Quaestiones disputatae: Über Gottes Vermögen I: De potentia Dei I, q. 1-3 9783787319077, 9783787333646

Thomas von Aquin ist 'der' Denker des Mittelalters, der die am längsten anhaltende Orientierung geboten, die i

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German Pages 360 [361] Year 2009

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Quaestiones disputatae: Über Gottes Vermögen I: De potentia Dei I, q. 1-3
 9783787319077, 9783787333646

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THOMAS VON AQUIN

Quaestiones Disputatae

Thomas von Aquin

Quaestiones Disputatae

THOMAS VON AQUIN

Quaestiones Disputatae Vollständige Ausgabe der Quaestionen in deutscher Übersetzung Herausgegeben von Rolf Schönberger Band 7

FELIX MEINER VERLAG HAMBURG

THOMAS VON AQUIN

Über Gottes Vermögen De potentia Dei Teilband 1 Übersetzt und herausgegeben von Stephan Grotz

FELIX MEINER VERLAG HAMBURG

Gedruckt mit freundlicher Unterstützung der Diözese Regensburg.

Bibliographische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliographie; detaillierte bibliographische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar. ISBN 978-3-7873-1907-7

© Felix Meiner Verlag GmbH, Hamburg 2009. Alle Rechte, auch die des auszugsweisen Nachdrucks, der fotomechanischen Wiedergabe und der Übersetzung, vorbehalten. Dies betrifft auch die Vervielfältigung und Übertragung einzelner Textabschnitte durch alle Verfahren wie Speicherung und Übertragung auf Papier, Transparente, Filme, Bänder, Platte und andere Medien, soweit es nicht §§ 53 und 54 URG ausdrücklich gestatten. – Satz: post scriptum, www.post-scriptum.biz. Druck: Strauss Buch, Mörlenbach. Bindung: Litges & Dopf, Heppenheim. Gedruckt auf alterungsbeständigem, säurefreiem Werkdruckpapier. Printed in Germany.

INHALT

I. Gottes Ver mögen als solches 1. Artikel: 2. Artikel: 3. Artikel: 4. Artikel:

Liegt in Gott ein Vermögen? . . . . . . . . . . . . Ist Gottes Vermögen unbegrenzt? . . . . . . . . . Vermag Gott das, was der Natur unmöglich ist? . Muß man anhand von höheren oder anhand von niederen Ursachen entscheiden, ob etwas möglich oder unmöglich ist? . . . . . . . . . . . . . . . . . 5. Artikel: Kann Gott das geschehen lassen, was er nicht geschehen läßt, und das unterlassen, was er geschehen läßt? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 6. Artikel: Kann Gott das tun, was andere tun, also etwa sündigen, herumgehen usw.? . . . . . . . . . . . . 7. Artikel: Aus welchem Grund kann man Gott allmächtig nennen? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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II. Das Zeugungsv er mögen in der Gottheit 1. Artikel: Liegt in der Gottheit ein Zeugungsvermögen? . . 2. Artikel: Gehört das Zeugungsvermögen zum Wesen der Gottheit oder ist es ein personales Unterscheidungsmerkmal? . . . . . . . . . . . . . . . . 3. Artikel: Geht das göttliche Zeugungsvermögen auf Geheiß des Willens in den Zeugungsakt über? . . . . . . 4. Artikel: Kann es in der Gottheit mehrere Söhne geben? . . 5. Artikel: Ist Gottes Zeugungsvermögen Bestandteil seiner Allmacht? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 6. Artikel: Ist das Zeugungsvermögen mit dem Schöpfungsvermögen identisch? . . . . . . . . . . . . . . . .

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VI

Inhalt

III. Die Schöpfung als die erste Wir k ung des göttlichen Ver mögens 1. Artikel: Kann Gott etwas erschaffen? . . . . . . . . . . . 2. Artikel: Ist die Schöpfung eine Art von Veränderung? . . 3. Artikel: Stellt die Schöpfung etwas Wirkliches an den Geschöpfen dar? . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4. Artikel: Kann das Schöpfungsvermögen den Geschöpfen verliehen werden? . . . . . . . . . . . . . . . . . 5. Artikel: Kann es etwas geben, was von Gott nicht erschaffen worden ist? . . . . . . . . . . . . . . 6. Artikel: Gibt es nur ein einziges Prinzip für die Schöpfung? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 7. Artikel: Wirkt Gott in jedem Wirken der Natur? . . . . . 8. Artikel: Ist mit dem Wirken der Natur ein Schöpfungsvorgang verbunden? . . . . . . . . . . . . . . . 9. Artikel: Ist die Seele erschaffen? . . . . . . . . . . . . . 10. Artikel: Wird die Seele im Körper oder außerhalb des Körpers erschaffen? . . . . . . . . . . . . . . . . 11. Artikel: Verdankt sich der wahrnehmende und der vegetative Seelenteil einem Schöpfungsakt? . . . 12. Artikel: Befinden sich diese beiden Seelenteile im Samen zum Zeitpunkt seiner Abscheidung? . . . . . . . 13. Artikel: Kann ein Seiendes, das sich einem anderen verdankt, ewig sein? . . . . . . . . . . . . . . . 14. Artikel: Kann das, was von Gott dem Wesen nach verschieden ist, schon immer dagewesen sein?. . 15. Artikel: Gehen die Dinge von Gott aus der Notwendigkeit seines Wesens hervor? . . . . . . . . . . . . . . 16. Artikel: Kann aus dem ersten Einen eine Vielheit hervorgehen? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 17. Artikel: Ist die Welt immer schon dagewesen? . . . . . . 18. Artikel: Wurden die Engel vor der sichtbaren Welt erschaffen? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 19. Artikel: Können die Engel vor der sichtbaren Welt dagewesen sein? . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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Inhalt

VII

Nachwort 1. Textgestalt und Übersetzung . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Der Gesamtaufbau von »De potentia« . . . . . . . . . . . 3. Einige Grundgedanken in den Quaestionen I−III . . . . .

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Abkürzungsverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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THOMAS VON AQUIN

Über Gottes Vermögen

I. GOTTES VERMÖGEN ALS SOLCHES

Die hier behandelten Fragen lauten: 1. Liegt in Gott ein Vermögen? 2. Ist Gottes Vermögen unbegrenzt? 3. Vermag Gott das, was der Natur unmöglich ist? 4. Muß man anhand von höheren oder anhand von niederen Ursachen entscheiden, ob etwas möglich oder unmöglich ist? 5. Kann Gott das geschehen lassen, was er nicht geschehen läßt, und das unterlassen, was er geschehen läßt? 6. Kann Gott das tun, was andere tun, also etwa sündigen, herumgehen usw.? 7. Aus welchem Grund kann man Gott allmächtig nennen?

1. Artik el Die erste Frage lautet: Liegt in Gott ein Vermögen? 1 Dies scheint nicht der Fall zu sein; denn: 1. Ein Vermögen ist das Prinzip für ein Tätigsein. Gottes Tätigsein, das sein Wesen ist, hat aber kein Prinzip. Denn weder ist sein Wesen hervorgebracht, noch muß es sich erst entfalten. In Gott liegt demnach kein Vermögen. 2. Nach Anselm2 muß man Gott all das zuschreiben, was in unüberbietbarer Weise vollkommen ist. Folglich darf man Gott nicht zuschreiben, was auf etwas hin angelegt ist, das seinerseits vollkommener ist. Nun ist jedes Vermögen auf etwas hin angelegt, was seinerseits vollkommener ist: Als ein passives Vermögen ist es auf eine Form hin angelegt, als ein aktives Können auf eine Tätigkeit. Demnach kann man Gott kein Vermögen zuschreiben. 1 Paralleltexte: Sum. theol. I, q. 25 a. 1. ScG I, 16; II, 7−10. Sent. I, d. 42 q. 1 a. 1. 2 Anselm von Canterbury, Monologion 15 (Opera omnia I, ed. Schmitt, 29).

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3. Aristoteles zufolge ist ein Vermögen das Prinzip für die Veränderung in etwas anderes, insofern dieses ein anderes ist.3 Nun stellt aber ein Prinzip eine Art von Beziehung dar, und zwischen Gott und seinen Geschöpfen besteht ja eine Beziehung, welche man denn auch mit der Rede von seinem Schöpfungs- und Bewegungsvermögen zum Ausdruck bringt. Eine derartige Beziehung liegt in Gott jedoch nicht der Sache nach, sondern nur dem Begriff nach. Folglich liegt der Sache nach kein Vermögen in Gott. 4. Ein Habitus weist einen höheren Grad an Verwirklichung auf als ein Vermögen, da er ja einem Tätigsein näher kommt. In Gott liegt aber kein Habitus und mithin auch kein Vermögen. 5. In der Rede von Gott ist das zu vermeiden, was seine Erstrangigkeit und Einfachheit in Frage stellen würde. Insofern nun Gott einfach ist und das erste Tätige, so ist er dies aufgrund seines Wesens. Demnach darf man nicht zum Ausdruck bringen, daß Gott aufgrund eines Vermögens tätig sei, was ja zumindest der Ausdrucksweise nach eine Hinzufügung zu seinem Wesen darstellt. 6. Nach Aristoteles4 gibt es bei dem, was immerwährend ist, keinen Unterschied zwischen Sein und Können. Bei Gott gibt es daher diesen Unterschied erst recht nicht. Für das aber, was der Sache nach identisch ist, muß man ein und dieselbe Bezeichnung verwenden, die sich vom Vorrangigeren ableitet. Nun hat das Wesen einen Vorrang vor dem Vermögen, denn ein Vermögen kommt dem Wesen nachträglich zu. Folglich darf man angesichts von Gott nur von seinem Wesen sprechen, nicht aber von seinem Vermögen. 7. Wie die erste Materie reines Möglichsein ist, so ist Gott reines Wirklichsein. Nun ist die Materie ihrem Wesen nach ohne jedes Wirklichsein. Folglich ist Gott seinem Wesen nach ohne jedes Möglichsein.5 3 Aristoteles, Met. V, 12; 1019 a 15 ff.; 1020 a 1 ff. IX, 1; 1046 a 10 ff. (u. ö.). – Für diesen Kraft- oder Vermögensbegriff gibt Aristoteles in 1019 a 16 ff. zwei entsprechende Beispiele: »So ist die Baukunst ein Vermögen, das nicht im Erbauten liegt, sondern im Erbauer; die Heilkunst kann aber auch in einem Patienten liegen, jedoch nicht, insofern dieser ärztlich behandelt wird, sondern selbst Arzt ist.« 4 Aristoteles, Phys. III, 4; 203 b 30 f. 5 absque omni potentia V : absque omnipotentia M.

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8. Jedes Vermögen, das nicht verwirklicht wird, kommt nicht zu seiner Vollendung. Somit kann in Gott, dem ja nichts Unvollendetes zukommt, ein derartiges Vermögen nicht liegen. Wenn es also in Gott ein Vermögen gäbe, dann müßte dieses immer schon zu seiner Verwirklichung gekommen sein, und so wäre auch sein Schöpfungsvermögen immer schon zur Verwirklichung gelangt. Daraus folgt, daß Gott seit Ewigkeit die Dinge geschaffen hat, was eine ketzerische Behauptung ist. 9. Sobald eine Sache hinreicht, um etwas zu vollbringen, wird das Mitwirken einer anderen Sache überflüssig. Nun reicht Gottes Wesen dafür hin, daß er durch sein Wesen etwas vollbringt. Man setzt also überflüssigerweise in Gott ein Vermögen an, durch das er etwas vollbringt. 10. Man wird nun einwenden: Ein Unterschied zwischen Gottes Vermögen und seinem Wesen besteht nicht tatsächlich, sondern nur für uns, die wir dies so erkennen. – Dem ist zu erwidern: Jede Erkenntnis, der nichts in der Sache entspricht, ist nutz- und gegenstandslos. 11. Der Kategorie der Substanz hat einen höheren Rang als die anderen Kategorien. Nun wird sie aber Gott nicht zugeschrieben, wie Augustinus sagt,6 und erst recht nicht die Kategorie der Qualität. Ein Vermögen zählt aber zur zweiten Ausformung einer Qualität; also darf man sie Gott auch nicht zuschreiben. 12. Nun wird man einwenden: Das Vermögen, das man Gott zuschreibt, ist keine Qualität, sondern das Wesen Gottes, welches sich davon nur dem Begriff nach unterscheidet. – Dem ist zu erwidern: Entweder entspricht diesem Begriff etwas in der Sache oder nicht. Im letzteren Fall ist der Begriff leer. Entspricht ihm aber etwas in der Sache, so folgt daraus: Es gibt in Gott neben seinem Wesen etwas, was sein Vermögen ist, genauso wie es den Begriff des Vermögens neben demjenigen des Wesens gibt. 13. Nach Aristoteles 7 wird jede Fähigkeit und hervorbringende Kraft eingesetzt, um etwas anderes zu erreichen. Jedoch trifft so

6 Augustinus, De trin. VII, 5, 10 (CCSL 50, 260 f.). 7 Aristoteles, Top. IV, 5; 126 b 5 f.

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etwas auf Gott nicht zu, da er nicht wegen etwas Anderem da ist. Folglich kommt Gott kein Vermögen zu. 14. Nach Dionysius8 stellt die Wirkkraft ein Mittelglied zwischen einer Substanz und ihrem Wirken dar. Nun bedient sich Gott bei seinem Wirken keines Mittels. Also wirkt Gott nicht mittels einer Wirkkraft und damit auch nicht mittels eines Vermögens. Somit liegt kein Vermögen in Gott. 15. Nach Aristoteles ist das aktive Können – und nur dieses kann Gott zukommen9 – das Prinzip für eine Veränderung in etwas anderes, insofern dieses ein anderes ist.10 Gott wirkt jedoch nicht in Form einer Veränderung, wie der Schöpfungsakt zeigt. Demnach kann man Gott kein aktives Können zuschreiben. 16. Aristoteles bemerkt, daß das Vermögen, eine Wirkung ausüben zu können, und das Vermögen, eine Einwirkung erfahren zu können, an ein und demselben auftritt.11 Gott kommt jedoch das Vermögen, eine Einwirkung erfahren zu können, nicht zu und somit auch kein Vermögen zum tätigen Wirken. 17. Aristoteles bemerkt, daß der Gegensatz zu einem aktiven Können die Privation ist.12 Nun liegt es in der Natur des Gegensätzlichen, daß es an ein und demselben auftritt. Wenn also in Gott überhaupt keine Privation liegt, dann liegt in ihm auch kein Vermögen. 18. Petrus Lombardus stellt fest, daß ein Tätigsein Gott nicht im eigentlichen Sinne zukommt.13 Wo es aber kein Tätigsein gibt, da kann es weder ein aktives noch ein passives Vermögen und folglich überhaupt kein Vermögen geben. Dagegen spricht: 1. In Ps. 88, 9 heißt es: »Deine Macht, Herr, und Deine Wahrheit sind rings um Dich her«. 8 Dionysius Areopagita, De cael. hier. XI, 2 (Dion. I, 930). 9 potentia, quae sola Deo potest competere V : potentia, quae soli Deo

potest competere M. 10 Siehe Anm. 3. 11 Aristoteles, Met. IX, 1; 1046 a 19 f. 12 Aristoteles, Met. IX, 1; 1046 a 29 f. 13 Petrus Lombardus, Sent. II d. 1, 2 (ed. coll. S. Bon. II-2, 330 f.).

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2. Mt. 3, 9: »Gott vermag dem Abraham aus diesen Steinen Kinder zu erwecken«. 3. Jedes tätige Wirken geht aus irgendeinem Vermögen hervor. Tätig wirksam zu sein, trifft aber im höchsten Maß auf Gott zu. Demnach kommt Gott ein Vermögen in höchstem Maß zu. Antwort: Um diese Frage klären zu können, muß man beachten, daß sich ein Vermögen von seiner Verwirklichung her versteht. »Verwirklichung« kann aber zweierlei meinen, nämlich die erste Wirklichkeit bzw. eine Form, oder die zweite Wirklichkeit bzw. ein Wirken. Wie der übliche Sprachgebrauch unter den Menschen zeigt, wurde das Wort »Verwirklichung« zunächst für ein Wirken verwendet. Denn dies versteht ja fast ein jeder unter einer Verwirklichung. Alsdann wurde aber das Wort »Verwirklichung« auf die Form übertragen, insofern eine Form das Prinzip und das Ziel für ein Wirken darstellt. Entsprechend kann daher auch »Vermögen« zweierlei meinen: einerseits ein aktives Können, das sich auf die Verwirklichung im Sinne eines Wirkens bezieht. Für dieses aktive Können scheint das Wort »Vermögen« zunächst verwendet worden zu sein. Andererseits meint »Vermögen« ein passives Vermögen, das sich auf die erste Wirklichkeit im Sinne einer Form bezieht. Dafür hat sich anscheinend erst nachträglich das Wort »Vermögen« eingebürgert. Wie nun alles nur infolge seines passiven Vermögens eine Einwirkung erfahren kann, so kann alles nur tätig sein infolge seiner ersten Wirklichkeit, d. h. seiner Form. Es wurde bereits erwähnt, daß das Wort »Verwirklichung«14 sich vom Tätigsein15 ableitet. Gott kommt aber reine und erste Wirklichkeit zu. Von daher trifft es auf ihn im höchsten Maße zu, daß er tätig ist und anderem eine Ähnlichkeit mit ihm mitteilt.16 Somit kommt ihm ein aktives Vermögen im höchsten Grade zu. Denn aktiv heißt ein Vermögen, sofern es Prinzip für ein Tätigsein ist. 14 Übersetzung für actus. 15 Übersetzung für actio. 16 suam similitudinem in alia diffundere V : suam similitudinem in

alias diffundere M.

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Man muß aber auch Folgendes berücksichtigen: Unser Verstand versucht, Gott als etwas höchst Vollkommenes vorzustellen. Da er aber an Gott nicht heranreichen kann, es sei denn über das Abbild seiner Wirkungen, und da er unter den Geschöpfen nichts vorfindet, was höchst vollkommen und frei von jeder Unvollkommenheit ist, so sucht er Gott mit dem zu bezeichnen, was an Vollkommenheit er bei den Geschöpfen entdeckt, obgleich einer jeden derartigen Vollkommenheit etwas abgeht. Dabei ist freilich all das Unvollkommene von Gott fernzuhalten, das mit solch einer Vollkommenheit verbunden ist. So meint etwa »Sein« etwas Vollständiges und Einfaches, das aber dabei nicht für sich selbst besteht. »Substanz« meint aber etwas, was für sich selbst besteht, dabei aber einem anderen zugrunde liegt. Demnach schreiben wir Gott eine Substanz und ein Sein zu, und zwar Substanz im Sinne dessen, was für sich selbst besteht, nicht jedoch im Sinne dessen, was einem anderen zugrunde liegt; und ein Sein im Sinne von Einfachheit und Vollständigkeit, nicht jedoch im Sinne einer Inhärenz, wodurch das Sein in einem anderen läge. In ähnlicher Weise schreiben wir Gott ein Wirken zu, und zwar im Sinne einer unüberbietbaren Vollendetheit, nicht jedoch in dem Sinne, daß sich sein Wirken erst noch auf etwas richten müßte. Ein Vermögen schreiben wir Gott aber in dem Sinne zu, daß es beständig ist und zugleich Prinzip für diese Beständigkeit ist, nicht jedoch in dem Sinne, daß es erst durch ein Wirken zu seiner Erfüllung gelangen würde. Zu 1. Ein Vermögen ist nicht nur das Prinzip für ein Tätigsein, sondern auch für eine Wirkung. Schreibt man daher Gott ein Vermögen zu, welches das Prinzip für eine Wirkung ist, dann braucht es damit noch lange kein Prinzip für Gottes Wesen, d. h. für sein Tätigsein, zu geben. Anders und besser gesagt: In Gott findet sich ein doppelter Bezug; einerseits ein wirklicher Bezug, durch den sich die göttlichen Personen, also etwa Gottvater und Gottsohn, voneinander unterscheiden. Andernfalls würden sich die göttlichen Personen nicht wirklich, sondern, wie Sabellius meint, nur dem Begriff nach voneinander unterscheiden. Andererseits findet sich in Gott ein bloß gedachter Bezug, der gemeint ist, wenn man davon spricht, daß Gottes Tätigsein »von« seinem Wesen ausgehe bzw. daß Gott

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»infolge« seines Wesens tätig sei. Präpositionen bringen nämlich bestimmte Bezüglichkeiten zum Ausdruck. Von daher kommt es, daß man Gott ein Tätigsein zuspricht, das ja von seinem Begriff her ein Prinzip benötigt, und daß man Gott damit auch einen Bezug zuspricht, dessen Vorkommen sich einem Prinzip verdankt. Diese Relation ist daher eine ausschließlich gedankliche. Nun liegt es im Begriff des Wirkens, nicht jedoch im Begriff des Wesens, ein Prinzip zu haben. Von daher hat zwar Gottes Wesen weder der Sache noch dem Begriff nach ein Prinzip; gleichwohl impliziert Gottes Tätigsein von seinem Begriff her ein Prinzip. Zu 2. Zwar muß man Gott alles höchst Vollkommene zusprechen. Gleichwohl braucht nicht jedes Attribut Gottes auch höchst vollkommen zu sein. Vielmehr muß das, was man Gott zuspricht, geeignet sein, die höchste Vollkommenheit andeuten zu können. Dies vermag aufgrund seiner eigenen Vollkommenheit auch dasjenige, im Vergleich zu dem es noch Vollkommeneres gibt und dem gleichwohl jene Vollkommenheit abgeht, die das andere aufweist. Zu 3. Ein Vermögen nennt man nicht deshalb ein Prinzip, weil es selbst der Bezug wäre, den das Wort »Prinzip« meint, sondern weil es das ist, was ein Prinzip ausmacht. Zu 4. Einen Habitus gibt es nicht bei einem aktiven Vermögen, sondern nur bei einem passiven Vermögen, und dieser Habitus weist im Vergleich zu letzterem Vermögen einen höheren Grad an Verwirklichung auf. Solch ein passives Vermögen kann man Gott jedoch nicht zuschreiben. Zu 5. Es ist eine unsinnige Behauptung, daß Gott aufgrund seines Wesens tätig ist und daß dabei in ihm kein Vermögen liegt. Ein Vermögen ist ja das Prinzip für ein Tätigsein. Gerade indem man also behauptet, Gott sei aufgrund seines Wesens tätig, betrachtet man Gottes Wesen als ein Vermögen. Somit stellt der Begriff des Vermögens angesichts von Gott weder seine Einfachheit noch seinen Vorrang in Frage; denn man denkt sich diesen Begriff nicht als etwas, das dem Wesen Gottes gewissermaßen noch etwas hinzufügt. Zu 6. Wenn man davon spricht, daß es bei dem, was immerwährend ist, keinen Unterschied zwischen Sein und Können gebe, so geht es dabei um das passive Vermögen. Dieses aber tut hier nichts zur Sache, denn solch ein passives Vermögen liegt nicht in Gott.

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Weil aber wahr bleibt, daß in Gott sein aktives Vermögen mit seinem Wesen zusammenfällt, so kann man sagen, daß Gottes Wesen und sein Vermögen zwar sachlich dasselbe sind, daß aber »Vermögen« höchstens eine zusätzliche Ausdrucksweise beibringt und daß daher ein eigenes Wort dafür erforderlich ist. Denn wie Aristoteles sagt, entsprechen die Wörter den Denkinhalten.17 Zu 7. Dieses Argument zeigt, daß in Gott kein passives Vermögen liegt. Dem stimmen wir zu. Zu 8. Gottes Vermögen ist stets schon als tätiges Wirken zu seiner Verwirklichung gelangt; tätiges Wirken ist ja Gottes Wesen. Dessen Wirkungen erfolgen jedoch nach dem Beschluß seines Willens und nach der Fügung seiner Weisheit. Folglich muß Gottes Vermögen nicht stets eine Wirkung gezeitigt haben; wie denn auch die Geschöpfe nicht von Ewigkeit dagewesen sind. Zu 9. Gottes Wesen reicht aus, daß Gott durch es tätig ist. Gleichwohl ist ein Vermögen angesichts von Gott nicht überflüssig. Denn das Vermögen läßt sich ja so verstehen, als würde es dem Wesen etwas hinzufügen, doch fügt es aus unserer Perspektive nur den Bezug hinzu, der einem Prinzip innewohnt. Denn eben dadurch, daß Gottes Wesen das Prinzip für sein Tätigsein ist, umfaßt es auch den Begriff des Vermögens. Zu 10. Einem Denkinhalt kann etwas in der Realität auf zweifache Weise entsprechen. Einerseits unmittelbar, dann nämlich, wenn der Intellekt die Form eines extramentalen Dinges erfaßt, also etwa die Form eines Menschen oder eines Steines. Andererseits mittelbar, dann nämlich, wenn sich etwas durch einen Erkenntnisakt erschließt und wenn der Intellekt in der Rückwendung auf sich selbst dieses Erschlossene überdenkt. Bei diesem Überdenken bezieht sich ja der Intellekt mittelbar auf das Ding, d. h. vermittelt über die Erkenntnis, die er von diesem Ding gewonnen hat. So erkennt der Intellekt etwa an einem Menschen, einem Pferd und an vielen anderen Arten deren natürliche Beschaffenheit als Lebewesen; und als Folge davon begreift er diese Beschaffenheit als eine Gattung. Diesem Begreifen, im Zuge dessen der Intellekt den Begriff von einer Gattung gewinnt, entspricht nicht unmittelbar eine extramentale Sache, die 17 Vgl. Aristoteles, De Interpr. 1; 16 a 1 ff.

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eine Gattung wäre. Vielmehr entspricht hier ein Ding der Erkenntnis, aus der sich jene Begriffsbildung ergibt. Ähnlich verhält es sich mit der Relation in einem Prinzip, den das Vermögen zusätzlich zum Wesen beibringt. An einem Ding kann eine solche Relation18 nur mittelbar und nicht unmittelbar festgemacht werden. Unser Intellekt erkennt nämlich ein Geschöpf anhand seines Bezuges auf und anhand seiner Abhängigkeit vom Schöpfer. Gerade weil aber unser Intellekt ein Bezugsglied nur dann erkennen kann, wenn er diesen Bezug auch vom anderen Bezugsglied her begreift, erkennt er angesichts von Gott die Relation, die einem Prinzip innewohnt und die sich durch eine Erkenntnisweise erschließt, die sich vermittelt auf die Wirklichkeit bezieht. Zu 11. Ein Vermögen, welches man unter die zweite Ausformung einer Qualität zählt, kann man Gott nicht zusprechen. Ein solches Vermögen gibt es bei den Geschöpfen, die nicht aufgrund der ihnen wesentlichen Formen tätig sind, sondern aufgrund ihrer akzidentellen Formen. Gott ist jedoch aufgrund seines Wesens tätig. Zu 12. Den verschiedenen Begriffen, die die Attribute von Gott geben, entspricht in der Wirklichkeit Gottes etwas: ihre Einheit und Identität. Unser Intellekt muß nämlich das höchste Einfache, das Gott ist, angesichts von dessen Unbegreifbarkeit notgedrungen unter verschiedenen Formen vorstellen. So liegen zwar diese verschiedenen Formen, die der Intellekt von Gott erfaßt, in Gott als dem Grund ihrer Wahrheit. Insofern ist das, was Gott selbst ist, auch durch all diese Formen darstellbar. Gleichwohl befinden sich diese Formen in unserem Intellekt als ihrem Träger. Zu 13. Aristoteles meint hier die aktiven, hervorbringenden und die ihnen gleichartigen Vermögenskräfte, die für künstlich hervorgebrachte Dinge und den menschlichen Bereich gelten. Bereits bei den natürlich hervorgebrachten Dingen ist es ja nicht wahr, daß ein aktives Vermögen stets um seiner Auswirkungen willen da ist. Lächerlich ist denn auch die Behauptung, das Vermögen des Sonnenlichts sei für die Würmer da, die durch seine Kraft gedeihen. Erst recht ist daher das göttliche Vermögen nicht um seiner Wirkungen willen da. 18 d. h. ein ›Vermögen zu …‹.

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Zu 14. Gottes Vermögen ist in Wirklichkeit kein Mittelglied. Es unterscheidet sich von Gottes Wesen nämlich nur dem Begriff nach, woraus sich wiederum die Bezeichnung »Mittelglied« erklärt. Gott wird jedoch nicht tätig vermittels von etwas, das von ihm selbst wirklich zu unterscheiden wäre. Dieses Argument ist also nicht stichhaltig. Zu 15. Es gibt zwei Arten von Tätigkeit: Mit der einen geht eine Veränderung der Materie einher; die andere erfordert keine Materie, wie der Akt der Schöpfung zeigt. Wie noch deutlich werden wird, kann Gott auf beiderlei Weise tätig sein.19 Daraus erhellt, daß man Gott zu Recht ein aktives Vermögen zusprechen kann, selbst wenn er nicht stets verändernd tätig ist. Zu 16. Aristoteles spricht hier nicht im allgemeinen, sondern von dem speziellen Fall, daß sich etwas, z. B. ein Lebewesen, von selbst bewegt. Wenn nämlich etwas durch anderes bewegt wird, dann fallen das Vermögen, eine Einwirkung zu erfahren, und das Vermögen, eine Wirkung ausüben zu können, nicht zusammen. Zu 17. Vermögen meint einen Gegensatz zu einer bestimmten Privation, nämlich zu einem Unvermögen. Im Hinblick auf Gott braucht man jedoch kein Wort zu verlieren über einen Gegensatz. Denn nichts, was in Gott liegt, hat einen Gegensatz; er fällt ja unter keine Gattung. Zu 18. Ein Tätigsein ist Gott nicht schlichtweg abzusprechen, sondern nur ein solches wie bei den natürlichen Dingen, welche zugleich eine Wirkung ausüben und eine Einwirkung erfahren.

2. Artik el Die zweite Frage lautet: Ist Gottes Vermögen unbegrenzt? 20 Dies scheint nicht der Fall zu sein; denn: 1. Im 9. Buch der Metaphysik heißt es, daß im Bereich der Natur ein aktives Können, dem kein passives Vermögen entspräche, sinn19 Vgl. De pot. q. 2 a. 1. 20 Paralleltexte: Sum. theol. I, q. 25 a. 2. ScG I, 43. Sent. I, d. 43 q. 1 a. 1.

Comp. theol. 18. In Phys. VIII, 23. In Met. XII, 8.

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los wäre.21 Nun gibt es innerhalb der Natur zum unendlichen Vermögen Gottes kein entsprechendes passives Vermögen. Demnach hätte ein unbegrenztes Vermögen Gottes keinen Sinn. 2. Aristoteles weist nach, daß es ein unendliches Vermögen von unbegrenztem Ausmaß nicht gibt.22 Dies hätte sonst zur Folge, daß ein solches Vermögen jenseits der Zeit zur Verwirklichung käme. Eine größere Kraft gelangt nämlich in kürzerer Zeitdauer zur Entfaltung. Je größer also eine Kraft ist, desto kürzer ist die Zeitdauer ihrer Entfaltung. Nun steht ein unendliches Vermögen in keinem proportionalen Verhältnis zu einem endlichen Vermögen und damit auch nicht die Zeitdauer, in der ein unendliches Vermögen zur Entfaltung kommt, zu derjenigen Zeitdauer, in der ein endliches Vermögen zur Entfaltung kommt. Jede beliebige Zeitdauer steht aber in einem proportionalen Verhältnis zu jeder anderen beliebigen Zeitdauer. Wenn also ein endliches Vermögen seine Wirkung in der Zeit entfaltet, dann entfaltet ein unendliches Vermögen seine Wirkung jenseits der Zeit. Aus demselben Grund gilt dann: Wenn Gottes Vermögen unendlich ist, dann ist er immer nur jenseits der Zeit tätig. Das ist jedoch falsch. 3. Man könnte nun einwenden: Gottes Wille legt sich nicht fest, zu welchem Zeitpunkt er seine Wirkung verwirklicht wissen will. Daher muß das göttliche Vermögen nicht stets jenseits der Zeit zur Verwirklichung kommen. – Dem ist zu erwidern: Gottes Wille kann keine Veränderung in seinem Vermögen vornehmen. Es liegt vielmehr im Begriff des unendlichen Vermögens, daß es jenseits der Zeit zur Verwirklichung kommt. Daher kann es auch nicht durch den göttlichen Willen einer Veränderung unterworfen werden. 4. Jedes Vermögen zeigt sich anhand von seiner Wirkung. Gott kann jedoch keine unbegrenzte Wirkung hervorbringen. Folglich ist Gottes Vermögen nicht unendlich. 5. Ein Vermögen steht in einem proportionalen Verhältnis zum tätigen Wirken. Gottes Wirken ist jedoch eines und damit auch sein Vermögen. »Eines« und »Unendliches« schließen sich aber gegenseitig aus. Folglich ist Gottes Vermögen nicht unendlich. 21 Aristoteles, Met. IX, 2; 1046 b 24 ff. 22 Aristoteles, Phys. VIII, 10; 266 a 24–b 6.

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6. Das Unendliche ist ein Merkmal der Quantität, wie Aristoteles sagt.23 Gott ist jedoch ohne Größe und ohne Ausmaß. Folglich kann sein Vermögen nicht unendlich sein. 7. Alles, was eine Unterscheidung zuläßt, ist begrenzt. Gottes Vermögen unterscheidet sich aber von allem anderen. Folglich ist es begrenzt. 8. »Unendlich« besagt das Ausbleiben eines Endes. Ein Ende kann aber Dreierlei meinen: das Ende einer Ausdehnung, also etwa einen Punkt; das Ende einer Verwirklichung, also etwa eine Form; den Endpunkt einer Ausrichtung, also etwa eine Finalursache. Da die beiden letzteren eine Vollendung anzeigen, braucht man sie von Gott nicht fernzuhalten. Folglich kann man nicht von einem unbegrenzten Vermögen Gottes sprechen. 9. Angenommen, Gottes Vermögen ist unbegrenzt, dann kann es dies nur sein als eines von unbegrenzten Wirkungen. Es gibt jedoch noch vieles andere, das potentiell unbegrenzte Wirkungen zeitigt: den Intellekt etwa, der potentiell unendlich Vieles erkennt, oder die Sonne, die unbegrenzte Wirkungen hervorbringen kann. Wenn man daher von einem unendlichen Vermögen Gottes spricht, dann müßte es gleichermaßen auch andere unbegrenzte Vermögen geben. Das aber ist unmöglich. 10. Ein Ende ist Anzeichen von etwas Vortrefflichem. Derartiges muß man aber Gott zusprechen. Folglich muß man das göttliche Vermögen als endlich bezeichnen. 11. Nach Aristoteles gehören zum Unendlichen Teile und Materie und mithin auch Unvollständigkeit.24 Diese kommt Gott aber nicht zu. Also ist am göttlichen Vermögen auch nichts unendlich. 12. Aristoteles zufolge ist ein Endpunkt weder begrenzt noch unbegrenzt.25 Doch das göttliche Vermögen ist das Ende für alle Dinge. Folglich ist es nicht unbegrenzt. 13. Gott ist mit seinem ganzen Vermögen tätig. Angenommen also, sein Vermögen ist unendlich, dann wäre seine Wirkung stets unendlich. Dies wurde aber als unmöglich befunden. 23 Aristoteles, Phys. I, 2; 185 a 33 f.; 185 b 2 f. 24 Aristoteles, Phys. III, 6; 207 a 21 f.; a 26 ff. 25 Aristoteles, Phys. I, 2; 185 b 18 f.

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Dagegen spricht: 1. Bei Johannes von Damaskus heißt es:26 Unendlich ist das, was weder durch die Zeit noch durch den Raum noch durch einen Begriff eingegrenzt wird. Dies aber kommt dem göttlichen Vermögen zu. Also ist das göttliche Vermögen unbegrenzt. 2. Bei Hilarius heißt es:27 Gott ist von einer unermeßlichen Kraft, er ist lebendige Macht, die immer und ewig gegenwärtig ist und niemals ausbleibt. Nun ist alles Unermeßliche unendlich und damit auch Gottes Vermögen unendlich. Antwort: »Unendlich« meint Zweierlei. Einerseits meint man damit in einem privativen Sinn das, was von seiner Anlage her ein Ende haben muß, aber es nicht hat. Derartig Unendliches findet man nur bei quantitativen Größen. Andererseits meint man damit in einem negativen Sinn das, was kein Ende hat. Das Unendliche im ersten Sinn kann Gott nicht zukommen, weil Gott erstens ohne quantitative Größe ist und weil zweitens jede Privation etwas Unvollkommenes meint, was auf Gott überhaupt nicht zutrifft. Das Unendliche im negativen Sinne kommt aber Gott zu, und zwar im Hinblick auf all das, was in ihm liegt. Denn er selbst ist durch nichts begrenzt, ebensowenig wie sein Wesen, seine Weisheit, seine Macht und seine Güte. Daher ist alles in ihm unendlich. Für die Unendlichkeit des göttlichen Vermögens ist insbesondere festzuhalten: Da sich ein aktives Vermögen aus einem Tätigsein erschließt, so erschließt sich auch der Umfang eines Vermögens aus dem Umfang eines Tätigseins. Denn in jeglichem steckt so viel Kraft für ein Tätigsein, wie es dann in diesem Tätigsein entfaltet. Nun ist Gott unendliches Tätigsein. Dies erklärt sich daraus, daß ein Tätigsein nur in zweierlei Hinsicht beschränkt wird: einerseits durch den, der die Tätigkeit ausführt – so wie etwa die Schönheit eines Gebäudes in ihrem Ausmaß und in ihrer endgültigen Gestalt vom Willen des Baumeisters abhängt. Andererseits wird ein Tätigsein beschränkt durch das, an dem sich die Tätigkeit vollzieht – so wie 26 Johannes Damascenus, De fide orthodoxa 13, 6 (ed. Buytaert, 59). 27 Hilarius, De trin. VIII, 24 (CCSL 62 A, 335).

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etwa die Wärme eines Holzstücks in ihrer endgültigen Ausprägung und in ihrem Ausmaß von der jeweiligen Beschaffenheit des Holzes abhängt. Gottes Tätigsein wird jedoch seinerseits nicht durch das eingeschränkt, was eine Tätigkeit ausführt; sein Tätigsein liegt ja nicht an etwas anderem, sondern liegt in ihm selbst. Ebenso wird Gottes Tätigsein nicht durch das eingeschränkt, an dem sich sein Tätigsein vollzieht. Da also mit Gottes Tätigsein überhaupt kein passives Vermögen verbunden ist, ist er selbst reines Tätigsein, das sich an nichts anderem vollzieht. Gott ist also sein Sein selbst, welches sich in nichts anderem verwirklicht. Somit ist klar, daß Gott unendlich ist. Dies kann folgendermaßen einsichtig gemacht werden: Das menschliche Sein ist auf die Spezies Mensch hin angelegt, denn in der menschlichen Spezies verwirklicht sich dieses Sein. Ähnliches gilt vom Sein eines Pferdes bzw. eines jeden anderen Geschöpfes. Da sich nun Gottes Sein in nichts anderem verwirklicht, sondern reines Sein ist, so findet es auch nicht seine Grenze in einer fest umrissenen Seinsweise; vielmehr hat es das gesamte Sein in sich. Insofern sich das Sein in seinem universalen Sinne auf unendlich Vieles erstrecken kann, ist Gottes Sein unendlich. Daraus erklärt sich, daß Gottes Kraft bzw. sein aktives Vermögen unendlich ist. Zudem muß man Folgendes bemerken: Zwar besitzt das göttliche Vermögen seine Unendlichkeit nur infolge des göttlichen Wesens. Gleichwohl kommt ihm – gerade im Hinblick auf das, wofür es Prinzip ist, – eine Unendlichkeit zu, die das Wesen nicht aufweist. Denn es läßt sich der jeweils bestimmte Umfang von dem feststellen, worauf sich ein Vermögen erstreckt; ebenso läßt sich an einer Tätigkeit die jeweilige Stärke ihrer Wirksamkeit feststellen. Demnach kann man einem aktiven Vermögen eine Unendlichkeit zusprechen, und zwar im Hinblick darauf, daß zu ihm eine Unbegrenztheit sowohl im Ausmaß seiner Reichweite als auch seiner Eindringlichkeit gehört. Die Unbegrenztheit im Ausmaß seiner Reichweite bezieht sich darauf, daß sich das Ausmaß eines Könnens bemißt nach der Vielzahl bzw. nach der geringen Anzahl dessen, worauf es sich erstreckt. In diesem Falle spricht man von seiner extensiven Größe. Die Unbegrenztheit im Ausmaß seiner Eindringlichkeit bezieht sich darauf, daß sich das Ausmaß eines Könnens danach bemißt, ob es

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im schwachen oder im starken Grade zur Verwirklichung gelangt. In diesem Fall spricht man von seiner intensiven Größe. Die erste Größe kommt einem Können zu im Hinblick auf seine Reichweite; die zweite Größe kommt einem Können zu im Hinblick auf seine Verwirklichung. Für diese beiden Größen stellt also ein Vermögen das Prinzip dar. Das göttliche Vermögen ist nun in beiderlei Hinsicht unbegrenzt. Denn es bringt niemals in einem solchen Umfang Wirkungen hervor, daß es nicht in noch größerem Umfang Wirkungen hervorbringen könnte. Ebenso wirkt es in seiner Tätigkeit niemals mit einer solchen Stärke, daß es nicht mit noch größerer Stärke wirken könnte. Ermeßbar ist die Stärke von Gottes Wirken allerdings nicht vom Wirkenden her. Denn in dieser Hinsicht ist die Stärke stets unendlich, da Gottes Wirken mit seinem Wesen zusammenfällt. Doch aber ist die Stärke von Gottes Wirken von seinen Wirkungen her ermeßbar. In dieser Perspektive bewirkt Gott manches stärker und manches schwächer. Zu 1. Nichts, was in Gott liegt, kann man als zwecklos bezeichnen. Zwecklos ist nämlich dasjenige, was sich auf ein Ziel richtet, dieses aber nicht erreichen kann. Gott und das, was in ihm liegt, richten sich jedoch nicht auf ein Ziel, sondern sind das Ziel. Oder man könnte anführen, was Aristoteles über ein aktives Vermögen in der Natur sagt, daß nämlich die natürlichen Dinge in einer Ordnung zueinander stehen. Dies gilt auch von allen Geschöpfen. Gott steht jedoch außerhalb dieser Ordnung. Denn er ist seinerseits das, worauf sich diese ganze Ordnung ausrichtet: das Gute nämlich, das außerhalb von ihr steht – also etwa so, um mit Aristoteles zu sprechen,28 wie sich ein Heer auf den Feldherrn ausrichtet. Deswegen kann auch nichts an den Geschöpfen an das herankommen, was in Gott liegt. Zu 2. Nach Averroes’ Kommentar zum 8. Buch der Physik29 gilt dieses Argument, das die Zeit und das Vermögen zu einer Bewe28 Aristoteles, Met. XII, 10; 1075 a 11 ff. 29 Averroes, In Phys. VIII, com. 79 (Aristotelis opera cum Averrois

commentariis, Vol. IV, fol. 425 v M).

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gung in ein proportionales Verhältnis zueinander setzt, für ein Vermögen, welches in quantitativer Hinsicht unendlich ist. Zwischen diesem letzteren und einer unendlich kleinen Zeitspanne besteht ein proportionales Verhältnis. Denn diese beiden gehören zu ein und demselben Gegenstandsbereich: zu den kontinuierlichen Größen. Das Argument gilt jedoch nicht für das, was jenseits einer Größenordnung unendlich ist. Solch ein Unendliches steht in keinem proportionalen Verhältnis zu einer unendlich kleinen Zeitspanne. Denn solch ein Unendliches ist von anderer Art. − Oder man könnte hier anführen, was schon oben in einer Erwiderung angedeutet wurde:30 Weil Gott willentlich tätig ist, so bemißt er auch nach seinem Willen die Bewegung dessen, was durch ihn in Bewegung versetzt wird. Zu 3. Zwar kann Gottes Wille sein Vermögen keiner Veränderung unterwerfen, wohl aber kann sein Wille eine Wirkung näher festlegen. Denn der Wille setzt ein Vermögen in Bewegung. Zu 4. Der Begriff des Hervorgebrachten oder des Erschaffenen ist mit dem Unendlichen unvereinbar. Denn gerade weil das Erschaffene aus dem Nichts entsteht, weist es einen Mangel auf, ist es der Möglichkeit nach und nicht reines Tätigsein. Deswegen kann es auch nicht mit dem ersten Unendlichen gleichgesetzt werden, so als wäre es selbst unendlich. Zu 5. Das Unendliche im privativen Sinne ist eine größenmäßige Bestimmung und ist mit der Einfachheit unvereinbar, das Unendliche im negativen Sinne jedoch nicht. Zu 6. Dieses Argument geht vom Unendlichen im privativen Sinne aus. Zu 7. Etwas kann auf zweierlei Weise als ein Unterschiedenes bestimmt werden. Einerseits unterscheidet sich etwas aufgrund von dem, was mit ihm noch verbunden ist. So bestimmt sich etwa der Unterschied zwischen Mensch und Esel nach demjenigen in der Vernunft. Was sich auf diese Weise unterscheiden läßt, ist notwendigerweise begrenzt. Denn das, was mit ihm noch verbunden ist, macht dieses zu einem bestimmten Etwas. Andererseits ist etwas aufgrund von sich selbst unterschieden. In der Art unterscheidet sich Gott von 30 Vgl. De pot. q. 1 a. 2 arg. 3.

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allen Dingen, und zwar gerade deswegen, weil ihm nichts beigelegt werden kann. Von daher braucht weder Gott noch das, was man von ihm zu verstehen gibt, begrenzt zu sein. Zu 8. Wenn ein Ende eine Vollendung anzeigt, so schreibt man Gott dies auf die erhabenste Weise zu – in dem Sinne nämlich, daß er selbst, seinem Wesen nach, das Ende ist und nicht im abgeleiteten Sinne ein Ende hat. Zu 9. Bei Größen ist ein Unendliches in einem einzigen Bereich, nicht aber noch in einem anderen Bereich denkbar. Ferner ist auch ein Unendliches im Hinblick auf alle Bereiche denkbar. Entsprechendes gilt von ihren jeweiligen Wirkungen. Denn es kann durchaus sein, daß ein Geschöpf, für sich betrachtet, Wirkungen hervorbringen kann, die innerhalb eines Bereiches − nämlich zahlenmäßig innerhalb ein und derselben Spezies − unendlich sind. Insofern ist das Wesen von all diesen Wirkungen begrenzt, d. h. auf eine einzige Spezies beschränkt, also etwa auf unbegrenzt viele Menschen oder Esel. Unmöglich gibt es aber ein Geschöpf, welches Wirkungen hervorbringen könnte, die in jeder Hinsicht unbegrenzt wären: in der Anzahl, in der Spezies und in der Gattung. Dies ist allein Gott möglich, und damit ist allein sein Vermögen schlechthin unendlich. Zu 10. Es läßt sich hier dasselbe wie zum achten Argument feststellen. Zu 11. Dieses Argument geht vom Unendlichen im privativen Sinne aus. Zu 12. Dasselbe läßt sich auch hier feststellen. Zu 13. Gott ist stets mit seinem ganzen Können tätig. Dessen Wirkung wird jedoch näher festgelegt durch die Macht seines Willens und nach der Fügung seiner Vernunft.

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3. Artik el Die dritte Frage lautet: Vermag Gott das, was der Natur unmöglich ist? 31 Dies scheint nicht der Fall zu sein; denn: 1. Die Glosse zu Röm. 11, 2432 spricht davon, daß Gott als der Schöpfer der Natur nichts wider die Natur geschehen lassen kann. Das aber, was in der Natur unmöglich ist, ist wider die Natur. Folglich kann Gott so etwas auch nicht geschehen lassen. 2. Alles Naturnotwendige läßt sich schlüssig beweisen. Ebenso läßt sich die Unschlüssigkeit bei allem, was in der Natur unmöglich ist, aufzeigen. Nun gelten für jeden schließenden Beweis bestimmte Prinzipien; für jeden Beweis gilt aber das Prinzip, daß Bejahungen und Verneinungen nicht gleichzeitig wahr sind. Folglich gilt dieses Prinzip auch für all das, was in der Natur unmöglich ist. Gott kann es aber nicht geschehen lassen, daß, wie gerade angeführt, eine Bejahung und eine Verneinung zugleich wahr sind. Folglich kann er nichts geschehen lassen, was in der Natur unmöglich ist. 3. Gott unterstehen zwei Prinzipien: Denken und Natur. Gott kann aber dasjenige nicht geschehen lassen, was denkunmöglich ist – so etwa, daß eine Spezies durch keine Gattung begrifflich bestimmt werden könnte. Folglich kann Gott auch dasjenige nicht geschehen lassen, was in der Natur unmöglich ist. 4. Wie ›wahr‹ und ›falsch‹ die Erkenntnis betreffen, so betreffen ›möglich‹ und ›unmöglich‹ eine Tätigkeit. Von dem, was innerhalb der Natur falsch wäre, kann Gott aber kein Wissen besitzen. Folglich kann Gott dasjenige nicht ausführen, was in der Natur unmöglich ist. 5. Wenn eine Ähnlichkeit zwischen einem Einzelfall und allen anderen Fällen besteht und wenn man etwas für diesen Einzelfall nachweist, so gilt dies auch für alle anderen Fälle als nachgewiesen. 31 Paralleltexte: Sum. theol. I, q. 25 a. 4. ScG II, 25. Sent. I, d. 42 q. 2. Quodl. V, q. 2 a. 1. In Eth. VI, 2. 32 Petrus Lombardus, Collectanea; ad Romanos XI, 24 (PL 191, col. 1488 B). – Vgl. Röm. 11, 24: »Denn wenn du von dem wilden Ölbaum, zu dem du von Natur aus gehörst, abgeschnitten und wider die Natur auf den edlen Ölbaum aufgepfropft wurdest, wieviel leichter werden diese, die von Natur dahin gehören, dem eigenen Ölbaum aufgepfropft werden.«

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Wenn man also etwa für ein einziges Dreieck nachweist, daß seine Winkelsumme zwei rechten Winkeln gleichkommt, dann gilt dies für alle Dreiecke als nachgewiesen. Eine ähnliche Beweisführung ist nun offensichtlich bei der Frage anwendbar, ob Gott das, was insgesamt unmöglich ist, geschehen lassen kann oder nicht: und zwar einerseits im Hinblick auf ihn, der etwas geschehen läßt, da ja das göttliche Vermögen nicht auf etwas Bestimmtes eingegrenzt ist; und andererseits im Hinblick auf das, was Gott geschehen läßt, da ja die Dinge allesamt das Vermögen haben, sich Gott zu fügen. Demnach kann man also sagen: Wenn es etwas Bestimmtes gibt, das in der Natur unmöglich ist und das Gott nicht geschehen lassen kann, dann kann Gott das, was in der Natur insgesamt unmöglich ist, nicht geschehen lassen. 6. In 2 Tim. 2, 13 heißt es: »Gott bleibt treu, denn er kann sich nicht selber verleugnen.« Er würde sich aber, wie die Glosse besagt, selbst verleugnen, wenn er sein Versprechen nicht erfüllte. Wie aber jedes Versprechen Gottes von Gott selbst kommt, so kommt alles Wahre von Gott. Denn in Ambrosius’ Kommentar zu 1 Kor. 12, 3 »Niemand kann sagen ›Herr Jesus‹ außer im Heiligen Geist« heißt es: Alles Wahre, das ausgesprochen wird, kommt vom Heiligen Geist.33 Folglich kann Gott nichts wider das Wahre geschehen lassen. Er würde aber gegen das Wahre verstoßen, wenn er etwas Unmögliches geschehen ließe. Also kann er nichts, was in der Natur unmöglich ist, geschehen lassen. 7. Nach Anselm34 ist Gott das unmöglich, was auch nur im geringsten widersinnig ist. Nun wäre es widersinnig, wenn eine Bejahung und eine Verneinung zugleich wahr wären. Denn dann wäre der Intellekt lahm gelegt. Dies kann Gott nicht geschehen lassen. Folglich kann er nichts, was in der Natur unmöglich ist, geschehen lassen. 8. Keiner, der eine Kunstfertigkeit ausübt, kann wider diese seine Kunstfertigkeit tätig sein; denn das Prinzip für seine Tätigkeit ist 33 Vgl. Ps.-Ambrosius, Commentaria in Epist. I ad Cor. XII, 3 (PL 17, col. 258 C). 34 Anselm von Canterbury, Cur Deus homo I, 20 (Opera omnia II, ed. Schmitt, 86).

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seine Kunstfertigkeit. Nun würde Gott gegen seine Kunst handeln, wenn er etwas geschehen ließe, was in der Natur unmöglich ist. Denn die Ordnung der Natur, im Hinblick auf die jenes Geschehene unmöglich ist, richtet sich nach der göttlichen Kunst. Folglich kann Gott nichts, was in der Natur unmöglich ist, geschehen lassen. 9. Dasjenige, was an sich unmöglich ist, ist eher unmöglich als dasjenige, was akzidentell unmöglich ist. Nun kann Gott dasjenige nicht geschehen lassen, was akzidentell unmöglich ist, wie z. B. etwas Vorgefallenes ungeschehen sein lassen. Dies geht aus Hieronymus hervor,35 der sagt: Auch wenn Gott Anderes kann, so kann er aus einer ruchlosen Frau doch keine Jungfrau mehr machen. Man vergleiche auch Augustinus und Aristoteles.36 Folglich kann Gott dasjenige nicht geschehen lassen, was in der Natur an sich unmöglich ist. Dagegen spricht: 1. In Luk. 1, 37 heißt es: »Kein Wort ist bei Gott unmöglich.« 2. Jedes Vermögen, das etwas vollbringen kann, anderes aber nicht, ist ein eingeschränktes Vermögen. Wenn also Gott das Naturmögliche vollbringen könnte, das Unmögliche aber nicht – oder auch nur ein Unmögliches, ein anderes Unmögliches aber nicht –, dann wäre sein Vermögen offensichtlich eingeschränkt. Dies steht im Widerspruch zum oben Festgestellten.37 Also kann Gott dasjenige geschehen lassen, was in der Natur unmöglich ist. 3. Was durch keine Tatsache eingeschränkt wird, kann dadurch auch nicht behindert werden. Nun wird Gott durch keine Tatsache eingeschränkt. Also stellt auch keine Tatsache ein Hindernis für ihn dar. Somit kann es auch die Wahrheit des Prinzips, daß eine Bejahung und eine Verneinung nicht gleichzeitig wahr sein können, 35 Hieronymus, Ep. ad Eystochium XXII, 5 (ed. Labourt, I, 115). 36 Augustinus, Contra Faustum Manichaeum XXVI, 5 (CSEL 25/1,

732 f.); Aristoteles, Eth. Nic. VI, 2; 1139 b 8–11: »Geschehenes kann unmöglich nicht geschehen sein. Deswegen sagt Agathon zu Recht: ›Denn nur dies ist auch Gott versagt: Ungeschehen sein zu lassen, was geschehen ist‹.« 37 Vgl. De pot. q. 1 a. 2 c.

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nicht verhindern, daß Gott eben dies geschehen lassen kann. Gleiches gilt für alle andere Prinzipien. 4. Privationen treten nicht in einem größeren oder einem geringeren Grad auf.38 Nun besagt ›unmöglich‹ die Privation eines Vermögens. Wenn es also nur ein einziges Unmögliches gibt, das Gott geschehen lassen kann – etwa einem Blinden das Augenlicht zu schenken –, dann kann er offensichtlich ebenso gut alles geschehen lassen. 5. Alles, was einen Widerstand bietet, tut dies aufgrund einer Entgegensetzung. Wie aber aus dem oben Ausgeführten hervorgeht, ist dem göttlichen Vermögen nichts entgegengesetzt. Folglich kann ihm nichts Widerstand bieten. Somit kann er jedes Unmögliche geschehen lassen. 6. Wie die Blindheit dem Sehvermögen so ist auch die Jungfräulichkeit der Niederkunft entgegengesetzt. Gott hat es aber geschehen lassen, daß eine Jungfrau niederkam und doch Jungfrau blieb. Folglich kann er es ebenso geschehen lassen, daß ein Blinder sieht und doch ein Blinder bleibt, sowie daß eine Bejahung und eine Verneinung gleichzeitig wahr sind, und mithin das Unmögliche überhaupt. 7. Ungleiche substantielle Formen lassen sich schwerer verbinden als ungleiche akzidentelle Formen. Gott hat aber zwei substantielle Formen von größter Ungleichheit zu einer verbunden: die göttliche und die menschliche, deren Unterschied im Geschaffensein und Ungeschaffensein liegt. Folglich kann er noch viel eher zwei akzidentelle Formen zu einer verbinden; z. B. kann er es geschehen lassen, daß etwas zugleich schwarz und weiß ist. 8. Angenommen, man verneint von einem definierten Gegenstand etwas, was zu seiner Definition gehört, so folgt daraus, daß Widersprüchliches gleichzeitig gilt – wie etwa, daß der Mensch nicht vernunftbegabt ist. Nun gehört es zur Definition einer geraden Linie, daß sie sich zwischen zwei Punkten erstreckt. Verneint man dies von einer geraden Linie, so folgt daraus, daß zwei widersprüchliche Aussagen gleichzeitig wahr sind. Gott jedoch ließ genau dies gesche38 Im Beispiel gesprochen: Blind zu sein, ist keine Frage eines Mehr oder Weniger. Entweder man ist blind oder nicht.

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hen, als er durch verschlossene Türen unter die Jünger trat.39 Bei diesem Geschehen gab es damals gleichzeitig zwei körperhafte Gebilde. Somit gab es zwei Linien, die sich nur zwischen zwei Punkten erstreckten, und zugleich erstreckte sich eine jede von ihnen zwischen jeweils zwei Punkten. Folglich kann Gott es geschehen lassen, daß eine Bejahung und eine Verneinung gleichzeitig wahr sind, und daher kann er das Unmögliche überhaupt geschehen lassen. Antwort: Mit Aristoteles40 ist festzuhalten, daß man vom Möglichen und vom Unmöglichen auf dreierlei Weise spricht, und zwar erstens im Hinblick auf ein aktives oder ein passives Vermögen. In diesem Sinne ist es etwa dem Menschen aufgrund seines Gehvermögens möglich zu gehen, jedoch unmöglich zu fliegen. Zweitens bezeichnet man etwas nicht aufgrund eines Könnens als möglich und unmöglich, sondern meint ein an sich Mögliches und Unmögliches. In diesem Sinne ist dasjenige möglich, was nicht unmöglich ist, und dasjenige unmöglich, was notwendig nicht ist. Drittens besagt das Mögliche eine mathematische Potenz, wie sie in der Geometrie vorkommt. In diesem Sinne ist eine Linie ein potentielles Maß für das Flächenmaß ihres Quadrates. Das Mögliche im letzteren Sinn übergehen wir und wenden uns den beiden anderen Möglichkeitsbegriffen zu. Dabei sollte man beachten, daß das Unmögliche, das mit keinem Können zu tun hat, sondern das an sich unmöglich ist, eine Unstimmigkeit von Begriffen besagt. In jeder Unstimmigkeit von Begriffen liegt aber ein bestimmter Widerspruch vor. Jeder Widerspruch impliziert jedoch nach dem 10. Buch der Metaphysik41 eine Bejahung und eine Verneinung. Somit impliziert jedes derartig Unmögliche die Gleichzeitigkeit einer Bejahung und einer Verneinung. Dies läßt sich jedoch von keinem aktiven Können behaupten. Dafür gibt es folgende Erklärung: Jedes aktive Können resultiert aus der Wirklichkeit und aus dem Dasein dessen, der über dieses Können verfügt. Alles, was tätig wirkt, hat nun die natürliche Beschaffenheit, 39 Vgl. Joh. 20, 19 und 26. 40 Aristoteles, Met. V, 12; 1019 a 15 ff. 41 Aristoteles, Met. X, 4; 1055 b 7 ff.

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etwas ihm Gleiches hervorzubringen. Daher zielt jede Verwirklichung eines aktiven Vermögens auf ein Sein. Selbst wenn zuweilen ein Tätigsein zu einem Nichtsein führt, wie etwa beim Vergehen, dann kommt es hier nur insoweit zu einem Nichtsein, als das Sein des einen das Sein des anderen verdrängt, wie etwa das Sein des Warmen das Sein des Kalten. Daher bringt die Wärme in erster Linie Warmes hervor, als Folgeerscheinung aber beseitigt sie die Kälte. Die Gleichzeitigkeit einer Bejahung und einer Verneinung hat jedoch weder im Seienden noch im Nichtseienden Bestand; denn das Sein von etwas schließt sein Nichtsein, und das Nichtsein von etwas sein Sein aus. Daher kann das Nichtsein weder in erster Linie noch als Folgeerscheinung das Ziel sein, auf das sich ein aktives Können richtet. Das Unmögliche nun, das mit einem Können zu tun hat, macht sich auf zweierlei Weise bemerkbar: einerseits dadurch, daß ein Vermögen von sich aus zu schwach ist. Dann vermag es auch keine Wirkung zu entfalten, wie wenn z. B. etwas natürlich Wirkendes eine bestimmte Materie nicht zu verändern vermag. Andererseits macht sich das Unmögliche dadurch bemerkbar, daß ein Vermögen infolge von Fremdeinwirkung zu schwach ist, also etwa dann, wenn ein Vermögen beeinträchtigt oder lahm gelegt wird. Somit spricht man in dreierlei Weise davon, daß etwas verunmöglicht wird: erstens angesichts der Tatsache, daß ein Vermögen zu schwach ist, sei es nun für die Veränderung einer Materie oder für etwas anderes; zweitens angesichts davon, daß etwas ein Vermögen beeinträchtigt oder lahm legt; drittens angesichts der Tatsache, daß das, was man mit dem Unmöglichen meint, nicht Ziel einer Verwirklichung sein kann. Was also in der Natur auf die erste und die zweite Weise unmöglich ist, das kann Gott geschehen lassen. Weil nämlich Gottes Vermögen unbegrenzt ist, kann es nicht sein, daß es zu schwach wäre. Ebenso gibt es keine Materie, die es nicht nach Belieben verändern könnte; denn nichts kann dem Vermögen Gottes einen Widerstand bieten. Dasjenige aber, was in dem dritten Sinn unmöglich heißt, kann Gott nicht geschehen lassen; denn Gott ist im höchsten Grad Tätigsein und das grundlegend Seiende. Daher kann sich sein Tätigsein prinzipiell nur auf das Seiende richten und nur in der Folge dann auch auf das Nichtseiende. Deswegen kann es Gott auch nicht

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geschehen lassen, daß eine Bejahung und eine Verneinung zugleich wahr sind – und ebensowenig dasjenige, bei dem solch eine Unmöglichkeit impliziert ist. Die Rede davon, daß Gott dies nicht geschehen lassen kann, hat ihren Grund nicht darin, daß Gottes Vermögen zu schwach wäre, sondern verweist auf einen Mangel bei dem, dessen Möglichkeit von seinem Begriff her nicht in Frage kommt. Deswegen sagen auch manche, daß Gott so etwas geschehen lassen kann, daß es aber nicht geschehen kann. Zu 1. Die in dieser Glosse angeführten Worte des Augustinus sind nicht so zu verstehen, daß Gott nicht anders als auf natürlichem Wege etwas geschehen läßt, denn er läßt ja des öfteren etwas gegen den gewohnten Lauf der Natur geschehen. All das, was er mit den Dingen geschehen läßt, ist nämlich nicht wider die Natur, sondern ist ihre Natur, weil Gott selbst die Natur gründet und einrichtet. So bemerkt man an natürlichen Dingen, daß ein niedrig stehender Körper zuweilen von einem ranghöheren bewegt wird und daß diese Bewegung die ihm natürliche ist, obgleich diese Bewegung offensichtlich nicht mit derjenigen Bewegung übereinstimmt, die dieser Körper natürlicherweise von sich aus vollzieht. So wird etwa das Meer mit seiner Flut und Ebbe vom Mond bewegt. Diese Bewegung ist nach den Worten von Averroes42 für das Meer natürlich, obgleich das Wasser von sich aus die natürliche Bewegung aufweist, nach unten zu sinken. Auf diese Weise ist allen Geschöpfen gewissermaßen das natürlich, was Gott mit ihnen geschehen läßt; und deswegen unterscheidet man bei ihnen ein doppeltes Vermögen: einerseits ihr natürliches Vermögen zu einem eigenständigen Wirken bzw. zu einer eigenständigen Bewegung; andererseits ihr sogenanntes Vermögen, sich dem zu fügen, was ihnen durch Gott widerfährt. Zu 2. Alles, was unmöglich ist, impliziert, daß auf es gleichzeitig eine Bejahung und eine Verneinung zutrifft. Jedoch ist das, was aufgrund eines verloren gegangenen natürlichen Vermögens unmöglich ist – etwa, daß ein Blinder das Augenlicht erlangt, oder etwas in der Art –, nicht an sich unmöglich. Daher meint eine derartige 42 Averroes, Comm. magnum In III De Caelo, com. 20 (Aristotelis opera cum Averrois commentariis, vol. V, fol. 187 v H−188 r B).

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Unmöglichkeit nichts an sich Unmögliches, sondern sie meint etwas Unmögliches, das für jenes natürliche Vermögen gilt. Wenn wir also sagen, daß die Natur aus einem Blinden einen Sehfähigen machen kann, dann meint dies eine Unmöglichkeit in diesem Sinn. Denn die Natur ist auf etwas angelegt, worüber dasjenige hinausgeht, was ihr hier zugeschrieben wird. Zu 3. Das Unmögliche im logischen Sinne bezieht sich nicht auf ein Können, sondern auf das an sich Unmögliche. Denn das, was Gegenstand der Logik ist, ist an keine Materie bzw. an kein natürliches Vermögen gebunden. Zu 4. Was innerhalb der Natur falsch ist, ist schlechthin falsch. Daher ist die hier vorgenommene Gleichsetzung unzutreffend. Zu 5. Es gibt keinen einheitlichen Begriff für das Unmögliche insgesamt. Wie oben ausgeführt, ist nämlich manches an sich unmöglich, manches aber unmöglich für ein Vermögen. Auch die Tatsache, daß sich die beiden Arten von Unmöglichkeit im Hinblick auf das göttliche Vermögen verschieden ausnehmen, tut der Unbegrenztheit des göttlichen Vermögens bzw. der Fügsamkeit der Geschöpfe keinen Abbruch. Zu 6. Gott hebt das, was bereits wahr ist, nicht auf. Denn er läßt das, was wahr geworden ist, nicht unwahr sein. Vielmehr läßt er etwas nicht wahr werden, was üblicherweise wahr ist. In dem Fall etwa, daß Gott einen Toten auferweckt, läßt er es geschehen, daß dieser nicht wahrhaft tot ist, was dieser unter normalen Umständen wahrhaft wäre. Anders gesagt, es gibt da einen entscheidenden Unterschied: Wenn Gott ein Versprechen nicht erfüllte, dann hieße dies, daß er unwahrhaftig wäre. Diese Folgerung ergibt sich jedoch nicht, wenn Gott eine seiner Wirkungen außer Kraft setzt. Daß seine Wirkungen dauernden Bestand hätten, hat Gott nicht so eingerichtet, wie er es eingerichtet hat, daß er seine Versprechen erfüllt. Zu 7. Gott kann es nicht geschehen lassen, daß eine Bejahung und eine Verneinung zugleich Bestand haben – jedoch nicht, weil dies widersinnig wäre, sondern aus dem angegebenen Grund. Zu 8. Gottes Kunst erstreckt sich nicht nur auf das, was er hat geschehen lassen, sondern auch noch auf vieles andere. Wenn Gott also bei einem Ding den Lauf der Natur ändert, dann handelt er deswegen nicht gegen seine Kunst.

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Zu 9. Es ist im akzidentellen Sinn unmöglich, daß Sokrates herumgelaufen ist, nachdem er nicht herumgelaufen ist. Denn ob Sokrates läuft oder nicht läuft, ist für sich genommen kontingent. Insofern hier aber impliziert ist, daß etwas in der Vergangenheit nicht geschehen ist, wird es an sich unmöglich, daß dieses geschehen ist. Daher nennt man etwas akzidentell unmöglich, sofern es gewissermaßen an ein bestimmtes Ereignis gebunden ist. Dieses Ereignis ist aber an sich unmöglich. Zudem impliziert es ganz offensichtlich eine Kontradiktion. Denn die Aussage, daß etwas geschehen und nicht geschehen ist, ist kontradiktorisch. Genau letzteres ist die Folge, wenn etwas geschehen wäre, was in der Vergangenheit nicht geschehen ist. Beantwortung der Gegenargumente: Zu 1. »Wort« meint nicht nur das, was man sprachlich äußert, sondern auch das, was man geistig erfaßt. Daß aber eine Bejahung und eine Verneinung zugleich wahr sind, ist nach dem 4. Buch der Metaphysik geistig nicht begreifbar und folglich auch nicht dasjenige, bei dem so etwas impliziert ist. Da nun, wie Aristoteles sagt, Meinungen über Gegensätzliches gegensätzlich sind, so würde hier folgen, daß ein und dieselbe Person zwei gegensätzliche Meinungen hätte.43 Somit ist es kein Widerspruch zum Wort des Engels, wenn man sagt, daß Gott das eben erwähnte Unmögliche nicht vermag.44 Zu 2. Gottes Vermögen kann das besagte Unmögliche nicht geschehen lassen, weil dessen Möglichsein von seinem Begriff her nicht in Frage kommt. Somit läßt sich auch nicht sagen, daß Gottes Vermögen beschränkt sei, auch wenn es jenes Unmögliche nicht vermag. Zu 3. Wie bereits ausgeführt,45 vermag Gott das Besagte nicht aus dem Grund, weil er irgendwie beeinträchtigt wäre.46 Vielmehr kann 43 Aristoteles, Met. IV, 3; 1005 b 26 ff. Vgl. auch De Interpr. 23 b 3 ff. 44 Mit dem »eben erwähnten Unmöglichen« meint Thomas hier und

in den folgenden Abschnitten das gleichzeitige Wahrsein einer Bejahung und einer Verneinung. 45 Vgl. die »Anwort«. 46 Deus dicitur hoc non posse, non quasi impeditus V : Deus dicitur hoc non posse, non a libero arbitrio, quasi impeditus M.

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das besagte Unmögliche nicht ein Ziel sein, auf das sich ein aktives Vermögen richtet. Zu 4. Eine Privation tritt an sich nicht in einem größeren oder geringeren Grad auf. Gleichwohl kann sie so auftreten im Hinblick auf ihre Ursache. So ist etwa jemand, der ein Auge verloren hat, in höherem Maß blind als derjenige, dessen Sehvermögen durch einen hemmenden Saft eingeschränkt ist. Gleichermaßen ist dasjenige, was schlechterdings unmöglich ist, in höherem Maße unmöglich als das, was für sich genommen unmöglich ist. Zu 5. Wie bereits ausgeführt,47 vermag Gott das Besagte nicht aus dem Grund, weil er durch etwas beeinträchtigt wäre, sondern aus den erwähnten Gründen. Zu 6. Die Jungfräulichkeit ist nicht in dem Sinne das Gegenteil von der Niederkunft, wie die Blindheit das Gegenteil des Sehvermögens ist. Vielmehr ist sie das Gegenteil zu einem sexuellen Kontakt, ohne den die Natur keine Geburt vonstatten gehen lassen kann − Gott aber sehr wohl. Zu 7. Die gegensätzlichen Momente des Geschaffenen und des Ungeschaffenen waren in Christus nicht ein und dasselbe, sondern verschiedene Naturen. Daher kann nicht gefolgert werden, Gott könne es geschehen lassen, daß gegensätzliche Momente in ein und demselben ein und dasselbe sind. Zu 8. Als Christus durch die verschlossenen Türen trat und es gleichzeitig zwei körperhafte Gebilde gab, geschah nichts im Widerspruch zu den Prinzipien der Geometrie. Denn nur in einer Hinsicht gab es da nicht eine Linie, sondern zwei Linien, die sich als verschiedene körperhafte Gebilde zwischen zwei Punkten erstreckten. So sind zwar zwei mathematische Linien nur anhand von ihrer Lage voneinander unterscheidbar, so daß also nicht erkennbar ist, wenn gleichzeitig zwei solche deckungsgleiche Linien bestehen. Zwei natürliche Linien unterscheiden sich jedoch in dem, woran sie auftreten. Gesetzt also, daß es zwei körperhafte Gebilde zugleich gibt, so folgt daraus, daß es gleichzeitig zwei Linien gibt, sowie zwei Endpunkte und zwei Ebenen.

47 Vgl. die »Anwort«.

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4. Artik el Die vierte Frage lautet: Muß man anhand von höheren oder anhand von niederen Ursachen entscheiden, ob etwas möglich oder unmöglich ist? 48 Offensichtlich anhand von höheren Ursachen; denn: 1. Die Glosse bemerkt zu 1 Kor. 1, 20,49 daß es die Torheit der Gelehrten dieser Welt war, das Mögliche und Unmögliche nach dem zu bestimmen, was sie an der Natur der Dinge wahrnahmen. Folglich kann man das Mögliche und das Unmögliche nicht anhand von niederen, sondern muß es anhand von höheren Ursachen bestimmen. 2. Nach Aristoteles ist das, was das Erste in jeder Gattung ist, das Maß für all das, was zu dieser Gattung gehört.50 Nun ist das göttliche Vermögen das erste unter allen Vermögen. Folglich muß man anhand von ihm entscheiden, ob etwas möglich bzw. unmöglich ist. 3. Je stärker eine Ursache eine Wirkung beeinflußt, desto eher muß anhand von dieser Ursache eine Bestimmung erfolgen. Nun übt eine Erstursache einen größeren Einfluß auf eine Wirkung aus als eine Zweitursache. Folglich muß eine Wirkung eher nach ihrer Erstursache bestimmt werden. Demnach muß die Bestimmung von Wirkungen als möglich bzw. als unmöglich anhand von höheren Ursachen erfolgen. 4. Daß ein Blinder wieder seine Sehkraft erhält, ist nach niederen Ursachen unmöglich. Und doch ist dies möglich, da es zuweilen passiert. Folglich kann man nicht anhand von niederen, sondern muß anhand von höheren Ursachen entscheiden, ob etwas unmöglich ist. 5. Bevor die Welt entstanden ist, war es möglich, daß sie entstehen konnte. Dies war jedoch nicht möglich aufgrund von niederen Ursachen. Also gilt dasselbe wie oben. Dagegen spricht: 1. Eine Wirkung muß man in ihrem Möglichsein nach derjenigen Ursache bestimmen, der sie ihr Möglichsein verdankt. Nun bemißt 48 Paralleltexte: Sum. theol. I, q. 25 a. 3 ad 4. Sent. I, d. 42 q. 2 a. 3. 49 Vgl. 1 Kor 1, 20: »Hat Gott nicht die Weisheit der Welt als Torheit

erwiesen?« 50 Aristoteles, Met. X, 1; 1052 b 18 ff.

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sich eine Wirkung in ihrem Möglichsein, in ihrer Kontingenz oder in ihrer Notwendigkeit nach der ihr nächstliegenden Ursache und nicht nach einer ferner stehenden Ursache. So ist etwa eine gute Tat kontingent aufgrund einer freien Entscheidung, welche die ihr nächstliegende Ursache ist; sie ist jedoch nicht notwendig aufgrund der göttlichen Vorsehung, welche die ferner stehende Ursache ist. Folglich muß man anhand von niederen Ursachen als den nächstliegenden Ursachen entscheiden, ob etwas möglich oder unmöglich ist. 2. Was aufgrund von niederen Ursachen möglich ist, das ist auch aufgrund von höheren Ursachen möglich. Somit ist es in beiderlei Hinsicht möglich. Was nun in beiderlei Hinsicht möglich ist, das ist ohne weiteres möglich. Folglich kann man ohne weiteres etwas anhand seiner niederen Ursachen als möglich bestimmen. 3. Höhere Ursachen sind notwendig. Wenn also Wirkungen nach diesen Ursachen zu bestimmen wären, dann wären alle Wirkungen notwendig. Dies ist unmöglich. 4. Gott ist alles möglich. Wenn sich nun danach die Bestimmung des Möglichen und des Unmöglichen richten würde, dann wäre überhaupt nichts unmöglich. Dies ist aber absurd. 5. Ein Wortgebrauch muß sich nach dem allgemeinen Sprachgebrauch richten. Nun spricht man vom Möglichsein gemeinhin im Zusammenhang von Möglichkeit, Anlage, Notwendigkeit und Wirklichkeit. Diese [Modalitäten] finden sich aber bei den niederen, jedoch nicht bei den höheren Ursachen. Folglich muß man das Möglichsein von Dingen nicht anhand von höheren, sondern anhand von niederen Ursachen bestimmen. Antwort: Wenn etwas als möglich bzw. unmöglich bestimmt wird, dann gibt es hier zwei Aspekte: einerseits die Hinsicht auf denjenigen, der die Bestimmung vornimmt; andererseits die Hinsicht auf dasjenige, dem die Bestimmung gilt. Was nun das erstere anbelangt, so muß man Folgendes beachten: Wenn von zwei Wissenschaften die eine die höheren Ursachen betrachtet und die andere die weniger hohen Ursachen, so kommt es in diesen beiden Wissenschaften nicht auf dieselbe Weise zu einer Urteilsbildung, sondern jeweils im Hinblick auf die entsprechenden

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Ursachen, die eine jede betrachtet. Dies zeigt sich etwa im Falle eines Arztes und eines Himmelsforschers. Der Himmelsforscher beschäftigt sich mit den höchsten Ursachen, der Arzt aber mit den nächstliegenden Ursachen. Von daher wird der Arzt sein Urteil über die Gesundheit bzw. über die tödliche Erkrankung eines Patienten nach deren nächstliegenden Ursachen fällen, d. h. nach der Durchsetzungskraft der Natur bzw. nach der Schwere der Erkrankung. Der Himmelsforscher aber wird sein Urteil bilden nach den ferner stehenden Ursachen, d. h. nach der Stellung der Gestirne. Dasselbe gilt nun auch für unseren Zusammenhang. Die Weisheit stellt sich nämlich gedoppelt dar: einerseits als eine auf die Welt gerichtete, die sich unter der Bezeichnung »Philosophie« mit den niederen Ursachen, d. h. mit den verursachten Ursachen, beschäftigt und die nach Maßgabe dieser Ursachen zu einer Urteilsbildung kommt; andererseits als eine auf das Göttliche gerichtete, die sich unter der Bezeichnung »Theologie« mit den höheren, d. h. göttlichen Ursachen beschäftigt und die nach Maßgabe dieser Ursachen zu einer Urteilsbildung kommt. Diese höheren Ursachen sind aber die göttlichen Attribute wie etwa die Weisheit, die Güte, der göttliche Wille und dergleichen. Man muß aber auch noch Folgendes berücksichtigen: Die vorliegende Fragestellung dreht sich nicht um solche Wirkungen,51 welche sich ausschließlich höheren Ursachen verdanken, d. h. welche einzig Gott hervorbringen kann. Im Hinblick auf niedere Ursachen kann man diese Wirkungen nämlich nicht als möglich oder als unmöglich bezeichnen. Vielmehr dreht sich unsere Fragestellung um solche Wirkungen, welche sich niederen Ursachen verdanken. Diese Wirkungen verdanken sich nämlich sowohl niederen als auch höheren Ursachen. Hierüber kann nun eine Unsicherheit im Urteil bestehen. Ebensowenig gilt die vorliegende Fragestellung demjenigen Möglichen bzw. Unmöglichen, das nichts mit einem Vermögen zu tun hat, sondern das an sich möglich bzw. unmöglich ist. Die Wirkungen der Zweitursachen jedoch, um die es in der vorliegenden Fragestellung geht, bestimmt der Theologe als möglich und unmöglich im Hin51 ista quaestio frustra movetur de effectibus P : ista quaestio frustra movetur de affectibus M.

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blick auf ihre höheren Ursachen. Der Philosoph aber bestimmt sie als möglich bzw. unmöglich im Hinblick auf ihre niederen Ursachen. Bestimmt man jedoch etwas als möglich bzw. als unmöglich im Hinblick auf die Natur dessen, dem diese Bestimmung gilt, dann zeigt sich Folgendes: Als möglich müssen die Wirkungen von ihren nächstliegenden Ursachen her bestimmt werden. Denn die Verwirklichung von ferner stehenden Ursachen wird durch die nächstliegenden Ursachen in bestimmte Bahnen gelenkt, und in erster Linie werden diese nächstliegenden Ursachen mit den Wirkungen zum Vorschein gebracht. Deswegen erfolgt eine Bestimmung von Wirkungen in erster Linie von ihren nächstliegenden Ursachen her. Dies läßt sich auch an einem passiven Vermögen zeigen. Denn mit »Materie« meint man im eigentlichen Sinne kein fernliegendes Vermögen, welches sich auf irgend etwas hin verwirklichen kann, so wie sich etwa das Element Erde auf einen Becher hin verwirklichen kann. Wie aus Aristoteles ersichtlich ist,52 meint man damit vielmehr ein naheliegendes Vermögen, das nur eine einzige bewegende Instanz zu seiner Verwirklichung braucht – so wie etwa Gold ein Vermögen aufweist, das nur durch die Kunstfertigkeit eines Goldschmiedes als Goldbecher verwirklicht zu werden braucht. Ebenso läßt es sich allein schon anhand der naheliegenden Ursachen entscheiden, ob Wirkungen, sofern es ihr Wesen betrifft, möglich bzw. unmöglich sind. Zu 1. Die Gelehrten dieser Welt werden deswegen töricht genannt, weil sie das, was im Hinblick auf niedere Ursachen unmöglich ist, als etwas ansahen, das sogar für Gott schlechthin und absolut unmöglich sei. Zu 2. Das Mögliche verhält sich zu einem Vermögen nicht so, wie sich eine meßbare Größe zu ihrem Maßstab verhält, sondern es ist das, worauf ein Vermögen geht. Gleichwohl trifft es zu, daß das göttliche Vermögen der Maßstab für jedes Vermögen ist. Zu 3. Die Erstursache hat zwar den größten Einfluß auf eine Wirkung. Gleichwohl wird ihr Einfluß durch die nächstliegende Ursache in bestimmte und besondere Bahnen gelenkt, und deswegen bringt eine Wirkung nur ein Abbild von der Erstursache zum Vorschein. 52 Aristoteles, Met. IX, 7; 1049 a 16 ff.

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Zu 4. Zwar ist es Gott möglich, einem Blinden das Augenlicht zu schenken; dennoch kann man dies nicht als etwas bezeichnen, das stets möglich ist. Zu 5. Daß die Welt bestehen werde, war möglich aufgrund von höheren Ursachen. Daher bezieht sich dieses Argument nicht auf unsere gegenwärtige Fragestellung. Zudem53 ist die Tatsache, daß die Welt bestehen werde, nicht nur möglich aufgrund von Gottes aktivem Vermögen, sondern auch an sich möglich. Denn diese beiden Möglichkeitsbegriffe schießen sich nicht gegenseitig aus. Beantwortung der Gegenargumente: Zu 1. Dieses Argument gilt für die Natur derjenigen Wirkung, welche hier in Frage steht. Zu 2. Zwar ist das, was aufgrund von niederen Ursachen möglich ist, auch aufgrund von höheren Ursachen möglich. Beim Unmöglichen gilt dies jedoch so nicht, vielmehr ist hier das Gegenteil der Fall. Somit kann nicht gefolgert werden, daß man das Mögliche und Unmögliche ganz allgemein aufgrund von niederen Ursachen bestimmen muß bzw. daß es von den niederen Ursachen her eine allgemein gültige Bestimmung des Möglichen und des Unmöglichen gibt. Zu 3. Daß man etwas von seinen Ursachen her als unmöglich oder als möglich beurteilt, tut man nicht deshalb, weil dieses Etwas seinen Ursachen im Möglich- oder Unmöglichsein ähnelt, sondern weil dieses Etwas aufgrund dieser Ursachen möglich bzw. unmöglich ist. Zu 4. Aus theologischer Perspektive heißt all das, was an sich nicht unmöglich, möglich, und zwar nach Mk. 9, 23 »Alles ist möglich dem, der glaubt« und nach Luk. 1, 37 »Bei Gott ist kein Wort unmöglich«. Zu 5. Zwar finden sich all diese [Modalitäten] nicht in den höheren Ursachen; gleichwohl sind sie den höheren Ursachen unterworfen. Im übrigen54 gilt dieses Argument für ein passives und nicht für ein aktives Vermögen, um das es uns hier geht.

53 praeterea V : propterea M. 54 praeterea L : propterea M.

5. Artik el Die fünfte Frage lautet: Kann Gott das geschehen lassen, was er nicht geschehen läßt, und das unterlassen, was er geschehen läßt? 55 Dies scheint nicht der Fall zu sein, denn: 1. Gott kann ausschließlich das geschehen lassen, bei dem er im voraus weiß, daß er es geschehen lassen wird. Nun weiß Gott ausschließlich bei dem, was er geschehen läßt, im voraus, daß er es geschehen lassen wird. Folglich kann Gott ausschließlich das geschehen lassen, was er geschehen läßt. 2. Dagegen wird eingewandt: Dieses Argument setzt das Vermögen in Beziehung zum Vorauswissen und begreift es nicht als ein absolutes. – Dem ist zu erwidern: Der göttliche Bereich ist weniger der Veränderung unterworfen als der menschliche. Nun kann bei uns Menschen das, was geschehen ist, unmöglich nicht geschehen sein. Erst recht ist es daher unmöglich, daß Gott nicht im voraus gewußt hätte, was er im voraus gewußt hat. Angesichts von seinem gleichbleibenden Vorauswissen sind aber Gott Alternativen versagt. Folglich kann Gott absolut nichts anderes als dasjenige geschehen lassen, was er geschehen läßt. 3. Die göttliche Weisheit ist genauso unveränderlich wie die göttliche Natur. Wer nun behauptet, daß Gott infolge der Notwendigkeit seiner Natur tätig sei, der behauptet, daß Gott nichts anderes geschehen lassen kann als das, was er hat geschehen lassen. Dies müssen also auch wir behaupten, wenn wir sagen, daß Gott so tätig ist, wie es der Fügung seiner Weisheit entspricht. 4. Nun wird man einwenden: Dieses Argument gilt für ein Vermögen, das von der Weisheit abhängig ist, nicht aber für ein absolutes Vermögen. – Dem ist zu erwidern: Was nach der Fügung der Weisheit nicht geschehen kann, das ist für Christus in seiner Menschengestalt schlichtweg unmöglich, obwohl Christus dies rein dem Vermögen nach hätte geschehen lassen können. In Joh. 8, 55 heißt es nämlich: »Wenn ich sagen würde, ich kenne ihn nicht, so wäre ich

55 Paralleltexte: Sum. theol. I, q. 25 a. 3. ScG II, 23; 26−27; III, 98. Sent. I, d. 43 q. 2 a. 2.

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gleich euch ein Lügner.« Diese Worte56 vermochte Christus ja als reine Möglichkeit auszusprechen. Weil sie aber gegen die Fügung der Weisheit verstießen, heißt es unmißverständlich, daß Christus nicht lügen konnte. So muß man erst recht sagen, daß Gott gar nicht geschehen lassen kann, was gegen die Fügung seiner Weisheit verstößt. 5. In Gott kann es keine zwei kontradiktorischen Momente zugleich geben. »Absolut« und »bedingt« stehen aber in einem kontradiktorischen Gegensatz. Denn absolut ist das, was man als ein solches in Betracht zieht. Das aber, was bedingt ist, hängt von anderem ab. Folglich darf man in Gott nicht ein absolutes und zugleich ein bedingtes Vermögen ansetzen. 6. Gottes Vermögen und seine Weisheit sind sich gleich; das eine überwiegt hier nicht das andere. Folglich kann Gottes Vermögen nicht unabhängig von seiner Weisheit sein. Somit ist Gottes Vermögen von seiner Weisheit abhängig. 7. Was Gott hat geschehen lassen, das ist gerecht. Nun kann er ausschließlich Gerechtes geschehen lassen. Also kann er nur das geschehen lassen, was er hat geschehen lassen bzw. was er geschehen lassen wird. 8. Für Gottes Güte ist es kennzeichnend, daß sie nicht bloß sich selbst mitteilt, sondern daß sie sich höchst geordnet mitteilt. So geschieht alles, was durch Gott geschieht, geordnet. Ohne eine Ordnung aber kann Gott nichts geschehen lassen. Demnach kann er nichts anderes als dasjenige geschehen lassen, was er geschehen läßt. 9. Gott kann nur dasjenige geschehen lassen, was er auch will. Denn bei dem, was durch den Willen tätig ist, fügt sich das Vermögen dem Willen wie einem Befehlsgeber. Nun will Gott nur das, was er auch geschehen läßt. Also kann er nur das geschehen lassen, was er geschehen läßt. 10. Da Gott mit größter Weisheit tätig ist, tut er nichts ohne Vernunft. Nun lassen nach Dionysius57 die Vernunftgründe, mit denen Gott tätig ist, das hervorgehen, was entsteht. Entstanden aber ist das, 56 Gemeint ist das Diktum: »Ich kenne den Vater nicht«. 57 Dionysius Areopagita, De div. nom. V, 8 (Dion. I, 360 f.).

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was ist. Damit begründet Gott in seiner Vernunft nur das, was ist. Folglich kann er nur das geschehen lassen, was er geschehen läßt. 11. Nach Aristoteles liegen die natürlichen Dinge so im ersten Beweger, d. h. in Gott, wie etwas Verfertigtes in demjenigen liegt, der eine Kunstfertigkeit besitzt. Gott ist somit tätig wie jemand, der eine Kunstfertigkeit besitzt. Wer nun eine Kunstfertigkeit besitzt, der wird nicht tätig, ohne ein Bild bzw. eine Idee von seinem Werk zu haben. Denn nach Aristoteles58 kommt ein materiell vorhandenes Haus zustande nach dem Haus, das dem Geist des Baumeisters vorschwebt. Gott hat aber nur von demjenigen Ideen, was er hat geschehen lassen, geschehen läßt oder geschehen lassen wird. Darüber hinaus kann also Gott nichts in die Tat umsetzen. 12. Augustinus bemerkt in De symbolo: Gott vermag einzig das nicht, was er nicht will.59 Nun will Gott nur das, was er geschehen läßt.60 Also kann er nur das geschehen lassen, was er geschehen läßt. 13. Gott kann keiner Veränderung unterliegen. Demnach kann er sich nicht einmal so und dann wieder gegensätzlich dazu verhalten. Somit legt sich sein Vermögen auf Eines fest. Folglich kann er nur das geschehen lassen, was er geschehen läßt. 14. Alles, was Gott geschehen läßt oder unterläßt, tut oder läßt er mit bestem Grund. Nun kann Gott nur aus bestem Grund etwas geschehen lassen oder unterlassen. Demnach kann Gott nur das geschehen lassen oder unterlassen, was er tut oder unterläßt. 15. Nach Platon61 ist es für den Besten kennzeichnend, daß er das Beste herbeiführt. Weil Gott aber der Beste ist, so läßt er nur das Beste geschehen. Weil nun das Beste unüberbietbar ist, so ist es einzigartig. Demnach kann Gott nichts auf andere Weise bzw. nichts anderes als das geschehen lassen, was er geschehen läßt. 58 Aristoteles, De gen. an. II, 1; 734 b 35 ff. 59 Hoc solum Deus non potest quod non vult V : Hoc solum Deus non

potest nisi quod non vult M. – Vgl. Augustinus, Sermo de Symbolo ad Catechumenos I, 2 (CCSL 46, 186). 60 Sed non vult nisi quae facit V : Sed non vult nisi quae fecit M. 61 Vgl. Platon, Timaios 30 A–B: »Dem Besten aber gebührte es weder, noch gebührt es, etwas anderes zu tun als das Schönste.«

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Dagegen spricht: 1. In Mt. 26, 53 spricht Christus als Gott und Mensch: »Könnte ich etwa nicht meinen Vater bitten, und er würde mir nicht sogleich mehr als zwölf Legionen Engel zu Hilfe schicken?« Christus vermochte also etwas, was er dann nicht geschehen ließ. 2. In Eph. 3, 20 heißt es von Gott: »Ihm, der weitaus mehr geschehen lassen kann als alles, was wir ersinnen oder erbitten.« Gleichwohl läßt er nicht alles davon geschehen. Also kann er auch noch anderes als das geschehen lassen, was er geschehen läßt. 3. Gottes Vermögen ist unbegrenzt. Das wäre es aber nicht, wenn es ausschließlich auf das ausgerichtet wäre, was es geschehen läßt. Also vermag es auch noch anderes als das geschehen zu lassen, was es geschehen läßt. 4. Nach Hugo von St. Viktor62 kommt an die Allmacht Gottes keines seiner Werke heran. Also geht sein Vermögen über das hinaus, was es bewirkt. Somit kann es mehr geschehen lassen, als was es geschehen läßt. 5. Gottes Vermögen ist unbegrenztes Tätigsein, denn es wird durch nichts eingeschränkt. Dem wäre aber nicht so, wenn es eingeschränkt wäre auf das, was es geschehen läßt. Also gilt dasselbe wie oben. Antwort: Der Irrtum, daß Gott nur dasjenige geschehen lassen kann, was er auch geschehen läßt, hatte in zwei Spielarten seine Befürworter. Einerseits saßen ihm einige Philosophen auf mit der Behauptung, daß Gott infolge der Notwendigkeit seiner Natur tätig sei. Wenn dem so wäre – die Natur von etwas ist ja auf jeweils ein einziges Ziel festgelegt –, dann könnte sich das göttliche Vermögen in seinem Tun auf nichts anderes erstrecken als auf das, was es geschehen läßt. Andererseits saßen jenem Irrtum einige Theologen auf, insofern sie die Ordnung der göttlichen Gerechtigkeit und Weisheit nach derjenigen Ordnung beurteilten, nach der die Dinge durch Gott geschehen. An dieser Ordnung, so behaupteten sie, könne Gott nicht vorbei. So 62 Hugo von St. Viktor, Summa Sententiarum I, 14 (PL 176, col. 69

C–D).

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verfielen sie darauf zu behaupten, daß Gott nur dasjenige geschehen lassen könne, was er auch geschehen läßt. Diesem Irrtum sitzt namentlich Petrus Almalareus63 auf. Wir wollen nun die Schlüssigkeit bzw. Unschlüssigkeit dieser beiden Standpunkte überprüfen, und zwar zunächst beim ersten Standpunkt. Daß Gott nicht infolge der Notwendigkeit seiner Natur tätig ist, ist leicht zu erkennen. Alles, was tätig ist, ist dies ja aufgrund eines Zieles; denn alles strebt nach etwas Gutem. Damit aber die Tätigkeit eines Tätigen auch ihr Ziel erreicht, muß dieses Ziel für sie erreichbar sein und in einem entsprechenden Verhältnis zu ihr stehen. Dafür ist aber Geist unabdingbar, der das Ziel ins Auge faßt und es abschätzt wie auch das Verhältnis zwischen dem Ziel und den Mitteln. Andernfalls hinge es vom Zufall ab, daß eine Tätigkeit ihr Ziel erreicht. Wenn der Intellekt sich auf ein Ziel ausrichtet, dann ist er freilich nur zuweilen mit demjenigen vereint, was die Tätigkeit oder die Bewegung ausführt, so etwa bei einem Menschen in Tätigkeit. Zuweilen aber ist der Intellekt von dem getrennt, was die Tätigkeit oder die Bewegung ausführt, so etwa bei einem Pfeil. Auf sein festgelegtes Ziel richtet sich dieser Pfeil nicht aufgrund eines Denkvermögens, das mit ihm selbst vereint wäre. Sondern er tut dies aufgrund des menschlichen Intellekts, der diesem Pfeil eine Ausrichtung gibt. Es ist jedoch unmöglich, daß das, was infolge einer Naturnotwendigkeit tätig ist, sich von selbst auf ein Ziel festlegt. Denn das, was sich von selbst ein Ziel setzt, ist von selbst tätig. Was von selbst tätig ist oder sich bewegt, an dem liegt es selbst – so Aristoteles im 8. Buch der Physik64 –, ob es tätig ist oder nicht bzw. 63 Der Name »Petrus Almalareus« taucht bei Thomas nur an dieser Stelle auf. Entweder verweist Thomas hier tatsächlich auf einen so benannten, heutzutage unbekannten Gelehrten oder aber auf Petrus Abaelardus, was aufgrund einer Ähnlichkeit beider Namen und der Möglichkeit ihrer Verwechslung, durch wen auch immer, wahrscheinlich ist. Der Herausgeber von »De potentia« in der Marietti-Ausgabe, Pession, hat auf eine entsprechende Stelle in Abaelards Introductio ad Theologiam aufmerksam gemacht, in der Abaelard die von Thomas verworfene These vertritt. Vgl. Petrus Abaelardus, Theologia ›Scholarum‹ (= Introductio ad Theologiam) III, 37 (CCCM 13, 515). 64 Aristoteles, Phys. VIII, 4; 255 a 7–9.

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ob es sich bewegt oder nicht. So etwas kann jedoch dem nicht zukommen, was sich aus Naturnotwendigkeit bewegt; denn dieses ist jeweils auf ein einziges Ziel hin festgelegt. Von daher muß all das, was infolge einer Notwendigkeit seiner Natur tätig ist, auf ein Ziel festgelegt sein durch etwas, was Intellekt hat. Deswegen behaupten die Philosophen, daß das Werk der Natur das Werk einer Intelligenz ist. Wenn also ein natürlicher Körper mit einem Intellekt vereint ist wie etwa beim Menschen, dann fügt sich die Natur dem Willen bei all denjenigen Tätigkeiten, denen der Intellekt ihr Ziel setzt. Dies zeigt sich etwa bei der Fortbewegung des Menschen. Bei all den Tätigkeiten, bei denen der Intellekt der Natur kein Ziel setzt, fügt sie sich dem Willen nicht, wie sich an der Tätigkeit der Verdauung und des Wachsens zeigt. Aus dem Gesagten läßt sich nun folgern: Was aus der Notwendigkeit seiner Natur tätig ist, kann unmöglich ein erstes Bewegendes sein; denn ihm setzt etwas anderes sein Ziel. Damit ist klar, daß Gott unmöglich aufgrund der Notwendigkeit seiner Natur tätig ist. Demnach ist der zuerst erwähnte Standpunkt vom Ansatz her falsch. Nun muß noch der zweite Standpunkt geprüft werden. Dazu ist Folgendes zu bemerken: Man spricht in einem doppelten Sinne davon, daß man etwas nicht kann. Einerseits meint man schlichtweg den Fall, daß ein Prinzip, welches für eine Tätigkeit unabdingbar ist,65 nicht zu dieser Tätigkeit führt; z. B. kann ein Mensch mit einem gebrochenen Bein nicht gehen. Andererseits meint man etwas, das unter einer bestimmten Voraussetzung unmöglich ist. Denn ist das Gegenteil von einer Tätigkeit der Fall, dann kann sich diese Tätigkeit nicht vollziehen; z. B. kann ich nicht gehen, solange ich sitze. Da jedoch, wie sich zeigen ließ, Gott tätig ist aufgrund seines Willens und seines Intellekts, so muß man bei ihm drei Prinzipien für seine Tätigkeit in Betracht ziehen, und zwar in erster Linie den Intellekt, dann den Willen und als drittes das Vermögen seiner Natur. Der Intellekt lenkt den Willen, der Wille seinerseits befiehlt dem Vermögen das, was es zur Ausführung bringt. Der Intellekt versetzt aber nur insofern in Bewegung, als er dem Willen vorlegt, was die65 aliquod principiorum, quod sit necessarium actioni V : aliquid principiorum, quod sit necessariam actioni M.

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ser begehren kann. Daher liegt es ganz am Willen, den Intellekt in Bewegung zu versetzen. Man spricht nun in zweifachem Sinne davon, daß Gott etwas an sich unmöglich ist. Einerseits in dem Fall, daß Gottes Vermögen sich darauf nicht erstreckt. So stellten wir ja bereits fest,66 daß Gott es nicht geschehen lassen kann, daß eine Bejahung und eine Verneinung zugleich wahr sind. Damit ist jedoch nicht gesagt, daß Gott nur das geschehen lassen kann, was er dann auch geschehen läßt, da sich Gottes Vermögen bekanntlich noch auf vieles andere erstrecken kann. – Daß Gott etwas an sich unmöglich ist, meint andererseits, daß dies kein Gegenstand des göttlichen Willens sein kann. Denn jeder Wille muß ein Ziel haben, das er von Natur aus will und dessen Gegenteil er nicht wollen kann. So will etwa der Mensch von Natur aus und mit Notwendigkeit die Glückseligkeit, sein Unglück kann er aber nicht wollen. Denn dadurch, daß der Wille notwendigerweise sein ihm wesensgemäßes Ziel will, will er auch mit Notwendigkeit dasjenige, ohne das er nicht das einmal ins Auge gefaßte Ziel erreichen kann, dasjenige also, was dem Ziel dienlich ist. So begehre ich etwa Nahrung, wenn ich mein Leben erhalten will. Dasjenige jedoch, ohne das man zum Ziel kommen kann, was also dem Ziel nicht dienlich ist, will der Wille mit Notwendigkeit nicht. Wesensgemäßes Ziel von Gottes Wille ist demnach seine Güte, die er unmöglich nicht wollen kann. Diesem Ziel sind nun die Geschöpfe nicht im dem Sinn dienlich, daß sich Gottes Güte nicht ohne sie offenbaren könnte, was ja der Zweck von Gottes Schöpfung ist. So offenbart sich zwar die göttliche Güte an den Dingen und an ihrer Ordnung, wie sie nun einmal bestehen. Doch genauso gut vermag sie sich an anderen und anders eingerichteten Geschöpfen zu offenbaren. Somit kann sich Gottes Wille – ohne eine Beeinträchtigung seiner Güte, Gerechtigkeit und Weisheit – auch noch auf anderes erstrecken als auf dasjenige, was er geschehen läßt. Und genau darin täuschten sich diejenigen, welche jenem Irrtum aufsaßen. Sie waren nämlich der Meinung, die Ordnung der Geschöpfe sei der göttlichen Güte derart dienlich, daß diese ohne jene Ordnung nicht bestehen könne. Es ist damit ersichtlich, daß Gott schlechterdings noch anderes geschehen 66 Vgl. De pot. q. 1 a. 3.

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lassen kann als dasjenige, was er hat geschehen lassen. Da aber Gott es nicht geschehen lassen kann, daß eine Bejahung und eine Verneinung zugleich wahr sind, so kann man unter dieser Voraussetzung behaupten, daß Gott nichts anderes geschehen lassen kann als dasjenige, was er hat geschehen lassen: Setzt man nämlich voraus, daß Gott nicht noch anderes geschehen lassen will bzw. daß er im voraus gewußt hat, er werde nicht noch anderes geschehen lassen, dann kann er nicht noch anderes geschehen lassen. Doch jenseits dieser Voraussetzung kann er dies sehr wohl. Zu 1. Die Aussage, daß Gott ausschließlich das geschehen lassen kann, was er nach seinem Vorauswissen geschehen lassen wird, ist doppeldeutig. Denn die hier ausgesagte Ausschließlichkeit läßt sich entweder auf das Können beziehen, das im Wort »kann« zum Ausdruck kommt, oder auf das Tätigsein, das in der Wendung »geschehen lassen« zum Ausdruck kommt. Im ersten Fall ist diese Aussage falsch. Denn Gott vermag weit mehr als das, von dem er im voraus weiß, daß er es geschehen lassen wird. In diesem Sinne verlief hier die Argumentation. Im zweiten Fall aber ist diese Aussage wahr; sie meint nämlich: Gott kann unmöglich etwas geschehen lassen, was er nicht im voraus gewußt hätte. Dieser Sinn trägt jedoch nichts zu dem Problem bei, das uns hier beschäftigt. Zu 2. Gott fällt unter keine Vergangenheit und Zukunft. Vielmehr ist alles, was in Gott ist, durch und durch ewige Gegenwart. Für Gott hat ein Zeitwort der Vergangenheit bzw. der Zukunft keine Aussagekraft oder höchstens von unserem menschlichen Standpunkt aus. Deshalb ist dieses Argument, das auf die Notwendigkeit eines vergangenen Geschehens abhebt, fehl am Platze. Darüber hinaus ist anzumerken, daß der Einwand zu dem uns beschäftigenden Problem nichts beiträgt. Denn nach Gottes Vorauswissen bemißt sich nicht sein Vermögen zu einem Geschehen, um das sich ja unsere Fragestellung dreht. Vielmehr bemißt sich, wie gerade erwähnt, nur das Tätigsein Gottes nach seinem Vorauswissen. Zu 3. Wer davon spricht, daß Gott infolge der Notwendigkeit seines Wesens tätig ist, stellt damit eine Behauptung auf, welche besagt, daß sich seine Tätigkeit nicht nur aufgrund der Unveränderlichkeit seines Wesens vollzieht, sondern auch aufgrund der Festlegung sei-

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nes Wesens auf ein Ziel hin. Die göttliche Weisheit ist jedoch nicht auf ein Ziel festgelegt, sondern sie bezieht sich auf vielerlei Wissbares. Daher ist der hier vorgenommene Vergleich schief. Zu 4. Christus konnte gar nicht die Absicht haben, die erwähnten lügnerischen Worte67 auszusprechen, wenn nicht seine Güte dies von vornherein so entschieden hätte. Doch tut dies hier nichts zur Sache, wie aus dem bereits Gesagten hervorgeht. Deswegen ist dieses Argument nicht stichhaltig. Zu 5. »Absolut« und »bedingt« werden dem göttlichen Vermögen nur aus unserer Perspektive zugesprochen. Betrachtet man dieses Vermögen als ein solches, d. h. als ein absolutes Können, so schreibt man ihm etwas zu, das man ihm nicht zuschreibt, sobald man es mit der Weisheit in Beziehung setzt und es als ein aus ihr kommendes Können bezeichnet. Zu 6. Gottes Vermögen hat niemals ohne seine Weisheit Bestand, jedoch können wir es unabhängig vom Begriff der Weisheit in Betracht ziehen. Zu 7. Gott hat all das geschehen lassen, was der Wirklichkeit nach gerecht ist, nicht aber all das, was der Möglichkeit nach gerecht ist. Er vermag nämlich etwas geschehen zu lassen, was zum jetzigen Zeitpunkt nicht gerecht ist, da es noch nicht Bestand hat. Wenn es Bestand hätte, so würde Gott es jedoch als etwas Gerechtes geschehen lassen. Zu 8. Gottes Güte vermag sich in einer Ordnung mitzuteilen, jedoch nicht bloß in derjenigen Ordnung, wie er die Dinge hervorbringt, sondern auch noch auf vielfältig andere Weise. Zu 9. Zwar will Gott nur das geschehen lassen, was er dann auch geschehen läßt. Gleichwohl kann er auch noch anderes wollen. Gott kann − im absoluten Sinne dieses Wortes − daher noch anderes geschehen lassen. Zu 10. Unter jenen Vernunftgründen versteht Dionysius solche, die überhaupt etwas ins Sein bringen und nicht bloß dasjenige, was zum jetzigen Zeitpunkt wirklich besteht. Zu 11. Hier geht es um die Frage, ob es in Gott eine Idee von dem gibt, was weder ist noch sein wird noch gewesen ist, was er aber ge67 Gemeint ist: »Ich kenne den Vater nicht«.

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schehen lassen kann. Dazu läßt sich offensichtlich Folgendes feststellen: Sofern es um eine Idee im vollen Sinne geht, d. h. darum, daß mit »Idee« eine kunstvoll hervorgebrachte Form gemeint ist, die der Intellekt nicht nur erdenkt, sondern die der Wille auch zur Ausführung bringt, dann gibt es in Gott für die erwähnten Dinge keine Idee. Sofern es aber um eine Idee im unvollständigen Sinne geht, insofern sie also vom Geist des Künstlers bloß erdacht ist, dann gibt es in Gott für die erwähnten Dinge eine Idee. Denn an einem kreatürlichen Künstler zeigt es sich, daß er bestimmte Werke im Geist entwirft, welche er niemals auszuführen gedenkt. Alles aber, was Gott denkt, ist in ihm zu Ende gedacht. Denn in ihm gibt es keinen Unterschied zwischen einem tatsächlichen Denkakt und einem Denkvermögen, über das man verfügt. Er weiß nämlich über sein Vermögen durch und durch Bescheid sowie über all das, was er kann. Daher verfügt Gott gewissermaßen über zu Ende gedachte Ideen für all das, was er ausführen kann. Zu 12. Das hier Angeführte ist so zu verstehen, daß Gott das nicht kann, was er nicht können will. Dies trägt nichts zu dem Problem bei, das uns hier beschäftigt. Zu 13. Zwar unterliegt Gott keiner Veränderung. Gleichwohl ist sein Wille bei dem, was geschehen soll, nicht auf ein einziges Ziel festgelegt. Deswegen hat Gott freie Entscheidungsgewalt. Zu 14. Der beste Grund, aus dem Gott alles geschehen läßt, ist seine Güte und seine Weisheit. Dies gälte auch dann, wenn er noch anderes bzw. wenn er etwas auf eine andere Weise geschehen ließe. Zu 15. Das, was Gott geschehen läßt, ist das Beste aufgrund seiner Hinordnung auf die göttliche Güte. Deswegen ist auch all das, was man nach Maßgabe der göttlichen Weisheit auf Gottes Güte hinordnen kann, das Beste.

6. Artik el Die sechste Frage lautet: Kann Gott das tun, was andere tun, also etwa sündigen, herumgehen und dergleichen? 68 Dies scheint der Fall zu sein; denn: 1. Augustinus sagt: Alles, was sich versündigen kann, ist besser als dasjenige, was sich nicht versündigen kann.69 Nun muß man Gott nur das Beste zusprechen. Also kann Gott sich versündigen. 2. Alles Lobenswerte darf man nicht von Gott fernhalten. Nun wird aber in Eccl. 31, 10 zum Lobe eines Menschen gesagt: »Er, der zwar sündigen konnte, aber nicht sündigte«. Also muß man von Gott sagen, daß er zwar sündigen kann, aber nicht sündigt. 3. Aristoteles sagt, daß Gott und ein weiser Mensch Übles tun können.70 Folglich kann Gott sich versündigen. 4. Wer auf eine Todsünde sinnt, hat sie bereits begangen. Wer aber zu einer Todsünde anstiftet, trachtet nach ihr; ja mehr noch: er ist es gewissermaßen, der sie in erster Linie begeht. Allem Anschein nach hat also Gott selbst eine Todsünde begangen, da er Abraham zu der Todsünde angestiftet hat, seinen unschuldigen Sohn zu töten; 71 ebenso Hosea, mit einer Dirne zu verkehren und Kinder zu zeugen; 72 ebenso Schimi, David zu verfluchen, wie aus 2 Sam. 16, 7 ersichtlich ist. Schimi war bekanntlich ein Sünder angesichts der über ihn verhängten Strafe, von der in 1 Kön. 2, 36–46 berichtet wird.73 5. Wer sich mit einem Todsünder gemein macht, begeht selbst eine Todsünde. Gott macht sich nun gemein mit einem Todsünder, denn er selbst wirkt in einer jeden wirkenden Tätigkeit und folglich in jedem, der eine Todsünde begeht. Also versündigt sich Gott. 68 Paralleltexte: Sum. theol. I, q. 25 a. 3 ad 2. ScG II, 25. Sent. I, d. 42 q. 2 a. 1. 69 Augustinus, Ench. XXVIII, 105 (CCSL 46, 106). 70 Aristoteles, Top. IV, 5; 126 a 35 f. 71 Vgl. Gen. 22, 1–19. 72 Vgl. Hos. 1, 2. – quod acciperet mulierem fornicariam P : quo acciperet mulierem fornicariam M. 73 Gemeint ist hier die biblische Erzählung von Schimis Ende: Schimi verstößt gegen Salomons Verbot, Jerusalem zu verlassen, und wird daraufhin hingerichtet.

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6. Augustinus sagt: Gott wirkt in den Herzen der Menschen, indem er ihren Willen wendet, wohin immer er will, sei es nun auf Gutes, sei es nun auf ein Übel.74 Nun ist es eine Sünde, den Willen des Menschen auf ein Übel zu wenden. Also versündigt sich Gott. 7. Der Mensch ist nach dem Bild Gottes geschaffen, wie aus Gen. 1, 26 ersichtlich ist. Was man nun in einem Abbild vorfindet, das läßt sich auch in dessen Urbild vorfinden. Der Wille des Menschen trachtet aber nach jedem Beliebigen – und damit auch der Wille Gottes. Also kann sich Gott versündigen oder auch nicht. 8. Was immer eine geringere Kraft vermag, das vermag auch eine stärkere Kraft. Nun kann der Mensch, dessen Kraft geringer ist als die göttliche Kraft, herumgehen, sich versündigen und dergleichen. Also kann dies auch Gott. 9. In dem Moment unterläßt man etwas, wenn man das Gute, das man tun kann, nicht tut. Nun könnte Gott viel Gutes geschehen lassen, was er dann aber nicht geschehen läßt. Also unterläßt er es und somit versündigt er sich. 10. Wer immer eine Sünde verhindern kann, sie aber nicht verhindert, begeht offenbar eine Sünde. Nun kann Gott alle Sünden verhindern. Wenn er sie also nicht verhindert, dann begeht er offenbar eine Sünde. 11. Nach Amos 3, 6 gibt es kein Übel unter den Menschen, das Gott nicht bewirkt hat. Damit kann jedoch kein als Strafe auferlegtes Übel gemeint sein, denn in Weish. 1,13 heißt es: »Gott hat den Tod nicht gemacht«. Also muß damit ein schuldhaftes Übel gemeint sein. Folglich ist Gott der Urheber des schuldhaften Übels. Dagegen spricht: 1. In Joh. 1, 5 heißt es: Gott ist Licht, und keine Finsternis ist in ihm. Nun sind Sünden geistige Finsternis. Also kann es in Gott keine Sünde geben. 2. Ein Herrscher ist nicht an seine eigenen Gesetze gebunden. Nun verstößt jede Sünde gegen das Gesetz Gottes, wie Augustinus sagt.75 Also kann Gott nicht an die Sünde gebunden sein. 74 Augustinus, De lib. arb. II, 22, 54, 202 (CCSL 29, 273). 75 Augustinus, Contra Faustum Manichaeum XXII, 27 (CSEL 25/1, 621 f.).

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Antwort: Wie bereits oben festgestellt,76 betrifft die Aussage, daß Gott etwas schlichtweg nicht kann, zwei Aspekte: einerseits seinen Willen, andererseits sein Können. Denn vom Willen her gesehen, kann ja Gott das nicht geschehen lassen, was er nicht auch wollen kann. Weil aber kein Wille das Gegenteil von dem wollen kann, was er seinem Wesen nach will, weil also etwa der menschliche Wille nicht das Unglück wollen kann, so ist es gewiß, daß der göttliche Wille nicht das Gegenteil der göttlichen Güte wollen kann, welche er seinem Wesen nach will. Nun stellt die Sünde eine Abweichung von der göttlichen Güte dar.77 Daher kann Gott nicht sündigen wollen. Deswegen muß man schlichtweg zugestehen, daß Gott nicht sündigen kann. Was nun das Vermögen anbelangt, so hat die Aussage, daß Gott etwas nicht kann, zwei Aspekte: einerseits das Können als solches, andererseits das, was möglich ist. Weil nun Gottes Können als solches unbegrenzt ist, so ist offensichtlich an dem, was zu diesem Können gehört, kein Mangel. Es gibt nun manches, das dem sprachlichen Ausdruck nach ein Können bezeichnet, der Sache nach aber einen Mangel an Vermögen darstellt. So gibt es ja zahlreiche Verneinungen, die in der sprachlichen Form einer Bejahung auftreten. Die Aussage, daß etwas mangelhaft sein kann, meint nach ihrer Ausdrucksweise scheinbar ein bestimmtes Können, obwohl sie doch eher einen Mangel an Vermögen meint. Und deswegen ist nach Aristoteles78 ein Können dann vollkommen, wenn es so etwas nicht vermag. Denn wie derartige Bejahungen79 einen negativen Sachgehalt haben, so haben ihre Verneinungen80 einen positiven Sachgehalt. Deswegen sprechen wir davon, daß Gott keinen Mangel aufweisen kann, daß er folglich keiner Bewegung unterliegen kann – »Bewegung« und »Mangel« meinen ja eine Unvollkommenheit – und daß Gott somit nicht herumgehen kann und auch keine anderen körper76 Vgl. De pot. q. 1 a. 5. 77 Peccatum autem est deflexus quidam a divina bonitate V : Peccatum

autem est defectus quidam a divina bonitate M. 78 Aristoteles, Met. V, 12; 1019 a 28 ff.; V, 16; 1021 b 11 ff. 79 Im Beispiel gesprochen: »mangelhaft sein können«. 80 Im Beispiel gesprochen: »nicht mangelhaft sein können«.

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lichen Tätigkeiten ausführen kann, welche sich nicht ohne Bewegung vollziehen. Was nun das anbelangt, was möglich ist, so spricht man dann davon, daß Gott etwas nicht geschehen lassen kann, wenn diese Redeweise einen kontradiktorischen Widerspruch impliziert. Dies ist aus dem im 5. Artikel Besprochenen klar. In diesem Sinne spricht man davon, daß Gott keinen weiteren Gott erschaffen kann, der ihm gleichkommt. Denn der kontradiktorische Widerspruch besteht hier darin, daß etwas Erschaffenes in irgendeiner Weise ein potentielles Sein haben muß, weil es sein Sein von einem anderen empfängt, und es somit unmöglich reine Wirklichkeit ist, was für Gott selbst eigentümlich ist. Zu 1. Dieser Vergleich gilt nicht für alles und jedes, sondern betrifft nur die Menschen und die vernunftlosen Tiere. Zu 2. Was zum Lobe des Menschen gesagt wird, eignet sich nicht immer zum Lob Gottes. Ja, es wäre blasphemisch, wenn man etwa behauptete, daß Gott Reue zeige oder etwas in der Art. Denn nach Dionysius kann man an einem niederen Wesen das loben, was bei einem höheren Wesen eine Verhöhnung wäre.81 Zu 3. Bei dem hier angeführten Satz des Aristoteles ist eine Bedingung zu berücksichtigen: der Wille. Denn folgender Bedingungssatz ist wahr: Gott kann Übles geschehen lassen, wenn er dies auch will. Denn nichts spricht dagegen, daß ein Bedingungsverhältnis auch dann wahr bleibt, wenn der Vordersatz und der Folgesatz Unmögliches zum Ausdruck bringen. Dies wird etwa an folgendem Satz ersichtlich: Wenn der Mensch fliegt, dann hat er Flügel. Zu 4. Nichts spricht dagegen, daß eine Tat, die als solche eine Todsünde wäre, unter bestimmten Umständen zu einer guten Tat wird. Die Tötung eines Menschen ist an sich eine Todsünde. Daß aber ein Gerichtsdiener einen Menschen tötet, um auf Geheiß eines Richters Gerechtigkeit walten zu lassen, das ist keine Todsünde, sondern ein Akt der Gerechtigkeit. Wie aber der Herrscher eines Staates Verfügungsgewalt hat über Tod und Leben seiner Untertanen sowie über all das, was dem Ziel seiner Herrschaft, nämlich der 81 Vgl. Dionysius Areopagita, De div. nom. IV, 25 (Dion. I, 286 f.).

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Gerechtigkeit, dient, so steht es in Gottes Verfügungsgewalt, alles auf das Ziel seiner Herrschaft hin, d. h. nach seiner Güte, zu lenken. Somit kann zwar die Tötung des unschuldigen Sohnes an sich eine Todsünde sein. Wenn dies aber auf Gottes Geheiß hin geschieht um eines Zieles willen, das Gott vorhersieht und so eingerichtet hat und von dem der Mensch keine Ahnung zu haben braucht, dann ist dies keine Todsünde, sondern eine gute Tat. Gleiches läßt sich auch zu dem unzüchtigen Treiben von Hosea sagen. Denn es ist klar, daß die gesamte menschliche Fortpflanzung der göttlichen Ordnung unterliegt. Doch behaupten manche, daß dieses Treiben gar nicht wirklich so vorgefallen sei, sondern eine Vision des Propheten sei. Der Befehl, der an Schimi erging, ist aber anders zu verstehen. Denn wenn von Gott ein Befehl ergeht, geschieht dies auf zweierlei Weise. Einmal so, daß Gott entweder innerlich oder leibhaftig in einer kreatürlichen Substanz spricht; auf diese Weise erging an Abraham und die Propheten ein Befehl. Das andere Mal so, daß Gott eine Neigung hervorruft. So heißt es etwa in Jona 4, 7, daß Gott einem Wurm befohlen habe, die Rhizinusstaude anzufressen. Auf diese Weise gebot er auch Schimi, David zu verfluchen, indem er in dessen Herz eine Neigung hervorrief, und zwar in einer Weise, auf die wir noch unten in unseren Feststellungen zum sechsten Argument zu sprechen kommen. Zu 5. Insofern eine sündhafte Tat Sein und Wirklichkeit hat, verdankt sie dies Gott als ihrer Ursache. Insofern aber diese Tat die Mißgestalt einer Sünde hat, verdankt sich dies einer freien Entscheidung und nicht Gott. So verdankt sich ja auch alles, was einen hinkenden Gang zu einer Fortbewegung macht, dem Gehvermögen; die schleppende Art dieser Fortbewegung liegt jedoch an der Verunstaltung der Beine. Zu 6. Die Rede davon, daß Gott den Willen des Menschen zu etwas Bösem hinwende,82 meint nicht, daß Gott ihm das Böse eingibt bzw. ihn zum Bösen bewegt, sondern daß er das Böse zuläßt und es seiner Ordnung unterwirft. So läßt Gott etwa auch diejenigen, die

82 Deus non dicitur inclinare voluntates hominum in malum P : Deus non dicitur inclinari voluntates hominum in malum M.

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eine Gewaltanwendung beschließen, sie gegen solche Leute anwenden, die es nach seinem Urteil verdient haben. Zu 7. Der Mensch ist zwar nach dem Bilde Gottes geschaffen. Aber deswegen trifft nicht unbedingt alles, was für den Menschen gilt, auf Gott zu. Gleichwohl gilt für unseren Zusammenhang: Gottes Wille richtet sich auf alles Beliebige, da er nicht auf einen einzigen Gegenstand festgelegt ist. Denn er kann etwas geschehen lassen oder nicht bzw. dieses oder jenes geschehen lassen. Doch folgt daraus nicht, daß der göttliche Wille irgend etwas davon auf böse Weise geschehen lassen könnte, d. h. daß er sich versündigen könnte. Zu 8. Dieses Argument gilt für diejenigen Tätigkeiten, die dem Vollbesitz eines Vermögens entspringen, nicht aber für diejenigen, die dem Mangel an einem Vermögen geschuldet sind. Zu 9. Zwar könnte Gott vieles Gute geschehen lassen. Wenn er dies dann nicht tut, ist dies gleichwohl keine Unterlassung. Denn er ist ja nicht dazu verpflichtet, dies auch geschehen lassen. Eine solche Verpflichtung ist aber für den Begriff der Unterlassung unabdingbar. Zu 10. Das Gleiche ist auch hier zu sagen. Denn man macht sich keiner Sünde schuldig, wenn man keine Sünde verhindert, außer in dem Fall, wo man dazu verpflichtet ist, sie zu verhindern. Zu 11. Die Stelle aus Amos meint ein als Strafe auferlegtes Übel. Die Stelle Weish. 1, 13, daß Gott den Tod nicht gemacht hat, spricht aber den Grund für den Tod an: Mit ihm wurde die Sünde vergolten. Oder diese Stelle spielt auf die ursprüngliche Einrichtung der Natur an, mit der Gott den Menschen als ein auf seine Weise unsterbliches Wesen geschaffen hat.

7. Artik el Die siebte Frage lautet: Aus welchem Grund kann man Gott allmächtig nennen? 83 Offensichtlich nennt man ihn aus dem Grund allmächtig, weil er schlichtweg alles vermag; denn: 1. Gott nennt man gleichermaßen allmächtig und allwissend. Nun nennt man Gott allwissend, weil er schlechthin alles weiß. Also nennt man ihn auch allmächtig, weil er schlichtweg alles vermag. 2. Angenommen, Gott wäre nicht deshalb allmächtig, weil er schlichtweg alles vermag, dann beanspruchte die Rede von seiner Allmacht keine absolute, sondern nur bedingte Geltung. Ein derartiger Geltungsanspruch bezieht sich aber nicht auf alles, sondern nur auf Bestimmtes. Damit wäre das göttliche Vermögen auf etwas eingeschränkt und nicht unbegrenzt. Dagegen spricht: Wie im dritten und fünften Artikel ausgeführt, kann Gott es nicht geschehen lassen, daß eine Bejahung und eine Verneinung zugleich wahr sind; ebensowenig kann er sich versündigen oder sterben. Eben dieses würde aber jene Aussage zugestehen, wenn sie absolute Geltung beanspruchte. Also darf man sie nicht im absoluten Sinne verstehen. Somit kann Gott nicht aus dem Grund allmächtig genannt werden, weil er schlichtweg alles vermag. 3. Zweitens84 nennt man Gott offensichtlich aus dem Grunde allmächtig, weil er all das vermag, was er auch will. Denn Augustinus sagt in seinem Enchiridion:85 Einzig deshalb heißt er allmächtig, weil er vermag, was immer er will. Dagegen spricht: In der Macht der Seligen steht, was immer sie wollen. Andernfalls 83 Paralleltexte: Sum. theol. I, q. 25 a. 3. ScG II, 22; 25; III, q. 13 a. 1. Sent. I, d. 42 q. 2 a. 2. Sent. III, d. 1 q. 2 a. 3. De pot. q. 5 a. 3. Quodl. III, q. 1 a. 1; V, q. 2 a. 1; XII, q. 2 a. 1. In Eth. VI, 2. 84 Item videtur V : Idem videtur M. 85 Augustinus, Ench. XXIV, 96 (CCSL 46, 101).

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wäre ihr Wille nicht vollendet. Trotzdem nennt man sie nicht allmächtig. Somit ist die Allmacht nicht hinreichend dadurch begründet, daß Gott vermag, was immer er will. Der Weise will nicht das Unmögliche. Daher will jeder Weise nur das, was auch in seiner Macht steht. Gleichwohl ist nicht jeder Weise auch allmächtig. Also gilt dasselbe wie vorhin. 4. Drittens86 nennt man Gott offensichtlich aus dem Grunde allmächtig, weil er all das vermag, was möglich ist. Denn man nennt Gott allwissend, weil er alles Wissbare weiß. Mit gleichem Recht nennt man ihn allmächtig, weil er alles, was möglich ist, vermag. Dagegen spricht: Wenn man Gott allmächtig nennt, weil er alles vermag, was möglich ist, dann heißt dies entweder: weil es alles vermag, was ihm möglich ist; oder: weil er alles vermag, was naturmöglich ist. Wenn letzteres gilt, dann geht Gottes Allmacht nicht über das Vermögen der Natur hinaus. Das aber ist absurd. Wenn ersteres gilt, dann könnte man jeden beliebigen Menschen allmächtig nennen, da ja jeder beliebige Mensch all das vermag, was ihm möglich ist. 5. Aus welchem Grund nennt man Gott allmächtig und allwissend, nicht aber allwollend? Antwort: Einige, die den Begriff der Allmacht bestimmen wollten, führten manches an, was keine begriffliche Bestimmung der Allmacht abgibt, sondern eher bestimmende Momente für die Allmacht liefert: Bemerkungen zum Vollbesitz der Allmacht oder zum Begriff des Vermögens oder aber zu der Art, wie Gott sein Können zu eigen ist. So behaupteten einige, daß Gott deswegen allmächtig sei, weil er ein unbegrenztes Vermögen habe. Diese Leute gaben aber keine begriffliche Bestimmung, sondern führten ein bestimmendes Moment für die Allmacht an – also etwa in der Art, wie der vernünftige Seelenteil ein bestimmendes Moment, aber keine Definition des Menschen abgibt. Andere aber nannten Gott deswegen 86 Item videtur V : Idem videtur M.

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allmächtig, weil er keine Einwirkung und keinen Mangel erleiden könne und weil so etwas ebensowenig in Gott sein könne wie noch anderes, was sich auf den Vollbesitz seines Könnens bezieht. Wieder andere behaupteten, daß Gott deswegen allmächtig sei, weil er das könne, was immer er wolle, und so etwas habe Gott von sich und durch sich. Dies bezieht sich aber auf die Art, wie ihm sein Können zu eigen ist. All diese Begriffsbestimmungen sind nun deswegen unzureichend, weil sie eine Bestimmung übergehen, die in der Allmacht impliziert ist: das tätige Einwirken auf einen Gegenstand. Daher ist festzuhalten: Wir lassen nur diejenige von den drei, in den Argumenten vorgebrachten Begründungsweisen gelten, welche diesen Gegenstandsbezug berücksichtigt. Also muß man wie schon vorhin betonen, daß sich Gottes Vermögen als solches auf all das erstreckt, was keinen kontradiktorischen Widerspruch impliziert. Bereits solche Beispiele, die von einem Mangel oder einer körperhaften Bewegung ausgehen, sind hier unangebracht. Denn so etwas zu können, heißt für Gott: es nicht zu können. Was vollends einen kontradiktorischen Widerspruch beinhaltet, das steht nicht in Gottes Macht. Denn es ist ja an sich unmöglich. Es bleibt also übrig, daß Gottes Können als solches sich auf das erstreckt, was an sich möglich ist, was also keinen kontradiktorischen Widerspruch beinhaltet. Somit steht also fest, daß Gott deswegen allmächtig ist, weil er all das vermag, was an sich möglich ist. Zu 1. Man nennt Gott allwissend, weil er alles weiß. Das Falsche jedoch, von dem es kein Wissen geben kann, kann auch Gott nicht wissen. Wie sich nun das Falsche zum Wissen verhält, so verhält sich auch das an sich Unmögliche zum Können. Zu 2. Dieses Argument wäre stichhaltig, wenn man den Geltungsanspruch auf einen bestimmten Bereich des Möglichen begrenzte, und zwar so, daß sich die Geltung nicht auf alles, was insgesamt möglich ist, erstreckt. Zu 3. Zu dem zweiten angeführten Begriff von Allmacht ist zu bemerken: Daß Gott geschehen lassen kann, was immer er will, ist keine ausreichende Begriffbestimmung der Allmacht, sondern ist

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als eines ihrer Merkmale ausreichend. In diesem Sinne ist der Satz von Augustinus zu verstehen. Zu 4. Zu dem, was in der dritten Begriffsbestimmung vorgebracht wird, ist festzustellen: Man nennt Gott deswegen allmächtig, weil er alles vermag, was an sich möglich ist. Deswegen hebt der Einwand zu Unrecht auf das ab, was Gott bzw. was in der Natur möglich ist. Zu 5. Zu der zuletzt aufgeworfenen Frage ist festzuhalten: Nach dem 9. Buch der Metaphysik87 ist es bei willentlich ausgeführten Tätigkeiten der Wille, der ein Können und ein Wissen zu ihrer Verwirklichung bringt. Daher kann man sagen, Gottes Vermögen und sein Wissen seien überhaupt nicht festgelegt; und so spricht man denn auch von Gott als dem Allwissenden und Allmächtigen. Doch der Wille, der sich festlegt, kann sich nicht für alles entscheiden, sondern nur für das, woraufhin er das Vermögen und das Wissen lenkt. Daher kann man Gott nicht als allwollend bezeichnen.

87 Aristoteles, Met. IX, 2. 1046 a 36 ff. IX, 5; 1047 b 35 ff.

II. DAS ZEUGUNGSVERMÖGEN IN DER GOTTHEIT 1

Die hier behandelten Fragen lauten: 1. Liegt in der Gottheit ein Zeugungsvermögen? 2. Gehört das Zeugungsvermögen zum Wesen der Gottheit oder ist es ein personales Unterscheidungsmerkmal? 3. Geht das göttliche Zeugungsvermögen auf Geheiß des Willens in den Zeugungsakt über? 4. Kann es in der Gottheit mehrere Söhne geben? 5. Ist Gottes Zeugungsvermögen Bestandteil seiner Allmacht? 6. Ist das Zeugungsvermögen mit dem Schöpfungsvermögen identisch?

1. Artik el Die erste Frage lautet: Liegt in der Gottheit ein Zeugungsvermögen? 2 Dies scheint nicht der Fall zu sein; denn: 1. Ein jedes Vermögen ist entweder ein aktives oder ein passives. Nun kann es in der Gottheit kein passives Vermögen geben. Ebensowenig aber kann in ihr das Zeugungsvermögen ein aktives sein, denn sonst wäre der Sohn das Resultat einer Tätigkeit und erschaffen – was nicht dem Glauben entspricht. Folglich gibt es in der Gottheit kein Zeugungsvermögen. 2. Nach Aristoteles3 kann das tätig sein, was über ein Vermögen verfügt. Nun geht in der Gottheit keine Zeugung vonstatten. Folg1 Da es in der folgenden Quaestio um das Verhältnis des Einen göttlichen Wesens (deitas) zu den drei göttlichen Personen geht, wird die pluralische Standardwendung »in divinis« zur Kennzeichnung von Gottes Trinitätscharakter mit »Gottheit« wiedergegeben. 2 Paralleltexte: Sum. theol. I, q. 27 a. 2; q. 41 a. 4. Sent. I, d. 7 q. 1 a. 1. 3 Aristoteles, De Somno 1; 454 a 8.

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lich gibt es in ihr auch kein Vermögen zur Zeugung. Der Untersatz4 läßt sich so beweisen: Wo immer eine Zeugung vonstatten geht, da erfolgt die Weitergabe sowie der Empfang einer Wesensform. Da nun der Empfang einer Wesensform mit der Materie bzw. mit einem passiven Vermögen zu tun hat und da so etwas in der Gottheit nicht liegt, so kann Gott der Empfang einer Wesensform nicht zukommen. Folglich geht in der Gottheit keine Zeugung vonstatten. 3. Der Zeugende muß sich vom Gezeugten unterscheiden. Dies gilt jedoch nicht für das, was der Zeugende an das Gezeugte weitergibt, denn dies ist es ja, worin sie übereinstimmen. Also muß es im Gezeugten noch etwas anderes geben, und zwar neben dem, was an das Gezeugte bei der Zeugung weitergegeben wird. Somit muß wohl jedes Gezeugte zusammengesetzt sein. In der Gottheit gibt es jedoch keine Zusammensetzung. Folglich kann Gott nicht gezeugt sein. Demnach geht ihn ihm keine Zeugung vonstatten. Und damit gilt das Gleiche wie oben. 4. Man kann Gott nichts zusprechen, was unvollendet ist. Nun ist ein jedes – sowohl ein aktives als auch ein passives – Vermögen im Hinblick auf seine Verwirklichung noch unvollendet. Folglich kann man Gott kein Zeugungsvermögen zuschreiben. 5. Man wird nun einwenden: Das gerade Angeführte gilt nur für ein Vermögen, das nicht zu seiner Verwirklichung kommen kann. – Dem ist zu erwidern: Alles, was in etwas anderem zu seiner Vollendung kommt, ist weniger vollendet als das, in dem es zu seiner Vollendung kommt. Nun vollendet sich ein Vermögen, das zur Verwirklichung kommen kann, in seiner Verwirklichung. Die Verwirklichung ist somit in höherem Maß vollendet als ein Vermögen. Somit ist auch ein Vermögen, das zur Verwirklichung kommen kann, im Vergleich zu seiner Verwirklichung unvollendet. 6. Gottes Wesen ist in seinem Tätigsein wirksamer als ein erschaffenes Wesen. Nun findet sich unter den Geschöpfen manch ein Wesen, das nicht vermittels eines Vermögens, sondern von sich aus wirkt: So erfüllt etwa die Sonne die Luft mit Licht bzw. die Seele den Körper mit Leben. Erst recht gilt daher, daß Gottes Wesen nicht aufgrund eines Vermögens, sondern von sich aus das Prinzip der 4 D. h. der Satz, daß in der Gottheit keine Zeugung vonstatten geht.

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Zeugung ist. Somit kommt für Gott ein Zeugungsvermögen nicht in Betracht. 7. Entweder ist das Zeugungsvermögen ein Merkmal für Höherrangigkeit oder es ist ein Merkmal für Niederrangigkeit. Ein Merkmal für Höherrangigkeit kann es jedoch nicht sein, da sonst das Zeugungsvermögen bei den höher stehenden Geschöpfen größer wäre als bei den niederen, also etwa bei den Engeln und Himmelskörpern größer bzw. ausgeprägter wäre als bei den Tieren und Pflanzen. Demnach ist es ein Merkmal für Niederrangigkeit, und somit kommt für Gott ein Zeugungsvermögen nicht in Betracht. 8. Bei den Dingen von niederem Rang tritt das Zeugungsvermögen in zweifacher Gestalt auf: einerseits als ein vollständig entwikkeltes, wie etwa bei dem, dessen Erzeugung über den Geschlechtsverkehr erfolgt; andererseits als ein unvollständig entwickeltes Zeugungsvermögen, das ohne Geschlechtsverkehr auskommt, wie dies bei den Pflanzen der Fall ist. Weil man nun Gott ein vollständig entwickeltes Zeugungsvermögen nicht zuschreibt – man kann ja für die Gottheit keinen Geschlechtsverkehr annehmen –, so gibt es in ihm offensichtlich überhaupt keine Zeugungskraft. 9. Ein Vermögen erstreckt sich nur auf das Mögliche. Man spricht ja von einem Vermögen im Hinblick auf das Mögliche. Angesichts der Gottheit ist jedoch eine Zeugung weder etwas Mögliches noch etwas Kontingentes; vielmehr muß sie etwas Ewiges sein. Berücksichtigt man dies, so kann man also nicht von einem Vermögen in der Gottheit sprechen. Somit gibt es in ihr kein Zeugungsvermögen. 10. Da Gottes Vermögen unbegrenzt ist, beschränkt es sich weder auf eine Tätigkeit noch auf einen Gegenstand. Wenn nun in Gott ein Zeugungsvermögen liegen würde, dann würde Gottes Tätigkeit in der Zeugung bestehen, deren Resultat aber ein Sohn sein. Somit würde sich das Vermögen von Gottvater nicht bloß auf die Zeugung eines einzigen Sohnes beschränken, sondern sich auf viele Söhne erstrecken. Dies ist aber abwegig. 11. Wenn, wie Avicenna sagt,5 ein Ding etwas an sich hat, das sich ausschließlich einem anderen verdankt, so kommt diesem Ding 5 Avicenna, Met. I, 6 (Avicenna Latinus 3, ed. Van Riet, 44).

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als solchem das Gegenteil von dem zu, was es vom diesem anderen empfängt. So wird etwa die Luft durch etwas anderes hell, als solche aber ist sie dunkel. Insofern erhalten alle Geschöpfe ihr Sein, ihre Wahrheit und Notwendigkeit von einem anderen, von sich her aber sind sie nichtseiend, unwahr und unvermögend. So etwas kann nun nicht für die Gottheit gelten. Folglich kann in ihr niemand sein, der sein Sein ausschließlich von einem anderen erhielte. Somit kann es in ihr niemanden geben, der gezeugt wird, und mithin kann es in ihr weder eine Zeugung noch ein Zeugungsvermögen geben. 12. In der Gottheit hat der Sohn nur das, was er vom Vater empfängt. Andernfalls hieße dies, daß es in der Gottheit eine Zusammensetzung gäbe. Nun empfängt der Sohn vom Vater sein Wesen. Folglich ist im Sohn nur das Wesen. Wenn also in der Gottheit eine Zeugung erfolgte bzw. wenn der Sohn gezeugt wäre, dann müßte sein Wesen erzeugt sein. Das ist aber falsch, weil sonst bei der Gottheit ein Unterschied im Wesen bestünde. 13. Wenn in der Gottheit der Vater der Zeugende ist, so muß er dies aufgrund seines Wesens sein. Vater, Sohn und Heiliger Geist sind aber wesenseins. Somit werden auch der Sohn und der Heilige Geist zeugen können. Dies widerspricht aber den Glaubenslehren. 14. Das Wesen, das in beständiger und vollendeter Weise an einem einzigen Träger auftritt, teilt sich keinem anderen Träger mit. Nun tritt das göttliche Wesen am Vater in beständiger und vollendeter Weise auf, da es unvergänglich ist. Folglich teilt es sich keinem anderen Träger mit. Somit gibt es in der Gottheit keine Zeugung. 15. Die Zeugung ist eine Art von Veränderung. In der Gottheit gibt es aber keine Veränderung, somit auch keine Zeugung und mithin kein Zeugungsvermögen. Dagegen spricht: 1. Nach Aristoteles6 ist etwas dann vollkommen, wenn es etwas von seinesgleichen zeugen kann. Nun ist der Vater vollkommen. Also kann er einen anderen von seinesgleichen zeugen und somit kann er den Sohn zeugen.

6 Aristoteles, Meteor. IV, 3; 380 a 13–15.

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2. Augustinus sagt: 7 Wenn der Vater nicht hätte zeugen können, so wäre er unvermögend gewesen. Nun liegt in Gott keinerlei Unvermögen. Also konnte Gott zeugen, und somit hat er ein Zeugungsvermögen. Antwort: Das Wesen einer jeden Tätigkeit besteht darin, sich selbst soweit wie möglich mitzuteilen. Von daher ist alles, was tätig ist, nach der Maßgabe tätig, daß es am Werke ist. Tätig zu sein bedeutet aber nichts anderes als dasjenige so weit wie möglich mitzuteilen, wodurch ein Tätiges in Tätigkeit ist. Das göttliche Wesen ist nun höchstes und reinstes Tätigsein. Daher teilt es sich selbst soweit wie möglich mit. Den Geschöpfen teilt es sich selbstverständlich nur in Form einer Ähnlichkeit mit. Denn ein jedes Geschöpf ist ein Seiendes nur aufgrund seiner Ähnlichkeit mit dem göttlichen Wesen. Nun kennt der christliche Glaube auch noch eine andere Art der Selbstmitteilung, bei der sich das göttliche Wesen sozusagen über eine natürliche Mitteilung mitteilt: Denn wie derjenige, dem das Menschsein zuteil wird, Mensch ist, so ist auch derjenige, dem die Göttlichkeit zuteil wird, nicht bloß gottähnlich, sondern wahrhaft Gott. In diesem Zusammenhang sollte man beachten, daß sich die göttliche Natur von den Formen, welche sich an einer Materie ausprägen, in zweifacher Weise unterscheidet: Erstens dadurch, daß die in der Materie sich ausprägenden Formen nicht für sich selbst bestehen; daher ist die menschliche Natur in einem Menschen nicht identisch mit diesem konkret bestehenden Menschen. Die göttliche Natur ist jedoch identisch mit Gott, daher besteht die göttliche Natur für sich selbst. Der zweite Unterscheid besteht darin, daß keine erschaffene Form oder Natur ihr eigenes Sein ist. Gottes Sein selbst ist aber sein Wesen und seine Washeit. Daher lautet auch sein Eigenname »Der ist«, wie es in Ex. 3,14 heißt; denn hierbei wird Gottes Name gewissermaßen von der ihm eigenen Form abgeleitet. Da also im Bereich der niederen Dinge keine Form für sich selbst besteht, so braucht es bei demjenigen, dem eine Form zuteil wird, 7 Augustinus, Contra Maximinum Arianorum Episcopum II, 7 (PL 42, col. 762).

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noch etwas, wodurch diese Form bzw. diese Natur Bestand erhält: Dies ist die Materie, die den sich in der Materie ausprägenden, natürlichen Formen zugrunde liegt. Weil aber eine sich in der Materie ausprägende Natur oder Form nicht ihr Sein ist, erhält sie ihr Sein dadurch, daß sie sich an etwas anderem ausprägt. Angesichts der Tatsache also, daß sich eine Form in Verschiedenem ausprägt, hat sie unvermeidlich ein jeweils verschiedenes Sein. Daher ist die menschliche Natur von ihrem Sein her gesehen in Sokrates und in Platon nicht ein und dieselbe. Gleichwohl ist die menschliche Natur als eine einheitliche Begriffsbestimmung bei beiden dieselbe. Weil aber die göttliche Natur für sich selbst besteht, braucht es für die Mitteilung der göttlichen Natur kein materiales Etwas, durch das sie erst ihren Bestand erhielte. Daher wird die göttliche Natur nicht von einem materialen Etwas aufgenommen, so daß dann auch das, was durch sie gezeugt wird, aus Materie und Form zusammengesetzt wäre. Weil zudem das göttliche Wesen sein Sein ist, erhält es das Sein nicht durch diejenigen Träger, in denen es liegt. Daher liegt das Sein als das Eine und als das Selbe sowohl in dem, der die Mitteilung zuteil werden läßt, als auch in dem, dem die Mitteilung zuteil wird. In jedem von diesen bleibt somit das göttliche Wesen zahlenmäßig dasselbe. Das treffendste Beispiel für eine solche Mitteilung stellt die Tätigkeit des Intellekts dar. Denn das göttliche Wesen ist selbst von geistiger Natur und daher offenbart es sich in erster Linie anhand von Beispielen, die den geistigen Bereich betreffen. Wenn also unser Intellekt an einem Ding, das außerhalb unseres Geistes Bestand hat, dessen Wesen erfaßt, dann geht eine bestimmte Mitteilung von diesem für sich bestehenden Ding aus: Unser Intellekt empfängt von diesem außerhalb unseres Geistes bestehenden Ding auf eine bestimmte Weise dessen Form. Diese geistig erfaßbare Form, die sich in unserem Intellekt befindet, tritt aber in gewisser Weise an dem extramentalen Ding hervor. Weil nun das extramentale Ding sich vom Wesen des Erkennenden unterscheidet, so sind das Sein der geistig erfaßten Form und das Sein des Dinges, das als solches besteht, ein jeweils anderes.8 8 aliud est esse formae intellectu comprehensae P : aliud est esse formae intellectus comprehensae M.

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Wenn aber unser Intellekt seiner eigenen Washeit inne wird, dann gibt es auch in diesem Fall zwei Seiten. Denn auch hier gelangt eine geistig erfaßte Form in den Intellekt, sobald der Intellekt diese Form ins Auge faßt. Zudem ist hier eine gewisse Einheit gewahrt zwischen der geistig erfaßten Form, welche hervortritt, und dem Ding, an dem die Form hervortritt. Ein geistiges Sein weisen nämlich beide Momente auf: einerseits der Intellekt und andererseits die geistig erfaßbare Form, welche man als geistiges Wort bezeichnet. Weil aber unser Intellekt wesensmäßig nicht in einem vollkommenen Akt von Geistigkeit am Werke ist, so ist das menschliche Erkennen auch nicht mit dem Wesen des Menschen identisch. Die Folge davon ist, daß das besagte geistige Wort zwar im Intellekt liegt und diesem in gewisser Weise gleichförmig ist, daß es aber mit dem Wesen des Intellekts selbst nicht identisch ist, sondern etwas ihm Ähnliches zum Ausdruck bringt. Wird nun eine solche geistig erkennbare Form erfaßt, dann teilt sich dabei auch nicht das Wesen des Menschen mit, so daß man hier eigentlich nicht von einer Zeugung im Sinne einer Weitergabe des Wesens sprechen kann. Wenn unser Intellekt seiner selbst inne wird, dann befindet sich in ihm das Wort, das bei seinem Hervortreten eine Ähnlichkeit mit dem hat, an dem es hervortritt. Genauso befindet sich in der Gottheit das Wort, welches eine Ähnlichkeit mit dem aufweist, an dem es hervortritt. In seinem Hervortreten übertrifft das göttliche Wort in zweifacher Hinsicht das Hervortreten des menschlichen Wortes. Erstens darin, daß, wie erwähnt, das menschliche Wort sich vom Wesen unseres Intellekts unterscheidet. Der göttliche Intellekt ist aber wesensmäßig in einem vollendeten Akt von Geistigkeit am Werke und somit kann er keine geistig erfaßbare Form in sich aufnehmen, die nicht seines Wesens wäre. Sein Wort ist deshalb mit seinem Intellekt wesenseins, wie das göttliche Wesen seinerseits Geist ist. Und deshalb ist hier eine Mitteilung, die auf geistigem Wege erfolgt, auch eine Mitteilung des Wesens, so daß man hier von einer Zeugung sprechen kann. In diesem zweiten Punkt geht Gottes Wort über das Hervortreten des menschlichen Wortes hinaus. So denkt auch Augustinus diese Art von Zeugung.9 9 Augustinus, De trin. XV, 13, 22−14, 23 (CCSL 50 A, 494–497).

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Von der Gottheit sprechen wir aber, wie es unsere menschliche Art ist; und diese Sprechweise gewinnt unser Intellekt aus den niederen Dingen, über die er ein Wissen erlangt. Wie man nämlich einem bestimmten niederen Ding ein Tätigsein zuspricht, so spricht man ihm mit dem Wort »Vermögen« ein Prinzip für sein Tätigsein zu. Genauso verfährt man auch angesichts der Gottheit, obgleich es in Gott keinen Unterschied zwischen einem Vermögen und einem Tätigsein wie bei den erschaffenen Dingen gibt. Behauptet man daher von Gott eine Zeugung, mit der man eine Art von Tätigsein meint, so muß man bei ihm auch ein Vermögen zur Zeugung bzw. ein zeugendes Vermögen einräumen. Zu 1. Ein Vermögen, das man Gott zuschreibt, ist im eigentlichen Sinn weder ein aktives noch ein passives. Denn an Gott treten weder ein Tätigsein noch ein Erleiden als kategoriale Bestimmungen auf. Vielmehr ist sein Tätigsein seine Substanz. Ein Vermögen liegt aber in Gott im Sinne eines aktiven Könnens. Gleichwohl muß man nicht annehmen, daß der Sohn das Resultat eines Tätigseins bzw. geschaffen ist, und ebensowenig, daß in Gott ein Tätigsein oder ein Erleiden im eigentlichen Sinne liegt. Zu 2. Das Empfangen hat ein Innehaben zu seinem Ziel. Empfangen kann man etwas auf zweierlei Art, und genauso auf zweierlei Art etwas innehaben. Zum einen kann die Materie ihre jeweilige Form bzw. ein Träger sein Akzidens in einer Weise innehaben, die nicht das Wesen des Innehabenden berührt. Zum anderen hat ein Träger seine Wesensform inne, wie etwa ein bestimmter Mensch das Menschsein innehat. Dieses Menschsein gehört zum Wesen dessen, der es innehat; ja mehr noch: es ist dessen Wesen. Denn Sokrates ist in der Tat das, was ein Mensch ist. Folglich empfängt ein gezeugter Mensch die Form seines Erzeugers auch nicht so, wie die Materie eine Form bzw. ein Träger sein Akzidens empfängt, sondern so, wie ein Träger bzw. ein Einzelwesen seine artspezifische Wesensform innehat. Ähnlich verhält es sich nun bei der Gottheit. Daher braucht es für Gott keine Materie bzw. nichts, das dem Wesen Gottes zugrunde läge. Vielmehr besteht der Sohn selbst als derjenige, der die göttliche Natur innehat. Zu 3. Gott als Gezeugter unterscheidet sich von Gott als Zeu-

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gendem nicht dem Wesen nach. Denn es ist, wie bereits erwähnt,10 keine bestimmte Materie für den Empfang des göttlichen Wesens erforderlich. Gott als Gezeugter unterscheidet sich jedoch von Gott als Zeugendem im Hinblick auf den Bezug, also darin, daß er seine Wesensform von einem anderen hat. Dieser Bezug der Sohnschaft hat beim Sohn diejenige Bedeutung, die im Bereich der geschaffenen Dinge die jeweiligen Prinzipien für die Einzelwesen haben – deswegen meint jener Bezug das Charakteristikum der Person. Das göttliche Wesen aber hat diejenige Bedeutung, die [im Bereich der geschaffenen Dinge] eine artspezifische Wesensform hat. Weil jedoch der Bezug als solcher sich der Sache nach nicht vom göttlichen Wesen unterscheidet, gibt es hier keine Zusammensetzung in der Art, wie sich bei uns eine Zusammensetzung aus den spezifischen und individualisierenden Prinzipien ergibt. Zu 4. Dieses Argument betrifft den Fall, daß sich ein Vermögen − ob nun verwirklicht oder nicht − von einem Tätigsein unterscheidet. Bei der Gottheit ist dies jedoch nicht der Fall. Zu 5. Damit ist auch dieses Argument geklärt. Zu 6. All das, was Prinzip für ein Tätigsein ist, wodurch sich also etwas verwirklicht, besitzt die Merkmale eines Vermögens, und zwar gleichgültig, ob es sich hierbei um das Wesen oder um ein vermittelndes Akzidens, d. h. um eine bestimmte Qualität handelt, die zwischen dem Wesen und dem Tätigsein steht. Allerdings kommt es im Bereich der erschaffenen Körper selten oder gar nie vor, daß eine substantiale Form ohne ein bestimmtes Akzidens eine Tätigkeit vollzieht. So läßt denn auch die Sonne es hell werden vermittels des Lichts, welches in ihr ist. Daß jedoch die Seele den Körper mit Leben erfüllt, verdankt sich dem Wesen der Seele. ›Etwas mit Leben zu erfüllen‹ ist zwar der Redeform nach eine Tätigkeit; gleichwohl stellt so etwas keine Tätigkeit dar, da dies eher eine erste als eine zweite Wirklichkeit ist. Zu 7. Bei den Geschöpfen kann es keine Zeugung geben, ohne daß hier ein Wesen bzw. eine Wesensform im Hinblick auf ihr Sein unterschieden wäre; eine Wesensform ist ja nicht ihr eigenes Sein. Deswegen ist bei den Geschöpfen die Zeugung mit einem niederen 10 Vgl. De pot. q. 2 a. 1 c.

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Rang verbunden, und daher kennen die höherrangigen Geschöpfe keine Zeugung. Bei Gott ist nun eine Zeugung möglich, allerdings ohne eine solche oder anders geartete Unvollkommenheit. Deshalb spricht nichts dagegen, daß man hier von einer Zeugung spricht. Zu 8. Dieses Argument geht von einer Zeugung aus, die an die Materie gebunden ist. Daher trägt es nichts zum vorliegenden Problem bei. Zu 9. Wenn eine Tätigkeit oder ein Erleiden mit einer Bewegung verbunden ist, dann muß das, worauf sich das aktive oder passive Vermögen erstreckt, etwas Mögliches und etwas Kontingentes sein; denn alles, was einer Bewegung unterworfen ist, ist möglich und kontingent. Das Zeugungsvermögen in Gott ist jedoch, wie bereits ausgeführt, nicht von dieser Art. Daher ist dieses Argument nicht stichhaltig. Zu 10. Gottsohn ist nicht das Resultat, das aus einem Vermögen hervorgeht, denn wir bekennen im Glaubensbekenntnis, daß er »gezeugt und nicht geschaffen« ist. Wäre der Sohn aber ein Resultat, so wäre das Vermögen des Zeugenden nicht auf ihn beschränkt, selbst wenn kein weiterer Sohn gezeugt werden könnte, denn der Vater ist ja selbst unbegrenzt. Daß es aber einen weiteren Sohn in der Gottheit nicht geben kann, liegt daran, daß die Sohnschaft das personale Merkmal darstellt und der Sohn durch sie sozusagen individuiert wird. Die Prinzipien für seine Individualität nennt aber ein jedes Einzelwesen je für sich allein sein eigen. Andernfalls käme es dazu, daß das, was eine Person bzw. ein Einzelwesen ausmacht, veräußerlich wäre. Zu 11. Die Stelle aus Avicenna trifft auf den Fall zu, wo das Empfangene im Empfänger und im Gebenden mengenmäßig nicht identisch ist, also etwa auf das Verhältnis der Geschöpfe zu Gott. Aus diesem Grund ist all das, was die Geschöpfe empfangen, gewissermaßen nichtig11 im Vergleich zum göttlichen Sein. Ein Geschöpf kann ja nicht mit solch einer Vollendung das Sein empfangen, wie es in Gott liegt. In der Gottheit empfängt aber der Sohn vom Vater zahlenmäßig ein und dieselbe Natur, die der Vater besitzt. Insofern ist dieses Argument nicht stichhaltig. 11 vanitas L : unitas M.

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Zu 12. Der Sohn hat nichts, was real unterschieden ist von dem Wesen, welches er vom Vater erhält. Gerade dadurch aber, daß der Sohn vom Vater empfängt, muß es in ihm einen Bezug geben, in dem er zum Vater steht und durch den er sich von ihm unterscheidet. Dieser Bezug selbst ist jedoch nicht real unterschieden vom Wesen. Zu 13. Im Vater und im Sohn ist zwar dieselbe Natur, jedoch auf eine jeweils andere Seinsweise, d. h. verbunden mit einer jeweils anderen Bezugsform. Und deswegen kommt all das, was dem Vater angesichts seiner Natur zukommt, nicht unbedingt auch dem Sohn zu. Zu 14. Dadurch, daß die Geschöpfe an einer spezifischen Wesensform teilhaben, ähneln sie Gott. Sobald nämlich eine erschaffene Wesensform mit einem erschaffenem Träger Bestand erhält, richtet sich dieser Träger auf diese Wesensform als seinem Ziel. Weil nun dieses Ziel mit einem Einzelwesen hinreichend erfüllt wird – es hat ja vollständig und in angemessener Weise teil an der spezifischen Wesensform –, so ist für den Bestand dieser Wesenform kein weiteres Einzelwesen vonnöten. Nun ist aber die göttliche Natur das Ziel und ist nicht wegen eines Zieles da. Einem Ziel kommt es jedoch zu, daß es an sich in jeder möglichen Weise teilhaben läßt. Auch wenn sich also in Gott die göttliche Natur in dem einen Träger auf eine vollendete und angemessene Weise findet, spricht nichts dagegen, daß sie sich auch im anderen Träger findet. Zu 15. Die Zeugung ist in der Hinsicht eine Art von Veränderung, daß eine Wesensform, die bei der Zeugung weitergegeben wird, von einer Materie aufgenommen wird und dabei an dieser Materie die Veränderung auftritt. Dies gilt aber nicht für die Zeugung in Gott. Daher ist dieses Argument nicht stichhaltig.

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2. Artik el Die zweite Frage lautet: Gehört das Zeugungsvermögen zum Wesen der Gottheit oder ist es nur ein personales Unterscheidungsmerkmal? 12 Allem Anschein nach ist es nur ein personales Unterscheidungsmerkmal; denn: 1. Ein Vermögen ist eine Art von Prinzip, wie seine Definition im 5. Buch der Metaphysik zeigt.13 Die Rede von einem Prinzip in der Gottheit, welches die göttlichen Personen betrifft, meint ein personales Unterscheidungsmerkmal. Weil also das Zeugungsvermögen ein Prinzip in diesem Sinne meint, so ist es offensichtlich ein personales Unterscheidungsmerkmal. 2. Man wird nun einwenden: Diese Rede trifft das Wesen und ist zugleich ein personales Unterscheidungsmerkmal. Dem ist zu erwidern: Nach Boethius14 gibt es angesichts der Gottheit Zweierlei, was man aussagen kann: das substantielle Sein, das ihr Wesen meint; und die Relation, die die personalen Unterscheidungsmerkmale meint. Das Sein von etwas kann jedoch nicht mit beidem ausgesagt werden. Denn ein weißer Mensch ist allenfalls etwas akzidentell Einheitliches, wie es im 5. Buch der Metaphysik heißt.15 Folglich kann der Begriff des Zeugungsvermögens nicht beides – das substantielle Sein und ein personales Unterscheidungsmerkmal – umfassen. 3. In der Gottheit unterscheidet sich das Prinzip von dem, wofür es Prinzip ist. Nun kann man aber in ihrem Wesen keine Differenz aufmachen. Folglich ist der Begriff eines Prinzips mit ihrem Wesen unvereinbar. Damit trifft die Rede von einem Vermögen, welches den Charakter eines Prinzips impliziert, nicht das Wesen. 4. Was in der Gottheit eigentümlich für eine Person ist, bringt eine Relation und ein personales Unterscheidungsmerkmal zum Ausdruck. Was aber alle drei göttlichen Personen teilen, bringt das 12 Paralleltexte: Sum. theol. I, q. 41 a. 1 ad 1−2; q. 41 a. 5. Sent. I, d. 7 q. 1 a. 1 ad 2; q. 1 a. 2; d. 6 q. 1 a. 3. 13 Aristoteles, Met. V, 12; 1019 a 15 ff.; 1020 a 1 ff. 14 Boethius, De trin. 4–5 (ed. Elsässer, 15−25). 15 Aristoteles, Met. V, 6; 1015 b 16 ff. V, 7; 1017 a 7 ff.

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Wesen bzw. etwas Unbezügliches zum Ausdruck. Das Zeugungsvermögen teilt jedoch der Vater nicht mit dem Sohn, es ist vielmehr für den Vater eigentümlich. Folglich bringt das Zeugungsvermögen eine Relation bzw. ein personales Unterscheidungsmerkmal zum Ausdruck, nicht aber das Wesen bzw. etwas Unbezügliches. 5. Die Grundlage für eine charakteristische Tätigkeit ist eine jeweils charakteristische – und nicht eine allgemeine – Form. So vollzieht etwa der Mensch vermöge seines Intellekts einen Denkakt; denn im Vergleich zu anderen Lebewesen ist diese Tätigkeit für den Menschen charakteristisch, genauso wie eine Form von Vernünftigkeit oder Geistigkeit. Die Zeugung ist nun ein charakteristisches Wirken des Vaters als Vater. Die Grundlage dafür ist die Vaterschaft als die dem Vater eigentümliche Form – und nicht die Göttlichkeit, die allen drei göttlichen Personen gemeinsam ist. ›Vaterschaft‹ bringt aber eine Relation zum Ausdruck. Demnach bringt das Zeugungsvermögen eine Relation zum Ausdruck, und zwar nicht nur in dem Sinn, daß es eine Art von Prinzip ist, sondern auch in dem Sinn, daß es dieses Prinzip benennt. 6. Das Zeugungsvermögen ist vom göttlichen Wesen ebensowenig real unterschieden wie die Vaterschaft. Dessen ungeachtet ist jedoch die Vaterschaft ein rein relationaler Ausdruck. Aus diesem Grund kann man auch nicht behaupten, daß das Zeugungsvermögen im Verein mit der Relation das Wesen zum Ausdruck bringt. 7. In der Gottheit findet sich Dreierlei, was den Charakter eines Prinzips aufweist: das Vermögen, das Wissen und der Wille, die alle das Wesen Gottes meinen. Nun bringt man mit »Wissen« und mit »Wille« nicht gleich auch eine bestimmte Relation innerhalb der Gottheit bzw. ein personales Unterscheidungsmerkmal zum Ausdruck. Aus dem gleichen Grund bringt man so etwas auch nicht mit »Vermögen« zum Ausdruck. Somit kann man nicht sagen, daß »Vermögen« in der Wendung »Vermögen zur Zeugung« auch gleich das Wesen meine, »Zeugung« aber ein personales Unterscheidungsmerkmal darstelle. Vielmehr meint »Vermögen zur Zeugung« aus den schon angeführten Gründen offensichtlich nur ein personales Unterscheidungsmerkmal.

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Dagegen spricht: 1. Petrus Lombardus16 sagt, daß das Zeugungsvermögen im Vater das göttliche Wesen selbst ist. 2. Hilarius17 sagt, daß der Vater kraft seiner göttlichen Natur zeugt. Somit ist die göttliche Natur selbst das Prinzip für die Zeugung. Und damit schließt es den Begriff eines Vermögens mit ein. 3. Johannes von Damaskus18 sagt, daß die Zeugung ein Werk der Natur ist. Somit gilt das Gleiche wie oben. 4. In der Gottheit gibt es nur ein einziges Vermögen. Nun trifft die Rede von der Schöpfungskraft das Wesen – und damit auch die Rede von der Zeugungskraft. Antwort: Beim vorliegenden Problem gibt es verschiedene Ansichten. (A) Einige behaupteten nämlich, daß das Zeugungsvermögen in der Gottheit nur eine Relation zum Ausdruck bringt. Dies begründeten sie folgendermaßen: Ein Vermögen ist von seinem Begriff her ein Prinzip. Ein Prinzip bringt aber eine Relation zum Ausdruck und liefert ein personales Unterscheidungsmerkmal, sobald man es auf das göttliche Vermögen und nicht auf die Geschöpfe anwendet. Bei dieser Begründung täuschten sie sich offensichtlich in zwei Punkten. Erstens: Zwar weist ein Vermögen den Charakter eines Prinzips auf, das in die Gattung der Relation gehört. Gleichwohl ist das, was Prinzip für eine Tätigkeit oder ein Erleiden ist, keine Relation, sondern eine Form noch ohne Bezug, also wesentlich ein Vermögen. Von daher kommt es, daß Aristoteles ein Vermögen genauso wie das Wissen nicht zur Gattung der Relation, sondern zu derjenigen der Qualität rechnet, obgleich beiden ein Bezug zukommt.19 Zweitens: Angesichts von Gott liefern nicht diejenigen Ausdrücke, die ein Prinzip für sein Tätigsein angeben, ein personales UnterPetrus Lombardus, Sent. I d. 7, 6 (ed. coll. S. Bon. I, 93). Hilarius, De Synodis seu de fide orientalium 59 (PL 10, col. 521). Johannes Damascenus, De fide orthodoxa 8, 4 (ed. Buytaert, 32). Aristoteles, Cat. 7; 7 b 15 ff. De an. III, 2; 425 b 12 ff. Met. V, 15; 1020 b 26 ff. IX, 8; 1050 a 23 ff. 16 17 18 19

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scheidungsmerkmal, sondern nur diejenigen Ausdrücke, die ein Prinzip für das Ziel seines Tätigseins angeben. Denn ein Prinzip, das ein personales Unterscheidungsmerkmal für Gott liefert, gilt für die jeweilige göttliche Person. Vom Wirken läßt sich aber nicht sagen, daß es je nach der Person auftrete. Daher braucht das, was den Charakter eines Prinzips für Gottes Tätigsein aufweist, kein personales Unterscheidungsmerkmal für ihn zu sein. Andernfalls wären der Wille, das Wissen, der Intellekt usw. personale Unterscheidungsmerkmale. Zwar ist ein Vermögen zuweilen das Prinzip sowohl für ein Tätigsein als auch dafür, was durch ein Tätigsein hervorgebracht wird. Letzteres ist jedoch für ein Vermögen akzidentell, ersteres jedoch wesentlich. Ein aktives Vermögen bringt nämlich bei seiner Verwirklichung nicht stets etwas hervor, was das Ziel einer Verwirklichung ist. Denn es gibt, wie Aristoteles sagt, eine Vielzahl von Tätigkeiten, die nichts hervorbringen.20 Stets aber ist ein Vermögen das Prinzip für eine Verwirklichung bzw. für ein Tätigsein. Daher bringt man angesichts des Bezuges, der in einem Prinzip liegt und den das Wort »Vermögen« beinhaltet, nicht unbedingt auch eine Relation in Gott zum Ausdruck. Der gerade behandelte Standpunkt trifft offensichtlich nicht die Wahrheit. Denn wenn das, was ein Vermögen ausmacht, nichts anderes ist als das Prinzip für eine Tätigkeit, dann muß die göttliche Natur diejenige Instanz sein, die in Gott das Prinzip ist. Jedes Tätige bringt ja als solches bei seiner Tätigkeit etwas ihm Ähnliches hervor, und so liegt das Prinzip der Zeugung insofern im Erzeuger, als der Gezeugte dem Erzeuger ähnlich ist. So zeugt der Mensch kraft seines menschlichen Wesens einen Nachkommen, der in seinem menschlichen Wesen eine Ähnlichkeit mit seinem Erzeuger aufweist. Gott als Gezeugter gleicht aber Gottvater in der göttlichen Natur. Von daher ist die göttliche Natur das Prinzip der Zeugung, kraft dessen, wie Hilarius sagt, der Vater zeugt.21 (B) Aus diesem Grund behaupteten andere, daß das Zeugungsvermögen ausschließlich das Wesen bezeichne. Aber auch das stimmt 20 Aristoteles, Eth. Nic. I, 1; 1094 a 3–6. Met. IX, 8; 1050 a 23 – b 2. 21 Hilarius, De Synodis seu de fide orientalium 59 (PL 10. col. 520).

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offensichtlich nicht. Vollzieht nämlich ein bestimmtes Etwas eine Tätigkeit kraft seiner allgemeinen Wesensform, unter die dieses Etwas fällt, so erhält diese Tätigkeit eine bestimmte Abschattung durch diejenigen Prinzipien, die für sie eigentümlich sind. So wird etwa eine Tätigkeit, die sich dem Wesen eines belebten Dinges verdankt, von einem Menschen so vollzogen, daß für sie die Prinzipien der menschlichen Spezies gelten. Von daher setzt auch der Mensch seine Vorstellungskraft auf eine vollkommenere Weise ein als die anderen Lebewesen, und zwar nach der Maßgabe, daß ihm Vernünftigkeit zukommt. Genauso vollzieht sich eine menschliche Tätigkeit bei diesem oder jenem Menschen nach der Maßgabe, daß hier jeweils individuelle Prinzipien zum Tragen kommen. Von daher kommt es, daß der eine Mensch klarer denkt als der andere. Wenn also die gemeinsame Natur das Prinzip für irgendeine Tätigkeit abgeben soll, die nur für den Vater charakteristisch ist, so muß diese Natur ein Prinzip nach der Maßgabe sein, daß es auf die personale Eigentümlichkeit des Vaters zutrifft. Und deswegen liegt im Begriff des Vermögens in gewisser Weise die Vaterschaft beschlossen, auch im Hinblick darauf, daß es das Prinzip für die Zeugung darstellt. (C) Und damit muß man mit noch anderen Autoren festhalten, daß das Zeugungsvermögen das Wesen und zugleich ein personales Unterscheidungsmerkmal zum Ausdruck bringt. Zu 1. Ein Vermögen weist den Charakter eines Prinzips für ein Tätigsein auf. Letzteres ist jedoch, wie gesagt, kein personales Unterscheidungsmerkmal für Gott. Zu 2. Im Bereich der erschaffenen Dinge kommt die Kategorie [der Relation] der Kategorie [der Substanz] akzidentell zu. Deswegen kann aus den zweien allenfalls eine akzidentelle Einheit entstehen. Im Falle der Gottheit aber ist die Relation real identisch mit dem Wesen. Daher ist dieser Vergleich schief. Zu 3. Bei den erschaffenen Dingen ist das Prinzip für eine Zeugung gedoppelt: in den, der zeugt, und in das, kraft dessen die Zeugung erfolgt. Nun unterscheidet sich freilich der Erzeuger durch den Zeugungsvorgang vom Gezeugten, da ja kein Ding sich selbst zeugen kann. In dem aber, kraft dessen der Zeugende zeugt, besteht

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kein Unterschied;22 vielmehr ist dies, wie bereits in der »Antwort« ausgeführt, beiden gemeinsam. Von daher braucht in der göttlichen Natur genausowenig ein Unterschied zu bestehen wie beim Zeugungsvermögen. Denn dieses Vermögen ist das Prinzip, kraft dessen die Zeugung erfolgt. Zu 4. Aufgrund der mit ihm verbundenen Relation ist das Zeugungsvermögen nicht allen drei göttlichen Personen gemein, sondern nur für eine Person eigentümlich. Zu 5. Prinzip bei jeder Zeugung ist in erster Linie nicht eine individuelle Form, sondern diejenige Form, die sich einer artspezifischen Natur verdankt. Zudem muß das Gezeugte seinem Erzeuger nicht in seinen individuellen Zügen ähnlich sein, sondern in seiner artspezifischen Form. Die Vaterschaft liegt jedoch im Vater nicht so als eine artspezifische Form, wie etwa die menschliche Natur in einem Menschen liegt. Denn so liegt in Gottvater die göttliche Natur. Vielmehr liegt die Vaterschaft im Vater sozusagen als ein individualisierendes Prinzip vor, denn sie ist eine Eigentümlichkeit seiner Person. Deswegen liegt in ihm das Prinzip für die Zeugung nicht in erster Linie; es ist vielmehr aus dem erwähnten Grund in der göttlichen Natur miteinbegriffen. Andernfalls würde der Vater bei der Zeugung nicht nur seine Göttlichkeit, sondern auch seine Vaterschaft weitergeben. Dies trifft aber nicht zu. Zu 6. Das Zeugungsvermögen ist mit der göttlichen Natur real identisch, und zwar so, daß die Natur in den Begriff des Zeugungsvermögens fällt. Dies gilt jedoch nicht für die Vaterschaft. Daher ist dieser Vergleich schief. Zu 7. Das Wissen und der Wille sind kein Prinzip für die Zeugung. Denn die Zeugung ist von der Art, daß sie als das Prinzip für eine Tätigkeit den Begriff eines Vermögens impliziert. Von daher kommt es, daß im Gegensatz zum Wissen und zum Willen das Vermögen in Gott auch noch eine Relation meint. Die Klärung der Gegenargumente ergibt sich unschwer aus dem gerade Ausgeführten. 22 sed id quo generans generat, non distinguitur V : sed id quod generans generat, non distinguitur M.

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3. Artik el Die dritte Frage lautet: Geht das göttliche Zeugungsvermögen auf Geheiß des Willens in den Zeugungsakt über? 23 Dies scheint der Fall zu sein; denn: 1. Nach Hilarius hat der Vater den Sohn nicht deswegen gezeugt, weil er durch die Notwendigkeit seines Wesens dazu veranlaßt worden wäre.24 Jedoch angenommen, Gottvater hat den Sohn nicht nach seinem Willen gezeugt, dann hat er ihn aus der Notwendigkeit seines Wesens gezeugt. Denn tätig ist etwas entweder willentlich oder aufgrund seines Wesens. Folglich hat der Vater den Sohn willentlich gezeugt. Und damit geht das göttliche Zeugungsvermögen auf Geheiß des Willens in den Zeugungsakt über. 2. Nun wurde eingewendet: Der Vater hat den Sohn nicht gezeugt, nachdem er es gewollt hat, auch nicht, bevor er es gewollt hat, sondern er hat ihn gezeugt und es gleichzeitig gewollt. Darauf ist zu erwidern: Dieses Argument ist offensichtlich unzureichend. Da nämlich alles in Gott ewig ist, so kann nichts in Gott zeitlich etwas anderem in Gott vorangehen. Gleichwohl läßt sich bei Gott etwas angeben, das für etwas anderes den Status eines Prinzips hat, so z. B. der Wille für die Auserwählung der Gerechten, und dies allein deswegen, weil er aus dem Intellekt hervorgeht. Obgleich also der Wille nicht zeitlich der Zeugung des Sohnes vorangeht, so kann er offensichtlich doch als ein Prinzip für die Zeugung des Sohnes gelten, und zwar weil er aus dem Intellekt hervorgeht. 3. Der Sohn geht in einem geistigen Akt hervor, da er als das Wort hervorgeht. Denn nach Augustinus25 gibt es nur da ein geistiges Wort, wo wir etwas denkend erfassen. Nun ist der Wille das Prinzip für eine geistige Tätigkeit. Denn er gebietet, wie Anselm sagt,26 über eine Verwirklichung des Intellekts genauso wie über 23 Paralleltexte: Sum. theol. I, q. 41 a. 2. ScG IV, 11. Sent. I, d. 6 q. 1 a. 1−3. De pot. q. 10 a. 2 ad 4−5. 24 Hilarius, De Synodis seu de fide orientalium, can. XXV (PL 10, col. 520). 25 Augustinus, De trin. IX, 7, 12 (CCSL 50, 304). 26 Anselm von Canterbury, De Similitudinibus 2–3 (ed. Southern / Schmitt, 39).

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diejenige von anderen Vermögen. Ich denke ja, weil ich es will, genauso wie ich herumgehe, weil ich es will. Folglich ist der Wille das Prinzip für das Hervorgehen des Sohnes. 4. Nun wird man einwenden: Beim Menschen trifft es zu, daß der Wille über einen Denkakt entscheidet, nicht jedoch bei Gott. Dem ist zu erwidern: Die Vorherbestimmung ist in gewissem Sinn ein Akt des Denkens. Wir sprechen ja davon, daß Gott Petrus im voraus erwählt hat, weil er es so wollte – im Sinne von Röm. 9, 18: »Gott erbarmt sich, wessen er will, und verstockt, wen er will.« Folglich gebietet der Wille nicht nur beim Menschen, sondern auch bei Gott über eine Verwirklichung des Intellekts. 5. Nach Aristoteles27 kann das, was sich von selbst in Bewegung versetzt, sich bewegen oder auch nicht. Aus dem gleichen Grund kann das, was sich von selbst in ein Tätigsein versetzt, tätig sein oder auch nicht. Die Natur kann aber nicht wahlweise tätig sein oder nicht, da sie auf etwas ganz Bestimmtes festgelegt ist. Somit wird sie nicht von selbst tätig, sondern dadurch, daß sie von etwas anderem in Tätigkeit versetzt wird. So etwas kann aber auf Gott nicht zutreffen. Demnach verdankt sich keine Tätigkeit in Gott, also auch nicht die Zeugung, seiner Natur. Somit erfolgt die Zeugung willentlich. Denn wie aus dem 2. Buch der Physik hervorgeht,28 läßt sich alles, was tätig ist, auf eine Naturanlage oder auf den Willen zurückführen. 6. Angenommen, eine Tätigkeit, die sich von Natur aus vollzieht, geht einem Willensakt voran, dann wird dies zu etwas Widersinnigem führen: dazu, daß sich der Begriff des Willens erübrigt. Weil nämlich die Natur auf etwas ganz Bestimmtes festgelegt ist, so würde sie, wenn sie den Willen in Bewegung versetzte, diesen immer nur zu diesem ganz Bestimmten veranlassen. Dies widerspricht dem Begriff des Willens, der gerade in dieser Hinsicht frei ist. Wenn aber der Wille die Natur in Bewegung versetzt, so erübrigt sich dadurch weder der Begriff der Natur noch derjenige des Willens. Denn das, was sich auf Vielerlei erstreckt, kann durchaus auch etwas ganz Bestimmtes veranlassen. Ein Willensakt geht also sinnvollerweise 27 Aristoteles, Phys. VIII, 4; 255 a 7–9. 28 Aristoteles, Phys. II, 5; 196 b 18–22.

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einer Tätigkeit, die sich von Natur aus vollzieht, eher voran als umgekehrt. Nun ist die Zeugung des Sohnes reine Tätigkeit bzw. reines Wirken. Mithin kommt sie aus dem Willen. 7. In Ps. 148, 5 heißt es: »Er sprach, und sie waren geschaffen.« Dies erläutert Augustinus so: »Er zeugte das Wort, in dem sie waren, auf daß sie entstünden«.29 In diesem Sinne ist der Hervorgang des Wortes aus dem Vater der Grund für die Hervorbringung der Geschöpfe. Wenn also der Sohn nicht auf Geheiß des Willens, sondern mit wesensmäßiger Notwendigkeit aus dem Vater hervorgeht, dann folgt offensichtlich daraus, daß alle Geschöpfe von Gott mit wesensmäßiger Notwendigkeit und nicht aus barem Willen hervorgebracht werden. Dies ist aber falsch. 8. In De Synodis bemerkt Hilarius: »Wer behauptet, der Sohn sei gegen den Willen des Vaters geboren worden, ist ein Ketzer«.30 Mithin zeugte der Vater den Sohn nicht gegen seinen Willen. Somit gilt das Gleiche wie oben. 9. In Joh. 3, 35 heißt es: »Der Vater liebt den Sohn und hat alles in seine Hand gegeben.« Eine Glosse bezieht diese Stelle auf das Geschenk der ewigen Zeugung. Die Liebe des Vaters zum Sohn ist demnach eher ein Merkmal als der Grund für die ewige Zeugung. Die Liebe aber kommt aus dem Willen. Folglich ist der Wille das Prinzip für die Zeugung des Sohnes. 10. Nach Dionysius31 läßt es Gottes Liebe nicht zu, daß sie ohne Frucht bleibt. Auch aus dieser Stelle wird ersichtlich, daß die Liebe der Grund für die Zeugung ist. 11. Über Gott läßt sich jede Behauptung aufstellen, die keinen Widersinn oder Irrtum enthält. Wenn man nun behauptet, daß der Vater den Sohn willentlich gezeugt hat, dann ist dies nicht widersinnig. Denn offensichtlich folgt daraus weder, daß der Sohn nicht ewig sei, noch daß er nicht eines Wesens mit dem Vater bzw. nicht gleich beschaffen wie der Vater sei. Denn der Heilige Geist, der aus dem Willen hervorgeht, ist ebenso ewig, ebenso beschaffen und eines 29 Augustinus, In Gen. ad litt. II, 6 (CSEL 28/1, 41). 30 Hilarius, De Synodis seu de fide orientalium, can. XXV (PL 10,

col. 520). 31 Dionysius Areopagita, De div. nom. IV, 10 (Dion. I, 202 f.).

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Wesens mit dem Vater und dem Sohn. Also ist es offensichtlich kein Irrtum zu sagen, daß der Vater den Sohn willentlich gezeugt hat. 12. Der Wille vermag es nicht, sein höchstes Ziel nicht zu wollen. Ziel des göttlichen Willens ist aber die Mitteilung seiner Güte, was vor allem in der Zeugung erfolgt. Demnach vermag es der Wille des Vaters nicht, die Zeugung des Sohnes nicht zu wollen. Folglich hat er den Sohn willentlich gezeugt. 13. Die Zeugung beim Menschen leitet sich von der göttlichen Zeugung ab. In Eph. 3, 15 heißt es ja: »Deshalb beuge ich meine Knie vor dem Vater, von dem jede Vaterschaft im Himmel und auf Erden ihren Namen hat.« Nun ist die Zeugung beim Menschen seinem Willen unterworfen. Andernfalls könnte es beim Zeugungsakt keine Sünde geben. Also ist auch die göttliche Zeugung dem Willen unterworfen. Somit gilt das Gleiche wie oben. 14. Jede Tätigkeit einer unveränderlichen Natur ist notwendig. Nun ist die göttliche Natur ganz und gar unveränderlich. Wenn also die Zeugung eine der Natur gehorchende und keine willentlich ausgeführte Tätigkeit wäre, dann würde daraus folgen, daß sie notwendig wäre und mithin der Vater den Sohn aus Notwendigkeit zeugen würde. Dies ist ein Widerspruch zu Augustinus.32 15. Nach Augustinus33 ist der Sohn Ratschluß vom Ratschluß und Wille vom Willen. Die Präposition »von« bezeichnet aber ein Prinzip. Folglich ist der Wille das Prinzip für die Zeugung des Sohnes, und somit gilt das Gleiche wie oben. Dagegen spricht: 1. Nach Augustinus34 hat der Vater den Sohn weder willentlich noch aus Notwendigkeit gezeugt. 2. Die größte willentliche Hingabe erfolgt in der Liebe. Nicht der Sohn jedoch, sondern der Heilige Geist geht aus der Liebe hervor. Folglich ist der Wille nicht das Prinzip für die Zeugung des Sohnes. 3. Der Sohn geht aus dem Vater hervor wie der Abglanz vom Licht ausgeht. In diesem Sinne heißt es in Hebr. 1, 3: »Der Sohn, der 32 Augustinus, Contra sermonem Arianorum I, 2 (PL 42, col. 684 f.). 33 Augustinus, De trin. XV, 20, 38 (CCSL 50 A, 515). 34 Augustinus, Contra sermonem Arianorum I, 2 (PL 42, col. 684 f.).

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da Abglanz seiner Herrlichkeit und Ausprägung seines Wesens ist«. Nun geht vom Licht nicht willentlich ein Abglanz aus. Also geht auch der Sohn nicht aus dem Willen des Vaters hervor. Antwort: Im Sinne eines Willensgegenstandes kann man die Zeugung des Sohnes mit dem Willen in einen Zusammenhang bringen. Der Vater hat ja den Sohn und seine Zeugung von Ewigkeit an gewollt. Jedoch kann der Wille in keiner Weise ein Prinzip für die göttliche Zeugung sein. Dies läßt sich folgendermaßen zeigen: Da der Wille als Wille frei ist, verhält er sich je nach Belieben. Der Wille kann ja tätig werden oder auch nicht, etwas so oder so geschehen lassen, etwas wollen oder auch nicht wollen. Und wenn dies auf den Willen einmal nicht zutreffen sollte, dann betrifft dies den Willen nicht als einen solchen, sondern es hat mit einer ihm wesensmäßigen Neigung zu tun, die er für einen bestimmten Gegenstand hat, also etwa für sein höchstes Ziel, welches er unmöglich nicht wollen kann. Der menschliche Wille vermag es denn auch nicht, sein Glück nicht zu wollen und sein Unglück zu wollen. Damit ist klar, daß das, wofür der Wille ein Prinzip ist, als solches sein oder auch nicht sein kann, so oder so sein kann, zum jetzigen oder einem künftigen Zeitpunkt sein kann. Alles, worauf dies zutrifft, ist aber erschaffen. Denn das, was unerschaffen ist, hat nicht die Fähigkeit, einmal zu sein und einmal nicht zu sein; vielmehr ist sein Sein an sich notwendig, wie Avicenna zeigt.35 Wenn man also annimmt, daß der Sohn willentlich gezeugt ist, dann folgt daraus mit Notwendigkeit, daß der Sohn ein Geschöpf ist. Deswegen behaupteten die Arianer, die den Sohn für ein Geschöpf hielten, daß dieser willentlich gezeugt sei. Die Katholiken aber sagen, daß der Sohn nicht aus dem Willen, sondern aus dem Wesen kommt. Denn eine Wesensform ist auf etwas ganz Bestimmtes festgelegt. Dadurch daß der Sohn aus dem Wesen des Vaters stammt, ist der Sohn unmöglich nicht gezeugt und kann unmöglich in anderer Weise sein, als er ist, bzw. nicht eines Wesens mit dem Vater sein. Denn was aus dem Wesen hervorgeht, das geht 35 Avicenna, Met. VIII, 4 (Avicenna latinus 4, ed. Van Riet, 401 f.).

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in einer Ähnlichkeit zu dem hervor, aus dem es hervorgeht. In diesem Sinne sagt Hilarius: Gottes Wille verlieh allen Geschöpfen ihr Sein, während die vollkommene Geburt dem Sohn das Wesen verlieh.36 Daher ist alles so, wie es Gottes Wille ist. Der Sohn hingegen ist so, wie Gott ist. Wie gesagt, der Wille verhält sich im Hinblick auf manche Dinge zwar je nach Belieben, doch im Hinblick auf sein oberstes Ziel hat er eine wesensmäßige Ausrichtung. Ganz ähnlich besitzt auch der Intellekt im Hinblick auf die ersten Erkenntnisprinzipien eine ihm wesensmäßige Ausrichtung. Das Prinzip des göttlichen Erkennens ist aber Gott selbst, der ja das Ziel seines eigenen Willens ist. Daher geht das, was in Gott durch den Akt seines Selbst-Denkens hervorgeht, wesensmäßig hervor, wie auch das, was durch den willentlichen Akt der Selbst-Liebe hervorgeht. Denn der Sohn geht als das Wort durch das göttliche Denken insofern hervor, als der Vater sich selbst erkennt, und der Heilige Geist geht durch den Willensakt insofern hervor, als der Vater den Sohn liebt. Daraus folgt, daß sowohl der Sohn als auch der Heilige Geist wesensmäßig hervorgehen, sowie daß sie untereinander und mit dem Vater eines Wesens, gleich beschaffen und gleich ewig sind. Zu 1. Hilarius spricht hier von einer Notwendigkeit, die einen Zwang meint. Das zeigt sich daran, daß er hinzufügt: »Er unterlag keiner wesensmäßigen Notwendigkeit, als er den Sohn zeugen wollte«.37 Zu 2. In keiner Hinsicht hat der Wille in Gott einen Vorrang. Denn das, was Gott zu irgendeinem Zeitpunkt will, hat er von Ewigkeit an gewollt. Der Wille geht aber bei all dem einher, was an Gutem sowohl in Gott als auch in den Geschöpfen liegt. Gott will ja, daß er selbst sowie daß ein bestimmtes Geschöpf ist. Zeitlich geht der Wille freilich weder voran noch folgt er nach, allenfalls tut er dies für das Geschaffene, das nicht von Ewigkeit an gewesen ist.

36 Hilarius, De Synodis seu de fide orientalium 58 (PL 10, col. 520). 37 Hilarius, De Synodis seu de fide orientalium, can. XXV (PL 10,

col. 520).

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Dem Begriff nach38 geht er jedoch bei denjenigen Tätigkeiten in der Ewigkeit voran, die sich auf die Geschöpfe richten, also etwa bei der göttlichen Fügung, der Vorsehung und dergleichen. Die Zeugung des Sohnes stellt aber weder eine Schöpfung dar, noch kann man von ihr sagen, sie sei auf ein Geschöpf gerichtet. Bei der Zeugung des Sohnes geht daher der Wille weder zeitlich noch dem Begriff nach voran, er geht ihr vielmehr nur einher. Zu 3. Ein Denkakt scheint sich insoweit aus einem Willensakt zu ergeben, als er auf Geheiß des Willens erfolgt. Genauso scheint sich umgekehrt ein Willensakt insoweit aus einem Denkakt zu ergeben, als der Wille durch den Intellekt seinen Gegenstand vorgestellt bekommt, welcher als etwas Gutes erkannt worden ist. So würde man ins Unendliche fortschreiten, es sei denn, man setzt einen Haltepunkt entweder in der Tätigkeit des Intellekts oder aber in der Tätigkeit des Willens an. Diesen Haltepunkt kann man nun nicht in der Tätigkeit des Willens ansetzen, da ein Gegenstand Voraussetzung für sein Tätigwerden ist. Somit muß man den Haltepunkt in der Tätigkeit des Intellekts ansetzen, die wesensmäßig aus dem Intellekt kommt und dabei nicht auf Geheiß des Willens erfolgt. Und auf diese Weise geht der Sohn im göttlichen Denken als das Wort hervor, wie bereits in der »Antwort« ausgeführt. Zu 4. Der göttliche Denkakt ist insoweit ein wesensmäßiger, als sich dieser Akt auf Gott selbst richtet, welcher das Prinzip seines Denkens ist. Insoweit man aber zum Ausdruck bringt, daß der göttliche Denkakt sich auf die Geschöpfe richtet – sein Verhältnis zu diesen ist ungefähr so wie dasjenige unseres Intellekts zu seinen Schlußfolgerungen –, dann geht dieser Denkakt nicht wesensmäßig vom Intellekt aus, sondern willentlich vonstatten. Daher bezeichnet man bestimmte Denkakte in der Gottheit als willentlich veranlaßt. Zu 5. Nicht da, wo die Natur durch ihre eigentümlichen, wesensmäßigen Prinzipien etwas erreichen kann, muß sie durch etwas anderes festgelegt sein, sondern dort, wo ihre eigentümlichen Prinzipien nicht zureichen. So sahen sich die Philosophen aufgrund von Wirkungen, die als solche der Kälte und Wärme zugeschrieben werden können, auch nicht zu der Annahme veranlaßt, das Werk der 38 praecedens vero intellectu est L : praecedens vero intellectus est M.

3. Artikel

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Natur sei dasjenige einer Intelligenz. Sogar diejenigen, die meinten, daß die Dinge in der Natur notwendig aus der Materie hervorgehen, führten alle Werke der Natur darauf zurück. Zu jener Annahme gelangten sie jedoch angesichts von denjenigen Wirkungen, für die die Wirkkraft der Wärme, der Kälte und dergleichen nicht zureicht – also etwa angesichts von Körperteilen, die am Körper eines Lebewesens so angeordnet sind, daß sich dessen Natur erhält. Weil also das Werk der göttlichen Natur als solcher die Zeugung ist, braucht sie nicht durch einen Willen zu dieser Tätigkeit veranlaßt werden. Oder aber man kann auch so argumentieren: Eine Wesensform wird durch etwas auf ein Ziel hin festgelegt. Auf diejenige Wesensform jedoch, die das Ziel ist und auf kein Ziel festgelegt ist, trifft es nicht zu, daß sie durch etwas festgelegt ist. Zu 6. Ein Willensakt geht einer natürlichen Tätigkeit voran, sofern man sie auf zwei Instanzen verteilt sieht. In diesem Sinne geht das Tätigsein der gesamten niederen Natur aus dem Willen des Weltenlenkers hervor. Doch bei ein und derselben Instanz geht eine wesensmäßige Tätigkeit notwendig einem Willensakt voran. Logisch geht nämlich eine Wesensform dem Willen voran; denn logisch gesehen steht eine Wesenform an erster Stelle, insofern ein Ding mit ihrer Hilfe Bestand hat, der Wille hingegen an letzter Stelle, insofern dieses Ding mit seiner Hilfe sich auf ein Ziel richtet. Gleichwohl folgt daraus nicht, daß sich der Willensbegriff erübrigt. Denn der Wille ist zwar in seiner natürlichen Ausrichtung auf das eine Ziel hin festgelegt, welches das oberste, wesensmäßig von ihm angestrebte Ziel ist, doch ist er dies bei seinen anderen Zielen nicht. Dies zeigt sich im Falle des Menschen, der das Glück, nicht aber anderes seinem Wesen nach und mit Notwendigkeit will. Somit geht in Gott der wesensmäßige Akt dem Willensakt wirklich und logisch voran. Denn die Zeugung des Sohnes ist der Grund für all das, was durch den Willen hervorgerufen wird, d. h. für die Geschöpfe. Zu 7. Am göttlichen Wort, das vom Vater gezeugt ist, liegt es zwar, daß alle Geschöpfe entstehen können. Es ist jedoch nicht notwendig, daß, wenn das Wort wesensmäßig aus dem Vater hervorgeht, dabei auch die Geschöpfe wesensmäßig hervorgehen. Genausowenig kann gefolgert werden, daß unser Intellekt, wenn er wesensmäßig die Prinzipien erkennt, dabei das wesensmäßig erkennt, was

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sich aus diesen Prinzipien ergibt. Denn der Wille nimmt ja unsere natürlichen Anlagen einmal so und einmal so in Anspruch. Zu 8. Gottvater hat willentlich gezeugt. Damit ist aber nur gemeint, daß der Wille der Zeugung einhergeht. Zu 9. Wenn man das angeführte Bibelwort auf die Zeugung in der Ewigkeit bezieht, so ist mit der dort genannten Liebe des Vaters zum Sohn nicht der Grund für jenes Geschenk namhaft gemacht, mit dem der Vater dem Sohn in Ewigkeit alles gibt, sondern ein Merkmal an diesem Geschenk. Denn der Grund für die Liebe ist die Ähnlichkeit des Sohnes mit dem Vater. Zu 10. Dionysius spricht hier von der Hervorbringung der Geschöpfe, jedoch nicht von der Zeugung des Sohnes. Zu 11. Man spricht davon, daß der Heilige Geist durch den Willen hervorgeht, und zwar deshalb, weil er durch einen Akt hervorgeht, der wesensmäßig vom Willen ausgeht, weil er also dadurch hervorgeht, daß der Vater den Sohn liebt und umgekehrt. Denn der Heilige Geist ist die Liebe selbst, genauso wie der Sohn das Wort ist, in dem der Vater sich selbst ausspricht. Zu 12. Aus diesem Argument folgt nur, daß der Vater die Zeugung des Sohnes will.39 Dies meint, daß der Wille mit der Zeugung einhergeht und daß diese für ihn ein Willensgegenstand ist, nicht aber, daß der Wille das Prinzip für sie wäre. Zu 13. Die Zeugung beim Menschen erfolgt über eine ihm wesensmäßige Kraft, d. h. über das Zeugungsvermögen und ein antreibendes Vermögen als Mittler. Dieses letztere, nicht aber das Zeugungsvermögen untersteht der Verfügungsgewalt des Willens. Dies gilt jedoch nicht bei Gott, und daher ist hier ein Vergleich unmöglich. Zu 14. Es ist nicht die Absicht von Augustinus, die in einer Unveränderlichkeit liegende Notwendigkeit in Abrede zu stellen – wovon ja das Argument hier ausgeht –, sondern die in einem Zwang liegende Notwendigkeit. Zu 15. Wenn man sagt, daß der Sohn Wille vom Willen sei, dann ist damit gemeint, daß er vom Vater ist, der der Wille ist. Von da39 quod Pater generationem Filii velit P : quod Pater rationem Filii velit

M.

4. Artikel

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her benennt die Präposition »von« das Prinzip für die Zeugung, d. h. den Zeugenden, nicht aber dasjenige Prinzip, wodurch die Zeugung erfolgt. Um dieses letztere geht es in unserer gegenwärtigen Fragestellung. 4. Artik el Die vierte Frage lautet: Kann es in der Gottheit mehrere Söhne geben? 40 Dies scheint der Fall zu sein; denn: 1. Über diejenige Tätigkeit, über die ein bestimmter Träger einer Wesensform verfügt, verfügen auch alle anderen Träger dieser Wesenform. Nach Johannes von Damaskus ist nun die Zeugung eine wesensmäßige Tätigkeit, über die der Vater verfügt.41 Also verfügen auch der Sohn und der Heilige Geist über sie, die Träger ein und desselben Wesens sind. Nun zeugt sich aber der Sohn nicht selbst. Denn nach Augustinus kann kein Ding sich selbst zeugen.42 Folglich wird der Sohn einen weiteren Sohn zeugen, und damit kann es in der Gottheit mehrere Söhne geben. 2. Gottvater verströmt all seine Kraft in den Sohn. Nun gehört das Zeugungsvermögen zur Kraft des Vaters. Also hat der Sohn ein derartiges Vermögen vom Vater. Somit gilt das Gleiche wie oben. 3. Der Sohn ist das vollkommene Abbild des Vaters, und das erfordert ihre vollkommene Ähnlichkeit. Diese Ähnlichkeit bestünde nicht, wenn der Sohn nicht all das täte, was der Vater tut. Folglich zeugt ebenso wie der Vater auch der Sohn einen Sohn. Somit gilt das Gleiche wie oben. 4. Nach Dionysius43 wächst die Ähnlichkeit mit Gott, wenn etwas Gott nicht nur formal gleicht, sondern auch in seinem Wirken. So ist etwa auch dasjenige der Sonne ähnlicher, was hell ist und Licht spendet, als dasjenige, was nur hell ist. Nun ist der Sohn auf vollkommene Weise dem Vater ähnlich. Demnach gleicht er Gottvater 40 Paralleltexte: Sum. theol. I, q. 41 a. 6. ScG IV, 13. Sent. I, d. 7 q. 2 a. 2. De pot. q. 9 a. 9 ad 1−2. 41 Johannes Damascenus, De fide orthodoxa 8, 4 (ed. Buytaert, 32). 42 Augustinus, De trin. I, 1 (CCSL 50, 28). 43 Dionysius Areopagita, De cael. hier. III, 2 (Dion. II, 791).

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nicht nur hinsichtlich des Zeugungsvermögens, sondern auch hinsichtlich des Zeugungsaktes. Somit gilt das Gleiche wie oben. 5. Wenn Gott nach der Erschaffung eines Geschöpfes noch ein weiteres erschaffen kann, so deswegen, weil sich sein Vermögen in dieser Erschaffung weder erschöpft noch abschwächt. Genauso erschöpft und schwächt sich Gottes Vermögen nicht dadurch ab, daß er den Sohn zeugt. Daß er also den Sohn zeugt, ist kein Hinderungsgrund dafür, daß er nicht noch einen weiteren Sohn zeugen kann. Folglich kann es mehrere Söhne in der Gottheit geben. 6. Nun könnte man einwenden: Der Vater zeugt deswegen keinen weiteren Sohn, weil sich daraus, wie Augustinus betont, eine widersinnige Folgerung ergäbe: Die göttliche Zeugung fände kein Ende, wenn der Vater mehrere Söhne zeugte bzw. der Sohn dem Vater einen Enkel zeugte usw.44 Dem ist zu erwidern: In Gott liegt nichts dem Vermögen nach, was nicht auch als Tätigkeit in ihm liegt. Sonst wäre er ja nicht vollkommen. Wenn es also im Vermögen des Vaters liegt, daß er mehrere Söhne zeugen kann, so ist es nicht widersinnig, daß es in der Gottheit mehrere Söhne gibt. 7. Es ist eine wesensmäßige Eigenart des Gezeugten, daß es in Ähnlichkeit mit seinem Erzeuger hervorgeht. Wie nun der Sohn, so gleicht auch der Heilige Geist dem Vater. Also ist auch der Heilige Geist ein Sohn, und somit gibt es mehrere Söhne in der Gottheit. 8. Nach Anselm45 ist es gleichbedeutend zu sagen, daß der Vater den Sohn zeugt, wie daß der Vater sich selbst ausspricht. Wie nun der Vater sich selbst aussprechen kann, so können dies auch der Sohn und der Heilige Geist. Folglich können der Vater, der Sohn und der Heilige Geist Söhne zeugen. Somit gilt das Gleiche wie oben. 9. Wenn man sagt, daß der Vater den Sohn zeugt, dann doch deswegen, weil der Vater die Ähnlichkeit mit sich selbst geistig erfaßt. Eben dies vermögen auch der Sohn und der Heilige Geist. Somit gilt das Gleiche wie oben. 10. Ein Vermögen ist das Mittelglied zwischen dem Wesen und 44 Augustinus, Contra Maximinum Arianorum Episcopum II, 12, 3 (PL 42, col. 768). 45 Anselm von Canterbury, Monologion 33 (Opera omnia I, ed. Schmitt, 52 f.).

4. Artikel

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dem Tätigsein. Nun ist das Wesen des Vaters und des Sohnes ein und dasselbe, wie auch ihr Vermögen ein und dasselbe ist. Also ist auch ihr Tätigsein ein und dasselbe. Somit kommt es dem Sohn zu, zu zeugen. Und so gilt das Gleiche wie oben. 11. Die Güte ist das Prinzip für die Hingabe. Ebenso wie im Vater und im Sohn liegt aber die unendliche Güte auch im Heiligen Geist. Wie nun der Vater in einer unendlichen Teilgabe seine Natur mitteilt und dabei den Sohn zeugt, so teilt sich auch der Heilige Geist mit und bringt dabei eine göttliche Person hervor. Denn auf eine unendliche Weise teilt sich die göttliche Güte nicht den Geschöpfen mit. Somit kann es offensichtlich mehrere Söhne in der Gottheit geben. 12. Ohne Gesellschaft kann man kein Gut mit Freude besitzen. Nun stellt die Sohnschaft im Sohn ein Gut dar. Damit die Freude des Sohnes vollkommen ist, muß es demnach mehrere Söhne in der Gottheit geben. 13. Der Sohn geht aus dem Vater hervor wie der Abglanz aus dem Licht. So heißt es in Hebr. 1, 3: »Er, der da Abglanz seiner Herrlichkeit und Ausprägung seines Wesens ist«. Nun kann der Abglanz einen anderen Abglanz hervorrufen und dieser einen weiteren und dieser wieder einen. Ähnlich scheint es beim Hervorgang der göttlichen Personen zu sein, so daß der Sohn einen weiteren Sohn zeugen kann. Somit gilt das Gleiche wie oben. 14. Die Vaterschaft im Vater gehört zu seiner Erhabenheit. Die Erhabenheit des Vaters und des Sohnes ist aber ein und dieselbe. Also kommt dem Sohn die Vaterschaft zu. Somit gibt es mehrere Söhne in der Gottheit. 15. Wer über ein Vermögen verfügt, der verfügt auch über ein Tätigsein. Nun verfügt der Sohn über ein Zeugungsvermögen. Folglich zeugt der Sohn. Dagegen spricht: 1. Die vollkommensten Geschöpfen sind diejenigen, die jeweils die gesamte ihr zugehörige Materie umfassen, und von ihnen gibt es jeweils nur ein Einzelwesen innerhalb einer jeweiligen Spezies. Wie nun die materialen Geschöpfe infolge der Materie als Einzelwesen bestehen, so bestimmt sich die Person des Sohnes durch sein

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Sohnsein. Weil also Gottsohn vollkommener Sohn ist, so findet sich offensichtlich einzig in ihm das Sohnsein innerhalb der Gottheit. 2. Augustinus sagt: Wenn der Vater zeugen könnte und es nicht täte, dann wäre er voller Neid.46 Der Sohn ist nun nicht neidisch. Wenn er also nicht zeugt, dann kann er gar nicht zeugen. Somit kann es in der Gottheit nicht mehrere Söhne geben. 3. Was man einmal in vollkommener Weise ausgesprochen hat, braucht man nicht zu wiederholen. Nun ist, wie Augustinus sagt,47 der Sohn das vollkommene Wort, dem nichts abgeht. Folglich braucht es nicht mehrerer Worte in der Gottheit und damit auch nicht mehrerer Söhne. Antwort: In der Gottheit kann es nicht mehrere Söhne geben. Dies läßt sich folgendermaßen erweisen: Da die göttlichen Personen in den absoluten Attributen übereinkommen – diese sind ihnen ja gleichermaßen wesensmäßig –, so können sie nur im Hinblick auf ihre Relationen unterschieden werden und da auch nur im Hinblick auf die Relation des Ursprungs. Denn manche Relationen, wie etwa die der Gleichheit und Ähnlichkeit, implizieren eine Unterscheidbarkeit, manche wiederum meinen eine Ungleichheit, wie etwa »Herr« und »Knecht« und dergleichen. Die Relation des Ursprungs aber beinhaltet ihrem Begriff nach eine Übereinstimmung. Denn was aus einem anderen entspringt, das behält als solches seine Ähnlichkeit mit jenem. Es gibt also nichts in der Gottheit, wodurch sich der Sohn von den anderen göttlichen Personen unterscheidet, ausgenommen die Bezüglichkeit seiner Sohnschaft, die seine personale Eigenschaft ausmacht und durch die er zu diesem bestimmten Träger bzw. zu dieser bestimmten Person wird. Unmöglich läßt sich jedoch dasjenige, wodurch etwas zu einem ganz bestimmten Träger wird, auch an anderen Trägern feststellen. Denn dann wäre diese Individualität übertragbar. So etwas widerspricht dem Begriff eines Einzelwesens, eines Trägers oder einer 46 Augustinus, Contra Maximinum Arianorum Episcopum II, 7 (PL 42, col. 762). 47 Augustinus, De trin. VI, 10, 11 (CCSL 50, 241).

4. Artikel

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Person. Von daher kann es in der Gottheit keinen anderen Sohn geben als den Einen. Es läßt sich ja nicht sagen, daß die eine Sohnschaft für den einen Sohn gilt und eine andere Sohnschaft wieder für einen anderen Sohn. Weil also die Sohnschaft sich begrifflich nicht unterscheidet, so müßte es, wenn sich die Sohnschaft anhand der Materie bzw. an ihrem jeweiligen Träger unterscheiden läßt, in der Gottheit Materie geben oder ein anderes unterscheidendes Moment als die Relation. Man kann aber auch noch einen anderen spezifischen Grund dafür anführen, warum der Vater nur einen einzigen Sohn zeugen kann. Eine Wesensform ist nämlich auf ein einziges Ziel hin festgelegt. Wenn daher der Vater aus seinem Wesen einen Sohn zeugt, so kann es nur den Einen vom Vater gezeugten Sohn geben. Man kann ja auch nicht, wie dies bei uns Geschöpfen der Fall ist, behaupten, daß es in der Gottheit zahlenmäßig mehrere gibt, die zu ein und derselben Spezies gehören. Denn es gibt dort keine Materie, die bei ein und derselben Spezies das Prinzip für eine zahlenmäßige Unterscheidung abgibt. Zu 1. Zwar ist die Zeugung durch den Vater in gewisser Weise ein Werk der göttlichen Natur. Sie geht aber, wie oben im 2. Artikel ausgeführt, mit der personalen Eigenschaft des Vaters einher. Von daher braucht sie dem Sohn nicht zuzukommen, bei dem sich die göttliche Natur ohne eine solche Eigentümlichkeit findet. Zu 2. Der Vater teilt dem Sohn seine ganze Kraft mit, welche schlechthin aus seinem göttlichen Wesen kommt. Das Zeugungsvermögen verdankt sich aber, wie gesagt, seinem göttlichen Wesen im Verein mit seiner Eigenschaft als Vater. Zu 3. Ein Abbild gleicht seinem Urbild im Hinblick auf die Spezies und nicht in seiner Relation. Wenn sich nämlich ein Bild von seinem Urbild herleitet, so heißt dies nicht, daß sich auch das Urbild von etwas anderem herleiten muß. Denn eine Ähnlichkeit besteht hier eigentlich nicht im Bezug, sondern in der Form. Zu 4. Der Sohn gleicht dem Vater in seinem göttlichen Wesen, nicht aber in seiner personalen Eigenschaft. Genauso gleicht er dem Vater in derjenigen Tätigkeit, die mit seinem Wesen einhergeht, ohne daß damit die erwähnte personale Eigenschaft einher-

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geht. Eine solche Tätigkeit stellt aber die Zeugung nicht dar. Daher ist dieses Argument nicht stichhaltig. Zu 5. Zwar erschöpft und vermindert sich das Zeugungsvermögen des Vaters nicht durch die Zeugung des Sohnes. Jedoch gleicht der Sohn, der unendliches Denken ist, der Unendlichkeit des Vaters, das endliche Geschöpf tut dies aber nicht. Somit gibt es hier keine Vergleichsmöglichkeit. Zu 6. Bei einer Reductio ad absurdum sollte nicht die bloße Vermeidung von Unschlüssigem ausschlaggebend dafür sein, daß man die Behauptung aufgibt, aus der sich die Unschlüssigkeit ergibt, sondern es müssen die Gründe angegeben werden, die die Unschlüssigkeit offenlegen. Daß es in der Gottheit nicht mehrere Söhne geben kann, liegt also nicht allein daran, daß die Zeugung sonst kein Ende fände. Zu 7. Der Heilige Geist geht in der Liebe hervor. »Liebe« meint aber nicht etwas, was sich gesondert als Liebendes und Geliebtes kennzeichnen und spezifizieren ließe. Dagegen verweist »Wort« auf die Instanz eines Sprechers zurück und meint das, was gesagt wird. Weil nämlich der Sohn als Wort hervorgeht, so liegt es an der Art seines Hervorgangs, daß er hervorgeht in Gleichheit mit dem Zeugenden. Deshalb ist er der Sohn, und sein Hervorgang wird als Zeugung bezeichnet. Der Heilige Geist weist diese Gleichheit jedoch nicht durch die Art seines Hervorganges auf, sondern eher aufgrund der ihm eigentümlichen göttlichen Natur. Denn in Gott kann nichts sein, was nicht Gott wäre. Die göttliche Liebe selbst ist somit Gott, und zwar, insofern sie göttlich ist, und nicht, insofern sie Liebe ist. Zu 8. Das Wort »sprechen« kann man auf zweifache Weise verstehen: einmal im engen, einmal im weiten Sinn. Im engen Sinne meint »sprechen« dasselbe wie »ein Wort äußern«; in diesem Sinne meint »sprechen« einen geistigen Akt und kommt ausschließlich dem Vater zu. In diesem Sinne verwendet Augustinus »sprechen«; daher sagt er am Anfang des 6. Buches von De Trinitate, daß einzig der Vater sich ausspricht.48 Dann kann »sprechen« noch in einem allgemeinen Sinn verstanden werden, insofern es dasselbe wie »denken« und in diesem Sinne einen wesensmäßigen Akt meint. In 48 Augustinus, De trin. VI, 2, 3 (CCSL 50, 229 f.).

4. Artikel

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diesem Sinne versteht Anselm das »sprechen« in seinem Monologion, wo er sagt, daß der Vater, der Sohn und der Heilige Geist sich aussprechen.49 Zu 9. Genauso wie das Zeugen so kommt auch das Begreifen in der Gottheit allein dem Vater zu. Deshalb begreift einzig der Vater im Intellekt seine Ähnlichkeit mit sich, wenngleich auch der Sohn und der Heilige Geist denken. Denn im Denken drückt sich keine Relation aus oder allenfalls vielleicht noch in unserer Weise zu denken. In der Zeugung und im Begreifen aber drückt sich der wirkliche Ursprung aus. Zu 10. Dieses Argument gilt für eine Tätigkeit, die sich aus einer Wesensform schlechthin, ohne jede Rücksicht auf ihre Eigentümlichkeit ergibt. Jedoch stellt die Zeugung keine solche Tätigkeit dar. Von daher ist das Argument nicht stichhaltig. Zu 11. In der Gottheit kann es nur einen Hervorgang geistiger Art geben, und dieser erfolgt freilich nur durch das Denken oder nach dem Willen. Deswegen kann der Heilige Geist keine weitere göttliche Person hervorbringen. Er geht nämlich seinerseits als die Liebe aus dem Willen hervor, der Sohn aber als Wort durch das Denken. Zu 12. Wie oben ausgeführt, ist das Charakteristikum der Person notwendigerweise unveräußerlich. Von daher ist es für es nicht nötig, daß die Freude auch geteilt werde. Zu 13. Dieser Vergleich gilt nicht unbedingt in jeder Hinsicht. Zu 14. Genauso wie die Vaterschaft im Vater und die Sohnschaft im Sohn eines Wesens sind, so gibt es auch nur eine einzige Erhabenheit und eine einzige Güte. Zu 15. Wenn man von einem Zeugungsvermögen spricht, dann läßt sich das Verbalsubstantiv »Zeugung« in dreifacher Weise verstehen: Erstens als Verbalsubstantiv des aktiven Verbs »zeugen«. In diesem Sinne weist derjenige ein Zeugungsvermögen auf, wer die Kraft besitzt, zu zeugen. Zweitens versteht es sich als das Verbalsubstantiv des passiven Verbs »gezeugt werden«.50 In diesem Sinne 49 Anselm von Canterbury, Monologion 62 (Opera omnia I, ed. Schmitt,

72). 50 Die Doppeldeutigkeit von potentia als »Vermögen« und »Möglich-

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weist derjenige eine Zeugungsmöglichkeit auf, bei dem es die Möglichkeit gibt, daß er gezeugt wird. Drittens als Verbalsubstantiv des unpersönlichen Verbs. In diesem Sinne weist derjenige ein Zeugungsvermögen auf, wer dieses Vermögen dadurch besitzt, daß ein anderer ihn zeugt. Folglich kommt das Zeugungsvermögen nicht im erstgenannten Sinn dem Sohn zu, sondern nur im zweiten und dritten Sinne. Von daher ist dieses Argument nicht stichhaltig.

5. Artik el Die fünfte Frage lautet: Ist Gottes Zeugungsvermögen Bestandteil seiner Allmacht? 51 Dies scheint nicht der Fall zu sein; denn: 1. Die Allmacht kommt dem Sohn zu nach dem Glaubenssatz: »Allmächtiger Vater, allmächtiger Sohn und allmächtiger Heiliger Geist«.52 Jedoch das Zeugungsvermögen kommt dem Sohn nicht zu. Folglich ist es kein Bestandteil der Allmacht. 2. Nach Augustinus heißt der Vater deswegen allmächtig, weil er all das vermag, was er will.53 Diesem Satz zufolge gehört offensichtlich ein Vermögen zur Allmacht, wenn es unter der Verfügungsgewalt des Willens steht. Das Zeugungsvermögen ist jedoch nicht von dieser Art. Denn der Vater hat ja den Sohn nicht willentlich gezeugt, wie oben im 3. Artikel festgestellt worden ist. Folglich gehört das Zeugungsvermögen nicht zur Allmacht. 3. Die Allmacht spricht man Gott insofern zu, als sie sich auf alles erstreckt, was an sich möglich ist. Die Zeugung des Sohnes bzw. der Sohn selbst fällt nicht unter das, was möglich ist, sondern unter das, was notwendig ist. Folglich ist das Zeugungsvermögen kein Bestandteil der Allmacht. 4. Was mehreren Dingen im allgemeinen zukommt, das kommt keit« einerseits und andererseits von generandi als »des Zeugens« und »des Gezeugtwerdens« kann im Deutschen nicht nachgeahmt werden. 51 Paralleltexte: Sum. theol. I, q. 28 a. 3. Sent. I, d. 7 q. 1 a. 1. 52 Der Satz stammt aus dem Pseudo-Athanasischen Glaubensbekenntnis (entstanden zwischen 430 und 500). Vgl. Denzinger / Schönmetzer, Encheiridion Symbolorum n. 75. 53 Augustinus, Ench. XXIV, 96 (CCSL 46, 100).

5. Artikel

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ihnen nach Maßgabe dessen zu, was ihnen gemeinsam ist. Drei Ecken zu haben, kommt etwa einem gleichseitigen wie auch einem ungleichseitigen Dreieck zu, und zwar angesichts der Tatsache, daß sie alle Dreiecke sind. Was also nur einem einzigen Ding zukommt, das kommt ihm nach Maßgabe dessen zu, was an ihm eigentümlich ist. Die Allmacht ist jedoch nicht für den Vater eigentümlich. Wenn demnach das Zeugungsvermögen innerhalb der Gottheit allein für den Vater eigentümlich ist, dann kommt es ihm nicht nach der Maßgabe zu, daß er allmächtig ist. Somit gehört es nicht zur Allmacht. 5. Wie das Wesen des Vaters und des Sohnes eines ist, so ist auch ihre Allmacht eine. Nun läßt sich das Zeugen-Können nicht auf die Allmacht des Sohnes zurückführen und demnach auch nicht auf die Allmacht des Vaters. Somit gehört das Zeugungsvermögen keineswegs zur Allmacht. 6. Das, was nicht ein und denselben Begriff hat, hat auch nicht dieselbe Geltung. Wenn man etwa sagt: »alle Hunde«, so erstreckt sich der Geltungsbereich von »Hund« nicht gleichermaßen auf den Hund, der bellen kann, und auf das Sternbild des Hundes. Nun haben die Zeugung des Sohnes und die Hervorbringung der anderen Dinge, welche sich der Allmacht verdanken, nicht ein und denselben Begriff. Wenn man also sagt: »Gott ist allmächtig«, so ist darin das Zeugungsvermögen nicht impliziert. 7. Alles, worauf sich die Allmacht erstreckt, ist ihr unterworfen. Nun gibt es in der Gottheit nichts, was unterworfen wäre, wie Johannes von Damaskus sagt.54 Folglich ist weder die Zeugung des Sohnes noch der Sohn der Allmacht unterworfen. Somit gilt das Gleiche wie oben. 8. Nach Aristoteles55 kann eine Relation nicht direkt das Ziel einer Bewegung und daher auch nicht einer Tätigkeit sein. Folglich kann eine Relation auch nicht der Gegenstand eines Vermögens sein, da dieses sich auf ein Tätigsein richtet. Nun implizieren die Zeugung und der Sohn eine Relation in der Gottheit. Demnach kann Gottes Vermögen sich darauf nicht erstrecken, und somit ist das Zeugen-Können in der Allmacht nicht mit einbegriffen. 54 Johannes Damascenus, De Fide orthodoxa 65, 2 (ed. Buytaert, 262). 55 Aristoteles, Phys. V, 2; 225 b 10–14.

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Dagegen spricht: 1. Augustinus sagt: »Wenn der Vater keinen Sohn zeugen kann, der ihm gleicht, was ist dann mit seiner Allmacht?«56 Folglich schließt die Allmacht die Zeugung mit ein. 2. Die Allmacht bei Gott versteht sich nicht nur im Hinblick auf nach außen gerichtete Tätigkeiten wie etwa das Erschaffen, die Weltenlenkung und dergleichen, sondern auch im Hinblick auf innerliche Tätigkeiten wie etwa das Denken und das Wollen. Wenn man nämlich behaupten würde, Gott könne nicht denken, so würde man seine Allmacht in Frage stellen. Nun geht der Sohn als Wort im Denken hervor. Also versteht sich die Allmacht Gottes auch unter Einschluß der Zeugung des Sohnes. 3. Die Zeugung des Sohnes ist ein größeres Werk als die Erschaffung von Himmel und Erde. Die Erschaffung von Himmel und Erde fällt aber unter die Allmacht, und erst recht fällt daher die Zeugung des Sohnes unter sie. 4. In jeder Gattung gibt es eine oberste Instanz, worauf sich alles das zurückführen läßt, was dieser Gattung angehört. Für die Gattung der Vermögen stellt aber die Allmacht diese Instanz dar. Also läßt sich jedes Vermögen auf die Allmacht zurückführen. Folglich gehört entweder das Zeugungsvermögen zur Allmacht oder es wird in der Gattung der Vermögen zwei oberste Instanzen geben. Das aber ist unmöglich. Antwort: Das Zeugungsvermögen gehört zur Allmacht des Vaters, nicht jedoch zur Allmacht als solcher. Dies läßt sich so erweisen: Gesetzt, ein Vermögen wurzelt im Wesen und stellt das Prinzip für eine Tätigkeit dar, dann muß man dieses Vermögen und diese Tätigkeit in derselben Weise beurteilen wie das Wesen. Beim göttlichen Wesen ist jedoch in Betracht zu ziehen, daß aufgrund seiner höchsten Einfachheit alles, was in Gott liegt, dem göttlichen Wesen gleichkommt. Von daher sind auch die Bezüglichkeiten ihrerseits, durch die sich die göttlichen Personen voneinander unterscheiden, der Sa56 Augustinus, Contra Maximinum Arrianorum Episcopum II, 7 (PL 42, col. 762).

5. Artikel

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che nach das göttliche Wesen selbst. Obgleich also ein und dasselbe Wesen den drei Personen gemeinsam ist, so ist doch der Bezug der einen Person nicht allen dreien gemein, weil die Relationen einen wechselseitigen Gegensatz aufmachen. So kommt zwar die Vaterschaft dem göttlichen Wesen gleich; trotzdem liegt die Vaterschaft nicht im Sohn, da das Vatersein und das Sohnsein einen Gegensatz bilden. Von daher kann man sagen, daß das Vatersein das göttliche Wesen ist, insofern es im Vater, nicht aber im Sohn liegt. Denn das göttliche Wesen liegt nicht in derselben Weise im Vater und im Sohn, vielmehr liegt es im Sohn als eines, das von einem anderen empfangen worden ist, im Vater jedoch nicht so. Dennoch folgt daraus nicht, daß, obwohl der Sohn nicht die Vaterschaft des Vaters hat, der Vater etwas hätte, was der Sohn nicht hat. Denn eine Relation verhält sich im Hinblick auf die grundlegende Bestimmung ihrer Gattung – als Relation also – nicht so, daß sie ein Etwas wäre, sondern ausschließlich so, daß sie den Bezug auf etwas darstellt. Daß aber ein Etwas wirklich vorliegt, hängt davon ab, daß es in etwas liegt, und zwar entweder als das der Sache nach Selbe wie in der Gottheit oder als dasjenige, das – wie bei den Geschöpfen – seinen Grund in einem Substrat hat. Wenn daher das, was absolut ist, gleichermaßen im Vater und im Sohn ist, dann unterscheiden sie sich nicht in einem Etwas, sondern nur in ihrem Bezug auf etwas. Deshalb kann man nicht behaupten, daß der Vater etwas hätte, was der Sohn nicht hat, sondern vielmehr, daß etwas in der einen Hinsicht dem Vater zukommt und in der anderen Hinsicht dem Sohn. Das Gleiche läßt sich nun über das Tätigsein und das Vermögen sagen. Denn »Zeugung« meint eine Tätigkeit in Bezug auf etwas,57 und »Zeugungsvermögen« meint ein Vermögen zu etwas. Von daher ist die Zeugung insofern eine Tätigkeit Gottes, als sie ausschließlich durch den Vater erfolgt. Genauso ist das Zeugungsvermögen insofern die Allmacht Gottes, als es ausschließlich ein Vermögen des Vaters darstellt. Gleichwohl folgt daraus nicht, daß der Vater etwas könnte, was der Sohn nicht vermag. Vielmehr vermag all das, was 57 generatio significat actionem cum aliquo respectu V : generatio significat potentiam cum aliquo respectu M.

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der Vater vermag, auch der Sohn, obgleich er nicht zeugen kann. Denn das Zeugen impliziert eine Relation. Zu 1. Wie gerade in der »Antwort« behandelt, gehört das ZeugenKönnen zur Allmacht, jedoch nicht, insofern diese im Sohn liegt. Zu 2. In der angeführten Stelle ist es nicht die Absicht von Augustinus, den gesamten Begriff der Allmacht darzulegen, sondern nur eines ihrer Merkmale. Er spricht hier nur über die Allmacht, insofern sie sich auf die Geschöpfe erstreckt. Zu 3. Das Mögliche, worauf sich die Allmacht erstreckt, ist nicht bloß im Sinne eines kontingent Möglichen zu verstehen. Denn auch Notwendiges wird durch Gottes Vermögen ins Sein gerufen. Somit spricht nichts dagegen, daß man die Zeugung des Sohnes zu dem rechnet, was Gottes Vermögen möglich ist. Zu 4. Für sich genommen ist zwar die Allmacht nicht für den Vater eigentümlich. Sofern man aber bei ihr die bestimmte Art ihres Vorkommens bzw. eine bestimmte Relation berücksichtigt, gerät die Allmacht zu einer Eigentümlichkeit des Vaters. So gilt ja auch die Anrede »Gottvater« eigens dem Vater, »Gott« aber allen drei Personen gemeinsam. Zu 5. Das Wesen der drei Personen ist eines und dasselbe, doch liegt es in ihnen nicht in derselben Relation bzw. in derselben Art seines Auftretens. Genauso wie mit dem Wesen verhält es sich mit der Allmacht. Zu 6. Die Zeugung des Sohnes und die Hervorbringung der Geschöpfe fallen unter ein und denselben Begriff, jedoch nicht unter einen univoken, sondern unter einen analogen. Basilius sagt nämlich, daß der Sohn das Empfangen mit jedem Geschöpf gemein hat,58 und deswegen heißt er ja »der Erstgeborene vor aller Schöpfung«.59 Aus diesem Grund kann man seine Zeugung und die Hervorbringung der Geschöpfe im Rahmen ein und desselben begrifflichen Geltungsbereiches zusammenbringen.

58 Basilius von Caesarea, Homilia XV: De fide 6, 2 (PG 31, col. 468 bzw.

1783). 59 Kol. 1, 15.

6. Artikel

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Zu 7. Die Zeugung des Sohnes ist der Allmacht unterworfen, doch nicht in dem Sinn, daß »unterworfen« eine Erniedrigung meint, sondern in dem Sinn, daß hier vom Gegenstand der Allmacht die Rede ist. Zu 8. Die »Zeugung des Sohnes« bringt eine Relation im Sinne einer Tätigkeit zum Ausdruck, und »Sohn« meint bei dieser Relation die zugrundeliegende Hypostase. Folglich spricht nichts dagegen, wenn man mit Rücksicht darauf von der Allmacht spricht. Die Gegenargumente beweisen nur, daß das Zeugen-Können zur Allmacht des Vaters gehört.

6. Artik el Die sechste Frage lautet: Ist das Zeugungsvermögen mit dem Schöpfungsvermögen identisch? 60 Dies scheint nicht der Fall zu sein; denn: 1. Die Zeugung ist ein wesensmäßiges Wirken oder Werk, wie Johannes von Damaskus sagt.61 Die Schöpfung ist jedoch ein Werk des Willens, wie Hilarius in De Synodis erklärt.62 Nun sind der Wille und eine Wesensform als Prinzipen nicht identisch, sondern stehen in einem Gegensatz zueinander, wie man aus dem 2. Buch der Physik ersehen kann.63 Folglich ist das Zeugungsvermögen mit dem Schöpfungsvermögen nicht identisch. 2. Wie aus dem 2. Buch von Über die Seele hervorgeht, lassen sich die einzelnen Vermögen nach ihren entsprechenden Tätigkeiten unterscheiden.64 Nun sind die Zeugung und die Schöpfung zwei grundverschiedene Tätigkeiten. Folglich sind das Zeugungsvermögen und das Schöpfungsvermögen als Vermögen nicht miteinander identisch. 60 61 62 63 64

Paralleltexte: Sent. I, d. 20 q. 1 a. 1 c. und ad 4. Johannes Damascenus, De fide orthodoxa 8, 4 (ed. Buytaert, 32). Hilarius, De Synodis seu de fide orientalium 58 (PL 10, col. 520). Aristoteles, Phys. II, 5; 196 b 18–22. Aristoteles, De an. II, 4; 415 a 16–20.

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3. Bei den Dingen, die in einer bestimmten Hinsicht univok sind, liegt eine geringere Einheit vor als bei denjenigen, die dasselbe Sein aufweisen. Nun sind das Zeugungsvermögen und das Schöpfungsvermögen in keinerlei Hinsicht univok – und ebensowenig die Zeugung und die Schöpfung bzw. der Sohn und die Geschöpfe. Folglich sind das Zeugungsvermögen und das Schöpfungsvermögen hinsichtlich ihres Seins nicht miteinander identisch. 4. Bei Dingen, die miteinander identisch sind, gibt es keine Reihenfolge. Nun geht das Schöpfungsvermögen dem Zeugungsvermögen logisch so voran, wie etwas Wesensmäßiges einem personalen Unterscheidungsmerkmal. Folglich sind die besagten Vermögen nicht miteinander identisch. Dagegen spricht: 1. In Gott gibt es keinen Unterschied zwischen seinem Vermögen und seinem Wesen. Vielmehr ist Gottes Wesen nur Eines und damit auch sein Vermögen nur Eines. Demnach gibt es keinen Unterschied zwischen diesen Vermögen. 2. Gott läßt dasjenige, was er durch ein Einziges geschehen lassen kann, nicht durch Mehreres geschehen. Nun kann Gott durch ein einziges Vermögen zeugen und schaffen, zumal ja die Zeugung des Sohnes der Grund für die Hervorbringung der Geschöpfe ist. So erklärt auch Augustinus das »Er sprach und es geschah«: Er zeugte das Wort, in dem es lag, daß alles werde.65 Folglich sind das Zeugungsund das Schöpfungsvermögen identisch. Antwort: Wie bereits oben66 ausgeführt, müssen die Aussagen über ein Vermögen in Gott sein Wesen zu ihrem Ausgangspunkt nehmen. Innerhalb der Gottheit besteht zwar ein realer Unterschied zwischen der einen und der anderen Relation aufgrund eines Gegensatzes zwischen diesen Relationen, welche in Gott wirklich liegen. Dennoch ist hier eine Relation der Sache nach nichts anderes als das Wesen selbst, sie unterscheidet sich bloß dem Begriff nach. Denn 65 Augustinus, De Gen. ad litt. II, 6 (CSEL 28/1, 41). 66 Vgl. De pot. q. 2 a. 5.

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die Relation steht hier in keinem Gegensatz zum Wesen. Deshalb kann man die Behauptung nicht gelten lassen, daß das, was in Gott absolut ist, in einer Vielzahl auftrete, also etwa, daß es, wie manche behaupten, in Gott ein zweifaches Sein gebe: ein wesenhaftes und ein personales. In Gott ist nämlich jedes Sein ein wesenhaftes, und die Personen verdanken sich eben diesem wesenhaften Sein. Beim Vermögen zieht man nun – zusätzlich zu dem, was dieses Vermögen als solches ausmacht, – seine bestimmte Hinsicht bzw. seine bestimmte Ausrichtung auf dasjenige in Betracht, was Gegenstand dieses Vermögens ist. Vergleicht man daher ein Vermögen, welches sich in einem wesenhaften Akt verwirklicht, also das Denkund Schöpfungsvermögen, mit demjenigen Vermögen, das sich in einem Akt des Begreifens verwirklicht, also mit dem Zeugungsvermögen, und zwar nach der Maßgabe, was diese Vermögen jeweils als solche ausmacht, dann liegt hier genauso ein und dasselbe Vermögen vor, wie das wesenhafte und personale Sein ein und dasselbe ist. Gleichwohl kann man jedem dieser Vermögen seine jeweils andere Ausrichtung zuerkennen, und zwar nach Maßgabe der verschiedenen Akte, von denen her sich diese Vermögen verstehen. Somit stellen das Zeugungsvermögen und das Schöpfungsvermögen ein und dasselbe Vermögen dar, sofern man das in Betracht zieht, was ein Vermögen ausmacht. Sie unterscheiden sich jedoch in ihrer Ausrichtung auf je verschiedene Akte. Zu 1. Zwar gibt es bei den Geschöpfen einen Unterschied zwischen ihrer Wesensform und dem, worauf sich ihr Wille richtet, in Gott jedoch sind sie der Sache nach identisch. – Oder man kann so argumentieren: »Schöpfungsvermögen« bezeichnet nicht einen Willensgegenstand oder den Willen, sondern ein Vermögen, insofern dieses unter der Verfügungsgewalt des Willens steht. Das Zeugungsvermögen hingegen verwirklicht sich, indem die Wesensform es dazu bringt. Dies aber bedeutet keinen Unterschied dieser Vermögen; denn nichts spricht dagegen, daß ein bestimmtes Vermögen zu einem bestimmten Akt durch den Willen veranlaßt und zu einem anderen Akt durch die Wesensform gebracht wird. So wird ja auch unser Intellekt durch den Willen zum Glauben gebracht, durch seine Wesensform aber dazu, die ersten Prinzipien zu erkennen.

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Zu 2. Je größer ein Vermögen ist, auf desto mehr Gegenstände erstreckt es sich. Von daher ist es schwieriger, es nach seinen verschiedenen Gegenständen zu unterscheiden. So ist ja auch die Vorstellungskraft ein einheitliches Vermögen, das sich auf alles sinnlich Wahrnehmbare richtet, und nur im Hinblick auf letzteres lassen sich die einzelnen Sinnesvermögen unterscheiden. Das göttliche Vermögen ist nun das allergrößte. Von daher führt die Verschiedenheit seiner Verwirklichung auch nicht zu einem Unterschied in dem Vermögen als solchem. Vielmehr vermag Gott durch ein einziges Vermögen alles. Zu 3. Das Zeugungsvermögen und das Schöpfungsvermögen sind, was sozusagen die Vermögenssubstanz als solche anbelangt, nicht nur univok, sondern sie sind Eines. Daß man aber von ihnen in einem analogen Sinn spricht, liegt an der Reihenfolge ihrer Verwirklichung. Zu 4. Die beiden in Frage stehenden Vermögen gehorchen nur insofern der Reihenfolge von Früher und Später, als sie sich unterscheiden lassen. Von daher läßt sich bei ihnen eine Reihenfolge nur im Zusammenhang mit ihrer Verwirklichung feststellen. Daraus erhellt, daß das Zeugungsvermögen dem Schöpfungsvermögen in der Art vorgeordnet ist wie die Zeugung der Schöpfung. Im Hinblick auf ihr Wesen sind sie jedoch identisch, und dann gibt es hier keine Reihenfolge.

III. DIE SCHÖPFUNG ALS DIE ERSTE WIRKUNG DES GÖTTLICHEN VERMÖGENS

Die hier behandelten Fragen lauten: 1. Kann Gott etwas erschaffen? 2. Ist die Schöpfung eine Art von Veränderung? 3. Stellt die Schöpfung etwas Wirkliches an den Geschöpfen dar? 4. Kann das Schöpfungsvermögen den Geschöpfen verliehen werden? 5. Kann es etwas geben, was von Gott nicht erschaffen worden ist? 6. Gibt es nur ein einziges Prinzip für die Schöpfung? 7. Wirkt Gott in jedem Wirken der Natur? 8. Ist mit dem Wirken der Natur ein Schöpfungsvorgang verbunden? 9. Ist die Seele erschaffen? 10. Wird die Seele im Körper oder außerhalb des Körpers erschaffen? 11. Verdankt sich der wahrnehmende und der vegetative Seelenteil einem Schöpfungsakt? 12. Befinden sich diese beiden Seelenteile im Samen zum Zeitpunkt seiner Abscheidung? 13. Kann ein Seiendes, das sich einem anderen verdankt, ewig sein? 14. Kann das, was von Gott dem Wesen nach verschieden ist, schon immer dagewesen sein? 15. Gehen die Dinge von Gott aus der Notwendigkeit seines Wesens hervor? 16. Kann aus dem ersten Einen eine Vielheit hervorgehen? 17. Ist die Welt immer schon dagewesen? 18. Wurden die Engel vor der sichtbaren Welt erschaffen? 19. Können die Engel vor der sichtbaren Welt dagewesen sein?

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1. Artik el Die erste Frage lautet: Kann Gott etwas aus dem Nichts erschaffen? 1 Dies scheint nicht der Fall zu sein; denn: 1. Gott kann nichts im Widerspruch zu den allgemeinen Grundsätzen des Denkens geschehen lassen, etwa, daß das Ganze nicht größer ist als seine Teile. Wie nun Aristoteles sagt, war es nach Überzeugung der Philosophen ein Grundsatz, daß aus Nichts nichts entstehen kann.2 Folglich kann Gott kein Ding aus dem Nichts entstehen lassen. 2. All das, was entsteht, war vor seiner Entstehung möglich. Denn wenn sein Sein unmöglich war, so war auch seine Entstehung unmöglich. Kein Ding verwandelt sich ja in das, was unmöglich ist. Nun kann eine Möglichkeit, angesichts von der etwas möglich ist, nur dann an einem Substrat auftreten, wenn sie selbst das Substrat ist. Denn ein Akzidens kann nicht ohne ein Substrat Bestand haben. All das, was entsteht, ist somit bei seiner Entstehung an eine Materie bzw. an ein Substrat gebunden. Folglich ist es unmöglich, daß etwas aus dem Nichts entsteht. 3. Einen unendlichen Abstand kann man nicht überbrücken. Nun ist der Abstand zwischen dem schlichtweg Nichtseienden und Seienden unendlich. Dies läßt sich so erweisen: Je weniger ein Vermögen die Anlage zu seiner Verwirklichung hat, desto mehr ist es von seiner Verwirklichung entfernt. Wenn daher ein Vermögen vollständig zum Erliegen kommt, so wird der Abstand unendlich. Folglich ist es unmöglich, daß etwas aus dem reinen Nichtsein ins Sein übergeht. 4. Aristoteles sagt, daß vollkommen Unähnliches nicht aufeinander einwirken kann.3 Denn das, was eine Wirkung ausübt, und das, dem diese Wirkung widerfährt, müssen in der Gattung und in der Materie übereinkommen. Nun haben das schlichtweg Nichtseiende und Gott nichts gemein. Folglich kann Gott nicht auf das schlicht-

1 Paralleltexte: Sum. theol. I, q. 45 a. 2. ScG II, 16. Sent. II, d. 1 q. 1 a. 2. Comp. theol. 69. Opusc. de quatuor opposit. 4. In Phys. VIII, 2. 2 Aristoteles, Phys. I, 4; 187 a 26–29. 3 Aristoteles, De gen. et corr. I, 7; 323 b 18−324 a 1.

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weg Nichtseiende einwirken und somit kann er kein Ding aus dem Nichts entstehen lassen. 5. Nun wurde eingewendet: Das angeführte Argument gilt für ein tätiges Wesen, bei dem sich das Tätigsein von seiner Substanz unterscheidet und dessen Tätigsein sich an einem Träger entfalten muß. – Dem ist mit Avicenna zu erwidern:4 Würde der Wärme die Materie fehlen, dann würde sie sich von selbst unabhängig von einer Materie entfalten. Gleichwohl wäre ihr Wirken nicht ihre Substanz. Daß also Gottes Tätigsein sein Wesen ist, ist kein Grund dafür, daß sein Tätigsein keine Materie brauchen würde. 6. Aus dem Nichts kann nichts gefolgert werden – was ja ein Vorgang im Denken ist. Ein gedachtes Sein hat aber ein wirkliches Sein zu seiner Voraussetzung. Folglich kann auch kein Ding in der Wirklichkeit aus dem Nichts entstehen. 7. Wenn aus dem Nichts etwas entsteht, dann zeigt die Präposition »aus« entweder eine Ursache oder eine Reihenfolge an. Im ersten Fall kann das »aus« offensichtlich nur eine Wirk- oder eine Materialursache anzeigen. Das Nichts kann jedoch weder die Wirkursache noch die Materie für Seiendes abgeben. Somit verweist hier das »aus« nicht auf eine Ursache. Ebensowenig zeigt das »aus« eine Verhältnismäßigkeit an. Nach Boethius5 besteht nämlich zwischen dem Seienden und dem Nichtseienden kein Verhältnis. Folglich kann aus dem Nichts in keiner Weise etwas entstehen. 8. Nach Aristoteles ist ein aktives Vermögen das Prinzip für die Veränderung in etwas anderes, insofern dieses ein anderes ist.6 Nun liegt in Gott kein Vermögen, es sei denn ein aktives. Also braucht es etwas, an dem sich diese Veränderung vollzieht. Somit kann es kein Ding aus dem Nichts entstehen lassen. 9. Zwischen den Dingen besteht insofern eine Verschiedenheit, als ein Ding vollkommener ist als das andere. Die Ursache für diese Verschiedenheit liegt aber nicht an Gott, der Einer und einfach ist. Als Ursache für diese Verschiedenheit muß man also die Materie 4 Avicenna, Met. VI, 2 (Avicenna latinus 4, ed. Van Riet, 306). 5 Dieses Zitat konnte nicht ausfindig gemacht werden. Vgl. J. Hamesse,

Les auctoritates Aristotelis, 151 (n. 133). 6 Aristoteles, Met. V, 12; 1019 a 15 ff.; 1020 a 1 ff. IX, 1; 1046 a 10 ff.

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verantwortlich machen. Folglich ist festzuhalten, daß die Dinge aus der Materie entstanden sind und nicht aus dem Nichts. 10. Was aus dem Nichts entstanden ist, hat sein Sein zeitlich nach seinem Nichtsein. Man muß also einen Moment annehmen, an dem es gerade eben noch nicht ist und von dem an es aufhört, nicht zu sein, sowie einen Moment, an dem es gerade eben ist und von dem an es zu sein beginnt. Nun sind diese Momente entweder miteinander identisch oder voneinander verschieden. Denn wenn sie miteinander identisch wären, folgt daraus, daß es in ein und demselben Moment zwei kontradiktorische Tatsachen gibt. Wenn die Momente voneinander verschieden wären, folgt daraus – zwischen den beiden Momenten liegt dann ja eine Zwischenzeit –, daß es ein Zwischenglied zwischen einer Affirmation und einer Negation gibt. Von diesem Zwischenglied läßt sich nun weder behaupten, daß es nach dem letzten Moment seines Nichtseins noch immer nicht war, noch daß es vor dem ersten Moment seines Seins auch schon war. Beide genannten Optionen sind unmöglich: sowohl daß Kontradiktorisches zugleich Bestand hat, als auch, daß es bei einer Kontradiktion ein Zwischenglied gibt. Demnach ist es unmöglich, daß aus dem Nichts etwas entsteht. 11. Notwendigerweise muß das, was entstanden ist, zu einem bestimmten Zeitpunkt entstehen, und das, was erschaffen worden ist, zu einem bestimmten Zeitpunkt erschaffen werden. Es herrscht also bei dem, was erschaffen wird, entweder eine Gleichzeitigkeit seines Entstehens und seines Entstandenseins vor oder keine Gleichzeitigkeit. Nun läßt sich hier keine Gleichzeitigkeit behaupten, denn ein Geschöpf ist ja nicht, bevor es entstanden ist. Wenn also seine Entstehung seinem Entstandensein vorangeht, dann muß es etwas geben, woran sich seine Entstehung vollzieht. Das aber widerspricht dem Begriff der Schöpfung. – Wenn dieses Geschöpf hingegen zugleich im Entstehen ist und entstanden ist, dann folgt daraus, daß es zum selben Zeitpunkt im Entstehen ist und nicht mehr entsteht. Denn das, was im Bereich der bestehenden Dinge entstanden ist, ist ja bereits, das jedoch, was im Entstehen ist, ist noch nicht. So etwas 7 7 D. h. die Gleichzeitigkeit von Entstehen und Nicht-Mehr-Entstehen bzw. Entstandensein.

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ist also unmöglich. Folglich ist es unmöglich, daß etwas aus dem Nichts entsteht bzw. erschaffen wird. 12. Jedes tätige Wesen bringt etwas von seinesgleichen hervor. Zudem wirkt jedes tätige Wesen, insofern es zu seiner Verwirklichung kommt. Also entsteht nur das, was zu seiner Verwirklichung kommt. Nun hat die erste Materie keine Wirklichkeit. Also kann sie auch nicht entstehen, insbesondere auch nicht durch Gott entstehen, der reine Wirklichkeit ist. Alles, was entsteht, hat somit für seine Entstehung eine Materie zur Voraussetzung und nicht das Nichts. 13. Alles, was Gott volbringt, verwirklicht er nach einer Idee, so wie auch ein Künstler seine Erzeugnisse nach den Regeln seiner Kunst herstellt. Von der ersten Materie gibt es jedoch keine Idee in Gott, denn eine Idee ist eine Form und entspricht dem, wofür sie eine Idee ist. Die erste Materie versteht sich dagegen ihrem Wesen nach als ganz und gar formlos, und daher gibt es für sie keine entsprechende Form. Folglich kann die erste Materie nicht durch Gott entstehen. Somit gilt das Gleiche wie oben. 14. Ein und dasselbe Ding kann nicht das Prinzip sowohl für eine Vollkommenheit als auch für eine Unvollkommenheit darstellen. Unter den Dingen gibt es aber Unvollkommenheit, insofern manche Dinge besser sind als andere. So etwas kann es aber nur geben aufgrund der Unvollkommenheit der niederen Dinge. Wenn also Gott das Prinzip der Vollkommenheit ist, so muß man die Unvollkommenheit auf ein anderes Prinzip zurückführen, und das kann nur heißen: auf die Materie. Folglich müssen die Dinge aus einer Materie entstanden sein und nicht aus dem Nichts. 15. Wenn etwas aus dem Nichts entsteht, so entsteht es entweder daraus als seiner Grundlage, also etwa so, wie eine Statue aus dem Erz entsteht; oder aber es entsteht daraus als seinem Gegenteil, also etwa so, wie das Geformte aus dem Ungeformten entsteht; oder aber es entsteht aus der Vereinigung beider Momente, also etwa so, wie eine Statue aus ungeformtem Erz entsteht. Nun kann aber etwas nicht aus dem Nichts als seiner Grundlage entstehen, denn das Nichtseiende kann nicht die Materie für Seiendes abgeben. – Ebensowenig kann es aus dem Nichts als der Vereinigung beider Momente entstehen, denn sonst würde sich das Nichtsein etwa so in Seiendes umwandeln wie ungeformtes in geformtes Erz. Dann aber

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müßte es auch etwas dem Nichtseienden und dem Seienden Gemeinsames geben, was unmöglich ist. – Ebensowenig kann etwas aus dem Nichts als seinem Gegenteil entstehen, denn es besteht ein größerer Unterschied zwischen dem reinen Nichtsein und dem Seienden als zwischen zwei Seienden aus verschiedenen Gattungen. Bei letzteren beiden entsteht ja auch nicht das eine aus dem anderem – wie etwa aus einem Standbild keine Wärme entsteht – oder es entsteht zumindest nur auf akzidentelle Weise. Folglich kann auf keine der angeführten Weisen etwas aus dem Nichts entstehen. 16. Alles, was akzidentell ist, läßt sich auf etwas zurückführen, was an sich ist. Aus seinem Gegenteil entsteht nun etwas auf akzidentelle Weise, aus seiner Grundlage jedoch an sich. So entsteht etwa eine Statue akzidentell aus dem Ungeformten, aus dem Erz jedoch an sich; denn dem Erz kommt es akzidentell zu, ungeformt zu sein. Wenn also etwas aus dem Nichtsein entsteht, dann wird dies auf akzidentelle Wiese vonstatten gehen. An sich muß es folglich aus einer bestimmten Grundlage entstehen. Und insofern entsteht es nicht aus dem Nichts. 17. Das, was etwas entstehen läßt, verleiht dem Entstehenden das Sein. Wenn also Gott etwas aus dem Nichts entstehen läßt, dann verleiht er diesem Etwas das Sein. Entweder gibt es also etwas, was das Sein empfängt, oder nicht. Wenn nicht, so wird nichts mit dieser Tätigkeit ins Sein gesetzt, und damit entsteht nichts. Wenn es aber etwas gibt, was das Sein empfängt, so wird sich das von dem unterscheiden, was Gott ist. Denn Empfangendes und Empfangenes sind nicht dasselbe. Folglich läßt Gott etwas aus etwas bereits Bestehendem entstehen und damit nicht aus dem Nichts. Dagegen spricht: 1. Zu Gen. 1, 1: »Im Anfang schuf Gott den Himmel und die Erde« bemerkt die aus Beda entnommene Glosse, daß »erschaffen« so viel wie »etwas aus dem Nichts entstehen lassen« meint.8 2. Avicenna sagt, daß ein tätiges Wesen, dem sein Tätigsein akzidentell zukommt, eine Materie benötigt, auf die es einwirkt.9 Nun 8 Beda Venerabilis, In Pentateuchum, Gen. 1, 1 (PL 91, col. 191). 9 Avicenna, Met. VI, 2 (Avicenna latinus 4, ed. Van Riet, 306).

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kommt Gott ein Tätigsein nicht akzidentell zu, im Gegenteil: sein Tätigsein ist seine Substanz. Folglich benötigt er keine Materie, auf die er einwirkt, und somit kann er aus dem Nichts etwas entstehen lassen. 3. Gottes Kraft vermag mehr als eine natürliche Kraft. Nun läßt eine natürliche Kraft ein Seiendes aus dem entstehen, was dieses zuvor der Möglichkeit nach war. Insofern geht Gottes Kraft weit darüber hinaus: Sie läßt etwas aus dem Nichts entstehen. Antwort: Man muß strikt darauf beharren, daß Gott etwas aus dem Nichts entstehen lassen kann und dies auch tut. Damit dies klar ersichtlich wird, ist an Folgendes zu erinnern: Jedes tätige Wesen vollzieht insofern eine Tätigkeit, als es in der Wirklichkeit ist. Von daher ist das Tätigsein eines tätigen Wesens nach dem Maß seiner Wirklichkeit zu bestimmen. Ein ganz bestimmtes Ding ist nun auf eine ganz bestimmte Weise tätig, und dies in zweifacher Hinsicht. Zum einem im Hinblick auf es selbst: Denn seine Substanz ist ja nicht vollkommen mit seinem Tätigsein identisch, weil derartige Dinge sich aus Materie und Form zusammensetzen. Von daher kommt es, daß ein natürliches Ding nicht als ein Ganzes tätig ist, sondern nur vermöge seiner Form, der sich seine Wirklichkeit verdankt. Zum anderen im Hinblick auf das, was in der Wirklichkeit ist. Denn kein natürliches Ding ist in der Lage, all das in seiner Gesamtheit zu vollbringen und zu verwirklichen, was in der Wirklichkeit ist. Vielmehr weist ein jedes Ding eine Wirklichkeit auf, die nur auf eine einzige Gattung und Spezies beschränkt ist. Daher ist keines dieser Dinge in der Lage, das Seiende als solches zu verwirklichen, sondern nur ein Seiendes, insofern dieses als ein bestimmtes Seiendes auf diese oder jene Spezies beschränkt ist. Denn alles, was tätig ist, verwirklicht etwas von seinesgleichen. Deswegen bringt ein auf natürliche Weise tätiges Wesen nicht schlichtweg das Seiende hervor, sondern vielmehr das Seiende, welches bereits da ist und auf dieses oder jenes hin festgelegt ist, also etwa auf die Spezies »Feuer« oder auf »Weißes« usw. Deswegen verwirklicht ein auf natürliche Weise tätiges Wesen etwas, indem es in Bewegung versetzt, und daher benötigt es die Materie, an der Verwandlung und Bewegung auftritt.

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Im Gegensatz dazu ist Gott selbst durch und durch Tätigsein, und zwar sowohl im Hinblick auf ihn selbst – er ist ja reines Tätigsein ohne jede Beimischung eines [unverwirklichten] Vermögens −; als auch im Hinblick auf die Dinge, die in der Wirklichkeit sind – in ihm liegt ja der Ursprung des Seienden insgesamt. Von daher bringt Gott durch sein Tätigsein das bestehende Seiende in seiner Gesamtheit hervor, ohne daß etwas davon vorher schon da wäre. Denn er ist es, der ganz und gar als Er selbst das Prinzip für die Gesamtheit des Seins ist. Aus diesem Grunde kann er etwas aus dem Nichts entstehen lassen; und dieses sein Tätigsein nennt man Schöpfung. Deswegen heißt es auch im Buch von den Ursachen, daß das Sein sich dem Schöpfungsakt verdankt, das Leben und dergleichen aber einem formgebenden Akt.10 Denn die Ursachen für das Seiende lassen sich schlechthin auf die allumfassende Erste Ursache zurückführen. Jedoch die Ursachen für das andere, was zum Sein nachträglich hinzukommt, bzw. durch die das Sein näher bestimmt wird, fallen unter die zweiten Ursachen, welche einen formgebenden Akt gleichsam als die Folgewirkung der allumfassenden Ursache vollbringen. Dies ist auch der Grund dafür, daß kein Ding das Sein verleiht, es sei denn, es hat an der göttlichen Kraft teil. Deswegen heißt es auch im Buch von den Ursachen, daß die erhabene Seele eine göttliche Kraft hat, insofern sie das Sein verleiht.11 Zu 1. Daß aus Nichts nichts entsteht, ist nach Aristoteles ein allgemeiner Grundsatz des Denkens bzw. die allgemeine Überzeugung der Naturphilosophen. Denn ein auf natürliche Weise tätiges Wesen, welches Gegenstand ihrer Forschung ist, ist nur tätig mittels von Bewegung. Daher muß es etwas geben, woran eine Bewegung bzw. Veränderung auftritt. Für ein übernatürlich tätiges Wesen ist dies, wie gesagt, nicht nötig. Zu 2. Bevor die Welt dagewesen war, war ihr Dasein möglich. Gleichwohl muß nicht eine bestimmte Materie im voraus dagewesen sein, der sich diese Möglichkeit verdankt. Im 5. Buch der Metaphy10 esse est per creationem V : esse eius est per creationem M. – Liber de Causis, prop. 17 [18]; n. 148 (ed. Schönfeld, 36 f.). 11 Liber de Causis, prop. 3; n. 27 (ed. Schönfeld, 6 f.).

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sik heißt es nämlich, daß etwas zuweilen nicht aufgrund einer Möglichkeit als möglich bezeichnet wird, sondern vielmehr deswegen, weil hier kein begrifflicher Widerspruch auftritt, der sich nach dem Gegensatz von Möglichem und Unmöglichem bemißt.12 In diesem Sinne läßt sich also sagen, daß, bevor die Welt da war, ihre Entstehung möglich war; denn hier liegt kein Widerspruch zwischen dem Prädikat und dem Subjekt dieser Aussage vor. – Oder man kann so argumentieren: Möglich war das Besagte aufgrund des aktiven Vermögens eines tätigen Wesens, jedoch nicht aufgrund eines passiven Vermögens der Materie. Aristoteles bedient sich dieses Argumentes im Zusammenhang mit den natürlichen Entstehungsvorgängen gegen die Platoniker, die behaupteten, daß die abgesonderten Formen die Prinzipien für die natürliche Entstehung wären.13 Zu 3. Zwischen dem Seienden und dem Nichtsein herrscht immer irgendeine Art von unendlichem Abstand, jedoch nicht stets auf dieselbe Art. In bestimmten Fällen ist der Abstand von beiden Seiten her ein unendlicher: Wenn man etwa das Nichtsein mit dem Sein Gottes vergleicht, das ein unendliches ist, dann ist dies so, als ob man eine unendliche Schwärze mit einer unendlichen Weiße vergliche. In anderen Fällen aber ist der Unterschied nur von einem Glied her ein endlicher: Wenn man etwa das reine Nichtsein mit dem Sein der Geschöpfe vergleicht, welches endlich ist, dann ist dies so, als ob man eine unendliche Schwärze mit einer begrenzten Weiße vergliche. Es kann also keinen Übergang geben vom Nichtsein in jenes Sein, das unendlich ist; hingegen zu jenem Sein, das begrenzt ist, kann es einen solchen Übergang geben, insofern der Abstand zwischen dem Nichtsein und jenem endlichen Sein vom letzteren Glied her verkürzt wird. Gleichwohl gibt es hier im eigentlichen Sinn keinen Übergang, denn ein Übergang findet eigentlich bei kontinuierlichen Bewegungen satt, bei denen ein Teilstück in das andere übergeht. Und damit trifft ein solcher Übergang auf das Unendliche nicht zu. Zu 4. Wenn etwas aus dem Nichts entsteht, dann stellt das Nichtsein bzw. das Nichts keineswegs oder allenfalls akzidentell dasjenige 12 Aristoteles, Met. V, 12; 1019 b 21–35. 13 Aristoteles, Met. VII, 8; 1049 b 24 ff; 1050 a 4 ff; 1050 b 34 ff.

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dar, dem eine Einwirkung widerfährt; vielmehr stellt es eher das Gegenteil zu dem dar, was bei einem Tätigsein entsteht. Auch bei den natürlichen Dingen stellt das Gegenteil keineswegs oder allenfalls akzidentell dasjenige dar, dem eine Einwirkung widerfährt. Letzteres trifft vielmehr auf das Substrat zu. Zu 5. Wenn der Wärme die Materie fehlen würde, so würde sie sich zwar unabhängig von derjenigen Materie entfalten, welche auf Seiten eines tätigen Wesens erforderlich ist, nicht aber unabhängig von derjenigen Materie, die für dasjenige erforderlich ist, was eine Wärmeeinwirkung erfährt. Zu 6. Eine Denktätigkeit, bei der auf etwas geschlossen wird, ähnelt einer natürlichen Tätigkeit, bei der etwas bewegt wird, da ja der Verstand bei einem Schlußverfahren von einem Urteil zum anderen fortschreitet. Deswegen geht eine natürliche Bewegung aus irgend etwas hervor, und genauso gilt dies für jeden logischen Schluß. Wie nun die Erkenntnis der Prinzipien, welche für ein Schlußverfahren grundlegend ist, nicht aus dem hervorgeht, was der Gegenstand dieses Schlusses ist, so leitet sich auch die Schöpfung, die der Grund für alle Bewegung ist, nicht von irgend etwas ab. Zu 7. Die Rede davon, daß etwas »aus dem Nichts« entsteht, ist doppeldeutig, wie Anselm in seinem Monologion festhält.14 Denn die Negation, die in »Nichts« enthalten ist, kann entweder die Präposition »aus« verneinen oder sie kann innerhalb des Präpositionalausdrucks verbleiben. Wenn nun die Negation die Präposition verneint, dann kann dies seinerseits doppeldeutig sein: Zum einen betrifft die Negation den ganzen Satz, und dabei wird nicht nur die Präposition, sondern auch das Verb verneint. In diesem Fall bringt man zum Ausdruck, daß etwas aus dem Nichts entsteht, weil es überhaupt nicht entsteht – genauso wie man etwa über einen, der schweigt, sagen kann, daß er überhaupt nicht rede. In diesem Sinn kann man von Gott sagen, daß er aus Nichts entsteht, weil er überhaupt nicht entsteht. Freilich ist diese Redensart ungebräuchlich. Im anderen Fall bleibt das Verb unverneint, und die Negation geht ausschließlich auf die Präposition. 14 Anselm von Canterbury, Monologion VIII (Opera omnia I, ed. Schmitt, 23 f.).

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In diesem Fall bringt man zum Ausdruck, daß etwas aus dem Nichts heraus entsteht, weil dieses Etwas zwar sehr wohl entsteht, es aber nichts im voraus gibt, aus dem es entsteht – genauso wie man etwa davon spricht, daß jemand aus dem Nichts heraus traurig wird, weil es keinen Grund für seine Traurigkeit gibt. In diesem Sinn spricht man davon, daß etwas im Schöpfungsakt aus dem Nichts heraus entsteht. Wenn aber die Negation innerhalb des Präpositionalausdrucks verbleibt, dann ergibt dies einen doppelten Sinn, und zwar einen wahren und einen falschen. Ein falscher Sinn ergibt sich, wenn der Ausdruck einen ursächlichen Bezug meint, denn das Nichtsein ist in keiner Weise die Ursache für Seiendes. Ein wahrer Sinn ergibt sich, wenn die Präposition einfach eine Abfolge meint. In diesem Fall bringt man zum Ausdruck, daß etwas aus dem Nichts entsteht, weil es entsteht, nachdem zuvor nichts war, was sich ja auch angesichts der Schöpfung bewahrheitet. Der angeführte Satz des Boethius, daß es kein Verhältnis zwischen dem Nichtsein und dem Seienden gibt, meint ein bestimmtes proportionales Verhältnis bzw. ein Verhältnis im Sinne einer wirklichen Relation, die es nach Avicenna zwischen dem Seienden und dem Nichtsein nicht geben kann.15 Zu 8. Die hier angeführte Definition gilt für ein natürliches aktives Vermögen. Zu 9. Gott bringt die Dinge nicht aus der Notwendigkeit seines Wesens hervor, sondern nach der Fügung seiner Weisheit. Deswegen verdankt sich die Verschiedenheit der Dinge nicht der Materie, sondern der Fügung der göttlichen Weisheit, welche die Dinge zur Vervollständigung des Universums so eingerichtet hat. Zu 10. Wenn etwas aus dem Nichts entsteht, dann nimmt zwar das Sein dessen, was entsteht, zu einem bestimmten Zeitpunkt seinen Anfang. Ein Nichtsein gibt es aber zu diesem Zeitpunkt ebensowenig wie zu einem anderen realen Zeitpunkt; vielmehr gibt es einen solchen Zeitpunkt nur für die Vorstellung. So gibt es ja auch außerhalb des Universums nicht wirklich eine Ausdehnung, sondern nur in der Vorstellung, angesichts von der man sagen kann, 15 Avicenna, Met. III, 10 (Avicenna latinus 3, ed. Van Riet, 182 f.).

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daß Gott etwas außerhalb des Universums bzw. in der und der Entfernung vom Universum entstehen lassen kann. Genauso gab es vor Anbeginn der Welt keine Zeit in der Wirklichkeit, sondern nur für die Vorstellung ist dies so. Innerhalb dieser vorstellbaren Zeit ist die Vorstellung eines Zeitpunktes möglich, an dem zum letzten Mal das Nichtsein aufgetreten ist. Ebenso braucht es zwischen diesen beiden Zeitpunkten keine Zwischenzeit zu geben, da es zwischen der realen Zeit und einer bloß vorgestellten Zeit keinen kontinuierlichen Übergang gibt. Zu 11. Was aus dem Nichts entsteht, entsteht und ist zum selben Zeitpunkt auch schon entstanden. Das Gleiche geht bei allen augenblicklichen Veränderungen vor sich. Denn die Luft wird hell und ist auch schon zum selben Zeitpunkt hell. In solchen Fällen bezeichnet man das Entstandensein als ein Entstehen, insofern das Entstehende zum ersten Zeitpunkt, zu dem es entstanden ist, auch schon ist. Oder man kann so argumentieren: Von dem, was aus dem Nichts entsteht, läßt sich behaupten, daß seine Entstehung nicht durch den Ablauf eines Stadiums nach dem anderen zustande kommt, sondern durch das Ausströmen eines tätigen Wesens ins Entstandene. Bei einer natürlichen Entstehung tritt nämlich beides auf, d. h. sowohl der Ablauf eines Stadiums nach dem anderen als auch das Ausströmen eines tätigen Wesens ins Entstandene. Bei der Schöpfung gibt es aber nur das Letztere. Zu 12. Weder die Materie noch eine Form noch auch ein Akzidens entstehen im eigentlichen Sinn. Was entsteht, ist vielmehr ein Ding, das für sich besteht. Denn da das Ziel einer Entstehung das Sein ist, so kommt ein Entstehen eigentlich dem zu, wem es an sich zukommt, zu sein: einem Ding, das für sich besteht. Von daher läßt sich nicht im eigentlichen Sinne behaupten, daß die Materie, eine Form und ein Akzidens erschaffen werden, sondern vielmehr, daß sie mit erschaffen werden. Im eigentlichen Sinne wird aber ein Ding, das für sich besteht, erschaffen, welches immer dies auch sei. Wenn aber die Überzeugungskraft des gerade Angeführten nicht ausreicht, dann kann man noch anführen, daß die erste Materie insofern eine Ähnlichkeit mit Gott aufweist, als sie am Sein teilhat. Wie nämlich ein Stein als ein Seiendes Gott ähnelt – obgleich er ja nicht wie Gott Geist ist –, so weist auch die erste Materie insofern

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eine Ähnlichkeit mit Gott auf, als sie etwas Seiendes ist, nicht aber, insofern sie etwas wirklich Seiendes ist. Denn das Sein ist in gewissem Sinne der Möglichkeit und Wirklichkeit gemein. Zu 13. Und damit ist auch hier die Antwort klar. Denn im eigentlichen Sinne gibt es nicht für die Materie eine Idee, sondern für das Zusammengesetzte, denn eine Idee ist die Form, der ein Etwas sein Sein verdankt. Gleichwohl läßt sich sagen, daß es eine Idee von der Materie gibt, insofern sie in gewisser Weise das göttliche Sein widerspiegelt. Zu 14. Wenn von zwei Geschöpfen das eine erhabener ist als das andere, so weist das weniger Erhabene nicht unbedingt eine Unvollkommenheit auf. Denn die Unvollkommenheit meint einen Mangel an dem, was man von Natur aus aufweist bzw. aufweisen muß. Wenngleich also in der Herrlichkeit ein Heiliger den anderen übertrifft, so ist doch keiner von ihnen unvollkommen. Wenn es aber trotzdem Unvollkommenheit unter den Geschöpfen gibt, so liegt dies nicht notwendigerweise an Gott oder an der Materie, sondern daran, daß die Geschöpfe aus dem Nichts kommen. Zu 15. Die Rede, daß etwas aus dem Nichts als seinem Gegenteil entsteht, ist nur in dem gerade erläuterten Sinn zu verstehen. Doch heißt dies nicht unbedingt, daß aus einem Seienden der einen Gattung ein Seiendes der anderen Gattung entstehen muß, wie z. B. aus einer Farbe eine Gestalt. Denn Seiendes und Nichtseiendes können nicht gleichzeitig bestehen, Farbe und Gestalt aber sehr wohl. Wie es im 1. Buch der Physik heißt, kann das, woraus etwas entsteht, nicht bei dem Entstandenen vorliegen, da beides nicht zugleich der Fall sein kann.16 Zu 16. Sollte das »aus«17 eine Ursache angeben, dann entsteht hier etwas keineswegs oder allenfalls akzidentell aus seinem Gegenteil, will sagen: auf Grundlage von etwas. Wenn »aus« dagegen eine Rei16 Aristoteles, Phys. I, 5; 188 a 31–b 26. Im Beispiel gesprochen: Wenn ein Gegenstand erkaltet, d. h. aus einem warmen in einen kalten Zustand übergeht, dann kann die Wärme, aus der der kalte Zustand resultiert (›entstanden ist‹), nicht gleichzeitig im ›entstandenen‹ kalten Gegenstand vorliegen. 17 in der Wendung »aus dem Nichts«.

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henfolge angibt, dann entsteht etwas aus seinem Gegenteil auch an sich. Aus diesem Grund bezeichnet man ja auch eine Privation als ein Prinzip für die Entstehung, nicht aber als ein Seinsprinzip. Daß aber etwas aus dem Nichts entsteht, läßt sich in dem Sinne verstehen, wie oben in der »Antwort« ausgeführt worden ist. Zu 17. Gott verleiht das Sein und ineins damit bringt er das hervor, was das Sein empfängt. Daher braucht es für sein Tätigsein nichts, was schon im voraus Bestand haben müßte.

2. Artik el Die zweite Frage lautet: Ist die Schöpfung eine Art von Veränderung? 18 Dies scheint der Fall zu sein; denn: 1. Dem Wortsinn nach besagt »Veränderung« die Abfolge eines bestimmten Seins nach einem anderen. Dies geht aus dem 5. Buch der Physik hervor.19 Dies gilt nun für die Schöpfung. Denn bei ihr folgt ein Sein auf ein Nichtsein. Folglich stellt die Schöpfung eine Veränderung dar. 2. Alles, was entsteht, entsteht auf irgendeine Weise aus dem Nichtsein, denn was bereits ist, entsteht nicht. Wie sich nun die Entstehung, bei der sich die Substanz eines Dinges teilweise verändert, zu der Privation einer Form verhält, die in bestimmter Hinsicht ein Nichtsein darstellt, so verhält sich die Schöpfung, der dieses Ding sein Sein schlechthin verdankt, zum reinen Nichtsein. Eine Privation ist nun der eigentliche Ausgangspunkt für die Entstehung. Folglich ist das reine Nichtsein der eigentliche Ausgangspunkt für die Schöpfung. Demnach stellt die Schöpfung im eigentlichen Sinne eine Veränderung dar. 3. Je größer der Abstand zwischen den beiden Eckpunkten einer Entwicklung ist, desto tiefgreifender ist die Veränderung. Der Wechsel von Weiß zu Schwarz ist nämlich tiefgreifender als derjenige von Weiß zu Grau. Nun ist der Abstand zwischen dem reinen 18 Paralleltexte: Sum. theol. I, q. 45 a. 1 ad 2. ScG II, 17−19. Sent. II, d. 1 q. 1 a. 2 19 Aristoteles, Phys. V, 1; 225 a 1 f.

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Nichtsein und dem Seienden größer als der Abstand zwischen den beiden Gliedern eines Gegensatzes und auch größer als der Unterschied zwischen dem, was in bestimmter Hinsicht nicht ist, und dem, was ist. Wenn also eine Veränderung vor sich geht beim Übergang von etwas in sein Gegenteil bzw. beim Übergang dessen, was in bestimmter Hinsicht nicht ist, in etwas, das ist, dann wird beim Schöpfungsakt der Übergang vom reinen Nichtsein zum Sein um so mehr eine Veränderung darstellen. 4. Was sich zu einem gegenwärtigen Zeitpunkt nicht in dem gleichen Zustand befindet wie zu einem früheren, unterliegt einer Veränderung oder Bewegung. Nun befindet sich das Erschaffene zum gegenwärtigen Zeitpunkt nicht in dem gleichen Zustand wie zu einem früheren. Denn zu einem früheren Zeitpunkt war es ein schlichtweg Nichtseiendes, zu einem späteren Zeitpunkt aber war es in der Wirklichkeit. Folglich bewegt oder verändert sich das, was erschaffen wird. 5. Was von der Möglichkeit in die Wirklichkeit übergeht, unterliegt einer Veränderung. Was geschaffen wird, das geht von der Möglichkeit in die Wirklichkeit über. Denn vor seiner Erschaffung lag es bloß im Vermögen dessen, der es entstehen ließ, nachher aber war es in der Wirklichkeit. Was also erschaffen wird, unterliegt einer Bewegung oder Veränderung. Folglich stellt die Schöpfung eine Veränderung dar. Dagegen spricht: Den Aristotelischen Kategorien zufolge gibt es sechs Arten von Bewegung bzw. von Veränderung.20 Keine von ihnen trifft auf die Schöpfung zu, was sich zeigt, wenn man sie einzeln durchgeht. Folglich stellt die Schöpfung keine Veränderung dar. Antwort: Bei jeder Veränderung muß es etwas Einheitliches geben, das den beiden Eckpunkten dieser Veränderung gemeinsam ist. Wenn nämlich der Ausgangs- und Endpunkt einer Veränderung in nichts Einheitlichem übereinkämen, dann könnte man eine Veränderung 20 Aristoteles, Cat. 14; 15 a 13 f.

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nicht als den Übergang vom dem einen zu dem anderen bezeichnen. Mit dem Wort »Veränderung« und »Bewegung« kommt ja zum Ausdruck, daß sich etwas Einheitliches zu einem gegenwärtigen und zu einem späteren Zeitpunkt jeweils anders verhält. So fallen denn auch der Ausgangs- und Endpunkt einer Veränderung nicht zusammen – dies ist ja für sie als Ausgangs- und Endpunkt einer Veränderung unabdingbar –, oder doch nur, insofern sie sich auf dieselbe Sache beziehen. Gegensätzliches kann nämlich nur dann zur gleichen Zeit bestehen, wenn es sich auf jeweils verschiedene Dinge bezieht. Zuweilen ist es also der Fall, daß der Ausgangs- und Endpunkt einer Veränderung einen einzigen Träger gemeinsam haben, der in der Wirklichkeit ist. In einem solchen Fall liegt eine Bewegung im eigentlichen Sinne vor, also etwa bei einer qualitativen Veränderung, bei einer quantitativen Vergrößerung und Verkleinerung und bei der Ortsbewegung. Bei all diesen Bewegungen verändert sich ein und derselbe Träger, der in der Wirklichkeit ist, von einem Zustand in einen anderen. Zuweilen aber ist der Träger, der dem Ausgangs- und Endpunkt gemeinsam ist, nicht in der Wirklichkeit, sondern bloß der Möglichkeit nach. Dies ist der Fall beim Werden und Vergehen als solchem. Denn das, an dem eine substantiale Form bzw. deren Privation auftritt, ist die erste Materie, die kein Seiendes der Wirklichkeit nach darstellt. Daher bezeichnet man auch das Werden und Vergehen nicht als eine Bewegung im eigentlichen Sinne, sondern als eine Art von Veränderung. In wieder anderen Fällen gibt es keinen durchgängigen Träger, der da in der Wirklichkeit oder der Möglichkeit nach wäre, sondern ein einheitliches Zeitkontinuum, innerhalb von dem in einem ersten Zeitraum das eine und in einem zweiten Zeitraum das andere der Fall ist. So spricht man ja auch davon, daß eines aus dem anderen, d. h. nach dem anderen, entsteht, so etwa, daß aus dem Vormittag der Mittag wird. So etwas bezeichnet man nun nicht im eigentlichen, sondern im übertragenen Sinne als eine Veränderung, insofern man sich die Zeit gewissermaßen als den Träger dessen vorstellt, was in der Zeit geschieht. Bei der Schöpfung hingegen gibt es nichts, was den gerade besprochenen Fällen entspräche. Denn hier gibt es keinen durchgängi-

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gen Träger, der in der Wirklichkeit oder der Möglichkeit nach wäre. Auch die Zeit stellt hier kein durchgängiges Moment dar, sobald wir von der Erschaffung des Universums reden. Denn vor Anbeginn der Welt gab es keine Zeit. Es läßt sich aber ein durchgängiger Träger ausmachen, doch nur in unserer Vorstellung. Man kann sich ja einen durchgängigen Zeitraum vorstellen, in dem es die Welt noch nicht gab und in dem sie dann ins Sein getreten ist. Wie es nämlich außerhalb des Universums nicht wirklich eine Ausdehnung gibt, deren Vorstellung aber gleichwohl möglich ist, so gab es auch vor dem Anbeginn der Welt keine Zeit, deren Vorstellung aber durchaus möglich ist. Insofern fällt die Schöpfung nicht in Wahrheit und im eigentlichen Sinne unter den Begriff der Veränderung, sondern für die Vorstellung: nicht im eigentlichen, sondern in einem übertragenen Sinn. Zu 1. Dem Wortsinn nach meint »Veränderung« die Abfolge eines bestimmtes Seins nach einem anderen, und zwar, wie in der »Antwort« ausgeführt, an ein und demselben Träger. Dies ist jedoch bei der Schöpfung nicht der Fall. Zu 2. Bei der Entstehung, bei der sich die Substanz eines Dinges teilweise verändert, gibt es einen durchgehenden Träger, an dem eine Privation und eine Form auftritt, der aber nicht in der Wirklichkeit ist. Und wie es hier einen Ausgangspunkt im eigentlichen Sinne gibt, so gibt es hier auch einen Übergang im eigentlichen Sinne. Dies ist bei der Schöpfung nicht der Fall. Zu 3. Wo der Abstand zwischen den beiden Eckpunkten einer Entwicklung größer ist, da ist auch die Veränderung tiefgreifender − vorausgesetzt, der Träger bleibt identisch. Zu 4. Das, was sich zu einem gegenwärtigen und zu einem früheren Zeitpunkt nicht gleich verhält, unterliegt einer Veränderung – vorausgesetzt, der Träger bleibt identisch. Andernfalls würde sich auch das schlichtweg Nichtseiende verändern. Denn das schlichtweg Nichtseiende verhält sich zu einem gegenwärtigen und zu einem früheren Zeitpunkt weder gleich noch ungleich. Damit es aber zu einer Veränderung kommt, muß sich etwas Einheitliches zu einem gegenwärtigen und zu einem früheren Zeitpunkt ungleich verhalten.

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Zu 5. Ein passives Vermögen, nicht jedoch ein aktives Vermögen ist der Träger, an dem eine Veränderung auftritt. Denn verändert wird das, was aus einem passiven Vermögen in die Wirklichkeit übergeht, und nicht das, was aus einem aktiven Vermögen in den Akt übergeht. Somit ist dieses Argument nicht stichhaltig.

3. Artik el Die dritte Frage lautet: Stellt die Schöpfung etwas Wirkliches am Erschaffenen dar? 21 Und falls ja, was ist dies? Allem Anschein nach stellt sie nichts Wirkliches am Erschaffenen dar; denn: 1. Wie es im Buch von den Ursachen heißt, liegt in einem Empfänger das Empfangene in der Weise des Empfangenden.22 Nun läßt Gott seine schöpferische Tätigkeit dem schlichtweg Nichtseienden angedeihen. Denn Gott läßt ja bei der Schöpfung etwas aus dem Nichts entstehen. Folglich bringt die Schöpfung dem Erschaffenen nichts Wirkliches hinzu. 2. Alles, was wirklich ist, ist entweder der Schöpfer oder etwas Erschaffenes. Nun ist der Schöpfungsakt nicht identisch mit dem Schöpfer, sonst würde er ja von Ewigkeit an vor sich gehen. Ebensowenig ist er mit dem Erschaffenen identisch, sonst müßte er durch einen weiteren Schöpfungsakt erschaffen werden, für dessen Erschaffung wiederum ein Schöpfungsakt nötig wäre und so weiter ins Unendliche.23 Folglich ist die Schöpfung nichts Wirkliches am Sein der Dinge. 3. Alles, was ist, ist entweder eine Substanz oder ein Akzidens. Nun ist, wie leicht einzusehen ist, die Schöpfung keine Substanz, da sie weder eine Materie noch eine Form noch etwas daraus Zusammengesetztes ist. Ebensowenig ist sie ein Akzidens, da ein Akzidens dem nachgeordnet ist, woran es auftritt. Die Schöpfung ist aber ihrem Wesen nach früher als das Erschaffene, weil ihr nichts zu21 Paralleltexte: Sum. theol. I, q. 45 a. 3. ScG II, 18. Sent. I, d. 40 q. 1 a. 1 ad 1; II, d. 1 q. 1 a. 2 ad 4−5. 22 Liber de Causis prop. 9 [10]; n. 99 (ed. Schönfeld, 24 f.). 23 et sic in infinitum V : et sic infinitum M.

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grunde liegt, woran sie erst auftreten könnte. Folglich ist die Schöpfung nichts Wirkliches am Sein der Dinge. 4. Die Entstehung verhält sich zu einem entstandenen Ding so wie die Schöpfung zu einem erschaffenen Ding. Nun stellt ein entstandenes Ding nicht dasjenige dar, woran sich die Entstehung vollzieht, sondern es ist dessen Zielpunkt. Vielmehr stellt, wie es in Über Entstehen und Vergehen heißt, die erste Materie dasjenige dar, woran sich das Entstehen vollzieht.24 Folglich ist auch ein erschaffenes Ding nicht die Instanz, woran die Schöpfung auftritt. Ebensowenig läßt sich behaupten, daß eine bestimmte Materie die Instanz wäre, woran die Schöpfung auftritt. Ein Geschöpf wird ja nicht aus der Materie erschaffen. Folglich gibt es bei der Schöpfung keine Instanz, woran sie sich vollzieht, und damit ist sie auch kein Akzidens. Andererseits steht fest, daß die Schöpfung keine Substanz ist. Folglich ist die Schöpfung nichts Wirkliches am Sein der Dinge. 5. Angenommen, die Schöpfung ist etwas Wirkliches am Sein der Dinge, dann wird sie, wenn sie, wie oben ausgeführt,25 keine Veränderung darstellt, am ehesten noch eine Relation darstellen. Nun stellt sie aber keine Relation dar, weil auf sie keine Art von Relation zutrifft. Denn in einer Relation kann das schlichtweg Seiende dem schlichtweg Nichtseienden weder untergeordnet noch gleichgestellt werden. Folglich ist die Schöpfung nichts Wirkliches am Sein der Dinge. 6. Wenn die Schöpfung einen Bezug des Erschaffenen auf Gott meint, von dem es das Sein hat, dann wird, da ein Geschöpf diesen Bezug ständig − also nicht nur zu Beginn, sondern für die Dauer seines Seins – aufweist, etwas andauernd erschaffen. So etwas ist aber offensichtlich widersinnig. Somit stellt die Schöpfung keine Relation dar. Und damit gilt das Gleiche wie vorhin. 7. Jeder Bezug, der wirklich an den Dingen auftritt, bemißt sich nach etwas, was von diesem Bezug unterschieden ist, so z. B. ein Gleichheitsbezug nach einer Quantität und ein Ähnlichkeitsbezug nach einer Qualität. Gesetzt also, das Erschaffensein stellt einen wirklichen Bezug an einem Geschöpf dar, dann muß es sich von dem 24 Aristoteles, De gen. et corr. I, 4; 320 a 2 f. 25 Vgl. De pot. q. 3 a. 2.

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unterscheiden, nach dem sich dieser Bezug bemißt. Dies aber ist dasjenige, was bei der Schöpfung verliehen wird. Daraus folgt nun, daß das Erschaffensein selbst nicht durch einen Schöpfungsakt verliehen wird und daß es mithin unerschaffen ist. Dies aber ist unmöglich. 8. Eine jede Veränderung läßt sich auf diejenige Kategorie zurückführen, auf deren Veränderung sie abzielt, also etwa das Anderswerden auf eine Qualität und die Vergrößerung auf eine Quantität. Nach dem 3. Buch der Physik gibt es deshalb so viele Arten von Bewegung wie Seinsweisen.26 Nun ist eine Substanz das Ziel der Schöpfung. Gleichwohl läßt sich, wie in Punkt 3 ausgeführt, nicht behaupten, daß sie unter die Kategorie der Substanz fällt. Folglich stellt die Schöpfung offensichtlich nichts Wirkliches an den Dingen dar. Dagegen spricht: 1. Wenn die Schöpfung keine Wirklichkeit ist, dann wird auch nichts wirklich erschaffen. Dies ist ganz klar falsch. Folglich stellt die Schöpfung etwas Wirkliches am Sein der Dinge dar. 2. Gott ist deswegen der Herr der Geschöpfe, weil er sie in der Schöpfung ins Sein bringt. Nun ist die Herrschaft ein bestimmter Bezug, der wirklich unter den Geschöpfen auftritt, und erst recht gilt dies damit auch für die Schöpfung. Antwort: Einige behaupteten, daß die Schöpfung etwas Wirkliches am Sein der Dinge wäre, das zwischen dem Schöpfer und dem Erschaffenen liegt. Weil aber ein Mittelglied weder das eine noch das andere von dem ist, wozwischen es liegt, so wurde daraus gefolgert, daß die Schöpfung weder mit Gott noch mit dem Erschaffenen identisch sei. Dies wurde aber von den Magistern als Irrtum befunden. Denn jedes, auf welche Art auch immer seiende Ding hat sein Sein ausschließlich von Gott und ist somit etwas Erschaffenes. Deswegen behaupteten wieder andere, die Schöpfung selbst lege dem Erschaffenen nichts Wirkliches bei. Dies stimmt nun ebensowenig. Denn bei allem, was aufeinander bezogen ist und wobei das 26 Aristoteles, Phys. III, 1; 201 a 8 f.

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eine Glied vom anderen abhängt, nicht aber umgekehrt, gibt es im abhängigen Glied einen wirklichen Bezug, in dem anderen aber nur einen begrifflichen Bezug. Dies ist nach Ausweis von Aristoteles etwa beim Wissen und dem Wissbaren der Fall.27 Ein Geschöpf bezieht sich nun, wie schon sein Name sagt, auf den Schöpfer. Dieses Geschöpf hängt von Gott ab, nicht aber umgekehrt. Von daher muß der Bezug des Geschöpfes auf Gott ein wirklicher sein, während in Gott nur ein begrifflicher Bezug liegt. Dies bestätigt ausdrücklich Petrus Lombardus im 1. Buch seiner Sentenzen, dist. 30.28 Somit ist festzuhalten, daß »Schöpfung« in einem aktiven und in einem passiven Sinn verstanden werden kann. Im aktiven Sinn meint sie die Tätigkeit Gottes, die ja sein Wesen ist, und zwar in Bezug auf seine Geschöpfe. Dies ist kein wirklicher Bezug, sondern nur ein begrifflicher. Versteht man hingegen »Schöpfung« in einem passiven Sinn, dann läßt sich – da ja, wie oben ausgeführt,29 die Schöpfung keine Veränderung darstellt – nicht behaupten, daß die Schöpfung unter die Kategorie des Erleidens fällt, sondern daß sie unter die Kategorie einer Relation fällt. Dies läßt sich folgendermaßen aufzeigen: Bei jeder richtigen Veränderung und Bewegung findet ein doppelter Vorgang statt – einerseits eine Bewegung vom Ausgangs- zum Zielpunkt hin, so etwa von Weiß zu Schwarz; andererseits eine Bewegung von dem, der eine Tätigkeit ausführt, zu dem, dem diese Tätigkeit widerfährt, so etwa von einem Hersteller zum Hergestellten. Nun verhalten sich diese beiden Vorgänge sowohl während des Bewegungsablaufes als auch an den beiden Eckpunkten dieser Bewegung nicht gleich. Denn während des Bewegungsablaufes entfernt sich das, das der Bewegung unterliegt, von seinem Ausgangspunkt und nähert sich seinem Endpunkt, steht aber noch nicht am Endpunkt der Bewegung. Dies zeigt sich etwa an dem, was sich von Weiß zu Schwarz hin bewegt. Denn am Endpunkt der Bewegung nähert sich dieses bereits nicht mehr der Schwärze, sondern ist gerade schwarz geworden. In ähnlicher Weise wird das, dem eine Tätigkeit widerfährt bzw. 27 Aristoteles, Met. V, 15; 1020 a 31. 28 Petrus Lombardus, Sent. I d. 30, 1 (ed. coll. S. Bon. I-1, 220). 29 Vgl. De pot. q. 3 a. 2.

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was hergestellt wird, während des Bewegungsablaufes von dem, der diese Tätigkeit ausführt, verändert. Wenn es aber am Endpunkt der Bewegung steht, dann wird das Hergestellte nicht weiter von dem, der die Tätigkeit ausführt, verändert, sondern steht dann in einem bestimmten Bezug zu dem, der die Tätigkeit ausführt, insofern es von diesem sein Sein hat und ihm in irgendeiner Weise ähnlich ist. So steht etwa am Ende des menschlichen Fortpflanzungsvorganges ein Kind in einem Bezug der Nachkommenschaft. Wie bereits ausgeführt,30 kann die Schöpfung jedoch nicht als eine Bewegung verstanden werden, die vor dem Endpunkt einer Bewegung vonstatten geht; vielmehr versteht sie sich als eine vollendete Tat. Von daher meint die Schöpfung keine schrittweise Annäherung an ein Sein, auch keinen Veränderungsvorgang durch den Schöpfer, sondern ausschließlich das Einsetzen des Seins und den Bezug auf den Schöpfer, von dem das Erschaffene das Sein hat. Somit stellt die Schöpfung nichts anderes dar als einen bestimmten Bezug auf Gott in Verbindung mit dem Aufkommen des Seins. Zu 1. Bei der Schöpfung ist keineswegs das Nichtseiende, sondern, wie eben ausgeführt, das Erschaffene dasjenige, dem Gott seine Tätigkeit angedeihen läßt. Zu 2. »Schöpfung« im aktiven Sinne meint die Tätigkeit Gottes, mit der ein begrifflicher Bezug verbunden ist. In diesem Sinne ist die Schöpfung etwas Unerschaffenes. »Schöpfung« im passiven Sinne ist hingegen, wie gesagt, eine wirkliche Relation, die eine Art von Veränderung meint und mit der ein Aufkommen oder Einsetzen von etwas gemeint ist. Dieser Bezug ist in gewissem Sinne etwas Erschaffenes, wenn man unter »Erschaffenes« in einem allgemeinen Sinn all das versteht, was von Gott kommt. Zudem braucht man nicht ins Unendliche fortschreiten, weil sich der Bezug des Erschaffenen auf Gott nicht mittels einer weiteren wirklichen Relation bildet, sondern als solcher besteht. Denn keine Relation bildet einen Bezug mittels einer weiteren Relation, so Avicenna in seiner Metaphysik.31 Wenn man aber »Erschaffenes« im strengen Sinne nur als 30 Vgl. De pot. q. 3 a. 2. 31 Avicenna, Met. III, 10 (Avicenna latinus 3, ed Van Riet, 179 ff.).

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das versteht, was ein substantielles Sein hat – denn dieses entsteht und wird eigentlich erschaffen, wie es im eigentlichen Sinne ein Sein hat –, dann ist der besagte Bezug nichts Erschaffenes, sondern etwas Miterschaffenes und ist damit auch kein Seiendes im eigentlichen Wortsinn, sondern etwas, was am Seienden auftritt. Das Gleiche gilt von allen Akzidentien. Zu 3. Der hier geltend gemachte Bezug ist ein Akzidens und ist, von seinem Sein her gesehen, als ein Sein an einem erschaffenen Ding ebenso nachgeordnet, wie ein Akzidens seinem Träger logisch und wirklich nachgeordnet ist. Gleichwohl stellt dieser Bezug kein Akzidens dar, das durch die Prinzipien seines Trägers verursacht wäre. Wenn man hingegen bei der besagten Relation den Aspekt berücksichtigt, daß sie durch die Tätigkeit eines tätigen Wesens zustande kommt, dann ist diese Relation in gewisser Weise ihrem Träger so vorgeordnet, wie Gottes Tätigkeit ihre unmittelbare Ursache ist. Zu 4. Mit einer Entstehung geht sowohl eine Veränderung als auch ein Bezug einher, wodurch sich das Erzeugte auf seinen Erzeuger bezieht. Von der Veränderung her gesehen, tritt die Entstehung nicht am Erzeugten selbst, sondern an dessen Materie auf. Was hingegen den Bezug anbelangt, so tritt die Entstehung am Erzeugten selbst auf. Bei der Schöpfung hingegen gibt es, wie gesagt, einen Bezug, jedoch keine Veränderung im eigentlichen Sinne. Somit ist dieser Vergleich schief. Zu 5. Die besagte Relation versteht sich nicht als eine zwischen dem Sein und dem Nichtsein. Denn solch eine Relation kann es nach Avicenna nicht wirklich geben.32 Vielmehr ist der besagte Bezug zu verstehen als der Bezug des erschaffenen Seins auf Gott. Daher ist klar, daß es sich hier um einen Bezug der Unterordnung handelt. Zu 6. »Schöpfung« meint die besagte Relation zusammen mit dem Aufkommen des Seins. Daher braucht ein Ding, sobald es einmal da ist, nicht ständig erschaffen zu werden, und doch bleibt es stets auf Gott bezogen. Trotzdem wäre es nicht unpassend, zu sagen: Wie die Luft, solange sie hell ist, von der Sonne erhellt wird, so entsteht ein Geschöpf durch Gott, solange es sein Sein hat. Dies sagt 32 Avicenna, Met. III, 10 (Avicenna latinus 3, ed. Van Riet, 179 ff.).

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auch Augustinus in seinem Genesis-Kommentar.33 Der Unterschied liegt hier einzig im Wort selbst, insofern »Schöpfung« so verstanden kann, daß sie ein Aufkommen [des Seins] mit einschließt oder nicht. Zu 7. Das, wonach sich die Relation des Erschaffenseins in erster Linie bemißt, ist ein Ding, das im substantiellen Sinn ist. Von diesem Ding unterscheidet sich die Relation des Erschaffenseins, die selbst auch etwas Erschaffenes ist, und zwar nicht in erster, sondern in zweiter Linie, insofern sie etwas Miterschaffenes ist. Zu 8. Eine Bewegung läßt sich dann auf diejenige Kategorie zurückführen, auf deren Veränderung sie abzielt, wenn es bei ihr einen Verlauf von der Möglichkeit hin zur Wirklichkeit gibt. Denn während des Bewegungsvorganges ist der Zielpunkt der Bewegung der Möglichkeit nach, und Möglichkeit und Wirklichkeit lassen sich auf dieselbe Gattung zurückführen. Bei der Schöpfung gibt es jedoch keinen Verlauf von einer Möglichkeit hin zur Wirklichkeit. Und deshalb ist dieser Vergleich schief.

4. Artik el Die vierte Frage lautet: Kann das Schöpfungsvermögen oder sogar der Schöpfungsakt einem Geschöpf verliehen werden? 34 Dies scheint der Fall zu sein; denn: 1. Auf dieselbe Weise und in derselben Ordnung, in der die Dinge aus dem ersten Prinzip hervorgehen, sind sie auf ihr letztes Ziel hingeordnet, denn das erste Prinzip und das letzte Ziel der Dinge sind eins. Nun richten sich die niederen Dinge auf Gott als ihr Ziel vermittels der höheren Geschöpfe. Denn wie Dionysius sagt, hat die Gottheit es festgesetzt, daß sie das Unterste durch das Oberste an sich zieht.35 Folglich gehen bei der Schöpfung auch die niederen Ge33 Augustinus, De Gen. ad litt. VIII, 12 (CSEL 28/1, 250). 34 Paralleltexte: Sum. theol. I, q. 45 a. 5; q. 65 a. 3; q. 90 a. 3. ScG II,

20−21. Sent. II, d. 1 q. 1 a. 3; IV, d. 5 q. 1 a. 3. De ver. q. 5 a. 9. Quodl. III, q. 3 a. 1. Comp. theol. 70. Opusc. de angelis 10. Opusc. de quatuor opposit. 4. 35 Dionysius Areopagita, De eccl. hier. V, 4 (Dion. II, 1330).

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schöpfe aus dem ersten Prinzip hervor, und zwar vermittelt über die höheren Geschöpfe. Folglich wird auch der Schöpfungsakt den Geschöpfen verliehen. 2. Was den Geschöpfen verliehen werden kann, ohne daß es die Grenzen des Erschaffenen überschreitet, das kann auch das Vermögen des Schöpfers, der sogar neue Gattungen von Geschöpfen hervorbringen kann, einem Geschöpf verleihen. Angenommen, ein Schöpfungsvermögen wird den Geschöpfen verliehen, dann wird dies nicht die Grenzen des Erschaffenen überschreiten. Folglich kann den Geschöpfen ein Schöpfungsvermögen verliehen werden. Beweis des mittleren Satzes:36 Dasjenige legt einem Geschöpf etwas über seine Grenzen hinaus bei, was mit dem Begriff des Erschaffenen unvereinbar ist. Das Schöpfungsvermögen ist nun mit dem Begriff des Erschaffenen nicht unvereinbar, außer in dem Punkt, daß eine unendliche Kraft nötig wäre, um schaffen zu können. Solch eine Kraft scheint jedoch nicht erforderlich zu sein. Denn ein jedes Ding ist in dem Maße von dem einen Glied eines Gegensatzes entfernt, in dem es Anteil hat an dem anderen. Etwas ist ja in dem Maße weiß, in dem es von der Schwärze entfernt ist. Das erschaffene Seiende hat nun in einem begrenzten Ausmaß an der Natur des Seienden Anteil. Folglich ist es in einem begrenzten Ausmaß vom reinen Nichtsein entfernt. Es zeugt nun nicht von einer unendlichen Kraft, wenn man etwas aus einem begrenzten Abstand ins Sein überführt. Somit kann ein Schöpfungsakt aus einem endlichen Vermögen heraus erfolgen. Damit ist ein Schöpfungsvermögen nicht unvereinbar mit dem Begriff des Erschaffenen und überschreitet mithin nicht die Grenzen des Erschaffenen. 3. Man könnte nun einwenden: Der Satz, daß ein jedes Ding in dem Maße von dem einen Glied eines Gegensatzes entfernt sei, in dem es Anteil hat an dem anderen, gilt für jene Glieder eines Gegensatzes, bei denen beide Glieder eine bestimmte Wesenform darstellen, also etwa für konträre Glieder. Jener Satz gilt jedoch nicht für diejenigen Glieder, bei denen nur das eine eine Wesensform darstellt, also etwa nicht bei einer Privation und einem Habitus bzw. bei 36 D. h., daß die Verleihung eines Schöpfungsvermögens an die Geschöpfe nicht über deren Grenzen hinausführt.

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einer Affirmation und einer Negation. – Dem ist zu erwidern: Der angeführte Satz37 gilt insofern für gegensätzliche Glieder, als sie einen wechselseitigen Unterschied aufweisen, und das trifft auf sie zu, insoweit sie gegensätzliche Glieder sind. Nun ist die Ursache und die Wurzel eines Gegensatzes bei konträren Gliedern erwiesenermaßen der Gegensatz von Bejahung und Verneinung.38 Folglich muß der Satz insbesondere für den Gegensatz von Bejahung und Verneinung gelten. 4. Nach Augustinus spricht man in einem dreifachen Sinn davon, daß die Dinge entstehen.39 Einmal entstehen die Dinge im Wort, dann im Denken der Engel und zum dritten in der ihnen eigentümlichen Natur. Deswegen heißt es in Gen. 1, 1−2: »Er sprach: ›Es werde‹, und es ward«. Die Weise, in der die Dinge im Denken der Engel entstehen, liegt nun zwischen den beiden anderen Weisen ihres Entstehens. Um also in die ihnen eigentümliche Natur zu gelangen, gehen die Dinge offenbar vermittelt über das Denken der Engel aus dem Wort des Schöpfers hervor. Somit werden die Dinge offensichtlich durch Vermittlung der Engel erschaffen. 5. Das Nichts und ein Etwas sind weiter voneinander entfernt als ein Etwas und das Sein, denn das Nichts und ein Etwas haben nichts miteinander gemein, hingegen gehört ein Etwas zu dem, was ist. Gott läßt es aber in der Schöpfung geschehen, daß aus Nichts Etwas wird, und damit, daß aus der völligen Abwesenheit eines Vermögens ein bestimmtes Vermögen wird. Folglich kann er es noch weit eher geschehen lassen, daß ein begrenztes Vermögen, wie es das Vermögen eines Geschöpfes ist, zur Allmacht wird, zu welcher das Erschaffen gehört. Demnach kann er es den Geschöpfen verleihen, daß sie schaffen. 6. Das geistige Licht ist ehrwürdiger und stärker als ein körperhaftes Licht. Nun vervielfältigt sich aber ein körperhaftes Licht. Also kann sich auch ein Engel, der nach Augustinus ein geistiges Licht darstellt,40 vervielfältigen. Doch dies kann ein Engel nur tun, 37 38 39 40

praedicta propositio L : praedicta oppositio M. Aristoteles, Met. IV, 6; 1011 b 16-22. Augustinus, De Gen. ad litt. II, 8 (CSEL 28/1, 43). Augustinus, De Gen. ad litt. II, 8 (CSEL 28/1, 43 f.).

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wenn er schaffend tätig ist. Folglich ist ein Engel in der Lage, etwas zu erschaffen. 7. Die substantialen Formen werden deswegen nicht erzeugt, weil nach dem Zeugnis des Aristoteles nur etwas aus Materie und Form Zusammengesetztes erzeugt werden kann.41 Daher können diese Formen nur durch einen Schöpfungsakt ins Sein gebracht werden. Nun macht die erschaffene Natur die Materie für eine Form empfänglich. Folglich dient sie mit ihrem Wirken der Schöpfung. Somit kann es dem Erschaffenen verliehen werden, daß es einen Dienst bei der Schöpfung erfüllt. 8. Das Werk der Rechtfertigung ist erhabener als das Werk der Schöpfung, denn die Gnade steht über der Natur. Deswegen sagt auch Augustinus, daß die Rechtfertigung eines Sünders ein größeres Werk ist als die Erschaffung von Himmel und Erde.42 Nun leistet das Erschaffene einen Dienst bei der Rechtfertigung eines Sünders. Man spricht ja davon, daß ein Priester stellvertretend eine Rechtfertigung vornimmt bzw. die Sünden nachläßt. Folglich kann das Erschaffene in noch höherem Ausmaß beim Schöpfungsakt einen Dienst leisten. 9. Jedes Erzeugnis muß seinem Erzeuger ähnlich sein, wie im 7. Buch der Metaphysik nachgewiesen wird.43 Nun hat aber das körperhaft Geschaffene weder der Art noch der Gattung nach eine Ähnlichkeit mit Gott. Also kann es aus Gott nur durch die Vermittlung eines Geschöpfes hervorgehen, welches zumindest der Gattung nach mit ihm Ähnlichkeit hat. Somit erschafft Gott die körperhaften Dinge mit Hilfe der höheren Geschöpfe. 10. Im Buch von den Ursachen heißt es: Die zweite Intelligenz hat an den ersten Gütern, welche aus der Ersten Ursache hervorgehen, nur vermittels einer höheren Intelligenz teil.44 Nun gehört auch das Sein zu den ersten Gütern. Also empfängt die zweite Intelligenz ihr Sein von Gott nur vermittels der ersten Intelligenz.

41 42 43 44

Aristoteles, Met. VII, 8; 1033 b 16–18. Augustinus, In Ioh. ev. LXXII, 3 (CCSL 36, 508 f.). Aristoteles, Met. VII, 8; 1033 b 29–32. Liber de Causis prop. 18 [19]; n. 149 (ed. Schönfeld, 36 f.).

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Folglich verleiht Gott offensichtlich den Schöpfungsakt einem bestimmten Geschöpf. 11. Im selben Buch heißt es: Eine Intelligenz erkennt das unter ihr Stehende in seinem Sein, insofern sie die Ursache dafür ist.45 Nun erkennt eine Intelligenz eine andere, welche unter ihr steht. Folglich ist sie deren Ursache. Die letztere Intelligenz wird aber nur durch eine Schöpfung verursacht, da sie nicht [aus Materie und Form] zusammengesetzt ist. Folglich ist eine Intelligenz in der Lage, etwas zu erschaffen. 12. Augustinus sagt, daß ein geisthaftes Geschöpf einem körperhaften Geschöpf seine Art und sein Sein mitteilt.46 Somit werden die körperhaften Geschöpfe offenbar vermittels der geisthaften Geschöpfe erschaffen. 13. Es gibt zwei Arten von Erkenntnis: eine Erkenntnis, mit der etwas Dingliches zustande kommt, und eine, die aus den Dingen gewonnen wird. Ein Engel erkennt aber die körperhaften Dinge nicht mit einer Erkenntnis, die aus den Dingen gewonnen wird; er ist ja nicht mit Vermögenskräften zur sinnlichen Wahrnehmung ausgestattet, durch deren Vermittlung eine Erkenntnis von sinnlich Wahrnehmbarem in den Intellekt gelangt. Also erkennt ein Engel mit einer Erkenntnis, mit der etwas Dingliches zustande kommt, und diese ähnelt dem göttlichen Erkennen. Wie also Gott durch sein Wissen die Ursache der Dinge ist, so scheint auch das Wissen der Engel die Ursache für die Dinge zu sein. 14. Es gibt zwei Arten, auf die die Dinge ins Sein gelangen: einerseits, insofern sie aus dem reinen Nichtsein ins Sein gelangen, wie es bei ihrer Erschaffung geschieht; andererseits, insofern sie von der Möglichkeit in die Wirklichkeit gelangen. Eine an die Materie gebundene Kraft, welche bei den natürlichen Dingen vorkommt, kann nun die Dinge auf die zweite Weise hervorbringen, indem sie also die Dinge aus der Möglichkeit in die Wirklichkeit gelangen läßt. Folglich kann eine nicht an die Materie gebundene Kraft, die größer ist als die letztere Kraft, – und die Kraft eines Engels ist ja von dieser Art – etwas auf die erste Weise ins Sein bringen, wozu eine größere 45 Liber de Causis prop. 7 [8]; n. 72−75 (ed. Schönfeld, 18 f.). 46 Augustinus, De immort. an. XV, 24 (PL 32, col. 1033).

4. Artikel

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Kraft gehört: Sie kann also etwas aus dem reinen Nichtsein ins Sein bringen und d. h. erschaffen. Demnach ist ein Engel offensichtlich in der Lage, etwas zu erschaffen. 15. Es gibt nichts Größeres als das Unendliche. Nun ist ein unendliches Vermögen in der Lage, etwas aus dem Nichts ins Sein zu bringen. Sonst gäbe es keinen Grund, warum die Geschöpfe nicht in der Läge sein sollten, etwas zu erschaffen. Kein Vermögen ist also größer als jenes. Ein Geschöpf aus dem Nichts entstehen zu lassen und ihm ein Schöpfungsvermögen zu verleihen, ist also keine größere Sache als zu erschaffen. Ersteres kann aber Gott und damit auch Letzteres. 16. Je größer der Widerstand ist, den der Gegenstand einer Einwirkung dem Einwirkenden bietet, desto schwieriger wird es, diese Einwirkung zu vollbringen. Nun bietet etwas Konträres einen größeren Widerstand als etwas Nichtseiendes. Denn das Nichtseiende kann nicht so tätig sein wie etwas Konträres. Wenn also ein Geschöpf etwas aus etwas Konträrem entstehen lassen kann, dann kann es offenbar erst recht etwas aus dem Nichts entstehen lassen und d. h. erschaffen. Folglich ist ein Geschöpf in der Lage, etwas zu erschaffen. Dagegen spricht: 1. Der Abstand zwischen dem Seienden und dem Nichtseienden ist unendlich. Nun braucht es eine unbegrenzte Kraft, um etwas über einen unendlichen Abstand hinweg zu vollbringen. Demnach ist für die Schöpfung eine unbegrenzte Kraft vonnöten. Somit kann das Schöpfungsvermögen an kein Geschöpf verliehen werden. 2. Bei den höheren Geschöpfen, wie etwa bei den Engeln, gibt es nach Dionysius einen Unterschied zwischen ihrem Wesen, ihrer Kraft und ihrem Wirken.47 Daraus kann man entnehmen, daß bei keinem Geschöpf die Kraft mit seinem Wesen identisch ist, und daß kein Geschöpf ganz und gar tätig ist; denn das, wodurch etwas tätig ist, ist seine Kraft. Nach der Maßgabe, wie ein Wesen seine Tätigkeit ausführt, gestaltet sich aber deren Wirkung. Kein Geschöpf kann also eine allumfassende Wirkung hervorbringen. Folglich ist kein 47 Dionysius Areopagita, De cael. hier. XI, 2 (Dion. II, 930).

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Geschöpf in der Lage, etwas zu erschaffen; vielmehr setzt es für sein Tätigsein stets eine Materie voraus. 3. Augustinus sagt, daß die Engel nichts erschaffen können, weder Gutes noch Übles.48 Im Vergleich zu allen anderen Geschöpfen hat aber ein Engel einen höheren Rang. Erst recht sind daher die anderen Geschöpfe nicht in der Lage, etwas zu erschaffen. 4. Es braucht dieselbe Kraft, um die Geschöpfe zu erschaffen und um sie am Sein zu erhalten. Nun können die Geschöpfe nur durch Gottes Kraft am Sein erhalten werden, die, wenn sich die göttliche Kraft aus den Dingen zurückzöge, im selben Augenblick hinschwinden würden, wie Augustinus sagt.49 Folglich können die Dinge nur durch die göttliche Kraft erschaffen werden. 5. Das, was für etwas im eigentlichen Sinne eigentümlich ist, kann keinem Anderen zukommen. Nun herrscht allgemeine Übereinstimmung darüber, daß das Erschaffen für Gott eigentümlich ist. Das Erschaffen kann also keinem Anderen zukommen. Antwort: Manche Philosophen behaupteten, daß Gott die niederen Geschöpfe mit Hilfe der höheren erschaffen hat. Dies geht etwa aus dem Buch von den Ursachen,50 aus Avicennas Metaphysik 51 und aus Algazels Metaphysik 52 hervor. Zu dieser Überzeugung gelangten sie aufgrund der Meinung, daß aus dem absolut Einen nur Eines unmittelbar hervorgehen könne und daß mit Hilfe des letzteren das Viele aus dem ersten Einen hervorgehe. Das meinten sie in dem Sinne, daß Gott infolge einer ihm wesensmäßigen Notwendigkeit tätig sei und daß dabei aus dem absolut Einen ausschließlich Eines entstehe. Wir hingegen behaupten, daß die Dinge aus Gott aufgrund seines Wissens und seines Denkens hervorgehen. Dabei spricht hier nichts dagegen, daß aus dem ersten und absolut einen Gott unmittelbar das Viele hervorgeht, insofern seine Weisheit alle Dinge umfaßt. Des48 49 50 51 52

Augustinus, De trin. III, 8, 14 (CCSL 50, 141). Augustinus, De Gen. ad litt. IV, 12 (CSEL 28/1, 108). Vgl. Anm. 44 f. Avicenna, Met. IX, 4 (Avicenna latinus 4, ed. Van Riet, 479 ff.). Algazel, Met. I, 2, 10 (ed. Muckle, 56).

4. Artikel

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wegen behaupten wir in Übereinstimmung mit dem katholischen Glauben, daß Gott die geisthaften Substanzen und die Materie der körperhaften Substanzen unmittelbar erschaffen hat, und halten die Behauptung für häretisch, etwas sei durch einen Engel oder irgendein Geschöpf erschaffen worden. So sagt auch Johannes von Damaskus: Wer da immer behauptet hat, ein Engel erschaffe etwas, ist ein Ketzer.53 Gleichwohl haben manche katholische Autoren behauptet: Auch wenn kein Geschöpf in der Lage ist, etwas zu erschaffen, so könnte es dennoch einem Geschöpf verliehen worden sein, daß Gott etwas mit seiner Hilfe erschaffen hat. Dies behauptet Petrus Lombardus im 4. Buch seiner Sentenzen, d. 5.54 Andere wiederum behaupteten im Gegensatz dazu, daß es den Geschöpfen in keiner Weise gegeben sei, etwas zu erschaffen. Dies ist auch die verbreitetere Ansicht. Zur Klärung dieser Frage muß daran erinnert werden, daß »Schöpfung« ein aktives Vermögen meint, durch das die Dinge ins Sein gerufen werden, und deswegen hat sie keine bereits bestehende Materie und kein vorgängig tätiges Wesen zu ihrer Voraussetzung. Nur diese beiden Ursachen55 sind ja Voraussetzungen für ein Tätigsein. Denn die Form dessen, was erzeugt wird, stellt den Schlußpunkt dar für das Tätigsein des Erzeugers, wie auch die Form das Ende des Erzeugungsvorganges darstellt, welches diesem Vorgang seinsmäßig nicht vorangeht, sondern aus ihm folgt. Daß nun die Schöpfung keine Materie voraussetzt, erklärt sich bereits aus dem Wortsinn. Denn daß etwas erschaffen wird, meint, daß es aus dem Nichts entsteht. Daß die Schöpfung auch kein vorgängig tätiges Wesen zu ihrer Voraussetzung hat, erklärt sich aus den Worten von Augustinus, wo er aufzeigt, daß die Engel nichts erschaffen können, da sie etwas aus den Keimen hervorbringen, die in die Natur gelegt worden sind und die die aktiven Kräfte in der Natur darstellen.56 Wenn man also »Schöpfung« in diesem engen Sinne versteht, dann steht fest, daß die Schöpfung ausschließlich dem Ersten tä53 54 55 56

Johannes Damascenus, De fide orthodoxa 17, 20 (ed. Buytaert, 74). Petrus Lombardus, Sent. IV d. 5, 3 (ed. coll. S. Bon. II, 267). D. h. die Material- und die Wirkursache. Augustinus, De trin. III, 8, 13–III, 9, 18 (CCSL 50, 139–145).

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tigen Wesen zukommen kann. Denn eine Zweitursache weist eine Tätigkeit nur infolge des Einflusses der Erstursache auf, und somit setzt jede Tätigkeit einer Zweitursache die Erstursache voraus. Selbst die Philosophen behaupteten nicht, daß Engel bzw. die Intelligenzen etwas erschaffen würden, es sei denn durch die göttliche Kraft, die in ihnen hervortritt. Somit wird verständlich, daß eine Zweitursache zwei Arten von Tätigkeiten aufweisen kann: zum einen eine Tätigkeit, die von ihrer charakteristischen Wesensform herrührt, und zum anderen eine Tätigkeit, die von der Kraft der Erstursache herrührt. Unmöglich kann jedoch eine Zweitursache aus eigener Kraft heraus das Prinzip für das Sein als solches abgeben. Dies ist vielmehr für die Erstursache charakteristisch. Denn die Rangordnung der Wirkungen gestaltet sich nach der Rangordnung der Ursachen. Die erste Wirkung ist aber das Sein selbst, das die Voraussetzung für alle anderen Wirkungen darstellt und das selbst keine andere Wirkung zu seiner Voraussetzung hat. Somit muß die Verleihung des Seins als solchen eine Wirkung sein, die allein die Erstursache mit der ihr eigentümlichen Kraft zustande bringt. Wenn aber irgendeine andere Ursache ein Sein verleiht, so vermag sie dies, insofern in ihr die Kraft und das Wirken der Erstursache hervortritt, jedoch nicht aus eigener Kraft. So führt ja auch ein Werkzeug die Tätigkeit eines Werkzeugs nicht kraft seiner eigenen Natur aus, sondern kraft dessen, der dieses Werkzeug einsetzt. So bewirkt z. B. die natürliche Wärme kraft der Seele die Belebung des Fleisches, kraft ihrer eigenen Natur jedoch erwärmt sie bloß etwas und bringt es zum Schmelzen. In diesem Sinne behaupteten einige Philosophen, daß die ersten Intelligenzen die zweiten erschaffen würden, insofern sie durch die Kraft der Erstursache, die in ihnen hervortrete, diesen zweiten Intelligenzen das Sein verleihen. Denn wie es im Buch von den Ursachen heißt, verdankt sich das Sein einem schöpferischen Akt, das Gute, das Leben und dergleichen hingegen einem formverleihenden Akt.57 Durch diese Auffassung kam es zum Götzendienst, da man den erschaffenen Substanzen selbst als den Schöpfern der anderen 57 Liber de Causis prop. 17 [18]; n. 148 (ed. Schönfeld, 36 f.).

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Substanzen göttliche Verehrung entgegenbrachte. Petrus Lombardus hingegen hält im 4. Buch seiner Sentenzen fest, daß es einem Geschöpf verliehen werden kann, zwar nicht aus eigener Kraft und sozusagen selbstherrlich, doch aber dienend und als ein Werkzeug zu erschaffen.58 Wer aber dies genau durchdenkt, dem zeigt sich dies als unmöglich. Denn die Tätigkeit von etwas muß, selbst wenn dieses Etwas als ein Werkzeug eingesetzt wird, aus seinem Vermögen hervorgehen. Weil nun das Vermögen eines jeden Geschöpfes begrenzt ist, kann ein Geschöpf, selbst als ein Werkzeug, nicht erschaffend tätig sein. Denn der Schöpfungsakt erfordert für dasjenige Vermögen, aus dem der Schöpfungsakt hervorgeht, eine unbegrenzte Kraft. Dies läßt sich aus fünf Gründen erweisen. Erstens: Die Kraft eines Erzeugers steht in einem proportionalen Verhältnis zu dem Abstand, der zwischen dem liegt, was entsteht, und seinem Gegenteil, woraus es entsteht. Denn je stärker z. B. die Kälte ist, je mehr sie also von der Wärme entfernt ist, desto größer muß die Kraft der Wärme sein, damit aus Kaltem Warmes entsteht. Das reine Nichtsein hat nun einen unendlichen Abstand zum Sein. Das zeigt sich daran, daß der Abstand zwischen dem Nichtsein und irgendeinem bestimmten Seienden größer ist als der Abstand zwischen diesem Seienden und einem anderen Seienden, wie groß der Abstand zwischen den letzteren auch immer sein mag. Somit ist nur eine unendliche Kraft in der Lage, aus dem, was schlichtweg nicht ist, etwas entstehen zu lassen. Zweitens: Die Hervorbringung eines Dinges ist abhängig von der Art, wie das Hervorbringende diese Hervorbringung durchführt. Das Hervorbringende ist nun nach der Maßgabe tätig, daß es in der Wirklichkeit ist. Von daher ist nur das gar und gar tätig, was ganz und gar in der Wirklichkeit ist. So etwas kommt nur einem unbegrenzten Wirken zu: dem Ersten Wirken. Daher ist einzig eine unendliche Kraft dazu in der Lage, ein Ding allererst in sein Sein zu bringen. Drittens: Da ein Akzidens an einem Träger auftreten muß und da der Träger einer Tätigkeit letztere an sich aufweist, ist nur bei dem, 58 Petrus Lombardus, Sent. IV d. 5, 3 (ed. coll. S. Bon. II, 267).

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dessen Tätigkeit kein Akzidens, sondern seine Substanz ist, keine Materie vonnöten, an der sich sein Wirken vollziehen könnte. Dies ist allein bei Gott der Fall. Somit ist es allein ihm möglich, etwas zu erschaffen. Viertens: Weil, wie im Buch von den Ursachen steht, alle Zweitursachen ihre Wirksamkeit dem Wirken des Ersten verdanken,59 so muß allen Zweitursachen die Art und die Intensität ihres Wirkens durch das Wirken des Ersten verliehen sein. Diesem wiederum wird die Weise und Intensität seines Wirkens von nichts Anderem verliehen. Da nun die Weise eines Wirkens von der Materie abhängt, an welcher sich das Wirken eines Wirkenden vollzieht, so kennzeichnet es allein das Wirken des Ersten, daß es ohne eine Materie tätig ist, die ihm ein anderes Tätiges vorsetzt, sowie, daß es dem Wirken aller anderen Zweitursachen die Materie zur Verfügung stellt. Der fünfte Grund stellt eine reductio ad absurdum dar: Das Verhältnis zwischen den Vermögenskräften, welche jeweils eine Möglichkeit Wirklichkeit werden lassen, bemißt sich danach, wie weit hier diese Möglichkeit von ihrer Verwirklichung entfernt ist. Je weiter nämlich eine Möglichkeit von ihrer Verwirklichung entfernt ist, desto größer muß das hierbei eingesetzte Vermögen sein. Angenommen also, es gäbe ein begrenztes Vermögen, das etwas vollbringt, ohne daß bereits die Möglichkeit hierzu bestünde, dann muß dieses Vermögen in einem Verhältnis zu einem Vermögen stehen, das etwas aus der Möglichkeit in die Wirklichkeit bringt. Damit gibt es hier ein Verhältnis zwischen einer Unmöglichkeit und einer Möglichkeit. Dies ist aber widersinnig. Denn zwischen dem Nichtseienden und dem Seienden besteht es kein proportionales Verhältnis, wie das 4. Buch der Physik zeigt.60 Letztlich muß man also feststellen, daß kein Vermögen eines Geschöpfes etwas erschaffen kann, und zwar weder aus eigener Kraft noch als das Werkzeug eines anderen. Zu 1. Wenn man etwas auf sein Ziel hinführt, dann ist ja bereits das vorhanden, was diesem Ziel dient. Deshalb ist es einem Geschöpf 59 Liber de Causis prop. 1; n. 14; 16 (ed. Schönfeld, 4 f.). 60 Aristoteles, Phys. IV, 8; 215 b 19 f.

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nicht unmöglich, Gott dabei zu unterstützen, die Dinge auf ihr letztes Ziel hinzuführen. Bei der allumfassenden Hervorbringung der Dinge ins Sein gibt es jedoch nichts, was bereits vorhanden ist. Deshalb ist dieser Fall anders gelagert. Zu 2. Nichts spricht gegen die Vorstellung eines Abstandes, der von der einen Seite her unendlich und von der anderen her begrenzt ist. Als von beiden Seiten her unendlich stellt man sich einen Abstand vor, wenn beide Glieder eines Gegensatzes unendlich sind, also z. B. in dem Fall, daß Wärme und Kälte unbegrenzt sind. Jedoch einen Abstand, der nur von der einen Seite her unendlich ist, stellen wir uns in dem Falle vor, wenn nur das eine Glied eines Gegensatzes begrenzt ist, also etwa in dem Fall, daß die Wärme unbegrenzt und die Kälte begrenzt ist. Dementsprechend ist der Abstand zwischen dem unendlichen Sein und dem reinen Nichtsein von beiden Seiten her unendlich. Dagegen ist der Abstand zwischen dem endlich Seienden und dem reinen Nichtsein nur von der einen Seite her unendlich. Nichtsdestoweniger ist für dessen Überwindung ein unendliches aktives Vermögen erforderlich. Zu 3. Dieses Argument billigen wir, denn es macht hierbei keinen Unterschied, ob beide Glieder eines Gegensatzes jeweils eine bestimmte Wesensform darstellen oder nur eines von beiden. Zu 4. Damit, daß Dinge im Denken entstehen, meint man nur, daß sie erkannt werden, und nicht, daß sie durch eine tätige Kraft zustande kommen. Deshalb werden die Dinge von Gott nicht so hervorgebracht, daß die Engel ihn dabei unterstützen, sondern so, daß sie diese Dinge erkennen. Zu 5. Die Rede davon, daß etwas aus etwas anderem nicht entstehen kann, begründet sich nicht nur durch den Abstand, der zwischen zwei ganz weit auseinander liegenden Gliedern herrscht, sondern auch durch die Tatsache, daß hier überhaupt keine Entstehung möglich ist. So kann man etwa sagen, daß Gott nicht aus einem bestimmten Körper entstehen kann, weil eine Entstehung Gottes überhaupt nicht möglich ist. In diesem Sinne läßt sich also sagen, daß die Allmacht aus keinem bestimmten Vermögen entstehen kann, und zwar nicht nur aufgrund des Abstandes, der zwischen diesen beiden Vermögen herrscht, sondern auch deswegen, weil eine Entstehung der Allmacht überhaupt nicht möglich ist. Denn alles, was entsteht,

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kann ja kein reines Tätigsein sein. Eben weil es sein Sein einem anderen verdankt, zeigt sich an ihm ein Moment des Möglichseins. Deswegen kann dies kein unendliches Vermögen sein. Zu 6. Das körperhafte Licht vervielfältigt sich nicht durch die Schaffung von neuem Licht, sondern dadurch, daß es sich über die Materie verbreitet. Letzteres läßt sich von den Engeln nicht behaupten, da sie Substanzen sind, die für sich bestehen. Zu 7. »Form« läßt sich auf zweierlei Weise verstehen: zum einen als eine Form, die der Möglichkeit nach ist; diese erschafft Gott ineins mit der Materie, und zwar ohne ein Zutun der Natur, welche die Materie erst für eine Form empfänglich macht. Zum anderen ist eine Form gemeint, die der Wirklichkeit nach ist; diese wird nicht erschaffen, sondern sie wird aus einer Möglichkeit der Materie durch natürliche Einwirkung zum Vorschein gebracht. Damit also etwas erschaffen werden kann, ist kein vorbereitendes Wirken der Natur erforderlich. Gleichwohl gibt es eine bestimmte Form in der Natur, nämlich die vernunftbegabte Seele, die durch einen Schöpfungsakt ins Sein gebracht wird und für die die Materie auf natürlichem Wege empfänglich gemacht wird. Deshalb muß man hier Folgendes beachten: Da der Akt der Schöpfung unabhängig von der Materie vonstatten geht, spricht man in einem zweifachen Sinn davon, daß etwas erschaffen wird. Manches nämlich, z. B. die Engel und die Himmelskörper, werden erschaffen, ohne daß dafür irgendeine Materie bereits vorhanden sein muß: weder eine Materie, aus der diese Dinge entstehen, noch eine, an der diese dann auftreten. Zu deren Erschaffung kann die Natur nichts durch ein vorbereitendes Wirken beitragen. Manches jedoch, z. B. die Seele des Menschen, wird so erschaffen, daß hierfür noch keine Materie vorhanden sein muß, aus der sie entsteht, daß aber doch bereits eine Materie vorhanden sein muß, an der sie dann auftritt. Für das also, was dann an einer Materie auftritt, kann die Natur eine vorbereitende Tätigkeit entfalten. Allerdings geht das Wirken der Natur nicht so weit, daß sie nun das substantielle Sein dessen bewirkt, was erschaffen worden ist. Zu 8. Beim Akt der Rechtfertigung leistet der Mensch nur dadurch einen stellvertretenden Dienst, daß er die Sakramente spendet. Wenn man daher von den Sakramenten sagt, daß mit ihnen auf

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eine stellvertretende und vorbereitende Weise eine Rechtfertigung geschieht, so läuft die Klärung dieses Arguments auf dasselbe hinaus wie beim letzten Argument. Zu 9. Obwohl es zwischen Gott und seiner Schöpfung keine gattungsmäßige und artspezifische Ähnlichkeit geben kann, kann es hier gleichwohl eine gewisse Ähnlichkeit in Form einer Analogie geben, etwa so wie zwischen Potenz und Akt oder so wie zwischen Substanz und Akzidens. Damit ist zunächst gemeint, daß die erschaffenen Dinge auf ihre Weise die Idee des göttlichen Geistes wiederspiegeln, wie etwa auch ein Erzeugnis die Idee widerspiegelt, die im Geist seines Erzeugers ist. Dann aber ist auch gemeint, daß die erschaffenen Dinge in gewisser Weise dem göttlichen Wesen selbst insofern ähneln, als vom Ersten Seienden alles andere Seiende stammt, vom Guten alles andere Gute usw. Gleichwohl geht dieses Argument an der Sache vorbei. Denn einmal angenommen, die Geschöpfe gingen aus Gott unter Mitwirkung einer kreatürlichen Kraft hervor, dann bleibt immer noch dieselbe Schwierigkeit: auf welche Weise nämlich jene vorhin erwähnte Natur von Gott erschaffen werden könnte, ohne daß sie ihm ähnlich ist. Zu 10. Jener Irrtum – daß nämlich die niederen Geschöpfe von Gott vermittels der höheren Geschöpfe erschaffen seien – findet sich ausdrücklich im Buch von den Ursachen. Was diesen Punkt anbelangt, ist daher seine Autorität nicht maßgebend. Zu 11. Gleiches läßt sich auch hier sagen. Zu 12. Augustinus spricht hier von der Seele, die einem Körper sein Sein und seine spezifische Art verleiht, dies jedoch nicht auf dem Wege der Erschaffung tut, sondern durch Verleihung einer Form. Zu 13. Zwar erkennt ein Engel ein Ding nicht in Form einer Erkenntnis, die aus den Dingen gewonnen ist. Gleichwohl erkennt er nicht notwendig mit einer solchen Erkenntnis, die die Ursache für die Dinge ist. Die Erkenntnisweise eines Engels liegt nämlich zwischen den beiden eben erwähnten Erkenntnisarten. Ein Engel erkennt die Dinge in einer ihm natürlichen Erkenntnis, die sich dank der Abbilder der Dinge vollzieht, welche aus dem göttlichen Intellekt in seinen Intellekt strömen. Somit verhält sich das Erkennen eines

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Engels zu den Dingen nicht wie deren Ursache, sondern es ist ein gewisses Abbild von Gottes Erkennen, welches die Dinge verursacht. Zu 14. Werden die Dinge aus der Möglichkeit in die Wirklichkeit gebracht, so kann dies in vielen Abstufungen geschehen, insofern etwas aus einer mehr oder weniger entfernten Möglichkeit bzw. mehr oder weniger leicht zur Wirklichkeit gebracht werden kann. Wenn deshalb die Kraft eines Engels die Kraft der an die Materie gebundenen Natur übersteigt, so ist es nicht schon notwendig ausgemacht, daß die Kraft des Engels etwas aus dem reinen Nichtsein entstehen lassen kann, während die Natur etwas aus der Möglichkeit zur Wirklichkeit bringt – wohl aber doch, daß die Kraft eines Engels letzteres viel leichter kann als die Natur. In diesem Sinne sagt etwa auch Augustinus, daß die Dämonen mit den Kräften der Natur geheimnisvoller und wirksamer umgehen, als wir mit ihnen umzugehen wissen.61 Zu 15. Kein Vermögen ist größer als das Schöpfungsvermögen. Das Vermögen des Schöpfers braucht aber nicht so weit zu gehen, daß er sein Schöpfungsvermögen einem bestimmten Geschöpf verleiht, und zwar deswegen, weil das Schöpfungsvermögen einem Geschöpf überhaupt nicht verliehen werden kann. Daß etwas unmöglich ist, liegt nämlich nicht immer am mangelnden Vermögen62 von jemandem, dies auch geschehen zu lassen, sondern es liegt manchmal eben auch daran, daß dies nicht geschehen kann. So kann ja Gott keinen Gott entstehen lassen, jedoch nicht aus mangelndem Vermögen, sondern weil Gott gar nicht entstehen kann. Genausowenig kann das Schöpfungsvermögen sich begrenzen und einem Geschöpf verliehen werden, da es unbegrenzt ist. Zu 16. Bei einem Wirken können zwei Arten von Schwierigkeiten auftreten. Einerseits dadurch, daß dasjenige, worauf eingewirkt wird, dem Einwirkenden einen Widerstand bietet. Dies kommt nicht bei allem und jedem vor, sondern nur bei dem, was durch Tun und Erleiden aufeinander einwirkt und wo der Gegenstand einer Einwirkung auf das Einwirkende eine Gegenwirkung ausübt. Deshalb sind die Himmelskörper, die bei ihrem Wirken keine Gegenwirkung er61 Augustinus, De trin. III, 8, 17 (CCSL 50, 144). 62 ex defectu potentiae V : ex defectum potentiae M.

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fahren, in ihrem Wirken keiner Schwierigkeit unterworfen, die von der Gegenwirkung desjenigen herrühren könnte, worauf sie einwirken. Erst recht trifft dies nicht auf Gott zu. Andererseits besteht eine Schwierigkeit, die auf jeden Fall zutrifft, darin, daß dasjenige, dem eine Einwirkung gilt, von seiner Verwirklichung noch entfernt ist. Je weiter nämlich eine Möglichkeit von ihrer Wirklichkeit entfernt ist, desto schwieriger wird ihre Verwirklichung für das Einwirkende. Wenn daher das reine Nichtsein noch weiter von der Wirklichkeit entfernt ist als die Materie, insofern diese eine Umwandlung in etwas noch so Gegenteiliges erfahren kann, dann ist es klar, daß es von einer größeren Kraft zeugt, etwas aus dem Nichts hervorzubringen als etwas aus seinem Gegenteil entstehen zu lassen.

5. Artik el Die fünfte Frage lautet: Kann es etwas geben, was von Gott nicht erschaffen ist? 63 Dies scheint der Fall zu sein; denn: 1. Eine Ursache ist stärker als ihre Wirkung. Daher ist offensichtlich das, was in der Natur möglich ist, viel eher möglich als das, was nach den Maßstäben unseres Intellekts möglich ist, da dieser ja seine Erkenntnis aus den Dingen gewinnt. Nun kann unser Intellekt etwas begreifen, ohne es dabei als etwas von Gott Kommendes zu begreifen – sofern nämlich die Wirkursache keine Rolle spielt für das Wesen eines Dinges und es somit ohne dieselbe begriffen werden kann. Somit ist es noch viel eher möglich, daß es etwas im Bereich der natürlichen Dinge gibt, was nicht von Gott kommt. 2. All das, was von Gott erschaffen ist, bezeichnet man als seine Geschöpfe. Nun ist das Sein ein Werk der Schöpfung. Das Sein ist nämlich das erste der geschaffenen Dinge, wie es im Buch von den Ursachen heißt.64 Wenn also die Washeit eines Dinges von seinem 63 Paralleltexte: Sum. theol. I, q. 44 a. 1 −2; q. 65 a. 1. ScG II, 15. Sent. II, d. 1 q. 1 a. 2; I, d. 27 q. 1 a. 2. Comp. theol. 68. Opusc. de angelis 9. In De div. nom. V, 1. 64 Liber de Causis prop. 4; n. 37 (ed. Schönfeld, 8 f.).

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Sein unterschieden ist, dann kommt offensichtlich die Washeit eines Dinges nicht von Gott. 3. Der Zielpunkt eines jeden Wirkens ist eine Wirklichkeit, genauso wie eine Wirklichkeit auch Ausgangspunkt eines Wirkens ist. Denn alles, was wirkt, tut dies nur, insoweit es in der Wirklichkeit ist, und jedes wirkende Wesen vollbringt etwas ihm Wesensgleiches. Nun ist die erste Materie reine Möglichkeit. Folglich kann sie kein Zielpunkt für das Wirken des Schöpfers sein. Demnach ist nicht alles von Gott erschaffen. Dagegen spricht: In Röm. 11, 36 heißt es: »Aus ihm und durch ihn und in ihm ist alles.« Antwort: Die Alten richteten ihre Betrachtung des Wesens der Dinge am Aufbau des menschlichen Erkennens aus. Weil also das menschliche Erkennen von einem Sinneseindruck ausgeht und dann zum Denken kommt, so beschäftigten sich die älteren Philosophen mit dem sinnlich Wahrnehmbaren und gingen von da aus nach und nach zum geistig Erfaßbaren über. Weil aber die akzidentellen Formen als solche sinnlich wahrnehmbar sind, die substantiellen Formen dagegen nicht, so hielten die frühesten Philosophen alle Formen für akzidentell und allein die Materie für eine Substanz. Da eine Substanz einen zureichenden Grund für die Akzidentien darstellt, welche durch die Prinzipien einer Substanz verursacht werden, so kommt es, daß die frühesten Philosophen neben der Materie keine weitere Ursache mehr annahmen. Vielmehr behaupteten sie, daß durch sie all das verursacht werde, was an den sinnlich wahrnehmbaren Dingen zum Vorschein kommt. Deshalb waren sie zu der Annahme gezwungen, daß es keine Ursache für die Materie gebe, und mußten daher eine Wirkursache völlig ablehnen. Dagegen begannen die nachkommenden Philosophen in einem bestimmten Umfang die substanziellen Formen in Betracht zu ziehen. Freilich gelangten sie nicht zur Erkenntnis der Universalien, vielmehr galt ihre ganze Aufmerksamkeit den spezifischen Formen. Deswegen nahmen manche Philosophen bestimmte Wirkursachen

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an, wie z. B. den »Intellekt«, die »Liebe« und den »Zwist«, welche nicht den Dingen insgesamt das Sein verleihen, sondern die Materie von der einen in die andere Form bringen. Deren Wirksamkeit äußerte sich nach ihrer Ansicht in der Vereinigung und Trennung. Deswegen gehe nicht alles Seiende aus einer Wirkursache hervor, vielmehr bildete für sie die Materie die Voraussetzung für das Wirken einer Wirkursache. Spätere Philosophen wie Platon, Aristoteles und deren Schüler gelangten aber zur Erkenntnis des universalen Seins selbst. Daher nahmen, wie Augustinus berichtet,65 einzig diese Philosophen eine universale Ursache für die Dinge an, durch die alles andere ins Sein kommt. Mit dieser Ansicht ist nun auch der katholische Glaube vereinbar. Diese läßt sich auf dreifache Weise begründen. Erstens: Wenn sich etwas Einheitliches an mehreren Dingen findet, das ihnen allen gemeinsam ist, dann muß dies durch eine einzige Ursache hervorgerufen worden sein. Denn es kann ja nicht sein, daß jenes Allgemeine an jedem Ding von selbst auftritt, weil ein jedes Ding als es selbst sich von einem anderen unterscheidet, und verschiedene Ursachen bringen verschiedene Wirkungen hervor. Wenn es also allen Dingen gemeinsam ist, daß sie sind, und wenn sie sich voneinander in dem unterscheiden, was sie sind, dann kommen sie notwendigerweise nicht aus eigener Kraft, sondern aufgrund einer einzigen Ursache ins Sein. Dies ist offenbar der Gedanke Platons, der vor aller Vielheit eine Einheit ansetzte, und zwar nicht nur eine zahlenmäßige, sondern auch eine Einheit in der Natur der Dinge. Zweitens: Wenn es etwas gibt, an dem mehrere Dinge in verschiedener Weise teilhaben, dann muß dieses Etwas im Ausgang von dem Ding, an dem es sich in höchst vollkommener Weise findet, all denjenigen Dingen zugeschrieben werden, in denen es sich in nicht so vollkommener Weise findet. Denn die Eigenschaften, welche man positiv unter dem Gesichtspunkt des ›Mehr‹ und ›Weniger‹ zuspricht, weisen zurück auf etwas Einheitliches, dem sie mehr oder weniger nahekommen. Denn wenn einem jedem Ding aus eigener Kraft diese Eigenschaft zukäme, dann gäbe es keinen Grund dafür, daß sich diese Eigenschaft an einem Ding auf vollkommenere Weise fin65 Augustinus, De civ. Dei VIII, 4 (CCSL 47, 220).

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det als an einem anderen. So sehen wir etwa, daß das Feuer, das den höchsten Grad an Wärme aufweist, den Maßstab für alles Warme darstellt. Nun muß es ein einziges Seiendes geben, welches das absolut vollkommene und wahre Seiende ist. Dies folgt nach dem Aufweis der Philosophen daraus, daß es etwas gibt, was als gänzlich Unbewegtes in Bewegung versetzt und absolut vollkommen ist. Folglich muß alles andere, was nicht so vollkommen ist, von diesem das Sein erhalten. Dies ist der Gedanke von Aristoteles.66 Drittens: Das, was sich etwas Anderem verdankt, läßt sich ursächlich auf das zurückführen, was von sich aus besteht. Wenn es daher eine einzige Wärme gäbe, die von selbst bestünde, dann müßte sie die Ursache für alles Warme sein, welches in Form einer Teilhabe Wärme aufweist. Nun muß es ein Seiendes geben, das sein Sein selbst ist. Dies erklärt sich dadurch, daß es ein Erstes Seiendes geben muß, das reine Tätigkeit ist und in dem es keine Zusammensetzung gibt. Daher muß aus diesem einen Seienden alles andere kommen, was nicht sein Sein ist, sondern ein Sein hat in Form einer Teilhabe. Dies ist der Gedanke des Avicenna.67 Somit ist es durch Vernunft begründet und durch den Glauben anerkannt, daß alles von Gott erschaffen ist. Zu 1. Zwar geht die erste Ursache, d. h. Gott, nicht in das Wesen der erschaffenen Dinge ein. Dennoch kann das Sein, welches in den erschaffenen Dingen liegt, nur als eines verstanden werden, das sich dem göttlichen Sein verdankt. Genauso kann ja auch eine ganz bestimme Wirkung nur als eine verstanden werden, die sich ihrer ganz bestimmten Ursache verdankt. Zu 2. Gerade dadurch, daß man einer Washeit ein Sein zuspricht, muß nicht nur das Sein, sondern auch eine Washeit als erschaffen gelten. Bevor nämlich eine Washeit ein Sein aufweist, ist sie nichts, ausgenommen vielleicht im Intellekt des Schöpfers. Dort ist sie kein Geschöpf, sondern das schöpferische Wesen. Zu 3. Dieses Argument zeigt auf, daß die erste Materie nicht als solche erschaffen wird. Doch daraus folgt nicht, daß sie erschaffen 66 Aristoteles, Met. II, 1; 993 b 24–29 sowie XII, 7; 1072 b 3 ff. 67 Avicenna, Met. VIII, 3−4 (Avicenna latinus 4, ed. Van Riet, 395 ff.).

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würde ohne jede Prägung durch eine Form. Denn nur dadurch kann sie ein Sein in der Wirklichkeit haben.

6. Artik el Die sechste Frage lautet: Gibt es nur ein einziges Prinzip für die Schöpfung? 68 Dies scheint nicht der Fall zu sein; denn: 1. Dionysius sagt: Die Ursache des Bösen ist nicht das Gute.69 Nun gibt es aber Böses auf der Welt. Dieses kommt also entweder durch eine Ursache zustande, die nicht gut ist, oder es ist überhaupt nicht verursacht, sondern stellt eine Erstursache dar. Bei beiden Möglichkeiten muß man mehrere Prinzipien für die Schöpfung annehmen. Denn es ist klar, daß das Prinzip für die Erschaffung der guten Dinge das Gute ist. 2. Man könnte nun einwenden: Das Gute ist nicht an sich, sondern akzidentell die Ursache für das Böse. – Dem ist zu erwidern: Jede Wirkung, die akzidentell aus einer Ursache kommt, hat auch an sich eine Ursache, denn alles Akzidentelle läßt sich ja auf etwas zurückführen, was an sich ist. Gesetzt also, das Böse ist akzidentell eine Wirkung des Guten, dann wird es an sich auch noch die Wirkung von etwas Anderem sein. Somit gilt das Gleiche wie oben. 3. Eine Wirkung, die akzidentell von einer Ursache herrührt, unterläuft dieser Ursache ohne Absicht, sie ist also nicht erzeugt. Wenn also das Gute akzidentell die Ursache des Bösen ist, dann folgt daraus, daß das Böse nicht erzeugt ist. Nun ist, wie in der »Antwort« des letzten Artikels gezeigt wurde, nichts unerschaffen, es sei denn, dies wäre ein Prinzip für die Schöpfung. Folglich stellt das Böse ein Prinzip der Schöpfung dar. 4. Bei einer Wirkung entsteht kein Schaden ohne die Absicht des Ausführenden, ausgenommen den Fall, daß eine Unwissenheit beim Ausführenden herrscht, der diesen Schaden nicht vorhergesehen hat, bzw. daß bei ihm Unvermögen vorliegt, das unvermeid68 Paralleltexte: Sum. theol. I, q. 44 a. 2; q. 65 a. 1; q. 49 a. 3. ScG II, 41; III, 15. Sent. II, d. 1 q. 1 a. 1 ad 1; d. 19 a. 1 ad 4. 69 Dionysius Areopagita, De div. nom. IV, 19 (Dion. I, 234).

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bar ist. Nun gibt es bei Gott, der der Schöpfer des Guten ist, kein Unvermögen und keine Unwissenheit. Also kann das Böse, das ja schädigend ist, in Gottes Wirkungen nicht ohne Absicht geschehen. Augustinus sagt ja, daß man deswegen vom Bösen spricht, weil es Schaden bringt.70 5. Was akzidentell geschieht, kommt seltener vor. Dies geht aus dem 2. Buch der Physik hervor.71 Hingegen kommt das Böse häufiger vor, wie aus dem 2. Buch der Topik hervorgeht.72 Folglich rührt das Böse von keiner akzidentellen Ursache her. 6. Nach Augustinus hat das Böse keine Ursache, die etwas bewirkt, sondern die etwas zerstört.73 Eine akzidentelle Ursache ist aber eine Wirkursache. Also ist das Gute keine akzidentelle Ursache des Bösen. 7. Was nicht ist, hat auch keine Ursache. Denn das, was nicht ist, stellt weder eine Ursache noch etwas Verursachtes dar. Nun ist, nach Augustinus, das Böse nichtig.74 Folglich hat das Böse weder akzidentell noch an sich eine Ursache. Somit ist der oben vorgebrachte Einwand75 falsch, daß das Gute akzidentell die Ursache des Bösen sei. 8. Nach Aristoteles stellt dasjenige, bei dem sich eine Eigenschaft zunächst und zuerst findet, die Ursache für all das dar, bei dem sich diese Eigenschaft dann auch findet; so ist etwa das Feuer die Ursache der Wärme bei all dem, was warm ist.76 Nun war die Bosheit zunächst und zuerst im Teufel. Folglich ist er die Ursache für die Bosheit bei all dem, was böse ist. Somit gibt es ein Prinzip für alles Böse und eines für alles Gute.

Augustinus, Ench. IV, 12 (CCSL 46, 362). Aristoteles, Phys. II, 5; 196 b 10–17. Aristoteles, Top. II, 6; 112 b 11 f. Vgl. Augustinus, De civ. Dei XII, 7 (CCSL 48, 362). – Augustinus’ wortspielerischer Gebrauch einer causa deficiens (›zerstörerische Ursache‹) im Zusammenhang mit der causa efficiens (›Wirkursache‹) kann im Deutschen nicht nachgeahmt werden. 74 Augustinus, In Joh. ev. I, 13 (CCSL 36, 7). 75 Vgl. De pot. q. 3 a. 6 arg. 2. 76 Aristoteles, Met. II, 1; 993 b 24 ff. 70 71 72 73

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9. Nach Dionysius geschieht das Gute auf eine einzige Weise, das Böse hingegen in jederlei Gestalt.77 Das Böse steht demnach dem Sein näher als das Gute. Wenn also das Gute eine Wesensform darstellt, für die ein Schöpfer vonnöten ist, dann wird auch das Böse einen Schöpfer benötigen. Somit gilt das Gleiche wie oben. 10. Was nicht ist, kann weder eine Gattung noch eine spezifische Art sein. Nun wird das Böse als eine Gattung angesehen. In den Kategorien heißt es ja, daß das Gute und das Böse nicht unter eine Gattung fallen, sondern jeweils eine Gattung für anderes darstellen.78 Folglich ist das Böse etwas Seiendes, und damit ist für es ein Schöpfer vonnöten. Wenn es daher nicht vom Guten erschaffen wird, dann muß man offensichtlich etwas Böses als Prinzip für seine Erschaffung ansetzen. 11. Beide Glieder eines Gegensatzes stellen jeweils eine positive Wesensform dar. Denn Gegensätzliches fällt jeweils unter dieselbe Gattung. Was nicht ist, kann nun nicht unter eine Gattung fallen. Nun sind aber das Gute und das Böse einander entgegengesetzt. Folglich stellt das Böse eine Wesensform dar. Somit gilt das Gleiche wie oben. 12. Die Unterschiede, die bei einer Spezies den Ausschlag geben, sind bezeichnend für eine bestimmte Wesensform. Von daher markiert, wie Boethius sagt, eine Wesensform jeweils eine spezifische Verschiedenheit, die einem jeden Ding seine Form verleiht.79 Nun markiert das Böse eine Verschiedenheit, die für eine bestimmte Spezies ausschlaggebend ist. Denn Gut und Böse sind verschiedene Habitus. Folglich stellt das Böse eine Wesensform dar. Und damit gilt das Gleiche wie oben. 13. In Eccl. 33, 14 heißt es: »Dem Bösen gegenüber ist das Gute, dem Leben gegenüber ist der Tod, und dem Frommen gegenüber ist der Sünder.« Wenn es also ein gutes Prinzip für die Schöpfung gibt, dann muß es im Gegensatz dazu ein anderes, böses Prinzip geben.

77 Dionysius Areopagita, De div. nom. IV, 31 (Dion. I, 302 f.). 78 Aristoteles, Cat. 8; 14 a 23–25. 79 Boethius, Contra Eutychen et Nestorium 1 (ed. Elsässer, 70 f.).

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14. Zunahme und Abnahme80 beziehen sich auf einen jeweils bestimmten Höchstgrad. Nun findet es sich, daß irgend etwas böser ist als etwas anderes. Folglich muß sich etwas finden lassen, das im höchsten Grade böse ist und in dem der Gipfel der Bosheit erreicht ist. Dies muß das Prinzip für alles Böse sein, genauso wie das höchste Gute das Prinzip ist für das, was gut ist. 15. In Mt. 7, 18 heißt es: »Ein guter Baum kann keine schlechten Früchte tragen.« Nun findet sich aber Böses in der Welt. Folglich kann es keine Frucht, d. h. keine Wirkung einer guten Ursache sein, welche mit dem »guten Baum« gemeint ist. Somit muß die Ursache für alles Böse irgendein erstes Böses sein. 16. In Gen. 1, 2 heißt es, daß zu Beginn der Erschaffung der Dinge Finsternis über dem Abgrund lag. Nun kann vom Guten, das ein lichtvolles Wesen hat, nicht die Erschaffung der Finsternis ausgehen. Also kommt die Erschaffung, die an jener Stelle beschrieben wird, nicht von einem guten, sondern von einem bösen Prinzip. 17. Alles, was aus etwas hervorgeht, legt insofern Zeugnis von dem ab, aus dem es hervorgeht, als es diesem ähnelt. Nun legt das Böse keinerlei Zeugnis von Gott ab, es hat auch keinerlei Ähnlichkeit mit Gott. Also stammt es unmöglich von Gott, sondern vielmehr von einem anderen Prinzip. 18. Etwas geht nur dann aus etwas Anderem hervor, wenn es in diesem der Möglichkeit nach liegt. Nun liegt das Böse weder der Möglichkeit noch der Wirklichkeit nach in Gott. Also stammt es nicht von Gott. Und damit gilt das Gleiche wie oben. 19. Wie das Entstehen so stellt auch das Vergehen eine natürliche Bewegung dar. Nun stellt eine Privation den Zielpunkt des Vergehens dar, wie eine Form den Zielpunkt des Werdens darstellt. Wie eine Form so wird also auch eine Privation infolge der Zielgerichtetheit der Natur zum Vorschein gebracht. Damit muß ebenso wie eine Form auch das Böse, das ja eine Privation darstellt, an sich eine es vollbringende Ursache haben. 20. Jedes Wirkende setzt für sein Wirken ein erstes wirkendes Wesen voraus. Wenn nun der freie Wille eine Sünde begeht, dann hat er für dieses Wirken nicht Gottes Tätigsein zu seiner Vorausset80 intensio et remissio V : intentio et remissio M.

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zung. Denn es gibt Sünden – so etwa Hurerei und Ehebruch –, welche nicht von ihrer verunstalteten Form zu trennen sind, und diese verunstaltete Form kann nicht von Gott stammen. Also muß der freie Wille selbst ein erstes Wirkendes sein oder aber auf ein anderes erstes Wirkendes jenseits von Gott zurückgeführt werden. 21. Nun könnte man einwenden: Das Sein einer sündhaften Handlung rührt von Gott her, ihre verunstaltete Form hingegen nicht. – Dem ist mit Averroes zu erwidern: Es ist unmöglich, daß die Materie sich dem Wirken eines tätigen Wesens verdankt und die Form dem Wirken eines anderen tätigen Wesens.81 Nun stellt die verunstaltete Form einer sündhaften Handlung so etwas wie ihre Form dar. Folglich kann die verunstaltete Form einer Sünde nicht von dem einen Urheber und ihr Sein von einem anderen Urheber stammen. 22. Aus dem einfachen Einen geht nur Einfaches hervor. Nun ist Gott absolut einfach. Also stammt das, was aus Materie und Form zusammengesetzt ist, nicht von ihm, sondern von einem anderen Urheber. 23. Eine Sünde hinterläßt in der Seele eine Befleckung. Wenn nämlich diese Befleckung nur einen Entzug der göttlichen Gnade darstellen würde, dann wäre ein Mensch, der eine Todsünde begeht, vollständig von Sünden befleckt.82 Die Befleckung durch eine Sünde geht nun nicht von Gott aus. Denn nach Fulgentius ist Gott nicht der Urheber dessen, was er bestraft.83 Da aber die Befleckung durch eine Sünde nicht von Ewigkeit an besteht, so muß sie eine Ursache haben. Folglich muß sie sich auf eine erste Ursache zurückführen lassen, die nicht Gott ist. 24. In Eccl. 3, 14 steht: »Ich erkannte: Alle Werke, die Gott tut, sind für ewig.« Das Vergängliche hier unten jedoch ist nicht für 81 Averroes, In VII Met. comm. 28 (Aristotelis opera cum Averrois commentariis, Vol. VIII, fol. 178 v H). 82 Die Befleckung durch eine Sünde meint also keinen Entzug (privatio) der göttlichen Gnade, sondern sie bringt der Seele des Sünders etwas Schadhaftes bei. Andernfalls müßte Gott bei einer Todsünde dem Sünder zur Gänze seine Gnade entziehen, und der Gedanke von Gottes gnadenhafter Vergebung der Sünden wäre damit hinfällig. 83 Fulgentius, Ad Monimum I, 19, 4 (CCSL 91, 19 f.).

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ewig. Also ist es nicht das Werk Gottes, sondern muß auf ein anderes Prinzip zurückgeführt werden. 25. Jedes tätige Wesen bringt etwas ihm Ähnliches hervor. Nun ist das körperhafte Vergängliche Gott nicht ähnlich, denn »Gott ist Geist«, wie es in Joh. 4, 24 heißt. Folglich stammt derart Vergängliches nicht von Gott. Und damit gilt das Gleiche wie oben. 26. Nach Aristoteles läßt die Natur stets das Bessere entstehen,84 und dies liegt an der Gutheit der Natur. Doch Gottes Güte ist vollkommener als die der Natur. Also kann Gott noch weitaus Besseres entstehen lassen. Nun ist das Geistige besser als das Körperhafte. Folglich läßt Gott das Körperhafte nicht entstehen. Denn wenn er dieses hätte entstehen lassen, dann hätte er ihm auch die Güte des Geistigen verliehen. Dies läßt den Schluß zu, daß man mehrere Prinzipien für die Schöpfung annehmen muß. Dagegen spricht: 1. In Jes. 45, 6 heißt es: »Ich bin der Herr, und sonst ist kein anderer Gott, der Licht bildet und Finsternis schafft, der Heil wirkt und Unheil schafft. Ich, der Herr, habe alles dieses gewirkt.« 2. Wie Dionysius erklärt, wurzelt das Böse in der Natur des Guten.85 Dies wäre nicht der Fall, wenn das Böse ein Schöpfungsprinzip hätte, das demjenigen Prinzip entgegengesetzt wäre, welches das Gute schafft. Ansonsten wäre ja das Prinzip des Bösen mächtiger als das Prinzip des Guten, denn es würde seine Wirkung in den guten Dingen selbst zur Geltung bringen. Folglich stammt das Böse von keinem anderen Schöpfungsprinzip als das Gute. 3. Aristoteles weist nach, daß es einen einzigen ersten Beweger gibt.86 Dies wäre nicht wahr, wenn es verschiedene erste Prinzipien für die Schöpfung gäbe. Denn ein einziges Prinzip könnte die Geschöpfe eines anderen, ihm entgegengesetzten Prinzips weder lenken noch in Bewegung versetzen. Es gibt also ausschließlich ein einziges Prinzip für die Schöpfung. 84 natura semper facit P : natura semper fecit M. – Vgl. Aristoteles, De caelo II, 5; 288 a 2 f. 85 Dionysius Areopagita, De div. nom. IV, 20 (Dion. I, 243 ff.). 86 Aristoteles, Phys. VIII, 6; 259 a 6–20.

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Antwort: Wie bereits ausgeführt,87 behandelten die frühesten Philosophen nur die spezifischen Prinzipien, wie sie für die Natur gelten, und kamen infolge ihrer Ansichten über die Materie zu der irrtümlichen Auffassung, daß nicht alles in der Natur erschaffen sei. So kamen sie dann infolge ihrer Ansichten über die Gegensätze, die sie neben der Materie als ein Prinzip in der Natur annahmen, dazu, zwei erste Prinzipien für die Dinge anzusetzen. Dazu kamen sie wiederum infolge eines dreifachen Fehlers, der ihnen bei ihren Überlegungen zu den Gegensätzen unterlief. Der erste Fehler bestand darin, daß sie bei den Gliedern eines Gegensatzes nur die Tatsache berücksichtigten, daß diese sich im Hinblick auf ihre artspezifische Natur als verschieden ausnehmen, nicht aber die Tatsache, daß diese im Hinblick auf ihre generische Natur etwas Einheitliches darstellen und gleichwohl innerhalb ein und derselben Gattung etwas Gegensätzliches bleiben. Daher schrieben sie dem Gegensätzlichen als Ursache nicht das zu, worin es übereinkommt, sondern nur das, worin es sich unterscheidet. Aus diesem Grund führten sie, wie es im 1. Buch der Physik heißt, alles Gegensätzliche auf zwei erste gegensätzliche Momente im Sinne von zwei Erstursachen zurück.88 Unter diesen Philosophen setzte Empedokles die beiden ersten gegensätzlichen Momente sogar als wirkende Erstursachen an, nämlich als »Freundschaft« und »Streit«, und damit war er nach dem 1. Buch der Metaphysik der erste, der das Gute und das Böse als Prinzipien ansetzte.89 Der zweite Fehler bestand darin, daß sie die beiden Glieder eines Gegensatzes als gleich einstuften, obwohl doch bei zwei gegensätzlichen Gliedern das eine Glied stets mit der Privation des anderen Gliedes einhergehen muß. Aus diesem Grund ist ja nach dem 1. Buch der Physik das eine Glied vollkommen und das andere unvollkommen, das eine besser und das andere schlechter.90 So kam es dazu, daß diese Philosophen sowohl das Gute als auch das Schlechte 87 88 89 90

Vgl. De pot. q. 3 a. 5 c. Aristoteles, Phys. I, 5; 188 a 19 ff.; 188 b 26 ff. Aristoteles, Met. I, 4; 984 b 32 ff. Aristoteles, Phys. I, 5; 189 a 3–5.

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– dies galt ihnen als ein Gegensatz von ziemlich großer Allgemeinheit – für zwei verschiedene Wesensformen ansahen. Von daher nahm auch Pythagoras zwei Gattungen der Dinge an: das »Gute« und das »Schlechte«. Zur Gattung des Guten zählte er alles Vollkommene, wie etwa das Licht, das Männliche, die Ruhe usw., zur Gattung des Schlechten alles Unvollkommene, also etwa die Finsternis, die Frau usw. Der dritte Fehler bestand darin, daß sie die Dinge so einschätzten, wie sich dies aus der isolierten Betrachtung dieser Dinge bzw. aus der jeweiligen Hinordnung eines Einzeldinges auf ein anderes ergab, jedoch nicht aus der umfassenden Ordnung des Universums. Wenn sie deshalb zu dem Befund kamen, daß ein Ding für ein anderes Schaden stifte bzw. daß es, für sich selbst genommen, unvollkommener sei im Vergleich zu anderen, so glaubten sie dabei, dieses Ding sei aufgrund seiner Natur einfach schlecht und habe seinen Ursprung nicht im Guten. Aus diesem Grund zählte Pythagoras die Frau, die ja etwas Unvollkommenes darstellt, unter die Gattung des Schlechten. Aus dieser Quelle speist sich auch die Überzeugung der Manichäer, daß das Vergängliche, das Sichtbare und das Alte Testament, die jeweils im Vergleich zum Unvergänglichen, zum Sichtbaren und zum Neuen Testament etwas Unvollkommenes darstellen, nicht von einem guten Gott herrühre, sondern aus einem gegensätzlichen Prinzip. Zu dieser Auffassung gelangten sie insbesondere, weil sie ja sahen, daß einem guten Geschöpf, z. B. dem Menschen, Schaden angetan werde durch manche sichtbaren und vergänglichen Geschöpfe. Dieser Irrtum ist nun völlig unhaltbar. Vielmehr muß man alles auf ein einziges Erstes Prinzip, welches gut ist, zurückführen. Dies läßt sich unstreitig mit drei Gründen belegen, und zwar folgendermaßen. Erstens: Da an allen Dingen, die verschieden sind, etwas Einheitliches auftritt, das sie miteinander verbindet, so muß man diese verschiedenen Dinge auf dieses ihnen Gemeinsame als ihrer einheitlichen Ursache zurückführen. Denn entweder ist das eine Ding die Ursache des anderen oder aber beiden ist eine einheitliche Ursache gemein. Es kann ja nicht sein, daß dieses einheitlich Verbindende

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auf die beiden verschiedenen Dinge aufgrund von dem zutrifft, was jedem der beiden in je eigener Weise zugehört. Darauf wurde bereits in der »Antwort« des letzten Artikels hingewiesen. Alles Gegensätzliche und Verschiedene auf der Welt findet nun sein Verbindendes in etwas Einheitlichem, also entweder in ihrer spezifischen Natur oder in ihrer generischen Natur oder auch nur in dem Aspekt, daß sie sind. Von daher muß es für alle diese Dinge ein einheitliches und einziges Prinzip91 geben, das für alle die Ursache ihres Seins ist. Das Sein als solches ist aber gut, was sich daran zeigt, daß alles nach dem Sein strebt. Gerade darin besteht ja der Begriff des Guten: das zu sein, wonach man strebt. Damit ist klar, daß man über alle je verschiedenen Ursachen hinaus eine einzige und einheitliche Ursache ansetzen muß. So setzen ja auch die Naturphilosophen über dasjenige hinaus, was als Gegensätzliches in der Natur wirkt, eine einzige und einheitliche tätige Ursache an: den Himmel, der für die niederen Dingen die Ursache ihrer verschiedenen Bewegungen darstellt. Weil sich aber auch am Himmel unterschiedliche Gestirnsstellungen finden, die als die Ursache für die Verschiedenheit der niederen Körper gelten können, so muß man noch über den Himmel hinaus auf einen Ersten Beweger zurückgehen, der sich weder an sich noch akzidentell bewegt. Zweitens: Jedes tätige Wesen wirkt nach der Maßgabe, daß es in der Wirklichkeit ist und es demnach in bestimmter Weise zur Vollendung gekommen ist. Ist nun etwas schlecht, so ist es nach dieser Maßgabe nicht in der Wirklichkeit, denn man bezeichnet ja etwas aufgrund der Tatsache als schlecht, daß einem Vermögen die je eigene und ihm gebührende Verwirklichung vorenthalten ist. Ist hingegen etwas in der Wirklichkeit, so ist es nach dieser Maßgabe gut, denn nach dieser Maßgabe weist es Vollendung und Dasein auf – worin ja der Begriff des Guten besteht. Nichts wirkt also, insoweit es schlecht ist, vielmehr wirkt jedes tätige Wesen, insoweit es gut ist. Demnach ist es unmöglich, ein aktives Prinzip für die Dinge anzusetzen, das nicht gut wäre. Weil aber jedes tätige Wesen etwas ihm Gleiches vollbringt, entsteht dieses nur unter der Maßgabe, daß 91 An dieser Stelle ziehe ich es vor, den Doppelsinn von »unus« als »einheitlich« und »einzig« explizit anzuzeigen.

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jenes in der Wirklichkeit ist und demnach gut ist. Unter beiden Gesichtspunkten ist also der Standpunkt unhaltbar, daß das Böse das Schöpfungsprinzip für das sei, was böse ist. Mit unserer Argumentation stimmen auch die Worte von Dionysius überein, der sagt, daß das Böse nur kraft des Guten wirkt und daß das Böse keine Zielstrebigkeit und Fortpflanzung kennt.92 Drittens: Wenn das, was verschieden ist, sich vollständig gegensätzlichen Prinzipien verdanken würde, welche sich nicht auf ein einziges und einheitliches Prinzip zurückführen ließen, dann könnte es sich allenfalls akzidentell einer einheitlichen Ordnung fügen. Das Viele fügt sich ja in einen geordneten Zusammenhang nur durch den, der diese Ordnung so verfügt, es sei denn, das Viele fügt sich gerade zufällig93 so zusammen. Es liegt jedoch vor unseren Augen, daß sich Vergängliches und Unvergängliches, Geistiges und Körperliches sowie Vollkommenes und Unvollkommenes einer einheitlichen Ordnung fügen. Denn das Geistige versetzt das Körperliche in Bewegung, was sich zumindest im Falle des Menschen zeigt. Auch das Vergängliche wird durch die unvergänglichen Körper geregelt, wie etwa ersichtlich wird am Anderswerden der Elemente, das durch die Himmelskörper hervorgerufen wird. Man kann ja nicht behaupten, daß dies zufällig94 passiere, denn dann würde es ja nicht ununterbrochen oder die meiste Zeit geschehen, sondern nur ziemlich selten. Folglich muß man all dies Verschiedene auf ein erstes und einheitliches Prinzip zurückführen, wodurch es sich einer einheitlichen Ordnung fügt. Von daher kommt Aristoteles zu dem Schluß, daß nur Einer der Herr ist.95 Zu 1. Da, wie gerade festgestellt, das Böse kein Seiendes ist, sondern einen Mangel an Sein darstellt, kann es im eigentlichen Sinne nicht erschaffen sein. Nur in diesem Sinne sagt Dionysius, daß das Dionysius Areopagita, De div. nom. IV, 32 (Dion. I, 306 f.). casualiter L : causaliter M. casualiter V : causaliter M. Aristoteles, Met. XII, 10; 1076 a 3 f. – Mit diesem Zitat aus der Homerischen Ilias (II, 204) beschließt Aristoteles das 12. Buch seiner Metaphysik. 92 93 94 95

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Gute nicht die Ursache des Bösen ist. Er geht aber nicht so weit zu behaupten, daß sich das Böse auf die Erste Ursache zurückführen ließe. Zu 2. Dieser Einwand geht von einer Wirkung aus, die an sich durch eine Ursache zustande kommt. Das Böse ist aber nicht von dieser Art. Daher kann es eigentlich auch nicht als eine Wirkung bezeichnet werden. Zu 3. Das Böse unterläuft zwar bei bestimmten Wirkungen, es wird jedoch nicht im eigentlichen Sinne erzeugt. Dies zeigt sich daran, daß es nicht beabsichtigt ist. Daraus folgt jedoch nicht, daß es ein erstes Prinzip darstellt – es sei denn, man fügt hinzu, daß das Böse eine bestimmte Wesensform darstelle. Wie nämlich das Böse kein Seiendes ist, sondern eine Privation des Seins darstellt, und wie ihm daher eine entscheidende Grundlage dafür fehlt, eine Wirkung darstellen zu können, so fehlt ihm – wie schon gezeigt wurde – in noch höherem Ausmaß auch die Grundlage dafür, eine Ursache darstellen zu können. Zu 4. Nach Augustinus ist Gott so gut, daß er niemals etwas Böses zulassen könnte, ausgenommen den Fall, er wäre so mächtig, in allem Bösen das Gute zum Vorschein zu bringen.96 Daher rührt es nicht von einem Unvermögen oder einem Unwissen Gottes her, wenn Böses auf der Welt geschieht. Vielmehr liegt es an der Fügung seiner Weisheit und an der Größe seiner Güte, wenn die verschiedenen Abstufungen des Guten unter den Dingen zahlreich sind. Viele dieser Abstufungen des Guten würde es nicht geben, wenn er gar kein Übel zugelassen hätte. Es gäbe ja nicht das Gut der Standhaftigkeit, wenn es nicht immer wieder das Übel der Verfolgung gäbe. Auch für den Löwen gäbe es nicht das Gut seiner Lebenserhaltung, wenn es nicht für die Lebewesen, von denen der Löwe sich ernährt, das Übel ihrer Vernichtung gäbe. Zu 5. Nur in wenigen Fällen zeigt sich Böses, wenn man bestimmte Wirkungen auf die ihnen je eigenen Ursachen zurückführt. Im Bereich der Natur ist dies offensichtlich. Denn ein Fehler bzw. ein Übel tritt bei einer natürlichen Tätigkeit nur aufgrund eines 96 Augustinus, Ench. III, 11 (CCSL 46, 53).

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Hindernisses auf, das einem tätigem Wesen in die Quere kommt. Freilich kommt so etwas nur in wenigen Fällen vor, z. B. wenn es in der Natur zu Mißbildungen und dergleichen kommt. Hingegen scheint es im Bereich des Willens eher so zu sein, daß hier Übles häufiger bei den Resultaten von Handlungen auftritt und nicht so sehr bei den Resultaten einer erzeugenden Tätigkeit97, insofern nämlich eine Kunstfertigkeit bei ihrer Nachahmung der Natur nur selten Fehler macht. Diejenigen Handlungen aber, bei denen es um Tugend und Lasterhaftigkeit geht, werden durch ein doppeltes Verlangen zuwege gebracht: durch ein geistiges und ein sinnliches Verlangen. Was hierbei dem einen Verlangen als gut gilt, das gilt dem anderen Verlangen als schlecht. Im Beispiel gesprochen: Das zu suchen, was Genuß bereitet, gilt dem sinnlichen Verlangen, also der sogenannten Sinnlichkeit, für gut, dem geistigen Verlangen hingegen als schlecht. Weil aber die überwiegende Mehrheit eher ihrer Sinnlichkeit folgt als ihrer Vernunft, so finden sich unter den Menschen mehr schlechte als gute. Gleichwohl beträgt sich, wer einem geistigen Verlangen folgt, in den meisten Fällen gut und nur selten schlecht. Zu 6. Als akzidentell gestaltet sich eine Ursache auf zweierlei Art: einerseits als eine Ursache, die etwas zu einer Wirkung beiträgt. Als akzidentelle Ursache für diese Wirkung wird sie bezeichnet, weil jene Wirkung durch jene Ursache nicht mit Absicht verursacht wird, also z. B. wenn jemand ein Grab aushebt und dabei einen Schatz entdeckt. Andererseits ist eine Ursache akzidentell, wenn sie nichts zu einer Wirkung beiträgt. Akzidentell heißt sie aber deswegen, weil sie ein Akzidens der wirkenden Ursache darstellt. So spricht man etwa davon, daß eine helle Haut nur akzidentell die Ursache für ein Haus ist, weil eine helle Haut ein Akzidens seines Erbauers ist. Genauso gestaltet sich eine Wirkung in zweifacher Weise als akzidentell. Einerseits, wenn diese Wirkung aus der Tätigkeit einer Ursache resultieren kann und gleichwohl ohne deren Absicht erreicht wird, z. B. wenn man zufällig einen Schatz entdeckt. Auch wenn eine derartige Wirkung akzidentell aus einer solchen Ursache herrührt, so kann sie doch an sich auch von einer anderen Ursache 97 ut in pluribus quantum ad agibilia, licet non quantum ad factibilia V : ut in pluribus quantum ad factibilia M.

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herrühren. In diesem Sinne hat das Böse keine akzidentelle Ursache, denn es kann, wie bereits ausgeführt, nicht das Resultat aus einer Tätigkeit sein. Andererseits ist eine Wirkung akzidentell, wenn sie nicht aus der Tätigkeit eines wirkenden Wesens resultiert. Akzidentell heißt sie aber deswegen, weil sie ein Akzidens der Wirkung darstellt. So kann etwa die weiße Farbe, die ein Akzidens eines Hauses ist, eine akzidentelle Wirkung des Bauherrn genannt werden. In diesem Sinne spricht nichts dagegen, daß das Böse eine akzidentelle Ursache hat. Zu 7. Zwar stellt das Böse keine Wesensform dar. Gleichwohl stellt es keine reine Verneinung von etwas dar, sondern ist vielmehr eine Privation, die nach Aristoteles die Negation an einem Gegenstand ist. Eine Privation ist ja etwas Negatives an einer Substanz.98 Gerade dadurch also, daß eine Privation an Etwas akzidentell auftritt, kann man ihr in dem Sinne eine akzidentelle Ursache zuschreiben, wie gerade ausgeführt. Zu 8. Das Böse ist zunächst eher im Teufel als in anderem, und zwar der Zeit nach; nicht jedoch dem Wesen nach, nicht so also, als würde das Bösesein sein Wesen darstellen oder ein Akzidens, das sich aus den Prinzipien der ihm eigenen Natur herleitet. Es ist aber kein Widerspruch dazu, wenn er verwerflicher ist als andere. Denn dies ist er nicht dadurch, daß ihm das Bösesein zum Wesen geworden wäre. Vielmehr ist er akzidentell so, weil er größere Sünden begangen hat. Prinzip für anderes kann hingegen nur dasjenige sein, von dem an sich und nicht akzidentell eine bestimmte Eigenschaft im höchsten Grade gilt. Zu 9. An der Vollkommenheit des Guten liegt es, daß es in einer einzigen Weise auftritt. Etwas kann ja nicht vollkommen sein ohne das Zusammentreffen derjenigen Umstände, aus denen sich seine Vollkommenheit sozusagen ergibt. Alles das aber, dem einer dieser Umstände abgeht, ist unvollkommen und mithin schlecht. Deshalb liegt es an der Unvollkommenheit des Bösen, daß es auf vielerlei Weise auftritt. Daher hat das Böse weniger Sein als das Gute. 98 Aristoteles, Met. IV, 2; 1004 a 14 ff.: »Die Verneinung stellt ja die Abwesenheit von etwas dar, bei der Privation hingegen gibt es noch eine zugrundeliegende Wesenheit, von der her sich die Privation versteht.«

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Zu 10. Der hier angeführte Satz des Aristoteles ist nicht im Sinne des Pythagoras zu verstehen, der ja, wie bereits oben ausgeführt,99 das Gute und das Schlechte als Gattungen betrachtete. Gleichwohl hat diese Auffassung etwas Wahres an sich. Denn da das Gute etwas Positives meint, das Schlechte hingegen etwas Negatives, so ist auch jede Form etwas Gutes und jede Privation etwas Schlechtes. Insofern sind »gut« und »schlecht« in gewisser Weise konvertibel mit »seiend« bzw. mit »des Seins beraubt«. Wie aber im 10. Buch der Metaphysik nachgewiesen wird, beinhaltet jedes Gegensatzpaar den Gegensatz von Privation und Habitus.100 Von daher läßt sich stets das eine Glied eines Gegensatzes, welches vergleichsweise vollkommen ist, auf etwas Gutes zurückführen, und das andere Glied, welches vergleichsweise unvollkommen ist, auf etwas Schlechtes. Deswegen sagt Aristoteles auch, daß das eine Glied eines Gegensatzpaares zum Bereich des Schadhaften gehört.101 In diesem Sinne lassen sich »gut« und »schlecht« als Gattungsbegriffe für gegensätzliche Glieder bezeichnen. Zu 11. Das Schlechte, das in einem Gegensatz zu etwas Gutem steht, meint nicht einfach eine Privation von diesem Guten, sondern vielmehr einen Habitus, der von dieser Privation betroffen ist. Dieser Habitus fällt nun freilich nicht unter den Begriff des Schlechten, insofern er unter den Begriff des Seienden fällt, sondern vielmehr, insofern er von einer Privation betroffen ist, welche ihn von seiner ihm gebührenden Vervollkommnung abhält. Zu 12. Grundlegendes Merkmal für einen mangelhaften Habitus ist das Schlechte nicht einfach dadurch, daß es eine Privation ist, sondern dadurch, daß es als eine ungebührende Begleiterscheinung beim Streben nach einem Ziel auftritt. Bei diesem Streben liegt der Grund seiner Schlechtheit nur insofern im angestrebten Ziel, als dieses Ziel nicht einem angemessenen Ziel entspricht. So entspricht etwa die Verfolgung eines fleischlichen Genusses keinem vernunftgeleiteten Gut. Daher lassen sich insbesondere seelische Haltungen als »gut« und »schlecht« bestimmen, weil sich die sittlichen Hand99 Vgl. De pot. q. 3 a. 6 c. 100 Aristoteles, Met. X, 4; 1055 a 33 ff. 101 Aristoteles, Phys. I, 9; 192 a 16.

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lungen und mithin Haltungen nach ihrem jeweiligen Ziel bestimmen, welches gewissermaßen die Form der Willens darstellt, der seinerseits das eigentliche Prinzip für sittliche Handlungen102 ist. »Gut« und »böse« aber verstehen sich im Hinblick auf dieses Ziel. Zu 13. Daß »das Böse dem Guten gegenüber ist«, meint hier nicht, daß ein Prinzip dem anderen gegenübersteht, sondern meint zwei Dinge, die aus dem einem, ersten Prinzip hervorgehen. Das eine von ihnen geht daraus an sich hervor, das andere aber akzidentell. Dies läßt sich daran erkennen, daß es an der angeführten Stelle weiter heißt: »Schaue so auf alle Werke des Höchsten: zwei und zwei sind sie, eines entsprechend dem anderen.«103 Zu 14. Das Böse nimmt nicht zu durch eine etwaige Annäherung an einen Höchstwert, sondern durch seine Entfernung von einem Höchstwert. Wie man nämlich etwas als gut bezeichnet aufgrund seiner Teilhabe am Guten, so bezeichnet man etwas als böse aufgrund seiner Entfernung vom Guten. Zu 15. Mit dem Bild des guten Baumes meint der Herr eine Ursache für Gutes, freilich nicht die Erste Ursache, sondern die unmittelbare Ursache für eine ganz bestimmte Wirkung. Entsprechendes gilt für das Bild des schlechten Baumes. Mit dem Bild des schlechten Baumes meint der Herr daher die schlechten Propheten, die man an ihren Werken erkennt wie den Baum an seinen Früchten.104 Das biblische Gleichnis zeigt ja dies auch, wenn man genau hinsieht: Denn nicht der Baum, sondern die Wurzel ist die erste Ursache für die Frucht. Wenn man jedoch unter dem Baum ganz allgemein jede Ursache versteht, so wie dies Dionysius zu tun scheint, dann ist darauf, wie schon zum 1. Argument ausgeführt, zu erwidern, daß das Gute nicht an sich die Ursache des Bösen ist. Zu 16. Die Finsternis, von der am Anfang des Schöpfungsberichtes die Rede ist, ist nichts Erschaffenes, sondern nur ein Lichtmangel in der Atmosphäre. Gleichwohl stellte die Finsternis nichts Schlechtes dar, weil der Mangel an Gutem nur dann etwas Schlechtes ist, wenn dieses Gute auftreten kann und auch müßte. An einem Stein 102 principium moralium actuum L : princpium malorum actuum M. 103 Eccl. 33, 15. 104 Vgl. Mt. 7, 20.

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ist es ja nichts Schlechtes, daß er keine sinnliche Wahrnehmung hat. Auch bei einem Neugeborenen ist es nichts Schlechtes, daß es nicht gehen kann. Gleichwohl lag es nicht an einem Unvermögen der wirkenden Ursache, daß sie die Atmosphäre lichtlos erschuf, sondern vielmehr an ihrer Weisheit, die es so gefügt hat, daß etwas aus der Unvollkommenheit zur Vollendung gebracht wird. Zu 17. Dieses Argument geht davon aus, daß das Übel an sich eine Ursache habe. Dies ist aber, wie bereits gezeigt, falsch. Zu 18. Das Gleiche läßt sich auch hier festhalten. Zu 19. Die Natur steht in einem anderen Bezug zum Werden als zum Vergehen. Denn die Natur strebt an sich eine Form als das Ziel des Werdens an, und zwar sowohl im allgemeinen wie im besonderen. Dagegen kommt eine Privation zustande, ohne daß die Natur dies im einzelnen anstrebt. Aufs Ganze gesehen, verträgt sich aber eine Privation mit dem Streben der Natur, freilich nicht, weil sie an sich angestrebt würde, sondern weil ohne die Privation der einen Form die andere Form nicht eingeführt kann. Daher ist das Werden in jeder Weise naturgemäß. Das Vergehen aber kann in manchen Fällen als widernatürlich bezeichnet werden, insoweit es dabei um Einzelfälle in der Natur geht. Zu 20. Was auch immer ein sündiges Tun an Dasein und Tätigkeit an sich hat, verdankt sich Gott als der Ersten Ursache. Was dagegen ein sündiges Tun an verunstalteter Form aufweist, verdankt sich ursächlich dem freien Willensentscheid. Genauso verdankt sich ja das, was ein hinkender Gang an Fortbewegung an sich hat, der Kraft zur Fortbewegung als einer ersten Ursache; die schleppende Art seiner Fortbewegung ist dagegen der verkrüppelten Form des Beines geschuldet. Zu 21. Dieses Argument gilt für zwei wirkende Wesen, zwischen denen überhaupt keine Beziehung besteht, nicht aber in dem Fall, wenn das eine wirkende Wesen im anderen wirkt. In diesem Fall können sie beide nämlich eine einzige Wirkung erzielen. Gott wirkt aber in jeder Wesensform und in jedem Willen. Daher ist dieses Argument nicht stichhaltig. Zu 22. Dieses Argument geht davon aus, daß ein tätiges Wesen aufgrund einer ihm wesensmäßigen Notwendigkeit wirkt, so daß ein ganz bestimmtes tätiges Wesen auch nur eine ganz bestimmte

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Wirkung hervorbringen kann. Nun muß aber eine Wirkung nicht unbedingt genauso einfach sein wie ihre Ursache. Denn eine Wirkung gleicht nicht unbedingt ihrer Ursache in der Allumfassendheit oder Einfachheit. Gott wirkt nun nicht aufgrund einer ihm wesensmäßigen Notwenigkeit, sondern nach seinem Willen. Von daher kann er Einfaches und Zusammengesetztes, Bewegliches und Unbewegliches entstehen lassen. Zu 23. Die sündhafte Befleckung stellt in der Seele keine Wesensform dar, sondern besteht in einem Entzug der Gnade. Dieser Entzug betrifft allerdings diejenige vorangegangene sündhafte Handlung, die die Ursache für jenen Entzug war oder sein konnte. Dies heißt nicht, daß derjenige, der eine bestimmte Sünde nicht begangen hat, eine Befleckung durch diese Sünde aufweist. Zu 24. Gottes Werke bestehen auf ewig, jedoch nicht als Einzelwesen, sondern vielmehr der Spezies und der Gattung nach, ebenso der Substanz, nicht aber ihrer Seinsweise nach. »Denn die Gestalt dieser Welt vergeht«, heißt es in 1 Kor. 7, 31. Zu 25. Obwohl Gott Geist ist, so hat er doch in seiner Weisheit einen Begriff von den Körpern. Nach diesem Begriff bemessen sich die Körper in der Weise, wie sich die handwerklichen Erzeugnisse nach ihrem Erzeuger bemessen: Sie bemessen sich nach seinem handwerklichen Können. Nichtsdestoweniger gleichen die Körper Gott aber auch in seinem Wesen, insofern sie gut sind und eine gewisse Einheit besitzen. Zu 26. Die Natur läßt nicht stets für das Einzelne das Bessere entstehen, sondern stets nur für das Ganze. Sonst könnte sie ja den ganzen menschlichen Körper als Auge oder Herz entstehen lassen. Dies wäre nämlich für das einzelne Körperteil besser, nicht aber für den ganzen Körper. Genauso wäre es für ein bestimmtes Ding besser, wenn es einen höheren Rang einnähme, es wäre jedoch nicht besser für das Universum, da es unvollkommen bliebe, wenn alle Geschöpfe denselben Rang einnähmen.

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7. Artik el Die siebte Frage lautet: Wirkt Gott in jedem Wirken der Natur? 105 Dies scheint nicht der Fall zu sein; denn: 1. Die Natur vernachlässigt weder das Notwendige noch verschwendet sie sich in Überflüssigem. Zu einem natürlichen Wirken genügt vielmehr eine aktive Kraft im Wirkenden und eine Kraft zur Empfänglichkeit bei dem, das diesem Wirken ausgesetzt ist. Folglich ist keine göttliche Kraft vonnöten, die in den Dingen wirkt. 2. Man könnte nun einwenden: Die aktive Kraft der Natur hängt in ihrer Wirksamkeit vom göttlichen Wirken ab. – Dem ist zu erwidern: Wie das Wirken der erschaffenen Natur vom göttlichen Wirken abhängt, so hängt das Wirken eines aus den Elementen bestehenden Körpers vom Wirken eines Himmelskörpers ab. Denn ein Himmelskörper verhält sich so zu einem aus den Elementen bestehenden Körper wie eine Erstursache zu einer Zweitursache. Es läßt sich aber nun nicht behaupten, daß ein Himmelskörper in jedem elementarischen Körper, der eine Wirkung ausübt, wirksam ist. Folglich kann man auch nicht sagen, daß Gott an jedem Wirken der Natur beteiligt ist. 3. Angenommen, Gott ist an jedem Wirken der Natur beteiligt, dann wirken Gott und die Natur mit ein und derselben oder aber mit einer unterschiedlichen Wirksamkeit. Nun wirken sie nicht mit ein und derselben Wirksamkeit. Denn die Einheit eines Wirkens ist ein Kennzeichen für die Einheit einer Wesensform. Weil aber in Christus zwei Wesensformen waren, so waren in ihm auch zwei Arten der Wirksamkeit. Bekanntlich sind ja die göttliche und die geschöpfliche Wesensform nicht identisch. – Ebensowenig sind hier zwei unterschiedliche Arten der Wirksamkeit möglich: Unterschiedliche Wirksamkeiten gehen ja offensichtlich nicht auf dasselbe Erzeugnis, eben weil sich Bewegungen und Wirksamkeiten anhand ihres Zieles unterscheiden lassen. Folglich ist es überhaupt nicht möglich, daß Gott in der Natur wirksam ist.

105 Paralleltexte: Sum. theol. I, q. 105 a. 5. ScG III, 67. Comp. theol. 135. Sent. II, d. 1 q. 1 a. 4.

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4. Nun wird man einwenden: Zwei Wirkungen können dasselbe Ziel haben, wenn es zwischen ihnen eine Rangordnung gibt. – Dem ist zu erwidern: Bei dem, was sich unmittelbar auf denselben Gegenstand bezieht, gibt es keine Rangordnung. Nun zeitigen sowohl Gott als auch die Natur unmittelbar eine natürliche Wirkung. Folglich stehen Gottes Wirken und das Wirken der Natur in keiner Rangordnung zueinander. 5. Immer wenn Gott ein bestimmtes Wesen bildet, dann verleiht er ihm sogleich all das, was unbedingt zu diesem Wesen dazugehört. Wenn Gott also z. B. einen Menschen bildet, dann verleiht er ihm solgeich eine vernunftbegabte Seele. Nun ist die Kraft von ihrem Wesen her das Prinzip für eine Tätigkeit. Die Kraft stellt ja die oberste Stufe eines Vermögens dar, und dieses ist, wie es im 5. Buch der Metaphysik heißt, das Prinzip für ein Tätigsein, das auf etwas Anderes als einem Anderen hinwirkt.106 Gerade dadurch also, daß Gott den Dingen natürliche Kräfte verlieh, gewährte er es ihnen, ihre natürliche Wirksamkeit zu entfalten. Somit ist es nicht notwendig, daß Gott darüber hinaus noch in den Dingen der Natur wirkt. 6. Man wird nun einwenden: Eine natürliche Kraft wie auch alles andere, was ist, kann nicht von Dauer sein, wenn es nicht durch die göttliche Kraft erhalten wird. – Dem ist zu erwidern: Auf etwas hin zu wirken, ist nicht dasselbe, wie in etwas zu wirken. Nun ist Gottes Wirken, bei dem er eine natürliche Kraft entstehen läßt und am Sein erhält, ein Wirken, das auf die Bildung bzw. auf den Erhalt jener Kraft abzielt. Aus diesem Grund kann man nicht sagen, daß Gott in einer natürlichen Kraft wirkt. 7. Angenommen, Gott ist innerhalb der wirkenden Natur wirksam, dann muß er mit diesem Wirken auch etwas an einem natürlichen Ding bewerkstelligen. Denn das, was wirkt, läßt mit seinem Wirken etwas in der Wirklichkeit entstehen. Letzteres reicht nun entweder dafür aus, daß die Natur von sich aus wirksam sein kann, oder es reicht dafür nicht aus. Reicht dies aus, dann läßt sich eben deshalb, weil Gott der Natur auch ihre natürliche Kraft verliehen hat, sagen, daß diese natürliche Kraft für das Wirken der Natur ausreicht. Daher besteht für Gott 106 Aristoteles, Met. V, 12; 1019 a 15 f.

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kein Anlaß dazu, daß er, nachdem er einmal der Natur eine Kraft verliehen hat, darüber hinaus etwas zu ihrem Wirken beiträgt. − Reicht dies nicht aus, dann muß Gott noch etwas Weiteres entstehen lassen, und wenn das nicht ausreicht, noch einmal etwas anderes und so ins Unendliche. So etwas ist aber unmöglich. Denn eine einzige Wirkung kann ja nicht von unendlich vielen Tätigkeiten herrühren. Denn da man das Unendliche nicht durchlaufen kann, so könnte eine solche Wirkung nie zu einem Abschluß gelangen. Also bleibt nur die erste der beiden Möglichkeiten, nämlich daß die natürliche Kraft für ein Wirken der Natur ausreicht, ohne daß dabei Gott in dieser Kraft noch weiter wirksam wäre. 8. Wenn eine Ursache aus Naturnotwendigkeit wirksam ist und sie nicht gerade durch ein Akzidens daran gehindert wird, dann entfaltet sie ihr Wirken nach der Maßgabe, daß die Natur jeweils auf etwas ganz Bestimmtes festgelegt ist. Wenn also etwa die Hitze eines Feuers aus Naturnotwendigkeit eine Wirkung zeitigt, dann kommt es bei Vorliegen dieser Hitze zu einer Erhitzung, ohne daß hierzu eine höhere Kraft vonnöten wäre, die im Feuer wirksam ist. 9. Völlig Unterschiedliches kann voneinander unabhängig bestehen. Nun sind Gottes Wirken und das Wirken der Natur völlig unterschiedlich. Denn Gott wirkt willentlich, die Natur hingegen aus Notwendigkeit. Folglich können Gottes Wirken und das Wirken der Natur voneinander unabhängig sein. Demnach braucht Gott am Wirken der Natur nicht beteiligt zu sein. 10. Für sich genommen, ähnelt ein Geschöpf Gott, insoweit es in der Wirklichkeit ist und wirkt; unter diesem Gesichtspunkt hat es an der göttlichen Güte teil. Dies wäre aber nicht der Fall, wenn seine eigene Kraft für sein Wirken nicht ausreichen würde. Ein Geschöpf ist also zu einem Wirken fähig, ohne daß Gott darin wirkt. 11. Wie von manchen behauptet wird, können sich zwei Engel nicht am selben Ort aufhalten, sonst würden sie sich bei ihrem Wirken in die Quere kommen. Denn wo sich ein Engel befindet, da wirkt er. Nun besteht zwischen Gott und der Natur ein größerer Abstand als zwischen zwei Engeln. Folglich kann Gott nicht gleichzeitig mit der Natur am selben Ort wirken. 12. In Eccl. 15, 14 heißt es, daß Gott den Menschen erschuf und ihn in die Hand der eigenen Entscheidung übergab. Gott hätte ihn

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aber nicht übergeben, wenn er stets im Willen des Menschen wirken würde. Folglich wirkt Gott nicht im Wirken des Willens. 13. Der Wille ist Herr über sein Wirken. Dies wäre aber nicht der Fall, wenn der Wille nicht wirken könnte, ohne daß Gott in ihm wirkt. Denn unser Wille ist nicht Herr über das göttliche Wirken. Folglich wirkt Gott nicht im unserem Willen, wenn dieser wirkt. 14. Nach dem 1. Buch der Metaphysik ist dasjenige frei, was die Ursache seiner selbst ist.107 Was also nur infolge einer Ursache wirken kann, die in diesem wirkt, das ist nicht frei in seinem Wirken. Nun ist aber unser Wille frei in seinem Wirken. Also kann er wirken, ohne daß eine weitere Ursache daran beteiligt wäre. Und damit gilt das Gleiche wie vorhin. 15. Eine Erstursache übt einen größeren Einfluß auf das Verursachte aus als eine Zweitursache. Wenn also Gott im Willen und innerhalb der Natur so wirken würde wie eine Erstursache in einer Zweitursache, dann würde daraus folgen, daß die Fehlleistungen, die beim Wirken der Natur und des Willens unterlaufen, eher Gott als der Natur und dem Willen zugeschrieben werden müßten. Dies kann aber nicht stimmen. 16. Angenommen, eine Ursache ist in ausreichender Weise wirksam, so ist das Wirken einer weiteren Ursache überflüssig. Wenn nun Gott im Willen und innerhalb der Natur wirken sollte, so würde er dort ohne Zweifel in ausreichender Weise wirken. Folglich wäre jedes Wirken der Natur und des Willens überflüssig. Weil aber innerhalb der Natur nichts überflüssig ist, so würden weder die Natur noch der Wille etwas bewirken, sondern einzig Gott. Dies trifft aber nicht zu. Also stimmt auch das Erstere nicht, daß nämlich Gott im Willen und innerhalb der Natur wirkt. Dagegen spricht: 1. In Jes. 26, 12 heißt es: »Alle unsere Werke hast du in uns gewirkt, Herr.« 2. Wie eine Kunstfertigkeit die Natur so hat auch die Natur Gott zu ihrer Voraussetzung. Nun ist die Natur in einem kunstfertigen Wirken wirksam, denn ohne ein Wirken der Natur richtet ein 107 Aristoteles, Met. I, 2; 982 b 26.

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kunstfertiges Wirken nichts aus. So wird etwa das Eisen durch das Feuer geschmeidig gemacht, damit der Handwerker es durch Schlagen schmieden kann. Folglich ist auch Gott im Wirken der Natur wirksam. 3. Nach Aristoteles bringt ein Mensch einen Menschen im Verein mit der Sonne hervor.108 Wie nun die Wirksamkeit bei der menschlichen Fortpflanzung vom Wirken der Sonne abhängt, so hängt erst recht das Wirken der Natur vom Wirken Gottes ab. Also ist alles in der Natur Bewirkte auch von Gott bewirkt. 4. Nur Seiendes kann wirksam sein. Nun kann die Natur nur aufgrund von Gottes Wirken bestehen. Denn sie würde ins Nichts zurückfallen, wenn sie nicht durch das Wirken der göttlichen Kraft109 am Sein erhalten würde. Dies geht aus Augustinus’ Stellenkommentar zur Genesis hervor.110 Also kann die Natur nur durch Gottes Wirken wirksam sein. 5. Gottes Kraft ist in jedem natürlichen Ding. Denn Gott ist in allen Dingen kraft seines Wesen, seines Vermögens und seiner Gegenwart. Nun läßt sich nicht sagen, daß die göttliche Kraft zur Ruhe käme, insofern sie in den Dingen ist. Also wirkt sie auch, insofern sie in der Natur ist. Ebensowenig kann man behaupten, daß Gott anderes wirke, als die Natur wirkt, nur weil in der Natur ein einziges Wirken zum Vorschein kommt. Folglich ist Gott an jedem Wirken der Natur beteiligt. Antwort: Man muß ohne Einschränkung daran festhalten, daß Gott am Wirken der Natur und des Willens beteiligt ist. Manche verstanden das nicht und schrieben fälschlicherweise Gott das gesamte Wirken der Natur in dem Sinne zu, daß die Natur überhaupt nicht aus eigener Kraft wirksam sein könne. Zu dieser Ansicht sahen sie sich aus verschiedenen Gründen veranlaßt. (A) Wie Rabbi Moses berichtet, behaupteten manche muslimische

108 Aristoteles, Phys. II, 2; 194 b 13. 109 nisi divinae potentiae actione V : nisi divina potentia actione M. 110 Augustinus, De Gen. ad litt. IV, 12 (CSEL 28/1, 108).

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Schriftgelehrte, daß alle natürlichen Formen akzidentell seien.111 Da aber ein Akzidens nicht vom einen Träger auf den anderen übergehen kann, so hielten sie es für unmöglich, daß ein natürliches Ding kraft seiner Form irgendwie in einem anderen Träger eine ähnliche Form hervorbringen könne. Sie behaupteten deshalb, daß es nicht das Feuer sei, das erwärmt, sondern daß Gott die Wärme im Erwärmten erschaffe. Wenn nun gegen diese Leute eingewandt wurde, daß stets eine Erwärmung stattfinde, wenn man etwas Erwärmbares ans Feuer stelle – es sei denn, ein bestimmter Umstand verhindere zufällig die Erwärmung – und daß sich dadurch das Feuer an sich als Ursache für die Erwärmung zeige, so erwiderten sie, daß Gott, um den bestehenden Lauf der Dinge nicht anzutasten, es beschlossen habe, nie selbst die Wärme zu verursachen ohne das Beisein des Feuers. Das aber besage nicht, daß die Gegenwart eines Feuers etwas für die Erwärmung erbringe. Dieser Standpunkt widerspricht nun ganz offensichtlich der sinnlichen Erfahrung. Denn die Sinne nehmen nur dadurch wahr, daß das sinnlich Wahrnehmbare auf sie einwirkt. Im Falle des Sehsinnes mag dies zweifelhaft sein, da manche behaupten, das Sehen erfolge vermittels einer Ausstrahlung des Auges; beim Tastsinn und den anderen Sinnen ist dies aber ganz unstrittig. Daraus folgt nun: Der Mensch nimmt die Wärme des Feuers nicht wahr, wenn nicht durch das Wirken des Feuers ein Eindruck von seiner Wärme in einem Sinnesorgan entsteht. Wenn nämlich jener Eindruck von Wärme in einem Sinnesorgan durch etwas Anderes bewirkt würde, so würde der Tastsinn – auch wenn er eine Wärme wahrnehmen würde – weder die Wärme des Feuers spüren, noch spüren, daß es das Feuer ist, das warm ist. Darüber jedoch befindet ein Sinnesvermögen, dessen Urteil innerhalb seines jeweiligen Gegenstandsbereiches nicht trügt. Jene Ansicht widerspricht aber auch der Vernunft, durch die sich zeigt, daß nichts in der Natur ohne Zweck ist. Wenn aber die natürlichen Dinge ohne Wirksamkeit wären, dann wären ihnen die natürlichen Formen und Kräfte ohne jeden Zweck verliehen. Wenn es etwa nicht das Messer wäre, das schneidet, dann hätte auch seine 111 Mose ben Maimon, Führer der Unschlüssigen I, 73 (ed. Weiss I, 339).

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Schärfe keinen Zweck. Ebenso wäre es zwecklos und unnötig, Feuer an das Holz zu halten, wenn Gott auch ohne Feuer Holz entzünden würde. Ebenso widerstreitet jene Ansicht der göttlichen Güte, die sich selbst mitzuteilen trachtet. An diesem Umstand liegt es ja, daß die Dinge nicht nur in ihrem Sein, sondern auch in ihrem Wirken Gott ähnlich gemacht worden sind. Die Begründung, die jene Leute zu ihren Gunsten anführen, ist nun völlig albern. Denn wenn man behauptet, ein Akzidens könne nicht von einem Träger auf den anderen übergehen, dann kann damit nur ein Akzidens gemeint sein, das zahlenmäßig ein und dasselbe ist – nicht aber, daß ein Akzidens, das in einem Träger liegt, kein artgleiches Akzidens an einem anderen Träger hervorbringen könne. Genau Letzteres muß aber bei jedem natürlichen Wirken vor sich gehen. – Ebenso ist die Vermutung falsch, daß alle Formen akzidentell seien. Denn dann gäbe es bei den natürlichen Dingen kein substantielles Sein mehr, für das keine akzidentelle Form, sondern nur eine substantielle Form das Prinzip sein kann. Zudem gäbe es kein Werden und Vergehen mehr, und noch eine Menge anderen Unsinns würde sich daraus ergeben. (B) Auch Avicebron behauptet in seiner Quelle des Lebens, daß keine körperhafte Substanz wirksam sei, sondern daß in ihnen vielmehr eine geistige Kraft wirke, die alles Körperhafte durchdringt. Je mehr ein Körper wirke, desto reiner und erhabener sei er und desto eher könne er von einer geistigen Kraft durchdrungen sein.112 Dafür führt er drei Gründe an: Erstens, daß alles, was unter Gott steht und wirkt, eine Materie als Grundlage für sein Wirken benötigt. Nun diene aber einer körperhaften Substanz keine Materie als Grundlage, und damit sei klar, daß sie nicht wirken könne. Zweitens, daß die Quantität ein Wirken und eine Bewegung erschwere. Als ein Anzeichen dafür sieht er es an, daß eine hohe Quantität eine Bewegung verlangsamt und einem Körper Schwere verleiht. Somit könne eine körperhafte Substanz, mit der immer eine Quantität verbunden ist, nicht wirken. Drittens, daß eine körperhafte Substanz am weitesten vom Ersten Wirkenden entfernt sei, welches ausschließlich wirkt 112 Avicebron, Fons vitae II, 9 (ed. Baeumker, 41).

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und keine Einwirkung erfährt, während die mittleren Substanzen sowohl wirken als auch eine Einwirkung erfahren würden. Daher könne eine körperhafte Substanz, die an unterster Stelle stehe, notwendig nur eine Einwirkung erfahren und nicht wirken.113 Der offensichtliche Irrtum in dieser Ansicht besteht nun darin, daß die körperhaften Substanzen in ihrer Gesamtheit als eine zahlenmäßige Einheit verstanden werden – so als bestünde bei den Substanzen kein Unterschied in ihrem substantiellen Sein, sondern allenfalls in ihrem akzidentellen. Wenn man nämlich einen substantiellen Unterschied bei den verschiedenen körperhaften Substanzen geltend macht, dann ist nicht gleichermaßen eine jede körperhafte Substanz als das unterste Glied des Seienden am weitesten entfernt vom Ersten Wirkenden, sondern die eine Substanz nimmt einen höheren Rang ein als die andere und ist dem Ersten Wirkenden näher. Somit kann die eine Substanz in der anderen wirken. Des weiteren wird in Avicebrons Begründung eine körperhafte Substanz nur unter dem Aspekt der Materie betrachtet, nicht aber unter dem Aspekt ihrer Form, obwohl sie doch aus beidem zusammengesetzt ist. Wenn nämlich die körperhafte Substanz die unterste Stufe des Seienden einnimmt und es keinen Träger mehr gibt, der unter ihr steht, so gilt dies nur im Hinblick auf die Materie, nicht aber im Hinblick auf die Form. Im Hinblick auf eine Form hat ja eine Substanz jeweils dann einen niederrangigeren Träger, wenn in dessen Materie diejenige Form der Möglichkeit nach vorliegt, welche ein bestimmtes Ding in der Wirklichkeit aufweist. Daraus folgt nun, daß es ein wechselseitiges Wirken im Bereich der körperhaften Substanzen gibt, da ja in der Materie der einen Substanz der Möglichkeit nach die Form der anderen Substanz liegt und umgekehrt. Gesetzt aber, diese Form einer körperhaften Substanz würde nicht ausreichen für ihr Wirken, so würde auch die Kraft einer geistigen Substanz dafür nicht ausreichen, welche ja von dieser körperhaften Substanz auf entsprechende Weise empfangen werden müßte. Des weiteren bringt die Quantität eine Bewegung und ein Wirken nicht zum Erliegen. Wie nämlich im 4. Buch der Physik gezeigt wird, kann nur das bewegt werden, was eine Quantität hat. Ebenfalls ist es 113 Ebd. II, 9–10 (ed. cit., 40–42).

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nicht wahr, daß die Quantität die Ursache für die Schwere darstellt. Diese Auffassung wird im 4. Buch von Über den Himmel widerlegt.114 Die Quantität vergrößert nämlich die Geschwindigkeit einer natürlichen Bewegung: Je größeres Gewicht ein Körper hat, desto schneller bewegt er sich nach unten, bzw. je leichter ein Körper ist, desto schneller nach oben. – Für ein Wirken stellt nun die Quantität zwar nicht als solche das Prinzip dar. Trotzdem läßt sich kein Grund angeben, warum sie ein Wirken erschweren sollte, zumal sie das Wirken einer Qualität unterstützt.115 Es könnte höchstens sein, daß die aktiv wirksamen Formen, sobald sie an einer Materie von bestimmtem Ausmaß auftreten, dabei ein begrenztes und auf jene Materie zugeschnittenes Sein erhalten, so daß sich ihr Wirken nicht noch auf eine weitere Materie erstrecken kann. Aber auch wenn sich diese Formen nach dem Sein richten müssen, wie es auf eine Materie jeweils zugeschnitten ist, so verlieren sie dabei doch nicht ihre spezifische Wesensform, durch die sie etwas ihnen Artgleiches hervorrufen können, auch wenn sie gerade selbst nicht an einem weiteren Träger auftreten können. Daß also Gott in jedem natürlichen Ding wirkt, ist nicht so zu verstehen, daß ein natürliches Ding überhaupt nichts bewirken würde, sondern vielmehr so, daß Gott am Wirken der Natur bzw. des Willens beteiligt ist. Wie freilich dies zu verstehen ist, müssen wir nun noch zeigen. Dafür muß man sich den vielfachen Sinn vor Augen halten, in dem man sagen kann, für das Wirken eines Dinges sei ein anderes Ding die Ursache. (A) Erstens, insofern dieses andere Ding dem einen die Kraft verleiht, wirksam zu sein. So heißt es auch im 8. Buch der Physik,116 daß das Hervorbringende das Schwere und das Leichte in Bewegung versetzt, insofern es diesem eine Kraft verleiht, durch die eine Bewegung zustande kommt.117 Somit bringt Gott alle natürlichen Wirkungen hervor, da er den natürlichen Dingen diejenigen Kräfte 114 Aristoteles, De caelo IV, 2; 308 b 3 ff. 115 Im Beispiel gesprochen: Das quantitative Ausmaß eines Feuers un-

terstützt sehr wohl dessen Wirken im Sinne seiner Brennkraft. 116 dicitur in VIII Physic. V : dicitur in IV Physic. M. 117 Aristoteles, Phys. VIII, 4; 255 b 35 ff.

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verliehen hat, mit denen sie wirken – jedoch nicht so, wie das Hervorbringende auf das Schwere und Leichte eine Kraft überträgt, für deren Erhalt es dann aber nicht mehr weiter sorgt, sondern vielmehr so, daß Gott jene Kraft ständig am Sein erhält. Gott ist ja für eine Kraft, die er verliehen hat, nicht nur die Ursache ihres Entstehens, wie dies auch für das Hervorbringende gilt; er ist vielmehr auch die Ursache ihres Seins. Somit kann man sagen, daß Gott die Ursache für ein Wirken ist, insofern er eine natürliche Kraft verursacht und am Sein erhält. (B) Denn auch in diesem zweiten Sinn läßt sich sagen, daß Gott das Wirken von etwas Anderem hervorbringt, indem er dessen Kraft erhält. So sagt man ja auch etwa, daß ein Heilmittel das Sehen hervorbringt, indem es die Sehkraft erhält. (C) Da nun kein Ding von sich aus etwas in Bewegung versetzt und wirksam ist, es sei denn, es tut dies, ohne selbst bewegt zu werden, so spricht man in einem dritten Sinn davon, daß ein Ding die Ursache für das Wirken eines anderen Dinges ist – indem nämlich dieses Ding das andere zur Wirksamkeit gelangen läßt. Gemeint ist damit nicht die Verleihung oder der Erhalt einer aktiven Kraft, sondern daß eine Kraft zum Wirken gebracht wird. So ist etwa der Mensch die Ursache dafür, daß ein Messer schneidet, gerade indem er das Messer in Bewegung versetzt und dabei dessen Schärfe zum Schneiden bringt. Nun wirkt die wirksame niedere Natur nur dann, wenn sie in Bewegung versetzt wird, da die niederen Körper sowohl Veränderungen hervorbringen als auch ihnen unterliegen. Dagegen bringt der Himmel Veränderungen hervor, unterliegt aber dabei keiner Veränderung und doch versetzt er nur in Bewegung, da er selbst in Bewegung versetzt ist. So kann man weiterschreiten, bis man bei Gott anlangt. Daraus folgt nun notwendig, daß Gott die Ursache für das Wirken eines jeden natürlichen Dinges ist, insofern er dessen Kraft in Bewegung versetzt und zum Wirken bringt. Darüber hinaus läßt sich feststellen, daß es in Entsprechung zur Ordnung der Ursachen auch eine Ordnung der Wirkungen gibt. Dies ist notwendig so angesichts der Ähnlichkeit zwischen den Ursachen und ihren Wirkungen. Aus eigener Kraft trägt eine Zweitursache nun nichts für die Wirkung einer Erstursache bei, obwohl die Zweitursache der Erstursache als Mittel für deren Wirkung dient. Als

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dieses dienliche Mittel ist die Zweitursache ja in gewisser Weise die Ursache für die Wirkung, die von der Erstursache hervorgebracht wird – jedoch nicht dank ihrer eigenen Form oder Kraft, sondern nur insofern, als sie ein Stück weit an der Kraft der Erstursache teilhat und durch diese in Bewegung versetzt wird. So gibt ja etwa auch eine Axt nicht dank ihrer eigenen Form oder Kraft die Ursache für ein handwerkliches Erzeugnis ab, sondern aufgrund der Kraft des Handwerkers, durch die die Axt in Bewegung versetzt wird und an der sie in gewisser Weise teilhat. (D) Demnach ist in einem vierten Sinn das eine die Ursache für das Wirken des anderen, insofern nämlich das in erster Linie Wirkende die Ursache für das Wirken eines ihm dienlichen Mittels darstellt. Auch in diesem Sinn kann man zu Recht sagen, daß Gott die Ursache für das Wirken eines jeden natürlichen Dinges ist. Je höher nämlich eine Ursache steht, desto umfassender und wirkungsmächtiger ist sie, und je wirkungsmächtiger sie ist, desto durchgreifender bringt sie eine Wirkung zur Geltung und desto eher bringt sie diese Wirkung aus einer weit entfernten Möglichkeit zur Wirklichkeit. Bei einem jeden natürlichen Ding läßt sich nun feststellen, daß es ein Seiendes ist, sowie daß es ein natürliches Ding ist, sowie daß es ein Ding mit bestimmten Eigenschaften oder ein Ding mit einer bestimmten Wesensform ist. Ersteres ist dem Seienden in seiner Gesamtheit gemein, das Zweite den natürlichen Dingen insgesamt und das Dritte ist innerhalb einer Spezies das Gemeinsame, und das Vierte ist, unter Berücksichtigung seiner Akzidentien, das Charakteristikum eines bestimmten Einzelwesens. Ein solches Einzelwesen kann also mit seinem Wirken nur dann etwas ihm Artgleiches hervorbringen, wenn es als Mittel derjenigen Ursache dient, die für die Gesamtheit einer Spezies und darüber hinaus für das gesamte Sein der niederen Natur verantwortlich ist. Aus diesem Grund wirkt jedes dieser niederen Dinge nur dank der Kraft der Himmelskörper auf eine Spezies hin, und nur dank der Kraft Gottes auf ein Sein hin. Das Sein selbst ist ja die allgemeinste, erste Wirkung und im Inneren aller anderen Wirkungen beschlossen. Deswegen kommt eine solche Wirkung allein Gott zu dank der ihm eigenen Kraft. Daher heißt es auch im Buch von den Ursachen, daß die Intelli-

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genz nur insofern das Sein verleiht, als in ihr eine göttliche Kraft liegt.118 In diesem Sinne ist also Gott die Ursache für ein jedes Wirken, insofern nämlich alles, was wirkt, als Mittel dem Wirken der göttlichen Kraft dient. Wenn man daher die einzelnen Gegenstände in ihrem Wirken betrachtet, so steht jeder wirkende Gegenstand jeweils für sich in einem unmittelbaren Bezug zu seiner Wirkung. Wenn man dagegen die Kraft in Betracht zieht, aus der dieses Wirken kommt, dann steht die Kraft der höheren Ursache eher in einem unmittelbaren Bezug zu jener Wirkung als die Kraft der niederen Ursache, denn die Kraft der niederen Ursache ist mit ihrer Wirkung verbunden allein durch die Kraft der höheren Ursache. Daher sagt das Buch von den Ursachen, daß die Kraft der Ersten Ursache als erstes im Verursachten wirkt und stärker in es eingeht.119 In diesem Sinn also ist die göttliche Kraft notwendig in jedem wirkenden Ding gegenwärtig, wie auch die Kraft eines Himmelskörpers notwendig in jedem elementarischen Ding, das wirkt, gegenwärtig ist. Ein Unterschied besteht hier jedoch: Überall wo Gottes Kraft ist, da ist auch sein Wesen zugegen; das Sein eines Himmelskörpers ist jedoch nicht überall da zugegen, wo seine Kraft ist. Gott hinwieder ist seine Kraft, für einen Himmelskörper gilt dies aber nicht. Deshalb kann man sagen, daß Gott in jedem Ding wirksam ist, insofern ein jedes Ding für sein Wirken Gottes Kraft benötigt. Es läßt sich dagegen nicht im eigentlichen Sinne behaupten, daß ein Himmelskörper ständig in einem elementarischen Körper wirke, obgleich infolge seiner Kraft der elementarische Körper wirkt. Damit ist also Gott die Ursache für ein jedes Wirken, und zwar insoweit er (A) die Kraft zum Wirken verleiht, (B) diese Kraft erhält, (C) sie zur Wirkung gelangen läßt und insofern (D) dank seiner Kraft eine jede andere Kraft wirksam ist. Wenn wir dem noch hinzufügen, daß Gott seine Kraft ist und daß er in jedem Ding ist – freilich nicht als Teil von dessen Sein, sondern als derjenige, der dieses Ding am Sein erhält –, dann kommt man zu dem Schluß, daß Gott

118 Vgl. Liber de Causis prop. 8 [9]; n. 81 f. (ed. Schönfeld, 20 f.). 119 Liber de Causis prop. 1; nn. 1−18 (ed. Schönfeld, 3–7).

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selbst in allem, was wirksam ist, unmittelbar wirksam ist, ohne daß dies ein Wirken des Willens oder der Natur ausschließen würde. Zu 1. Die Kraft eines natürlichen Dinges, eine Wirkung auszuüben und zu erfahren, reicht für ein Wirken unter seinesgleichen aus. Gleichwohl ist dafür die göttliche Kraft vonnöten. Die Begründung hierfür wurde bereits in der »Antwort« gegeben. Zu 2. Daß die Wirksamkeit einer natürlichen Kraft von Gott in ähnlicher Weise abhängig ist wie die Wirksamkeit eines elementarischen Körpers von einem Himmelskörper, trifft nur unter einem bestimmten Aspekt zu, nicht aber in jeder Hinsicht. Zu 3. Am Wirken, mit dem Gott wirkt und die Natur in Bewegung versetzt, ist die Natur nicht beteiligt. Vielmehr ist am Wirken der Natur selbst die göttliche Kraft beteiligt, und zwar in dem Sinne, daß sich das Wirken eines dienlichen Mittels der Kraft verdankt, mit der das Höherstehende wirkt. Ebenso spricht nichts dagegen, daß die Natur und Gott auf dasselbe hin wirken, da eine Rangordnung zwischen Gott und der Natur besteht. Zu 4. Sowohl Gott als auch die Natur sind unmittelbar wirksam. Trotzdem stehen sie in einer Rangordnung zueinander. Dies geht aus dem bereits Gesagten deutlich hervor. Zu 5. Es ist ein Merkmal für eine niedere Kraft, daß sie gewissermaßen das Prinzip für die Wirksamkeit unter ihresgleichen darstellt, d. h. daß sie als ein Mittel wirkt, das einer höheren Kraft dient. Ohne diese höhere Kraft hat daher eine niedere Kraft keine Wirksamkeit. Zu 6. Gott ist nicht nur die Ursache für das Wirken der Natur, insofern er eine natürliche Kraft am Sein erhält, sondern auch auf die anderen Weisen, wie sie oben angeführt wurden. Zu 7. Die natürliche Kraft, die den natürlichen Dingen bei ihrer Bildung verliehen worden ist, liegt in diesen Dingen als eine Form, die ein feststehendes und beständiges Sein innerhalb der Natur hat. Das hingegen, was Gott einem natürlichen Ding für dessen tatsächliches Wirken angedeihen läßt, stellt nur eine Ausrichtung dar, deren Sein etwa so unvollständig ist, wie etwa die Farben in der Luft oder ein handwerkliches Können, das im Werkzeug eines Handwerkers liegt. Einer Axt etwa kann ja durch Kunstfertigkeit ein scharfer Schliff verliehen worden sein, der dann als eine Form in ihr von

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Dauer ist. Dagegen könnte der Axt nur dann, wenn sie einen Intellekt hätte, ein handwerkliches Können verliehen sein, welche dann als eine Form in ihr von Dauer wäre. Genauso ist einem natürlichen Ding eine je eigene Kraft verliehen, die dann als eine Form in diesem Ding von Dauer ist. Eine Kraft hingegen, die als ein der Ersten Ursache dienendes Mittel auf das Sein hinwirken würde, wäre diesem Ding nur dann verliehen, wenn es das allumfassende Prinzip des Seins wäre. Ebensowenig kann es einer natürlichen Kraft gegeben sein, sich von selbst in Bewegung zu versetzen oder sich selbst am Sein zu erhalten. Wie es also dem Werkzeug eines Handwerkers offensichtlich nicht verliehen ist, ohne eine Bewegung des Handwerkers wirksam zu werden, so kann es einem natürlichen Ding nicht verliehen sein, daß es ohne das göttliche Wirken wirksam wird. Zu 8. Die Naturnotwendigkeit, mit der die Hitze ihre Wirkung entfaltet, ergibt sich aus der Ordnung all der Ursachen, die ihr vorangehen. Deshalb kann man hier die Kraft der Ersten Ursache nicht unberücksichtigt lassen. Zu 9. Die Natur und der Wille sind zwar in ihrem Sein verschieden, bei ihrem Wirken folgen sie aber doch einer bestimmten Ordnung. Denn wie ein Wirken der Natur dem Wirken unseres Willens vorangeht und deswegen für die handwerklichen Erzeugnisse, welche dem Willen unterstehen, ein Wirken der Natur nötig ist, so geht auch der Wille Gottes als der Ursprung jeder natürlichen Bewegung dem Wirken der Natur voran. Von daher muß sein Wirken an jedem Wirken der Natur beteiligt sein. Zu 10. Durch seine Teilhabe an Gottes Güte hat ein Geschöpf eine gewisse Ähnlichkeit mit Gott, insofern es nämlich ist und wirkt – jedoch nicht so, daß es aufgrund einer vollkommenen Ähnlichkeit Gott gleichkommen würde. Wie daher das Unvollkommene das Vollkommene nötig hat, so benötigt eine natürliche Kraft für ihr Wirken das Wirken Gottes. Zu 11. Zwei Engel haben, was den jeweiligen Rang ihrer Wesensform anbelangt, einen geringeren Abstand voneinander als Gott und die Natur. Gleichwohl stehen Gott und die Natur in einem Bezug von Ursache und Wirkung, zwei Engel aber nicht. Deshalb wirkt Gott innerhalb der Natur, ein Engel hingegen nicht in einem anderen Engel.

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Zu 12. Daß Gott den Menschen in die Hand seiner eigenen Entscheidung übergeben hat, meint nicht, daß er nicht im menschlichen Willen wirke, sondern vielmehr, daß er dem Willen des Menschen die Herrschaft über sein Tun verliehen hat, damit der Wille nicht nur an eines von zwei Gliedern eines Gegensatzes gebunden bleibe. Eine solche Herrschaft hat Gott freilich nicht der Natur übertragen, da diese ja aufgrund ihrer Form jeweils auf etwas ganz Bestimmtes hin festgelegt ist. Zu 13. Davon, daß der Wille Herrschaft über sein Tun besitzt, kann nicht deswegen die Rede sein, weil hier die Erste Ursache nicht eingreifen würde, sondern vielmehr deswegen, weil die Erste Ursache im menschlichen Willen so wirkt, daß sie ihn – anders wie im Falle der Natur – nicht auf etwas ganz Bestimmtes hin festlegt. Deswegen verbleibt die Entscheidung über ein Tun in der Macht der Vernunft und des Willens. Zu 14. Nicht jede Ursache schließt die Freiheit aus, sondern nur eine zwingende Ursache. In letzterem Sinne ist Gott jedoch nicht die Ursache für unser Tun. Zu 15. Weil eine Erstursache größeren Einfluß auf eine Wirkung hat als eine Zweitursache, so geht all das, was an dieser Wirkung vollkommen ist, auf die Erstursache zurück. Das hingegen, was an ihr mangelhaft ist, muß auf die Zweitursache zurückgehen, die ja von nicht so großer Wirkungsmächtigkeit ist wie die Erstursache. Zu 16. Gott wirkt in vollendeter Weise als die Erste Ursache. Gleichwohl ist das Wirken der Natur als einer Zweitursache nicht unnötig. Und trotzdem könnte Gott eine Wirkung in der Natur auch unabhängig von dieser hervorbringen. Er will aber eine Wirkung vermittels der Natur hervorbringen, auf daß die Ordnung in den Dingen erhalten bleibe.

8. Artik el Die achte Frage lautet: Wirkt Gott innerhalb der Natur auf schöpferische Weise? Anders gefragt: Ist mit dem Wirken der Natur ein Schöpfungsvorgang verbunden? 120 Dies scheint der Fall zu sein; denn: 1. Augustinus sagt: »Der Apostel Paulus unterscheidet Gott, der im Innern erschafft und Form verleiht, von den äußerlichen Werken der Geschöpfe und nimmt dafür ein Bild aus dem Ackerbau, wenn er sagt: ›Ich habe gepflanzt, Apollo hat es begossen, Gott aber hat es wachsen lassen‹.«121 2. Man wird nun einwenden: »Erschaffen« meint hier im weiten Sinne eine jede Form von Machen. – Dem ist zu erwidern: Augustinus möchte hier unter Berufung auf den Apostel das Wirken der Natur vom Wirken Gottes unterscheiden. Eine solche Unterscheidung läßt sich aber nicht treffen anhand von einem ›Erschaffen‹, das sich ganz allgemein als ein beliebiges Machen versteht; denn dann würde auch die Natur erschaffend tätig sein. Denn die Natur macht ja etwas, wie im letzten Artikel aufgezeigt worden ist – jedoch nicht im eigentlichen Sinn einer Schöpfung. Folglich sprechen die obigen Worte von der Schöpfung im eigentlichen Sinn. 3. Nun fährt aber Augustinus fort: »Für dieses unser Leben formt allein Gott unseren Geist in einem Akt der Gerechtigkeit. Das Evangelium nach außen zu verkündigen, vermögen dagegen auch die Menschen. Genauso erschafft Gott innerlich die sichtbaren Dinge. Jedoch für das äußere Wirken aller guten und schlechten Engel, Menschen oder Lebewesen zieht Gott die Natur heran, in der er alles erschafft, genauso wie er etwa den Erdboden für den Ackerbau bestimmt hat.«122 Gott formt aber unseren Geist in einem Akt der Gerechtigkeit, der sich als ein Schöpfungsakt im eigentlichen Sinn vollzieht. Man sagt ja, daß die Gnade sich einem Schöpfungsakt 120 Paralleltexte: Sum. theol. I, q. 45 a. 8. Sent. II, d. 1 q. 1 a. 3 ad 5; a. 4 ad 4. In Met. VII, 7. 121 Augustinus, De trin. III, 8, 14 (CCSL 50, 141). – Das Paulus-Zitat bezieht sich auf 1 Kor. 3, 6. 122 Augustinus, De trin. III, 8, 14 (CCSL 50, 141).

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verdankt. Gott erschafft demnach im eigentlichen Sinn des Wortes auch die natürlichen Formen. 4. Man wird nun einwenden: Eine der Ursachen für die natürlichen Formen ist ihr jeweiliger Träger, bei der Gnade gilt dies jedoch nicht. Insofern ist die Gnade im eigentlichen Sinne erschaffen, die natürlichen Formen hingegen nicht. – Dem ist zu erwidern: Nach einer Glosse zu Gen. 1 meint »erschaffen«: etwas aus dem Nichts entstehen lassen. Die Präposition »aus« verweist nun zuweilen auf eine Wirkursache, wie etwa in 1 Kor. 8, 6: »aus dem alles ist, durch den alles ist«.123 Zuweilen aber deutet sie auf eine Materialursache hin, wie etwa in Tob. 13, 21 f.: »Aus Edelstein wird das gesamte Rund seiner Mauern erbaut sein. Aus weißem und feinem Stein werden seine Plätze sein.«124 Wenn man also davon spricht, daß etwas »aus« dem Nichts entsteht, dann ist damit nicht in Abrede gestellt, daß es hier eine Wirkursache gibt; denn sonst wäre Gott nicht die Wirkursache für die erschaffenen Dinge. Vielmehr ist damit in Abrede gestellt, daß es hier eine Materialursache gibt. Nun stellt der jeweilige Träger einer natürlichen Form deren Wirkursache dar, und dies unterscheidet diese Form von der Gnade. Zugleich aber tritt diese Form an einer Materie auf, und dies trifft auch für die Gnade zu. Folglich hat die Gnade nicht in höherem Maße einen kreatürlichen Charakter als die natürlichen Formen, nur weil die Wirkursache für diese Formen ihr jeweiliger Träger ist. 5. Bei den artifiziell hervorgebrachten Formen hat ihr jeweiliger Träger nicht den Status einer Ursache, da diese Formen allesamt von außen an den Träger herangebracht werden. Wenn man also die Gnade deswegen als erschaffen bezeichnet, weil ihr Träger keine Ursache für sie ist, dann kann man mit gleichem Recht die akzidentellen, kunstgemäß hergestellten Formen als erschaffen bezeichnen. 6. Was nicht aus einer Materie besteht, dessen Entstehung ist 123 Vgl. 1 Kor. 8, 6: »So haben wir doch nur einen Gott, den Vater, aus dem alles ist (ex quo omnia) und für den wir da sind, und wir haben nur einen Herrn, Jesus Christus, durch den alles ist (per quem omnia), durch den auch wir sind.« 124 Die Rede ist hier von Jerusalem. Die Übersetzung und Verszählung folgt hier der Vulgata. Vgl. dagegen die abweichende Zählung und Übertragung von Tob. 13, 16 in der Einheitsübersetzung.

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auch nicht an die Materie gebunden. Nun bestehen die Formen nicht aus einer Materie. Denn wie es zu Anfang des 2. Buches von Über die Seele heißt, ist die Form etwas Anderes als die Materie oder als das Zusammengesetzte.125 Da also die Formen einen Anfang ihres Seins kennen und mithin entstehen, so ist ihre Entstehung offensichtlich nicht an die Materie gebunden. Demnach entstehen sie aus dem Nichts und werden folglich erschaffen. 7. Man könnte nun einwenden: Zu den natürlichen Formen gehört zwar keine Materie, aus der sie entstehen, doch aber eine Materie, an der sie auftreten. Letzteres deutet darauf hin, daß sie nicht erschaffen werden. – Dem ist zu erwidern: Wie die anderen natürlichen Formen so ist auch die vernunftbegabte Seele eine Form, die an einer Materie auftritt. Nun gilt aber die vernunftbegabte Seele als erschaffen. Folglich muß dies ebenso für die anderen natürlichen Formen gelten. 8. Nun wird man einwenden: Die vernunftbegabte Seele läßt sich nicht wie die anderen natürlichen Formen aus einer Materie gewinnen. – Dem ist zu erwidern: Nur das läßt sich aus etwas Anderem gewinnen, was in diesem Anderen bereits liegt. Nun liegt aber vor Abschluß eines Entstehungsvorganges diejenige Form, die den Schlußpunkt einer Entstehung markiert, noch nicht in der Materie. Andernfalls wären gegensätzliche Formen in der Materie zugleich vorhanden. Folglich lassen sich die natürlichen Formen nicht aus der Materie gewinnen. 9. Diejenige Form, die den Schlußpunkt einer Entstehung markiert, tritt vor Abschluß dieses Entstehungsvorganges nicht in Erscheinung. Angenommen, diese Form wäre bereits vorhanden, dann muß sie auf eine latente Weise dasein. Daraus würde aber folgen, daß alle Formen in jeder Materie stecken. Diese These des Anaxagoras wird von Aristoteles im 1. Buch seiner Physik widerlegt.126 10. Nun wird man einwenden: Vor Abschluß eines Entstehungsvorganges liegt eine natürliche Form nicht vollständig in der Materie, wie dies Anaxagoras annimmt, sondern vielmehr unvollständig. – Dem ist zu erwidern: Wenn eine Form auf irgendeine Weise schon 125 Aristoteles, De an. II, 1; 412 a 6 f.; 414 a 14 ff. 126 Aristoteles, Phys. I, 4; 187 a 26 ff.

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vor Abschluß eines Entstehungsvorganges in der Materie liegt, dann liegt diese Form dort zu einem Teil vor. Wenn sie aber teilweise und unvollständig vorliegt, dann ist sie überhaupt noch nicht vorhanden. Die Form hätte dann nämlich mehrere Teile und wäre somit nicht einfach. Dies steht im Gegensatz zu dem, was zu Beginn des Buches von den sechs Prinzipien gesagt wird.127 11. Wenn eine Form zunächst nicht vollständig in der Materie liegt, sondern im nachhinein vervollständigt wird, dann braucht es noch einen Vorgang, durch den diese Form ihre Vollständigkeit erlangt. Diese Vervollständigung erbringt aber nicht die Materie, denn sonst läge ja diese Form bereits vollständig in ihr vor. Also verdankt sich zumindest diese Vervollständigung einem Schöpfungsakt. 12. Nun wird man einwenden: Daß eine Form zunächst unvollständig in der Materie liegt, meint nicht, daß sie darin bereits zu einem Teil läge, sondern daß sie zunächst auf eine bestimmte Weise darin liegt und dann auf eine andere Weise: nämlich zunächst der Möglichkeit nach und dann der Wirklichkeit nach. – Dem ist zu erwidern: Wenn sich etwas zunächst so und dann anders verhält, dann ist dies ein Anderswerden, aber kein Entstehen. Wenn also das Werk der Natur nur darin bestünde, daß eine Form, die zunächst der Möglichkeit nach ist, dann auch in der Wirklichkeit besteht, so würde daraus folgen, daß das Wirken der Natur nichts entstehen, sondern etwas nur anders werden ließe. 13. Im Bereich der niederen Natur sind nur die Akzidentien aktive Prinzipien. Das Feuer wirkt ja durch seine Wärme, die ein Akzidens darstellt. Entsprechendes gilt bei anderen Dingen. Nun kann ein Akzidens nicht die wirkende Ursache für eine substantiale Form sein, da nichts über seine je eigene Spezies hinaus wirksam ist. Nun ist eine Wirkung nicht größer als ihre Ursache, während eine substantiale Form ein Akzidens übertrifft. Folglich wird eine substantiale Form nicht durch das Wirken der niederen Natur hervorgebracht. Daher verdankt sie sich einem Schöpfungsakt. 14. Das Unvollkommene kann nicht die Ursache für das Vollkommene sein. Nun liegt im Samen eines vernunftlosen Lebewesens 127 Pseudo-Aristoteles (= Gilbert de la Porée), Liber Sex Principiorum I, 1 (Aristoteles Latinus I, 6–7, ed. Minio-Paluello, 35).

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nur eine unvollkommene seelische Kraft. Folglich kann die Seele eines vernunftlosen Lebewesens nicht durch das natürliche Wirken der Samenskraft hervorgebracht werden. Deswegen muß sich seine Seele – ebenso wie alle anderen natürlichen Formen – einem Schöpfungsakt verdanken. 15. Das, was weder beseelt noch lebendig ist, kann nicht die Ursache für ein beseeltes, lebendiges Ding sein. Nun sind die Lebewesen, die durch Fäulnis entstehen, beseelte lebendige Dinge. Innerhalb der Natur findet sich nun nichts Lebendiges, dem sie ihr Leben verdanken würden. Also muß sich ihre Seele – gleichermaßen wie alle anderen natürlichen Formen – dem Schöpfungsakt durch das Erste Lebendige verdanken. 16. Die Natur vollbringt nur das, was ihr gleicht. Nun kommt es vor, daß in der Natur bestimmte Dinge entstehen, ohne daß diese ihr Ebenbild in ihrem Erzeuger hätten. Ein Maultier gleicht ja in der Spezies weder einem Esel noch einem Pferd. Also verdankt sich die Form des Maultieres nicht dem Wirken der Natur, sondern einem Schöpfungsakt. Somit gilt das Gleiche wie oben. 17. Augustinus sagt, daß die natürlichen Dinge ihre jeweils eigenen Formen nicht erhalten hätten, wenn es kein Erstes gäbe, von dem sie ihre Form erhalten.128 Dies aber ist Gott selbst. Folglich verdanken sich alle Formen dem Schöpfungsakt Gottes. 18. Nach Boethius stammen von den materielosen Formen diejenigen Formen, die an der Materie auftreten.129 In diesem Zusammenhang können die materielosen Formen nur als diejenigen Ideen für die Dinge verstanden werden, die im göttlichen Geist liegen. Denn die Engel, die man auch als materielose Formen bezeichnen kann, sind nach Augustinus keine Ursachen für die natürlichen Formen.130 Also verdanken sich die natürlichen Formen nicht dem Wirken der Natur, sondern stammen vom Formgeber, der sie erschafft. 19. Im Buch von den Ursachen heißt es, daß das Sein sich einem Schöpfungsakt verdankt.131 Dies wäre aber nicht der Fall, wenn die 128 129 130 131

Augustinus, De lib. arb. II, 17, 45–46 (CCSL 29, 267 f.). Boethius, De trin. 2 (ed. Elsässer, 8 f.) Augustinus, De trin. III, 8, 13–9, 18 (CCSL 50, 139–145). Liber de Causis, prop. 17 [18]; n. 148 (ed. Schönfeld, 36 f.).

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Formen nicht erschaffen wären. Denn eine Form ist ja ein Seinsprinzip. Also verdanken sich die Formen einem Schöpfungsakt. Folglich bewirkt Gott an der Materie etwas auf schöpferische Weise: die Formen. 20. Das, was für sich besteht, ist die Ursache für das, was nicht für sich besteht. Nun bestehen die Formen der natürlichen Dinge nicht für sich, sondern treten an der Materie auf. Demnach ist die Ursache für diese Formen eine Form, die für sich besteht. Deshalb müssen sich die natürlichen Formen einem Schöpfungsakt verdanken, der von dem ausgeht, der außerhalb von ihnen wirkt. Also wirkt Gott innerhalb der Natur, indem er die Formen erschafft. Dagegen spricht: 1. Etwas zu erschaffen meint etwas anderes als auf etwas einen regelnden Einfluß auszuüben und für dessen Fortpflanzung zu sorgen. Was durch das Wirken der Natur zustande kommt, besteht nun darin, daß die Dinge geregelt auftreten und sich fortpflanzen können. Folglich ist mit dem Werk der Natur kein Schöpfungsvorgang verbunden. 2. Allein Gott kann erschaffen. Angenommen also, die Formen würden sich einem Schöpfungsakt verdanken, dann läge ihr Sein allein an Gott, und damit würde jedes natürliche Wirken, dessen Ziel eine Form ist, sinnlos. 3. Die Materie ist ebensowenig ein Bestandteil von einer substantiellen Form wie von einer akzidentellen Form. Sollten sich also die substantiellen Formen notwendigerweise einem Schöpfungsakt verdanken, weil sie keine Materie haben, dann gilt dies auch für die akzidentellen Formen. Wie nun einem Ding bei seiner Entstehung durch eine substantielle Form erst Bestand verliehen wird, so wird es durch eine akzidentelle Form näher bestimmt. Folglich könnte die Natur überhaupt nichts zu seiner Entstehung beitragen: Weder könnte sie einem Ding Bestand verleihen noch es näher bestimmen. Folglich wäre jedes Wirken der Natur überflüssig. 4. Die Natur bringt Gleiches aus Gleichem hervor. Nun gleicht das Erzeugte in Art und Gattung seinem Erzeuger. Demnach kommt die Form des Erzeugten durch ein Wirken des Erzeugenden zustande – und nicht durch einen Schöpfungsakt.

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5. Das Wirken von verschiedenen tätigen Wesen zeitigt keine einheitliche Wirkung. Aus Materie und Form entsteht aber schlichtweg etwas Einheitliches. Demnach kann es nicht sein, daß dasjenige, was die Materie für eine Form empfänglich macht, und dasjenige, was dann eine Form in die Materie bringt, verschieden sind. Das aber, was die Materie für eine Form empfänglich macht, ist auf eine natürliche Weise wirksam, und genauso ist dies auch dasjenige, was dann eine Form in die Materie bringt. Somit verdanken sich die Formen keinem Schöpfungsakt, und deshalb ist mit den Werken der Natur kein Schöpfungsvorgang verbunden. Antwort: Bei der vorliegenden Frage gab es unterschiedliche Ansichten. Sie alle wurzeln offensichtlich in ein und demselben Prinzip, daß nämlich die Natur etwas nicht aus dem Nichts entstehen lassen kann. (A) Von daher waren einige überzeugt, daß jedes Ding allein dadurch entstehe, daß es aus einem anderen Ding, worin es zuvor steckte, zum Vorschein gebracht werde. Dies berichtet etwa Aristoteles von Anaxagoras,132 der offensichtlich in diesen Irrtum verfiel, weil er nicht zwischen Möglichkeit und Wirklichkeit unterschied. Er war nämlich der Meinung, daß das, was entstehe, bereits im voraus wirklich dasein müsse. Es muß jedoch der Möglichkeit nach und nicht bereits der Wirklichkeit nach dasein: Wäre es nämlich nicht schon der Möglichkeit nach da, dann entstünde es aus dem Nichts. Wäre es dagegen bereits wirklich da, so würde es überhaupt nicht entstehen. Denn das, was bereits ist, entsteht ja nicht. (B) Da nun ein entstandenes Ding aufgrund seiner Materie der Möglichkeit nach ist, aufgrund seiner Form aber der Wirklichkeit nach, so nahmen manche Leute an, daß die Form eines Dinges entstehe, die Materie aber bereits im voraus da sei. Da aber das Wirken der Natur nicht vom Nichts ausgehen kann und folglich etwas zu seiner Voraussetzung haben muß, so wirke die Natur nach ihrer Ansicht nur auf die Materie ein, indem sie die Materie für eine Form empfänglich mache. Die Form aber, die entstanden sein müsse und nicht vorausgesetzt werden dürfe, müsse von einem tätigen Wesen 132 Aristoteles, Phys. I, 4; 187 a 26 ff.

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stammen, das keine Voraussetzung habe, sondern etwas aus dem Nichts entstehen lassen könne. Dies sei ein übernatürlich tätiges Wesen, welches Platon für den Spender der Formen hielt.133 Avicenna hielt dieses Wesen für die rangniederste Intelligenz unter den materielosen Substanzen.134 Manche der neueren Anhänger dieser Ansicht behaupteten, dieses Wesen sei Gott. (C) Dies stimmt nun offensichtlich nicht. Denn ein jedes Ding hat die natürliche Anlage, etwas ihm Gleiches hervorzubringen – es wirkt ja, insofern es in der Wirklichkeit ist und insofern es dasjenige in die Wirklichkeit bringt, was der Möglichkeit nach ist. Daher bräuchte das, was entsteht, nur dann seinem Hervorbringer nicht in der substantialen Form zu gleichen, wenn sich seine substantiale Form nicht dem Wirken seines Hervorbringers verdanken würde. Dies ist auch der Grund dafür, daß das, was sich ein entstehendes Wesen erst noch aneignen muß, sich wirklich in seinem Hervorbringer findet, sowie dafür, daß jedes Ding insoweit wirkt, als es in der Wirklichkeit ist. Es gibt also keinen Grund, daß man den jeweiligen Hervorbringer überspringt und nach etwas sucht, was außerhalb von ihm liegt. (D) Von daher ist festzuhalten: Die zuletzt erwähnten Ansichten135 sind bedingt durch ein falsches Verständnis davon, was eine Form ist. Genauso sind die zuerst erwähnten Ansichten136 durch ein falsches Verständnis davon bedingt, was die Materie ist. Denn die Aussage, daß eine natürliche Form da sei, hat nicht denselben Sinn wie die Aussage, daß ein entstandenes Ding da sei. Ein natürliches entstandenes Ding besteht ja für sich selbständig und ist im eigentlichen Sinn, es hat gewissermaßen Sein und in seinem Sein Bestand. Eine Form ist dagegen nicht in diesem Sinn, da sie nicht für sich selbständig besteht und Sein hat. Vielmehr sagt man deswegen von ihr, daß sie sei bzw. ein Seiendes sei, weil durch sie ein Etwas ist. Genauso werden die Akzidentien als Seiendes bezeichnet, weil aufgrund von ihnen eine Substanz eine bestimmte Qualität und Quantität aufweist, und nicht, weil eine Substanz durch sie so Bestand 133 134 135 136

Platon, Tim. 28 A–28 B. Vgl. Avicenna, Met. IX, 5 (Avicenna latinus 4, ed. Van Riet, 489 ff.). Vgl. die Abschnitte (B) und (C). Vgl. den Abschnitt (A).

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hätte, wie sie durch eine substantielle Form Bestand hat. Deshalb werden die Akzidentien in erster Linie auch von einem Seienden ausgesagt und nicht ihrerseits als etwas Seiendes ausgesagt, wie aus der Metaphysik hervorgeht.137 Bei allem aber, was entsteht, entspricht die Weise seines Seins der Weise seiner Entstehung. Sein Sein ist ja das Ziel bei seiner Hervorbringung. Deshalb ist es im eigentlichen Sinne das Zusammengesetzte, was an sich entstehen kann. Eine Form hingegen entsteht nicht im eigentlichen Sinn, sie ist vielmehr dasjenige, wodurch etwas entsteht,138 d. h. dank dessen Hinzukommen etwas entsteht. Demnach steht die Aussage, daß auf natürliche Weise nichts aus dem Nichts entstehen kann, in keinem Widerspruch zu der Aussage, daß sich die substantiellen Formen dem Wirken der Natur verdanken. Denn das, was entsteht, ist ja keine Form, sondern etwas Zusammengesetztes, und dieses entsteht aus der Materie und nicht aus dem Nichts; zumal das Zusammengesetzte aus der Materie insofern entsteht, als die Materie der Möglichkeit nach das Zusammengesetzte selbst ist, und zwar dadurch, daß die Materie der Möglichkeit nach dessen Form aufweist. Daher läßt sich eigentlich nicht sagen, daß eine Form in der Materie entsteht, sondern vielmehr daß sie aus einer Möglichkeit der Materie gewonnen wird. Im Ausgang gerade von diesem Gedanken, dem zufolge es das Zusammengesetzte und nicht die Form ist, was entsteht, zeigt Aristoteles, daß sich die Formen den natürlichen tätigen Wesen verdanken.139 Insofern das Hervorgebrachte seinem Hervorbringer gleichen muß, so muß aufgrund eben der Tatsache, daß das Hervorgebrachte zusammengesetzt ist, auch der Hervorbringer etwas Zusammengesetztes sein und nicht eine – wie Platon meinte – für sich selbst bestehende Form. Somit ist das Hervorgebrachte zusammengesetzt, während das, wodurch es hervorgebracht wird, eine Form ist, welche in einer Materie zur Wirklichkeit gebracht wird. Ebenso stellt der Hervorbringer etwas Zusammengesetztes dar und keine bloße Form; die Form hingegen stellt das dar, mit deren Hilfe er etwas 137 Aristoteles, Met. VII, 1; 1028 a 18–20. 138 sed est quo fit V : sed est quod fit M. 139 Aristoteles, Met. VII, 8; 1033 b 19 ff.

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entstehen läßt – eine Form nämlich, die an einer bestimmten Materie auftritt, also etwa an diesem bestimmten Fleisch, an diesen bestimmten Knochen usw. Zu 1. Dieses Augustinus-Zitat besagt, daß Gott im Wirken der Natur schöpferisch tätig ist, insofern er ihr zu Anbeginn ihre natürlichen Kräfte durch einen Schöpfungsakt verliehen hat. Es besagt aber nicht, daß in jedem Wirken der Natur etwas erschaffen wird. Zu 2. In diesem Augustinus-Zitat versteht sich »Schöpfung« im eigentlichen Sinn. Sie ist aber nicht auf die Wirkungen der Natur zu beziehen, sondern vielmehr auf die Kräfte, mit denen die Natur wirkt und die der Natur durch den Schöpfungsakt verliehen worden sind. Zu 3. Da die Gnade keine Form ist, die an etwas auftritt, so kommt ihr auch kein Sein oder Entstehen im eigentlichen Sinne zu. Daher wird sie im eigentlichen Sinn nicht so erschaffen wie diejenigen Substanzen, die für sich selbst Bestand haben. Die Verleihung der Gnade kommt aber insofern an einen Schöpfungsakt heran, als die Gnade ihre Wirkursache weder in ihrem Träger hat noch eine Materie hat, in der sie so der Möglichkeit nach liegen könnte, daß sie mit Hilfe eines natürlichen tätigen Wesens zu ihrer Wirklichkeit gelangen könnte, wie dies bei den anderen Formen der Fall ist. Zu 4. Daraus ergibt sich auch die Klärung dieses Arguments. Denn wenn man sagt, daß etwas »aus« dem Nichts entsteht, dann wird damit in Abrede gestellt, daß es hier eine Materialursache gibt. Wo es aber keine Materie gibt, da kann auch keine Form aus der Möglichkeit gewonnen werden, die der Materie wesenseigen ist. Zu 5. Innerhalb der Natur läßt sich zwar kein Wirkprinzip für kunstgerecht hergestellte Formen ausfindig machen. Gleichwohl übersteigen solche Formen – und zwar im Gegensatz zur Gnade – nicht die natürliche Ordnung. Vielmehr unterliegen sie der natürlichen Ordnung, da die Natur jede Kunstfertigkeit übertrifft. Zu 6. Aus der Tatsache, daß die Materie nicht zu den Bestandteilen einer Form zählt, ließe sich nur dann das Erschaffensein dieser Form folgern, wenn diese im eigentlichen Sinne entstehen könnte,140 140 si proprie fieri posset V : ei proprie fieri posset M.

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wie dies etwa bei einem Ding der Fall ist, das für sich selbst besteht. Zu 7. Zwar hat die vernunftbegabte Seele eine Materie, an der sie auftritt. Doch aber wird sie nicht aus einer Möglichkeit der Materie gewonnen, denn ihre Natur ist der gesamten materialen Ordnung enthoben. Dies zeigt sich klar an ihrer geistigen Tätigkeit. Zudem stellt diese Form ein für sich bestehendes Ding dar, da sie die körperliche Vergängnis überdauert. Zu 8. Eine Form, die das Ziel eines Entstehens ist, liegt bereits vor Abschluß des Entstehungsvorganges in der Materie, jedoch nicht der Wirklichkeit, sondern der Möglichkeit nach. Es ist aber nicht widersinnig, wenn das eine Glied eines Gegensatzpaares in der Wirklichkeit ist und das andere Glied der Möglichkeit nach. Zu 9. Daraus ergibt sich auch die Klärung dieses Arguments. Denn Anaxagoras nahm nicht an, daß die Formen in der Materie bereits der Wirklichkeit nach vorhanden wären, sondern daß sie darin stecken würden. Zu 10. Eine Form liegt nicht deswegen unvollständig in der Materie, weil ein Teil von ihr dort wirklich schon vorhanden wäre, der andere aber noch nicht, sondern weil sie dort zunächst als ganze der Möglichkeit nach vorhanden ist und dann als ganze zur Wirklichkeit gebracht wird. Zu 11. Daraus ergibt sich auch die Klärung dieses Arguments. Denn es ist klar, daß das Sein einer Form in der Materie nicht durch ein zusätzliches, von außen kommendes Etwas zustande kommt, welches nicht der Möglichkeit nach in der Materie liegen würde. Zu 12. Möglichkeit und Wirklichkeit sind keine unterschiedlichen akzidentellen Seinsweisen, die für eine qualitative Veränderung verantwortlich wären; vielmehr sind sie substantielle Seinsweisen. Denn wie bei jeder anderen Gattung so gibt es auch bei einer Substanz den Unterschied zwischen ihrem Möglichsein und ihrem Wirklichsein. 13. Eine akzidentelle Form wirkt kraft einer substantiellen Form, der sie als Mittel dient. So wird auch im 2. Buch von Über die Seele die Wärme des Feuers als ein Mittel für den Stoffwechsel bezeichnet.141 141 Aristoteles, De an. II, 4; 416 a 9 ff.

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Deswegen ist es nicht widersinnig, wenn das Wirken einer akzidentellen Form auf eine substantielle Form abzielt. Zu 14. Auch die Wärme, die im Samen liegt, ist der seelischen Kraft dienlich, welche im Samen liegt. Selbst wenn diese Kraft unvollkommen ist, so behält sie doch bestimmte Züge an sich, wie sie für eine vollkommene Seele kennzeichnend sind: In einem Samen rührt ja die Kraft von der Seele des Erzeugers her; zudem verdankt sich ihr Wirken der Kraft eines Himmelskörpers, dem sie gewissermaßen als Mittel dient. Daher sagt man auch nicht, daß der Same etwas entstehen läßt, sondern vielmehr, daß die Seele und die Sonne etwas entstehen lassen. Zu 15. Die Lebewesen, die aus der Fäulnis entstehen, sind weniger vollkommen als andere Lebewesen. Bei ihrer Entstehung hat daher die Kraft eines Himmelskörpers, die auf die niedere Materie einwirkt, dieselbe Wirkung, die diese Kraft bei der Entstehung der vollkommenen Lebewesen im Verein mit der Samenkraft vollbringt. Zu 16. Zwar gleicht ein Maultier einem Pferd und einem Esel nicht in der Spezies, doch aber in der für sie unmittelbaren Gattung. Aufgrund dieser Gleichheit entsteht die Spezies des Maulesels als eine mittlere aus zwei verschiedenen Spezies. Zu 17. Wie die göttliche Kraft, d. h. das Erste Tätige, nicht das Wirken einer natürlichen Kraft ausschließt, so schließt auch die erste urbildliche Form, d. h. Gott, es nicht aus, daß sich die Formen von anderen niederen Formen ableiten, welche auf Formen hinwirken, die ihnen gleichen. Zu 18. Daraus ergibt sich auch die Klärung dieses Arguments. Denn Boethius meint hier, daß die Formen, die an der Materie auftreten, von den materielosen Formen stammen, daß aber diese materielosen Formen die ersten und nicht die unmittelbaren Urbilder darstellen. Zu 19. Das Sein kann insofern als erschaffen gelten, als jede Zweitursache, die ein Sein verleiht, so etwas vermag, weil sich ihr Wirken der ersten erschaffenden Ursache verdankt. Denn das Sein ist die erste Wirkung und hat nichts zu seiner Voraussetzung. Zu 20. Eine natürliche Form, die an einer Materie auftritt, läßt sich nicht auf eine artgleiche Form zurückführen, welche für sich selbst besteht. Es ist ja das wesentliche Kennzeichen einer natürli-

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chen Form, daß zu ihr eine Materie gehört. Vielmehr läßt sie sich auf eine für sich bestehende Form zurückführen im oben ausgeführten Sinn. 9. Artik el Die neunte Frage lautet: Wird die vernunftbegabte Seele durch einen Schöpfungsakt ins Sein gerufen oder mittels der Übertragung von Samen? 142 Allem Anschein nach pflanzt sie sich mit Hilfe des Samens fort; denn: 1. In Gen. 46, 24 heißt es: »Die Gesamtzahl der Seelen, die mit Jakob nach Ägypten kamen und die aus seinen Lenden hervorgegangen waren, betrug abzüglich der Frauen seiner Söhne sechsundsechzig.« Nun geht aber etwas aus den Lenden eines Vaters nur durch die Übertragung von Samen hervor. Folglich wird die vernunftbegabte Seele mit dem Samen vererbt. 2. Man könnte nun einwenden: Hier steht ein Teil fürs Ganze, also »Seele« für einen Menschen. – Dem ist zu erwidern: Der Mensch ist aus Seele und Körper zusammengesetzt. Wenn also ein Mensch als ein Ganzer aus den Lenden seines Vaters hervorgeht, dann wird nicht nur der Körper, sondern auch, wie gesagt, die Seele mit dem Samen vererbt. 3. Ein Akzidens kann nur vererbt werden, wenn dabei auch sein Träger vererbt wird, denn ein Akzidens geht nicht von dem einen an den anderen Träger über. Nun ist aber die vernunftbegabte Seele der Träger der Erbsünde. Wenn also die Erbsünde durch einen Vorfahr an seine Nachkommen vererbt wird, dann wird offensichtlich auch die vernunftbegabte Seele durch die Eltern an ihre Kinder vererbt. 4. Man könnte nun einwenden: Zwar liegt die Erbsünde in der Seele, insofern diese den Träger der Erbsünde darstellt, sie liegt jedoch im Fleisch, insofern dieses die Ursache für die Erbsünde ist. Daher wird die Erbsünde fleischlich vererbt. – Dem ist mit Röm. 5, 12 142 Paralleltexte: Sum. theol. I, q. 90 a. 2; q. 118 a. 2. ScG II, 86−89. Sent. II, d. 18 q. 2 a. 1; d. 19 q. 1 a. 4. De ver. q. 27 a. 3 ad 9. De spir. creat. a. 2 ad 8. Quodl. IX, q. 5 a. 1; XI, q. 5 ad 1 und 4; XII, q. 7 a. 2. Comp. theol. 93. Opusc. de fato 5. Opusc. de quatuor opp. 4.

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zu erwidern: »Die Sünde kam durch einen einzigen Menschen in die Welt, und mit der Sünde der Tod: Und so ging der Tod auf alle Menschen über, in welchem sie alle sündigten.«143 Eine Glosse144 erklärt das »in welchem« so: »in welchem sündigen Menschen«145 bzw. »in welcher Sünde sie alle sündigten«.146 In dieser Sünde hätten nicht alle gesündigt, wenn diese eine Sünde nicht an alle Menschen vererbt worden wäre. Diese eine Sünde, die in Adam war, wird also an alle Menschen vererbt, und damit wird diese Seele, die der Träger dieser Schuld war, an alle Menschen vererbt. 5. Jedes tätige Wesen bringt etwas von seinesgleichen hervor. Nun wirkt jedes tätige Wesen kraft seiner Form. Folglich ist das, was ein tätiges Wesen hervorbringt, eine Form. Nun ist aber ein Erzeuger ein tätiges Wesen. Also verdankt sich die Form des Gezeugten dem Wirken seines Erzeugers. Wenn also ein Mensch einen Menschen zeugt und wenn die vernunftbegabte Seele die Form des Menschen darstellt, dann wird die vernunftbegabte Seele offensichtlich durch Zeugung und nicht durch einen Schöpfungsakt hervorgebracht. 6. Nach dem 2. Buch der Aristotelischen Physik bringt eine Wirkursache ihre artspezifische Bestimmung in ihrem Resultat zur Geltung.147 Nun ist das spezifische Merkmal des Menschen seine vernunftbegabte Seele. Offensichtlich ist also das, was ein Erzeuger im Gezeugten hervorbringt, die vernunftbegabte Seele. 7. Die Nachkommen gleichen ihren Eltern, weil sich diese fortgepflanzt haben. Nun gleichen aber die Nachkommen ihren Eltern nicht bloß in ihren körperlichen, sondern auch in ihren seelischen

143 Der letzte Relativsatz des Vulgata-Zitates »in welchem alle sündigten (in quo omnes peccaverunt)« bleibt in seinem grammatischen Bezug zweideutig: Er kann sich entweder auf das »ein einziger Menschen (unus homo)« beziehen oder aber auf die »Sünde (peccatum)«. (Dagegen kann er sich nicht auf »Tod« beziehen, da mors im Lateinischen ein Femininum ist.) 144 Augustinus, De peccatorum meritis et remissione et de baptismo parvulorum ad Marcellium I, 10, 11 (PL 44, col. 115). 145 Gemeint ist Adam. 146 Gemeint ist die Erbsünde. 147 Aristoteles, Phys. II, 7; 198 a 24 ff.

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Anlagen. Wie also Körper von Körpern abstammen, so stammen auch die Seelen von Seelen ab. 8. Moses sagt in Lev. 17, 11: »Die Seele des Fleisches ist im Blut.« Nun wird das Blut mit dem Samen übertragen, zumal das Sperma nichts anderes ist als eingedicktes Blut. Folglich wird die Seele mit dem Samen vererbt. 9. Noch bevor ein Embryo mit der vernunftbegabten Seele seine vollständige Ausstattung erlangt, zeigt er bestimmte seelische Aktivitäten, nämlich Wachstum, Stoffwechsel und Wahrnehmung. Nun gibt es keine seelische Aktivität ohne Lebendigkeit. Also lebt der Embryo. Das Prinzip für die Lebendigkeit eines Körpers ist aber die Seele. Folglich hat ein Embryo eine Seele. Nun läßt sich aber nicht behaupten, daß ein Embryo noch eine weitere Seele erhält, denn dann gäbe es in einem einzigen Körper zwei Seelen. Folglich ist diejenige Seele, welche bereits mit dem Samen vererbt wird, selbst schon vernunftbegabt. 10. Artverschiedene Seelen begründen artverschiedene Lebewesen.148 Angenommen also, es liegt im Samen noch vor dem Aufkommen einer vernunftbegabten Seele eine vernunftlose Seele, dann liegt in ihm ein Lebewesen, das sich vom Menschen artspezifisch unterscheidet, und damit kann aus diesem Samen kein Mensch entstehen. Denn es gibt bei den Lebewesen keinen Übergang von einer Spezies in die andere. 11. Nun wird man einwenden: Ein Embryo verdankt seine erwähnten seelischen Aktivitäten149 nicht der Seele, sondern einer bestimmten seelischen Kraft: der sogenannten formverleihenden Kraft. – Dem ist zu erwidern: Eine Kraft wurzelt in einer Substanz. Deshalb nimmt sie eine Mittelstellung zwischen einer Substanz und ihrem Wirken ein, wie es bei Dionysius heißt.150 Wo es also eine seelische Kraft gibt, da gibt es auch eine Seele im substantiellen Sinn. 12. Im 16. Buch von Über die Lebewesen sagt Aristoteles: Der Embryo ist etwas Lebendiges, bevor er ein wahrnehmendes We148 diversa animalia secundum speciem V : diversas animas secundum speciem M. 149 Gemeint sind Wachstum, Stoffwechsel und Wahrnehmung. 150 Dionysius Areopagita, De cael. hier. XI, 2 (Dion. II, 930).

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sen wird, und er ist ein wahrnehmendes Wesen, bevor er Mensch wird.151 Nun hat aber jedes Lebewesen eine Seele. Folglich hat der Embryo eine Seele, bevor er eine vernunftbegabte Seele hat, durch die der Mensch zum Menschen wird. 13. Nach Aristoteles ist die Seele die Wirklichkeit eines belebten Körpers, insofern dieser belebt ist.152 Wenn nun ein Embryo etwas Lebendiges ist und lebenswichtige Tätigkeiten durch diese formverleihende Kraft ausführt, dann wird diese Kraft ihrerseits die Wirklichkeit des Embryos darstellen, insofern er belebt ist, und damit seine Seele darstellen. 14. Im 2. Buch von Über die Seele heißt es, daß mit der vegetativen Seele das Leben in alles Lebendige kommt.153 Ganz offensichtlich lebt aber ein Embryo, bevor in ihn eine vernunftbegabte Seele eingeht, da sich an ihm lebenswichtige Tätigkeiten finden. Also hat ein Embryo noch vor einer vernunftbegabten Seele eine vegetative Seele. 15. Im 2. Buch von Über die Seele weist Aristoteles nach,154 daß das Wachstum sich nicht in erster Linie dem Wirken des Feuers verdankt, sondern eher dem Wirken der vegetativen Seele. Nun wächst ein Embryo, noch bevor die vernunftbegabte Seele hinzukommt. Also hat er eine vegetative Seele. 16. Angenommen, im Embryo gäbe es vor dem Hinzukommen der vernunftbegabten Seele keine vegetative Seele, sondern eine formverleihende Kraft, dann wird nach dem Hinzukommen der vernunftbegabten Seele jene Kraft funktionslos. Denn die Funktion, die jene Kraft im Embryo hatte, wird dann beim entwickelten Lebewesen von seiner Seele hinreichend erfüllt. Also wird jene Kraft dann überflüssig. Dieser Gedanke ist jedoch offensichtlich unsinnig, da in der Natur nichts überflüssig ist. 17. Nun wird man einwenden: Jene Kraft erlischt mit dem Auftreten der vernunftbegabten Seele. – Dem ist zu erwidern: Anlagen verschwinden nicht mit dem Auftreten einer Form, sondern dauern 151 152 153 154

Aristoteles, De gen. an. II, 3; 736 a 32 ff. Aristoteles, De an. II, 1; 412 a 27 f. Aristoteles, De an. II, 4; 415 a 23 ff. probat V : improbat M.

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fort und behalten in gewisser Weise ihre Form in einer Materie. Nun stellt jene Kraft eine bestimmte Anlage dar, die die Materie für den Empfang einer Seele bereit macht. Also verschwindet jene Kraft nicht mit dem Auftreten der vernunftbegabten Seele. 18. Durch ihr Wirken trägt jene Kraft dazu bei, daß die Seele Einlaß in den Embryo findet. Wenn nun mit dem Auftreten der Seele jene Kraft erlischt, dann wirkt sie offensichtlich auf ihr eigenes Erlöschen hin. Das aber ist unmöglich. 19. Der Mensch ist Mensch aufgrund seiner vernunftbegabten Seele. Wenn also die Seele nicht durch Zeugung ins Sein gelangt, dann kann es auch nicht wahr sein, daß der Mensch gezeugt wird. Dies ist aber offensichtlich falsch. 20. Der menschliche Körper gelangt durch das Wirken des Zeugenden ins Sein. Angenommen also, die Seele gelangt nicht durch einen Erzeuger ins Sein, dann wird es beim Menschen ein zweifaches Sein geben: ein körperliches Sein, das der Zeugende hervorbringt, und ein seelisches Sein, welches er nicht hervorbringt. Somit entstünde aus Seele und Körper überhaupt nichts Einheitliches, da sich die Seele und der Körper in ihrem Sein unterscheiden. 21. Es ist unmöglich, daß sich das Wirken eines tätigen Wesens auf die Materie richtet und das Wirken eines anderen tätigen Wesens auf die Form. Andernfalls entstünde aus Form und Materie überhaupt nichts Einheitliches. Denn eine einheitliche Wirkung verdankt sich einem einheitlichen Wirken. Nun hat das natürliche Wirken des Zeugenden einen Körper zum Ziel. Also hat es auch die Seele, die die Form des Körpers ist, zum Ziel. 22. Nach dem 16. Buch von Aristoteles’ Über die Lebewesen werden diejenigen Prinzipien, die ihre Wirkungen nicht unabhängig von einem Körper vollbringen können, auch im Verein mit einem Körper hervorgebracht.155 Nun kann das Wirken der vernunftbegabten Seele nicht körperunabhängig vonstatten gehen. Andernfalls ginge nämlich insbesondere das Denken körperunabhängig vonstatten, was selbstverständlich falsch ist. Denn das Denken kommt nicht ohne sinnliche Vorstellungsbilder aus, wie es im 1. und im 3. Buch

155 Aristoteles, De gen. an. II, 3; 736 b 22 ff.

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von Über die Seele heißt.156 Ein sinnliches Vorstellungsbild bildet sich aber nicht körperunabhängig. Folglich wird die vernunftbegabte Seele zusammen mit dem Körper vererbt. 23. Nun kann man einwenden: Die vernunftbegabte Seele benötigt beim Denken sinnliche Vorstellungsbilder, um geistige Vorstellungen gewinnen zu können. Hat sie diese aber einmal gewonnen, so benötigt sie keine sinnlichen Vorstellungsbilder mehr. – Dem ist zu erwidern: Auch nachdem ein Mensch sich Wissen erworben hat, wird seine Denktätigkeit in Mitleidenschaft gezogen, wenn das Organ seiner sinnlichen Vorstellung geschädigt ist. Dies wäre aber nicht der Fall, wenn der Intellekt nach dem Erwerb von Wissen keine sinnliche Vorstellung mehr nötig hätte. Der Intellekt benötigt also die sinnliche Vorstellung nicht nur für den Erwerb von Wissen, sondern auch für die Anwendung des erworbenen Wissens. 24. Nun wird man einwenden: Die Tatsache, daß die Denktätigkeit durch einen Schaden am Organ der sinnlichen Vorstellung in Mitleidenschaft gezogen wird, liegt nicht daran, daß der Intellekt sinnliche Vorstellungen für die Anwendung von erworbenem Wissen nötig hat, sondern daran, daß die sinnliche Vorstellung und der Intellekt zum einheitlichen Wesen der Seele gehören. Wenn daher die sinnliche Vorstellung eingeschränkt ist, ist auch der Intellekt akzidentell in Mitleidenschaft gezogen. – Dem ist zu erwidern: Die Koppelung mehrerer Vermögen an das einheitliche Wesen der Seele ist der Grund dafür, daß, wenn das eine Vermögen zu seiner ihm eigenen Verwirklichung kommt, die Verwirklichung des anderen Vermögens schwächer ausfällt. So hört man ja etwa dann mit geringerer Aufmerksamkeit zu, wenn man mit größerer Aufmerksamkeit etwas betrachtet. Dies ist auch der Grund dafür, daß sich ein Vermögen in seiner Wirksamkeit verstärkt, wenn das andere Vermögen überhaupt nicht zu seiner Verwirklichung kommen kann. Daher hören etwa Blinde in der Regel besser. Aufgrund dieser Koppelung der Vermögen kann es nicht vorkommen, daß eine eingeschränkte Kraft zur sinnlichen Vorstellung auch die Tätigkeit des Intellekts in Mitleidenschaft zieht. Vielmehr verstärkt sich dessen Tätigkeit dabei. 156 Aristoteles, De an. I, 1; 403 a 8 ff. III, 8; 432 a 3 ff.

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25. Wer einer bestimmten Tätigkeit die letzte Vollendung verleiht, der leistet dem hauptsächlichen Urheber dieser Tätigkeit eine Hilfestellung. Wenn nun Gott alle menschlichen Seelen erschafft und sie in die Körper eingehen läßt, dann verleiht er auch einem ehebrecherischen Zeugungsakt die letzte Vollendung. Also leistet Gott Hilfestellung bei einem Ehebruch. Dies ist aber offensichtlich abgeschmackt. 26. Nach Aristoteles ist das vollkommen, was etwas ihm Gleiches hervorbringen kann.157 Je vollkommener also etwas ist, desto eher ist es in der Lage, etwas ihm Gleiches hervorzubringen. Nun sind die vernunftbegabten Seelen vollkommener als die materialen Formen der Elemente, die ihnen gleichende Formen hervorbringen. Also hat eine vernunftbegabte Seele die Kraft, eine weitere vernunftbegabte Seele hervorzubringen, und zwar auf dem Wege der Fortpflanzung. 27. Die vernunftbegabte Seele nimmt eine Mittelstellung zwischen Gott und den körperhaften Dingen ein. Daher heißt es im Buch von den Ursachen, daß sie an der Grenze zwischen Ewigkeit und Zeit erschaffen wird.158 Nun läßt sich für Gott genauso wie für die körperhaften Dinge eine Zeugung geltend machen. Also wird auch die Seele, die eine Mittelstellung zwischen Gott und den Dingen einnimmt, auf dem Wege der Zeugung hervorgebracht. 28. Aristoteles sagt im 16. Buch von Über die Lebewesen, daß der Geist, der mit dem Sperma ausgeschieden wird, eine Kraft ist, die aus der Seele kommt, und etwas Göttliches ist.159 Diesen nennt man auch »Intellekt«. Somit wird der Intellekt offensichtlich über den Samen vererbt. 29. Im selben Buch sagt Aristoteles, daß bei der Zeugung die Frau den Körper beiträgt, die Seele aber vom Manne stammt.160 Demnach verdankt sich die Seele einer Fortpflanzung über den Samen und keinem Schöpfungsakt.

157 158 159 160

Aristoteles, Meteor. IV, 3; 380 a 13 ff. De an. II, 4; 415 a 26 ff. Liber de Causis, prop. 2; n. 22 (ed. Schönfeld, 6 f.). Aristoteles, De gen. an. II, 3; 737 a 8 ff. Aristoteles, De gen. an. II, 4; 738 b 20 ff.

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Dagegen spricht: 1. In Jes. 57, 16 heißt es: »Jeden Hauch habe ich erschaffen.« Mit »Hauch« ist aber die Seele gemeint. Also wird die Seele offensichtlich durch Gott erschaffen. 2. In Ps. 33, 15 heißt es: »Er, der jedem Einzelnen das Herz gebildet hat.« Also pflanzt sich eine Seele nicht aus einer anderen Seele fort; vielmehr wird eine jede Seele jeweils von Gott erschaffen. Antwort: Bei der vorliegenden Frage vertraten von alters her verschiedene Autoren unterschiedliche Meinungen. (A) Manche behaupteten, daß die Seele eines Kindes genauso von der Seele seiner Eltern abstamme wie sein Körper von ihrem Körper. (B) Andere behaupteten dagegen, daß jede einzelne Seele für sich erschaffen werde. Sie nahmen dabei an, die Seelen seien von Anfang an und alle zugleich ohne Körper erschaffen worden, hätten sich dann aber jeweils mit einem gezeugten Körper verbunden, und zwar, wie einige meinten, aus eigenem Antrieb des Willens oder aber, wie andere meinten, auf Gottes Geheiß und Wirken hin. (C) Wieder andere sagten, daß die Seelen im Moment ihrer Erschaffung in die Körper eingehen. Eine Zeit lang verfocht man alle diese Standpunkte, und es bestand Zweifel darüber, welcher von ihnen der Wahrheit näher komme. Dies zeigt sich an Augustinus und seinen Schriften über den Ursprung der Seele.161 Später wurden jedoch die beiden ersten Standpunkte durch den Urteilsspruch der Kirche verdammt und der dritte Standpunkt zur Lehrmeinung erhoben. So heißt es nun im Buch Über die Lehren der Kirche: »Wir glauben nicht, daß sich die menschlichen Seelen von Anfang an unter den anderen geistigen Wesen befanden; auch nicht, daß die Seelen alle zugleich erschaffen wurden, wie sich dies Origenes vorstellt; ebenso nicht, daß die Seelen zusammen mit den Körpern in einem Geschlechtsakt gezeugt werden, wie dies etwa die Luziferianer, Cyrillus und andere dünkel161 Augustinus, De lib. arb. III, 21, 59 (CCSL 29, 309). De Gen. ad litt. XII, 16 (CSEL 28/1, 401 ff.). Retract. I, 5, 3 (CCSL 57, 16.)

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hafte Lateiner behaupten. Wir sagen vielmehr, daß allein der Körper aus der Vereinigung eines Paares hervorgeht und daß die Seele nach der erfolgten Formung eines Körpers erschaffen wird und in den Körper eingeht.«162 Wer es aufmerksam überdenkt, dem zeigt sich, daß diejenige Ansicht aus guten Gründen verdammt worden ist, um die es bei unserer Frage gerade geht – jene nämlich, welche den Standpunkt vertritt, die vernunftbegabte Seele pflanze sich über den Samen fort. Dies kann hier mit drei Gründen einsichtig gemacht werden. Erstens: Die vernunftbegabte Seele unterscheidet sich von den anderen Formen dadurch, daß diese anderen Formen kein Sein haben, mit dem sie selbst Bestand hätten, sondern vielmehr ein Sein, durch das die von ihnen geformten Dinge Bestand haben. Dagegen hat eine vernunftbegabte Seele ein solches Sein, daß sie mit diesem Sein Bestand hat. Dies wird an ihrer unterschiedlichen Wirkensweise deutlich. Weil nämlich nur das, was ist, wirken kann, so entspricht bei jedem Ding die Weise seines Wirkens bzw. seiner Wirksamkeit seiner Seinsweise. Während nämlich die anderen Formen bei ihrer Wirksamkeit unabdingbar an den Körper gebunden sind, ist dies bei einer Wirksamkeit der vernunftbegabten Seele, deren Wirksamkeit ja im Denken und Wollen besteht, nicht erforderlich. Deswegen muß man der vernunftbegabten Seele, nicht aber den anderen Formen ein Sein wie bei einem für sich bestehenden Ding zuschreiben. Von daher kommt es, daß die vernunftbegabte Seele die einzige Form ist, die unabhängig von einem Körper existieren kann. Daraus ergibt sich nun, daß die vernunftbegabte Seele auf eine andere Weise ins Sein kommt als die übrigen Formen, welche nicht im eigentlichen Sinne entstehen, sondern sozusagen dann entstehen, wenn ein bestimmtes Ding entsteht. Es ist ja ein Ding, was an sich und im eigentlichen Sinne entsteht. Was nun entsteht, das entsteht entweder aus der Materie oder aus dem Nichts. Dasjenige nun, was aus der Materie entsteht, muß aus einer Materie entstehen, an der Gegensätzliches auftreten kann. Denn nach Aristoteles vollzieht

162 Gennadius Massiliensis, De ecclesiasticis dogmatibus XIV (PL 42, col. 1216).

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sich das Entstehen im Ausgang von Gegensätzlichem.163 Wenn daher die Seele überhaupt keine Materie hat oder zumindest keine, an der Gegensätzliches auftreten kann, dann kann sie nicht aus einem Etwas entstehen. Folglich kann sie nur durch einen Schöpfungsakt ins Sein kommen, d. h. aus dem Nichts hervorgebracht werden. Die Annahme hingegen, daß sie mit der Erzeugung eines Körpers entsteht, bedeutet, daß die Seele kein substantielles Sein hätte und damit auch mit dem Körper vergehen müßte. Zweitens: Unmöglich geht das Wirken einer körperlichen Kraft so weit, daß es eine durch und durch geistige und unkörperliche Kraft verursachen könnte. Denn nichts entfaltet eine Wirkung über seine artspezifischen Grenzen hinaus. Im Gegenteil: Nach Augustinus muß das, was eine Wirkung vollbringt, dasjenige übertreffen, dem diese Wirkung widerfährt.164 Die Zeugung eines Menschen erfolgt nun vermittels der Zeugungskraft, die sich in einem körperlichen Organ befindet. Zudem entfaltet der Samen seine Kraft nur mit Hilfe von Wärme, wie es im 16. Buch von Über die Lebewesen heißt.165 Wenn daher die Seele eine durch und durch geistige Form ist, die weder von einem Körper abhängig ist noch in ihrem Wirken an den Körper gebunden ist, dann kann sie sich über eine körperliche Zeugung gar nicht fortpflanzen und auch nicht durch eine Kraft, die im Samen liegt, ins Sein kommen. Drittens: Jede Form, die durch einen Zeugungsvorgang bzw. durch eine natürliche Kraft ins Sein kommt, kommt nach dem 7. Buch der Metaphysik aus einer Möglichkeit der Materie zum Vorschein.166 Die vernunftbegabte Seele kann jedoch nicht aus einer Möglichkeit der Materie hervorgehen. Denn eine Form, die in ihrem Wirken nicht an einen Körper gebunden ist, kann auch nicht aus einer körperhaften Materie hervorgehen. Daher kann sich die vernunftbegabte Seele auch nicht mittels der Kraft des Zeugenden fortpflanzen. Diese Begründung stammt von Aristoteles.167 163 164 165 166 167

Aristoteles, De gen. an. I, 18; 724 b 6 ff. Augustinus, De Gen. ad litt. XII, 16 (CSEL 28/1, 402). Aristoteles, De gen. an. II, 3; 736 b 29 ff. Aristoteles, Met. VII, 7; 1032 a 12 ff. Aristoteles, De gen. an. II, 3; 736 b 27 ff.

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Zu 1. Bei der angeführten Bibelstelle steht in Form einer Synekdoche ein Teil für das Ganze, d. h. »Seele« für den gesamten Menschen, und zwar deswegen, weil die Seele der wichtigste Teil des Menschen ist und weil sich eine jede Ganzheit offensichtlich mit dem gleichsetzen läßt, was an ihr das Wichtigste ist. Von daher läßt sich offensichtlich der gesamte Mensch mit der Seele bzw. mit dem Intellekt gleichsetzen, wie dies im 9. Buch der Nikomachischen Ethik geschieht.168 Zu 2. Der Mensch geht deswegen als ganzer aus den Lenden seines Erzeugers hervor, weil die Kraft des Samens, der aus den Lenden kommt, auf eine Vereinigung von Körper und Seele hin wirkt, und zwar so, daß diese Kraft die Materie in eine Lage versetzt, die unmittelbar für die Aufnahme einer Form nötig ist. An dieser Vereinigung liegt es, daß der Mensch Mensch ist. Mit dem Obigen ist jedoch nicht gesagt, daß jeder Teil des Menschen durch jene Kraft des Samens verursacht wäre. Zu 3. Wie die Erbsünde eine Sünde der gesamten Natur meint, so meint eine aktuale Sünde die Sünde einer bestimmten Person. Das Verhältnis zwischen einer aktualen Sünde und einer einzelnen Person ist daher dasselbe wie zwischen der Erbsünde und der gesamten menschlichen Natur. Diese Natur wurde durch den Urvater 169 vererbt, in dem die Sünde zum ersten Mal auftrat und infolge von dessen Willensentscheidung die Erbsünde bei allen Menschen als etwas betrachtet werden kann, was durch den Willen zustande kommt. Somit liegt also die Erbsünde insofern in der Seele, als sie zur menschlichen Natur gehört. Die menschliche Natur aber wird vom Vater an den Sohn weiter vererbt in der Fortzeugung des Fleisches, in das dann die Seele eingeht. Zu dieser Durchdringung ist die Seele in der Lage, weil sie zusammen mit dem vererbten Fleisch eine einheitliche Natur bildet. Diese Durchdringung käme nämlich nicht zustande, wenn die Seele mit dem Fleisch keine natürliche Einheit bilden könnte, wie dies etwa bei einem Engel der Fall ist, wenn er mit einem von ihm angenommen Körper eine Einheit eingeht.170 168 Aristoteles, Eth. Nic. IX, 8; 1168 b 31 ff. 169 Gemeint ist Adam. 170 Vgl. dazu De pot. q. 6 a. 6.

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Zu 4. Wie in Adams Natur die Natur von uns allen ihren Ursprung hat, so hat auch die Erbsünde, die in uns liegt, in jener Ursünde ihren Ursprung. Denn, wie gesagt, die menschliche Natur an sich und damit auch die menschliche Seele empfängt die Erbsünde. Zu 5. Bei der Zeugung erzeugt ein Mensch etwas ihm Artgleiches, und zwar kraft seiner Form, d. h. kraft seiner vernunftbegabten Seele. Freilich stellt seine vernunftbegabte Seele dabei nicht das unmittelbare Prinzip dar, welches in der menschlichen Zeugung wirksam ist. Vielmehr versetzen die Zeugungskraft und das im Samen Wirksame die Materie in die Lage, daß dann ein Körper entstehen kann, der durch eine vernunftbegabte Seele vervollständigt wird; dabei sind sie nur dieser vernunftbegabten Seele als Hilfsmittel dienlich. Wie bereits erklärt, geht jedoch ihr Wirken nicht so weit, daß sie eine weitere vernunftbegabte Seele hervorbringen könnten. Zu 6. Der Erzeuger zeugt etwas ihm Artgleiches, insofern der Erzeuger durch sein Wirken das Erzeugte hervorbringt, um es an seiner artspezifischen Natur teilhaben zu lassen. Dies geschieht dadurch, daß das Erzeugte die gleiche Form wie sein Erzeuger erhält. In den Fällen nun, wo diese Form nicht für sich besteht, sondern ihr Sein in ihrer Vereinigung mit dem besteht, dem sie Form verleiht, wird der Erzeuger die Ursache für diese Form selbst abgeben. Dies ist bei allen materialen Formen der Fall. In dem Fall aber, wo diese Form für sich besteht und ihr Sein nicht völlig von ihrer Vereinigung mit einer Materie abhängt, genügt es – wie im Falle der vernunftbegabten Seele –, daß der Erzeuger die Ursache für eine Vereinigung dieser Form mit der Materie ist, und zwar dadurch, daß er die Materie für die Form empfänglich macht. Daher braucht er auch nicht die Ursache für die Form selbst zu sein. Zu 7. Die Verfassung der vernunftbegabten Seele hängt von der körperlichen Verfassung ab, weil zum einen die vernunftbegabte Seele durch den Körper beeinflußt ist und weil sich zum anderen die Formen nach den Unterschieden ihrer Materie unterschiedlich gestalten. Dies ist der Grund – und nicht der Hervorgang einer Seele aus einer anderen −, warum Kinder ihren Eltern auch in dem gleichen, was mit ihrer Seele zu tun hat. Zu 8. Die Seele ist im eigentlichen Sinne die Wirklichkeit eines lebendigen Körpers, das Leben aber hängt von der Wärme und der

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Feuchtigkeit ab, die beide durch das Blut in einem Lebewesen erhalten bleiben. Aufgrund dieser Tatsache läßt sich sagen, daß die Seele im Blut liegt, wenn man damit eine charakteristische Verfassung des Körpers zum Ausdruck bringt: daß nämlich der Körper diejenige Materie darstellt, die durch die Seele zur Vollendung gelangt. Zu 9. Es gibt verschiedene Ansichten über das Leben eines Embryos. (A) Nach Ansicht von Manchen verläuft bei der Entstehung eines Menschen die Entwicklung der vernunftbegabten Seele parallel zur Entwicklung des menschlichen Körpers; sie behaupteten: Der menschliche Körper sei im Samen angelegt, er habe dabei aber noch nicht wirklich die Vollständigkeit eines menschlichen Körpers erreicht, welche in der Gliederung seiner Organe besteht; diese Vollständigkeit komme vielmehr erst nach und nach durch die Kraft, die im Samen liegt, zustande. Genauso liege auch die Seele zu Beginn ihrer Entstehung im Samen und besitze ihrer Anlage nach eine Vollständigkeit, die dann später im vollständigen Menschen zum Vorschein komme. Diese Vollständigkeit habe die Seele aber noch nicht wirklich, da ja ihr Wirken noch nicht zum Vorschein komme, sondern sie erreiche sie im Lauf der Zeit erst nach und nach, so daß hier zunächst das Wirken der vegetabilischen Seele, dann dasjenige der sensitiven Seele und endlich das Wirken der vernunftbegabten Seele zum Vorschein käme. Mit dieser Ansicht sympathisiert Gregor von Nyssa in seinem Buch, welches er über den Menschen geschrieben hat.171 Diese Behauptung ist allerdings unhaltbar. Denn entweder besagt sie, daß die Seele in ihren spezifischen Ausprägungen von Anfang an im Samen zugegen ist, aber deswegen noch nicht ihre vollständige Wirksamkeit entfaltet, weil die Organe dafür noch nicht vorhanden sind. Oder sie besagt, daß im Samen anfangs eine bestimmte Kraft bzw. Form liegt, die aber noch keine spezifisch ausprägte Form einer Seele ist – genauso wie der Same ja auch nicht die spezifische Form eines menschlichen Körpers aufweist –, sondern daß jene Form erst nach und nach durch das Wirken der Natur dazu gebracht wird, sich 171 Gregor von Nyssa, De creatione hominis 30 (PL 67, col. 398 ff.); De opificio hominis 29 (PG 44, col. 233 ff.).

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zunächst zur vegetabilischen Seele, dann zur sensitiven Seele und endlich zur vernunftbegabten Seele zu entwickeln. Die erste dieser beiden Möglichkeiten läßt sich folgendermaßen widerlegen. Erstens durch die Autorität des Aristoteles, denn im 2. Buch von Über die Seele heißt es: Daß ein physisch-organischer Körper, dessen Wirklichkeit die Seele ist, die Möglichkeit zum Leben hat, meint nicht, daß ihm die Seele abgeht, wie dies beim Samen und der Frucht der Fall ist.172 Daraus läßt sich nun entnehmen, daß der Same der Möglichkeit nach lebendig ist, insofern nämlich dem Samen noch eine Seele abgeht.173 Zweitens heißt es im 15. Buch von Über die Lebewesen : Der Same ist nicht vollkommen in den Körperbau integriert – seine Abscheidung würde ja sonst eine Art von Zerstörung bedeuten. Vielmehr ist er ein Überschußprodukt, das zuletzt beim Stoffwechsel entsteht.174 Deshalb gibt es im Körper des Erzeugers noch keinen Samen, der durch eine Seele vervollständigt ist. Daher kann im Samen zum Zeitpunkt seiner Abscheidung unmöglich die Seele liegen. Drittens: Angenommen, mit dem Samen würde sich auch die Seele abscheiden, dann kann dies nicht von der vernunftbegabten Seele gelten. Denn da die vernunftbegabte Seele nicht die Wirklichkeit eines Körperteils [sondern des gesamten Körpers] darstellt, so kann sie sich nicht in Teile sondern, wenn sich etwas im Körper abscheidet. Auch die zweite jener beiden Möglichkeiten ist offensichtlich falsch. Denn da eine substantiale Form nicht kontinuierlich oder schrittweise, sondern mit einem Schlag in die Wirklichkeit kommt – ansonsten müßte es ja wie im Bereich der Qualitäten auch im Bereich der Substanzen Bewegung geben –,175 so kann sich die Kraft, Aristoteles, De an. II, 1; 412 b 25 ff. semen est ita in potentia V : semen est ista in potentia M. Aristoteles, De gen. an. I, 18; 725 a 11 ff. Im Gegensatz zu einer bestimmten Qualität wie etwa einer Rotfärbung kann im Falle der Substanz nicht von einem Mehr oder Weniger gesprochen werden: Die Bewegung (im Sinne der Veränderung) einer Sache zu einer stärkeren oder schwächeren Rotfärbung hin kann nicht für den Aspekt ihres Bestehens gelten; das substantielle Sein einer Sache ist keine Frage des stärkeren oder schwächeren Grades, sondern diese Sache ist vielmehr oder ist nicht. 172 173 174 175

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welche von vornherein im Samen liegt, auch nicht schrittweise zu den verschiedenen Abstufungen der Seele entfalten. So durchdringt ja etwa auch die Form des Feuers die Luft nicht dadurch, daß sie diese zunächst unvollständig und dann allmählich vollständig durchdringt, denn bei keiner substantialen Form gibt es graduelle Abstufungen. Vielmehr ist ausschließlich die Materie dem Vorgang von Veränderungen ausgesetzt, so daß sie in einem höheren oder geringeren Maß für eine Form empfänglich ist. Das Sein der Form in der Materie setzt aber erst im letzten Moment einer Veränderung ein. (B) Andere sagen nun, daß im Samen zunächst die vegetabilische Seele liege und daß dann zu ihr die sensitive Seele durch den Erzeuger und zuletzt die vernunftbegabte Seele durch einen Schöpfungsakt hinzukomme. Damit behaupten sie, daß es beim Menschen drei Seelen gebe, die ihrem Wesen nach verschieden sind. Dem sind folgende Worte entgegenzuhalten: »Auch sagen wir nicht, daß es in einem einzigen Menschen zwei Seelen gebe, wie dies Jakobus und andere Syrer in ihren Schriften getan haben: eine fleischliche Seele, die den Körper belebe und die mit dem Blut vermischt sei, und eine geistige Seele, die der Vernunft gehorcht.«176 Zudem kann ein und dasselbe Ding unmöglich mehrere substantiale Formen besitzen. Denn eine substantiale Form läßt ein Ding nicht bloß in einer bestimmten Hinsicht, sondern überhaupt erst sein und macht ein bestimmtes Etwas zu einer Substanz. Wenn also eine Form dies zustande bringt und eine weitere Form hinzukommt, diese weitere Form aber ihren Träger bereits in seinem substantiellen Sein vorfindet, dann wird diese Form ihrem Träger akzidentell zukommen. Die Folge davon wäre nun, daß beim Menschen die sensitive und die vernunftbegabte Seele eine akzidentelle Einheit mit dem Körper bilden würden. Genausowenig kann man aber behaupten, daß die vegetabilische Seele, die für eine Pflanze die substantielle Form ist, für den Menschen keine substantielle Form, sondern die Anlage zu einer Form darstelle. Denn wie es im 1. Buch der Phy-

176 Gennadius Massilienis, De ecclesiasticis dogmatibus XV (PL 42, col. 1216).

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sik heißt, kann das, was in den Bereich der Substanzen gehört, für nichts ein Akzidens abgeben.177 (C) Deswegen sagen wieder andere, daß die vegetabilische Seele der Möglichkeit nach die sensitive Seele sei und die sensitive Seele deren Wirklichkeit sei; und so gelange die vegetabilische Seele, die zunächst im Samen liegt, durch das Wirken der Natur zu ihrer Vollendung durch die sensitive Seele. Die vernunftbegabte Seele aber stelle ihrerseits die Wirklichkeit und Vollendung der sensitiven Seele dar. Die sensitive Seele erreiche daher nicht durch das Wirken eines Erzeugers, sondern durch einen Schöpfungsakt ihre Vollendung, nämlich als vernunftbegabte Seele. Damit behaupten diese Leute, daß die vernunftbegabte Seele des Menschen zum einen Teil, was also ihre geistige Wesensform anbelangt, von außen herrührt und zum anderen Teil, was ihre vegetabilische und sensitive Wesensform, von innen. Diese Behauptung ist jedoch in keiner Hinsicht haltbar. Denn entweder ist mit dieser geistigen Wesensform eine Seele gemeint, die von der vegetabilischen und sensitiven Seele verschieden wäre; und damit läuft diese Ansicht auf dasselbe hinaus wie die zweite Ansicht.178 Oder es ist mit dieser Behauptung gemeint, daß sich aus den drei besagten Wesensformen die Substanz einer Seele bildet, wobei die geistige Wesensform das formale Moment abgibt, die sensitive und vegetabilische Wesensform aber das materiale Moment. Daraus folgt nun: Wenn die vegetabilische und die sensitive Wesensform vergänglich sind, da sie ja aus der Materie hervorgehen, dann wäre die Substanz der menschlichen Seele nicht von ewiger Dauer. Darüber hinaus ergibt sich dieselbe Unstimmigkeit, auf die bereits bei der ersten Ansicht179 hingewiesen wurde: daß nämlich eine substantiale Form nach und nach in die Wirklichkeit gelangen würde. (D) Wieder andere sagen, daß der Embryo so lange keine Seele hat, bis er durch die vernunftbegabte Seele vervollständigt wird. Die Lebensregungen aber, die an ihm zu beobachten sind, rühren von der Seele der Mutter her. Dies kann aber unmöglich so sein. Denn 177 Aristoteles, Phys. I, 3; 186 b 4 f. 178 Vgl. dafür den Abschnitt B. 179 Vgl. dafür den Abschnitt A.

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der Unterschied zwischen dem Lebendigen und dem Nicht-Lebendigen besteht darin, daß das Lebendige in Anbetracht seiner Lebensregungen sich von selbst bewegt, was sich vom Nicht-Lebendigen nicht sagen läßt. Deshalb können Ernährung und Wachstum, die für das Lebendige typische Regungen sind, beim Embryo nicht von einem äußerlichen Prinzip, d. h. von der Seele der Mutter, herrühren. Außerdem würde der Stoffwechsel der Mutter die Nahrung ihrem eigenen Körper zugute kommen lassen, nicht aber dem Körper des Embryo; denn der Stoffwechsel dient dem Erhalt eines Einzelwesens wie die Zeugungskraft dem Erhalt einer Spezies. Darüber hinaus kann die Sinneswahrnehmung beim Embryo nicht von der Seele der Mutter herrühren. (E) Deswegen behaupten andere Leute, daß vor dem Eintritt der vernunftbegabten Seele im Embryo keine Seele sei; vielmehr gebe es hier eine bildende Kraft, die beim Embryo die vorhin erwähnten Lebensregungen vollbringt. Auch dies kann unmöglich so sein. Denn wenn sich am Embryo noch vor seiner letzten Vervollständigung verschiedene Lebensregungen zeigen, dann können diese nicht von einer einzigen Kraft herrühren. Daher müßte es hier eine Seele geben, die verschiedene Kräfte besitzt. (F) In Absetzung davon muß man also festhalten: Im Moment seiner Abscheidung gibt es im Samen keine Seele, sondern vielmehr eine seelische Kraft; diese gründet im Geist, der im Samen enthalten ist. Von seiner Natur her ist der Same schaumig und ist dadurch in der Lage, den Lebensgeist zu enthalten. Diese Kraft wirkt dadurch, daß sie die Materie empfänglich macht und heranbildet für die Aufnahme der Seele. Hinzuweisen ist auch auf den Unterschied, der zwischen der Entstehung eines Menschen bzw. eines Lebewesens und der Entstehung von Luft bzw. von Wasser besteht. Denn die Entstehung von Luft geht einfach vonstatten, da während des gesamten Vorganges nur zwei substantiale Formen auftreten: eine Form, die verschwindet, und eine andere Form, die aufkommt. Dies geschieht alles gleichzeitig in einem Moment, weshalb vor dem Aufkommen der Form der Luft stets die Form des Wassers bestehen bleibt. Bei der Entstehung eines Lebewesens hingegen kommen verschiedene substantiale Formen zum Vorschein: zuerst der Same, dann das Blut und so

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fort, bis die Form eines Menschen bzw. Lebewesens auftritt. Somit kann eine solche Entstehung nicht einfach vonstatten gehen, sondern umfaßt mehrere Vorgänge der Entstehung und des Vergehens. Denn wie bereits aufgezeigt, kann ja ein und dieselbe substantielle Form nicht stufenweise in die Wirklichkeit gelangen. So kommt also durch die bildende Kraft, die von Anfang an im Samen liegt, nach dem Zergehen der Form des Spermas ein andere Form auf. Nach deren Zergehen kommt wieder eine andere Form auf. Demnach kommt zunächst die vegetabilische Seele auf und, nach deren Zergehen, die zugleich sensitive und vegetabilische Seele. Nach deren Zergehen kommt – nun nicht durch jene besagte Kraft, sondern durch den Schöpfer – die Seele auf, die zugleich vernunftbegabt, sensitiv und vegetabilisch ist. Dieser Darstellung entsprechend läßt sich nun feststellen: Noch bevor der Embryo eine vernunftbegabte Seele hat, ist er lebendig und hat eine Seele; und nach deren Zergehen kommt die vernunftbegabte Seele auf. Daraus folgt, daß sich keine zwei Seelen im selben Körper befinden, sowie daß die vernunftbegabte Seele nicht über den Samen vererbt wird. Zu 10. Bevor der Embryo eine vernunftbegabte Seele hat, ist er kein vollständiges Seiendes, sondern auf dem Weg zu seiner Vervollständigung. Daher gehört der Embryo nur insofern einer Gattung oder Art an, als er sich genauso wie das Unvollständige auf die Gattung bzw. die Art des Vollständigen zurückführen läßt. Zu 11. Zwar gibt es im Samen anfangs keine Seele. Gleichwohl gibt es dort, wie gesagt, eine seelische Kraft. Diese Kraft gründet im Geist, der im Sperma beschlossen ist; und »seelische Kraft« heißt sie, weil sie von der Seele des Erzeugers herrührt. Zu 12. Noch vor dem Aufkommen der vernunftbegabten Seele lebt der Embryo und hat, wie bereits ausgeführt, eine Seele. Daher lassen wir dieses Argument gelten. Zu 13.–15. Gleiches läßt sich auch hier feststellen. Zu 16. Die bildende Kraft, die anfangs im Samen liegt, bleibt auch dann bestehen, wenn die vernunftbegabte Seele hinzukommt. Ebenso bleiben auch die Lebensgeister erhalten, in die sich die Substanz des Spermas fast vollständig umwandelt. Auch diejenige Kraft, die zunächst für die Bildung des Körpers verantwortlich ist, bleibt

9. Artikel

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weiterhin für den Körper zuständig. Genauso bleibt ja etwa auch die Wärme, die eine vorbereitende Funktion für die Form des Feuers hat, auch nach Auftreten der Form des Feuers bestehen, und zwar als ein Mittel, das dieser Form bei ihrem Wirken dienlich ist. Zu 17.−18. Aus dem gerade Gesagten erhellt auch die Antwort auf diese Argumente. Zu 19. Zwar stammt die vernunftbegabte Seele nicht von einem Erzeuger. Ihre Vereinigung mit einem Körper rührt jedoch, wie gesagt, in gewisser Weise vom Erzeuger her. Deswegen sagt man, daß der Mensch gezeugt wird. Zu 20. Beim Menschen gibt es kein zweifaches Sein. Denn daß sein Körper von seinem Erzeuger stammt und seine Seele vom Schöpfer, ist nicht so zu verstehen, daß der Körper sein Sein eigens vom Erzeuger erhielte und die Seele ihr Sein eigens vom Schöpfer. Vielmehr verleiht der Schöpfer der Seele im Körper ein Sein, während der Erzeuger den Körper dafür empfänglich macht, daß der Körper an diesem Sein teilhat durch die Seele, die mit jenem vereinigt ist. Zu 21. Zwei tätige Wesen, die völlig verschieden sind, sind nicht dazu in der Lage, daß das Wirken des einen auf die Materie abzielt und das Wirken des anderen auf die Form. Hingegen kann dies geschehen, wenn zwei tätige Wesen in einer Ordnung zueinander stehen und dabei das eine dem anderen dienlich ist. Denn das Wirken des übergeordneten tätigen Wesens erstreckt sich mitunter auf etwas, worauf sich das Wirken des Hilfsmittels nicht erstrecken kann. Wie nun vorhin aufgezeigt worden ist,180 ist die Natur der göttlichen Kraft dienlich. Daher kann es sehr wohl sein, daß ausschließlich die göttliche Kraft die vernunftbegabte Seele erschafft, während sich das Wirken der Natur nur darauf erstreckt, daß sie den Körper für die Seele empfänglich macht. Zu 22. Um denken zu können, benötigt der Intellekt, der an einen Körper gebunden ist, nichts Körperliches, welches zusammen mit dem Intellekt das Prinzip für die Denktätigkeit darstellen würde. Anders verhält sich dies etwa beim Sehsinn. Denn das Prinzip für das Sehen ist nicht der bloße Sehsinn, sondern das Auge, das den Sehsinn und die Pupille umfaßt. Hingegen benötigt der Intellekt 180 Vgl. De pot. q. 3 a. 7 c.; a. 8 ad 14.

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einen Körper als Gegenstand, genauso wie etwa der Sehsinn eine Wand benötigt, an der die Farbe auftritt. Denn wie es im 3. Buch von Über die Seele heißt, verhalten sich die sinnlichen Vorstellungen zum Intellekt wie die Farben zum Sehsinn.181 Dies ist auch der Grund dafür, daß der Intellekt bei seiner Denktätigkeit in Mitleidenschaft gezogen ist, wenn das Organ für die sinnliche Vorstellung geschädigt ist. Denn solange der Intellekt sich in einem Körper befindet, sind für ihn sinnliche Vorstellungen unabdingbar – nicht nur, weil er beim Wissenserwerb etwas aus den sinnlichen Vorstellungen gewinnt, sondern auch, weil er im Falle der Anwendung von bereits erworbenem Wissen die geistigen Vorstellungen mit den sinnlichen Vorstellungen vergleicht. Aus diesem Grund sind in den Wissenschaften Beispiele vonnöten. Zu 23.–24. Aus dem gerade Gesagten erhellt auch die Antwort auf diese Argumente. Zu 25. Wie Gregor von Nyssa berichtet, stammt dieses Argument von Apollinaris.182 Sein Irrtum bestand darin, daß er das Wirken der Natur bei der Erzeugung von Nachkommen, denen Gott die Vollständigkeit verleiht, nicht vom willentlichen Akt des Ehebruchs unterschieden hat, in dem die Sünde besteht. Zu 26. Da die Seele vollkommener ist als die materialen Formen, so könnte sie etwas ihr Gleiches hervorbringen – vorausgesetzt, die vernunftbegabte Seele würde auf eine andere Weise als durch einen Schöpfungsakt hervorgebracht, was aber unmöglich ist. Dies liegt an ihrer Vollkommenheit, wie den vorigen Ausführungen entnommen werden kann. Zu 27. Allein in Gott kann es eine einzige Natur an mehreren Trägern geben. Deswegen gibt es nur in Gott eine Zeugung ohne die Unvollkommenheit der Veränderung und der Teilung. Daher werden die höheren Geschöpfe, die unteilbar und in ihrer Substanz unveränderbar sind – also etwa die vernunftbegabte Seele und die Engel – nicht erzeugt, wohl aber die niederen Geschöpfe, die teilbar und vergänglich sind. 181 Aristoteles, De an. III, 5; 430 a 15 ff. 182 Gregor von Nyssa (= Nemesius von Emesa), De natura hominis

(ed. Verbeke / Moncho, 42).

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Zu 28. Jene Kraft, die im Samen liegt, heißt bei Aristoteles »Intellekt« aus Gründen der Ähnlichkeit, wie Averroes sagt.183 Denn wie der Intellekt so wirkt auch diese Kraft ohne ein Organ. Zu 29. Das hier angeführte Wort von Aristoteles bezieht sich auf die sensitive, nicht aber auf die vernunftbegabte Seele.

10. Artik el Die zehnte Frage lautet: Wird die vernunftbegabte Seele im Körper oder außerhalb des Körpers erschaffen? 184 Allem Anschein nach wird sie außerhalb des Körpers erschaffen; denn: 1. Das, was zur selben Spezies gehört, gelangt auch auf dieselbe Weise ins Sein. Nun gehört unsere Seele zur selben Spezies wie die Seele Adams. Nach Augustinus ist aber die Seele Adams außerhalb seines Körpers zusammen mit den Engeln erschaffen worden.185 Also wurden auch alle anderen menschlichen Seelen außerhalb ihres Körpers erschaffen. 2. Jedes Ganze ist unvollkommen, wenn ihm ein Teil abgeht, das zu seiner Vollkommenheit gehört. Nun gehören die vernunftbegabten Seelen eher zur Vollkommenheit des Weltganzen als die körperhaften Substanzen, da eine geistige Substanz eine körperhafte übertrifft. Wenn also die vernunftbegabten Seelen nicht in ihrer Gesamtheit von Anfang an erschaffen wären, sondern tagtäglich zusammen mit einem Körper erschaffen würden, dann folgt daraus, daß das Weltganze unvollkommen ist, weil ihm seine vortrefflichsten Teile noch abgehen. Dies ist aber offensichtlich unsinnig. Folglich sind die vernunftbegabten Seelen von Anbeginn außerhalb ihres Körpers erschaffen worden. 3. Es wäre einem Theaterspiel vergleichbar, wenn die Welt in dem Moment unterginge, in dem sie ihre letzte Vollkommenheit erreicht. 183 Averroes, In VII Met. com. 31 (Aristotelis opera cum Averrois commentariis, Vol. VIII, fol. 181 r E). 184 Paralleltexte: Sum. theol. I, q. 90 a. 4; q. 91 a. 4 ad 3 und ad 5; q. 118 a. 3. ScG, II 83–84. Sent. II, d. 17 q. 2 a. 2. 185 Augustinus, De Gen. ad litt. VII, 24 (CSEL 28/1, 222 f.).

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Nun wird die Welt dann enden, wenn die Entstehung der Menschen ihr Ende findet, und das Weltganze wird dann seine vollständigste Vollkommenheit erreicht haben, wenn die Seelen in dem Moment erschaffen werden, in dem ihre Körper gezeugt werden. Demzufolge würde Gottes Walten über die Welt einem Spiel gleichen. Dies ist nun offensichtlich unsinnig. 4. Man wird nun einwenden: Es ist kein Widerspruch zur Vollständigkeit des Weltganzen, wenn die Einzelwesen noch nicht vollständig da sind, da doch das Weltganze im Hinblick auf all seine artspezifischen Formen vollständig ist. – Dem ist zu erwidern: Dadurch, daß die artspezifischen Formen der Dinge, für sich genommen, eine gewisse Unvergänglichkeit besitzen, tragen sie zur wesentlichen Vollständigkeit des Weltganzen bei – sie sind ja an sich vom Urheber des Weltganzen beabsichtigt. Die Einzelwesen hingegen, die kein unvergängliches Sein haben, tragen gewissermaßen zu einer akzidentellen Vollständigkeit des Weltganzen bei – sie sind ja nicht an sich beabsichtigt, sondern für die Erhaltung einer Spezies da. Die vernunftbegabten Seelen jedoch sind nicht nur im Hinblick auf ihre Spezies unvergänglich, sondern auch als Einzelwesen. Angenommen also, im Anbeginn wären noch nicht alle vernunftbegabten Seelen dagewesen, dann wäre das Weltganze unvollkommen gewesen, ganz als ob ihm manche artspezifischen Formen noch gefehlt hätten. 5. Macrobius spricht in seinem Kommentar zum Traum des Scipio von zwei Himmelstoren, eines für die Götter und eines für die Seelen, nämlich im Sternbild des Krebses bzw. des Widders.186 Durch das letztere Tor steigen die Seelen zu ihren Körpern hinab. Dies wäre aber nicht der Fall, wenn die Seelen nicht außerhalb ihres Körpers im Himmel erschaffen worden wären. Folglich sind die Seelen außerhalb ihres Körpers erschaffen. 6. Eine Wirkursache geht dem von ihr Bewirkten zeitlich voran. Nun stellt die Seele die Wirkursache für den Körper dar, wie es im 2. Buch von Über die Seele heißt.187 Folglich ist die Seele vor ihrem 186 Macrobius, Com. in somnium Scipionis I, 12, 1–3 (ed. J. Willis,

47 f.). 187 Aristoteles, De an. II, 4; 415 b 7–12.

10. Artikel

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Körper da, und damit wird sie nicht innerhalb ihres Körpers erschaffen. 7. Im Buch Über den Geist und die Seele heißt es, daß die Seele noch vor ihrer Vereinigung mit einem Körper zu Regungen des Gemütes und der Begierde fähig ist.188 Dazu ist jedoch die Seele nicht in der Lage, bevor sie da ist. Also ist sie schon vor ihrer Vereinigung mit einem Körper da, und damit wird sie nicht innerhalb eines Körpers erschaffen. 8. Das Sein der vernunftbegabten Seele ist nicht zeitlich meßbar, denn sie steht, wie es im Buch von den Ursachen heißt, über der Zeit.189 Ebensowenig bemißt es sich nach der Ewigkeit, denn diese gilt allein für Gott. Im Buch von den Ursachen heißt es ja auch, daß die Seele unterhalb der Ewigkeit steht.190 Demnach ist das Maß für die Seele, genau wie bei den Engeln, die Weltzeit.191 Folglich haben die Seelen und die Engel dasselbe Maß für ihr Bestehen. Da also die Engel im Anbeginn der Welt erschaffen worden sind, so sind offenbar auch die Seelen damals erschaffen worden und nicht erst innerhalb von ihren Körpern. 9. Die Weltzeit kennt kein Früher und Später; andernfalls würde sie sich ja nicht von der Zeit unterscheiden, wie dies manche Autoren glauben. Wenn nun die Engel früher als die Seelen erschaffen worden wären bzw. eine Seele früher als die andere, dann gäbe es bei der Weltzeit ein Früher und Später; denn wie gerade gezeigt, stellt die Weltzeit das Maß für die Seele dar. Folglich müssen alle Seelen zugleich mit den Engeln erschaffen worden sein. 10. Die Einheit der örtlichen Lage ist ein Merkmal für die Einheitlichkeit einer Wesensform. Aus diesem Grund nehmen Körper mit unterschiedlichen Wesensformen auch einen anderen Ort ein. Nun kommen die Engel und die Seelen in ihrer Wesensform überein, da sie geistige und vernunftbegabte Substanzen sind. Also sind Pseudo-Augustinus, De spiritu et anima 13 (PL 40, col. 789). Liber de Causis, prop. 2; n. 22; n. 28 (ed. Schönfeld, 6 f.). Liber de Causis, prop. 2; n. 22 (ed. Schönfeld, 6 f.). Mit »Weltzeit« wird das lateinische aevum übersetzt, das eine immerwährende Dauer, also keine absolute Zeitenthobenheit wie die Ewigkeit (aeternitas) Gottes meint. 188 189 190 191

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die Seelen wie die Engel im Empyreum erschaffen worden und nicht innerhalb von Körpern. 11. Je feiner eine Substanz ist, desto höher liegt ihr angestammter Ort. Daher befindet sich das Feuer an einem höheren Ort als Luft und Wasser. Nun ist die Seele eine weitaus einfachere Substanz als irgendein Körper. Folglich ist sie oberhalb von allen Körpern erschaffen worden und nicht in diesen. 12. Ein Ding erreicht seine letzte Vollkommenheit, wenn es sich an dem Ort befindet, der für es charakteristisch ist. Denn diesen für es charakteristischen Ort verläßt es nur aufgrund von Gewalteinwirkung. Nun besteht die letzte Vollkommenheit der Seele in ihrem himmlischen Aufenthalt. Folglich ist dies der Ort, der ihrer Natur entspricht. Somit ist sie offensichtlich dort erschaffen worden. 13. In Gen. 2, 2 heißt es: »Gott ruhte am siebten Tag von seinem ganzen Werk, das er gemacht hatte«. Das will besagen, daß Gott damals mit der Erschaffung neuer Geschöpfe aufhörte. Dies wäre aber nicht der Fall, wenn die Seelen auch jetzt noch tagtäglich erschaffen werden würden. Also werden die Seelen nicht innerhalb ihres Körpers erschaffen, sondern sind im Anbeginn außerhalb eines Körpers erschaffen worden. 14. Das Werk der Schöpfung geht dem Werk einer Fortzeugung voran. Dies wäre jedoch nicht der Fall, wenn die Seelen zu demselben Zeitpunkt erschaffen werden würden, zu dem sich die Körper fortzeugen. Folglich sind die Seelen noch vor den Körpern erschaffen worden. 15. Gott wirkt alles in Gerechtigkeit. Nun teilt die Gerechtigkeit nur denjenigen Unterschiedliches und Ungleiches zu, bei denen von vornherein eine Ungleichheit des ihnen Zugemessenen besteht. So läßt sich denn auch bei den Menschen von ihrer Geburt an eine große Ungleichheit im Hinblick auf die Seelen feststellen: Zum einen sind manche Seelen mit einem Körper vereinigt, der für das Wirken der Seele geeignet ist, manche Seelen aber mit einem Körper, der dafür ungeeignet ist. Zum anderen haben manche Menschen ungläubige Eltern, andere hingegen haben gläubige Eltern und erlangen durch den Empfang der Sakramente das Heil. So besteht also bei den Seelen von vornherein eine Ungleichheit des ihnen Zugemessenen, und damit sind die Seelen offensichtlich vor den Körpern dagewesen.

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16. Dinge, die einen zeitgleichen Anfang haben, hängen in ihrem Sein offensichtlich voneinander ab. Nun hängt aber die Seele in ihrem Sein nicht vom Körper ab, was sich daran zeigt, daß sie auch nach der Vergängnis des Körpers bestehen bleibt. Folglich haben die Seele und der Körper auch keinen zeitgleichen Anfang. 17. Dinge, bei denen das eine das andere in Mitleidenschaft zieht, bilden keine wesensmäßige Einheit. Nun wird das Wirken der Seele durch den Körper in Mitleidenschaft gezogen. »Lähmt doch der hinfällige Körper die Seele«, wie es in Weish. 9, 15 heißt. Somit bildet die Seele mit dem Körper keine wesensmäßige Einheit. Bevor sie also mit dem Körper eine Einheit bildete, tat sie dies offensichtlich nicht. Dagegen spricht: 1. Im Buch Über die Lehren der Kirche heißt es, daß die Seelen nicht gleichzeitig am Anbeginn mit den anderen geisthaften Geschöpfen erschaffen worden sind.192 2. Gregor von Nyssa sagt: »Man kann nicht umhin, diese beiden Standpunkte zu verwerfen: sowohl die Ansicht derer, die sich ausmalen, daß die Seelen zunächst eigenständig und in ihrer eigenen Ordnung leben, als auch die Ansicht derer, die glauben, daß die Seelen erst nach den Körpern erschaffen worden sind.«193 3. Hieronymus sagt in dem von ihm verfaßten Bekenntnis des Glaubens: »Wir verdammen den Irrtum derjenigen, die da behaupten, daß die Seelen sündhaft seien oder sich im Himmel befunden hätten, bevor sie in die Körper eingegangen sind.«194 4. Eine bestimmte Wirklichkeit tritt an einer jeweils charakteristischen Materie auf. Nun ist die Seele eine Wirklichkeit, die für einen Körper charakteristisch ist. Folglich wird die Seele innerhalb eines Körpers erschaffen.

192 Gennadius Massiliensis, De ecclesiasticis dogmatibus XIV (PL 42, col. 1216). 193 Gregor von Nyssa, De creatione hominis 29 (PL 67, col. 396). 194 Pseudo-Hieronymus, Ep. 16: Explanatio symboli ad Damasum (PL 30, col. 181).

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Antwort: Wie vorhin195 ist auch hier festzustellen, daß manche Leute die Ansicht vertraten, alle Seelen seien gleichzeitig außerhalb eines Körpers erschaffen worden. Die Falschheit dieser Ansicht kann hier mit vier Gründen belegt werden. Erstens: Die Dinge sind von Gott in der ihnen wesensmäßigen Vollkommenheit erschaffen worden. Denn nach Aristoteles geht das Vollkommene von Natur aus dem Unvollkommenen voran.196 Auch Boethius sagt, daß die Natur ihren Ausgang vom Vollkommenen nimmt.197 Ohne einen Körper bleibt nun die Seele unvollkommen in ihrer Natur, da sie ja nicht von sich aus die vollständige Gestalt einer Wesensform hat, sondern vielmehr Teil der menschlichen Natur ist. Andernfalls würden die Seele und der Körper eine bloß akzidentelle Einheit bilden. Daher ist die menschliche Seele nicht außerhalb eines Körpers erschaffen worden. Diejenigen aber, die behaupteten, daß die Seelen vor ihrer Vereinigung mit einem Körper bereits außerhalb eines Körpers dagewesen seien, hielten die Seelen für vollkommene Wesensformen. Sie glaubten also, daß die für die Seele wesensmäßige Vollkommenheit nicht in ihrer Vereinigung mit einem Körper bestehe, sowie daß sie mit einem Körper eine akzidentelle Einheit eingehe, so wie etwa ein Mensch mit seiner Bekleidung. So behauptete auch Platon, daß der Mensch nicht aus Körper und Seele bestehe, sondern daß die Seele sich eines Körpers bediene. Aus diesem Grunde nahmen alle, die an einer Erschaffung der Seelen außerhalb eines Körpers festhielten, eine Seelenwanderung an, so daß die Seele, wenn sie einen Körper abgelegt habe, mit einem anderen eine Einheit eingehe, genau so wie etwa ein Mensch ein Kleidungsstück ausziehe und dann ein anderes anziehe. Das zweite Argument stammt von Avicenna.198 Insofern nämlich die Seele nicht aus Materie und Form zusammengesetzt ist – im 195 196 197 198

Vgl. De pot. q. 3 a. 9. Aristoteles, De caelo I, 2; 269 a 19 f. Boethius, De cons. philos. III, 10 p. 5 (CCSL 94, 53). Avicenna, De anima V, 3 (Acicenna Latinus 2, ed. Van Riet, 105 f.).

10. Artikel

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2. Buch von Über die Seele wird sie ja sowohl von der Materie als auch vom Zusammengesetzten unterschieden199 –, so könnte eine Unterscheidung der Seelen voneinander nur unter dem Aspekt ihrer formalen Unterschiedlichkeit erfolgen, vorausgesetzt, die Seelen wären auch als solche unterscheidbar. Ein Unterschied in der Form bringt ja eine Verschiedenheit in der Spezies mit sich. Dagegen rührt ein zahlenmäßiger Unterschied innerhalb ein und derselben Spezies von einer materialen Verschiedenheit her. Letzterer Unterschied bei den Seelen rührt nicht von ihrer Wesensform her, durch die sie entstehen, sondern von derjenigen Materie, an der sie ins Sein gelangen. Somit ist die Annahme von einer Vielzahl menschlicher Seelen, die zur selben Spezies gehören und sich dabei zahlenmäßig unterscheiden, nur dann berechtigt, wenn diese Seelen von ihrem Anbeginn an jeweils mit einem Körper vereinigt sind, so daß das materiale Prinzip für ihre Unterscheidbarkeit ihre Vereinigung mit einem Körper ist, obgleich das Prinzip, das eine solche Unterscheidung erst bewirkt, Gott bleibt. Wenn jedoch die menschlichen Seelen außerhalb der Körper erschaffen wären, dann wären sie nur der Spezies nach unterscheidbar, ohne daß es dabei noch ein materiales Prinzip für ihre Unterscheidung gäbe – also genau wie bei allen materielosen Substanzen, die nach Auffassung der Philosophen sich in ihren artspezifischen Bestimmungen unterscheiden. Drittens: Wie vorhin aufgezeigt,200 unterscheidet sich die vernunftbegabte Seele des Menschen in ihrer Substanz nicht von der sensitiven und vegetabilischen. Der angestammte Platz der vegetabilischen und sensitiven Seele kann aber nur der Körper sein, insofern diese ja die Wirklichkeit von bestimmten Teilen des Körpers darstellen. Daher kann auch die vernunftbegabte Seele gemäß ihrer wesensmäßigen Anlage nur innerhalb des Körpers erschaffen werden – ohne daß damit vorschnell etwas über Gottes Kraft behauptet wäre. Viertens: Angenommen, die vernunftbegabte Seele wäre außerhalb eines Körpers erschaffen und hätte dabei ein vollständiges Sein, 199 Aristoteles, De an. II, 1; 412 a 6 ff.; 414 a 13 ff. 200 Vgl. De pot. q. 3 a. 9 ad 9.

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das ihrem Wesen entspräche, dann könnte man keinen vernünftigen Grund für ihre Vereinigung mit einem Körper angeben. Es läßt sich ja nicht behaupten, die Seele würde aus eigenem Antrieb eine Einheit mit einem Körper eingehen, zumal wir sehen, daß es nicht in der Macht der Seele steht, ihren Körper abzustreifen. Dies könnte sie aber, wenn sie aus eigenem Willen eine Einheit mit einem Körper eingegangen wäre. Wenn zudem die Seelen völlig unabhängig von den Körpern erschaffen worden wären, dann ließe sich nicht angeben, was den Willen dieser körperunabhängigen Seele dazu gebracht hätte, eine Einheit mit einem Körper einzugehen. – Ebensowenig läßt sich behaupten, daß nach dem Verlauf einiger Jahre die Seele eine natürliche Neigung überkomme, sich mit einem Körper zu verbinden, und daß ein natürliches Wirken sie zu dieser Verbindung bringe. Denn das, was innerhalb eines bestimmten Zeitraumes von Natur aus geschieht, läßt sich ursächlich auf die Himmelsbewegung zurückführen, nach der sich eine Zeitspanne bemißt. Die materielosen Seelen können aber unmöglich den Bewegungen der Himmelskörper unterworfen sein. – Ebensowenig läßt sich sagen, daß die Seelen durch Gott an einen Körper gebunden worden wären, wenn er sie denn zunächst ohne einen Körper erschaffen haben sollte. Behauptet man nämlich, Gott hätte dies zur Vervollkommnung der Seelen getan, dann gäbe es keinen Grund dafür, daß die Seelen ohne einen Körper hätten erschaffen werden sollen. Wenn dies aber zu ihrer Bestrafung geschehen wäre, so daß also die Seelen wegen ihrer begangenen Sünden, wie Origenes meint, in die Körper eingekerkert worden wären,201 dann folgt daraus, daß die Erschaffung derjenigen Wesen, die aus geistigen und körperhaften Substanzen zusammengesetzt sind, ein akzidentelles Ereignis gewesen wäre und nicht in der ursprünglichen Absicht Gottes gelegen hätte. Dies steht im Widerspruch zu dem, was in Gen. 1, 31 geschrieben steht: »Gott sah alles, was er gemacht hatte, und es war sehr gut.« Hier wird ganz deutlich, daß Gottes Güte und nicht die Verworfenheit irgendeiner Kreatur der Grund für die Erschaffung dieser guten Werke war.

201 Origenes, De Principiis I, 7 (SC 252, 214–216); II, 8 (ebd., 364–370).

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Zu 1. In seinem Genesis-Kommentar und besonders in seinen Untersuchungen über den Ursprung der Seele spricht Augustinus, wie er selbst erklärt, eher in einem fragenden als in einem behauptenden Ton.202 Zu 2. Von Anbeginn war das Weltganze vollkommen in Anbetracht der artspezifischen Formen, nicht aber im Hinblick auf eine Vollzähligkeit der Einzelwesen; oder anders gesagt: es war vollkommen in Anbetracht der natürlichen Ursachen, aus denen sich dann Weiteres entfalten kann, nicht aber im Hinblick auf die Vollzähligkeit des Verursachten. Nun entstehen die vernunftbegabten Seelen zwar nicht durch natürliche Ursachen. Die Körper jedoch, in die die Seelen durch Gottes Fügung eingehen, um mit diesen eine einzige Wesensform zu bilden, entstehen durch das Wirken der Natur. Zu 3. Bei einem Spiel gibt es kein Ziel, um dessentwillen man dieses Spiel spielt. Doch bei der Bewegung, mit der Gott die körperhaften Geschöpfe in Bewegung versetzt, gibt es ein Ziel eben dieser Bewegung, nämlich die Vollzähligkeit der Auserwählten; ist diese erreicht, kommt die Bewegung zu ihrem Ende, nicht aber der Bestand der Welt. Zu 4. Die Vielzahl der Seelen bezieht sich auf eine letztlich zu erreichende, nicht auf die ursprüngliche wesensmäßige Vollständigkeit des Weltganzen. Denn die gesamte Veränderung der Körper in der Welt zielt in gewisser Weise auf die Vervielfältigung der Seelen. Dazu ist, wie in der »Antwort« gezeigt wurde, eine Vielzahl von Körpern notwendig. Zu 5. Die Platoniker behaupteten, daß die Natur der Seelen in sich vollständig sei und daß sie eine akzidentelle Einheit mit einem Körper eingehe. Daher nahmen sie auch eine Wanderung der Seelen von Körper zu Körper an. Zu dieser Annahme kamen sie aufgrund der Ansicht, daß die menschlichen Seelen unsterblich seien und daß die Fortpflanzung niemals aufhören werde. Um aber eine unendliche Anzahl von Seelen zu vermeiden, nahmen sie einen Kreislauf an, so daß eine Seele nach erfolgtem Austritt aus einem Körper sich ein weiteres Mal mit einem Körper vereinige. Auf der Grundlage dieser 202 Augustinus, De Gen. ad litt. X, 10 (CSEL 28/1, 306 f.); X, 21, 37 (CSEL 28/1, 324 f.).

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Vorstellungen, die irrig sind, stehen die Worte von Macrobius. Daher kann seine Autorität in diesem Punkt nicht anerkannt werden. Zu 6. Aristoteles behauptet nicht, daß die Seele die Wirkursache des Körpers sei, sondern vielmehr, daß sie eine Ursache ist, die für die Bewegung eines Körpers verantwortlich ist, insofern nach Aristoteles’ eigener Erklärung die Seele das Prinzip für die Ortsbewegung eines Körpers sowie für sein Wachstum und dergleichen darstellt.203 Zu 7. Das hier angeführte Zeugnis ist so zu verstehen, daß die Regungen des Gemütes und der Begierde in der Seele dem Wesen nach und nicht im zeitlichen Sinne früher auftreten, als ihre Vereinigung mit einem Körper geschieht. Denn solche Regungen verdankt die Seele nicht dem Körper, sondern eher der Körper der Seele. Zu 8. Zeitlich meßbar ist eine Seele während ihres Seins, das sie in ihrer Verbindung mit einem Körper hat. Als eine geistige Substanz betrachtet bemißt sie sich gleichwohl nach der Weltzeit. Trotzdem braucht es nicht so zu sein, daß der Beginn der Seele innerhalb der Weltzeit derselbe wie bei den Engeln ist. Zu 9. Zwar trägt die Weltzeit kein Früher und Später an das heran, was sich nach ihr bemißt. Gleichwohl spricht nichts dagegen, daß ein Ding eher als das andere innerhalb der Weltzeit auftritt. Zu 10. Ein Engel und eine Seele sind zwar beide von geistiger Natur. Sie unterscheiden sich aber darin, daß der Engel eine Wesensform darstellt, die in sich vollständig ist, weshalb er auch als solcher erschaffen werden konnte. Dagegen vervollständigt sich die Seele in ihrer Wesensform dadurch, daß sie eine Einheit mit einem Körper eingeht. Deshalb konnte sie nicht im Himmel, sondern mußte in dem Körper, den die Seele vervollständigt, erschaffen werden. Zu 11. Zwar ist die Seele, an sich betrachtet, einfacher als jeder Körper. Doch aber stellt sie die Form und die Vervollkommnung eines Körpers dar, welcher aus den Elementen zusammengesetzt ist und dessen Platz ungefähr in der Mitte angesiedelt ist. Deshalb muß die Seele zugleich mit diesem Körper hier unten erschaffen werden. Zu 12. Die erste Vervollkommnung einer Seele besteht in ihrem natürlichen Sein. Diese Vervollkommnung liegt nun in ihrer Ver203 Aristoteles, De an. II, 4; 415 b 21–28.

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einigung mit einem Körper. Deshalb muß sie zunächst an einem Ort erschaffen werden, den ein Körper einnimmt. Hingegen besteht die letzte Vervollkommnung der Seele darin, daß sie in die Gemeinschaft der anderen geisthaften Substanzen tritt. Diese Vervollkommnung wird ihr im Himmel zuteil werden. Zu 13. Diejenigen Seelen, die zum jetzigen Zeitpunkt erschaffen werden, sind zwar als Einzelwesen neue Geschöpfe, jedoch in Hinblick auf ihre artspezifische Bestimmung haben sie eine lange Vergangenheit. Denn beim Sechstagewerk waren sie bereits in demjenigen vorhanden, dem sie in ihrer artspezifischen Bestimmung gleichen: in den Seelen ihrer ersten Vorfahren. Zu 14. Das Werk der Schöpfung, mit dem die natürlichen Prinzipien eingesetzt werden, geht notwendig dem Werk der Fortzeugung voran. Die Erschaffung der Seelen stellt jedoch kein solches Werk dar. Zu 15. Zur Gerechtigkeit gehört die Zuteilung von etwas je nach Gebühr. Daher ist die Vergabe von Ungleichwertigem an gleichwertige Empfänger dann ungerecht, wenn sie je nach Gebühr erfolgen soll, nicht aber, wenn sie als ein Geschenk kommt, und letzteres ist bei der Erschaffung der Seelen der Fall. – Oder aber es läßt sich so argumentieren: Die besagte Verschiedenheit liegt nicht daran, daß die Seelen unterschiedlich belohnt würden, sondern an der unterschiedlichen Anlage der Körper. Deswegen sagte auch Platon, Gott würde die Seelen in die Körper eingehen lassen, wie es für die Materie angemessen ist.204 Zu 16. Für ihre anfängliche Entstehung braucht die Seele den Körper, damit sie auch von Anfang an in ihrer vollständigen Wesenform Bestand haben kann. Für ihr Ziel jedoch braucht die Seele den Körper nicht, da ihr im Körper das Sein einer Substanz verliehen ist. Daher verbleibt sie auch nach der Vergängnis des Körpers in ihrem Sein, wenn auch nicht in ihrer vollständigen Wesensform, die sie während ihrer Vereinigung mit einem Körper besitzt. Zu 17. Wie der hier angeführten Bibelstelle selbst zu entnehmen ist, ist es nicht die Wesensform des Körpers, die die Seele lähmt, sondern vielmehr dessen Hinfälligkeit. 204 Platon, Leg. X; 903 D.

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11. Artik el Die 11. Frage lautet: Verdanken sich der sensitive und der vegetabilische Seelenteil einem Schöpfungsakt oder werden sie mit dem Samen übertagen? 205 Allem Anschein nach verdanken sie sich einem Schöpfungsakt; denn: 1. Dinge desselben Typs gelangen auf dieselbe Weise ins Sein. Nun sind die sensitive und die vegetabilische Seele beim Menschen, beim Tier und bei der Pflanze von derselben Art bzw. desselben Typs. Beim Menschen verdanken sie sich aber einem Schöpfungsakt, insofern sie, wie bereits besprochen,206 dieselbe Substanz wie die vernunftbegabte Seele haben. Folglich verdanken sich die sensitive und die vegetabilische Seele auch beim Tier und bei der Pflanze einem Schöpfungsakt. 2. Nun wird man einwenden: Beim Tier und bei der Pflanze stellen die sensitive und die vegetabilische Seele eine vollständige Form dar, beim Menschen hingegen eine Vorform. – Dem ist zu erwidern: Je vortrefflicher etwas ist, desto vortrefflicher ist die Weise, auf die es ins Sein gelangt. Nun ist es vortrefflicher, wenn etwas eine vollkommene Form darstellt, als wenn es eine Vorstufe bildet. Beim Menschen aber kommen die sensitive und die vegetabilische Seele, wo sie eine Vorstufe bilden, durch einen Schöpfungsakt ins Sein, also auf die erhabenste Weise, in der man ins Sein gelangt – so gelangen ja auch die erhabensten Geschöpfe ins Sein. Daher sind erst recht die sensitive und die vegetabilische Seele bei der Pflanze und beim Tier durch einen Schöpfungsakt hervorgebracht. 3. Bei Aristoteles heißt es: Das, was im vollen Sinne ist, d. h. also die Substanz, ist kein Akzidens von etwas.207 Wenn also die sensitive und die vegetabilische Seele beim Tier und bei der Pflanze eine substantiale Form darstellen, dann können sie auch beim Menschen keine akzidentelle Vorstufe bilden. 4. Im Reich des Lebendigen bringt die Kraft des Erzeugers etwas 205 Paralleltexte: Sum. theol. I, q. 118 a. 1. ScG II, 86. Sent. II, d. 18 q. 2 a. 3. Quodl. IX, q. 5 a. 1. 206 Vgl. De pot. q. 3 a. 9. 207 Aristoteles, Phys. I, 3; 186 b 4–5.

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ins Sein, und zwar durch die Kraft, die in seinem Samen liegt. In diesem Samen liegen nun die sensitive und die vegetabilische Seele nicht der Wirklichkeit nach. Insofern nun etwas nur wirksam ist, insofern es in der Wirklichkeit ist, so können aus der Kraft des Samens die sensitive und die vegetabilische Seele offensichtlich nicht hervorgehen. Somit verdanken sie sich nicht einem Akt der Fortpflanzung, sondern einem Schöpfungsakt. 5. Nun wird man einwenden: Die Kraft, die im Samen liegt, ist zwar nicht der Wirklichkeit nach mit der sensitiven Seele identisch, doch aber ist sie wirksam kraft der sensitiven Seele des Vaters, der den Samen absondert. – Dem ist zu erwidern: Was kraft eines anderen wirksam ist, ist diesem als ein Hilfsmittel dienlich. Ein Hilfsmittel versetzt aber nur dann etwas in Bewegung, wenn es seinerseits in Bewegung versetzt ist. Wie nun im 7. Buch der Physik gezeigt wird, muß das, was in Bewegung versetzt, und das, was in Bewegung versetzt wird, gleichzeitig auftreten.208 Weil also die Samenkraft nicht an die sensitive Seele des Erzeugers gebunden ist, so kann diese Kraft offensichtlich weder als ein Hilfsmittel noch kraft der sensitiven Seele ihre Wirksamkeit entfalten. 6. Ein dienliches Mittel verhält sich zu dem tätigen Wesen, das sich dieses Mittels bedient, wie eine Kraft, deren Bewegung ausgelöst und gelenkt wird, zu der Kraft, die diese Bewegung auslöst und lenkt. Diese letztere Kraft stellt dabei die antreibende und bewegende Instanz dar. Nun versetzt diejenige Kraft, deren Bewegung ausgelöst und gelenkt wird, nichts in Bewegung, wenn sie keinen Kontakt mehr zu der auslösenden und lenkenden Kraft hat. Dies ist etwa ersichtlich bei den abgetrennten Gliedern eines Lebewesens. Folglich kann die Kraft, die im Samen als einem Absonderungsprodukt liegt, ihre Wirksamkeit auch nicht kraft des Zeugenden entfalten. 7. Sobald etwas, das bewirkt wird, hinter der Vollkommenheit seiner Ursache zurück bleibt, kann es nicht die Wirksamkeit erreichen, die für seine Ursache charakteristisch ist. Ein Unterschied in der Wirksamkeit ist ja ein Zeichen für einen Unterschied der Wesensformen. Selbst wenn die Kraft, die im Samen liegt, durch die sensitive Seele des Erzeugers bewirkt wird, so bleibt sie doch un208 Aristoteles, Phys. VII, 2; 243 a 3 ff.

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leugbar hinter der Vollkommenheit von dieser zurück. Folglich kann die Samenkraft nicht diejenige Wirksamkeit entfalten, die eigentlich für die sensitive Seele charakteristisch sein müßte: die Hervorbringung einer artgleichen Seele. 8. Eine Form und eine Kraft verschwinden, sobald ihr Träger hinschwindet. Nun zersetzt sich, wie Avicenna sagt, das Sperma im Verlauf der Entstehung eines Menschen und nimmt eine andere Form an.209 Demnach erlischt auch jene Kraft, die zunächst im Samen liegt. Folglich kann durch diese Kraft die sensitive Seele nicht ins Sein gebracht werden. 9. Die niedere Natur entfaltet ihre Wirksamkeit nur mit Hilfe der Wärme und von anderen aktiven und passiven Qualitäten. Nun kann die Wärme die sensitive Seele nicht ins Sein bringen. Denn kein Ding ist über die Grenzen seiner artspezifischen Natur hinaus wirksam. Zudem kann das Hervorgebrachte dem Hervorbringenden nicht den Rang ablaufen. Folglich kann die sensitive bzw. die vegetabilische Seele nicht durch ein natürlich wirksames Wesen ins Sein gebracht werden. Folglich verdankt sich die sensitive bzw. die vegetabilische Seele einem Schöpfungsakt. 10. Ein natürlich wirksames Wesen bewirkt nicht die Verleihung einer Form, sondern eine Veränderung der Materie. Nun resultiert aus einer Veränderung der Materie allenfalls eine akzidentelle Form. Ein natürlich wirksames Wesen kann also die sensitive und die vegetabilische Seele nicht hervorbringen, da diese ja substantiale Formen sind. 11. Die sensitive und die vegetabilische Seele besitzen eine bestimmte Washeit, die von etwas Anderem hervorgebracht wird. Vor ihrer Entstehung konnte diese Washeit jedoch nur in dem Sinne schon bestehen, daß die Materie in der Lage ist, solch eine Washeit aufweisen zu können. Hervorgebracht werden konnten die sensitive und die vegetabilische Seele demnach nur von einem tätigen Wesen, das seine Wirksamkeit nicht im Ausgang von einer Materie entfaltet, und so etwas kann allein Gott in einem Schöpfungsakt. 12. Lebewesen, welche aus einem Samen entstehen, haben einen höheren Rang als Lebewesen, die durch Fäulnis entstehen, denn sie 209 Vgl. Avicenna, De anima V, 7 (Avicenna latinus 1, ed. Van Riet, 172).

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sind vollkommener und in der Lage, etwas ihnen Gleiches zu erzeugen. Nun verdanken sich die Seelen bei denjenigen Lebewesen, die durch Fäulnis entstehen, einem Schöpfungsakt. Denn es läßt sich ja bei ihnen kein tätiges Wesen angeben, das ihnen in der Spezies gliche und von dem sie ins Sein gebracht worden wären. Offenbar verdanken sich daher die Seelen derjenigen Lebewesen, die aus einem Samen entstehen, erst recht einem Schöpfungsakt. 13. Nun wird man einwenden: Bei denjenigen Lebewesen, die durch Fäulnis entstehen, wird die sensitive Seele durch die Kraft eines Himmelskörpers hervorgebracht, genauso wie sie bei den anderen Lebewesen durch die formgebende Kraft des Samens hervorgebracht wird. – Dem ist zu erwidern: Nach Augustinus nimmt eine lebendige Substanz einen höheren Rang ein als jedwede Substanz, die nicht lebendig ist.210 Nun stellt ein Himmelskörper keine lebendige Substanz dar, da er ja nicht beseelt ist. Folglich kann seine Kraft keine sensitive Seele, welche die grundlegende Bedingung für das Leben ist, hervorbringen. 14. Nun wird man einwenden: Ein Himmelskörper kann die Ursache für eine sensitive Seele abgeben, insofern er kraft einer geistigen Substanz, welche wiederum ihn in Bewegung versetzt, wirksam ist. – Dem ist zu erwidern: Das Empfangene tritt in seinem Empfänger in der Weise auf, wie es für den Empfänger, und nicht wie es für das Empfangene charakteristisch ist. Wenn also ein Himmelskörper, der ja nicht lebendig ist, die Kraft einer geistigen Substanz empfängt, dann wird sie in diesem Himmelskörper nicht als eine belebende Kraft auftreten, welche die Grundlage für das Leben zu sein vermag. 15. Eine geistige Substanz ist nicht nur lebendig, sondern denkt auch. Angenommen also, dank ihrer Kraft könnte ein Himmelskörper, der von ihr in Bewegung versetzt wird, etwas lebendig machen, dann müßte er ebensogut den Geist verleihen können. Folglich würde sich die vernunftbegabte Seele der Fortpflanzung verdanken; und das ist falsch. 16. Angenommen, die sensitive Seele verdankt sich einem natürlich wirksamen Wesen und keinem Schöpfungsakt, dann wird sie 210 Augustinus, De vera religione LV, 109 (CCSL 32, 257).

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entweder von einem Körper oder von einer Seele hervorgebracht. Von einem Körper kann sie aber nicht hervorgebracht sein, denn sonst müßte dieser Körper über die Grenzen seiner spezifischen Wesensform hinaus wirksam sein. Ebensowenig kann die sensitive Seele von einer Seele hervorgebracht sein. Denn dann müßte entweder die gesamte Seele des Vaters auf sein Kind übergehen und damit der Vater ohne Seele zurückbleiben. Oder aber ein Teil der Seele müßte vom Vater auf das Kind übergehen. Dann aber verbliebe im Vater nicht die gesamte Seele. Beide Schlußfolgerungen sind aber falsch. Demnach verdankt sich die sensitive Seele keiner Fortpflanzung, sondern einem Schöpfungsakt. 17. Nach Averroes verdankt sich die Kraft zur Wahrnehmung nicht einem Wirken der Elementenmischung.211 Nun stellt die sensitive Seele die Kraft zur Wahrnehmung dar. Demnach verdankt sie sich unmöglich einem Wirken der Elemente, also keinem natürlichen Wirken. Denn kein natürliches Wirken bei den niederen Dingen geht ohne das Wirken der Elemente vor sich. 18. Keine Form kann eine Bewegung auslösen, wenn sie nicht für sich besteht. Daher lösen nach Aristoteles die Formen der Elemente keine Bewegung aus, wohl aber tun dies dasjenige, was für eine Entstehung verantwortlich ist, und dasjenige, was ein Hindernis für eine natürliche Bewegung beseitigt.212 Die sensitive Seele aber löst eine Bewegung aus, da ja ein jedes Lebewesen von seiner Seele in Bewegung versetzt wird. Demnach stellt die sensitive Seele nicht bloß eine Form dar, sondern eine Substanz, die für sich selbst besteht. Bekanntermaßen ist sie auch nicht aus Form und Materie zusammengesetzt. Ins Sein gelangt jedoch eine jede derartige Substanz nicht anders als durch einen Schöpfungsakt. Folglich gelangt die sensitive Seele durch einen Schöpfungsakt ins Sein. 19. Nun wird man einwenden: Nicht die sensitive Seele als solche bewegt einen Körper, vielmehr bewegt der beseelte Körper sich selbst. – Dem ist zu erwidern: Aristoteles zeigt auf, daß es bei allem, was sich selbst bewegt, einen Teil geben muß, der ausschließlich die 211 Averroes, In III De anima com. 6 (Aristotelis opera cum Averrois commentariis, Suppl. II, 153 v F–154 r A). 212 Aristoteles, Phys. VIII, 4; 255 b 34 ff.

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Bewegung auslöst, und einen anderen Teil, der in Bewegung versetzt wird.213 Nun kann ein Körper nicht dasjenige sein, was ausschließlich eine Bewegung auslöst, denn ein Körper löst nur dann eine Bewegung aus, wenn er seinerseits in Bewegung versetzt wird. Folglich muß die Seele dasjenige sein, was ausschließlich eine Bewegung auslöst. Demnach besitzt die sensitive Seele eine Wirksamkeit, an der der Körper nicht beteiligt ist. Folglich stellt die sensitive Seele eine Substanz dar, die für sich besteht. 20. Dagegen wird man einwenden: Die sensitive Seele löst eine Bewegung aus, wenn das Begehrungsvermögen sie dazu treibt, und an diesem sind sowohl die Seele als auch der Körper beteiligt. – Dem ist zu erwidern: In einem Lebewesen erfolgt eine Bewegung nicht nur durch die Kraft, die diese Bewegung auslöst, sondern auch durch eine Kraft, die diese Bewegung durchführt. Am Wirken dieser Kraft können aus den eben erwähnten Gründen unmöglich sowohl die Seele als auch der Körper beteiligt sein. Daher muß die sensitive Seele eine Wirksamkeit aufweisen, die nur für sie gilt. Folglich stellt sie eine Substanz dar, die für sich besteht. Somit gelangt sie durch einen Schöpfungsakt ins Sein und nicht über eine natürliche Fortpflanzung. Dagegen spricht: 1. In Gen. 1, 20 heißt es: »Die Wasser sollen Kriechtiere lebendigen Wesens hervorbringen.« Demnach verdanken sich die sensitiven Seelen der Kriechtiere und der anderen Lebewesen offensichtlich dem Wirken der körperhaften Elemente. 2. Der Körper eines Vaters und dessen Seele stehen im gleichen Verhältnis zueinander wie der Körper seines Kindes und dessen Seele. Entsprechend gilt also: Der Körper eines Vaters und der Körper seines Kindes stehen im gleichen Verhältnis zueinander wie die Seele des Vaters zu derjenigen seines Kindes. Nun stammt der Körper des Kindes vom Körper seines Vaters. Demnach stammt auch die Seele des Kindes von der Seele seines Vaters.

213 Aristoteles, Phys. VIII, 5; 257 a 33 ff.

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Antwort: Bei der Frage nach der Hervorbringung der substantialen Formen gehen die Ansichten der Philosophen auseinander. Manche behaupteten nämlich, daß ein natürlich wirksames Wesen die Materie für den Empfang einer Form zurüste, die Form aber, die ja die abschließende Vervollkommnung darstelle, von übernatürlichen Prinzipien herrühre. Daß diese Ansicht falsch ist, kann vornehmlich mit zwei Gründen gezeigt werden. Erstens: Da das Sein der natürlichen und körperhaften Formen nur in ihrer Vereinigung mit der Materie besteht, so ist es offensichtlich ein und dasselbe wirksame Wesen, das diese Formen hervorbringen und die Materie verändern kann. Zweitens: Da derartige Formen nicht die Kraft, den Stellenwert und das Vermögen von natürlich wirksamen Prinzipien übersteigen, so besteht offensichtlich keine Notwendigkeit, daß man den Ursprung dieser Formen auf höhere Prinzipien zurückführt. Deshalb sagt Aristoteles, daß das Fleisch und die Knochen durch diejenige Form hervorgebracht werden, die in einem bestimmten Fleisch und in einem bestimmten Knochen liegt.214 Nach seiner Ansicht – und im Gegensatz zu der obigen Meinung – rüstet das natürlich Wirksame nicht nur die Materie für den Empfang einer Form zu, sondern es bringt auch eine Form in die Wirklichkeit. Von dieser allgemeinen Bestimmung der Formen muß man die vernunftbegabte Seele ausnehmen. Denn sie ist eine Substanz, die für sich selbst besteht. Daher besteht ihr Sein nicht ausschließlich in einer Vereinigung mit der Materie, andernfalls könnte sie ja nicht unabhängig davon bestehen. Daß dies sehr wohl möglich ist, zeigt auch ihre Wirksamkeit, die die Seele von sich selbst aus und körperunabhängig vollzieht. Zudem kann die Weise ihrer Wirksamkeit nicht anders sein als die Weise ihres Seins. Denn was nicht für sich selbst besteht, das kann auch nicht von sich aus wirksam sein. – Darüber hinaus übertrifft die geisthafte Natur den Stellenwert und das Vermögen der materie- und körperhaften Prinzipien insgesamt. Denn der Intellekt vermag bei seiner Denktätigkeit die gesamte körperhafte Natur hinter sich zu lassen. Dies wäre nicht der Fall, wenn

214 Aristoteles, Met. VII, 8; 1034 a 4–6.

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die Natur des Intellekts an die Grenzen der körperhaften Natur gebunden bliebe. Nichts von dem Gesagten kann aber für die sensitive und die vegetabilische Seele geltend gemacht werden. Das Sein dieser Seelen kann nur in einer Vereinigung mit einem Körper bestehen. Das zeigt ihr Wirken, das ja ohne ein körperliches Organ nicht auskommen kann. Daher haben sie auch kein schlichtweg körperunabhängiges Sein. Aus diesem Grund können sie nicht unabhängig von einem Körper bestehen und auch nur dann ins Sein gelangen, wenn ein Körper ins Sein gelangt. Ebenso wie ein Körper werden daher auch die besagten Seelen durch das natürliche Wirken eines Erzeugers hervorgebracht. Die Behauptung jedoch, diese Seelen würden jeweils durch einen Schöpfungsakt hervorgebracht, fußt offensichtlich auf der Ansicht derer, die behaupteten, diese Seelen würden ihre Körper überleben. Diese Behauptungen sind jedoch beide im Buch Über die Lehren der Kirche verdammt worden.215 Des weiteren übertreffen diese besagten Seelen nicht den Stellenwert von natürlichen Prinzipien. Das zeigt sich, wenn man ihre Wirksamkeit ins Auge faßt, denn nach dem Stellenwert einer Wesensform bemißt sich auch der Stellenwert ihrer Wirksamkeit. Nun finden sich bestimmte Formen, deren Reichweite nicht über das hinausgeht, was durch materiale Prinzipien entstehen kann: also etwa die elementarischen Formen und die Formen von gemischten Körpern, deren Wirksamkeit von Wärme und Kälte abhängig ist. Daher sind diese Formen vollständig an die Materie gebunden. Nun entfaltet zwar die vegetabilische Seele ausschließlich mit Hilfe der eben erwähnten Qualitäten216 ihre Wirksamkeit. Doch aber erwirkt sie etwas, was jene Qualitäten nicht erreichen: den Aufbau von Fleisch und Knochen, die Festlegung der Wachstumsgrenzen usw. Aus diesem Grund behält die vegetabilische Seele immer noch den Stellenwert eines materialen Prinzips, allerdings nicht in dem Maße wie jene Qualitäten.

215 Gennadius Massiliensis, De ecclesiasticis dogmatibus XVII (PL 42, col. 1216). 216 Gemeint sind Wärme und Kälte.

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Die sensitive Seele hingegen entfaltet ihre Wirksamkeit nicht notwendig mit Hilfe von Wärme und Kälte. Dies zeigt sich etwa bei der Beanspruchung des Sehsinnes, der sinnlichen Vorstellung usw. Gleichwohl ist für die Ausführung solcher Tätigkeiten ein bestimmtes Maß an Wärme und Kälte vonnöten, damit diejenigen Organe erhalten bleiben, ohne die die erwähnten Tätigkeiten nicht durchgeführt werden können. Daher läßt die sensitive Seele nicht vollständig den Stellenwert eines materialen Prinzips hinter sich, obgleich sie keinen so niedrigen Stellenwert hat wie die vorhin erwähnten Formen. Die vernunftbegabte Seele jedoch entfaltet eine Wirksamkeit, die von Wärme und Kälte unberührt bleibt. Denn diese Wirksamkeit entfaltet sie nicht mit Hilfe von Wärme und Kälte, auch nicht mit Hilfe eines körperlichen Organs. Daher läßt einzig die vernunftbegabte Seele den Stellenwert eines natürlichen Prinzips hinter sich, die sensitive Seele eines Tieres und die vegetabilische Seele einer Pflanze tun dies aber nicht. Zu 1. Zwar gehört die sensitive Seele des Menschen und des Tieres derselben Gattung an, nicht aber derselben Spezies. So gehören ja auch Mensch und Tier als Lebewesen nicht derselben Spezies an. Daher ist auch die Wirksamkeit der sensitiven Seele beim Menschen weitaus erhabener als beim Tier, wie am Tastsinn und an den Sinnesvermögen im Körperinneren ersichtlich ist. Ebensowenig muß das, was zur selben Gattung, aber nicht zur selben Spezies gehört, auf dieselbe Weise ins Sein gelangen. Dies zeigt sich etwa anhand der Lebewesen, die aus dem Samen entstehen, und denen, die durch Fäulnis entstehen. Sie kommen zwar in der Gattung überein, in der Spezies aber unterscheiden sie sich. Zu 2. Eine Vorstufe bildet die sensitive Seele beim Menschen nicht deswegen, weil sie in der Substanz von der vernunftbegabten Seele unterschieden wäre und nur eine Vorstufe zu dieser bilden würde, sondern weil sich beim Menschen das Sinnliche und das Geistige nur wie zwei Vermögen voneinander unterscheiden. Die sensitive Seele des Tieres unterscheidet sich hingegen von der menschlichen vernunftbegabten Seele wie eine substantiale Form von der anderen. Gleichwohl entspringen das sensitive und das vegetabili-

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sche Vermögen des Menschen ebenso wie beim Tier und der Pflanze dem Wesen ihrer Seele. Der Unterschied liegt aber darin, daß bei der Pflanze nur vegetabilische Kräfte dem Wesen ihrer Seele entspringen, weshalb diese Seele von jenen Kräften ihren Namen hat. Beim Tier hingegen entspringen nicht nur vegetabilische Kräfte dem Wesen seiner Seele, sondern auch sensitive Kräfte, von denen die Seele des Tieres ihren Namen hat. Beim Menschen wiederum entspringen außer den genannten Kräften noch die geistigen Kräfte dem Wesen seiner Seele, nach denen seine Seele benannt ist. Zu 3. Die Substanz, der das Vermögen zur sinnlichen Wahrnehmung entspringt, ist sowohl beim Tier als auch beim Menschen eine substantiale Form. Das Vermögen ist dagegen in beiden Fällen ein Akzidens. Zu 4. Der Wirklichkeit nach liegt die sensitive Seele nicht mit der für sie charakteristischen Form im Samen; vielmehr liegt sie im Samen, insofern er die treibende Kraft ist. So liegt ja etwa auch ein Gebäude insofern der Wirklichkeit nach im Geist des Baumeisters, als er die treibende Kraft ist; und genauso liegen die körperhaften Formen in der Kraft der Himmelskörper. Zu 5. Ein Werkzeug wird so lange durch seinen Benutzer in Bewegung gehalten, wie die Kraft anhält, die der Benutzer auf es übertragen hat. Daher wird ein Pfeil so lange durch den Schützen in Bewegung gehalten, wie die Kraft, mit der der Schütze den Pfeil abgeschossen hat, anhält. Genauso wird im Falle von schweren und leichtgewichtigen Dingen das Erzeugte durch seinen Erzeuger so lange in Bewegung erhalten, wie sich die Form erhält, die das Erzeugte von seinen Erzeuger erhalten hat. Daher wird auch der Same so lange durch die Seele des Erzeugers in Bewegung gehalten, als die Kraft, die dessen Seele im Samen hinterlassen hat, bestehen bleibt, auch wenn der Same kein Körperglied des Erzeugers darstellt. Im übrigen müssen das Bewegende und das Bewegte zu Beginn der Bewegung miteinander gleichzeitig auftreten, nicht aber während der gesamten Bewegung, wie sich etwa an Wurfgegenständen zeigt. Zu 6. Das Begehrungsvermögen der Seele hat dann nur über einen Körper Verfügungsgewalt, wenn dieser eine Ganzheit bildet. Daher fügt sich ein abgetrennter Körperteil einem seelischen Verlangen nicht. Den Samen hingegen setzt die Seele des Erzeugers

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nicht dadurch in Bewegung, daß sie Verfügungsgewalt über ihn hat, sondern indem sie ihm eine bestimme Kraft übermittelt, die im Samen auch nach seiner Ausscheidung bestehen bleibt. Zu 7. Die sensitive und die vegetabilische Seele werden aus einer Möglichkeit der Materie zum Vorschein gebracht, genauso wie dies bei den anderen, an die Materie gebundenen Formen der Fall ist, zu deren Hervorbringung eine Kraft vonnöten ist, die verändernd auf die Materie einwirkt. Zwar geht der Kraft, die im Samen liegt, die anderen Wirksamkeiten der Seele ab, diese Wirksamkeit217 besitzt sie aber. Denn wie die Seele die Materie dahingehend verändert, daß diese sich während der Tätigkeit des Wachstums zu einem vollständigen Körper entwickelt, so verändert die Samenkraft die Materie dahingehend, daß es zu einer Empfängnis kommt. Daher spricht hier nichts dagegen, daß die Samenkraft dank der sensitiven Seele zu deren Wirksamkeit beiträgt. Zu 8. Die eben erwähnte Samenkraft verdankt sich dem Lebensgeist, den der Same als Träger in sich beschließt. Nach Avicenna ist nun der Same fast vollständig mit dem Lebensgeist gleichzusetzen. Daher wird zwar die körperhafte Materie, aus der sich die Leibesfrucht bildet, viele Male während des Entstehungsprozesses umgebildet, der Träger jener Samenkraft wird aber nicht zerstört. Zu 9. Wie die Wärme der substantialen Form des Feuers als ein Mittel dienlich ist, so kann es sehr wohl sein, daß sie als Hilfsmittel dazu beiträgt, daß die sensitive Seele in die Wirklichkeit gelangt. Es kann aber nicht sein, daß die Wärme dies aus eigener Kraft könnte. Zu 10. Die Materie unterliegt nicht nur einer akzidentellen, sondern auch einer substantialen Umformung. Diese beiden Arten einer Form sind nämlich in der Möglichkeit der Materie schon vorhanden. Aus diesem Grund stellt ein natürlich wirksames Wesen, das verändernd auf die Materie einwirkt, nicht nur die Ursache für eine akzidentelle, sondern auch für eine substantiale Form dar. Zu 11. Insofern die sensitive Seele kein für sich bestehendes Ding ist, stellt sie ebensowenig wie die anderen materialen Formen eine Washeit dar. Vielmehr ist sie Teil einer Washeit, und ihr Sein besteht in ihrem Zusammengehen mit der Materie. Die sensitive Seele her217 D. h. die Wirksamkeit, auf die Materie verändernd einzuwirken.

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vorzubringen, meint deshalb nichts anderes, als die Materie von der Möglichkeit in eine Wirklichkeit überzuführen. Zu 12. Je unvollkommener etwas ist, desto Wenigeres ist für seine Hervorbringung nötig. Wenn daher die durch Fäulnis entstandenen Lebewesen unvollkommener sind als die aus einem Samen entstandenen Lebewesen, so reicht bei den durch Fäulnis entstandenen Lebewesen allein schon die Kraft eines Himmelskörpers für deren Hervorbringung aus. Diese Kraft ist zwar auch im Samen wirksam, ohne die Kraft der Seele reicht sie aber nicht aus für die Hervorbringung von Lebewesen, die aus einem Samen entstehen. Denn die Kraft eines Himmelskörpers verbleibt ja insofern in den niederen Körpern, als ein Himmelskörper im Sinne des ersten Auslösers einer Veränderung auf diese verändernd einwirkt. Aus diesem Grund sagt Aristoteles in seinem Buch Über die Lebewesen, daß alle niederen Körper voller Seelenkräfte sind.218 Auch wenn der Himmel keine Ähnlichkeit in der Spezies mit den durch Fäulnis entstandenen Lebewesen hat, so besteht hier doch eine Ähnlichkeit darin, daß das Bewirkte in seiner wirkenden Ursache der Möglichkeit nach schon zugegen ist. Zu 13. Auch wenn ein Himmelskörper nicht lebendig ist, so ist er doch dank einer lebendigen Substanz wirksam, durch die er bewegt wird: durch einen Engel oder durch Gott. Nach Ansicht der Philosophen ist jedoch ein Himmelskörper beseelt und lebendig. Zu 14. Die Kraft einer geistigen Substanz, die eine Bewegung auslöst,219 liegt in einem Himmelskörper und in dessen Bewegung, allerdings nicht wie eine Form, die der Wirklichkeit nach ein vollständiges Sein hätte, sondern vielmehr in Form einer Zielgerichtetheit, also etwa so, wie die Kraft einer Handwerkskunst im Werkzeug eines Handwerkers liegt. Zu 15. Wie ausgeführt,220 übertrifft die vernunftbegabte Seele den Stellenwert von allen körperhaften Prinzipien. Daher kann ein Körper nicht einmal als ein dienliches Mittel bei ihrer Hervorbringung mitwirken. 218 Aristoteles, De gen an. III, 11; 762 a 21. 219 virtus substantiae spiritualis P : virtus substantiae virtualis M. 220 Vgl. De pot. q. 3 a. 11 c.

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Zu 16. Die sensitive Seele in der Leibesfrucht wird weder durch ein körperliches Wirken noch durch eine Weitergabe der Seele hervorgebracht, sondern, wie gesagt, durch das Wirken der bildenden Kraft, die im Samen liegt und die sich der Seele des Erzeugers verdankt. Zu 17. Hier wird in Abrede gestellt, daß sich die Kraft zur Wahrnehmung dem Wirken der Elemente verdankt, und zwar in dem Sinne, daß die Kräfte der Elemente für die Verursachung der Wahrnehmungskraft nicht so ausreichen wie zur Verursachung von Härte und Weichheit. Es wird hier aber nicht in Abrede gestellt, daß das Wirken der Elemente in irgendeiner Weise als dienendes Mittel zur Hervorbringung der Wahrnehmungskraft beitragen könne. Zu 18. Die sensitive Seele löst über ein Verlangen eine Bewegung aus. Das Auftreten eines sinnlichen Verlangens kommt aber nicht von der Seele allein, sondern aus dem Zusammengesetzten. Daher kann man nicht behaupten, daß die sensitive Seele ihre Wirksamkeit unabhängig vom Körper entfalte. Zu 19. Ein Körper kann eine Bewegung auslösen, ohne daß er selbst diejenige Weise von Bewegung aufweist, die er auslöst. Gleichwohl kann er keine Bewegung auslösen, ohne selbst in irgendeiner Weise bewegt zu sein. So ruft ja ein Himmelskörper eine Veränderung hervor, und zwar nicht dadurch, daß er selbst anders wird, sondern dadurch, daß er der Ortsbewegung unterliegt. Ebenso löst das Organ einer affektiven Regung eine Ortsbewegung aus, und zwar nicht dadurch, daß es einer Ortsbewegung unterliegt, sondern dadurch, daß es auf eine bestimmte Weise anders wird.221 Denn eine affektive Regung geht nicht ohne eine Veränderung des Körpers vonstatten, wie sich etwa an einem Zornesausbruch und an dergleichen Gefühlsregungen zeigt. Zu 20. Die Kraft, die eine Bewegung durchführt, rüstet das Bewegbare eher zu – wodurch dieses sich der Bewegung durch einen Beweger fügt –, als daß sie als solche die Bewegung auslösen würde.

221 movet localiter non motum localiter, sed aliquo modo alteratum L : movet localiter non motum sed aliquo modo alteratum localiter M.

12. Artik el Die 12. Frage lautet: Liegen der sensitive und der vegetabilische Seelenteil im Samen bereits zum Zeitpunkt seiner Abscheidung? 222 Dies scheint der Fall zu sein; denn: 1. Gregor von Nyssa sagt: »Man kann nicht anders, als die Behauptung der beiden Ansichten zu verwerfen: sowohl die Ansicht derer, die sich ausmalen, die Seelen würden zunächst eigenständig und in ihrer eigenen Ordnung leben, als auch die Ansicht derer, die glauben, die Seelen seien erst nach den Körpern erschaffen worden.«223 Angenommen also, die Seele läge nicht von vornherein im Samen, dann müßte sie später als der Körper entstanden sein. Folglich muß die Seele von vornherein im Samen liegen. 2. Angenommen, auch die sensitive Seele läge wie die vernunftbegabte Seele nicht von vornherein im Samen, dann müßte für die sensitive Seele das Gleiche gelten wie für die vernunftbegabte Seele. Nun verdankt sich die vernunftbegabte Seele einem Schöpfungsakt. Also würde sich auch die sensitive Seele einem Schöpfungsakt verdanken – das Gegenteil davon hat sich aber vorhin erwiesen. 3. Im 16. Buch von Über die Lebewesen sagt Aristoteles, daß die Kraft, die im Samen liegt, wie ein Sohn ist, der das Haus seines Vaters verläßt.224 Nun ist der Sohn von derselben Art wie sein Vater. Folglich ist auch diejenige Kraft, die im Samen liegt, von derselben Art wie die sensitive Seele, von der diese Kraft ausgeht. 4. Im 16. Buch von Über die Lebewesen sagt Aristoteles, daß jene Samenkraft einer Handwerkskunst vergleichbar ist, die, wenn sie in der Materie vorkäme, auf die Vervollkommnung ihres Erzeugnisses hinwirken würde.225 Nun verdankt sich aber die Gestalt eines handwerklichen Erzeugnisses einer Handwerkskunst. Folglich liegt die Spezies der sensitiven Seele, die durch den Samen hervorgebracht wird, in jener Samenkraft. 5. Die Abscheidung des Samens ist ein natürlicher Vorgang, die 222 223 224 225

Paralleltexte: Sum. theol. I, q. 118 a. 1 ad 3–4. Sent. II, d. 18 q. 2 a. 1. Gregor von Nyssa, De creatione hominis 29 (PL 67, col. 396). Aristoteles, De gen. an. II, 4; 740 a 5 ff. Aristoteles, De gen. an. III, 11; 762 a 21.

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Zerschneidung eines Insektes hingegen nicht.226 Nun sind aber die Teile eines Insektes auch nach seiner Zerschneidung beseelt, wie Aristoteles anmerkt.227 Folglich gilt dies erst recht für den Samen nach seiner Abscheidung. 6. Im 16. Buch von Über die Lebewesen sagt Aristoteles, daß der männliche Part bei der Zeugung eines Lebewesens die Seele beibringt.228 Hierzu trägt aber der männliche Part ausschließlich seinen Samen bei. Demnach liegt die Seele im Samen. 7. Ein Akzidens wird nur übertragen, wenn auch sein Träger auf etwas übergeht. Nun vererben sich bestimmte Krankheiten von den Eltern auf ihre Kinder, so z. B. Aussatz, Gicht und dergleichen. Also wird auch deren Träger übertragen. Diese Krankheiten können jedoch nicht ohne die Seele Bestand haben. Demnach liegt die Seele von vornherein im Samen. 8. Hippokrates sagt, daß nach der Durchtrennung derjenigen Gefäße, die an den Ohren vorbeiführen, keine Zeugung mehr möglich ist.229 Dies könnte aber nicht so sein, es sei denn, der Same sondert sich als etwas, das schon vorher der Wirklichkeit nach da ist,230 aus allen Körperbereichen ab. Sofern also nun das, was der Wirklichkeit nach Bestandteil eines Lebewesens ist, beseelt ist, so ist offensichtlich der Same von vornherein beseelt. 9. Derselbe Hioppokrates erwähnt ein Pferd, das infolge seiner übermäßigen sexuellen Aktivität kein Gehirn mehr gehabt habe. Dies könnte aber nicht der Fall sein, wenn der Same sich nicht aus dem abscheiden würde, was der Wirklichkeit nach Bestandteil eines Körpers ist. Demnach gilt das Gleiche wie vorhin. 10. Was überflüssig ist, gehört nicht zur Substanz eines Dinges. Gesetzt also, der Same wäre überflüssig, dann würde er nicht zur Substanz des Erzeugers gehören. Damit würde der Sohn, der aus dem Samen hervorgeht, nicht aus der Substanz seines Vaters stam226 Die Vergleichbarkeit dieser beiden Arten von Sonderung (decisio) beruht auf der Vorstellung, daß der Same, noch vor seiner Ausscheidung aus dem Körper, innerhalb des Köperganzen abgeschieden wird. 227 Aristoteles, De an. II, 2; 413 b 16 ff. 228 Aristoteles, De gen. an. II, 4; 738 b 25 ff. 229 Hippocrates, De aere, aquis, locis 22 (ed. É. Littré II, 78). 230 quasi actu per prius existens L : quasi actio per prius existens M.

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men. So etwas ist aber unsinnig. Also gehört der Same zur Substanz des Erzeugers, und damit liegt die Seele der Wirklichkeit nach im Samen. 11. All das, was keine Seele hat, ist unbeseelt. Angenommen also, der Same wäre ohne Seele, dann wäre er unbeseelt. Somit müßte ein unbeseelter Körper eine Veränderung erfahren und dabei eine Seele erhalten. So etwas ist aber unsinnig. Folglich liegt die Seele von vornherein im Samen. Dagegen spricht: 1. Aristoteles sagt, daß der Same und die Frucht in dem Sinne potentiell beseelt sind, daß ihnen eine Seele noch abgeht.231 2. Wenn der Same von vornherein beseelt sein soll, dann ist dies offenbar nur auf zweierlei Weise möglich: Entweder geht die gesamte Seele des Erzeugers in den Samen ein oder aber ein Teil von ihr. Beides stimmt jedoch offensichtlich nicht. Denn aus der ersten Möglichkeit folgt, daß die Seele nicht im Vater verbleibt, und aus der zweiten Möglichkeit folgt, daß sie dort nicht als ganze verbleibt. Folglich liegt die Seele nicht von vornherein im Samen. Antwort: Einige Leute waren der Ansicht, daß die Seele im Samen zum Zeitpunkt seiner Abscheidung liege, weil sie meinten, bei der Abscheidung der Samenflüssigkeit im Körper würde sich gleichzeitig dessen Seele in einer weiteren Seele fortpflanzen, so daß mit dem kleinsten Teil von Samenflüssigkeit sogleich auch eine Seele vorhanden sei. Diese Vorstellung trifft jedoch offensichtlich nicht die Wahrheit. Wie nämlich Aristoteles im 15. Buch von Über die Lebewesen festhält, wird der Same nicht von einem tatsächlichen Körperteil abgeschieden, sondern ist ein Überschußprodukt, das zuletzt beim Stoffwechsel entsteht und das nicht vollständig in das Körperganze integriert wird.232 Kein Körperteil erhält jedoch der Wirklichkeit nach eine Vervollkommnung durch die Seele, wenn er nicht vollstän231 Aristoteles, De an. II, 1; 412 b 25 ff. 232 Aristoteles, De gen. an. II, 18; 724 b 23 ff.

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dig in das Körperganze integriert wird. Aus diesem Grund hat der Same bei seiner Abscheidung noch keine derartige Vervollkommnung durch die Seele, daß die Seele die Form des Samens darstellen würde. Gleichwohl liegt in ihm eine bestimmte Kraft, die ihn aufgrund des Einwirkens der Seele bereits verändert und in eine Lage versetzt hat, die einer vollständigen Integration in das Körperganze nahekommt. Daher liegt im Samen, auch nach seiner Abscheidung, keine Seele, sondern eine Kraft, die er der Seele verdankt. Aus diesem Grund sagt auch Aristoteles, daß im Samen eine Kraft liegt, die aus der Seele stammt.233 Wenn im übrigen die Seele von vornherein im Samen läge, so läge sie darin entweder mit ihrer wirklichen Form als Seele; oder aber sie läge nicht in dieser Weise darin, sondern als eine Kraft, die sich dann im Verlauf zu einer Seele wandeln würde. Die erste der beiden Möglichkeiten scheidet aus. Denn da die Seele die Wirklichkeit eines organischen Körpers darstellt, so ist der Körper vor irgendeiner Ausbildung der Organe nicht in der Lage, die Seele aufzunehmen. Ansonsten würde daraus folgen, daß das gesamte Wirken des Samens sich in einer Zurüstung der Materie erschöpfen würde, daß hier mithin keine Erzeugung vonstatten ginge. Denn eine Erzeugung folgt nicht auf eine substantiale Form, sondern geht ihr voran. Es sei denn, man behauptet, daß es neben der Seele noch eine weitere substantiale Form für einen Körper gebe, woraus wiederum folgen würde, daß die Seele nicht auf substantiale Weise mit einem Körper vereinigt sei, sondern akzidentell dem Körper zukomme, nachdem dieser bereits durch eine andere Form als ein Etwas bestimmt sei. – Eine weitere Folgerung wäre, daß die Erzeugung von Lebendigem keine Erzeugung wäre, sondern eine Art von Absonderung, in der Art etwa, wie ein Holzstück vom Holz abgespalten wird, um in Wirklichkeit Holz zu sein. Die zweite der beiden oben erwähnten Möglichkeiten scheidet auch aus. Denn aus ihr würde folgen, daß eine substantiale Form nicht mit einem Mal, sondern erst nach und nach in eine Materie gelangt. Damit gäbe es aber bei der Substanz eine Bewegung wie etwa im Falle der Qualität und Quantität, was den Aussagen von Aristo233 Aristoteles, De gen. an. II, 3. 737 a 16 ff.

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teles widerspricht.234 Darüber hinaus gäbe es bei den substantialen Formen ein Mehr und ein Weniger, was unmöglich so sein kann. So bleibt nur noch die Möglichkeit, daß im Samen keine Seele liegt, sondern eine seelische Kraft, die auf die Hervorbringung der Seele [beim Erzeugten] hinwirkt und die von der Seele [des Erzeugers] stammt. Zu 1. Nicht der Körper eines lebendigen Wesens, etwa eines Löwen oder eines Olivenbaumes, ist schon vor seiner Seele da. Vielmehr ist bloß der Same aus dessen Körper schon vor einer Seele da. Jedoch ist dieser Same nicht schon vor derjenigen Kraft da, die auf die Hervorbringung einer Seele hinwirkt. Denn das Verhältnis zwischen dem Samen und jener Kraft gleicht dem Verhältnis zwischen dem Körper und der Seele. Zu 2. Der Unterschied zwischen der vernunftbegabten Seele und den beiden anderen Seelen besteht darin, daß die vernunftbegabte Seele sich nicht wie die anderen Seelen aus der Kraft des Samens entwickelt. Gleichwohl liegt keine dieser Seelen von vornherein im Samen. Zu 3. Mit dem Sohn, der das Haus seines Vaters verläßt, wird hier jene Kraft nicht unter dem Gesichtspunkt verglichen, daß beide235 jeweils vollständig in ihrer Art sind, sondern unter dem Aspekt, daß beide erst das erwerben, was ihnen zu ihrer Vollständigkeit noch fehlt. Die zweite Vollendung wird nämlich häufig als Gleichnis für die erste Vollendung verwendet. Zu 4. Der Vergleich zwischen der Kraft, von der gerade die Rede ist, und einer Handwerkskunst betrifft den Umstand, daß ein handwerkliches Erzeugnis in der Handwerkskunst als einer aktiven Fähigkeit auf die gleiche Weise bereits vorhanden ist wie das lebendige Ding, das entstehen soll, in der formgebenden Kraft. Zu 5. Die Zerteilung eines Insektes ist gerade deshalb gewalttätig und widernatürlich, weil der abgetrennte Teil vordem ein wirklicher Teil dieses Lebewesens und beseelt war. Daher verbleibt die Seele bei einer materialen Zerteilung in jedem Teil; denn die Seele war 234 Aristoteles, Phys. V, 2; 255 b 10 f. 235 Gemeint sind der Sohn und die Kraft im Samen.

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ja bereits im ganzen Lebewesen eine einzige der Wirklichkeit nach und der Möglichkeit nach mehrere. Derartiges kommt freilich nur deshalb vor, weil solche Lebewesen in ihrem Ganzen und ihren Teilen beinahe gleichartig gebaut sind. Ihre Seelen, die unvollkommener als die anderen Seelen sind, benötigen nämlich nur eine mäßig unterschiedliche Ausbildung der Organe. Daher kommt es, daß ein einzelnes abgetrenntes Teil in der Lage ist, die Seele aufzunehmen, da dieser Teil mit einer solchen Anzahl von Organen ausgestattet ist, wie sie für den Empfang der Seele hinreicht. Entsprechendes gilt für andere derartige Körper, z. B. Holz, Stein, Wasser und Luft. Daß aber der Same nicht schon vor seiner Abscheidung wirklicher Teil ist, erklärt Aristoteles im 15. Buch von Über die Lebewesen gerade dadurch, daß in diesem Fall die Abscheidung des Samens nicht natürlich gewesen wäre, sondern eine Art von Zerstörung des Körpers darstellen würde. Bei seiner Absonderung braucht daher im Samen keine Seele zu liegen. Zu 6. Die Rede davon, daß der männliche Part die Seele beibringe, bezieht sich darauf, daß im Samen des Mannes die Kraft enthalten ist, die auf die Hervorbringung der Seele hinwirkt. Zu 7. Die Krankheiten, die hier angeführt werden, werden nicht deshalb mit dem Samen übertragen, weil sie der Wirklichkeit nach im Samen lägen, sondern weil diese Krankheiten infolge eines schlechten Zustandes des Samens dort ihren Anfang nehmen. Zu 8. Da das Sperma ein bestimmtes Überschußprodukt darstellt, so hat es ebenso wie die anderen Überschußprodukte seine eigenen Gefäße, nach deren Durchtrennung eine Zeugung nicht mehr möglich ist. Der Grund für diese Unmöglichkeit liegt also nicht darin, daß sich ein vordem wirkliches Körperteil zersetzt. Zu 9. Wie im Fall einer übermäßigen Ausscheidung der anderen Überschußprodukte so zersetzt auch der übermäßige Erguß von Samen auf gewaltsame und unnatürliche Weise etwas, was in das Körperganze integriert ist. Man kann aber im Ausgang vom Widernatürlichen keine Schlußfolgerungen für die Natur ziehen. Zu 10. Der Same ist in dem Sinne ein Überschußprodukt, daß er zwar nicht wirklich Teil von der Substanz des Vaters ist, doch aber der Möglichkeit nach dessen gesamte Substanz ist. Von daher läßt sich sagen, daß der Sohn von der Substanz seines Vaters stammt.

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Zu 11. Zwar ist der Same nicht in Wirklichkeit beseelt, doch aber der Möglichkeit nach. Aus diesem Grund ist er nicht schlichtweg unbeseelt. 13. Artik el Die 13. Frage lautet: Kann ein Seiendes, das sich von etwas Anderem ableitet, ewig sein? 236 Dies scheint nicht der Fall zu sein; denn: 1. Was ewig ist, braucht nichts, um sein zu können. Hingegen braucht all das, was sich von etwas Anderem ableitet, für sein Sein dasjenige, dem es sich verdankt. Folglich ist nichts, was sich von etwas Anderem ableitet, ewig. 2. Nichts nimmt das an, was es schon hat. Was aber immerwährend ist, das hat immer schon das Sein. Was also immerwährend ist, das nimmt kein Sein mehr an. Hingegen empfängt alles, was sich von etwas Anderem ableitet, das Sein von demjenigen, dem es sich verdankt. Folglich ist das, was sich von etwas Anderem ableitet, nicht immerwährend. 3. Was bereits ist, das wird nicht erzeugt, entsteht nicht und wird auch in keiner Weise ins Sein gebracht. Denn das, was gerade im Entstehen ist, ist nicht. Also muß all das, was wird, entsteht und hervorgebracht wird, zu einem Zeitpunkt noch nicht gewesen sein. Nun ist all das, was sich von etwas Anderem ableitet, von dieser Art. Folglich ist all das, was sich von etwas Anderem ableitet, zu einem bestimmten Zeitpunkt nicht. Was aber zu einem bestimmten Zeitpunkt nicht ist, das ist nicht immerwährend. Demnach ist das, was sich von etwas Anderem ableitet, nicht immerwährend. 4. Wessen Sein von etwas Anderem herrührt, das ist, für sich betrachtet, nicht. Bei derartigem ist es aber nicht notwendig, daß es zu einem bestimmten Zeitpunkt ist. Folglich ist es bei all dem, was sich von etwas Anderem ableitet, nicht notwendig, daß es zu einem bestimmten Zeitpunkt ist, und damit auch nicht notwendig, daß es immer ist.

236 Paralleltexte: Sum. theol. I, q. 42 a. 2. Sent. III, a. 1. Comp. theol. 43. In Decret. 1. Super Ioh. I, 1.

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5. Alles Bewirkte tritt später auf als seine Ursache. Was aber sich von etwas Anderem ableitet, das wird durch dasjenige bewirkt, von dem es sich ableitet. Also tritt es später auf als das, von dem es sich ableitet. Somit kann es nicht immerwährend sein. Dagegen spricht: Hilarius sagt, daß das, was in der Ewigkeit aus dem Vater geboren ist, von seiner Geburt an ein ewiges Sein hat.237 Nun ist Gottes Sohn aus dem ewigen Vater geboren. Demnach hat er seit seiner Geburt ein ewiges Sein und damit ist er ewig. Antwort: Wenn wir davon sprechen, daß Gottes Sohn wesensmäßig aus dem Vater hervorgeht, dann in dem Sinn, daß der Sohn aus dem Vater hervorgeht und doch mit dem Vater gleich ewig ist. Dies läßt sich nun auf folgende Weise zeigen. Zwischen dem Willen und einer Wesensform besteht nämlich darin ein Unterschied, daß eine Wesensform auf etwas ganz Bestimmtes hin festgelegt ist: sowohl unter dem Aspekt, was kraft dieser Wesensform hervorgebracht werden soll, als auch unter dem Aspekt des Hervorbringens oder Nicht-Hervorbringens selbst. Der Wille jedoch ist in keiner dieser Hinsichten festgelegt. Denn willentlich kann jemand dieses oder jenes machen, wie etwa ein Handwerker einen Stuhl oder eine Truhe; und zudem kann er es tun oder es sein lassen. Das Feuer hingegen kann nichts außer erwärmen, sofern eine Grundlage für seine Wirksamkeit vorhanden ist; zudem kann es an der Materie nichts anderes hervorrufen als eine Wirkung, die ihm gleicht. Von den Geschöpfen, die aus Gott nach seinem Willen hervorgehen, läßt sich daher sagen, daß er ein Geschöpf in dieser oder jener Weise und zu diesem oder jenem Zeitpunkt hat entstehen lassen können. Vom Sohn jedoch, der wesensmäßig hervorgeht, läßt sich dies nicht behaupten. Denn der Sohn kann in seinem Wesen nicht von anderer Art sein als das Wesen des Vaters. Ebensowenig konnte der Sohn zu einem früheren oder einem späteren Zeitpunkt als das Wesen des Vaters dasein. Denn da Gottes Wesen einfach und un237 Hilarius, De trin. XII, 21 (CCSL 42 A, 595).

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veränderlich ist, läßt sich ja nicht behaupten, daß dem Wesen Gottes zu einem bestimmten Zeitpunkt noch seine Vollkommenheit abgegangen wäre und daß nach deren Eintreten dann kraft des Wesens Gottsohn gezeugt worden sei. Da zudem diese Zeugung ganz und gar ohne Veränderung vonstatten geht, läßt sich auch nicht behaupten, daß diese Zeugung durch das Fehlen oder eine mangelnde Vorbereitung der Materie hätte verzögert werden können. Dies läßt nur den folgenden Schluß zu: Da das Wesen des Vaters von Ewigkeit an ist, so ist auch der Sohn ewiglich vom Vater gezeugt und folglich mit dem Vater gleich ewig. Die Arianer aber nahmen an, daß der Sohn nicht wesensmäßig aus dem Vater hervorgehe, und behaupteten deshalb, daß der Sohn mit dem Vater weder wesensgleich noch gleich ewig sei – genauso wie dies bei den anderen Dingen der Fall ist, die aus Gott nach dem Beschluß seines Willens hervorgehen. Es war in der Tat schwierig, eine Zeugung des Sohnes, die mit dem Vater gleich ewig ist, in Betracht zu ziehen, da sich das menschliche Begreifen gewohnheitsmäßig an der Hervorbringung der natürlichen Dinge orientiert, bei denen das eine Ding durch das andere über eine Bewegung hervorgebracht wird. Nun setzt das Sein eines Dinges, welches über eine Bewegung ins Sein gebracht wird, eher zu Beginn als am Ende dieser Bewegung ein. Da aber der Beginn einer Bewegung notwendig ihrem Ende zeitlich vorangeht – notwendig ist dies aufgrund des Verlaufscharakters einer Bewegung – und da eine Bewegung nicht ohne die Ursache anfängt bzw. einsetzt, welche die Bewegung für die Hervorbringung von etwas auslöst, so muß notwendigerweise die Ursache, welche die Bewegung für die Hervorbringung von etwas auslöst, zeitlich dem vorangehen, was durch diese Ursache hervorgebracht wird. Was daher ohne Bewegung aus etwas hervorgeht, das ist im Zeitmaß dem gleich, aus dem es hervorgeht, wie z. B. die Helle, die vom Feuer oder von der Sonne ausgeht. Die Helle geht nämlich mit einem Schlag und nicht nach und nach von einem Leuchtkörper aus, denn die Erfüllung mit Licht stellt keine Bewegung dar, sondern den Grenzwert einer Bewegung. Somit gibt es nur folgenden Schluß: In der Gottheit, wo es überhaupt keine Bewegung gibt, ist das Hervorgehende im Zeitmaß gleich dem, aus dem es hervorgeht. Da aber der

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Vater ewig ist, so sind der Sohn und der Heilige Geist, welche aus dem Vater hervorgehen, mit ihm gleich ewig. Zu 1. Wenn »brauchen« ein Fehlen von dem bzw. einen Mangel an dem impliziert, was man braucht, dann benötigt das, was immerwährend ist, nichts zu seinem Sein. Wenn aber »brauchen« nur einen Ursprungsbezug zu dem impliziert, von dem etwas herkommt, dann ist es kein Widerspruch, wenn das, was immerwährend ist, zu seinem Sein etwas braucht, insofern es nicht aus sich selbst, sondern von einem Anderen sein Sein hat. Zu 2. Ein Empfänger besitzt das, was er in Empfang nimmt, nicht schon vor dessen Annahme, sondern dann, wenn er es in Empfang genommen hat. Wenn der Empfänger daher etwas von Ewigkeit an in Empfang genommen hat, dann besitzt er es von Ewigkeit an. Zu 3. Dieses Argument gilt für eine Zeugung, die in Form einer Bewegung vonstatten geht. Denn das, was ins Sein gebracht wird, ist noch nicht. Insofern sagt man, daß das, was gezeugt wird, noch nicht ist, sondern das ist, was schon gezeugt worden ist. Wo daher Gezeugtwerden und Gezeugtwordensein zusammenfallen, da ist es nicht unbedingt so, daß das, was gezeugt wird, zu einem Zeitpunkt noch nicht ist. Zu 4. Dasjenige, was sein Sein von einem Anderen erhält, ist, für sich betrachtet, ein Nichtseiendes – gesetzt, es ist vom Sein selbst verschieden, welches es von einem Anderen erhält. Wenn es aber mit dem Sein selbst zusammenfällt, welches es von einem Anderen erhält, dann kann es, für sich betrachtet, kein Nichtseiendes sein. Denn am Sein selbst läßt sich das Nichtseiende nicht ausmachen, bei dem aber, was vom Sein selbst verschieden ist, freilich schon. Denn das Seiende kann etwas ihm Beigemischtes enthalten, das Sein selbst jedoch nicht, wie Boethius in seinem Buch De hebdomadibus sagt.238 Ersteres ist für die Geschöpfe bezeichnend, das Zweitere aber für Gottsohn. Zu 5. Gottsohn kann nicht als etwas Bewirktes bezeichnet werden. Er ist ja nicht entstanden, sondern gezeugt. Dasjenige aber entsteht, dessen Sein von dem, der es entstehen läßt, verschieden ist. Im 238 Boethius, Quomodo substantiae bonae sint (ed. Elsässer, 36 f.).

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eigentlichen Sinne bezeichnen wir daher Gottvater auch nicht als die Ursache des Sohnes, sondern als dessen Ursprung. Zudem muß nicht jede Ursache dem von ihr Bewirkten zeitlich vorangehen; vielmehr muß sie dies nur dem Wesen nach, wie sich im Falle der Sonne und ihrem Schein zeigt.

14. Artik el Die 14. Frage lautet: Kann das, was von Gott dem Wesen nach verschieden ist, immer schon dagewesen sein? 239 Dies scheint der Fall zu sein; denn: 1. Diejenige Ursache, die ein Ding in seiner gesamten Substanz hervorbringt, hat keine geringere Kraft als diejenige Ursache, die ausschließlich eine Form hervorbringt. Nun kann diejenige Ursache, die ausschließlich eine Form hervorbringt, diese Form von Ewigkeit an hervorbringen, wenn sie selbst ewig ist. Denn wie Augustinus sagt, hat die Helle, die das Feuer erzeugt und verbreitet, dasselbe Zeitmaß wie das Feuer240 und wäre gleich ewig, wenn das Feuer ewig wäre.241 Folglich kann Gott um so eher eine Wirkung herbeiführen, die mit ihm gleich ewig ist. 2. Man wird nun einwenden, daß dies unmöglich ist. Denn es würde sich die unsinnige Schlußfolgerung ergeben, daß die Schöpfung dem Schöpfer in ihrem faktischen Bestehen gleichkommt. – Dem ist zu erwidern: Das, was nicht in völliger Gleichzeitigkeit besteht, sondern eine Verlaufsform kennt, läßt sich nicht mit etwas gleichsetzen, was in völliger Gleichzeitigkeit besteht. Wenn nun die Welt immer schon dagewesen wäre, so wäre ihr faktischer Bestand nicht stets schon völlige Gleichzeitigkeit gewesen. Denn ihr faktisches Bestehen bemißt sich ja nach der Zeit, wie Boethius am Ende von Der Trost der Philosophie sagt.242 Folglich würde Gott hier nicht 239 Paralleltexte: Sum. theol. I, q. 46 a. 1 c. und ad 6. Sent. II, d. 1 q. 1 a. 5. ScG II, 31. 240 coaevus illi V : coaeternus illi M. 241 Augustinus, De trin. VI, 1, 1 (CCSL 50, 228). 242 Boethius, De cons. Philos. V, 6 p. 6 (CCSL 94, 101 f.).

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im Hinblick auf das faktische Bestehen mit seiner Schöpfung gleichgesetzt. 3. Genauso wie eine der göttlichen Personen so geht auch ein Geschöpf ohne Bewegung aus Gott hervor. Nun kann eine der göttlichen Personen mit Gott, aus dem sie hervorgeht, gleich ewig sein. Folglich gilt dies auch für ein Geschöpf. 4. Was sich stets in derselben Weise verhält, das vermag stets dasselbe zu tun. Nun verhält sich Gott von Ewigkeit an stets in derselben Weise. Demnach vermag er stets dasselbe zu tun. Wenn er also zu einem bestimmten Zeitpunkt ein Geschöpf hervorgebracht hat, dann kann er dies auch von Ewigkeit an. 5. Man wird nun einwenden: Dieses Argument trifft auf ein tätiges Wesen zu, das seiner Natur entsprechend wirkt, nicht aber auf ein Wesen, das willentlich wirkt. – Dem ist zu erwidern: Gottes Wille setzt sich nicht über sein Können hinweg. Wenn nun Gott nicht nach seinem Willen wirken würde, so würde daraus folgen, daß er die Geschöpfe von Ewigkeit an hervorgebracht hat. Auch wenn man also behauptet, daß Gott nach seinem Willen wirkt, so ist damit nicht ausgeschlossen, daß er die Geschöpfe von Ewigkeit an hat hervorbringen können. 6. Wenn Gott zu einer bestimmten Zeit bzw. zu einem bestimmten Zeitpunkt ein Geschöpf hervorgebracht hat und wenn sein Vermögen in der Zwischenzeit nicht zugenommen hat, dann konnte er bereits vor dieser Zeit bzw. vor diesem Zeitpunkt ein Geschöpf hervorbringen und aus gleichem Grund auch noch vor diesem letzteren Zeitpunkt und so weiter ins Unendliche. Folglich kann Gott es von Ewigkeit an hervorbringen. 7. Gott kann mehr vollbringen, als die menschliche Vernunft sich denken kann. Deswegen heißt es ja in Luk. 1, 37: »Bei Gott ist kein Wort unmöglich.« Die Platoniker aber nahmen an, daß Gott etwas habe entstehen lassen, was gleichwohl ewig ist. Daher sagt Augustinus: »Von der Welt und den Göttern, welche Gott in der Welt habe entstehen lassen, sagt Platon ganz deutlich, daß sie ins Sein gekommen wären und einen Anfang hätten, jedoch kein Ende, sondern, wie er betont, durch den mächtigsten Willen ihres Schöpfers in Ewigkeit fortbestehen würden. Wie aber Platon dies in Wahrheit meine, das erklärten die Platoniker so: Mit ›Anfang‹ meine Pla-

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ton keinen zeitlichen Beginn, sondern den Grund für ihr Dasein. Denn, so sagen sie, wie wenn ein Fuß seit Ewigkeit im Sand geht und eine Fußspur hinterläßt, und dabei doch niemand bezweifelt, daß sie von jemandem stammt, der die Fußspuren macht, so war die Welt und auch ihr Schöpfer schon immer da. Gleichwohl ist die Welt entstanden.«243 Folglich kann Gott etwas entstehen lassen, das schon immer da war. 8. Was mit dem Begriff des Erschaffenen vereinbar ist, das kann Gott innerhalb der Schöpfung entstehen lassen. Andernfalls wäre er nicht allmächtig. Nun ist es mit dem Begriff des Erschaffenen vereinbar, daß es auch als etwas Entstandenes immerwährend ist. Andernfalls würde die Aussage, das Erschaffene sei immerwährend, so viel bedeuten wie, daß es nicht entstanden ist, was offensichtlich falsch ist. Augustinus unterscheidet ja zwei Ansichten: einerseits, daß die Welt auf eine Weise immerwährend ist, daß sie nicht durch Gott entstanden sei; andererseits, daß die Welt immerwährend sei und trotzdem durch Gott entstanden ist.244 Folglich kann Gott es so einrichten, daß etwas, was durch ihn entstanden ist, immerwährend ist. 9. Wie die Natur mit einem Schlag das von ihr Bewirkte herbeiführen kann, so kann dies auch ein willentlich tätiges Wesen, sofern ihm nichts Widerstand bietet. Nun ist Gott ein willentlich tätiges Wesen, dem nichts einen Widerstand bieten kann. Demnach können die Geschöpfe, die durch seinen Willen hervorgebracht sind, von Ewigkeit an hervorgebracht worden sein, also genau so wie der Sohn, der wesensmäßig aus dem Vater hervorgeht. Dagegen spricht: 1. Augustinus sagt: »Weil sie schlichtweg unveränderlich ist, so ist die Natur der Trinität derart ewig, daß mit ihr nichts gleich ewig sein kann.«245 2. Johannes von Damaskus sagt im 1. Buch: »Was aus dem Nichts ins Sein gelangt, das ist von seinem Wesen her nicht in der Lage, 243 Augustinus, De civ. Dei X, 31 (CCSL 48, 308 f.). 244 Augustinus, De civ. Dei XI, 4 (CCSL 48, 324 f.). 245 Augustinus, De Gen. ad litt. VIII, 23 (CSEL 28/1, 262).

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mit dem gleich ewig zu sein, was ohne Anfang und immerwährend ist.«246 Nun wird das Erschaffene aus dem Nichts ins Sein gebracht. Folglich kann es nicht immerwährend sein. 3. Alles Ewige ist unwandelbar. Nun können die Geschöpfe nicht unwandelbar sein. Denn wenn sie sich selbst überlassen würden, dann würden sie ins Nichts stürzen. Folglich können sie nicht ewig sein. 4. Nichts, was von einem Anderen abhängt, ist notwendig und mithin ewig, denn alles Ewige ist notwendig. Nun hängt alles, was geworden ist, von einem Anderen ab. Folglich kann das, was geworden ist, nicht ewig sein. 5. Wenn Gott es vermochte, von Ewigkeit an die Geschöpfe hervorzubringen, dann hat er sie auch von Ewigkeit an hervorgebracht. Denn nach Aristoteles gibt es bei dem, was immerwährend ist, keinen Unterschied zwischen Sein und Können.247 Nun ist die Behauptung, daß die Geschöpfe von Ewigkeit an hervorgebracht worden seien, glaubenswidrig, und damit auch die Behauptung, daß sie von Ewigkeit an hervorgebracht werden konnten. 6. Der Wille des Weisen zögert nicht, etwas, was er auszuführen beabsichtigt, auch auszuführen, wenn er es kann, es sei denn, er zögert aus einem bestimmten Grund. Nun läßt sich aber kein Grund angeben, warum Gott zu einem bestimmten Zeitpunkt und nicht früher oder gar von Ewigkeit an die Welt hervorgebracht hat, wenn sie denn von Ewigkeit an hätte erschaffen werden können. Folglich hat sie nicht von Ewigkeit an erschaffen werden können. 7. Wenn die Geschöpfe geworden sind, dann entweder aus dem Nichts oder aus Etwas. Nun sind sie aber nicht aus Etwas entstanden. Denn dann wären sie entweder aus Etwas geworden, das mit dem göttlichen Wesen gleichzusetzen ist, und das ist unmöglich. Oder aber sie wären aus etwas Anderem entstanden. Angenommen, dieses Etwas ist nicht geworden, dann muß es etwas anderes als Gott und nicht von ihm erschaffen sein. Diese Ansicht wurde oben widerlegt.248 Wenn aber jenes Etwas aus einem anderen geworden ist, 246 Johannes Damascenus, De fide orthodoxa 8, 4 (ed. Buytaert, 32). 247 Aristoteles, Phys. III, 3; 203 b 30. 248 Vgl. De pot. q. 3 a. 5.

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dann müßte man entweder ins Unendliche fortschreiten – was nicht sein kann; oder aber man müßte zu einem Etwas gelangen, das aus dem Nichts geworden ist. Es kann jedoch nicht sein, daß das, was aus dem Nichts geworden ist, immer schon dagewesen ist. Folglich kann das Erschaffene nicht schon immer dagewesen sein. 8. Zum Begriff des Ewigen gehört es, daß es keinen Anfang hat, zum Begriff des Geschöpfes hingegen, daß es einen Anfang hat. Folglich kann kein Geschöpf ewig sein. 9. Die Geschöpfe bemessen sich entweder nach der Zeit oder nach der Weltzeit. Nun sind die Zeit und die Weltzeit von der Ewigkeit unterschieden. Folglich kann ein Geschöpf nicht ewig sein. 10. Wenn etwas erschaffen worden ist, dann muß es einen bestimmten Zeitpunkt geben, zu dem es erschaffen worden ist. Nun war es aber vor diesem Zeitpunkt noch nicht da. Folglich muß man sagen, daß die Geschöpfe nicht immerwährend sind. Antwort: Nach Aristoteles249 spricht man vom Möglichen einerseits mit Bezug auf ein Vermögen, andererseits ohne Bezug auf solch ein Vermögen. Im ersten Fall meint man entweder ein aktives oder ein passives Vermögen: ein aktives Vermögen etwa dann, wenn man sagt, daß es einem Baumeister möglich sei, ein Haus zu bauen; ein passives Vermögen etwa dann, wenn man davon spricht, daß Holz in der Lage ist, zu brennen. – Vom Möglichen spricht man aber zuweilen auch ohne Bezug auf solch ein Vermögen, sondern vielmehr in einem übertragenen Sinn. So bezeichnet man etwa in der Geometrie eine Linie als rationale Potenz, was aber in unserem Zusammenhang übergangen werden kann. – Oder man spricht vom Möglichen in einem absoluten Sinn, dann nämlich, wenn die Begriffe einer Aussage in keinem Widerspruch zueinander stehen. Umgekehrt spricht man vom Unmöglichen, wenn die Begriffe einer Aussage in einem Widerspruch zueinander stehen. So bezeichnet man es als unmöglich, daß eine Bejahung und eine Verneinung gleichzeitig bestehen, und zwar nicht etwa deshalb, weil dies für jemanden, der eine Tätigkeit ausführt oder ihr unterliegt, unmöglich 249 Aristoteles, Met. V, 12; 1019 b 27 ff.

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wäre, sondern weil dies an sich unmöglich ist, insofern es selbstwidersprüchlich ist. Wenn man sich also die folgende Aussage ansieht: »Was von Gott in der Substanz verschieden ist und ihm sein Dasein verdankt, das ist immerwährend«, so kann man dies nicht als etwas an sich Unmögliches bezeichnen, so als ob dies selbstwidersprüchlich wäre. Denn wie bereits oben aufgezeigt,250 steht der Umstand, daß man sein Dasein einem anderen verdankt, in keinem Widerspruch zu dem Umstand, immerwährend zu sein. Hiervon ausgenommen ist der Fall, daß etwas über eine Bewegung aus einem anderen hervorgeht, was aber auf den Hervorgang der Dinge aus Gott nicht zutrifft. – Ebenso impliziert der Satzteil »von Gott in der Substanz verschieden« für sich betrachtet keinen Widerspruch zum »immerwährend«. Sofern wir nun unter »möglich« ein aktives Vermögen verstehen, so mangelt es Gott nicht an dem Vermögen, aus sich selbst eine andere Wesenheit von Ewigkeit an hervorgehen zu lassen. Versteht man hingegen unter »möglich« ein passives Vermögen, dann läßt sich unter Wahrung der Wahrheit des katholischen Glaubens nicht sagen, daß das, was aus Gott hervorgeht und dem Wesen nach von ihm verschieden ist, in der Lage sei, immer schon dazusein. Denn der katholische Glaube setzt voraus, daß alles, was außerhalb von Gott ist, zu einer Zeit nicht dagewesen ist. Wie es aber nicht sein kann, daß das, was zu einer bestimmten Zeit da ist, niemals dagewesen ist, so kann es auch nicht sein, daß das, was zu einer bestimmten Zeit nicht ist, immer dagewesen ist. Aus diesem Grund sagen manche, daß das Besagte für Gott als dem Schöpfer möglich ist, nicht aber für das Wesen, das aus Gott hervorgeht. Denn unser Glaube geht in diesem Punkt vom Gegenteil aus. Zu 1. Vom Vermögen des Schöpfers her gesehen, ist dieses Argument triftig, nicht aber vom Gewordenen her, für das ja von vornherein gilt, daß es zu einem bestimmten Zeitpunkt noch nicht dagewesen ist. Zu 2. Selbst wenn das Geschaffene ewig Bestand hätte, so käme es nicht schlichtweg Gott gleich, sondern nur insofern, als es Gott 250 Vgl. De pot. q. 3 a. 12.

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nachahmt. Dies ist nicht unsinnig, und deswegen fällt auch die hier vorgebrachte Erwiderung kaum ins Gewicht. Zu 3. In einer der göttlichen Personen gibt es nichts, von dem man annehmen könnte, daß es zu irgendeinem Zeitpunkt nicht gewesen sei und dies im Gegensatz zu jedem Wesen, das von Gott verschieden ist. Zu 4. Vom Vermögen des Schöpfers her gesehen, ist das hier Vorgebrachte triftig. Über dieses Vermögen setzt sich auch sein Wille nicht hinweg, es sei denn insoweit, als es an der Entscheidung des göttlichen Willens gelegen hat, daß das Erschaffene nicht immerwährend ist. Zu 5. Von daher ist auch die Antwort zu diesem Argument klar. Zu 6. Behauptet man, daß es das Erschaffene vor irgendeinem bestimmten Zeitpunkt schon gegeben habe, so bleibt der Standpunkt des Glaubens unangetastet, dem zufolge nichts außerhalb von Gott schon immer dagewesen ist. Allerdings wird der Standpunkt des Glaubens verlassen, wenn man behauptet, daß das Erschaffene immer schon dagewesen sei. Von daher sind beide Behauptungen nicht gleichsetzbar. Zudem ist anzumerken, daß die Form dieses Argumentes unzutreffend ist. Gott könnte freilich jedes beliebige Geschöpf als ein besseres hervorbringen, er kann jedoch nicht ein Geschöpf von unendlicher Güte entstehen lassen. Denn die unendliche Güte ist unvereinbar mit dem Begriff des Geschöpfes, nicht aber eine bestimmte Güte, von welchem Ausmaß sie auch immer sei. Ferner ist anzumerken: Der Satz »Gott vermochte es, die Welt entstehen zu lassen, bevor er sie hat entstehen lassen« ist ohne jeden Zweifel wahr, wenn man hier die Vorzeitigkeit auf das Vermögen des Schöpfers bezieht. Denn er besaß von Ewigkeit an das Vermögen, sie zu erschaffen; die Ewigkeit aber geht dem Zeitpunkt der Erschaffung voraus. Bezieht man jedoch die Vorzeitigkeit auf das Sein des Entstandenen, in dem Sinne, daß es vor dem Zeitpunkt der Erschaffung der Welt eine wirkliche Zeit gegeben habe, zu dem die Welt hätte entstehen können, so ist jener Satz ganz klar falsch. Denn vor der Welt gab es keine Bewegung und daher auch keine Zeit. Gleichwohl können wir uns eine Zeit vor der Welt vorstellen, genauso wie etwa eine bestimmte Höhe und Ausdehnung über das Himmelszelt

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hinaus. In diesem Sinne läßt sich sagen, daß Gott das Himmelszelt noch höher hätte machen können, sowie, daß er etwas zu einem früheren Zeitpunkt hätte entstehen lassen können, denn er hätte die Zeiten noch länger und die Höhen noch höher machen können. Zu 7. Die Platoniker nahmen dies an, ohne die Wahrheit des Glaubens zu beachten. Denn diese war ihnen unbekannt. Zu 8. Dieses Argument zeigt nur auf, daß das Geworden-Sein und das Immerwährend-Sein, für sich betrachtet, in keinem Widerspruch zueinander stehen. Von daher trifft dieses Argument für das an sich Mögliche zu. Zu 9. Dieses Argument gilt für die Möglichkeit im Sinne eines aktiven Vermögens. Da die Gegenargumente offensichtlich zu dem Schluß kommen, daß es in keiner Weise sein könne, daß das, was von Gott verschieden ist, immer schon dagewesen ist, so ist auch auf sie einzugehen. Zu 1. Wie es am Ende von Boethius’ Der Trost der Philosophie heißt, wäre die Welt, auch wenn sie immer schon dagewesen wäre, nicht mit Gott gleich ewig, denn sie würde nicht in völliger Gleichzeitigkeit bestehen – und dies ist für den Begriff der Ewigkeit unabdingbar.251 Denn die Ewigkeit ist »der vollständige und vollendete Besitz unbegrenzbaren Lebens«, wie es dort heißt.252 Eine Abfolge in der Zeit rührt aber nach Aristoteles von der Bewegung her.253 Was daher der Veränderung unterliegt, das kann, auch wenn es immerwährend ist, nicht ewig sein. Dies ist der Grund dafür, warum Augustinus sagt, kein Geschöpf könne mit der unveränderlichen Natur der Trinität gleich ewig sein.254 Zu 2. Johannes von Damaskus spricht hier unter Wahrung der Glaubenswahrheit. Das zeigt sich daran, daß er von dem spricht, was »aus dem Nichts ins Sein gebracht wird« usw.255 Zu 3. Die Veränderlichkeit schließt ihrem Begriff nach die Ewigkeit aus, nicht aber eine unendliche Zeitspanne. 251 252 253 254 255

Boethius, De cons. Philos. V, 6 p. 9–14 (CCSL 94, 101 f.). Boethius, De cons. Philos. V, 6 p. 4 (CCSL 94, 101). Aristoteles, Phys. IV, 11; 218 b 33. Augustinus, De Gen. ad litt. VIII, 23 (CSEL 28/1, 262). Johannes Damascenus, De fide orthodoxa 8, 4 (ed. Buytaert, 32).

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Zu 4. Was von einem Anderen abhängt, das verdankt sein Sein stets diesem Anderen. Wenn letzteres immerwährend ist, dann ist auch jenes immerwährend. Zu 5. Wenn Gott es vermochte, etwas entstehen zu lassen, dann folgt daraus noch nicht, daß er dies hat entstehen lassen. Denn er wirkt nach seinem Willen und nicht aufgrund einer ihm wesensmäßigen Notwendigkeit. Wenn aber angeführt wird, daß es beim Immerwährenden keinen Unterschied zwischen Sein und Können gebe, so gilt dies für ein passives Vermögen, nicht jedoch für ein aktives. Ein passives Vermögen, das nicht zu seiner Verwirklichung kommt, ist ja ein Prinzip für das Vergehen und ist deswegen mit einem Immerwährend-Sein unverträglich. Wenn hingegen die Wirkung eines aktiven Vermögens nicht tatsächlich zur Entfaltung kommt, dann tut das der Vollständigkeit des aktiven Vermögens keinen Abbruch, insbesondere, wenn dieses aktive Vermögen etwas willentlich verursacht. Denn anders als die Form, die für ein passives Vermögen die Vervollkommnung ist, stellt die Wirkung für ein aktives Vermögen keine Vervollkommnung dar. Zu 6. Für die Hervorbringung der ersten Geschöpfe kann unser Denken keinen Grund angeben, gerade weil es nicht jene Kunst erfassen kann, die allein der Grund dafür ist, daß jene Geschöpfe so sind, wie sie sind. Ebenso wie man nämlich keinen Grund dafür angeben kann, warum das Himmelszelt so groß ist, wie es ist, und nicht noch größer, so läßt sich auch kein Grund dafür angeben, warum die Welt nicht zu einem früheren Zeitpunkt erschaffen worden ist – obwohl doch beides in der Macht Gottes gestanden hätte. Zu 7. Die ersten Geschöpfe sind nicht aus Etwas, sondern aus dem Nichts hervorgebracht worden. Jedoch nicht aus der Art ihrer Hervorbringung selbst, sondern aus der Wahrheit der Glaubenslehre entnehmen wir, daß die Geschöpfe zunächst nicht dagewesen sind und erst darauf ins Sein gelangt sind. Ein Sinn jener Rede, daß das Erschaffene aus dem Nichts entstanden ist, kann nach Anselm derjenige sein, daß das Geschaffene nicht aus Etwas entstanden ist.256 In diesem Fall geht die Verneinung auf 256 Anselm von Canterbury, Monologion 8 (Opera omnia I, ed. Schmitt,

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den Präpositionalausdruck257 und tritt nicht innerhalb des Präpositionalausdrucks auf 258. Damit verneint hier die Negation den Bezug auf etwas, den die Präposition beinhaltet, und die Präposition selbst impliziert hier keinen Bezug auf das Nichts. Wenn aber hier der Bezug auf das Nichts bejaht bleibt, wenn also die Verneinung innerhalb des Präpositionalausdruckes auftritt, dann muß das noch nicht heißen, daß das Erschaffene einstmals das Nichts gewesen sei. Denn es läßt sich mit Avicenna sagen, daß das Nichtsein eines Dinges seinem Sein nicht zeitlich, sondern wesensmäßig vorangeht.259 Denn würde dieses Ding sich selbst überlassen, so wäre es nicht; sein Sein hat es ja nur durch einen anderen. Denn was ein Ding von sich selbst her aufweisen kann, das kommt ihm dem Wesen nach eher zu als dasjenige, was es nur von einem Anderen haben kann. Zu 8. Zum Begriff des Ewigen gehört es, daß es keinen Anfang in der Zeit hat. Zum Begriff des Erschaffenen aber gehört es, daß es einen Anfang im Sinne seines Ursprungs, nicht aber im Sinne eines Zeitmaßes hat – es sei denn, man versteht die Schöpfung so, wie sie der Glaube versteht. Zu 9. Die Weltzeit und die Zeit unterscheiden sich von der Ewigkeit nicht nur durch einen Anfang im Sinne eines Zeitmaßes, sondern auch durch ihren Verlaufscharakter. Denn die Zeit besteht in sich aus abfolgenden Momenten. Mit der Weltzeit ist insofern ein Verlaufscharakter verbunden, als die ewigen Substanzen bis zu einem gewissen Grad veränderlich sind; bis zu einem gewissen Grad sind sie aber unveränderlich und bemessen sich insofern nach der Weltzeit. Die Ewigkeit hingegen hat weder einen Verlaufscharakter noch ist sie mit einem solchen verbunden. Zu 10. Das Wirken, in dem Gott die Dinge ins Sein bringt, ist nicht wie das Wirken eines Handwerkers zu verstehen, welcher eine Truhe baut und diese dann aus den Händen gibt, sondern in dem Sinne, daß Gott, wie Augustinus sagt, unentwegt das Sein in die

257 Gemeint ist also: »nicht aus Etwas entstanden«. 258 Gemeint ist also: »aus dem Nichts (Nicht-Etwas) entstanden«. 259 Avicenna, Met. VIII, 3 (Avicenna latinus 4, ed. Van Riet, 396 f.).

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Dinge einströmen läßt.260 Daher braucht man keinen Zeitpunkt für die Hervorbringung der Dinge angeben, vor dem sie noch nicht hervorgebracht waren, es sei denn aus Glaubensgründen.

15. Artik el Die 15. Frage lautet: Gehen die Dinge aus Gott infolge einer ihm wesensmäßigen Notwendigkeit oder durch seinen Willensentscheid hervor? 261 Allem Anschein nach infolge einer ihm wesenmäßigen Notwendigkeit; denn: 1. Dionysius sagt: »Wie unsere Sonne ohne Berechnung und Bevorzugung, sondern einfach durch ihr Sein alles erleuchtet, was an ihrem Licht teilhaben will, so verbreitet auch die göttliche Güte kraft ihrer Wesenheit über alles, was ist, auf entsprechende Weise die Strahlen ihrer Güte.«262 Nun tut dies die Sonne, die ohne Berechnung und Bevorzugung alles erleuchtet, aufgrund einer ihr wesensmäßigen Notwendigkeit. Folglich bringt auch Gott die Geschöpfe hervor, indem er seine Güte aufgrund einer ihm wesensmäßigen Notwendigkeit mitteilt. 2. Jede Vollkommenheit der niederen Natur kommt aus einer Vollkommenheit der göttlichen Natur. Nun gehört es zur Vollkommenheit der niederen Natur, daß sie bei der Hervorbringung des von ihr Bewirkten etwas von ihresgleichen entstehen läßt. Erst recht wird also Gott den Abglanz seiner Güte den Geschöpfen aus seinem Wesen heraus mitteilen und nicht, weil er dies so will. 3. Alles, was eine Wirksamkeit entfaltet, bewirkt etwas ihm Gleiches. Demnach liegt die Maßgabe, nach der das Bewirkte von seiner wirkenden Ursache hervorgebracht wird, darin, daß das Bewirkte Ähnlichkeit mit seiner Ursache hat. Nun ähnelt das Erschaffene Gott in dem, was zu Gottes Wesen gehört: Sein, Güte, Einheit und 260 Augustinus, De Gen. ad litt. IV, 12 (CSEL 28/1, 108 f.); VIII, 12 (CSEL 28/1, 249). 261 Paralleltexte: Sum. theol. I, q. 19 a. 4. ScG II, 23. Sent. I, d. 43 q. 2 a. 1; d. 45 a. 3. De pot. q. 1 a. 5. 262 Dionysius Areopagita, De div. nom. IV, 1 (Dion. I, 146 f.).

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dergleichen, nicht aber in dem, worauf sich sein Wille oder Denken erstreckt. In dieser Weise ähneln ja etwa die handwerklichen Erzeugnisse dem Handwerker, weil sie der Form ähneln, die seine Kunstfertigkeit ersonnen hat, und nicht weil sie dem Wesen des Handwerkers ähneln. Deswegen gehen diese Erzeugnisse aus dem Willen des Handwerkers hervor und nicht aus seinem Wesen. Folglich gehen die Geschöpfe kraft des göttlichen Wesens und nicht kraft des Willens aus Gott hervor. 4. Man wird nun einwenden: Es ist der göttliche Wille, der den Geschöpfen eine Ähnlichkeit mit seinen wesensmäßigen Attributen verleiht. – Dem ist zu erwidern: Eine Ähnlichkeit im Wesen kann nur kraft des Wesens verliehen werden. Nun untersteht eine Kraft, die sich aus dem Wesen speist, in keiner Weise dem Willen. Daher erfolgt auch bei Gott die Zeugung des Sohnes durch den Vater, die ja ihm wesensmäßig ist, nicht auf Geheiß des Willens. Ebensowenig unterstehen auch beim Menschen die sog. natürlichen Regungen der vegetabilischen Seele dem Willen. Demnach kann es nicht der göttliche Wille sein, durch den die Geschöpfe eine Ähnlichkeit mit Gottes wesensmäßigen Attributen erhalten. 5. Augustinus sagt in De doctrina christiana : Wir haben Dasein, weil Gott gut ist.263 Demnach ist offensichtlich Gottes Güte der Grund für die Hervorbringung der Geschöpfe. Nun gehört die Güte zu Gottes Wesen. Also ist auch der Ausfluß der Dinge aus Gott etwas, was zu seinem Wesen gehört. 6. In Gott fallen Wesen und Wille zusammen. Wenn also Gott die Dinge willentlich hervorbringt, dann bringt er sie damit auch seinem Wesen nach hervor. 7. Eine Naturnotwendigkeit rührt von daher, daß die Natur unabänderlich dasselbe wirkt, es sei denn, es tritt ein Hindernis auf. Nun ist die Unveränderlichkeit Gottes größer als die der niederen Natur. Folglich bringt Gott um so eher aus Notwendigkeit das von ihm Bewirkte hervor als die niedere Natur. 8. Gottes Wirken ist sein Wesen. Nun ist ihm sein Wesen natürlich. Folglich wirkt Gott alles, was er wirkt, seinem Wesen nach.

263 Augustinus, De doctrina christiana I, 32, 35 (CCSL 32, 26).

15. Artikel

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9. Nach Aristoteles ist es ein Ziel, das gewollt wird, hingegen werden die Mittel, die zu diesem Ziel führen, gewählt.264 Gott kennt jedoch kein Ende, denn er ist unendlich.265 Folglich wirkt Gott nicht aufgrund des Willens, sondern aufgrund einer ihm wesensmäßigen Notwendigkeit. 10. Wie Augustinus sagt, wirkt Gott, insofern er gut ist.266 Nun ist Gott das notwendig Gute. Also wirkt er aus Notwendigkeit. 11. Alles, was ist, ist entweder kontingent oder notwendig. Nun ist etwas auf dreifache Weise notwendig: durch äußeren Zwang, aufgrund einer Voraussetzung oder im absoluten Sinne. Nun läßt sich nicht behaupten, daß es in Gott etwas Mögliches oder Kontingentes gebe. Denn dies wäre ein Zeichen von Veränderlichkeit, wie Aristoteles erklärt.267 Denn was kontingent ist, das kann auch nicht sein. Ebensowenig gibt es in Gott etwas, was durch äußeren Zwang notwendig wäre. Denn, wie Aristoteles im 5. Buch seiner Metaphysik erklärt, gibt es in Gott nichts, was einen Zwang ausübt und gegen seine Natur wäre.268 Ebensowenig gibt es in Gott etwas, was aufgrund einer Voraussetzung notwendig wäre, denn ein derartig Notwendiges hat bestimmte Ursachen zu seiner Voraussetzung, Gott hingegen hat keine Ursache. Das Gesagte läßt also nur folgenden Schluß zu: Alles, was in Gott liegt, ist im absoluten Sinne notwendig. Demnach bringt Gott die Dinge offensichtlich aus Notwendigkeit ins Sein. 12. In 2 Tim. 2, 13 heißt es: »Gott bleibt treu und kann sich nicht verleugnen«. Da nun Gott die Güte selbst ist, würde er sich selbst verleugnen, wenn er seine Güte verleugnen würde. Seine Güte würde er aber dann verleugnen, wenn er sie nicht reichlich mitteilen würde. Denn das ist ein Charakteristikum der Güte. Folglich ist es Gott nicht möglich, die Geschöpfe nicht hervorzubringen, wenn er seine Güte mitteilt. Folglich bringt er sie aus Notwendigkeit her264 Aristoteles, Eth. Nic. III, 2; 1111 b 26 f. 265 Die Doppeldeutigkeit des lateinischen finis im Sinne von ›Ziel‹ und

›Ende‹ kann im Deutschen nicht mit einem Wort wiedergegeben werden. 266 Augustinus, De doctrina christiana I, 32, 35 (CCSL 32, 26). 267 Aristoteles, Met. XII, 6; 1071 b 12 ff. 268 Aristoteles, Met. V, 5; 1015 b 4 f.

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vor. Denn was unmöglich nicht sein kann, das ist notwendig, wie es in De interpretatione heißt.269 13. Daß der Vater den Sohn zeugt, heißt nach Augustinus so viel wie, daß der Vater sich durch sein Wort ausspricht.270 Nun sagt Anselm, daß Gottvater mit demselben Wort sich selbst und das Erschaffene ausspricht.271 Wenn also die Zeugung des Sohnes durch den Vater wesensmäßig und nicht auf Geheiß des Willens erfolgt, dann ist dies offensichtlich auch bei der Hervorbringung der Geschöpfe der Fall. Denn bei Gott gibt es keinen Unterschied zwischen Sprechen und Tun, wie in Ps. 33, 9 steht: »Er sprach, und es ist geworden«. 14. Alles, was einen Willen hat, will mit Notwendigkeit sein oberstes Ziel. So will etwa der Mensch mit Notwendigkeit sein Glück. Nun ist das oberste Ziel des göttlichen Willens die Teilgabe seiner Güte. Denn er bringt die Geschöpfe hervor, um seine Güte mitzuteilen. Folglich will Gott dies mit Notwendigkeit und mithin bringt er aus Notwendigkeit die Geschöpfe hervor. 15. Wie Gott an sich gut ist, so ist er auch an sich notwendig. Weil Gott nun an sich gut ist, so ist in ihm nichts, was nicht gut wäre. In gleicher Weise ist in ihm nichts, was nicht notwendig wäre. Demnach bringt er aus Notwendigkeit die Geschöpfe hervor. 16. Gottes Wille richtet sich auf ein einziges Ziel: auf das Gute. Nun wirkt die Natur deswegen aus Notwendigkeit, weil sie auf ein einziges Ziel hin festgelegt ist. Folglich bringt auch der göttliche Wille aus Notwendigkeit die Geschöpfe hervor. 17. Wie Hilarius sagt, ist der Vater kraft seines Wesens der Ursprung des Sohnes und des Heiligen Geistes.272 Nun liegt dasselbe Wesen, das im Vater und im Sohn liegt, auch im Heiligen Geist. Aus diesem Grund ist also der Heilige Geist selbst wesensmäßig Ursprung. Ursprung ist er aber ausschließlich für die Geschöpfe. Folglich geht das Erschaffene aus Gott wesensmäßig hervor. 269 Aristoteles, De interpr. 13; 22 a 28 ff. 270 Augustinus, De trin. XV, 14, 23 (CCSL 50 A, 496). 271 Anselm von Canterbury, Monologion 23 (Opera omnia I, ed. Schmitt,

51 ff.). 272 Hilarius, De synodis seu de fide orientalium 58 (PL 10, col. 520).

15. Artikel

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18. Das, was bewirkt wird, geht aus einer wirkenden Ursache hervor. Folglich bringt das Wirkende nur insofern das Bewirkte hervor, als es eine Tätigkeit bzw. Wirksamkeit entfaltet. Nun ist eine Tätigkeit bzw. ein Wirken wesentlich für Gott, denn Gottes Tätigsein ist sein Wesen. Damit ist es ihm ebenso wesensmäßig, daß er eine Wirkung zeitigt, d. h. etwas hervorbringt. 19. Aus dem an sich Guten entsteht nur Gutes und auf gute Weise. Folglich entsteht aus dem an sich Notwendigen nur Notwendiges und in notwendiger Weise. Nun ist dies bei Gott der Fall. Demnach geht alles aus ihm mit Notwendigkeit hervor. 20. Da das, was von sich aus besteht, demjenigen vorgeordnet ist, was sich etwas Anderem verdankt, muß das Erste Wirkende durch sein Wesen wirksam sein. Nun sind sein Wesen und seine Natur identisch. Folglich wirkt es aufgrund seiner Natur. Somit gehen die Geschöpfe aus ihm gemäß seiner Natur hervor. Dagegen spricht: 1. Hilarius sagt: »Allen Geschöpfen verlieh der Wille Gottes ihr Sein«; und: »Die Geschöpfe sind so, wie Gott sie wollte.«273 Folglich bringt Gott die Geschöpfe nach seinem Willen und nicht aus Notwendigkeit hervor. 2. Augustinus wendet sich im 12. Buch seiner Bekenntnisse an Gott und sagt dabei: »Zweifaches hast Du erschaffen, Herr – das eine Dir nahe: den Engel; das andere nahe dem Nichts: die Materie. Doch keines von beiden ist Deines Wesens. Denn keines von beiden ist, was Du bist.«274 Nun geht der Sohn insofern wesensmäßig aus dem Vater hervor, als er desselben Wesens mit dem Vater ist, wie Augustinus sagt.275 Folglich geht das Erschaffene nicht wesensmäßig aus Gott hervor. Antwort: Man muß ohne jede Einschränkung daran festhalten, daß Gott aus freiem Entscheid seines Willens die Geschöpfe ins Sein gebracht 273 Hilarius, De synodis seu de fide orientalium 58 (PL 10, col. 520). 274 Augustinus, Conf. XII, 7, 7 (CCSL 27, 219 f.). 275 Augustinus, De trin. XV, 15, 24 (CCSL 50 A, 498).

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hat und nicht aus einer ihm wesensmäßigen Notwendigkeit. Dies kann im folgenden mit vier Gründen belegt werden. Erstens: Man kann nicht umhin zu sagen, daß das Weltall ein bestimmtes Ziel hat. Andernfalls würde alles im Weltganzen zufällig geschehen, es sei denn man behauptet dann, daß die ersten Geschöpfe nicht wegen eines Zieles, sondern infolge einer Naturnotwendigkeit da waren, die nachkommenden Geschöpfe dagegen wegen eines Zieles. So behauptete etwa Demokrit, daß die Himmelskörper durch Zufall entstanden seien, die niederen Körper hingegen aus spezifischen Ursachen. Dies wird im 2. Buch der Physik damit widerlegt, daß das, was höherrangig ist, keinen geringeren Ordnungsgrad haben kann als das Niederrangigere.276 Man muß daher notwendig sagen, daß Gott bei der Hervorbringung der Geschöpfe ein bestimmtes Ziel im Auge hatte. Nun gilt sowohl für den Willen als auch für die Natur, daß sie wegen eines bestimmten Zieles ihre Wirksamkeit entfalten, dies jedoch auf je andere Weise. Da nämlich die Natur kein Bewußtsein von einem Ziel hat, auch nicht von dessen Begriff und von dem Verhältnis zwischen den Mitteln und einem Ziel, so kann sie sich weder ein Ziel setzen noch sich von selbst auf dieses Ziel hin in Bewegung setzen, festlegen und ausrichten. So etwas trifft jedoch auf etwas willentlich Wirksames zu. Für dieses ist es charakteristisch, daß es ein Bewußtsein von einem Ziel und von all dem eben Erwähnten hat. Daher ist das, was willentlich wirkt, um ein Ziel in der Weise bemüht, daß es sich ein Ziel setzt, sich in gewisser Weise von selbst auf dieses hin in Bewegung setzt und sein Wirken auf dieses Ziel hin festlegt. Die Natur dagegen richtet sich auf ein Ziel, indem sie von etwas anderem, das einen Intellekt und Willen hat, in Bewegung versetzt und gesteuert wird. Dies zeigt sich etwa anhand eines Pfeiles, der sich aufgrund seiner Ausrichtung durch den Bogenschützen auf das ihm gesteckte Ziel richtet. In diesem Sinne sagen die Philosophen, daß das Werk der Natur sich dem Werk einer Intelligenz verdankt. Das jedoch, was sich etwas Anderem verdankt, ist dem nachgeordnet, was von sich aus besteht. Daher muß das Erste, das alles auf sein Ziel ausrichtet, dies willentlich tun. Somit hat Gott die Geschöpfe durch 276 Aristoteles, Phys. II, 4; 196 a 25 – b 5.

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seinen Willen ins Sein gebracht und nicht gemäß seiner Natur. Es läßt sich hierbei auch nicht einwenden, daß der Sohn wesensmäßig aus dem Vater hervorgeht und seine Zeugung der Schöpfung vorangeht. Denn der Sohn richtet sich bei seinem Hervorgang nicht auf ein Ziel, er ist vielmehr das Ziel von allem. Zweitens: Die Natur ist auf etwas ganz Bestimmtes hin festgelegt. Weil aber jedes tätige Wesen etwas ihm Gleiches hervorbringt, so ist klar, daß die Natur eine Gleichheit hervorzubringen bestrebt ist, die jeweils in einer bestimmten Hinsicht besteht. Nun ist der Grund für eine Gleichheit die Einheit, dagegen ist der Grund für eine Ungleichheit die Vielheit, von der es unterschiedliche Spielarten gibt. Deshalb gleicht etwas einem anderen nur in einer einzigen Hinsicht; Ungleichheit gibt es hingegen in vielerlei Abstufungen. Die Natur bringt also stets etwas ihr Gleiches hervor, es sei denn, das Vermögen zu einem aktiven Wirken bzw. das Vermögen, eine Einwirkung zulassen oder erfahren zu können, ist zu schwach ausgeprägt. Nun tangiert ein zu schwach ausgeprägtes passives Vermögen Gott in keinerlei Weise, da er keine Materie benötigt. Ebensowenig ist Gottes Kraft zu schwach; sie ist vielmehr unendlich. Aus diesem Grund geht von ihm allein das wesensmäßig hervor, was ihm gleich ist, und das ist der Sohn. Das Erschaffene hingegen, das ihm nicht gleich ist, geht nicht wesensmäßig, sondern nach seinem Willen aus ihm hervor; es gibt nämlich viele Abstufungen von Ungleichheit. Ebensowenig läßt sich behaupten, daß die göttliche Kraft nur auf ein einziges Ziel hin festgelegt sei, da sie doch unendlich ist. Wenn daher die göttliche Kraft verschiedene Abstufungen von Ungleichheit unter den Geschöpfen hervorbringt, so daß das Erschaffene eine jeweils bestimmte Rangstufe einnimmt, dann geschieht dies aus freiem Willensentscheid und nicht infolge einer wesensmäßigen Notwendigkeit. Drittens: Da jedes Wirkende auf etwas hin wirkt, was ihm in irgendeiner Weise ähnelt, so muß das Bewirkte in gewisser Weise bereits in seiner Ursache vorhanden sein. Nun hat aber alles, was in etwas liegt, die Seinsweise dessen, in dem es liegt. Wenn daher Gott selbst Geist ist, so liegt das Erschaffene auf geistige Weise bereits in ihm. Aus diesem Grund heißt es in Joh. 1, 3: »Was geworden ist, das war in Ihm Leben.« Was aber im Intellekt liegt, das wird nur mit

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Hilfe des Willens zur Ausführung gebracht. Denn der Wille bringt das Gedachte zur Ausführung, und das, was gedacht werden kann, versetzt den Willen in Bewegung. Folglich muß das Erschaffene willentlich aus Gott hervorgegangen sein. Viertens: Nach Aristoteles kennt ein Wirken zweierlei Weisen. Das eine Mal verbleibt es im Wirkenden selbst und stellt dessen Vollkommenheit und Wirklichkeit dar, so etwa im Falle des Denkens, des Wollens und dergleichen. Das andere Mal überträgt sich das Wirken vom Wirkenden auf einen außerhalb liegenden Empfänger, und hier stellt das Wirken die Vollkommenheit und Wirklichkeit des Empfängers dar, so etwa bei der Erhitzung, der Auslösung einer Bewegung usw. Gottes Wirken kann jedoch nicht nach der zweiten Weise verstanden werden. Denn da das Wirken sein Wesen ist, greift es nicht über Gott hinaus. Daher muß man Gottes Wirken nach der ersten Weise verstehen, und diese Wirkensweise findet sich nur bei dem, was Intellekt, Willen hat, bzw. bereits bei dem, was Sinneswahrnehmung besitzt. Letzteres kommt allerdings bei Gott nicht vor. Denn das Wirken eines Wahrnehmungssinnes überträgt sich zwar nicht auf einen außerhalb liegenden Gegenstand, es wird jedoch durch das Wirken des Letzteren verursacht. Gott wirkt also alles, was er außerhalb seiner selbst wirkt, dadurch, daß er es denkt und will. Damit ist jedoch nicht in Abrede gestellt, daß die Zeugung des Sohnes etwas Wesensmäßiges ist. Denn diese Zeugung geht, wie sich versteht, nicht auf etwas, was außerhalb der göttlichen Wesenheit liegt. Man muß also sagen, daß alles Erschaffene aus Gott willentlich hervorgebracht worden ist und nicht infolge einer ihm wesensmäßigen Notwendigkeit. Zu 1. Das Gleichnis von Dionysius hat die allumfassende Reichweite einer Verbreitung im Auge. Die Sonne verbreitet ja ihre Strahlen über alle Körper, ohne den einen vor dem anderen zu bevorzugen, und dies gilt ebenso für die göttliche Güte. Das Gleichnis spricht jedoch nicht von einem Fehlen des Willens. Zu 2. Es liegt an ihrer Vollkommenheit, daß die Kraft der göttlichen Natur den Geschöpfen die Ähnlichkeit mit ihr zuteil werden läßt. Gleichwohl erfolgt diese Teilgabe nicht aufgrund einer wesensmäßigen Notwendigkeit, sondern aus freiem Willen.

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Zu 3. Daraus erhellt auch die Antwort auf dieses Argument. Zu 4. Im Hinblick auf die innere Konstitution der Dinge hat der Wille keine Gewalt über die Natur, jedoch im Hinblick auf die äußerlichen Konstituentien der Dinge hat der Wille Gewalt über die Natur. So steht etwa bei der Fortbewegung der Lebewesen die Natur ihrer Muskeln und Nerven unter der Verfügungsgewalt eines Verlangens. Daher ist es auch nicht unsinnig, wenn kraft des göttlichen Wesens die Geschöpfe ins Sein gelangen, und zwar nach Gottes Willensentscheid. Zu 5. Das Gute ist der eigentliche Gegenstand für den Willen. Insofern also Gott selbst seine Güte will und bejaht, ist sie als gewollte die Ursache für das Erschaffene. Zu 6. Zwar sind Gottes Natur und Wille sachlich miteinander identisch, nicht aber dem Begriff nach, und zwar dahingehend, daß sie seinen jeweils verschiedenen Bezug zum Erschaffenen zum Ausdruck bringen. Denn »Natur« meint einen Bezug auf etwas ganz Bestimmtes, »Wille« hingegen nicht. Zu 7. Es liegt nicht bloß an ihrer Unveränderlichkeit, daß die Natur etwas mit Notwendigkeit hervorbringt, sondern auch daran, daß sie auf etwas ganz Bestimmtes hin festgelegt ist. Letzteres trifft zwar auf den göttlichen Willen nicht zu, und doch ist er ganz und gar unabänderlich. Zu 8. Das Wirken kommt Gott zwar wesensmäßig zu, da es seine Natur bzw. sein Wesen ist. Gleichwohl ist die Schöpfung als ein Resultat abhängig von einem Wirken, das sich angesichts seiner geistigen Vollzugsart als ein willentliches Prinzip darstellt. Genauso ist ja eine Erwärmung im Sinne eines Resultates abhängig von der Art der Wärme. Zu 9. Gott ist unendlich und doch auch das Endziel, worauf alles hingeordnet ist. Denn Gott ist nicht in einem privativen Sinne unendlich, so wie etwa eine Unbegrenztheit bei einer Quantität auftreten kann,277 die ihrem Wesen nach eine Grenze hat. Denn in diesem Fall gibt es keine Grenze und zugleich eine Grenze. Gott hingegen

277 sicut infinitum est passio quantitatis L : sicut finitum est passio quantitatis M.

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nennt man im negativen Sinne unendlich, weil er überhaupt ohne Ende ist. Zu 10. Gott wirkt zwar, insofern er gut ist; und die Güte liegt mit Notwendigkeit in ihm. Gleichwohl folgt daraus nicht, daß er mit Notwendigkeit wirkt. Denn die Güte entfaltet durch den Willen ihre Wirksamkeit, insofern sie den Gegenstand bzw. das Ziel des Willens darstellt. Der Wille richtet sich aber nicht unbedingt nach den Mitteln, die zu diesem Ziel führen, wenngleich er sich mit Notwendigkeit auf sein oberstes Ziel richtet. Zu 11. Das, was in Gott selbst liegt, kann man nicht als etwas Mögliches beschreiben, sondern ausschließlich als etwas wesensmäßig und absolut Notwendiges. Was jedoch das Erschaffene anbelangt, so kann man in Gott eine Möglichkeit annehmen, jedoch nicht im Sinne eines passiven Vermögens, sondern im Sinne eines aktiven Vermögens, das nicht auf etwas ganz Bestimmtes festgelegt ist. Zu 12. Wenn Gott seine Güte in der Weise verleugnen könnte, daß er etwas gegen seine Güte entstehen lassen würde bzw. etwas, worin seine Güte nicht zum Ausdruck käme, dann würde sich daraus die absurde Schlußfolgerung ergeben, daß er sich selbst verleugnete. Diese Schlußfolgerung ergibt sich aber nicht, wenn er niemandem sein Güte zuteil werden ließe. Denn es würde seiner Güte keinen Abbruch tun, wenn er sie nicht mitteilen würde. Zu 13. Das göttliche Wort selbst geht zwar wesensmäßig aus dem Vater hervor. Gleichwohl müssen nicht auch die Geschöpfe wesensmäßig aus Gott hervorgehen. Denn der Vater spricht in seinem Wort die Geschöpfe in der Weise aus, in der sie im Vater selbst sind, und darin liegen sie freilich nicht als notwendig hervorzubringende, sondern als gewollte. Zu 14. Nicht ihre Teilgabe, sondern die göttliche Güte selbst ist das oberste Ziel. Denn an ihrer Bejahung liegt es, daß Gott seine Güte mitteilen will. Denn Gott wirkt nicht deshalb in seiner Güte, weil er etwas erstreben würde, das er nicht hätte, sondern weil er zuteil werden lassen will, was er hat. Gottes Wirken besteht ja nicht darin, daß er ein Ziel anstrebt, sondern daß er dieses Ziel bejaht. Zu 15. Ebenso wie nichts in Gott ist, was nicht gut wäre, so ist auch nichts in ihm, was nicht notwendig wäre. Trotzdem geht all

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das, was von ihm kommt, nicht auch mit Notwendigkeit aus ihm hervor. Zu 16. Wie in der »Antwort« ausgeführt, richtet sich Gottes Wille seinem Wesen nach auf seine Güte. Daher kann Gott nur das wollen, was ihm entspricht, und das ist das Gute. Gleichwohl ist der Wille nicht auf dieses oder jenes einzelne Gute festgelegt. Daher braucht das bestehende Gute nicht auch mit Notwendigkeit aus ihm hervorzugehen. Zu 17. Vater, Sohn und Heiliger Geist sind eines Wesens. Dennoch liegt dieses Wesen in den drei Personen nicht in derselben Weise vor, was meint: nicht in derselben Hinsicht. Denn im Vater liegt das göttliche Wesen, insofern es von keinem anderen empfangen ist; im Sohn aber, insofern es vom Vater empfangen ist. Von daher braucht das, was dem Vater kraft seines Wesens zukommt, nicht auch dem Sohn und dem Heiligen Geist zuzukommen. Zu 18. Das, was sich aus einem Wirken ergibt, hängt ab von der Vollzugsweise dessen, was das Prinzip für dieses Wirken ist. Als das Prinzip für das göttliche Wirken, welches sich auf die Geschöpfe richtet und das sich auf geistige Weise vollzieht, hat nun der göttliche Wille zu gelten. Da dieser in keinem notwendigen Bezug zum Erschaffenen steht, so braucht das Erschaffene nicht mit einer wesensmäßigen Notwendigkeit aus Gott hervorzugehen, auch wenn das Wirken als solches Gottes Wesen bzw. Natur ist. Zu 19. Das Erschaffene hat Ähnlichkeit mit Gott im Hinblick auf seine allgemeinen Bestimmungen, nicht jedoch im Hinblick darauf, wie es an diesen teilhat. Denn das Sein liegt in jeweils anderer Weise in Gott und im Geschöpf, und entsprechend auch die Güte. Daher stammt zwar alles, was gut ist, vom Ersten Guten und alles, was ist, vom Ersten Seienden. Gleichwohl ist nicht alles im höchsten Maße gut, weil es vom Höchsten Guten kommt, und nicht alles notwendig, weil es von dem notwendig Seienden kommt. Zu 20. Gottes Wille ist sein Wesen. Wenn er daher willentlich etwas wirkt, so ist damit nicht ausgeschlossen, daß er durch sein Wesen wirkt. Denn Gottes Wille ist nicht eine Art von Streben, das zu seinem Wesen zusätzlich hinzukommt, sondern sein Wesen selbst.

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16. Artik el Die 16. Frage lautet: Kann aus dem Ersten Einen eine Vielheit hervorgehen? 278 Dies scheint nicht der Fall zu sein; denn: 1. Wie Gott das Gute an sich und mithin das höchste Gute ist, so ist er auch an sich und in höchster Weise Einer. Nun kann aus ihm, insofern er gut ist, nur Gutes hervorgehen. Folglich kann aus ihm auch nur Eines hervorgehen. 2. Wie das Gute so ist auch das Eine mit dem Seienden konvertibel. Nun hat das, was ist, eine Ähnlichkeit mit Gott, wie im vorigen Artikel ausgeführt worden ist. Demnach muß das Erschaffene Gott sowohl in der Güte als auch in der Einheit ähneln, also Ein Erschaffenes aus dem Einen sein. 3. Wie Gut und Böse in einem allgemeinen Sinne einen privativen Gegensatz darstellen – als zwei verschiedene Habitus stehen sie allerdings in einem konträren Verhältnis zueinander –, so stellen nach dem 10. Buch der Metaphysik auch das Eine und das Viele einen privativen Gegensatz dar.279 Nun kann man auf keinen Fall sagen, daß das Böse von Gott ausgehe, sondern vielmehr, daß es von einem Mangel bei den Zweitursachen herrührt. Folglich läßt sich nicht behaupten, daß Gott die Ursache für die Vielheit sei. 4. Ursache und Verursachtes stehen in einer bestimmten Entsprechung zueinander, insofern nämlich, wie Aristoteles erklärt, Einzelnes die Ursache für Einzelnes ist, sowie Allgemeines die Ursache für Allgemeines.280 Nun ist Gott die alles umfassende Ursache. Folglich ist das, was von ihr verursacht ist, etwas von höchster Allgemeinheit, und dies ist das Sein. Nun kann die Vielheit nicht daran liegen, daß die Dinge das Sein haben, wenn doch der Grund für die Vielheit die Verschiedenheit oder die Differenz ist, das Sein aber allen Dingen gemeinsam ist. Folglich kommt die Vielheit nicht von Gott, sondern von den Zweitursachen, aus denen sich die einzelnen Bestimmun-

278 Paralleltexte: Sum. theol. I, q. 47 a. 1. ScG II, 39−46; III 97. De pot. q. 3 a. 1 ad 9. Comp. theol. 71. In Met. XII, 2. In De caus. I, 24. 279 Aristoteles, Met. X, 3; 1054 a 20 ff. 280 Arsitoteles, Phys. II, 3; 195 b 25 f.

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gen für die Dinge ergeben und nach deren Maßgabe sich die Dinge voneinander unterscheiden. 5. Jede Wirkung wird durch ihre Ursache gekennzeichnet. Nun ist das Eine unmöglich ein Kennzeichen des Vielen. Demnach kann das Eine unmöglich die Ursache des Vielen sein. 6. Nun wird man einwenden: Dies gilt für natürliche Ursachen, nicht aber für Ursachen, die mit einem Willen ausgestattet sind. – Dem ist zu erwidern: Der Handwerker ist aufgrund seines Willens die Ursache für sein Werk. Ein Erzeugnis geht aber aus dem Handwerker hervor nach Maßgabe der für dieses Erzeugnis charakteristischen Form, die der Handwerker vor Augen hat. Also muß auch das willentlich Verursachte seine je charakteristische Ursache haben. 7. Zwischen einer Ursache und dem von ihr Bewirkten muß eine formale Übereinstimmung herrschen. Nun ist Gott ganz und gar Einer und einfach. Folglich dürfte sich auch am Erschaffenen, das ja durch Gott bewirkt wird, weder Vielheit noch Zusammensetzung finden lassen. 8. Ein und dasselbe Verursachte kann nicht unmittelbar aus verschiedenen Ursachen stammen. Nun ist eine Ursache für ihre Wirkung genauso kennzeichnend wie umgekehrt eine Wirkung für ihre Ursache. Folglich können sich auch nicht unmittelbar mehrere Wirkungen aus ein und derselben Ursache ergeben. Somit gilt das Gleiche wie vorhin. 9. In Gott sind die Kraft zur Zeugung, zur Hauchung und zur Schöpfung miteinander identisch. Nun bewirkt sowohl die Kraft zur Zeugung als auch die Kraft zur Hauchung ausschließlich Eines. Denn in der Trinität kann es ausschließlich den Einen Sohn und den Einen Heiligen Geist geben. Folglich bewirkt auch die Kraft zur Schöpfung ausschließlich Eines. 10. Nun wird man einwenden: Das Erschaffene stellt in seiner Gesamtheit gewissermaßen ein Eines dar, betrachtet man seine Rangstellung. – Dem ist zu erwidern: Das Bewirkte muß seiner Ursache ähneln. Nun stellt aber Gottes Einheit nicht die Einheit einer Rangstufe dar, denn in Gott gibt es weder ein Früher noch ein Später, weder ein Höher noch ein Niedriger. Folglich ist eine Einheit in der Rangstellung noch kein Grund dafür, daß durch den Einen Gott das Viele in Erscheinung treten kann.

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11. Was einfach und Eines ist, kennt nur ein einziges Wirken. Nun geht aus diesem einen Wirken ausschließlich eine einzige Wirkung hervor. Demnach kann durch das, was einfach und Eines ist, nur eine einzige Wirkung hervorgehen. 12. Das Erschaffene geht aus Gott nicht nur wie ein Bewirktes aus seiner Wirkursache hervor, sondern auch wie ein Abbild aus seinem Urbild. Nun gibt es für ein einziges Abbild auch nur ein einziges Urbild. Folglich kann aus Gott nur ein einziges Geschöpf hervorgehen. 13. Gott ist als Geist die Ursache für die Dinge. Etwas geistig Wirkendes wirkt aber durch die Form seines Intellekts. Wenn es also im göttlichen Geist nur die eine Form gibt, so kann aus ihm offensichtlich nur ein einziges Geschöpf hervorgehen. 14. Nun wird man einwenden: Zwar ist die Form von Gottes Geist, die mit seinem Wesen identisch ist, in Wirklichkeit eine einzige. Gleichwohl zeigt sich dort eine gewisse Vielheit, wenn man die verschiedenen Relationen auf die unterschiedlichen Geschöpfe berücksichtigt. Dann gibt es nämlich hier eine Vielheit dem Begriff nach. – Dem ist zu erwidern: Jene Relationen liegen entweder im göttlichen Geist oder sie liegen allein in unserem Verstand. Aus der ersten Möglichkeit folgt, daß es im göttlichen Geist Vielheit gibt und nicht höchste Einfachheit. Aus der zweiten Möglichkeit folgt, daß Gott die verschiedenen Geschöpfe nur durch Vermittlung des menschlichen Verstandes hervorbringt. Folglich bringt Gott die verschiedenen Geschöpfe mit Hilfe von unterschiedlichen Relationen hervor, die allein in unserem Verstand liegen. Damit ist die obige Behauptung bekräftigt, der zufolge aus Gott nicht unmittelbar das Viele hervorgeht. 15. Gott bringt die Dinge durch einen Denkakt seines Geistes ins Sein. Nun gibt es in Gott nur einen einzigen Denkakt, denn sein Geist ist mit seinem Wesen identisch, und dieses ist Eines. Folglich bringt er nur ein einziges Geschöpf hervor. 16. Das, was ein Sein ausschließlich im menschlichen Verstand hat, ist nicht von Gott erschaffen. Derartiges, z. B. eine Chimäre und dergleichen, ist ja in gewisser Weise etwas Nichtiges. Nun kommt Vielheit nur im menschlichen Verstand vor. Denn »Vielheit« meint als Abstraktum des Vielen etwas, was in der Wirklichkeit nicht vorkommt. Folglich ist Gott nicht die Ursache der Vielheit.

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17. Nach Platon ist es für den Besten kennzeichnend, daß er das Beste herbeiführt.281 Nun kann nur ein Einziger der Beste sein. Wenn also Gott der Beste ist, dann kann durch ihn nur Eines hervorgebracht werden. 18. Alles, was auf ein Ziel hin wirkt, versucht, das von ihm Bewirkte möglichst nahe an dieses Ziel zu bringen. Nun ordnet Gott bei der Hervorbringung der Geschöpfe diese auf ein Ziel hin. Demnach bringt er die Geschöpfe diesem Ziel möglichst nahe. Dies kann aber nur in einer einzigen Weise geschehen. Folglich bringt Gott nur ein einziges Geschöpf hervor. 19. Es ist nicht gerecht, wenn jemand mehreren Personen ungleiche Gaben zukommen läßt, es sei denn, es besteht unter diesen Leuten schon im voraus eine Ungleichheit, die sie verdient haben, oder Ungleichheit in einer anderen Hinsicht. Nun geht dem Wirken Gottes keine Verschiedenheit voran, es wäre ja sonst nicht die erste Ursache von allem. Folglich hat Gott bei der ersten Erschaffung der Dinge den Geschöpfen keine ungleichen Gaben verliehen. Die Verschiedenheit unter den Geschöpfen und die Vielheit ist vielmehr dadurch zu erklären, daß, wie es im 4. Kapitel der Himmlischen Hierarchien heißt, die Geschöpfe die Gaben Gottes in höherem oder geringerem Ausmaß annehmen.282 Folglich hat Gott bei der ersten Erschaffung der Dinge die Vielheit nicht hervorgebracht. 20. Gott teilt dem Erschaffenen seine Güte in dem Maße mit, wie dieses in der Lage ist, sie aufzunehmen. Nun war die Natur der höheren Geschöpfe derart für eine Vollkommenheit und Erhabenheit empfänglich, daß sie die Ursachen für die niederen Geschöpfe wurden. Denn das, was in einem höheren Grad vollkommen ist, kann auf das einwirken, was weniger vollkommen ist als es selbst, und dieses an seiner Vollkommenheit teilhaben lassen. Demnach hat Gott die niederen Geschöpfe offensichtlich vermittels der höheren Geschöpfe hervorgebracht. Folglich hat Gott unmittelbar nur ein einziges Geschöpf hervorgebracht, das jedes andere beliebige Geschöpf überragt.

281 Platon, Timaios 29 E – 30 C. 282 Dionysius Areopagita, De cael. hier. IV, 1 (Dion. II, 791−803).

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21. Je mehr die Formen frei von Materie sind, desto wirksamer sind sie, da sie weiter von der Möglichkeit entfernt sind. Denn alles ist wirksam, insofern es in der Wirklichkeit und nicht der Möglichkeit nach ist. Nun sind die Formen für die Dinge, welche im Geist eines Engels liegen, in höherem Grade frei von Materie als diejenigen Formen, welche an den natürlichen Dingen auftreten. Wenn daher die natürlichen Formen die Ursache für Formen sind, welche ihnen gleichen, dann bringen erst recht diejenigen Formen, die im Geist eines Engels liegen, natürliche Formen hervor, die diesem Engel gleichen. Nun liegt aber die Verschiedenheit der Dinge und mithin ihre Vielheit an den Formen. Demnach ist die Vielheit offenbar nur vermittels der höheren Geschöpfe aus Gott hervorgegangen. 22. Alles, was Gott entstehen läßt, ist Eines. Demnach kommt von ihm nichts, was nicht Eines wäre. Somit ist er nicht die Ursache für das Viele. 23. Gott denkt nur Einen Gedanken. Denn er denkt nichts außerhalb seiner selbst, wie im 12. Buch der Metaphysik gezeigt wird.283 Nun ist Gott durch sein Denken die Ursache für die Dinge. Also verursacht er nur Eines. 24. Anselm sagt, daß in Gott das Erschaffene schöpferisches Sein sei.284 Das schöpferische Sein ist aber nur Eines. Folglich ist auch das Erschaffene in Gott nur Eines. Nun wird aber das Erschaffene von Gott so erschaffen, wie es in Gott bereits liegt. Demnach kommt aus Gott ausschließlich ein einziges Erschaffenes, und damit geht keine Vielheit aus Gott hervor. Dagegen spricht: 1. In Weish. 11, 21 heißt es: »Alles hast Du, Herr, nach Zahl, Gewicht und Maß geordnet.« Nun gibt es ohne die Zahl keine Vielheit. Folglich geht aus Gott die Vielheit hervor. 2. Gottes Kraft überragt die Kraft eines jeden anderen Dinges. Nun kann ein einziger Punkt der Ursprung für viele Linien sein.

283 Aristoteles, Met. XII, 9; 1074 b 33 ff. 284 Anselm von Canterbury, Monologion 8 (Opera omnia I, ed. Schmitt,

23); 9 (ed. Schmitt, 24); 12 (ed. Schmitt, 26).

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Somit kann Gott, auch wenn er Einer ist, der Ursprung für viele Geschöpfe sein. 3. Das, was für das Eine als solches charakteristisch ist, trifft im höchsten Grad auf das zu, was im höchsten Grad Eines ist. Nun ist es für die Einheit charakteristisch, Prinzip der Vielheit zu sein. Folglich trifft es auf Gott, der im höchsten Grad Einer ist, zu, daß aus ihm die Vielheit hervorgeht. 4. Zu Beginn seiner Arithmetik sagt Boethius, daß Gott nach zahlenmäßigem Vorbild die Dinge ins Sein gebracht hat.285 Nun gleicht ein Abbild seinem Vorbild in formaler Hinsicht. Demnach hat Gott die Dinge in Vielheit und Vielzahl hervorgebracht. 5. In Ps. 104, 24 heißt es: »Alles hast Du in Weisheit geschaffen.« Wenn die Errichtung einer Ordnung ein Merkmal von Weisheit ist, so muß das, was durch die Weisheit entsteht, eine Ordnung und mithin Vielheit aufweisen. Folglich geht aus Gott die Vielheit der Dinge hervor. Antwort: Daß das Viele nicht unmittelbar und im eigentlichen Sinne aus einem einzigen Prinzip hervorgehen kann, liegt anscheinend daran, daß jede Ursache auf eine bestimmte Wirkung festgelegt ist. Von daher erscheint dann der Hervorgang einer bestimmten, so und so gearteten Wirkung als unbedingt notwendig, wenn ihre Ursache ebenfalls so und so geartet ist. Nun gibt es vier Typen von Ursachen. Zwei davon, nämlich die Materie und die Wirkursache, gehen zuweilen286 dem Sein nach ihrer Wirkung voran. Die Zielursache hingegen ist nicht dem Sein nach, doch aber als ein Richtungssinn vorgängig. Die Form als solche ist in keiner der beiden Spielarten vorgängig. Denn da die Form dem von ihr Verursachten ein Sein verleiht, so besteht das Sein der Form zugleich mit dem Sein des von ihr Verursachten. Insofern aber auch die Form ein Ziel darstellt, geht sie dem von ihr Verursachten dadurch voran, daß das Wirkende auf sie hinwirkt. Aber auch wenn eine Form das Ziel eines Wirkens darstellt, bei dem das Wirkende 285 Boethius, De institutione arithmetica I, 2 (ed. Friedlein, 12). 286 secundum esse interdum V : secundum esse internum M.

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mit seinem Wirken zu einem Abschluß kommt, so ist doch nicht jedes Ziel auch eine Form. Denn es gibt ja auch ein Ziel im Sinne einer Bestimmung, die über das Ziel eines Wirkens hinausgeht. Ersichtlich wird dies etwa an einem Haus. Denn dessen Form ist das Ziel, mit dem das Wirken des Baumeisters zu einem Abschluß gelangt. Gleichwohl erschöpft sich in dieser Form nicht die Bestimmung des Hauses, sondern sie hat ein weiteres Ziel: seine Bewohnbarkeit. So könnte man also sagen, daß das Ziel des Wirkens die Form des Hauses ist, das Bestimmungsziel aber seine Bewohnbarkeit. Daß demnach etwas Verursachtes unweigerlich so sein muß, wie es ist, kann nicht an seiner Form als solcher liegen, da ja eine Form mit dem von ihr Verursachten einhergeht. Vielmehr kann dies an der Kraft der Wirkursache oder an der Materie oder aber an dem Ziel liegen, wobei es sich bei letzterem um ein Bestimmungsziel oder um das Ziel eines Wirkens handeln kann. Nun läßt sich aber nicht behaupten, daß das von Gott Bewirkte aufgrund der Materie unweigerlich so sein muß, wie es ist. Denn da Gott der Urheber des gesamten Seins ist, kann für sein Wirken nichts vorausgesetzt werden, was in irgendeiner Weise schon ein Sein hätte, so daß man dann genötigt wäre zu sagen, das von Gott Bewirkte sei infolge einer bestimmten Verfassung der Materie so und so geartet. Ebensowenig kann dafür seine Wirkkraft in Anspruch genommen werden. Denn da Gottes aktives Vermögen unbegrenzt ist, so ist es nicht auf Eines hin festgelegt, es sei denn, dieses käme Gott gleich. So etwas trifft aber unmöglich auf irgendein Bewirktes zu. Wenn daher Gott etwas hervorbringt, was notwendigerweise unter ihm steht, dann ist Gottes Vermögen als solches dabei nicht an ein bestimmtes Maß an Höhenunterschied gebunden, so daß nun aus eben dieser aktiven Kraft unweigerlich ein so und so geartetes Bewirktes hervorgehen müßte. Ebensowenig kann hier das Bestimmungsziel den Ausschlag geben. Denn Ziel ist die göttliche Güte, der nichts zuwächst, wenn sie das Bewirkte hervorbringt. Zudem kann sich die göttliche Güte nicht vollständig im Bewirkten darstellen bzw. sich nicht vollständig dem Bewirkten mitteilen, so daß man sagen könnte, das von Gott Bewirkte müsse unweigerlich so und so geartet sein, um voll-

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ständig an der göttlichen Güte teilhaben zu können. Vielmehr kann das Bewirkte auf vielerlei Weise daran teilhaben. Daher entsteht nichts von dem, was Gott bewirkt, notwendig aufgrund seiner Zielbestimmung. Denn Notwendigkeit aufgrund einer Zielbestimmung herrscht dann, wenn ein Bestimmungsziel ohne das Auftreten eines bestimmten Faktors überhaupt nicht oder nur unvollständig erreicht werden kann. Man kann also nur zu dem Schluß gelangen, daß das, was durch Gottes Wirken unweigerlich zustande kommt, nur von der Form im Sinne eines Wirkenszieles herrühren kann. Denn da eine solche Form nicht unbegrenzt ist, so hat sie ganz bestimmte Prinzipien, ohne die sie nicht bestehen kann, und einen ganz bestimmten Seinsmodus. In diesem Sinne können wir etwa sagen: Wenn Gott einen Menschen zu erschaffen beabsichtigt, dann ist es dabei unbedingt notwendig, daß er dem Menschen eine vernunftbegabte Seele und einen organischen Körper verleiht, da der Mensch sonst nicht Mensch sein kann. Entsprechendes läßt sich auch vom Weltganzen sagen. Daß nämlich Gott eben dieses, so und so geartete Weltganze hat einrichten wollen, ist nichts unbedingt Notwendiges, und dies, wie aufgezeigt, weder aufgrund eines Zieles noch aufgrund einer Wirkursache noch aufgrund einer Materie. Jedoch in Anbetracht dessen, daß Gott das Weltganze, so wie es ist, erschaffen wollte, war es notwendig, die Geschöpfe, so wie sie sind, hervorzubringen, aus denen ja die Form des Weltganzen, so wie sie ist, besteht. Für die Vollkommenheit des Weltganzen ist aber die Vielzahl und Unterschiedlichkeit der Dinge vonnöten, denn an einem einzelnen Ding läßt sich diese Vollkommenheit nicht finden, da es ja an die Fülle der Ersten Güte nicht heranreicht. In Anbetracht dessen, daß diese Form des Weltganzen beabsichtigt war, war es deshalb notwendig, daß Gott viele und unterschiedliche Geschöpfe hervorgebracht hat: einfache und zusammengesetzte, vergängliche und unvergängliche. Das Dargelegte bedachten einige Philosophen nicht und wichen daher in unterschiedlicher Weise von der Wahrheit ab. (A) Manche kamen nicht zu der Einsicht, daß Gott der Urheber des Weltganzen ist, und gelangten deshalb zu der Ansicht, daß die Materie ihr Sein keinem Anderen verdanke und daß aus ihr mit Notwendigkeit die Verschiedenheit der Dinge stamme, und zwar

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je nach Verdünnung und Verdichtung der Materie, wie dies die ältesten Naturphilosophen annahmen, die nur die Materialursache kannten. Oder aber es war das Wirken einer Wirkursache, das je nach unterschiedlicher Materie Unterschiedliches bewirken könne. In diesem Sinne nahm Anaxagoras einen göttlichen Geist an, der die unterschiedlichen Dinge hervorbringe, indem er sie aus einem Materiegemisch herauslöse. Empedokles nahm an, daß sich das verschiedene Bewirkte je nach unterschiedlicher Materie auf verschiedene Weise in »Liebe« und »Streit« vereinige und trenne. Der Irrtum dieser Leute erklärt sich aus Zweierlei. Erstens daraus, daß sie nicht erkannten, daß alles Sein aus dem Ersten und höchsten Seienden fließt, was bereits in einer anderen Untersuchung gezeigt worden ist.287 Zweitens folgerten sie, daß sich die Herausbildung der Teile des Weltganzen und deren Anordnung dem Zufall verdanke, und dies sei notwendigerweise so aufgrund der Notwendigkeit der Materie. (B) Andere, wie z. B. Avicenna und seine Schüler, erklärten die Vielzahl der Dinge und deren unterschiedliche Verhaltensweisen aus der Notwendigkeit ihrer Wirkursache.288 Avicenna lehrte nämlich, daß das Erste Seiende, insofern es sich selbst denkt, nur ein einziges Verursachtes hervorbringe, und dies sei die erste Intelligenz, der notwendig etwas von der Einfachheit des Ersten Seienden abgehe. Denn bei dieser ersten Intelligenz beginne sich insofern die Möglichkeit der Wirklichkeit beizumengen, als ein Sein, welches sich einem anderen verdankt, nicht ein für sich bestehendes Sein ist, sondern gewissermaßen Möglichkeit im Vergleich zu diesem sei. Insofern also die erste Intelligenz das Erste Seiende denke, gehe aus ihr eine weitere Intelligenz hervor, die geringer sei als sie selbst. Insofern diese nun die ihr eigene Möglichkeit denke, gehe aus ihr das Himmelszelt hervor, das sie in Bewegung versetze. Insofern sie aber ihre Wirklichkeit denke, gehe aus ihr die Seele des ersten Himmels hervor. Somit würde über viele Vermittlungsinstanzen hinweg dann eine Vielzahl unterschiedlicher Dinge entstehen. Aber auch diese Lehre kann keine Gültigkeit für sich beanspru287 Vgl. De pot. q. 3 a. 1. 288 Avicenna, Met. IX, 4 (Avicenna latinus 4, ed. Van Riet, 481 ff.)

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chen. Denn erstens nimmt sie an, daß das göttliche Vermögen auf eine einzige Wirkung festgelegt ist, und das sei die erste Intelligenz. Zweitens nimmt sie an, daß außer Gott noch andere Substanzen als Schöpfer weiterer Substanzen auftreten würden. Daß so etwas unmöglich ist, wurde im 4. Artikel dieser Untersuchung aufgezeigt. Wie im ersten Fall so ergibt sich auch bei dieser Lehre, daß die Schönheit, die in der Ordnung des Weltganzen zu Tage tritt, zufällig sei, gerade weil diese Lehre die Verschiedenheit der Dinge nicht von ihrem Bestimmungsziel her erklärt, sondern dadurch, daß die aktiven Ursachen auf ihre jeweiligen Wirkungen festgelegt seien. (C) Wieder andere, wie z. B. Platon und seine Schüler, täuschten sich über die Zielursache, aus der etwas unweigerlich hervorgehen solle. Denn er lehrte, daß aus der Güte Gottes, die ihm selbst bewußt und lieb ist, das Weltganze unweigerlich so, wie es ist, hervorgehen müsse, da ja der Beste das Beste hervorbringe. In dieser Ansicht kann freilich Wahres liegen, wenn sie denn nur für das gelten soll, was ist, nicht aber dann, wenn sie für das gelten soll, was sein kann. Denn das bestehende Weltganze ist das Beste von dem, was ist; und daß es in diesem Sinne das Beste ist, das verdankt es der höchsten Güte Gottes. Gleichwohl ist die Güte Gottes nicht derart an dieses bestehende Weltganze gebunden, daß sie kein anderes, besseres oder schlechteres Weltall hätte erschaffen können. (D) Manche wiederum, etwa die Manichäer, unterlagen einem Irrtum, wenn sie für den unweigerlichen Hervorgang der Dinge nicht die Formalursache verantwortlich machten, sondern ausschließlich die göttliche Güte. Denn da diese Leute Gott als das Beste ansahen, glaubten sie, daß von Gott ausschließlich diejenigen Geschöpfe stammen würden, welche die allerbesten seien, und dies wären die geisthaften und unvergänglichen Geschöpfe. Die körperhaften und vergänglichen Geschöpfe hingegen erklärten sie aus einem anderen Prinzip. Aus der gleichen Quelle speist sich auch der Irrtum des Origenes, auch wenn dessen Irrtum in genau die andere Richtung geht. Origenes ging nämlich von Gottes Bestheit und Gerechtigkeit aus. Deswegen glaubte er, daß Gott zunächst nur die besten, d. h. geisthaften, Geschöpfe erschaffen habe, die untereinander gleich gewesen seien. Indem nun diese aus freiem Entschluß gut oder schlecht gehandelt hätten, sei es zu unterschiedlichen Rangstufen im Welt-

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ganzen gekommen. Diejenigen geisthaften Geschöpfe, die sich an Gott gehalten hätten, seien in den Würdenrang von Engeln erhoben worden, und zwar je nach Verdienst in verschiedenen Abstufungen. Diejenigen geisthaften Geschöpfe, die aus freiem Entschluß gesündigt hätten, seien gestürzt und an einen Körper gebunden worden, und davon seien manche, die weniger gesündigt hätten, in die Sonne, den Mond und in die Sterne verwandelt worden, manche aber in Menschen und wieder andere in Dämonen.289 Diese beiden Irrlehren lassen bei ihren Überlegungen offensichtlich das Ordnungsgefüge des Weltganzen unberücksichtigt, da sie nur einzelne Teile davon in Betracht ziehen. Denn an dem Ordnungsgefüge des Weltganzen hätte ihnen der Grund dafür ersichtlich werden können, daß durch das Eine Prinzip, ohne jede vorherige Gewichtung eines unterschiedlichen Verdienstes, die verschiedenen Rangstufen des Erschaffenen angelegt worden sind: auf daß nämlich das Weltganze vollkommen sei – wobei das Weltganze mit seinen vielfältigen und unterschiedlichen Arten des Erschaffenen das darstellt, was in Gottes Güte einfach und ununterschieden bereits im voraus liegt. So sind ja etwa auch für die Vollkommenheit eines Hauses oder des menschlichen Körpers unterschiedliche Teilstücke unerläßlich. Weder das Haus noch der menschliche Körper wären ja vollständig, wenn ihre Bestandteile nur von einer einzigen Art wären. Wären z. B. alle Teile des menschlichen Körpers nur Auge, so würden die Funktionen der anderen Körperteile ausfallen. Ebenso würde ein Haus, wenn alle seine Teile nur Dach wären, nicht seine Vollständigkeit und seine Bestimmung erlangen, nämlich vor Regen und vor Hitze schützen zu können. So ist abschließend festzuhalten: Aus dem Einen Prinzip geht die Vielzahl und Verschiedenheit des Erschaffenen nicht mit einer Notwendigkeit hervor, die von der Materie veranlaßt wäre, auch nicht deshalb, weil dessen Vermögen begrenzt wäre, ebensowenig aus Gründen der Güte oder weil die göttliche Güte dazu verpflichtet wäre, sondern vielmehr weil es die Weisheit so gefügt hat, daß die Vollkommenheit des Weltganzen in der Unterschiedlichkeit des Erschaffenen bestehen soll. 289 Origenes, De Principiis I, 6, 2–3 (SC 252, 198 ff.).

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Zu 1. Wie Gott Einer ist, so ist auch das, was er erschaffen hat, eines, und dies nicht nur, weil ein jedes davon je für sich betrachtet eines ist, sondern auch weil es in seiner Gesamtheit auf gewisse Weise etwas abgeschlossen Einheitliches darstellt; und die Einheit in diesem Sinne erfordert, wie oben besprochen, eine Verschiedenheit von Bestandteilen. Zu 2. Wie bereits gezeigt, ähnelt das Erschaffene Gott in der Einheit, insofern ein jedes davon je für sich betrachtet eines ist und insofern es in seiner Gesamtheit die Einheit eines Ordnungsgefüges ausmacht. Zu 3. Das Böse stellt ein völliges Nichtsein dar. Hingegen verdankt sich die Vielheit dem Sein. Denn der Unterschied selbst, durch den sich das Seiende voneinander unterscheidet, ist ja etwas Seiendes. Deswegen ist Gott nicht der Urheber für ein Streben nach dem Nichtsein, sondern der Schöpfer allen Seins, also nicht das Prinzip des Bösen, sondern das Prinzip der Vielheit. Anzumerken ist hierbei, daß sich das »Eine« auf zweifache Weise versteht. Einmal so, daß das »Eine« durch »Seiendes« ersetzbar ist, denn »Eines« bringt zu »Seiendes« nur noch den Aspekt seiner Unteilbarkeit hinzu. Das Eine in diesem Sinne schließt die Vielheit aus, insofern sich ja Vielheit aus einer Teilung ergibt. Freilich schließt es nicht eine ihm äußerliche Vielheit aus, die aus Teileinheiten besteht, wohl aber schließt es eine ihm innerliche Vielheit aus, welche einen Gegensatz zur Einheit bildet. Es wird ja nicht dadurch, daß man etwas als eines bezeichnet, in Abrede gestellt, daß es außerhalb von diesem noch etwas geben könnte, was mit ihm zusammen eine Vielheit bilden kann; in Abrede gestellt wird vielmehr seine eigene Aufspaltung in Vieles. – Das andere Mal versteht sich das »Eine« als Prinzip der Zahl, was zum Begriff des Seienden noch den Aspekt der Zählbarkeit hinzubringt. Das Eine in diesem Sinne schließt eine Vielheit aus, denn die Zahl entsteht durch die Unterteilung eines Kontinuums. Doch schließt hier die Vielheit die Einheit nicht völlig aus – auch nach der Unterteilung eines Ganzen bleiben ja dessen Teilstücke noch ungeteilt; die Vielheit schließt hier vielmehr die Einheit eines Ganzen aus. Für sich betrachtet, schließt jedoch das Böse das Gute aus: Weder hat das Böse für das Gute irgendeine begründende Funktion, noch das Gute für das Böse.

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Zu 4. Das Verhältnis zwischen dem Sein und dem, was unter das Sein fällt, ist von anderer Art als das Verhältnis zwischen der Gattung »Lebewesen« bzw. einem anderen Genus zu seiner jeweiligen Spezies. Denn eine Spezies bringt zu einer Gattung – also etwa »Mensch« zu »Lebewesen« – noch eine unterscheidende Bestimmung bei, die über das Wesen jener Gattung hinausführt. »Lebewesen« meint ja nur die sensitive Natur, bei der das Vernunftbegabte nicht mit einbegriffen ist. Dagegen bringt das, was unter das Sein fällt, zum Sein nichts bei, was über den Begriff des Seins hinausginge. Aus diesem Grund braucht dasjenige, was die Ursache für ein Lebewesen als solches ist, nicht unbedingt auch die Ursache für etwas Vernunftbegabtes darzustellen. Hingegen muß dasjenige, was Ursache für das Sein als solches ist, notwendig auch die Ursache für alles verschiedene Seiende sein und damit für die Vielzahl des Seienden insgesamt. Zu 5. Daß eine Ursache ihre Wirkung kennzeichnet, liegt daran, daß eine Wirkung ihrer Ursache ähnelt. Die Ähnlichkeit des Erschaffenen mit Gott besteht nun darin, daß das Erschaffene ein getreues Abbild dessen ist, was in Gottes Denken und Willen liegt. Genauso ähneln ja die handwerklichen Erzeugnisse dem Handwerker insofern, als mit ihnen eine kunstgemäße Form zum Vorschein gelangt und sich in ihrer Hervorbringung der Wille des Handwerkers ausdrückt. Denn wie ein natürliches Ding durch seine Form, so wirkt der Handwerker durch sein Denken und Wollen. In diesem Sinne ist Gott die kennzeichnende Ursache für alles Erschaffene, insofern er das Sein eines jeden Geschöpfes denkt und will. Wenn man aber sagt, daß ein und dasselbe Ding nicht für Vieles kennzeichnend sein könne, so gilt das für die Fälle, wo eine Ursache ihre Wirkung aufgrund ihrer Gleichheit kennzeichnet. Für unseren Fall trifft dies aber nicht zu. Zu 6. Die Klärung dieses Arguments erhellt aus dem bereits Gesagten. Zu 7. Zwar hat das Erschaffene Ähnlichkeit mit Gott, jedoch keine Gleichheit. Wenn daher die Einheit Gottes jede Vielheit und Zusammensetzung ausschließt, so braucht dies nicht auch notwendig für die Einheit des Erschaffenen gelten. Zu 8. Eine Wirkung kann nicht größer sein als ihre Ursache, da-

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gegen kann eine Ursache größer sein als ihre Wirkungen. Aus diesem Grund kann zwar aus ein und derselben Ursache eine Vielzahl von Wirkungen hervorgehen; dagegen kann eine einzige Wirkung nicht unmittelbar aus mehreren Ursachen hervorgehen. Zu 9. Zwar sind der Sache nach das Zeugungs- und das Schöpfungsvermögen in Gott identisch, jedoch beinhalten sie einen jeweils anderen Bezug. Das Zeugungsvermögen beinhaltet einen Bezug auf das, was wesensmäßig hervorgeht und was deswegen notwendig nur Eines ist. Das Schöpfungsvermögen dagegen beinhaltet einen Bezug auf das, was willentlich hervorgeht und was daher nicht unbedingt Eines sein muß. Zu 10. Wie bereits ausgeführt, sind die Einheit Gottes und die des Erschaffenen nicht von derselben Art. Gleichwohl ahmt das Erschaffene Gott in seiner Einheit nach. Zu 11. Obgleich das Wirken Gottes eines und einfach ist – es ist ja sein Wesen –, so muß es nicht notwendig nur eine einzige Wirkung hervorbringen, sondern im Gegenteil viele. Denn aus Gottes Wirken geht das Bewirkte nach der Fügung seiner Weisheit und nach der Entscheidung seines Willens hervor. Zu 12. In dem Fall, daß ein Abbild sein Urbild vollkommen wiedergibt, kann es von einem einzigen Urbild nur ein einziges Abbild geben, oder allenfalls akzidentell viele Abbilder, insofern sich diese material voneinander unterscheiden. Das Erschaffene hingegen gibt nicht in vollkommener Weise sein Urbild wieder. Daher vermag es sein Urbild in unterschiedlicher Weise wiederzugeben, so daß es auch unterschiedliche Abbilder geben kann. Es gibt jedoch nur eine einzige vollkommene Art der Wiedergabe, und deswegen kann der Sohn, der in vollkommener Weise den Vater wiedergibt, nur Einer sein. Zu 13. Der Sache nach ist zwar die Form des göttlichen Geistes nur die Eine. Sie ist jedoch dem Begriff nach vielfältig angesichts ihrer verschiedenen Bezüge auf das Erschaffene, d. h. insofern man in Betracht zieht, daß das Erschaffene auf vielfältige Weise die Form des göttlichen Geistes wiedergibt. Zu 14. Die erwähnten verschiedenen Bezüge auf das Erschaffene existieren nicht bloß für unser Denken; sie liegen vielmehr auch im göttlichen Intellekt. Gleichwohl gibt es im göttlichen Intellekt

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keine verschiedenen Gedanken, in denen sich Gottes Denken vollzieht, denn er denkt ausschließlich einen einzigen Gedanken, und das ist sein Wesen. Die Vielzahl der Dinge liegt aber im göttlichen Intellekt insofern, als diese von ihm gedacht werden. Denn wie wir erkennen, daß das Erschaffene Gott auf vielfältige Weise wiedergeben kann, so erkennt auch Gott dies und mithin die verschiedenen Bezüge des Erschaffenen auf Gott. Zu 15. Wie Gott alles in einem einzigen Gedanken denkt, so denkt er auch alles in einem einzigen begreifenden Akt. Denn das Denken besteht notwendig aus einem einzigen oder aus mehreren Akten, je nachdem, ob es nur ein Prinzip für das Denken oder ob es deren mehrere gibt. Zu 16. Zwar gibt es die Vielheit jenseits des Vielen nur im Denken; doch aber tritt die Vielheit, die in dem Vielen liegt, auch in der Wirklichkeit auf. So gibt es ja etwa auch das Lebewesen als einen Allgemeinbegriff nur im Denken; die Wesensform eines Lebewesens tritt aber an Einzelnem auf. Aus diesem Grund muß man die Vielheit und das Lebewesen im Sinne einer Wesensform auf Gott als ihrer Ursache zurückführen. Zu 17. Das Weltganze, welches von Gott erschaffen worden ist, ist zwar das beste im Hinblick auf das Bestehende, nicht jedoch im Hinblick auf das, was Gott vollbringen kann. Zu 18. Dieses Argument betrifft nur solche Fälle, wo etwas, was sich auf ein Ziel richtet, dieses ganz und vollkommen erreicht, indem es diesem Ziel gleich wird. Dies trifft aber hier nicht zu. Zu 19. Das hier angeführte Argument stammt von Origenes290 und hat keine große Beweiskraft. Denn daß Ungleichwertiges gleichwertigen Personen gegeben wird, ist nur dann ungerecht, wenn jemandem das vorenthalten wird, was ihm zusteht. So etwas läßt sich im Falle der ersten Erschaffung der Dinge jedoch nicht behaupten. Denn was jemand aus reiner Großzügigkeit hergibt, das kann er in größerem oder geringerem Ausmaß hergeben nach seinem freien Entschluß und so, wie es seine Weisheit für erforderlich hält. Zu 20. Zwar steht der Rest der Geschöpfe tiefer als ein Engel. Trotzdem braucht es zu ihrer Hervorbringung auf Seiten des Her290 Origenes, De Principiis II, 9, 5–6 (SC 252, 360 ff.).

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vorbringers eine unendliche Kraft, da sie ja durch einen Schöpfungsakt ins Sein gelangen und nicht aus einer bereits vorliegenden Materie gefertigt werden. Dies ist der Grund, warum man sagen muß, daß alle Geschöpfe, die nicht aus einer bereits vorliegenden Materie gefertigt worden sind, unmittelbar von Gott erschaffen worden sind. Zu 21. Das Sein ist das Ziel der Schöpfung und die für sie charakteristische Wirkung. Daher ist die Behauptung widersinnig, daß das, was von Gott erschaffen wird, seine Form von den Engeln erhalte, weil sich jedes Sein einer Form verdanke. Zu 22. Alles, was Gott erschafft, das ist, für sich betrachtet, etwas Einheitliches. Trotzdem schließt, wie bereits dargestellt, ein solche Einheitlichkeit nicht jede Form von Vielheit aus. Vielmehr bleibt diejenige Form von Vielheit bestehen, deren Teile ihrerseits Einheiten sind. Zu 23. Aristoteles’ Rede davon, daß Gott nichts außer sich selbst denke, ist nicht so zu verstehen, daß Gott das, was sich außerhalb von ihm befindet, nicht denken würde, sondern vielmehr so, daß Gott auch das, was sich außerhalb von ihm befindet, nicht als etwas betrachtet, was ihm äußerlich wäre, sondern als etwas, was in ihm ist. Denn durch sein Wesen erkennt er alles andere. Zu 24. Daß das Erschaffene in Gott ist, kann Zweierlei besagen: einmal, daß das Erschaffene ursächlich in Gott liegt, insofern er das Sein des Erschaffenen lenkt und erhält. In dieser Perspektive betrachtet man das Sein des Erschaffenen als etwas vom Schöpfer Unterschiedenes, da man zu verstehen gibt, daß das Erschaffene von Gott kommt. Die Aussage, daß das Erschaffene am Sein erhalten wird, ist ja nur sinnvoll, wenn es bereits ein Sein von eigener Wesensform hat und insofern das Sein des Erschaffenen von Gott geschieden ist. Wenn daher das Erschaffene in diesem Sinn in Gott liegt, dann nicht als schöpferisches Sein. – Das andere Mal ist das Erschaffene in dem Sinne in Gott, daß es in der Möglichkeit seiner Wirkursache steht bzw. in demjenigen liegt, der das Erschaffene erkennt. In dieser Perspektive ist das Erschaffene in Gott die göttliche Wesenheit selbst, und zwar in dem Sinne von Joh. 1, 3: »Alles, was erschaffen worden ist, war Leben in Ihm.« Aber auch wenn das Erschaffene, das in diesem Sinne in Gott liegt, die göttliche Wesenheit

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selbst ist, so liegt dadurch nicht nur ein einziges Geschöpf in Gott, sondern eine Vielzahl von ihnen. Denn Gottes Wesen ist ein ausreichendes Mittel zur Erkenntnis der unterschiedlichen Geschöpfe und hat genügend Kraft zur ihrer Hervorbringung.

17. Artik el Die 17. Frage lautet: Ist die Welt immer schon dagewesen? 291 Dies scheint der Fall zu sein; denn: 1. Ein charakteristisches Merkmal kommt dem Träger dieses charakteristischen Merkmals stets zu. Nun ist es, wie Dionysius sagt, für die göttliche Güte charakteristisch, daß sie das Seiende zu sich ruft, um es an ihr selbst teilhaben zu lassen,292 was zumal durch die Hervorbringung des Erschaffenen geschieht. Wenn also die göttliche Güte immer schon dagewesen ist, dann hat sie offensichtlich immer schon die Geschöpfe ins Sein gebracht. Somit ist die Welt offenbar immer schon dagewesen. 2. Gott hat keinem Geschöpf das verweigert, was es seiner Natur gemäß besitzen kann. Nun gibt es manche Geschöpfe, die von ihrer Natur aus dazu in der Lage sind, immerwährend zu sein, z. B. der Himmel. Demnach ist es offensichtlich dem Himmel verliehen, immerwährend zu sein. Wie aber Aristoteles im 2. Buch von Über den Himmel nachweist, wird es mit der Existenz des Himmels unumgänglich, auch weitere Geschöpfe anzusetzen.293 Demnach ist die Welt immer schon dagewesen. – Beweis des Mittelsatzes:294 Alles, was unvergänglich ist, hat die Anlage, immerwährend zu sein. Denn wenn es die Anlage hätte, nur für eine bestimmte Zeit dazusein, dann wäre es nicht in der Lage, immerwährend zu sein. Folglich 291 Paralleltexte: Sum. theol. I, q. 46 a. 1. ScG II, 31 ff. Quodl. III, q. 14 a. 2. Comp. theol. 98. In Phys. VIII, 2. In De caelo et mundo I, 6, 29. In Met. XII, 5. Sent. II, d. 1 q. 1 a. 5. 292 Dionysius Areopagita, De cael. hier. IV, 1 (Dion. II, 801). 293 Aristoteles, De caelo II, 3; 286 a 10 ff. 294 D. h. daß es manche Geschöpfe gibt, die von ihrer Natur aus dazu in der Lage sind, immerwährend zu sein.

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wäre es nicht unvergänglich. Der Himmel ist jedoch unvergänglich und besitzt daher die Natur, immerwährend zu sein. 3. Nun wird dagegen eingewendet: Der Himmel ist nicht absolut unvergänglich. Denn er fiele ins Nichts, wenn er nicht durch Gottes Kraft am Sein gehalten würde. – Dem ist zu erwidern: Eine Aussage ist nicht deswegen als möglicherweise oder kontingenterweise wahr einzustufen, weil sie ungültig wäre, wenn ein Folgesatz ungültig ist. So ist es z. B. notwendig, daß der Mensch ein Lebewesen ist; dies wäre jedoch ungültig, wenn der Folgesatz »Der Mensch ist eine Substanz« ungültig wäre. Folglich kann man den Himmel nicht aus dem Grund als vergänglich bezeichnen, weil sein Nichtsein eine logische Folge aus der Annahme wäre, daß Gott den Geschöpfen seine erhaltende Kraft entziehen könnte. 4. Wie Avicenna in seiner Metaphysik zeigt,295 ist jede Wirkung in Bezug auf ihre Ursache notwendig. Denn wenn bei Vorliegen einer Ursache sich nicht mit Notwendigkeit eine Wirkung einstellt, dann bleibt, solange diese Ursache vorliegt, auch die Möglichkeit bestehen, daß sich eine Wirkung einstellt oder auch nicht. Was aber der Möglichkeit nach ist, das gelangt nur durch etwas zur Verwirklichung, was bereits in der Wirklichkeit ist. Daher muß es neben der erwähnten Ursache noch eine weitere Ursache geben, die jene Wirkung von der Möglichkeit in die Wirklichkeit gelangen läßt, und zwar aus einer Möglichkeit, in der das Sein dieser Wirkung bei Vorliegen ihrer Ursache möglich war oder nicht. Daraus läßt sich nun entnehmen, daß bei Vorliegen einer zureichenden Ursache auch ihre Wirkung mit Notwendigkeit vorliegen muß. Nun ist Gott die zureichende Ursache für die Welt. Wenn also Gott immer schon gewesen ist, dann ist auch die Welt immer schon dagewesen. 5. Alles, was vor der Zeit liegt, ist ewig. Die Weltzeit liegt nun nicht vor der Zeit, sondern setzte zugleich mit der Zeit ein. Nun war aber die Welt schon vor der Zeit da, denn sie wurde im ersten Augenblick der Zeit erschaffen, welcher bekanntlich vor der Zeit liegt. Es heißt ja in Gen. 1, 1: »Im Anfang schuf Gott Himmel und Erde«, was nach einer Glosse heißt: »im Anbeginn der Zeit«. Folglich ist die Welt von Ewigkeit an da. 295 Avicenna, Met. I, 6 (Avcenna latinus 3, ed. Van Riet, 45 f.).

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6. Das, was sich gleich bleibt, bringt stets dasselbe hervor, es sei denn, es wird irgendwie daran gehindert. Nun bleibt Gott stets Derselbe, wie in Ps. 102, 28 geschrieben steht: »Du aber bist Derselbe«. Wenn Gott also in seinem Wirken nicht behindert werden kann aufgrund seiner unendlichen Kraft, dann läßt er offenbar stets dasselbe entstehen. Da Gott also zu einem Zeitpunkt die Welt hervorgebracht hat, hat er sie offenbar immer schon von Ewigkeit an hervorgebracht. 7. Wie der Mensch mit Notwendigkeit sein Glück will, so will Gott mit Notwendigkeit seine Güte und das, was zu ihr gehört. Nun gehört es zu Gottes Güte, die Geschöpfe ins Sein gelangen zu lassen. Folglich will Gott dies mit Notwendigkeit. Somit wollte Gott offensichtlich von Ewigkeit an die Geschöpfe hervorbringen, genauso wie er von Ewigkeit seine Güte wollte. 8. Dagegen ist einzuwenden: Zu Gottes Güte gehört es, die Geschöpfe ins Sein gelangen zu lassen, nicht aber, sie von Ewigkeit an ins Sein gelangen zu lassen. – Dem ist zu erwidern: Wenn man etwas zu einem früheren als zu einem späteren Zeitpunkt hergibt, zeugt dies von einer größeren Freigebigkeit. Nun ist Gottes Güte in ihrer Freigebigkeit unendlich. Demnach hat sie offensichtlich von Ewigkeit an den Geschöpfen das Sein verliehen. 9. Augustinus bemerkt: »Du willst, wie gesagt, das, was Du tust, sofern Du es kannst.«296 Nun wollte Gott von Ewigkeit an die Welt hervorbringen. Sonst hätte sich ja Gottes Wille geändert, wenn ihm die Erschaffung der Welt plötzlich in den Sinn gekommen wäre. Weil also auf Gott überhaupt kein Unvermögen zutrifft, so hat er offenbar die Welt von Ewigkeit an hervorgebracht. 10. Angenommen, die Welt ist nicht immer schon dagewesen, dann war sie vor ihrem Dasein möglich oder nicht. Wenn sie nun nicht möglich war, dann war ihr Dasein unmöglich und ihr Nichtsein notwendig. Somit hätte die Welt niemals ins Sein gelangen können. Wenn aber das Dasein der Welt möglich war, dann bestand also eine Möglichkeit dafür, und damit gab es einen Träger bzw. eine Materie, da eine Möglichkeit nur in einem Träger liegt. Wenn es aber Materie gab, dann gab es auch eine Form, denn die Materie 296 Dieses Zitat konnte nicht ausfindig gemacht werden.

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kann nicht bar jeder Form sein. Folglich gab es einen aus Materie und Form zusammengesetzten Körper, und damit gab es das gesamte Weltganze. 11. All das, dessen Entstehung zunächst möglich ist und das daraufhin in der Wirklichkeit entsteht, gelangt aus der Möglichkeit in die Wirklichkeit. Wenn also noch vor der Entstehung der Welt deren Entstehen möglich war, dann muß man sagen, daß die Welt aus der Möglichkeit in die Wirklichkeit gelangt ist, und mithin, daß die Materie bereits vorgelegen haben und ewig sein muß. Somit ergibt sich dieselbe Schlußfolgerung wie vorhin. 12. Jedes Wirkende, das von neuem anhebt zu wirken, gelangt dabei von der Möglichkeit in die Wirklichkeit. So etwas kann jedoch auf Gott nicht zutreffen, da er ganz und gar unbewegt ist. Demnach hebt Gott offensichtlich nicht von neuem an zu wirken, sondern hat von Ewigkeit an die Welt hervorgebracht. 13. Wenn ein willentlich tätiges Wesen anfängt, das auszuführen, was es zunächst gewollt, aber noch nicht zur Ausführung gebracht hat, dann muß es etwas geben, was dieses Wesen in diesem Moment zu seinem Wirken veranlaßt, aber bislang noch nicht dazu veranlaßt hat; also etwas, das das Wirkende gewissermaßen dazu ermuntert. Nun kann man aber nicht sagen, daß etwas anderes außer Gott schon vor der Welt bestanden hätte, was Gott einen neuerlichen Anlaß zu seinem Wirken geboten haben könnte. Wenn Gott also die Welt von Ewigkeit an entstehen lassen wollte – andernfalls wäre ja etwas seinem Willen zugewachsen –, dann hat er sie auch von Ewigkeit an entstehen lassen. 14. Ausschließlich Gottes Güte veranlaßt seinen Willen zum Wirken. Nun verhält sich die göttliche Güte stets gleich. Folglich trachtet auch der göttliche Wille immer schon danach, die Geschöpfe hervorzubringen. Demnach hat er von Ewigkeit an die Geschöpfe hervorgebracht. 15. Das, was stets an seinem Anfang und Ende ist, kennt weder ein Beginnen noch ein Enden. Denn ein jedes Ding hat Bestand nach seinem Anfang und vor seinem Ende. Nun ist die Zeit stets an einem Anfang und einem Ende, denn die Zeit verläuft nur in Momenten, welche jeweils ein Ende von Vergangenem und einen Beginn von Zukünftigem markieren. Demnach kennt die Zeit weder ein Begin-

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nen noch ein Enden, sondern ist immerwährend. Folglich ist die Bewegung, das Bewegbare und die Welt insgesamt immerwährend. Denn ohne Bewegung gibt es keine Zeit, ohne das Bewegbare keine Bewegung und ohne die Welt kein Bewegbares. 16. Dagegen ist einzuwenden: Weder markiert der allererste Moment in der Zeit das Ende von Vergangenem noch der allerletzte Moment in der Zeit den Beginn von Zukünftigem. – Dem ist zu erwidern: Es ist zu berücksichtigen, daß ein zeitliches Jetzt sich stets im Fluß befindet, und das unterscheidet es vom Jetzt der Ewigkeit. Was sich aber im Fluß befindet, das geht von einem Punkt in den anderen über. Demnach muß jedes Jetzt von einem früheren in ein späteres Jetzt übergehen. Folglich kann es unmöglich ein erstes und ein letztes Jetzt geben. 17. Es gibt keine Bewegung ohne das Bewegbare und keine Zeit ohne die Bewegung. Da nun das erste Bewegbare einen Kreis beschreibt, so hat es weder einen Anfang noch ein Ende. Denn bei einem Kreis kann man nicht wirklich einen Anfang und ein Ende ausmachen. Folglich haben weder die Bewegung noch die Zeit einen Anfang. Und damit gilt dasselbe wie vorhin. 18. Dagegen ist einzuwenden: Ein Körper, der einen Kreis beschreibt, hat zwar keinen quantitativ bestimmbaren Anfang, doch aber einen zeitlich bestimmbaren Anfang. – Dem ist zu erwidern: Die zeitliche Dauer einer Bewegung hat ein quantitatives Ausmaß. Denn nach Aristoteles hängt das Ausmaß einer Bewegung und einer Zeitspanne von einem quantitativen Ausmaß ab.297 Wenn es also bei einem Körper, der einen Kreis beschreibt, keinen quantitativ bestimmbaren Anfangspunkt gibt, dann wird es auch für das Ausmaß seiner Bewegung und seiner Zeit keinen Anfangspunkt geben und damit auch nicht für seine zeitliche Dauer. Denn deren Dauer ist – insbesondere bei der Zeit – ihr Größenmaß. 19. Gott ist durch sein Wissen die Ursache der Dinge. Nun beinhaltet ein Wissen einen Bezug auf das, was gewußt werden kann. Da also die Glieder eines Bezuges von Natur aus zugleich bestehen, da zudem das Wissen Gottes ewig ist, so sind die Dinge offenbar von Ewigkeit an von Gott hervorgebracht. 297 Aristoteles, Phys. IV, 11; 219 a 10–15.

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20. Entweder geht Gott der Welt ausschließlich wesensmäßig oder aber dem faktischen Bestand nach voran. Wenn er ihr ausschließlich wesensmäßig vorangeht – wie etwa eine Ursache dem zeitgleich von ihr Bewirkten –, dann sind, wie Gott, offensichtlich auch die Geschöpfe von Ewigkeit an dagewesen. Wenn aber Gott der Welt dem faktischen Bestand nach vorangeht, dann ist dieser faktische Bestand so zu verstehen, daß er dem faktischen Bestand der Welt vorangeht im Sinne einer Abfolge. Nun impliziert ein faktischer Bestand, der eine Abfolge kennt, die Zeit. Folglich gab es schon vor der Welt die Zeit und damit Bewegung und Bewegbares. Also gilt dasselbe wie vorhin. 21. Augustinus sagt: »Ich will nicht behaupten, daß Gott nicht von Ewigkeit an der Herr gewesen ist.«298 Nun ist das Erschaffene Gott so lange untertan, als er der Herr ist. Folglich läßt sich nicht behaupten, daß das Erschaffene nicht von Ewigkeit an dagewesen ist. 22. Es stand in Gottes Macht, die Welt zu erschaffen, bevor er sie erschaffen hat, sonst wäre er ja machtlos. Ebenso wußte Gott, wie er dies machen würde, andernfalls wäre er ja unwissend. Zudem hatte er offenbar den Willen dazu, sonst wäre er ja voller Neid. Offenbar hat also Gott nicht zugewartet, bevor er mit der Hervorbringung der Geschöpfe begonnen hat. 23. Alles, was endlich ist, kann den Geschöpfen verliehen werden. Nun ist die Ewigkeit etwas Endliches, sonst könnte es das nicht geben, was über die Ewigkeit hinausgeht. Denn es heißt in Ex. 15, 18: »Der Herr wird herrschen in Ewigkeit und darüber hinaus.« Demnach sind die Geschöpfe offenbar in der Lage, ewig zu sein. Somit ist es mit der göttlichen Güte vereinbar, daß sie das Erschaffene von Ewigkeit an hervorgebracht hat. 24. Bei allem, was einen Anfang hat, gibt es ein Maß für sein faktisches Bestehen. Nun kann es bei der Zeit kein Maß für ihr faktisches Bestehen geben. Denn sie bemißt sich nicht nach der Ewigkeit, sonst wäre sie nämlich immer schon dagewesen; sie bemißt aber auch nicht nach der Weltzeit, denn dann würde sie ewig fortdauern. Sie bemißt sich aber auch nicht nach der Zeit, denn nichts ist für sich

298 Augustinus, De civ. Dei XII, 16 (CCSL 48, 370).

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selbst das Maß. Folglich hat die Zeit keinen Anfang und mithin auch nicht das Bewegbare und die Welt. 25. Angenommen, die Zeit hatte einen Anfang, dann setzte ihr Sein entweder innerhalb der Zeit oder augenblicklich ein. Nun setzte ihr Sein aber nicht augenblicklich ein, denn ein Augenblick stellt noch nichts Zeitliches dar. Ebensowenig setzte ihr Sein innerhalb der Zeit ein, denn sonst gäbe es eine Nicht-Zeit innerhalb der Zeit. Denn bevor das Sein eines Dinges einsetzt, gibt es nichts von ihm. Folglich hat die Zeit keinen Anfang. Und damit gilt das Gleiche wie vorhin. 26. Gott war von Ewigkeit an die Ursache der Dinge. Denn sonst müßte man sagen, daß Gott zunächst nur der Möglichkeit nach und dann erst der Wirklichkeit nach ihre Ursache ist. Dann gäbe es auch etwas, was bereits vor Gott da wäre und ihn von der Möglichkeit in die Wirklichkeit gelangen ließe. So etwas ist jedoch unmöglich. Nun ist etwas nur dann eine Ursache, wenn es auch eine Wirkung zeitigt. Folglich ist die Welt von Ewigkeit an von Gott erschaffen. 27. »Wahr« und »Seiend« sind konvertibel. Nun gibt es vieles, was von Ewigkeit an wahr ist, so z. B., daß der Mensch kein Esel ist, daß es die Welt weiterhin geben wird u. v. m. Demnach ist es offenbar so, daß Mancherlei – und nicht bloß Gott allein – von Ewigkeit an ist. 28. Dagegen ist zu sagen: Das Angeführte ist nur wahr aufgrund der Ersten Wahrheit, und die ist Gott. – Dem ist zu erwidern: Die Wahrheit das Satzes »Die Welt wird es weiterhin geben« und die Wahrheit des Satzes »Der Mensch ist kein Esel« ist eine je andere. Denn selbst wenn man widersinnigerweise annimmt, daß einer dieser Sätze falsch ist, dann bleibt der andere noch wahr. Die Erste Wahrheit ist jedoch nicht eine jeweils andere. Folglich sind diese Sätze nicht aufgrund der Ersten Wahrheit wahr. 29. Den Aristotelischen Kategorien zufolge hängt die Wahrheit und Falschheit einer Aussage davon ab, ob ein Sachverhalt besteht oder nicht.299 Wenn also viele Sätze seit Ewigkeit wahr sind, dann bestehen offenbar die Sachverhalte, die in diesen Sätzen zum Ausdruck kommen, von Ewigkeit an.

299 Aristoteles, Cat. 5; 4 b 8 ff.

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30. Bei Gott fallen Sprechen und Schaffen zusammen. Daher heißt es in Ps. 148, 5: »Er sprach, und sie waren geschaffen«. Nun ist Gottes Sprechen ewig, ansonsten wäre ja der Sohn, der das Wort des Vaters ist, nicht mit dem Vater gleich ewig. Folglich ist auch das Schaffen Gottes ewig, und damit ist die Welt seit Ewigkeit erschaffen. Dagegen spricht: 1. In Spr. 8, 24–26 heißt es aus dem Mund der göttlichen Weisheit: »Die Urfluten waren noch nicht da, und ich war schon hervorgebracht, auch die Wasserquellen sprudelten noch nicht und auch die Berge standen noch nicht in ihrer massigen Größe. Vor allen Hügeln bin ich geboren worden, und noch hatte Er die Erde, die Flüsse und die Angeln der Welt nicht gemacht.« Folglich sind die Angeln der Welt, die Flüsse und die Erde nicht immer schon dagewesen. 2. Nach Priscian300 ist das zeitlich Jüngere für den Intellekt eher einsichtig. Nun ist aber das menschliche Einsichtsvermögen nicht unendlich. Folglich kann der Zeitraum, in dem die Einsicht gewachsen ist,301 nicht unendlich sein und damit auch nicht die Welt. 3. Hiob 14, 19: »Durch Überschwemmung wird die Erde nach und nach aufgezehrt.« Nun gibt es aber nicht unendlich viel Erde. Wenn es also eine unendliche Zeit gäbe, dann wäre die Erde längst schon völlig aufgezehrt. Das ist aber offensichtlich falsch. 4. Wie feststeht, geht Gott der Welt wesensmäßig voran, so wie eine Ursache dem von ihr Bewirkten. Nun sind in Gott sein faktisches Bestehen und sein Wesen miteinander identisch. Demnach geht Gott dem faktischen Bestehen der Welt voran, und damit ist die Welt nicht immer schon dagewesen. Antwort: Man muß daran festhalten, daß die Welt nicht immer schon dagewesen ist, genau so wie dies der katholische Glaube lehrt. Dies kann auch mit keinem naturphilosophischen Beweis durchschlagend widerlegt werden. 300 Priscian, Inst. Gramm.; ep. ad Iulianum 1 (ed. Heitz, 1). 301 crevit V : creavit M.

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Damit dies klar wird, ist an das zu erinnern, was bereits in einer anderen Untersuchung festgestellt wurde:302 Angesichts von Gottes Wirken kann keine Notwendigkeit geltend gemacht werden, die einer Materialursache geschuldet wäre oder seiner aktiven Wirkkraft oder auch einem obersten Bestimmungsziel. Notwendigkeit kann hier allenfalls im Hinblick auf eine Form geltend gemacht werden, die das Ziel eines Wirkens ist. Wenn diese Form gegeben ist, dann sind die Dinge unweigerlich so, wie es dieser bestimmten, so und so gearteten Form entspricht. Man muß deshalb über die Hervorbringung eines einzelnen Geschöpfes anders reden als über den Hervorgang des gesamten Weltganzen aus Gott. Denn wenn wir von der Hervorbringung eines einzelnen Geschöpfes sprechen, können wir den Grund angeben, warum dieses Geschöpf so ist, wie es ist: nämlich aufgrund eines anderen Geschöpfes oder zumindest aufgrund der Ordnung des Weltganzen, an die ein jedes Geschöpf gebunden ist wie ein Teil an die Form eines Ganzen. Wenn wir hingegen vom Hervorgang der gesamten Welt ins Sein sprechen, dann läßt sich kein Geschöpf mehr ausmachen, von dem her begründet werden könnte, warum das Weltganze so ist, wie es ist. Wenn also diese bestimmte Verfassung des Weltalls nicht mit Gottes Vermögen, das ja unbegrenzt ist, begründet werden kann, aber auch nicht mit der göttlichen Güte, die ja keines Dinges [für ihr Gutsein] bedarf, so muß der Grund für diese bestimmte Verfassung des Weltganzen schlechthin im Willen dessen liegen, der das Weltganze hervorgebracht hat. Wenn man also etwa fragt, warum die Ausmaße des Himmels so sind, wie sie sind, und nicht noch größer, so kann man zur Begründung nur den Willen dessen anführen, der dies so hervorgebracht hat. Aus diesem Grund fordert die Heilige Schrift, wie Rabbi Moses sagt, den Menschen zur Betrachtung der Himmelskörper auf, an deren Verfassung es sich am deutlichsten zeigt, daß alles dem Willen und der Vorsehung des Schöpfers unterliegt.303 Denn nur damit, daß es die Weisheit Gottes so gefügt hat, läßt sich begründen, warum 302 Vgl. De pot. q. 3 a. 16. 303 Mose ben Maimon, Führer der Unschlüssigen II, 19 (ed. Weiss, II

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ein ganz bestimmter Stern zu einem anderen Stern in einer ganz bestimmten Entfernung steht, sowie alles andere, was da bei der Betrachtung der Himmelsverfassung augenfällig wird. So heißt es ja auch in Js. 40, 26: »Erhebt zur Höhe eure Augen! Und seht: Wer hat diese Sterne erschaffen?« Es läßt sich auch problemlos sagen, daß die Größe des Himmels und der Himmelskörper genauso von ihrer Wesensform herrührt, wie auch bei allen Festkörpern die Wesensform eine ganz bestimmte Größe mit sich bringt. Denn Gottes Vermögen hätte sich genauso gut wie auf diese Größe auch auf eine andere festlegen können; und er hätte sich genauso gut wie auf diejenige Wesensform, von der diese bestimmte Größe herrührt, auch auf eine Wesensform festlegen können, von der eine andere Größe herrührt. Somit entpuppt sich die Problemlage bei der Wesensform als dieselbe wie bei der Größe. – Gleichwohl gestehen wir zu, daß die Wesensform des Himmels nicht jede beliebige Größe zuläßt, sowie, daß in ihm keine andere Größe angelegt ist als eben diese, welche er hat. Das Angeführte kann jedoch nicht für die Zeit bzw. ein zeitliches Bestehen geltend gemacht werden. Denn die Zeit ist einem Ding genauso äußerlich wie seine räumliche Lage. Auch wenn es daher für den Himmel keine Alternative bei seiner Größe bzw. bei einem ihm innerlich verbundenen Akzidens gibt, so gibt es für ihn eine solche Alternative im Hinblick auf Ort und Lage – der Himmel kennt ja eine Ortsbewegung – sowie im Hinblick auf die Zeit, denn die Zeit hat genauso einen Verlaufscharakter, wie es eine Abfolge bei einer Bewegung und Lage gibt. Daher kann auch nicht gesagt werden, daß beim Himmel Zeit und Lage von seiner Wesensform abhängen, wie dies etwa von seiner Größe gilt. Somit hängt es ganz klar schlicht vom Willen Gottes ab, daß dem Weltganzen genauso ein ganz bestimmtes Maß für sein zeitliches Bestehen festgesetzt ist wie ein ganz bestimmtes Maß für seine Ausdehnung. Aus diesem Grund kann man angesichts des zeitlichen Bestehens des Weltganzen zu keiner notwendigen Schlußfolgerung kommen, mit der unwiderlegbar gezeigt werden könnte, daß die Welt immer schon dagewesen sei. (A) Manche jedoch zogen einen Hervorgang des Weltganzen aus Gott nicht in Betracht und mußten so unvermeidlich bei der Frage

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nach dem Beginn der Welt in einen Irrtum verfallen. Denn einige, wie etwa die ältesten Naturphilosophen, ließen eine wirkende Ursache unberücksichtigt und nahmen nur eine unerschaffene Materie an als die Ursache von allem. Dies ließ sie zu der Behauptung kommen, daß die Materie immerwährend sei. Denn da nichts von selbst aus dem Nichtsein ins Sein gelangen kann, so muß es eine andere Ursache dafür geben, daß etwas zu sein beginnt. Diese Leute nahmen nun entweder an, daß die Welt immer schon und zwar ununterbrochen dagewesen sei; denn sie ließen nur natürliche Ursachen gelten, die jeweils auf etwas ganz Bestimmtes festgelegt sind und die mit Notwendigkeit stets dieselbe Wirkungen zeitigen. Oder aber sie nahmen, wie etwa Demokrit, an, daß die Welt immer schon und zwar mit Unterbrechungen dagewesen sei. Diese Leute lehrten, daß die Welt – oder besser: die Welten viele Male sich durch Zufall zusammensetzen und wieder auflösen würden aufgrund der zufälligen Bewegung der Atome.304 (B) Es erschien aber nicht als sinnvoll, daß alle Passgenauigkeiten und Zweckmäßigkeiten, die zwischen den natürlichen Dingen bestehen, sich dem Zufall verdanken würden, zumal sie sich mit steter Regelmäßigkeit oder meistens ausmachen lassen. Diese Zufälligkeit war freilich eine notwendige Schlußfolgerung, wenn man einzig die Materie [als Ursache] anerkannte. Besonders aber weil sich manche Wirkungen ausmachen ließen, die mit einer materialen Ursächlichkeit nicht ausreichend erklärt waren, nahmen andere Leute eine wirkende Ursache an, so z. B. Anaxagoras den Geist sowie Empedokles die Liebe und den Streit. Sie setzten jedoch diese wirkenden Ursachen nicht als Ursachen des Weltganzen an, sondern nach Art von den anderen einzelnen Ursachen, deren Wirken darin besteht, die Materie von einer Form in die andere zu bringen. Aus diesem Grund war für diese Leute die Behauptung unvermeidlich, die Materie sei ewig, da ihr Sein nicht verursacht sei, die Welt dagegen habe einen Anfang. Denn jede Wirkung, die eine wirkende Ursache mittels einer Bewegung zeitigt, folgt in ihrem faktischen Bestehen ihrer Ursache nach, und zwar deswegen, weil sich diese Wirkung erst am Ende dieser Bewegung einstellt, vor dem Ende dieser Bewegung aber 304 propter casualem motum P : propter causalem motum M.

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ihr Anfang liegt, an dem zeitgleich die Ursache auftreten muß, von der ja wiederum der Anfang der Bewegung herrührt. (C) Aristoteles bemerkte aber, daß, wenn man eine Ursache für die Welt annimmt, deren Wirkung sich in Form einer Bewegung entfaltet, dies folgerichtig ins Unendliche führen würde, weil es vor jeder Bewegung eine weitere Bewegung geben müßte. Deswegen lehrte er, daß die Welt immer schon dagewesen sei. Aristoteles’ Ausgangspunkt waren ja nicht solche Überlegungen, mit denen einsichtig wird, daß das Weltganze aus Gott hervorgegangen ist, sondern solche Überlegungen, die davon ausgehen, daß ein tätiges Wesen bewegt werden muß, um seine Wirksamkeit entfalten. So etwas gilt für einzelne Ursachen, nicht aber für die allumfassende Ursache. Daher gewinnt er aus der Bewegung und aus der Unbewegtheit des Ersten Bewegers seine Argumente, die die Ewigkeit der Welt nachweisen sollen. Bei genauerem Zusehen zeigen sich deshalb Aristoteles’ Argumente als die Argumente von jemandem, der gegen eine Lehrmeinung seine Gründe aufbietet. Daher führt er auch anfangs des 8. Buches seiner Physik im Zusammenhang mit der Frage nach der Ewigkeit der Welt zunächst die Ansichten von Anaxagoras und Empedokles an, gegen die er seine Gründe aufbieten will.305 (D) Denjenigen, die auf Aristoteles folgten, war klar, daß die gesamte Welt durch Gottes Willen und nicht infolge von Bewegung entstanden ist, und so versuchten sie, die Ewigkeit der Welt mit dem Hinweis aufzuzeigen, daß der Wille die Ausführung eines Vorhabens nur dann hinauszögert, wenn neue bzw. veränderte Umstände auftreten. So müsse man sich den Willen in einem zeitlichen Verlauf zumindest vorstellen, innerhalb von dem der Wille jenes Vorhaben zu einem bestimmten Zeitpunkt und nicht eher ausführen will. Doch auch diese Leute verfielen dem gleichen Irrtum wie die oben angeführten Autoren. Denn sie faßten das Erste Wirkende nach Art eines Wirkenden auf, welches seine Wirksamkeit in der Zeit entfaltet, auch wenn es dabei willentlich wirkt. Ein Wirkendes von dieser Art ist jedoch nicht die Ursache für die Zeit, sondern setzt bereits die Zeit voraus. Gott hingegen ist auch die Ursache für die Zeit, denn auch die Zeit gehört ihrerseits zur Gesamtheit dessen, was Gott er305 Aristoteles, Phys. VIII, 1; 250 b 23 ff.

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schaffen hat. Wenn wir also vom Hervorgang des Weltganzen aus Gott sprechen, dann hat hier die Vorstellung keinen Platz, daß Gott das Weltganze zu einem bestimmten Zeitpunkt und nicht eher erschaffen hat. Denn eine solche Vorstellung setzt die Zeit für den Schöpfungsakt voraus und macht sie nicht dem Schöpfungsakt untertan. Wenn wir aber die Hervorbringung des Erschaffenen insgesamt in Betracht ziehen, worunter auch die Zeit selbst fällt, so kann man sich dabei fragen, warum Gott die Zeit so und nicht anders bemessen hat, nicht aber, warum er sie zu einem ganz bestimmten Zeitpunkt hervorgebracht hat. Die Festsetzung des Maßes für die Zeit liegt jedoch ganz allein am Willen Gottes, der gewollt hat, daß die Welt nicht immer schon dagewesen ist, sondern zu einem bestimmten Zeitpunkt ihren Anfang genommen hat; genauso wollte er ja, daß der Himmel nicht größer oder kleiner sei, als er tatsächlich ist. Zu 1. Für die göttliche Güte ist es charakteristisch, daß sie die Dinge durch Vermittlung des Willens ins Sein gelangen läßt; sie stellt ja für den Willen den Gegenstand dar. Daher müssen die Dinge nicht unbedingt zu jedem Zeitpunkt des Bestehens der göttlichen Güte ins Sein gelangen, sondern dann, wenn es Gottes Wille verfügt. Zu 2. Da ein Himmelskörper nicht der Vergängnis unterworfen ist, hat er die Anlage, immerwährend zu sein. Nun bezieht sich die Anlage zu einem Sein bzw. zu einem Wirken nicht auf etwas Vergangenes, sondern nur auf etwas Gegenwärtiges und Zukünftiges. Niemand hat ja die Anlage dazu, etwas ausgeführt zu haben, denn alles, was nicht ausgeführt worden ist, das kann auch nicht ausgeführt worden sein. Wohl aber hat jemand die Anlage dazu, etwas zum jetzigen oder zu einem späteren Zeitpunkt auszuführen. Daher betrifft die dem Himmel innewohnende Anlage, immerwährend zu sein, nicht etwas Vergangenes, sondern etwas Zukünftiges. Zu 3. Es läßt sich nicht behaupten, daß der Himmel schlichtweg aus dem Grund vergänglich sei, weil er ins Nichtsein stürzt, wenn er nicht mehr von Gott erhalten wird. Wenn aber die Geschöpfe durch Gott am Sein erhalten werden, so liegt dies an Gottes Unveränderlichkeit und nicht an der Notwendigkeit seines Wesens, von

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der her sich sagen ließe, daß dies schlichtweg notwendig sei. Da dies ausschließlich aufgrund von Gottes Willen notwendig ist, der dies unveränderlich so festgesetzt hat, so kann man zugestehen, daß der Himmel in gewisser Hinsicht vergänglich ist, d. h. unter der Bedingung, daß Gott ihn nicht mehr am Sein erhält. Zu 4. Jede Wirkung steht in einem notwendigen Bezug zu ihrer Wirkursache, gleich ob diese auf natürlichem Wege oder willentlich wirkt. Nach dem vorhin Ausgeführten306 halten wir aber daran fest, daß Gott nicht dank einer Notwendigkeit seines Wesens, sondern dank seines Willens die Ursache der Welt ist. Daher ist das von Gott Bewirkte keine notwendige Folgeerscheinung davon, daß das göttliche Wesen besteht, sondern es ist notwendig, sobald Gottes Wille dies so verfügt, und in je der Weise, auf die Gott dieses sein lassen will. Zu 5. Daß etwas vor der Zeit ist, kann Zweierlei besagen, und zwar einmal: vor aller Zeit, und vor allem, was zur Zeit gehört. In diesem Sinne war die Welt nicht vor der Zeit. Denn der Moment, in dem die Welt zu sein begann, ist zwar kein zeitlicher. Doch aber gehört er zur Zeit, freilich nicht als ein Teil von ihr, sondern als ihr Anfangspunkt. – Das andere Mal versteht sich etwas als vor der Zeit, wenn es noch vor der Erfüllung der Zeit ist; zur Erfüllung gelangt die Zeit aber in einem Moment, dem noch ein anderer Moment vorangeht. In diesem Sinn ist die Welt vor der Zeit. Deswegen braucht die Welt aber nicht ewig zu sein. Denn auch dieser zeitliche Augenblick, der in diesem Sinne vor der Zeit ist, ist nicht ewig. Zu 6. Da jedes Wirkende etwas ihm Gleiches bewirkt, muß das Bewirkte so aus seiner Wirkursache hervorgehen, daß es eine Ähnlichkeit mit seiner Ursache bewahrt. Was nun aus einer wesensmäßig wirkenden Ursache hervorgeht, das bewahrt eine Ähnlichkeit mit seiner Ursache dadurch, daß es die gleiche Form wie seine Ursache aufweist. Was hingegen aus einer willentlich wirksamen Ursache hervorgeht, das bewahrt eine Ähnlichkeit mit dieser dadurch, daß es die gleiche Form wie seine Ursache aufweist, und dies insofern, als mit dieser Wirkung etwas hervorgebracht wird, worüber der Wille entscheidet. Dies zeigt sich an dem Erzeugnis eines 306 Vgl. De pot. q. 3 a. 15.

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Handwerkers. Denn der Wille entscheidet nicht nur über die Form des von ihm Bewirkten, sondern auch über dessen örtliche, zeitliche und über alle weiteren Bestimmungen. Daher stellt sich etwas willentlich Verursachtes dann ein, wenn es der Wille so entscheidet, und nicht mit dem Dasein des Willens. Denn das Bewirkte ist dem Willen ja nicht in seinem Sein ähnlich, sondern in dem, worüber der Wille entscheidet. Auch wenn also der Wille stets derselbe bleibt, so ergibt sich aus ihm doch nicht mit Notwendigkeit stets eine Wirkung. Zu 7. Gott will mit Notwendigkeit seine Güte und all das, ohne das seine Güte nicht sein kann. Zu letzterem gehört jedoch nicht die Hervorbringung des Erschaffenen. Daher ist dieses Argument nicht stichhaltig. Zu 8. Wenn Gott die Geschöpfe zum Zwecke der Offenbarung seiner selbst hervorgebracht hat, dann war es passender und besser, sie so hervorzubringen, daß Gott durch sie angemessener und deutlicher offenbar werden kann. Auf deutlichere Weise offenbart sich Gott aber in den Geschöpfen dadurch, daß diese nicht immerwährend sind. Denn daran zeigt sich viel handgreiflicher, daß die Geschöpfe durch einen Anderen ins Sein gelangt sind, daß Gott ihrer nicht bedarf und daß die Geschöpfe ganz und gar dem Willen Gottes untertan sind. Zu 9. Gott hatte den ewigen Willen, die Welt zu erschaffen: nicht den Willen, daß die Welt immerwährend sei, sondern daß sie zu dem Zeitpunkt entstünde, zu dem er sie hat entstehen lassen. Zu 10. Bevor die Welt da war, war ihre Entstehung möglich, freilich nicht aufgrund irgendeiner passiven Möglichkeit, sondern aufgrund des aktiven Vermögens dessen, der sie bewirkt hat. – Oder man könnte so argumentieren: Die Entstehung der Welt war nicht aufgrund eines Vermögens möglich, sondern deshalb, weil die Glieder des Satzes »Die Welt ist« keinen Widerspruch beinhalten. In diesem Sinne bezeichnet man ja etwas ohne Rückgriff auf ein Vermögen als möglich, wie dies auch Aristoteles im 5. Buch seiner Metaphysik erklärt.307

307 Aristoteles, Met. V, 12; 1019 b 21 ff.

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Zu 11. Aus dem Gesagten erhellt auch die Antwort auf dieses Argument. Zu 12. Dieses Argument gilt in dem Falle, daß ein Wirkendes von neuem zu wirken beginnt. Gottes Wirken ist jedoch ewig, denn es ist seine Substanz. Daß Gottes Wirken von neuem einsetzt, läßt sich insofern sagen, als das Bewirkte neu ist, welches aus dem ewigen Wirken hervorgeht nach Verfügung des Willens; und der Wille versteht sich ja gewissermaßen als das Prinzip für die Hinordnung eines Wirkens auf das Bewirkte. Denn eine Wirkung ergibt sich aus einem Wirken je nach der Verfassung der Form, die das Prinzip für jenes Wirken ist. So wird ja z. B. etwas durch das Wirken des Feuers erhitzt je nach Hitzegrad dieses Feuers. Zu 13. Dieses Argument geht von einem Wirkenden aus, welches das von ihm Bewirkte in der Zeit hervorbringt, aber nicht die Ursache der Zeit ist. So etwas kann auf Gott nicht zutreffen, wie aus dem oben Ausgeführten erhellt.308 Zu 14. Versteht man Bewegung im eigentlichen Sinn, so bewegt sich der göttliche Wille nicht. Im übertragenen Sinne hingegen läßt sich sagen, daß der Wille durch das von ihm Gewollte bewegt wird, und in diesem Sinne versetzt einzig die göttliche Güte den göttlichen Willen in Bewegung. Insofern sagt auch Augustinus, daß Gott sich selbst jenseits von Raum und Zeit bewegt.309 Gleichwohl folgt daraus noch nicht, daß mit dem Bestehen der göttlichen Güte es auch schon eine Hervorbringung der Geschöpfe geben müsse. Aus Gott gehen die Geschöpfe ja nicht hervor, weil dies für seine Güte unabdingbar bzw. notwendig wäre: Weder bedarf Gottes Güte eines Geschöpfes noch wächst ihr durch die Geschöpfe etwas zu. Vielmehr gehen die Geschöpfe aus Gott nach seinem bloßen Willen hervor. Zu 15. Wenn nach dem 4. Buch der Physik 310 die erste Abfolge der Zeit vom Ablauf einer Bewegung herrührt – wonach als wahr gilt, daß jeder Augenblick einen Anfang und ein Ende von Zeit darstellt –, dann muß es als wahr gelten, daß jeder kleinste Abschnitt einer Bewegung einen Anfang und ein Ende von Bewegung dar308 Vgl. die »Antwort«. 309 Augustinus, De Gen. ad litt. VIII, 20 (CSEL 28/1, 258 f.). 310 Aristoteles, Phys. IV, 11; 219 a 1 f.

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stellt. Wenn man daher annimmt, daß die Bewegung nicht immer schon bestanden hat und auch nicht immer bestehen wird, dann wird man nicht sagen können, daß jeder Augeblick einen Anfang und ein Ende von Zeit darstellt. Vielmehr wird es einen Augenblick geben, der nur einen Anfang markiert, und einen Augenblick, der ausschließlich ein Ende markiert. Damit ist dieses Argument offenbar zirkulär und nicht beweiskräftig; es tut aber doch seine Wirkung für die Belange von Aristoteles, der es, wie bereits in der »Antwort« ausgeführt, als Gegenargument verwendet. Viele Argumente sind ja als Gegenargumente gegen einen anderen Standpunkt wirkungsvoll, aber nicht schlichtweg beweiskräftig. Zu 16. Der Augenblick versteht sich stets als etwas, was im Fluß ist, jedoch nicht stets als etwas, was von einem Punkt zum anderen dahin rinnt. Vielmehr stellt er sich einmal auch als etwas dar, was ausschließlich von einem Punkt her verrinnt, d. h. als ein letzter Augenblick, und einmal als etwas, was ausschließlich zu einem Punkt hin fließt, d. h. als ein erster Augenblick. Zu 17. Dieses Argument weist nicht nach, daß die Bewegung immerwährend ist, sondern daß eine Kreisbewegung immerwährend sein kann. Denn im Ausgang von mathematischen Überlegungen kann nichts Beweiskräftiges für eine Bewegung gefolgert werden. Daher weist Aristoteles nicht im Ausgang von der Kreisförmigkeit der Bewegung deren Ewigkeit nach. Vielmehr weist er aufgrund der Vorannahme einer ewigen Bewegung nach, daß diese Bewegung kreisförmig sein muß, denn keine andere Bewegung kann ewig sein.311 Zu 18. Damit ist auch die Antwort auf dieses Argument klar. Zu 19. Das Wissbare steht in einem ähnlichen Verhältnis zu unserem Wissen wie das Wissen Gottes zu den Geschöpfen. Denn das göttliche Wissen ist die Ursache der Geschöpfe, wie auch das Wissbare die Ursache für unser Wissen abgibt. Wie es also nach den Kategorien 312 Wissbares ohne unser Wissen davon geben kann, so kann auch Gottes Wissen bestehen, ohne daß die Geschöpfe da sind. Zu 20. Gott geht dem faktischen Bestand der Welt nicht zeitlich 311 Aristoteles, Phys. VIII, 8; 261 b 26 ff. 312 Aristoteles, Cat. 7; 7 b 23 f.

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voran, sondern ewiglich. Denn das Sein Gottes bemißt sich nicht nach der Zeit. Auch gab es vor der Welt noch keine wirkliche Zeit, sondern nur eine vorgestellte Zeit in dem Sinne, daß wir uns vom gegenwärtigen Zeitpunkt aus unendliche Zeiträume in der Ewigkeit vorstellen können, die noch vor den Anbeginn der Zeit zurückreichen können. Zu 21. Wenn sich das Herrsein als die Folge des Wirkens versteht, mit dem Gott tatsächlich das Erschaffene lenkt, so ist Gott nicht von Ewigkeit an der Herr. Wenn sich das Herrsein dagegen als Folge des Lenkungsvermögens selbst versteht, dann trifft es auf Gott seit Ewigkeit zu. Gleichwohl braucht man das Erschaffene nicht für ewig zu halten, es sei denn als ewig der Möglichkeit nach. Zu 22. Das hier angeführte Argument verwendet Augustinus, um die Gleichewigkeit und Gleichheit des Sohnes mit dem Vater nachzuweisen.313 Dieses Argument kann jedoch nicht für die Welt geltend gemacht werden. Denn da der Sohn eines Wesens mit dem Vater ist, so ist für ihn die Ewigkeit und Gleichheit mit dem Vater unabdingbar; und wenn dies ihm vorenthalten wäre, so wäre dies ein Zeichen für den Neid [des Vaters]. So etwas ist jedoch für das Wesen der Geschöpfe nicht unabdingbar. Somit liegt hier der Fall anders. Zu 23. Im griechischen Text der Hl. Schrift lautet Ex. 15, 18 folgendermaßen: »Der Herr hat geherrscht von Geschlecht zu Geschlecht und herrscht immer noch.« Origenes bemerkt nach Angabe einer Glosse dazu, daß »Geschlecht« den Zeitraum einer Generation meint, dessen Ende für uns Menschen überschaubar ist; »von Geschlecht zu Geschlecht« meint aber einen unermeßlichen Zeitraum, der ein Ende hat, der jedoch für uns nicht überschaubar ist. Somit wird »ewig« im Sinne eines langen Zeitraumes verstanden. Anselm in seinem Proslogion versteht »ewig« dagegen im Sinne von »Weltzeit ohne Ende«.314 Und doch muß man sagen, daß Gott darüber hinaus liegt – und zwar deswegen: Erstens kann man sich Dinge, die ewig fortbestehen, als nichtseiend vorstellen. Zweitens wären 313 Augustinus, Contra Maximinum II, 7 (PL 42, col. 742). 314 Anselm von Canterbury, Proslogion 20 (Opera omnia I, ed. Schmitt,

115 f.).

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Quaestio · 3

sie nicht, wenn sie nicht durch Gott erhalten würden; somit haben sie nicht von sich aus ihr Sein. Drittens haben sie nicht ihr gesamtes Sein in Gleichzeitigkeit, da es bei ihnen Wechsel und Verlauf gibt. Zu 24. Bei dem, was einen Anfang hat, muß es insofern ein bestimmtes Maß für sein faktisches Bestehen geben, als es seinen Anfang über eine Bewegung nimmt. Auf diese Weise nimmt jedoch die Zeit im Schöpfungsakt nicht ihren Anfang. Daher ist dieses Argument nicht stichhaltig. Dessen ungeachtet läßt sich aber sagen, daß jedes Maß sich in seinem jeweiligen Bereich nach sich selbst bemißt, also etwa eine Linie nach einer Linie und genauso die Zeit nach der Zeit. Zu 25. Die Zeit verhält sich nicht wie die dauerhaften Dinge, deren Substanz mit einem Mal zur Gänze vorliegt. Daher ist es nicht notwendig, daß die Zeit zu ihrem Anbeginn als ein Ganzes vorliegt. Deswegen spricht auch nichts gegen die Behauptung, daß die Zeit in einem bestimmten Augenblick ihren Anfang genommen hat. Zu 26. Wie bereits ausgeführt,315 ist Gottes Wirken ewig, das von ihm Bewirkte aber nicht. So ist Gott nicht stets Ursache gewesen, insofern das von ihm Bewirkte nicht stets schon dagewesen ist. Gleichwohl kann daraus nicht gefolgert werden, daß Gott nicht der Möglichkeit nach die Ursache gewesen ist – sein Wirken hat ja immer schon bestanden –, es sei denn, man bezieht »Möglichkeit« auf das Bewirkte. Zu 27. Nach Aristoteles liegt das Wahre im Denken und nicht in den Dingen,316 da es nämlich die Übereinstimmung des Denkens mit den Dingen ist. Daher ist alles, was von Ewigkeit an ist, wahr aufgrund der Wahrheit des göttlichen Intellekts, der ewig ist. Zu 28. All das, was man als von Ewigkeit an wahr bezeichnet, ist nicht aufgrund einer jeweils anderen Wahrheit wahr, sondern aufgrund ein und derselben Wahrheit des göttlichen Intellekts. Gleichwohl steht diese in einem Bezug zu verschiedenen Dingen, die erst noch in ihr jeweiliges Sein gelangen werden. Im Ausgang von diesen Bezüglichkeiten kann man somit eine gewisse Unterteilung innerhalb dieser Wahrheit zum Ausdruck bringen. 315 Vgl. De pot. q. 3 a. 17 ad 12. 316 Aristoteles, Met. VI, 4; 1027 b 25 ff.

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Zu 29. Der hier angeführte Beleg aus Aristoteles gilt für diejenige Rede, die sich mit unserem Denken bzw. mit unserem Sprechen vollzieht. Denn die Wahrheit unseres Denkens und Sprechens wird durch das Vorkommen eines Dinges verursacht. Die Wahrheit des göttlichen Intellekts ist dagegen die Ursache für Dinge. Zu 30. In Hinblick auf Gott selbst meint »Schaffen« nichts anderes als »Sprechen«. Denn Gottes Wirken ist kein Akzidens, sondern ist seine Substanz. »Schaffen« impliziert jedoch etwas Erschaffenes, das wirklich in dem ihm eigenen Wesen zum Vorschein kommt; dies impliziert »Sprechen« nicht. Die vorgebrachten Gegenargumente kommen zwar zu der wahren Schlußfolgerung. Sie tun dies aber nicht in einer notwendigen Weise – mit Ausnahme des ersten Argumentes, das auf der Autorität der Hl. Schrift basiert. Zu 2. Das Argument betreffs des Verhältnisses zwischen intellektueller Einsicht und einem zeitlichen Verlauf beweist nämlich nicht, daß die Zeit irgendwann einmal ihren Anfang genommen hat. Denn es kann ja sein, daß eine wissenschaftliche Beschäftigung mehrere Male unterbrochen worden ist und daß sie dann nach einer langer Zeit von neuem aufgenommen wird. Dies sagt übrigens auch Aristoteles.317 Zu 3. Ebensowenig wird die Erde an einer Stelle infolge von Ausschwemmung derart aufgezehrt, daß sie nicht wieder an einer anderen Stelle durch die wechselseitige Veränderung der Elemente zunehmen würde. Zu 4. Zwar ist Gottes faktisches Bestehen der Sache nach mit seinem Wesen identisch; dem Begriff nach sind sie aber voneinander unterschieden. Daher folgt aus der Tatsache, daß Gott der Welt dem Wesen nach vorangeht, nicht notwendig, daß er auch dem faktischen Bestehen der Welt vorangeht.

317 Aristoteles, Met. XII, 8; 1074 b 10 ff.

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18. Artik el Die 18. Frage lautet: Wurden die Engel vor der sichtbaren Welt erschaffen? 318 Dies scheint der Fall zu sein; denn: 1. Johannes von Damaskus zitiert Gregor von Nazianz mit den Worten: »Gott hat zuerst die englischen und die himmlischen Kräfte erdacht, und dieses Ausdenken war sein Werk.«319 Folglich erschuf er die Engel, bevor er die Welt entstehen ließ. 2. Dagegen ist zu sagen, daß das »zuerst« hier eine wesensmäßige Rangfolge und keine zeitliche Abfolge meint. – Dem ist zu erwidern: Johannes von Damaskus gibt an der angeführten Stelle zwei Ansichten zu diesem Thema wieder. Die eine behauptet, daß die Engel zuerst erschaffen worden sind, die andere aber behauptet das Gegenteil. Nun hat aber niemand je die Ansicht vertreten, daß die Engel nicht dem Wesen nach den sichtbaren Geschöpfen vorangingen. Folglich muß sich das »zuerst« hier auf die zeitliche Abfolge beziehen. 3. Basilius sagt zu Anfang seines Hexaemeron : »Vor dieser Welt gab es eine Wesensform, die unser Intellekt zu erfassen vermag«;320 im weiteren Verlauf erklärt er, daß es sich hierbei um die Engel handelt. Folglich sind die Engel offenbar vor dieser Welt erschaffen worden. 4. Das, was zusammen mit der sichtbaren Welt erschaffen worden ist, zählt die Hl. Schrift zu Beginn des Buches Genesis auf. Die Engel erwähnt sie dabei jedoch nicht. Folglich sind die Engel offenbar nicht zusammen mit der Welt, sondern vor ihr erschaffen worden. 5. Das, was die Vervollkommnung von etwas anderem zu seinem Ziel hat, ist diesem Ziel nachgeordnet. Nun hat die sichtbare Welt die Vervollkommnung der geisthaften Geschöpfe zu ihrem Ziel. Denn nach Ambrosius321 hat Gott, der seiner Natur nach unsichtbar ist, ein sichtbares Werk hervorgebracht, um in diesem erkannt werden zu 318 Paralleltexte: Sum. theol. I, q. 61 a. 3. Sent. II, d. 2 q. 1 a. 3. Opusc. De angelis 17. Opusc. In decretal. I. 319 Gregor von Nazianz, Oratio 38, 9 (PG 36, col. 320 f.), zit. bei Johannes Damascenus, De fide orthodoxa 17, 19 (ed. Buytaert, 74). 320 Basilius von Caesarea, In Hexaemeron I, 5 (PG 30, col. 874; lateinische Übersetzung in: PG 29, col. 13). 321 Ambrosius, In Hexaemeron I, 4, 16–5, 17 (PL 14, col. 141 f.).

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können. Diese Erkenntnis ist aber nur einem geisthaften Geschöpf möglich. Demnach sind die geisthaften Geschöpfe offenbar vor der sichtbaren Welt erschaffen worden. 6. Alles, was vor der Zeit liegt, geht der sichtbaren Welt voran. Denn die Zeit hatte ihren Anfang zusammen mit der Welt. Nun sind die Engel vor der Zeit erschaffen worden. Denn wie Augustinus sagt,322 gab es keine Zeit vor dem Tag, und die Engel sind vor dem Tag erschaffen worden. Folglich sind die Engel vor der sichtbaren Welt erschaffen worden. 7. Hieronymus sagt in seinem Kommentar zum Titusbrief: »Die Jahre unserer Zeit haben noch nicht die Sechstausend erreicht. Wie viele Ewigkeiten muß man sich davor vorstellen, wie viele Zeiten, in denen die Engel Gott dienten und seinem Befehl unterstanden?«323 Nun nahm die sichtbare Welt zusammen mit unserer Zeit ihren Anfang. Folglich waren die Engel vor der sichtbaren Welt da. 8. Der Weise bringt das von ihm Bewirkte in einer Ordnung hervor. Nun übertreffen die Engel die sichtbaren Geschöpfe in der Rangstellung. Folglich müssen sie von Gott als dem weisesten Baumeister zuerst ins Sein gebracht worden sein. 9. Insofern Gott gut ist, läßt er andere an seiner Güte teilhaben. Nun wurde den Engeln die Würde zuteil, daß sie den sichtbaren Geschöpfen in der zeitlichen Dauer vorangehen. Demnach scheint ihnen dies durch die höchste Güte Gottes verliehen worden zu sein. 10. Der Mensch wird als ein Mikrokosmos bezeichnet, weil er Ähnlichkeit mit dem Makrokosmos hat. Nun bildet sich, wie Aristoteles sagt,324 beim Menschen das edelste Körperteil, nämlich das Herz, vor den anderen Körperteilen. Demnach sind die Engel, die ja den edelsten Teil des Makrokosmos ausmachen, offensichtlich vor den sichtbaren Geschöpfen hervorgebracht worden. 11. Wie Augustinus bemerkt,325 erwähnt die Hl. Schrift beim Werk des zweiten und der folgenden Schöpfungstage immer dreimal, daß ein Ding hervorgebracht wird. So heißt es erstens: »Gott 322 323 324 325

Augustinus, De Gen. ad litt. I, 9 (CSEL 28/1, 12). Hieronymus, Super epistulam ad Titum I, 2 (PL 26, col. 594). Aristoteles, De gen. an. II, 4; 739 b 34 ff. Augustinus, De Gen. ad litt. II, 7–8 (CSEL 28/1, 42–45).

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sprach: ›Es werde ein Firmament!‹«; zweitens: »Und es geschah so«; und drittens: »Gott schuf das Firmament.« Die erste Erwähnung bezieht sich auf das Sein der Dinge im Wort; die zweite Erwähnung auf das Sein der Dinge im Denken der Engel, insofern ja die Engel ein Wissen um die Geschöpfe erhalten, die erst noch entstehen sollen. Die dritte Erwähnung aber bezieht sich auf das Sein des Erschaffenen in seiner je eigenen Wesenform. Nun waren aber die sichtbaren Geschöpfe zu dem Zeitpunkt, als sie erst entstehen sollten, noch nicht da. Folglich waren die Engel vor der sichtbaren Natur da und hatten ein Wissen von ihr. 12. Man mag nun einwenden: Das Angeführte bezieht sich auf die Hervorbringung der Geschöpfe im Sinne ihrer Ausstattung mit einer Form und nicht auf ihre allererste Erschaffung. – Dem ist zu erwidern: Nach Augustinus geht die Erschaffung der sichtbaren Natur zeitlich nicht deren Ausstattung mit einer Form voran. Wenn also die Engel bereits vor der Verleihung der Formen an die sichtbaren Geschöpfe da waren, dann waren sie auch schon vor deren Erschaffung da. 13. Gottes Sprechen ist der Grund für die Entstehung des Erschaffenen. Dieses Sprechen scheint nun nicht die ewige Zeugung des Wortes zu meinen, denn diese ist von Ewigkeit an und wiederholt sich nicht im Lauf der Zeiten. Und doch erwähnt die Hl. Schrift bei den einzelnen Schöpfungstagen wiederholt, daß Gott etwas gesagt hat. Ebensowenig kann dies aber einen physischen Sprechakt meinen. Denn zum einen gab es noch keinen Menschen, der die Stimme Gottes und das dabei Gesprochene hätte hören können. Zum anderen hätte noch vor der Heranbildung des Lichtes etwas anderes dasein müssen, was körperhaft ist, denn ein physischer Laut entsteht nur durch etwas, was einen Körper hat. Folglich ist damit das geistige Sprechen gemeint, in dem Gott zu den Engeln spricht. Somit ist offensichtlich das Erkennen der Engel eine ursächliche Voraussetzung dafür, daß die Geschöpfe hervorgebracht werden. 14. Wie gerade gesagt, erwähnt die Hl. Schrift dreimal, daß ein Ding hervorgebracht wird. Die erste Erwähnung betrifft das Sein der Dinge im Wort, die zweite das Sein der Dinge im Denken der Engel und die dritte das Sein der Dinge in ihren je eigenen Wesensformen. Nun geht aber die erste Erwähnung der zweiten zeitlich

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und logisch voran. Ebenso geht dann die zweite der dritten zeitlich und logisch voran, d. h. also das Erkennen der Engel dem Dasein der sichtbaren Geschöpfe. 15. Der Hervorgang der Dinge aus ihrem Anfang kann nicht weniger geordnet vor sich gehen als die Rückführung in ihr Ende. Bei dieser Rückführung der Dinge in ihr Ende ist es Dionysius zufolge ein von Gott festgelegtes Gesetz, daß die niedrigsten Dinge durch diejenigen Dinge, die eine Mittelstellung einnehmen, in ihr Ende zurückgeführt werden.326 Folglich gehen die körperhaften Geschöpfe als die niedrigsten aus Gott nur vermittels der englischen Geschöpfe hervor, welche eine Mittelstellung einnehmen. Demnach gehen die Engel den körperhaften Geschöpfen so voran wie die Ursachen dem von ihnen Verursachten. 16. Zwischen dem, was ganz und gar verschieden ist, gibt es keine Gemeinsamkeit. Nun sind die Engel und die sichtbaren Geschöpfe völlig verschieden. Folglich gibt es bei ihrer Erschaffung auch nicht die Gemeinsamkeit, daß sie gleichzeitig entstehen. Ebensowenig aber entspräche es der Ordnung, wenn die Engel erst nach den sichtbaren Geschöpfen entstehen würden. Folglich sind sie vor den sichtbaren Geschöpfen erschaffen worden. 17. In Eccl. 1, 4 heißt es: »Vor allen Dingen ist die Weisheit erschaffen«. Damit kann aber nicht Gottsohn gemeint sein, der die Weisheit des Vaters ist. Denn er ist nicht erschaffen, sondern gezeugt. Folglich ist die englische Weisheit, die erschaffen ist, vor allen anderen Dingen erschaffen worden. 18. Hilarius bemerkt in seinem Buch De Trinitate: »Was ist daran verwunderlich, wenn wir bekennen, daß unser Herr Jesus Christus vor der Zeit dagewesen ist, wenn Gott sogar die Engel vor der Welt erschaffen hat?«327 Gottsohn geht aber nicht nur im Rang seiner Erhabenheit, sondern auch im faktischen Bestehen allen Zeiten voran. Dementsprechend gehen auch die Engel der sichtbaren Welt voran. 19. Ein englisches Geschöpf nimmt eine Mittelstellung zwischen der göttlichen und der körperhaften Natur ein. Ebenso liegt die Weltzeit, nach der sich die Engel bemessen, zwischen der Ewigkeit 326 Dionysius Areopagita, De cael. hier. V, 4 (Dion. II, 1330). 327 Hilarius, De trin. XII, 37 (CCSL 62 A, 607).

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und der Zeit. Nun geht Gott in seiner Ewigkeit den Engeln und den sichtbaren Geschöpfen voran. Also gehen auch die Engel in ihrer Weltzeit den sichtbaren Geschöpfen voran. 20. Augustinus sagt, daß die Engel immer schon dagewesen sind.328 Hingegen läßt sich nicht sagen, daß die körperhaften Geschöpfe immer schon dagewesen sind. Also waren die Engel schon vor den körperhaften Geschöpfen da. 21. Die Bewegung des körperhaft Erschaffenen vollzieht sich mit Hilfe der geistigen Geschöpfe, wie Augustinus und Gregor lehren.329 Nun geht ein Beweger dem von ihm Bewegten voran. Folglich waren die Engel vor den sichtbaren Geschöpfen da. 22. Dionysius vergleicht das Wirken Gottes auf die Dinge mit dem Wirken des Feuers auf die Körper, welche durch das Feuer eine Einwirkung erfahren.330 Nun wirkt ein Feuer zunächst eher auf Körper in seiner Nähe als auf Körper, die von ihm entfernt sind. Demnach hat auch die göttliche Güte zunächst die Engel hervorgebracht, welche in ihrer Nähe sind, und dann die körperhaften Geschöpfe, die ihr nicht so nahe sind. Folglich waren die Engel schon vor der Welt da. Dagegen spricht: 1. Ganz zu Anfang des Buches Genesis heißt es: »Im Anfang schuf Gott Himmel und Erde«. Dazu merkt Augustinus an, daß »Himmel« die englischen Wesen meint, »Erde« dagegen die körperhaften Wesen.331 Folglich sind die Engel zugleich mit den körperhaften Wesen erschaffen worden. 2. Die Glosse von Strabo merkt zu dieser Stelle an, daß »Himmel« hier das Empyreum meine, das gleich bei seiner Erschaffung mit Engeln erfüllt war.332 Folglich sind die Engel zusammen mit dem Empyreum, das ein sichtbares Geschöpf ist, erschaffen worden. 328 Augustinus, De civ. Dei XI, 9 (CCSL 48, 329). 329 Augustinus, De trin. III, 4, 9 (CCSL 50, 135 f.); sowie Gregor der

Große, Dialogi IV, 5, 8 (SC 265, 38). 330 Dionysius Areopagita, De cael. hier. XIII, 3 (Dion. II, 950–953). 331 Augustinus, De civ. Dei XI, 33 (CCSL 48, 354). 332 Ps.-Remigius von Auxerre (= Walahfridus Strabo?), In Genesim 1, 1 (PL 131, col. 54 f.).

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3. Den Menschen bezeichnet man deswegen als Mikrokosmos, weil er Ähnlichkeit mit dem Makrokosmos hat. Nun entstehen beim Menschen Körper und Seele zugleich. Folglich entstehen auch im Makrokosmos die englischen und körperhaften Wesen zugleich. Antwort: Alle katholischen Gelehrten stimmen darin überein, daß die Engel nicht immer schon dagewesen sind, da sie aus dem Nichts ins Sein gebracht worden sind. (A) Manche nahmen jedoch an, daß die Engel nicht zugleich mit der sichtbaren Welt, sondern bereits vor dieser ihren Anfang genommen hätten. Zu dieser Annahme gelangten sie aus verschiedenen Gründen. Denn einige von ihnen glaubten, daß die Hervorbringung der körperhaften Geschöpfe nicht in der ursprünglichen Absicht Gottes lag. Sie behaupteten vielmehr, daß Gott zu ihrer Hervorbringung durch das Verdienst und die Schuld der geisthaften Geschöpfe veranlaßt worden sei. Origenes lehrte, daß im Anbeginn alle materielosen und geistigen Wesen zugleich erschaffen worden seien und daß sie alle gleichwertig gewesen seien, was ja angesichts der göttlichen Gerechtigkeit unabdingbar sei. Denn es kann ja bei den verliehenen Gaben keine Ungleichwertigkeit geben, wenn denn Gerechtigkeit walten soll, es sei denn, diese Ungleichwertigkeit beruht auf Verdienst und Schuld. Deswegen behauptete Origenes, vor derjenigen Verschiedenheit, die wir an den Geschöpfen sehen können, habe bereits ein Unterschied von Verdienst und Schuld bestanden, insofern manche geisthaften Geschöpfe in höherem Maße Gott nachgefolgt und deshalb in die höhere Rangstufe von Engeln erhoben worden seien, manche aber mehr gesündigt hätten und deshalb an die schwerfälligeren und weniger ehrwürdigen Körper gebunden worden seien.333 Augustinus verwirft jedoch diese Ansicht.334 Der einzige Grund, die Geschöpfe – sowohl die geisthaften als auch die körperhaften – hervorzubringen, liegt unstreitbar in nichts anderem als in Got333 Origenes, De Principiis I, 7, 4 (SC 252, 214 ff.); I, 8, 4 ff. (ed. cit., 220 ff.); II, 9, 1 ff. (ed. cit., 352 ff.). 334 Augustinus, De civ. Dei XI, 23 (CCSL 48, 341 f.).

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tes Güte, insofern die Geschöpfe mit ihrer erschaffenen Güte auf ihre Weise die unerschaffene Güte wiedergeben. Deswegen sagt die Hl. Schrift von den einzelnen Schöpfungswerken Gottes und später von allen zusammen: »Gott sah alles, was er gemacht hatte, und es war sehr gut«335 – so als ob sie sagen wollte, daß Gott die Geschöpfe hervorgebracht hat, damit sie Güte hätten. Dagegen sind die körperhaften Geschöpfe nach der obigen Ansicht nicht deswegen hervorgebracht worden, weil es gut war, daß sie seien, sondern deswegen, damit die Niedertracht der geisthaften Geschöpfe bestraft werde. Daraus würde sogar folgen, daß die Ordnung des Weltganzen, wie wir sie nun vor Augen haben, sich dem Zufall verdanken würde, insofern die verschiedenen geisthaften Geschöpfe eben zufälligerweise auf unterschiedliche Weise gesündigt hätten. Denn hätten alle Geschöpfe auf die gleiche Weise gesündigt, dann gäbe es nach Auffassung dieser Leute keinen Unterschied der Wesensformen bei den Körpern. (B) Von diesem Standpunkt abgesehen, konzentrierten sich andere Leute auf die Natur der geisthaften Substanzen, die erhabener ist als jede körperhafte Natur, und kamen dabei zu dem Schluß, daß die geisthaften vor den körperhaften Substanzen erschaffen worden sind. Denn wie die erschaffene geisthafte Natur ihrem Wesen nach eine Mittelstellung einnimmt zwischen Gott und dem körperhaften Erschaffenen, so tut sie dies auch im Hinblick auf ihr faktisches Bestehen. Da diese Ansicht von großen Gelehrten wie Basilius, Gregor von Nazianz und anderen vertreten worden ist, kann man sie nicht als Irrtum verurteilen. (C) Wenn man dagegen einen weiteren Standpunkt genau überdenkt, der von Augustinus und anderen Gelehrten vertreten wird und der zudem heute allgemein anerkannt ist, dann wird sich dieser als vernünftiger erweisen. Denn die Engel dürfen nicht einfach unabhängig von allem, sondern sie müssen auch als ein Teil des Weltganzen betrachtet werden. Daß man sie so ins Auge faßt, ist um so mehr angebracht, als die Güte des Weltganzen mehr wiegt als die Güte eines jeden einzelnen Geschöpfes, wie ja auch die Güte einer Ganzheit mehr wiegt als die Güte eines ihrer Teile. Wenn man aber 335 Gen. 1, 31.

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die Engel als Teil des Weltganzen auffaßt, dann trifft es zu, daß sie zugleich mit den körperhaften Geschöpfen erschaffen worden sind. Denn die Hervorbringung eines einheitlichen Ganzen geht offenbar als eine einheitliche vonstatten. Wenn dagegen die Engel eigens erschaffen worden wären, dann wären sie offensichtlich völlig unabhängig von der Ordnung des körperhaft Erschaffenen, so daß sie also für sich ein anderes Weltganzes bilden würden. Daher muß man sagen, daß die Engel zugleich mit den körperhaften Geschöpfen erschaffen worden sind. Damit ist jedoch der andere Standpunkt nicht abgewertet. Zu 1. bis 3. Aus dem eben Gesagten erhellt die Antwort auf die ersten drei Argumente. Denn diese vertreten den zweiten der angeführten Standpunkte.336 Zu 4. Wie Basilius im 1. Buch seines Hexaemeron erklärt, schildert Moses als Gesetzgeber am Anfang des Buches Genesis den Anbeginn der sichtbaren Geschöpfe unter Auslassung der geisthaften Geschöpfe, welche früher erschaffen worden sind, und erwähnt diese deswegen nicht, weil er für das ungebildete Volk sprach, das Geistiges nicht erfassen konnte.337 Augustinus zufolge meint Moses mit »Himmel« die geisthaften Geschöpfe und mit »Erde« die körperhaften Geschöpfe, wenn er schreibt: »Im Anfang schuf Gott Himmel und Erde«.338 Dafür aber, warum Moses für die Erschaffung der Engel die Metapher des Himmels verwendet und sie nicht buchstäblich schildert, kann derselbe Grund wie vorhin geltend gemacht werden, nämlich die Ungebildetheit des Volkes, sowie die Verhinderung der Götzenanbetung, zu der das Volk neigte und zu der sich die Gelegenheit geboten hätte, wenn Moses über den Einen Gott hinaus noch mehrere geisthafte Substanzen angeführt hätte, welche erhabener als der Himmel sind, und dies um so mehr, als solche Substanzen von den Heiden für Götter gehalten wurden. Nach Strabo und einigen noch Älteren ist mit dem Himmel, von dem in 336 Vgl. den Abschnitt B in der »Antwort«. 337 Basilius von Caesarea, In Hexaemeron I, 5 (PG 30, col. 874; lateini-

sche Übersetzung in: PG 29, col. 13). 338 Augustinus, De civ. Dei XI, 33 (CCSL 48, 354).

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der Hl. Schrift die Rede ist, das Empyreum gemeint, welches die Wohnstatt der Engel ist,339 und zwar steht hier der Behälter metonymisch für den Inhalt. Zu 5. Nach Augustinus erkennen die Engel Gott nicht im Ausgang vom sichtbaren Erschaffenen.340 Daher sind die sichtbaren Geschöpfe nicht erschaffen worden, um den Engeln Gott offenbar werden zu lassen, sondern für das vernunftbegabte Geschöpf, welches der Mensch ist – womit sich erweist, daß der Mensch das Ziel der Schöpfung ist. Nun wird zwar ein Ziel zuerst angestrebt, erreicht wird es jedoch zuletzt. Daher ist auch der Mensch zuletzt erschaffen worden. Zu 6. Nach Augustinus ging die Erschaffung des Himmels und der Erde nicht faktisch der Bildung bzw. der Hervorbringung des Lichtes voraus.341 Er will also nicht sagen, daß die Erschaffung der geisthaften Wesen faktisch dem ersten Schöpfungstag vorausgegangen sei, sondern daß sie gewissermaßen in der natürlichen Ordnung vorausgegangen sei. Denn eine geisthafte Substanz und die ungeformte Materie unterliegen, in ihrem Wesen betrachtet, nicht dem Wandel der Zeiten. Daher kann man auch nicht behaupten, daß die geisthaften vor den körperhaften Geschöpfen erschaffen worden sind. Denn bereits vor der Erschaffung des Lichtes wird die Erschaffung der körperhaften Geschöpfe erwähnt, welche mit der »Erde« gemeint sind. Nach Meinung anderer Leute gehört die Erschaffung des Himmels und der Erde zum ersten Schöpfungstag. Denn mit Himmel und Erde ist auch die Zeit erschaffen worden, obgleich die zeitliche Einteilung in Tag und Nacht ihren Anfang erst mit dem Licht genommen hat. Daher zählt die Zeit zu den vier Dingen, die zuerst erschaffen worden sind, als da sind: die englische Natur, das Empyreum, die formlose Materie und die Zeit. Zu 7. Hieronymus gibt hier die Ansicht von älteren Gelehrten wieder. 339 Pseudo-Remigius von Auxerre (= Walahfridus Strabo?), In Genesim 1, 1 (PL 131, col. 54 f.). 340 Augustinus, De Gen. ad litt. II, 8 (CSEL 28/1, 44). 341 Augustinus, De Gen. ad litt. I, 5 (CSEL 28/1, 9 f.).

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Zu 8. Dieses Argument wäre schlüssig, wenn ein jedes Geschöpf als etwas hervorgebracht wäre, das je für sich völlig bezugslos Bestand hätte. So wäre es nämlich erklärbar, daß ein jedes je für sich nach dem Grad seiner Güte erschaffen wäre. Weil aber alle Geschöpfe als Teile eines einheitlichen Weltganzen erschaffen werden, so ist es zutreffend, daß alle zugleich hervorgebracht werden, um ein einheitliches Weltganzes zu bilden. Zu 9. Wenn die geisthaften Geschöpfe vor den Geschöpfen erschaffen worden wären, könnte dies zwar zu ihrer eigenen Erhabenheit beitragen, nicht aber zur Erhabenheit und Einheitlichkeit des Weltalls. Zu 10. Zwar bildet sich das Herz vor den anderen Körperteilen. Doch der gesamte Vorgang, bei dem der Körper eines Lebewesens entsteht, ist ein einheitlich-kontinuierlicher, so daß sich das Herz nicht für sich in einem Entstehungsvorgang bildet und dann in zeitlichem Abstand dazu in anderen Entstehungsvorgängen nach und nach die anderen Körperteile. Bei der Erschaffung der Engel und der körperhaften Geschöpfe trifft es jedoch nicht zu, daß sie innerhalb eines einheitlichen Entstehungsvorganges – und zwar zunächst die geisthaften und dann die körperhaften Geschöpfe – erschaffen worden sind, so als hätte sich das Weltganze kontinuierlich entwickelt. Denn eine verlaufshafte Hervorbringung gibt es bei dem, was aus der Materie entsteht, und bei einer solchen Hervorbringung wird ein Teil eher vervollständigt als der andere. Daher scheidet bei der ursprünglichen Erschaffung der Dinge ein Verlaufscharakter aus, auch wenn dieser für die Bildung derjenigen Dinge gilt, welche im Ausgang von der Materie erschaffen werden. Daher nahmen auch die Gelehrten, die behaupteten, daß die Engel vor der Welt erschaffen worden seien, eine völlig unterschiedliche Erschaffung der Engel und der Körper an sowie eine lange Zeitdauer, die zwischen diesen beiden Schöpfungsakten liegt. Darüber hinaus muß sich bei einem Lebewesen das Herz notwendig früher bilden, weil die Kraft des Herzens auf die Bildung der anderen Körperteile hinwirkt. Dagegen wirken die geisthaften Geschöpfe nicht auf die Erschaffung der körperhaften Geschöpfe hin, da es allein Gott vorbehalten ist, zu erschaffen. Aus diesem Grund tadelt auch Averroes Platon für dessen Behauptung, daß Gott

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zunächst die Engel erschaffen und ihnen dann die Erschaffung der körperhaften Geschöpfe übertragen habe.342 Zu 11. Wenn Augustinus hier von der Erschaffung der körperhaften Geschöpfe spricht, dann bezieht sich dies nicht auf ihre ursprüngliche Erschaffung, sondern auf die Verleihung der Formen an sie. Zu 12. Wenn man daran festhält, daß alle Dinge zugleich in ihrer Materie und Form erschaffen worden sind, dann meint die Aussage, daß die geisthaften Geschöpfe von den erst noch entstehenden körperhaften Geschöpfen wußten, nicht deren zeitlich zukünftige Heranbildung. Vielmehr erkannten sie die körperhaften Geschöpfe insofern als etwas Zukünftiges, als sie diese Geschöpfe in ihrer Ursache betrachteten, aus der sie dann hervorgehen konnten. Genauso läßt sich ja etwa sagen, daß derjenige, der eine Truhe in den Prinzipien ihrer Entstehung erfaßt, weiß, daß diese erst noch herzustellen ist. Zu 13. Das Sprechen Gottes meint die ewige Zeugung des göttlichen Wortes, in dem von Ewigkeit an das Urbild aller Geschöpfe liegt, welche erschaffen werden sollen. Das »Und Gott sprach« wird aber nicht deshalb so häufig bei den einzelnen Schöpfungstagen wiederholt, weil Gott dies in einem zeitlichen Verlauf gesagt hätte, sondern weil das Wort an sich betrachtet Eines ist und doch in ihm das jeweilige Urbild für jedes einzelne Geschöpf liegt. So geht also das Wort Gottes den einzelnen Werken voran als der eigentliche Grund für deren Entstehung, damit nicht nach Vollbringung dieses Werkes die Frage aufkommt, warum dieses bestimmte Werk vollbracht worden ist, da es doch vor dem Beginn des Werkes heißt: »Und Gott sprach«. Dies ist mit einem Vorgehen vergleichbar, wo jemand den Grund für etwas angeben will und mit der Erkenntnis des Grundes anfängt. Zu 14. Das Sein der Dinge im Wort ist der Grund für ihr Sein in ihrer je eigenen Wesensform. Dagegen ist das Sein der Dinge im Denken der Engel nicht der Grund für ihr Sein in ihrer je eigenen Wesensform. Somit gibt es hier keine Vergleichsmöglichkeit.

342 Averroes, In XII Met. com. 44 (Aristotelis opera cum Averrois commentaria, Vol. VIII; fol. 328 r F).

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Zu 15. Aufgrund seines Wirkens kann ein Ding sich auf ein Ziel richten. Ins Sein gelangt es aber mit diesem seinem Wirken nicht, sondern nur aufgrund des Wirkens einer tätigen Ursache. Aus diesem Grund ist es eher so, daß die höheren Geschöpfe Gott bei der Hinführung der niederen Geschöpfe auf ihr Ziel unterstützen, als daß sie ihn bei deren Hervorbringung unterstützen. Zu 16. Zwar unterscheiden sich die körperhaften und die geisthaften Geschöpfe in ihrer je eigenen Natur; sie stehen aber aufgrund der Ordnung des Weltganzen miteinander in Verbindung. Deshalb müssen sie zugleich erschaffen worden sein. Zu 17. Das hier angeführte Wort aus Eccl. ist nach Augustinus auf die erschaffene Weisheit gemünzt, welche in der englischen Natur liegt und die, so Augustinus, nicht zeitlich früher, sondern dem Würdenrang nach früher erschaffen worden ist.343 Nach Hilarius’ De Synodis gilt das Wort aus Eccl. für die unerschaffene Weisheit, d. h. für Gottsohn.344 Diese wird freilich in Spr. 8, 22 und an weiteren Stellen der Hl. Schrift sowohl als erschaffen wie auch als gezeugt bezeichnet , um damit jede Unvollkommenheit für die Geburt des Gottessohnes auszuschließen. Bei der Schöpfung läßt sich ja auf Seiten des Erschaffenen die Unvollkommenheit ausmachen, daß es aus dem Nichts ins Sein gelangt, und auf Seiten des Schöpfers die Vollkommenheit, daß er ohne eine Veränderung seiner selbst die Geschöpfe hervorbringt. Bei der Geburt aber verhält es sich genau gegenteilig. Denn hier findet sich beim Geborenen die Vollkommenheit, daß es das Wesen des Zeugenden empfängt, und beim Zeugenden – zumindest gilt dies für einen niederen Zeugungsvorgang – die Unvollkommenheit, daß er mit einer Veränderung seiner selbst bzw. mit einer Teilung seiner Substanz die Zeugung vornimmt. Daher heißt Gottsohn zugleich erschaffen und gezeugt, damit seine Erschaffung eine Veränderung des Zeugenden ausschließt und seine Geburt eine Unvollkommenheit des Gezeugten, so daß sich also aus beidem ein einziger vollkommener Begriff bildet.

343 Augustinus, Conf. XII, 15, 2 (CCSL 27, 225). 344 Hilarius, De synodis seu de fide orientalium 17–18 (PL 10, col. 493−

495).

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Zu 18. Hilarius gibt hier die Ansicht von älteren Gelehrten wieder. Zu 19. Gott ist die Ursache für die englischen Wesen, dagegen sind die englischen Wesen nicht die Ursache für die körperhaften Wesen. Somit gibt es hier keine Vergleichsmöglichkeit. Zu 20. Daß die Engel immer schon dagewesen sind, heißt nicht, daß sie von Ewigkeit an dagewesen sind, sondern daß sie zu jeder Zeit dagewesen sind. Denn seit es die Zeit gibt, sind die Engel da. In diesem Sinne waren aber auch die körperhaften Geschöpfe immer schon da. Zu 21. Der Beweger geht nicht zeitlich, sondern in der Rangstellung dem Bewegbaren mit Notwendigkeit voran. Dies zeigt sich etwa im Falle von Seele und Körper. Zu 22. Beim Wirken des Feuers auf Körper muß man zwei Ordnungsgrößen in Betracht ziehen, nämlich Ort und Zeit. Die Ordnungsgröße des Ortes findet sich bei jedem Wirken des Feuers, weil dessen Wirken an einen Ort gebunden ist und weil es seine Wirksamkeit eher an Körpern entfaltet, die in seiner Nähe liegen. Daher schwächt sich mit größerem Abstand seine Wirkung so weit ab, daß sie schließlich überhaupt nichts mehr ausrichtet. Dagegen findet sich die Ordnungsgröße der Zeit nicht bei jedem Wirken des Feuers, sondern nur bei demjenigen Wirken, das sich in Form einer Bewegung entfaltet. Wenn also das Feuer die Körper erwärmt und erleuchtet, so bleiben im Falle ihrer Erwärmung die Ordnungsgrößen des Ortes und der Zeit bestehen. Bei der Erleuchtung dagegen, die ja keine Bewegung, sondern den Grenzwert einer Bewegung darstellt, findet sich nur die Ordnungsgröße des Ortes. Weil also Gottes schöpferisches Wirken sich ohne Bewegung vollzieht, kann jener Vergleich nicht im Hinblick auf die Ordnungsgröße der Zeit angestellt werden, sondern nur im Hinblick auf die Ordnungsgröße des Ortes. Denn das Verhältnis zwischen dem geistigen Wirken und verschiedenen Abstufungen in der Natur entspricht dem Verhältnis zwischen einem körperhaften Wirken und den unterschiedlichen örtlichen Lagen. Der angeführte Vergleich von Dionysius ist demnach so zu verstehen: Wie das Feuer an Körpern, die in seiner Nähe sind, eher seine Wirkkraft entfaltet, so läßt Gott seine Güte reichlicher den Dingen zuteil werden, die in der Rangstellung ihm näherstehen.

19. Artik el Die 19. Frage lautet: Können die Engel vor der sichtbaren Welt dagewesen sein? 345 Dies scheint nicht der Fall zu sein; denn: 1. Alle Dinge, die sich so verhalten, daß zwei von ihnen nicht ohne Unterschied denselben Ort einnehmen können, müssen hinsichtlich ihres Ortes verschieden sein. Nun können, wie allgemein bekannt, zwei Engel nicht ein und denselben Ort einnehmen. Es ist also undenkbar, daß es zwei verschiedene Engel gibt, wenn es nicht zwei verschiedene Orte gibt. Nun gab es aber vor den sichtbaren Geschöpfen noch keinen Ort, denn der Ort ist nach Aristoteles nichts anderes als die äußerste angrenzende Fläche eines Körpervolumens.346 Folglich kann es vor der sichtbaren Welt keine Engel gegeben haben. 2. Die Hervorbringung von körperhaften Geschöpfen nimmt den Engeln nichts von der ihnen wesensmäßigen Wirkkraft. Wenn also die Engel noch vor der Erschaffung der sichtbaren Welt ohne Ort sein konnten, so könnten sie auch jetzt, nach Erschaffung der sichtbaren Welt, ohne Ort sein. Dies ist aber offensichtlich falsch. Denn wenn sie an keinem Ort wären, dann wären sie nirgendwo und damit offenbar überhaupt nicht. 3. Boethius sagt, daß jeder erschaffene Geist einen Körper benötigt. Nun ist ein Engel ein erschaffener Geist. Er benötigt also einen Körper und kann daher unmöglich vor den körperhaften Geschöpfen dagewesen sein. 4. Dagegen wird eingewendet: Ein Engel benötigt einen Körper nicht für sein Sein, sondern zur Erfüllung seiner Aufgabe. – Dem ist zu erwidern: Der Aufgabenbereich der Engel liegt dort, wo wir sind, d. h. innerhalb dieser Welt. Nun haben die Engel aber auch einen körperhaften Ort jenseits unseres Aufenthaltsortes: im Empyreum. Also benötigen die Engel nicht allein dafür, daß sie uns dienen können, einen Körper an einem körperhaften Ort. 5. Es ist unmöglich, sich ein Früher und Später ohne die Zeit vorzustellen. Wenn es aber die Engel schon vor der Welt gegeben hätte, 345 Paralleltexte: Sum. theol. I, q. 61 a. 4 ad 1. Sent. II, d. 2 q. 1 a. 3. 346 Aristoteles, Phys. IV, 4; 212 a 20.

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Quaestio · 3

dann wäre der Anfang, den die Engel genommen hätten, vor dem Anfang gelegen, den die sichtbare Welt genommen hat. So etwas ist aber unmöglich, da es Zeit nicht ohne Bewegung und Bewegung nicht ohne Bewegbares gibt. Folglich können die Engel unmöglich schon vor der Welt dagewesen sein. Dagegen spricht: Das, was im Bereich der Geschöpfe nicht zu einem kontradiktorischen Widerspruch führt, ist Gott möglich. Nun stellt es keinen kontradiktorischen Widerspruch dar, daß es Engel gibt, wenn es die sichtbare Welt nicht gibt. Demnach war es Gott nicht unmöglich, die Engel früher als die Welt hervorzubringen. Antwort: Wie Boethius sagt, darf man sich angesichts von Gott wie auch von allem Unkörperlichen nicht von der sinnlichen Vorstellung leiten lassen.347 Denn da die sinnliche Vorstellung sich nach Aristoteles aus den sinnlichen Eindrücken ergibt,348 so kann sie nicht über die Quantität hinausgelangen, welche ja jeder sinnlich erfaßbaren Qualität zugrundeliegt. Dies berücksichtigten einige Leute nicht und waren daher nicht in der Lage, über die sinnliche Vorstellung hinauszugehen. So konnten sie alles nur als etwas denken, was an einen Ort gebunden ist. Deswegen behaupteten manche der alten Philosophen, wie es im 4. Buch der Physik heißt, daß das, was nicht an einem Ort sei, überhaupt nicht sei.349 Einem ähnlichen Irrtum verfielen einige der neueren Autoren: Sie behaupteten, daß es die Engel ohne das körperhaft Erschaffene nicht geben könne, weil sie meinten, die Engel seien etwas, was sich im Hinblick auf den Ort unterscheiden ließe. Dies steht aber im Widerspruch zu der Ansicht derjenigen Alten, die lehrten, daß die Engel vor der Welt dagewesen sind. Es widerspricht zudem der Rangwürde des englischen Wesens, das an sich den körperhaften Geschöpfen vorangeht und das deshalb von diesen überhaupt nicht abhängt. Aus 347 Boethius, De trin. 2 (ed. Elsässer, 8 f.). 348 Aristoteles, De an. III, 3; 428 b 1 ff. 349 Aristoteles, Phys. IV, 1; 209 a 23.

19. Artikel

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diesem Grund halten wir schlichtweg daran fest, daß die Engel vor der Welt dasein konnten. Zu 1. Die Tatsache, daß sich zwei Engel an einem einzigen unteilbaren Ort befinden, ist nicht ihrer Verschiedenheit geschuldet, sondern dem Umstand, daß sie sich sonst bei ihrem Wirken in die Quere kämen. Daher ist dieses Argument nicht stichhaltig. Zu 2. Auch jetzt 350 spricht nichts dagegen, daß sich die Engel nicht an einem Ort befinden, wenn sie dies wollen, obgleich sie sich stets an einem Ort befinden aufgrund der Rangordnung, in der nach Augustinus die geisthaften über den körperhaften Geschöpfen stehen.351 Zu 3. Wie Boethius selbst erklärt, benötigen die Engel einen Körper nur für die Erfüllung ihrer Aufgaben, nicht aber zur Vervollständigung ihrer Wesensform. Zu 4. Die Engel befinden sich deswegen im Empyreum, weil dies ein Ort ist, der der geistigen Schau angemessen ist, und nicht deswegen, weil diese Schau an einem anderen Ort unmöglich wäre. Zu 5. Die hier angeführte Form des Früher und Später zwingt uns nicht zur Annahme einer wirklichen Zeit vor der Welt, sondern nur zur Vorstellung einer solchen Zeit, so wie dies im 17. Artikel im Zusammenhang mit der Frage nach der Ewigkeit oder der Erschaffung der Welt erörtert worden ist.

350 Gemeint ist hier: nach Erschaffung der sichtbaren Welt. 351 Augustinus, De trin. III, 4, 9 (CCSL 50, 135 f.).

NACHWORT

1. Textgestalt und Übersetzung Eine Gesamtübertragung von »De potentia Dei« ins Deutsche gibt es bislang nicht, und dies im Unterschied zu anderen modernen europäischen Sprachen.1 Für die vorliegende Übersetzung diente die sog. Marietti-Ausgabe als Grundlage,2 da der lateinische Text von »De potentia« innerhalb der »Editio Leonina« noch nicht kritisch ediert ist. Allerdings ist diese als Lesetext angelegte Ausgabe nicht immer zuverlässig, es finden sich in ihr des öfteren sogar sinnentstellende Druckfehler. Aus diesem Grund wurden ältere Drucke von »De po1 Dankbar benutzt werden konnten verschiedene Übertragungen, allen voran die englische Gesamtübersetzung: Thomas Aquinas, On the Power of God, transl. by English Dominican Fathers, ed. L. Shapote, 3 Bde, London 1932–34 (Nachdruck in einem Band: Westminster, ML 1952). Eine zweisprachige Gesamtübersetzung ins Französische fertigte R. Berton 2003/04 an: Saint Thomas, Questions disputées sur la puissance (De potentia). Sie liegt, soweit ich sehe, nicht in Druckform vor, ist aber leicht zugänglich im Internet unter: http://docteurangelique.free.fr./index.html. Seit kurzem gibt es auch eine lateinisch-italienische Gesamtausgabe der quaestiones disputatae. »De potentia« umfaßt dort die Bände 8 und 9: Tommaso d’Aquino, Questione disputata sulla potenza divina (De Potentia). Questioni 1–5 / Questioni 6–10, a cura di B. Mondin, Bologna 2003. Eine weitere einsprachige italienische Übersetzung ist noch nicht abgeschlossen; bisher liegen vor: Tommaso d’Aquino, La potenza di Dio, Fiesole 1991–95; Vol 1: Questioni I–III, trad. L. Tuninetti; Vol 2: Questioni IV–V, trad. G. Marengo; Vol. 3: Questioni VI–VII, trad. G. Marengo. Eine Übertragung ins Spanische umfaßt bislang die ersten drei Quaestionen: Tomás de Aquino, De Potentia Dei, cuestiones 1 y 2. La potencia de Dios considerada en sí misma. La potencia generativa en la divinidad, trad. de E. Moros y L. Ballesteros, Pamplona 2001; De Potentia Dei, cuestión 3. La creación, trad. de Á. L. González y E. Moros, Pamplona 2001. 2 De potentia, ed. P. M. Pession, in: S. Thomae Aquinatis doctoris angelici Quaestiones disputatae, Vol. II, cura et studio P. Bazzi et al., Taurini/ Romae 101965, 7–276.

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tentia« herangezogen und mit dem Text der Marietti-Ausgabe verglichen. Soweit im lateinischen Text nur marginale Abweichungen, z. B. bei Wortendungen oder einzelnen Buchstaben, zu verzeichnen waren, wurde dies in der Übersetzung berücksichtigt, aber nicht immer eigens vermerkt. Hingegen wurde in den Anmerkungen auf diejenigen Stellen hingewiesen, wo die Übersetzung, z. T. erheblich, vom Text der Marietti-Ausgabe abweicht und anderen Drucken bzw. der vorläufigen Textfassung der »Editio Leonina« folgt.3 Etwas mühsam gestaltete sich der Nachweis der von Thomas zitierten Autoren und ihrer Werke, zumal die lateinischen Drucke des Textes wie auch seine bereits vorliegenden Übersetzungen in moderne Sprachen in diesem Punkt vielfach nicht weiterhelfen. Mit reichhaltigeren Belegen, als sie hier geboten werden konnten, wird wohl erst die »Editio Leonina« aufwarten. Entsprechend der Grundintention dieser deutschen Gesamtausgabe der quaestiones disputatae bemüht sich die vorliegende Übersetzung um einen flüssig lesbaren Text, der zwar ohne den Ballast kommentierender Ergänzungen und alternativer Übersetzungsvorschläge auskommen möchte, der aber nicht den terminologisch reichhaltigen und zuweilen auch spröden Sprachduktus des ›scholastischen‹ Originals verleugnen will. In Kauf genommen werden mußten dennoch an manchen Stellen übersetzerische Entscheidungen, die die Mehrdeutigkeit des entsprechenden lateinischen Ausdrucks notgedrungen verraten. Ideales Ziel dieser Übersetzung war deshalb eine Sprachform, die dem Original nur so nahe kommt, daß sie »anstatt des andern« und nicht »an der Stelle des andern gelten solle«.4 Goethes kryptische, angeblich »nicht eben glücklich ge3 In solchen Fällen werden jeweils der Text der Marietti-Ausgabe (Sigle »M«) und der entsprechende Passus aus den anderen herangezogenen Ausgaben von »De potentia« bzw. der »Editio Leonina« einander gegenübergestellt. Für die Auflösung der verwendeten Siglen vgl. das Abkürzungsverzeichnis im Anhang. – Dem Vorsitzenden der »Commissio Leonina«, Herrn Dr. P. Adriano Oliva OP, sei ganz herzlich für seine bereitwilligen Auskünfte zu Textproblemen und den Quellennachweisen gedankt. 4 So Goethe im Abschnitt »Übersetzungen« seiner »Noten und Abhandlungen zu besserem Verständnis des West-östlichen Divans«. Vgl. J. W. Goethe, Sämtliche Werke, Briefe, Tagebücher und Gespräche, I. Abt.:

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wählte phrase«5 soll hier nichts anderes besagen, als daß die vorliegende Übersetzung nur ein blasser Ersatz für das Original sein kann und keineswegs für sich den gleichen Stellenwert beansprucht, welcher dem Original einst beschieden sein mochte. Vorgezeichnet war damit der zweite von zwei unvereinbaren Wegen beim »eigentlichen Uebersezen«, die Friedrich Schleiermacher in seiner berühmten Akademie-Rede von 1813 gewiesen hat: »Entweder der Uebersezer läßt den Schriftsteller möglichst in Ruhe, und bewegt den Leser ihm entgegen; oder er läßt den Leser möglichst in Ruhe und bewegt den Schriftsteller ihm entgegen.«6

2. Der Gesamtaufbau von »De potentia« Die quaestiones disputatae, die unter dem Titel »De potentia Dei« zusammengefaßt sind, entstanden zwischen 1265 und 1266, also während des ersten Jahres von Thomas’ Aufenthalt in Rom (1265– 1267/68). Dorthin hatte ihn die Ordensleitung mit dem Auftrag gesandt, im Kloster Santa Sabina das erste studium innerhalb der römischen Ordensprovinz einzurichten, das der theologischen Ausbildung der jungen Dominikaner dienen sollte.7 Der Textgattung nach ist »De potentia Dei« demnach ein typisches Produkt des damaligen Lehrbetriebs. Im Vergleich mit den anderen quaestiones disputatae des Thomas ist diese Schrift zwar nicht die umfangreichste, sie hat aber doch ein

Sämtliche Werke, Bd. 3: West-östlicher Divan, hrsg. von H. Birus, Frankfurt a. M. 1994, 281. 5 So das nicht eben glücklich getroffene Urteil des Grimmschen Wörterbuches I, col. 476 (s. v. ›anstatt‹); zit. bei Birus (wie Anm. 4), 1575. 6 F. Schleiermacher, »Ueber die verschiedenen Methoden des Uebersezens«, in: Das Problem des Übersetzens, hrsg. von H. J. Störig, Darmstadt 1963, 38–70; hier 47. 7 Zu Datierungsfragen sowie zum Charakter dieses studium vgl. etwa J. A. Weisheipl, Thomas von Aquin. Sein Leben und seine Theologie, übersetzt von G. Kirstein, Graz (u. a.) 1980, 182 ff.; 326.

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beachtliches Ausmaß.8 »De potentia« umfasst insgesamt 83 Artikel, die sich in die folgenden zehn Quaestionen gliedern: 1. Gottes Vermögen als solches (7 Artikel) 2. Das Zeugungsvermögen in Gott (6 Artikel) 3. Die Schöpfung als die erste Wirkung des göttlichen Vermögens (19 Artikel) 4. Die Erschaffung der formlosen Materie (2 Artikel) 5. Gottes Erhaltung der Dinge am Sein (10 Artikel) 6. Wunder (10 Artikel) 7. Die Einfachheit des göttlichen Wesens (11 Artikel) 8. Die Relationen, die ewig von Gott gelten (4 Artikel) 9. Die göttlichen Personen (9 Artikel) 10. Der Hervorgang der göttlichen Personen (5 Artikel) Allein schon dieses Textvolumen macht es einem heutigen Leser nicht eben leicht, den Überblick zu bewahren. Dazu kommt noch eine nicht unerhebliche Schwierigkeit, die selbst unter zünftigen Kennern bislang keine eindeutige Lösung gefunden hat: die Frage nach der inneren Einheit und thematischen Geschlossenheit dieses Werkes. Einige Forscher halten »De potentia« für eine völlig ungeordnete Zusammenstellung von disparaten Themen und Problemen, die der Eigendynamik einer mündlichen Diskussion geschuldet sei und die allenfalls noch in ihren ersten Passagen einen sachlichen Bezug zum Titel »De potentia« erkennen läßt.9 Allerdings wäre dann 8 Nur »De veritate« (29 Quaestionen mit 253 Artikel) und »De malo« (16 Quaestionen mit 101 Artikel) sind umfangreicher als »De potentia«. 9 Nach Scheeben gilt für »De potentia« wie für die anderen quaestiones disputatae, daß sie »leider nicht ganz methodisch sind«; er schlägt daher für »De potentia« eine andere Anordnung vor, so daß man »dann ein ziemlich vollständiges System der theologisch-philosophischen Ontologie« erhält: »Gott als actus purus q. 7 und 8, Macht nach Innen q. 2 und nach Außen q. 1; Produktion nach Innen q. 9–10, und nach Außen (Schöpfung, Erhaltung, Wunder) q. 3–6.« Für Scheeben kann daher »De potentia« besser unter dem Titel »De ente et potentia« rubriziert werden (M. J. Scheeben, Handbuch der katholischen Dogmatik, Freiburg 1873, Bd. 1 § 58, 433). – Synave beruft sich auf die älteren Werkkataloge, die das Werk un-

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die Tatsache, daß dieses Werk nach traditioneller Einschätzung »zu den wichtigsten Texten des Thomas«10 gehört, um so erstaunlicher, wenn diese Wertschätzung seit jeher einem Sammelsurium mit vereinzelten Glanzpunkten gegolten haben sollte.11 Für andere Interpreten zeigt sich in diesem Werk daher zumindest ein rudimentär planmäßiger Aufbau, in den eigentlich zwei thematisch selbständige Abhandlungen integriert sind: »Die sechs ersten Fragen drehen sich nämlich alle um das Thema der Macht (de potentia) […]. Die letzten vier Fragen gehören hingegen der Trinitätstheologie an«.12 Ein ungelöstes Problem bei einer solchen Zweiteilung ter dem Titel »De potentia et ultra« aufführen, was den Werkcharakter von »De potentia« treffend charakterisiere: »ce titre a été emprunté à la première question et couvre en réalité des disputes dont les groupes (questions particulières) se rapportent à des sujets parfois assez divers« (P. Synave, »Le problème chronologique des Questions Disputées de S. Thomas d’Aquin«, in: Revue thomiste 31 [1926], 154–159; hier 155 f.). Zu diesem Werktitel vgl. etwa auch M. Grabmann, Die Werke des hl. Thomas von Aquin. Eine literarhistorische Untersuchung und Einführung, Münster 3 1949 (BGPhMA 22, 1–2), 92. 10 J.-P. Torrell, Magister Thomas. Leben und Werk des Thomas von Aquin, übersetzt von K. Weibel, Freiburg (u. a.) 1995, 180. 11 Zedler gibt zudem zu bedenken: »But although the haphazard spontaneity of actual discourse is […] sometimes mirrored within the pages of a disputed question, it is also true that the choice and arrangement of topics for each series of disputed questions rested with the master« (B. H. Zedler, »Saint Thomas and Avicenna in the ›De Potentia Dei‹«, in: Traditio 6 [1948], 105–159; hier 106 f.). Ähnlich etwa auch M.-D. Chenu, Das Werk des Hl. Thomas von Aquin, übs. von O. M. Pesch, Heidelberg (u. a.) 1960, 320. 12 Torrell, Magister Thomas (wie Anm. 10), 179. – Diese Zweiteilung von »De potentia« hat wohl als erster P. Glorieux vorgenommen: »Les Questiones Disputées de S. Thomas et leur suite chronologique«, in: Recherches de Théologie ancienne et médiévale 4 (1932), 5−33. (Dt. Übs. »Die ›Quaestiones disputatae‹ des Hl. Thomas und ihre chronologische Aufeinanderfolge«, in: Thomas von Aquin, Bd. 1: Chronologie und Werkanalyse, hrsg. von K. Bernath, Darmstadt 1978, 95–131; hier 115 f.: »Man kann einfach feststellen, daß die verschiedenen Fragegruppen, die unter dem allgemeinen Titel De potentia vereinigt sind, wenigstens was die ersten [sechs] angeht, sich mehr oder minder direkt auf das Problem der göttli-

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stellt die zweite Quaestio dar, die sich dem Vermögen zur innertrinitarischen Zeugung widmet und insofern nur schwer in dieses Diptychon »De potentia − De trinitate« einfügt.13 Und so bemüht sich eine weitere Gruppe von Gelehrten um den Nachweis eines Organisationsprinzips, das zwar nicht eine Stringenz wie etwa in der kompendienhaft durchkomponierten »Summa theologiae« erreicht, das aber doch ein hinreichendes Kriterium für die innere Einheit einer lockerer gebauten quaestio disputata liefern kann. Für »De potentia« scheint nun Avicennas Metaphysik dies einheitsstiftende Moment zu sein: »St. Thomas deliberately chose to discuss both creation and the Trinity within a single work in order to give the complete Christian answer to the emanationism of Avicenna.«14 Nun läßt sich zwar nicht bestreiten, daß der Name Avicennas in »De potentia« des öfteren fällt. In eine dezidierte Auseinandersetzung mit Avicenna tritt Thomas jedoch erst ab der dritten Quaestio ein, und dann auch nur im Zusammenhang mit anderen, ebenfalls kritisch behandelten Autoren und Lehren.15 Avicennas »Metachen Macht beziehen; die vier letzten (qq. VIII–X) erinnern, indem sie auf einen anderen Gedanken eingehen, viel eher an eine Abhandlung ›de Deo uno et trino‹.«) 13 Vgl. B. H. Zedler, »Saint Thomas and Avicenna« (wie Anm. 11), 106: »Yet this view does not explain why question 2, ›On the Generative Power in Divine Beings‹, is grouped with the questions on creation rather than, as one would expect according to [this] view, with the questions on Trinity.« 14 B. H. Zedler, »The Inner Unity of the De Potentia«, in: The Modern Schoolman 25 (1948), 91−106; hier 92. Zedler verfolgt ihren Ansatz auf der Grundlage von M. Bouyges, »L’idée génératrice du De potentia de saint Thomas«, in: Revue de philosophie, Nouv. Sér. 2 (1931), 113−131; 247−268; hier 128 ff.; 247 ff. Zedler nimmt im übrigen für die Untermauerung ihrer These vorwiegend auf die dritte Quaestio »De creatione« Bezug. 15 In den Quaestionen I, IV und VIII fällt der Name Avicennas nicht. Quaestio II nimmt nur einmal, und zwar zustimmend, auf Avicenna Bezug (q. 2 a. 3 c.), sieht man einmal ab von einem vorläufigen Argument und seiner Beantwortung (q. 2 a. 1 arg. 11 bzw. ad 11). Gleiches gilt auch für die Quaestio VII: Der zweimaligen Erwähnung Avicennas in den argumenta (q. 7 a. 9 arg. 1; 8) stehen drei positive Inanspruchnahmen gegenüber (q. 7 a. 3 ad 4; a. 4 c.; a. 10 c.). In Quaestio IX findet sich jeweils eine positive (q. 9 a. 1 c.) und eine kritische Bezugnahme auf Avicenna

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physik« kann also höchstens als ein Text neben anderen, etwa dem »Liber de Causis«, gelten, der Thomas in »De potentia« einen Anlaß bietet, seine eigenen Argumente zu formulieren. Avicennas »Metaphysik« läßt sich daher kaum als das Strukturprinzip dieser quaestiones disputatae geltend machen, noch weniger aber für die innere Konsistenz und Überzeugungskraft ihrer Argumente, die diese Argumente aus sich selbst schöpfen müssen. Die Entwicklung eines Gegenargumentes gegen eine bestimmte philosophische Position garantiert noch lange nicht dessen Stichhaltigkeit, wie Thomas selbst einmal gelegentlich, angesichts von Aristoteles’ Behauptung der Ewigkeit der Welt, bemerkt.16 Im übrigen scheint die damals aktuelle Pariser Diskussion um den Stellenwert der arabischen Philosophie kaum das drängendste Problem bei der Lehre zu Santa Sabina gewesen sein, »wenn man bedenkt, daß die Hörerschaft des Thomas aus rudes zusammenge(q. 9 a. 7 c.), in Quaestio X eine kurze positive Erwähnung (q. 10 a. 1 ad 11). – Wenn Quaestio III kritisch auf Avicenna zu sprechen kommt, dann immer im Verein mit anderen Autoren: q. 3 a. 4 c. (Avicenna, Algazel, Petrus Lombardus); q. 3 a. 8 c. (Anaxagoras, Avicenna); q. 3 a. 16 c. (Anaxagoras, Empedokles, Platon, Avicenna, Manichäer, Origenes). Ähnliches läßt sich auch für die einmalige kritische Erwähnung Avicennas in der sechsten Quaestio verzeichnen: q. 6 a. 3 c. (Avicenna, Aristoteles, Alexander von Aphrodisias). Indes sind auch in der dritten Quaestio, wo sich innerhalb der Schöpfungslehre ein kritischer Blick auf die »Emanationslehre des Avicenna« angeboten hätte, Thomas’ positive Bezugnahmen auf Avicenna in der Überzahl: q. 3 a. 1 ad 7; q. 3 a. 3 ad 2 und ad 5; q. 3 a. 5 c. (neben Platon und Aristoteles); q. 3 a. 10 c.; q. 3 a. 14 ad s. c. 7. 16 Vgl. dazu q. 3 a. 17 c. (Abschnitt C in der vorliegenden Ausgabe) − Zedler geht zwar nicht so weit zu behaupten, »that this work [sc. »De potentia«] was written as a polemical treatise in the manner, for example, of the De Unitate Intellectus contra Averroistas«; doch aber sei es möglich, »to see in the De Potentia a repeated preoccupation with Avicenna’s cosmogony and the metaphysics that that cosmogony implies« (Zedler, »The Inner Unity of the De Potentia« [wie Anm. 14], 106; ähnlich auch dies., »Saint Thomas and Avicenna« [wie Anm. 11], 157). Daß Thomas in »De potentia« Avicenna zuweilen als Kontrastfolie in Anspruch nimmt, heißt aber noch lange nicht, daß Thomas’ Argumentation hier von dieser Kosmogonie und ihren Implikationen völlig in Anspruch genommen wird.

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setzt war«.17 Die dezidiert polemischen Schriften, mit denen Thomas in die theologisch-philosophischen Debatten seiner Zeit eingreift, sind denn auch allesamt während seiner beiden Pariser Magisteria entstanden.18 Nicht weniger problematisch als die Suche nach solch einem etwas äußerlichen Prinzip für die innere Einheit von »De potentia« ist ein gewissermaßen antiklassizistisches Thomas-Bild, welches hier den »›Problematiker‹ Thomas« am Werke sieht, dessen Quaestionen »wirklich Fragen, Verlegenheiten, Aporien« sind.19 Daß es hierbei um wirkliche Fragen geht, unterliegt kaum einem Zweifel. Daß aber Thomas diese Fragen bei seiner Erörterung offenläßt »wie die platonischen Dialoge«,20 entspräche wohl kaum dem Anspruch und der Aufgabe eines fungierenden Magisters. In den wenigen Fällen, wo Thomas eine Frage offenhält, gibt er denn auch eine Begründung, warum diese Frage nicht mit denkerischen Mitteln eindeutig beantwortbar ist. So sei hier ein Gliederungsprinzip vorgeschlagen, das »De potentia«, wenn auch nicht zwingend und trennscharf, in drei große Abschnitte von etwa gleichem Umfang einteilt. Diese thematisch bedingte Gliederung ist auch maßgebend für die Erscheinungsform der vorliegenden Übersetzung in drei Teilbänden. (A) In den ersten drei Quaestionen konzentriert sich Thomas zunächst auf die göttliche potentia als solche (q. I) und hierauf auf ihre zwei grundsätzlichen Ausprägungen: auf das Vermögen zur innertrinitarischen Zeugung (q. II ) und auf das Vermögen zur extratrinitarischen Schöpfung (q. III ). Im Zentrum der Diskussion stehen hier die grundsätzlichen Wesenszüge dieser beiden Vermögen in ihrer Identität und Differenz. 17 Torrell, Magister Thomas (wie Anm. 10), 178. Siehe auch Weisheipl, Thomas von Aquin (wie Anm. 7), 184: »[W]ir dürfen uns das Studium zu Santa Sabina nicht als einen großen Betrieb oder als eine anspruchsvolle Schule für alle jungen Dominikaner der römischen Provinz vorstellen.« 18 Vgl. dafür die Werkübersicht bei Weisheipl, Thomas von Aquin (wie Anm. 7), 338 f.; sowie bei Torrell, Magister Thomas (wie Anm. 10), 360−362. 19 J. Pieper, Hinführung zu Thomas von Aquin. Zwölf Vorlesungen, München 1958, 140. 20 Ebd.

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(B) Die Quaestionen IV−VI behandeln spezifische Probleme, die mit dem Schöpfungsbegriff, insbesondere mit dem Anfang und dem Ende der erschaffenen Welt, verbunden sind. Quaestio IV handelt in zwei langen Artikeln von der Erschaffung der ersten, d. h. einer noch völlig formlosen Materie. Da die Schöpfung aus dem Nichts sich nicht an einer bereits vorliegenden Materie vollzieht, sondern auch die Materie erst hervorbringt, muß geklärt werden, wie der Anfang der Schöpfung, auch auf der Grundlage des biblischen Schöpfungsberichtes, zu denken ist: Gab es zunächst nur eine chaotische, ungeformte Materie, aus der dann allmählich die geformten Dinge entstanden sind? 21 Quaestio V widmet sich den ›konservativen‹ Aspekten des Schöpfungsbegriffes, also etwa der Frage, wie die Geschöpfe am Sein erhalten werden − durch Gott oder durch sich selbst. Damit hängt wesentlich ein eschatologisches Problem zusammen: Wer bestimmt über das Ende des Kosmos, wenn dieser in der Lage sein sollte, sich selbst am Sein und in seiner Bewegung zu erhalten? Wie ist dieses Ende zu denken? Läßt es sich überhaupt denken? Die letzte Quaestio dieses Abschnittes geht dem Phänomen der Wunder, genauer: dem Vermögen zum Wirken von Wundern, nach. Innerhalb von »De potentia« sind die hier behandelten Fragen aus heutiger Sicht wohl die verwunderlichsten, insoweit sie sich auch mit Dämonen und schwarzer Magie auseinandersetzen. Gleichwohl ist diese Quaestio von einigem Interesse, weil Thomas hier auf der Grundlage seines potentia-Begriffes einem wundersüchtigen Köhlerglauben eine strikte Absage erteilt. (C) Nach Art einer Ringkomposition kehren die letzten vier Quaestionen (VII −X ) zur Frage nach der innertrinitarischen Zeugung zurück. Thomas verhandelt hier die sozusagen typischen Probleme einer christlichen Gotteslehre, vor allem das Verhältnis zwischen Gottes Einfachheit und Einheit zu seinem trinitarischen Charakter. Gerade in diesen Abschnitten erreicht Thomas eine argumentative Klarheit, die den abschließenden Höhepunkt der gesamten Schrift markiert.

21 Diese Quaestio stammt nur etwa zur Hälfte von Thomas selbst, der Rest stellt eine spätere Ergänzung durch Vincentius de Castronovo dar.

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3. Einige Grundgedanken in den Quaestionen I−III Wie bereits angedeutet, enthält der vorliegende erste Teilband die ersten drei Quaestionen von »De potentia« in deutscher Übersetzung. Die folgenden Bemerkungen beabsichtigen kein möglichst vollständiges Referat der in den ersten drei Quaestionen behandelten Themen und Probleme (über deren tatsächlich oder bloß vermeintlich lückenlose Wiedergabe sich dann trefflich streiten läßt). Sie möchten vielmehr einige der Grundgedanken, die Thomas hier entwickelt, in ihrer argumentativen Schrittfolge nachzeichnen. Die erste, in sieben Artikel gegliederte Quaestio setzt sich die Klärung des Begriffes der potentia zum Ziel und setzt daher sogleich mit der so selbstverständlichen wie grundsätzlichen Frage ein, ob in Gott überhaupt eine potentia liegt (q. 1 a. 1). Wieso aber fragt Thomas danach, was ist daran im buchstäblichen Sinne fragwürdig? Dies liegt in erster Linie an der grundlegenden Doppeldeutigkeit dieses Begriffes: (1.) Potentia meint zunächst ein aktives Können oder eine Kraft, über die der Urheber einer Tätigkeit wirklich, d. h. aufgrund seiner Formbestimmtheit, verfügen muß, damit es auch zu dieser Tätigkeit kommt. Dieses aktive Können, das sich in einer entsprechenden Tätigkeit (actio) umsetzt oder verwirklicht, ist also wesentlich daran gebunden, daß der Urheber seinerseits bereits eine Form aufweist, d. h. zuvor schon seine ›erste‹ Wirklichkeit (actus primus) erreicht hat. In diesem Sinne ist potentia die grundlegende Voraussetzung oder das Prinzip für ein aktives Wirken, das sich der ersten Wirklichkeit seines Urhebers verdankt. (2.) Potentia meint auch die Möglichkeit zu einer Formbestimmung, die in einem bestimmten Etwas aufgrund seiner materialen Verfaßtheit angelegt sein muß, damit dieses Etwas überhaupt einer Einwirkung im Sinne einer Bestimmung durch eine Form unterliegen kann. In einem aristotelischen Beispiel gesprochen, das auch Thomas kennt: Aus Holz, Wolle oder Glas läßt sich keine funktionstüchtige Säge herstellen;22 die Verwirklichung einer Form hängt in22 Aristoteles, Met. VIII, 4; 1044 a 27−29. Vgl. z. B. Thomas, In Met. VIII, 4, 7; ScG II, 22; Sum. theol. I, q. 91 a. 3 c.

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sofern von den Möglichkeiten ab, die in einem bestimmten Material stecken. Allerdings sind diese materialen Möglichkeiten »nur Bedingung des Geschehens«, erst ein aktives Können »bringt die Verwirklichung zustande«.23 Diese Doppeldeutigkeit von potentia ist wohl ein Erbe des griechischen Dynamis-Begriffes, den Aristoteles in philosophischer Hinsicht entscheidend mit geprägt hatte.24 Thomas differenziert daher den Begriff der potentia in ein aktives und passives Vermögen (potentia activa bzw. passiva).25 Daß Thomas von Gott solch ein passives Vermögen ausschließt, versteht sich geradezu von selbst.26 Gott kann in sich keine Möglichkeit zu einer Formbestimmung bergen, die noch nicht in die Wirklichkeit gelangt ist und deren Verwirklichung zudem von externen Faktoren abhängt. Denn Gott ist, für Thomas wie für Aristoteles, seinem Wesen nach reine Wirklichkeit (actus purus). Wenn aber Gott wesensmäßig reine Wirklichkeit, also ohne jede unverwirklichte Möglichkeit ist und wenn diese seine Wirklichkeit der Grund seines Wirkens ist, erübrigt sich dann nicht auch der Begriff des aktiven Vermögens? Reicht nicht das göttliche Wesen allein als sachlicher Grund dafür, daß Gott ›wirkt‹, d. h. Gottsohn zeugt oder die Schöpfung hervorbringt? Der Sache nach, so Thomas, sind zwar Gottes 23 K. Jacobi, Art. »Möglichkeit«, in: Handbuch philosophischer Grundbegriffe, hrsg. von H. Krings, H. M. Baumgartner, Ch. Wild, München 1975, Bd. II, 938 f. 24 In »De potentia« ist Thomas nicht an einer extensiven Diskussion des Aristotelischen Möglichkeitsbegriffes gelegen, so daß auch hier nicht näher darauf eingegangen werden soll. Aus der umfangreichen Literatur zum Aristotelischen Dynamis-Begriff seien nur zwei bekannte Abhandlungen genannt, die auch dessen mittelalterliche Rezeption, insbesondere durch Thomas, im Blick behalten: A. Faust, Der Möglichkeitsgedanke. Systemgeschichtliche Untersuchungen, 2 Bde., Heidelberg 1931−32, I 67 ff. (zu Aristoteles); II 212 ff. (zu Thomas). J. Stallmach, Dynamis und Energeia. Untersuchungen am Werk des Aristoteles zur Problemgeschichte von Möglichkeit und Wirklichkeit, Meisenheim/Glan 1959. Eine kritische Replik auf Stallmach bietet K. Bärthlein, »Untersuchungen zur aristotelischen Modaltheorie«, in: Archiv für Geschichte der Philosophie 45 (1963), 43−67. 25 De pot. q. 1 a. 1 c. 26 De pot. q. 1 a. 1 ad 7.

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Wesen und sein Vermögen identisch, ein Vermögen meint aber ein Prinzip für ein Wirken, von dem her − und zwar aus menschlicher Perspektive − erst verständlich wird, daß Gott nicht nur bezugslose und vollendete Wirklichkeit ist, sondern auch wirkt und dabei, wenn man so sagen kann, Beziehungen eingeht. Insofern liegt es an Gottes Vermögen oder Kraft, daß Gott Wirkungen hervorbringt, ohne daß dies seinem Wesen Abbruch tut.27 Für diese Wirkungen Gottes, d. h. für die Zeugung und Schöpfung, braucht es also Kraft, und zwar ein unbegrenztes oder unendliches Vermögen, damit Gott den Einen, mit ihm wesenseinen Sohn zeugen und etwas aus dem Nichts überhaupt erst einmal hervorbringen kann (q. 1 a. 2). »Unbegrenzt« ist dabei jedoch nicht so zu verstehen, daß Gottes Vermögen zwar prinzipiell oder auch nur in einer bestimmten Hinsicht seine Grenzen hat, diese Grenzen gegenwärtig aber noch nicht erreicht hat. Ein so gefaßter, privativer Unendlichkeitsbegriff trifft nach Thomas auf Gott nicht zu, da Gottes Unendlichkeit nicht über das Ausbleiben von etwas oder durch einen Mangel in bestimmter Hinsicht erfaßt werden kann.28 Angebracht ist hier vielmehr ein negativer Unendlichkeitsbegriff, der jede Beschränkung und Unvollkommenheit von Gott fernhält. Weder ist dem Vermögen Gottes eine Grenze gesetzt durch einen Gegenstand, dem Gott seine Wirkung angedeihen läßt und der dabei Gott einen Widerstand bieten könnte: Was Gott hervorbringt, fügt sich seiner Kraft vollkommen, entgleitet ihr also in keiner Weise. Noch läßt 27 De pot. q. 1 a. 1 ad 6: »Gerade indem man also behauptet, Gott sei aufgrund seines Wesens tätig, betrachtet man Gottes Wesen als ein Vermögen.« 28 Ein Beispiel für diesen privativen Unendlichkeitsbegriff liefert Thomas in q. 1 a. 2 ad 9: Jedes erschaffene Lebewesen, z. B. der Mensch oder der Esel, kann sich zahlenmäßig unendliche Male, also über die Generationen hinweg, in beliebig vielen Exemplaren reproduzieren. Diese seine Fortpflanzungsmöglichkeit ist jedoch auf die eine, jeweilige Spezies beschränkt: Ein Mensch zeugt eben nur immer wieder einen Menschen. Diese Form von Unendlichkeit bleibt also beschränkt auf einen bestimmten Bereich und zugleich unbestimmt, insofern die Zahl der einzelnen Exemplare einer Spezies in den vergangenen Generationen unüberschaubar ist bzw. in den kommenden Generationen noch offen ist.

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sich sagen, daß Gottes Kraft an ihm selbst als ihrem Urheber ermeßbar ist, daß sich eine Obergrenze für ihre Stärke angeben ließe. Reichweite und Intensität von Gottes Kraft haben aber deswegen keine Grenze, weil Gottes potentia mit seinem unendlichen Wesen zusammenfällt. Wenn auch deren Umfang und Intensität nicht ermessbar sind, so lassen sie sich doch wenigstens an den Wirkungen ablesen, die sie bereits vollbracht hat: an derjenigen Verfassung, in der die Welt nun einmal eingerichtet worden ist. Gleichwohl heißt dies nicht, daß Gottes Kraft nur zu dieser bestehenden Welt ausgereicht hätte. Gott könnte jederzeit die von ihm erschaffene Ordnung unter- oder überbieten. Angedeutet ist mit dieser Differenzierung von Wesen und Vermögen schon ein Gedanke, den Thomas im weiteren Verlauf noch genauer ausführen wird: Anders als bei der trinitarischen Zeugung verfügt Gott frei, nach seiner willentlichen Entscheidung, über seine Schöpferkraft; weder war die Erschaffung einer Welt ein Erfordernis für Gott, noch gar die Erschaffung dieser bestehenden Welt. Heißt das aber wiederum, daß Gott nach bloßem Gutdünken, also im schlechten Sinne willkürlich, die Welt hervorgebracht hat? Verdankt sich die bestehende Natur der Laune ihres Schöpfers, über deren Ordnung er sich jederzeit hinwegsetzen kann? Ist also Gott in diesem Sinne das möglich, was innerhalb der Natur unmöglich ist (q. 1 a. 3)? Die Antwort auf diese Frage hängt, so Thomas, davon ab, was man hier unter »möglich« bzw. »unmöglich« versteht. Verbindet man den Begriff des Möglichen mit einem Können, dann ist die Antwort klar. Insofern nämlich ein endliches Wesen über ein Können verfügt, sind damit üblicherweise auch die Grenzen seines Könnens abgesteckt; in Thomas’ Beispiel gesprochen: Der Mensch verfügt von Natur aus über ein Gehvermögen, und so ist ihm die Möglichkeit zu einer natürlichen Fortbewegung in der Luft versagt. In dieser Perspektive verfügt nun Gott aufgrund seines unendlichen Wesens über ein Vermögen, welches ihm alles ermöglicht: Weder ist Gottes Vermögen aus sich heraus zu schwach für etwas, noch setzt ihm etwas von außen her seine Grenzen. Es gibt jedoch noch einen anderen Begriff von Möglichkeit, bei der die Frage nach einem aktiven Können keine Rolle mehr spielt: das an sich Mögliche (possibile in se oder secundum se), das seit Duns Scotus als das logisch Mögli-

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che (possibile logicum) bezeichnet wird.29 Es gibt also Dinge − selbst für Gott −, die man überhaupt nicht können kann, da all diese Dinge in sich widersprüchlich sind. Wenn Thomas das an sich Unmögliche von Gottes Vermögen fernhält, dann sieht dies zunächst so aus, als ob Gottes Vermögen eben doch eine Grenze gesetzt ist. Da aber das an sich Unmögliche in sich inkonsistent und gar nicht seinsfähig ist, ist dieses Unvermögen Gottes von der Sache her kein Unvermögen. Gott vermag das an sich Unmögliche nicht zu tun, weil dieses notwendig kein Sein hat und weil jede aus einem aktiven Können hervorgehende Tätigkeit in erster Linie darauf abzielt, ihrer jeweiligen Wirkung ins Sein zu verhelfen. Das an sich Unmögliche und Nichtseiende kann daher nicht das Ziel einer Verwirklichung sein. Im Gegenzug erstreckt sich Gottes Vermögen auf all das, was an sich möglich ist. Daß Gott das an sich Mögliche vermag, bedeutet jedoch für Gott keine Notwendigkeit, es auch tun zu müssen. Denn das an sich Mögliche ist zwar nicht unmöglich, aber deswegen muß es nicht auch schon ein notwendiges Sein haben. Das an sich Unmögliche hingegen kann Gott aus innerer Notwendigkeit nicht vollbringen. Dieses Unvermögen geht nicht zu Lasten Gottes, sondern ist dem Nichtsein geschuldet, das im Begriff des logisch Unmöglichen impliziert ist. In dieser Perspektive kann also sowohl Gott wie auch die Natur das an sich Unmögliche nicht geschehen lassen; die Möglichkeiten der bestehenden Natur schöpfen allerdings nicht den Raum dessen aus, was Gott an sich möglich ist. Gottes Vermögen übersteigt also das Naturmögliche, bleibt aber an das an sich Mögliche gebunden, ohne daß diese Bindung eine Einschränkung seines Könnens bedeuten würde. Streng genommen verfolgt Gott daher auch mit der bestehenden Seinsordnung der Dinge kein Ziel. Denn das hieße sonst, daß die in der Schöpfung verwirklichte Möglichkeit den Status einer notwendigen Be29 Vgl. H. Deku, »Possibile logicum«, in: ders., Wahrheit und Unwahrheit der Tradition. Metaphysische Reflexionen, hrsg. von W. Beierwaltes, St. Ottilien 1986, 27−46; bes. 35 ff. Deku findet die ersten Ansätze zum Gedanken des logisch Möglichen bereits in der Spätantike (Marius Victorinus, Augustinus). − Wertvolle Hinweise auch bei I. Pape, Tradition und Transformation der Modalität, Bd. 1: Möglichkeit − Unmöglichkeit, Hamburg 1966, 45−58.

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dingung erhielte, ohne die Gott seine Ziele nicht erreichen könnte: Die erschaffene Welt wäre nicht nur ein Mittel dafür, daß Gott seine Allmacht und Güte auch zum Vorschein bringen kann, sie wäre sogar der einzig mögliche, adäquate Ausdruck hierfür. Wenn Gott auf diese und nur auf diese Welt zur Darstellung seiner Allmacht und Güte angewiesen wäre, dann könnte, ja dann dürfte er nur das geschehen lassen, was er tatsächlich auch geschehen läßt (q. 1 a. 5). Gottes Allmacht und Güte hingen vom tatsächlichen Zustand der Welt ab, da dieser die alleinige Richtschnur für jene wäre. Gott und Welt gingen damit ein Zweckbündnis ein, von dem sich kaum mehr sagen ließe, daß es seinen Zweck, die deckungsgleiche Abbildung der göttlichen Allmacht und Güte in jedem Zustand der Welt, auch erfüllt. Denn jeder einzelne Moment des Weltgeschehens und des biblischen Heilsgeschehens müßte sich sogleich und zur Gänze als unmittelbarer Ausdruck von Gottes absoluter Güte und Allmacht verstehen lassen können. Dieser Anspruch einer solch vollkommenen Transparenz alles faktischen Geschehens würde jedoch angesichts von vielerlei Ereignissen rasch zunichte. So gäbe etwa das biblisch verbürgte Geschehen, daß Gott Abraham zur Opferung seines Sohnes auffordert (Gen. 22, 1–19), unmittelbar nurmehr das Eine zu verstehen: eine Anstiftung zum Kindsmord. Gottes Aufforderung wäre dann überhaupt nicht mehr auf seine Güte beziehbar, sie wäre vielmehr unmittelbarer Ausdruck seiner Sündhaftigkeit und Niedertracht.30 So wäre Gott zwar zu allem fähig, allerdings um den Preis seiner Güte. Gott kann aber nach Thomas nicht das wollen und tun, was er seinem Wesen nach nicht kann, weil es an sich unmöglich, d. h. in sich widersprüchlich ist: die Verleugnung seiner Güte, die einer Selbstnegation gleichkäme.31 Die Fähigkeit zur Sünde ist daher für Thomas der Sache nach gar kein Vermögen, sondern eine Unterlassung des gesollten Guten, auf das der Wille mit innerer Notwendigkeit abzielt. Aber selbst wenn Gott dasjenige Gute nicht immer geschehen 30 q. 1 a. 6 arg. 4. 31 q. 1 a. 6 c. Vgl. dazu etwa B. Davies, The Thought of Thomas Aqui-

nas, Oxford 1992, 123: »In his [sc. Thomas’] view ›God can sin‹ is as contradictory as ›God can square circles‹ or ›God is not God‹.«

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läßt, das ihm an sich möglich wäre, dann macht er sich dabei nicht einer solchen Unterlassung schuldig. Denn dies setzte voraus, daß Gott dazu verpflichtet wäre.32 Gott will daher zwar notwendig das an sich Gute, das er selbst ist; über diesen Selbstbezug hinaus ist aber der göttliche Wille frei in seiner Entscheidung. Ihre Hervorbringung aus freien Stücken beschert der Welt deshalb nicht bloß ihre Kontingenz, sondern sichert ihr selbst allererst auch ein Stück Freiheit. Diese Kontingenz entlastet die Welt von dem Druck oder dem uneinlösbaren Anspruch, stets und in jeder Hinsicht die beste aller möglichen sein zu müssen.33 Die unmittelbare Sinnlosigkeit des Isaakopfers gewinnt dadurch einen Sinnhorizont und einen Möglichkeitsspielraum, den Abrahams Entscheidung zur Sohnestötung mit konstituiert. Nach Thomas verfolgt Gott hier ein Ziel, das er so vorhergesehen hat und »von dem der Mensch keine Ahnung zu haben braucht«, in das der Mensch sich aber willentlich fügen kann oder nicht.34 Das ist keine Vertröstungsstrategie, wonach Gott, wie beim Isaakopfer, stets alles doch noch zum Guten wenden werde. Daß diese Welt sich dem unabänderlichen Willen Gottes verdankt, Gott aber immer auch andere Möglichkeiten verfolgt oder verfolgen kann, ist sozusagen die Kehrseite davon, daß zwar alles Geschehen sinnhaft ist, aber in seiner Sinnhaftigkeit nicht unmittelbar einsichtig sein muß. Hierin liegt wohl eine der Grundlagen des mittelalterlichen Symbolismus, der der deutungsbedürftigen Kontingenz des Faktischen eine Sinnfülle abgewinnen muß und sie auch abzugewinnen weiß. Das faktische Wirklichkeit gewordene Mögliche ist eingebettet in den nie zur Gänze ausmessbaren Horizont dessen, was Gott an sich möglich ist. Zur Debatte steht damit nicht bloß eine andere, vielleicht bessere Welt als dieses 32 q. 1 a. 6 ad 9. 33 Zur inneren Widersprüchlichkeit, die den Begriff einer besten aller

möglichen Welten auszeichnet, vgl. etwa R. Spaemann, »Zur Frage der Notwendigkeit des Schöpfungswillens Gottes«, in: Philosophisches Jahrbuch 60 (1950), 88−92; hier 89 f. – Insofern ließe sich sagen, daß die beste aller möglichen Welten auch zum logisch Unmöglichen gehört, das Gott nicht vermag und auch nicht wollen kann. Solch eine Welt wäre weder gottähnliche Endlichkeit noch geschaffen, sondern vielmehr Gott selbst. 34 q. 1 a. 6 ad 4.

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Jammertal, die Gott ›rein theoretisch‹ auch hätte einrichten können, sondern gerade auch diese Welt, deren Sosein sich der Güte Gottes verdankt, diese aber niemals hinreichend repräsentieren kann und in der sich daher durchaus »Teilverbesserungen denken«35 lassen. Insofern liegt in der bloßen Faktizität dieser Welt ein Aufforderungscharakter beschlossen: nach dem ipsum bonum zu suchen, das sich auch in dieser Welt zeigt, aber niemals in ihr erschöpft. Dies ist alles andere als ein Eskapismus, der der bestehenden Welt ankreidet, was er für seine eigenen Belange in einer ›besseren Welt‹ verwirklicht zu finden wähnt.36 Die Schöpfung erfüllt also nicht die Funktion einer Versuchsanordnung, an der sich Gottes Güte erst noch bewähren und bewahrheiten muß. Gott genügt sich als die ipsa bonitas vielmehr selbst. Er ist weder verpflichtet, seine Güte überhaupt, mit der Erschaffung einer an sich möglichen Welt, zum Vorschein kommen zu lassen; noch ist er gar genötigt, seine Güte mit keiner anderen als dieser Welt zu offenbaren. Für Gott ist nicht nur eine andere als die bestehende Welt möglich, sondern es stehen ihm auch andere Wege offen als die in dieser Welt üblichen. Der Begriff der Allmacht ist für Thomas denn auch wesentlich dadurch bestimmt, daß Gott das an sich Mögliche zu bewirken vermag, dessen Horizont gleichwohl nicht deckungsgleich ist mit dem, was Gott faktisch entstehen ließ und läßt. Das faktisch Erschaffene muß sich demnach einer Instanz verdanken, die, zumindest aus der Perspektive des faktisch Erschaffenen, das Gott an sich Mögliche zur Entscheidung bringt. Es ist dies der Wille, der sich als ein solcher festlegen muß, da er sich nicht für alles entscheiden kann. Insofern läßt sich Gott auch nicht als allwollend bezeichnen (q. 1 a. 7). Gleichwohl ist dieser göttliche Willensakt kein willkürlicher, da Gottes Wille mit seinem notwendigen We35 W. Hübener, »›Malum auget decorem in universo‹. Die kosmologische Integration des Bösen in der Hochscholastik«, in: ders., Zum Geist der Prämoderne, Würzburg 1995, 110 − 132; hier 122. 36 Insofern ist ein solches Verständnis der Wirklichkeit »gegenüber vielen einseitigen Bewertungsschemata, wie etwa einer naiven Anthropozentrik, der folgend jeder, was ihm widerfährt, nur ›ex suo commodo vel incommodo‹ beurteilt, die reflektiertere Position« (Hübener, »›Malum auget decorem in universo‹« [wie Anm,. 35], 126).

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sen identisch ist, diesem also nicht vorangeht. Auch die willentliche Entscheidung Gottes zu dieser Welt trägt daher bestimmte Züge des Notwendigen an sich, auf die Thomas vor allem in der dritten Quaestio noch zu sprechen kommen wird. Die zweite, sechs Artikel umfassende Quaestio dreht sich um das göttliche Vermögen zur innertrinitarischen Zeugung. Auf der Grundlage des von Thomas bisher Entwickelten kann es nun so erscheinen, daß man Gott solch ein Vermögen überhaupt nicht zuschreiben darf. Denn Gottsohn wäre ansonsten womöglich ein faktisches Resultat aus dem Spektrum dessen, was Gott an sich möglich ist (q. 2 a. 1). Zudem wäre nicht einzusehen, warum Gott nur einen einzigen Sohn zeugen können sollte, es sei denn, er hätte dies so nach seinem Willen entschieden (q. 2 a. 3 und 4). Damit hielte aber der Kontingenzbegriff in die trinitarische Verfaßtheit Gottes Einzug: Gott hätte sich zwar mit unabänderlichem Willen dazu entschlossen, ein dreieiniger zu sein. Gleichwohl wäre er rein dem Vermögen nach in der Lage gewesen, sich auch auf einen anderen Modus bei der innergöttlichen Zeugung festzulegen; er hätte sich sogar auf gar keine Zeugung festzulegen brauchen. Will man diese, der christlichen Glaubenslehre zuwiderlaufenden Konsequenzen nicht in Kauf nehmen, dann bietet sich, so scheint es, die Alternative an, mit »Zeugungsvermögen« nur ein charakteristisches Merkmal (notio) zu verbinden, das die Unterscheidung der drei göttlichen Personen voneinander ermöglicht (q. 2 a. 2). Eine solche Kennzeichnung birgt jedoch die Gefahr in sich, daß sie die biblisch vorgegebene Rede von den drei göttlichen Personen in von außen herangetragene, relationale Aspekte transformiert, die für das Wesen des Einen Gottes akzidentell sind. Damit drohen aber beide Vermögen − dasjenige zur Schöpfung und dasjenige zur Zeugung von Gottsohn − zu äquivoken Begriffen zu werden, die sachlich nichts miteinander zu tun haben (q. 2 a. 6). Thomas schließt nun beide Alternativen aus: Weder ist das Vermögen zur innertrinitarischen Zeugung in irgendeiner Hinsicht mit Kontingenz behaftet, noch stellt es ein personales Unterscheidungsmerkmal für den Vater dar, das dem Wesen Gottes äußerlich bleibt. Kontingent kann nach Thomas das Sein von Gottsohn vor allem

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deswegen nicht sein, weil Gottes Wesen nicht erst an einer bereits vorliegenden Materie bzw. an einem materiellen Träger auftreten muß, um auch ins Sein gelangen zu können. Anders als alle erschaffenen Formen hat das Wesen Gottes aus sich selbst Sein; es ist, nach der klassischen Formulierung, sein Sein.37 Das Wesen Gottes kennt daher auch nicht mehrere, numerisch verschiedene Instantiierungen in einer Materie, wie sie etwa der Begriff des Menschen bzw. die menschliche Natur kennt; es ist und bleibt vielmehr nur Eines.38 Da nun Gott seinem Wesen nach reine Tätigkeit ist und er sich bei dieser Tätigkeit mitteilt, kann diejenige Selbstmitteilung, in der Gott sein Wesen vollkommen mitteilt und die von daher »Zeugung« heißt, nur eine einzige und einzigartige sein. Zur Illustration dieser Selbstmitteilung oder Zeugung zieht Thomas die selbstreflexive Tätigkeit des menschlichen Intellekts heran. Im Zuge dieser Selbstreflexion, bei der »der Intellekt seiner eigenen Washeit inne wird«,39 bringt der Intellekt eine Erkenntnis seiner selbst hervor, die dem Sein nach nicht von ihm verschieden ist. Thomas bezeichnet dieses ›Produkt‹ der geistigen Selbsterkenntnis mit dem traditionellen Terminus »Wort« (verbum intellectus). Allerdings ist der menschliche Intellekt nie zu einer derart vollkommenen Geistigkeit in der Lage, daß die in der Selbstreflexion hervorgebrachte Erkenntnis seiner selbst den Status des bloßen Gedachtseins hinter sich läßt: Es bleibt hier bei einer Mitteilung, die dem Intellekt eine Erkenntnis über sein Wesen liefert, in der er aber nicht sein Wesen mitteilt oder weitergibt. Der menschliche Intellekt vermag sich zwar nachträglich auf sich selbst zurückzubeziehen, hat aber keine zeugende Kraft. Zudem stellt hier die Selbstreflexion nur einen, wenngleich einen ausgezeichneten Denkakt neben den anderen Denkakten der intentio recta dar; d. h. das menschliche Denken ist nicht wesensmäßig Selbstreflexion, so daß der Intellekt immer wieder neuer An37 q. 2 a. 1 c. 38 Vgl. auch q. 2 a. 4 c.: »Man kann ja auch nicht, wie dies bei uns

Geschöpfen der Fall ist, behaupten, daß es in der Gottheit zahlenmäßig mehrere Söhne gibt, die zu ein und derselben Spezies gehören. Denn es gibt dort keine Materie, die bei ein und derselben Spezies das Prinzip für eine zahlenmäßige Unterscheidung abgibt.« 39 q. 2 a. 1 c.

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läufe zu seiner Selbstdurchdringung bedarf. Der göttliche Intellekt hingegen bezieht sich wesensmäßig nur auf sich selbst und erhält dabei sozusagen keine neuerliche Mitteilung über sich selbst. Daher ist dieser denkende Selbstbezug und Selbstvollzug die Mitteilung des göttlichen Wesens oder die Zeugung des göttlichen Wortes in der Gottheit. Bei dieser absoluten und ewigen Selbstreflexion kann aber der Hervorgang des Sohnes aus dem Vater keine Frage einer willentlichen Entscheidung mehr sein, da Gott seinem Wesen nach denkender Selbstbezug ist. Höchstens ließe sich sagen, daß Gottsohn Gegenstand des Willens ist, insofern der Vater seit Ewigkeit den Sohn gewollt hat und will.40 Gemeint ist damit sicherlich auch, daß Gott diesen Hervorgang immer schon bejaht, der denkende Selbstbezug Gottes also nicht ›abstrakt‹ bleibt, sondern von Liebe begleitet ist, in der der Hl. Geist aus dem Vater und dem Sohn hervorgeht.41 Der Hervorgang selbst unterliegt jedoch in keiner Weise dem Willen, da allem willentlich Hervorgebrachten der Makel anhaftet, daß es »als solches sein oder auch nicht sein kann, so oder so sein kann, zum jetzigen oder einem künftigen Zeitpunkt sein kann«.42 Ein derart kontingentes Sein ist aber ein Merkmal des Erschaffenen, so daß die Zeugung des Sohnes, verdankte sie sich einer Willensentscheidung Gottes, nicht mehr vom Schöpfungsakt unterscheidbar wäre. Gottes Zeugungsvermögen ist somit konstitutiv für diejenige seiner Tätigkeiten, wo sein Wille seinem Wesen einhergeht, es aber nicht bestimmt. Vielmehr ist Gottes Wille hier sozusagen festgelegt auf ein Ziel, das er unmöglich nicht wollen kann: Gottes Gutheit. Gott bejaht notwendig, was er seinem Wesen nach vollbringt: die Mitteilung seines Wesens in der Zeugung des Sohnes. Gemeint ist damit keine nachträgliche Zustimmung zu dem, was Gott ohnehin, allein aus wesensmäßiger Notwendigkeit tut. Vielmehr verschränken sich hier absolute Freiheit und Notwendigkeit: Weder ist die wesensmäßige Zeugung von Gottsohn einem Zwang geschuldet, noch ver-

40 q. 2 a. 3 c. 41 Vgl. dazu q. 2 a. 3 ad 11. 42 q. 2 a. 3 c.

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dankt sie sich einer willkürlichen Beliebigkeit.43 Dagegen ist Gottes Schöpfungsvermögen konstitutiv für diejenigen Tätigkeiten, wo der Wille zwar auch mit Gottes Wesen identisch ist, er aber zugleich eine bestimmende Funktion erhält: bei der Hervorbringung der Geschöpfe. Damit, daß Gott auch bei der Schöpfung mit Notwendigkeit das Gute will, ist nicht schon notwendig der Modus vorgegeben, wie er dies verwirklicht. Gottes Relation nach ›innen‹ und nach ›außen‹ ist demnach von jeweils anderer Art, jedoch nicht von derart grundsätzlich anderer Art, daß die innertrinitarische Zeugung und die extratrinitarische Schöpfung nichts mehr miteinander zu tun hätten. Vielmehr ist die Zeugung, d. h. die Mitteilung des göttlichen Wesens an den Sohn, der Grund (ratio) für die Schöpfung, also für die Mitteilung einer Ähnlichkeit mit Gottes Wesen,44 so daß sie in einem analogen Verhältnis zueinander stehen.45 Gerade am Vermögensbegriff kann Thomas hier die Differenz und Identität von Zeugung und Schöpfung festmachen: Es ist ein und dasselbe Vermögen, aus dem heraus Gott zeugt und erschafft. Damit ist jedoch noch keine nähere Bestimmung darüber erbracht, worauf sich dieses Vermögen bezieht. Anhand dieses Bezuges läßt sich daher genauer charakterisieren, wem dieses Vermögen gilt und wem dieses Vermögen eignet, ohne daß dies zu einer Unterscheidung in diesem Vermögen selbst führen würde. Denn dieser Bezug ist nicht mit dem Vermögen als solchem identisch, sondern sagt etwas über dessen Richtungssinn und Verbindlichkeit aus.46 Schöpfung und Zeugung verfolgen etwas anderes und speisen sich doch aus ein und demselben Vermögen. Das Schöpfungsvermögen untersteht daher der Verfügungsgewalt Vgl. q. 2 a. 3 ad 1; ad 8; ad 14. q. 2 a. 3 ad 6. q. 2 a. 6 ad 3. Thomas illustriert dies anhand des geistigen Vermögens des Menschen. Auch dieses bedarf der willentlichen Anerkennung dessen, was sich ihm in der Offenbarung erschließt, während es den Grundsätzen des Denkens mit innerer, wesensmäßiger Notwendigkeit folgt. Glaube und vernünftige Einsicht sind daher zwei Seiten ein und desselben Vermögens, das in seinem Bezug auf das jeweils Eingesehene einen jeweils anderen Charakter annimmt. Vgl. q. 2 a. 6 ad 1. 43 44 45 46

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des göttlichen Willens. Ansonsten resultierte aus dem Bezug Gottes auf seine Schöpfung deren Notwendigkeit und Gleichheit mit Gott, die dem Geschaffenen seinen Charakter des Geschaffenseins benehmen würde. Das Zeugungsvermögen eignet hingegen allein Gottvater. Eben aufgrund dieses Bezuges, den das Zeugungsvermögen impliziert, kennzeichnet es eine personale Eigentümlichkeit des Vaters, ohne daß im Zeugungsvermögen das Vermögen selbst, das mit Gottes Wesen identisch ist, aufgeht. Es gäbe in der Gottheit sonst nur den Vater, der nicht einmal mehr Vater genannt werden könnte; oder aber allen drei göttlichen Personen wäre das Zeugungsvermögen zu eigen – mit der absurden Konsequenz, daß auch Gottsohn in der Lage wäre, zu zeugen und Gottvater einen Enkel zu schenken.47 Umgekehrt verflüchtigt sich das Zeugungsvermögen nicht im göttlichen Wesen. Im Zeugungsvermögen erfüllt sich vielmehr Gottes Mitteilung seines Wesens. Das Zeugungsvermögen bleibt daher ein personales Unterscheidungsmerkmal und trifft zugleich Gottes Wesen.48 Ebenso ist die Sohnschaft (filiatio) von Gottsohn als ein personales Unterscheidungsmerkmal in der Gottheit unteilbar, und dies allein schon ihrem Begriff nach. Die Sohnschaft wäre nämlich auch dann noch unteilbar, wenn es mehrere Söhne in Gott gäbe. »Es läßt sich ja nicht sagen«, so Thomas, »daß die eine Sohnschaft für den einen Sohn gilt und eine andere Sohnschaft wieder für einen anderen Sohn.«49 Die Sohnschaft von Gottsohn ist jedoch kein bloßer Allgemeinbegriff, dem unabhängig von der Materie noch keine Realität zukommt, sondern sie macht seine unveräußerliche, unübertragbare Personalität aus.50 So kommt also den Relationen in Gott eine entscheidende Bedeutung zu; sie sind diejenige Instanz, anhand von der sich die drei göttlichen Personen real unterscheiden lassen, ohne daß dies die Einheit des göttlichen Wesens irgendwie beeinträchtigen würde.

47 48 49 50

q. 2 a. 4 arg. 6. q. 2 a. 2 c. q. 2 a. 4 c. q. 2 a. 4 c.

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Keine andere Quaestio innerhalb von »De potentia« nimmt einen so breiten Raum ein wie die dritte, die aus insgesamt 19 Artikeln besteht. Manche Interpreten sahen daher in dieser Quaestio den thematischen Kern dieses Werkes.51 Gleichwohl ist nicht zu verkennen, daß diese Quaestio auf den bisher von Thomas entwickelten Grundgedanken und Differenzierungen aufbaut und, grob gesagt, drei Themenfelder besetzt. Die ersten acht Artikel erörtern den grundsätzlichen Charakter des Schöpfungsaktes, in dem das gesamte Sein aus dem Nichts hervorgeht und der sich insofern von allen anderen Spielarten der natürlichen Veränderungen absetzt, welche nie voraussetzungslos, aus dem Nichts heraus entstehen und ablaufen. Erklärungsbedürftig ist in diesem Zusammenhang insbesondere, welchen Freiraum die Vorgänge in der Natur noch für sich beanspruchen können, wenn die gesamte Natur sich einem Schöpfungsakt verdankt. Der daran sich anschließende Themenkomplex (q. 3 a. 9−12) gilt dem Spezialfall der menschlichen, vernunftbegabten Seele: Kann sie überhaupt ein Produkt der körperlichen Fortpflanzung sein, wenn sie doch die einzige Form innerhalb der Natur ist, die ohne materiale Grundlage bestehen kann? Wie kommt also die Seele in den menschlichen Körper? Ist hier eine natürliche ›seelische Entwicklung‹ des Embryos anzunehmen, im Zuge von der sich die geistigen Fähigkeiten des Menschen kontinuierlich aus den für ihn basalen Lebensfunktionen des Stoffwechsels und der sinnlichen Wahrnehmung herausschälen? Das dritte Themenfeld (q. 3 a. 13−19) wird von der Frage beherrscht, ob und inwiefern der Schöpfung diejenigen Merkmale zukommen können, welche von Gott im höchsten Maße gelten: die Einheit, die Notwendigkeit und Ewigkeit. Zur Diskussion stehen hier also auch die klassischen Fragen nach der Ewigkeit der Welt und nach dem Hervorgang ihrer Vielheit und Mannigfaltigkeit aus dem Einen. 51 Dementsprechend geht etwa Weisheipl bei seiner Behandlung von »De potentia« ausschließlich auf die dritte Quaestio ein. Vgl. Weisheipl, Thomas von Aquin (wie Anm. 7), 187–197. Siehe auch Torrell, Magister Thomas (wie Anm. 10), 180. − Für die dritte Quaestio vgl. neuerdings auch G. Torre, »Il concetto di creazione nella ›Quaestio tertia De Potentia Dei‹ di san Tommaso«, in: Aquinas 42 (1999), 69−111; 241−286.

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Allein die Schöpfung aus dem Nichts vermag für Thomas zu erklären, warum es überhaupt etwas gibt und nicht nichts (q. 3 a. 1). Das meint nicht, daß der Schöpfungsbegriff den zureichenden Grund für das Erschaffene im Sinne seines notwendigen und unabänderlichen Soseins angibt. Vielmehr ermöglicht er es, den voraussetzungslosen Grund des Erschaffenen anzugeben. Gerade an der Negation, die in der Wendung »aus dem Nichts« impliziert ist, zeigt sich dies für Thomas auf mehrfache Weise:52 »Aus dem Nichts« besagt eine dermaßen basale Form der Entstehung, daß es zunächst in keiner Weise etwas von dem geben kann, was dann ist. »Aus dem Nichts« (ex nihilo) meint daher ein »nicht aus etwas« (non ex aliquo), weil das im Schöpfungsakt Entstehende nichts zu seiner Voraussetzung oder Grundlage hat, woran sich seine Entstehung vollziehen könnte. Es ist daher an der Schöpfung selbst kein immanenter Grund für ihr Dasein auszumachen. Da aber die Schöpfung nun einmal reales Sein hat, kann das Nichts auch nicht der ursächliche Grund sein, aus dem (ex quo) das Sein des Erschaffenen hervorgeht. In dieser Perspektive behält der Aristotelische Satz »ex nihilo nihil fit« für Thomas durchaus seine Gültigkeit.53 Alle endlichen Ursachen reichen aber naturgemäß, d. h. aufgrund ihrer beschränkt wirklichkeitsstiftenden Form, nicht hin, »all das in seiner Gesamtheit zu vollbringen und zu verwirklichen, was in der Wirklichkeit ist«.54 Für die Gesamtheit des Seienden muß also ein Grund angenommen werden, der uneingeschränkte Tätigkeit und Wirklichkeit ist: Gott selbst. Der Schöpfungsakt kann daher auch keine Veränderung sein (q. 3 a. 2); denn jede örtliche, zeitliche, qualitative oder quantitative Veränderung, ja sogar der Vorgang des Werdens und Vergehens überhaupt setzt 52 Vgl. dazu q. 3 a. 1 ad 10. 53 Thomas geht es also nicht einfach darum, diesen Aristotelischen

Grundsatz bei metaphysisch-theologischen Fragen einfach außer Kraft zu setzen bzw. ihn als der ›niederen Physik‹ zugehörig zu desavouieren. Vielmehr behält dieser Satz gerade auch bei der Schöpfung seine Gültigkeit. Es bedarf sehr wohl einer positiven Ursache für das Endliche, die allerdings nicht von der Art der ›innerweltlichen‹ Ursachen ist: Das Sein des Weltganzen resultiert genausowenig aus einem ihm vorausliegenden mundanen Etwas wie aus dem Nichts. 54 q. 3 a. 1 c.

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eine einheitliche, materiale Grundlage bzw. ein substantielles Etwas voraus, woran sich diese Veränderungen vollziehen. Die Schöpfung hingegen setzt nichts voraus, sondern ist vielmehr ihrerseits die Voraussetzung jener materialen Grundlagen. Das heißt aber für Thomas: Weder ist das Schöpfungsvermögen Gottes an ein erschaffenes Wesen veräußerlich (q. 3 a. 4), noch kann es etwas geben, was von Gott nicht unmittelbar erschaffen ist (q. 3 a. 5). Da der Akt der Schöpfung ein unendliches Vermögen voraussetzt, das in der Lage ist, den unendlichen Abstand ›zwischen‹ dem Nichts und dem Sein zu überbrücken, kann keinem Geschöpf dieses unendliche Vermögen verliehen werden. Zugespitzt gesagt, wäre der Reibungsverlust bei einer solchen Übertragung zu groß, da das Erschaffene von sich her, also prinzipiell, gar nicht in der Lage ist, seine begrenzten Fähigkeiten hinter sich zu lassen. So leistet auch kein Geschöpf beim Schöpfungsakt eine Hilfestellung, die Gott auch gar nicht nötig hat. Andernfalls stünde die vollkommene Unabhängigkeit des Schöpfers vom Erschaffenen auf dem Spiel.55 Virulent wird nun angesichts dieser allumfassenden Reichweite und Exklusivität des Schöpfungsaktes das Problem, welches Eigenrecht der erschaffenen Natur hier eigentlich bleibt. Gibt es überhaupt noch Vorgänge, die sich auf natürlichem Wege vollziehen, oder ist dies nurmehr eine façon de parler, die der Sache nach all diese Vorgänge durch eine ständige Intervention Gottes erklären muß? Wie ist es zu verstehen, daß Gott in der Natur wirkt, ohne daß damit auch schon gesagt ist, das Erschaffene könne aus eigener Kraft überhaupt keine Wirkung entfalten (q. 3 a. 7 und 8)? Thomas hält es nun für geradezu absurd, der Natur eigene Formen und Funktionen, welche der Garant für die Regularität ihrer Wirkungen sind, absprechen zu wollen. Es wäre z. B. sinnlos, ein Messer zu schleifen, wenn man davon ausgehen müßte, daß ein Schneidevorgang, etwa die Zerkleinerung von Gemüse, nichts mit der Schärfe des Messers zu tun hat. Man könnte nur noch darauf hoffen, daß Gott hier schöpferisch eingreift und diesen Vorgang erledigt, so55 Zur genaueren historischen und dogmengeschichtlichen Situierung dieser beiden Artikel siehe Weisheipl, Thomas von Aquin (wie Anm. 7), 188 f.

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bald man ein Messer dafür einsetzt. Der Einsatz des Messers wäre bloße Kosmetik.56 Thomas muß also die Vorgänge in der Natur so denken, daß Gott als die Ursache von allem an diesen Vorgängen stets beteiligt ist und daß zugleich in diesen Vorgängen ihre genuine, charakteristische Funktion und Wirkensweise auch wirklich zum Tragen kommt: Nach Thomas verleiht Gott der Natur nicht nur als Impulsgeber eine Kraft, die sich dann abschwächt, sondern erhält diese Kraft an ihrem Sein. Damit hängt ein Drittes zusammen: Gott läßt diese natürlichen Kräfte sich auch entfalten, so wie auch ein Mensch der Schneidekraft eines Messers zu ihrer entsprechenden Wirkung verhilft.57 In den natürlichen Vorgängen ist also kein eigendynamisches Spiel von Kräften am Werk, sondern eine ordnende Kraft, die, gerade indem sie diese natürlichen Kräfte aufeinander abstimmt, ihnen auch ein Eigenrecht zugesteht. Weder reduzieren sich die Kräfte in der Natur auf ein Instrument, von dem Gottes Kraft sich einen Eigennutzen verspräche, noch sind sie bloßes Dekor, das die ständig ›kreativen‹ Eingriffe Gottes in die Natur mit dem schönen Schein des Regulären umhüllt. Die Kräfte der Natur haben einen inneren Zusammenhang, der als ganzer über sich hinausweist. Insofern läßt sich auch nicht sagen, daß der Sache nach für Thomas das pulchrum »im Gebiet der Transzendentalien sein Bürgerrecht verloren«58 habe. Es gibt jedoch für Thomas eine einzige Form innerhalb der Natur, 56 Es droht also nicht einfach ein strenger Determinismus, wenn Gott der Natur keine genuinen Kräfte zugestehen sollte; so Weisheipl, Thomas von Aquin (wie Anm. 7), 190: »In De potentia q. 3, a. 7 erörtert Thomas die schwierige, aber wichtige Frage, ob Gott in allen Tätigkeiten der Natur wirkt: Wenn nicht, dann ist er nicht die Ursache von allem; tut er es aber, dann hätte es den Anschein, daß er jede natürliche Ursächlichkeit ausschließt und der ganzen Natur den Determinismus auferlegt.« Es droht auch und vor allem ein rigider Voluntarismus, bei dem nicht abzusehen ist, wie lange Gott den Schein von natürlichen Regularitäten aufrecht erhalten will. Eines schönen Tages schneidet, so Gott will, vielleicht auch das schärfste Messer nicht mehr, auch wenn bis dato alle Messer aufgrund der schöpferischen Intervention Gottes geschnitten haben. 57 q. 3 a. 7 c. 58 Hübener, »›Malum auget decorem in universo‹« (wie Anm. 35), 116.

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deren Entstehung nur durch ein unmittelbar schöpferisches Eingreifen Gottes in die regulären Abläufe der Natur erklärt werden kann: die vernunftbegabte Seele des Menschen (q. 3 a. 9). Das liegt in erster Linie daran, daß die vernunftbegabte Seele zwar einen Körper zu ihrer Vervollkommnung braucht, daß aber ihre wesentlichen Funktionen, d. h. Denken und Wollen, nicht an eine Materie gebunden sind und daß somit allein diese Form als Form innerhalb der Natur ein substantielles Sein hat. Insofern kann diese Form auch nicht durch ihr Zusammengehen mit einer Materie, an der sie dann Schritt für Schritt hervortritt, ins Sein gelangen, sondern »muß auf eine andere Weise ins Sein kommen als die übrigen Formen«.59 Könnte nämlich die vernunftbegabte Seele des Menschen auf dem Wege der natürlichen Fortpflanzung vererbt werden, dann wäre sie nichts anderes als ein Epiphänomen des Körpers und mithin dessen Vergänglichkeit ausgeliefert. Die Entstehung von Geist erklärt sich für Thomas daher nicht aus den materialen Gegebenheiten der Natur, welchen sonst eben dies zugeschrieben werden müßte: Geist und Willen zur Hervorbringung von seinesgleichen. Es bleibt daher für Thomas nur die Möglichkeit, daß Gott jede vernunftbegabte Seele mit einem Mal aus dem Nichts erschafft. Das meint allerdings nicht, daß Gott am Anbeginn der Schöpfung gleichsam ein Arsenal solcher körperlosen Seelen angelegt habe, welche nach und nach Eingang in einen Körper finden (q. 3 a. 10). Denn für Thomas ist die vernunftbegabte Seele des Menschen ein integraler Bestandteil seiner Natur, d. h. auch als eine prinzipiell substantielle Form braucht die menschliche Seele eine Materie, um in ihr vollständiges Sein gelangen zu können. Dieses besteht aber in der individuellen Existenz des Menschen auch und insbesondere als geistiges Wesen, wofür ein rein formales Unterscheidungskriterium nicht ausreicht. Letzteres reicht nur hin, eine spezifische − die menschliche − Form von Geist von den anderen Formen von Geist abzusetzen.60 Nach Thomas gelangt daher 59 q. 3 a. 9 c. 60 Zur Frage nach den Konsequenzen, die sich daraus für die Engellehre

des Thomas ergeben, siehe etwa R. Schönberger, »Monas, id est unitas. Thomas’ Angelologie und Leibniz’ Monadologie«, in: Monadisches Denken in Geschichte und Gegenwart, hrsg. von S. Bonk, Würzburg 2003, 73−89.

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jede menschliche Seele durch einen unmittelbaren Schöpfungsakt in einen menschlichen Embryo, dessen rein physische Entwicklung im Mutterleib nach wenigen Tagen so weit gediehen ist, daß er zur Aufnahme der vernunftbegabten Seele fähig ist. Mag sich diese Theorie aus heutiger Perspektive sehr merkwürdig ausnehmen und auch mit internen Problemen behaftet sein, so macht Thomas hier doch das auch heute nicht wirklich gelöste Problem namhaft, daß die kontinuierliche physiologische Entwicklung des menschlichen Embryos einen (wo auch immer anzusetzenden) Scheidepunkt in sich birgt, an dem eine qualitative Neubewertung seines Status, vom mehrzelligen Lebewesen zur menschlichen Person, unumgänglich wird. Nimmt man dagegen an, die menschliche Seele sei vor oder außerhalb von einem Körper als eine gleichsam selbstgenügsame Substanz erschaffen worden, dann könnte sie, so Thomas, mit einem Körper allenfalls noch eine akzidentelle Einheit eingehen. Hierbei bliebe insbesondere das Motiv unverständlich, das die Seele dazu bringt, dann doch noch eine solche Einheit einzugehen. Geschähe dies durch Gott zur Vervollkommnung der Seelen, dann wäre die Schöpfung schon zu Anfang nicht auf ihre Art vollkommen und die gerade eingerichtete Schöpfung bedürfte bereits der Nachbesserung durch Gott.61 Hätte aber die nachträgliche Vereinigung der ursprünglich materielosen Seelen mit einem Körper den Zweck, daß Gott damit die von ihm abgefallenen, sündhaften Seelen bestrafe, dann wären Gottes ursprüngliche Pläne bei der Erschaffung der Welt durch die Sündhaftigkeit einiger Geistwesen durchkreuzt worden.62 Gerade den eben angeführten Gedanken greift Thomas nochmals innerhalb des dritten und letzten Themenkomplexes dieser Quaestio auf (q. 3 a. 13−19).63 Der Fragehorizont weitet sich hier gewissermaßen auf das Weltganze, dessen Mannigfaltigkeit, Mangelhaftigkeit, 61 Gemeint ist hier also nicht, daß für Thomas die Welt kein Ziel hätte, in dem sie dereinst ihre Vollendung finden wird − dieses liegt für Thomas in der Vollzähligkeit der Auserwählten (vgl. q. 3 a. 10 ad 3 und 4) −, sondern daß die anfängliche Einrichtung dieser Welt hinreicht für die Erreichung dieses Ziels. Zu diesem Problem nimmt Thomas in der fünften Quaestio ausführlicher Stellung. 62 q. 3 a. 10 c. 63 Vgl. q. 3 a. 16 c. (Abschnitt D in der vorliegenden Übersetzung.)

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Unterschiedlichkeit und Kontingenz offensichtlich nicht der Einheit, Bestheit, Gerechtigkeit und Notwendigkeit Gottes entspricht. Das Produkt, zumindest so wie es mit der bestehenden Welt vorliegt, scheint seines Produzenten unwürdig zu sein. Um in diesem Punkt Klarheit zu bekommen, rekapituliert Thomas zunächst, daß es durchaus sozusagen eine Instanz gibt, die der Vollkommenheit und Notwendigkeit des göttlichen Wesens entspricht: Gottsohn (q. 3 a. 13). Die Notwendigkeit sowohl des Hervorgangs von Gottsohn als auch von Gottsohn selbst liegt aber daran, daß sich hier Gottes Wesen, das er selbst ist, mitteilt. Diese Mitteilung kann jedoch nicht in Form einer zeithaften Bewegung vonstatten gehen, da dies impliziert, daß Gott seine Vollkommenheit erst im Verlauf der Zeugung erreichen würde. Jeder Hervorgang, also auch der Dinge, aus Gott muß mithin vollkommen zeitfrei sein. Muß diese zeitfreie Bewegung, so die hoffnungsvolle und philosophisch durchaus berechtigte Frage, dann nicht auch Konsequenzen für den Charakter dessen haben, was Gott nicht dem Wesen nach gleichkommt? Kann also auch das Erschaffene immer schon dagewesen sein (q. 3 a. 14)? Thomas schließt diese Möglichkeit nicht kategorisch aus, insofern hier kein logischer Widerspruch vorliegt und damit auch nichts an sich Unmögliches behauptet ist. Von Gottes unendlichem Vermögen aus betrachtet kann also Gott immer schon, von Ewigkeit an, die Schöpfung aus sich hervorgehen lassen − muß es aber nicht. Das Erschaffene qua Erschaffenes impliziert aber damit von sich her die denkbare, logisch nicht auszuschließende Möglichkeit, daß es nicht immer schon dagewesen ist. Der Glaube ist daher durchaus zu der Annahme berechtigt, daß die Welt tatsächlich nicht immer schon dagewesen ist. Bevor Thomas diese Frage im 17. Artikel über die Ewigkeit der Welt wieder aufgreift, klärt er in den beiden folgenden Artikeln (q. 3 a. 15–16), auf welcher Ebene bzw. bis zu welchem Grad sich der Notwendigkeitscharakter der Welt erfolgreich behaupten läßt. Erst dann nämlich, wenn sich schlüssig zeigen ließe, daß es nicht nur innerhalb der bestehenden Welt naturnotwendige Abläufe gibt, sondern daß auch die Welt als ganze einen notwendigen Charakter hat, kann auch die Ewigkeit der Welt zu Recht behauptet werden. Die Natur hat nun für Thomas ein Ziel, und sei es nur, daß sie sich in ihrer

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immanenten Regularität erschöpft, diese also in einzelnen Abläufen oder Zuständen reproduziert und bestätigt. Dieses Ziel kann sie jedoch nicht sich selbst setzen, sie gehorcht diesen Regularitäten, ohne sie prinzipiell verändern zu können. Dazu müßte sie ein Wissen um ihre Zielstrebigkeit, also einen Willen, haben bzw. überhaupt einen Begriff von Ziel und einer Ziel-Mittel-Relation.64 Dann erst könnte die Natur ihre Irrwege und fehlgelaufene Entwicklungen auch als solche erkennen, um sie in Zukunft vermeiden zu können. Die Natur wird aber nicht aus Schaden klug. Daß also die Natur aus innerer Notwendigkeit nicht nur agiert, sondern immer auch in Form einer Reaktion agiert, gilt Thomas als Indiz dafür, daß diese ihre Aktionen und Reaktionen insgesamt sich der ausschließlich aktiven Kraft einer ihnen transzendenten Ursache verdanken. So reagiert auch ein Pfeil auf die Abschußkraft und die Zielausrichtung, die ihm ein Bogenschütze verleiht.65 Es ist also der Pfeil, der eine Aktion ausführt und dabei gezwungenermaßen auch auf widrige Umstände, z. B. auf Seitenwind, reagiert, ohne daß hier schlüssig bestritten werden könnte, daß alle Aktionen und Reaktionen des Pfeils auf seinen Abschuß durch den Bogenschützen zurückführbar sind.66 Gerade daß also der Pfeil nach seinem Abschuß überhaupt die Möglichkeit hat, auch auf zufällige Einflüsse zu reagieren, läßt den kontingenten Charakter seiner Aktion, die nach seinem erfolgreichen Abschuß naturnotwendig verläuft, um so schärfer hervortreten. Ins Prinzipielle gewendet: Gerade die Unausweichlichkeit, mit der die Natur bei ihren Abläufen auch auf einzelne Zufälle und Einflüsse reagiert, legt ihren grundsätzlich nicht-notwendigen Charakter bloß.67 Das 64 q. 3 a. 15 c. 65 q. 3 a. 15 c. Vgl. auch q. 3 a. 11 ad 5. 66 Selbst die denkbar absurdesten Situationen, in die der Pfeil während

seines Fluges geraten kann, verdanken sich noch seinem Abschuß durch den Bogenschützen, auch wenn dieser vielleicht nicht in jedem Schadensfall zur Rechenschaft gezogen werden kann. 67 Thomas formuliert dies so: »Die Natur bringt also stets etwas ihr Gleiches hervor, es sei denn, das Vermögen zu einem aktiven Wirken bzw. das Vermögen, eine Einwirkung zulassen oder erfahren zu können, ist zu schwach ausgeprägt« (q. 3 a. 15 c.). Auch die Ausnahme von der Regel hat ihre eigenen Regularitäten: Immer wenn ein aktives oder passives Ver-

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heißt für Thomas: Die Welt kann sich auch und gerade angesichts ihrer bloß immanenten Naturnotwendigkeit, die durch den Zufall bestätigt wird, nur dem Willen Gottes verdanken. Genau diese Problemkonstellation variiert der unmittelbar folgende 16. Artikel unter der Frage, ob aus dem Einen überhaupt eine Vielheit hervorgehen kann. Denn auf den ersten Blick scheint aus dem Einen nur wiederum Eines hervorgehen zu können. Geht aber auch eine Mannigfaltigkeit aus ihm hervor, dann gibt es offenbar keinen einsehbaren Grund für diesen Hervorgang selbst, welcher mit dem Terminus »kontingent« eher verschleiert als erklärt wird. Warum also ist die Mannigfaltigkeit der Welt, wenn sie denn aus Einer Ursache hervorgeht, eben so, wie sie ist? Thomas rekurriert hier auf den Aristotelischen Gedanken von den vier Ursachentypen, an denen er eine entscheidende Differenzierung vornimmt: Nur diejenigen Ursachen, die ihrer Wirkung der Sache nach vorangehen, bestimmen auch prinzipiell darüber, daß ihre jeweiligen Wirkungen unweigerlich so sind, wie sie sind, also in diesem Sinne einen Notwendigkeitscharakter haben. Dies gilt nun für die Material-, Wirkund Zielursache.68 Daß also z. B. ein Haus so ist, wie es ist, liegt an dem zum Hausbau verwendeten Material, an der Fähigkeit seines Erbauers und an dem Bestimmungsziel, das mit dem Hausbau verbunden ist: Erst stabiles Baumaterial, ein Architekt, der sein Handwerk beherrscht und der zudem das Ziel verfolgt, ein funktionstüchtiges, bewohnbares Haus und nicht bloß ein papierenes Modell zu verfertigen, machen ein Haus zu dem, was es ist. Anders gesagt: Die Form des Hauses als solche hängt von jenen drei Ursachen ab, obgleich auch sie ein Ziel darstellt, das der Architekt in seiner Tätigkeit verwirklicht wissen will und das als Resultat seiner Tätigkeit ins Sein treten soll. Die Form des Hauses liegt also zugleich mit dem tatsächlich erbauten Haus vor und ist insofern eine immanente Ursache für das bestehende Haus. Zugleich weist sie aber über sich hinaus, indem sie noch einem anderen Zweck, der Bewohnbarkeit dieses Hauses, dient: »form follows function«. Daß etwas Verursachtes unmögen zu schwach ausgeprägt ist, dann bringt die Natur auch nichts ihr Gleiches hervor. 68 q. 3 a. 16 c.

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weigerlich so ist, wie es ist, erklärt sich somit nicht durch seine Form als solche. Die Formalursache erklärt mithin nur die innere Struktur des Verursachten. Unter der Voraussetzung, daß ein funktionstüchtiges Haus gebaut werden soll und auch gebaut wird, muß ein Haus dann auch aufgrund seiner Form sein, was und wie es ist. Genau umgekehrt präsentiert sich für Thomas diese Konstellation der vier Ursachen, sobald man nach dem notwendigen Grund dafür fragt, daß die Welt als ganze so ist, wie sie ist. Weder gibt es hier eine Materialursache, noch eine Wirk- oder gar Zielursache, aus der der Notwendigkeitscharakter des Weltganzen gefolgert werden könnte. Denn Gottes Vermögensspielraum ist weder von einer vorausliegenden Materie begrenzt noch reicht seine Kraft aus sich heraus nur bis zur Erschaffung dieser Welt hin, noch erklärt sich das Sosein der Welt notwendig aus einem Bestimmungsziel, das Gott mir ihrer Erschaffung verfolgt. Denn wenn hier überhaupt von einem Bestimmungsziel die Rede sein kann, dann ist dies Gott selbst und seine Güte, »der nichts zuwächst, wenn sie das Bewirkte hervorbringt«.69 Dies läßt für Thomas nur den Schluß zu: Gottes Hervorbringung der Welt ist keinem materialen Zwang ausgeliefert, keiner Notdürftigkeit seines Vermögens geschuldet und keinem Bestimmungsziel verpflichtet, sondern die Welt verdankt sich allein dem Willen Gottes; ihre Verursachung ist nichts Notwendiges − aber ebensowenig etwas völlig Beliebiges. Denn da eben diese Welt von Gott gewollt ist, so kann insofern und nur insofern die innere Struktur oder Form des Weltganzen für Thomas keine andere sein als eben diese: »In Anbetracht dessen, daß diese Form des Weltganzen beabsichtigt war, war es deshalb notwendig, daß Gott viele und unterschiedliche Geschöpfe hervorgebracht hat: einfache und zusammengesetzte, vergängliche und unvergängliche.«70 Gemeint ist damit keine Spielart des »variatio delectat«, wonach die Leibspeise erst so richtig wieder schmecken kann, wenn man zuvor tagelang nur Ungenießbares zu sich genommen hat, bzw. wonach sich der Mensch über sich erst so richtig freuen kann, wenn er auf die niederen Lebewesen blickt. Sondern Gegensätze sind hier der Vorbehalt, unter dem der Not69 q. 3 a. 16 c. 70 q. 3 a. 16 c.

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wendigkeitscharakter des Weltganzen steht. Dessen innere Struktur oder Form hat eine Notwendigkeit, die von Kontingenz grundiert ist, da jene Notwendigkeit gewollt ist: Die Welt könnte nicht nur eine ganz andere sein, sondern sie kann innerhalb ihrer Naturnotwendigkeit immer auch anders sein. Vielheit ist denn auch für Thomas kein bloßer Abfall vom Einen, sondern sie hat die Einheitsform einer Gesamtheit, zu der unabdingbar Gegensätze gehören.71 Die »Schönheit, die in der Ordnung des Weltganzen zu Tage tritt«,72 liegt daher für Thomas auch an dieser formimmanenten Notwendigkeit, die eben als eine bloß immanente über sich hinausweist. Weder ist die Welt ein beliebiges funktionsloses Spiel, das sich im Vollzug seiner selbst gefällt,73 noch ist sie Ausdruck einer blinden Notwendigkeit, der Gott und die Welt gehorchen.74 Für die Frage nach der Ewigkeit der Welt (q. 3 a. 17) spielt nun jener Gedanke der formimmanenten Notwendigkeit des Weltganzen die entscheidende Rolle. Denn aufgrund dieser immanenten Notwendigkeit sind alle einzelnen natürlichen Vorgänge innerhalb des Weltganzen zumindest idealiter in ihrem grundsätzlichen Sosein genetisch erklärbar, nicht aber das Sosein des Weltganzen. Warum etwas Bestimmtes in der Welt so ist, wie es ist, ist für Thomas denn q. 3 a. 16 ad 3. q. 3 a. 16 c. Vgl. q. 3 a. 10 ad 3. Für Thomas ist demnach die formimmanente Notwendigkeit der erschaffenen Welt von Kontingenz grundiert, während etwa für Leibniz umgekehrt die Kontingenz dessen, was durch Gottes Entschluß zur Existenz gelangt, von einer Notwendigkeit grundiert ist: Als kontingente ist die Welt nicht ›bloß möglich‹, sondern eine unüberbietbar kompossible series rerum. Der zureichende Grund für das Sosein der Welt liegt insofern in der prästabilisierten Harmonie des Weltganzen. Für Thomas hingegen ist die Harmonie des Weltganzen ein frei gesetztes pulchrum, das nicht mit logischem Anspruch zur Existenz drängt (praetensio ad existendum). Bei Leibniz wird also »streng genommen aus dem freien ›Spiel‹ des diesund-jenes-schaffen-Könnens, eine Notwendigkeit des die-beste-Weltschaffen-Müssens, − nur daß dieses ›Müssen‹ keinerlei Gegensatz zur ›Freiheit des Könnens‹ bedeutet, sondern eine ›glückliche Notwendigkeit‹ ist, ›une heureuse necessité‹, ohne die Gott ›ny bon, ny sage‹ sein würde« (Pape, Tradition und Transformation der Modalitäten [wie Anm. 20], 123). 71 72 73 74

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auch ein anderer Typ von Frage als diejenige, warum das Weltganze überhaupt so ist, wie es ist. Genetische Erklärungsversuche stoßen hier unvermeidlich an ihre Grenze.75 Jene Frage, die aufs Ganze und ins Grundsätzliche geht, kann also weder genetisch geklärt noch mit einem: »Das Weltganze ist eben so, wie es ist« befriedigend beantwortet werden. Der Begriff eines willentlichen Schöpfungsaktes vermeidet nun sowohl die Schwäche einer tautologischen Konstatierung, welche die Grundlosigkeit des Weltganzen schon für einen Grund hält, als auch einen naiven Rückschrittsoptimismus bei der Auffindung von genetischen Ursachen, die dem Weltganzen immanent bleiben. Es gibt also nach Thomas einen unabdingbaren Grund für das Sosein der Welt, der zugleich ein grundloser, mithin ›nicht von dieser Welt‹ ist, ja sein muß: den Willen Gottes. Das Weltall hat nicht eine beliebige Größe und Ausdehnung, sondern genau diejenige, welche es haben muß, um auch dieses Weltall sein zu können. Daß es aber eben dieses Weltall ist und kein anderes, liegt nicht an ihm selbst, sondern am Willen Gottes. Die Zeit gehört für Thomas nun nicht zu dieser inneren Struktur oder Wesensform des Weltganzen. Denn das Sosein dieses bestehenden Weltganzen wird nicht wesentlich modifiziert, ob es nun einen zeitlichen Anfang kennt oder nicht. Anders gesagt: Das Weltganze erhielte keinen notwendigeren Status, wenn es keinen zeitlichen Anfang hätte, sondern immer schon in der Zeit wäre. Die Welt wäre immer noch diese Welt und keine andere geworden. Das unendliche zeitliche Bestehen der Welt aus ihr selbst und ihrem Sosein erklären zu wollen, kommt daher einer petitio principii gleich: Diese Erklärung setzt schon die notwendige Zeitlichkeit des Weltganzen voraus, die gerade erst noch erklärt werden muß.76 So nimmt Tho75 Vgl. dazu q. 3 a. 17 c.: »Wenn wir von der Hervorbringung eines einzelnen Geschöpfes sprechen, können wir den Grund angeben, warum dieses Geschöpf so ist, wie es ist: nämlich aufgrund eines anderen Geschöpfes oder zumindest aufgrund der Ordnung des Weltganzen, an die ein jedes Geschöpf gebunden ist wie ein Teil an die Form eines Ganzen. Wenn wir hingegen vom Hervorgang des gesamten Weltganzen ins Sein sprechen, dann läßt sich kein Geschöpf mehr ausmachen, von dem her begründet werden könnte, warum das Weltganze so ist, wie es ist.« 76 Vgl. auch q. 3 a. 17 ad 15.

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mas die Aristotelische These von der Ewigkeit der Welt nur insoweit in Schutz, als diese aufzeigt, daß die Angabe einer innerweltlichen Ursache für einen zeitlichen Anfang der Welt unmöglich ist. Jede innerweltliche Ursache unterliegt der Zeit, bringt sie aber nicht hervor. Die Aristotelische These erklärt aber für Thomas noch nicht, daß die Welt notwendig keinen zeitlichen Anfang hat. Der Maßstab der Zeit ist immer wieder nur ein zeitlicher, und daher sagt die Zeitlichkeit des Weltganzen auch nichts über seine zeitenthobene Ursache aus. Insofern gehört ein zeitlicher Anfang genausowenig zur formimmanenten Notwendigkeit des Weltganzen. Der entscheidende Punkt ist für Thomas also nicht, »ob es möglich sei, einen Anfang [der Welt] festzustellen«,77 sondern daß eine argumentativ gesicherte Feststellung hierüber aus einsehbaren Gründen unmöglich ist. Die Glaubenstatsache eines Weltanfangs in − oder besser: mit − der Zeit kann daher für Thomas »auch mit keinem naturphilosophischen Beweis durchschlagend widerlegt werden«.78 Die beiden abschließenden Artikel dieser Quaestio (q. 3 a. 18−19) knüpfen unmittelbar an die vorhergehenden Erörterungen an mit der Frage, ob denn nicht wenigstens die Engel vor dem sichtbaren Teil des Weltganzen erschaffen worden sind. Als erschaffene Geistwesen bilden die Engel jedoch keinen Kosmos für sich, sondern stellen einen integralen Bestandteil des Weltganzen dar. Daher präferiert Thomas die Lehre, daß die Engel zugleich mit der sichtbaren Welt erschaffen worden sind.79 Jedenfalls sind die Engel keine usprünglichere Form des Erschaffenen als die körperhafte Welt, wenn man darunter verstehen sollte, daß ein Sündenfall der Engel die Entstehung der körperhaften Welt erst ermöglicht habe. Für Thomas führt diese These, die er mit dem Namen des Origenes verbindet, zu absurden Konsequenzen, auf die er zuvor schon wiederholt hingewiesen hatte: Einigen Geschöpfen käme dann eine essentielle Rolle bei der Erschaffung der sichtbaren Welt zu; ausgerechnet ihre Sündhaftigkeit und Bestrafung wäre für Gott der Anlaß und Grund zur Hervorbringung der körperhaften Welt; Gottes ursprünglicher Plan 77 Weisheipl, Thomas von Aquin (wie Anm. 7), 196. 78 q. 3 a. 17 c. 79 q. 3 a. 18 c. (Abschnitt C in der vorliegenden Übersetzung.)

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einer egalitären, nur aus Geistwesen bestehenden Schöpfung sei zufällig zunichte gemacht worden; Gottes Güte wäre nicht mehr der einzige Grund für die Hervorbringung aller Geschöpfe.80 Was Thomas hier vor allem stört, ist die Verabsolutierung der sinnlichen Anschauung angesichts eines Vorganges, der völlig zeitfrei zu denken ist: Eine verlaufshafte Form des Schöpfungsaktes ist undenkbar, mithin auch die ursprüngliche Erschaffung einer Welt, die ausschließlich aus Geistwesen besteht und um deren Exklusivität es bald darauf geschehen ist.81 Dessen ungeachtet bleibt es für Thomas an sich möglich, »daß es Engel gibt, wenn es die sichtbare Welt nicht gibt«.82 Das meint: Das materielose Wesen der Engel ist prinzipiell unabhängig von der körperhaften Welt denkbar.83 Ein letztes Mal in dieser Quaestio erweist sich für Thomas die Anschauungsform der Zeit als gleichgültig sowohl für den Begriff der Schöpfung als auch den des Erschaffenen. Denn sowohl das Sein als auch der Charakter der Beziehung zwischen Gott und seiner Schöpfung ist etwas, was eine Anstrengung des Denkens nicht nur lohnt, sondern erforderlich macht.

80 q. 3 a. 18 c. (Abschnitt A in der vorliegenden Übersetzung.) Vgl. auch q. 3 a. 9 c.; a. 10 c.; a. 16 c. 81 Vgl. etwa q. 3 a. 18 ad 6; ad 10; ad 13. 82 q. 3 a. 19 s. c. 83 Vgl. q. 3 a. 19.

ABKÜRZUNGSVERZEICHNIS

1. Text-Ausgaben F

Sancti Thomae Aquinatis Doctoris angelici ordinis praedicatorum Opera omnia ad fidem optimarum editionum accurate recognita, Parmae typis Petri Fiaccadori 1852 ff.; vol. VIII , Parmae 1856, 1−218.

L

Sancti Thomae de Aquino Opera omnia iussu Leonis XIII P. M. edita; Vol. XXI [in Vorbereitung].

M

S. Thomae Aquinatis doctoris angelici Quaestiones disputatae, cura et studio P. Bazzi et al., Taurini / Romae 101965; Vol. II , 7−276.

V

Doctoris angelici divi Thomae Aquinatis sacri Ordinis F. F. Praedicatorum Opera omnia sive antehac excusa, sive anecdota […], studio ac labore Stanislai Eduardi Fretté et Pauli Maré Sacerdotum, Scholaeque thomistica Alumnorum, Parisiis apud Ludovicum Vivès 1871 ff.; Vol. XIII : Quaestiones dispuatatae. De Potentia − De malo, Parisiis 1875, 1−319.

2. Editionen der zitierten Werke Baeumker

Avencebrolis (Ibn Gebirol) Fons vitae, ex Arabico in Latinum translatus ab Iohanne Hispano et Dominico Gundalissino, ed. C. Baeumker, Münster 1892–95 (= Beiträge zur Geschichte der Philosophie des Mittelalters I/2–4).

Buytaert

Johannes Damascenus, De fide orthodoxa. Versions of Burgundio and Cerbanus, ed. Eligius M. Buy-

348

Abkürzungsverzeichnis

taert, Louvain 1955 (= Franciscan Institute Publications. Text series 8). CCSL

Corpus Christianorum. Series Latina, Turnhout 1953 ff.

CSEL

Corpus Scriptorum Ecclesiasticorum Latinorum, Wien 1866 ff.

Coll. S. Bon.

Magistri Petri Lombardi Sententiae in IV libros distinctae, ed. Collegii S. Bonaventurae ad Claras Aquas, 3 Bde., Grottaferrata (Romae) 1971 (= Spicilegium Bonaventurianum 4–5).

Dion.

Dionysiaca. Recueil donnant l’ensemble des traductions latines des ouvrages attribués au Denys de l’Aréopage et synopse marquant la valeur de citations presque innombrables allant seules depuis trop longtemps, remises enfin dans leur contexte au moyen d’une nomenclature rendue d’un usage très facile, 2 Bde., Brügge 1937.

Elsässer

A. M. S. Boethius, Die theologischen Traktate. Lateinisch – deutsch, übersetzt und mit Anm. versehen von M. Elsässer, Hamburg 1988 (= Philosophische Bibliothek 397).

Friedlein

A. S. M. Boetii de institutione arithmetcia libri duo. De institutione musica libri quinque. Accedit Geometria quae fertur Boetii e libris manuscriptis ed. G. Friedlein, Leipzig 1867 (ND: Frankfurt a. M. 1966).

Labourt

Sophronius Eusebius Hieronymus, Lettres, ed. J. Labourt, 6 Bde., Paris 1949–1958.

Littré

Œuvres complètes d’Hippocrate. Traduction nouvelle avec le texte grec en regard, collationné sur

Abkürzungsverzeichnis

349

les manuscrits et toutes les éditions par E. Littré, Paris 1839 ff. Minio-Paluello Aristoteles latinus, ed. G. Lacombe / L. Minio-Paluello, Rom 1954 ff. Muckle

Algazel’s Metaphysics, ed. J. T. Muckle, Toronto 1933 (= St. Michael’s mediaeval studies).

PG

Patrologiae cursus completus, Series Graeca, ed. J.-P. Migne, Paris 1857 ff.

PL

Patrologiae cursus completus, Series Latina, ed. J.-P. Migne, Paris 1844 ff.

SC

Sources Chrétiennes, ed. H. de Lubac, J. Daniélou et al., Paris 1943 ff.

Schönfeld

[Anonymus;] Das Buch von den Ursachen / Liber de causis. Lateinisch – deutsch, übersetzt und mit einer Einleitung versehen von A. Schönfeld und R. Schönberger, Hamburg 2004 (= Philosophische Bibliothek 553):

Van Riet

Avicenna Latinus, ed. S. Van Riet et G. Verbeke, Louvain (u. a.) 1968 ff.

Verbeke

Nemesius von Emesa, De natura hiominis, ed. G. Verbeke, Leiden 1975 (= Corpus Latinum commentariorum in Aristotelem Graecorum. Suppl. 1).

Weiss

Mose ben Maimon, Führer der Unschlüssigen, Übersetzung und Kommentar von A. Weiss. Mit einer Einleitung von J. Maier, 2 Bde. Hamburg 1972 (= Philosophische Bibliothek 184 a–c).

THOMAS VON AQUIN

Quaestiones Disputatae Vollständige Ausgabe der Quaestionen in deutscher Übersetzung

Thomas von Aquin ist der Denker des Mittelalters, der die am längsten anhaltende Orientierung geboten, die intensivsten historischen Interessen auf sich gezogen und – neben seiner Bedeutung als Kirchenlehrer – für die vielfältigsten denkerischen Konzeptionen Pate gestanden hat und dessen Werk daher noch heute auf praktisch allen Feldern philosophischer Problemstellungen Anregungen zu geben vermag. In den Quaestiones Disputatae, seinem in philosophischer Hinsicht bedeutendsten und »gründlicheren« Werk (Kurt Flasch), geht es Thomas nicht um den Vortrag der eigenen Lehrmeinung, sondern um die möglichst umfassende Disputation (Erörterung) von Sachfragen unter Einbeziehung des Für und Wider vor dem Hintergrund überlieferter Auffassungen nach der Maßgabe der intellektuellen Vernunft. Abgehandelt werden die großen Grundthemen der Metaphysik und Erkenntnislehre: Was ist Wahrheit, was Vermögen und (göttliche) Macht, was Tugend, und was ist die Seele? Die universalistische Weite der Gedanken, die Thomas im Zuge der in den einzelnen Quaestiones erörterten Fragestellungen entfaltet, erhebt das Werk zu einem der Grundwerke der philosophischen Tradition, das über die Zeiten hinweg seinen provokativen Charakter und seine Bedeutung behält. Daneben sind die Quaestiones Disputatae unter historischem Aspekt von geradezu unschätzbarem Wert, da sie Zeugnis ablegen von der mit größter Akribie vorgenommenen Auseinandersetzung mit der Philosophie des Aristoteles, deren Wiederentdeckung und Transformation durch die Denker des Mittelalters – und darunter vor allem Thomas – den Weg bereitete für die Ausbildung der Kultur der auf die Ratio (Vernunft) gegründeten Argumentation in der Philosophie (und in den Wissenschaften) der Neuzeit.

THOMAS VON AQUIN

Quaestiones Disputatae Regensburger Ausgabe herausgegeben von Rolf Schönberger

band 1–6 Über die Wahrheit (De veritate) band 7–9 Über das Vermögen Gottes (De potentia Dei) band 10 Über die Tugenden (De virtutibus) band 11–12 Über das Übel (De malo) band 13 Über die Seele (De anima)