Unreinheit wird nach dem 31. Buch der Moralschriften Gregors des Großen57 als Tochter der Völlerei angesehen. Doch wird kein Hauptlaster für das Kind eines anderen gehalten. Da nun sexuelle Unreinheit zur Wollust gehört, wie aus Eph. 5, 3 hervorgeht, scheint es, daß Wollust kein Hauptlaster darstellt. 2. Außerdem sagt Isidor von Sevilla in seinem Buch Über das höchste Gute58: »Wer im Hochmut befangen ist, verfällt der Wollust des Fleisches«. Demnach ist Wollust eine Tochter des Hochmuts und somit auch kein Hauptlaster. 3. Verzweiflung ist eine Tochter der Trägheit, wie dem 31. Buch von Gregors Moralschriften59 zu entnehmen ist. Verzweiflung aber führt zur Wollust, wie in Eph. 4, 19 steht: »Die an sich verzweifelt sind, haben sich der Schamlosigkeit hingegeben«. Also ist Wollust kein Hauptlaster. Dagegen spricht: Gregor der Große rechnet im 31. Buch der Moralschriften60 die Wollust unter die Hauptlaster. Antwort: Wie bereits weiter oben ausgeführt,61 ist das Vergnügungsempfinden eine der Voraussetzungen des Glücks, und so kommt es, daß diejenigen Laster, die sich solches Vergnügen zum Ausrichtungspunkt machen, insofern als hauptsächliche gelten dürfen, als sie eine äußerst erstrebenswerte Zielsetzung aufweisen, an der auch andere sich naturgemäß ausrichten. Nun ist das Vergnügen in Liebesdingen, welches das Ziel der Wollust darstellt, das größte unter den körperlichen Vergnügungsempfindungen, und dementsprechend sollte die Wollust auch als Haupt57 Gregor der Große, Moralia XXXI, 45, 88 (PL 76, 621 B). 58 Isidor von Sevilla, De summo bono (= Sententiae) II c. 38 n. 1 (PL

83, 639 B). 59 Gregor der Große, Moralia XXXI, 45, 88 (PL 76, 621 B). 60 Gregor der Große, Moralia XXXI, 45, 87 (PL 76, 621 A). 61 Vgl. q. 14 a. 4.

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laster angesetzt werden. Und ihre Töchter sind acht an der Zahl, nämlich: »Blindheit des Geistes, Unüberlegtheit, Unbeständigkeit, Voreiligkeit, Selbstverliebtheit, Haß gegen Gott, Verfallenheit an den Geist dieser Welt und Verzweifeln an der kommenden Welt«, wie aus dem 31. Buch von Gregors Moralschriften ersichtlich.62 Ist es doch offenkundig, daß, wenn die Aufmerksamkeit der Geistseele mit Macht auf die Tätigkeit eines niederrangigeren Vermögens gelenkt ist, die höheren Vermögen geschwächt und in ihrer Tätigkeit gestört werden. Daher kommt es, daß im Falle eines wollüstigen Aktes der Mächtigkeit der Vergnügungsempfindung wegen die gesamte Aufmerksamkeit der Seele auf die unterstufigen Vermögenskräfte gezogen wird, auf das begehrliche Vermögen nämlich und auf den Tastsinn, und es sich notwendig ergibt, daß die höherrangigen, das heißt Vernunft und Wille, in Mitleidenschaft gezogen werden. Nun gibt es vier Tätigkeiten der Vernunft, wonach diese die menschlichen Handlungen leitet: Die erste ist ein Auffassungsvermögen, durch welches man richtige Überlegungen anstellt über die Zielsetzung, die sozusagen der Ausgangspunkt in Handlungsdingen ist, wie Aristoteles im 2. Buch der Physik sagt.63 Insofern nun dieses Vermögen Schaden leidet, setzt man die Blindheit des Geistes als Tochter der Wollust an, gemäß Dan. 13, 56: »Die schöne Erscheinung hat dich getäuscht, und die Begehrlichkeit dein Herz verkehrt«. Die zweite Vernunfttätigkeit, die durch die Wollust verunmöglicht wird, ist die Überlegung über das, was zu tun sei. So sagt denn Terenz in seinem Eunuchen64: »In dieser Sache gibt es weder guten Rat noch rechtes Maß, und du kannst sie nicht durch Überlegung beherrschen«, und er spricht dabei über lüsternes Liebesbegehren. Was nun das betrifft, spricht man von Unüberlegtheit. Die dritte dieser Vernunfttätigkeiten ist der gute Rat über das zu Verrichtende, die genauso durch die Wollust verhindert wird. In Dan. 13, 9 steht nämlich geschrieben: »Sie wandten ihr Denken ab, um nicht an gerechten Ratschlag erinnert zu werden«. Diesbezüglich spricht man von Voreiligkeit, da der Mensch dadurch der voreiligen Zustimmung ge62 Gregor der Große, Moralia XXXI, 45, 88 (PL 76, 621 B). 63 Aristoteles, Phys. II, 15; 200 a 34 – b1. 64 Publius Terentius Afer, Eunuchus I 1, 12.

4. Artikel

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neigt gemacht wird und nicht den Ratschlag der Vernunft abwartet. Die vierte Vernunfttätigkeit ist die Handlungsvorschrift, die ebenfalls von Wollust untergraben wird, insofern der Mensch dann nicht bei seinem festgefaßten Vorsatz bleibt, wie auch Terenz im Eunuch sagt65: »Diese Worte« – nämlich die, durch die man sich von der Geliebten trennt – »werden von einem einzigen falschen Tränchen weggewaschen«. Was das betrifft, spricht man von Unbeständigkeit. Auf Seiten der Zügellosigkeit in den Leidenschaften hingegen muß man zweierlei festhalten: Einmal das Vergnügungsstreben, auf das der Wille sich wie auf ein Ziel hin ausgerichtet findet. In Anbetracht dessen spricht man von Selbstverliebtheit, wenn man sich nämlich maßlos Vergnügen wünscht, und als Kehrseite derselben Medaille Gott zu hassen beginnt, insofern dieser nämlich das im Streben Verlangte verbietet. Zum zweiten sollte man das Streben unterscheiden, wodurch man dieses genannte Ziel zu erreichen bemüht ist. Angesichts dessen spricht man von der Hingabe an den Geist der gegenwärtigen Welt, das heißt an all jenes, wodurch der dieser Welt Zugewandte ans Ziel seiner Absichten gelangt. Als Kehrseite wiederum darf das Verzweifeln an der künftigen Welt gelten, da man die Freuden des Geistes umso mehr zu hassen beginnt, als man denen des Fleisches verfallen ist. Zu 1. Sexuelle Unreinheit wird für eine Tochter der Völlerei gehalten, weil sie einer körperlichen Ursache entstammt, nämlich einem Überfluß an Körpersäften, nicht jedoch aus einer seelischen, aus Begierde also, die doch vor allem Sache der Wollust ist. Zu 2. Aus Hochmut zu entstehen widerspricht keineswegs der Auffassung von einem Hauptlaster, da sie doch alle aus Hochmut entstehen. Zu 3. Verzweiflung ruft Wollust als Nebenergebnis hervor, insofern sie sozusagen die Hoffnung auf die künftige Glückseligkeit wegnimmt, derentwegen man von der Wollust Abstand nimmt. Der Entstehungsgrund für die Hauptlaster wird jedoch nicht nach nebenproduktiv wirkenden Ursachen festgestellt, sondern nach an sich wirkenden. 65 Publius Terentius Afer, Eunuchus I 1, 23.

XVI. ÜBER DIE DÄMONEN

Die hier behandelten Fragen lauten: 1. Haben die Dämonen natürlicherweise mit ihnen verbundene Körper? 2. Sind die Dämonen von Natur aus böse oder willentlich böse? 3. Hat der Teufel danach getrachtet, Gott gleich zu sein, als er sündigte? 4. Hat der Teufel bereits im ersten Augenblick seines Geschaffenseins gesündigt und konnte er das überhaupt? 5. Kann sich der freie Wille in den Dämonen nach der Sünde wieder aufs Gute zurückbesinnen? 6. Ist das Verstandesvermögen des Teufels nach der Sünde so verdunkelt, daß in ihm Irrtum oder Täuschung stattfinden kann? 7. Kennen die Dämonen die Zukunft? 8. Kennen die Dämonen die Gedanken in unserem Herzen? 9. Können Dämonen Körper verwandeln, indem sie deren Gestaltgebung ändern? 10. Können Dämonen Körper von einem Ort zum anderen bewegen? 11. Können Dämonen den denkenden Teil der Seele hinsichtlich der inneren oder äußeren Sinneswahrnehmung verändern? 12. Können Dämonen den Verstand eines Menschen verändernd beeinflussen? 1. Artik el 1 Die erste Frage lautet: Haben die Dämonen natürlicherweise2 mit ihnen verbundene Körper? 1 Paralleltexte: Super libros Sententiarum II, d. 8 a. 1; ScG II, 91; De potentia q. 6 a. 6; De spiritualibus creaturis a. 5; De subst. sep. 20. 2 Natura und naturaliter benutzt Thomas auch dort, wo man im Deutschen, um etwa biologistische Interferenzen fernzuhalten, unter-

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Das scheint der Fall zu sein; denn: 1. Augustinus sagt im 11. Buch von Über Genesis dem Wortlaut nach3: »Was die Geistbegabtheit vernünftiger Lebewesen betrifft, so ist bei ihnen schon der bloße Umstand als gut zu betrachten, zu leben und einem Körper Leben mitzuteilen, sei es nun einem ätherartigen wie der Geist des Teufels oder von Dämonen, sei es einem irdischen wie die Geistseele des Menschen«. Ein belebter Leib steht mit dem belebenden Geist natürlicherweise in Verbindung, ist doch das Leben selbst etwas natürliches. Also haben die Dämonen natürlicherweise ihnen verbundene äthergleiche Körper. 2. Erfahrung entsteht aus vielen Erinnerungen von vergangenen Sinneseindrücken, wie auch am Anfang der Metaphysik steht4: Wo immer Erfahrung vorliegt, dort also auch Sinneswahrnehmung, diese gibt es aber nicht ohne ein natürliches Gebundensein an einen Körper, weil die Sinneswahrnehmung als Aktivität eines Körperorgans zu gelten hat. Nun haben Dämonen auch Erfahrungen, da Augustinus im 2. Buch von Über Genesis dem Wortlaut nach sagt,5 daß sie gewisse wahrhafte Dinge erkennen, teils weil sie mit feinerer Auffassungsgabe nachforschen, teils aufgrund angewohnter Verschlagenheit, teils auch, weil sie es sich von den heiligen Engeln abschauen. Also verfügen Dämonen über ihnen naturgemäß verbundene Körper. 3. Dionysius Areopagita sagt im 4. Kapitel von Über die göttlichen Namen,6 das Böse in den Dämonen sei ein »unvernünftiges Wüten, eine wahnsinnige Begierde und eine schamlose Vorstellungskraft«. Alles drei aber gehört zum sinnlichen Seelenaspekt, in scheidend mal »Wesen« statt »Natur« oder »wesensgemäß« statt »naturgemäß« übersetzen muß. Die Übersetzung versucht den Sinn der jeweiligen Stelle durch die geeignete Wortwahl im Deutschen nachzubilden, vor allem dort, wo ein Unterschied zwischen Einzelnatur und Gesamtnatur und schwerpunktsetzend zwischen der (wesens- oder anlagenormierenden) Entelechievorgabe und den biologisch faßbaren Naturprozessen angezeigt wird. 3 Augustinus, De Gen. ad litt. XI, 13 (PL 34, 436). 4 Aristoteles, Met. I, 1; 980 a 28 – 981 a 1. 5 Augustinus, De Gen. ad litt. II, 17, 37 (PL 34, 278). 6 Dionysius Areopagita, De div. nom. IV, 23 (Dion. I, 280).

1. Artikel

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dem sich die Vorstellungskraft, das begehrende und aufbegehrende Vermögen finden läßt. Den gibt es nun aber nicht ohne einen Körper. Also haben die Dämonen einen ihnen natürlicherweise verbundenen Körper. 4. Je höher etwas Niederrangiges steht, desto größer ist seine Verbindung mit Höherrangigem. Deshalb steht im Buch von den Ursachen,7 daß es unter den geistigen Fähigkeiten solche gibt, die nur das sind und nichts anderes und damit also untergeordnet, und eine göttliche und übergeordnete. Genauso bei den Seelen: es gibt solche, die nur Lebendigkeitsprinzip sind, wie bei den Tieren, und solche, die geistbegabt sind, wie beim Menschen; und bei den Körpern solche, die eben bloß Körper sind, und solche, die belebte Körper sind. Deswegen sagt Dionysius im 7. Kapitel von Über die göttlichen Namen, daß »die göttliche Weisheit die letzten der oberen Wesenheiten mit den ersten der unteren verbindet«.8 Nun ist Luft ein edleres Element als Erde.9 Wenn also gewisse irdische Körper belebt sind, so doch wohl umso mehr einige ätherhafte, und von solcher Art sind diejenigen derer, die man Dämonen nennt. 5. Dasjenige, wodurch ein anderes mit etwas in Übereinstimmung ist, kann dieses in höherem Maße empfangen. Zum Beispiel: Wenn ein dunkler Körper durch einen durchsichtigen erhellt wird, so ist der letztere helligkeitsfähiger.10 Nun wird der Körper des Menschen oder eines jeden anderen irdischen Lebewesens durch Lebensgeister, die ätherische Körper sind, belebt.11 Also sind solche Körper der Belebung fähiger als jeder irdische. Und daher kommt man wieder zum selben Schluß. 6. Das Mittlere berührt das Wesen der Extreme.12 Nun hat der Himmelskörper als höchster von allen Körpern teil am Leben, da er Liber de causis Sentenz 19 (18). Dionysius Areopagita, De div. nom. VII, 3 (Dion. I, 407). Vgl. Aristoteles, De gen. et corr. I, 8; 318 b 32–33. Vgl. Aristoteles, De an. II, 14; 418 b 4–6. Vgl. (Pseudo)Augustinus, De spiritu et anima 20 (PL 40, 794), Costa ben Luca, De differentia animae et spiritus 2, nach der Übersetzung des Johannes Hispalensis (ed. C. S. Barach p. 130), Albertus Magnus, De spiritu et respiratione I, 2. 12 Vgl. Aristoteles, z. B. Phys. V, 1; 224 b 32, Pol. IV, 9; 1294 b 17. 7 8 9 10 11

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doch nach Meinung der Philosophen belebt ist.13 Ähnlich gibt es bei den niedrigerstufigen Körpern, wie Erde, Wasser und unterer Luft, beseelte Wesen, die Leben haben.14 Also gibt es solche auch in der mittleren Luftschicht. Das aber müssen Dämonen sein, denn so hoch können Vögel gar nicht fliegen.15 Daher sind Dämonen Lebewesen, die ihnen natürlicherweise zugehörige Körper haben. 7. Was einem Geschöpf aus seiner Gottesverbindung innewohnt, wohnt ihm wesensgemäß inne, da diese Verbindung das Geschöpfsein selbst ausmacht. Nun sagt aber Gregor der Große im 2. Buch der Moralschriften,16 daß der Geist der Engel im Vergleich zu unseren Körpern Geist ist, »im Vergleich zum höchsten und unbegrenzten Geist jedoch ist er Körper«. Und Johannes Damascenus sagt im 2. Buch (von Über den Glauben),17 daß der Engel »als im Hinblick auf unsere Verfassung unkörperlich und materielos bezeichnet wird, genauso wie alles im Vergleich zu Gott als massig und materiehaft befunden wird, denn allein Gott ist seinem Wesen gemäß immateriell und unkörperlich«. Also haben die Dämonen von Natur aus Gemeinschaft mit einem Körper, da sie doch von derselben Naturbeschaffenheit wie die Engel sind. 8. Was in der Definition von etwas auftaucht, gehört diesem von Natur aus an, da die Definition die Wesensnatur eines Dings angibt.18 Nun taucht in der Definition des Dämons der Körper auf, denn Calcidius sagt in seinem Timaioskommentar 19: »Ein Dämon ist ein unsterbliches vernunftbegabtes Lebewesen von bewußter Aufnahmefähigkeit und ätherhaftem Körper«. Und Apuleius spricht in seinem Buch Über den Gott des Sokrates20 davon, die Dämonen seien »der 13 Vgl. z. B. Aristoteles, De caelo II, 3; 285 a 29, so bei Thomas, ScG II, 70. 14 Vgl. Albertus Magnus, Super Sententiarum II d. 6 a. 5 ; Super Me-

teora I tr. 1 c. 8; Bonaventura Super II Sententiarum d. 6 dub. 1. 15 Vgl. Augustinus, De Gen. ad litt. III, 7, 10 (PL 34, 283); Beda, Hexameron I Super Genesim I, 20 (PL 91, 26 C). 16 Gregor der Große, Moralia II, 3, 3 (PL 75, 557 A). 17 Johannes Damascenus, De fide 2, 3 (ed. Buytaert, 69). 18 Vgl. z. B. Aristoteles, Anal. post. II, 2; 90 b 3–4 und II, 8; 93 b 29. 19 Calcidius, Timaioskommentar 135 (ed. Waszink 175, 16). 20 Apuleius, De deo Socratis, zitiert nach der folgenden Augustinusstelle.

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Gattung nach Lebewesen, von bewußter Aufnahmefähigkeit, vernünftigen Geistes, luftigen Körpers, und zeitlich unendlich«, was Augustinus im 7. Buch von Die Bürgerschaft Gottes so zitiert.21 Also haben die Dämonen einen ihnen naturgemäß angehörenden Körper. 9. Alles, was seines Körpers wegen die strafende Wirkung materiellen Feuers erfährt, hat einen naturgemäß ihm angehörenden Körper. Nun trifft genau das auf die Dämonen zu, sagt doch Augustinus im 21. Buch von Über die Bürgerschaft Gottes,22 daß »Feuer als Strafe für Menschen und Dämonen bestimmt ist, da diese gewissermaßen schlechte Körper haben«. Also haben die Dämonen einen ihnen natürlicherweise zugehörigen Körper. 10. Was einem Ding von Anfang seines Geschaffenseins und immer angehört, gehört ihm naturgemäß an: Nun gehört dem Dämonen sein Körper von Anfang seines Geschaffenseins und immer an, sagt doch Augustinus im 9. Buch von Über die Bürgerschaft Gottes23: »Plotin vermeinte, es sei aufgrund der Gnade Gottes des Vaters, daß die Menschen körperlich sterben können, damit sie nicht ewig im Elend dieser Welt befangen seien; solcher Gnade wurde die Schlechtigkeit der Dämonen dagegen als unwürdig empfunden, deren zu elendem Leiden fähige Seele einen ewigen Körper empfing, nicht einen sterblichen wie die Menschen«. Daher also haben die Dämonen Körper, die ihnen wesensgemäß angehören. 11. Im 11. Buch von Die Bürgerschaft Gottes sagt Augustinus24: »Auf daß wir verstünden, daß wir den Wert von Seelen nicht nach der Qualität von Körpern bemessen sollen, hat auch der übelste Dämon einen luftartigen Körper, während der Mensch sowohl jetzt – und obwohl er weit weniger schlecht und von weniger übler Bösartigkeit ist – als auch vor dem Sündenfall einen Körper von Lehm erhalten hat«. Nun hat der Mensch seinen Körper von Lehm naturgemäß. Und daher auch der Dämon seinen luftigen. 12. Je vollkommener eine Wesenheit ist, desto mehr besitzt sie das, was sie notwendigerweise zu ihren Verrichtungen braucht. Die 21 22 23 24

Augustinus, eigentlich De civ. Dei VIII, 16 (CCSL 47, 233). Augustinus, De civ. Dei XXI, 10, 1 (CCSL 48, 775–776). Augustinus, De civ. Dei IX, 10 (CCSL 47, 258). Augustinus, De civ. Dei XI, 23, 2 (CCSL 48, 342).

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Menschenseele jedoch, die von geringerer Natur ist als ein Dämon, steht in natürlicher Verbindung mit körperlichen Organen, die sie für ihre Verrichtungen benötigt. Da nun die Dämonen für einiges, was sie tun, Körper vonnöten haben – andernfalls würden sie ja keine Leibhaftigkeit annehmen –, so scheint es doch, als hätten sie einen ihnen verbundenen Körper. 13. Mehr Güter sind besser als wenige. Nun sind aber Körper und Geist zusammen mehr Güter als nur Geist. Wenn aber nun schon der Mensch, der von geringerwertiger Wesensbeschaffenheit ist, aus Körper und Geist besteht, so doch weit mehr ein Dämon, der von höherer Wesensbeschaffenheit ist. 14. Es lassen sich nur zwei Vermögen auffinden, die sich von den körperlichen Organen trennen lassen: Verstand und Wille. Nun wirken gewisse Dämonen auf niedrigere Körper ein, wie aus dem Buch Hiob 1, 12 und 2, 7 hervorgeht. Das können sie nicht aus Willen allein, denn Gott allein kommt es zu, daß die körperhafte Materie seinem Willenswink gehorcht, wie Augustinus im 3. Buch von Über die Dreifaltigkeit sagt.25 Folgerichtig können sie das auch nicht durch den bloßen Verstand, der doch nach außen hin nur durch den Willen wirksam werden kann. Somit haben sie auch ihnen von Natur aus verbundene Körper. 15. Nichts kann auf etwas Entferntes einwirken, ohne daß seine Kraft auf dieses durch etwas Vermittelndes übertragen wird. Die Kraft eines reinen Geistwesens kann nicht durch ein körperhaftes Vermittelndes übertragen werden, da das Körperliche geistige Kraft nicht übernehmen kann. Weil Dämonen26 auf Entferntes einwirken, scheinen sie also doch nicht reine Geistwesen zu sein, sondern etwas aus Körper und Geist zusammengesetztes. 16. Es gibt keine Vorstellungskraft ohne ein körperliches Organ. Engel und Dämonen haben aber Vorstellungskraft, sagt doch auch 25 Augustinus, De Trin. III, 8, 13 (PL 42, 875). 26 Im folgenden schreibt Thomas desöfteren ›demon‹ im Singular ›ein

Dämon‹ oder ›der Dämon‹ (wohl bezugnehmend auf den Teufel), wo der Sache nach von der gemeinsamen Natur aller Dämonen die Rede ist und ›demones‹ auch richtig wäre und jedenfalls im Deutschen ›Dämonen‹ einen besseren Sinn ergeben sowie sprachlich weniger anstößig wirken würde. Die Übersetzung wählt dann aus sprachlichen Gründen zumeist den Plural.

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Augustinus im 12. Buch von Über Genesis dem Wortlaut nach,27 daß sie in ihrem Wissen um Künftiges die Ebenbilder körperlicher Dinge im Geiste vorentwerfen. Also haben Engel und Dämonen einen ihnen natürlicherweise angehörenden Körper. 17. Im selben Buch sagt Augustinus28 auch, daß »die Seele zur Schau der Ebenbilder körperlicher Dinge fortgerissen wird, wenn sie von einem Geist in Besitz genommen und entrückt wird«. Das aber könnte die Seele nicht in einer vollkommen geistigen Wesenheit. Also hat der Geist des seelenentführenden Engels oder Dämons irgendwelche körperlichen Organe, in denen solche Bilder festgehalten sind. 18. Die Materie ist die Ursache der zahlenmäßig faßbaren Vielheit.29 Engel und Dämonen sind der Zahl nach viele, denn man unterscheidet sie nach Personen. Deshalb ist in ihnen eine Materie, welche die zahlenmäßige Vielheit verursacht. Diese Materie ist die dimensional verfaßte, die, wäre sie nichtdimensional erstreckt, eine unzerteilbare wäre, wie im 1. Buch der Physik steht.30 In welchem Falle die Materie aber nicht durch ihre Aufteilung die zahlenmäßige Vielheit hervorrufen könnte. Also haben Engel und Dämonen körperliche Dimensionen, und daher auch ihnen natürlicherweise angehörende Körper. 19. Wo auch immer Eigenheiten körperlichen Seins vorfindbar sind, dort auch ein Körper. Veränderung und Bewegung ist eine Eigenheit von Körpern, und beides kommt Dämonen zu. Steht doch in Hiob 1, 12, daß der Teufel sich von Gottes Angesicht entfernte. Also haben Dämonen einen natürlicherweise ihnen verbundenen Körper. Dagegen spricht: 1. Nichts, was aus Seele und Körper zusammengesetzt ist, wird als Geist bezeichnet, weshalb in Jes. 31, 3 steht: »Die Ägypter sind menschlich und nicht gotthaft, ihre Pferde sind von Fleisch und 27 28 29 30

Augustinus, De Gen. ad litt. XII, 22, 48 (PL 34, 473). Augustinus, De Gen. ad litt. XII, 23 (PL 34, 474). Vgl. Aristoteles, z. B. Met. V, 8; 1016 b 32 und VII, 7; 1034 a 8–10. Aristoteles, Phys. I, 3; 185 a 32–b5.

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keine Geister«. Die Dämonen hingegen werden als Geister bezeichnet, wie aus Mt. 12, 43 hervorgeht: »So ein unreiner Geist den Menschen verlassen hat« usw. Also haben Dämonen keinen ihnen naturgemäß verbundenen Körper. 2. Dämonen und Engel sind von gleicher Wesensbeschaffenheit. Im 4. Kapitel von Über die göttlichen Namen31 sagt Dionysius nämlich: »Die Dämonen sind weder von Ewigkeit noch wesensgemäß böse, sondern wegen des Verlustes ihrer engelhaften Gutheit«. Die Engel aber sind unkörperlich, wie er selbst im selben Kapitel sagt. Und also haben auch die Dämonen keinen ihnen natürlicherweise verbundenen Körper. 3. In Mk. 5, 9 steht geschrieben, daß der Herr auf seine Frage »Was ist dein Name?«, von den Dämonen zur Antwort bekam: »Legion, denn unser sind viele«. Nun besteht eine Legion gemäß dem im Matthäuskommentar des Hieronymus32 Gesagten, aus sechstausend sechshundert sechsundsechzig, und es wäre nicht möglich, daß derart viele Dämonen im Körper eines Menschen sind, wenn sie körperlich wären. Also haben die Dämonen keinen ihnen natürlicherweise verbundenen Körper. 4. Im 2. Buch (von Über den Glauben) sagt Johannes Damascenus,33 daß die Engel »nicht umgrenzt oder eingefaßt sind, noch auch von Wänden, Türen, Schlössern oder Siegeln zurückgehalten«. Hätten sie jedoch ihnen naturgemäß verbundene Körper, so könnten sie von Türen und Schlössern eingesperrt werden, da mehrere Körper nicht gleichzeitig ein und denselben Raum einnehmen können.34 Sollte dies allerdings durch Auflösung der Dämonen geschehen, so bedeutete dies ihren Tod. Also haben Dämonen keine ihnen natürlicherweise verbundenen Körper.

31 Dionysius Areopagita, De div. nom. IV, 23 (Dion. I, 278). 32 Hieronymus, Super Matthaeum IV 26, 54 (PL 26, 200 [208 C]); vgl.

jedoch Alain de Lille, Distinctiones dictionum unter ›legio‹ (PL 210, 834 D). 33 Johannes Damascenus, De fide 2, 3 (ed. Buytaert, 71). 34 Vgl. Aristoteles, Phys. IV, 9; 213 b 20.

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Antwort: Es sollte festgehalten werden, daß ob nun Dämonen ihnen natürlicherweise verbundene Körper haben oder nicht, keine große Bedeutung für die christliche Lehre hat. Sagt doch auch Augustinus im 21. Buch von Die Bürgerschaft Gottes35: »Einigen gelehrten Menschen wollte es so scheinen, daß Dämonen Körper haben, bestehend aus jener dichten und feuchten Luft, deren Stoß man beim Wehen des Windes verspürt. Sollte allerdings jemand behaupten, Dämonen hätten gar keine Körper, so wäre es nicht der Mühe wert, sich damit eingehender zu beschäftigen, oder darüber tiefer nachfragend oder in Streitgesprächen zu verhandeln«. Um jedoch der Wahrheit in dieser Frage auf den Grund zu gehen, ist zu bedenken, was man über die Meinung betreffs Körperlichem und Unkörperlichem sowie über Dämonen in Erfahrung bringen kann. Einige nämlich von denen, die zuerst begannen, über diese Fragen nachzudenken, hielten dafür, es gebe nur körperliche Dinge, wie etwa die ersten Naturdenker,36 aus deren Meinungen auch der Irrtum der Manichäer entstand,37 die ja ebenfalls ansetzten, daß Gott ein irgendwie körperhaftes Licht sei, da sie es nicht zustande brachten, den Schritt von der Vorstellung zum Denken zu tun. Die Tätigkeit des Denkens selbst jedoch, die nicht Tätigkeit eines Körpers ist, belegt, daß es offenbar etwas Unkörperliches gibt, wie im 3. Buch von Über die Seele bewiesen wird.38 Von dieser Meinungsrichtung einmal abgesehen, wurde angenommen, es gebe zwar etwas Unkörperliches, aber nicht so, daß es nicht an einen Körper gebunden wäre, so sehr, daß man auch Gott als die Seele der Welt auffaßte, wie das Augustinus im 7. Buch von Die Bürgerschaft Gottes39 von Varro erzählt. Anaxagoras freilich hat diese Auffassung widerlegt40 unter Hinweis auf die Universalkraft, die alles bewegt, indem er zeigte, daß die Vernunft, die alles Augustinus, De civ. Dei X, 1 (CCSL 48, 776). Wie Aristoteles in Met. I, 4; 983 b 6–8 berichtet. Wie Augustinus in De haeresibus 46 (PL 42, 35) berichtet. Aristoteles, De an. III, 1 [7]; 429 a 24–27. Varro nach Augustinus, De civ. Dei VII, 6 (CCSL 47, 191). Nach Aristoteles, Phys. VIII, 9; 256 b 24–27, gemäß Thomas, De pot. q. 6 a. 6. 35 36 37 38 39 40

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bewegt, von allem unvermischt verschieden sein muß. Aristoteles hingegen widerlegte sie unter Hinweis auf die Ewigkeit der Bewegung, die nur aus der unendlichen Kraft des ersten Bewegenden kommen kann, da eine unendliche Kraft nicht irgendeiner bestimmten Größe innewohnen kann. Und so zieht er im 8. Buch der Physik41 den Schluß, daß der Erstbeweger jeglicher körperlicher Größenbestimmung entbehrt. Platon schließlich widerlegte sie durch Abstraktion, indem er vom Guten und vom Einen sprach, die man ohne jegliche Körperlichkeit auffassen kann und die im körperlosen ersten Prinzip ihr Eigensein haben.42 Einmal angenommen also, daß Gott als die erste Ursache weder selbst ein Körper ist noch an einen solchen gebunden, vermeinten wieder einige, daß dies nur auf Gott zuträfe, daß die anderen Geistwesen hingegen mit einem Körper in Gemeinschaft stünden. Deswegen sagt Origenes im 1. Buch von Über die Ursachen,43 daß »es allein Gott zukommt, als ohne materielle Wesensbeschaffenheit und ohne jegliche körperliche Beimischung in seinem Dasein verstanden zu werden«. Aber auch dieser Standpunkt kann mit offensichtlichen Begründungen abgetan werden. Was auch immer als mit etwas anderem verbunden auftaucht, ohne wesensgemäß damit in Verbindung zu stehen, sondern aufgrund von etwas anderem, das kann auch unverbunden allein auftreten. So etwa das Feuer, das ohne Beimischung jedes anderen Elements auftritt, das ihm nicht wesensgemäß wäre, während hingegen ein Akzidens nie ohne Substanz auftritt, da nur dies der eigentümlichen Begriffsbestimmung des Akzidens entspricht.44 Nun ist es offensichtlich, daß die Vernunft einem Körper nicht verbunden ist, insofern sie Vernunft ist, sondern gemäß anderer Kräfte, und daraus ergibt sich, daß es andere Vernunftwesen ohne Körperverbundenheit gibt. Gott aber steht noch jenseits jeder Vernunft. Aufgrund dieser Feststellungen über das Körperliche und Unkörperliche ist zu bemerken, daß die dem Aristoteles folgenden Peri41 Aristoteles, Phys. VIII, 23; 267 b 17–19. 42 Vgl. Proclus, Elementatio theologica prop.12 und 13. 43 Origenes, Peri Archon I c. 6 n. 4, Thomas folgt der lateinischen

Übersetzung des Rufinus (PG 11, 170 C; GCS 22, 85). 44 Vgl. Aristoteles, Met. V, 22; 1025 a 14.

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patetiker nicht davon ausgingen, es gebe Dämonen, daß sie jedoch lehrten, das, was den Dämonen zugeschrieben wird, erfolge aus dem Einfluß der Himmelskörper und anderer natürlicher Dinge. Entsprechend zitiert Augustinus im 10. Buch von Die Bürgerschaft Gottes45 folgende Ansicht des Porphyrios: »Durch Kräuter, Steine und Lebewesen sowie mit ganz gewissen Klängen und Stimmlauten, durch Gestaltungen und Einbildungen, die zum Teil auch in Himmelsund Gestirnsbewegungen zu beobachten sind, werden auf dieser Welt von den Menschen Kräfte beschworen, welche die verschiedensten Wirksamkeiten hervorrufen«. Diese Ansicht ist aber offenkundig falsch, da man leicht auf einige Tätigkeiten von Dämonen stößt, die auf keinen Fall aus einer natürlichen Ursache stammen können, etwa wenn jemand von einem Dämon besessen in einer unbekannten Sprache redet. Und viele andere Verrichtungen von Dämonen lassen sich benennen, sowohl in Fällen von Besessenheit als auch in der schwarzen Magie, die ausschließlich von einem denkenden Wesen herstammen können. So fanden sich wieder andere Philosophen zur Annahme gezwungen, es gebe Dämonen. Unter jenen sagte Plotin, wie Augustinus im 9. Buch von Die Bürgerschaft Gottes 46 erzählt, »daß die Menschenseelen Dämonen sind, und daß aus Menschen, die Gutes verdienen, göttliche Wesen werden, wenn sie hingegen Böses verdienen, Spukgestalten und Gespenster, einfache Geister jedoch, wenn nicht feststeht, ob sie Gutes oder Schlechtes verdient haben«. Doch wie Johannes Chrysostomus in seinem Matthäuskommentar sagt47: »Dämonen verließen ihre Grabstätten, um eine schandhafte Lehre zu verbreiten, nämlich daß die Seelen der Toten zu Dämonen würden. Deswegen töteten viele Wahrsager ihre Kinder, damit sie deren Seelen als Medien gebrauchten könnten. Es ist aber nicht überzeugend, daß eine unkörperliche Kraft sich in eine andere Wesenheit verwandeln kann, also etwa eine Seele in ein Dämonenwesen. Auch ist die Annahme nicht vernünftig, daß die vom Leib getrennte Seele 45 Augustinus, De civ. Dei X, 11, 2 (CCSL 47, 285–286). 46 Augustinus, De civ. Dei IX, 11 (CCSL 47, 259). 47 Johannes Chrysostomus nach der Catena aurea Super Matthaeum 8,

28; vgl. In Matthaeum hom. 28 (PG 57, 353).

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hier auf der Erde herumirre, da die Seelen in Gottes Hand sind,48 die der Sünder hingegen sofort an jenen anderen Ort verschleppt werden«. In Ablehnung dieser Meinung haben daher andere gelehrt, wie das bei Augustinus im 8. Buch von Die Bürgerschaft Gottes49 zu finden ist, daß »es in allen Lebewesen, die eine Geistseele haben, eine dreifache Unterscheidung gibt: Götter, Menschen und Dämonen. Und sie sagten, daß Götter himmlische Körper haben, Dämonen Luftkörper, Menschen irdische Körper«. Und so nahm Platon50 diese drei Ordnungsstufen von körpergebundenen Substanzen unterhalb der Ordnungsstufe der gänzlich körperlosen Geistsubstanzen an. Was aber die Dämonen angeht, läßt die genannte These sich unmöglich halten: Erstens natürlich, weil doch die Luft ein Material ist, das im Ganzen wie in allen seinen Teilen vollkommen gleich ist, und es daher notwendig so ist, daß, wenn einige Teile der Luft belebt sind, das Ganze der Luft belebt wäre.51 Das aber steht als falsch fest. Denn weder aus Bewegung noch aus irgendetwas anderem läßt sich im Ganzen der Luft irgendeine Lebensregung ableiten. Zweitens ist diese These falsch, weil jeder lebendige Körper hienieden ein organischer ist,52 und zwar wegen der verschiedenen Tätigkeiten der Seele, doch kann ein Körper nur dann organisch sein, wenn er Umgrenzung und Gestaltung aufweist, das aber trifft auf die Luft nicht zu. Daher kann kein Körper aus Luft belebt sein, vor allem, weil er als unumgrenzter nicht von der umgebenden Luft unterscheidbar wäre. Drittens ist die These falsch, weil die Form nicht der Materie wegen da ist, sondern vielmehr umgekehrt,53 und die Seele nicht deswegen Körperbindung hat, weil es genau so ein Körper ist, sondern eher der Körper an die Seele gebunden ist, weil er für eine ihrer Tätigkeiten vonnöten ist, Sinneswahrnehmung etwa oder anVgl. Weish. 3, 1. Augustinus, De civ. Dei VIII, 14, 1 (CCSL 47, 230). Vgl. die Augustinusstelle der vorausgehenden Anm. Vgl. Aristoteles, De gen. et corr. I, 1; 314 a 18–20. Vgl. Aristoteles, De an. II, 1; 412 a 28 – b 1. Aristoteles, Phys. II, 4; 194 b 8–9 nach dem Averroes-Kommentar zu De anima II comm. 26 (IV, 58 L). 48 49 50 51 52 53

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dere Bewegungen. Nun ist aber zur Hervorbringung von Dingen keine Bewegung irgendeines Teils der Luft vonnöten, wie bei der Bewegung der Himmelskörper, von denen einige behaupten, sie seien belebt; woraus sich ergibt, daß die Verbindung von Geistwesen und Luftkörper nur deswegen geschieht, damit jenes diesen in Bewegung bringe. So bleibt nur übrig, daß diese Verbindung der Sinneswahrnehmung wegen zustande kommt, wie das ja auch bei uns der Fall ist. Daher meinten die Platoniker auch,54 die Dämonen seien Lebewesen mit passivem Auffassungsvermögen, was zum Vermögen der Sinneswahrnehmung gehört. Das jedoch kann ohne den Tastsinn nicht sein, der die Grundlage aller Sinne ist,55 so daß eine Beeinträchtigung des Tastsinns das gesamte Lebewesen beeinträchtigt. Das Organ des Tastsinns nun kann kein Luftkörper sein noch überhaupt ein einfacher Körper, wie im Werk Über die Seele bewiesen wird.56 So bleibt also, daß kein Luftkörper beseelt sein kann, und deswegen stellen wir fest, daß Dämonen keinen ihnen natürlicherweise verbundenen Körper haben. Zu 1. Augustinus spricht am hier zitierten sowie noch an vielen anderen Orten von Dämonenkörpern, weil verschiedene gebildete Menschen von solchen sprechen, nämlich die Platoniker, wie aus seinem oben angeführten Autoritätsbeleg57 hervorgeht. Zu 2. Erfahrung ist der strikten Auffassung nach Sache der Sinneswahrnehmung. Obwohl nämlich der Geist nicht nur die körperlosen Reinformen erkennt, wie das die Platoniker lehrten,58 sondern auch die Körperdinge, die er aber nicht so erkennt, wie sie hier und jetzt sind, wie das bei der Erfahrung der Fall ist, sondern nach ihrem allgemeinen Sinngehalt, so wird die Bezeichnung ›Erfahrung‹ auch auf die geistige Auffassungsgabe übertragen, genauso wie das bei den Bezeichnungen für die Sinneswahrnehmungen ›Sehsinn‹ 54 Apuleius, De deo Socratis, gemäß Augustinus, De civ. Dei VIII, 16 (CCSL 47, 254). 55 Vgl. Aristoteles, De an. II, 3; 413 b 4–5. 56 Aristoteles, De an. III, 11 [17]; 434 a 27–28. 57 Vgl. Beginn der Antwort: Augustinus, De civ. Dei X, 1 (CCSL 48, 776). 58 So Aristoteles, Met. I, 10; 987 b 1–14.

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und ›Hörsinn‹ geschieht. Dennoch hindert nichts zu behaupten, daß Augustinus den Dämonen in dem Maße Erfahrung zuspricht, in dem er ihnen auch zuspricht, Körper zu haben und deswegen über Sinneswahrnehmung zu verfügen. Zu 3. Es ist ziemlich wahrscheinlich, daß Dionysius, der in den meisten Fragen den Lehrmeinungen der Platoniker folgte, mit diesen annahm, die Dämonen seien Lebewesen mit sinnlicher Wahrnehmungs- und Strebensbegabung. Dennoch läßt sich sagen, daß dabei von Wut und Begierde in bezug auf die Dämonen nur metaphorisch gesprochen wird wegen der Ähnlichkeit der Tätigkeiten und nicht deswegen, weil dies irgendwelche Leidenschaften von Seiten des begehrenden oder aufbegehrenden Sinnesvermögens miteinrechnen würde, nimmt man das doch nämlich auch so von den heiligen Engeln an, wie bei Augustinus aus dem 9. Buch von Die Bürgerschaft Gottes59 hervorgeht sowie bei Dionysius aus dem 2. Kapitel der Himmlischen Hierarchien60: Ähnlich (metaphorisch) wird den Dämonen ja auch Vorstellungskraft zugesprochen, die gemäß der Schrift Über die Seele61 wegen des bildhaften vor Augen Stellens so heißt, genauso wie dem Verstand ›Klarsichtigkeit‹. Zu 4. Auch wenn Luft ein edlerer Stoff ist als Erde, so steht doch die Luft genauso wie die anderen stofflichen Elemente in Beziehung zu zusammengesetzten Körpern. So ist die Form der zusammengesetzten Körper edler als die Form des Elements. Da nun aber die Seele die edelste aller Formen ist,62 so kann sie nicht einem Luftkörper, sondern nur einem zusammengesetzten Körper die Formbestimmung verleihen, in dem Erde und Wasser um der rechten Einhaltung der Verhältnisse willen63 der Mengenaufteilung nach überwiegen. Zu 5. Die Seele hat in zweierlei Hinsicht Beziehung zum Körper. Einmal als dessen Formmaßgabe, und so gesehen ist ein Geistwesen, Augustinus, De civ. Dei IX, 5 (CCSL 27, 254). Dionysius Areopagita, De cael. hier. II, 4 (ed. Dion. II, 766). Aristoteles, De an. II, 30 [III, 6]; 429 a 3–4. Vgl. Aristoteles, De an. I, 12; 410 b 14–15. Zu dieser Aussage vgl. Summa fratris Alexandri I–II, 434–439; Bonaventura, Super II Sententiarum d. 17 a. 2 q. 3, sowie Thomas, Sum. theol. I, q. 91 a. 1. 59 60 61 62 63

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das ein luftiger Körper ist, keineswegs ein Mittleres zwischen Seele und zusammengesetztem Körper; vielmehr ist die Seele einem zusammengesetzten Körper unmittelbar als dessen Form verbunden. Auf eine zweite Weise steht die Seele zu einem belebten Körper als dessen Bewegungsprinzip in Beziehung,64 und so gesehen fällt der Geist als luftiger Körper als ein Mittleres zwischen Seele und belebten Körper. Da nun das Formhaben der Bewegungsbegabung vorhergeht, so ergibt sich, daß ein zusammengesetzter irdischer Körper mit möglicher Lebensbegabung in diesem Sinne Vorrang vor einem luftigen hat. Zu 6. Selbst unter der Annahme, daß, wie einige sagen, die Himmelskörper belebt seien,65 ist es noch keineswegs deswegen ausgemachte Sache, daß es im Raum zwischen Himmel und Erde belebte Körper gibt. Denn die niedrigeren Körper, die durch Mischung der Elemente zu einem inneren Ausgleich gebracht werden, ähneln in dieser Ausgeglichenheit eher den Himmelskörpern, und zwar deswegen, weil ihnen die Gegensätzlichkeit der einfachen Körper, wie zwischen Luft und Feuer, abgeht, zwischen denen die Gegensätze auf ein Höchstmaß getrieben sind. Zu 7. Mag sein, daß Johannes Damascenus in dieser Beziehung Origenes gefolgt ist und somit annahm, daß Engel und Dämonen ihnen natürlicherweise verbundene Körper haben, weshalb sie im Vergleich zu uns als Geistwesen gelten, im Vergleich zu Gott hingegen als leibliche. Dennoch kann man genauso gut anführen, daß sowohl Johannes Damascenus als auch Gregor der Große das Wort ›körperlich‹ im Sinne von ›zusammengesetzt‹ verwenden. Somit läßt sich aus ihrer Wortwahl lediglich herauslesen, daß Engel und Dämonen im Vergleich zu uns einfache Wesenheiten darstellen, im Vergleich zu Gott jedoch zusammengesetzte. Zu 8. Die im achten Einwand vorgetragene Definition gibt die Ansicht der Platoniker wieder. 64 Vgl. Aristoteles, De an. II, 7; 415 b 8–12. 65 So Augustinus über die Platoniker in De civ. Dei XIII, 16, 2 (CCSL 48,

398); Macrobius, Super Somnium Scipionis I, 14, 8; Aristoteles, De caelo II, 3; 285 a 29, so Thomas, ScG II, 70; Hieronymus, Commentaria in Eccl. 1, 6 (PL 23, 1016–1017 [1068 B–C]) nach Thomas, De ver. q. 5 a. 9 und 14.

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Zu 9. Auch im neunten Einwand wird Augustinus66 in seiner Wiedergabe der Platoniker zitiert. Deshalb sagt er an selber Stelle auch: »nach Ansicht gelehrter Menschen«. Zu 10. An der zitierten Stelle wendet sich Augustinus gegen die Platoniker,67 die vermeinten, man müsse solchen Wesen göttliche Verehrung allein schon wegen der Ewigkeit der Körper leisten. Augustinus wendet ihre eigene Ansicht gegen sie, indem er darauf hinweist, daß wenn sie unzerstörbare Körper haben, sie deswegen umso elender sind, da sie doch Leidensvermögen aufweisen. Zu 11. Hier argumentiert Augustinus gegen Origenes,68 der meinte, daß verschiedene Geistwesen je nach Verdienst edlere oder weniger edle Körper erhalten. Demgemäß hätten Dämonen ihrer größeren Boshaftigkeit wegen ungeschlachtere Körper als Menschen sie haben. Zu 12. Der Seele natürlicherweise verbunden sind körperliche Organe, die sie zur Ausübung ihrer wesensgemäßen Tätigkeiten braucht. Menschen zu erscheinen ist aber keine natürliche Tätigkeit eines Dämonen, und auch sonst nichts, wozu ein körperliches Organ vonnöten wäre. Daher trifft es nicht zu, daß Dämonen ihnen natürlicherweise verbundene Körper haben. Zu 13. Solange es sich um Güter selber Ordnung handelt, sind mehrere derselben besser als wenigere. Was aber in einem einzigen die Vollendung seiner Gutheit hat, wie Gott etwa, ist besser als das, was seine Gutheit auf verschiedene Einzelaspekte verteilt hat. Daher ist ein Engel, der seiner Natur nach ganz Geist ist, besser als ein aus Körper und Geist zusammengesetzter Mensch. Zu 14. Falls Engel und Dämonen als unkörperlich angenommen werden, dann haben sie keine anderen Vermögen oder Tätigkeiten als Verstandesauffassung und Wille. Daher sagt Dionysius im 4. Kapitel von Über die göttlichen Namen,69 daß »alle ihre Wesenszüge, Kräfte und Tätigkeiten geistiger Art sind«. Es ist nämlich an der Ordnung, daß die Kraft und Tätigkeit einer jeden Sache aus ihrem 66 67 68 69

Augustinus, De civ. Dei XXI, 10, 1 (CCSL 48, 775–776). Vgl. Augustinus, De civ. Dei VIII, 16 (CCSL 47, 233). Augustinus, De civ. Dei XI, 23, 2 (CCSL 48, 342) Dionysius Areopagita, De div. nom. IV, 1 (Dion. I, 147).

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Wesen hervorgeht. Nun ist ein Engel nicht eines seiner Teile wegen Vernunftnatur, wie etwa der Seele wegen, sondern seiner ganzen Wesensbeschaffenheit nach, und deswegen kann in ihm keine Kraft und kein Vermögen sein, die nicht seiner geistigen Auffassungsgabe oder Strebensbegabung entsprächen. Es ist aber nicht ausgeschlossen, daß Engel einige Gegenstände durch ihren bloßen Willenseinsatz in Bewegung durch den Raum versetzen: Sehen wir doch auch, daß die menschliche Seele allein durch Denken und Willen den ihr verbundenen Körper bewegt. Je höher aber ein denkendes Wesen ist, desto allgemeinere Bewegkraft hat es. Daher kann ein Geistwesen ohne Körperbindung durch Willenseinsatz einen anderen Körper bewegen, und zwar je mehr desto höher das Geistwesen steht – so sehr, daß, wie einige sagen, gewisse Engel selbst Himmelskörper zu bewegen imstande sind.70 Gott allein jedoch kommt es zu, daß die stoffliche Materie seinem Wink so gehorcht, daß es zur Aufnahme der Form in ihr kommt. Zu 15. Engel wirken nicht unmittelbar auf einen von ihnen entfernten Körper ein, denn sie wirken dort, wo sie sind, wie Johannes Damascenus sagt.71 Allerdings wirken sie allein durch Willenskraft auf solche entfernten Körper und bewegen sie örtlich vermittels anderer dazwischenliegender Körper, welche die Einwirkkraft weitergeben. Und auf demselben Weg benutzen sie die Weitergabe der Wirkung durch Körperdinge auch für andere körperliche Einwirkungen, wie Augustinus im 3. Buch von Über die Dreifaltigkeit sagt.72 Zu 16. Augustinus spricht hier eine Zweifelsvermutung aus, keine Behauptung, und das geht ja auch schon aus seiner Wortwahl hervor. Im 12. Buch von Über Genesis dem Wortlaut nach73 sagt er nämlich: »Wie solche Visionen in den menschlichen Geist hineinkommen, ist ganz schwierig zu wissen, und sollten wir es wissen, dann sehr aufwendig zu erörtern und darzulegen: ob sie dort an70 Vgl. Thomas, Sum. theol. I, q. 110 a. 1 und q. 57 a. 2. 71 Johannes Damascenus, De fide 2, 3 (ed. Buytaert, 72) und 1, 13 (ed.

Buytaert, 56). 72 Augustinus, De Trin. III, 8, 13 (PL 42, 876). 73 Augustinus, De Gen. ad litt. XII, 22, 48 (PL 34, 473).

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fänglich zustandekommen, oder ob sie bereits vorgeformt und eingestiftet und aufgrund bestimmter Zusammenhänge wahrgenommen werden, indem die Engel den Menschen ihre Gedanken mit Bildern von Körperdingen, die sie in ihrem Vorwissen von Zukünftigem zusammenstellen, zukommen lassen«. Die erste Meinung ist näher an der Wahrheit, nämlich daß die Engel in der Vorstellung des Menschen die Bilder der Dinge, die sie ihnen entdecken, hervorbringen. Daß sie solche Bilder im eigenen Geiste formen und sie so geformt vom menschlichen Geist gesehen werden, scheint hingegen keine vernünftige Annahme zu sein. Zu 17. Damit ergibt sich auch die Lösung für den siebzehnten Einwand. Zu 18. Die dimensional verfaßte Materie ist das Prinzip der zahlenmäßigen Unterscheidbarkeit in den Fällen, wo viele Individuen ein und derselben Art zu finden sind, da sie sich als solche ja nicht der Formbestimmtheit nach unterscheiden. Bei Engeln hat man es jedoch mit einer Unterscheidung von Arten und Individuen gleichermaßen zu tun, da es bei ihnen nicht mehrere Individuen einer Art gibt, wie bereits andernorts nachgewiesen.74 Zu 19. Engel sind ja nicht körperlich an einem Ort. Daher wird auch alles bezüglich der Ortsbewegung Geäußerte nicht univok von Engeln und Körpern ausgesagt. [Antwort auf die Gegenargumente:] Zu 1. Zum ersten der Gegeneinwände läßt sich die Antwort geben, daß, falls jemand annähme, daß Dämonen Luftkörper besitzen, die Dämonen nicht ihrer Körperlichkeit unterworfen sind wie wir, sondern vielmehr ihren Körper beherrschen, wie Augustinus in Über Genesis dem Wortlaut nach sagt.75 Daher sind Dämonen mit größerem Recht Geistwesen zu nennen als wir, auch wenn sie natürlicherweise an Körper gebunden sein sollten, und umso mehr, als man von der Luft selbst gern wie als von etwas Geistigem spricht. Zu 2. Dionysius wollte ganz bestimmt darauf hinaus, daß die 74 Thomas, Sum. theol. I, q. 50 a. 4; De ente et essentia 5; De spiritualibus creaturis a. 8. 75 Augustinus, eigentlich De Trin. III, 1, 4 (PL 42, 870).

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höchsten Engel unkörperlich sind, wie das ja auch die Platoniker lehrten. Es kann allerdings sein, daß er die Dämonen gar nicht für aus den höchsten Engeln hervorgegangen hielt, sondern aus den niedrigeren, die natürlicherweise eine Verbindung mit Körpern haben. Daher sagt Augustinus im 3. Buch von Über Genesis dem Wortlaut nach76: »Einige von uns glauben mitnichten, daß die Dämonen himmlische oder überhimmlische Engel waren«. Und Johannes Damascenus sagt,77 daß ihr Fürst »der irdischen Ordnung vorstand«. Zu 3. [nicht überliefert] Zu 4. Wie Luft als Körper nicht mit einem anderen Körper denselben Ort einnehmen kann und dennoch nicht von Schlössern oder Türen aufgehalten wird, da sie durch die feinsten Ritzen entweichen kann, so läßt sich das auch vom Körper der Dämonen sagen. Vor allem, weil uns ja nichts zur Annahme zwingt, daß sie natürlicherweise einem großen Körper verbunden sind.

2. Artik el 78 Die zweite Frage lautet: Sind die Dämonen von Natur aus böse oder willentlich böse? Es scheint so, als ob sie es nicht aus Willen, sondern von Natur aus sind; denn: 1. Dämonen als unkörperliche verstandesmäßige Wesenheiten haben ein verstandesgemäßes Strebevermögen, das Wille genannt wird. Doch das verstandesgemäße Streben richtet sich nur auf das schlechthin Gute, wie im 11. Buch der Metaphysik steht.79 Nun wird aber niemand dadurch böse, daß er das schlechthin Gute anstrebt. Also konnten die Dämonen nicht aus eigenem Willen böse werden. Und also sind sie von Natur aus böse. 76 Augustinus, De Gen. ad litt. III, 10, 14 (PL 34, 285). 77 Johannes Damascenus, De fide 2, 4 (ed. Buytaert, 5). 78 Paralleltexte: ScG III, 107; Sum. theol. I, q. 63 a. 1 und 4; De subst.

sep. cap. 20; In De div. Nom. 4, 19; Super Ioh. 8, 6. 79 Aristoteles, Met. XI (= XII), 7; 1072 a 28.

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2. Alles, was sich selbst überlassen wird, kehrt zu seiner natürlichen Wesensbeschaffenheit zurück, und somit ist nichts Unnatürliches unveränderbar. An der Bösartigkeit der Dämonen jedoch ist nichts mehr zu ändern. Und also haben sie diese von Natur aus. 3. Dagegen wurde eingewandt, daß eine derartige Unveränderlichkeit vom Willen der Dämonen verursacht wird. − Dagegen spricht: Eine unveränderliche Wirkung kann nicht von einer veränderlichen Ursache stammen. Nun ist aber der Wille der Dämonen veränderlich, denn sonst hätten sie ja nicht aus eigenem Willen von guten Wesen zu bösen werden können. Daher kann die unabänderbare Bösartigkeit der Dämonen nicht aus ihrem Willen stammen und entspricht somit ihrer Wesensbeschaffenheit. 4. Kein Vermögen vermag sich auf etwas anderes als auf seinen entsprechenden Gegenstand zu richten, wie etwa der Gesichtssinn nur sichtbare Dinge zu erfassen vermag. Nun ist der Ausrichtungsgegenstand des Willens das im Verstand erfaßte Gute.80 Der Wille kann sich also nur auf solches verlegen, was als gut erfaßt wird. Dieses ist dann entweder wahrhaft Gutes, und der Wille wird im Streben danach nicht schlecht; oder es ist nicht wahrhaft Gutes, und dann erfaßt er es falsch. Also kann es gar keine falsche Auffassung darüber geben, es sei denn, daß der Wille böse sei. Die Auffassungsgabe der Dämonen verdankt sich aber lediglich ihrem Verstandesvermögen, worin keine Fehlerhaftigkeit vorliegt, sagt doch Augustinus in Über 83 verschiedene Fragen,81 daß wer das Wahre nicht versteht, gar nichts versteht, und auch Aristoteles sagt in seinem Werk Über die Seele,82 daß der Verstand immer richtig angelegt ist, weshalb es nie sein kann, daß im Verstehen betreffs der ersten Denkprinzipien ein Irrtum vorliegt. Also kann auch der Wille der Dämonen nicht böse werden. 5. Falsches ergibt sich in unserem Verstand nur dort, wo er analysiert und synthetisiert,83 und es geschieht auch, insofern die Vorstellungskraft unsere Vernunft in ihrer Überlegungstätigkeit ver80 81 82 83

Aristoteles, De an. III, 9[15]; 433 b 11–12, gemäß Thomas in a. 3. Augustinus, De diversis quaestionibus 32 (PL 40, 22). Aristoteles, De an. III, 9[15]; 433 a 26. Vgl. Aristoteles, De an. III, 5[11]; 430 a 26–28.

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nebelt. Die Verstandestätigkeit von körperlosen Wesen erkennt aber doch nicht durch Analysieren und Synthetisieren, noch auch durch Überlegen oder Vorstellen, was ja nicht ohne körperliche Verfaßtheit möglich ist. Daher kann ein Dämon als körperloses Wesen nicht gemäß Verstandestätigkeit irren, und daher ist es offenbar so, daß auch sein Wille nicht böse werden kann. 6. Das Eigensein und die Tätigkeit reiner Geistwesen besteht jenseits der Zeit und im Augenblick der Ewigkeit.84 Was aber von dieser Art ist, ist unveränderbar. Da nun ein Dämon eine geistige Wesenheit ist, kann sich seine Tätigkeit nicht willensgemäß vom Guten zum Schlechten verändern. 7. Im 4. Kapitel von Über die göttlichen Namen sagt Dionysius Areopagita,85 daß das Böse eine Zersetzung von Gutem ist. Nun ist eine Zersetzung nur bei solchen Dingen vorfindbar, die aus Verschiedenem zusammengesetzt sind, wie bei Elementzusammensetzungen und Elementen gegeben,86 nicht aber bei solchen Dingen, die das nicht sind, wie bei Himmelskörpern.87 Eine Verschiedenheit findet sich nun zwar in der Vernunft, da sie nach verschiedenen Seiten hin überlegt,88 aber nicht im Verstand, der doch nur auf eines hingeht. Daher wird er im Vergleich zur Vernunft wie der Kreismittelpunkt zur Kreislinie angesehen und wie der Augenblick zur Zeitentwicklung, wie Boethius im 4. Buch von Der Trost der Philosophie sagt.89 Daher kann das Übel des willentlichen Sündigens bei den Dämonen nicht vorhanden sein, da sie doch keine vernunftgemäß überlegenden Wesen sind wie die Menschen, sondern Verstandeswesen wie die Engel.90

Vgl. Thomas, Super De causis prop. 31 (30). Dionysius Areopagita, De div. nom. IV, 20 (Dion. I, 243). Vgl. Averroes, Super Metaphysicam XII comm. 20 (VIII, 306 F). Averroes, De substantia orbis 3 (IX, 10 B), so Thomas, Sent. II d. 12 q. 1 a. 1 ad 5. 88 Vgl. Aristoteles, Met. IX, 2; 1046 b 4–5. 89 Boethius, De consolatione philosophiae IV, 6 (PL 63, 817 A). 90 Vgl. Dionysius Areopagita, De cael. hier. IV, 1 (Dion. II, 803), gemäß Thomas, De ver. q. 8 a. 15 sed contra 2; Dionysius, De div. nom. VII, 2 (Dion. I, 388), gemäß Thomas, De ver. q. 15 a. 1. 84 85 86 87

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8. Die reinen Geistwesen sind von edlerer Beschaffenheit als die Himmelskörper. Bei denen aber kann es ja schon zu keiner irrtümlichen Bewegung kommen,91 und daher auch noch sehr viel weniger in der Willensbewegung von rein geistigen Wesenheiten. 9. Ein Mensch kann deswegen aus eigenem Willen böse werden, weil er etwas erstreben kann, was seiner sinnlichen Wesensbeschaffenheit zugute kommt, ihm jedoch zum Schlechten gereicht was seine geistige Wesensbeschaffenheit anbelangt. Das aber kann bei Dämonen nicht stattfinden, weil sie ja nicht aus Geist und Körper zusammengesetzt sind wie Menschen. Und daher konnte kein Dämon aus eigenem Willen böse werden. 10. Im Buch von den Ursachen steht,92 daß eine geistige Wesenheit »alle übrigen Dinge kennt, wenn sie das eigene Wesen erkennt, und das eigene Wesen kennt, wenn es die übrigen Dinge erkennt«. Die Erkenntnis nur irgendeiner Sache heißt dann also ebensoviel, wie alles zu erkennen. Es kann daher nicht geschehen, daß das Geistwesen in einem erstrebenswerten Gegenstand einen Umstand bedenkt, nach dem er gut ist, und nicht einen anderen Umstand, nach dem er schlecht ist. Die Schlechtigkeit des Willens geht doch nun aber offenbar daraus hervor, daß etwas als je nachdem Gutes angesehen wird, was eigentlich schlechtweg böse ist. Und so scheint es, daß bei Geistwesen, wie es Dämonen sind, kein böser Wille am Werk sein kann. 11. Die Bösartigkeit des Willens zerstört die Tugend durch ein Zuviel oder Zuwenig. Es gibt aber bezüglich der Wahrheit als dem einem Geistwesen erstrebenswerten Guten kein Zuviel, denn je wahrer etwas ist, desto besser ist es auch. Daher findet sich auch bei den Dämonen keine Böswilligkeit. 12. Wenn die Dämonen willentlich böse geworden sind, dann entweder durch das Aussetzen des Willens oder dadurch, daß er es nicht tut. Nun kann man nicht behaupten, durch letzteres seien die Dämonen böse geworden, denn solch ein Wille ist ein guter Baum, der keine schlechte Frucht tragen kann, wie in Mt. 7, 18 steht. Sollte allerdings das Aussetzen des Willens dafür verantwortlich sein, so 91 Vgl. Aristoteles, De caelo II, 8; 288 a 13 ff. 92 Liber de causis prop. 13 (12).

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ist das Aussetzen von etwas Gutem schon gewissermaßen ein Übel, wie Dionysius im 4. Kapitel von Über die göttlichen Namen sagt.93 Dann ließe sich weiterfragen, ob nun dieses Übel wiederum durch irgendein Aussetzen des Willens zustandekommt, und so immer weiter. Da man aber hierbei nicht ins Unendliche weitergehen kann, ist es offenbar so, daß die erste Ursache für die Bösartigkeit der Dämonen nicht ihr Wille, sondern ihre Wesensbeschaffenheit ist. 13. Der Wille des Menschen wird zum Bösen durch dreierlei verführt, nämlich durch das Fleisch, die Welt und den Teufel. Doch durch nichts von diesem wird der Wille der Dämonen in Bewegung gebracht. Also werden sie nicht willentlich böse. 14. Gnade und Natur zusammen vermögen mehr als die Natur alleine. Wenn aber Gnade und Natur zusammen nicht wachsen, beginnen sie auszusetzen, weil die Liebe entweder wächst oder verkümmert, wie Bernhard von Clairvaux sagt.94 Also beginnt auch die Natur auszusetzen, wenn sie nicht wächst. Die Natur des Dämons aber kann nicht von sich aus wachsen. Deshalb ist er notwendigerweise durch ein Aussetzen schlecht geworden und also nicht durch Willen, sondern von Natur aus. 15. Was einem im ersten Augenblick seines Geschaffenseins eignet, das eignet einem von Natur aus. Nun hätten die Dämonen im ersten Augenblick ihres Geschaffenseins böse sein können, was man daraus ersieht, daß etwa das körperliche Licht und einige andere Geschöpfe im ersten Augenblick, da sie ins Sein treten, ihre ganze Verwirklichung bereits innehaben.95 Und auch die Kinderseele ist bereits im ersten Augenblick ihrer Erschaffung von der Erbsünde verderbt. Daher sind Dämonen von Natur aus böse. 16. Gottes Tätigsein besteht in zweierlei: Erschaffung und Herrschaft. Der Güte des Herrschenden tut aber die Tatsache, daß etwas Böses seiner Herrschaft unterworfen ist, keinen Abbruch. Also tut es auch der Gutheit des Schöpfers keinen Abbruch, daß irgendetwas 93 Dionysius Areopagita, De div. nom. IV, 24 (Dion. I, 285). 94 Bernhard von Clairvaux, De gratia et libero arbitrio 9, 28 (ed. Lec-

lercq III, 186). 95 Vgl. Averroes, In Physicam VI comm. 32 (IV, 265 M), gemäß Thomas, Sent. I d. 37 q. 4 a. 3 arg. 1.

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Böses von ihm geschaffen wird. Somit konnte er die Dämonen als böse erschaffen, die demnach von Natur aus böse wären. Denn was einem Ding von seiner Erschaffung an eignet, eignet ihm von Natur aus. 17. Wer das Ganze beherrscht, beherrscht auch einen Teil davon. Gott kann nun sowohl das Wesen als auch die Gerechtigkeit des gerechten Engels wegnehmen und ihn ins Nichts fallen lassen, also konnte er ihn von Anfang an der Gerechtigkeit entblößen und ihn somit als böse erschaffen. Damit wäre er von Natur aus böse, denn was man von Gott hat, ist jedwedem das Wesensgemäße. 18. Einigen Menschen wohnt von ihrer Körperbeschaffenheit her eine natürliche Neigung zum Bösen inne, wie eben einige von Natur aus jähzornig oder wollüstig sind. Nun haben die Dämonen nach Meinung einiger96 ihnen wesensgemäß verbundene Körper. Demnach könnten sie also natürlicherweise böse sein. Dagegen spricht: 1. Dionysius sagt: »Auch die Dämonen sind ihrem Wesen nach nicht böse«.97 2. Was jemandem wesensgemäß innewohnt, das wohnt ihm immer inne. Doch waren die Dämonen vordem gut, gemäß Ez. 28, 12– 13: »In den Wonnen des Paradieses warst du voll Weisheit«. Daher sind sie nicht wesensgemäß böse. 3. Über das Psalmwort (68, 5) »Ich gab nicht zurück, was ich nicht gestohlen hatte«, erklärt die Glosse,98 daß der Teufel sich die Gotthaftigkeit rauben wollte. Auch Anselm von Canterbury sagt in Vom Fall des Teufels,99 daß der Teufel von der Gerechtigkeit abfiel, weil er wollte, was er nicht sollte. Und also ist er willentlich böse und nicht dem Wesen nach.

96 Z. B. Apuleius, De deo Socratis, wie Augustinus in De civ. Dei VIII, 16 erzählt (CCSL 47, 233). 97 Dionysius Areopagita, De div. nom. IV, 23 (Dion. I, 271–272). 98 Glosse des Petrus Lombardus zu Ps. 68, 5 (PL 191, 629 C) aus Augustinus, En. in Psalmos 68, 5, 1, 9 (PL 36, 848). 99 Anselm von Canterbury, De casu diaboli 3 (ed. Schmitt I, 239).

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Antwort: Zunächst ist festzuhalten, daß man etwas auf zweifache Weise als böse bezeichnen kann. Einmal, weil es in sich übel ist, wie Diebstahl und Mord, und das ist schlechterdings Übles. Auf andere Weise faßt man Übles für jemanden, und es spricht nichts dagegen, daß das schlechterdings gut, aber je nachdem dann etwas Übles ist, so wie die Gerechtigkeit für sich betrachtet und einfach genommen gut ist, dem Dieb jedoch zum Übel ausschlägt, der durch sie seiner Strafe zugeführt wird. Wenn wir jedoch davon sprechen, daß etwas wesensgemäß böse ist, so läßt sich das auf zweierlei Weise verstehen: Auf eine Weise, daß das Böse seiner Wesensbeschaffenheit entspricht, oder etwas an seiner Wesensbeschaffenheit, oder daß es eine Eigenschaft infolge seiner Wesensbeschaffenheit ist. In anderer Weise kann man etwas wesensgemäß böse nennen, weil es eine naturhafte Neigung zum Bösen aufweist, wie gewisse Menschen aus Naturanlage jähzornig oder wollüstig sind.100 Es spricht also nichts dagegen, daß etwas in der erstgenannten Weise wesensgemäß Böses in den Dingen vorfindbar ist, die eine Verschiedenheit aufweisen: So ist Feuer für sich genommen gut, doch für Wasser von Übel, weil es das Wasser zerstört, und genauso umgekehrt. Aus demselben Grund bedeutet der Wolf Böses für das Schaf.101 Daß etwas jedoch in dieser Weise an und für sich wesensgemäß übel sein sollte, ist unmöglich. Es würde nämlich einen Widerspruch in sich tragen: Denn als übel wird all das bezeichnet, was hinter einer ihm wesensgemäßen Vollkommenheit zurückbleibt. Ist doch alles insofern vollkommen, als es das erreicht, was ihm wesensgemäß zukommt.102 Auf diese Weise zeigt Dionysius im 4. Kapitel von Über die göttlichen Namen103 vielfach auf, daß die Dämonen nicht wesensgemäß böse sind. Wenn hingegen etwas im zweitgenannten Sinne als böse bezeichnet wird, so kommt es auch dann den Dämonen nicht zu, wesens100 Vgl. Thomas von Aquin, Sententia libri Ethicorum VII, 6. 101 Das Beispiel ist von Avicenna, z. B. De anima I, 5 (ed. van Riet, 86)

und IV, 1 (ed. van Riet, 7). 102 Vgl. Thomas, In De div. nom. c. 2 lect. 1. 103 Dionysius Areopagita, De div. nom. IV, 23 (Dion. I, 271–272).

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gemäß böse zu sein. Wenn die Dämonen nämlich rein verstandesmäßige körperlose Wesenheiten sind, können sie keine natürliche Neigung zum Bösen aufweisen, und das aus zwei Gründen: Erstens, weil ein Streben eine Neigung jedwedes strebensbegabten Wesens ist; die rein verstandesmäßigen Wesenheiten jedoch haben als solche ein Streben hin zum schlechthin Guten, weshalb jede wesensgemäße Neigung in ihnen zum schlechtweg Guten hingeht. Da jedoch das natürliche Wesen zum sich Ähnlichen eine Neigung hat, folgt, weil ja wie gesehen104 ein jedes seiner Wesensverfassung nach gut ist, daß die wesensgemäße Neigung nur auf etwas Gutes aus ist. Wenn es nun aber geschieht, daß dieses Gute nur ein vereinzeltes ist oder dem Einzelgut eines anderen Dings entgegensteht, so verlegt sich die natürliche Neigung insoweit zum schlicht Bösen oder zum Übel für etwas anderes. So ist die begehrliche Neigung, das heißt diejenige hin zum sinnenhaft Erfreulichen, im Einzelnen etwas Gutes, doch wo sie unmäßig wird, stellt sie sich gegen das vernunftgemäß Gute, das schlicht Gutes ist. Daraus ist zu entnehmen, daß die Dämonen als verstandesförmige Wesenheiten gar keine wesensgemäße Neigung zum schlechthinnigen Bösen haben können. Denn jedes Wesen hat eine Neigung zu dem, was ihm ähnlich ist, und demzufolge zu dem, was zuträglich und gut für es ist. Nun ist aber wie gesagt nichts schlechtweg böse, was nicht in sich böse ist. So bleibt nur, daß alles, was eine natürliche Neigung zum für sich genommen Bösen hat, aus zwei natürlichen Beschaffenheiten zusammengesetzt ist, deren niedrigere eine Neigung zu einem jeweiligen Einzelgut aufweist, das dieser niedrigerstufigen Naturbeschaffenheit zuträglich ist und der höheren insofern entgegenarbeitet, als diese auf das schlechthin Gute aus ist: So gibt es zum Beispiel im Menschen eine natürliche Neigung hin zu dem, was dem fleischlichen Sinnesbegehren zusagt, doch dem vernunftgemäßen Gut entgegensteht. All das aber trifft ja auf die Dämonen nicht zu, wenn sie einfach verstandesförmige Wesenheiten ohne Körperbindung sind. Sollten sie jedoch sich wesensgemäß verbundene Körper haben, dann könnten sie genauso wenig eine wesensgemäße Neigung zum Bösen aufweisen, die auf die gesamte dämonische Gattungsbeschaf104 Vgl. oben.

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fenheit zutrifft. Und zwar erstens, weil doch die Materie um der Form willen da ist105 und es deswegen unmöglich ist, daß die gesamte Materie irgendeiner Art ein wesensgemäßes Abstoßungsverhältnis zu deren formalem Gut aufweist. Das geschieht vielleicht bei einigen wenigen und dann aus einer Verderbtheit heraus, woher es also unmöglich ist, daß die Dämonen wegen der natürlichen Beschaffenheit ihrer Körper eine Neigung zum Bösen aufweisen. Zweitens weil, wie Augustinus in Über Genesis dem Wortlaut nach sagt,106 die Dämonen ja nicht von ihren Körpern gezwungen werden wie wir, sondern sie ganz im Griff haben und jedwede Gestalt annehmen, die sie wollen. Daher kann ihnen aus ihren Körpern keinerlei Neigung erwachsen, die sie ernsthaft im Bestreben um das Gute behinderte. Somit stellt sich heraus, daß die Dämonen unmöglich wesensgemäß böse sind und es bleibt nur, daß sie willentlich böse sind. Also steht noch aus zu betrachten, wie das vor sich geht. Zunächst muß man dazu wissen, daß ein Streben nichts anderes ist als eine Neigung hin zu etwas Erstrebenswertem. Und wie ein natürliches Streben einer natürlichen Form folgt, so ein sinnliches, vernünftiges oder verstandesmäßiges einer erkennbaren, denn Sinnesapparat und Verstand richten sich nur auf das erkennbare Gut. Deshalb kann es zu Bösem im Streben nicht daher kommen, daß es vom Erkennen abweicht, dem es folgt, sondern daraus, daß es von einer übergeordneten Regel abweicht. Deswegen ist nun zu prüfen, ob eine übergeordnete Regel das Begreifen, das der Neigung eines so gearteten Strebens nachkommt, anleiten kann. Wenn das Begriffsvermögen nämlich keine übergeordnete Regel hat, der es entsprechen muß, dann kann in solch einem Streben unmöglich Böses liegen. Und das stellt sich auf zweierlei Weise heraus. Denn die Auffassungsgabe eines Tieres kennt keine übergeordnete Regel, nach der es sich richten müßte, weshalb in seinem Streben nichts Böses liegen kann. So ein Tier wird nämlich zum Begehren 105 Vgl. Aristoteles, Phys. II, 4; 194 b 8–9, gemäß Thomas, Super Analyticam Posteriorem II, 8. Vgl. auch Averroes, In Physicam II comm. 26 (IV, 58 L). 106 Augustinus, eigentlich De Trin. III, 1, 4 (PL 42, 870).

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oder Zorn vom Guten bewegt, insofern dieses in sinnlichen Formen wahrgenommen wird. Daher sagt Dionysius im 4. Kapitel von Über die göttlichen Namen,107 daß es dem Hund zum Guten gereicht, grimmig zu sein. Ganz ähnlich hat auch der göttliche Intellekt keine übergeordnete Regel, durch die er gelenkt würde. Deswegen kann in seinem Streben oder Willen nichts Böses sein. Im Menschen aber gibt es eine doppelte Auffassungsgabe, die von einer übergeordneten Regel angeleitet werden muß: Das sinnliche Erkennen nämlich bedarf der Anleitung durch die Vernunft, die Vernunfterkenntnis ihrerseits aber der durch die göttliche Weisheit oder das göttliche Gesetz. Also kann im Streben eines Menschen Böses zweifach vorliegen: Einmal, indem die sinnliche Auffassung nicht nach der Vernunft gelenkt wird, und dementsprechend sagt Dionysius im 4. Kapitel von Über die göttlichen Namen,108 daß das Böse für den Menschen im Verhalten gegen die Vernunft besteht. Und dann, weil die menschliche Vernunft sich nach der göttlichen Weisheit und Gesetzgebung richten muß, und so betrachtet sagt Ambrosius, daß die Sünde eine Übertretung des Gesetzes Gottes ist.109 Bei den körperlosen Wesenheiten hingegen gibt es nur eine Erkenntnisweise, nämlich die verstandesmäßige, die der Anleitung durch die göttliche Weisheit bedarf. Es kann also in ihrem Willen Böses daraus erwachsen, daß er nicht der Anweisung der übergeordneten Regel folgt, das heißt der göttlichen Weisheit. Auf diese Weise also werden die Dämonen willentlich böse. Zu 1. Wie Augustinus in seinem Buch Über die Natur des Guten sagt,110 ist das Böse nicht nur eine Beraubung in der Formgebung, sondern auch von Art und Weise sowie der Ordnungseinhaltung. Und so kommt es, daß die Sünde im Willen in zweifacher Weise vorfindbar ist: Einmal, weil er sich auf das verlegt, was schlechthin von Übel ist, sozusagen jeglicher Form von Gutem entbehrt, wie wenn jemand willentlich zu stehlen oder Unzucht zu treiben wählt. Auf 107 108 109 110

Dionysius Areopagita, De div. nom. IV, 25 (Dion. I, 286). Dionysius Areopagita, De div. nom. IV, 32 (Dion. I, 309). Ambrosius, De paradiso 8 (PL 14, 292 D [309 C]). Augustinus, De natura boni 4 (PL 42, 553).

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zweite Weise, weil jemand etwas will, was schlechthin und für sich genommen gut ist, also etwa beten oder gedanklich in sich gehen, das jedoch nicht in ordentlicher Einhaltung des göttlichen Gesetzes vollführt. So wäre es also richtig zu sagen, daß das erste Böse im Willen der Dämonen nicht daraus entstammt, daß sie auf das schlechthin Böse aus waren, sondern auf schlechthin Gutes, was ihnen auch zugute gekommen wäre, doch nicht in Übereinstimmung mit einer übergeordneten Regel, nämlich der göttlichen Weisheit. Wie Dionysius im 4. Kapitel von Über die göttlichen Namen sagt111: »Das Böse in den Dämonen entspricht einer Abkehr« – nämlich von einer übergeordneten Regel – »und einem Übermaß am ihnen zugute Kommenden«, da sie nämlich ein ihnen zukommendes Gutes haben wollten, das aber ihren Rang deutlich überstieg, also ohne sich an eine übergeordnete Regel zu halten. Zu 2. Daß etwas einer Sache unveränderlicherweise zukommt, kann sich auf zwei Arten ergeben: Einmal aus einer positiven Ursache, und dann ist es unmöglich, daß etwas, das entgegen seiner Wesensdefinition besteht, unveränderlich ist, denn was dem Wesen einer Sache entgegensteht, ist dieser nur beiläufig aufgesetzt und kann ihr auch fehlen. Zum zweiten aus einer Beraubungsursache, und dann kann sehr wohl einer Sache Unveränderliches auch entgegen der Wesensbeschaffenheit zukommen: Eines naturgemäßen Prinzips kann man nämlich unwiederbringlich verlustig gehen, so wie etwa Blindheit der natürlichen Verfaßtheit eines Lebewesens zuwiderläuft und dennoch wegen des irreparablen Schadens des Sehorgans diesem Lebewesen unveränderlich innebleibt. Und so bleibt daher auch die Bosheit den Dämonen unverbesserlich inne wegen des Verlusts des Gnadenstands. Zu 3. Eine veränderliche Ursache kann keine unveränderliche Wirkung auf positive Weise herbeiführen. Im Sinne einer Beraubung allerdings schon, so wie der Wille eines Menschen Ursache für die nicht mehr veränderbare Blindheit eines anderen sein kann. Zu 4. Gemäß der Aussage des Augustinus in seinem Buch Über die Natur des Guten,112 ist das Böse nicht nur eine Beraubung in 111 Dionysius Areopagita, De div. nom. IV, 23 (Dion. I, 279). 112 Augustinus, De natura boni 4 (PL 42, 553).

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der Formmaßgabe, sondern auch eine solche von Art und Weise und der Ordnungsmaßgabe. Daher stammt das Böse in einer willentlichen Handlung nicht nur vom Handlungsgegenstand, der bei der Handlung die Form bedingt,113 indem jemand etwas Böses will, sondern auch durch eine Nichteinhaltung der zu erwartenden Art und Weise oder der Ordnungsmaßgabe dieser Handlung, wenn also jemand etwas Gutes will, sich jedoch dabei weder an die rechte Art und Weise, noch an die Maßgabe der Ordnung hält. Von solcher Art war die Sünde der Dämonen, wodurch sie böse wurden: Denn sie wollten ja nichts Böses, sondern ihnen nützliches Gutes. Nur strebten sie das ordnungswidrig und in schlechter Weise an, denn sie wollten es nicht mit göttlicher Gnade erreichen, sondern aus eigener Machtvollkommenheit, was jedoch die Eigenart ihrer Grundverfassung hinter sich ließ, wie Dionysius im 4. Kapitel von Über die göttlichen Namen sagt114: »In der Abkehr besteht daher das Übel der Dämonen«, und zwar insofern ihr Streben sich von der Anleitung durch eine übergeordnete Regel abwandte – und »als ein Übermaß am ihnen zugute Kommenden«, insofern sie im Streben nach ihnen zugute Kommendem über die Stränge schlugen. Beim Sündigen nun halten sich das Fehlverhalten des Verstehens oder der Vernunft und dasjenige des Willens gegenseitig die Waage. Deswegen ist es nicht richtig, anzunehmen, daß in der ersten Sünde des Teufels solch ein Versagen der Vernunft vorlag, als ob er sich verschätzt habe, daß er also Böses für Gutes hielt, sondern vielmehr, daß er dem rechten Verständnis der ihm vorgegebenen Regeln und seiner Ordnungsvorgabe den Rücken kehrte. Zu 5. Da Dämonen sich weder der Vorstellung noch der vernünftigen Überlegung bedienen und aus anderen ähnlichen Gründen läßt sich schließen, daß die Dämonen in den Dingen, die der natürlichen Erkenntnis zuzurechnen sind, nicht in der Weise irren, daß sie Falsches für Wahres erachten würden. Da sie jedoch Gott wegen seiner Unendlichkeit nicht begreifen können, läßt sich sehr wohl annehmen, daß ihr Verstandesvermögen dabei versagte, die Ord113 Vgl. Aristoteles, z. B. De an. II, 6; 415 a 18–20, gemäß Thomas, z. B. Sent. I, d. 48 a. 2 arg. 2. 114 Dionysius Areopagita, De div. nom. IV, 23 (Dion. I, 279).

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nungsmaßgabe der göttlichen Herrschaft hinlänglich zu begreifen. Daraus erfolgte die Sünde in ihrem Willen. Zu 6. Nicht alles, was über der Zeit steht, gehört in gleicher Weise der Ewigkeit an, und folglich ist auch nicht alles gleichermaßen unveränderlich. Gott nämlich ist vollkommen ewig und unveränderlich, die anderen Wesenheiten jedoch, die über der Zeitlichkeit stehen, haben an Ewigkeit und Unveränderlichkeit nur gemäß ihrer jeweiligen Seinsstufe Anteil. So ist zu ersehen, daß Unveränderlichkeit sich einer Vollständigkeit verdankt. Was immer nämlich etwas einzeln erhält, verändert sich nur von Teil zu Teil: Wie etwa die elementhafte Materie von einer bestimmten Gestalt in eine andere wechselt, da sie nicht Körpergestalten gleichzeitig aufnimmt noch auch irgendeine vollständige Gestaltgebung annimmt, die alle der Möglichkeit nach in sich begriffe, wie offenbar bei der Materiegrundlage der Gestirnkörper der Fall,115 bei denen das ja nicht so ist, obwohl sie mit ihrer wiederkehrenden Kreisbewegung immer wieder eine bestimmte Stelle am Himmel einnehmen.116 Genauso hat auch das Begriffsvermögen der Engel den Erkenntnisgegenstand betreffend sozusagen eine Vollständigkeit gegenüber dem unseren aufzuweisen, das doch das allgemeine Wesen erst aus verschiedenem Einzelnen zusammenbringt. Das Begreifen der Engel hingegen erfasst die allgemeine Wesenheit, wie sie in sich selbst ist. Und dennoch weist das Verstehen der Engel im Vergleich mit dem göttlichen betreffs des Erkenntnisgegenstands eine besondere Bestimmtheit auf. Der göttliche Verstand nämlich erfaßt alles Seiende und alle Wahrheit als einen Erkenntnisgegenstand im Allgemeinen, weshalb er in seiner Tätigkeit ganz unveränderbar ist, hat er es doch nicht nötig, sich von einem auf das nächste zu verlegen, weil er alles in einem bedenkt. Das Verstandesvermögen der Engel kann sich von einem auf das nächste verlegen, da es nicht alles in einem, sondern eins für eins Verschiedenes an und für sich betrachtet. Insofern die Engel aber von Ewigkeit her erkennen, ist ihre Verstandestätigkeit 115 Vgl. Averroes, De substantia orbis 3 (IX, 10 B), so Thomas, Sent. II d. 12 q. 1 a. 1 ad 5. Siehe Aristoteles, De caelo I, 20; 278 b 21 – 279 a 11. 116 Vgl. Aristoteles, Met. VIII, 1; 1042 b 3–8 und XI (= XII), 2; 1069 b 24–26, so Thomas, Super De caelo I, lect. 6.

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unveränderlich. Ähnliches ist vom Willen zu halten, dessen Tätigkeit zur Verstandesausübung im Verhältnis steht. Daher ist es nicht unberechtigt anzunehmen, daß der Wille der Engel sich von Gutem auf Böses verlegt. Zu 7. Die Sünde der Dämonen hat ihren Ursprung nicht in einem Versagen, das im Sinne einer Entscheidung für das Gegenteil aufzufassen wäre − da sie ja nicht Schlechtes für Gutes wählten oder Wahres für Falsches117 −, sondern bloß in einem Versagen im Sinne einer Verweigerungshaltung, und zwar insofern sie ihren Willen der Anleitung durch die göttliche Herrschaftsgewalt verschlossen. Und dieses sich Versagen läßt sich auch bei solchen Verstandeswesen finden, die keine inneren Verschiedenheiten aufweisen. Zu 8. Himmelskörper gehorchen Gottes Herrschaft nicht als eigenständig tätige, sondern als von anderem angestoßene und bewegte. Sollte es aber in ihren Bewegungen irgendein Aussetzen oder Abweichen gegenüber der Ordnungsmaßgabe der göttlichen Weltleitung geben, so würde das nicht als Versagen der göttlichen Weltordnung angelastet, die ja gar nicht versagen kann. Geistwesen und vernunftbegabte Wesenheiten sind der göttlichen Weltherrschaft so unterstellt, daß sie sich durch Gottes Gesetz anleiten lassen. Daher kann ein Ordnungsverstoß bei ihnen aus ihrem eigenen Fehlverhalten entstehen, ohne daß die Weltherrschaft fehlte. Zu 9. Dieser Gedankengang der neunten Anfrage führt zu dem Schluß, daß es bei den Dämonen nicht vorkommen konnte, daß sie für sich etwas Schlechtes anstrebten, als ob es etwas Gutes wäre, da es wegen der Einfachheit ihres Wesens nicht sein kann, daß etwas für sie einesteils gut ist, was andernteils nicht gut für sie ist. Zu 10. Wenn der Geist sein eigenes Wesen oder auch irgendetwas anderes erkennt, so weiß er es entsprechend seiner Seinsbeschaffenheit. Der Erstgrund jedoch übersteigt noch die seinsmäßige Beschaffenheit eines Engels oder eines Dämons, und so ist es falsch anzunehmen, daß wenn der Engel sein eigenes Wesen erkennt, er gleichzeitig die gesamte Ordnung der göttlichen Weltherrschaft begriffe. Zu 11. Auch dieses Argument führt zu dem Schluß, daß die Dä117 Vgl. Augustinus, z. B. Enchiridion 17 (PL 40, 239).

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monen nicht deswegen sündigten, weil sie etwas anstrebten, das wegen eines Zuviels oder eines Fehlens wegen von Übel wäre. Zu 12. Die Dämonen sündigten durch eine Fehlleistung des Willens und genau diese willentliche Fehlleistung ist ihre Sünde, ähnlich wie der Mensch durch Körperbewegung läuft und diese Körperbewegung gleichzeitig sein Laufen ist. Zu 13. Es gibt drei Beweggründe zur Sünde: Einer ist der Teufel und der tut es durch Überredung. Die anderen beiden, nämlich das Fleisch und die Welt, bewegen durch ihre Anziehungskraft. Obwohl nun die Dämonen nicht sündigten, weil sie von anderen zu irgendetwas überredet worden wären, so sündigten sie dennoch, angezogen von der Schönheit ihres eigenen Wesens, wenn schon nicht durch das Fleisch, das sie ja nicht aufweisen, noch durch die Dinge der sinnenfälligen Welt, derer sie nicht bedürfen. Daher heißt es in Ez. 28, 17 auch: »Du hast deine Weisheit an deine Wohlgestalt verloren«. Zu 14. Man darf es nicht so auffassen, daß die Liebe tatsächlich abnimmt, wenn sie sich nicht vermehrt. Sobald sie allerdings im Menschen nicht wächst, macht ihn das anfällig für die Verfehlung, die aus den Anlagen der Lasterverfallenheit erwächst, die der Verderbtheit der menschlichen Natur verdankt ist. Das aber findet bei Engeln nicht statt. Zu 15. Die Engel konnten im ersten Augenblick ihres Erschaffenseins willentlich handeln, doch konnte dieses Handeln in diesem Augenblick auch dasjenige sein, durch das sie böse wurden. Der Grund dafür wird sich später zeigen lassen.118 Auch ist es bei ihnen anders als mit der Seele des Menschen, die im ersten Augenblick ihrer Entstehung schon in Mitleidenschaft gezogen ist, da das nämlich auch nicht aus einer Handlung der Seele stammt, sondern aus ihrer Verbindung mit dem hinfälligen Körper. Das läßt sich von den Engeln aber nicht behaupten. Zu 16. Alles, was in Gottes Schöpfungswerk eingeschlossen ist, geht aus Gott als Ursache dafür hervor. Und weil Gott keine Übel hervorbringt,119 ist es auch unmöglich, daß irgendetwas von Übel im Schöpfungswerk zugrunde liegt. Nun kommt im Werk der gött118 Vgl. a. 4. 119 Vgl. Augustinus, De lib. arb. I, 1, 1 (CCSL 29, 211).

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lichen Weltleitung vieles vor, das Gott nicht verursacht, sondern bloß zuläßt. Und somit können in der göttlichen Weltordnung einige Übel vorkommen. Zu 17. Gott kann seine gnadenhalber zugestandene Gerechtigkeit den Menschen wieder wegnehmen, auch wenn diese nicht gesündigt hätten und ohne seiner eigenen Gerechtigkeit damit zu widersprechen, denn er hat sie ihnen ja aus eigener Großzügigkeit über das natürliche Maß hinaus verliehen. Wenn er das nun in besagter Weise täte, so würde der Mensch dennoch nicht böse werden, sondern gut bleiben aus natürlicher positiver Anlage. Die natürliche Gerechtigkeit hingegen verdankt sich einer geistigen und vernunftgemäßen Natur, deren Verstandesvermögen wesensgemäß zum Wahren strebt und deren Willen zum Guten. Daher kann es nicht sein, daß diese Gerechtigkeit von Gott einem vernunftbegabten Wesen weggenommen wird, ohne daß es seines Wesens verlustig geht. Doch kann er in seiner Machtvollkommenheit ein vernunftbegabtes Wesen ins Nichts fallen lassen, indem er seine seinserhaltende Tätigkeit davon zurückzieht. Zu 18. Selbst wenn die Dämonen körperhaft wären, so könnten sie doch keine natürliche Neigung zum Bösen haben, und zwar aus dem oben120 angegebenen Grund.

3. Artik el 121 Die dritte Frage lautet: Hat der Teufel danach getrachtet, Gott gleich zu sein, als er sündigte? Das scheint nicht der Fall zu sein; denn: 1. Dionysius Areopagita sagt doch im 4. Kapitel von Über die göttlichen Namen,122 daß »das Böse in den Dämonen in einer Abkehr besteht«. Wer aber nach Gleichheit oder Ähnlichkeit mit jemandem trachtet, kehrt sich doch nicht von ihm ab, sondern wendet 120 Vgl. Antwort. 121 Paralleltexte: Super libros Sententiarum II, d. 5 q. 1 a. 2 und d. 22

q. 1 a. 2; ScG III, 109; Sum. theol. I, q. 63 a. 3; II–II, q. 163 a. 2. 122 Dionysius Areopagita, De div. nom. IV, 23 (Dion. I, 279).

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sich ihm in seinem Streben zu. Also hat der Teufel nicht dadurch gesündigt, daß er Gott gleich zu sein strebte. 2. Außerdem sagt Dionysius am selben Ort,123 daß das Böse bei den Dämonen in einem »Zuviel an für sie Gutem« besteht. Denn sie wollten was ihnen zustand in übertriebenem Maße. Zu sein wie Gott stand ihnen ja aber überhaupt nicht zu. Also haben sie gar nicht danach getrachtet, wie Gott zu sein. 3. Anselm von Canterbury sagt in seiner Schrift Vom Fall des Teufels,124 daß der Teufel nach etwas trachtete, was er erreicht hätte, wenn er sich als standhaft erwiesen hätte. Er hätte aber niemals die Gottgleichheit erreicht. Und daher hat er also auch nicht nach ihr getrachtet. 4. Dagegen wurde eingewandt, daß er die Gottgleichheit nicht ganz und gar, sondern nur in einer Hinsicht erstrebte, nämlich in der, einer Heerschar von Engeln vorzustehen. − Dagegen spricht: Der Teufel sündigte nicht darin, daß er etwas erstrebte, was ihm seiner Wesensordnung nach zukam, sondern er fiel von dem ab, was ihm wesensgemäß war, und verfiel in solches, was außerhalb seines Wesens lag, wie Johannes Damascenus sagt.125 Nun war die Anführerschaft über alle anderen Engel etwas, was ihm der Wesensordnung nach zustand, dergemäß er ihnen überlegen war, wie es Gregor der Große126 in einer seiner Predigten ausdrückt. Also sündigte der Teufel nicht deswegen, weil er einer Heerschar von Engeln vorstehen wollte. 5. Falls nun jemand einwenden sollte, daß der Teufel aber der Heerschar der Engel ebenso wie Gott vorzustehen trachtete,127 ergibt sich dagegen, daß in Joh. 5, 19 steht: »Was auch immer der Vater tut, das tut der Sohn ebenso«. Dadurch nun, daß der Sohn ebenso tut wie der Vater, weist Augustinus128 die gänzliche Gleichheit von 123 Dionysius Areopagita, De div. nom. IV, 23 (Dion. I, 279). 124 Anselm von Canterbury, De casu diaboli 4 (ed. Schmitt I, 240–242);

vgl. Albertus Magnus, De quattuor coaequaevis tr. 4 q. 63 a. 1. 125 Johannes Damascenus, De fide 2, 4 (ed. Buytaert, 75). 126 Gregor der Große, In Evangelium II homilia 34, 7 (PL 76, 1250 B). 127 Vgl. Gregor der Große, Moralia XXXIV, 21, 40 (PL 76, 740 B). 128 Augustinus, In Ioannis evangelium tractatus CXXIV tract. XX, 9 (PL 35, 1561).

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Vater und Sohn nach. Nach dieser Variante hätte der Teufel also die gänzliche Gleichheit mit Gott angestrebt. 6. Dagegen wurde auch eingewandt, daß der Teufel die Gottgleichheit insofern erstrebte, als das bedeutet, Gott nicht untergeordnet zu sein.129 − Dagegen spricht, daß nichts sein kann, ohne am göttlichen Sein teilzuhaben, welches allein das begründende Selbstsein darstellt. Nun ist das Teilhabende (in der Abhängigkeitsordnung) dem Teilgebenden untergeordnet. Wenn der Teufel also strebte, Gott nicht untergeordnet zu sein, so folgt, daß er strebte, nichts zu sein. Was aber nicht statthat, weil doch alles und jedes zu sein wünscht. 7. Dagegen wurde ebenso eingewandt, daß der Wille sich auch auf Unmögliches verlegen kann, wie im 3. Buch der Nikomachischen Ethik steht,130 und somit könnte der Engel auch unabhängig davon, daß er von Gott untergeordnet abhängig ist, bestehen wollen, obwohl das unmöglich ist. − Dagegen spricht: Obwohl man auch Unmögliches wollen kann, so doch nicht Unfaßbares, da nämlich das erfaßte Gute der Ausrichtungsgegenstand des Willens ist, wie im 3. Buch von Über die Seele gesagt wird.131 Daß nun etwas außer Gott existiert und Gott nicht untergeordnet ist, fällt nicht unter das Erfassungsvermögen, da es ja einen Widerspruch beinhaltet. Von allen anderen (außer Gott) heißt ›sein‹ nämlich soviel wie Gott gemäß der Weise der Seinsteilhabe unterstellt zu sein. Daher konnte ein Engel auf gar keinen Fall erstreben, Gott nicht untergeordnet zu sein. 8. Dagegen wurde eingewandt, daß etwas, das in sich einen Widerspruch aufweist, wegen der Verwirrung der Vernunft manchmal unter das Streben des Willens fallen kann. So konnte der Teufel dann aufgrund der Verwirrung seiner Erkenntnisfähigkeit das erstreben, was einen Widerspruch in sich aufweist. − Dagegen spricht: Die Verwirrung der Vernunft entsteht durch Schuld oder als Strafe. Der ersten Schuld des Teufels, um die es sich hier handelt, geht aber weder eine Schuld noch eine Strafe voraus. Daher konnte er nicht

129 Vgl. Gregor der Große, Moralia XXXIV, 21, 40 (PL 76, 740 B). 130 Aristoteles, Eth. Nic. III, 5; 1111 b 22. 131 Aristoteles, De caelo III, 9[15]; 433 b 11–12.

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einer Vernunftverwirrung wegen nach etwas trachten, das einen inneren Widerspruch einschließt. 9. Außerdem hat der Teufel aus freier Entscheidungsgewalt heraus gesündigt, deren Tätigkeit im Auswählen besteht. Auswählen jedoch kann man nichts Unmögliches, gleichviel ob man es wollen kann, wie im 3. Buch der Nikomachischen Ethik steht.132 Der Teufel konnte also gar nicht danach trachten, Gott nicht untergeordnet oder Gott gleich zu sein, da dies doch unmöglich ist. 10. Im Buch Über die Natur des Guten sagt Augustinus133: »Die Sünde besteht nicht im Begehren der üblen Dinge, sondern im Verlassen der besseren«. Doch kann nichts besser sein als Gott gleich zu sein. Also konnte der Teufel nicht dadurch sündigen, daß er im Verlassen von etwas Besserem nach Gottgleichheit trachtete. 11. Wie Augustinus in seinem Buch Über die christliche Lehre sagt,134 »besteht alles Mißraten darin, sich an Dingen zu beseligen, die nur zum Zwecke dienen sollen, oder jene zu verzwecken, an denen man sich beseligen sollte«. Wenn der Teufel nun aber nach Gottgleichheit trachtete, so doch nicht zum Gebrauchszweck, da er sie doch nicht für etwas Besseres zur Verwendung bringen konnte. Sollte er sie aber erstrebt haben, um sich an ihr zu beseligen, dann beging er keine Sünde, da er sich doch an etwas beseligte, was als beseligend gedacht ist. Also hat er auf keine dieser Weisen gesündigt, als er die Gottgleichheit erstrebte. 12. Wie das Verstandesvermögen zu dem hingezogen wird, was ihm wesensgleich ist, so auch der Wille. Nun ist dem Teufel die Gottgleichheit doch nicht wesensgleich. Und also konnte er sie auch nicht erstreben. 13. Das Streben ist allein an Gutem ausgerichtet.135 Es hätte dem Teufel aber gar nicht zum Guten gereicht, Gott gleich zu sein. Denn beim Eintritt in eine höhere Wesensform verließe er doch seine Wesensbestimmung, genauso wie wenn ein Pferd ein Mensch werden 132 Aristoteles, Eth. Nic. III, 5; 1111 b 22. 133 Augustinus, De natura boni 34 (PL 42, 562). 134 Eigentlich Augustinus, De diversis quaestionibus 30 (PL 40, 19),

wie oben q. 7 a. 5. 135 Vgl. Aristoteles, Eth. Nic. I, 1; 1094 a 2–3.

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würde: Dann wäre es ja kein Pferd mehr. Also hat der Teufel nicht danach gestrebt, Gott gleich zu sein. 14. In seinem Buch Über das höchste Gute schreibt Isidor von Sevilla,136 daß der Teufel nicht anstrebte, was Gottes ist, sondern nur, was sein eigen ist.137 Das Gleichsein (mit Gott) ist nun aber in allerhöchstem Maße Gott eigen. Also hat der Teufel die Gleichheit mit Gott nicht angestrebt. 15. Wie Gutes und Böses Gegensätze bilden, so ganz ähnlich auch Lobenswertes und Tadelnswertes. Gott unähnlich zu sein ist aber vorwurfs- und tadelnswert. Also ist es löblich, Gott in höchstem Maße ähnlich zu sein, und das ist unter den Begriff von Gleichheit einzurechnen. Daher hat der Engel nicht gesündigt, als er die Gleichheit mit Gott anstrebte. Dagegen spricht: 1. Über Phil. 2, 6 »Er (Christus) hielt es nicht für Diebstahl, Gott gleich zu sein«, sagt die Glosse,138 daß der Teufel sich anmaßte, Gott gleich sein zu wollen. Die Bibelstelle spricht aber von der Gleichheit von Sohn und Vater, die eine vollkommene Gleichheit ist. Daher erstrebte der Teufel die vollkommene Gleichheit mit Gott. 2. Über das Psalmwort (68, 5) »Ich soll zurückerstatten, was ich nicht geraubt habe«, sagt die Glosse,139 daß der Teufel die Göttlichkeit rauben wollte und die Seligkeit verlor. Also erstrebte er die Gottgleichheit. 3. In Jes. 14, 13 steht, Luzifer habe gesagt: »Ich werde den Himmel erklimmen«. Darunter ist aber nicht der empyreische Himmel zu verstehen,140 in dem er mit den anderen Engeln ja ohnehin schon beheimatet war. Daher muß an den Himmel der Heiligen Dreifal136 Isidor von Sevilla, De summo bono (= Sententiae) I, 10, 16 (PL 83,

556 C). 137 Die Formulierung Isidors folgt einem lateinischen Sprachgebrauch, der sich im Deutschen nur unzureichend imitieren lässt. Vgl. dazu unten ad 14 und die entsprechende Anmerkung. 138 Glosse des Petrus Lombardus zu Phil. 2, 6 (PL 192, 233 C). 139 Glosse des Petrus Lombardus zu Ps. 68, 5 (PL 191, 629 C) aus Augustinus, En. in Psalmos 68, 5, 1, 9 (PL 36, 848). 140 Vgl. die Glossa ordinaria in Genesim I, 1 (aus der Glosse des Strabo

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tigkeit gedacht werden.141 Luzifer wollte also zur Gottgleichheit aufsteigen. 4. Wie man aus Augustinus im 9. Buch von Über die Dreifaltigkeit 142 entnehmen kann, unterliegt das Strebevermögen stärkerer Anziehungskraft als das Verstandesvermögen. So strebt die Seele, die sich selbst nicht vollständig erkennt, sich vollständig zu erkennen. Das Verstehensvermögen des Engels jedoch erkannte, daß Gott unendlich ist. Daher konnte sich sein Streben noch umso mehr darauf verlegen, nach Gottgleichheit zu trachten. 5. Wesensgemäß Unteilbares kann manchmal durch Wille und Vernunft unterschieden werden. Und so läßt sich denken, daß jemand nach etwas trachtet, das darauf hinausläuft, daß er dann gar nicht mehr existiert, also zum Beispiel danach, sein Elend loszuwerden, und das, obwohl er gar nicht wünscht, nicht zu sein. Ganz ähnlich ergibt sich widerspruchslos, daß auch der Teufel nach Gottgleichheit getrachtet haben mag, obwohl das darauf hinauslief, daß er selbst dann nicht mehr existiert. 6. In seinem Buch Über den freien Willen sagt Augustinus,143 daß in jeder Sünde ein unmäßig großes Begehren vorherrscht. Nun war die Sünde des Teufels die größte, war sie doch die erste ihrer Art, und hatte somit auch das unmäßig große Begehren. Der Teufel trachtete also nach dem größten Gut. Und das ist die Gottgleichheit. 7. In seinem Buch Über das höchste Gute sagt Isidor,144 daß der Teufel darin sündigte, daß er seine Kraft nicht von Gott, sondern von sich selbst erhalten sehen wollte. Doch ist es allein Gott eigen, das Geschöpf zu erhalten ohne von einem Höheren erhalten zu werden. Also wollte der Teufel das, was Gott ureigen ist, und somit wollte er Gott gleich sein.

zu Genesis 1, 1 [PL 113, 68 C], wie Thomas in Sum. theol. q. 61 a. 4 sed contra zeigt). 141 Vgl. die Glossa ordinaria in Genesim I, 1; desweiteren Albertus Magnus, Summa de creaturis p. I tr. 3 q. 10; Bonaventura, Super Sententiarum II d. 2 dub. 2. 142 Augustinus, eigentlich De Trin. X, 3 (PL 42, 975–976). 143 Augustinus, De lib. arb. I, 3, 8 (CCSL 29, 215). 144 Isidor, De summo bono (= Sententiae) I, 10, 2 (PL 83, 554 A–B).

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Antwort: Verschiedene Autoritäten scheinen der Auffassung zuzuneigen, daß der Teufel durch ein unmäßiges Streben nach Gottgleichheit sündigte. Es kann aber nicht sein, daß er die vollkommene Gottgleichheit anstrebte. Dieser Gedanke drängt sich erstens auf, wenn man ihn in Anbetracht der Perspektive auf Gott annimmt, denn es ist nicht nur unmöglich, daß etwas ihm gleichen könne, sondern es liefe auch gänzlich jedem Sinn seines Seins zuwider. Gott ist nämlich seinem ganzen Wesen nach das selbstbedingende Eigensein selbst, und es ist nicht möglich, daß es davon zwei gibt, genauso wenig wie daß es zwei von einander unterschiedene selbständige Ideen von Menschsein oder zwei an und für sich seiende Formen von Weißsein gibt. Daher muß alles außer Gott zwangsläufig ein irgendwie teilhabendes Sein darstellen und dem nicht gleich zu sein, was wesensgemäß sein Eigensein ist. Dem Teufel konnte das in seinem Stand unmöglich verborgen geblieben sein, ist es doch einem reinen Geist oder einem körperlosen Verstandeswesen eigentümlich, seine eigene Seinsbeschaffenheit zu kennen. Somit wusste er wesensgemäß, daß er sein eigenes Sein durch Teilhabe von einem höheren hat, war doch sein natürliches Begreifen noch nicht durch die Sünde beeinträchtigt. Es bleibt, daß sein Verstand seine eigene Gleichheit mit Gott nicht als im Bereich der Möglichkeit erfassen konnte. Niemand jedoch strebt nach etwas, was er als unmöglich auffaßt, wie im 1. Buch von Über den Himmel steht.145 Woraus hervorgeht: Es war unmöglich, daß die Willensbewegung des Teufels darauf hinging, die Gottgleichheit ganz und gar zu erstreben. Zweitens ergibt sich der besagte Gedanke in Anbetracht des strebenden Engels selbst. Der Wille erstrebt nämlich immer etwas Gutes, sei es für einen selbst oder für andere. Nun wird aber nicht behauptet, daß der Teufel gesündigt habe, weil er die Gottgleichheit für andere gewollt hat − er hätte ja sündelos wollen können, daß der Sohn dem Vater gleich sei −, sondern deswegen, weil er nach Gottgleichheit für sich trachtete. Denn Aristoteles sagt im 9. Buch der

145 Eigentlich Aristoteles, Pol. V, 11; 1314 a 23–24.

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Nikomachischen Ethik,146 daß jeder für sich Gutes erstrebt, man jedoch im Falle, man würde jemand anderes werden, sich nicht mehr darum kümmerte, was einem passierte. Daraus ist zu ersehen, daß der Teufel nicht etwas erstreben konnte, wodurch er nicht mehr derselbe sein würde. Würde er nun aber Gott gleich werden, gleichviel ob das nun möglich ist, so wäre er dann nicht mehr er selbst, würde doch seine Wesensform vernichtet, wenn er auf eine höhere Seinsstufe gehoben würde. So bleibt nur, daß er die Gottgleichheit nicht ganz und gar anstreben konnte. Und aus ähnlichen Gedankengängen ergibt sich, daß er nicht anstreben konnte, Gott nicht ganz und gar untergeordnet zu sein, allein schon deswegen, weil das unmöglich ist und es nicht als etwas Mögliches in sein Begreifen fallen konnte, wie nach dem oben Gesagten feststeht; und dann auch, weil er selbst zu sein aufhören würde, wenn er Gott nicht vollständig untergeordnet wäre. Überhaupt läßt sich nichts aus der natürlichen Ordnung anführen, worin das Böse an ihm bestehen konnte. Übel finden sich nämlich nur in solchen Dingen, in denen sich Möglichkeit und Wirklichkeit unterscheiden lassen, nicht aber in solchen, die reine Wirklichkeit darstellen, wie im 9. Buch der Metaphysik steht.147 Nun sind die Engel so geschaffen, daß sie vom ersten Augenblick ihres Geschaffenseins schon alles hatten, was zu ihrer wesensgemäßen Vollkommenheit vonnöten ist. Dennoch waren sie auch möglichkeitsoffen gegenüber den übernatürlichen Gütern, derer sie durch Gottes Gnade teilhaftig werden sollten. Somit bleibt nur, daß die Sünde des Teufels nicht in etwas lag, das der natürlichen Ordnung angehört, sondern etwas Übernatürlichem folgte. Die erste Sünde des Teufels lag also darin, daß er sich zur Erlangung der übernatürlichen Glückseligkeit, die in der vollkommenen Anschauung Gottes besteht, nicht zu Gott hin erhob in dem Wunsch, mit den heiligen Engeln aus Gottes Gnade die vollkommene Vollendung zu empfangen, sondern diese aus eigener ihm wesensgemäßer Kraft erreichen wollte. Also zwar nicht ohne Gottes Wirksamkeit auf sein Wesen abzulehnen, wohl aber ohne Gottes gebende Gnade in Anspruch nehmen 146 Aristoteles, Eth. Nic. IX, 4; 1166 a 19–20. 147 Aristoteles, Met. IX, 10; 1051 a 19–21.

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zu wollen. Daher sagt Augustinus im 3. Buch von Über den freien Willen,148 die Sünde des Teufels bestehe im sich Berauschen an der eigenen Macht. Und in Über Genesis dem Wortlaut nach sagt er,149 daß »wenn ein Engelwesen sich ganz auf sich selbst rückwenden würde und mehr Freude an sich selbst hätte als an dem, durch dessen Teilhaftigkeit es glückselig ist, so würde es vor Stolz anschwellen und fallen«. Da jedoch das Haben der vollendeten Glückseligkeit aus eigener wesensgemäßer Kraft und nicht einem Höheren verdankt allein Gott zukommt, so stellt sich heraus, daß der Teufel genau darin nach Gottgleichheit trachtete; und in dieser Hinsicht genommen trachtete er auch, Gott nicht untergeordnet zu sein, weil er es nämlich ablehnte, seine ihm eigene Kraftfülle durch Gottes Gnade ergänzt zu sehen. Und das stimmt auch ganz mit dem vorher Gesagten150 überein, daß der Teufel nicht dadurch sündigte, daß er nach etwas Üblem trachtete, sondern dadurch, daß er nach etwas Gutem, nämlich der vollkommenen Glückseligkeit, nicht nach der gesollten Ordnungseinhaltung trachtete, dergestalt also, daß er sie nicht aus Gottes Gnade erhalten wollte. Zu 1. Daher ergibt sich erstens als Antwort, daß sich der Teufel in seinem Trachten nach Gottgleichheit Gott zwar insofern zugewendet hat, als er ihn zum Ausrichtungspunkt seines Trachtens machte, was ja auch für sich genommen gut ist, daß er sich aber von Gott abwandte, insofern er sich dabei von der göttlichen Maßgabeordnung lossagte, also in der Art und Weise seines Trachtens. Genauso, wie jedweder Sünder darin, daß er irgendein veränderbares Gutes anstrebt, sich Gott zuwendet, durch dessen Teilgabe alles erst zu Gutem wird, sich jedoch von Gott abwendet, insofern er maßlos danach trachtet und damit gegen die göttliche Gerechtigkeitsordnung verstößt. Zu 2. Das Böse der Dämonen bestand in einem »Zuviel an für sie Gutem«, indem sie zwar die Glückseligkeit anstrebten, für die sie 148 Augustinus, De lib. arb. III, 25, 76 (CCSL 29, 320); vgl. jedoch De Gen. ad litt. XI, 14 (PL 34, 436). 149 Augustinus, De Gen. ad litt. IV, 24 (PL 34, 313). 150 Vgl. a. 2 ad 1.

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geschaffen waren und die sie erreicht hätten, wenn sie auf geschuldete Weise danach getrachtet hätten, dabei jedoch über die Stränge schlugen, wie bereits gesagt.151 Zu 3. Damit ergibt sich auch die Lösung für den dritten Einwand. Zu 4. Man kann also sagen, die Sünde des Teufels liege darin, daß er danach strebte, einer Heerschar von Engeln nicht etwa in Einhaltung der natürlichen Rangordnungsfolge vorzustehen, sondern daß er selbst damit aus eigener Wesensfülle die Glückseligkeit erreichen wollte, die andere durch Gottes Gnade erlangen. Zu 5. Auch was das fünfte Anfangsargument betrifft, ist festzuhalten: Der Teufel wollte den übrigen Engeln nicht so vorstehen, wie Gott das tut, also ganz und gar als erste Ursache. Er konnte jedoch danach trachten, ihnen in Gott vergleichbarer Weise, so wie oben beschrieben,152 vorzustehen. Zu 6. Das sechste Argument stützt sich auf den Gedanken des Gott nicht schlechthin Untergeordnetseins, was der Teufel innerhalb dessen, was der natürlichen Ordnung angehört, nicht erstreben konnte. Zu 7. Damit ergibt sich auch die Lösung für den siebten Einwand. Zu 8. Die Erkenntnisfähigkeit der Engel konnte nur nach der Sünde in Verwirrung geraten, und auch dann nur vielleicht. Allerdings könnte ihnen, wie gesagt,153 dennoch etwas an der Erkenntnis bezüglich der rein gnadenhaften Dinge gefehlt haben. Zu 9. Das sogenannte Wollen von Unmöglichem ist kein Wille im vollständigen Sinne, der sich auf etwas verlegt, was er erreichen möchte, da doch niemand, wie schon gesagt,154 das anstrebt, was er für unmöglich hält. Es handelt sich vielmehr um einen unvollständigen Willen, der eher als Wünschen bezeichnet wird,155 weil man Vgl. Antwort. Vgl. Antwort. Vgl. Antwort. Vgl. Antwort. Vgl. Wilhelm von Auxerre, Summa aurea I c. 14 q. 4 (f. 28 ra). Der hier von Thomas gebrauchte und aus Wilhelms Goldener Summe übernommene lateinische Terminus ist ein Kunstwort, velleitas, das von velle gebildet wird; die Übersetzung versucht, das etymologische Spiel mit »Wünschen« und »wünschte« wiederzugeben. 151 152 153 154 155

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sich hier etwas, das für unmöglich gehalten wird, wünschte, indem man gleichzeitig wünschte, es sei möglich. Solcherart ist der Wille von Abkehr und Zuwendung (bezüglich Gott), worin denn auch Sünde und Verdienst bestehen.156 Zu 10. Sünde nennt man das Verlassen des Besseren in Anbetracht der Abkehr (von Gott), was die Auffassung von Sünde formal auch ganz erfüllt. Was hingegen die Sünde des Teufels betrifft, so wird die Abkehr nicht hinsichtlich dessen, worauf er sich wendet, in Betracht gezogen, sondern hinsichtlich der Tatsache, daß er damit gegen die göttliche Gerechtigkeitsordnung verstieß und dadurch das Bessere verließ, da nämlich die göttliche Gerechtigkeitsordnung besser ist als die Wollensordnung des Engels. Zu 11. Wer auch immer etwas begehrt und es für sich erstrebt, der tut das um seinetwillen und insofern um der Freude an sich selbst wegen, während er das, was er erstrebt, dazu als Mittel gebraucht. So gesehen hat der Teufel in seinem Streben nach Gottgleichheit auf die oben bereits ausgeführte Weise157 das gebraucht, was um seiner selbst willen genossen werden sollte. Zu 12. Obwohl das Gut, das der Wille der Engel beim Sündigen anstrebte, ihre Wesensnatur überstieg, so trachtete er doch nach etwas, worauf sie sich wesensgemäß hingeordnet fanden, doch verstieß die Art und Weise gegen ihre Wesensbeschaffenheit. Zu 13. Der dreizehnte Argumentgang stützt sich auf die Vorstellung von der gänzlichen Gottgleichheit. Zu 14. Nachdem die Art jeder Bewegung nach ihrem Ausrichtungsgegenstand benannt wird,158 so wird auch (bei der Willensbewegung) gesagt, daß jemand nach Eigenem strebt, wenn er eigentlich danach strebt, daß etwas sein Eigentum sein soll, auch wenn das jemand anderem gehört; und auf diese Weise trachtete der Teufel danach, etwas zu eigen zu haben, was doch eigentlich ganz Gott eigen ist.159 156 Vgl. Augustinus, De lib. arb. I, 6, 35 (CCSL 29, 235) und III, 1, 1 (CCSL 29, 274). 157 Vgl. arg. 11. 158 Vgl. Aristoteles, Phys. V, 1; 224 b 7–8 gemäß Thomas, De ver. q. 15 a. 2. 159 Der lateinische Sprachgebrauch »appetere quae sua sunt«, auf den

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Zu 15. Gott innerhalb der Grenzen des für jedes Ding Zuträglichen ähnlich zu sein, ist löblich. Wer hingegen außerhalb der von Gott vorgegebenen Ordnung danach trachtet, Gott ähnlich zu sein, will das auf verderbliche Weise. [Antwort auf die Gegenargumente:] Zu 1. Gänzliche Wesensgleichheit mit dem Vater gehört zur Außerordentlichkeit Christi, auf die der Apostel in dem zitierten Textstück besonders aufmerksam machen möchte. Mensch und Teufel jedoch haben in ihrem sündhaften Streben nach Gottgleichheit nicht ganz und gar, sondern nur hinsichtsweise getrachtet. Zu 2. Ähnlich muß auch die Antwort auf das zweite Argument lauten. Zu 3. Wie Augustinus im 3. und im 11. Buch von Über Genesis dem Wortlaut nach sagt,160 behaupteten einige, daß die Dämonen nicht aus der Zahl der himmlischen Engel stammten, sondern aus der Zahl derer, die der irdischen Ordnung vorstanden, und so ließe sich in wörtlicher Auslegung die Rede vom Aufstieg in den stofflichen Himmel verstehen. Wenn sie aber aus der Zahl der himmlischen Engel stammten, wie das zumeist so erachtet wird,161 dann muß man annehmen, daß sie zum Himmel der Heiligen Dreifaltigkeit aufsteigen wollten, jedoch nicht, um gänzliche Gottgleichheit zu erlangen, sondern nur in der einen oder anderen Hinsicht, wie oben ausgeführt.162 Zu 4. Was die Ausrichtungsgegenstände betrifft, kann der Wille sich nicht auf mehr verlegen als das Begreifensvermögen, da er nur

hier angespielt wird, läßt sich im Deutschen leider nicht plausibel wiedergeben. Ich entscheide mich für die naheliegende Variante, mit den deutschen Ausdrücken »zu eigen sein«, »Eigentum«, »eigentlich« und »zu eigen haben« zu spielen. 160 Augustinus, De Gen. ad litt. III, 10, 14 (PL 34, 285) und XI, 17 und 26 (PL 34, 438 und 443). 161 Vgl. Alexander von Hales, Glossa in Libros Sententiarum II d. 6 n. 3, Albertus Magnus, Super Sententiarum II d. 6 a. 1, Bonaventura, Super Sententiarum II d. 6 a. 1 q. 1. 162 Vgl. Antwort.

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nach dem begriffenen Guten trachten kann.163 Was jedoch die Intensität angeht, können Willensregungen und Begreifen einander gegenseitig übertreffen, da manchmal die Macht des Verlangens größer ist als die Klarheit des Erkennens, manchmal aber auch umgekehrt. Es mag auch vorfallen, daß der Verstand etwas erkennt und es dennoch nicht besitzt, der Wille es aber als erkannt anstreben kann. Auf diese Weise kann der Wille die vollkommene Erkenntnis anstreben, weil der Verstand zwar weiß, was vollkommene Erkenntnis ist, sie aber gleichwohl nicht besitzt, genauso wie der Verstand etwas begreifen kann, was nicht im Willen vorliegt. Somit läßt sich also nicht folgern, daß der Teufel etwas zu sein trachtete, das er nicht verstehen konnte. Zu 5. Wenn jemand möchte, daß ihm etwas genommen werde, so geht er von sich selbst aus, aber nicht davon, daß dieser Ausgangspunkt im weiteren dann auch erhalten wird, und so kann man sehr wohl wünschen, nicht zu sein, um seinem Elend ein Ende zu machen. Wenn jemand allerdings etwas Gutes für sich möchte, so nimmt er sich selbst zum Zielpunkt, und der muß dafür dann im weiteren auch erhalten werden. Deshalb ist es nicht möglich, etwas Gutes für sich zu wünschen, durch dessen Besitz man dann vernichtet wird. Zu 6. Es muß ja nicht sein, daß die größte Lust sich auf das größte Gut bezieht, sondern nur auf das, was unter den erstrebenswerten Dingen als größtes erscheint. Zu 7. Der Teufel wollte sich selbst in seiner Kraft erhalten, um aus sich selber die Glückseligkeit zu erlangen und sich in ihr zu erhalten, nicht aber, um alles zu erhalten.

4. Artik el 16 4 Die vierte Frage lautet: Hat der Teufel bereits im ersten Augenblick seines Geschaffenseins gesündigt und konnte er das überhaupt? Das scheint der Fall zu sein; denn: 163 Aristoteles, De an. III, 9 [15]; 433 b 11–12, wie oben bereits gesagt. 164 Paralleltexte: Super libros Sententiarum II, d. 3 q. 2 a. 1; Sum. theol.

I, q. 63 a. 5; Super Iohannem cap. 8 lect. 6.

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1. In 1 Joh. 3, 8 steht, der Teufel habe von Anfang an gesündigt. Das kann man aber nicht als von dem Zeitpunkt an verstehen, als er den Menschen in Versuchung führte und zu Tode brachte,165 da er doch vorher schon böse war. Also ist das als vom Anfang seines Geschaffenseins zu verstehen. 2. In Joh. 8, 44 steht, daß der Teufel nicht in der Wahrheit verblieb. Hätte er aber nicht im ersten Augenblick seines Geschaffenseins gesündigt, so wäre er in der Wahrheit verblieben. Und so scheint es, daß der Teufel schon im ersten Augenblick seines Geschaffenseins hätte sündigen können. 3. Bevor er sündigte, wurde die Macht, die der Teufel im ersten Augenblick seines Geschaffenseins innehatte, weder erhöht noch vermindert. Nun konnte er nach dem ersten Augenblick seines Geschaffenseins sündigen und tat das ja auch. Also konnte er auch im ersten Augenblick seines Geschaffenseins sündigen. 4. Dagegen wurde eingewandt, daß wenn der Teufel im ersten Augenblick seines Geschaffenseins gesündigt hätte, diese Sünde Gott angelastet werden müsste, der die Ursache für das Wesen des Teufels ist. − Dagegen spricht: Gott bewirkt das Sein der Engel solange sie existieren, und nicht nur im ersten Augenblick, als sie geschaffen wurden, wie aus dem 4. Buch von Über Genesis dem Wortsinn nach des Augustinus hervorgeht.166 Deswegen wird in Joh. 5, 17 gesagt: »Mein Vater wirkt bis jetzt, und daher auch ich«. Wenn daher die im ersten Augenblick seines Geschaffenseins vom Teufel begangene Sünde Gott angelastet wird, so doch aus derselben Überlegung auch jedwede Sünde zu einem anderen Zeitpunkt, was aber offenbar falsch ist. 5. Das Vermögen der Engel, wie sie es von Gott empfangen hatten, war auf zweierlei hin offen, nämlich zum Guten und zum Üblen, und es hätte nur dann wirklich zum Üblen ausgeschlagen, wenn es von irgendetwas darauf gebracht worden wäre. Von Gott konnte es aber wohl doch nicht darauf gebracht werden, sondern nur durch den eigenen Willen. Deswegen würde der Wille der Engel, und nicht

165 Joh. 8, 44. 166 Augustinus, De Gen. ad litt. IV, 12 (PL 34, 304–305).

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Gott, die Schuld tragen, selbst wenn sie im ersten Augenblick ihres Geschaffenseins gesündigt hätten. 6. Eine Zweitursache kann durch Ausbleiben wirken, ohne daß dies der Erstursache angelastet werden müsste, wie etwa das Hinken nicht der Bewegungsfähigkeit angelastet wird, sondern beeinträchtigten Gliedmaßen.167 Doch Gott steht zur Tätigkeit der Engel als Erstursache in Bezug. Auch wenn also die Engel im ersten Augenblick ihres Geschaffenseins gesündigt hätten, so würde man das nicht Gott anlasten, sondern ihrem freien Willen. 7. Dagegen wurde eingewandt, daß wenn der Teufel im ersten Augenblick seines Geschaffenseins gesündigt hätte, er nie sündelos hätte gewesen sein können, und so wäre ihm die Schlechtigkeit aus Notwendigkeit zueigen gewesen und nicht aus freiem Antrieb. Das aber widerspricht der Auffassung von Sünde. − Dagegen spricht: Diese Notwendigkeit ist nur die Notwendigkeit, nach der es notwendig ist zu sein, während sie besteht,168 und diese läßt sich doch in jeder Sündehandlung vorfinden. Wenn also diese Art von Notwendigkeit der Auffassung vom freien Willen entgegenläuft, so würde daraus folgen, daß keine Sünde aus freiem Willen heraus entsteht. Was aber nicht statthaben kann. 8. Dagegen wurde eingewandt, daß es in anderen Sünden vor der Sündehandlung zu einem Augenblick kommt, in dem die eben angesprochene Notwendigkeit beim Sünder nicht vorliegt. − Dagegen spricht: Es sündigt doch niemand, bevor er die Sünde vollzieht, und alles, was wesentlich zur Sünde gehört, besteht gleichzeitig mit der Sünde. Daher setzt der Vollzug der Sünde nicht voraus, daß man vorher gesündigt haben könnte oder nicht.

167 Das Beispiel stammt von Augustinus, De perfectione iustitiae hominis 2 (PL 34, 304–305), wie Thomas selbst in De ver. q. 24 a. 12 arg. 4 sagt. 168 Die Erklärung dieser arg verkürzten Aussage ergibt sich nach einem Blick auf die einschlägige Stelle bei Aristoteles als denkbar einfach: Was etwas verursacht, muß dazu notwendigerweise erst einmal dasein, und damit ist zu sein die allgemeinste Voraussetzung dafür, daß etwas geschieht. Vgl. Thomas, Sum. theol. II–II q. 49 a. 6 sowie Aristoteles, Peri herm. I, 15; 19 a 23–27.

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9. Die Sünde des Teufels bestand darin, daß er seine Glückseligkeit ohne jede Maßeinhaltung anstrebte. Doch war er imstande, diese Glückseligkeit vom ersten Augenblick seines Geschaffenseins an zu begreifen. Also konnte er schon vom ersten Augenblick an die Glückseligkeit maßlos wollen. 10. Alles, was nicht aus Notwendigkeit heraus wirkt, kann das, was es wirkt, auch vermeiden. Hätte nun der Teufel im ersten Augenblick seines Geschaffenseins gesündigt, so wäre das ja nicht unbedingt deswegen aus Wesensnotwendigkeit geschehen. Er hätte also nichtsdestoweniger vermeiden können, zu sündigen, und daher scheint der Annahme, der Teufel hätte im ersten Augenblick seines Geschaffenseins schon sündigen können, nichts entgegenzustehen. 11. Aus der Annahme, daß der Teufel nicht vom ersten Augenblick seines Geschaffenseins gesündigt habe, scheinen sich allenthalben unstatthafte Schlüsse zu ergeben. Wenn er nämlich bevor er sündigte über seinen Fall im unklaren war,169 die guten Engel dagegen sich ihres zukünftigen und zu ihrer Glückseligkeit nötigen Beharrens gewiß waren, so würde daraus folgen, daß Gott zwischen diesen und jenen einen Unterschied gemacht habe und den einen offenbarte, was sie erwarten würde, und den anderen nicht, und zwar ohne vorherigen Verdienst. Das ist aber nicht statthaft zu denken. Wenn der Teufel sich vorher aber schon im klaren war über seinen Fall, dann erlitt er die Strafe des Kummers (darüber) schon bevor er überhaupt sündigte. Was nun auch nicht statthaft zu denken ist. Man darf also nicht behaupten, daß der Teufel im ersten Augenblick seines Geschaffenseins nicht sündigte. 12. Nach dem 1. Buch von Augustinus’ Über Genesis dem Wortsinn nach170 ging die Ungeformtheit der Geschöpfe der Gestaltgebung, wie sie im Sechstagewerk beschrieben wird, nur der Wesens- oder Abhängigkeitsordnung nach voraus, nicht aber in der zeitlichen Abfolge. Doch sagt er später selbst, daß die Scheidung von Licht und Finsternis als die Scheidung der guten Engel von den

169 Vgl. Augustinus, De Gen. ad litt. XI, 17 (PL 34, 438), so Thomas, Sum. theol. II–II, q. 18. a. 3. 170 Augustinus, De Gen. ad litt. I, 15, 29 (PL 34, 257).

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bösen zu verstehen sei.171 Also waren unmittelbar im ersten Augenblick der Schöpfung einige Engel gut und andere böse. 13. Während die guten Engel sich Gott zuwendeten, wendeten sich die bösen von ihm ab, denn sonst wäre es nicht zu verstehen, daß Gott jene bestärkte, diese aber nicht, es sei denn, daß es da eben einen Verhinderungsgrund von seiten derer gab, die nicht bestärkt wurden. Nun scheint es doch aber, daß die guten Engel sich vom ersten Augenblick ihres Geschaffenseins Gott zuwendeten, da doch nach dem 4. Buch der Schrift des Augustinus Über Genesis dem Wortlaut nach172 unter dem Abend des ersten Tages die Hinkehr der Engel zum eigenen Wesen zu verstehen sei, und die geschah ja im ersten Augenblick ihres Geschaffenseins, unter dem Morgen des folgenden Tages dagegen ihre Hinkehr zum Wort. Wenn nun nach der Aussage des Augustinus alles, was im Sechstagewerk erzählt wird, gleichzeitig stattgefunden hat, wird offensichtlich, daß die Engel sich im ersten Augenblick ihres Geschaffenseins selbst erkannten und gleichzeitig Gott zuwendeten oder in Sünde von ihm ab. 14. Gemäß dem 4. Kapitel der Schrift des Dionysius Areopagita Über die göttlichen Namen173 haben Engel keine Erkenntnis durch Überlegung wie wir sie haben, also eine solche, die von Voraussetzungen zu Schlüssen kommt, sondern sie erkennen beides gleichzeitig. Der Zweck aber verhält sich zu seinem Mittel wie die Voraussetzung zum Schluß, wie Aristoteles im 2. Buch der Physik sagt.174 Da nun die Wesensnatur der Engel an Gott als ihrem Zweck und Ziel ausgerichtet ist, so scheint es, daß sie sich gleichzeitig auf Gott und auf sich selbst verlegt und sich gleichzeitig Gott zu- und abgewendet haben. Und so ergibt sich dieselbe Folgerung wie gerade zuvor schon. 15. Wenn die Engel im ersten Augenblick ihres Geschaffenseins gut waren, so steht doch fest, daß sie Gott liebten, wesensgemäß aber auch sich selbst. Entweder also liebten sie sich selbst und Gott nur um ihretwillen, und dann sündigten sie, indem sie sich an sich 171 Augustinus, De civ. Dei XI, 19 (CCSL 48, 338), so Thomas Sum. theol. I, q. 63 a. 5 ad 2. 172 Augustinus, De Gen. ad litt. IV, 22 (PL 34, 312). 173 Dionysius Areopagita, De div. nom. VII, 2 (Dion. I, 388). 174 Aristoteles, Phys. II, 15; 200 a 34 – b 1.

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selbst um ihrer selbst berauschten; oder sie liebten sich selbst Gottes wegen, was hieße, sie hätten sich Gott aus Liebe zugewendet. Daraus ergibt sich, daß sich die Engel im ersten Augenblick ihres Geschaffenseins entweder Gott zuwandten oder sich von ihm abwandten. Und so ergibt sich dieselbe Folgerung wie gerade zuvor schon. 16. Der Mensch wurde erschaffen, um das Verderben der Engel auszugleichen, wie die Heiligen sagen.175 Also wurde der Mensch nicht erschaffen, bevor der Teufel sündigte und fiel. Doch scheint der Mensch im ersten Augenblick der Schöpfung aller Dinge erschaffen worden zu sein, wenn man der Lehre des Augustinus folgt,176 daß alles gleichzeitig erschaffen worden ist. Also sündigte auch der Teufel im ersten Augenblick seines Geschaffenseins. 17. Geistwesen sind stärker als jedwedes körperliche Wesen. Einige Wesen mit Körpern haben aber augenblickliche Bewegung, wie zum Beispiel Licht und der Sehstrahl.177 Umso mehr konnten Engel im ersten Augenblick ihres Geschaffenseins durch inneren Bewegungsantrieb zur Sünde bewegt worden sein. 18. Je edler etwas ist, desto weniger verharrt es in Untätigkeit. Nun scheint doch aber der Wille edler zu sein als der Verstand, da der Wille den Verstand zu seiner Tätigkeit bewegt. Da jedoch der Verstand der Engel im ersten Augenblick ihres Geschaffenseins nicht untätig verharrte, so offenbar auch nicht ihr Wille. Und somit konnte ein Engel im ersten Augenblick seines Geschaffenseins auch aus eigenem Willen sündigen. 19. Die Zeit des Engels bemisst sich nach der Ewigkeit.178 Die Ewigkeit wird aber als ein Jetzt von allem aufgefasst.179 Wann auch immer daher die Engel gesündigt haben: sie taten es im ersten Augenblick ihres Geschaffenseins. 175 Z. B. Augustinus, Enchiridion 29 (PL 40, 246); Gregor der Große, In Evangelium II hom. 34, 1 (PL 76, 1252 B – 1253 C). Vgl. Petrus Lombardus, Sententiae II d. 1 c. 5. 176 Augustinus, De Gen. ad litt. I, 15, 29 (PL 34, 257). 177 Vgl. Averroes, In Physicam VI Sentenz 32 (IV, 265 M), so Thomas, Sent. I, d. 37 q. 4 a. 3 arg. 1. 178 Vgl. Thomas z. B. Sum. theol. I, q. 10 a. 5. 179 Vgl. Albertus Magnus, Super Dionysii De divinis nominibus X, 3 (Col. XXXVII-1 405 b).

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20. Wie man aus freiem Willen sündigt, so verdient man sich durch ihn auch das Himmelreich. Nun gab es ein Geschöpf, das es im ersten Augenblick seines Geschaffenseins sich so verdiente, nämlich die Seele Christi.180 Also konnte auch der Teufel im ersten Moment seines Geschaffenseins sündigen. 21. Die Seele ist genauso ein Geschöpf Gottes wie es die Engel sind. Doch auch die Seele des Kindes ist schon im ersten Augenblick ihres Geschaffenseins unter der Sünde. Also konnte genauso der Teufel im ersten Augenblick seines Geschaffenseins böse sein. 22. Wie ein Geschöpf ins Nichts zurückfiele, wenn es nicht in Gottes Hand gehalten würde, wie Gregor der Große es ausdrückt,181 so verfiele auch das vernunftbegabte Geschöpf in Sünde, wenn es nicht von Gottes Gnade gehalten würde. Wenn also ein Engel im ersten Augenblick seines Geschaffenseins ohne Gottes Gnade gewesen wäre, so hätte er der Sünde nicht entgehen können. Wenn er ihrer aber teilhaftig war und sie nicht gebrauchte, so hätte er ebenfalls gesündigt. Wenn er sie aber gebrauchte, um sich Gott zuzuwenden, so wäre er im Guten bestärkt worden und hätte im weiteren nicht mehr sündigen können. Also sündigten alle die Engel, die sündigten, im ersten Augenblick ihres Geschaffenseins. 23. Eine Eigentümlichkeit besteht gleichzeitig mit dem, dessen Eigentümlichkeit sie ist. Nun ist das Sündigen dem Teufel eigentümlich, heißt es doch in Joh. 8, 44: »Wenn der Teufel Lügen redet, so redet er in der ihm eigentümlichen Seinsart«. Also sündigte der Teufel im ersten Augenblick da er erschaffen wurde. Dagegen spricht: 1. Die Aussage, die in Ez 28, 12–13 dem König von Tyrus an den Teufel gerichtet in den Mund gelegt wird: »Voll von Weisheit und in vollendeter Schönheit warst du in den Freuden von Gottes Paradies«. 2. Im Buch von den Ursachen heißt es182: »Zwischen dem, dessen Wesen und Tätigkeit in den Bereich der Ewigkeit gehört, und demjenigen, dessen Wesen und Tätigkeit im Bereich der Zeit liegt, gibt 180 Vgl. Thomas, Sum. theol. III, q. 34 a. 3. 181 Gregor der Große, Moralia XVI, 37, 45 (PL 75, 1143 C). 182 Liber de causis prop. 31 (30).

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es ein Mittleres, nämlich das, dessen Wesen in der Ewigkeit, dessen Tätigkeit jedoch in der Zeit liegt«. Gott ist nun das, was dem Wesen und der Tätigkeit nach in die Ewigkeit gehört, der Körper hingegen etwas, dessen Wesen und Tätigkeit in der Zeit ist. Das Wesen des Engels, der zwischen diesen beiden liegt, ist also in der Ewigkeit, seine Tätigkeit im Zeitlichen zu suchen. Und somit konnte er nicht im Augenblick seines Geschaffenseins sündigen. 3. Wie Augustinus in seinem Handbüchlein sagt,183 bezeichnet man das als böse, was schadet. Das Böse aber schadet, weil es Gutes mindert. Nun hat Gott die Engel in der Gesamtbeschaffenheit ihres Wesens gut erschaffen. Da aber nichts insgesamt gut und gleichzeitig daran vermindert sein kann, so scheint es, als ob die Engel im ersten Augenblick ihres Geschaffenseins nicht böse sein konnten. 4. Was ohne Überlegung geschieht, kann keine Sünde sein, zumindest keine in moralischer Hinsicht. Was aber augenblicklich ist, kann nicht überlegt sein und also auch keine Todsünde. Es erweist sich mithin als unmöglich, daß ein Engel im ersten Augenblick seines Geschaffenseins durch Sündigen böse geworden wäre. Antwort: Augustinus behandelt diese Frage im 11. Buch von Über Genesis dem Wortlaut nach184 und im 11. Buch von Die Bürgerschaft Gottes.185 In keinem dieser beiden Werke legt er sich aber in der Sache fest, obwohl er im 11. Buch von Über Genesis dem Wortlaut nach offenbar eher der Auffassung zuneigt, daß der Teufel im ersten Augenblick seines Geschaffenseins sündigte, während er im 11. Buch von Die Bürgerschaft Gottes eher der gegenteiligen Auffassung zuzuneigen scheint. Daher haben einige Autoren jüngeren Datums186 es für richtig gehalten zu behaupten, daß der Teufel im ersten Augenblick seines Ge183 Augustinus, Enchiridion 12 (PL 40, 237). 184 Augustinus, De Gen. ad litt. XI, 16 (PL 34, 437) und 19–20, 26–27

(PL 34, 439–440). 185 Augustinus, De civ. Dei XI, 13–15 (CCL 48, 333–336). 186 So Petrus Lombardus, der in Sentenzen II d. 2 c. 4 n. 2–4 die oben als erste angeführte Meinung zu vertreten scheint.

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schaffenseins böse war, und zwar nicht durch seine Wesensanlage, sondern weil er durch eine Regung seines freien Willens sündigte. Doch alle damals in Paris lesenden Lehrer verwarfen diesen Standpunkt.187 Denn daß der Engel nicht im ersten Augenblick seines Geschaffenseins gesündigt hat, sondern einmal gut gewesen sein muß, scheint sich schon aus dem zu ergeben, was durch die Autorität der kanonischen Bibelschriften zum Ausdruck gebracht wird: So wird etwa in Jes. 17 (eigentlich 14, 12) gesagt: »Wie bist du doch gefallen, Luzifer, der du am Morgen aufstiegst«, und in Ez. 28, 13: »Du lebtest in den Freuden von Gottes Paradies«. Augustinus freilich erklärt im 11. Buch von Über Genesis dem Wortlaut nach,188 daß dies als Aussagen über den Teufel bezüglich seiner Anhänger zu verstehen sei, der Menschen also, die von der Gnade Christi abfallen. So ist es zwar gar nicht einfach, aber doch füglich, aufzuzeigen, warum der Teufel nicht im ersten Augenblick seines Geschaffenseins sündigen konnte. Einige189 nämlich haben diesen Umstand der Wesensbeschaffenheit der Engel angelastet, die doch von Gott begründet wird. Deshalb sagen sie, daß der Teufel im ersten Augenblick seines Geschaffenseins gut gewesen sein muß, wie er von Gott geschaffen wurde, damit man nicht davon ausgehen muß, es könne etwas als zugleich insgesamt gut und doch daran gemindert angenommen werden, wie oben als Gegenargument formuliert.190 Das folgt doch aber offenbar nicht mit Notwendigkeit: Denn die Bösartigkeit der Schuld widerstreitet ja nicht der Gutheit der Wesensbeschaffenheit, vielmehr stützt sie sich auf sie als ihre Grundlage. Deswegen sagt auch Augustinus im 11. Buch von Die Bürgerschaft Gottes,191 daß wer auch immer diese Meinung vertreten sollte, es deswegen noch nicht mit den Manichäern hält, die behaupten, daß der Teufel eine böse Wesenbeschaffenheit habe, die Gott entgegengesetzt ist. Noch auch wäre es unrichtig zu sagen, daß ein Engel 187 Vgl. den fünften Irrtum in der Liste der Lehrverurteilungen der Universität Paris von 1241 (Chartularium Universitatis Parisiensis I p. 171). 188 Augustinus, De Gen. ad litt. XI, 24 (PL 34, 442). 189 So Petrus Lombardus, der in Sentenzen II d. 2 c. 4 n. 5–7 die oben als zweite angeführte Meinung zu vertreten scheint. 190 Vgl. oben sed contra 3. 191 Augustinus, De civ. Dei XI, 13 (CCSL 48, 334).

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im ersten Augenblick eine vollkommen gute Wesensbeschaffenheit hatte, insofern er ja von Gott geschaffen ist, doch dergestalt, daß diese gute Grundbeschaffenheit bald schon auf den Widerstand des Willens des Engels traf, ähnlich wie ein Sonnenstrahl just im Augenblick des Sonnenaufgangs davon abgehalten wird, die Luft zu erhellen. Einige andere192 hingegen nennen als Grund dafür (daß ein Engel nicht im ersten Augenblick des Geschaffenseins gesündigt hat), daß ihrer Meinung nach jede Sünde vorherige Überlegung erfordert, und da Überlegung nicht augenblicklich geschehen kann, glauben sie, die Sünde des Engels konnte nicht in diesem einen Augenblick zustande kommen. Doch war der Engel erst bei Vollzugsabschluß seines Sündigens böse, und so bleibt nur übrig, daß der Teufel im ersten Augenblick seines Geschaffenseins nicht böse gewesen sein konnte. Doch werden sie alle dadurch in die Irre geführt, daß sie das Verstandesvermögen der Engel nach dem des Menschen beurteilen, das sich davon doch um vieles unterscheidet. Der menschliche Verstand nämlich geht nach Schließenserwägungen vor, und wie er in spekulativen Dingen nach Überlegung von Für und Wider voranschreitet, so schreitet er in der Handlungserwägung nach Ratschlag und Überlegung voran, ist doch die innere Beratschlagung eine Art Selbstbefragung, wie im 3. Buch der Nikomachischen Ethik steht.193 Das Begriffsvermögen der Engel hingegen erfaßt die Wahrheit ohne solche Überlegung oder Befragung, wie Dionysius im 7. Kapitel von Über die göttlichen Namen sagt.194 Also steht nichts der Annahme entgegen, daß ein Engel im ersten Augenblick da er die Wahrheit erkennt, auch wählen kann, was eine Tat des freien Willens ist, genauso, wie ein Mensch im selben Augenblick da er nach Beratschlagung seine Entscheidung fällt, wählt, was zu tun ist. Wenn er aber nämlich ohne Beratschlagung sicher wäre, was geschehen sollte, so würde er 192 Vgl. Bonaventra, Super II Sententiarum d. 3 p. 2 a. 1 q. 2; Albertus Magnus, Super II Sententiarum d. 3 a. 14. 193 Aristoteles, Eth. Nic. III, 6; 1112 a 14–15; vgl. jedoch Nemesius, De natura hominis 34 (ed. Verbeke, 129). 194 Dionysius, De div. nom. VII, 2 (Dion. I, 388).

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sofort im ersten Augenblick seine Wahl treffen, wie das etwa in der Fertigkeitsausübung des (Hand)Schreibens der Fall ist und in anderen, in denen man nicht erst nachdenkend Rat halten muß. Wenn daher der Engel schon im allerersten Moment zu erkennen in der Lage war, wonach er streben konnte, dann konnte er sofort im selben Augenblick seine Wahl treffen, da er ja der beratschlagenden Überlegung nicht bedurfte. Daß die Engel nicht im ersten Augenblick ihres Geschaffenseins sündigen konnten, liegt mithin nicht daran, daß sie in diesem Augenblick keine Wahl im Sinne eines freien Willensaktes treffen konnten. Deswegen muß man den Grund dafür anderswo suchen. Zuerst muß man dazu bedenken, daß es einen Unterschied gibt zwischen derjenigen Bewegung, die der Zeit als Maß entspricht, weil sie die Zeit hervorbringt, also etwa der Erstbewegung des Himmels,195 und derjenigen Bewegung, der die Zeit als Maß entspricht, ohne daß sie die Zeit hervorbrächte, also etwa der Bewegung der Lebewesen. Denn bei den Lebewesen ergibt sich die Zeitabfolge nicht aus der Unterschiedsentwicklung oder Beibehaltung des Bewegenden, weil doch ein Lebewesen stillstehen kann und die Zeit trotzdem weiterläuft, da nämlich die Zeit Ruhe und Bewegung bemißt, wie im 6. Buch der Physik steht.196 Was nun aber die Bewegung betrifft, die die Zeit hervorruft, folgen Zeitablauf und Bewegungsablauf einander unmittelbar, da durch das Vorher und Nachher der Bewegung auch das Vorher und Nachher der Zeit entsteht, wie im 4. Buch der Physik steht.197 Damit ist alles, was innerhalb dieser Bewegung als verschieden von anderen Ablaufsmomenten erkannt wird, auch in verschiedenen zeitlichen Momenten, was aber innerhalb dieser Bewegung ununterscheidbar ist, kann nicht in verschiedenen zeitlichen Momenten sein. Daraus ergibt sich auch, daß wenn der Himmel aufhörte, sich zu bewegen, die Zeit notwendi195 Vgl. Aristoteles, De caelo II, 1; 283 b 28–29, hier die Textversion nach der arabisch-lateinischen Version des Averroes (V, 96 A) und nach Thomas in seinem Kommentar über diese Stelle. 196 Aristoteles, Phys. VI, 10; 238 b 23–29; vgl. dagegen Phys. IV, 20; 221 b 22–23. 197 Aristoteles, Phys. IV, 17; 219 a 14–19.

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gerweise ebenfalls aufhörte weiter abzulaufen, ganz nach dem, was in Offb. 14 (eigentlich 10, 6) steht: »Es wird dann keine Zeit mehr geben«. Nun ist zu bedenken, daß es beim Begreifen und Auffassen der Engel zu zeitlichen Abfolgen kommt, sagt doch Augustinus im 8. Buch von Über Genesis dem Wortlaut nach,198 daß Gott die geistigen Wesenheiten durch die Zeit bewegt. Denn die Engel begreifen nicht alles auf einen Schlag, ein Engel nämlich begreift gar nicht alles in einer Form, sondern verschiedenes gemäß verschiedenen Formen, und je höher ein jeder Engel steht, desto mehr erkennt er wesenseigentümlich gemäß wenigerer Formen. Deshalb sagt Dionysius im 12. Kapitel der Himmlischen Hierarchie,199 daß die höheren Engel eine umfassendere Erkenntnis haben, und im Buch von den Ursachen200 steht, daß höhere Geistwesen umfassendere Verstandesformen haben, das heißt solche, die sich auf mehr Erkennbares erstrecken. So kann man ja auch bei uns Menschen beobachten, daß je geistig höherstehend einer ist, er auch besser in der Lage ist, vieles aus wenigem zu erkennen. Nur Gott allein jedoch kann alles durch eines erkennen, nämlich durch sein eigenes Wesen. Daher kann der Mensch nicht zu gleicher Zeit vieles im Verstand realisieren, weil sein Verstand nicht dafür herhält, daß in ihm verschiedene Formmaßgaben vollständig und vollendet Wirklichkeit gewinnen, genauso wenig wie verschiedene Gestaltgebungen in nur einem Körper. Bezüglich der Engel kann man dementsprechend sagen, daß ein Engel alles, was er unter einer Form verstehen kann, gleichzeitig versteht, was aber unter verschiedenen Formen, nicht gleichzeitig, sondern in Abfolge. Diese Abfolge jedoch steht nicht unter dem Zeitmaß, das die Himmelsbewegung verursacht, da das Auffassen und Begreifen des Engels darüber steht und doch nichts, was höher ist, von einem niedrigeren sein Maß erhält. Vielmehr muß es so sein, daß die Begreifens- und Auffassensfolge die verschiedenen Momente dieser Zeitabfolge hervorrufen. In den Dingen also, die ein Engel nicht gemäß nur einer Form erfassen kann, ergibt 198 Augustinus, De Gen. ad litt. VIII, 20 (PL 34, 388). 199 Dionysius, De cael. hier. XII, 2 (Dion. II, 936). 200 Liber de causis prop. 10 (9).

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sich, daß er sich durch verschiedene Zeitpunkte seiner Zeitabfolge bewegt. Was aber über die Naturordnung hinaus zur Gnadenordnung gehört, worauf sich ja wie gesehen201 die Sünde der Engel bezieht, das unterscheidet sich von den Dingen, die innerhalb der Naturordnung erkennbar sind, um vieles mehr als welche Dinge auch immer innerhalb der Naturordnung voneinander. Wenn daher ein Engel nicht alles, was natürlicherweise erkannt wird, wegen der Unterschiedlichkeit dieser Dinge unter nur einer Form und zu gleicher Zeit erfassen kann, so kann er doch noch viel weniger in einer Bewegung sich gleichzeitig auf natürlich Erkennbares und gnadenhalber offenbartes Übernatürliches verlegen. Nun ist es aber offenkundig, daß die Bewegung des Engels zuerst auf das hingeht, was ihm wesensentsprechend ist, da er auf diesem Weg auch zu dem durchstoßen kann, was sein Wesen überragt, weshalb es angemessen ist, daß die Engel im ersten Augenblick ihres Geschaffenseins sich der eigenen Wesenserkenntnis zuwandten, nach der sie aber nicht sündigen konnten, wie sich aus dem oben Gesagten ergibt.202 Danach aber konnten sie sich dem zuwenden, was ihre Natur überstieg, oder sich davon abwenden. Deshalb waren also die Engel im ersten Augenblick ihres Geschaffenseins weder selig, wie durch die völlige Hinkehr zu Gott, noch sündig durch die Abkehr von ihm. Und so sagt Augustinus im 4. Buch von Über Genesis dem Wortlaut nach,203 daß es nach dem Abend des ersten Tages Morgen wurde, weil das geistige Licht, nämlich das Engelswesen, nach der Erkenntnis, daß es selbst Gott nicht wesensgleich ist, sich wieder zurückwendet und das Licht preist, das Gott selber ist, und durch dessen Anschauung es selbst auch gebildet wird. Zu 1. Augustinus legt im 11. Buch von Die Bürgerschaft Gottes dar, daß »der Teufel sündigt von Beginn an«204 heißen soll: er ver-

201 202 203 204

Vgl. a. 3. Vgl. a. 3. Augustinus, De Gen. ad litt. IV, 22 (PL 34, 312). Augustinus, De civ. Dei XI, 15 (CCSL 48, 335).

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bleibt von Anfang an in seiner Sünde. Einige andere205 aber legen aus, daß es heißen soll: sogleich von Anfang an sündigte er. Zu 2. Es heißt nicht etwa deshalb, daß der Teufel nicht in der Wahrheit verblieb, weil er nie in ihr war, sondern weil er nicht in ihr blieb, wie Augustinus im 11. Buch von Die Bürgerschaft Gottes aufzeigt.206 Zu 3. Daß ein Engel nicht im ersten Augenblick sündigen konnte, liegt weder am Fehlen irgendeines Vermögens, das später nachgereicht wurde, noch daran, daß seiner Vollendungsgestalt vor der Sünde etwas genommen wurde, sondern an der Handlungsordnung: Es wäre nämlich richtig gewesen, zuerst sein eigenes Wesen zu bedenken und dann am Übernatürlichen seine Ausrichtung zu nehmen, sei es durch Hinwendung oder Abkehr. Zu 4. Die Tätigkeit, die etwas am Beginn seines Daseins hat, entspricht seinem Wesen, und so muß sie dessen Hervorbringer angelastet werden. Danach aber konnten sich die Engel von dem, was ihrem Wesen entsprach, auf gute oder schlechte Weise auf anderes verlegen, und das ist nicht dem Hervorbringer des Wesens, sondern dem Willen der sündigenden Engel anzulasten. Zu 5. Der Wille vernunftbegabter Lebewesen hat eine bestimmte Grundausrichtung, dergemäß er in Bewegung gebracht wird, wie zum Beispiel jeder Mensch sein, leben und glücklich sein will.207 Das ist es, wonach sich ein Geschöpf im Verstehen oder Wollen zuerst natürlicherweise ausrichtet, da alle weiteren Tätigkeiten die natürliche voraussetzen. Hätte daher ein Engel im ersten Augenblick seines Geschaffenseins gesündigt, so würde das offenbar seiner Wesensbeschaffenheit entsprechen und könnte irgendwie auf den Hervorbringer dieser Wesen zurückverweisen. Zu 6. Einen Fehler, den eine Zweitursache hervorruft, kann man in den Hinsichten, die sie nicht von einer Erstursache hat, nicht dieser anlasten. So hat also der Beinknochen seinen Fehlwuchs nicht aus der Bewegungsfähigkeit erhalten. Nun muß es aber so sein, daß

205 Bonaventura, Super II Sententiarum d. 3 p. 1 a. 1 q. 2 ad 1. 206 Augustinus, De civ. Dei XI, 15 (CCSL 48, 335). 207 Vgl. Dionysius, De div. nom. IV, 23 (Dion. I, 282).

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die erste Tat der Engel ihrer Wesensanlage entspricht, und die haben sie von Gott. Daher taugt das nicht zu einer Folgerung. Zu 7. Dieses Argument ergibt sich aus der Annahme, daß die freie Willenstat der Engel aus einer ratschlagenden Überlegung heraus geschehen ist, muß man doch überlegend beratschlagen, welches von zwei Dingen, die man wählen könnte, geschehen soll, um es in Zukunft zur Ausführung zu bringen. Wenn aber die Überlegung der Wahl nicht vorangeht, so ist es gar nicht erforderlich, daß bevor jemand eine Wahl trifft, er das Vermögen zu wählen oder nicht zu wählen hat, sondern dann kann man sich frei auf dies oder jenes verlegen. Zu 8. – 9. – 10. Daher werden die Argumente acht, neun und zehn zugestanden. Zu 11. Wie die bösen Engel nicht im ersten Augenblick ihres Geschaffenseins, so waren auch die guten Engel nicht im ersten Augenblick ihres Geschaffenseins vollkommen glückselig. Daher trifft es nicht zu, daß sie schon vorweg ihrer künftigen Standhaftigkeit inne waren, genauso wenig wie die bösen Engel ihres Falles, bevor sie sündigten. Da jedoch die Glückseligkeit der Engel vor allem von Gott kommt, die Sünde hingegen aus dem freien Willen der Geschöpfe, hätte Gott die Engel im ersten Augenblick ihres Geschaffenseins glückselig machen können, indem er sie zum ihnen Übernatürlichen hin ausgerichtet hätte, da Gott sie doch in jenem Augenblick auch auf das ihnen Wesensgemäße ausgerichtet hatte, doch aus sich selbst heraus konnten sich Engel erst nach diesem ersten Augenblick falsch auf das ihnen Überwesenhafte verlegen. Zu 12. Die angesprochene Scheidung des Lichts vom Dunkel ist nicht nur als am Anfang der Dinge vollzogen zu sehen, sondern während der gesamten Zeit, um die es hier geht und in der die Guten von den Bösen geschieden werden. Das aber ist offenbar allegorisch aufzufassen, wie dort (von Augustinus) angeführt wurde,208 und daher schlägt er eine andere Auslegung vor, daß unter dem Licht die Ausgestaltung der ersten Geschöpfe zu verstehen sei, unter der Dunkelheit hingegen die Ungestaltheit der noch gestaltlosen Geschöpfe. Im 11. Buch von Die Bürgerschaft Gottes jedoch sagt er, daß damit 208 Augustinus, De Gen. ad litt. I, 17, 34 (PL 34, 259).

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die Scheidung der guten Engel von den bösen gemäß Gottes Vorwissen darum gemeint sei. Deswegen sagt er dort auch: »Nur er konnte all dies unterscheiden, der vor dem Fall wissen konnte, wer fallen würde«.209 Zu 13. Im 4. Buch von Über Genesis dem Wortlaut nach hat Augustinus offengelassen,210 ob die Engel all das gleichzeitig oder nacheinander erkannten, und ob für sie in jenen (sechs) Tagen Abend und Morgen abfolgend oder gleichzeitig waren. Wie dem auch sei, es ist zum Verständnis des Gemeinten genug, daß diese Scheidung der Tage gemäß der Erkenntnisweise der Engel aufzufassen ist, und nicht gemäß zeitlich vergehender Tage. Zu 14. Als sich die Engel im ersten Augenblick ihres Geschaffenseins an ihrer eigenen Wesensnatur ausrichteten, taten sie das gleichzeitig auch an Gott als dem Urheber ihres Wesens, da, wie im Buch von den Ursachen gesagt wird,211 ein Geistwesen in der Selbsterkenntnis auch seine Ursache erkennt. Doch dadurch wird es noch nicht auf Gott als Stifter seiner Gnade ausgerichtet. Zu 15. Sich selbst um Gottes willen zu lieben, insofern er Gegenstand übernatürlicher Glückseligkeit und Schenker der Gnade ist, ist eine Tat der Nächstenliebe. Gott über alles zu lieben und sich selbst um Gottes willen, insofern in ihm das wesensgemäße Gut jedes Geschöpfes liegt, entspricht nicht nur den vernunftbegabten Wesen, sondern auch den vernunftlosen Tieren und den unbelebten Körpern, insofern sie eine natürliche Liebe zum höchsten Gut teilen, wie Dionysius im 4. Kapitel von Über die göttlichen Namen sagt.212 Zu 16. Dieses Argument greift in drei Aspekten zu kurz: Erstens wurde der Mensch doch nicht vordringlich darum geschaffen, um den Fall des Engels auszugleichen, sondern um der Freude an Gott willen und um das Ganze der Wirklichkeit zu vervollkommnen, auch, wenn es den Engelfall nie gegeben hätte. Zweitens, weil der Mensch gemäß der Lehre des Augustinus,213 wenigstens dem 209 210 211 212 213

Augustinus, De civ. Dei XI, 19 (CCSL 48, 338). Augustinus, De Gen. ad litt. IV, 33–35 (PL 34, 317 ff.). Liber de causis prop. 8 (7). Dionysius, De div. nom. IV, 4 (Dion. I, 168). Augustinus, De Gen. ad litt. VI, 15 (PL 34, 349).

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Körper nach, im Sechstagewerk nicht wirklich, sondern nur dem anfänglichen Gedanken nach erschaffen wurde. Doch ist es nach Augustinus so, daß nur, was zunächst nicht in solchen anfänglichen Gedanken vorlag, sondern in sich selber war, am Beginn der Schöpfung geschaffen wurde. Drittens steht nichts der Annahme entgegen, daß etwas um eines künftigen Zweckes wegen geschieht, den der Mensch von vornherein weiß, wie wenn sich jemand schon im Sommer Holz für die kommende Winterkälte vorbereitet. Zu 17. Eine Regung freien Willens kann im Geiste augenblicklich stattfinden. Aus den oben dargelegten Gründen214 jedoch konnte es nicht der Augenblick seiner Erschaffung sein, daß er sich aus freiem Willen zur Sünde wendete. Zu 18. Obwohl die Engel im Augenblick ihrer Erschaffung sowohl Willensregungen wie Erkenntnisbewegungen hatten, so folgt daraus noch nicht, daß sie eine Willensregung hin zur Sünde hatten. Zu 19. Die Zeit des Engels bemißt sich nach der Ewigkeit. Aber die bemißt nicht seine Handlungen, die Abfolgen von Erkenntnissen und Willensregungen kennen, wie aus dem oben Gesagten hervorgeht.215 Zu 20. Verdienst und Sünde müssen sich nach unterschiedlichen Grundgedanken beurteilen lassen. Verdienst nämlich ergibt sich daraus, daß der Geist vernunftbegabter Geschöpfe von Gott angetrieben wird, der von Anfang an dorthin antreiben kann, wohin er möchte.216 Zur Sünde aber treibt sich der Geist der vernunftbegabten Geschöpfe, die sich nur gemäß ihrer natürlichen Bedürfnisse ausrichten, aus sich selbst heraus an. Zu 21. Die Seele vollführt Böses im ersten Augenblick ihrer Erschaffung nicht durch eigene Tätigkeit, sondern durch die Verbindung mit dem angekränkelten Körper. Daher muß das Argument bezüglich der Engel anders lauten, da sie nur durch eigene Tätigkeit böse werden konnten. 214 Vgl. Antwort. 215 Vgl. Antwort. 216 Vgl. Spr. 21, 1 und die Glosse des Petrus Lombardus zu Röm. 1, 24

(PL 191, 1332 A) aus Augustinus, De gratia et libero arbitrio 21, 43 (PL 44, 909).

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Zu 22. Dieses Argument greift in zwei Aspekten zu kurz: Erstens, weil, genauso wie ein Geschöpf ins Nichts fiele, wenn es nicht durch Gottes Macht erhalten würde, es auch ins Nichtgute abgleiten müßte, wenn es nicht durch Gott gehalten würde. Daß es sich allerdings der Sünde zuwenden würde, wenn es nicht von Gottes Gnade erhalten werden würde, folgt nur im Fall von verdorbenen Wesen, die eine Hinneigung zum Üblen haben. Zweitens, weil der Mensch nicht mit Notwendigkeit eines Gebots dazu gezwungen wird, sich stets der Gnade zu bedienen, da bejahende Gebote nicht zur ständigen Einhaltung zwingen und es daher nicht zwingendermaßen so ist, daß jemand in jedwedem Augenblick verdienstlich oder sündhaft handelt. Zu 23. Daß der Teufel als Eigentümlichkeit Lügen spricht, wird nicht deshalb gesagt, weil die Lüge seine wesensgemäße Eigenschaft ist. Vielmehr ist es so, daß er alles Wahre nicht von sich selbst aus, sondern von Gott hat, daß er aber Falsches spricht, das hat er von sich aus und nicht von Gott.

5. Artik el 217 Die fünfte Frage lautet: Kann sich der freie Wille in den Dämonen nach der Sünde wieder aufs Gute zurückbesinnen? Das scheint der Fall zu sein; denn: 1. Dionysius Areopagita sagt im 4. Kapitel von Über die göttlichen Namen,218 daß auch nach der Sünde alle natürlichen Gegebenheiten bei den Dämonen in Kraft bleiben. Nun konnte sich der Teufel vor der Sünde am Guten ausrichten. Und somit konnte er sich also auch nach der Sünde erneut am Guten wiederausrichten. 2. Nichts von dem, was der Natur zuwiderläuft, bleibt unveränderlich so, da alles Widernatürliche am Wesen nur als Nebenerscheinung auftritt, und das läßt sich unschwer wieder ablegen, da »das als Nebenerscheinung Auftretende dasein oder fehlen kann, ohne 217 Paralleltexte: Super libros Sententiarum II, d. 7 q. 1 a. 2; De ver. q. 24 a. 10; Sum. theol. I, q. 64 a. 2. 218 Dionysius Areopagita, De div. nom. IV, 23 (Dion. I, 281).

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das ihm Zugrundeliegende zu beeinträchtigen«.219 Nun ist aber die Sünde den Engeln naturwidrig, weil sie doch von einem ihnen wesensgemäßen Zustand in einen ihnen unwesensgemäßen fielen, wie Johannes Damascenus im 2. Buch (von Über den Glauben) sagt.220 Daher ist es nicht möglich, daß der freie Wille der Dämonen unveränderlich beim Bösen verweilt. 3. Dagegen wurde eingewandt, daß es dem Teufel aufgrund seiner besonderen Stellung zukommt, daß es ihm im Augenblick seiner Sünde zustößt, nicht mehr unterwegs zu sein,221 und also nicht mehr vom Guten zum Bösen oder umgekehrt streben zu können. − Dagegen spricht: So auf Wanderschaft zu sein ist die Voraussetzung dafür, daß es zu Belohnung und Bestrafung kommt, die von Gott erteilt wird. Das Verbleiben in der Sünde kann jedoch nicht von Gott kommen, da Gott nicht Erhalter dessen ist, was er nicht hervorgebracht hat. Daher ist es nicht möglich, daß das Verbleiben in der Sünde dem (gefallenen) Engel aufgrund der Lage, in der er sich jetzt befindet, zukommt. 4. Was auch immer etwas nicht an sich innewohnt, wohnt ihm aufgrund einer äußerlichen Ursache inne. Zu sündigen aber kommt den Engeln für sich genommen nicht zu, weil es ihnen dann wesensgemäß zukäme und sie somit wesensgemäß böse wären, was oben bereits widerlegt wurde;222 genausowenig kommt es ihnen aufgrund einer ihnen äußerlichen Ursache zu, also weder durch Gott noch ihr Wesen, wie bewiesen,223 noch ihren eigenen Willen, da der Wille der Geschöpfe veränderbar ist, und somit gibt es offenbar keinen Grund für diese Unveränderbarkeit. Also kann es dem Teufel keineswegs zukommen, unwiderruflich zu sündigen. 5. Augustinus sagt in seinem Buch Über rechte und falsche Buße224: »Wenn der Teufel in der Lage wäre, auf Gott zu hoffen und Schuld zu verspüren, würde er in Gottes Erbarmen das finden, 219 220 221 222 223 224

Porphyrius, Isagoge ›De accidenti‹ (Minio-Paluello, 20). Johannes Damascenus, De fide 2, 4 (ed. Buytaert, 75). Vgl. Wilhelm von Auxerre, Summa aurea III tr. 11 q. 2 (f. 195 vb). Vgl. a. 2. Vgl. a. 2. (Pseudo)Augustinus, De vera et falsa paenitentia V, 15 (PL 40, 1118).

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was er in sich selbst nicht vorfinden kann«, nämlich die Vergebung seiner Sünde. Nun kann der Teufel auf Gott hoffen, da Hoffnung genauso wie Furcht aus Glauben entsteht, steht doch in Jak. 4 (eigentlich 2, 19): »Die Dämonen glauben und zittern«. Deswegen ist es nicht unmöglich, daß der Teufel die Vergebung seiner Sünde erlangt und daß er nicht unabänderlich in seinen Sünden verharrt. 6. Wenn der Teufel nicht auf Gottes Gnade hoffen kann, dann doch entweder seinetwegen oder Gottes wegen. Auf Gottes Seite kann das aber nicht liegen, da doch, wie Augustinus im selben Buche sagt,225 alle Boshaftigkeit im Vergleich zu Gottes Barmherzigkeit gering ist. Wenn jedoch angenommen wird, es liege am Teufel selbst, da er nämlich nicht aus eigener Kraft aus der Sünde herauskommen kann, so würde dieses Argument doch gleichermaßen auf jeden zutreffen, der eine Todsünde begeht, weil niemand aus sich selbst heraus der Sünde entkommt, es sei denn, er würde von Gott davon befreit, gleichzeitig aber doch nicht alle, die eine Todsünde begehen, unwiderruflich im Bösen verharren. Also verbleibt der Teufel nicht unabänderlich im Bösen. 7. Es läßt sich doch folgendermaßen gültig schließen: Ich bin in der Lage zu laufen, wenn ich will, also bin ich in der Lage zu laufen. Nun kann der Teufel sich ja zum Guten hinkehren, wenn er will, da in diesem Wollen selbst die Hinwendung besteht. Daher kann sich der Teufel zum Guten bekehren. 8. Wenn Bewegung etwas natürliches ist, so folgt, daß auch Ruhe etwas natürliches ist, denn durch dieselbe natürliche Disposition, die etwas zu einem Ort in Bewegung bringt, bleibt es auch an dem Ort in Ruhe. Aus derselben Überlegung heraus ist die Ruhe willentlich, wenn es die Bewegung ist. Nun war die Bewegung des Teufels zum Bösen eine willentliche. Also verbleibt er auch willentlich im Bösen und somit nicht aus Notwendigkeit. 9. Nach der Predigt über das Johannesevangelium des Johannes Chrysostomus226 verhält sich das ungeschaffene (göttliche) Licht zu 225 (Pseudo)Augustinus, De vera et falsa paenitentia V, 15 (PL 40, 1118). 226 Eigentlich Johannes Scotus, Homilia in prologum Sancti Iohannis

(PL 122, 290 C–D), welche Predigt fälschlicherweise Johannes Chrysostomus zugeschrieben wurde.

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den Geistwesen wie das Sonnenlicht zur Luft. Je sauberer aber die Luft, desto intensiver kann sie das Sonnenlicht durchdringen. Nun sind unter den Geistwesen die Engel reinere Wesenheiten als die Seele. Da jedoch die Seele auch nach der Sünde das Licht der Gnade empfangen kann, so doch offenbar noch viel mehr die Engel. Und so scheint es, daß sie nicht unabänderlich im Bösen verharren. 10. Wie etwas wesensgemäß beschaffen ist, so ist es immer. Nun eignet es den Engeln wesensgemäß, sich zum Guten hinkehren zu können. Also können sie sich immer zum Guten hinkehren, vor dem Sündenfall genauso wie danach. 11. Der Teufel zog keinen Gewinn aus seiner Sünde. Vor der Sünde war er jedoch zur Hinwendung zu Gott gehalten und also auch nach der begangenen Sünde. Nun wird niemand zu etwas Unmöglichem angehalten.227 Daher ist es nicht unmöglich, daß der Teufel sich zu Gott bekehrt. Und damit scheint es so, daß er nicht unabänderlich in der Sünde verbleibt. 12. Je geringer ein Bewirkendes ist, desto stärker ist es auf eines hin festgelegt. So sind schwere und leichte Körper viel mehr auf eine Bewegungsart festgelegt als die Vernunft, die sich auf Verschiedenstes verlegen kann. Nun steht die Seele der natürlichen Ordnung nach unter den Engeln. Weil aber die Seele nicht in der Art auf eines hin festgelegt ist, daß sie sich nicht auch nach begangener Sünde wieder zum Guten zurückbekehren könnte, so scheinbar doch noch sehr viel weniger die Engel. 13. Ein untergeordnetes Streben kann durch ein höheres gelenkt werden, wie etwa in uns selbst das sinnliche Streben durch das vernünftige gesteuert wird, wie im 3. Buch von Über die Seele228 steht. Nun gibt es auch über dem Streben der Dämonen ein anderes höheres, nämlich das Gottes und der guten Engel. Also kann auch das Streben der Dämonen, die nach Bösem trachten, zum Guten hin gelenkt werden. 14. Alles wendet sich von Natur aus dem Besseren zu. Nun versteht der Teufel, daß das göttliche Gute besser ist als sein eigenes, 227 Vgl. Digesta L titulus 17 lege 185 (Mommsen 873), und Decretalia V 12, 6 (ed. Friedberg II, 1122). 228 Aristoteles, De an. III, 10 [16]; 434 a 12–15.

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und daher kann er sich zum göttlichen Guten auch hinwenden. Er verbleibt mithin nicht unabänderlich in der Abkehr von Gott, die ihm zum Schlechten ausschlägt. 15. Die Veränderung seines Status nimmt dem Teufel seine freie Entscheidungsfähigkeit nicht weg, da sie ihm wesensgemäß eignet. Nun kommt es dem freien Willen an sich zu, sich dem Guten zuzuwenden, da sündigen zu können nicht zum freien Willen gehört noch auch ein Teil der Freiheit ist, wie Anselm von Canterbury sagt.229 Die Veränderung seines Status nimmt es dem Teufel also nicht weg, sich zum Guten hinwenden zu können. 16. Bevor der Teufel sündigte, konnte er sich dem Guten zuwenden. Wenn er es nach begangener Sünde nicht mehr kann, so kommt das durch irgendeinen Verlust zustande oder durch irgendeine Zugabe. Durch einen Verlust aber nicht, da die wesensgemäßen Vermögen, wie auch die übrigen wesenseigenen Gaben, bei ihm keine Einbuße erleiden, wie Dionysius sagt.230 Und genauso wenig durch eine Zugabe, weil, was immer jemandem zugegeben wird, ihm nach seiner eigenen Art und Weise zu sein geschenkt wird. Da nun der freie Wille den Engeln als ein für sich genommen veränderlicher gegeben ist, so ergibt sich offensichtlich, daß das, was ihnen als Zugabe geschenkt wird, ihnen als veränderbar zugegeben wird. Daher verbleiben sie nicht unabänderlich im Bösen. 17. Der Wille ist im Verhältnis dem Verstand angemessen, von dem er in Bewegung gesetzt wird. Der Verstand der Engel aber begreift nicht etwas in der Art, daß er nicht auch etwas anderes begreifen könnte, und daher wollen sie auch nicht dergestalt, daß sie nicht auch umkehren und etwas anderes wollen könnte. Also verbleibt der Teufel nicht unabänderlich im Bösen. 18. Dionysius sagt im 4. Kapitel von Über die göttlichen Namen,231 daß die Dämonen das Gute sowohl verstehen als auch wollen. Zu ihrer Bekehrung scheint es doch nun aber offenbar nichts weiteren zu

229 Anselm von Canterbury, De libero arbitrio 1 (ed. Schmitt I, 208). 230 Dionysius Areopagita, De div. nom. IV, 23 (Dion. I, 282), wie in

Thomas, De ver. q. 24 a. 10 arg. 14 gesagt wird. 231 Dionysius Areopagita, De div. nom. IV, 23 (Dion. I, 282).

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bedürfen, als daß sie dem willentlich zustimmen. Daher scheint es, daß sie sich wiederum zum Guten zurückwenden können. 19. Anselm von Canterbury sagt,232 wenn die Dämonen freien Willen haben, dann so, daß sie durch ihn die Rechtschaffenheit bewahren können, oder, daß sie sie verlassen können, oder so, daß sie sie wiedererlangen können. Es kann aber nicht sein, daß sie ihn haben, um sie zu bewahren, da sie sie ja nicht haben. Aber auch nicht insofern sie sie verlassen können, da dies zur Fähigkeit zu sündigen gehört, was kein Aspekt der Freiheit ist. So bleibt allein, daß sie den freien Willen haben, insofern er das Vermögen darstellt, die Rechtschaffenheit wiederzuerlangen. Und daher verbleiben sie nicht unabänderlich im Bösen. 20. Was auf selbe Weise Schaden genommen hat, kann auch auf selbe Weise wieder instand gesetzt werden. Nun hat der Teufel auf dieselbe Weise Schaden genommen wie viele Menschen, die aus gleicher Ursache sündigen, nämlich aus Bosheit.233 Da Menschen jedoch Wiederherstellung erfahren können, so könnten das auch die Dämonen. 21. Wie das Strebensvermögen sich zu gut und böse verhält, so der Verstand zu wahr und falsch. Doch gibt es keinen Verstand, der so dem Falschen verhaftet ist, daß er nicht zum Wahren zurückkehren könnte. Daher ist der Wille des Teufels nicht so dem Bösen verhaftet, daß er nicht zum Guten zurückfinden könnte. Dagegen spricht: 1. In Joh. 3, 18 steht: »Der Teufel sündigt von Beginn an«. Und Augustinus sagt in seiner Erklärung dieser Stelle in Die Bürgerschaft Gottes,234 daß der Teufel seit Beginn seines Sündigens für immer sündigt. 2. Gregor der Große sagt im 34. Buch seiner Moralschriften235: 232 Anselm von Canterbury, De libero arbitrio 3 (ed. Schmitt I, 212). 233 Vgl. Isidor, De summo bono (= Sententiae) II, 17, 3 (PL 83, 620 A),

aus Gregor der Große, Moralia XXV, 11, 28 (PL 76, 339 A). Vgl. Petrus Lombardus, Sententiae II, d. 22 c. 4 n. 11. 234 Augustinus, De civ. Dei XI, 15 (CCSL 48, 335). 235 Gregor der Große, Moralia XXXIV, 6, 11 (PL 76, 723 D).

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»Das Herz des alten Widersachers wird zu Stein verhärtet, da es nie mehr durch irgendeine umkehrende Buße erweicht wird«. 3. Engel befinden sich zwischen Gott und Menschen. Nun hat Gott einen unabänderlichen freien Willen vor und nach der Wahl, der Mensch hat ihn abänderbar davor und danach, also hat ihn der Engel nach einer Art zwischen diesen, nämlich abänderbar vorher, aber nicht nachher. Denn das Gegenteil ist ja unmöglich, daß er also abänderbar danach sei, aber nicht vorher. Also kann sich ein Engel nach der Wahl der Sünde nicht wieder zum Guten zurückwenden. Antwort: In dieser Frage irrte Origenes, der vermeinte, daß sich der freie Wille jedes Wesens in jeder beliebigen Situation aufs Gute oder Schlechte wenden könne.236 Daher dachte er, daß auch die Dämonen irgendwann durch ihren freien Willen zum Guten zurückkehren und durch Gottes Gnade die Vergebung ihrer Sünden erlangen könnten. Augustinus sagt jedoch im 21. Buch von Die Bürgerschaft Gottes237: »Die Kirche hat Origenes deswegen und wegen nicht weniger anderer Aussagen zurechtgewiesen. Denn er gab selbst jeden Anschein von Mitleid auf, indem er den Heiligen ein wahres Elend bereiten wollte, wodurch sie Sündenstrafen abzuleisten hätten, und falsche Glückseligkeit, worin sie keine wahrhaftige und unumstößliche, das heißt furchtlos sichere Freude am ewigen Guten hätten«. Aus derselben Überlegung heraus lehrte er nämlich,238 daß auch die guten Engel und Menschen irgendwann aus freiem Willen sündigen und so aus der Glückseligkeit herausfallen könnten, was doch offensichtlich dem Herrenwort (Mt. 25, 46) zuwiderläuft: »Jene werden in ewige Strafe eingehen, die Gerechten aber ins ewige Leben«. Diese Fehleinschätzung des Origenes, so muß man wissen, kommt daher, daß er nicht richtig bedachte, was von sich aus dem Vermögen des freien Willens zukommt und ohne was er in keiner Bedingungslage vorkommt. So ist zu beachten, daß es zur Wesenseigenschaft 236 Die Ansicht des Origenes findet sich wiedergegeben im folgenden Zitatbeleg des Augustinus aus De civitate Dei. 237 Augustinus, De civ. Dei XXI, 17 (CCSL 48, 783). 238 So Augustinus an selber Stelle.

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des freien Willens gehört, sich auf Verschiedenes verlegen zu können. Daher tun Dinge ohne Begriffsvermögen, deren Aktivität auf Eines hin bestimmt ist, nichts aus eigener Wahl. Die unvernünftigen Lebewesen tun das gewissermaßen schon, aber nicht aus freier Wahl, denn die Entscheidung, die sie etwas anstreben oder vermeiden läßt, wird ihnen von der Natur dergestalt vorgegeben, daß sie sich nicht dagegen verhalten können: So kann zum Beispiel das Schaf nicht nicht vor dem Wolf davonlaufen, wenn es ihn sieht.239 Alles aber, was über Verstand und Vernunft verfügt, handelt aus freiem Willen, insofern nämlich seine Handlungswahl sich aus dem Begreifen seines Verstands oder seiner Vernunft ergibt, das sich auf Vieles verlegen kann. Daher kommt es dem freien Willen wie gesagt als Wesenseigenschaft zu, sich auf Verschiedenes verlegen zu können. Dieses Verschiedene läßt sich nun auf dreierlei Weise auffassen: Einmal in Anbetracht der Verschiedenheit der Mittel, die dem Handlungszweck dienen sollen. Allem nämlich kommt ein Ziel zu, dem es mit natürlicher Notwendigkeit zustrebt, da die Natur doch immer zu einem hinstrebt.240 Gegeben jedoch, daß vieles auf ein Ziel hin ausgerichtet sein kann, kann das Streben eines Verstandesoder Vernunftwesens sich doch auf vieles verlegen und das aussuchen, was dem Ziel dient. Auf diese Weise kann auch Gott lediglich seine Gutheit als sein eigenes wesensgemäßes Ziel wollen und es nicht nicht wollen. Da sich jedoch verschiedene Arten von Dingen und deren Stufungen auf sein Gutes ausrichten können, so ist sein Wille nicht so auf eine seiner Wirkungen festgelegt, daß er sich nicht auch, soviel es an ihm liegt, auf etwas anderes verlegen könnte. Und insofern kommt Gott Willensfreiheit zu. Ähnlich haben auch die Engel und Menschen die Glückseligkeit als ihnen vorgegebenes Ziel. Deswegen streben sie ihr wesensgemäß nach und können nicht ihr Elend wollen, wie Augustinus im 8. Buch von Über die Dreifaltigkeit sagt.241 Da aber verschiedene Dinge zur Glückseligkeit dienen 239 Das Beispiel ist von Avicenna, u. a. De anima I c. 5 (ed. van Riet, 86) und IV, 1 (ed. van Riet, 7), c. 3 (ed. van Riet, 38). 240 Vgl. Aristoteles, Met. IX, 2; 1046 b 5–6. 241 Augustinus, eigentlich De Trin. XIII, 3 (PL 42, 1018), wie Thomas in Sum. theol. I–II q. 5 a. 8 sagt.

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können, kann sich der Wille sowohl des Menschen wie auch der guten oder bösen Engel bei der Auswahl dessen, was diesem Ziel zuträglich ist, auf Verschiedenes verlegen. Die zweite Unterschiedlichkeitserwägung, die für den freien Willen in Frage kommt, ergibt sich gemäß dem Unterschied von gut und böse. Dieser Unterschied jedoch gehört nicht an sich zum Vermögen des freien Willens, sondern verhält sich zu ihm eher als etwas Beiläufiges, insofern er sich bei Wesen findet, die fehlen können. Da nämlich der Wille von sich aus auf das Gute als seinen eigentlichen Strebensgegenstand ausgerichtet ist, kann die Tatsache, daß er sich auf Böses verlegt, nur so zustande kommen, daß er das Böse wie etwas Gutes ansieht. Das ist aber einem Fehlgehen des Verstandes oder der Vernunft anzurechnen, woraus sich diese Wahlfreiheit dann ergibt, wohingegen es ja aber nicht zur Wesensbestimmung eines Vermögens gehört, daß es in seiner Ausführung versagt, wie es zum Beispiel auch nicht zum Wesensbegriff des Sehsinns gehört, daß jemand bloß trüb sieht. Und daher steht der Annahme nichts entgegen, daß es einen freien Willen gibt, der so sehr dem Guten zustrebt, daß er auf keinen Fall dem Bösen zuneigt, sei es wesensgemäß, wie bei Gott, oder durch Vervollkommnung dank seiner Gnade, wie bei Menschen oder Engeln in der Glückseligkeit. Die dritte Unterschiedlichkeitserwägung, die für den freien Willen in Frage kommt, ergibt sich gemäß der Unterschiedlichkeit durch Veränderung. Damit ist nicht gemeint, daß eine Person Verschiedenes wollen kann, will doch auch Gott Verschiedenes je nach der Zuträglichkeit für verschiedene Zeiten und Menschen geschehen lassen. Die Veränderungen im freien Willen bestehen hingegen darin, daß jemand genau dasselbe und zu einer Zeit nicht wollte, was er vordem wollte, oder jetzt will, was er vorher nicht wollte. Das ist aber kein Wesensmerkmal des freien Willens, sondern eine unwesentliche Beigabe aus der Veränderbarkeit seiner Natur, ähnlich wie es kein Wesensmerkmal des Sehvermögens ist, auf verschiedene Weisen zu sehen, und doch geschieht es manchmal je nach Befindlichkeit des Sehenden, dessen Augenlicht mal klar, mal gestört sein kann. Vergleichbar ist es beim freien Willen: seine Veränderbarkeit oder Verschiedenhaftigkeit ist ihm nicht wesensgemäß, sondern stößt ihm bloß aufgrund der Einbettung in eine veränderbare Natur zu. Nun

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ändern sich unsere freien Willensäußerungen aus inwendigen und aus äußeren Gründen: wegen inwendigen etwa aus Vernunftgründen, weil jemand zum Beispiel vorher etwas nicht wußte aber später, oder aus Strebensgründen, da das Streben durch Leidenschaft oder Gewohnheit bisweilen so in eine Richtung gedrängt wird, daß man sich auf etwas, das einem zuträglich ist, verlegt, was man bei Abklingen der Leidenschaft oder Gewohnheit als unzuträglich erkennt. Oder eben aufgrund äußerer Verursachung, wie etwa dann, wenn Gott den Willen des Menschen gnadenhalber vom Bösen aufs Gute verlegt, ganz gemäß der Aussage von Spr. 21, 1: »Das Herz des Königs ist in Gottes Hand, und er wendet es, worauf er will«.242 Diese Doppelursache ist jedoch bei den Engeln nach ihrer ersten Wahlentscheidung hinfällig. Zunächst nämlich sind sie unabänderbar auf das ausgerichtet, was zur Naturordnung gehört, da Veränderung sich in den Dingen findet, die durch Möglichkeit bestimmt ist, wie im 3. Buch der Physik steht.243 Nun entspricht es der Engelsnatur, daß sie vollzogene Kenntnis all dessen besitzt, was sie wesensgemäß wissen kann, genauso wie wir Menschen ein immer schon vorhandenes Wissen der ersten Denkprinzipien aufweisen, von denen aus unsere Überlegung zum Erkenntnisgewinn weiterschließt. Das ist bei den Engeln nicht so, da sie in den Prinzipien selbst alle Schlüsse daraus unmittelbar mitbegreifen, sofern sie ihrer wesensgemäßen Erkenntnisart entsprechen. Daher verhält sich ihr Verstand unveränderbar gegenüber allem, was sie wesensgemäß begreifen, genauso wie unser Begriffsvermögen gegenüber den grundlegenden Denkprinzipen. Weil nun aber der Wille in Verhältnismäßigkeit zum Verstand steht, ergibt sich, daß auch der Wille der Engel sich natürlicherweise als unabänderbar erweist gegenüber dem, was der Naturordnung entspricht. Wahr ist hingegen auch, daß die Engel Veränderungsvermögen in der Ausrichtung gegenüber den übernatürlichen Dingen aufweisen, also in der Hinkehr oder Abkehr diesen gegenüber. Deswegen kann es bei ihnen nur die eine Veränderung geben, daß sie sich von ihrer eigenen naturgemäßen Wesensstufe 242 So Thomas auch in Sum. theol. I, q. 83 a. 1 arg. 3, q. 111 a. 2 sed contra, I–II, q. 6 a. 4 ad 1, De ver. q. 22 a. 8 arg. 1. 243 Aristoteles, Phys. III, 3; 201 b 31–32.

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wegbewegen zu etwas, das jenseits ihrer Natur liegt, sei es durch Hinwendung oder Abkehr. Da jedoch alles, was einem Ding zugegeben wird, ihm gemäß seiner Wesensbeschaffenheit geschenkt wird, ergibt sich, daß die Engel in ihrer Hinkehrhaltung oder Abkehrhaltung hinsichtlich der übernatürlichen Güter verbleiben. Betreffs der außeneinwirkenden Gründe verbleiben die Engel nach ihrer ersten Entscheidung unveränderbar im Guten oder im Bösen, da sie damit ihre Wanderschaft zu Gott beendet haben. Es gehört damit nicht mehr zur Wesensaufgabe der göttlichen Weisheit, daß den Dämonen noch weiterhin Gnade zuteil werde, die sie vom Bösen der ersten Abkehr zurückbringe, in der sie unwiderruflich verbleiben. Und so kommt es, daß sie dennoch in allem sündigen, obwohl sie aus freiem Willen wählen, da in jeder ihrer Entscheidungen die Macht ihrer ersten Entscheidung weiterbesteht. Zu 1. Bei den Dämonen sind die wesensentsprechenden Güter unbeschadet, das heißt zumindest, was die natürliche Ordnung betrifft. Sie sind aber verdorben, verschlechtert oder vermindert was ihr Vermögen in bezug auf Gnade und Gottes Herrlichkeit angeht. Zu 2. Daß die Sünde naturwidrig ist, liegt nicht an dem, was der Sünder anstrebt, sondern an der Falschausrichtung, die am Bösen der Sünde Schuld trägt. Daher steht nichts der Annahme entgegen, daß ein Sünder in dem, was er mit der Sünde erstrebt, verbleibt. Zu 3. Gott ist Ursache für den Status der Engel, demgemäß sie halsstarrig im Bösen verharren, doch nicht als Urheber oder Bewahrer der Boshaftigkeit, sondern dadurch, daß er seine Gnade nicht weiter aufrechterhält. Auf diese Weise wird auch davon gesprochen, er verhärte den Sinn einiger, gemäß Röm. 9, 18: »Er erbarmt sich, wessen er will, und wen er will, verhärtet er«. Zu 4. Es entspricht dem Teufel nicht nur aus einem Grund, unveränderlich im Bösen zu verbleiben, sondern aus zwei: Denn ins Böse verfallen zu sein, ist seinem eigenen Willen anzulasten, daß er aber in dem, worauf er seinen Willen verlegt hat, verbleibt, ist seiner Wesensbeschaffenheit anzurechnen. Zu 5. Im eigentlichen Sinne kann der Teufel keine Schuld verspüren, das heißt nicht so, daß er das Schuldhafte seiner Sünde als Übel begriffe und davon abgestoßen würde, da dies ja einer Änderung

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seines freien Willens entspräche. Er kann mithin keine Vergebung von Gott erwarten, als handelte es sich um eine Schuldtat. Zu 6. Der Teufel kann sich nicht nur nicht − genauso wenig wie der Mensch das kann − aus eigener Kraft aus der Sünde erheben, sondern es betrifft ihn außerdem noch, daß er unabänderbar in dem verbleibt, was er aus eigenem Willensantrieb wählt. Daher ist seine Sünde in höherem Maße unheilbar als die des Menschen. Zu 7. Wenn ich sage »Ich kann laufen, wenn ich will«, ist die Voraussetzung in diesem Satz etwas Mögliches, und daher auch das, was daraus folgt; wenn ich jedoch sage »der Teufel kann sich zum Guten bekehren, wenn er will«, so ist die Voraussetzung etwas Unmögliches, wie aus dem bereits Gesagten244 hervorgeht, und daher handelt es sich um eine unterschiedliche Argumentation. Zu 8. Wie die Abkehrbewegung des Teufels weg von Gott willentlich war, so ist es auch sein Verbleiben in dem, was er gewollt hat, verharrt er doch willentlich im Bösen. Trotz allem also verharrt sein Wille aus dem genannten Grund245 unabänderlich im Bösen. Zu 9. Geistwesen werden vom ungeschaffenen Licht auf zweierlei Weise durchdrungen: einmal durch natürliches Licht, und in diesem Fall werden die guten Engel heller erleuchtet als die Seele; zweitens durch das Licht der Gnade, und in diesem Fall sind die bösen Engel wegen der Gnadenverweigerung, die sich wie gesagt246 unveränderbar bei ihnen findet, der Lichtdurchdringung weniger fähig. Zu 10. Der freie Willensentschluß des Teufels läßt sich in bezug auf das, was ihm wesensgemäß ist, natürlicherweise nicht umkehren, sondern da gibt es nur eine Entscheidungsmöglichkeit in Hinblick auf die übernatürlichen Dinge, zu denen er sich hinwenden oder von denen er sich abwenden kann. Wenn er das aber einmal getan hat, so verbleibt er unabänderlich in seiner Entscheidung, wie schon gesagt wurde.247 Zu 11. Auch Betrunkene sind doch gehalten, nicht zu sündigen. Zwar nicht unbedingt angesichts ihrer augenblicklichen Verfassung, 244 245 246 247

Vgl. Antwort. Vgl. Antwort. Vgl. Antwort. Vgl. Antwort.

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doch in Anbetracht dessen, daß ihre Trunkenheit auf Freiwilligkeit beruht, weshalb ihnen auch bestimmte Fälle von Schuld angelastet werden. Genauso läßt sich verstehen, daß der Teufel eigentlich gehalten wäre, sich zu Gott zu bekehren, obwohl ihm das seinem jetzigen Zustand nach unmöglich ist, denn schließlich liegt der Grund, der ihn in seine jetzige Verfassung gebracht hat, bei ihm selbst. Zu 12. Alles geringere ist in höherem Maße auf eines hin festgelegt soweit es die Ausrichtungsgegenstände betrifft, weil sich höhere Kräfte auf mehreres verlegen können. Aufgrund seiner Unveränderlichkeit jedoch kann sich auch das Höchste nur auf eines festlegen, und daher sitzt der freie Wille des Teufels auch aufs Böse hin fest. Zu 13. Nur Gott kann den Willen bewegen, und er könnte dank seiner Machtvollkommenheit auch den Willen des Teufels zum Guten hin abändern. Was aber wie gesagt248 mit des Teufels Wesen nicht zusammenpaßt. Daher gibt es hier keine Vergleichsmöglichkeit mit dem Sinnesstreben, das seiner ganzen Wesensart nach veränderbar ist. Zu 14. Der Teufel begreift zwar, daß das göttliche Gute als Quelle alles natürlich Guten besser ist als das, was er selbst als sein eigenes Gut vorzuweisen hat, nicht aber, daß es das auch als Ursprung alles gnadenhalber geschenkten Guten ist. Deswegen verbleibt er auch in seiner verkehrten Grundentscheidung, durch die er die höchste Glückseligkeit aus wesenseigener Kraft erringen wollte. Zu 15. Die Dämonen haben durch ihre Zustandsveränderung den freien Willen nicht so verloren, daß sie sich nicht mehr auf das ihrem natürlichen Wesen entsprechende Gute verlegen könnten, jedoch so, daß sie sich nicht mehr auf die Gnadengüter verlegen können. Zu 16. Das unabänderliche Verbleiben des Teufels im Bösen hat seinen Grund in seiner Anhänglichkeit an das Böse, was den Charakter einer Beifügung (zu seinem ursprünglichen Zustand) hat. Weil der Teufel nun Dingen gemäß seiner Wesensbeschaffenheit anhängt, so folgt daraus doch vielmehr, daß er sich ihnen eher unabänderlich verschreibt als abänderlich. Zu 17. Das Strebensvermögen des Teufels kann sich sehr wohl auf verschiedenes verlegen, wie schon gesagt wurde. Dennoch verbleibt 248 Vgl. Antwort.

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er in allem, was er erstrebt, unverrückbar im Bösen, wie aus dem bereits Gesagten249 hervorgeht. Zu 18. Das Argument bezieht sich hier auf die Erkenntnis und das Wollen des natürlichen Guten. Jetzt aber sprechen wir über das Gute als Gnadengeschenk und das Übel der Schuld, das ihm entgegensteht. Zu 19. Der Teufel verfügt über die Freiheit, seine Rechtschaffenheit zu bewahren, das heißt, wenn er sie hätte. Wie nämlich Anselm im genannten Werk sagt250: Der freie Wille hat es immer in seiner Macht, die Rechtschaffenheit einzuhalten, ob er sie nun hat oder nicht, genauso wie jemand es in seiner Macht stehen hat, Geld anzusparen, wenn er denn welches hätte, auch wenn er es in Wirklichkeit nicht hat. Zu 20. Obwohl ein Mensch vielleicht aus demselben Grund sündigen kann, aus dem auch der Teufel gesündigt hat, so wird er doch nicht aufgrund dessen in ähnlicher Weise ganz in Mitleidenschaft gezogen: vielmehr wird es der Teufel auf unabänderliche Weise, der Mensch aber auf wieder veränderbare, ganz so, wie es der jeweiligen Natur beider entspricht. Zu 21. Genauso wie der Teufel unabänderbar im Bösen, auf das er sich versteift, verbleibt, so besteht er auch unabänderbar auf dem Fehler, dem er seine Zustimmung gegeben hat.

6. Artik el 251 Die sechste Frage lautet: Ist das Verstandesvermögen des Teufels nach der Sünde so verdunkelt, daß in ihm Irrtum oder Täuschung stattfinden kann? Das scheint der Fall zu sein; denn: 1. Vom Leviathan, unter dem man doch den Teufel zu verstehen hat, heißt es252: »Er denkt, der Abgrund wird an ein Ende kommen«. 249 250 251 252

Vgl. Antwort. Anselm, De libero arbitrio 12 12 (ed. Schmitt I, 224). Paralleltexte: Sum. theol. I, q. 58 a. 5; ScG III, 108. Hiob 41, 13.

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Was Gregor der Große im 34. Buch seiner Moralschriften253 folgendermaßen auslegt: »Daß einer glaubt, der Abgrund käme zu einem Ende, heißt soviel wie: Er denkt, die ewigen Strafen, die der Himmel auferlegt, würden eines Tages ein Ende finden«. Doch das ist falsch. Also hat der Teufel falsche und irrige Ansichten. 2. Wer zweifelt, kann auch irren. Nun zweifelt der Teufel aber manchmal, was aus dem hervorgeht, was er selbst in Mt. 4, 3 sagt: »Falls du der Sohn Gottes bist, dann sage diesen Steinen, sie sollen zu Brot werden«. Also kann der Teufel auch irren. 3. Dagegen wurde eingewandt, daß der Teufel in bezug auf die Erkenntnis des gnadenhaft Gegebenen irren kann, nicht aber in bezug auf seine naturgemäße Erkenntnis. − Dagegen spricht: Dionysius Areopagita sagt im 4. Kapitel seiner Schrift Über die göttlichen Namen254: »Wir halten fest: Die ihnen (nämlich den Dämonen) verliehenen engelhaften Güter wurden nie abgeändert, sondern verbleiben unberührt und gänzlich strahlend, obwohl sie selbst das nicht sehen und sich den eigenen Kräften zur Einsicht des Guten verschließen.« Einer aber, der aus dem Grund nicht sieht, daß er die Augen verschließt, kann getäuscht werden und irren. Also kann der Teufel auch bezüglich seiner naturgemäßen Güter im Irrtum sein. 4. Wo auch immer ein Vermögen ohne Wirklichkeitsumsetzung vorfindbar ist, kann es auch Übles geben, wie aus dem 9. Buch der Metaphysik255 des Aristoteles hervorgeht. Nun kann das Verstandesvermögen der Engel sogar in bezug auf ihre natürliche Erkenntnis ein Vermögen ohne aktivierte Umsetzung sein, da die Engel nämlich nicht gleichzeitig all das bedenken, worauf sich ihre natürliche Erkenntnis erstreckt − sonst würden sie sich über die Zeit hin nicht verändern, wie Augustinus im 8. Buch von Über Genesis dem Wortlaut nach sagt.256 Und daher kann im Verstand der Engel Böses sein. Das Übel des Verstandes jedoch ist das Falsche, wie im 7. Buch der Nikomachischen Ethik steht.257 Obwohl also der Teufel eine En253 254 255 256 257

Gregor der Große, Moralia XXXIV, 19, 34 (PL 76, 737 D). Dionysius Areopagita, De div. nom. IV, 23 (Dion. I, 281–282). Aristoteles, Met. IX, 10; 1051 a 19–21. Augustinus, De Gen. ad litt. VIII, 20 (PL 34, 388). Aristoteles, Eth. Nic. VI, 2; 1139 a 27.

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gelsnatur hat, steht nichts der Annahme entgegen, daß in seinem Verstand eine falsche Meinung Platz haben kann. 5. Der Wille des Teufels konnte durch Sünde fehlerhaft werden, da er aus nichts erschaffen wurde, wie aus dem 12. Buch von Die Bürgerschaft Gottes258 des Augustinus hervorgeht. Ähnliches gilt aber auch für das Verstandesvermögen des Teufels. Und daher kann er aus vergleichbaren Gründen aufgrund eines Irrtums fehlen. 6. Die Sünde schließt von der Glückseligkeit aus. Die Glückseligkeit jedoch ist eher Sache des Verstandes als des Willens, ganz nach Joh. 17, 3: »Das ist das Ewige Leben, daß sie dich als Gott erkennen« usw. Da nun der Wille des Teufels durch die Sünde derartig beeinträchtigt ist, daß er ständig in Sünde verbleibt, so ist es der Verstand des Teufels umso mehr und verbleibt für immer in Sünde. 7. In seiner Schrift Über die Wahrheit 259 zeigt Anselm von Canterbury, daß es nur eine einzige Wahrheit gibt, nämlich die ungeschaffene. Auch Augustinus sagt, daß alles im Lichte Gottes gesehen wird.260 Nun sind die Dämonen von jeder Teilhabe an Gott ausgeschlossen, nach dem Ausspruch in 2 Kor. 6, 14: »Was haben Licht und Dunkel gemeinsam?«. Also können die Dämonen keine Wahrheit erkennen. 8. In bezug auf Hiob 41, 24, »Er wurde dazu geschaffen, sich vor nichts zu fürchten«, sagt Gregor der Große im 34. Buch seiner Moralschriften261 über den Teufel: »Er verwandelte sein Streben nach Bessersein in eine Verhärtung des Geistes, so daß er, der an Herrlichkeit allen vorstehen wollte, schon gar nicht mehr merkt, daß er falsch gehandelt hat«. Nun steht es aber doch fest, daß er falsch gehandelt hat. Also hat er eine falsche Meinung über sich selbst. 9. Jeder, der etwas für falsch hält, was er vorher einmal für richtig hielt, irrt beim einen oder beim anderen Mal. Das trifft nun aber auf den Teufel zu. Denn über die Stelle (Mt. 27, 19) »Als er [Pilatus] der Gerichtsversammlung vorsaß, sandte seine Frau nach ihm«

258 259 260 261

Augustinus, De civ. Dei XII, 8 (CCSL 48, 362). Anselm von Canterbury, De veritate 13 (ed. Schmitt I, 196–199). (Pseudo)Augustinus, De spiritu et anima 12 (PL 40, 788). Gregor der Große, Moralia XXXIV, 21, 41 (PL 76, 741 A).

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usw. sagt die Glosse262: »Nachdem der Teufel am Anfang den Tod durch eine Frau gebracht hatte, so begreift er hier letzten Endes auch, daß er jetzt durch Christus seiner Beute beraubt werden würde, und will nun ebenfalls durch eine Frau Christus aus der Hand der Juden befreien, damit er nicht seine Macht über den Tod durch Christi Tod verliere«. Wie daraus ersichtlich, schien es dem Teufel zu einem Zeitpunkt, als er auf den Tod Christi hinarbeitete, für sich vorteilig, daß dieser sterbe, danach aber erschien es ihm, daß das seiner Herrschaft doch nicht zuträglich wäre. Also ist es offenbar so, daß er zu irgendeinem Augenblick eine falsche Meinung vertrat. 10. In seinem Buch Über die wahre Religiosität 263 schreibt Augustinus: »Man muß sich vor den unteren Höllenregionen fürchten«, das heißt den schlimmeren Strafen nach diesem Leben, »wo es keine Erinnerung mehr an die Wahrheit gibt, da es keine Vernunfttätigkeit mehr gibt, und zwar, weil dorthin das wahre Licht nicht mehr dringt, das jeden Menschen, der auf diese Welt kommt, erleuchtet«. Die Dämonen jedoch befinden sich in jenen unteren Höllenregionen. Also erkennen sie keinerlei Wahrheit noch verfügen sie über Vernunfttätigkeit. 11. Die wahre Erkenntnis verhält sich zum rechten Streben genauso wie die falsche zum fehlgerichteten. Nun kann es kein rechtes Streben ohne vorausgegangene wahre Erkenntnis geben. Also geht einem verkehrten Streben immer eine falsche Erkenntnis voraus. Nun findet sich in den Dämonen immer ein verkehrtes Streben. Und also gibt es in ihnen auch falsche Erkenntnis. 12. Über Lk. 10, 30 »Nachdem sie ihn wund geprügelt hatten, gingen sie fort und ließen ihn halbtot zurück«, sagt die Glosse264, daß der Mensch durch die Sünde in seinen natürlichen Vermögen verwundet wird. Die Gnade nun stellt im Menschen das wieder her, was durch die Sünde verwundet wurde. Da aber die Gnade das gesamte

262 Glossa ordinaria in Matthaeum XXVII, 19, aus Hrabanus Maurus, Commentarium in Matthaeum VIII, 27 (PL 107, 1131 B). 263 Augustinus, De vera religione 52 (CCSL 32, 253). 264 Zitatbeleg nicht aufzufinden. Vgl. jedoch Petrus Lombardus, Sentenzen II d. 25 c. 7 n. 1 und d. 35 c. 4 n. 2.

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Ebenbild (Gottes) wiederherstellt,265 unter welchem ja nicht nur der Wille, sondern auch der Verstand eingerechnet wird, so scheint es doch, daß durch die Sünde des Teufels auch sein Verstand verwundet wurde, insofern er die natürlichen Dinge betrifft. Und daher ist es offenbar so, daß auch in seiner natürlichen Erkenntnis ein Fehler oder eine Täuschung vorliegen kann. 13. Im 4. Kapitel von Über die Göttlichen Namen266 sagt Dionysius, daß niemand handelt, um Böses zu erreichen. Das Handeln des Teufels aber ist böse. Also täuscht er sich in seinen Beurteilungen. 14. In seinem Buch Über die wahre Religiosität267 schreibt Augustinus: »Weil jener Engel sich selbst mehr liebte als Gott, wollte er sich ihm nicht unterstellen; er blähte sich vor Hochmut auf und ließ ab vom höchsten Sein« − das heißt, er fiel durch seine Sünde −; »daher ist er nun geringer, weil er sich an dem gütlich tun wollte, was geringer war, da er ja eher seine eigene Macht genießen wollte als die Gottes.« Genau deswegen, weil der Teufel in falscher Weise auf seine Natur und Kräfte bestand und damit begann, minderwertiger zu werden, ist er offenbar von der richtigen Verfaßtheit seiner natürlichen Veranlagungen abgewichen. Also kann es auch in seinem natürlichen Erkenntnisvermögen zu Fehlerhaftigkeit und Täuschung kommen. 15. In seiner Pastoralregel268 sagt Gregor der Große, daß einer, der vor Wut rast, das Richtige für verkehrt hält. Nun rast der Geist des Teufels vor Wut, sagt doch Dionysius im 4. Kapitel von Über die Göttlichen Namen,269 daß das Böse des Teufels in einem widervernünftigen Wüten besteht, weshalb er alles Richtige für verkehrt hält. Und so wird er in seinem Vermeinen getäuscht. 16. Die Erkenntnis von Allgemeinem bildet für uns eine Quelle der Täuschung: Wenn wir etwa die Weißheit einer Lilie betrachten, die sie ja mit vielen anderen Dingen teilt, dann täuschen wir uns 265 Vgl. die Glosse des Petrus Lombardus zu Psalm 4, 7 (PL 191, 88 B). 266 Dionysius Areopagita, De div. nom. IV, 19 (Dion. I, 236) und 31

(Dion. I, 304). 267 Augustinus, De vera religione 13 (CCSL 32, 203). 268 Gregor der Große, Regulae pastoralis liber III, 16 (PL 77, 77 A). 269 Dionysius Areopagita, De div. nom. IV, 23 (Dion. I, 280).

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in der Einschätzung, daß Weißsein und Liliesein dasselbe ist. Nun erkennen die Engel in allgemeinen Formen, und das umso mehr, je höher sie als Wesen sind.270 Nachdem aber Luzifer der höchste unter den Engeln war,271 und folglich die höchsten allgemeinen Erkenntnisformen hatte, konnte er offenbar auch am meisten getäuscht werden. 17. Einfache (unzusammengesetzte) Wesen wenden sich dem, welchem sie sich zuwenden, als ganze zu. Aus denselben Gründen wenden sie sich von dem, wovon sie sich abwenden, als ganze ab. Nun ist der Teufel seiner Naturbeschaffenheit nach ein einfaches Wesen, und daher hat er sich offenbar ganz von Gott abgekehrt, als er sich von ihm abkehrte, das heißt sowohl was seine Leidenschaften als auch was seine Erkenntnis betrifft. Und so scheint es, daß seine Erkenntnis gänzlich von der Wahrheit abfällt, weil Gott doch die Wahrheit ist. 18. Über 2 Kor. 6, 15 »Wie kann man Christus und Belial vergleichen?« sagt die Glosse,272 daß der Teufel alles in übler Weise vollführt. Nun ist doch Selbsterkenntnis etwas, das man vollführt, woraus offenbar wird, daß der Teufel sich auch beim Verstehen falsch verhält, und auch, daß es in seiner Auffassungsgabe falsche Meinung gibt. Dagegen spricht: 1. Dionysius sagt im 7. Kapitel von Über die Göttlichen Namen273, daß die Engel rein einfache Verstandeswesen sind. Doch kann es in rein einfachem Verstehen nichts Falsches geben, auch nicht im menschlichen, und also noch viel weniger in der Erkenntnis der Engel. Nun hat der Teufel eine Engelsnatur, und also gibt es keine Fehlerhaftigkeit in seiner Erkenntnis. 2. Nachdem die Dämonen ja unkörperliche Wesenheiten sind, haben sie keine andere Erkenntnis als die verstandesmäßige. Nun ist das Verstehen immer richtig, wie Aristoteles im 3. Buch von Über 270 271 272 273

Vgl. Thomas, Sum. theol. I q. 55 a. 3. Vgl. Petrus Lombardus, Sententiae II d. 6 c. 1 n. 1–3. Glosse des Petrus Lombardus zu 2 Kor. 6, 15 (PL 192, 49 D). Dionysius Areopagita, De div. nom. VII, 2 (Dion. I, 388).

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die Seele sagt274, und auch Augustinus weist im 83. Buch seines Werks Über 83 verschiedene Fragen nach275, daß niemand etwas, das falsch ist, verstehen kann. Also scheint es, daß sich in der Erkenntnis der Dämonen keine Täuschung ergeben kann. 3. Dagegen wurde eingewandt, daß die Erkenntnis der Dämonen nur bezüglich der gnadenhaft zugestandenen Dinge in die Irre geführt werden kann, nicht jedoch bezüglich der natürlichen. − Dagegen spricht: Die Erkenntnis bezüglich der gnadenhaften Dinge betrifft insbesondere Gott, insofern er die natürliche Erkenntniskraft der Geschöpfe übersteigt. Doch nach dem Beweis des Aristoteles im 9. Buch der Metaphysik276 kann es in der Erkenntnis der einfachen Wesenheiten oberhalb von uns Menschen kein Fehlgehen geben, wohl aber ein Zukurzkommen, indem sie die Erkenntnis erst gar nicht erreichen. Also kann es bezüglich der gnadenhaften Dinge bei den Dämonen keine falsche Einschätzung geben, sondern lediglich ein Versäumnis im Erkennen. 4. Was einem Ding zukommt, kommt ihm gemäß seiner Art und Weise zu sein zu, heißt es im Buch von den Ursachen.277 Wenn also die Dämonen ihrer natürlichen Erkenntnis gemäß nicht irren können, so können sie augenscheinlich auch nicht bezüglich ihrer Erkenntnis der gnadenhaften Dinge irren, die ihnen zusätzlich geschenkt wird. 5. Dagegen wurde auch eingewandt, daß die Dämonen bezüglich der Gefühlserkenntnis irren können. − Dagegen spricht: Die Erkenntnis der Engel übertrifft alle menschliche Erkenntnis. Doch gibt es im Menschen eine Erkenntniskraft, die selbst beim Sünder nicht in die Irre geht, nämlich die synderesis. Also ist doch offenbar umso eher die Erkenntnis eines sündigenden Engels ohne Irrtum. 6. Der Teufel hat aus freier Entscheidungsgewalt gesündigt, die ein Vermögen des Willens und des Verstandes darstellt.278 Nun verlegen sich Wille und Verstand auf Verschiedenes, denn der Wille 274 275 276 277 278

Aristoteles, De an. III, 9 [15]; 433 a 26. Augustinus, De diversis quaestionibus 32 (CCL 44 A, 46). Aristoteles, Met. IX, 11; 1051 b 17 ff. Liber de causis prop. 10 (9) und 12 (11). Vgl. Petrus Lombardus, Sententiae II d. 24 c. 3 n. 1.

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bezieht sich auf das Gute, der Verstand jedoch auf das Wahre. Daher steht nichts der Annahme entgegen, daß der Wille des Teufels hinter dem Guten zurückbleibt, obgleich sein Verstand es nicht gegenüber dem Wahren tut. 7. Alles wird allein durch sein Gegenteil verdorben oder verringert. Die Natur aber ist nicht das Gegenteil der Sünde, und daher scheint es, daß diese das natürlich Gute weder verderben noch verringern kann. Nun leidet die natürliche Erkenntnis aber gar nicht unter Fehlerhaftigkeit. Und daher ist es offenbar so, daß der Teufel auch nach der Sünde keinen Fehleinschätzungen unterliegt. 8. Gregor der Große sagt im 4. Buch seiner Dialoge,279 daß die Seele, so sie sich über den Körper erhebt, das Wahre fehlerlos erkennt. Nun ist ein Engel, selbst wenn es ein böser ist, weiter über den Körper erhaben als eine Seele. Also können offenbar (selbst) die bösen Engel weniger noch (als die über den Körper erhabene Seele) in Irrtum verfallen. Antwort: Eine falsche Auffassung entspricht gleichsam einer fehlerhaften Ausübung des Verstandes, ähnlich wie eine Mißgeburt gleichsam einer fehlerhaften Ausübung der Naturkräfte, weshalb Aristoteles im 6. Buch der Nikomachischen Ethik 280 auch sagt, daß das Falsche das Übel des Verstandes ist. Solch eine fehlerhafte Ausübung entsteht jedoch immer aus einer Unzulänglichkeit eines Prinzips, wie etwa aus einer Störung im Samen eine Mißgeburt hervorgeht, wie im 2. Buch der Physik steht.281 Daher ist es zwingend so, daß jede falsche Einschätzung aus einer Unzulänglichkeit eines Erkenntnisprinzips hervorgeht, wie es in uns oft wegen einer unstatthaften Art der Überlegung zu einer falschen Meinung kommt. Nun kann aber nichts bezüglich dessen, was es stets in Verwirklichung seiner Wesenbestimmung ist, Unzulänglichkeiten aufweisen, wohl aber bezüglich dessen, was es seinem Vermögen noch zu sein nach im279 Gregor der Große, Dialogi IV, 26 (PL 77, 357 C). 280 Aristoteles, Eth. Nic. VI, 2; 1139 a 27. 281 Aristoteles, Phys. II, 14; 199 b 3–7, gemäß Averroes, Physikkom-

mentar 82 (IV, 80 B).

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stande ist. Denn was nur der Möglichkeit nach besteht, kann sie zur Vollendung bringen oder hinter ihr zurückbleiben. Die Verwirklichung jedoch stellt das Gegenteil zu letzterem dar, aus dem ja jeder Fehler hervorgeht. Und wie bereits gesagt282: Ein Engel hat gemäß seiner Wesensbeschaffenheit die vollkommene Kenntnis alles dessen, worauf sich seine natürliche Erkenntnisfähigkeit erstreckt, bereits verwirklicht in sich vorliegen, weil er nämlich nicht von den Prinzipien der Erkenntnis zu den Schlüssen voranschreiten muß, sondern diese im Erkennen jener unmittelbar einsieht. Wenn er andernfalls in bereits vorliegender Kenntnis der Prinzipien die Schlüsse nur der Möglichkeit nach zu erkennen imstande wäre, so müsste er genauso wie wir in Überlegungsdurchgängen aus der Kenntnis von Prinzipien die Schlüsse erst erarbeiten. Daß das Gegenteil davon richtig ist, erweist sich aus dem 7. Kapitel der Schrift Über die göttlichen Namen283 des Dionysius. Wie wir also keine grundlegend falsche Ansicht betreffs unserer uns von Natur aus zuallererst bekannten Erkenntnisvoraussetzungen haben können, so kann es auch bei einem Engel keine Falschheit der Ansicht bezüglich der Dinge geben, die seiner natürlichen Erkenntnisfähigkeit zugänglich sind. Da nun der Teufel durch das Sündigen seiner wesensgemäßen Eigenheiten nicht verlustig ging, sondern alles ihm als wesensgemäß Verliehene unangetastet und mit Leuchtkraft verblieben ist, wie es Dionysius im 4. Kapitel von Über die göttlichen Namen ausdrückt,284 so ergibt sich daraus, daß auch der Teufel keine falsche Ansicht über solches hegen kann, was seiner natürlichen Erkenntnisfähigkeit entspricht. Obwohl sich nun sein Geist bezüglich der Dinge, die er von Natur aus erkennen kann, in verwirklichter Erkenntnis befindet, so verharrt er bezüglich dessen, was sein natürliches Begriffsvermögen übersteigt, in bloßer Erkenntnismöglichkeit und benötigt, um dessen Erkenntnis auch noch zu vollziehen, die Erhellung durch ein höheres Licht. Wie nämlich eine wirkende Kraft sich je höher sie ist

282 Vgl. a. 3 und a. 5. 283 Dionysius Areopagita, De div. nom. VII, 2 (Dion. I, 388). 284 Dionysius Areopagita, De div. nom. IV, 23 (Dion. I, 281).

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auf umso mehr auswirken kann,285 so erstreckt sich auch eine Erkenntniskraft, wenn sie höher ist, auf mehr Erkennbares. So ergibt sich zwingend, daß bezüglich dessen, worum das höhere Erkenntnisvermögen das niedrigere übersteigt, dieses niedrigere sich gleichsam nur in Erkenntnismöglichkeit befindet und es nötig hat, sich von dem höheren vollenden zu lassen. So kommt es, daß sich alles Verstandesvermögen der Engel bezüglich der Dinge, die zu Gottes Erkenntnis gehören, in einer Möglichkeitsbeziehung befindet und daher zu deren Einsicht der Erleuchtung durch ein ihm überwesenhaftes Licht bedürftig ist, das heißt durch das Licht der göttlichen Gnade. Was diese gnadenhafte Erkenntnis betrifft, so kann bei einigen Engeln eine Art Unzulänglichkeit auftreten, bei anderen eine andere. Denn auch bei guten Engeln kann es zwar bezüglich dieser Erkenntnisgegenstände eine Unzulänglichkeit geben, aber nur im Sinne eines Nichtvorhandenseins, gemäß dem, was Dionysius im 7. Kapitel von Über die kirchliche Hierarchie sagt,286 daß sie nämlich von Unwissen frei sind. Ein Fehler im Sinne einer falschen Überzeugung kann bei ihnen dagegen nicht auftreten, ist doch ihr Wille richtig ausgerichtet, weswegen sie ihr Verstandesvermögen nicht darauf verlegen, sich ein Urteil über solches anzumaßen, was ihre Erkenntnisfähigkeit übersteigt. Bei den bösen Engeln nun kann es bezüglich dieser aus Gnadenvermittlung erkennbaren Dinge auch zum Fehler der falschen Überzeugung kommen, insofern sie nämlich ihren Verstand sich angeberisch auf das Urteilen über solche Dinge versteigen lassen, die ihr Begriffsvermögen übersteigen. Solche fehlerhafte Erkenntnis bezüglich dieser Erkenntnisgegenstände kann es nun sowohl in ihren theoretischen Überzeugungen geben, sofern sie nämlich gänzlich zum falschen Urteilen lospreschen, als auch in den praktischen oder gefühlsmäßigen, insofern sie nämlich fälschlicherweise annehmen, etwas sei in der Hinordnung auf die genannten gnadenhaft erkennbaren Dinge erstrebenswert oder zu tun. 285 Vgl. Liber de causis prop. 10 (9) und 17 (16). 286 Dionysius Areopagita, De eccl. hier., eigentlich VI, 6 (Dion. II,

1404).

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Zu 1. Daß Gottes Strafen immerwährend sind, ist Bestandteil der gnadenhaften Erkenntnis, da die Denkart Gottes im Urteilen jedes natürliche Erkenntnisvermögen der Geschöpfe übersteigt, ganz nach dem Psalmwort (35, 7): »Abgrundtief sind deine Urteilssprüche«. Der Teufel aber weiß ganz genau, daß seine Bestrafung immer währt. Andernfalls würde das sein Elend mindern, denn genauso wie zur Steigerung der Glückseligkeit der Erlösten die Sicherheit beiträgt, die immerwährende Seligkeit unverlierbar zu besitzen, so gehört die Gewißheit ihrer immerwährenden Elendigkeit zur Vergrößerung des Elends der Verdammten. Wenn also geschrieben steht, der Teufel vermeine, daß der Abgrund zu einem Ende komme, so heißt das, wie Gregor der Große an gleicher Stelle sagt,287 daß er der Auffassungsgabe der Menschen in dieser Welt gern die Meinung nahelegen würde, die Strafen würden irgendwann enden, auf daß sie sich mit dem Sündigen leichter täten. Zu 2. Der im zweiten Argument angesprochene Zweifel des Teufels betraf das Mysterium der Fleischwerdung,288 das auch das natürliche Erkenntnisvermögen der Engel übersteigt. Zu 3. In der im dritten Argument vorgetragenen Lehrmeinung wird gesagt, daß die Dämonen die ihnen verliehenen natürlichen Güter nicht sehen, aber doch nicht so, daß sie diese überhaupt nicht sehen würden, denn sonst könnten sie ja gar nichts erkennen, da ja, wie es im Buch von den Ursachen heißt,289 der Geist alles andere dergestalt ergreift, daß er sein eigenes Wesen erfaßt. Vielmehr sehen die Dämonen die natürlichen Dinge nicht in rechter Zuordnung zu den gnadenhaft vermittelten, von deren Betrachtung sie ihre Aufmerksamkeit abkehren, um sich schließlich nur noch auf das ihnen Naturgemäße zu versteifen. Zu 4. Man spricht von verwirklichter Erkenntnisumsetzung in zweierlei Auffassungsweise: Einmal in bezug auf tatsächlich vorliegende Überlegung, doch ist das hier nicht gemeint, wenn die Rede davon ist, daß ein Engel wirklich umgesetzte Kenntnis all der Dinge 287 Gregor der Große, Moralia XXXIV, 19, 34 (PL 76, 737 D). 288 Vgl. Glossa ordinaria in Matthaeum aus Ambrosius, Super Lucam

IV, 18 (PL 15, 1671 D [1701 C]). 289 Liber de causis prop. 13 (12).

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hat, auf die sich seine natürliche Erkenntnisfähigkeit erstreckt. Auf andere Weise spricht man davon in bezug auf das Haben von Kenntnis, sagen wir doch, wie im 2. Buch von Über die Seele290 und im 8. Buch der Physik291 steht, auf eine Weise, jemand wisse etwas der Möglichkeit nach bevor er es lerne, das heißt wenn er noch nicht tatsächlich über ein bestimmtes Wissen verfügt, und auf andere Weise, er wisse es der Möglichkeit nach, bevor er überlegt. Nun haben die Engel bereits tatsächlich vorliegende Kenntnis bezüglich aller Dinge, die sie natürlicherweise erkennen können, auf eben diese Weise. Das reicht jedoch schon aus, um einer dem entgegenarbeitenden Fehlerhaftigkeit zu entgehen, bedenken wir doch nicht immer in tatsächlicher Durchführung der Überlegung die ersten Denkprinzipien; vielmehr ist das Haben dieser Prinzipien schon genug, um jeden ihnen widersprechenden Fehler gar nicht erst zum Zug kommen zu lassen. Zu 5. Daraus, daß etwas aus nichts erschaffen wurde, folgt, daß es in gewissen Hinsichten veränderbar ist, nicht jedoch, daß es in jedweder Hinsicht veränderbar ist. So weisen die Himmelskörper zwar Ortsveränderung auf, aber keine Veränderungen am Eigensein.292 Genauso kann der Verstand eines Engels, weil er aus dem Nichts geschaffen wurde, bezüglich der übernatürlichen Dinge unzulänglich sein, nicht aber bezüglich der natürlichen Erkenntnis, kann doch auch der Wille eines Engels in diesen Dingen sündigen, wie oben bereits ausgeführt.293 Zu 6. Glückseligkeit, so sie zustandekommt, hat eher mit Erkenntnis zu tun, der ja auch die Schau Gottes zuzurechnen ist, als mit dem Willen, dem die Lustempfindung zuzuschlagen ist. Diese nämlich ergibt sich aus einer Handlung wie aus ihrer Ursache und wird ihr sozusagen wie eine draufgegebene Vollendung zugeschlagen, weswegen Aristoteles im 10. Buch der Nikomachischen Ethik sagt,294 daß das Lustempfinden eine Handlung vollendet wie Schön290 Aristoteles, De an. II, 1; 412 a 10 und 12. 291 Aristoteles, Phys. VIII, 8; 255 a 33–34. 292 Vgl. Aristoteles, Met. VIII, 1; 1042 b 3–8 und XI (= XII), 2; 1069 b

24–26, so Thomas, Super De caelo I lect. 6. 293 Vgl. a. 3. 294 Aristoteles, Eth. Nic. X, 6; 1174 b 31–33.

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heit die Jugend. Ein Ziel zu erstreben und sich darauf hin in Bewegung zu setzen, kommt nun aber eigentlich dem Willen zu, und das ist es auch, was durch die Sünde verhindert wird. Also betrifft die Sünde eher den Willen als das Verstehen. Zu 7. Die Dämonen werden von der Teilhabe an der Wahrheit und dem Licht Gottes ferngehalten, insofern diese beiden durch Gnade geschenkt sind, nicht jedoch insofern sie von Natur aus mitgeteilt werden. Zu 8. Der Teufel hat nicht das Gefühl, etwas Falsches getan zu haben, weil er seine Schuld nicht als Übel begreift und verhärteten Sinnes weiterhin im Bösen verbleibt. Daher gehört das zur Falschheit in Dingen praktischer oder gefühlsgebundener Erkenntnis. Zu 9. Die Auswirkungen von Christi Leiden sind Gegenstand der übernatürlichen Erkenntnis, worüber der Teufel im Irrtum sein kann. Zu 10. Wenn im zehnten Argument die Lehre zitiert wird, daß es in der Hölle keinerlei Erinnerung an die Wahrheit gebe, so ist darunter nicht zu verstehen, daß die Dämonen dort überhaupt keinen Begriff von Wahrheit hätten. Denn sonst würden sie ja nicht wissen, daß sie durch ihr Sündigen gefehlt haben, und damit wären sie jedes wurmenden Gewissens ledig.295 Man muß das daher so auffassen, daß sie nicht in der Lage sind, die Erkenntnis der Wahrheit zu erlangen, durch welche ihr Verstand zur Vollendung gebracht würde. Zu 11. Gemäß dem, was Dionysius im 4. Kapitel von Über die göttlichen Namen sagt,296 entsteht Gutes aus nur einer und vollkräftigen Ursache, Übles allerdings aus Einzeldefekten, und daher wird zum Guten mehr benötigt als zum Üblen. Weshalb daraus, daß zur Richtigkeit des Willensstrebens die richtige Erkenntnis des Verstehens gehört, nicht gefolgert werden muß, daß das Irregehen des Willensstrebens nicht ohne Fehlerhaftigkeit im Erkennen abgehen könne. Vielmehr kann man auch behaupten, daß das Streben selbst dann richtig sein könnte, wenn ihm eine falsche Erkenntnis voran295 Der Ausdruck vermis conscientiae, »Wurm des Gewissens«, ist von Petrus Lombardus, Sententiae II, d. 33 c. 2 n. 5 übernommen. Vgl. Thomas, Super libros Sententiarum IV, d. 50 q. 2 a. 3 qc. 2. 296 Dionysius Areopagita, De div. nom. IV, 30 (Dion. I, 298).

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ging, etwa wenn jemand die einem Vater zukommende Ehrbezeugung dem entgegenbringt, den er fälschlicherweise für den Vater hält. Ähnlich geht das fehlgeleitete Willensstreben immer mit einer Fehlerhaftigkeit des praktischen Verstehens einher. Zu 12. Die Schuld beeinträchtigt den Menschen in seiner natürlichen Erkenntnisfähigkeit bezüglich des gnadenhaft Zugestandenen, nicht jedoch derart, daß das etwas von der Wesensnatur wegnähme. Somit folgt, daß der Verstand des Teufels sich nur bezüglich der übernatürlichen Dinge im Irrtum befinden kann. Zu 13. Dieses Argument hat seine Gültigkeit für die praktische oder gefühlsgebundene Vernunft, in deren Vollzug jemand in Anbetracht des Guten das Böse wählt. Zu 14. Dadurch, daß der Teufel sich selbst in Eigenliebe mehr anhing als Gott, sündigte er hinsichtlich der natürlichen Ordnung in bezug zu den gnadenhaft erkennbaren Dingen, weil er die Liebe zu sich selbst nicht auf Gott hin ausrichtete. Genau darin ist der Teufel geringer geworden, daß er seiner übernatürlichen Existenz beraubt wurde. Zu 15. Was in diesem Argument über die Wut des Teufels gesagt wird, ist metaphorisch gesprochen, doch kann man aus solchen rhetorischen Figuren keine gültigen Schlüsse ziehen. Dennoch kann man auch sagen, daß das (dort über das getäuschte Vermeinen Gesagte) auch dem Bereich der praktischen Vernunft zuzurechnen ist. Zu 16. Von einer allgemeinen Erkenntnisfähigkeit der Engel spricht man nicht deswegen, weil sie einzig das Allgemeinwesen aller Dinge erkennen − auf diese Weise wird bei uns das Erkennen von Allgemeinem Grund für eine Täuschung. Vielmehr nennt man ihre Erkenntnisart eine allgemeine, insofern sie sich allgemein auf vieles Erkennbares erstreckt, wovon sie eigentliche und vollständige Erkenntnis haben. Zu 17. Engel sind dem Wesen nach einfach, haben aber vielfache Vermögen, das heißt insofern sich ihr Vermögen auf vieles erstreckt, nicht aber wegen der Vielfältigkeit natürlicher Vermögenskräfte, wie sie bei uns etwa das sinnliche Streben und das Verstandesstreben darstellen. Das nämlich würde der Einfachheit ihrer Wesenskonstitution widersprechen. Da sich nun ihr Verstandesstreben auf Vieles erstrecken kann, kann es sich von etwas in einer Beziehung

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abwenden und in anderer nicht. Und somit hat sich die Strebensausrichtung des Teufels zwar nicht in bezug auf die natürlichen Dinge von Gott abgewendet, wohl aber bezüglich der gnadenhaft zugestandenen. Zu 18. Der Teufel handelt böse in allem, was er aus freiem Willen tut, doch ist all sein naturgemäßes Tun eigentlich gut, weil es doch das Tun eines Wesens darstellt, dessen Wesensnatur von Gott geschaffen wurde. [Antwort auf die Gegenargumente:] Zu 1. Als Antwort auf die Gegenargumente ist erstens zu sagen, daß Engel einen ungeteilten Verstand haben, der die Wahrheit nicht so erkennt, daß er von Voraussetzungen zu Schlüssen voranschreitet, sondern bereits unmittelbar in den Denkvoraussetzungen die sich ergebenden Wahrheiten erblickt. Ebenso erkennt er nicht, indem er wie unser Verstand einem Subjekt ein Prädikat zuweist oder nicht,297 sondern indem er in einfacher Betrachtung des Subjekts unmittelbar erfasst, was auf es zutrifft oder nicht. Beides hat denselben Grund, der darin liegt, daß die Wesensanlage des Subjekts dem Erkenntnisprinzip der Zugehörigkeit eines Prädikats zu ihm entspricht. Daher erkennt ein Engel auch in einfacher Ansehung eines Subjekts was ist und was nicht, wie wir durch Verbindung und Trennung, steht doch nichts der Annahme entgegen, daß durch etwas Einfaches etwas Zusammengesetztes erkannt wird, wie ja auch durch Unkörperliches Körperliches erkannt wird. Hierbei kann es ja in unserem Verstand bei der Verbindungshandlung zu Fehlern kommen bezüglich des Urteils, etwas sei so oder nicht so. Daher kann es im Verstand der Dämonen zu Fehlerhaftigkeiten kommen, und zwar insbesondere bezüglich der Dinge, die die natürliche Erkenntnisfähigkeit übersteigen. Zu 2. Daß der Verstand beim Verstehen keine Fehler macht, sagt man deswegen, weil, wie Augustinus in seinem Buch Über 83 verschiedene Fragen sagt,298 jeder, der etwas versteht, versteht, daß es 297 Vgl. Aristoteles, De an. III, 5 [11]; 430 a 26–28. 298 Augustinus, De diversis quaestionibus 32 (PL 40, 22; CCSL 44 A,

46).

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ist, wie es ist. Das Verstandesvermögen kann aber darin irren, daß es nicht begreift, was wahr ist, wie im Beispiel dessen, der falscher Meinung ist. Zu 3. Was das Wesen Gottes selbst betrifft, so kann der Teufel nicht fehlgehen, es sei denn darin, daß er es nicht erfaßt, ganz so, wie es das zitierte Argument anführt. Was jedoch die Dinge betrifft, die Gott übernatürlicherweise in den Geschöpfen bewirkt, kann der Verstand des Teufels durch falsches Meinen irren. Zu 4. Die Art und Weise, wie der Teufel versteht, ist seiner Wesensart angemessen, doch ist es nicht zwingend so, daß er dieselbe Verstandeskraft hinsichtlich der Beurteilung der Dinge aufweist, die seine eigene Wesensnatur übersteigen, wie hinsichtlich der Beurteilung dessen, was seiner Wesensnatur entspricht. Daher mag es sein, daß er bezüglich dessen, was in seinem wesensgemäßen Erkenntnisbereich liegt, nie falsch urteilt, und dennoch über das, was diesen Erkenntnisbereich übersteigt, falsche Urteile bilden kann. Zu 5. Die synderesis ist eine Erkenntnisgrundlage aller allgemeinen Handlungsprinzipien, die der Mensch von Natur aus versteht,299 ähnlich wie die allgemeinen Prinzipien der spekulativen Vernunft. Daher lässt sich daraus nur schließen, daß die Dämonen in ihrem natürlichen Verstehen nicht irregehen. Zu 6. Das Gute bewegt den Willen nur insofern es verstanden wird. Daher kann der Wille nur vom Streben nach dem Guten abirren, wenn ein Fehler im Verstehen vorliegt, und zwar nicht bezüglich dessen allgemeinen Prinzipien, wofür er die synderesis hat, sondern in bezug auf einzelnes Verstehbares. Zu 7. Die Dämonen sind durch die Sünde keiner Falschheit bezüglich ihrer natürlichen Erkenntnis anheimgefallen, und das kommt daher, daß ihre Schuld in keinem unmittelbaren Gegensatz zu ihrer Natur steht.

299 Augustinus, nach Zitat von Thomas, Sent. II, d. 24 q. 2 a. 3 arg. 3 und Albertus Magnus, Summa de homine q. 71 a. 1 arg. 2. Allerdings findet sich dieser Text so nicht wortwörtlich bei Augustinus, doch kann man die Aussagen von Augustinus, De lib. arb. II, 10, 29 (CCSL 29, 257), und De Trin. XIV, 15 (PL 42, 1052), zum Vergleich heranziehen.

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Zu 8. Gregor der Große spricht hier über die Erhebung der Seele durch die Gnade, denn das Licht der Gnade ist aller Falschheit bar.

7. Artik el 30 0 Die siebte Frage lautet: Kennen die Dämonen die Zukunft? Das scheint der Fall zu sein; denn: 1. Augustinus sagt im 9. Buch von Über die Bürgerschaft Gottes301: »Die zeitlichen Folgen des Wirkens Gottes sind für die Auffassungskraft der Engel, ja auch für die von bösen Geistwesen, einsehbarer als sie es für die Schwäche der menschlichen sind«. Doch können Menschen in Anbetracht einer zeitlichen Wirksamkeit des Tuns Gottes viel über Zukünftiges vorauswissen: So der Arzt die Gesundung, der Seemann die Meeresstille. Also können doch noch sehr viel eher die Dämonen künftige Dinge vorauswissen. 2. Niemand kann eine korrekte Vorhersage treffen, es sei denn über das, was er schon vorausweiß. Nun können Dämonen Wahres über künftiges Geschehen vorhersagen, wie Augustinus in seinem Werk Über die Sehergabe der Dämonen sagt.302 Also können die Dämonen Künftiges vorauswissen. 3. Wenn Dämonen unkörperliche Wesenheiten sind, so sind sie ihrem Wesen und ihrer Tätigkeit nach zeitenthoben, heißt es doch auch im Buch von den Ursachen,303 daß die Wesensbeschaffenheit und die Tätigkeit von Geistwesen zeitenthoben ist. Gegenwart, Vergangenheit und Zukunft sind aber Binnenunterscheidungen der Zeit, und also ist es für die Erkenntnis der Dämonen einerlei, ob etwas gegenwärtig, vergangen oder zukünftig ist. Nun können Dämonen Gegenwärtiges und Vergangenes erkennen, und also auch Zukünftiges. 4. Dagegen wurde eingewandt, daß zur Erkenntnis von etwas nicht nur vonnöten ist, daß der Erkennende gegenwärtig und in 300 Paralleltexte: Super libros Sententiarum II, d. 7 q. 2 a. 2; De ver. q. 8 a. 12; ScG III, 154; Sum. theol. I, q. 57 a. 3; Super Isaiam cap. 3. 301 Augustinus, De civ. Dei IX, 21 (CCSL 47, 268). 302 Augustinus, De divinatione daemonum 4 und 5 (PL 40, 585–586). 303 Liber de causis prop. 7 (6).

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Wirklichkeitsvollendung da ist, sondern auch das Erkannte. − Dagegen spricht: Die Erkenntniskraft Gottes ist untrüglicher als die der Dämonen. Wenn es also für die Erkenntnissicherheit der Dämonen vonnöten ist, daß das Erkannte gegenwärtig und in Wirklichkeitsvollendung vorliegt, so wäre das doch für die Erkenntnis Gottes umso mehr vonnöten, und somit würde auch Gott das Zukünftige nicht kennen, was aber unhaltbar ist. 5. Alle Erkenntnis erfolgt nach Art und Weise des Erkennenden.304 Weil ein Dämon aber eine unkörperliche Wesenheit ist, so gibt es bei ihm keine sinnliche Erkenntnis, sondern nur eine verstandesmäßige. Da nun der Verstand vom Hier und Jetzt absehen kann, so scheint es, daß es für die Erkenntnis eines Dämons einerlei ist, ob etwas gegenwärtig, vergangen oder zukünftig ist. 6. Es ist offensichtlich, daß Dämonen Einzeldinge erkennen, während sie sind. Doch erkennen sie diese Erkenntnis nicht durch Allgemeinformen,305 die sie aus den Einzeldingen gewinnen, denn 304 Ein Leitspruch, der sich in verschiedenen Formulierungen verschiedenen Quellen bei Thomas zuordnen läßt: z. B. dem Liber de causis in De veritate q. 24 a. 8 arg. 6 (sh. Sentenzen 10 (9) und 12 (11)), Dionysius Areopagita und dem Liber de causis in Super libros Sententiarum II d. 17 q. 2 a. 1 arg. 3 (vgl. Dionysius Areopagita, De div. nom. IV, 1 (Dion. I, 146) und De cael. hier. XII, 2 (Dion. II, 937)), Boethius wie in De ver. q. 2 a. 5 arg. 17 (sh. Boethius, De consolatione philosophiae V, 4 (PL 63, 848 C)). 305 Die im folgenden von Thomas gebrauchten Termini forma (spiritualis, intelligibilis, intellectualis, innata oder infusa) und species (intellegibilis, intellectualis, intellecta, spiritualis oder sensibilis) sowie deren je nach Aspektwandel mögliche Kognate (bisweilen etwa ratio, lineamentum, figura, similitudo etc.) sind zum großen Teil synonym(isch) zu verstehen, doch im lateinischen Text mit aussagekräftigen Differenzierungen versehen. Das ist im Deutschen nicht adäquat und meist nur weitschweifig erklärend wiederzugeben. So definiert z. B. das Thomas-Lexikon von Ludwig Schütz sub voce »species [e)]« als Unterpunkt »species intellectualis / intellegibilis«: »das in der Vernunft aufgenommene oder übersinnliche oder geistige Erkenntnisbild«; und sub voce »species [e)]« als Unterpunkt »species sensibilis / sensata«: »das in einen Sinn aufgenommene oder sinnliche Erkenntnisbild«. Das Wortfeld species / forma allgemein deckt Bereiche ab zwischen »Anschauung«, »Gestalt«, »(An)Schein«, »Verstandes / Erkenntnisform, oder -bild«, »Wesenheit«, »Gebilde«, »Art(-verfas-

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das kann ja nur im Weg über die Sinne geschehen. Also erkennen sie vermittels eingeborener Allgemeinformen. Diese allerdings befanden sich im Geist der Dämonen vom Anfang ihres Erschaffenseins an. Also wußten die Dämonen vom Anfang ihres Erschaffenseins an alle zukünftigen Einzeldinge. 7. Dagegen wurde eingewandt, daß bezüglich dessen, was die natürliche Erkenntnis der Engel übersteigt, eingeborene Allgemeinformen nicht ausreichen, sondern eingestiftete Allgemeinformen vonnöten sind. − Dagegen spricht: Eine Erkenntnis, die auf etwas höheres Zugriff hat, hat diesen doch umso mehr auf etwas demgegenüber geringeres. Nun hat die natürliche Erkenntnisfähigkeit der Dämonen Zugriff auf die immateriellen Wesenheiten, die doch dem Wesen nach höher stehen als die sinnlich faßbaren. Also übersteigen die Einzeldinge die Erkenntnisfähigkeit der Dämonen nicht. 8. Wie die idealbegründenden Wesensformen306 im Geiste Gottes zu Erschaffen und Erkennen im Verhältnis stehen, so die Ähnlichkeitsbilder der Dinge im Geiste der Engel zum Erkennen. Die idealbegründenden Wesensformen in Gottes Geist stehen aber, was das Erschaffen und Erkennen betrifft, in gleichem Verhältnis zu den sung / -definition)«, »Form«, »Formalursache«, »Art und Weise« etc. (alle Bedeutungen nach Schütz, Thomas-Lexikon), und kann dabei auch zwischen ontologischen und gnoseologischen Bedeutungen und den Bedeutungsvarianten von ante rem, in re und post rem changieren. Ich habe versucht, in der Übersetzung den jeweiligen Sinn so gut wie möglich nach dem Argumentkontext einzufangen, ohne die implizierten Nebenbedeutungen gänzlich verlorengehen zu lassen; es konnte nur mein ehrgeiziges Bestreben sein, darin möglichst elegant zu scheitern, denn scheitern muß die Übersetzung hier ohnehin. So sind im folgenden etwa mehrmals die rationes ydeales quae sunt in mente divina, also die ewigen ante rem artbestimmenden Gedanken im Geiste Gottes, die schöpfungsontologisch das bestmögliche (daher ydealis) definiens der allgemein wesensspezifischen Form aller Einzelwesen in re sind, als »idealbegründende Wesensformen im Geiste Gottes« übersetzt, die naturae specierum sind in ad 6 als »Wesenseigenheiten der Artbestimmungen« wiedergegeben, weil es der Zusammenhang so eher verlangte als die ebenfalls denkbare Übersetzung »Beschaffenheit der Erkenntnisbilder«, usw. 306 Vgl. Augustinus, De diversis quaestionibus 46, 2 (PL 40, 30), wie Thomas, Sum. theol. q. 15 a. 3 sed contra angibt.

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vergangenen, gegenwärtigen und zukünftigen Dingen. Also scheint es doch, daß auch die Allgemeinformen der Dinge im Geist der Engel in gleichem Verhältnis zu den vergangenen, gegenwärtigen und zukünftigen Dingen stehen. 9. Wie Gott durch sein Wort die Formen in die Materie einstiftete, so auch in den Verstand der Engel, wie aus dem 2. Buch vom Werk des Augustinus Über Genesis dem Wortlaut nach307 hervorgeht. Doch stehen die Formen der Dinge in der körperlichen Materie in ein und demselben Verhältnis bezüglich Gegenwart, Vergangenheit und Zukunft. Dasselbe sollte doch offenbar auch für die Formen der Dinge im Geist der Engel gelten. Und also scheint es doch, daß die Dämonen vermittels solcher Formen das Zukünftige erkennen können. 10. In seinem Buch Über das höchste Gute schreibt Isidor von Sevilla,308 daß die Dämonen einen dreifach begründeten Scharfsinn in ihrem Wissen aufweisen: und zwar teils aus der Feinheit ihrer Wesensbeschaffenheit, teils aus ihrer langewährenden Erfahrung, teils aber auch aus der Offenbarungsmitteilung der guten Geister. Alle diese drei aber können sich auf die Erkenntnis der künftigen und der gegenwärtigen Dinge erstrecken. Also können die Dämonen die zukünftigen Dinge erkennen. 11. Dagegen wurde eingewandt, daß die Dämonen die zukünftigen Dinge erkennen können, die mit Notwendigkeit entstehen und bestimmte Ursachen haben, nicht aber andere. − Dagegen spricht: Erkenntnisgewinn aus Erfahrung schreitet von Ähnlichem zu Ähnlichem fort. Allem jedoch, was geschieht und was als nichtnotwendig gelten kann, ist etwas ähnliches in vergangenen Jahrhunderten vorausgegangen, in denen es auch schon Dämonen gab. Heißt es doch auch in Koh. 1, 10: »Es gibt nichts neues unter der Sonne, es geschah doch auch schon einmal in den Zeiten, die uns vorangingen«. Daher haben die Dämonen Kenntnis all der zukünftigen nichtnotwendigen Dinge.

307 Augustinus, De Gen. ad litt. II, 6, 13 und 14 (PL 34, 268) und 8, 16 (PL 34, 269). 308 Isidor, De summo bono (= Sententiae) I, 10, 17 (PL 83, 556 C).

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12. Erfahrung kommt aus den Sinnen, sagt doch Aristoteles im 1. Buch der Metaphysik,309 daß die Erinnerungen aus den Sinnen stammen, aus vielen Erinnerungen aber die Erfahrung. Nun gibt es bei den Dämonen keine Sinneswahrnehmung. Also bringt nichts in ihnen die Erfahrung hervor, die es ihnen erlaube, einige zukünftige Dinge eher zu wissen als andere. 13. Wenn Dämonen dasjenige, was keine bestimmte Ursache aufweist, nicht erkennen, solange es zukünftig ist, und es dennoch erkennen, wenn es gegenwärtig ist, so ergibt sich daraus offenbar, daß ihre Erkenntnis von einem Möglichsein in ein Wirklichsein überführt wird. Das jedoch scheint unmöglich zu sein, da eine Überführung von der Möglichkeit ins Wirkliche nur von etwas höherem bewerkstelligt werden kann, gleichzeitig aber kann man doch unter den geschöpflichen Dingen nichts höherrangiges finden als den Verstand des Engels. Und daher scheint es, daß die Engel auch nichtnotwendige Dinge ohne bestimmte Ursachen erkennen, bevor sie geschehen. 14. Alles, was ohne Behinderung aus mehreren regelmäßig ablaufenden Ursachen erfolgt, scheint mit Notwendigkeit zu geschehen. Nun ist jede in dieser Welt statthabende Wirkung ein Ergebnis mehrerer ohne Behinderung regelgemäß aufeinander abgestimmter Ursachen, andernfalls gäbe es ja gar keine Folgezusammenhänge. Also erfolgt alles in dieser Welt nach einer Notwendigkeit und somit erkennen die Dämonen offenbar alle zukünftigen Dinge. 15. In allem, was geschieht, sind Glücksfall und Zufall als Ausnahmen zu betrachten.310 Falls nun nichts als Ausnahme geschähe, so gäbe es auch nichts mehrheitlich nichtnotwendiges, sondern alles würde nach Notwendigkeit vor sich gehen, denn was mehrheitlich geschieht, unterscheidet sich von dem, was aus Notwendigkeit geschieht, allein darin, daß es in Ausnahmefällen nicht zustandekommt. Wenn also nichts aus Glücksfall und Zufall geschieht, dann ergibt sich doch daraus, daß alles aus Notwendigkeit geschieht. Diese Vorausbedingung scheint nun aber wahr zu sein, da Augusti309 Aristoteles, Met. I, 1; 980 a 28 – 981 a 1. 310 Aristoteles, Phys. II, 9; 197 a 32–35, wie Thomas, z. B. De ver. q. 24

a. 1 sed contra 7 angibt. Vgl. Aristoteles, Met. VI, 2; 1026 b 27 ff.

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nus in seinem Buch Über 83 verschiedene Fragen sagt,311 daß nichts in dieser Welt planlos vonstatten geht, das heißt aus Glücksfall und Zufall. Also kommt alles aus Notwendigkeit zustande und die Dämonen kennen somit auch alles Zukünftige. 16. Alle Bewegungen der niederrangigen Körper werden auf die Bewegungen der Himmelskörper als deren Ursachen zurückgeführt, sagt doch auch Augustinus im 3. Buch von Über die Dreifaltigkeit312, daß Gott die geringeren Dinge durch die höheren regiert. Die Bewegungsabläufe der Himmelskörper erfolgen aber alle mit einförmiger Notwendigkeit. Also ergibt sich auch alles, was in den niederstufigeren Körpern geschieht, mit Notwendigkeit. Und so lautet die Folgerung genauso wie vorher. 17. Dagegen wurde eingewandt, daß das (eben Gesagte) für die Bewegungen der bloß körperlichen Dinge seine Richtigkeit hat, nicht aber für die Dinge, die vom freien Willen hervorgerufen werden. − Dagegen spricht: Das in Bewegung setzende Prinzip bei Menschen und jedwedem Lebewesen stammt daraus, daß etwas Neues in den körperlichen Abläufen beginnt, wie zum Beispiel beim Menschen, der nach Beendigung des Verdauungsvorgangs von selbst aus dem Schlaf erwacht und aufsteht, wie im 8. Buch der Physik steht.313 Wenn also das, was unter den körperlichen Dingen äußerlich geschieht, dem Notwendigkeitszwang der Himmelskörper untersteht, so offenbar aus der gleichen Überlegung doch auch all das, was aus freiem Willensentscheid geschieht. 18. Die freie Entscheidungsgewalt ist offenbar dem Willen zuzuordnen, also einem vernunftgemäßen Streben, dessen Durchführung in einer Wahl besteht. Nun wird der Wille vom Guten als dem ihm eigentümlichen Gegenstand des Strebens in Bewegung gebracht und daher aus einer Notwendigkeit zur Wahl des Guten und der Vermeidung des Bösen geführt. Auf solche Weise kommt also selbst das, was aus freiem Willen geschieht, mit Notwendigkeit zustande. Somit scheint sich als Folge zu ergeben, daß die Dämonen alle zukünftigen Dinge vorherwissen können 311 Augustinus, De diversis quaestionibus 24 (PL 40, 17). 312 Augustinus, De Trin. III, 4, 9 (PL 42, 873). 313 Aristoteles, Phys. VIII, 4; 253 a 18–20.

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Dagegen spricht: 1. Johannes Damascenus sagt im 2. Buch von Über den Glauben,314 daß weder Menschen noch Dämonen die Zukunft vorherwissen, sondern Gott allein. 2. Jeder kann das Eigene besser verstehen als das Fremde, weshalb in 1 Kor. 2, 11 geschrieben steht: »Was eines Menschen ist, weiß niemand als der Geist des Menschen, der in ihm ist«. Doch wußten die Dämonen nichts von ihrem künftigen Fall, wie aus dem 11. Buch von Über Genesis dem Wortlaut nach des Augustinus315 hervorgeht. Also konnten die Dämonen noch sehr viel weniger anderes vorauswissen. 3. Erkenntnis gibt es nur von Wahrem.316 Nichtnotwendige zukünftige Dinge entsprechen aber keiner festgelegten Wahrheit, wie Aristoteles im 1. Buch seiner Schrift Von der Auslegung sagt.317 Also erkennen die Dämonen die künftigen Dinge nicht in bestimmter Weise. Antwort: Zukünftiges kann man auf zweierlei Weise erkennen: auf eine Weise als in sich selbst, und auf andere als in seinen Ursachen. In sich selbst kann Zukünftiges tatsächlich nur von Gott gewußt werden. Der Grund dafür ist, daß die zukünftigen Dinge, weil sie eben zukünftig sind, als solche noch kein Dasein haben, Sein und Wahrheit aber austauschbar sind.318 Da nun alles Wissen ein solches von etwas Wahrem ist, ist es unmöglich, daß irgendein Wissen um zukünftige Dinge, insofern sie zukünftig sind, diese in sich selbst begreift. Da aber Gegenwart, Vergangenheit und Zukunft Zeit314 Johannes Damascenus, De fide 2, 4 (ed. Buytaert, 76). 315 Augustinus, De Gen. ad litt. XI, 17 (PL 34, 438), wie Thomas,

Sum. theol. II–II q. 18 a. 3 angibt. 316 Vgl. Aristoteles, Anal. post. I, 4; 71 b 25. 317 Aristoteles, Peri herm. I, 13; 18 a 28 ff. 318 Bonaventura hat diesen Gedanken lobend erwähnt in seinem Sentenzenkommentar II, d. 37 a. 2 q. 3 sed c. 3, vgl. Albertus Magnus, Summa theologiae I, tr. 6 q. 25 m. 3 a. 3 part. 2; zurückführen läßt sich diese Sentenz auf Aristoteles, Met. II, 2; 993 b 30, gemäß der Metaphysikübersetzung bei Averroes (Averroes VIII, 29 M).

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unterscheidungen darstellen, die die chronologische Abfolge anzeigen, steht alles, was in irgendeiner Form zur Zeit gehört, in Verhältnis zu Zukünftigem, insofern es noch zu geschehen hat. Daher ist es unmöglich, daß eine dem Zeitlichen unterworfene Erkenntnis um die zukünftigen Dinge weiß, insofern sie zukünftig sind. Das jedoch ist die Erkenntnisart der Geschöpfe, wie gleich zu sehen sein wird. Somit ist es unmöglich, daß ein Geschöpf das Zukünftige in sich selbst erkennt, sondern das ist etwas, was allein Gottes Wissen vorbehalten ist, das so vollkommen über jeder zeitlichen Anordnung erhaben steht, daß die göttliche Erkenntnis nicht unter die zeitliche Maßgabe von Zukunft und Vergangenheit fällt, sondern daß der gesamte Zeitablauf und alles, was in der Zeit stattfindet, Gott gegenwärtig ist und sich ihm unmittelbar darstellt, und seine reine unmittelbare Einsicht sich gleichzeitig auf alles so verlegt, wie jedes in seiner jeweiligen Zeit ist. Man kann dafür eine brauchbare Vergleichserwägung aus der räumlichen Anordnung heranziehen, weil das Vorher und Nachher in der Bewegung und in der Zeit dem Zuerst und Dahinter in der Quantität folgen, wie im 4. Buch der Physik steht.319 Deshalb hat Gott die unmittelbar gegenwärtige Anschauung all der Dinge, die miteinander nach der Maßgabe von Gegenwart, Vergangenheit und Zukunft in Verbindung stehen − was nichts von dem, dessen Auffassungsgabe in diese Zeitverlaufsordnung fällt, vermag. Genauso sieht einer, der auf einem hohen Aussichtspunkt steht,320 alle Fußgänger auf einer Straße gleichzeitig, und nicht als Vorausgehende und Nachfolgende, obwohl er sehr wohl sieht, daß einige anderen voranschreiten. Wer jedoch selber auf der Straße steht, kann unter den Vorbeigehenden nur ein aufeinander Abfolgen oder ein Nebeneinander erkennen. Einige zukünftige Dinge aber sind auf dreifache Weise in ihren Ursachen erkennbar: Einmal bloß in Anbetracht der Möglichkeit, da sie nämlich gleichermaßen sein oder auch nicht sein können, in Hinsicht auf beides nennt man sie daher nichtnotwendig zustande-

319 Aristoteles, Phys. IV, 17; 219 a 16–18. 320 Das Beispiel kommt von Boethius, De consolatione philosophiae IV,

6 (PL 63, 818 A).

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kommend.321 Andere hingegen erkennt man in ihren Ursachen nicht allein in Anbetracht der Möglichkeit, sondern in Anbetracht einer bewirkenden Ursache, die nicht daran gehindert werden kann, ihre Wirkung zu zeitigen, und von solchen Dingen sagt man, daß sie aus Notwendigkeit zustande kommen.322 Andere wiederum erkennt man in ihren Ursachen sowohl in Anbetracht der Möglichkeit als auch in Anbetracht einer bewirkenden Ursache, die jedoch daran gehindert werden kann, ihre Wirkung zu zeitigen, und von diesen Dingen darf man behaupten, daß sie zumeist zustande kommen.323 Nun wird im 9. Buch der Metaphysik 324 gesagt, daß alles nur gemäß seiner Wirklichkeitsform erkannt wird, und nicht gemäß seiner Möglichkeitsform, und daher kommt es, daß die Dinge, die in Anbetracht von beidem geschehen, nicht als in ihren Ursachen vorbestimmt vorhergewußt werden können, sondern nur disjunktiv, das heißt, daß sie geschehen können oder auch nicht: denn nur auf diese Weise eignet ihnen Wahrheit. Diejenigen Dinge aber, die derart in ihren Ursachen erkennbar sind, daß sie mit Notwendigkeit aus ihnen hervorgehen, können von Menschen mit Sicherheit in ihren Ursachen erkannt werden, doch noch viel sicherer von Dämonen oder Engeln, da sie mit der Kraft natürlicher Verursachung viel besser vertraut sind als die Menschen. Jenes allerdings, was zumeist zustandekommt, kann nicht mit vollkommener Sicherheit in seinen Ursachen erkannt werden, sondern nur mit einiger Wahrscheinlichkeit, doch sicherer von guten und bösen Engeln als von Menschen. Dennoch ist darauf zu achten, daß die Erkenntnis des Zukünftigen in seinen Ursachen nichts anderes bedeutet, als: die gegenwärtige Neigung der Ursache zu ihrer Wirkung hin erkennen. Daher ist dies eigentlich keine Erkenntnis von Zukünftigem, sondern von Gegenwärtigem. Deswegen ist die Erkenntnis der zukünftigen Dinge etwas, das eigentlich nur Gottes ist, wie in Jes. 41, 23 steht: »Verkündet uns, was kommen wird, und wir werden sagen, daß ihr Götter seid«. 321 322 323 324

Aristoteles, Peri herm. I, 13; 18 b 8 ff. Vgl. Aristoteles, Met. VI, 2; 1026 b 30. Vgl. Aristoteles, Met. VI, 2; 1026 b 30. Aristoteles, Met. IX, 10; 1051 a 29.

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Zu 1. Das erste Argument ergibt sich aus der Anbetracht zukünftiger Dinge, insofern sie in ihren Ursachen erkannt werden. Zu 2. Dämonen sagen die zukünftigen Dinge zuweilen richtig voraus und zuweilen falsch. Richtig sagen sie das voraus, was sie aus der von Gott kommenden Offenbarung an die guten Geister vorherwissen, oder aufgrund der äußeren Verursachungen, deren Wirkkraft sie kennen, oder aufgrund eigenen Vorsatzes, wenn sie zum Beispiel ansagen, was sie selbst zu tun im Begriffe sind. Falsche Vorhersagen treffen sie manchmal, wenn sie den Menschen täuschen wollen, da doch auch in Joh. 8, 44 steht, daß der Teufel »ein Lügner und der Vater aller« ist, nämlich aller Lüge. Manchmal sagen sie Falsches deswegen voraus, weil sie sich selbst im Irrtum befinden, so etwa, wenn sie von der Gottheit an dem gehindert werden, was sie zu vollführen sich vornehmen, oder wenn aus göttlicher Kraft etwas außerhalb der natürlichen Wirkzusammenhänge geschieht, wie Augustinus in seinem Werk Über die Sehergabe der Dämonen schreibt.325 Zu 3. Tatsächlich stehen die Dämonen ihrer Wesensbeschaffenheit und Tätigkeit nach über der Zeit, welche die Bewegung der Himmelskörper bestimmt,326 und dennoch hat ihr Tätigsein etwas Zeitliches an sich, insofern sie nicht alles auf einmal verstehen. Dieses Zeitliche bringt eine gewisse Veränderlichkeit in ihren Leidenschaften und ihrem Begreifen vernunftgemäßer Dinge mit sich. Deswegen sagt Augustinus im 8. Buch von Über Genesis dem Wortlaut nach,327 daß Gott die Geistwesen durch die Zeit bewegt. Zu 4. Es gibt auch ein anderes Argument, das besagt, daß Gott der gesamte Zeitverlauf gegenwärtig vor Augen steht, weil sein Verstand gänzlich zeitfrei ist und somit die Zukunft als bereits bestehend betrachtet. Was man von einem Engel oder Dämon ja nun nicht behaupten kann. Zu 5. Jeder Verstand abstrahiert auf irgendeine Weise vom Hier und Jetzt, doch tut das der menschliche anders als der eines Engels. Denn der menschliche Verstand abstrahiert vom Hier und Jetzt so325 Augustinus, De divinatione daemonum 6, 10 (PL 40, 587). 326 Vgl. Aristoteles, Phys. IV, 23; 223 b 18–21. 327 Augustinus, De Gen. ad litt. VIII, 20 (PL 34, 388).

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wohl bezüglich der Erkenntnisdinge selbst, da er ja keine Einzeldinge erkennt, die unter der Maßgabe des Hier und Jetzt stehen, als auch bezüglich der verstandesmäßigen Formen selbst, die von individuellen Bedingungsverhältnissen entbunden sind. Der Verstand eines guten oder bösen Engels aber abstrahiert vom Hier und Jetzt bezüglich der verstandesmäßigen Formen selbst, die immateriell und allgemein sind, nicht jedoch bezüglich der Erkenntnisdinge selbst. Denn er erkennt durch die verstandesmäßigen Formen und deren Wirksamkeit wegen nicht nur das Allgemeine, sondern auch das Einzelne. Auf diese Weise liegt bei den Dämonen ein Unterschied in der Erkenntnis von Zukünftigem und Gegenwärtigem vor. Zu 6. Engel erkennen Einzelnes, wenn es sich wirklich ergibt, nicht durch neu gebildete Erkenntnisbilder, sondern durch diejenigen, die sie schon vorher hatten, und durch die sie jenes Einzelne dennoch vorher nicht erkannt hatten, weil es ja noch in der Zukunft lag. Der Grund dafür liegt darin, daß jede Erkenntnis gewissermaßen durch eine Anverwandlung des Erkennenden ans Erkannte zustandekommt.328 Nun sind die im Verstand der Engel vorliegenden Gebilde für die Erkenntnis Ähnlichkeitsbilder, die unmittelbaren Bezug zu den Wesenseigenheiten der Artbestimmungen haben. Dennoch können die Engel durch sie Einzeldinge erkennen, aber nur insofern diese an den Wesenseigenheiten ihrer Artbestimmung teilhaben, was ja erst dann geschieht, wenn die Einzeldinge wirklich sind. Daher werden sie auch, sobald sie ins Dasein getreten sind, von den Engeln unmittelbar erkannt, genauso wie es bei uns geschieht, daß wenn unsere Augen die Gestalt eines Steins aufnehmen, wir auch im selben Augenblick den Stein als vorher schon daseiend erkennen. Denn die Erkenntnisbilder im Verstand eines Engels liegen in ihrem Vorhandensein den zeitlichen Dingen voraus, genauso wie die Wesensgestalten der Dinge unseren Sinnen. 328 Zur Zuschreibung dieser Aussage durch Thomas an verschiedene Philosophen vgl. Sent. I d. 34 q. 3 a. 1 arg. 4 sowie d. 35 a. 1 arg. 4. Vielleicht im Hinblick auf Aristoteles, Eth. Nic. VI, 1; 1139 a 10, oder Isaac Israeli, Liber de definicionibus (ed. Muckle, 303 und 330), gesagt. Vgl. aber auch Thomas, Super Boethii De Trinitate q. 5 a. 3, wo nahegelegt wird, die Aussage sei aus der Metaphysik des Algazel (p. I tr. 3 sent. 2) entnommen.

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Zu 7. Zeitliche Einzeldinge zu erkennen, wie sie in ihrer gegenwärtigen Auftretensform sind, übersteigt die Erkenntniskraft der Engel keineswegs, wohl aber, sie in ihrer zukünftigen zu erkennen. Zu 8. Wie Dionysius Areopagita im 2. Kapitel von Über die göttlichen Namen sagt,329 läßt sich nichts finden, was eine gründliche, das heißt vollkommene, Ähnlichkeit mit Gott aufwiese. Daher ist es so, daß die Erkenntnisgestalten, die im Verstand der Engel vorliegen, den idealbegründenden Wesensformen im göttlichen Verstand auch noch so ähnlich sein mögen: sie könnten ihnen doch nie gleichkommen, jedenfalls nicht darin, daß sie sich auf all das erstreckten, worauf sich diese erstrecken. Obwohl also die idealbegründenden Wesensformen im Geiste Gottes, welche die Zeit gänzlich übersteigen, sich gegenüber Gegenwart, Vergangenheit und Zukunft gleichgültig verhalten, so folgt daraus doch nicht, daß es sich auf gleiche Weise mit den Erkenntnisformen im Verstand der Engel verhält. Zu 9. Es ist richtig, daß die in den Dingen verwirklichten Formen, die aus dem göttlichen Geist hervorgehen, sich stets auf gleiche Weise bezüglich ihrer artbestimmenden Wesensbeschreibung verhalten, nicht aber bezüglich der Teilnahme der individuellen Einzeldinge an ihnen, denn zeitweilig nehmen einige dieser Einzeldinge an einer Wesensform teil, zeitweilig andere. Genauso verhalten sich die Formen im Verstand der Engel für sich selbst betrachtet auf stets gleiche Weise, doch geschieht es dank der Veränderungsbewegungen der natürlichen Einzeldinge, daß sie zu gewissen Zeiten mit den im Verstand der Engel vorfindlichen Formgestalten übereinstimmen, zu anderen Zeiten aber nicht. Zu 10. Das Einige, was den Dämonen aus der Offenbarung höherer Geister zur Kenntnis kommt, übersteigt die ihnen wesensgemäßen Fähigkeiten. Was sie hingegen dank der Feinheit ihrer natürlichen Beschaffenheit erkennen, gehört zu ihrer wesensgemäßen Erkenntnisfähigkeit, mit deren Hilfe sie in den natürlichen Ursachen deren Wirkungen vorherwissen können. Über die menschlichen Handlungen, die von der freien Willensausübung abhängen und die sie nicht aus natürlichen Ursachen vorherwissen können, haben die Dämonen aus der Erfahrung großen Kenntnisreichtum. 329 Dionysius Areopagita, De div. nom. II, 8 (Dion. I, 99).

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Zu 11. Was zukünftig ist, hatte in vergangenen Zeiten durchaus Vorgängerereignisse, die ihm vergleichbar sind, doch nicht in allem. Es kann aber eine zukünftige Wirkung verschiedenen vergangenen Wirkungen in verschiedenen Hinsichten gleich sein. Doch kann die Erkenntnis aus Ähnlichkeitserwägungen bei nichtnotwendigen Dingen wegen der Veränderlichkeit der Materie keine Sicherheit beanspruchen, sondern bleibt eine vermutungsweise Erkenntnisart. Zu 12. Erfahrung kommt aus Sinneswahrnehmung, insofern die Sinne das ihnen Gegenwärtige erfassen. Demgemäß kann man bei den Dämonen nicht deswegen von Erfahrung sprechen, weil sie etwas mit den Sinnen wahrnähmen, sondern weil sie Dinge, die sie vorher nicht kannten, dann erkennen, wenn sie ihnen auf besagte Weise begegnen. Zu 13. Daß die Dämonen das in der Zukunft Liegende nicht erkennen, kommt nicht daher, daß sich ihr Verstand in einem Möglichsein befindet, sondern daher, daß die künftigen Einzeldinge noch nicht an der Artbestimmung teilhaben, deren Ähnlichkeitsbild bereits wirklich im Verstand der Dämonen vorliegt. Zu 14. Die Verfechter der These, daß alles aus Notwendigkeit geschieht, haben diese These auf vier verschiedene Weisen ins Feld geführt. Eine davon war die der Stoiker,330 welche für die künftigen Geschehnisse eine Notwendigkeit aus einer gewissen Reihe miteinander verknüpfter Ursachen ansetzten, die sie Schicksal nannten. Und genau auf diese Ansicht bezieht sich das hier vorgebrachte Argument. Im 6. Buch der Metaphysik 331 hat Aristoteles es gelöst: Aus der zweifachen Annahme, so sagt er, daß alles, was geschieht, eine Ursache hat, und daß man notwendigerweise eine Wirkung annehmen muß, wo man eine Ursache ansetzt, folgt, daß alles aus Notwendigkeit geschieht. So wird jedwede zukünftige Wirkung auf eine gegenwärtige oder gewesene Ursache zurückgeführt, die notwendigerweise besteht oder bestanden hat, da doch die Wirkung besteht oder bestanden hat. Angenommen nun, jemand würde umgebracht, wenn er nachts das Haus verläßt, er aber das Haus verläßt, wenn er etwas trinken will, was er möchte, wenn er durstig ist, und das dann, 330 So nach Nemesius, De natura hominis 37 (ed. Verbeke, 138). 331 Aristoteles, Met. VI, 3; 1027 a 29 ff.

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wenn er Salziges zu sich nähme, und er es vielleicht schon gegessen hat oder gerade tut, so folgte daraus, daß er notwendigerweise umgebracht wird. Doch sind beide besagten Annahmen falsch. Es ist falsch, daß, selbst wenn eine Ursache angesetzt ist und sie auch für sich hinreiche, man auch notwendigerweise eine Wirkung ansetzen müßte. Denn diese könnte ja verhindert werden, so etwa, daß Holz Feuer fängt dadurch, daß man Wasser darauf schüttet. Ganz ähnlich ist es auch unwahr, daß alles, was geschieht, eine Ursache hat. Einiges nämlich geschieht aus Zufall, was aber aus Zufall geschieht, hat keine Ursache, da das Zufällige kein Kennzeichen eines Seienden sein kann, wie Platon sagt.332 So hat es daher einen Grund, daß jemand ein Grab aushebt. Genauso hat es einen Grund, daß irgendwo ein Schatz vergraben liegt.333 Doch das Zusammentreffen beider, daß also derjenige, der ein Grab ausheben will, dort gräbt, wo der Schatz verborgen liegt, ist zufällig, da es einer Ursache entbehrt. Zu 15. Einige334 wollten für die künftigen Ereignisse eine Notwendigkeit aus der göttlichen Vorsehung ansetzen, in der sie das Schicksal begründet sahen. Darauf scheint sich das vorgebrachte Argument zu beziehen. Daher sagt Augustinus, daß nichts auf der Welt planlos vonstatten geht, da alles der göttlichen Vorsehung untersteht. Das hebt die Nichtnotwendigkeit künftiger Ereignisse jedoch nicht auf, und zwar weder wegen der Sicherheit des göttlichen Wissens, noch wegen der Wirksamkeit des göttlichen Willens. Soweit dies das Wissen betrifft, dürfte es aus dem vorher Ausgeführten335 klar geworden sein: Das Wissen Gottes verhält sich zu den künftigen Zufälligkeiten wie gesagt336 genauso wie unser Auge zu den gegenwärtigen. Wie wir daher mit Sicherheit Sokrates sitzen sehen, wenn er sitzt, und wie die Tatsache, daß er sitzt, dennoch nicht allein schon deswegen schlechterdings notwendig sein muß, so hebt die Tatsache, daß Gott alles in sich sieht, was geschieht, noch 332 So Aristoteles, Met. VI, 2; 1026 b 14–15. 333 Das Beispiel stammt von Avicenna, Sufficientia I, 13 (f. 20 va A). 334 Nämlich einige Stoiker nach Auffassung des Augustinus, De civ.

Dei V, 8 (CCSL 47, 135–136). 335 In der Antwort auf Argument 14. 336 Vgl. Antwort.

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nicht die Nichtnotwendigkeit davon auf.337 Und was den Willen Gottes betrifft, so muß man bedenken, daß er die allgemeine Ursache des Seins ist und allgemein auch all dessen, was sich daraus ergibt, ob mit Notwendigkeit oder nicht. Sein Wille selbst aber steht über jeglicher Anordnung von notwendig und nichtnotwendig, wie er ja auch über jeglichem geschaffenen Sein steht. Daher werden Notwendigkeit und Nichtnotwendigkeit der Dinge nicht nach ihrem Bezug auf den göttlichen Willen unterschieden, der für sie beide gemeinsam den Grund darstellt, sondern durch die Abgleichung mit den geschaffenen Dingen, welche der göttliche Wille auf ihre jeweilige Wirksamkeit hin angelegt hat, daß nämlich zu notwendigen Wirkungen unveränderliche Ursachen gehören, zu nichtnotwendigen hingegen veränderliche. Zu 16. Einige338 haben versucht, für die künftigen Ereignisse eine Notwendigkeit aus der Wirkkraft der Himmelskörper anzusetzen, in der sie das Schicksal begründet sahen. Daraus ergibt sich das vorgebrachte Argument. Es scheitert erstens darin, daß nicht alle Anfangsursachen der künftigen Ereignisse der Wirkkraft der Himmelskörper unterworfen sind. So sind der Verstand und folglich auch der Wille, der seinen Sitz in der Vernunft hat, keine Kräfte irgendeines körperlichen Organs,339 und daher keiner unmittelbaren körperlichen Krafteinwirkung unterworfen. Doch es scheitert auch in Hinsicht auf die rein körperlichen Auswirkungen. Denn die Wirkkraft eines Himmelskörpers ist eine natürliche, die Natur aber strebt immer auf eins zu.340 Was aber aus Zufall entsteht, ist nicht wahrhaft eine Einheit, wie im 5. Buch der Metaphysik steht.341 Daher läßt sich das zufällig Entstandene durchaus manchmal auf irgendeine Ursache im Verstand begründend zurückführen, die das zufällig Entstandene wie eine Einheit aufzufassen imstande ist, nicht aber auf irgendeine natürliche Ursache. Es ist jedoch offensichtlich, 337 Vgl. Thomas, Sum. theol. II–II, q. 49 a. 6, und Aristoteles, Peri herm. I, 15; 19 a 23–27. 338 Nämlich Astrologen gemäß Augustinus, De civ. Dei V, 1–7 (CCSL 47, 128–135). 339 Vgl. Aristoteles, De an. III, 1 [7]; 429 b 5. 340 Vgl. Aristoteles, Met. IX, 2; 1046 b 5–6. 341 Aristoteles, Met. V, 7; 1015 b 16 ff.

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daß bei den rein körperlichen Wirkungen vieles aus Zufall zustande kommt. So mag der Blitz in ein dichtbewaldetes Gebiet mit vielen Bäumen einschlagen, die Feuer fangen und somit brennt der Wald ab. Nicht alle rein körperlichen Wirkungen können daher auf die Wirkkraft der Himmelskörper als ihre Ursache zurückgeführt werden. Und deswegen kommen auch nicht alle körperlichen Wirkungen der Himmelskörper mit Notwendigkeit zustande, da sie durch zufällige Umstände verhindert werden können. Wie im Buch Über die Traumdeutung 342 steht: Viele atmosphärische Bewegungen, die von Anzeichen in den Himmelskörpern vorbegleitet waren, kamen dann doch nicht zustande. Zu 17. Vernunft und Wille werden von etwas äußerlichem, was im Körper oder den Sinneskräften Leidenschaften hervorruft, durchaus zum Tätigsein angestachelt, doch verbleibt es in der Macht der Vernunft und des Willens, ob dann gemäß solcher Leidenschaftsbewegungen gehandelt wird oder nicht. Zu 18. Dieses Argument betrifft die vierte Weise, in der einige343 dem menschlichen Handeln Notwendigkeit auferlegen wollten. Um sie zu widerlegen ist zu bedenken, daß der Wille vom Guten bewegt wird wie der Verstand vom Wahren. Nun stimmt der Verstand mit Notwendigkeit den ersten Erkenntnisgrundlagen zu, die aus sich selbst immer schon bekannt sind,344 und all dem, was er aus ihnen als Voraussetzungen mit Notwendigkeit ableitbar betrachtet, da ohne dieses auch die Erkenntnisgrundlagen keine Wahrheit beanspruchen könnten. Ähnlich strebt auch der Wille mit Notwendigkeit auf ein letztes Ziel zu, das um seiner selbst willen angestrebt wird, da doch alle mit Notwendigkeit glücklich sein wollen,345 und genauso auf das, ohne das man die Glückseligkeit als unmöglich erachten würde. Anderen wählenswerten Dingen hingegen, die man entweder als irgendwie gut als zur Glückseligkeit gehörend erach342 Aristoteles, De divin. per somn. 2; 463 b 23–26. 343 Der dritte der an der Pariser Universität 1270 verurteilten Irrtümer

(sh. Chartularium Universitatis Parisiensis I n. 432). 344 Vgl. Aristoteles, Anal. post. I, 7; 72 b 23–25, wie Thomas auch in De ver. q. 10 a. 12 sed contra 3 sagt. 345 Augustinus, De Trin. XIII, 3 (PL 42, 1018), wie Thomas, Sum. theol. I–II, q. 5 a. 8 sed contra, angibt.

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ten könnte, oder als ihr zwar hinderlich, aber dennoch so, daß man ohne sie die Glückseligkeit erreichen kann, stimmt der Wille nicht mit Notwendigkeit zu, genauso wenig wie der Verstand den Dingen, die er vermeint346 und von denen er denkt, daß selbst wenn sie ausfallen würden, die aus sich heraus gewußten Erkenntnisgrundlagen doch nichtsdestoweniger bestehen bleiben können.

8. Artik el 3 4 7 Die achte Frage lautet: Kennen die Dämonen die Gedanken in unserem Herzen? Das scheint der Fall zu sein; denn: 1. Gregor der Große sagt im 18. Buch seiner Moralschriften 348: »Solange wir in diesem Leben sind, können wir einander nicht in die Herzen schauen, da die nicht in gläsernen, sondern in irdenen Behältern eingeschlossen sind«. Die Dichte irdener Behältnisse kann aber die Kraft des Verstandes zu durchschauen, wie sie den Dämonen eignet, nicht behindern. Also kennen die Dämonen die Gedanken in unserem Herzen. 2. Wie die körperliche Anschauung sich zur körperlichen Gestalt verhält, so die geistige Anschauung zu geistigen Gestaltgebungen. Nun kann die sinnlich körperliche Anschauung die körperliche Gestalt in sinnlich vorliegenden Dingen sehen. Also kann die geistige Anschauungsweise der Dämonen auch die geistigen Gestaltgebungen sehen, die in unserer Seele vorliegen. Diese aber gestalten ja ihrerseits die Gedanken in unserem Herzen. Also kann ein Dämon die Gedanken im Herzen des Menschen erkennen. 3. Dagegen wurde eingewandt, daß die Dämonen diejenigen Gedanken erkennen können, in denen wir Vorstellungsbilder benutzen, nicht aber jene, die rein spekulativ sind. − Dagegen spricht, was Ari346 Vgl. Aristoteles, Top. I, 1; 100 b 21–23. 347 Paralleltexte: De ver. q. 8 a. 13; Sum. theol. I, q. 57 a. 4; Lectura

super I ad Corinthios cap. 2 lect. 2; Responsiones de 43 articulis a. 39; Responsiones de 36 articulis a. 36. 348 Gregor der Große, Moralia XVIII, 48, 78 (PL 76, 84 B).

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stoteles im 3. Buch von Über die Seele349 schreibt, daß nämlich die Seele gar nie ohne Vorstellungsbilder versteht. Beleg dafür ist, daß bei Beeinträchtigung des entsprechenden Vorstellungsorgans jegliche Verstandestätigkeit Einbußen erleidet. Wenn die Dämonen nun aber diejenigen unserer Gedanken erkennen können, in denen wir Vorstellungsbilder benutzen, so folgt, daß sie alle unsere Gedanken kennen. 4. Dagegen wurde ebenfalls eingewandt, daß die Aussage des Aristoteles als auf das, was wir natürlicherweise erkennen, bezogen zu verstehen ist, nicht aber bezüglich dessen, was uns die Gottheit offenbart. − Dagegen spricht, was Dionysius Areopagita im 1. Kapitel der Himmlischen Hierarchie350 sagt: »Wir können unmöglich die göttlichen Strahlen ansehen, sondern nur eingehüllt von verschiedenen heiligen Schleiern«. Mit diesen verschleiernden Hüllen meint er351 die sinnlichen Ähnlichkeitsbilder. Also benötigen wir auch für das, was uns die Gottheit offenbart, die den sinnenfälligen Dingen ähnlichen Vorstellungsbilder, und somit können Dämonen alle unsere Gedanken sehen. 5. Unser Verstand erkennt eher dasjenige, was seiner Natur nach weniger geistig ist, da er seine Erkenntnis aus den Sinnen empfängt.352 Auf Dämonen jedoch trifft das nicht zu und daher erkennen sie eher solche Dinge, die für sich betrachtet denkbar sind. Nun sind die im Verstand vorliegenden Artgestalten im Vollzug verstehbar und daher sehr viel mehr für sich betrachtet denkbar als die Gestaltverwirklichungen in den natürlich verwirklichten Dingen, die nur der Möglichkeit nach verstanden werden. Da aber die Dämonen in ihrem Verstand die in den materiellen Dingen vorliegenden Wesensformen erkennen, können sie noch sehr viel besser die Gestaltannahmen in unserem Geist erkennen, nach denen die Gedanken gebildet werden. Also können sie unsere Gedanken erkennen. 6. »Das, weswegen etwas auf gewisse Art ist, ist dies umso mehr.«353 349 350 351 352 353

Aristoteles, De an. III, 6; 431 a 16–17. Dionysius Areopagita, De cael. hier. I, 2 (Dion. II, 733). Dionysius Areopagita, De cael. hier. III, 3 (Dion. II, 738). Vgl. Aristoteles, Anal. post. II, 20; 100 a 10. Vgl. Aristoteles, Anal. post. I, 6; 72 a 29, zitiert gemäß anonymer

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Nun ist unser Verstand deswegen fähig zu verstehen, weil in ihm die Verstandesbilder vorliegen, wie aus dem von Aristoteles im 3. Buch von Über die Seele354 Gesagten hervorgeht. Da also die Dämonen sogar den Wesensgrund unseres Verstandes kennen, so doch umso mehr die geistigen Gebilde dieses Verstands. 7. Die Dämonen kennen unsere Seelen besser, als wir das tun. Die Gedanken aber sind in der Seele. Also kennen die Dämonen auch unsere Gedanken besser, als wir das tun. 8. Wie oben bereits gesagt355: Dämonen erkennen die Wirkungen in den Ursachen. Sie kennen aber unsere Seele, sowohl deren Vermögen als auch deren innere Verfaßtheit, welche die Gedanken hervorbringen. Also kennen die Dämonen unsere Gedanken. 9. Niemand kann mit Wahrheit äußern, was er nicht weiß. Doch wie Augustinus im 12. Buch von Über Genesis dem Wortlaut nach 356 sagt: »Aus sicheren Belegen läßt sich feststellen, daß von Dämonen die Gedanken von Menschen geäußert wurden«. Also kennen die Dämonen die Gedanken. 10. Jede Erkenntnis kommt gewissermaßen durch eine Anverwandlung des Erkennenden ans Erkannte zustande.357 Doch durch das Sündigen in Gedanken werden Menschen den Dämonen anverwandelt. Also können Dämonen solche Gedanken erkennen. 11. Das innere Wort im Herzen ist den Dämonen als geistige Wesenheit ähnlicher als das geäußerte Wort,358 das körperlicher Natur ist. Nun kennen die Dämonen das geäußerte, mündlich ausgedrückte Wort von Menschen. Also kennen sie umso mehr das innere Wort, das dem Denken angehört, wie aus dem 15. Buch von Augustinus’ Über die Dreifaltigkeit hervorgeht.359 lateinischer Übersetzung (ed. Minio-Paluello, 114) und Jacobi (ed. MinioPaluello, 9). 354 Aristoteles, De an. III, 6[12]; 431 a 14–15. 355 Vgl. a. 7. 356 Augustinus, De Gen. ad litt. XII, 17, 34 (PL 34, 467). 357 Vgl. a. 7 Anmerkung 28. 358 Vgl. die Glossa ordinaria in I Iohannis 1, 10, aus Augustinus, De Trin. XV, 11 (PL 42, 1071). Sh. Auch Thomas selbst, Super I Sententiarum d.27 q.2 a.1, und Albertus Magnus, Super I Sententiarum d.27 a.7. 359 Augustinus, De Trin. XIV, 7, 10 (PL 42, 1043).

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12. Der Vollzug ist besser zu erkennen als der Bestand, aus dem er sich schöpft. Dämonen aber kennen, was im Gedächtnisbestand der Menschen enthalten ist. Das wird auch aus folgendem ersichtlich: Wie Augustinus im 18. Buch von Über die Bürgerschaft Gottes360 sagt, erschien einem Schlafenden im Traume ein Philosoph und löste ihm eine Schwierigkeit, über die er lange zweifelnd nachgedacht hatte, was ein Werk von Dämonen gewesen zu sein scheint. Also können offenbar Dämonen dann doch umso mehr die menschlichen Gedanken in ihrem Vollzug erkennen. 13. Je höher eine Erkenntniskraft steht, desto mehr vermag sie auch über anderes.361 Nun steht die Erkenntniskraft eines Dämonen höher als die eines Menschen. Weil aber ein Mensch die Gedanken eines anderen durch äußere Zeichen erkennen kann − gemäß Sir. 19, 26: »man erkennt einen Mann am Aussehen, und den Verständigen in der Begegnung von Angesicht« −, so scheint sich daraus auch zu ergeben, daß die Dämonen desweiteren noch die Gedanken der Menschen selbst sehen. 14. Wenn die Dämonen diese Gedanken nicht in sich selbst sähen, sondern nur durch körperliche Anzeichen, so könnten sie sie ja gar nicht kennen, denn dasselbe körperliche Zeichen kann verschiedenes bedeuten: Das Erröten im Gesicht etwa kann aus der inneren Leidenschaftsaufwallung des Zorns oder auch aus Scham kommen. Nun steht jedoch fest, daß Dämonen irgendwie die Gedanken der Menschen wissen, wie aus Augustinus’ 12. Buch Über Genesis dem Wortlaut nach362 und seinen Schriften Über die Sehergabe der Dämonen 363 und Nachbetrachtungen 364 hervorgeht. Also erkennen die Dämonen die Gedanken in sich selbst. 15. Körperliche Anzeichen sind sinnenfällig. Doch nach dem 7. Kapitel von Über die göttlichen Namen des Dionysius365 erkennen die Dämonen die geistige Wahrheit nicht aus sinnlich Wahrnehm360 361 362 363 364 365

Augustinus, De civ. Dei XVIII, 18, 2 (CCSL 48, 609). Liber de causis prop. 17 (16). Augustinus, De Gen. ad litt. XII, 17, 34 (PL 34, 467). Augustinus, De divinatione daemonum V (PL 40, 586). Augustinus, Retractationes II, 30 (Pl 32, 643; CSEL 36, 167). Dionysius Areopagita, De div. nom. VII, 2 (Dion. I, 388).

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barem. Also erkennen die Dämonen nicht aus körperlichen Anzeichen, sondern alles in sich selbst. 16. Dagegen wurde eingewandt, daß ein Dämon die innerlichen Gedanken in sich selbst nicht kennen kann, da es in der Macht des Willens liegt, sie zu verheimlichen. − Dagegen spricht: Der Wille verbirgt sie ja nicht, indem er sie vollkommen aufhebt, weil dann ja überhaupt nicht gedacht würde. Er tut es auch nicht, indem er sie wegschiebt, da ein körperliches Verschieben das Erkennen eines Engels nicht verhindert. Und auch nicht dadurch, daß der Wille etwas vor die Gedanken schiebt, da es nichts in der Seele gibt, was ein Dämon nicht durchschauen könnte. Also kann der Wille auf keinerlei Weise die menschlichen Gedanken vor Dämonen verbergen. 17. Wie Augustinus im 2. Buch von Über Genesis dem Wortlaut nach sagt,366 erkennen die Engel alles unterhalb von ihnen durch die Erkenntnisformen, die sie bei ihrer Erschaffung erhielten. Unsere Gedanken aber sind unterhalb von ihnen, weil durch natürliche Anordnung die Seele unter dem Engel steht. Also können die Dämonen durch diese eingeborenen Formen die Gedanken der Menschen kennen. Dagegen spricht: 1. In Jer. 17, 9–10 steht: »Schlecht und unergründlich ist das Herz des Menschen, wer vermöchte es zu kennen? Ich, der Herr, ergründe und prüfe Herz und Nieren«. Also kommt es Gott allein zu, die Gedanken der Menschen zu kennen, und die Dämonen kennen sie nicht. 2. In 1 Kor. 2, 11 sagt der Apostel Paulus: »Was des Menschen ist, weiß niemand als der Geist des Menschen, der in ihm ist«. Die Gedanken aber sind dem Menschen am innerlichsten. Also können Dämonen die Gedanken eines Menschen nicht kennen, sondern nur der Mensch selber. 3. Im Buch Über die Lehrsätze der Kirche367 steht: »Wir sind sicher, daß der Teufel die innersten Gedanken der Seele nicht sieht«.

366 Augustinus, De Gen. ad litt. II, 8, 16 (PL 34, 269). 367 Gennadius, De ecclesiasticis dogmatibus 81 (PL 58, 999 A).

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Antwort: Wie Augustinus im 12. Buch von Über Genesis dem Wortlaut nach368 und in Über die Sehergabe der Dämonen369 sagt, steht aus sicheren Anzeichen zuverlässig fest, daß Dämonen die Gedanken der Menschen irgendwie erkennen. Erkennen kann man diese aber auf zweierlei Weise: zum einen wie sie sich in sich selbst darstellen, also genauso, wie der Mensch seine eigenen Gedanken kennt, und zum anderen durch irgendwelche körperliche Anzeichen. Letzteres ist am deutlichsten, wenn ein Mensch durch seine innersten Gedanken zu irgendeiner Gefühlsaufwallung gebracht wird. Und wenn diese heftig ist, dann wird es davon auch Merkmale in der äußeren Erscheinung geben, die selbst von Begriffsstutzigeren gedeutet werden können, wie zum Beispiel, daß »die in Angst Befindlichen erbleichen, die Beschämten jedoch erröten«, wie Aristoteles im 4. Buch der Nikomachischen Ethik sagt.370 Doch auch, wenn sie leichter ist, kann die Gefühlsaufwallung von scharfsinnigeren Ärzten anhand einer Veränderung des Herzschlags festgestellt werden, wie sie etwa am Puls gefühlt werden kann. Äußerliche und innerliche Anzeichen solcher körperlicher Art kann ein Dämon viel einfacher erkennen als irgendein Mensch, und daher ist es sicher, daß Dämonen einige Gedanken der Menschen in der geschilderten Weise erkennen können. Daher sagt Augustinus in seiner Schrift Über die Sehergabe der Dämonen,371 daß »Dämonen manchmal mit aller Leichtigkeit gründlich in Erfahrung bringen können, worauf Menschen aus sind, und zwar nicht allein das Ausgesprochene, sondern auch das im Denken Entworfene, wenn es sich nur ergibt, daß es dabei zum Ausdruck körperlicher Anzeichen aus der Gemütsverfassung kommt«. Ob aber Dämonen auf diese Weise die Gedanken in sich selbst ersehen können, läßt Augustinus in seiner Schrift Nachbetrachtungen 372 offen, wenn er sagt: »Fest steht, daß solches den Dämonen 368 369 370 371 372

Augustinus, De Gen. ad litt. XII, 17, 34 (PL 34, 467). Augustinus, De divinatione daemonum 5 (PL 40, 586). Aristoteles, Eth. Nic. IV, 17; 1128 b 13–14. Augustinus, De divinatione daemonum 5 (PL 40, 586). Augustinus, Retractationes II, 30 (PL 32, 643).

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durch viel Erfahrung zur Kenntnis gelangt; Menschen jedoch können nur mit großen Schwierigkeiten und manchmal auch gar nicht ausfindig machen, ob die Körper der Denkenden gewisse uns verborgene, Dämonen aber zugängliche Anzeichen aufweisen. − Oder die Dämonen erfahren die Gedanken aufgrund anderer, geistiger Kräfte«. Zur Untersuchung dieses Problems ist zu beachten, daß bezüglich des Denkens zweierlei in Erwägung gezogen werden muß: nämlich seine bildlichen Formen und der Gebrauch dieser Formen, was man verstehen oder denken nennt. Denn da nur in Gott allein kein Unterschied von Wesensform und Sein selbst besteht, so besteht auch nur in ihm kein Unterschied von Verstandesbild und Verstehen selbst, was heißt, ein Verstandeswesen sein. Bezüglich der Verstandesbilder muß man im Auge behalten, daß jeder Verstand sich anders zu den Verstandesbildern des höheren Verstands, und wieder anders zu denen des niedereren Verstands verhält. Die des höheren Verstands sind allgemeiner und können daher von denen des niedereren nicht erfaßt werden. Und deswegen kann der niederere Verstand sie nicht vollkommen erkennen, doch kann der höhere sehr wohl die des niederen erkennen, da sie weniger allgemein sind, und er kann gemäß seiner allgemeiner gefaßten Verstandesbilder über sie urteilen. Und so können die guten und die bösen Engel, weil der Verstand der Engel der Naturordnung entsprechend über unserem steht, die in der Seele vorfindlichen Verstandesbilder erkennen. Bezüglich ihres Gebrauchs jedoch muß man beachten, daß dieser Gebrauch der Verstandesbilder, das heißt die Umsetzung als Denken, vom Willen abhängt: Denn wir gebrauchen die in uns als Bestand vorliegenden gedanklichen Bilder wenn wir wollen, weswegen Averroes auch im Kommentar zu Über die Seele373 schreibt, daß der vorliegende Bestand das ist, was man gebraucht, wenn man will. Die menschliche Willensbewegung ihrerseits hängt ab von der höchsten Ordnungsausrichtung der Dinge, das heißt vom höchsten Guten, das gemäß Platon und Aristoteles374 als höchster aller Gründe 373 Averroes, Kommentar zu De anima III comm. 18 (ed. Crawford, 438). 374 So nach Thomas in den Sententiae libri Ethicorum I, 6 (Leonina

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zu betrachten ist. Denn der Wille hat das allgemeine Gut, dessen Wurzel das höchste Gute ist, zum eigenen Gegenstand, nicht irgendein Einzelgut. Was aber unter die Anordnung eines höheren Guts fällt, bleibt der untergeordneten Ursache verschlossen, und nur die höhere in Bewegung setzende Ursache und der, den sie in Bewegung setzt, wissen es. Es ist, wie wenn ein Bürger einem Befehlshaber wie einer niederstufigen Ursache untersteht, und einem König wie einer höchsten, und dieser Befehlshaber dann nichts von dem wissen kann, was der König dem Bürger unmittelbar angeordnet hat, sondern dies nur der König wissen wird sowie der Bürger, an den seine Anordnung ergangen ist. Weil daher das innerste Wollen von niemandem als Gott in Bewegung gebracht werden kann, dessen Anordnungen die Willensbewegung, und mithin die willentliche Gedankenbewegung, unmittelbar untersteht, so kann es weder von Dämonen, noch von irgendwem sonst als Gott selbst erkannt werden, sowie von dem wollenden und denkenden Menschen. Zu 1. Der Mensch wird von der Erkenntnis von Gedanken nicht nur von deren eigentlicher Wesensbeschaffenheit abgehalten, wie das auch für die Dämonen zutrifft, sondern auch aus der Undurchschaubarkeit der irdischen Körper, welche die körperliche Sinneswahrnehmung, an der unser Erkenntnisvermögen hängt, nicht durchdringen kann. Und auf das bezieht sich, was Gregor der Große sagt. Zu 2. Wie der körperliche Sehsinn nicht jede körperliche Gestaltgebung erkennen kann, sondern nur die ihm entsprechende – kann doch etwa die Nachteule das Sonnenlicht nicht sehen –, so kann auch der geistige Sehsinn nicht jede geistige Gestaltung wahrnehmen, sondern nur die ihm entsprechende.375 Obwohl nun der geistige Sehsinn eines guten oder bösen Engels in unsere Verstandes-

XLVII, 1 p. 22). Es ist diese übrigens eine der wenigen Stellen, in denen Thomas im lateinischen Text den Aristoteles beim Namen nennt und nicht schlicht als »der Philosoph«, philosophus, bezeichnet. 375 Das Beispiel ist entnommen aus Aristoteles, Met. II, 1; 993 b 9–10; vgl. auch Wilhelm von Auxerre, Summa aurea I c. 3 q. 1 (f. 4 vb).

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bilder Einsicht nehmen kann, so kann er deswegen noch lange nicht sehen, wie wir sie im Denken verwenden. Zu 3. Im Gebrauch unseres Erkenntnisvermögens haben wir, solange wir in diesem Leben sind, immer Anschauungsbilder nötig, wie geistig die Erkenntnis auch sein mag. Denn selbst Gott wird doch von uns über die Anschauungsbilder dessen, was er bewirkt, erkannt, insofern wir nämlich hierbei auf dem Weg von Verneinung, Verursachung oder Überhöhung erkennen, wie Dionysius in seiner Schrift Über die Göttlichen Namen sagt.376 Dennoch ist es nicht richtig, daß alle Erkenntnis in uns aus Anschauungsbildern entsteht, da in uns doch auch bestimmte Erkenntnis durch Offenbarung entsteht. Zu 4. Damit ergibt sich auch die Lösung für den vierten Einwand, der mit dem Verstandesgebrauch argumentiert. Zu 5. Dieses Argument folgert, daß Dämonen unsere Verstandesgebilde erkennen. Daraus folgt aber noch nicht, daß sie die Gedanken erkennen, und zwar aus dem bereits angeführten Grund.377 Zu 6. Ähnliches gilt für das sechste Argument. Obwohl man genauso darauf antworten könnte, daß der Verstand uns selbst nur durch Verstandesbilder verständlich wird, insofern wir nämlich den Vollzug des Denkens nach seinem Behandlungsgegenstand erkennen, dessen Abbild die Gestaltannehmungen im Verstand sind. Durch den Vollzug aber wird auch dessen Ermöglichung erkannt. Das muß aber betreffs der Verstandesgabe von guten oder bösen Engeln nicht genauso sein. Zu 7. Erkenntnis der Seele gibt es in zweifacher Weise: In einer Weise indem man erkennt, was die Seele ist, wobei man sie von allem anderen unterscheidet. Was diese Weise betrifft, haben Dämonen bessere Erkenntnis der Seele, weil sie sie in sich selbst anschauen, als Menschen, die ihre Wesensbeschaffenheit aus ihrem Vollzug ableiten. Eine andere Erkenntnis der Seele ist die, bei der erkannt wird, daß die Seele ist.378 Auf diese Weise erkennt der Mensch aus seiner Erfahrung der Vollzüge der Seele, daß es die Seele gibt. Zu dieser 376 Dionysius Areopagita, De div. nom. VII, 3 (Dion. I, 403). 377 Vgl. Antwort. 378 Vgl. Aristoteles, Anal. post. I, 23; 78 a 22.

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Art von Erkennen gehört nun auch jene Erkenntnis, durch die wir wissen, daß wir etwas denken. Was aber die Wesensbeschaffenheit der menschlichen Gedanken betrifft, erkennen Dämonen besser als Menschen. Zu 8. Obwohl Dämonen einige Ursachen von Gedanken kennen, so kennen sie doch nicht alle, weil ihnen, wie gesagt,379 die Willensbewegungen nicht erschlossen sind. Zu 9. Dämonen äußern sich über die Gedanken der Menschen, insofern sie diese, wie gesagt,380 durch gewisse körperliche Anzeichen erkennen. Zu 10. Erkenntnis geschieht ja nicht durch Wesensanverwandlung, sondern durch Anverwandlung der Aufmerksamkeit. Denn es ist nicht so, daß der Stein in der Seele wäre, so daß wir dadurch den äußerlich faßbaren Stein erkennten, wie das Empedokles annahm,381 sondern die bloße Gestalt des Steins ist in der Seele. Zu 11. Ähnlich muß auch die Antwort auf das elfte Argument lauten. Zu 12. Die Grundverfassung der Seele ist eine Beschaffenheit, die die Seele gestaltet, weshalb Dämonen sie besser erkennen können als die Gedanken in der Seele, die unter der Maßgabe des Willens stehen. Doch läßt sich aus der erzählten Begebenheit nicht ablesen, daß ein Dämon weiß, daß dies oder jenes im Gedächtnis eines Menschen ist, denn es könnte auch sein, daß ein Dämon dem Zweifelnden eine Lösung aus eigenem Wissensbestand beibrachte, und nicht aus dem, was er aus dem Wissensbestand eines Philosophen erkannte, oder er hätte es auch aufgrund einiger äußerer Anzeichen wissen können. Oder das Ganze hätte auch das Werk eines guten Engels sein können. Zu 13. Dämonen erkennen die Gedanken besser als andere Menschen in ihren Seelen, aber nicht, weil sie sie in sich betrachteten, sondern weil sie die Gedanken aus versteckteren äußerlichen Anzeichen ersehen. Zu 14. Im allgemeinen kann ein und dasselbe körperliche Anzeichen vielen Wirkungen entsprechen. Dennoch gibt es da einige 379 Vgl. Antwort. 380 Vgl. Antwort. 381 Empedokles gemäß Aristoteles, De an. I, 4; 404 b 11–15.

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Unterschiede im Besonderen, die ein Dämon besser wahrzunehmen imstande ist als ein Mensch. Zu 15. Die verstandesmäßige Wahrheit, die ein Engel wesensgemäß erkennt, empfängt er nicht aus den Sinnendingen, doch können Engel etwas Übernatürliches aus einer sinnlich wahrnehmbaren Wirkung vermuten, zum Beispiel, daß ein Mensch Gott ist, daraus, daß er Tote auferweckt. Das aber können sie nicht, weil sie Grundgestalten des Verstands aus sinnlich Wahrnehmbarem entnehmen, sondern weil sie die sinnlich wahrnehmbaren Wirkungen durch die ihnen eingeborenen Verstandesbilder aufnehmen, vermuten sie einiges, was ihre wesensentsprechende Erkenntnis übersteigt. Zu 16. In keiner der genannten Weisen verbirgt der Wille die Gedanken der Menschen, vielmehr sagt man das so, daß er sie verbirgt, insofern die Gedanken allein deswegen schon verborgen sind, weil sie aus dem Willen stammen. Zu 17. Augustinus beabsichtigt hier nicht über willentliche Gedanken zu sprechen, sondern über niederstufigere Wesenheiten, welche die Engel durch die ihnen eingestifteten Erkenntnisformen wesensgemäß erkennen.

9. Artik el 382 Die neunte Frage lautet: Können Dämonen Körper verwandeln, indem sie deren Gestaltgebung ändern? Das scheint der Fall zu sein; denn: 1. Augustinus sagt in seinem Werk Über 83 verschiedene Fragen 383: »Es wird doch nicht abwegigerweise angenommen, daß alles Sichtbare, was entsteht, auch aus den niederen Mächten384 in der 382 Paralleltexte: Super libros Sententiarum II, d. 7 q. 3 a. 1; ScG III, 103; Sum. theol. I, q. 110 a. 2; De pot. q. 6 a. 3. 383 Eigentlich (Pseudo-)Augustinus, Liber 21 sententiarum 4 (PL 40, 726). 384 Zu diesen Kräften oder Mächten vgl. Eph. 2, 2: »Ihr wart einst darin [d. i. in den Sünden] gefangen, wie es der Art dieser Welt entspricht, unter der Herrschaft jenes Geistes, der im Bereich der Lüfte regiert und jetzt noch in den Ungehorsamen wirksam ist.«

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Atmosphäre entstehen kann«. Gestaltwandlungen der Körper hienieden geschehen auf sichtbare Weise, und zwar manchmal auf natürliche, manchmal aber auch auf wunderbare. Also können sie auch durch Dämonen entstehen, die als untere Mächte in der Atmosphäre bezeichnet werden. 2. Dagegen wurde eingewandt, die Dämonen brächten solche Wandlungen nicht aus eigener Kraft zustande, sondern vermittels der Kräfte irgendwelcher natürlicher Wirkmächte. − Dagegen spricht: Wenn Dämonen nur vermittels der Kraft natürlicher Wirkmächte natürliche Körper verwandeln könnten, so könnten sie damit keine anderen Verwandlungen vollführen als die, welche durch die Kraft natürlicher Wirkmächte entstehen können. Durch die Kraft natürlicher Wirkmächte kann sich aber kein menschlicher Körper in einen Tierkörper verwandeln. Dämonen aber tun das, erzählt doch Augustinus im 18. Buch von Die Bürgerschaft Gottes,385 daß Kirke die Gefährten des Odysseus in Tiere verwandelte, daß die Arkadier beim Durchschwimmen eines Teichs in Wölfe verwandelt wurden, und daß Stallmägde Menschen in Lasttiere verwandelten. Also können Dämonen nicht nur vermittels der Kraft natürlicher Wirkmächte die Körpergestalten verwandeln. 3. Über das Psalmwort (77, 49) »Boten des Unheils in Scharen« sagt die Glosse,386 daß Gott vermittels böser Engel straft. Nun geschehen solche Bestrafungen aber manchmal durch die Verwandlung menschlicher Körper in etwas anderes, so, wie man in Gen. 19, 26 lesen kann, daß Lots Frau in eine Salzsäule verwandelt wurde. Und die Gefährten des Diomedes sind der Sage nach in Vögel verwandelt worden, wie Augustinus im 18. Buch von Die Bürgerschaft Gottes387 erzählt. Also scheint es, daß Dämonen die Gestaltgebung von Körpern verändern können. 4. Je wirklicher etwas ist, desto wirkungsvoller ist seine Tätigkeit, da doch alles insoweit tätig ist, als es wirklich ist.388 Deswegen hat 385 Augustinus, De civ. Dei XVIII, 17 und 18 (CCSL 48, 607 und 608). 386 Glosse des Petrus Lombardus zu Psalm 77, 49 (PL 191, 740 A) aus

Augustinus, Enarrationes in Psalmos 77, 49, 28 (PL 36, 1001). 387 Augustinus, De civ. Dei XVIII, 16 (CCSL 48, 607). 388 Vgl. Thomas, Super libros Sententiarum II d. 1 q. 1 a. 2 sed c. 2,

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auch das Feuer, als im geringsten Maße materiell strukturiert,389 die größte Wirkkraft unter den niederen (irdischen) Körpern. Da jedoch Dämonen geistige Wesenheiten sind, sind sie auch wesentlich immaterieller strukturiert und daseinswirklicher als jedweder Körper, und also haben sie in ihrem Tätigsein größere Wirkkraft als welcher Körper auch immer. Wenn es also durch die Kraft einiger Körper zu Gestaltverwandlungen von Körpern kommen kann, so kann das sehr viel mehr noch durch die Wirkkraft von Dämonen geschehen. 5. Was eine Formbestimmung aufweist, kann manchmal darin versagen, die Tätigkeit, die dieser Formmaßgabe in Vollendung entspricht, nachzukommen, weil es diese Formbestimmung nicht vollständig empfangen hat. Wenn daher irgendeine Form ganz körpergetrennt wäre, dann hätte sie das gesamte Tätigkeitsvermögen dieser Form. Da nun Dämonen als geistige oder immaterielle Wesenheiten angesehen werden, so folgt, daß sie gewissermaßen körpergetrennte Formen darstellen. Also haben sie die Kraft, all das zu vollführen, was Formen vollbringen können. Und daher können sie, so scheint es doch, Körper in ihrer Form verändern. 6. Dionysius Areopagita sagt im 15. Kapitel von Über die himmlische Hierarchie,390 daß »Feuerströme die thearchische« − das heißt göttliche − »Ernte bedeuten, die ihnen (den Engeln der himmlischen Hierarchien) reichen und unerschöpflichen Überfluß spendet und ihre lebendigmachende Hervorbringungskraft nährt«. Unter Hervorbringung aber versteht man die Verwandlung der Form nach.391 Also können die guten Engel die Körper ihrer Form nach verändern. Aus demselben Grund können das auch die Dämonen, die ja dieselbe Wesensbeschaffenheit haben. 7. Die Himmelskörper werden von Gott durch die Dienstbarkeit der Engel bewegt.392 Engel wiederum üben ihre Tätigkeit ebd. d. 17 q. 2 a. 1 ScG I, 73, ebd. II, 21; vgl. Aristoteles, Phys. III, 4; 202 a 11, Averroes, Kommentar zur Physik III comm.17 (IV, 92 D), Kommentar zu De anima III comm.4 (ed. Crawford, 384). 389 Vgl. Aristoteles, De gen. et corr. II, 8; 335 a 18–20, wie Thomas, Super libros Sententiarum II d. 1 q. 2 a. 5 arg. 4, angibt. 390 Dionysius Areopagita, De cael. hier. XV, 9 (Dion. II, 1032). 391 Vgl. Aristoteles, Phys. V, 2; 225 a 15–17. 392 Vgl. Thomas von Aquin, Sum. theol. I, q. 57 a. 2 und q. 110 a. 1.

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durch Verstand und Willen aus. Der Wille jedoch verlegt sich auf Verschiedenes,393 also können die Engel die Himmelskörper auf verschiedene Weisen bewegen. Nun kommen von den Wechseln in den Bewegungen der Himmelskörper auch die Gestaltveränderungen der sublunaren Körper, die von der Bewegung der Himmelskörper abhängen. Es scheint also, daß Engel die Gestalt der sublunaren Körper nach Belieben verändern können. Aus demselben Grund können das auch die Dämonen, die ja dieselbe Wesensbeschaffenheit (wie Engel) haben. 8. Im Buch von den Ursachen steht,394 daß die Kraft eines Verstandeswesens gegenüber der geringerer Wesen unbegrenzt ist, allem Höheren gegenüber jedoch begrenzt. Alle Körper stehen nun aber unterhalb des Verstandes, weshalb dieser sie durch seine unbegrenzte Kraft nach Belieben verändern kann. Nun werden gute oder schlechte Engel als Verstandeswesen bezeichnet.395 Also können Dämonen die Körper ihrer Gestaltgebung nach ändern. 9. Augustinus sagt im 3. Buch von Über die Dreifaltigkeit,396 daß den Dämonen Feuer, Luft und andere Körper dieser Art unterworfen sind, insofern ihnen Gott das zugesteht. Feuer und Luft und andere Körper dieser Art sind offen für Wandlungen in der Gestaltgebung. Also können Dämonen die Gestalt von Körpern dieser Art wandeln. 10. Was auch immer Form verleiht, kann auch der Form nach verändern. Dämonen aber können sowohl akzidentelle als auch substantielle Formen verleihen, konnten doch auch die Zauberer des Pharao durch die Kraft von Dämonen Frösche entstehen lassen.397 Also scheint es so, daß Dämonen die Gestalt von Körpern wandeln können. 11. Augustinus sagt in seinem Buch Über 83 verschiedene Fragen,398 daß Zauberer Wunder durch Privatverträge mit Dämonen 393 394 395 396 397 398

Vgl. Aristoteles, Met. IX, 2; 1046 b 4–5. Liber de causis prop. 16 (15). Vgl. Avicenna, Metaphysica X, 1 (f. 107 va A). Augustinus, De Trin. III, 8, 13 (PL 42, 875). Vgl. Ex. 8, 7. Augustinus, De diversis quaestionibus 79, 4 (PL 40, 92).

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vollführen. Nun werden bei Wundern auch Körper verwandelt. Also scheint es, als ob Dämonen Körper verwandeln können. 12. Gregor der Große sagt in einer seiner Predigten,399 daß es Engeln aus dem Chor der Kräfte zusteht, Wunder zu wirken, bei denen, wie gesagt,400 Körper verwandelt werden. Doch haben Dämonen dieselbe Wesensbeschaffenheit wie Engel. Also scheint es auch so, als ob Dämonen Körper verwandeln können. 13. Dämonen haben größere Macht als die menschliche Seele. Doch kann durch die Auffassungskraft der Seele körperliche Materie verändert werden, wie Avicenna am Fallbeispiel von Verzauberung ausführt.401 Also kann umso mehr ein Dämon die körperhafte Materie der Form nach verändern. Dagegen spricht: 1. Augustinus sagt im 18. Buch von Über die Bürgerschaft Gottes402: »Keine Beweisführung wird mich jemals glauben machen, daß Dämonen durch Kunstfertigkeit oder Machtausübung die Seele oder auch nur einen Leib in etwas Tierartiges verwandeln können«. Nun ist der menschliche Leib nicht minder formaufnahmefähig als andere Körper. Also scheint es, daß Dämonen weder durch Kunstfertigkeit noch durch Machtausübung auch irgendwelche andere Körper verwandeln können. 2. Im 7. Buch der Metaphysik403 weist Aristoteles nach, daß die Gestaltmaßgaben in der Materie nicht von den immateriellen Formen kommen, sondern von den Formen, die in der Materie ihre Verwirklichung haben. Wozu Averroes den Kommentar liefert,404 daß immaterielle Wesenheiten nicht Materie der Form nach verwandeln können. Dämonen sind aber immaterielle Wesenheiten. Also scheint es, daß sie materielle Körperwesen nicht der Form nach verwandeln können. 399 Gregor der Große, In Evangelium II hom. 34, 10 (PL 76, 1251 C). 400 Vgl. arg. 11. 401 Avicenna, De anima IV, 4 (ed. van Riet, 65), wie von Thomas in

Lectura super Epistolam ad Galatas cap. 3 lect. 1 angeführt. 402 Augustinus, De civ. Dei XVIII, 18, 2 (CCSL 48, 608). 403 Aristoteles, Met. VII, 7; 1033 b 19 – 1034 a 8. 404 Averroes, Metaphysikkommentar VII comm. 28 (VIII, 178 C).

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Antwort: Wie der Apostel Paulus in Röm. 13, 1 sagt,405 ist »was von Gott kommt, in Ordnung befindlich«, und also ist das Gute im Weltall ein Ordnungsgutes, wie Augustinus im Handbüchlein406 schreibt sowie Aristoteles im 11. Buch der Metaphysik.407 Dieser Ordnung sind alle Geschöpfe unterworfen, weil Gott sie hervorgebracht hat, während Gott selbst als Verursacher dieser Ordnung ihr vorsteht ohne ihr unterworfen zu sein. Weil nun alles seiner Formmaßgabe gemäß seine eigene Tätigkeit ausübt, so wird diese Ordnung in den Dingen nicht nur nach der Vortrefflichkeitsstufung der Formmaßgaben eingehalten, sondern folglich auch gemäß der Tätigkeits- und Bewegungsvollzüge, da nämlich dasjenige, das der Form nach höher steht, das auch der Tätigkeit nach tut. Daher kommt es, daß die niedrigsten Dinge durch die höchsten über mittlere in Bewegung gebracht werden, wie Dionysius in seiner Schrift Über die himmlische Hierarchie408 sagt und auch Augustinus im 3. Buch von Über die Dreifaltigkeit409 schreibt. Das entspricht auch der notwendigen Verhältnisangemessenheit von Tätigem und Tätigkeitsleidendem. Da nämlich nur die höchsten unter den seienden Dingen auch über die umgreifendsten Kräfte verfügen,410 ist es den geringeren und tätigkeitserleidenden nicht angemessen, solch eine umgreifende Wirkung unmittelbar aufzunehmen, sondern nur durch Vermittlung von vereinzelteren und eingeschränkteren Kräften. Das zeigt sich ja auch schon in der Verhältnisanordnung der körperlichen Dinge: Denn die Himmelskörper sind Bestimmungsgründe der Erzeugung von menschlichen und anderen höherentwickelten Lebewesen vermittels einer eigentümlichen Kraft, die in den Samen liegt, obwohl gewisse Lebewesen auch al405 Nach der Deutung von Augustinus, Contra Gaudentium I, 19 (PL 43, 716) und der Glosse des Petrus Lombardus zu Röm. 13, 1 (PL 191, 1504 B). 406 Augustinus, Enchiridion 11 (PL 40, 236). 407 Aristoteles, Met. XI (= XII), 12; 1075 a 11. 408 Dionysius Areopagita, De cael. hier. IV, 3 (Dion. II, 812); vgl. auch De eccl. hier. V, 1 (Dion. II, 1330). 409 Augustinus, De Trin. III, 4, 9 (PL 42, 873). 410 Vgl. Liber de causis prop. 10 (9).

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lein durch die Macht der Himmelskörper samenlos im Verwesungsprozeß erzeugt werden, was wegen der Unvollkommenheit dieser Lebewesen so geschieht.411 Liegt es doch auch den Sinnen sichtbar zutage, daß eine schwache Wirkung von einem weit entfernt Tätigen hervorgebracht wird, eine stärkere jedoch ein naheliegendes erfordert. So kann nämlich etwas von Feuer erwärmt werden, auch wenn es Abstand davon hat, doch entzündet es sich am Feuer nur dann, wenn es in unmittelbare Nähe zu ihm gerät. Wenn daher jemand etwas weitab von einem Feuer in einem Ofen in Brand setzen will, so bedient er sich dafür eines Dochts. Ähnlich wird die Erzeugung höherer Lebewesen von den Himmelskörpern vermittels angemessener Zwischenwirkungen verursacht, die der unvollkommeneren Lebewesen dagegen unmittelbar. Geistige Wesenheiten sind aber der Naturanordnung entsprechend selbst den Himmelskörpern überlegen. Daher können sie nicht aus eigener Kraft die unterhalb von ihnen stehenden Körper der Gestalt nach verändern, sondern nur, indem sie irgendwelche körperliche Wirkverursacher dafür in ihren Dienst nehmen, die den Wirkungen angemessen tätig werden können, die sie erreichen wollen, genau wie Menschen das Feuer benutzen, um Dinge zu erhitzen. Zu 1. Alles, was in dieser Welt sichtbar geschieht, kann, wie gesagt,412 von Dämonen zwar nicht aufgrund eigener Kraft alleine, aber unter Zuhilfenahme natürlicher Wirkkräfte zustandegebracht werden. Zu 2. Dämonen bedienen sich natürlicher Wirkkräfte zur Herstellung einer Wirkung wie eines Werkzeugs. Ein Werkzeug aber vollführt seine Aufgabe nicht nur aus eigener Kraft, sondern aus der des hauptsächlich dabei Tätigen, weshalb mit einem Werkzeug auch mehr bewerkstelligt werden kann, als das, was ein Werkzeug für sich betrachtet zunächst einmal die Kraft hat zu tun, so daß etwa eine Säge durch handwerkliche Fertigkeit zur Anfertigung von Betten taugt. Ähnlich können Dämonen zwar durchaus mit Hilfe na411 Vgl. Albertus Magnus, Quaestiones Super De animalibus XVII, 14 (Col. XII 295). 412 Vgl. Antwort.

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türlicher Kräfte, die sie im Sinne einer bestimmten Wirkung einsetzen, Dinge bewirken, die jenseits der eigenen Möglichkeiten dieser Kräfte liegen, nicht aber, daß sie in Wirklichkeit die Gestalt menschlicher Körper in die von Tieren verwandeln, da dies gegen die von Gott begründete Naturordnung verstößt. Alle oben erwähnten Verwandlungen geschahen eher einer eingebildeten Erscheinungsform nach als in Wirklichkeit, wie auch Augustinus an selber Stelle413 hervorhebt. Zu 3. Gott straft nicht immer durch böse Engel, sondern manchmal auch durch gute, wie an dem Engel zu sehen ist, der das befestigte Lager der Assyrer zerschlug, wovon Jes. 37, 36 berichtet. Falls aber die Verwandlung von Lots Frau in eine Salzsäule mit Hilfe von Dämonen geschah, so ist es offenkundig, daß dabei die Dämonen ein Werkzeug der göttlichen Wirkmacht waren. Die besagte Wirkung haben die Dämonen also nicht aus eigener Kraft zustandegebracht, sondern durch die Kraft Gottes, die nicht der Anordnung der Dinge gehorcht, sondern welche Wirkungen auch immer unmittelbar zeitigen kann, seien es höhere oder niedrigere, ganz wie Gott es will. Über die Gefährten des Diomedes sagt Augustinus jedoch nicht, daß sie in Vögel verwandelt worden sind, sondern daß sie nach ihrem Ertrinken von Dämonen durch Vögel ersetzt worden sind, die wiederum einander immer wieder abfolgend ersetzten, wodurch die Menschen lange Zeit zum Narren gehalten wurden.414 Daraus geht hervor, daß dies nicht einfach als eine Einbildung und dem Anschein nach geschah. Zu 4. Genau daraus, daß geistige Wesenheiten wirklicher sind als die Körper, folgt, daß sie eine größere und umgreifendere Kraft haben. Daher können sie niederstufige Wirkungen nur vermittels niederstufiger Ursachen hervorrufen. Zu 5. Die körperlose Form, die reine Wirklichkeit darstellt, nämlich Gott, wird nicht in irgendeiner Art oder Gattung eingefangen, sondern hat die gesamte Seinsmächtigkeit inne, da Gott doch der Seinsakt selbst ist, wie aus dem 5. Kapitel von Über die göttlichen 413 Augustinus, De civ. Dei XVIII, 18, 2 (CCSL 48, 608). 414 Augustinus, De civ. Dei XVIII, 18, 2 (CCSL 48, 609–610); vgl.

Augustinus, De civ. Dei X, 11, 2 (CCSL 47, 286).

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Namen des Dionysius415 hervorgeht. Daher untersteht alles, was getan wird, Gottes Macht. Die anderen körperlosen Formen haben eine jeweilige natürliche Artbestimmung, weshalb nicht jede von ihnen alles tun kann, sondern jede nur das, was ihr wesentlich entspricht, aber eben ohne Behinderung durch die Mangelmiterscheinungen der Materie. Wenn also Wärme eine körpergetrennte Formmaßgabe wäre, dann wäre sie in ihrer Erwärmungstätigkeit unbehindert durch die Mangelmiterscheinung der Materie, an der Wärme nicht abstrichlos teilhaben zu können, wie das bei lauwarmen Dingen geschieht. Dennoch könnte die Wärme als körpergetrennte Formmaßgabe nicht das vollführen, was das Weißsein oder eine andere Formmaßgabe an den Dingen vollführt. Zu 6. Die lebendigmachende Hervorbringungskraft, von der Dionysius spricht, kann sich auch auf die geistige Hervorbringung beziehen, wie er selbst im 2. Kapitel von Über die göttlichen Namen sagt:416 Die Engel heißen Väter anderer Wesen,417 weil sie diese nämlich reinigen, erleuchten und vervollkommnen.418 Falls das Gesagte sich allerdings auf die Hervorbringung von Körpern bezieht, so ist das so zu verstehen, daß den Engeln die Macht zugestanden ist, Hervorbringungen vermittels körperlicher Wirkkräfte zu verursachen. Zu 7. Der Gedankengang in diesem Argument versagt in drei Punkten: Erstens darin, daß, obwohl Engel die Himmelsbewegungen bedingen, das nicht für die Dämonen gilt, um die es ja hier geht. Zweitens darin, daß, obwohl die Engel durch Verstandeskraft und Willen bewegen, daraus noch nicht folgt, daß sie anderes auch auf andere Weise in Bewegung setzen können, sondern nur in der ihrer Natur entsprechenden Weise. Engel nämlich sind nicht identisch mit ihrem Willen, wie das bei Gott der Fall ist, sondern sie weisen den Willen von bestimmten Wesensbeschaffenheiten auf, und nach deren Art und Weise führt der Wille seine Wirkung aus. Gott aber ist identisch mit seinem Willen selbst, und er kann ohne Unterschied 415 Dionysius Areopagita, De div. nom. V, 4 (Dion. I, 333). 416 Dionysius Areopagita, De div. nom. II, 8 (Dion. I, 98). Siehe auch

Thomas, Lectura super Epistulam ad Ephesios cap. 3 lect. 4. 417 Dionysius Areopagita, vgl. Anm. 35. 418 Vgl. Dionysius Areopagita, De cael. hier. VIII, 2 (Dion. II, 880).

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alles bewerkstelligen, was unter seinen Willen fallen kann. Drittens versagt die Überlegung darin, daß, die Himmelsbewegungen durch Engel auf andere Art und die sich daraus ergebende Veränderung in den irdischen Dingen einmal zugestanden, dies ja nicht unmittelbar durch sie vollbracht geschehen würde, sondern vermittels der Himmelskörper. Zu 8. Die Wirkkraft des Verstandes wird als unbegrenzt im Vergleich zu allem ihr Unterstehenden bezeichnet, insofern sie von diesem nicht begriffen werden kann, sondern es übersteigt, nicht aber so, daß sie ohne Unterschied jede Wirkung in ihm hervorrufen kann. Zu 9. Feuer, Luft und andere Körper dieser Art unterstehen den Engeln gemäß der von der Gottheit eingerichteten Ordnung. Zu 10. Die Zauberer des Pharaos ließen Frösche durch den Einsatz natürlicher Wirkkräfte entstehen, die Augustinus im 3. Buch von Über die Dreifaltigkeit419 als samenartig bezeichnet, und die man aus den verschlossenen Zielbestimmungen der Elemente zu verstehen hat. Zu 11. Die Zeichen oder Wunder, die Zauberer durch Privatverträge mit Dämonen geschehen lassen, stehen nicht jenseits der natürlichen Verursachungszusammenhänge, wie diejenigen, die durch die Macht Gottes geschehen. Sie geschehen vielmehr mit der Macht natürlicher Wirkkräfte, die außerhalb von menschlichen Begriffsvermögen und Fähigkeiten stehen. Und das aus drei Gründen: Erstens nämlich kennen die Dämonen die Macht natürlicher Wirkkräfte besser, als Menschen das tun. Zweitens können Dämonen sie schneller hervorrufen. Drittens können Dämonen die natürlichen Wirkkräfte, die sie durch Machtausübung oder Fertigkeit als Werkzeuge bemühen, sich auf fernere Wirkungen erstrecken lassen als Menschen das in ihrer Kraftausübung oder Fertigkeit tun. Daher scheint den Menschen das, was Dämonen vollführen, als Wunder, ähnlich wie unerfahrenen Menschen das, was von versierten Fachleuten vollbracht wird, wie ein Wunder vorkommt. Zu 12. Der Engelsrang der Kräfte vollführt Wunder als ein Werkzeug, das im Sinne der göttlichen Macht handelt.

419 Augustinus, De Trin. III, 8, 13 (PL 42, 875).

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Zu 13. Im Fall von Verzauberung wird die körperliche Materie nicht allein durch das Begriffsvermögen verändert, wie Avicenna sagt, sondern dadurch, daß der Geist wegen einer stürmischen Gefühlsaufwallung von Neid, Zorn oder Haß angesteckt wird, wie das desöfteren bei Hexen geschieht, und diese Ansteckung betrifft sogar die Augen, durch die dann auch die umgebende Luft angesteckt wird. Daraus kann auch der Körper eines Kleinkinds seiner schwächlichen Verfassung wegen eine Ansteckung erleiden,420 und zwar auf dieselbe Weise, in der sich ein neuer Spiegel beim Anblick einer menstruierenden Frau einfärbt, wie in der Schrift Über Wachen und Träumen steht.421

10. Artik el 4 22 Die zehnte Frage lautet: Können Dämonen Körper von einem Ort zum anderen bewegen? Das scheint nicht der Fall zu sein; denn: 1. Unter allen Arten von Veränderung ist die Ortsbewegung die vollendetste, wie Aristoteles im 8. Buch der Physik nachweist.423 Doch sind Dämonen nicht imstande, Körper der Form nach zu verwandeln. Also können sie bei diesen noch viel weniger eine Ortsveränderung herbeiführen. 2. Wie der Dämon, so ist auch die Seele ein Geistwesen. Doch kann die Seele nur den Körper bewegen, der von ihr belebt wird, weshalb ein Körperteil auch bewegungslos verbleibt, wenn es abstirbt. Dämonen jedoch beleben gar keine Körper. Also können sie keine Ortsbewegung von Körpern herbeiführen.

420 Vgl. Hieronymus, Galaterbriefkommentar I, 3, 1 (PL 26, 372 D – 373 A); Glosse des Petrus Lombardus zu Gal. 3, 1 (PL 192, 117 D – 118 A), und Thomas selbst, Lectura super Epistolam ad Galatas cap. 3 lect. 1. 421 Aristoteles, De somn. et vigil. II; 459 b 27–32. 422 Paralleltexte: Sum. theol. I, q.110 a. 3; De pot. q. 6 a. 3; Quaestiones quodlibetales IX q. 4 a. 5. 423 Aristoteles, Phys. VIII, 14; 261 a 13–23.

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3. Jede Bewegungstätigkeit geschieht durch Berührung, wie es im 1. Buch von Über Entstehen und Vergehen heißt.424 Es scheint jedoch, daß es zwischen Dämonen und Körpern zu keinerlei Berührung kommen kann, weil sie nichts miteinander gemeinsam haben. Da nun aber Ortsveränderung eine Bewegungstätigkeit darstellt, scheint es, daß Dämonen keine Ortsbewegung an Körpern vollführen können. 4. Wenn Dämonen irgendwelche Körper dem Ort nach bewegen könnten, dann am ehesten die Himmelskörper, die ihnen der natürlichen Anordnung der Dinge nach am nächsten stehen. Aber sie können gar keine Himmelskörper bewegen, denn da Bewegendes und Bewegtes beisammen sein müssen, wie im 7. Buch der Physik steht,425 würde daraus folgen, daß die Dämonen im Himmel sind, was weder wir noch die Platoniker426 für wahr halten. Also können sie umso weniger andere Körper bewegen. 5. Wie gesagt427: Höhere Wesen bewegen niederstufigere durch Mittler. Zwischen den geistigen Wesenheiten und den irdischen Körpern stehen die Himmelskörper, deren Bewegung die Quelle aller irdischen Bewegung darstellt. Also können Dämonen keine Ortsbewegung an irdischen Körpern vollführen, da sie keine Himmelskörper bewegen können. 6. Ortsbewegung ist die Ursache anderer Veränderungen, wie aus dem 8. Buch der Physik428 hervorgeht. Wenn Dämonen also imstande wären, Körper in Ortsbewegung zu versetzen, könnten sie sie auch der Form nach verändern. Was sich gemäß dem vorher Gesagten429 als falsch herausstellt. 7. Natürliche Bewegungen ergeben sich daraus, daß die Formmaßgabe eine Neigung zu einem bestimmten Ort hin aufweist, wie aus der Bewegung schwerer und leichter Dinge hervorgeht. Dämonen aber können körperlicher Materie keine Formmaßgabe einstif424 425 426 427 428 429

Aristoteles, De gen. et corr. I, 6; 322 b 22. Aristoteles, Phys. VII, 3; 243 a 3 ff. So Augustinus, De civ. Dei VIII, 14, 1 (CCSL 47, 231). Vgl. q. 16 a. 9. Aristoteles, Phys. VIII, 14; 260 a 26 ff. Vgl. q. 16 a. 9.

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ten, wie oben ausgeführt wurde.430 Wenn sie also Körper dem Ort nach bewegten, wäre es eine gewaltsam aufgezwungene Bewegung. 8. Die Bewegung des Ganzen und des Teils ist dieselbe, also zum Beispiel die Bewegung des gesamten Erdballs und eines seiner Erdklumpen, wie im 3. Buch der Physik steht.431 Wenn also Dämonen auch nur einen Klumpen Erde bewegen könnten, so könnten sie genauso den gesamten Erdball bewegen, was Dämonen aber nicht können, denn das würde eine Umänderung der gesamten Weltordnung bedeuten. Also können sie keine Ortsbewegung von Körpern bewerkstelligen. Dagegen spricht: Wie Augustinus im 3. Buch von Über die Dreifaltigkeit sagt,432 sammeln Dämonen natürliche Wirkkeime, die sie im Dienst bestimmter Auswirkungen einsetzen. Ohne Ortsbewegung könnte das aber nicht geschehen. Also können Dämonen Körper in Ortsbewegung versetzen. Antwort: Wie schon gesagt433: Bei der Tätigkeit von Wirkkräften ist die Ordnung der Dinge zu bedenken, die nicht nur an deren Wesensbeschaffenheit abgelesen wird, sondern auch an deren Bewegungsverhalten. Denn auch diese Bewegungen haben eine aufeinander abgestimmte Verhältnisordnung. Und das auf zweifache Weise besehen. Auf eine in Anbetracht der Bewegungsbestimmung selbst. In dieser Hinsicht weist die Ortsveränderung gegenüber anderen Veränderungsarten eine doppelte Beziehung auf, weil sie zum einen die erste der Veränderungsarten ist,434 zum anderen durch die Ortsveränderung die geringste Veränderung am Bewegten selbst stattfindet.435 Denn durch die anderen 430 431 432 433 434 435

Vgl. q. 16 a. 9. Aristoteles, Phys. III, 9; 205 a 11–12. Augustinus, De Trin. III, 8; 3 (PL 42, 876). Vgl. q. 16 a. 9. Aristoteles, Phys. VIII, 14; 260 a 26 ff. Aristoteles, Phys. VIII, 14; 261 a 20–23.

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Veränderungsarten wird etwas am bewegten Gegenstand inwendig verändert, also zum Beispiel die Quantität oder Qualität oder auch die seinsbedingende Formgebung, während bei der Ortsveränderung bloß ein körperlicher Gegenstand bezüglich etwas Äußerem verändert wird, nämlich bezüglich des Ortes. Hinsichtlich dieser doppelten Beziehung ergibt sich aus all dem, daß Körper von Geistwesen unmittelbarer eine Ortsveränderung erfahren können als eine andere Art von Veränderung. Und zwar zum einen, weil Nachgeordnetes durch Vorgeordnetes vollführt wird, woraus sich ergibt, daß alle anderen Veränderungsarten von den Geistwesen durch die Ortsveränderung herbeigeführt werden. Und zum anderen, weil, wie oben bereits gesagt,436 schwächere Wirkungen auch von weiter entfernt Tätigem unmittelbar hervorgerufen werden können. Deswegen kann die nur geringe Veränderung an Körpern, die eine Ortsbewegung herbeibringt, unmittelbar durch ein Geistwesen, vergleichbar einem entfernter Tätigen, verursacht werden, nicht aber eine größere Veränderung, wie sie andere Veränderungsarten hervorrufen. Auf andere Weise ist die Ordnung der Veränderungen bezüglich der Rangordnung der bewegten Gegenstände zu betrachten, daß also zum Beispiel die Himmelsbewegung gegenüber der Bewegung materieller Elementkörper die ehere ist. Demnach steht es den höherrangigen geistigen Wesenheiten zu, dem Rang nach höhere Körper zu bewegen, so daß etwa der Beweger der Saturnumlaufbahn nicht den Fixsternhimmel bewegen kann, und er auch noch nicht einmal diese bewegen könnte, wenn sie mehrere Gestirne hätte, wie im 2. Buch von Über den Himmel steht.437 Wie daher höherrangige geistige Wesenheiten die höherrangigen Himmelskörper bewegen, so können die niederrangigen, wie die Dämonen, die irdischen Körper dem Ort nach bewegen. Das vermögen sie entweder aus ihrer Wesensbeschaffenheit, oder in Anmessung an ihre Wesensbeschaffenheit, wenn es nach denjenigen ginge, die sagen,438 daß die Dämonen nicht aus den höherrangigen Engeln entstanden sind, son436 Vgl. q. 16 a. 9. 437 Aristoteles, De caelo II, 18–19; 292 a 25 – 293 a 11. 438 Gemäß Johannes Damascenus, De fide 2, 4 (ed. Buytaert, 75).

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dern aus solchen, denen Gott die Aufgabe zugedacht hatte, über die irdische Ordnung als Vorsteher zu wachen. Oder das ist bei ihnen als Sündenstrafe so, da sie von ihren himmlischen Thronen in unsere Atmosphäre herabgeschleudert wurden, da Gregor der Große behauptet,439 daß einige der höchsten Engel ihrer Sünde wegen gestürzt sind. Zu 1. Ortsveränderung ist wegen der Vollkommenheit des Bewegten die vollkommenste, an dem es die geringste Veränderung bewirkt.440 Zu 2. Die menschliche Seele nimmt den niedrigsten Rang in der Folge der geistigen Wesenheiten ein,441 weshalb sie nicht die Kraft hat, Körper zu bewegen, auch nicht dem Orte nach, oder nur solche, die ihr dadurch entsprechen, daß sie von ihr belebt werden. Zu 3. Zwischen Dämonen und Körpern besteht keine körperliche Berührung, sondern nur eine der Ausführungsmöglichkeit nach, und das erfordert eine verhältnismäßige Übereinstimmung des Bewegenden zum Bewegten. Zu 4. Die Himmelskörper übersteigen die Kraftzumessung der Dämonen, sei es aufgrund ihrer Wesensbeschaffenheit, sei es wegen ihrer Sündenstrafen, wie schon gesagt.442 Zu 5. Die natürlichen Veränderungsbewegungen der sublunaren Körper hängen von der Bewegung der Himmelskörper ab und werden von ihnen hervorgerufen. Doch können auch andere Ursachen andere Veränderungen in den sublunaren Körpern hervorrufen, etwa vom Menschen durch seinen Willen, und aus demselben Grund auch von Dämonen und Engeln. Nichtsdestoweniger hängt die Anlage der Körper, solche Bewegung zu erfahren, in bestimmtem Maße von den Himmelskörpern ab. Zu 6. Alle anderen natürlicherweise entstehenden Bewegungen 439 Gregor der Große, In II Evangelium 34, 7 (PL 76, 1250 B) und Moralia XXXII, 23, 48 (PL 76, 665 C). 440 Aristoteles, Phys. VIII, 14; 261 a 20–23. 441 Averroes, Kommentar zu De an. III comm. 5 und 17 (ed. Crawford, 387–388 und 436), wie Thomas, De ver. q. 10 a. 8, in der Antwort angibt. 442 Vgl. Antwort.

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werden von den Ortsbewegungen der Himmelskörper verursacht, nicht aber von irgendwelchen anderen Ortsbewegungen. Und selbst wenn Dämonen durch die Ortsveränderung von Körpern gewisse Körper auch anderen Veränderungen unterwerfen könnten, so tun sie das nicht aus eigener Kraft, sondern vielmehr kraft der Körper, die von ihnen die Ortsbewegung erfahren. Zu 7. Nichts steht der Annahme entgegen, daß die Körper, die dem Ort nach von Dämonen bewegt werden, gewaltsam bewegt werden, wie sie so ja auch von Menschen bewegt werden. Zu 8. Die Bewegung des Ganzen und des Teils ist dieselbe, doch reicht dieselbe Kraft, einen Teil zu bewegen, nicht aus, das Ganze zu bewegen. Wenn daher Dämonen nur irgendeinen Teil der Erde bewegen können, so folgt daraus noch nicht, daß sie die ganze Erde bewegen können, da es nicht ihrer Natur entspricht, die Ordnung der Elemente in der Welt zu ändern.

11. Artik el 4 4 3 Die elfte Frage lautet: Können Dämonen den denkenden Teil der Seele hinsichtlich der inneren oder äußeren Sinneswahrnehmung verändern? Das scheint nicht der Fall zu sein; denn: 1. Augustinus sagt im 11. Buch von Über die Dreifaltigkeit,444 daß das körperliche genauso wie das vorgestellte Sehen durch irgendeine Formgebung geschieht. Die Form aber, die sich in den Sinnen oder der Vorstellung befindet, ist edler als die Körperform, deren Abbild sie ist, wie sich aus dem 12. Buch von Über Genesis dem Wortlaut nach ergibt.445 Da nun Dämonen nicht imstande sind, körperlicher Materie körperliche Formen einzuprägen, wie oben ausgeführt wurde,446 so scheint es, daß sie noch viel weniger imstande 443 Paralleltexte: Super libros Sententiarum II, d. 8 c. 5; Sum. theol. I, q. 111 a. 3–4. 444 Augustinus, De Trin. XI, 2–4 (PL 42, 985–990). 445 Augustinus, De Gen. ad litt. XII, 16, 33 (PL 34, 467). 446 Vgl. q. 16 a. 9.

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sind, in der Sinneswahrnehmung oder Vorstellung eine Veränderung zur Erkenntnis von etwas herbeizuführen. 2. Sinneswahrnehmung und Vorstellung sind Vitalfunktionen.447 Alle Vitalfunktionen entstammen einem inwendigen Prinzip, durch das ein Lebewesen belebt wird. Weil aber ein Dämon ein äußerliches Prinzip darstellt, so scheint es, daß er keinen Menschen zu einer Vorstellung oder sinnlichen Wahrnehmung bewegen kann. 3. Dagegen wurde eingewandt, daß Dämonen Sinneswahrnehmung und Vorstellung nicht durch das Aufdrücken neuer Formen verändern, sondern indem sie bereits in geistiger Wahrnehmung bestehende Erkenntnisbilder auf das Vorstellungs- oder Sinnesvermögen übertragen. − Dagegen spricht: Augustinus sagt im 11. Buch von Über die Dreifaltigkeit,448 um irgendetwas zu sehen, sei eine Absicht unerlässlich, die eine sichtbare Gestalt mit der Sehfähigkeit in Verbindung setzt. Absichtlichkeit jedoch ist eine Sache der Strebenskraft, welche die Dämonen aber nicht beeinflussen können, da sie ja sonst imstande wären, den Menschen zur Sünde zu zwingen, denn die Sünde beruht ja im willentlichen Streben. Der Mensch kann also nicht durch das, was Formen auf das Vorstellungs- oder Sinnesvermögen überträgt, dazu bewegt werden, etwas mit Sinnen wahrzunehmen oder sich vorzustellen. 4. Die Verstandesbilder haben zum Verstand das gleiche Verhältnis wie das Vorstellungsbild zur Vorstellungskraft. Nun geschieht es jedoch, daß manchmal ein Verstandesbild dem Verstand gegenwärtig vorliegt und der Verstand dennoch nicht vermag, die entsprechende Erkenntnis zu vollziehen. Also scheint es doch, daß obwohl ein Dämon Vorstellungsbilder oder Einbildungen auf das Vorstellungsorgan einprägte, er deswegen ja damit noch nicht einen Menschen dazu bringt, sich etwas vorzustellen. 5. Solche Bilder in den sinnesbegabten Geistern bestehen entweder der Möglichkeit oder der Wirklichkeit nach. Es scheint aber nicht, daß sie wirklich sind, denn die Gestaltgebung scheint doch nur dann der Wirklichkeit nach im Erkennenden zu bestehen, wenn sie auch wirklich erkannt wird. Sollte sie dagegen der Möglichkeit nach da447 Vgl. Avicenna, De an. I, 1 (ed. van Riet, 29). 448 Augustinus, De Trin. XI, 2–4 (PL 42, 985–990).

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sein, so könnte es dadurch zu keiner Veränderung des Vorstellungsorgans oder der Sinneswahrnehmung kommen, da doch nichts von etwas verändert wird, das nur möglich ist, sondern nur von etwas, das wirklich besteht. Durch die Rückübertragung des Geistigen auf das Vorstellungs- oder Sinnesvermögen kann also ein Dämon Menschen nicht dazu bringen, etwas mit Sinnen oder Vorstellung zu erfassen, ohne vorher Gestaltgebungen solcher Art von der Möglichkeit in die Wirklichkeit zu überführen. Das aber scheinen Dämonen aus demselben Grund nicht bewerkstelligen zu können, aus dem sie nicht in der Lage sind, Körper der Form nach zu verändern. 6. Gemäß dem 3. Buch von Über die Dreifaltigkeit des Augustinus449 sind Dämonen in körperlichen Dingen vermittels natürlicher Wirkkeime tätig, will sagen vermittels natürlicher Wirkkräfte. Das natürlich Wirktätige, wodurch die Sinne und die Vorstellung ihrer Beschaffenheit nach verändert werden, sind körperlich verfaßte äußerliche Gegenstände. Es scheint also, als könnten Dämonen ohne so einen körperlichen Gegenstand weder in der Vorstellung noch in den Sinnen von Menschen eine Veränderung bewirken. 7. Im 18. Buch von Die Bürgerschaft Gottes sagt Augustinus,450 daß durch die Tätigkeit eines Dämons der bildliche Eindruck von einem Menschen »den Sinnen anderer wie in Gestalt eines Tieres erscheinen mag«, weswegen es scheint, daß Dämonen aus dem gleichen Grund der menschlichen Sinnesausstattung auch anderes nur vermittels Einkörperungen zu bieten imstande sind. 8. Die Sinneswahrnehmung ist ein passives Vermögen. Alles Passive wird aber von einer auf es angemessenen Wirkkraft bewegt. Nun ist die der Sinneswahrnehmung angemessene Wirkkraft eine zweifache: zum einen nämlich die sie hervorbringende, das heißt der Wahrnehmungsgegenstand, zum anderen die sozusagen übermittelnde, wie das Übertragungsmedium. Da jedoch Dämonen unkörperlich sind, können sie weder Wahrnehmungsgegenstand noch auch Übermittlungsmedium für die Sinne sein. Also scheint es, daß sie auf keine dieser Weisen Veränderungen in den Sinnen herbeiführen können. 449 Augustinus, De Trin. III, 8, 13 (CCSL 50, 140). 450 Augustinus, De civ. Dei XVIII, 18, 2 (CCSL 48, 609).

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9. Wenn Dämonen Veränderungen am inneren Erkenntnisvermögen vornehmen könnten, dann entweder, indem sie sich der Erkenntnisfähigkeit als Gegenstand darstellen oder in die Erkenntnisfähigkeit selbst verändernd einwirken. Daß sie sich als Gegenstände darstellen, kommt aber nicht in Frage, denn dann müßten sie ja Körperlichkeit annehmen können, wären aber so nicht imstande, in das Vorstellungsorgan einzudringen, da nie zwei Körper gleichzeitig an ein und demselben Ort sind.451 Es geht aber auch nicht, indem sie sich die Form von Einbildungen geben: und zwar kann das deshalb nicht sein, weil Einbildungen nicht ohne eine gewisse Quantitätszumessung sein können, Dämonen hingegen entbehren jeder Quantität. Aus ähnlichen Erwägungen können sie keinen Einfluß auf die Erkenntnisfähigkeit nehmen, denn dann müßte das entweder durch eine Veränderung geschehen, was nicht möglich scheint, da jede Veränderung durch Bewirkungseigenschaften geschieht,452 derer die Dämonen entbehren; oder aber indem sie eine innere Umstellung in der Erkenntnisfähigkeit durch Ortsveränderung bewerkstelligen, was seinerseits aus zwei Gründen unangebracht erscheint: erstens, weil so eine Ortsveränderung in einem Organ doch nicht ohne Schmerzen vonstatten gehen könnte, und zweitens, weil die Dämonen dadurch dem Menschen doch nur ihm Bekanntes dartun könnten, obwohl Augustinus behauptet,453 daß sie dem Menschen bereits bekannte und noch unbekannte Bilder vorgaukeln können. Also scheint es, daß Dämonen überhaupt keine Veränderung im Vorstellungs- oder Sinnesvermögen des Menschen herbeiführen können. 10. Gemäß dem, was Aristoteles im 7. Buch der Physik schreibt,454 hindert eine Veränderung der Vorstellungsbilder die Erkenntnis der Wahrheit im Verstand. Wenn also ein Dämon das Vorstellungsvermögen von Menschen verändern könnte, so folgte daraus, daß er den

451 Aristoteles, Phys. IV, 9; 213 b 20. 452 Vgl. Aristoteles, De gen. et corr. II, 2; 329 b 24, Meteor. IV, 1; 378

b 10 ff. 453 (Pseudo-)Augustinus, De spiritu et anima 28 (PL 40, 799). 454 Aristoteles, Phys. VII, 6; 247 b 23 ff.

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Menschen vollständig von jeder Wahrheitserkenntnis ausschließen könnte. 11. Es ist für das Nächstwirkende vonnöten, in Kontaktnahme zu stehen, da Bewegungsursache und Bewegung zugleich sind, wie im 7. Buch der Physik nachgewiesen.455 Doch kann ein Dämon gar nicht in Kontakt mit dem inneren Vorstellungsvermögen sein, weil nämlich über die Stelle Hab. 2, 20 »Der Herr in seinem Heiligen Tempel« die Glosse des Hieronymus456 sagt, daß sich ein Dämon gar nicht in einem Götzenbild aufhalten kann, sondern nur äußerlich etwas bewirkt, und noch viel weniger in einem menschlichen Körper. Es scheint also, daß Dämonen nicht unmittelbar auf die Vorstellungskraft einwirken können. Dagegen spricht: 1. Augustinus sagt in seinem Werk Über 83 verschiedene Fragen457: »Das Übel« – nämlich das von den Dämonen – »kriecht durch alle Sinneseinlässe, nimmt Formen an, macht sich in Farben zugänglich, hängt sich an Töne, schleicht sich durch Gerüche herein und strömt mit der Geschmacksaufnahme ein«. Durch solcherlei wird jedoch Einfluß auf die Sinneswahrnehmung genommen. Also scheint es, als könnten die Dämonen Veränderung in den menschlichen Sinnen hervorrufen. 2. Im 18. Buch von Über die Bürgerschaft Gottes sagt Augustinus,458 daß Verwandlungen von Menschen in Tiere, die angeblich von Dämonen bewerkstelligt wurden, nicht in Wirklichkeit geschahen, sondern nur dem Eindruck nach so erschienen. Das könnte aber nicht so sein, wenn Dämonen nicht imstande wären, die Sinnesauffassung der Menschen zu verändern. Also können die menschlichen Sinne durch Dämonen Veränderungen erleiden.

455 Aristoteles, Phys. VII, 3; 243 a 3 ff. 456 Glossa interliniaria zu Hab II, 20 aus Hieronymus, In Habacuc I, 2

(PL 25, 1305 D). 457 Augustinus, De diversis quaestionibus 12 (PL 40, 14). 458 Augustinus, De civ. Dei XVIII, 18, 2 (CCSL 48, 608).

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Antwort: Zutageliegende Hinweise und Erfahrungen machen deutlich, daß durch die Tätigkeit von Dämonen den Menschen etwas sinnenfällig vorgeführt wird. Das geschieht bisweilen dadurch, daß Dämonen den menschlichen Sinnen äußerlich wahrnehmbare Körper vorführen, sei es, daß diese von Natur aus schon da waren, sei es, daß die Dämonen sie aus natürlichen Anlagekeimen geformt haben, wie aus dem oben Gesagten hervorgeht.459 Darüber besteht ja auch kein Zweifel, da die greifbare Gegenwart sinnenfälliger Körper in der menschlichen Sinneswahrnehmung naturgemäß eine Veränderung herbeiführt. Bisweilen jedoch lassen Dämonen den Menschen auch etwas vor die Sinne treten, was in der äußeren Wirklichkeit gar nicht da ist, und darüber, wie das geschehen kann, bestehen nun Zweifel. Augustinus berührt diese Frage im 12. Buch von Über Genesis dem Wortlaut nach,460 wo er drei Wege vorschlägt und sagt, auf einem dieser drei könnten Dämonen dies bewerkstelligen. Er schickt voraus, daß einige es so sehen wollten, daß die menschliche Seele in sich gewissermaßen die Fähigkeit zur Sehergabe hat − was mit der Ansicht der Platoniker zusammenzustimmen scheint,461 die annahmen, die Seele habe alles Wissen aus der Teilhabe an den Ideen. Er verwirft diese Ansicht jedoch aus folgendem Grund: Wenn dies in der Macht der Seele stünde, dann könnte der Mensch doch weissagen, wann immer er wollte, was offenkundig falsch ist. Es verbleibt daher, daß Menschen dafür einer Hilfestellung von anderer Seite bedürfen, und zwar nicht von Seiten des Körpers, sondern von Seiten des Geistes. Weiter fragt er dann, wie ein Geist der Seele dabei hilft, etwas zu sehen, »ob nämlich etwa im Körper irgendetwas sei, das dabei gewissermaßen losgelassen wird und die Aufmerksamkeit der Seele steigert, wodurch die Seele also dazu kommt, in sich selbst bedeutungsreiche Erkenntnisbilder wahrzunehmen, die schon immer da waren, aber nicht gesehen wurden, ähnlich wie wir vieles im Ge459 Vgl. q. 16 a. 9 und 10 und Argument 6 hier oben. 460 Augustinus, De Gen. ad litt. XII, 13, 27 (PL 34, 464). 461 Wie Aristoteles, Met. I, 15; 991 a 8 ff. überliefert.

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dächtnis haben, was wir nicht immer vor Augen haben, oder ob solche Bilder dort entstehen, die vorher nicht da waren.« Und als dritte Möglichkeit fragt er noch, »ob sie Erkenntnisbilder in irgendeinem Geist sind, und die Seele sie dort sieht, wenn sie ausbricht und sich erhebt«. Von diesen drei Vorschlägen erweist sich aber der dritte als vollkommen unmöglich. Denn die menschliche Seele vermag sich ihrer gegenwärtigen Beschaffenheit in diesem Leben nach nicht so weit zu erheben, daß sie die reine geistige Washeit und die unkörperlichen Wesenheiten sieht, da wir in unserer jetzigen Beschaffenheitslage in diesem Leben nicht ohne Vorstellungsbilder verstehen können,462 wodurch wir auch nicht imstande sind, von einer rein geistigen Wesenheit zu erkennen, was sie ist. Noch viel weniger vermag die Seele jedoch Einblick in die reinen Verstandesgestaltungen zu nehmen, die sich im Denken der reinen Geistwesen befinden, da doch »das, was eines Menschen ist, niemand weiß als der Geist des Menschen, der in ihm ist«.463 Doch wie es auch immer um die Verstandeserkenntnis der menschlichen Seele bestellt sein mag: sicher ist, daß ihr Sehvermögen, sei es in Vorstellung oder Sinneswahrnehmung, auf keinen Fall imstande ist, sich bis zur Schau unkörperlicher Wesenheiten und der in ihnen befindlichen Erkenntnisformen aufzuschwingen, die ausschließlich verstandesmäßig sind. Wenn Augustinus daraufhin fortfährt zu sagen,464 daß doch ein Zweifel besteht, ob die Seele für sich genommen oder nur in Durchdringung mit einem anderen Geist zu sehen vermag, so ist das nicht so zu verstehen, daß die Seele das geistige Wesen sieht, sondern daß das Geistwesen irgendetwas an der Seele vollbringt, und so ist die Seele als von den Wirkungen von Seiten des Geistwesens durchdrungen zu erachten, nicht aber als mit ihm selbst oder dem, was in ihm ist, durchmengt. Auch die zweite der drei besagten Weisen erweist sich als unmöglich, daß nämlich in der Seele etwas entsteht, was vorher nicht da war. Denn Dämonen vermögen es nicht, der Körpermaterie neue 462 Vgl. Aristoteles, De an. III, 6[12]; 431 a 16–17. 463 1 Kor. 2, 11; Thomas zitiert diese Stelle nach der Wiedergabe des

Ambrosius, De Spiritu Sancto II, 11, 124 (PL 16, 769 [801 A]). 464 Augustinus, De Gen. ad litt. XII, 12, 27 (PL 34, 464).

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Erkenntnisbilder einzustiften, wie aus dem bereits Gesagten hervorgeht.465 Deshalb vermögen sie das folglich genausowenig bei der Sinneswahrnehmung und der Vorstellungskraft, in die ohne das Vorhandensein eines körperlichen Organs nichts Eingang findet.466 Bleibt also noch der erste Vorschlag, daß nämlich etwas im Körper vorliegt, was über eine inwendige Ortsveränderung durch die Atemzüge467 und Säfte in das Grundvermögen der Sinnesorgane überführt wird, auf daß es somit von der Seele in der Vorstellung oder mit Sinnen erblickt werde. Oben wurde nämlich ausgeführt,468 daß Dämonen aus eigener Kraft Ortsbewegungen an Körpern vollführen können. Kommt es doch auch durch die Veränderung dem Orte nach, die durch Atemzüge und Säfte vollführt wird, in einem ganz natürlichen Ablauf dazu, daß man etwas sinnlich oder in der Vorstellung sieht, denn Aristoteles sagt in seinem Buch Über Wachen und Träumen,469 an der Stelle, wo er die Ursache der Traumgesichte aufweist, daß wenn Lebewesen schlafen, der Großteil ihres Blutes sich in das Grundvermögen der Sinneswahrnehmung absetzt; im Verein damit sickerten die von den Veränderungen im Sinnesvermögen noch erhaltenen und in sinnlichen Bildern gespeicherten Veränderungsbewegungen und Eindrücke dorthin herab und brächten unser Auffassungsvermögen in Bewegung, so daß in unserer Auffassung Dinge dergestalt auftauchten, als ob unser sinnliches Aufnahmevermögen von Dingen solcher Art in Bewegung versetzt werden würde. Auf diese Weise nun sind Dämonen in der Lage, Veränderungen in der Vorstellung und der Sinneswahrnehmung zu bewerkstelligen, und zwar nicht nur bei Schlafenden, sondern auch bei Wachen. Zu 1. Dämonen sind nicht imstande, den körperlichen Sinnesorganen neue Erkenntnisbilder einzustiften. Dennoch können sie 465 Vgl. q. 16 a. 9. 466 Vgl. Aristoteles, De an. III, 1[7]; 429 b 4–5. 467 ›Spirituum‹ steht im lateinischen Original. Das kann nicht spiri-

tus = Geist heißen, sondern erfordert hier eine der Grundbedeutung des Wortes ›Luft‹ nahestehende Wortverwendung. Ich entscheide mich faute de mieux für die Übersetzung ›Atemzug‹. 468 Vgl. q. 16 a. 10. 469 Aristoteles, De somn. et vigil. III; 461 b 11 sqq.

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in den Sinnesorganen gespeicherte Erkenntnisbilder in irgendeiner Weise verändern, um mit ihnen Erscheinungen entstehen zu lassen. Zu 2. Jede Vitaltätigkeit, insofern sie einem Vermögen entstammt, gehorcht immer einer inneren Grundlage, insofern sie jedoch von einem Gegenstand kommt, kann sie sich einer äußerlichen Grundlage verdanken, wie das Sehen vom Sichtbaren bedingt wird. Auf diesem Weg werden auch die Sinne von den Dämonen beeinflußt, nämlich durch Zurschaustellung eines Gegenstands. Zu 3. Die Absichtsausrichtung ist ein Vollzug der Strebenskraft, und die tritt in zweifacher Ausprägung auf: einmal in einer sinnlichen, und dann ist sie das Vermögen eines körperlichen Organs, dessen Tätigkeit also durch eine körperliche Veränderung hervorgerufen werden kann, wie auch durch die Hinzustellung oder Wegnahme von etwas Körperlichem das sinnliche Streben dazu veranlaßt wird, etwas zu begehren oder zu meiden. Auf diesem Weg können Dämonen das sinnliche Streben dazu bewegen, etwas zu beabsichtigen. In zweiter Weise tritt sie als verstandesmäßige Strebenskraft auf, das heißt als Wille, der, weil er über kein körperliches Organ verfügt, von körperlichen Veränderungen unberührt bleibt, obwohl er durch sie geneigt gemacht werden kann. Tatsächlich in Bewegung gesetzt werden kann der Wille jedoch nur vom Menschen selbst, insofern der Wille selbstbewegend ist, oder von Gott, der im Innersten tätig ist. Demgemäß können Dämonen also die Seele nicht dazu bewegen, sich absichtlich an etwas auszurichten. Zu 4. Dazu, daß ein Mensch einen Gedanken in Übereinstimmung mit den Erkenntnisbildern faßt, die er im Verstand habituell vorrätig hat, bedarf es des absichtlichen Willenseinsatzes, denn ein Habitus ist das, wodurch etwas nach Willenseinsatz vollführt wird, wie im 3. Buch von Über die Seele steht.470 Ähnlich geschieht es durch die Ausrichtung des sinnlichen Strebens, daß ein Tier sich das ins Vorstellungsvermögen rufen kann, was es vorher im Gedächtnis aufbewahrt hatte. Beim Menschen geschieht das aber auch durch die Ausrichtung des Verstandesstrebens, weil das höhere Streben das niedrigere anleitet.

470 Eigentlich Averroes, In De anima III comm. 18 (ed. Crawford, 438).

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Zu 5. Erkenntnisbilder, die in den sinnlich empfindenden Organen vorliegen, stehen auf halbem Weg zwischen reiner Möglichkeit und vollendeter Wirklichkeit, und genauso ist das mit den Bildern, die habituell im Verstand vorliegen. Und sie werden nur durch die Ausrichtung des Strebensvermögens in ihre Vollendungswirklichkeit überführt. Zu 6. Die sinnliche Auffassungsgabe des Menschen ist so beschaffen, daß sie sich auf zweierlei Weise von ihr eigentümlichen Beweggründen anregen läßt: Auf eine Weise durch einen äußerlichen Beweggrund, und das in Bewegungsrichtung von den Dingen zur Seele. Auf andere Weise durch einen inwendigen Beweggrund, und dies in Bewegungsrichtung von der Seele hin zu den Dingen. Beider Arten von Beweggründen können sich Dämonen bedienen, um Veränderungen in der Vorstellung oder der Sinneswahrnehmung von Menschen herbeizuführen. Zu 7. Das Augustinuszitat darf man nicht so verstehen, daß Dämonen die Vorstellungskraft eines Menschen oder auch nur ein in ihr gespeichertes Erkenntnisbild mit Körperlichkeit anfüllten, um das Ergebnis dann den Sinnen anderer vorzuführen. Sondern so, daß ein Dämon, der das Bild in der Vorstellung eines Menschen formt, entweder ein anderes ähnliches Bild den Sinnen anderer körperlich und von außen vorführt, oder inwendig in ihren Sinnen ein ähnliches Bild erzeugt. Zu 8. Dämonen nehmen nicht so Einfluß auf das Vorstellungsund Wahrnehmungsvermögen des Menschen, daß sie sich selbst als Medium oder Gegenstand darbieten, sondern indem sie diesen Vermögen ihnen eigentümliche Ausrichtungsgegenstände vorlegen, wie oben ausgeführt.471 Zu 9. Dämonen nehmen, wie gesagt,472 nicht so Einfluß auf das Vorstellungs- und Wahrnehmungsvermögen, daß sie sich ihm selbst darbieten, sondern indem sie Umänderungen daran vornehmen, wobei Veränderung hier nur als Folge von Ortsveränderung verstanden werden kann, da Dämonen nicht von sich aus neue Bilder dort ein-

471 Vgl. Antwort. 472 Vgl. Antwort.

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zustiften imstande sind, wie schon gesagt.473 Die Veränderung geht durch Umstellung oder Ortsveränderung vonstatten, aber nicht so, daß das Organ selbst geteilt wird und sich daraus ein Schmerzgefühl ergäbe, sondern indem die Atemzüge und Säfte in Bewegung gebracht werden. Auf den weitergehenden Einwand, daß ja die Dämonen dann nicht imstande wären, dem Menschen etwas Neues bezüglich der Vorstellung zu zeigen, ist zu antworten, daß ›etwas Neues‹ auf zweifache Weise aufgefaßt werden kann: Auf eine Weise als gänzlich neu sowohl hinsichtlich seiner selbst und hinsichtlich seiner Grundlagen, und so gesehen kann ein Dämon der Vorstellungskraft des Menschen nichts Neues bieten, denn er könnte ja nicht einen Blindgeborenen dazu bringen, sich Farben vorzustellen, oder einen Taubgeborenen dazu, sich Töne vorzustellen. Auf andere Weise wird etwas in Hinsicht auf das Bild des Dings neu genannt: So nennen wir etwas doch dann neu in der Vorstellung eines Menschen, wenn jemand sich goldene Berge vorstellt, die er niemals gesehen hat. Da er jedoch Gold und einen Berg sieht, kann es in einem Menschen durch natürliche Abläufe zum Vorstellungsbild eines goldenen Berges kommen. Auch auf diese Weise kann ein Dämon mit Hilfe verschiedentlicher Zusammenstellungen von Bewegungsabläufen und Bildern der Vorstellungskraft etwas Neues bieten, sozusagen mit Hilfe gewisser Wirkkeime, die sich in Sinnesorganen verbergen, deren Kraft er genau kennt. Zu 10. Wie Augustinus in seinem Werk Über die Dreifaltigkeit sagt,474 vermögen Dämonen vieles kraft ihrer Wesensbeschaffenheit, was sie aber nicht ausführen können, weil Gott es ihnen verbietet. So ist darauf zu sagen, daß Dämonen kraft ihrer Wesensbeschaffenheit durch eine Verwirrung der Vorstellungsbilder die Verstandeserkenntnis eines Menschen gänzlich verhindern können, wie aus dem Fall von Besessenen ersichtlich ist. Doch ist es ihnen nicht immer freigestellt, das zu tun. Zu 11. Gute Engel genauso wie böse befinden sich nach der Aussage des Johannes Damascenus475 dort, wo sie wirken. Daraus folgt, 473 Vgl. Antwort. 474 Augustinus, De Trin. III, 9, 18 (PL 42, 878). 475 Johannes Damascenus, De fide 1, 13 (ed. Buytaert, 56) und 2, 3

(ed. Buytaert, 72).

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daß wenn Dämonen Säfte oder Atmung in Bewegung bringen, um etwas aufzuzeigen, sie am Ort ihres Wirkens zugegen sind. Was jedoch Hieronymus schreibt, daß Dämonen sich nicht in Götzenbildern aufhalten, ist nicht so zu verstehen, daß Dämonen sich nicht in etwas örtlich versetzen können, da doch nichts der Annahme entgegensteht, daß sie als geistige Wesen Körper durchdringen können. Vielmehr ist das so zu verstehen, daß Dämonen nicht so in Götzenbildern sind wie die Seele in einem Körper, so daß aus Götzenbild und Dämon ein neues Ganzes entstünde, wie die Heiden vermeinten.476 12. Artik el 47 7 Die zwölfte Frage lautet: Können Dämonen den Verstand eines Menschen verändernd beeinflussen? Das scheint nicht der Fall zu sein; denn: 1. Der Verstand des Menschen läßt sich der Sonne vergleichen, verlautet doch in Weish. 5, 6 aus dem Munde der Gottlosen478: »Die Sonne der Vernunft ist uns nicht aufgegangen«. Nun kann kein Dämon die sichtbare Sonne bewegen, und also sehr viel weniger irgendein Dämon den menschlichen Verstand. 2. Nur das Möglichkeitsoffene kann verändert werden. Bezüglich der Verstandesdinge und auch bezüglich der Vorstellungsgehalte befindet sich der Verstand jedoch in voller Vollzugswirklichkeit, denn Augustinus sagt im 12. Buch von Über Genesis dem Wortlaut nach479: »Obwohl wir zuerst einen Körper sehen, den wir vorher noch nicht gesehen hatten, und von dorther dann ein Bild von ihm in unserem Geist zu sein anfängt, durch das wir ihn in Erinnerung rufen können, gleichviel, daß der Körper selbst bereits abwesend ist, so wurde dieses Bild von ihm dennoch nicht von dem Körper im Geist 476 Gemäß Augustinus, De civ. Dei VIII, 23, 1 (CCSL 47, 239–240). 477 Paralleltexte: Super libros Sententiarum II, d. 9 a. 2 ad 4; De ver.

q. 11 a. 3; ScG III, 81; Sum. theol. I, q. 111 a. 1; Quaestiones quodlibetales IX q. 4 a. 5. 478 Glossa ordinaria zu Weish. V, 6. 479 Augustinus, De Gen. ad litt. XII, 16, 33 (PL 34, 467).

12. Artikel

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gemacht, sondern der Geist selbst hat es in sich hervorgebracht«; und im 10. Buch von Über die Dreifaltigkeit480 sagt er: »Die Seele umgibt die Körperbilder, und wenn sie sich geformt haben, dann entzieht sie sie in sich selbst aus sich selbst.« Also scheint es, daß der Verstand eines Menschen sich nicht von Dämonen verändern läßt. 3. Die Vorstellungskraft kommt dem menschlichen Verstand näher als jeder Dämon, da die Vorstellungskraft in derselben Grundbeschaffenheit der Seele ihre Wurzeln hat. Die Vorstellungskraft aber kann die Verstandeskraft des Menschen nicht verändernd beeinflußen, da Immaterielles nicht durch Materielles verändert wird. Also scheint es, daß Dämonen den Verstand des Menschen nicht verändern können. 4. Der Verstand steht zu den Verstandesdingen im selben Verhältnis wie die Materie zur Gestalt, und die Materie wird durch Gestaltgebung in Wirklichkeit überführt, genauso wie der Verstand durch die sich ihm darbietenden Dinge. Wenn es aber eine Materie gibt, die immer eine Gestaltgebung in sich gegenwärtig hat, so kann sie niemals zu einer anderen hin verändert werden, wie das Beispiel der Himmelskörper zeigt.481 Der menschliche Verstand jedoch hat einen ständig sich gegenwärtigen Gestalter, nämlich sich selbst, da er doch für sich selbst Gegenstand seines Verstehens ist. Also kann ihn ein Dämon auf keinen Fall zu irgendetwas Verstehbaren hin in Bewegung versetzen. 5. Der Verstand (eines Schülers) wird im strikten Sinne von einem Lehrer verändert, der diesen Verstand von der Möglichkeit (zu wissen) in die Wirklichkeit (zu wissen) überführt, wie Aristoteles im 8. Buch der Physik sagt.482 Doch Gott allein lehrt, wie aus dem Buch des Augustinus Über den Lehrer hervorgeht.483 Also scheint es so, daß Dämonen den Verstand nicht inwendig verändernd beeinflussen können. 480 Augustinus, De Trin. X, 5 (PL 42, 977). 481 Averroes, De substantia orbis 3 (IX, 10 B), so Thomas, Super libros

Sententiarum II, d. 12 q. 1 a. 1 ad 5. 482 Aristoteles, Phys. VIII, 8; 255 a 33 – b 5. 483 Augustinus, De magistro 14, 46 (CCSL 29, 202). Deutlicher allerdings bei Augustinus, In Epistolam Iohannis ad Parthos III, 13 (PL 35, 2004).

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6. Erleuchtung nimmt eine Veränderung im Verstand vor. Den menschlichen Verstand zu erleuchten kommt aber Gott zu, der »jeden Menschen erleuchtet, der auf die Welt kommt«, wie es in Joh. 1, 9 heißt, nicht aber den Dämonen, da Licht und Dunkelheit nichts gemeinsam haben, wie in 2 Kor. 6, 14 steht. Also scheint es, daß Dämonen den menschlichen Verstand nicht verändernd beeinflußen können. 7. Verstandeserkenntnis erfolgt im Hinblick auf zweierlei, nämlich das Licht der Vernunft und die Verstandesbilder. Dämonen aber können die Seele nicht über das Licht der Vernunft zur Verstandeserkenntnis bewegen, da dieses dem Menschen von Natur aus und von vornherein innewohnt, und ganz ähnlich auch nicht über die Verstandesbilder, da diese bei Geistwesen allgemeiner und dem menschlichen Verstand nicht angepaßt sind. Also können Dämonen den menschlichen Verstand auf keinerlei Weise zu Verstandeserkenntnis bewegen. 8. Augustinus sagt in seiner Schrift Über 83 verschiedene Fragen,484 daß wer die Wahrheit nicht versteht, gar nichts versteht. Nun ist es Dämonen doch eigentümlich, den Menschen zur Falschheit zu verführen und nicht zur Wahrheit, ganz nach Joh. 8, 44: »Wenn er (der Teufel) lügt, redet er, wie es ihm entspricht«. Also scheint es, daß Dämonen die menschliche Seele zu keiner Verstandeserkenntnis bewegen können. Dagegen spricht: 1. Augustinus sagt im 18. Buch von Die Bürgerschaft Gottes,485 daß einem Menschen in einem Traumgesicht ein Philosoph erschien und ihm gewisse platonische Lehrsätze darlegte, und er schreibt dies der Tätigkeit eines Dämonen zu. Also können Dämonen die menschliche Seele dazu bringen, etwas zu verstehen. 2. Über die Bibelstelle Hiob 37, 8 »Das Tier wird sich in sein Versteck verkriechen« sagt Gregor der Große in seinen Moralschriften,486 daß Dämonen selbst in den Geist von Heiligen einkriechen, dort 484 Augustinus, De diversis quaestionibus 32 (PL 40, 22). 485 Augustinus, De civ. Dei XVIII, 18, 2 (CCSL 48, 609). 486 Gregor der Große, Moralia XXVII, 26, 50 (PL 76, 429 B).

12. Artikel

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aber nicht verbleiben können. Also scheint es, daß sie den menschlichen Geist dazu bringen können, etwas zu verstehen. 3. Augustinus sagt im 19. Buch von Die Bürgerschaft Gottes,487 daß ein Dämon die Seele eines Weisen gebrauchen kann, wie es ihm beliebt. Die Seele eines Weisen ist jedoch äußerst kräftig. Also scheint es, daß Dämonen doch noch sehr viel eher die Seelen anderer dazu bringen können, etwas zu verstehen. 4. Augustinus sagt im 12. Buch von Über Genesis dem Wortlaut nach,488 daß wie die geistige Vorstellung dem Menschen dazu verhilft, die Vorstellungsbilder zu sehen, so der Geist dazu, daß er sie verstehen kann. Nun bringen Dämonen durch Hilfestellung für die Verstandeskraft den Menschen dazu, in der Vorstellung etwas zu sehen. Also verhelfen sie dem Geist dazu, etwas zu verstehen. Antwort: Bezüglich der Tätigkeit von Dämonen ist zweierlei in Betracht zu ziehen, und zwar erstens, was sie kraft ihrer eigenen Wesensbeschaffenheit vermögen, und zweitens, wie sie ihre wesensentsprechende Kraft aus eigener Willensbosheit gebrauchen. Bezüglich ihrer wesensentsprechenden Kraftveranlagung vermögen die Dämonen demnach dasselbe wie die guten Engel, da sie eine gemeinsame Wesensbeschaffenheit teilen. Allerdings besteht ein Unterschied bezüglich des Gebrauchs dieser Kraftveranlagung je nachdem, ob sie mit gutem oder bösem Willen eingesetzt wird, denn die guten Engel beabsichtigen, den Menschen zum Guten und zur vollkommenen Erkenntnis der Wahrheit zu verhelfen, die der Teufel genauso wie anderes für den Menschen Gutes zu verhindern beabsichtigt. Die menschliche Verstandestätigkeit erfolgt nun durch zweierlei, nämlich das Licht der Vernunft und die Verstandesbilder, doch derart, daß das Begreifen von Dingen durch die Verstandesbilder erfolgt, das Urteilen über das somit Begriffene jedoch durch das Licht der Vernunft. Der menschlichen Seele wohnt wesensgemäß das Licht der Vernunft inne, das freilich der natürlichen Anordnung gemäß dem 487 Augustinus, De civ. Dei XIX, 4, 2 (CCSL 48, 665). 488 Augustinus, De Gen. ad litt. XII, 13, 27 (PL 34, 464).

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Licht der Engel unterlegen ist. So kommt es, daß, ähnlich wie in den körperlich verfaßten Dingen die höheren Kräfte den niedrigeren bestärkend behilflich sind, das Licht der Engel das Licht der Vernunft im Menschen darin bestärken kann, vollkommener zu urteilen. Das versuchen die guten Engel, nicht aber die bösen, weshalb die guten Engel die Seele auf diese Weise dazu bewegen, zu verstehen, nicht aber die Dämonen. Was nun die Verstandesbilder betrifft, kann ein guter oder ein böser Engel durch sie den Verstand eines Menschen dazu bringen, etwas zu verstehen, aber nicht so, daß er Bilder in den Verstand selbst einfließen läßt, sondern indem er äußerlich bestimmte Zeichen vorführt, durch die der Verstand dazu angestiftet wird, etwas zu begreifen, was ja auch Menschen so zustandebringen können. Doch auch darüber hinaus können gute und böse Engel innerlich irgendwie die Vorstellungsbilder derart zurechtrücken und anordnen, wie das vonnöten ist, um etwas Verstehbares geistig zu ergreifen, was die guten Engel dem Menschen zum Guten, die bösen zum Schlechten so regeln. Letzteres entweder als Sinnesanstiftung zur Sünde, insoweit der Mensch nämlich durch die aufgenommenen Vorstellungsbilder zur Überheblichkeit oder zu einer anderen Sünde bewegt wird, oder als Verhinderung der Wahrheitserkenntnis, indem der Mensch durch die Aufnahme eines Vorstellungsbilds in Zweifel geführt wird, die er nicht zu lösen weiß, und somit dem Irrtum verfällt. Daher sagt Augustinus im Buch Über 83 verschiedene Fragen,489 daß »Dämonen sozusagen alle Verstandeswege vernebeln, auf denen für gewöhnlich die Strahlen des Geistes das Licht der Vernunft erleuchten«. Zu 1. Die auffassungsmögliche Seite des menschlichen Verstands läßt sich nicht der Sonne vergleichen, sondern eher der Luft oder einem anderen lichtdurchlässigen und erleuchtbaren Stoff. Der tätige Verstand jedoch läßt sich nach Platon der Sonne vergleichen, wie Themistios in seinem Kommentar zum 3. Buch von Über die Seele sagt,490 weil Platon den tätigen Verstand für ein für sich selbst 489 Augustinus, De diversis quaestionibus 12 (PL 40, 14). 490 Themistius, Commentarium in De anima III (ed. Heinze, 103, 35)

nach der Übersetzung von Wilhelm von Moerbeke (ed. Verbeke, 235).

12. Artikel

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stehendes unkörperliches Wesen hielt, weshalb auch Augustinus in seinem Buch Selbstgespräche491 Gott mit der Sonne vergleicht. Aristoteles492 hingegen vergleicht den tätigen Verstand mit dem Licht, an dem ein Körper teilnimmt. Zu 2. Es ist falsch, daß sich die Seele in bezug auf die Verstandesdinge oder auf die sinnlich wahrnehmbaren Dinge in vollständiger Verwirklichung befindet. Denn hinsichtlich der Erkenntnisdinge in der menschlichen Seele wird ein zweifacher Aspekt im Verstand unterschieden, nämlich der tätige Verstand und der mögliche Verstand. Der mögliche Verstand befindet sich nun aber gegenüber allem Verstehbaren in einem Ermöglichungsverhältnis. Daher vergleicht ihn Aristoteles im 3. Buch von Über die Seele493 einer noch unbeschriebenen Schreibtafel. Der tätige Verstand ist gewissermaßen die Verwirklichung alles Verstehbaren, durch die es ja erst verstanden wird, nicht jedoch so, daß diese Verwirklichung in sich schon alles Verstehbare verwirklicht beinhaltete, wie auch das Licht, mit dem der Verstand hier verglichen wird, nicht schon in sich verwirklicht alle Farben beinhaltet. Sondern das Licht bewirkt, daß alle Farben tatsächlich sichtbar werden, und der tätige Verstand bewirkt, daß alles tatsächlich verstehbar wird. Dementsprechend bringen weder Körper noch die körperlichen Sinne die Verstandesbilder im Verstand hervor, sondern der Verstand selbst bringt sie durch den tätigen Fähigkeitsaspekt im Verstand hervor, während sein Ermöglichungsaspekt sie aufnimmt, als ob körperliche Augen eine Lichtquelle darstellten und tatsächlich lichtspendend wären, und Farben tatsächlich dadurch sichtbar machten, daß sie lichtspendend sind, dadurch aber, daß sie durchsichtig sind und bar jeder Farbe,494 die Farben aufzunehmen imstande wären, wie das bei Katzenaugen ein wenig so aussieht.495 Was nun die Vorstellungsdinge betrifft, ist es allerdings offensichtlich, daß die Vorstellungskraft bezüglich aller VorstellungsAugustinus, Soliloquia VI, 12 und VIII (PL 32, 875 und 877). Aristoteles, De an. III, 4[10]; 430 a 15. Aristoteles, De an. III, 3[9]; 429 b 31 – 430 a 2. Vgl. Aristoteles, De an. II, 14; 418 b 4–6. Vgl. Isidor von Sevilla, Etymologiae XII, 12, 38 (PL 82, 440 A), Albertus Magnus, Super De anima II tr. 3 c. 12 (Col. VII, 1 117). 491 492 493 494 495

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dinge nicht im vollen Wirklichkeitsvollzug steht, sondern durch Sinneseindrücke in Wirklichkeit überführt wird. Die Einbildungskraft ist nämlich »eine Veränderungsbewegung, die von der Wirktätigkeit der Sinne ausgeht«, wie es in der Schrift Über die Seele heißt.496 Sonst könnte sich ja ein Blindgeborener Farben vorstellen. Sinneswahrnehmung vollzieht sich jedoch durch das Einwirken des sinnlichen Gegenstands auf das Sinnesorgan. Daher sagt Augustinus im 11. Buch von Über die Dreifaltigkeit,497 daß die Sinneswahrnehmung das Sinnesbild von dem wahrnehmbaren Körper erhält, das Gedächtnis aus der Sinneswahrnehmung, der Scharfsinn des Denkenden jedoch aus dem Gedächtnis. Wenn er dann im 12. Buch von Über Genesis dem Wortlaut nach sagt,498 »das Bild eines Körpers wird nicht im Geist gemacht, sondern der Geist selbst bringt es hervor«, dann sollte das so aufgefaßt werden, daß die körperlich ausgeübte Kraft sinnlich wahrnehmbarer Gegenstände nicht genug ist, um ein sinnliches Wahrnehmungsbild bei der Empfindungsberührung oder ein Vorstellungsbild beim Einbilden hervorzubringen, sondern daß dies dem Vermögen der Seele verdankt ist. Dennoch weisen äußerliche Körper eine veränderungsbringende Wirkkraft bezüglich der körperlichen Organe auf, und auf die sich ergebende Veränderung folgt die Sinnesauffassung durch die Wirkkraft der Seele. Deshalb sagt Augustinus im 11. Buch von Über die Dreifaltigkeit499: »Man kann doch nicht sagen, daß die Sinne den sichtbaren Gegenstand hervorbringen, doch sie erzeugen ein Bild oder Abbild von sich, das sich in den Sinnen einstellt, wenn man etwas zu sehen bemerkt«. Und auf solche Weise sollten auch alle weiteren ähnlichen Äußerungen bei Augustinus verstanden werden. Obwohl man auch auf andere Weise verstehen kann, daß der Geist die Vorstellungsbilder in sich hervorbringt, nämlich so, daß er, indem er sie auf mannigfache Weise zusammenstellt, neue Vorstellungsbilder erzeugt, wie im Beispiel vom vorgestellten Goldberg, wie oben gesagt.500 496 497 498 499 500

Aristoteles, De an. II, 30 [III 6]; 429 a 1–2; ed. Alonso, 285, 14–15). Augustinus, De Trin. XI, 8, 14 (PL 42, 995). Augustinus, De Gen. ad litt. XII, 16, 33 (PL 34, 467). Augustinus, De Trin. XI, 2, 3 (PL 42, 986). Vgl. q. 16 a. 11 ad 9.

12. Artikel

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Zu 3. Die Vorstellungskraft weist eine größere Übereinstimmung mit dem menschlichen Verstand was ihr Subjekt betrifft auf, was jedoch die Beschaffenheit der Bilder betrifft, hat dieser größere Übereinstimmung mit dem Verstand von guten und bösen Engeln. Auf irgendeine Weise vermag daher der Verstand eines Engels oder Dämonen den menschlichen Verstand in einem Maße beeinflussen, wie die Vorstellungskraft es nicht kann; dennoch beeinflußt die Vorstellungskraft irgendwie den möglichen Verstand, jedoch freilich nicht aus eigener Kraft, sondern kraft des tätigen Verstands. Auch Aristoteles sagt im 3. Buch von Über die Seele,501 daß sich die Vorstellungsbilder zum möglichen Verstand so verhalten wie die Farben zum Sehsinn. Wie daher das Licht den Farben gewissermaßen die mittelhafte Kraft verleiht, im Sehsinn eine geistige Veränderung hervorzubringen, so üben auch die Vorstellungsbilder, insofern sie mittelhaft wirken, auf die Kraft des tätigen Verstandes tätig Einfluß aus, indem sie den möglichen Verstand durch Verstandesbilder zur Verwirklichung bringen. Zu 4. Mit dem Verstand von Engeln und von Menschen hat es jeweils etwas anderes auf sich. Der Verstand eines Engels nämlich ist wie etwas in der Gattung verstehbarer Dinge Verwirklichtes, und daher kann er sein eigenes Wesen in sich selbst verstehen, und durch die Erkenntnis seines Wesens versteht er dann auch alles andere, was er versteht. Es ist nämlich keineswegs undenkbar, daß gewisse Gestaltungsformen andere aufnehmen, wie etwa die Oberfläche Farben aufnimmt. Daher kann ein Körper, der ja immer eine Oberfläche aufweist, von etwas Äußerlichem Veränderungen zu diesem oder jenem hin erfahren. Der mögliche Verstand in der menschlichen Seele jedoch ist wie etwas vollständig Möglichkeitsoffenes in der Gattung der verstehbaren Dinge, und er kann sich daher auch nicht selbst verstehen, es sei denn, daß er durch Verstandesbilder seine Verwirklichung erfährt. Zu 5. Nur Gott lehrt, indem er im Innersten tätig ist, ist er doch selbst der Hervorbringer des Lichts der Vernunft. Doch Engel, Dä-

501 Aristoteles, De an. III, 6[12]; 431 a 14–15. Vgl. Averroes, In De anima III comm. 5 (ed. Crawford, 401).

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monen und Menschen vermögen zu lehren, indem sie dem Verstand seinen entsprechenden Gegenstand vorführen, wie oben gesagt.502 Zu 6. Wie gesagt503: Die Verstandestätigkeit kann nicht allein von Seiten des Lichts des Verstandes in Bewegung gebracht werden, sondern auch von Seiten des Gegenstands. Zu 7. Gute Engel können durch das Licht der Vernunft den menschlichen Verstand zwar in Bewegung versetzen, doch nicht dadurch, daß sie das Licht selbst hervorbringen, sondern indem sie es bestärken, wie bereits gesagt.504 Doch sowohl Engel wie Dämonen können durch Verstandesbilder den menschlichen Verstand in Bewegung versetzen, wenn auch nicht so, daß sie dem menschlichen Verstand Bilder einstiften, die den ihren ähnlich sind, sondern auf die oben besagte Weise,505 daß sie Vorstellungsbilder zusammenstellen oder auch äußerliche Bilder vorführen: Genauso, wie ein Mensch seine tiefschürfenden Gedankengänge anderen mitteilen kann, indem er sie auf eine Art und Weise zur Darstellung bringt, die seiner Hörerschaft angemessen ist. Zu 8. Dämonen beabsichtigen durch die wahren Dinge, die sie offenlegen, Menschen zur Lüge zu verführen. Als Antwort auf die Gegenargumente ist zu beachten, daß dort nicht im Hinblick auf das Wesen gesagt wird, Dämonen könnten in den Geist eines Menschen eindringen, sondern nur bezüglich der sich ergebenden Wirkung, will sagen indem sie einen Menschen dazu bringen, etwas zu denken. Wenn dort desweiteren gesagt wird, ein Dämon könne die Seele eines Weisen gebrauchen, wie es ihm beliebt, dann insofern, als er manchmal mit Gottes Erlaubnis den Gebrauch der Vernunft im Menschen verhindert, wie das im Fall von Besessenen offenkundig wird.

502 503 504 505

Vgl. Antwort. Vgl. Antwort. Vgl. q. 16 a. 11. Vgl. q. 16 a. 11.

NACHWORT

1. Text und Übersetzung Der Text von De malo liegt seit 1982 in der sorgfältig ausgearbeiteten kritischen Edition der Commissio Leonina vor.1 Der Text kann somit als gesichert gelten und verschafft Studium und Übertragungen eine feste und vertrauenswürdige Grundlage. Die Editio Leonina hat dementsprechend Übersetzungen der Quaestiones disputatae de malo in verschiedenen Sprachen nach sich gezogen, denen sich die vorliegende deutsche nun zugesellt.2 Der zweite Teil des Werkes, den der vorliegende Band umschließt (qq. 8–16), bietet – mit Ausnahme vereinzelter etymologischer Herausforderungen und einer Anzahl sehr »harter« Passagen im Traktat über die Dämonen – der Übersetzung keine unüberwindbaren Hindernisse. Gemäß den Vorgaben für die Gesamtübersetzung der Quaestiones disputatae im selben Verlag stand auch für De malo 8–16 das Bemühen im Vordergrund, einen flüssigen und gegebenenfalls auch ohne Abgleichung des lateinischen Originals gut verständlichen Lesetext vorzulegen. In diesem Sinne weist die Übersetzung einige wohlüberlegte Eigenheiten auf: So wird die »typisch scholastische« Statik der Darstellung in wiederkehrenden Floskeln 1 S. Thomae Aquinatis Opera omnia iussu impensaque Leonis XIII P. M. edita, tomus 23: Quaestiones disputatae de malo, Rom / Paris 1982. 2 Zu nennen sind v. a.: The De Malo of Thomas Aquinas, with Facingpage Translation by Richard Regan, Edited with an Introduction and Notes by Brian Davies, Oxford 2001 (die einsprachige englische Ausgabe Oxford 2003 hat einige Verbesserungen erfahren); St. Thomas Aquinas, On Evil, Translated by John A. Oesterle and Jean T. Oesterle, Notre Dame / Indiana 1995; Tomás de Aquino, Cuestiones disputadas sobre el mal, Presentación, traducción y notas de Ezequiel Téllez Maqueo, Introducción de Mauricio Beuchot, Pamplona 1997. Die erste deutsche Übersetzung ist: Untersuchungen über das Böse, übersetzt und eingeleitet von Claudia und Peter Barthold, Mülheim 2009.

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Nachwort

und schematisierten Wendungen nur dort nicht variiert und den bunteren Möglichkeiten des deutschen Sprachduktus angeglichen, wo unmißverständliche Vorgaben des Reihenherausgebers dies deutlich untersagten.3 Ansonsten wurde zu Ungunsten des Schematischen, Topischen und Typischen eher auf Kontextangleichung, Sprachfluß, Gedankenzusammenhang und Transparenz des Inhaltlichen geachtet sowie der Überzeugung gefolgt, daß die Sprache von De malo ein »mittleres Niveau« darstellt und zu imitieren vorgibt, das durchaus »unciceronisch« und wenig rhetorisch zwischen automatisierter Fachterminologie und kolloquialen Elementen changiert und weder mit syntaktischer Kathedralgotik auftrumpft noch die recht handfeste Überzeugungskraft der von Thomas stets im Dienste des Arguments sehr »geradeheraus« angeführten Beispiele durch sprachkünstlerische Mittel verwässert. Und so mag es unter inhaltlichen Gesichtspunkten betrachtet zwar sein, daß, wie Papst Johannes XXII. zu Anlaß des Heiligsprechungsprozesses des Aquinaten angesichts angeblich fehlender Wundererweise des Kandidaten festgestellt haben soll, jeder seiner Artikel für sich schon ein Wunder ist. Die Form jedoch ordnet sich in jedem dieser Artikel stets ohne alles Wundersame oder Wundervolle nüchtern und in der ihr eigenen Vermischung von streng gehandhabtem Fachwortschatz und parataktischer Unverblümtheit dem Gedanken und dessen Greifbarkeit unter. (Kein Wunder in dieser Hinsicht also auch, daß Thomas der trocken sezierenden Darlegungsart seiner Gedankengänge wegen in letzter Zeit gerade unter den Vertretern der sogenannten »analytischen Philosophie« zunehmend Freunde und Bewunderer gewinnen konnte.) Das Lob des Papstes konnte sich also nur auf die Sache beziehen, nicht auf die Sprache, und wenn, dann vielleicht doch eher auf die Prägnanz als auf die Brillanz. So ergibt sich für den sprachkünstlerisch betrachtet so unciceronisch daherkommenden Text aus der Methode des Aquinaten, dem Inhalt und dessen Begreifbarkeit den Vorrang einzuräumen, der dann doch wieder sehr ciceronische Anspruch an den Übersetzer, seine Vorlage non verbum e verbo, sed 3 Solche Vorgaben betreffen Floskeln wie »set dicebat« (durchgängig: »dagegen wurde eingewandt«), »primo queritur« (durchgängig: »die 1. Frage lautet«), usw.

Nachwort

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sensum de sensu wiederzugeben. »Denn der Sinn ist es doch, der vordringlich von den Begriffen gesucht wird, seien sie nun geradeheraus oder bildhaft geäußert«, meint auch Thomas selbst im Prolog zu seinem Hiob-Kommentar. Das gab der Übertragung grundsätzliche Entscheidungen vor, von denen einige hier in knapper Form Erwähnung finden sollen: Am Anfang mußte demnach der Versuch stehen, die Fachterminologie der Scholastik für den deutschen Text nicht in philosophischem »Jargonese« zu belassen, sondern, wo immer nur möglich, deutsche Entsprechungen zu suchen, also substantia nicht (vermeintlich) einfach durchwegs mit »Substanz« wiederzugeben und zu hoffen, der Leser sei mit den einschlägigen Definitionsabschnitten der entsprechenden Bücher der aristotelischen Metaphysik sattsam vertraut, sondern je nach gefordertem Verständnis als »(Einzel)Wesen«, »Seinseinheit«, »Wesenheit« etc., und accidentalis nicht unbeugsam mit »akzidentell«, sondern von Fall zu Fall mit »unwesentlich«, »beiläufig«, »nichtnotwendig«, etc., wobei den Verständnisvarianten in den terminologischen Vorschlägen von Schütz’ Thomas-Lexikon4 jeweils der Vorzug für die Übersetzung von De malo gegeben wurde. Das mag auf den ersten Blick ein wenig altfränkisch daherkommen (ähnlich dem − mittlerweile offenbar verbrauchten − englischen Stilprinzip »prefer the Saxon to the Romance«) und durch die unumgängliche Deutungsleistung in der Übertragung einengend auf die seltsam tiefschillernde Halsstarrigkeit der scholastisch-lateinischen Terminologie wirken. Doch bietet dieses deutend übersetzende Vorgehen für De malo bei aller Gefährdung nach Ansicht des (in solchen Dingen sonst sehr vorsichtigen) Übersetzers mehrere Vorteile, von denen stellvertretend für alle an dieser Stelle zwei kurz genannt werden sollen: Zum einen die bereits angesprochene größere Transparenz für das Verständnis des Textes insbesondere für ein Lesepublikum, das nicht oder nur wenig mit der Fachterminologie der Scholastik vertraut ist (es ist ja eigentlich eher eine Stärke denn eine Schwäche der scholastischen Terminologie, im großen und ganzen auch »normalsprachlich« ausgedrückt 4 L. Schütz, Thomas-Lexikon, Münster 21895 (Faksimile-Neudruck

Stuttgart 1958).

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Nachwort

werden zu können); zum anderen werden Mißverständnisse verhindert, die durch die Sprachentwicklung zustandekommen und viele der modernsprachlichen Übersetzungen von De malo im Sinn entstellen oder gefährden, denn substantia heißt ja genau nicht das, was man modernsprachlich unter »Substanz«, »substancia«, »substance« oder »sostanza« versteht, und ähnliches gilt für materia, forma, species, ratio, contingens, etc. Es ist leider ein Fluch, der auf vielen Übersetzungen in modernen Sprachen mit lateinischem Hintergrund lastet, daß sie irascibilis und vitium vermeintlich unmittelbar mit »irascible« oder »irascibile« und »vice« oder »vicio« wiedergeben zu können glauben – und damit in eine abstammungsgeschichtliche Fehlerfalle tappen. Die (um das ein wenig dümmlich verbrauchte Wort hier dennoch einmal zu benutzen) »Andersheit« des Deutschen ist für den Übersetzer da eher eine Chance als ein Nachteil. Eine weitere grundsätzliche Entscheidung war die, den Gedankengang des thomasischen Textes in seinen Folgerichtigkeiten und Zusammenhängen auch sprachlich deutlich zu machen und etwa durch ein eingefügtes »ja«, »doch«, »also«, etc. das Staccato des lateinischen Originals nach Maßgabe des Sprachempfindens und des Gedankenübergangs zu glätten. Vor demselben Hintergrund sei schließlich noch die Entscheidung genannt, wenn schon nicht durchgehend, so doch in begründeten Einzelfällen die monotone Stereotypie der Formulierungen im thomasischen Text stärker durch kleine Variationen zu durchbrechen als das im lateinischen Original geschieht. Gemäß den Wünschen des Verlags wurde (unbeschadet weniger Ausnahmen) so weit wie möglich auch auf erklärende Anmerkungen zu Sprachgestalt und Begrifflichkeit des Textes verzichtet, was ein weiteres Element der Begründung für die in den vorausgegangenen Absätzen verteidigten Grundentscheidungen in der »Übersetzungsstrategie« darstellte. Die eingangs erwähnte sympathische Eigenart des Textes, der Übersetzung keine sprachlich unüberkommbaren Hindernisse in den Weg zu stellen, war für die solchermaßen eingeforderte Fußnotenökonomie von großer Hilfe. In den Fußnoten der Übersetzung finden sich somit fast ausschließlich die Textverweise, Zitatbelege und Konventionen des kritischen Apparats der Leonina-

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Ausgabe.5 Auch in der Absatzeinteilung wurde der Leonina gefolgt, wo dies vereinheitlichende Vorgaben im Hinblick auf weitere Thomas-Übersetzungen desselben Verlags nicht verunmöglichten.

2. Entstehungszeit und innere Gliederung von De malo Bestimmte Gründe scheinen nahezulegen, daß die Quaestiones disputatae de malo zwischen 1265 und 1268 abgehalten wurden, als Thomas von Aquin in Santa Sabina in Rom weilte.6 Als Arbeitsbeginn an einer veröffentlichungsreifen schriftlichen Fassung mögen 5 Das schließt ein, daß z. B. die Zählung der Psalmen nach der Vulgata erfolgt, ganz wie der Textbezug des Leonina-Apparats auf den Originaltext von Thomas das fordert. Wo die Leonina-Ausgabe alternative Zählungen oder Editionen mit angibt, wurde das so übernommen (so z. B. bei Bezugnahme auf den Liber de causis die von der »arabischen« Zählung der modernen Standardausgaben abweichende »lateinische« Zählung der Sentenzen, der Thomas in seinem Text folgt). Die Angabe moderner Editionen wurde von der Leonina übernommen, jedoch ohne Abkürzungen (so wurde die Leonina-Abkürzung »Bt.« für »Saint John Damascene, De fide orthodoxa. Versions of Burgundio and Cerbanus, edited by E. M. Buytaert, St. Bonaventure / N. Y. 1955« nach dem vollständigen Editorennamen als »Buytaert« angegeben; dafür und für alle weiteren Verweise sind die Angaben der Leonina-Ausgabe in der Rubrik »Libri per compendia allati« ausschlaggebend und für jeden weitergehend Interessierten zu konsultieren). 6 Zur Datierung vgl. bündig die Einleitung von B. Davies zur Übersetzung von R. Regan (wie Anm. 2), S. 5–7 und 12–14 (wenn auch im zweiten Abschnitt von S. 13 die Jahreszahlen durcheinanderkommen: so mehrmals »1277« statt »1267«, was die einsprachige Ausgabe von 2003 korrigiert). Zur Biographie des Thomas von Aquin und zur Periodisierung seiner Schriften vgl. z. B. U. Horst, Thomas von Aquin, Predigerbruder und Professor, in: C. Schäfer / M. Thurner (Hg.): Mittelalterliches Denken. Kontexte und Gestalten, Darmstadt 2006, S. 143–162, sowie J. A. Weisheipl, Thomas von Aquin. Sein Leben und seine Theologie, Graz 1980, schließlich E. Stump, Aquinas, London / New York 2003, S. 1–12, und B. C. Bazàn / J. W. Wippel / G. Fransen / D. Jacquart, Les questions disputées et les questions quodlibétique dans les facultés de théologie, de droit et de médecine, Turnhout 1985.

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erst die anfänglichen »zweiten Pariser Jahre« der Lehrtätigkeit des doctor angelicus vor 1270/72 in Frage kommen, die Schrift ist jedenfalls spätestens mit dem Sterbejahr des Thomas in einem Universitätsexemplar abschreibefertig zugänglich und in Zirkulation gewesen.7 Somit fällt in dieselbe Zeit der Herausgabe von De malo auch die Arbeit des Aquinaten am zweiten Teil der Summa theologiae. Für die qq. 8–16 von De malo ist das insofern von Bedeutung, als sich Themenüberschneidungen zwischen den beiden Werken ergeben, die für die Interpretation als aufschlußreich gelten können. »Die Quaestiones De malo sind uns nur in der Universitätstradition überliefert, die zu Lebzeiten des hl. Thomas herauskam«, informiert das deutsche Vorwort zur Editio Leonina8 über das Universitäts-exemplar, das den Schreibern als Vervielfältigungsvorlage diente und unmittelbar auf das Original des Textes zurücklief. Das ist insbesondere für die Frage der Sonderstellung der q. 16 von Interesse, denn das Vorwort ergänzt: »Das exemplar von De malo umfaßte 28 Einzelfaszikel (peciae = Petien), die eine rasche Verbreitung des Werkes ermöglichten, weil sie gleichzeitig [unter den Abschreibern, C. S.] zirkulieren konnten. […] Quaestio 16 scheint erst hinzugefügt worden zu sein, als das exemplar schon im Verkehr war (einige der ältesten Handschriften haben diese Quaestio nicht); doch gehört sie seit der ersten bekannten Taxationsliste der exemplaria ohne Abstriche zu den 28 Petien hinzu. Vom Standpunkt der Kritik aus bildet sie ohne Zweifel mit dem Rest des Werkes eine Einheit ohne jeden Bruch«. Das mag aus überlieferungskritischer Sicht so hingehen. Doch auch inhaltlich bildet die Quaestio 16 über die Dämonen auf den ersten Blick keine wirklich bruchlose Einheit mit dem Rest des Werks. Dieser Traktat über die Dämonen wäre nach Thema und Umfang durchaus als eigene Schrift vorstellbar. Doch geben andererseits bereits im Verlauf der ersten 15 Quaestionen einige Vorgriffe auf die Dämonen-Problematik das Thema dieser 7 Zumindest für die qq. 1, 6 und 16 von De malo scheinen Hinweise dafür zu sprechen, daß man von Ergänzungen und konstellationsbedingten Überarbeitungen für die Zeit von Thomas’ zweiter Pariser Lehrtätigkeit auszugehen hat. 8 De malo, Editio Leonina, S. 69*f.

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letzten Quaestio vor (so q. 8 a. 3 ad 3, q. 15 a. 1 ad 9, u. a. m.). Umgekehrt spiegeln sich in den Problemlösungen dieser letzten Quaestio zahlreiche Vorgaben aus denen der vorangehenden, wie weiter unten noch anhand von ausgewählten Beispielen zu sehen sein wird. Schließlich finden sich die Dämonen auch in die Überlegungen der Sum. theol. organisch in diejenigen Zusammenhänge eingefügt, die für De malo qq. 8–15 die meisten Paralleltexte hergeben. Für die hier vorgelegte Übersetzung jedenfalls wird ohne Ansehung weitergehender Kongruenzprobleme von der Einheit des Textes ausgegangen und auch danach verfahren. Die innere Gliederung der qq. 8–16 ist recht einfach und übersichtlich9: Quaestio 8 behandelt in 4 Artikeln die Anzahl der Hauptlaster und welche überhaupt dafür gelten können sowie die paradigmatische Struktur des Hochmuts für die Interpretation der Todsünden. Die qq. 9–15 behandeln jede für sich eines der Hauptlaster aus der traditionellen Siebenerliste der Todsünden, nach der Thomas vorgeht. Dabei geht die Kadenz von den »schlimmeren« zu den »weniger schlimmen« Hauptlastern, angefangen von Hochmut / Eitelkeit bis zur Wollust. Die Binnenstruktur der Quaestionen ist dabei im Grundbestand fast immer dieselbe: Ein erster Artikel definiert, ob es sich bei dem zur Frage Stehenden überhaupt um eine Sünde handelt (mit der möglichen Variation oder Ergänzung, ob es sich wohl um eine eigenständige Sünde handelt und nicht nur um eine Unterform einer anderen); die nachfolgenden Artikel stellen die Frage danach, ob diese Sünde auch als Todsünde gelten kann und ob man es hier mit einem Hauptlaster zu tun hat. Je nachdem schließen sich auf dieser Grundlage Artikel zu Einzelproblemen an, also etwa zur Frage des Zinsnehmens im Anschluß an die Traktierung der Habgier als Hauptlaster. Quaestio 16 schließlich widmet sich den Dämonen als Bringern, Verursachern oder Erregern von Übeln.

9 Eine Übersicht über den Gesamtaufbau aller Quaestionen bietet im Nachwort der erste Band der Übersetzung von De malo mit den qq. 1–7.

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3. Die Hauptgedanken der qq. 8–15 Im Anschluß an die Quaestio 6 über die menschliche Willensfreiheit, die wahrscheinlich nicht nur »modernem« Empfinden nach in mehr als einer Hinsicht die Mitte oder »Achse« der Überlegungen des Thomas von Aquin in De malo zu sein scheint, handelt die Quaestio 7 über Definition und Eigenarten der sogenannten »läßlichen« Sünden. Nach deren Behandlung setzt mit Quaestio 8 also eine Reihe von acht Quaestionen ein, die dem Umfang nach das Gros der Schrift darstellen und die Hauptlaster bzw. Todsünden zum Gegenstand haben, bevor die abschließende Quaestio 16 von den Dämonen handelt. Den Grundgedanken und den philosophischen Voraussetzungen beider thematischen »Blöcke« qq. 8–15 und q. 16 soll im folgenden kurz nachgegangen werden.

Hauptlaster und Todsünden10 Die Liste der sieben Hauptlaster / Todsünden übernimmt Thomas aus den Moralschriften Gregors des Großen, ohne unbedingt auf die Siebenzahl, die er gleichwohl für plausibel erachtet, zu bestehen (De malo q. 8 a. 1). Die wohl auf Vorgaben bei Cassian zurückgehende Liste hatte im Verlauf der Zeit auch innere Wandlungen erfahren, insbesondere wurde »Traurigkeit / Kummer / Mutlosigkeit / Sichhängenlassen« (tristitia, so noch im 12. Jarhundert im einflußreichen Werk des Hugo von St. Viktor De quinque septenariis) durch die »Trägheit« (accedia) ersetzt,11 während »Habgier« und »Geiz« meist gleichberechtigt genannt werden. Thomas entscheidet sich dafür, Trägheit als eine Form von Traurigkeit zu definieren (q. 11 a. 1) und gemäß der aristotelischen Unterscheidung aus der Nikomachi10 Zum folgenden vgl. auch C. Schäfer, Die Hauptlasterlehre des Thomas von Aquin als philosophische Anthropologie, in: C. Flüeler / M. Rohde (Hg.), Laster im Mittelalter, Berlin / New York 2009, S. 139–166. 11 L. Elders, The Ethics of St. Thomas Aquinas. Happiness, Natural Law, and the Virtues, Frankfurt a. M. / Berlin u. a. 2005, S. 189, übersetzt tristita und accedia respektive als »a guilty trend to depression and spleen« und »an aversion from effort and spiritual work«.

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schen Ethik die Habgier (avaritia) als das Gegenteil von Gerechtigkeit (iustitia) in seiner Hauptlasterliste zu nennen, nicht den Geiz (illiberalitas), der als das Gegenteil von Freigiebigkeit (liberalitas, vgl. q. 13 a.1) als eine untergeordnete Abart der Habgier zu gelten hat. Eitelkeit (inanis gloria) und Hochmut (superbia) vermischen sich in den philosophischen Durchgängen der Quaestionen 8 und 9, oder vielmehr gehen sie ineinander über (vgl. zur Begründung q. 8 a. 1 ad 16). Für die Übersetzung von superbia wurde »Hochmut« statt »Stolz« gewählt, unter anderem deswegen, weil im Deutschen »stolz« und »Stolz« auch durchaus positiv besetzt sein können (wie in »stolze Mutter« oder ähnlichen Fällen, soweit sie nicht einen Mutterstolz wie den der Niobe meinen), bisweilen wird der Begriff aber auch als Hendiadyoin »Hochmut und Stolz« wiedergegeben. − Somit behandelt Thomas also die Hauptlaster bzw. Todsünden: Hochmut / Eitelkeit, Neid, Zorn, Trägheit, Habgier, Völlerei und Wollust.

Definierende Strukturmerkmale von Hauptlastern und Todsünden Thomas geht von folgender Grundüberlegung aus: Laster sind charakterliche Allgemeinausrichtungen oder innere Grundeinstellungen, die uns das Falsche tun lassen, aus denen also schlechte Einzelhandlungen hervorgehen. Ähnlich wie aristotelische Tugenden, die sich als solche Grundhaltungen definieren lassen, die uns richtig handeln machen,12 sind auch Laster ›antrainiert‹ und dem Menschen durch Gewöhnung und wiederholtes Tun in Fleisch und Blut übergegangen (Sum. theol. I–II, q. 51 a. 2). Wiederholte Einzelentscheidungen und deren Ausübung haben sich da also zu einer Konstanz verfestigt, so daß im Fall der Laster die aus Gewohnheit, Sinnesverhärtung und Bequemlichkeit gebildete Gefahr besteht, daß die Entscheidungen am Ende gar nicht mehr einzeln und qualifiziert getroffen werden, sondern nach einem habituellen Vollzugsver12 Bei Thomas: virtus est habitus quo quis bene operatur (Sum. theol. I–II, q. 56 a. 3).

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fahren. Der habituelle Vollzug charakterisiert den Einzelnen durch seine Handlungsart sichtbar als einen je solchen oder solchen: als einen Habgierigen, einen Neidischen, einen Geizhals, etc. Thomas bemerkt daher in q. 8 a. 1 ad 15: »Es muß festgehalten werden, daß niemand wegen einer Einzelhandlung oder einer einzelnen Leidenschaftsaufwallung Dieb oder Ehebrecher genannt wird, sondern wegen seiner grundsätzlichen Einstellung«. Thomas unterscheidet davon im Anschluß an Vorgaben der Nikomachischen Ethik (1129 a) die angeborenen, mitgegebenen Anlagen (griechisch dynameis), für die man nicht selbst verantwortlich zeichnet, und die mithin nicht zum Tadelnswerten oder Lobenswerten gehören, zum vituperabile et laudabile (vgl. De malo q. 10 a. 1 ad 1, q. 11 a. 1, q. 12 a. 2 ad 1, u. ö.): Solche Anlagen wie Körperkraft oder Linkshändigkeit sind als Anlagen also ethisch indifferent (vgl. Sum. theol. I–II, q. 24 a. 1 und a. 2). Sie werden erst dann ethisch wirksam, wenn man sie so oder so einsetzt: Körperkraft etwa, um Schwächere zu retten − oder um für ein Verbrechersyndikat als Daumenbrecher zu arbeiten. Anders verhält es sich mit dem, was Thomas in der Hauptlasterdiskussion als Grundhaltung oder Habitus (griechisch hexis) bezeichnet und für dessen Ausprägung man sehr wohl »etwas kann«: Dankbarkeit oder Gerechtigkeit also zum Beispiel. Diese nämlich ergeben sich aus oft ausgeübten, selbstgewählten Einzelhandlungen, die sich dann durch die lange Ausübung zu einer eingeübten Grundhaltung verfestigen.13 Thomas besteht mit Nachdruck darauf, daß eine solche Grundhaltung jedoch keineswegs einen zwingenden Automatismus darstellt, der den Menschen jeder moralischen Zurechenbarkeit für seine in Übereinstimmung damit getroffene Handlungen entblöße, »denn ein Habitus ist das, wodurch etwas nach Willenseinsatz vollführt wird, wie im 3. Buch von Über die Seele steht« (De malo q. 16 a. 11 ad 4, Hervor13 Als »lasting dispositions at the level of the mind« definiert Elders (wie Anm. 11, S. 135) die habitus. Thomas erklärt deshalb in De malo q. 8 a. 1 das Verhältnis von Laster und Sünde im Sinne eines »hermeneutischen Zirkels«, da zwar der habitus die Sünde bedingt, jedoch auch »die Grundhaltung (habitus), die zum Sündigen hinneigen läßt, durch eine vorhergehende Sünde bedingt ist«.

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hebung C. S.). Ein Habitus entsteht also nicht ohne vorangehenden Willenseinsatz und bleibt (daher vielleicht?) auch seiner ganzen Textur nach immer korrekturoffen für den Willenseinsatz. Zu diesen solcherart definierten Grundhaltungen also gehören nach Thomas von Aquin die Laster. Hauptlaster, vitia capitalia, sind dann, wie sich für Thomas aus der Etymologie von capitalis ergibt (De malo q. 8 a. 1; q. 9 a. 3, u. ö.), selbstverschuldete, das heißt mit Verstandeszustimmung und Willenseinsatz eingeübte, falsche Grundhaltungen, von denen her andere Laster oder auch schlimme moralische Einzelverfehlungen ihren Anfang nehmen. Das Kriterium für falsch und richtig ergibt sich für Thomas dabei aus der dem Verstand einsehbaren Übereinstimmung mit der grundsätzlichen Wesensbeschaffenheit (natura) des Menschen. So steht in Sum. theol. I–II, q. 71 a. 3: »Laster und Sünden entstehen bei den Menschen daraus, daß sie den Neigungen ihrer sinnlichen Naturanlage gegen die Anordnung der Vernunft (contra ordinem rationis) folgen«. – Wobei ordo rationis bei Thomas in beiderlei Sinn zu verstehen ist als »Anordnung [i. S. v. Befehl] der Vernunft« und als »vernünftige Ordnung«. Ähnlich spricht er in De malo q. 14 a. 1 aus demselben Grund von den »innerlichen Leidenschaften der Seele, die durch die Vernunftmaßgabe ihre Ordnung empfangen sollten«.14 Damit ist auch das Unterscheidungskriterium festgestellt, das Tugend und Laster aus ihrer inwendigen Begründung unterscheiden läßt: »Tugenden gehen aus der Maßgabe der Vernunft hervor, Laster hingegen aus Neigungen des sinnlichen Strebens«, bei denen die Vernunft nicht genügend interveniert (De malo q. 13 a. 3). Was man Todsünde nennt, ist dagegen eher die Ausübung, die Umsetzung einer inneren lasterhaften Grundhaltung in eine sie 14 Die Ordnung erkennt Thomas also in der Wesenskonstitution des Menschen als gleichermaßen leiblichem und geistigem Lebewesen, wie in De malo desöfteren erwähnt wird, so z. B. in q. 12 a. 1: »Weil nun der Mensch wesensgemäß aus Seele und Körper und seiner vernünftigen und sinnlichen Natur besteht, gehört es zum Gutsein des Menschen, daß er im Ganzen als solches der Tugend unterstellt bleibt, das heißt, sowohl in Hinsicht auf seinen Vernunftaspekt, als auch hinsichtlich des sinnlichen Aspekts, als auch hinsichtlich der körperlichen Beschaffenheit.«

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nachgerade emblematisierende Einzelhandlung, oder eher noch: in eine typische Handlungsart, die ihrer ganzen Erklärlogik nach auf das Hauptlaster zurückläuft.15 Wichtig für die Bestimmung als Todsünde ist demnach, daß das bedingende Hauptlaster ganz aus der in Frage kommenden Handlungsart spricht. So wird die absichtsvolle Tötung eines Menschen von Thomas erst dann als eine Todsünde betrachtet, wenn sie aus einer Grundhaltung heraus geschieht, die sich als Hauptlaster identifizieren läßt – also etwa aus Wollust, weil man den Ehemann der Frau beseitigen möchte, an der man ungestört seine Lust büßen will. Der Soldat im Krieg, der Henker und der aus Notwehr oder in plötzlicher Rage Tötende handeln dagegen nicht grundsätzlich aus lasterhafter Gesinnung und begehen keine Todsünde, und in eine ähnliche Richtung zeigt vielleicht das Problem des Tyrannenmords. Daher meint Thomas auch in De malo q. 9 a. 2: »Man soll sich nicht in der Meinung täuschen, daß alle sogenannten Hauptsünden allein dieser Zuweisung wegen auch Todsünden sind. Denn daraus würde folgen, daß jede aus Völlerei oder Zorn begangene Sünde eine Todsünde ist, was offensichtlich falsch ist. Und genausowenig ist es richtig zu sagen, jede Eitelkeit sei Todsünde, obgleich die Eitelkeit eines der Hauptlaster darstellt«. Obwohl also Zorn ein Hauptlaster darstellt, wenn er eine Lebenskonstante definiert, ist eine einzelne Handlung etwa aus »heiligem Zorn«, wo man aus Gerechtigkeitsempfinden oder für die Sache Gottes emotional wird und etwa Händler aus einem Gotteshaus hinauspeitscht, keine Todsünde − und, wie das Beispiel zeigt, manchmal noch nicht einmal überhaupt eine Sünde. Genauso »dürfte klar sein, daß nicht jede Form von Eitelkeit eine Todsünde ist. Denn niemand würde 15 De malo q. 8 a. 1: Hauptlaster werden so genannt, »weil von ihnen her die anderen Laster und Sünden ihren Anfang nehmen«. Zum Verhältnis von Laster und Sünde vgl. auch Elders (wie Anm. 11), S. 173: »Is a vice worse than an act proceeding from it? Virtuous and sinful acts are at a higher level of actuality than the habitus of which they are acts. For instance, it is better actually to do what is good than to be capable of doing it. Likewise people are not punished because of a vice they have, but because of their bad actions. On the other hand, a habitus is more permanent than an act, and from this point of view a habitus is a greater evil than a bad action«.

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doch behaupten, daß derjenige eine Todsünde begeht, der sich eitel seiner Sangeskunst rühmt im Glauben, er singe gut, obwohl er eigentlich ein schrecklicher Sänger ist, und genausowenig derjenige, der sich rühmt, im Besitz eines besonders guten Rennpferdes zu sein« (q. 9 a. 2). Was ausmacht, daß man der Todsünde wegen des Ewigen Lebens verlustig geht (weswegen sie auch Tod-Sünde heißt) ist der Umstand, daß die Sünde im Sinne der Entfremdung gegenüber Gott (daher Sünde und nicht Schuld16) in diesem Fall sozusagen den gesamten Lebensweg des Handelnden charakterisiert. Der Mensch wird dann durch seine fehlerhafte Grundeinstellung entscheidend geformt oder, »scholastischer gesprochen« im Sinne der Privationstheorie des bonum debitum: durch seine schlechte Grundeinstellung entscheidend verformt oder ›vitiiert‹. Warum aber kann es, gerade wenn man mit Thomas, De malo q. 1 a. 1, von einer normativen Ontologie des bonum debitum und der Sekundarität des Schlechten, Üblen oder Bösen gegenüber dem primären Guten ausgeht,17 dazu kommen, daß sich solch eine verderbliche Grundeinstellung beim Menschen einschleift, daß sie ihm zur schlechten sprichwörtlichen »zweiten Natur« gegenüber der ursprünglichen guten wird? Gemessen an den genannten Vorgaben ist das Gute als das der Naturanlage Entsprechende zwar nicht erklärungsbedürftig, das Schlechte hingegen sehr wohl. Die Beantwortung der Frage verweist auf die Lehre von den »Affekten«, vom 16 Thomas in De malo q. 16 a. 3 ad 10: »Sünde nennt man das Verlassen des Besseren in Anbetracht der Abkehr (von Gott), was die Auffassung von Sünde formal auch ganz erfüllt.« Vgl. dazu ergänzend z. B. Summa contra Gentiles III c. 122: non enim Deus a nobis offenditur nisi ex eo quod contra nostrum bonum agimus. Ähnlich auch Sum. theol. I–II, q. 71 a. 6. 17 Zur Tradition dieses Gedankens vgl. C. Schäfer, Unde Malum. Die Frage nach dem Woher des Bösen bei Plotin, Augustinus und Dionysius, Würzburg 2002, S. 49, 148, 221, 339 f., 346 f., u. ö. Bei Thomas findet sich der Gedanke u. a. ganz zu Anfang von De malo, wo er über den ontologischen Status des Bösen schreibt: »Woraus sich also als übriges ergibt, daß das Böse als solches nicht in irgendwelchen Dingen zu finden ist, sondern die Beraubung oder Verminderung einer besonderen Gutheit ist, die einem Einzelgut eigentlich wesenhaft zustehen müßte« (De malo q. 1 a. 1).

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appetitus und von den passiones animae.18 Zur einfacheren Darstellung soll im folgenden versucht werden, eine Formulierung des Problems in moderner Terminologie zu geben, soweit das für die Hauptlasterdiskussion bei Thomas dienlich ist.

Die Hauptlasterlehre als philosophische Anthropologie19 Die menschliche Natur teilt mit der vernunftlosen Animalität »Triebe«, »Instinkte«, »Impulse« oder grundsätzliche lebensbedingende »Leidenschaften«, die rational vollkommen zustimmungswürdig zur Existenzführung sind: Den Selbsterhaltungstrieb, den Sexual- und Überlebenstrieb, usw.20 Diese »Triebe«21 sind also sinnvoll, erscheinen der Verstandesprüfung auch so, und machen das irdische Menschsein zum guten Teil mit aus, da sie es in bestimm18 Thomas gebraucht affectus (oder affectio) und passio (animae) in diesem Sinne durchaus synonym: vgl. auch Schütz, Thomas-Lexikon (wie Anm. 4), sub voce affectus. 19 Zur Leidenschaftslehre des Thomas von Aquin vgl. auch E. Schockenhoff, Die Lehre von den passiones animae in der Anthropologie des Thomas von Aquin, in: C. Schäfer / M. Thurner (Hg.), Passiones animae. Die Leidenschaften der Seele in der mittelalterlichen Theologie und Philosophie, Berlin 2009, S. 151–170. 20 Womit Thomas v. a. die stoische Auffassung verworfen haben will, die passiones, d. h. die Leidenschaften, Affekte usw., seien als an und für sich negativ zu bewerten, sie seien »Krankheiten« oder »Defekte« des Seelenlebens: »weil die Stoiker zwischen Willen und sinnlichem Streben keine Unterscheidung trafen, trafen sie eine Unterscheidung eben derart, daß sie die Leidenschaften als das Maß wohlgeordneter Vernunft überschreitende Strebensbewegungen bezeichneten. Deshalb nannten sie sie gleichsam Krankheiten der Seele, wie die körperlichen Krankheiten die Grenzverletzungen gegen das gesunde Maß im Körper darstellen« (De malo q. 12 a. 1). Vgl. dazu auch Sum. theol. I–II, q. 24 a. 2. 21 Um diesem Wort hier einmal den Vorzug zu geben, da es eine vorgefundene und nicht selbstentworfene oder zustimmungsbedürftige Passivität gegenüber dem sich damit ausdrückenden Anspruch der Allgemeinnatur anzeigt.

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ten Hinsichten leiten und ermöglichen. An diesen Trieben ist per se nichts schlecht. Das Verfängliche an den Hauptlastern in der Interpretation des Thomas von Aquin ist nun aber, daß jedes von ihnen, und jedes in anderer Weise, einen dieser förderlichen und notwendigen Triebe oder Impulse aufgreift und das gesamte Trachten des Menschen danach ausrichtet. Daß hiermit das »gesamte Trachten« seine Ausrichtung erfährt, spezifiziert nun aber genau den Fehler, das vitium, der daraus resultierenden Lebenseinstellung. Denn das Verderbliche an den Hauptlastern ist genau das: Sie verabsolutieren das Antriebsgute, auf das sie sich kaprizieren, sie übertreiben es und setzen es über alles andere und jeden anderen – Eitelkeit und Neid die Selbstbehauptung gegenüber anderen, Habgier den Selbsterhaltungstrieb gegenüber anderen, Wollust den Sexualtrieb und Völlerei den Ernährungstrieb gegenüber allem anderen. Aus natürlichen Antrieben und guten (i. S. v. gut brauchbaren oder einsetzbaren) Mitteln zur Lebensführung werden in den Hauptlastern selbstgewählte abschließende Lebensziele. Was als Antriebsgutes im Sinne des »gut zu« seine auf bestimmte Bereiche und Lebensnotwendigkeiten zugeschnittene Zustimmungswürdigkeit hatte und unter vernünftiger Prüfung auch weiterhin behält, wird in der falsch gewählten Lebensanlage des Lasterhaften vom Mittel zum Ziel. Dieser Mittel/Ziel-Fehlschluß vom Guten, das zu etwas dienen soll, und dem Guten, dem alles dient, entspricht der Anfälligkeit des Menschen als (in Herders berühmten Worten) »erstem Freigelassenen der Natur« gegenüber seinen natürlichen, aber eben für ihn in rationaler Eigenregie bestimmbaren Vorgaben. Die natürlich diktierende Ordnung, in der sich etwa das Tier gegenüber diesen Trieben oder Instinktmaßgaben befindet, wird durch den Ausfall oder (besser gesagt:) die Überwindung dieser Diktatstruktur beim Menschen in den die Lasterlehre belangenden Hinsichten also positiv »gestört« (obwohl man vielleicht richtiger sagen sollte, daß hier beim Menschen dadurch viel höheres Potential bedeutsam aufgestört wird). Thomas spricht dann, wenn diese Störung ins Fehlerhafte führt, vom inordinatus appetitus, zu dem die Hauptlaster den natürlich guten Antrieb übertreiben und dann in dieser falschen Form kultivieren. Es ist ein wiederkehrendes Motiv bei Thomas, daß das Böse in einem Zuviel des Guten (d. h. des Einzelguten) liegen kann. Er

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übernimmt es von Augustinus.22 Der Fehler der Hauptlaster liegt also weniger in dem, wonach sie sich ausrichten, was ja unbestreitbar ein Gut ist, sondern eher darin, wie das geschieht, also in exklusiver Übertreibung dieser Ausrichtung. Thomas sagt dementsprechend auch in De malo q. 16 a. 3 ad 1, wo er über den Fall des Teufels handelt: »Somit ergibt sich, daß sich der Teufel in seinem Trachten nach Gottgleichheit Gott zwar insofern zugewendet hat, als er ihn zum Ausrichtungspunkt seines Trachtens machte, was ja auch für sich genommen gut ist, daß er sich aber von Gott abwandte, insofern er sich dabei von der göttlichen Maßgabeordnung lossagte, also in der Art und Weise seines Trachtens.« Die Attraktivität und gleichzeitig die Gefährlichkeit der Hauptlaster besteht also darin, daß jeder Mensch in sich einen Trieb (eigentlich: mehrere Triebe) hat, der sich als Grundlage für ein Hauptlaster anbieten kann.23 Hauptlaster bieten daher auf den ersten Blick ziemlich plausible Lebenseinstellungen an, da sie sich auf natürlichen Grundlagen entwickeln und natürlich nachvollziehbar sind. Thomas erklärt das in De malo q. 8 a. 1 folgendermaßen: »Nun ist das Gut für den Menschen ein dreifaches: nämlich das der Seele, das des Leibes und das der äußeren Güter. Demnach streben Hochmut und Eitelkeit nach dem der Seele, welches ein vorgestelltes ist, nämlich Ehre und Ruhm. Am leiblichen Gutergehen, welches in Form 22 Zum Beleg dieses Gedankens bei Thomas vgl. De malo q. 15 a. 1: »So ist das Essen dann unmäßig, wenn es nicht der körperlichen Gesundheit angemessen ist, der sie als ihrem Ziel ja verpflichtet ist. Ziel des Gebrauchs der Geschlechtsorgane ist die Zeugung und Aufzucht von Nachkommenschaft, und daher ist jeder Gebrauch dieser Organe, der nicht auf die Zeugung von Nachkommen ausgerichtet und ihrer Aufzucht verpflichtet ist, in sich selbst schon ungehörig. Jedweder Akt jedoch der besagten Körperteile jenseits des Verkehrs von Mann und Frau ist offenkundig nicht auf die Zeugung von Nachkommen ausgerichtet«. Ähnlich q. 15 a. 2 ad 12, u. ö. 23 Richtig schreibt daher B. Bujo, Die Begründung des Sittlichen. Zur Frage des Eudämonismus bei Thomas von Aquin, Paderborn / München u. a. 1984, S. 90, daß in der Darstellung bei Thomas »jeder sittlich handelnde Mensch ein Ziel hat: er will ein bonum, das ihn entfaltet und zufrieden stellt. Daran ändert sich nichts, auch wenn der Mensch das malum mit dem bonum verwechselt; denn im Grunde strebt er das malum unter dem Aspekt des bonum an«.

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von Lebensmitteln der Selbsterhaltung des Einzelnen dient, richtet sich hingegen die Genußsucht aus, während sich am leiblichen Gutergehen, welches wie beim Liebesgenuß der Erhaltung der Art dient, die Wollust ausrichtet. Zum Bereich der äußeren Güter schließlich gehört dann die Habgier«. Man ersieht daraus, daß etwa die Vorstellung, sein Leben zur Sicherung desselben ganz daran zu setzen, Besitz anzuhäufen und nichts herzugeben, in gewisser Weise einem drängenden elementaren Impuls aus unserem natürlichen Programm entspricht. Im einseitig vergröberten Verständnis von »Natur« als biologischem Phänomen ergeben sich dann auch gleich die mehr oder weniger »darwinistischen« weiterführenden Assoziationen, und das scheint für das Zeitalter von De malo nicht weniger zu gelten als für die dieses Nachworts: Wer viel besitzt, beweist dadurch auch Durchsetzungsvermögen, damit phänotypisch Gesundheit und genotypisch Intaktheit, Potenz, Aggressivität, und somit feindabschreckende Selbstbehauptung sowie arterhaltende Attraktivität fürs andere Geschlecht: »Erfolg macht sexy«, lautet für gewöhnlich die verkürzende Bestandsaufnahme dieser Art, die Dinge zu betrachten. Man kann daraus jedenfalls leicht ersehen, was es mit der Gefährlichkeit von Hauptlastern bei Thomas auf sich hat: Natürliche Grundimpulse verschränken sich hier verführerisch schnell einander erklärend und bedingend auf der Ebene der Stilisierung des Antriebsguten zum Strebensguten. Im Sinne von De malo ausgedrückt: Hauptlaster erklären sich dadurch, daß aus einem alle anderen hervorgehen können und umgekehrt (De malo q. 8 a. 1, u. ö.). Diese eingängige und im Grunde plausible Attraktivität der Hauptlaster macht aber auch ihre Gefährlichkeit aus: Man muß das Antriebsgute ja vernünftigerweise gutheißen. Auch aus schöpfungstheologischer Warte (so sie denn von Thomas einmal eingenommen wird), denn man muß natürliche Kräfte gutheißen, »weil schlicht gesagt alle diese natürlichen Verhaltensarten von Gott als dem Schöpfer der Natur kommen« (De malo q. 16 a. 6 ad 18). Bei der grundsätzlichsten aller ethischen Herausforderungen jedoch, nämlich zu klären, was in welcher Weise gut ist, versagt nun der, der sein Leben nach einem Hauptlaster ausrichtet, oder vielmehr: der, der mit sich innerlich abmacht, sein Leben nach einem Hauptlaster laufen zu lassen. Das Gutheißen des Antriebsguten hat also Gren-

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zen, die in der rational zu klärenden und für sich selbst dann auch anzunehmenden Auffassung von »gut« liegen. Man geht nie weiter, als wenn man nicht weiß, wo die Grenze ist, oder, im Fall der Hauptlaster: wo die Grenze war. (Man wird kaum fehlgehen, wenn man in den entsprechenden Ausführungen von De malo der Sache nach die Kritik des Aquinaten an dem erkennt, was man seit G. E. Moore einen »naturalistischen Fehlschluß« zu nennen gewohnt ist: Eine ethische Fehleranalyse also aus der Überlegung, daß das moralisch Gute sich durch keinen anderen Begriff substituieren läßt, und daher Versuche, dieses Gute gleichwertig durch das »Durchsetzungsfähigere«, »Arterhaltende«, »Funktionalere«, etc. zu ersetzen, das Proprium des Guten verkennen und somit scheitern müssen. Die augenscheinliche Plausibilität, die in der anthropologischen Analyse des Thomas der Zustimmung des Lasterhaften zur Stilisierung eines natürlichen Einzeltriebs zum ein und alles der Handlungsausrichtung zugrundeliegt, ist also gewissermaßen dieselbe, die auf der Interpretationsebene der Attraktivität des »naturalistischen Fehlschlusses« unterliegt: Der Begriff des moralisch Guten soll hier ersetzt werden, und zwar funktional − als das einzig Gute für die Handlungsausrichtung wird in beiden Fällen das alles subsumierende »gut zu« angesehen, das dem Strebensobjekt eines Einzeltriebs entspricht.24) Hauptlaster sind also auf die attraktive Vorspiegelung zurückzuführen, daß durch ein ihnen entsprechendes Verhalten eine plausible Lebenseinstellung zustandekommt. Thomas von Aquin macht 24 Was Thomas von Aquin selbst vor einem »naturalistischen Fehlschluß« bewahrt (der ihm mitunter zum Vorwurf gemacht wurde), ist sein Naturbegriff, der ihm eine »normative Ontologie« ermöglicht, ohne in die naturalistische Falle zu führen. Vgl. dazu die Bemerkungen bei F. J. Bormann, Natur als Horizont sittlicher Praxis. Zur handlungstheoretischen Interpretation der Lehre vom natürlichen Sittengesetz bei Thomas von Aquin, Stuttgart / Berlin / Köln 1999, S. 282–285, sowie (zur ganz ähnlichen Fragestellung bei Aristoteles) O. Höffe, Den Staat braucht selbst ein Volk von Teufeln. Philosophische Versuche zur Rechts- und Staatsethik, Stuttgart 1988, S. 34. Speziell zur thomasischen Unterscheidung von moralischem Übel und anderen Auftretensweisen von Übel sh. Elders (wie Anm. 11), S. 172.

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in diesem Zusammenhang die Feststellung, daß mit Recht Wollust, Neid und Trägheit als Hauptlaster oder Todsünden zu gelten haben, wenn sie sich als Lebenskonstanten für das Handeln erweisen, der für den Mitmenschen jedoch schädlichere und bösartigere Haß dagegen nicht (De malo q. 12 a. 4; q. 10 a. 2 ad 1; u. ö.). Dem Haß nämlich entspreche kein positiver natürlicher Instinkt, so stellt Thomas fest, kein Antriebsgutes der wesensgemäßen Anlagen im Menschen (Formen von positiver Aggressivität werden bei Thomas schon von der ira abgedeckt). Im Gegensatz zu den Hauptlastern läßt sich Haß leicht und für jedermann unschwer einsehbar als böse identifizieren. Die unsägliche Verführungskunst zum Bösen, welche die Hauptlaster an ihrer Wurzel im Unterschied zum offenkundig üblen Haß aufweisen, gleicht eher der von Halbwahrheiten gegenüber offensichtlichen Lügen: Wie die Halbwahrheit stets unter dem Segel des Wahren, unter dem sie das Falsche transportiert, einherfährt und vorankommt, so transportieren die Hauptlaster unter dem Emblem – oder dem Deckmantel – des Antriebsguten das Falsche für die Lebensausrichtung. Thomas wird daher nicht müde, das scholastische Adagium zu zitieren, das Böse ziehe seine Kraft allein aus dem Guten; ohne die dienliche Macht des Guten sei das Böse ohne jede Kraft.25 Hauptlaster erzählen dem handelnden Menschen in der Suche nach der Lebensausrichtung also nur die halbe Wahrheit: Denn das Antriebsgute, dem sie sich in falscher Übertreibung verschreiben, ist keineswegs ein letztes Ziel. Vielmehr sollte es doch einem Ziel dienen. Die Güter und Ziele, welche die natürlichen Triebe des Menschen verfolgen, haben es durchaus in sich, haben sie es doch auch an sich, daß zum Glück des Menschen diese »Güter benötigt werden, zwar nicht dem Wesen des Glücks selber nach, aber doch, indem sie gewissermaßen Hilfestellungen für das Glücklichsein bieten« (Sum. theol. I–II, q. 4 a. 7). Doch sind sie eben ihrem ganzen Charak25 »Wie Dionysius in Kapitel 4 von Über die Namen Gottes sagt, ist das Böse allein aus der Kraft des Guten heraus handlungsfähig, und daher haben die Hauptlaster ihren Prinzipienstatus für Sünden nicht vom Bösen her begründet, sondern vielmehr aus dem Guten, und zwar, weil ihre Zielsetzungen wünschenswert erscheinen und zum Handeln in gewisser Hinsicht anregen. Woraus sich ersehen läßt, daß man die Hauptlaster nicht als zuhöchst und rein böse einschätzen darf« (De malo q. 12 a. 1 ad 10).

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ter und ihrer »Bauart« nach Hilfen, Werkzeuge oder Zwischenetappen zu etwas anderem, um das es eigentlich geht, nämlich zum Gelingen des Lebensvollzugs, das sie selbst nicht in sich einschließen. Diese Impulse oder Instinkte im Kurzschluß wie letzte Ziele seines Lebens anzusehen, heißt demnach, einen folgenschweren existentiellen Fehler zu begehen. Aus einem wesensgemäß angelegten Mittel zur Existenzführung wird in seiner Nichtanerkennung als Mittel ein selbstgewähltes Lebensziel. In Nichtanerkennung wohlgemerkt, und nicht bloß in Verkennung, wie Thomas zu verschiedenen Gelegenheiten, und dann insbesondere noch einmal in De malo q. 16 a. 5 und a. 6 nachweist, wo er den Fall des Teufels als Paradigma für diesen Vorgang interpretiert. Das Antriebsgute im Sinne des »gut zu« hat und behält also bei Thomas von Aquin seine Zustimmungswürdigkeit. Es wird aber, so diagnostiziert Thomas, in der perfiden Hauptlasterlogik vom Zwischenziel zum Letztziel der charakteridentifizierenden Handlungsausrichtung und zum mächtigen Finalantrieb hinter der Todsünde. Indem der Mensch hier etwas seiner ganzen ethischen Textur nach bloß Vorläufiges oder Partikuläres zum alles abdeckenden Lebensziel erklärt, schließt er sich vom wirklichen Lebensziel ab, worin nach Thomas die schlimmste Variante der Existenzverfehlung zu verstehen ist.26 In letzter, nahezu abartiger Konsequenz gleicht dann etwa der Habgierige also einem Menschen, der tatsächlich imstande wäre, den Drohruf »Geld oder Leben!« groteskerweise wie eine echte Alternative aufzufassen und sich mit der Waffe an der Schläfe erst einmal Bedenkzeit auszubitten.27 Es geht hier, das soll dieses Beispiel zeigen, um eine fast schon wahnwitzige Mißachtung und Verwechslung jeder vernünftigen Ordnung, weshalb der hauptsächlich 26 Bujo (wie Anm. 23), S. 77, erklärt in seiner Interpretation von Sum. theol. I–II, q. 2 a. 8, I q. 12 a. 1 und ScG IV c. 54: »Wenn nämlich […] die beatitudo im eigentlichen Sinn bonum perfectum sein soll, das voll befriedigt – sonst wäre es ja kein finis ultimus –, dann kommt nur ein bonum universale in Frage, das aber bei keinem Geschöpf zu finden, sondern einzig Gott eigentümlich ist«. 27 Das Beispiel übernehme ich dankbar aus dem Beitrag »Ethics« von W. E. Mann in: J. E. Brower (Hg.): Cambridge Companion to Abaelard, Cambridge 2004, S. 279–304, hier S. 284.

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von Augustinus übernommene ordo-Gedanke bei Thomas an dieser Stelle stark in den Vordergrund gerückt wird (vgl. De malo q. 14 a. 1, a. 2, a. 4; q. 15 a. 1; u. ö.). Die gesunde Vernunftmaßgabe des »Erkenne dich selbst!« ist dann bei Thomas wie bei Augustinus auch das Heilmittel: Die Vernunft ist befähigt, das dem Menschen Wesensgemäße zu erkennen und willentlicher Umsetzung zuzuführen. Die Erkenntnis der eigenen Wesensverfassung und der eigenen inneren Ordnung seines Wesens ist es, die es dem Menschen ermöglicht, den inordinatus appetitus als solchen zu identifizieren, sich aus seiner einseitigen Verstocktheit zu befreien und das Streben in allem wieder in Ordnung zu bringen.28 Das Ganze bringt Thomas in De malo q. 14 a. 2 ad 8 folgendermaßen auf den Punkt: »Das Wesen des Menschen liegt in der Vernunft, weshalb alles, was vernunftwidrig ist, auch der Natur des Menschen widerspricht. Von Begierden weggetragen zu werden ist daher dem Menschen wesensungemäß, insofern es aus der Maßgabe der Vernunft ausschert, sei es, weil es die (Hin)Ordnung zum Ziel des Menschseins aufhebt, was schlechthin vernunftwidrig ist, sei es, weil dadurch die Ordnung der Mittel zum Ziel aufgehoben wird, was immer nur je nachdem vernunftwidrig ist, oder eher vernunftverfehlend«. Am Ende der Ordnung menschlichen Handelns von Zwischenziel zu Zwischenziel, von handlungsbegründender Glückserfüllung und sich damit ergebender neuer Handlungsbegründung, muß dann (darin gleicht die Überlegungsstruktur im Formalen den thomasischen quinque viae) ein nicht mehr nur weiterverweisendes Ziel stehen, das Letztgültigkeit und allumfassende Begründungspriorität beanspruchen kann und alles Handeln in Ordnung bringt, anders 28 Aus einer ähnlichen Überlegung heraus sagt R. Spaemann, Glück und Wohlwollen. Versuch über Ethik, Stuttgart 1989, S. 73: »Nun ist die Möglichkeit dieser Abstraktion für den Menschen wesentlich. Es ist konstitutiv für menschliche Freiheit, jeden bestimmten endlichen Gehalt reflektierend distanzieren und auf ein Ganzes des ›Guten‹ beziehen zu können. [… Unfrei dagegen ist] derjenige, der sich in einem bestimmten Strebensinhalt so verliert, daß dieser für ihn unbedingt wird. Unbedingt wird dieser Inhalt, wenn er prinzipiell jeder Abwägung entzogen wird und der Handelnde für ihn jeden Preis zu zahlen bereit ist«.

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gesagt: alle Handlungsziele von einem Letztziel her kommensurabel macht. Nach Thomas kann diese antinomische Struktur des Glücks ihre begründende Auflösung nur in einer ewigen Glückseligkeit finden. Die Verwechslungsstruktur an der Wurzel der Hauptlaster ist denn dann auch die Vertauschung von irdischem Glücksanliegen mit dessen letztbegründendem Ziel. Dabei kommt es bei Thomas in den Einzelanalysen der Todsündenproblematik auch zu so erstaunlichen Aussagen wie daß Zorn in vielen Fällen ein (moralisch einwandfreies) emotionales Aufbrausen für die gerechte Sache darstellt, die zu rächen jedoch (und darin liegt bei Mißachtung die Schuldhaftigkeit) keiner Einzelentscheidung zusteht (sondern der »zuständigen Instanz« oder auch Gott allein: q. 12 a. 1, a. 3, u. ö.), und daß Sex als »die größte unter den körperlichen Vergnügungsempfindungen« wohl mitunter so verstandabschaltend schön sein kann, daß man durchaus Gefahr läuft, darüber das Himmelreich zu vergessen (De malo q. 13 a. 4). – Erst so, in Unordnung oder Negation dessen, was die begründende Vernunft im Hinblick auf ein Letztes als sinnvolle Kommensurabilität vorschlagen würde, erweisen sich dann Zorn und Wollust als Hauptlaster, und die daraus hervorgehenden Handlungen als Todsünden.

Wille und Zustimmung Hauptlaster und Todsünden fallen deswegen in den Bereich des Lobenswerten und Tadelnswerten, weil der Mensch es selbst in der Hand hat, sich zu den Affekten und Leidenschaften, die sein Leben zum guten Teil bestimmen und ausmachen, gebietend zu verhalten. Die Begründung für diesen zur ethischen Beurteilung der Hauptlasterproblematik ausschlaggebenden Umstand gibt Thomas im Rückgriff auf die Vorüberlegungen der Quaestio 6 nochmals in der Diskussion über die Dämonen in Quaestio 16 an: »Vernunft und Wille werden von etwas äußerlichem, was im Körper oder den Sinneskräften Leidenschaften hervorruft, durchaus zum Tätigsein angestachelt, doch verbleibt es in der Macht der Vernunft und des Willens, ob dann gemäß solcher Leidenschaftsbewegungen gehandelt wird oder nicht« (De malo q. 16 a. 7 ad 17).

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Daß der Mensch frei ist, zeigt sich darin, daß er diese natürlichen Ansprüche richtig einordnen und zuordnen kann, daß es ihm möglich ist, im Hinblick auf die Erkenntnis des Guten alles partikular Gute in Kommensurabilität zu bringen. Der Mensch ist durch das sekundäre Verhalten gegenüber seinen natürlichen unmittelbaren Affekten und die Ordnungserkenntnis selbstbestimmt, er ist in der Lage, auf seinen Lebenswandel evaluierend zurückzugreifen, sein eingefleischtes Verhalten anzunehmen oder zu verwerfen. Das bringt es mit sich, daß der Mensch in der gebrochenen Betrachtung des Unmittelbaren auch in der Lage ist, anzunehmen oder zu verwerfen, ob er ein solcher oder ein solcher Mensch sein möchte: ein Hochmütiger, ein Gerechter, ein Wollüstiger. Er kann also, und wenn nur in Abstraktion darauf, wie er gerne wollte, daß er wäre, selbst entscheiden, worum es ihm im Leben eigentlich geht. »Das Leben besteht nicht darin, daß du tun kannst, was du willst, sondern darin, daß du immer das willst, was du tust«, lautet ein Zitat von Tolstoi, das den hier gemeinten Sachverhalt in einem schlichten Appell auf den Punkt bringt. All dies erinnert aus heutiger Warte möglicherweise an die Grundgedanken von Harry G. Frankfurts Freiheitsbegriff und seiner Theorie der Willensregungen »erster Ordnung« und Willensausdrücken »zweiter Ordnung«. Und das mag der Sache nach nicht so falsch sein. Insbesondere, wenn man die Rolle des in Frankfurts späteren Schriften als »Liebe« spezifizierten »caring«, das heißt des subsumierenden innerweltlichen Ausrichtungspunkts des menschlichen Lebensentwurfs, bedenkt, der sich dem thomasischen Liebesbegriff, wie er in ähnlichen Überlegungszusammenhängen in De malo auftritt (so u. a. q. 11 a. 1 ad 1, a. 2, a. 3 über die Todsünde als Existenzverfehlung, die am Fehlen von Liebe als Kriterium gemessen werden kann), in verschiedener Weise vergleichen läßt. Die historische oder »autoritative« Quelle für diese Theorie des hierarchischen Willens zur Lebensausrichtung im Hintergrund der Todsündendiskussion von De malo ist Johannes Damascenus, auf den im Text von Thomas auch immer wieder zurückgegriffen wird. Entscheidend für die Annahme einer Willenshierarchisierung ist die Unterscheidung von boulêsis und thelêsis, die Johannes Damascenus in De fide orthodoxa trifft, und die mit Frankfurts Unterschei-

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dung von den Wollensbewegungen unmittelbarer und übergreifender Ordnung in vielerlei Hinsicht gleichzuziehen scheint (obwohl Johannes Damascenus eher die Vermögen des Willens im Auge hat als die Willensäußerungen). Die boulêsis beschreibt einen bestimmten einzelnen und unmittelbaren Wollensakt vernünftiger Lebewesen (PG 94, 944 C). Mit thelêsis beschreibt Johannes Damascenus in Abgrenzung davon einen übergeordneten Willen, der die Einzelakte der boulêsis koordiniert und miteinander in Kommensurabilität treten läßt. Die thelêsis ist es auch, was jedes vernünftige Wesen danach streben macht und anleitet, sein wesensgemäßes Sein voll und ganz zu erfüllen (944 B). Sie ist in der Begriffsbestimmung des Damaszenen »ein wesensgemäßes, lebendiges und vernünftiges Streben« nach dem, was das eigentliche Wesen des Strebenden definiert und auszeichnet (944 B). Getragen wird diese Vorstellung, wie deutlich spürbar ist, u. a. vom aristotelischen Entelechie-Gedanken im Hintergrund und der Überzeugung, daß es der Wille ist, der beim Menschen diese Entelechie selbstverwaltend einlöst. Sowohl die boulêsis, als auch die thelêsis werden von Johannes Damascenus als Vernunftstreben angesehen; daher sind von den nichtrationalen Seelenvermögen nur die grundlegendst vitalen der Belebung (wie Atemreflex und Stoffwechsel) nicht oder nicht gänzlich der Vernunft unterworfen, während jedes andere nichtrationale Vermögen (also insbesondere diejenigen Vermögen, die für die Todsündenproblematik von Belang sind, da ihre Verwendung in den Bereich des Tadelnswerten und Lobenswerten im Handeln hineinreicht) der Vernunftanordnung der thelêsis gehorchen kann (928 C). Der Mensch ist deswegen sein eigener Herr, weil er sich gegenüber den an ihn herantretenden Impulsen kraft Wille und Vernunftanordnung in Abstraktion vom Unmittelbaren zustimmend und ablehnend verhalten kann, was die Wertung in Tadel und Lob erst ermöglicht. Genau diese Differenzierung in der Willensstruktur erlaubt es Johannes Damascenus auch, die vernünftige Selbstbestimmtheit des Menschen gegenüber den Leidenschafts- oder Lustanwandlungen geltend zu machen. Thomas greift diesen Gedanken, dessen aristotelisches Fundament er zustimmend erkennt, auf, und macht ihn zur Grundlage seiner eigenen Theorie des menschlichen Wahlverhaltens und sei-

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ner Lehre vom Handeln. »Das ist aber nur deshalb möglich, weil sich die Tendenz unseres naturhaften Wollens nicht bruchlos auf der Ebene unseres absichtsvollen, vernunftgeleiteten Handelns fortsetzt, sondern das Unterscheidungsvermögen der Vernunft und eine bewusste Wahl dazwischentreten«.29

Das »Deklinationsmodell« der Todsünden Am Anfang der Todsündeninterpretation von De malo steht eine Deutung des Hochmuts (superbia) als dem »Deklinationsmodell«, dem Paradigma der Hauptlasterstrukur (De malo q. 8 a. 2–4). Diese Struktur hatte Thomas darin aufgezeigt, daß eine Ausrichtung auf das alles partikulär (und insbesondere instrumentell) Gute subsumierende und integrierende übergeordnete Gute, nach dem alles Handeln strebt, abgeschnitten und zugunsten der partikularen Auftretensformen von Gutem verunmöglicht wird. Demgemäß heißt es in q. 16 a. 2: »So ist die begehrliche Neigung, das heißt diejenige hin zum sinnenhaft Erfreulichen, im Einzelnen etwas Gutes, doch wo sie unmäßig wird, stellt sie sich gegen das vernunftgemäß Gute, das schlicht Gutes ist.« Die superbia nun gibt denjenigen Fall dieser Verunmöglichung an, in welchem die Ausrichtung auf ein letztes Gutes dadurch verhindert wird, daß der Handelnde das zustimmungswürdige Gute, als das er nur noch sich selbst erkennt, als absolut setzt, und zwar im eigentlichen Sinne des Wortes absolut: als unbezüglich und losgelöst, auf nichts weiteres mehr verwiesen als sich selbst. Im Text von De malo wird dieser Gedanke wiederholt zur Grundlage der Argumentführung, so etwa in q. 9 a. 1 ad 4 im Zusammenhang mit der Eitelkeit, die strukturell am stärksten dem Hochmut gleicht: »Gottes Güte zu erkennen ist der Endzweck für alle vernunftbegabten Geschöpfe, denn darin besteht deren Glücklichsein. Deswegen verweist 29 E. Schockenhoff, Glück und Leidenschaft. Das Gefüge menschlicher Antriebe in der Tugendethik des Thomas von Aquin, in: M. Thurner (Hg.): Die Einheit der Person. Beiträge zur Anthropologie des Mittelalters (Festschrift für Richard Heinzmann), Stuttgart 1998, S. 99–124, hier S. 103.

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die Herrlichkeit Gottes nicht mehr weiter auf anderes, sondern es ist vielmehr Gott selbst eigentümlich, daß sie um ihrer selbst willen gesucht wird. Hingegen macht es kein vernünftiges Wesen glückselig, das Gute in einem anderen Geschöpf zu erkennen, weshalb keine geschöpfliche Herrlichkeit um ihrer selbst willen angestrebt werden kann, sondern immer nur um etwas anderes willen«. Der Hochmütige zeigt also an sich selbst eine Grundkonstante der Hauptlaster generell auf: daß sie nämlich das kontingent oder partikulär Gute, das sie proklamieren und verfolgen, als unbezüglich auf ein übergeordnetes Gutes hingestellt haben wollen, das heißt, verabsolutieren. Im Falle der superbia wird deutlich, wie der Handelnde sich selbst allein das Zielgute ist und damit all sein Handeln allein auf sich selbst als Bedingungs- und Zielgrund gleichermaßen zulaufen läßt. Sein Handeln stellt in Zweck und Ziel, in Ausgangssubjekt und Zielobjekt, ein in sich abgeschlossenes (daher unbezügliches) System dar, in dem nicht nur (wie eigentlich richtig) das Handlungsziel das Handlungsmittel bestimmt, sondern durch das Ineinanderfallen von Handlungsziel und Handlungsmittel in einer Person eben auch das Mittel das Ziel. Es ist die klassische curvatio in seipsum.30 Thomas faßt in De malo q. 9 a. 1 bündig zusammen: »Ein Hauptlaster wird deswegen als solches bezeichnet, weil es einen übergeordneten Zweck bietet, an dem sich andere viele Laster beschaffenheitsgemäß ausrichten, und auf diese Weise entstehen aus solch einem Laster viele andere, weil es dafür als Ursprung die Zielursache hergibt […]. Ziel des gesamten menschlichen Lebens ist nun die Glückseligkeit, nach der alle streben. Daher hat im Bereich der Zielsetzungen alles eine gewisse übergeordnete Stellung, was in den menschlichen Angelegenheiten wirklich oder nur augenscheinlich (apparenter) eine Teilhabe an irgendeiner Form von Glückseligkeit verspricht«.31 Aus 30 Zu diesem Gedanken der curvatio bei Augustinus vgl. u. a. Conf. II 6,13, De civ. Dei XII 6, De civ. Dei XIV 13, u. ö. 31 E. Schockenhoff (wie Anm. 29), S. 105, interpretiert eine ähnliche Stelle aus der Sum. theol. (II–II q. 2 a. 3) wie folgt: »Der Unterschied zwischen den rein instrumentellen Zielen und den in sich sinnvollen, selbstzweckhaften Zielen des Menschen zeigt sich darin, wie der Wille in ihnen zur Ruhe kommt. […] Reichtum, Besitz und Macht bringen das natürliche Verlangen unseres Willens nicht zur Erfüllung; jedes äußere Gut, das

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dem folgenden Artikel, De malo q. 9 a. 2 ad 5, ist dann zu ersehen, daß das als Hauptlaster bezeichnet wird, woraus andere Sünden entstehen, und zwar nicht nur Todsünden, sondern auch läßliche. Daher beansprucht Thomas weiter, daß jedwede schlechte Handlungsart, die in dieser Weise als hauptursächlich verantwortlich für andere todsündenhafte Handlungen oder Handlungsarten ist, selbst als eine Todsünde bezeichnet werden kann. Das gelte jedoch allein für den Fall, daß die eine bedingende Handlungsart oder -absicht der anderen als Ziel dient. Es sei doch nämlich, so Thomas an selber Stelle, »offensichtlich, daß jeder, der so sehr im Bann einer Sünde steht, daß er bereit wäre, um ihrer Erfüllung willen eine Todsünde zu begehen, auch in ihrer Erfüllung eine Todsünde begeht«. Zu bedenken ist also gleichermaßen der positive wie der negative Ansatz der Todsündenproblematik bei Thomas von Aquin. Denn es ist ja nun nicht so, daß die thomasische Ethik allein, im Sinne von ausschließlich, die beatitudo eifersüchtig als einzige Erfüllung des Menschseins gelten ließe, geschweige denn in der Auffassung einer strikt jenseitigen Glückseligkeit.32 Jedenfalls ist es zumindest nicht wahr, daß Thomas damit alle weltlichen Güter, Handlungen und Zustände nur im Hinblick darauf und nicht auch auf sich selbst gelten ließe.33 Tatsächlich gibt es auch für Thomas sinnvollerweise irdische Dinge, die man nicht gebraucht, sondern genießt, die nicht zum uti, sondern zum frui gehören, Dinge, die nicht dem Ziel dienen, sondern als Ziele und Zwecke an sich selbst alle Merkmale von beatitudo, von Glücklichsein oder Glückseligkeit, aufweisen, oder deren sakramentaler oder symbolischer Ausdruck sind: Dinge also, die eher auf verschiedenen Stufen in die Erfüllung des Lebens mithineingehören als diese nur vorbereiten oder anpeilen, wofür die Freude und das Vergnügen, das sie verspüren lassen, zeichenhaft wir erlangen, wird zum Anlaß eines Mehr-Wollens und Darüber-hinausWollens. Es entfaltet seine Anziehungskraft vor allem, solange wir es noch nicht besitzen, dagegen beginnen wir es zu verachten, sobald wir es in unseren Besitz gebracht haben«. 32 Sh. dazu Schockenhoff (Anm. 29), S. 103–106, sowie Bujo (wie Anm. 23), S. 74–91 u. ö., mit weiterer Literatur. 33 Zur Rolle irdischer Güter für das Glück des Menschen sh. Bujo (wie Anm. 23), S. 81, mit den entsprechenden Zitatbelegen.

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als Indikatoren stehen.34 »Die von Gott verheißene beatitudo wird nicht neben oder trotz des irdischen Glücks, sondern gerade durch es erreicht«.35 (Ähnliche Überlegungen bestimmen, das sei am Rande erwähnt, auch die neueren Versuche zur Glücksethik in der zeitgenössischen Philosophie.36) Tatsächlich sagt Thomas in De malo q. 6 a. 1: »Wie das geschaffene Gute eine Ähnlichkeit und Teilhabeverbindung zum göttlichen Guten aufweist, so ist die Erlangung eines geschaffenen Guts in gewisser Weise dem Erreichen der Glückseligkeit ähnlich«. Vergleichbares steht in Sum. theol. I–II q. 5 a. 3 ad 3: »Die Menschen glauben doch, daß es ein Glück schon in diesem Leben gibt, und sie tun das wegen seiner Ähnlichkeit mit der wahren Glückseligkeit. Und so betrachtet gehen sie ja in dieser Einschätzung auch gar nicht fehl«. Und ganz ähnlich sagt es dann auch die responsio von De malo q. 8 a. 2. Geschaffenes, weltliches Gutes ist also wirklich gut und als Gut zu betrachten, und das irdische Glück ist daher wahrhaft Glück – wenn auch nicht im vollen und letztgültigen Sinne. Genauso aber, wie das irdische Einzelgut nicht mit dem vollkommenen Guten verwechselt werden darf (wozu die Hauptlaster ja verführen), so kann man das irdische Glück nicht für das vollkommene halten; dieses gibt dem irdischen Gelingen des Lebens und dem irdischen Glück eher den Horizont ab, der es umschließt und sinnvoll erschließen 34 Vgl. De malo q. 14 a. 4: Es »wird immer dasjenige ein Hauptlaster genannt, aus dem andere Laster hervorgehen, indem sie es sich als Zielursache setzen. Und zwar, weil der Ausrichtungsgegenstand eines Lasters von vornherein und in hohem Maße erstrebenswert erscheint, vor allem, wenn er eine Ähnlichkeit mit der Glückserfüllung aufweist, nach der doch alle von Natur aus streben. Eine der Vorbedingungen des Glücks jedoch ist das Vergnügen, ohne welches es nicht erfüllt werden kann.« 35 Bujo (wie Anm. 23), S. 75. Vgl. dazu auch die Aussage von Sum. theol. I–II, q. 65 a. 2: »Die moralischen Tugenden, insofern sie durch Handlungen das Gute innerhalb solcher Zielmaßgaben hervorbringen, welche die wesensgemäßen Fähigkeiten des Menschseins nicht vergewaltigen, kann man sich durch menschliche Werke aneignen, und das kann auch ohne christliche Nächstenliebe geschehen: so war das ja bei vielen Heiden der Fall«. 36 So M. Seel, Versuch über die Form des Glücks, Frankfurt a. M. 1999, S. 89–102 und 115–119, sowie R. Spaemann, (wie Anm. 28), S. 73–84.

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läßt. Der »Glückswert« der Dinge, auf die sich die hauptlasterdienlichen menschlichen Antriebe verlegen, besteht nun aber zum guten Teil eigentlich darin, daß sie sich dem Ewigen Glück und der nicht mehr antinomischen Glückserfüllung eingliedern und sich für einen letzten umgreifenden Horizont des gelingenden Lebens offen halten. Anders bei den Hauptlastern. Deren Bestreben gilt ganz solchen Dingen, die ihrer gesamten Textur und Sinngebung nach Zwischenziele oder Instrumente zum Glücklichwerden darstellen, aber nicht selbst glücksfähig sind, das Glück nicht erschließen können. Entsprechend steht in Sum. theol. I–II, q. 2 a. 8: »Es ist unmöglich, daß das Glück des Menschen in irgendetwas Geschaffenem besteht. Denn das Glücklichsein ist etwas so vollständig Gutes, daß es alles Streben zur Ruhe bringt: es wäre ja nicht ein letztes Ziel, würde denn hier noch etwas zu wünschen offen bleiben«.

4. Die Dämonen der q. 16 Die abschließende Quaestio 16 über die Dämonen macht sich verschiedene Probleme der Angelologie im Verbund mit der aristotelischen Erkenntnistheorie und bereits in vorausliegenden Quaestionen dargelegten Fragen über den Status des Bösen zum Thema. Der Zusammenhang mit der Hauptlasterlehre ergibt sich zum einen systematisch (wie zu sehen sein wird), zum andern aber auch historisch: Die traditionelle Todsündenliste, auf die Johannes Cassian und Gregor der Große zurückgriffen, läßt sich in ihrem Urbestand bis ins vierte Jahrhundert auf Evagrius Ponticus zurückführen, der die Hauptlaster unter anderem als von Dämonen eingestiftete böse Gedanken verstanden haben wollte. Thomas räumt den damit verbundenen Erklärschwierigkeiten breiten Raum ein, obwohl seine Bemerkung aus a. 1, das hier verhandelte Thema habe eigentlich gar keine große Bedeutung für die christliche Lehre, auch für eine ganze Reihe von im Anschluß behandelten Problemen Gültigkeit hat, und zwar nicht nur für diejenigen, die von den in a. 1 gewonnenen Ergebnissen abhängen (wie a. 3, a. 5 und a. 7–12). Zunächst stellt Thomas in der Nachfolge des Dionysius fest, daß die Dämonen − deren unkörperliches Sein als reine Geistwesen ein-

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mal sichergestellt (q. 16 a. 1) − keineswegs von Natur aus böse sind, denn es kann, so hatte es bereits q. 1 a. 1 definiert, nichts von vornherein Böses oder Übles geben. Böses oder Übles nämlich ist von streng sekundärem Charakter, es setzt Gutes voraus und besteht überhaupt nur insofern, als es das Gute schwächt, pervertiert oder beraubt (q. 16 a. 2). Ihre Willensentscheidung macht die Dämonen böse, und die ist unwiderrufbar, denn als reine Geistwesen erkennen sie intuitiv, sofortig ein für allemal, nicht diskursiv, das heißt: nicht durativ, nicht aufgrund von körperverwiesenen Sinneseindrücken aufbauend und überlegend, betrachtend, umdenkend und verwerfend; und genauso entscheiden sie dementsprechend auch: sofortig ein für allemal, ohne Überdenkens- und Korrekturmöglichkeit (q. 16 a. 5). Die verbleibenden Artikel betrachten unter den Vorzeichen der thomasischen Erkenntnislehre das Problem, ob die Dämonen dank – oder trotz – ihres ontologischen Status als körperlose Geistwesen in der Lage sind, auf das Auffassungs- und Erkenntnisvermögen des Menschen Einfluß auszuüben. Verschiedene Grundüberzeugungen und tiefsinnige Überlegungen der thomasischen Philosophie werden dabei explizit angesprochen oder am Rande gestreift: Das Verhältnis von Freiheit und Vorbestimmung, von sinnlicher Wahrnehmung und Abstraktionsleistung, von Vorstellungskraft und Wirklichkeitsdefinition. Um nur eines dieser hochinteressanten Probleme, die wie en passant abgehandelt werden, stellvertretend für viele andere dieser Art zu erwähnen: Die Frage nach der Möglichkeit einer rein geistigen »Schau« mit all den damit verbundenen Problemen für die Beurteilung mystischen Erkennens erfährt in q. 16 a. 11 folgende Lösung: »Die menschliche Seele vermag sich ihrer gegenwärtigen Beschaffenheit in diesem Leben nach nicht so weit zu erheben, daß sie die reine geistige Washeit und die unkörperlichen Wesenheiten sieht, da wir in unserer jetzigen Beschaffenheitslage in diesem Leben nicht ohne Vorstellungsbilder verstehen können, wodurch wir auch nicht imstande sind, von einer rein geistigen Wesenheit zu erkennen, was sie ist. Noch viel weniger vermag die Seele jedoch Einblick in die reinen Verstandesgestaltungen zu nehmen, die sich im Denken der reinen Geistwesen befinden […]. Doch wie es auch immer um die Verstandeserkenntnis der menschlichen Seele bestellt

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sein mag: sicher ist, daß ihr Vermögen zur Schau, sei es in Vorstellung oder Sinneswahrnehmung, auf keinen Fall imstande ist, sich bis zur Schau unkörperlicher Wesenheiten und der in ihnen befindlichen Erkenntnisformen aufzuschwingen, die ausschließlich verstandesmäßig sind«. − An mehr als einer Stelle fließen im Verlauf der Quaestio über die Dämonen außerdem Gedanken zusammen, die auf den ersten Blick disparat erscheinen mögen, aber dennoch eine Zugehörigkeit zueinander rekonstruieren lassen, die dann doch wieder augenöffnend für weiterführende Probleme erscheint.37 Im Kern geht es in der Quaestio 16 aber vordringlich um die Frage, ob böse geistige Kräfte den Menschen täuschen und zum Bösen verleiten können, sei es dadurch, daß sie die freie Willensentscheidung des Menschen (wie sie Quaestio 6 festgestellt hatte) möglicherweise durch ein Vorherwissen und eine Preisgabe dessen, was geschehen wird, annulieren oder ad absurdum führen (a. 7), daß sie die in37 So in den ihrerseits methodisch-hermeneutischen Betrachtungen, die sich aus den Überlegungen zu den Dämonen als »Hermeneuten« ergeben: Hier konfluieren das antike Motiv von den Dämonen als Vermittlern zwischen rein geistiger und irdischer Sphäre, die vermutete Wahrsagefähigkeit der Dämonen (a. 7) und die in das Beispiel vom König und den Unterbefehlshabern gefaßte Lehre, daß der menschliche Wille außer seiner Selbstbestimmungsgewalt nur noch unter einem unmittelbaren Befehlshaber steht, nämlich Gott, und sich daraus für unmittelbare Einflußnahmen auf das menschliche Wissen eine besondere hermeneutische Situation ergibt (a. 8). Ein kurzes Zitat von Karl Kerényi über Platon soll die Zusammengehörigkeit im Hintergrund dieser drei Aspekte intuitv belegen: »Im ›Politikos‹, dem Dialog vom Staatsmann, wird gefragt, ob man die ›Kunst des Königs‹ mit den übrigen Beschäftigungen, bei denen es gleichfalls um das Befehlen geht, vermengen darf. Denn Befehle werden auch von solchen gegeben, die sie von anderen bekommen haben und die Befehle nur weiterleiten. Eine solche ›Kunst des Befehlens‹ ist unter anderen die des Wahrsagens, die mantike und die hermeneutike. […] Hermeneus-Sein bedeutet in der Welt Platons immer dies: eine zweite Stelle einnehmen, nach einem anderen hermeneus sogar nur eine dritte. Eine solche Stelle gehört indessen zum Weltbild selbst. Es gibt darin besondere Wesen, um diese Stelle zwischen Göttern und Menschen einzunehmen: die daimones, die in der Mantik wirken« (K. Kerényi, Griechische Grundbegriffe, Zürich 1964, S. 48 f.).

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timsten Gedanken des Menschen kennen und ihn somit überlegen manipulieren (a. 8), daß sie der menschlichen Wahrnehmung handlungsanstiftende Bilder oder wirklichkeitsleere Sachverhalte vorgaukeln, daß sie Dinge verhaltens- oder verständnisverzerrend in Bewegung bringen oder sonst irgendwie in den menschlichen Erkenntnisablauf eingreifen und damit zu fehlerhaftem und moralisch schlechtem Tun verleiten (a. 9–12). Der Weg, den Thomas dabei überwiegend und in verschiedenen Facetten diskutiert, ist der gemäß seinen aristotelischen Vorgaben plausibelste. Zwar kann dem passiv-aufnehmenden Vermögen des menschlichen Verstands (intellectus possibilis) einiges »vorgemacht« werden. Dieser empfängt ja durch die Sinne seine Eindrücke »von außen« und speichert sie in species oder formae, wie Thomas sagt, also in den materielosen Reinformen dessen, was die materiellen, sinneszugänglichen Dinge als solche oder solche definierend strukturiert − und die Sinne lassen sich nun mal leicht täuschen, nicht nur der Abhängigkeit von äußeren Vorgaben wegen. Denken kommt aber erst durch den Zugriff des aktiven Vermögens desselben menschlichen Verstandes (intellectus agens) zustande, der diese species oder formae seiner kritischen Beurteilung unterzieht und zum Gegenstand seiner weiterführenden Abstraktions-, Vergleichens- und Kombinationstätigkeit macht. Das aber ist ein Tätigsein des Denkenden selber und diese Feststellung bildet für Thomas auch die Grenze für die vielfältigen Manipulationsmöglichkeiten, die dem Wirken dämonischer Kräfte zugeschrieben werden: Der Zugriff des intellectus agens ist eine souveräne Tätigkeit des menschlichen Denkens und kann dem Menschen − anders als die Suggestion von species durch leere Scheingebilde o. ä. − nicht »abgenommen« werden.38 – Womit Thomas übrigens auch 38 Prägnant in q. 16 a. 11 ad 4: »Dazu, daß ein Mensch einen Gedanken in Übereinstimmung mit den Erkenntnisbildern faßt, die er im Verstand habituell vorrätig hat, bedarf es des absichtlichen Willenseinsatzes, denn ein Habitus ist das, wodurch etwas nach Willenseinsatz vollführt wird, wie im 3. Buch von Über die Seele steht. Ähnlich geschieht es durch die Ausrichtung des sinnlichen Strebens, daß ein Tier sich das ins Vorstellungsvermögen rufen kann, was es vorher im Gedächtnis aufbewahrt hatte. Beim Menschen geschieht das aber auch durch die Ausrichtung des Verstandesstrebens, weil das höhere Streben das niedrigere anleitet.«

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einen Grundgedanken seiner Hauptlasterlehre wiederholt, denn auch dort war davon die Rede, daß eine psychische Disposition, wie sie ein Laster eben nun einmal darstellt, den handelnden Menschen keineswegs der moralischen Zurechenbarkeit der ihr entsprechenden Handlungen enthebt. Die Möglichkeit sekundärreflexiver Beurteilung des Unmittelbaren macht in beiden Fällen die Grundlage für moralische Zurechenbarkeit aus.39 Innerhalb der Gesamtkomposition von De malo gelesen, wird als Auseinandersetzung mit den virulenten Fragestellungen nicht nur des 13. Jahrhunderts aus den Ausführungen von Quaestio 16 also auch das thomasische Anliegen deutlich, die auf ihre eigene Art dämonische Dimension der Meinung zu entkräften, man könne den Menschen durch Wegnahme oder Einschränkung seiner Willensfreiheit vom Trauma des Bösen und der Schuldhaftigkeit entlasten, indem man das Üble und die Schuld externen Faktoren zuschreibt, die dem Einzelnen zuvorliegen und ihn zwangsläufig und im Überspringen seiner Freiheit bedingen, ihn also als unhintergehbaren Ursprung seines Handelns ersetzen und diesen in einen allgemeineren nicht mehr individuell zurechenbaren Bereich auslagern.40 39 Elders (wie Anm. 11), S. 188, bemerkt zu Sum. theol. II–II, q. 80 a. 1, wo die Überlegungen zu den Dämonen von De malo q. 16 gewissermaßen in Synthese oder als Rohfassung noch einmal nachvollzogen werden: »Traditional Christian Theology says that the devil seduces people. However, a direct causal influence by such beings on the human will would be impossible. But they could propose some object that calls forth in the will a desire for it. Anyone proposing such an object, suggesting that it is a real good, could be considered an indirect cause of a sinful choice. But the will is not necessarily moved by such an object and remains free in its choice«. 40 Womit hier – im Anschluß an einen terminologischen Vorschlag Isaiah Berlins auf der Grundlage einer kantischen Begriffsbildung – v. a. die »positive Freiheit« gemeint sein soll, nicht die »negative Freiheit« (vgl. I. Berlin, Two Concepts of Liberty, in: Ders., Four Essays on Liberty, London 1969, 118–172), und eher die Willensfreiheit als die bloße Handlungsfreiheit; zur Unterscheidung beider Spielarten vgl.: F. von Kutschera, Die Teile der Philosophie und das Ganze der Wirklichkeit, Berlin / New York 1998, S. 210–212; U. Steinvorth, Freiheitstheorien in der Philosophie der Neuzeit, Darmstadt 1987; E. Tugendhat, ›Der Begriff der Willensfreiheit‹, in: Ders., Philosophische Aufsätze, Frankfurt a. M. 1992, S. 334–351;

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Nachwort

Das Ganze stellt eine hochinteressante Etüde des Freiheitsproblems unter gnoseologischen Vorgaben dar, die unter Aufbietung des gesamten streng durchgliederten Begriffsapparats der aristotelischen Wahrnehmungs- und Erkenntnislehre dargeboten wird: Die mühsamen Differenzierungen von Erkenntnisbild, Vorstellungsbild, Form, Gestalt, Struktur, Gedanke, geistigem Tätigsein und Einbildung kommen hier gewinnbringend zu klärender und erklärender Anwendung und führen die enge Verklammerung von Ontologie und Erkenntnistheorie vor, von der Erklärung der inneren Struktur der Welt und wie die menschliche Erkenntnis in ihrer Strukturierung dem entspricht. *** Noch ein Wort des Dankes zum Schluß. Bei der Durchsicht und Fertigstellung des Übersetzungstextes und der Fußnoten waren mir die Hilfskräfte und die Angestellten am Lehrstuhl für Christliche Philosophie der Universität München von großer Hilfe: Veronika Bogner, Eleni Gaitanu, Iris Rechtsteiner, Robert Rauhut und Hubert Holzmann. Insbesondere Herr Enrico Barbiero hat mit aufwendigem Fleiß und großer Akribie viel Zeit auf die Anpassung der Fomalia verwendet. Matthias Waha von der Universität Bamberg hat unschätzbare Hilfe bei der Durchsicht der Korrekturbögen geleistet. Meiner Frau Jana danke ich dafür, durch stetes liebevolles Nachfragen, »ob ich denn heute schon übersetzt hätte«, über zwei Jahre hinweg die zum letztendlichen Zustandekommen höchst notwendige Rolle des »schlechten Gewissens« mit so viel Charme und betörender Überzeugungskraft gespielt zu haben. Widmen möchte ich diese Übersetzung abschließend einem Menschen, von dem man übrigens aus der Anschauung erfahren konnte, wie man sich mit der Pistole an der Schläfe starrsinnig und doch richtig verhält, meinem B. Guckes, Ist Freiheit eine Illusion? Eine metaphysische Untersuchung, Tübingen 2003, S. 33–35. Daß und wie Thomas gerade im Zusammenhang von De malo an eine solche Freiheit denkt, ergibt sich aus dem oben im Zusammenhang mit der Hauptlasterproblematik zum Zitat aus q. 16 a. 7 ad 17 Gesagten.

Nachwort

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Vater Gerhard Schäfer, der es in den nimmerendenwollenden Jahren meiner ungeliebten Schulzeit mit viel Geduld, langem gemeinsamem Lernen bis spät in die Nacht und vorbildlichen Erklärungen nicht nur fertiggebracht hat, in mir das Verständnis für die alten Sprachen zu fördern, sondern auch, mir das Lateinische erst einmal grundlegend beizubringen, woran meine Lehrer kläglich gescheitert waren.

ABKÜRZUNGSVERZEICHNIS

Alonso

Aristoteles, De anima, Translatio Iacobi Veneti, in Perdo Hispano, Obras Filosóficas III : Expositio libri de anima, ed. Manuel Alonso, Madrid 1952.

Buytaert

Johannes Damascenus, De fide orthodoxa. Versions of Burgundio and Cerbanus, ed. E. M. Buytaert, Louvain 1955 (= Franciscan Institute Publications. Text series 8).

CCL / CCSL

Corpus Christianorum. Series Latina, Turnhout 1953 ff.

Crawford

Averroes. Corpus commentariorum Averrois in Aristotelem, Versiones latinae, Cambridge Mass. Commentarium magnum in Aristotelis De anima libros, ed. F. S. Crawford VI,1, 1953.

CSEL

Corpus Scriptorum Ecclesiasticorum Latinorum, Wien 1866 ff.

Coll. S. Bon.

Magistri Petri Lombardi Sententiae in IV libros distinctae, ed. Collegii S. Bonaventurae ad Claras Aquas, Grottaferrata (Romae) 1971 (= Spicilegium Bonaventurianum 4–5).

De Rijk

Peter of Spain, Tractatus called afterwards Summulae logicales, first critical edition by L. M. de Rijk, Assen 1972.

Dion.

Dionysiaca. Recueil donnant l’ensemble des traductions latines des ouvrages attribués au Denys de l’Aréopage et synopse marquant la valeur de ci-

404

Abkürzungsverzeichnis

tations presque innombrables allant seules depuis trop longtemps, remises enfin dans leur contexte au moyen d’une nomenclature rendue d’un usage très facile, Brügge 1937. Friedberg

Corpus Iuris Canonici, ed. Aemilius Friedberg, Leipzig 1879. (Photomechanischer Nachdruck der Akademischen Druck- u. Verlagsanstalt, Graz 1959)

Gauthier

Aristoteles Latinus (Corpus Philosophorum Medii Aevi Academiarum consociatarum auspiciis et consilio editum), XXVI , 1–3 fasc. 2–3, Bruges-Paris 1961 ff.

GCS

Die griechischen christlichen Schriftsteller der ersten drei Jahrhunderte, Leipzig-Berlin 1897 ff.

Heinze

Themistii in libros Aristotelis De anima Paraphrasis, ed. R. Heinze, Berlin 1899.

Heylbut

Eustratii et Michaelis et anonyma in Ethica Nicomachea Commentaria, ed. G. Heylbut (Commentaria in Aristotelem graeca, XX ), Berlin 1892.

Holmberg

Das Moralium Dogma Philosophorum des Guillaume de Conches, ed. J. Holmberg, Uppsala 1929.

Krueger

Corpus Iuris Civilis: Codex Iustitianus, ed. P. Krueger, Berlin 1892.

Leclercq

Bernardus Claraevallensis, Opera, ed. J. Leclercq et al., Rom 1957 ff.

Minio-Paluello Aristoteles Latinus (Corpus Philosophorum Medii Aevi Academiarum consociatarum auspiciis et consilio editum), I –V, XXXIII , Bruges-Paris 1961 ff.

Abkürzungsverzeichnis

405

Mommsen

Corpus Iuris Civilis I: Digesta, recognovit Th. Mommsen, Berlin 1893.

Pattin

Simplicius latine: Simplicius. Commentaire sur les Catégories d’ Aristote. Übersetzung von Guillaume de Moerbeke, ed. A. Pattin (Corpus latinum Commentariorum in Aristotelem graecorum V, 1 und 2), Louvain-Paris 1971–1975.

PG

Patrologiae cursus completus, Series Graeca, ed. J.-P. Migne, Paris 1857 ff.

PL

Patrologiae cursus completus, Series Latina, ed. J.-P. Migne, Paris 1844 ff.

Schmitt

Anselm von Canterbury, Opera Omnia, ed. Fr. S. Schmitt, 6 vol., Edinburgh 1946-1961. (Neudruck Stuttgart-Bad Cannstatt 1968)

Van Riet

Avicenna Latinus, ed. S. Van Riet und G. Verbeke, Louvain (u. a.) 1968 ff.

Verbeke

Nemesius von Emesa, De natura hominis, ed. G. Verbeke, Leiden 1975 (= Corpus Latinum commentariorum in Aristotelem Graecorum. Suppl. 1).

Waszink

Calcidius: Plato, Timaeus, a Calcidio translatus commentarioque instructus. In societatem operis coniuncto P. J. Jensen, ed. J. H. Waszink (Plato Latinus IV), London-Leiden 1962.

THOMAS VON AQUIN

Quaestiones Disputatae Vollständige Ausgabe der Quaestionen in deutscher Übersetzung

Thomas von Aquin ist der Denker des Mittelalters, der die am längsten anhaltende Orientierung geboten, die intensivsten historischen Interessen auf sich gezogen und – neben seiner Bedeutung als Kirchenlehrer – für die vielfältigsten denkerischen Konzeptionen Pate gestanden hat und dessen Werk daher noch heute auf praktisch allen Feldern philosophischer Problemstellungen Anregungen zu geben vermag. In den Quaestiones Disputatae, seinem in philosophischer Hinsicht bedeutendsten und »gründlicheren« Werk (Kurt Flasch), geht es Thomas nicht um den Vortrag der eigenen Lehrmeinung, sondern um die möglichst umfassende Disputation (Erörterung) von Sachfragen unter Einbeziehung des Für und Wider vor dem Hintergrund überlieferter Auffassungen nach der Maßgabe der intellektuellen Vernunft. Abgehandelt werden die großen Grundthemen der Metaphysik und Erkenntnislehre: Was ist Wahrheit, was Vermögen und (göttliche) Macht, was Tugend, und was ist die Seele? Die universalistische Weite der Gedanken, die Thomas im Zuge der in den einzelnen Quaestiones erörterten Fragestellungen entfaltet, erhebt das Werk zu einem der Grundwerke der philosophischen Tradition, das über die Zeiten hinweg seinen provokativen Charakter und seine Bedeutung behält. Daneben sind die Quaestiones Disputatae unter historischem Aspekt von geradezu unschätzbarem Wert, da sie Zeugnis ablegen von der mit größter Akribie vorgenommenen Auseinandersetzung mit der Philosophie des Aristoteles, deren Wiederentdeckung und Transformation durch die Denker des Mittelalters – und darunter vor allem Thomas – den Weg bereitete für die Ausbildung der Kultur der auf die Ratio (Vernunft) gegründeten Argumentation in der Philosophie (und in den Wissenschaften) der Neuzeit.

THOMAS VON AQUIN

Quaestiones Disputatae Regensburger Ausgabe herausgegeben von Rolf Schönberger

band 1–6 Über die Wahrheit (De veritate) band 7–9 Über Gottes Vermögen (De potentia Dei) band 10 Über die Tugenden (De virtutibus) band 11–12 Vom Übel (De malo) band 13 Über die Seele (De anima)