Profile Gelebter Theologie Im Orient: Sidney Harrison Griffith Zum 80. Geburtstag (Gottinger Orientforschungen, I. Reihe: Syriaca) (English and German Edition) [Bilingual ed.] 3447111488, 9783447111485

Immer noch ist das orientalische Christentum ein fur westliche Interessenten zu entdeckendes Feld. Die kirchen- und theo

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Vorbemerkung
Martin Tamcke: Solidarity in friendship Dank an Sidney Griffith
Martin Illert: Pseudo-Makarios (4. Jh.) „Erleuchtet von der Schönheit seines unaussprechlichen Lichtes“
Heike Behlmer: „Ein ängstliches und zaghaftes Wesen, seine Schriften farblos und nichtssagend“ Der ägyptische Klosterabt und Schriftsteller Besa und sein Werk
Claudia Rammelt: Ibas von Edessa Ein Bischof zwischen den Fronten im christologischen Diskurs
Theresia Hainthaler: Severus von Antiochien (gest. 538) Kirchenvater der Anti-Chalcedonier
Andreas Müller: Johannes Sinaites, genannt Klimakos Konzepte zum Aufstieg ins Paradies im 6. Jahrhundert
Dmitrij F. Bumazhnov: Isaak von Ninive (7. Jh.) Neue Herausforderungen durch einen alten Heiligen
Vasile-Octavian Mihoc: Kontextuelle Neuformulierung christlicher Lehrinhalte im islamischen Raum Exemplarisch-vergleichende Analysen zwischen Johannes von Damaskus und Theodor Abū Qurrah
Michael Kleiner: Kaiser Galaudeos von Äthiopien (1540–1559) Ein orthodoxer Monarch in der Auseinandersetzung mit Moslems und Katholiken
Tobias Kröger: Bei europäischen Sklaven in Algier Carl Nottbecks Mission in Algier von 1746–1748
Martin Tamcke: Reformation in einer orientalischen Kirche des 19. Jahrhunderts? Beobachtungen anhand des „Vaters“ der „lutherischen Nestorianer“ Yuhannon Pera (1850–1924)
Andreas Pflitsch: Durch den Rost der Literaturgeschichte Kahlil Gibran (1883–1931) als Literat und spiritueller Meister
Maibritt Gustrau: Historische Perspektiven auf das orientalische Christentum am Beispiel von Karl Beth
Aho Shemunkasho: Mor Philoxenos Yuhanna Dolabani (1885–1969) Ein Vater syrisch-orthodoxer Spiritualität im 20. Jahrhundert
Lukas Pieper: Paulos Mar Gregorios (1922–1996) Indische Orthodoxie im „Zeitalter der Ökumene“
Kai Merten: Der äthiopisch-orthodoxe Patriarch Abunä Pawlos (1992–2012) – geliebt und gehasst
Irfan Shahid: The Holy Land in the Proto-Byzantine Period The Trans-Jordanian Sector
His Holyness Baselios Marthoma Paulose II. Reflections on Religious and Cultural Identity of St. Thomas Christians in India
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Profile Gelebter Theologie Im Orient: Sidney Harrison Griffith Zum 80. Geburtstag (Gottinger Orientforschungen, I. Reihe: Syriaca) (English and German Edition) [Bilingual ed.]
 3447111488, 9783447111485

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© 2018, Otto Harrassowitz GmbH & Co. KG, Wiesbaden ISBN Print: 9783447111485 — ISBN E-Book: 9783447198103

GÖTTINGER ORIENTFORSCHUNGEN I. R E I H E: S Y R I A C A Herausgegeben von Martin Tamcke Band 55

2018

Harrassowitz Verlag · Wiesbaden

© 2018, Otto Harrassowitz GmbH & Co. KG, Wiesbaden ISBN Print: 9783447111485 — ISBN E-Book: 9783447198103

Profile gelebter Theologie im Orient Sidney Harrison Griffith zum 80. Geburtstag Herausgegeben von Martin Tamcke

2018

Harrassowitz Verlag · Wiesbaden

© 2018, Otto Harrassowitz GmbH & Co. KG, Wiesbaden ISBN Print: 9783447111485 — ISBN E-Book: 9783447198103

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.dnb.de abrufbar. Bibliographic information published by the Deutsche Nationalbibliothek The Deutsche Nationalbibliothek lists this publication in the Deutsche Nationalbibliografie; detailed bibliographic data are available in the internet at http://dnb.dnb.de.

Informationen zum Verlagsprogramm finden Sie unter http://www.harrassowitz-verlag.de © Otto Harrassowitz GmbH & Co. KG, Wiesbaden 2018 Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlages unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen jeder Art, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und für die Einspeicherung in elektronische Systeme. Gedruckt auf alterungsbeständigem Papier. Druck und Verarbeitung: Hubert & Co., Göttingen Printed in Germany ISSN 0340-6326 ISBN 978-3-447-11148-5 e-ISBN 978-3-447-19810-3

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Inhalt Vorbemerkung .....................................................................................................

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Martin Tamcke Solidarity in friendship Dank an Sidney Griffith ......................................................................................

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Martin Illert Pseudo-Makarios (4. Jh.) „Erleuchtet von der Schönheit seines unaussprechlichen Lichtes“ .....................

13

Heike Behlmer „Ein ängstliches und zaghaftes Wesen, seine Schriften farblos und nichtssagend“ Der ägyptische Klosterabt und Schriftsteller Besa und sein Werk ......................

19

Claudia Rammelt Ibas von Edessa Ein Bischof zwischen den Fronten im christologischen Diskurs .........................

33

Theresia Hainthaler Severus von Antiochien (gest. 538) Kirchenvater der Anti-Chalcedonier ....................................................................

51

Andreas Müller Johannes Sinaites, genannt Klimakos Konzepte zum Aufstieg ins Paradies im 6. Jahrhundert ......................................

65

Dmitrij F. Bumazhnov Isaak von Ninive (7. Jh.) Neue Herausforderungen durch einen alten Heiligen ..........................................

75

Vasile-Octavian Mihoc Kontextuelle Neuformulierung christlicher Lehrinhalte im islamischen Raum Exemplarisch-vergleichende Analysen zwischen Johannes von Damaskus und Theodor Abū Qurrah ....................................................................................

89

Michael Kleiner Kaiser Galaudeos von Äthiopien (1540–1559) Ein orthodoxer Monarch in der Auseinandersetzung mit Moslems und Katholiken .............................................................................. 109 Tobias Kröger Bei europäischen Sklaven in Algier Carl Nottbecks Mission in Algier von 1746–1748 .............................................. 121

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6 Martin Tamcke Reformation in einer orientalischen Kirche des 19. Jahrhunderts? Beobachtungen anhand des „Vaters“ der „lutherischen Nestorianer“ Yuhannon Pera (1850–1924) ............................................................................... 181 Andreas Pflitsch Durch den Rost der Literaturgeschichte Kahlil Gibran (1883–1931) als Literat und spiritueller Meister ........................... 195 Maibritt Gustrau Historische Perspektiven auf das orientalische Christentum am Beispiel von Karl Beth ................................................................................... 201 Aho Shemunkasho Mor Philoxenos Yuhanna Dolabani (1885–1969) Ein Vater syrisch-orthodoxer Spiritualität im 20. Jahrhundert ............................ 205 Lukas Pieper Paulos Mar Gregorios (1922–1996) Indische Orthodoxie im „Zeitalter der Ökumene“ ............................................... 219 Kai Merten Der äthiopisch-orthodoxe Patriarch Abunä Pawlos (1992–2012) – geliebt und gehasst ............................................................................................... 233 Irfan Shahid The Holy Land in the Proto-Byzantine Period The Trans-Jordanian Sector ................................................................................. 249 His Holyness Baselios Marthoma Paulose II. Reflections on Religious and Cultural Identity of St. Thomas Christians in India ......................................................................... 263

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Vorbemerkung Immer noch ist das orientalische Christentum ein für westliche Interessenten zu entdeckendes Feld. Die kirchen- und theologiegeschichtlichen Werke verwirren westliche Leser oft allein aufgrund der unausweichlichen Komplexität der Themen. Da mögen biographische Zugänge hilfreich sein, um an ausgewählten Beispielen besser verstehen zu können, wie sich Theologie oder eine historische Situation im Leben ausgewählter Vertreter der christlichen Kulturen des Orients auswirken. Die hier versammelten Beiträge stammen vorrangig aus der Ringvorlesung „Profile des orthodoxen Christentums: Syrien und Ägypten“ und einigen Beiträgen einer inhaltlich verwandten Vorlesungsreihe. Eine Arbeit zu der Wirksamkeit eines Herrnhuter Missionars in Algerien, ein ursprünglich für eine Tübinger Konferenz gedachter Beitrag des mittlerweile leider verstorbenen Kollegen Shahid sowie die Rede des Katholikos der Indischen Orthodoxen Kirche, die in Göttingen verlesen wurde bei der dreitägigen Tagung von Vertretern der Indischen Orthodoxen Kirche und Mitarbeitenden des Instituts für Ökumene und orientalische Kirchen- und Missionsgeschichte an der Georg-August-Universität Göttingen, wurden zusätzlich in den Band aufgenommen. Die Erstellung der Druckvorlage übernahm Dr. Egbert Schlarb, Rauischholzhausen. Ihm gebührt der Dank der Mitarbeitenden des Instituts für seine zügige und effiziente Arbeit. Martin Tamcke

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Solidarity in friendship Dank an Sidney Harrison Griffith (Washington) Martin Tamcke Seit 1980 kenne ich Sidney Griffith, zunächst nur aus der Ferne (ich war wissenschaftliche Hilfskraft bei einer Konferenz, er schon ein international etablierter Wissenschaftler). Spätestens seit einer gemeinsamen Reise in Indien mit der Eisenbahn im Bundesstaat Kerala wuchs das Einverständnis zwischen uns, das nicht nur fachliche Gründe hatte, sondern auch gemeinsame Interessen und Leidenschaften. Ich konnte wie nebenher viel lernen zum Miteinander von Christen und Muslimen, was bis dahin nicht so sehr im Mittelpunkt meiner Interessen gestanden hatte. Beide beschäftigen wir uns beispielsweise mit innerem Einklang mit dem syrischen Kirchenvater Ephraem, beide haben wir eindeutig auch spirituelle Interessen. Es ist selbstverständlich für mich, dass ich als Jüngerer da von ihm als Älterem gelernt habe (ohne ihn je offiziell zum Lehrer gehabt zu haben). Wir haben natürlich über Mystik, Spiritualität und Gebet gesprochen. Das geschah nie mit Vorsatz, sondern als selbstverständlicher Ausfluss unseres Gedankenaustausches. Es war schon ein Glück, immer wieder so viel Gemeinsamkeit feststellen zu können in der Sicht von Welt, Kirche, Politik, Spiritualität – wohl eine wesentliche Voraussetzung unserer Beziehung. Meine Beschäftigung mit Thomas Merton wäre nie so gediehen, wenn Sidney Griffith mir da nicht auf den Weg geholfen hätte und mir auch Kopien von Aufnahmen besorgt hätte, die mir ermöglichten, Thomas Mertons Stimme zu lauschen. Stets beschränkte er sich auf das Beraten und das Teilen eigener Ein- und Ansichten und war immer ein verlässlicher Freund und Fachgelehrter. Im Laufe der Jahre kam er immer wieder zu uns nach Göttingen, hielt wichtige Vorträge in verschiedensten Konferenzen und traf bereitwillig meine Doktoranden und mein Team am Lehrstuhl. So trug er sein Wissen bei uns in Göttingen ein. Als er auch noch sich als der Hauptherausgeber der einen der beiden Festschriften zu meinem 60. Geburtstag herausstellte, war ich sehr berührt. Für mich persönlich ist seine Laudatio beim Festakt unvergessen! Sein öffentliches Bekenntnis zu uns hier an jenem Tag, dass er sich wie ein Glied in unserer Familie ihr zugehörig fühle, können wir hier in Göttingen nur erwidern. Auch für uns gehört er zu uns. Damit wollen wir ihm niemand anderem streitig machen. Er „gehört“ vielen! Aber wir dürfen doch dankbar bekennen: Wir haben gespürt und erfahren, was es heißt, ihn als einen Menschen auf der Welt zu wissen, der eine besondere Beziehung zu uns hat, wie natürlich auch wir die zu ihm haben. Ich konnte – und bedaure das zutiefst – nur einmal seine immer wieder erneuerte Einladung nach Washington annehmen. Doch dieser Aufenthalt, bei dem mich mein Gastgeber mitnahm auf eine Überblicksfahrt in seinem Auto durch Washington und mich den Mitarbeitenden dort vorstellte, aber auch – wie das immer ist, wo wir Zeit füreinander haben – sich zu langen Gesprächen mit mir traf, auch mit mir in ein wunderbares Restaurant ging, bei dem es ortsübliche Flusskrebse zu essen gab, wo natürlich das Essen auch Gelegenheit gab zu einem Gespräch,

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Martin Tamcke

das uns nie schwerfiel – solch ein Aufenthalt bleibt in Erinnerung und vertieft das Miteinander! Sidney Harrison Griffith ist am 21. Dezember 1938 in Gaithersburg, Maryland, als erstes von fünf Kindern geboren worden, machte 1960 seinen BA in Philosophie am Holy Trinity Mission Seminary in Winchester und am selben Seminar 1965 seinen Bachelor in Sacred Theology. Das war dann auch das Jahr seiner Priesterweihe. Die nächsten Abschlüsse machte er dann schon an der Catholic University of America in Washington D.C. (MS in LS 1966, STL-Licentiate in Sacred Theology 1967). Seine Dissertation schloss er zehn Jahre später ebenfalls an der Catholic University of America in Washington ab (PhD in Semitic Studies/Medieval Arabic) zu dem Thema „The Controversial Theology of Theodore Abu Qurrah (c. 750–c. 820 AD): A Methodological, Comparative Study in Christian Arabic Literature“. Sein Lehrer war Richard M. Frank. 1970–1975 war er Instructor/Assistant Professor an The Washington Theological Union, seit 1977 Faculty member am Fachbereich für Semitische und Ägyptische Sprachen und Literaturen, schließlich bis zu seinem Eintritt in den Ruhestand Ordinary Professor. Er war mehrmals Chairman des Fachbereiches, war 15 Jahre Direktor des Graduiertenprogramms für Early Christian Studies und Sekretär des Institutes für Christlich-orientalische Forschungen. Zahlreiche Auszeichnungen bezeugen, dass er ein weltweit geehrter Wissenschaftler ist. Einige seiner Werke sind grundlegend geworden für die Erforschung besonders des christlichen Arabisch und der Koexistenz von Christen und Muslimen. Genannt seien: The Beginnings of Christian Theology in Arabic: Muslim-Christian Encounters in the Early Islamic Period (2002); Yaya ibn ‘Adi, The Reformation of Morals: A Parallel Arabic-English Edition (2002); The Church in the Shadow of the Mosque. Christians and Muslims in the world of Islam (2008); The Bible in Arabic: The Scriptures of the “People of the Book” in the Language of Islam (2013). Die Titel allein belegen schon, warum wir Sidney Griffith immer wieder so gern bei uns in Göttingen zu Gast hatten. Immer war er offen für uns befördernde Gespräche, immer gab es Einsichten zu teilen. Was die Arbeiten zum Arabischen und zur christlich-islamischen Koexistenz ein wenig verdecken: Sidney Griffith ist auch ein großer Liebhaber der syrischsprachigen Literatur, besonders der patristischen Texte, unter denen die von Ephraem dem Syrer für ihn immer eine herausragende Stellung einnahmen. Nicht nur um die interreligiöse Ökumene machte er sich verdient (2009 bekam er den Rumi Peace Award für interreligiösen Dialog). Sein Forschen war immer geprägt von ökumenischer Weite. Wenn ich allein auf unsere Doktoranden in Göttingen im Feld des Oriens Christianus schaue, die sich bei ihm in ihren Publikationen für seine förderlichen Hinweise bedankt haben, wird mir deutlich: Zweifellos war sein Zugang zu uns durch lange fachliche Verbindungen schon zu Zeiten Werner Strothmanns entstanden und geprägt von unserer speziellen Freundschaft (in die er immer auch meine Frau einbezog), aber aus dieser Keimzelle erwuchs zugleich so etwas wie eine Arbeitsgemeinschaft, die den Nachwuchs nicht ausschloss. Ausdruck dieser Verbundenheit mit dem Göttinger Team war sicher auch, dass er die Festschrift zu meinem 60. Geburtstag gemeinsam mit einem Mitarbeiter meines Lehrstuhles, Sven Grebenstein, möglich machte. Vorträge hielt er hier in Göttingen nicht nur als spezielle Gastvorträge, sondern auch im Rahmen unserer Doktorandenausbildung etwa beim Graduiertenkolleg „Götterbilder – Gottesbilder – Weltbilder“ oder bei der gemeinsamen Konferenz der Göttinger Universität mit der Al-Azhar-Universität Kairo zu den Wegen zum Paradies. Ich weiß nicht, ob er an anderen Orten in Europa so oft

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Solidarity in friendship

zu Gast war wie bei uns in Göttingen, aber ich weiß, dass er sich hier dauerhaft fachliche Freunde und Respekt erworben hat. Nun wird unser Freund, Lehrer und Förderer 80 Jahre alt! Eine Festschrift dürften wir uns nicht erlauben. Dazu ist Deutschland und Göttingen zu weit entfernt von seinem Lebensmittelpunkt in Washington. Aber wir wollten diesen Anlass auch nicht vorübergehen lassen, ohne ihm ein Zeichen unserer Dankbarkeit zu senden. Es sind lediglich Beiträge einer Ringvorlesung in Göttingen, die wir hier zu Ehren von Sidney Griffith publizieren. Dennoch: Sie sind eben exemplarisch etwas aus dem Alltag am Institut in Göttingen und künden so von dem, woran Sidney Griffith teilnahm in all diesen Jahren. Sie wollen nicht unbedingt neueste Erkenntnisse offerieren oder stets auf neuesten wissenschaftlichen Stand sein, aber sie wollen Interesse wecken bei Hörenden aller Fakultäten und auch solchen, die von außerhalb der Universität zu unseren jährlichen Ringvorlesungen kommen. Insofern erschien es uns richtig, diese eher unauffällige Weise zu nutzen, Sidney Griffith zu ehren für alles, was er bei uns getan hat. Er sprach in seiner Laudatio von „solidarity in friendship“ im Blick auf mich. Eben gerade aus dieser Haltung möchten wir auch die Widmung dieses Buches ihm zu seinem 80. Geburtstag verstanden wissen. Auch wir möchten hiermit bezeugen, dass wir uns in „freundschaftlicher Solidarität“ mit ihm befinden als einem von uns, der uns Wege wies in das interreligiöse Miteinander, in eine offene Spiritualität, und dem – gegenüber verzerrenden Tendenzen – Freiheit und Gelassenheit zu eigen sind, die uns das Gefühl gaben: Sidney Harrison Griffith gehört nicht nur zu unserer, wir gehören auch zu seiner Familie! Martin Tamcke

Göttingen, den 8.7.2018

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Pseudo-Makarios (4. Jh.) „Erleuchtet von der Schönheit seines unaussprechlichen Lichtes“ Martin Illert Einleitung Am 30. Juli 1736 reist der anglikanische Indianermissionar John Wesley (1703–1791), der spätere Begründer des Methodismus, durch die englische Kolonie Georgia. In seinem Tagebuch beschreibt Wesley, wie auf der Reise plötzlich ein Sturm aufkommt: „The wind set fair, it began to rain and he [Wesley schreibt von sich in der dritten Person] read Macarius and sang …“1 Als das Unwetter dann in voller Stärke ausbricht und sogar der Mast des Bootes umstürzt, vertieft sich Wesley erneut in das Buch des Autors, den er später als „the Great Macarius of Egypt“ bezeichnen wird: „Later, not a little befrighted by the falling of the mast, he again read Macarius and sang.“ Der geistliche Autor, dessen Schriften John Wesley hier in einem existenziellen Moment der Bedrohung zur Hand nimmt, ist – was seine Wirkungsgeschichte betrifft2 – eine ökumenische Gestalt. Weit über den Bereich des griechischsprachigen Christentums hinaus werden die Schriften des Makarios rezipiert, in Amerika und Westeuropa durch den evangelischen und den katholischen Konfessionsstrang des Christentums ebenso wie in der orientalischen und slawischen Tradition des orthodoxen Christentums. Zu Zeiten von John Wesley kannte und schätze man in Westeuropa eine der vier großen Textsammlungen mit Predigten und Reden des Makarios,3 heute kennen wir insgesamt vier solcher Sammlungen, die alle zwischen dem zehnten und dem dreizehnten Jahrhundert auf der Grundlage älterer Kollektionen zusammengestellt wurden, welche wir nur noch mit Hilfe von Fragmenten der koptischen und arabischen Übersetzungstradition heraus rekonstruieren können. Zu diesen Großsammlungen trat noch eine Vielzahl kleinerer Sammlungen und überlieferter Einzelstücke. Doch bevor wir uns im Gestrüpp der Überlieferung verlieren, soll der geistliche Autor selbst zu Wort kommen, dem wir uns zunächst mit einem Blick auf die Welt des syrisch-kleinasiatischen Kulturraumes im ausgehenden vierten Jahrhundert nähern, wie ihn der Autor selbst beschreibt.

1 2 3

Albert C. Outler (Hg.), John Wesley, Oxford 1964, 274f. Zur Makarios-Rezeption im 17. und 18. Jh. vgl. Ernst Benz, Die protestantische Thebais. Zur Nachwirkung Makarios des Ägypters im Protestantismus des 17. und 18. Jahrhunderts in Europa und Amerika, Wiesbaden 1963. Vgl. Marcus Plestedt, The Macarian Legacy. The Place of Macarios-Symeon in Eastern Tradition, Oxford 2004. Vgl. Vincent Desprez, Pseudo-Macaire. Œuvres spirituelles, Homélies propres à la collection III (SC 275), Paris 1980, 14–26.

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Martin Illert

1. Die Welt des Makarios „Stell dir vor, da ist ein Land, das wüst, unbewässert und voller Dornen und Diesteln ist. Dann kommt ein Mann, der sich damit auskennt, das Land zu bestellen. Er kultiviert den wüsten Boden, reißt Dornen und Diesteln heraus und verbrennt sie. Dann führt er dort reichlich Wasser zu, pflanzt Weinberge und legt Gärten an, pflanzt dazu auch Rosen, und alle möglichen Arten von fruchttragenden Pflanzen. Und von da an entsteht dort ein angenehmer Ruheort, bewässert und fruchtbar. Schau, welche große Veränderung sich vollzogen hat, von welcher Wildheit und Verwüstung zu einem wie angenehmen Zustand sich dort die Umgestaltung vollzogen hat.“4 Wüste und Oase, Gebirge und Täler – und nur ein kleiner Bereich, in dem Menschen leben, die diesen Raum immer wie neu der Wildnis abtrotzen müssen und sich ansonsten riesigen, lebensbedrohenden Räumen gegenüber sehen, so beschreibt Makarios seine Welt. Das Herz dieser Welt schlägt freilich – noch – in den Städten, wo Administration, Handel und Bildung konzentriert sind, wie Makarios beschreibt: „Stell dir eine Stadt vor, die Plätze, Rathäuser, öffentliche Gebäude, Straßen, Gassen, Paläste und viele andere Gebäude besitzt. Dort gibt es auch Orte, an denen die ersten der Stadt und die ganze Bevölkerung zusammenkommen, wenn Recht gesprochen wird.“5 Für Makarios sind die großen Städte nicht weniger gefährliche Ort als die Wildnis oder die Einöde. Allein kann sich niemand in diesen Städten zurechtfinden, wie in der Natur, so braucht man auch in der Stadt Schutz und Unterstützung, um sich den Weg zu bahnen: „Es ist wie mit einem fremden Menschen, der nichts von städtischen Angelegenheiten versteht und der sich in einer Stadt aufhält, wo sich das Volk zusammenrottet und der in einer großen Volksmasse lebt. Weil er aufgrund seiner eigenen Unerfahrenheit und Schwäche kein Selbstvertrauen besitzt, macht er sich auf den Weg und verschafft sich einen erfahrenen Patron, der ihn aus der Gewalt der Menge befreien kann. Solange er zu Fuß läuft, ohne von dem zu weichen, der vor ihm geht, nimmt er den direkten Weg, wenn er aber überheblich ist und sich von den Volksmassen in der Stadt herumtreiben lässt, entfernt er sich [scil. von seinem Ziel] und verliert zu seinem Schaden seinen Beistand.“6 Ausführlich beschreibt Makarios das Leben der Mächtigen und Reichen, etwa den Kleiderund Speiseluxus der monarchischen Repräsentation Antiochias oder Konstantinopels. Zu den Lieblingsmotiven des Kirchenvaters gehört die märchenhafte Erzählung eines rasanten sozialen Aufstiegs: „Angenommen, da ist eine arme Frau, ein Bettlerin. Alle Leute, die an ihr vorübergehen, verspotten und beschimpfen sie. Wird aber ein berühmter Kaiser ihr Liebha4 5 6

Pseudo-Makarios, C 25,4,4 (griechischer Text: Desprez, 280; deutsche Übersetzung: Martin Illert, in: Pseudo-Makarios, Predigten. Aus den Sammlungen C und H, BGL 74, Stuttgart 2013, 189). C 19,1 (Desprez, 228; Illert, 164f). C 4,4,3 (Desprez, 100–102; Illert, 89f).

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Pseudo-Makarios

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ber, nimmt er sie bei sich auf und erhebt sie von jenem Zustand des Schrecklichen und der Prostitution zu ehrbarer Besonnenheit und in einen Zustand, der freien Frauen angemessen ist, und er bekleidet sie anstelle jener stinkenden Lumpen mit kaiserlichen Gewändern, vergoldeten und mit Steinen geschmückten Kleidern und ehrt sie, indem er ihr ein kaiserliches Diadem anlegt, so dass sie seine Gefährtin und die geehrte Braut des Kaisers wird.“7 Zugleich kennt Makarios das Elend der Armen, der Bettler und weiß um das Risiko der dienstverpflichteten städtischen Eliten (vgl. C VII,6,2, und C VII,3,3). Neben der Welt der Städte und der Paläste kennt Makarios auch das Leben der Schulen, etwa, wenn er von Kindern spricht, die von einem Lehrer unterrichtet werden und die Reden der herausragenden Redner lernen, zwar mit dem Mund die Worte der Weisen verkünden, die Macht der Worte aber nicht kennen.8 Diese Welt der Schulen kommt auch in den Blick, wenn Makarios über den cursus honorum, die römische Beamtenlaufbahn spricht, die sich den Gebildeten nicht von selbst, sondern nur durch erhebliche Anstrengungen eröffnet: „Denn auch in der sichtbaren Welt gehen Kinder in großer Zahl zusammen in die Schule. Aber die einen von ihnen verlassen die Schule unerzogen, andere prahlerisch, wieder andere ausschweifend, wieder andere als Jäger und wieder andere wissenschaftlich gebildet und als Sekretäre.“9 Schließlich ist neben der Schule, der Stadt und dem Handel10 auch das Militär ein Metaphernbereich, auf den Makarios immer wieder gern zurückkommt. An einer Stelle beschreibt unser Kirchenvater die Zähmung eines Wildpferdes, das dann in der Eliteeinheit der Kataphrakten eingesetzt wird, die in der Spätantike an der römisch-persischen Grenze operierte: „Es ist wie mit einem Pferd, das zu Herden gehört und an einsamen Orten mit wilden Tieren lebt und sich den Menschen gegenüber wild und ungezähmt verhält. Dann wird es aus seiner wilden Herde herausgenommen und auf unterschiedliche Weise dressiert, bis seine Wildheit gezähmt ist. Man legt ihm schweres Zaumzeug um, bis es lernt, ordentlich und richtig zu traben, und es wird von einem erfahrenen Reiter dressiert, um im Krieg nützlich zu sein. Dann behängt man es mit Waffen oder einem Panzer oder einem Schuppenpanzer und so weiter. Und zuerst hängt man ihm die Zügel um und schüttelt sie vor seinen Augen, damit es sich daran gewöhnt und nicht scheut. Und wenn es das von dem Reiter gelernt hat, lernt es gegen Feinde zu kämpfen.“11 Zusammenfassend können wir feststellen, dass Makarios ein Bürger des spätrömischen Imperium Romanum war, der am Ende des vierten oder zu Beginn des fünften Jahrhunderts im syrisch-kleinasiatischen Raum lebte und wirkte. 12 Makarios könnte ursprünglich den 7 8 9 10 11 12

XXV,4,5 (Desprez, 280–282; Illert, 189). XVI,3,4 (Desprez, 190; Illert, 149). I,1,4 (Desprez, 74; Illert, 73). C I,2,2; C XXVI,3,2. C VIII,3,4, (Desprez, 150; Illert, 112f). Vgl. Illert, 3–12.

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Martin Illert

„seligen“ (μακάριος) Anonymus bezeichnet haben, und erst später durch den Zusatz „von Ägypten“ als Eigenname verstanden worden sein. In manchen Handschriften ist auch die Bezeichnung „Symeon“ belegt; die mit diesem Namen vor allem durch Hermann Dörries verbundenen Hypothesen eine „messalianischen“ Ursprunges der Schriften des Makarios halten den Ergebnissen der neueren Forschung nicht stand.

2. Die Sprache der Metaphern und Bilder Makarios nimmt Gedanken der griechischen Philosophie ebenso auf wie Gleichnisse des syrischen Christentums. Hier zwischen dem einem und dem anderen zu trennen, würde der Eigenart der der spätantiken Brückenkultur des kleinasiatisch-syrischen Raumes nicht gerecht. Grundsätzlich kann man aber feststellten, dass Makarios seine Theologie weniger durch abstrakte dogmatische Definitionen als vielmehr durch Metaphern und Symbole entfaltet und dass diese Weise des Theologie-Treibens unseren griechischen Kirchenvater in die Nähe der syrischen Väter Ephräm und Aphrahat rückt. Die makarianischen Metaphern sind polyvalent:13 So bedeutet die Perle nicht nur den Verweis auf das biblische Gleichnis Mt 13,35, sondern wird von Makarios auch aktualisiert durch den Bezug zum „Solitär“ auf der byzantinischen Kaiserkrone14 und ist darüber hinaus noch ein Gleichnis der Verbindung von Himmel und Erde in der Inkarnation Jesu Christi15. Zugleich wird die Perle den Gläubigen bei der Taufe verliehen.16 Um die Perle, die vom Grund des Meeres durch den Perlentaucher gefischt wird, geht es nach Makarios auch bei der Taufe, wobei hier ein syrisches Wortspiel zugrunde liegt, nach dem „tauchen“ und „getauft werden“ mit ein- und demselben Wort bezeichnet werden.17 Das Bild vom Perlentaucher stellt Makarios außerdem noch in einen Zusammenhang mit dem Abstieg Christi in die Unterwelt. Mit derartigen Metaphern – und mit Hilfe vieler Paradoxien18 – schildert Makarios auch das Verhältnis von Schöpfer und Geschöpf,19 die Inkarnation und den damit eng verbundenen Geistempfang der Gläubigen,20 die Seele als Ort geistlicher Erfahrung21 und das Herz als Ort des 13 Zum Folgenden vgl. Illert, 13. 14 C VIII,2,1: „Eine große und wertvolle Perle, die an das kaiserliche Diadem gehört, kommt allein einem Kaiser zu und nur ein Kaiser darf diese Perle tragen“ (Desprez, 144–146; Illert, 111). 15 C VIII,2,2: „Es ist Christus, der in der Seele in unaussprechlichem Licht getragen wird“, ebd. 16 C VIII,2,1: „So ist es aber auch, wenn jemand nicht von dem königlichen und göttlichen Geist geboren wird … Die himmlische und wertvolle Perle, das Abbild des wahren Lichts, das der Herr ist, kann niemand tragen, der nicht als ein Thronerbe geboren ist“, ebd. 17 Vgl. dazu und zum Folgenden Illert, 12–14. 18 So verwendet H 52,7 eine Reihung von nicht weniger als dreißig Paradoxien, die das gottmenschliche Wesen Christi beschreiben sollen. 19 Vgl. C XXII,1,1 und 3 (Desprez, 254–256; Illert, 175): Die Streitigkeiten über die Worte und das Vertrauen in die Erkenntnis bringen keinen Nutzen für die Seele … Wenn dir dein Lehrer sagt „Gott ist Feuer“, wirst du herausfinden, dass er zu Wasser des Lebens wird. Wenn er dir sagt „Er zeigt sich und erscheint wie ein König“, wirst du sehen, dass er wie ein Schatten erscheint; einem erscheint er als Bettler, einem anderen wie Gott, wieder einem anderen wie ein niedriger Mensch.“ Es ist möglich, dass die Auseinandersetzungen um den Neo-Arianismus des Eunomius von Kyzikos († um 395) den Hintergrund dieser Bemerkungen bilden; vgl. Illert, 15. 20 In seiner Weihnachtspredigt H 52,1 verbindet Makarios Inkarnation und Geistempfang: „Heute“, schreibt er dort zum Weihnachtsfest, „entstand ein Weg Gottes in die Seele“; vgl. Illert, 16.

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Pseudo-Makarios

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Gebetes.22 Späteren, theologisch und dogmatisch korrekten Zeiten missfielen nicht selten die kühnen Bilder von der „Vermischung“ der Seele mit dem Geist, wie sie etwa C III im Stile der Licht- und der Brautmystik entfaltet: „Der Herr zeigt sich der Seele in zweierlei Gestalt: mit seinen Wundmahlen und in der Herrlichkeit seines Lichtes. Und die Seele betrachtet die Leiden, die er für sie erlitt. Aber sie betrachtet auch die unvergleichlich strahlende Herrlichkeit seines göttlichen Lichtes und verändert ihr Bild von Herrlichkeit zu Herrlichkeit. … Sie vergisst gewissermaßen ihre eigene Natur und wird von Gott erleuchtet. Sie wird dem himmlischen Menschen und dem Heiligen Geist verbunden und vermischt. Sie wird selbst zu Geist.“23

3. Hörer und Leser Für wen schreibt Makarios? An einer Stelle seiner Schriften spricht er von Schülern, die „durch ihren eigenen Willen ins Leben gelangen wollen“, im selben Zusammenhang erwähnt er auch „Brüder, die ins Kloster gehen“;24 anderswo „diejenigen, die den Kosmos verlassen und Armut lieben, die fleischlicher Gemeinschaft und allen Erscheinungen der Welt gegenüber fremd werden, die den Ruhm und alle Dinge, die im Leben groß zu sein scheinen, verachten und die in Armut verharren.“25 Schauen wir auf die Bauformen dieses durch Armut, Enthaltsamkeit und Rückzug (aber auffälliger Weise nicht durch stabilitas loci) umschriebenen asketischen Lebens, so fällt erneut die Nähe des Makarios zu den Traditionen Syriens ins Auge. So besitzt nicht nur die Bedeutung, die Makarios dem Wort „heilig“ im Sinne von „enthaltsam“ verleiht, Parallelen in der syrischen Literatur,26 sondern auch die von Aphrahat vertretene Auslegung der Stelle Genesis 2,24, die das „Verlassen von Vater und Mutter“ als Verlassen Gottes und des Geistes durch den Menschen deutet, begegnet bei Makarios, der die Gläubigen in C XXIV,5 auffordert „der Mutter des Geistes“ „anzuhängen“ (auch dies ein Terminus aus Gen 2,24). Wenn Makarios zudem noch die Christen in C I,1,4 als „Söhne des neuen Bundes“ bezeichnet, erinnert dies an den Namen der Asketengemeinschaft der Bundessöhne und Bundestöchter bei Aphrahat.27 Beachten wir ferner das Motiv des geistlichen Kampfes und die vielen Bezüge zur Paränese der Neugetauften, so wird wahrscheinlich, dass Makarios eine Gemeinschaft unterweist, deren Mitglieder bei der Taufe ein Gelübde der Enthaltsamkeit, der Armut und des Rückzugs aus der Welt abgelegt haben. In diesen Kontext gehören auch die typischen Schülerfragen, die im Stile der Erotapokriseis des morgenländischen Mönchtums gestellt und vom Lehrer beantwortet werden und die 21 Gern verwendet Makarios Metaphern seelischer Referenzräume: C XXV,45 beschreibt beispielsweise die Errichtung eine Palastes an einem zuvor wüsten Ort, um die Verwandlung der Seele durch den Geistempfang zu beschreiben. 22 Vgl. C XVI,3,4. 23 C III,3,2 (Desprez, 90; Illert, 85). 24 C I,1,4 (Desprez, 74; Illert, 73) 25 C VI,1,1 (Desprez, 104; Illert, 93) 26 Vgl. Illert, 27. 27 Vgl. ebd.

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Martin Illert

hier nur an einem Beispiel präsentiert werden sollen, das den geistlichen Kampf zum Thema macht: „Frage: Weshalb wirkt in demselben Gefäß des Leibes, in dem die Gnade wirkt, auch wieder die Sünde? Antwort: Wer von der Gnade kostet, spürt zuerst Erleichterung. Seine Seele findet Ruhe in der himmlischen Ruhe, die dieser Welt fremd ist, damit er die Süße des Geistes durch Erfahrung erkennt. Dann, wenn sein Verstand sich ein wenig erhaben hat und sich einer Unterhaltung oder einer anderen Beschäftigung hingibt, wird er wieder von der Sünde erfüllt, damit er bedrängt wird und durch Erfahrung ihre Bitterkeit kennenlernt.“28 Makarios zeigt sich hier als geistlicher Vater, der sich mit seinen Schülern über die Erfahrungen des geistlichen Lebens austauscht. Diese Erfahrungsnähe hat die Schriften des Makarios auch im Kontext der evangelischen Spiritualität rezipierbar gemacht, wie das eingangs berichtete Beispiel John Wesleys zeigte. Hier ist es vor allem die Christozentrik, die die makarianische Spiritualität mit Formen der evangelischen Frömmigkeit verbinden kann, wie in einem letzten Zitat gezeigt werden soll: „So viele Sprachen gibt es auf Erden, so viel Weisheit, so viele Gesinnungen, so viele Künste, so viele Kenntnisse und Beschäftigungen, Bestrebungen und Reichtum gibt es auf Erden. Doch ist nichts darunter, was die Christen suchen oder worin sie leben. Was sie suchen, ist also etwas, das größer ist als der Himmel und alle Dinge in ihm und größer als die Erde und die guten und schönen Dinge auf ihr, mit einem Wort: als alle sichtbaren guten und schönen Dinge. [Es geht also um] etwas, das sich mit nichts von diesen Dingen vergleichen lässt. … Was also ist das mit nichts vergleichbare Gute und Schöne, das sie suchen und worin die Christen leben? Es ist der Herr selbst. Denn er ist derjenige, der niemandem vergleichbar ist.“29

28 C XII,2,1 (Desprez, 164; Illert, 132). 29 C XXVI,1,2 und 2,1 (Desprez, 290–292; Illert, 192f).

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„Ein ängstliches und zaghaftes Wesen, seine Schriften farblos und nichtssagend“ Der ägyptische Klosterabt und Schriftsteller Besa und sein Werk* Heike Behlmer 1. Einleitung „Im Schatten eines mächtigen Baumes gedeihen keine saftigen Früchte.“ Diese Volksweisheit unbekannter Herkunft ist mehr als einmal auf die Söhne berühmter Väter angewendet worden. Und in der Tat haben sie oft nicht leicht, insbesondere, wenn sie den gleichen Beruf ergreifen – oder ergreifen müssen – wie der Vater. Die Geschichte, Kunstgeschichte und Literaturgeschichte ist voller Beispiele hierfür. Das Genie mancher dieser Söhne ist lange, manchmal jahrhundertelang nicht richtig gewürdigt worden, und oft werden sie erst heute wiederentdeckt. Die Landesausstellung Sachsen-Anhalt 2014 war Lucas Cranach dem Jüngeren gewidmet. „Sein Leben lang stand er im Schatten seines Vaters“, heißt es im Überblickstext auf der Webseite.1 Klaus Mann kommt in den Sinn, oder die – wenn auch nie vergessenen, so doch nicht selten unterbewerteten – Komponisten Johann Christian oder Wilhelm Friedemann Bach. Noch schlechter als den Söhnen ist es den Töchtern ergangen, die oft trotz herausragenden Talents überhaupt nicht die Ausbildung erhielten, die diesem gerecht wurde, oder es nicht zu ihrem Beruf machen durften – man denke nur an Felix MendelssohnBartholdys Schwester Fanny. Anatol Regnier, der Sohn der Schauspieler Charles Regnier und Pamela Wedekind, letztere ihrerseits wiederum Tochter des berühmten Frank Wedekind, hat über dieses Schicksal ein

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Der Text entspricht weitestgehend dem am 11.5.2017 gehaltenen mündlichen Vortrag und ist für den Druck um Anmerkungen erweitert worden. Mein besonderer Dank gilt Frau Dr. Diliana Atanassova (Göttingen, DFG-Projekt „Die Typika des Weißen Klosters“), die ihre Untersuchungen zu unveröffentlichten koptischen liturgischen Texten mit mir geteilt hat. Meine aktuelle Arbeit an Besas Schriften findet im Rahmen des Teilprojekts B05 des SFB 1136 „Bildung und Religion in den Kulturen des Mittelmeerraums und seiner Umwelt von der Antike bis zum Mittelalter und zum klassischen Islam“ statt (Teilprojekttitel: „Schriftauslegung und Bildungstraditionen im koptischsprachigen ägyptischen Christentum der Spätantike: Schenute, Kanon 6“). 1 „Noch heute – 500 Jahre nach seiner Geburt in Wittenberg – ist Lucas Cranach der Jüngere trotz seiner eigenen bildgewaltigen Formensprache, die die Themen der Reformationszeit in beeindruckende Kunstwerke fasst, vielen weitgehend unbekannt“ (http://www.cranach2015.de/de/cranach-der-juengere2015-landesausstellung-sachsen-anhalt).

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Heike Behlmer

interessantes und amüsant selbstreflektierendes Buch geschrieben: Wir Nachgeborenen. Kinder berühmter Eltern.2 Die Gestalt der orientalischen Orthodoxie, die Gegenstand dieser Betrachtungen ist, war nicht der leibliche Sohn eines berühmten Übervaters, sondern dessen geistlicher Sohn. Von der Nachwelt ist er jedoch ebenso missachtet und verkannt worden wie manche leibliche Söhne im Schatten des mächtigen Vaters und kann in mehrfacher Hinsicht als Nachgeborener betrachtet werden. Dieser Nachgeborene lebte in Oberägypten, wo ab der Mitte des 4. Jh.s eine Föderation von drei Klöstern florierte. Nach ihrem bedeutendsten Abt ist das Haupt-Männerkloster dieser Klostergemeinschaft als Schenutekloster bekannt, nach dem hellen Stein der Klosterkirche als „Weißes Kloster“.3 Ein zweites Männerkloster ist das sog. „Rote Kloster“,4 das dritte Kloster war ein Frauenkloster.5 Schenute (fl. 385–465), der über viele Jahrzehnte der Föderation vorstand, hinterließ ein umfangreiches literarisches Erbe von sprachgewaltigen Unterweisungen, Briefen und Predigten für Mönche, Nonnen und Laien. 6 Ihm wird das Verdienst zugeschrieben, das Koptische als eigenständige christliche Literatursprache Ägyptens aus dem Schatten des Griechischen geholt zu haben. Sein Nachfolger in der Abtswürde, Besa, hat in der westlichen Tradition und Wissenschaft zweifach unter mangelnder Wertschätzung gelitten.7 Zum einen teilt er das Etikett, das der koptischen Literatur, dem, um mit dem Ägyptologen Siegfried Morenz zu sprechen, „dürren Spätling der altberühmten Nilkultur“,8 insgesamt aufgeklebt wurde. Dieses Etikett war eines von Repetitivität, mangelnder Originalität und genereller Geistlosigkeit. Dies gilt insbesondere für die literarische Produktion des ägyptischen Mönchtums: Wie der Übersetzer der von der Tradition Besa zugeschriebenen Lebensbeschreibung des Schenute, David N. Bell, ausdrückt: „Besa lehrt das gleiche wie Schenute: die Vorherrschaft und die grausamen Folgen der Sünde, Aufrufe zur Buße und zu einem besseren Leben, Drohungen mit dem Jüngsten Gericht und den zukünftigen Strafen, und Versprechungen himmlischer Belohnung. Darüber hinaus gibt es wenig. ‚In Ägypten‘, sagt A. F. Shore, ‚ist das mönchische Leben nicht zur Reife gelangt‘. Und je mehr man von Schenute, Besa, und den späteren Asketen liest, desto mehr überzeugt man sich davon, dass

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München 2014.

3 Peter Grossmann, Zur Stiftung u. Bauzeit der großen Kirche des Schenuteklosters bei Sūhāğ (Oberägypten), in: ByZ 101 (2008), 35–54.

4 Zum Roten Kloster vgl. die Beiträge in: Elizabeth S. Bolman (Hg.), The Red Monastery Church. Beauty and Asceticism in Upper Egypt, New Haven-London 2016.

5 Zu den Klosteranlagen der Schenuteklöster, der Architektur der Klosterkirche des Weißen Klosters und zu den jüngsten Ausgrabungen vgl. zusammenfassend Yale Monastic Archaeology Project South (Sohag): http://egyptology.yale.edu/expeditions/current-expeditions/yale-monastic-archaeology-project-southsohag (31.3.2018). 6 Stephen Emmel, Shenoute’s Literary Corpus. CSCO 599–600, Subsidia 111–112, Leuven 2004. Eine Gesamtedition der Werke des Schenute entsteht unter Emmels Federführung. 7 Die in den nächsten Absätzen enthaltenen Ausführungen zur Besa-Rezeption in der modernen Wissenschaft habe ich auch an anderer Stelle dargelegt in: “Our Disobedience Will Punish Us …”. The Use of Authoritative Quotations in the Writings of Besa, in: Dieter Kessler/Regine Schulz et al. (Hg.), TexteTheben-Tonfragmente. Festschrift für Günter Burkard, Wiesbaden 2009, 37–54. 8 Siegfried Morenz, Art.: Die koptische Literatur, in: Handbuch der Orientalistik 1, 2. Abschn., Leiden 1952, 219.

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Besa

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diese Bemerkung richtig ist.“9 Allein als koptischer Mönch war Besa also für die ältere westliche Wissenschaft schon ein Nachgeborener. Zum anderen steht er auch noch im Schatten des größeren Schenute, gegenüber dessen verbaler und bisweilen physischer Gewalt er schwach und weichherzig erscheint, während seine Werke als müder Abklatsch der Werke seines Vorgängers gesehen werden. Ich zitiere William Worrells Überblicksdarstellung der Geschichte der Kopten: „Besa war ein ängstliches und zaghaftes Wesen, was wohl unvermeidlich war, wenn man das herrschsüchtige Wesen des Meisters in Betracht zieht. Seine Schriften sind farblos und nichtssagend. Er zitiert die Bibel und seinen Meister, und mit der Verehrung dessen Andenkens sind dann auch seine Bemühungen erschöpft.“10 Jüngere Untersuchungen zum größeren Vorgänger Schenute verwenden Besa als Kontrastfolie, um zu zeigen, was sich nach Schenute geändert hat und was gleich geblieben ist:11 Besa ist damit also ein zweifach Nachgeborener. Im Folgenden möchte ich das Leben und Werk des Besa kurz umreißen, an einem ausgewählten Beispiel aus seinen Schriften sein literarisches Schaffen würdigen und schließlich sein Weiterleben in der koptischen Tradition vorstellen. Insbesondere möchte ich anhand seiner Werke und Rezeption zwei Fragen stellen, ob Besa wirklich ein ängstlicher und zaghafter Epigone von zweifelhaftem literarischem Talent war, ein Nachgeborener des großen Schenute, und ob er außerhalb der westlichen Wissenschaft anders wahrgenommen worden ist denn als Epigone seines Vorgängers.

2. Lebensdaten Besas Auch wenn die Klostergemeinschaft, der Besa vorstand, als Schenutekloster bekanntgeworden ist, war Schenute nicht ihr erster Abt; sie war um die Mitte des 4. Jh.s von einem Mann namens Pgol gegründet worden.12 Der Gemeinschaft trat bald ein weiteres Kloster bei (Gründer: Pschoi), das spätere Rote Kloster.13 9 David N. Bell, Besa. The Life of Shenoute, Cistercian Studies Series 73, Kalamazoo 1983, 22: „Besa’s teaching is the same as Shenoute’s; the prevalence and ghastly consequence of sin, exhortations to repent and to live a better life, threats of judgement and punishment to come, and promises of celestial reward. There is little more to it than this. ‚In Egypt‘, says A. F. Shore, ‚the monastic life failed to mature‘, and the more one reads of Shenoute, Besa, and the later ascetics, the more convinced one becomes of the accuracy of this remark.“ (Übersetzung H. B.) 10 William H. Worrell, A Short Account of the Copts, Ann Arbor 1945, 26: „Besa was a timid, apologetic creature, as was indeed inevitable, considering the overbearing character of the master. His writings are pale and characterless. He quotes the Bible and his master, in the worship of whose memory his effort is exhausted.“ (Übersetzung H. B.) 11 Z.B. Rebecca S. Krawiec, Shenoute and the Women of the White Monastery. Egyptian Monasticism in Late Antiquity, Oxford-New York 2002; Michael E. Foat, I Myself Have Seen: the Representation of Humanity in the Writings of Apa Shenoute of Atripe, Diss. Brown University 1996. 12 Zum Stand der Forschung zu Schenute vgl. zuletzt Andrew Crislip, Shenoute Studies, in: Paola Buzi/Alberto Camplani/Federico Contardi (Hg.), Coptic Society, Literature and Religion from Late Antiquity to Modern Times: Proceedings of the Tenth International Congress of Coptic Studies, Rome, September 17th–22nd, 2012, and Plenary Reports of the Ninth International Congress of Coptic Studies, Cairo, September 15th–19th, 2008. Orientalia Lovaniensia Analecta 247, Leuven 2016, 335–364 mit älterer Literatur, und meinen Beitrag „Schenute“, in: RAC (im Druck), dem die im Folgenden gegebenen

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Schenute selbst trat – nach der Rekonstruktion seiner Karriere durch Stephen Emmel14 – 371/2 in das Kloster ein und wurde ca. 385 dessen dritter Abt. Nach der Vitenüberlieferung starb Schenute am 7. des Monats Epep. Dieser Gedenktag (14. Juli greg. = 1. Juli jul.) wird noch heute von koptischen Christen mit einer Pilgerreise zum Weißen Kloster begangen. Das Todesjahr des Schenute und damit der vermutliche Amtsantritt Besas wurde von Stephen Emmel aufgrund werkinterner und -externer Evidenz in das Jahr 465 gesetzt.15 Abgesehen vom Todesdatum des Schenute ist nur ein weiteres, wenn auch unsicheres Eckdatum im Leben Besas anzusetzen. In einem fragmentarischen Text16 ist von einer Unterredung mit dem oströmischen Kaiser Zeno (474–491) die Rede, wenn die beiden Namen so richtig ergänzt sind. Danach müsste Besa noch 474 Abt gewesen sein. Von den theologischen Streitigkeiten im Gefolge des Konzils von Chalcedon 451 und von dem Versuch des Kaisers Zeno, die sich anbahnende Kirchenspaltung durch das sog. Henotikon des Jahres 482 auszugleichen, finden wir jedoch keine Reflektionen in Besas Werken, und sein genaues Todesdatum ist nicht bekannt.17

3. Das Schenutekloster unter Besas Leitung Das Hauptkloster liegt auf dem Westufer des Nils, ungefähr 10 km von der modernen Stadt Sohag entfernt. Die noch heute weithin sichtbare Klosterkirche wurde 448 erbaut. Die Stifterinschrift eines comes Caesarius, Sohn des comes Candidianus,18 dokumentiert die Verbin-

                                                            

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Informationen zum Schenutekloster entstammen. Zu Pgol und der frühen Geschichte des Schenuteklosters vgl. insbesondere Bentley Layton, The Canons of Our Fathers. Monastic Rules of Shenoute (Oxford Early Christian Studies), Oxford 2014. Zu Geschichte und Architektur des Roten Klosters vgl. die Beiträge in: Bolman (Hg.), Red Monastery Church. Emmel, Shenoute’s Literary Corpus, 6–14; Ders., Shenoute the Monk. The Early Monastic Career of Shenoute the Archimandrite, in: M. Bielawski/D. Hombergen (Hg.), Il monachesimo tra eredità ed aperture. Atti del simposio „Testi e temi nella tradizione del monachesimo christiano” per il 50o anniversario dell'Istituto Monastico di Sant'Anselmo, Roma, 28 maggio – 10 giugno 2002 (Analecta monastica 8), Rom 2004, 151–174. Zur vieldiskutierten Frage des Todesdatums des Schenute vgl. zuletzt Stephen Emmel, Editing Shenoute, Old Problems, New Prospects. The Date of Shenoute’s Death, in: Buzi/Camplani/Contardi (Hg.), Coptic Society, 937–944. London, British Library Or. 3581B [64]: Walter E. Crum, Catalogue of Coptic Manuscripts, London 1905, 169f Nr. 359. Der Nachfolger Besas war möglicherweise Zenobios: René-Georges Coquin, Art. Zenobios, in: Coptic Encyclopedia 7 (1991), 2371. Nach der Überlieferung war er als Arzt tätig und ein überaus produktiver Schriftsteller, der Streitschriften in griechischer Sprache gegen Nestorius, den Erzbischof von Antiochia, verfasst haben soll. Wenn Zenobios als Zeitgenosse des Nestorius spätestens 451 literarisch aktiv war und Schenute 465 in einem biblischen Alter starb, bleibt für eine Amtszeit Besas wenig Zeit. Die Werke eines weiteren möglichen Nachfolgers Schenutes und Besas in der Abtswürde, Apa Johannes, werden von Diliana Atanassova bearbeitet: The Canons of Apa John the Archimandrite; http://coptot. manuscriptroom.com/web/apa-johannes (31.3.2018). Vgl. Peter Grossmann, Zur Stiftung und Bauzeit der großen Kirche des Schenuteklosters bei Sūhāğ (Oberägypten), in: ByZ 101 (2008), 35–54, hier 53 zur Bauzeit und 40 Abb. 3 für eine Handkopie der Stifterinschrift. Ariel G. López, Shenoute of Atripe and the Uses of Poverty. Rural Patronage, Religious Conflict and Monasticism in Late Antique Egypt, Berkeley etc. 2013, 66 argumentiert, dass der tatsäch-

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dungen Schenutes zu hohen Beamten der byzantinischen Regierung, von denen viele das Kloster regelmäßig besuchten.19 Die Mönche und Nonnen lebten zu mehreren in sogenannten Häusern, von einem/r Hausvorsteher/in geleitet, die für das geistliche und leibliche Wohlergehen der Bewohner verantwortlich waren. Werkstätten und andere Funktionsgebäude waren ebenfalls Teil der Klosteranlage. Die monastische Ideologie des Schenute-Klosters kennen wir vor allem aus den Werken des Schenute und seiner Nachfolger. Danach wird die Mönchsgemeinschaft als der privilegierte Weg zum Heil gesehen. Das System basiert auf der von Gott inspirierten Leitung und Schriftauslegung des prophetengleichen Abtes, dem Gehorsam seitens der Mönche und Nonnen gegenübersteht, einem Ideal von Gleichheit in Arbeit und Versorgung, das Besitzverzicht zugunsten des Klosters und den Ersatz weltlicher Bindungen durch die ideale Familie der Mönchsgemeinschaft umfasst.20 Die Heiligen Schriften der Gemeinschaft sind die Bibel und die Regeln und Schriften der Mönchsväter, die eine Einheit bilden. Schenute macht das explizit: „Welches Volk oder welche Gemeinschaft ist von Gott genauso so gründlich unterwiesen worden wie wir selbst, mit Ausnahme nur der Israeliten damals? So wie er sie unterwiesen und beschützt und sie Gesetze und Gebote gelehrt hat – im Gesetz, Numeri, Deuteronomium und all den Büchern des Moses – so hat er auch uns unterwiesen und beschützt und uns Gesetze und Gebote gelehrt. Sie sind aufgezeichnet in all den Briefen, die für uns geschrieben sind.“21 Die Vorstellung der idealen Mönchsgemeinschaft, des neuen Israels oder Jerusalems, als Gemeinschaft der Heiligen, in untrennbarer Verbindung mit biblischen, kirchlichen und monastischen Heiligen, wird bildlich umgesetzt in den einzigartigen Wandmalereien der Kirche des Roten Klosters, die seit 2002 unter der Leitung von E. S. Bolman (Red Monastery Project) untersucht und restauriert werden.22

4. Besas Werke – Überlieferung und Inhalt Ähnlich wie die Werke Schenutes sind uns Besas Schriften in Pergamenthandschriften des Weißen Klosters überliefert. Das Kloster besaß eine bedeutende Bibliothek, die wohl Anfang des 15. Jh.s noch in Gebrauch war,23 deren Bände aber fragmentiert und im 18. und liche Stifter des Klosters in Kaiser Theodosius II. zu suchen sei. 19 Heike Behlmer, Visitors to Shenoute’s Monastery, in: David Frankfurter (Hg.), Pilgrimage and Holy Space in Late Antique Egypt. Religions in the Graeco-Roman World 134, Leiden 1998, 341–371; Johannes Hahn, Hoher Besuch im Weissen Kloster. Flavianus, Praeses Thebaidis, bei Schenute von Atripe, in: ZPE 87 (1991), 248–252; Hany N. Takla, St. Shenouda the Archimandrite and His NonMonastic Interactions, in: Coptica 11 (2012), 89–99. 20 Ausgeführt in Krawiec, Shenoute and the Women; Bentley Layton, Rules, Patterns, and the Exercise of Power in Shenoute’s Monastery. The Problem of World Replacement and Identity Maintenance, in: JECS 15 (2007), 45–73. 21 Émile Amélineau, Œuvres de Schenoudi. Texte copte et traduction française, 2 Bde, Paris 1907–1914, Bd. II, 312f (Schenute Kodex MONB.XV, p. 62 a 7–b 14 aus: Schenute, Kanon 6, Werk „He Who Sits Upon His Throne“). 22 Bolman (Hg.), Red Monastery Church. 23 Tito Orlandi/Alin Suciu, The End of the Library of the Monastery of Atripe, in: Buzi/Camplani/Contardi (Hg.), Coptic Society, 893–919, 915.

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19. Jh. durch Händler und Reisende in Textblöcken, Einzelblättern oder sogar kleinen Fragmenten zerstreut wurden.24 Die Handschriften mit Besas Werken teilten das Schicksal, mit der Zerstreuung der Klosterbibliothek in verschiedene Museen der Welt verbracht zu werden, und werden heute in mehreren europäischen und nordamerikanischen Bibliotheken aufbewahrt,25 wobei zwei den überwiegenden Teil der Werke enthalten.26 Sie sind in den 50er Jahren des 20. Jh.s von Karl Heinz Kuhn ediert worden,27 wobei einige Stücke aus seiner Edition auszusondern sind, da sie von Stephen Emmel als nicht von Besa, sondern von seinem Vorgänger Schenute stammend identifiziert wurden. Kuhns Edition enthält 44 Stücke,28 die sich nach den Neuzuschreibungen auf 39 reduzieren. In der Edition werden die einzelnen Objekte seiner Edition als „Fragments“ bezeichnet, jedoch stellt ein Drittel vollständige Werke dar, und bei anderen sind Anfang oder Ende erhalten. Die Länge bewegt sich dabei von wenigen Zeilen (Fragm. 15) zu mehr als 31 Handschriftenseiten (14 Druckseiten in der Edition: Fragm. 27). Die Tradition schreibt Besa darüber hinaus die Verfasserschaft einer Lebensbeschreibung des Schenute zu, die auf Koptisch, Arabisch und Syrisch überliefert ist. Wie Nina Lubomierski 2007 in einer Monographie nachgewiesen hat, kann diese Zuschreibung aber nicht aufrechterhalten werden.29 Der weitaus überwiegende Teil der Werke des Besa besteht aus Verhaltensanweisungen für Mönche und Nonnen bzw. beschäftigt sich mit Problemen und Konflikten im Kloster, mit vier Ausnahmen: Dies sind ein Fragment, das sich selbst als Gedenkrede am Todestag des

                                                             24 Die Reste lagerten wohl bereits seit dem Mittelalter, als das Koptische durch das Arabische ersetzt worden war, in einem Abstellraum, von wo aus sie von Händlern und Reisenden abtransportiert wurden. Zur nachmittelalterlichen Geschichte der Bibliothek vgl. Catherine Louis, The Fate of the White Monastery Library, in: Gawdat Gabra/Hany N. Takla (Hg.), Christianity and Monasticism in Upper Egypt I. Akhmim and Sohag, Kairo-New York 2008, 83–90. Zahlreiche Fragmente zeigen Zeichen absichtlicher Beschädigung, deren Ursache noch zu sichern ist, vgl. Orlandi/Suciu, End of the Library, 906–913. 25 Der Großteil lagert heute in der British Library, der Sammlung Borgia in Neapel (heute: Biblioteca Nazionale) und der Bibliothèque Nationale in Paris, in geringerem Umfang sind sie in das Rijksmuseum van Oudheden in Leiden, die John Rylands Library in Manchester und die Österreichische Nationalbibliothek in Wien gelangt. 26 Nach Orlandis Klassifikation der Handschriften des Schenuteklosters im Corpus dei Manoscritti Copti Letterari (http://cmcl.it) sind dies die Kodizes MONB.BA und BB. Alin Suciu (Göttingen) datiert diese beiden Kodizes durch paläographischen Vergleich in die 1. Hälfte des 8. Jh.s (mündliche Mitteilung). 27 Text: Letters and Sermons of Besa, edited by K. H. Kuhn (CSCO 157, Script. Copt 21), Louvain 1956; Übersetzung: Letters and Sermons of Besa, translated by K. H. Kuhn (CSCO 158, Script. Copt. 22), Louvain 1956. Für die Einzelheiten der Handschriftenüberlieferung vgl. Besa (Text), IV–XIV. 28 Zusätzlich zu den in Kuhn, Besa (Text) veröffentlichten Stücken vgl. Ders., Another Besa Fragment, in: Muséon 97 (1984), 25–28. Nicht von Besa, sondern von bzw. höchstwahrscheinlich von Schenute sind nach den Erkenntnissen Emmels (Corpus, 1274f) die von Kuhn so gezählten und betitelten Fragmente 36 (On Individual Responsibility for Sins), 37 (On the Responsibilities of the Superiors in a Convent), 40 (Fragment), 42 (To Sinful Nuns) und 43 (On Favouritism). Zu Kuhns Einschätzung der Authentizität der von ihm verwendeten Texte vgl. Besa (Text), XIIIf, und insbesondere Ders., Besa’s Letters and Sermons, in: Muséon 66 (1953), 225–243. 29 Nina Lubomierski, Die Vita Sinuthii (Studien und Texte zu Antike und Christentum 45), Tübingen 2007, argumentiert, dass es sich bei der „Vita“ des Schenute um eine Kompilation aus kommemorativen Reden (wahrscheinlich auch von Besa) und mündlichen Traditionen handele. Diese Meinung ist heute in der Fachwelt weitgehend akzeptiert (Ausnahme: López, Shenoute of Atripe).

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Schenute, dem 7. Epep, identifiziert; ein weiteres Fragment befasst sich mit Streitigkeiten in einem Dorf. Diesen Konflikt sieht David Frankfurter als Streit zwischen Anhängern der neuen Religion, d.h. des Christentums, und Dorfbewohnern, die wenn nicht an der alten Religion, so an traditionellen Verehrungsformen festhalten.30 Interessant sind zwei Fragmente, in denen Besa sich gegen Anschuldigungen verteidigt, einen Knaben oder Jugendlichen aus Gewinnstreben aufgenommen zu haben. Die Mönche und Nonnen mussten bei Eintritt in das Schenutekloster ihren Besitz dem Kloster überschreiben, anders als in vielen anderen Formen von Askese.31 Dies scheint hier zu Konflikten mit den leiblichen Verwandten geführt zu haben. Von den übrigen 35 Stücken richten sich 12 an die Nonnengemeinschaft bzw. einzelne mit Namen genannte Nonnen. Bei den klosterinternen Konflikten, mit denen Besa in seiner Funktion als Abt konfrontiert war, kann man zwischen konkreten Verstößen gegen die Klosterregel einerseits und andererseits Autoritätskonflikten oder Meinungsverschiedenheiten unterscheiden, die keine spezifischen Vergehen zum Inhalt haben. Streit unter den Mönchen kann Gegenstand von Besas Intervention sein. So werden die Mönche in Fragm. 6 beschuldigt, Mitbrüder trotz einschlägiger Fluchworte „unseres Vaters“, d.h. Schenutes, geprügelt, verflucht und lächerlich gemacht zu haben. Eine große Rolle unter den Regelverstößen spielt Diebstahl, sei es am Eigentum der Mitbrüder (Fragm. 23, 24 und 25), sogar von den Kranken (Fragm. 24), sei es an den Mitteln, die für Almosen bestimmt sind (Fragm. 11 und 25).32 Handel mit den Produkten des Klosters oder den eigenen Handwerksprodukten scheint ebenfalls ein Problem zu sein. 33 Heimliches Essen (Fragm. 26) oder das Erschleichen von besserer Nahrung unter dem Vorwand, krank zu sein (Fragm. 12), werden ebenso verurteilt wie besondere Aufmerksamkeit, die dem eigenen Körper und der Kleidung gewidmet werden (Fragm. 17). Idealerweise sollte die Mönchsgemeinschaft die biologische Familie und das soziale Umfeld ersetzen, jedoch zeigt sich die Umsetzung dieses Ideals als schwierig. Bereits unter Schenute war die Begünstigung von leiblichen Verwandten innerhalb des Klosters ein wiederkehrendes Problem gewesen.34 Auch Besa erwähnt dieses Verhalten (Fragm. 12) und fordert die Klosteroberen auf, es bei ihren Untergebenen zu unterbinden (Fragm. 27). Enge Freundschaften unter den Mönchen und Nonnen wurden ebenso unterbunden, Unzucht nimmt generell jedoch keine prominente Rolle in den Anklagen Besas ein. Eine Reihe von Briefen schließlich identifiziert keine konkreten Regelverstöße, sondern wendet sich gegen ein Verhalten, das Besa mit „Ungehorsam“, „Unbelehrbarkeit“ oder „Aufsässigkeit, Widersetzlichkeit“ bezeichnet. Die Mönche und Nonnen opponierten auf verschiedene Weise gegen die Leitung Besas, wobei diese Gegenpositionen, von Besa referiert, natürlich als Regelverstöße, Auflehnung und Sünde erscheinen. Sie konnten ihre Meinung Besa gegenüber öffentlich kundtun und sogar handgreiflich gegen ihre Oberen wer30 David Frankfurter, “Things Unbefitting Christians”. Violence and Christianization in Fifth-Century Panopolis, in: JECS 8 (2000), 273–295. 31 Roger S. Bagnall, Monks and Property. Rhetorik, Law, and Patronage in the Apophthegmata Patrum and the Papyri, in: GRBS 42 (2001), 7–24. 32 Mönche werden sogar beschuldigt, in fremden Weinbergen gestohlen zu haben (Fragm. 23). 33 Zu Diebstahl und unautorisiertem Handel als Vergehen vgl. auch Karl Heinz Kuhn, A Fifth-Century Egyptian Abbot. II. Monastic Life in Besa’s Day, in: JThS 5 (1954), 184f. 34 Vgl. oben mit Anm. 20.

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den. Offener Opposition scheinen wir in Fragment 27 gegenüberzustehen, was noch Gegenstand weiterer Betrachtungen sein wird. Eine häufige Form des indirekten Widerstands scheint das Zurückhalten von Informationen gewesen zu sein.35 Schließlich blieb den Mönchen und Nonnen noch das Mittel des freiwilligen Austritts aus dem Kloster, sei es als Drohung (durch die Nonnen Maria und Talou in Fragm. 20 und Maria in Fragm. 22), sei es als Faktum (durch den Mönch Matthäus und die Nonne Herai in Fragm. 28, 30 und 32). Dabei scheint es zu Auseinandersetzungen über den Verbleib des in das Kloster eingebrachten Vermögens der Ausgetretenen gekommen zu sein.

5. (Biblische) Intertextualität als Konfliktmanagement Wie werden diese und andere Konflikte in Besas Werken dargestellt und welche Lösungsbzw. Bekämpfungsstrategien angewendet? Dazu bietet es sich an, Besas Fragment 27 etwas näher anzuschauen. Es ist kein Fragment, sondern der längste zusammenhängende Text in Besas Werken.36 Einer Gruppe von Mönchen wird unter anderem vorgeworfen, in Selbstüberschätzung Opposition gegen die legitime Autorität im Kloster zu betreiben und für ihre Position offen unter den Mitbrüdern zu werben. Dadurch brächten sie Schande über das Kloster und das Andenken der früheren Äbte. Werfen wir einen detaillierteren Blick auf einen Abschnitt, dessen rhetorische Absicht eindeutig ist: einen Keil zwischen die aufständischen Mönche und den Rest der Gemeinschaft zu treiben (Fragm. 27 Abschnitte II/4–III/4).37 In der im Folgenden wiedergegebenen Übersetzung des Textes sind die biblischen Zitate, die anschließend diskutiert werden, kursiv gesetzt. II. 4. Deswegen nun, Brüder, wollen wir uns von solchen Taten und falschen Ratschlägen fernhalten, damit Gott sich nicht über uns erzürnt und uns zusammen mit den Frevlern verstößt und bereits hier Leid über uns bringt, bevor wir überhaupt den Ort erreichen, zu dem wir gehen müssen, den Ort von lauter Leid und Seufzen. 5. Es trifft zu, was unser Vater gesagt hat: „Dies ist nicht unser Vorbild, dies ist nicht unser Vorbild“, denn wir sind nicht zu Unzucht und Aufsässigkeit berufen worden, sondern in Reinheit, damit wir anständig und recht ohne Ablenkung und sündlos beim Herrn verharren. III. 1. Nun aber, Brüder, alle, die ihr gern Gemeinschaftsgeist zeigt, faßt Mut und kümmert euch nicht um diese Unbelehrbaren unter euch, die zum Anstoß werden und den Leib zerteilen, wie geschrieben steht: ein widernatürlicher Mann verbreitet Streit und schürt ein hinterhältiges Feuer aus Bosheiten und entzweit Freunde und Hausvorsteher. 2. Kümmert euch stattdessen um das, was der Apostel gesagt hat: Wir fordern

                                                             35 Dieses Vergehen ist nur indirekt aus der Aufforderung an die Adressat(inn)en zu erschließen, den Abgesandten Besas rückhaltlos Aufklärung zu gewähren (Fragm. 18, 20, 22, 25 und 28). Auch in Fragm. 39 fordert der Abt (Besa?) die Vorsteherin des Frauenklosters auf, ihm eine ungeschmälerte Darstellung des Vorgefallenen zu schicken, s. a. Susanna Elm, ‘Virgins of God’. The Making of Asceticism in Late Antiquity, Oxford 1994, 306. Sie weist auf das gleiche Problem bereits unter Schenutes Leitung hin. 36 Kuhn, Besa (Text), 78–91. 37 A.a.O., 80.

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euch im Namen unseres Herrn Jesus Christus auf, euch von allen Brüdern zurückzuziehen, die zuchtlos und nicht der Unterweisung entsprechend leben, die sie von uns empfangen haben. 3. Und weiter: Wir hören, daß einige unter euch zuchtlos leben, nicht arbeiten und Unruhe stiften, das erzählen, was sich nicht gehört, murren und schlecht über andere reden, in den Winkeln der Klöster, auf den Straßen, in den Häusern und auf den Dächern oder abseits allein, zusammen mit denen, die, eines Sinnes mit ihnen sind, was Flüstern und die Geschwätzigkeit angeht, die sich ihrer bemächtigt hat. 4. Über letztere wurde gesagt: Du kannst es nicht vermeiden zu sündigen. Sie gefallen Gott nicht und kämpfen gegen alle Menschen. 5. Diese Leute sind es auch in der Tat, über die gesagt wurde: Böse Menschen verbrennen eine Stadt. Und weiter: Dies sind die Männer, die an Nichtigkeiten denken und in dieser Stadt einen üblen Plan ersinnen. Insgesamt werden 11 Zitate auf die Opposition angewendet, davon jeweils fünf aus Altem und Neuem Testament und eines von Schenute. Dazu kommen einige Anspielungen. Die neutestamentlichen Zitate beschränken sich auf den 1. und 2. Thessalonicherbrief. Eine nähere Betrachtung der Zitate wird zeigen, wie geschickt Besa die autoritativen Texte im neuen Argumentationszusammenhang einsetzt. (1) „Deswegen nun, Brüder, wollen wir uns von solchen Taten und falschen Ratschlägen fernhalten, damit Gott sich nicht über uns erzürnt und uns zusammen mit den Frevlern verstößt“ (Ps 124,5 mit Adressatenanpassung „sie“ > „uns“). Die Anpassung an den neuen Kontext ist deutlich. In Vers 1 des Psalms heißt es: „Die auf den HERRN hoffen, werden nicht fallen, sondern ewig bleiben wie der Berg Zion.“38 Diese stehen im Gegensatz zu Vers 5: „die aber abweichen auf ihre krummen Wege, wird der HERR dahinfahren lassen mit den Übeltätern.“ Der Zweck der Anpassung ist offensichtlich: Die regelgerecht lebende Mönchsgemeinschaft ist der Berg Zion, die Abweichler sind es, die diesen Berg bedrohen und die Gott eliminieren wird. (2) „und bereits hier Leid über uns bringt, bevor wir überhaupt den Ort erreichen, zu dem wir gehen müssen, den Ort von lauter Leid und Seufzen. Es trifft zu, was unser Vater gesagt hat: ‚Dies ist nicht unser Vorbild, dies ist nicht unser Vorbild‘“ (Schenute, unidentifiziert). Schenute/unser Vater/unsere Väter werden in Besas Werken Dutzende von Malen als Autoritäten bemüht, und wir können davon ausgehen, dass auch die Mönche, die mit Besa nicht übereinstimmten, sie als Autorität anerkennen würden. (3) „denn wir sind nicht zu Unzucht und Aufsässigkeit berufen worden, sondern in Reinheit“ (1 Thes 4,7 „und Aufsässigkeit“ ist ein Zusatz Besas). Hier ist wie an vielen anderen Stellen die Interpretation direkt in das Zitat eingewoben worden. Dies widerspricht unseren modernen Auffassungen von Zitatentreue, war aber übliche exegetische Praxis.39 Von „Aufsässigkeit“ (kopt. +twn) ist in dem Abschnitt 1 Thes 4,3–7, 38 Alle nicht aus dem Koptischen übersetzten Bibelzitate nach der Lutherbibel 1984. 39 Unter den überaus zahlreichen Studien, die die spätantike Bibelexegese zum Thema haben, nenne ich Elizabeth A. Clark, Reading Renunciation. Ascetism and Scripture in Early Christianity, Princeton 1999. Clark untersucht die Strategien derjenigen spätantiken Väter, deren Werke sexuelle Enthaltsam-

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wo es um die Heiligung der Gemeinde geht, nicht die Rede, sondern von Unzucht und Übervorteilung des Nächsten. Aber wie Paulus zur Gemeinde in Thessalonich spricht, spricht Besa zur Mönchsgemeinde. Die spezifische Sünde der Mönche, ihr Ungehorsam, verhindert die Heiligung der Gemeinschaft. (4) „damit wir anständig und recht ohne Ablenkung und sündlos beim Herrn verharren“ (1 Kor 7,35; Adressatenanpassung „ihr“ > „wir“). 1 Kor 7,1–40 handelt von Fragen der Ehe und Ehelosigkeit und wird als Ermahnung in den Worten des Apostels auf die Mönchsgemeinschaft übertragen. (5) Nun aber, Brüder, alle, die ihr gern Gemeinschaftsgeist zeigt (vgl. mglw. 1 Joh 1), fasst Mut und kümmert euch nicht um diese Unbelehrbaren unter euch, die zum Anstoß (Röm 9,32 u. ö.) werden und den Leib zerteilen (vgl. 1 Kor 12,25). Der Leib ist natürlich die Mönchsgemeinschaft, die Sünder zerteilen sie, (6) „wie geschrieben steht: ein widernatürlicher Mann verbreitet Streit und schürt ein hinterhältiges Feuer aus Bosheiten und entzweit Freunde und Hausvorsteher“ (Prov 16,28; „und Hausvorsteher“ ist ein Zusatz Besas). Der Zusatz ist nur in einem Klosterkontext verständlich, und spezifisch im Kontext einer pachomianischen oder schenutianischen Klostergemeinschaft, in der die Mönche und Nonnen in Häusern unter der praktischen und spirituellen Leitung von Hausvorsteher/innen zusammenleben. Der Interpret, hier Besa, zeigt seine Autorität hier und an anderen Stellen in vielen biblischen Rollen: als Prophet, als leidender Gerechter der Psalmen, als Apostel und in diesem spezifischen Fall als Weisheitslehrer. (7) „Kümmert euch stattdessen um das, was der Apostel gesagt hat: Wir fordern euch im Namen unseres Herrn Jesus Christus auf, euch von allen Brüdern zurückzuziehen, die zuchtlos und nicht der Unterweisung entsprechend leben, die sie von uns empfangen haben“ (2 Thes 3,6; Adressatenanpassung „ihr“ > „sie“). Die Isolation der oppositionellen Mönche hat die volle Unterstützung des Apostels. (8) „Und weiter: Wir hören, dass einige unter euch zuchtlos leben, nicht arbeiten und Unruhe stiften (2 Thes 3,11), das erzählen, was sich nicht gehört, murren und schlecht über andere reden, in den Winkeln der Klöster, auf den Straßen, in den Häusern und auf den Dächern oder abseits allein, zusammen mit denen, die, eines Sinnes mit ihnen sind, was Flüstern und die Geschwätzigkeit angeht, die sich ihrer bemächtigt hat.“ 2 Thes 3,6–16 wendet sich gegen Müßiggang eines Teils der Gemeinde, dieser Müßiggang wird nahtlos mit den Aktivitäten der unzufriedenen Mönche gleichgesetzt. (9) „Über letztere wurde gesagt: Du kannst es nicht vermeiden zu sündigen“ (Prov 10,19).

                                                            

keit als zentrales Interesse haben, und weist nach, die diese Strategien eine biblische Grundlegung für die Argumentation schaffen.

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Prov 10,19 wendet sich gegen Geschwätzigkeit und war Besas Publikum wahrscheinlich im Kontext gut bekannt: Je mehr man redet, desto leichter kann man in Sünde verfallen. Dies gilt vor allem, und das ist sicher von Besa impliziert, für üble Nachrede (vgl. Prov 10,18). Dagegen ist die Zunge des Gerechten – eben nicht die der Oppositionellen – wie erlesenes Silber (Prov 10,20), dies ist ebenfalls impliziert:40 (10) „Sie gefallen Gott nicht und kämpfen gegen alle Menschen“ (1 Thes 2,15). Der neutestamentliche Text spricht von den Juden, denen zur Last gelegt wird, Christus getötet zu haben. Dieses Feindbild wird im Paulusbrief auf die Gegner der Gemeinde und von Besa auf die Mönche angewendet. (11) „Diese Leute sind es auch in der Tat, über die gesagt wurde: Böse Menschen verbrennen eine Stadt“ (Prov 29,8). „Und weiter: Dies sind die Männer, die an Nichtigkeiten denken und in dieser Stadt einen üblen Plan ersinnen“ (Ez 11,2). Die oppositionellen Mönche sind die „bösen Menschen“ der weisheitlichen Mahnung und die Obersten des Volkes, über die in Ezechiels Vision alsbald das Gericht Gottes kommen wird. Beide Texte werden aus den ursprünglichen Kontexten herausgelöst (altorientalische Verhaltensregeln in einem Stadt(staat)milieu bzw. Prophezeiungen gegen hochgestellte Persönlichkeiten, die in Jerusalem einen „üblen Plan ersinnen“, so informiert Gott Ezechiel) und auf die Opposition angewendet. Schon an diesem einen Beispiel wird sichtbar, wie geschickt Besa Zitate auswählt, rekontextualisiert und seine Interpretation durch Zusätze einflicht. Insgesamt gibt es ca. 1.000 Zitate aus der Bibel in seinen Werken, die mit den Zitaten der Werke seiner Vorgänger, vor allem Schenutes, und den Klosterregeln überaus geschickt zu einem Universum von autoritativen Texten verwoben werden, die Besa virtuos in einer schwierigen Lage einsetzt. Ähnlich wie im Falle anderer Gründungen von charismatischen Führungspersönlichkeiten sieht sich Besa dem Problem der Veralltäglichung von Charisma gegenüber, um mit Max Weber zu sprechen. Auch wenn die Herrschaft des Schenute nicht alle Kriterien einer charismatischen Herrschaft erfüllte – z.B. waren bereits vor seinem Amtsantritt feste Strukturen und Regelungen im Kloster vorhanden –, so war er doch ohne Zweifel eine charismatische Persönlichkeit.41 Nach Schenutes Tod sieht sich Besa neuen Herausforderungen gegenüber. Das Kloster prosperiert, die Klosterregeln sind detailliert festgelegt. Besa ist mit Unzufriedenheit und Auflehnung in einer bereits etablierten und erfolgreichen Mönchsgemeinschaft konfrontiert, einer Mönchsgemeinschaft zudem, die einen eigenen Zugang zu den heiligen Schriften hatte. Bildung ist ein zweischneidiges Schwert: Die Mönche und Nonnen sollten lesen lernen und konnten zum Teil auch schreiben, und dadurch werden sie in die Lage versetzt, eigene Interpretationen der Bibel und der Mönchsregeln zu entwickeln, zu diskutieren und sogar öffentlich anzuschlagen. In dieser Situation ist Besas geschickt aktualisierender Rückgriff auf

                                                             40 Knut Martin Heim, Like Grapes of Gold Set in Silver. An Interpretation of Proverbial Clusters in Proverbs 10:1–22:16, Berlin-New York, 2001, 124–126. 41 David Brakke, Shenoute, Weber, and the Monastic Prophet. Ancient and Modern Articulations of Ascetic Authority, in: Alberto Camplani/Giovanni Filoramo (Hg.), Foundations of Power and Conflicts of Authority in Late-Antique Monasticism. Proceedings of the International Seminar, Turin, December 2– 4, 2004 (Orientalia Lovaniensia Analecta 157), Leuven-Paris-Dudley/MA, 2007, 47–74.

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die Autorität der Bibel und der Väter eine virtuose Form von Konfliktmanagement. Er greift auf grundsätzliche Überzeugungen und Einschätzungen zurück, die von den Mönchen und Nonnen geteilt worden sein dürften, insbesondere die Akzeptanz der Heiligen Schrift als Grundlage christlichen Lebens und die Wertschätzung der verstorbenen Klosterväter.42

6. Fazit Ist also, so der erste Punkt, der hier verfolgt werden sollte, die Einschätzung der älteren westlichen Wissenschaft des Besa als Nachgeborenen so zutreffend? Ist er ein ängstliches und zaghaftes Wesen, sind seine Schriften farblos und nichtssagend? Ängstlich und zaghaft erscheint er nur in der Vita Sinuthii, die aber nicht als Selbstporträt oder auch nur als einheitlicher biographischer Entwurf herangezogen werden kann.43 Der ängstliche Schüler eines mutigen Meisters ist ohnedies ein nicht seltener hagiographischer Topos, 44 und die Auseinandersetzungen mit Mönchen, Nonnen und Laien, zum Teil mit beträchtlicher verbaler Gewalt, scheinen den Vorwurf der Zaghaftigkeit nicht zu unterstützen. Farblos und nichtssagend? Das vorgestellte Textbeispiel und viele andere machen meines Erachtens deutlich, dass Besa kein farbloser Bewahrer der monastischen Tradition ist und seine Werke nicht bloß einen schwächeren Aufguss der Werke seines Vorgängers darstellen. Der Erfolg von Besas Persönlichkeit und Schriften zeigt sich daran, dass die Schwierigkeiten nach dem Tod seines charismatischen Vorgängers eben nicht zum Auseinanderbrechen der Gemeinschaft geführt haben. Bis weit in das späte Mittelalter und wieder in der jüngsten Vergangenheit ist das Schenutekloster ein Zentrum koptischer Spiritualität und Gelehrsamkeit. In diesem Kloster und in der koptischen Tradition insgesamt wurde Besa hochgeschätzt. Zum Abschluss werde ich Beispiele hierfür vorstellen. Die Apsismalereien aus dem Roten Kloster machen deutlich, dass Besa mit Schenute, Pgol und Pschoi lange nach seinem Tod als einer der Gründerväter der Klosterföderation verehrt wurde.45 Wenn die Wandbemalung des Weißen Klosters erhalten wäre, könnten wir ein ähnliches Bildprogramm dort vermuten. Noch im 19. Jh. zeigt ein Wandgemälde in der

                                                             42 Diese Wertschätzung tritt in einigen Phänomenen zutage: den Lesungen der Werke des Schenute, die im Kloster noch bis weit ins Mittelalter kopiert wurden, der spätmittelalterlichen Verehrung von SchenuteReliquien und dem rituellen Besuch mit ihm verbundener heiliger Stätten (vgl. Janet A. Timbie, Once More into the Desert of Apa Shenoute. Further Thoughts on BN 68, in: Gabra/Takla [Hg.], Christianity and Monasticism, 169–178) oder der mittelalterlichen Verehrung des Abtes in den Klöstern der Sketis in Unterägypten (Stephen J. Davis. Shenoute in Scetis. New Archaeological Evidence for the Cult of a Monastic Saint in Early Medieval Wādī-al-Naṭrūn, in: Coptica 14 [2015], 1–19). 43 Vgl. oben mit Anm. 29. 44 In der Nachfolge des Meister-Jünger-Verhältnisses in den Evangelien (vgl. die Ängstlichkeit der Jünger Mk 4,35–41 parr.). Vgl. Almut-Barbara Renger, Meister und Schüler in Geschichte und Gegenwart. Von Religionen der Antike bis zur modernen Esoterik, Göttingen 2012; Dies., Meister-Jünger- und Lehrer-Schüler-Verhältnisse in der Religionsgeschichte, in: Michael Stausberg (Hg.), Religionsgeschichte, Berlin-New York 2012, 311–323. 45 Elizabeth S. Bolman/Agnieszka Szymańska, Ascetic Ancestors. Identity and Genealogy, in: Bolman (Hg.), Red Monastery Church, 165–173, bes. 169.

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Kirche der Hl. Jungfrau in Kairo (Ad-Damšīrīyya) im Abu Sefein-Kloster Schenute und Besa gemeinsam.46 Das Triadon, ein sahidisches Lehrgedicht des 14. Jh.s,47 führt Schenute sogar als „Lehrer des heiligen Apa Bēsa“ ein und scheint damit die Hierarchie in einem gewissen Sinne auf den Kopf zu stellen. Allerdings muss man sagen, dass die Verwendung des Namens hier poetischen Erfordernissen – dem Reim – geschuldet ist. An Besa wurde jedoch nicht nur bildlich oder literarisch erinnert, sondern vor allem auch in der monastischen Liturgie. Lesungen für den Festtag des Apa Besa (4. Mesore in der Tradition des Weißen Klosters = 28. Juli jul.)48 sind in mehreren Manuskripten erhalten.49 Es sind zum einen sogenannte Typika, gottesdienstliche Verzeichnisse, die angeben, an welchen Tagen des liturgischen Kalenders welche Texte (biblische Perikopen oder Hymnen) zu verwenden waren. Es gibt einen Hauptzeugen50 und zwei weitere Stellen, an denen das Fest am 4. Mesore erwähnt wird.51 Dies bedeutet, dass im Schenute-Kloster lange nach dem Tod des Besa ein Fest für ihn gefeiert wurde, und zwar nicht nur ein einfaches Fest, da es auch eine Vorfeier hatte. Diese finden wir nicht bei allen Festen: Herrenfeste und Marienfeste, die Feste bedeutender Patriarchen und natürlich das Fest des Schenute besaßen Vorfeier, aber außer Schenute und Besa werden nur wenige Mönchsheilige mit dieser Ehre bedacht. Das zeigt den hohen Rang, den Besa in der Erinnerungskultur des SchenuteKlosters einnahm, und die dauerhafte Verehrung, die er genoss. Ein anderer liturgischer Text aus der gleichen Zeit, ein Lektionar, bestätigt die Existenz einer Vorfeier. Es gibt dort zwei alttestamentliche Lesungen, die Besa gewidmet wurden.52 Die erste Perikope mit der Überschrift „Numeri zu Apa Besa“ zeigt Num 27,18–23, die zweite mit der Überschrift „zu unserem Vater Apa Besa“ zeigt Jes 49,5–7 (Rest nicht erhalten). Die erste Perikope53 handelt von der Einsetzung Josuas zum Führer der Israeliten vor dem Tod Moses, der selbst das gelobte Land nicht erreichen sollte. Schenute, wie andere berühmte Mönche, wird als neuer Mose gefeiert und übergibt, übertragen in die liturgische Situation des Besafestes, seine Autorität an Besa, den neuen Josua. Die Übergabe der Autorität nach biblischem Vorbild ist kein Einzelfall in der monastischen Tradition. Eine andere Schlüsselszene ist die Übergabe des Mantels des Propheten 46 Alfred J. Butler, The Ancient Coptic Churches of Egypt I, Oxford 1884 (Nachdr. 1970), 151; Butler datiert die Wandmalerei in das 16. Jh. 47 So der Untertitel von Peter Nagels Übersetzung: Das Triadon. Ein sahidisches Lehrgedicht des 14. Jahrhunderts (Martin-Luther-Universität Halle-Wittenberg. Wissenschaftliche Beiträge 1983/23 [K 7]), Halle 1983; dort Vers 688,1 (Übersetzung S. 120). 48 Im heutigen Synaxarion wird der Festtag als 6. Mesore = 30. Juli jul. (= 11. Aug. greg.) angegeben, vgl. Otto F.A. Meinardus, Two Thousand Years of Coptic Christianity, Kairo 1999, 283–309, 308. 49 Ich bin Diliana Atanassova (Göttingen) für Hinweise auf liturgische Textzeugen und Informationen zu ihnen zu großem Dank verpflichtet. 50 Wien, Österreichische Nationalbibliothek, P.Vindob. K 9727 verso. 51 Typikon-Papierblatt: Staatsbibliothek zu Berlin, Ms. or. oct. 409 f. 46 V°, sowie ein Einzelblatt ungeklärten Zusammenhangs (vom Inhalt ebenfalls ein Typikon): Manchester, John Rylands Library, Coptic Ms 54 recto. Zu Letzterem vgl. W. E. Crum, Catalogue of the Coptic Manuscripts in the Collection of the John Rylands Library Manchester, Manchester-London 1909, 21. 52 London, British Library, Or. 3579A f. 17 recto, und London, British Library, Or. 3579A f. 11a verso. Ich verdanke den Hinweis auf diesen Text ebenfalls Diliana Atanassova. 53 London, British Library, Or. 3579A f. 11a verso – f. 11b verso.

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Elia an seinen Jünger Elisa im 2. Buch der Könige. Auch Schenute empfängt nach seiner Vitentradition den Mantel des Elia.54 Als der hl. Antonius, das Modell des anachoretischen Mönchtums, stirbt, vermacht er nach seiner Vita dem Bischof Athanasius seinen Mantel und sein Schaffell.55 Antonius ist der neue Elia, Athanasius ist der neue Elisa, auf dem ein doppelter Anteil des Geistes des Elias ruht, ein mehr als würdiger Nachfolger seines spirituellen Vaters. Die Verehrung Besas dauert bis heute an. Auch heute noch werden Schenute und Besa gemeinsam in der Liturgie der koptischen Kirche unter den bedeutenden Gestalten des ägyptischen Christentums genannt. Das große Fürbittgebet des koptischen Gottesdienstes bittet Gott, der vergangenen und gegenwärtigen Heiligen der Kirche zu gedenken, beginnend mit der Jungfrau Maria, und gedenkt gleichzeitig dieser Heiligen als Vorbilder für eine christliche Lebensführung. In der im Gottesdienst meistverwendeten Liturgie, der sogenannten Basilios-Anaphora, hat es einen wichtigen Platz gegen Ende des dritten Teils, der sogenannten Liturgie der Gläubigen, vor dem Totengedenken und der Wandlung von Brot und Wein. Am Ende der Liste der Mönchsheiligen finden wir Schenute und seinen Schüler Visa/Besa.56 Über die arabisierenden Formen Bisa, Visa und Wissa ist der Name Besa bis heute erhalten als Vor- und Nachname in koptischen Familien, heute eher als Nachname. Ein bedeutender Träger dieses Namens ist der Architekt Ramses Wissa Wassef, der vor allem durch das nach ihm benannte Kunsthandwerkerzentrum in Kairo bekannt ist.57 Verbreitet ist der Familienname – nicht zufällig – vor allem in Oberägypten, z.B. in Assiut, nicht weit vom Schenutekloster.58 Ganz zum Schluss sei noch die Arbeit an der Überlieferung der Texte mit den Mitteln des 21. Jh.s erwähnt. Im Rahmen des virtuellen Handschriftenlesesaals des Akademievorhabens „Digitale Gesamtedition und Übersetzung des Koptischen Alten Testaments“ werden diplomatische Editionen der Werke der Schenute-Nachgeborenen Besa und Apa Johannes eingestellt. 59 Vollständige, linguistisch annotierte Editionen von einzelnen BesaWerken finden sich in der Online-Editionsplattform des „Coptic Scriptorium“.60 In einem laufenden Forschungsprojekt werden auf der Basis der genannten Editionen die biblischen Zitate aus den Werken Besas mittels digitaler Analysemethoden untersucht.61 Alle diese Arbeiten versprechen neue Einsichten in die Werke eines vielleicht nachgeborenen, aber gar nicht so zaghaften und farblosen koptischen Schriftstellers.

                                                             54 Vgl. dazu Bolman/Szymańska, Ascetic Ancestors, 165. 55 Vita Antonii Kap. 91. Für neuere Übersetzungen vgl. Tim Vivian/Apostolos N. Athanassakis, Athanasius of Alexandria. The Life of Antony, the Coptic Life and the Greek Life (Cistercian Studies Series 202), Kalamazoo 2003, 252f, sowie für die griechische Vita: Athanasius von Alexandrien, Vita Antonii. Leben des Antonius, eingeleitet, übersetzt und kommentiert von Peter Gemeinhardt (Fontes Christiani 69), Freiburg u.a. 2018. 56 Zu dieser Anaphora vgl. Achim Budde, Die ägyptische Basilios-Anaphora. Text – Kommentar – Geschichte, Münster 2004. 57 Webseite: http://www.wissa-wassef-arts.com/ (31.3.2018) 58 Hanna F. Wissa, Assiout. The Saga of an Egyptian Family, Lewes 1994. 59 Online zur Zeit: Atanassova, The Canons of Apa John. 60 http://copticscriptorium.org/ (31.3.2018). 61 Schriftauslegung und Bildungstraditionen im koptischsprachigen ägyptischen Christentum der Spätantike: Schenute, Kanon 6: https://www.uni-goettingen.de/de/521144.html.

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Ibas von Edessa Ein Bischof zwischen den Fronten im christologischen Diskurs* Claudia Rammelt Geht man von der Grundannahme aus, dass die Christologie Aufschluss über das allgemeine Denken in den verschiedenen Epochen gibt, darf sie als Indikator für das spezielle Profil des jeweiligen Christentumsverständnisses aufgefasst werden. Die Christologie gibt somit die theologische Definition dafür ab, was für das Wahre gehalten wird.1 So gehört die christologische Frage zu den elementarsten Fragen des christlichen Glaubens. Das war bereits den frühen Christen bewusst. Seit Anbeginn wurde über das Wesen Jesu Christi nachgedacht und es blieb nicht aus, dass sich die Väter der Alten Kirche kontrovers damit auseinandersetzten. Was in den Augen des modernen Betrachters auf den ersten Blick als dogmatische Spitzfindigkeiten erscheinen mag, ist das ernsthafte Bemühen, im Spannungsfeld von Heiliger Schrift und kulturellen Voraussetzungen, nicht selten verwoben mit dem Streben um politische Vormacht, eine angemessene Beschreibung des Gottessohnes zu finden. Ibas von Edessa (gest. 457) lebte in der Zeit der konziliaren Auseinandersetzung um die Frage nach Jesus Christus und geriet zwischen die Mühlsteine der theologischen Positionen. Sein „berühmter Brief“ an den Perser Mari aus dem Jahre 433 wurde zum Kontroversdokument nicht nur für Jahre, sondern für über ein Jahrhundert. Die folgenden Seiten wollen dem Leben eines Mannes nachgehen, dessen Biographie eng mit den großen christologischen Kontroversen der Zeit verwoben ist. Sein Lebensweg zeigt, wie existentiell die Frage der Christologie damals war bzw. werden konnte.

1. Edessa – Politik, Kultur und Religion der Wirkungsstätte des Ibas Ort der Wirksamkeit von Ibas war Edessa, das heutige Urfa im Südosten der Türkei.2 In der seleukidischen Gründung behauptete eine arabischstämmige Dynastie über Jahrhunderte * Die Ausführungen basieren grundlegend auf den Überlegungen in meinem Buch Ibas von Edessa. Rekonstruktion einer Biographie und dogmatischen Position zwischen den Fronten (Arbeiten zur Kirchengeschichte 106), Berlin-New York 2008. Die entsprechenden Abschnitte im Buch sind angezeigt und auf grundlegende Literatur wird hingewiesen, die aber nicht beansprucht vollständig zu sein. Für die Darstellung wurde keine neuere Literatur hinzugezogen. 1 Vgl. Ulrich Barth, Die Christologie Emanuel Hirschs, Berlin-New York 1992, 1f. 2 Es sei nur auf einige Darstellungen als einführende und überblicksartige Literatur zu Edessa verwiesen: Rubens Duval, Histoire politique, religieuse et littéraire d’Édesse, Paris 1892; Han J. W. Drijvers, Hatra, Palmyra und Edessa. Die Städte der syrisch-mesopotamischen Wüste in politischer, kulturgeschichtlicher und religionsgeschichtlicher Beleuchtung, in: Aufstieg und Niedergang der römischen Welt II/8. Prinzipat, Berlin-New York 1977, 799–906; Ernst Kirsten, Art.: Edessa, in: RAC 4, Stuttgart 1959, 552–597; Albertus F. J. Kljin, Edessa. Die Stadt des Apostels Thomas (Neukirchner Studienbücher. Ergänzungsbände zu den Biblischen Studien 4), Neukirchen 1965; Steven K. Ross, Roman Edessa. Poli-

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gegenüber der persischen und römischen Weltmacht ihre Unabhängigkeit, bis der römische Kaiser Trajan (53–117) im Jahre 217 die Stadt schließlich zur colonia erklärte und in das römische Verwaltungssystem eingegliederte.3 Als Ort römischer Administration erlebte sie eine wechselvolle Geschichte in den Auseinandersetzungen um den östlichen Limes bis zur Eroberung durch den Islam im 7. Jh..4 Nicht nur eine ethnische Mannigfaltigkeit und ein komplexes soziales Gefüge begegneten in der nordmesopotamischen Metropole, sondern ebenso eine Vielfalt religiöser Ausprägungen: unterschiedliche pagane Kultgemeinschaften 5 lebten ihren Glauben, genauso wie Juden.6 Auch das Christentum etablierte sich.7 Der Legende nach soll der christliche Glaube bereits von König Abgar (4 v.Chr. bis 7 n.Chr. und 13–50 n.Chr.) nach einem Briefwechsel mit Jesus und seiner Heilung angenommen worden sein.8 Über die tatsächli-

                                                            

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tics and culture in the eastern fringes of the Roman Empire 114–242 CE, London-New York 2001; Judah B. Segal, Edessa, the blessed city, New York 22001; Michael Sommer, Roms orientalische Steppengrenze. Palmyra – Edessa – Dura-Europos – Hatra. Eine Kulturgeschichte von Pompeius bis Diocletian (Oriens et Occidens. Studien zu antiken Kulturkontakten und ihrem Nachleben 9), Wiesbaden 2005, 225–269. Die Forschung diskutiert, ob Edessa im Jahr 214 oder eher 212/213 in eine römische Kolonie verwandelt wurde. – Vgl. Drijvers, Hatra, 879f; Ross, Roman Edessa, 58, ebenso beschreibt Sommer den Weg zur Kolonie in Roms orientalische Steppengrenze, 228–249. Eine Beschreibung des Limesverlaufs ist u.a. in der älteren Darstellung von Ernst Honigmann, Die Ostgrenze des byzantinischen Reiches von 363 bis 1071 nach griechischen, arabischen, syrischen und armenischen Quellen (Corpus bruxellense historiae byzantinae 3), Brüssel 1935, Nachdruck 1961 zu finden; zum östlichen Limes auch David H. French/Chris S. Lightfoot (Hg.), The Eastern Frontier of the Roman Empire 1-2, Oxford 1989. Vgl. grundlegend u.a. Han J. W. Drijvers, Cults and beliefs at Edessa (Etudes preliminaires aux religions orientales dans l’empire Romain 82), Leiden 1980. Vgl. zu diesem Thema ausgewählt die Aufsätze von Han J. W. Drijvers, Edessa und das jüdische Christentum, in: VigChr 24 (1924), 4–33; Ders., Jews and Christians at Edessa, in: Journal of Jewish Studies 36/1 (1985), 88–102, sowie Syrian Christianity and Judaism, in: Judith Lieu/John A. North/Tessa Rajak (Hg.) The Jews Among Pagans and Christians in the Roman Empire, London u. a. 1992, 124–146. Zum Christentum in Edessa sei verwiesen auf die älteren Arbeiten von F. Crawford Burkitt, Urchristentum im Orient, Tübingen 1907, 1–24; Félix Haase, Altchristliche Kirchengeschichte. Nach orientalischen Quellen, Leipzig 1925, 70–93. Aus der neueren Literatur sei beispielhaft genannt Lewis W. Barnard, The Origins and Emergence of the Church in Edessa, in: VigChr 22, 1968, 161–175; Han J. W. Drijvers, East of Antioch. Forces and Structures in the Development of Early Syriac Theology, in: Ders., East of Antioch. Studies in Early Syriac Christianity, London 1984, 1–17, aber auch Albertus F. J. Klijn, Das Thomasevangelium und das altsyrische Christentum, in: VigChr 15 (1961), 146–159; Judah B. Segal, When Did Christianity Come to Edessa?, in: Barry C. Bloomfield (Hg.), Middle Eastern Studies and Libraries, London 1980, 179–191. Die Abgarlegende ist in verschiedenen Versionen überliefert und wurde verschiedentlich diskutiert. Es sei nur verwiesen auf die älteren Arbeiten von Ernst von Dobschütz, Christusbilder. Untersuchungen zur christlichen Legende (TU 18, NF 3/1–2), Leipzig 1899; Ders., Der Briefwechsel zwischen Abgar und Jesus, in: ZWTh 43 (1900), 422–486, und neuere Untersuchungen von Rolf Peppermüller, Griechische Papyrusfragmente der Doctrina Addai, in: VigChr 25 (1971), 289–301. Ausführlich zu weiterführender Literatur die Anmerkungen bei Jürgen Tubach, Die Tradition über den Ursprung der späteren reichskirchlichen Gemeinde von Edessa. Zur Etymologie des Namen Plw, in: Martin Tamcke/Andreas Heinz (Hg.), Die Suryoye und ihre Umwelt. 4. Deutsches Syrologen-Symposium in Trier 2004. Festgabe Wolfgang Hage zum 70. Geburtstag (Studien zur Orientalischen Kirchengeschichte 36), Münster 2005, 249–266, 248f Anm. 5–7.

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chen Anfänge kann nur gemutmaßt werden. Doch entwickelten sich in Edessa als Schnittstelle zwischen griechisch-römischer und persischer Welt vielfältige heterodoxe Schattierungen christlichen Glaubens: Bardasainiten, Tatianiten, Manichäer, Marcioniten, Ququiten, Messalianer. Auf einen Mann namens Palut gehen die Anfänge einer Gemeinde großkirchlicher Prägung zurück. Nach dem Muster der etablierten christlichen Gruppen Edessas, die jeweils den Namen ihrer Stifter erhalten hatten, wurden die Anhänger der reichskirchlichen Gemeinde Palutianer genannt. 9 Die lebendige christliche Vielfalt schwand durch die zunehmende Polarisation zwischen Orthodoxie und Häresie. Das orthodoxe Christentum dominierte schließlich das christliche Gesicht der Metropole. Eine Polarisation fand nunmehr innerhalb dieser selbst statt wie der christologische Streit zeigt.

2. Biographische Notizen Der vom syrischen Verbum „geben“ (‫ ܝܗܒ‬/ ihb)10 abgeleitete Name des Bischofs lässt seine Herkunft innerhalb der semitischen Bevölkerung Edessas suchen.11 Bei der Namensform handelt es sich vermutlich um eine hypokoristische Form, die der Umwelt des edessenischen Bischofs nicht unbekannt war und die gekürzt in den Konzilsakten in ihrer latinisierten bzw. gräzisierten Form vorliegt.12 Namensbildungen mit dem Verbum „geben“ treten in der Umwelt vor allem in Verbindung mit einem theoporen Element auf, wodurch die Zugehörigkeit des Namensträgers zu einer Gottheit zum Ausdruck gebracht wurde. Vermutlich wurde sein Name um das theophore Element -iso ergänzt. Die Namensbildung würde damit ganz im Trend der Entwicklung liegen, denn im 4. Jh. setzte im Zuge der Anerkennung des Christentums eine Verchristlichung der Namen ein, um Erfahrungen mit dem christlichen Glauben auszudrücken. Der mit „Jesu hat gegeben“ zu übersetzende Name würde somit neben der Freude und dem Dank über das Geschenk eines Kindes vor allem zum Ausdruck bringen, wer der Grund des Kindes ist.

                                                            

9 Vgl. Ephräm, Hymnen contra haereses XXII,5f, dt. Edmund Beck, Des heiligen Ephraem des Syrers Hymnen contra Haereses (CSCO 169, syr. 76f), Louvain 1957, 78. Tubach, Tradition, 249–266, schlägt eine ganz eigene Schreibweise des Namens vor. 10 In den syrischen Quellen begegnet der Name des Bischofs in zwei unterschiedlichen Formen: 1. ‫ܗܝܒܐ‬ hībā: Catalogus Libror. Syror. Ebedjesu, De Scriptoribus Syris Nestorianis, ed. Joseph S. Assemanus (BO III/1), Rom 1725, Nachdruck Hildesheim u. a. 1975, 85f; Šem‛ōn von Bēt Aršam: Simeon Episcopus Beth-Arsamensis, De Scriptoribus Syris Orthodoxis, cap. XIX, ed. Joseph S. Assemanus (BO 1), Rom 1719, Nachdruck Hildesheim u. a. 1975, 341–358, 353; John of Ephesus. Lives of the Eastern Saints 1 (PO 17), ed. Ernest W. Brooks, Paris 1923, Nachdruck Tournhout 1983, 139; Johannes Flemming (Hg.), Die Akten der ephesenischen Synode vom Jahre 449. Syrisch. Mit Georg Hoffmanns deutscher Übersetzung und seinen Anmerkungen, in: Abhandlungen der Gesellschaft der Wissenschaften zu Göttingen (Phil.-hist. Klasse, NF 15/1), Berlin 1917, Nachdruck Göttingen 1970, 4,8/5,10 (T./Übs.) – 2. ‫ ܝܗܝܒܐ‬īhībā: Barhebraeus: Gregorii Barhebraei, Chronicon Ecclesiasticum 1–3, ed. Joannes B. Abbeloos/Thomas J. Lamy, Paris-Lovanii 1872–1877, 155; Šem‛ōn von Bēt Aršam: Simeon Episcopus BethArsamensis, a.a.O., 350. 11 Zum Namen des Ibas die ausführlicheren Überlegungen bei Claudia Rammelt, Überlegungen zum Namen des edessenischen Bischofs Ibas, in: Armenuhi Drost-Abgarjan/Jens Kotjatko-Reeb/Jürgen Tubach (Hg.), Vom Nil an die Saale. FS für Arafa Mustafa (Hallesche Beiträge zur Orientwissenschaft 42), Halle 2008, 359–366; Dies., Ibas von Eddessa, 35–40. 12 Vgl. griechisch beispielsweise ACO II 1,3 13,24, lat. ACO II 3,3 37,1.

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Der Name lässt unweigerlich darauf schließen, dass Ibas im christlichen Kontext aufwuchs, worüber die Quellen mit genaueren Angaben aber schweigen. Erst über eine Tätigkeit an der Perserschule in Edessa erfährt man. Dort arbeitete er zusammen mit weiteren Mitarbeitern namens Kumi und Proba als Übersetzer von Werken aus dem Griechischen ins Syrische; 13 vermutlich agierte er sogar als organisatorischer Leiter des Projekts. 14 Diese hatte ein Schulleiter namens Qijōrē im beginnenden 5. Jh. angeregt, da er den Schülern neben syrischen auch griechische Schriften zugänglich machen wollte.15 Die sogenannte Perserschule ist wohl eine der bekanntesten christlichen Schulen Edessas, deren Gründung mit Ephraem dem Syrer in Verbindung gebracht wird.16 Vermutlich gelangte sie unter ihm zu Ruhm.17 An ihr lernten die Studenten Lesen und Schreiben, beschäftigten sich mit Philosophie, Geographie, profaner Geschichte und Astronomie. Den Mittelpunkt bzw. den Höhepunkt des Unterrichts bildete zweifelsohne die Auslegung und Interpretation der Heiligen Schriften und die Auseinandersetzung mit den Vätern der Kirche. Offenbar war der Lehrbetrieb der Perserschule an den klassischen antiken Unterrichtsturnus angelehnt, so dass von einer Art antikem Studienzentrum gesprochen werden kann.18 Unterrichtssprache war das Latein des Ostens, nämlich Syrisch. Die Welle der Übersetzungstätigkeit ermöglichte es, Kommentare zu den biblischen Schriften, aber auch philosophische Texte in der Liturgie-

                                                            

13 Es ist bekannt, dass Prōbā Werke des Aristoteles übersetzte. Īšō‛dāð von Merw ergänzt, dass Kūmī den Kommentar des Paulus zum Römerbrief übertragen hat, vgl. Commentaries of Isho‛dad of Merv, Bishop of Ḥadatha (c. 850 a. D.) in Syriac and English 5,2. The Epistles of Paul the Apostle in English, ed./transl. Margret D. Gibson (Horae Semiticae XI), Cambridge 1916, 22. Vgl. Anton Baumstark, Geschichte der syrischen Literatur mit Ausschluß der christlich-palästinenstischen Texte, Bonn 1922, Nachdruck Berlin 1968, 101–102; ebenso Harald Suermann, Anmerkungen zur Sprache der Übersetzungen und Kommentare von Aristoteles und Porphyrios bei Probus, in: VI. Symposium Syriacum (OCA 247), Rom 1994, 393–400; Ders., Die Übersetzungen des Probus und eine Theorie zur Geschichte der syrischen Übersetzung griechischer Texte, in: OrChr 74 (1990), 103–114. 14 Johannes von Ephesus bezeichnet Ibas als Promotor für die Arbeit am Übersetzungsprojekt. Vgl. Johannes von Ephesus, Lives 1, 139. 15 Ephräms Schriften und Denken bildeten zusammen mit den anderen frühsyrischen Schriften die normativen Größen syrischer Theologie auch an der Schule der Perser. Es verwundert daher, wenn der Schulleiter Qijōrē bedauert, dass die exegetischen Werke des Schrifterklärers, gemeint ist Theodor von Mopsuestia, noch nicht in die syrische Sprache übertragen worden sind. Vgl. Mar Barhadbšabba ῾Arbaya, Cause de la fondation des écoles, ed./trad. Addaï Scher (PO 4), Paris 1908, Nachdruck Tournhout 1981, 382. 16 Zur Schule von Edessa: Han J. W. Drijvers, The School of Edessa. Greek Learning and Local Culture, in: Ders., Centres of Learning. Learning and Location in Pre-Modern Europe and the Near East, Leiden u.a. 1995, 49–59; Ernest R. Hayes, L’École d’Édesse, Paris 1930; Robert Nelz, Die theologischen Schulen der morgenländischen Kirchen während der sieben ersten christlichen Jahrhunderte in ihrer Bedeutung für die Ausbildung des Klerus, Bonn 1916 (Diss.), 53–76; Arthur Vööbus, History of the School of Nisibis (CSCO 266 Subs. 26), Louvain 1965, 1–32. 17 Drijvers macht in seinem Aufsatz plausibel, dass es schon seit dem 2. Jh.t eine Schule in Edessa gab, die schließlich christlich und als Schule der Perser bekannt wurde. Manche Quellen sprechen sogar nicht nur von einer Schule in Edessa, sondern von den Schulen in Edessa, ja sie klassifizieren diese als Schulen der Armenier, Perser und Syrer (Flemming, Akten, 24,23/25,33 [T./Übs.]). Aller Wahrscheinlichkeit nach kann davon ausgegangen werden, dass in Edessa schon in paganer Zeit und auch weiterhin verschiedene Schulen existierten, von denen eine besondere Bedeutung erlangte und als Schule der Perser in die Geschichte einging. Vgl. Drijvers, School of Edessa, 51–59. 18 Vgl. C. Detlef G. Müller, Geschichte der orientalischen Nationalkirchen (KIG 1, Lieferung D 2), Göttingen 1981, 279.

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sprache der Christen Edessas zu lesen. Ob Ibas bereits Schüler/Student an der Perserschule war, ist nicht auszumachen. Schenkt man der in ihrer Echtheit umstrittenen Angabe der Chronik von Arbela Glauben, dann übersetzte er nicht nur an ihr, sondern unterrichtete er auch noch an der selbigen.19 Mit seiner Wahl zum Bischof im Jahre 435 wird sicherer historischer Boden in der Biographie des Ibas unter den Füßen gewonnen.20 Über die Gründe seiner Wahl ist allerdings nur zu mutmaßen.21 Möglicherweise war er aufgrund seiner verdienstvollen Tätigkeit an der Perserschule in sein Amt berufen worden und/oder aber er hatte die gewöhnliche Ämterlaufbahn durchschritten, die ihn vor seiner Bischofsweihe Presbyter seiner Kirche sein ließ.22 Die theologische Auseinandersetzung prägte offenbar auch sein Agieren als Bischof, was nicht ungeteilt auf Wohlgefallen stieß. Der akademisch geprägte Ibas wurde zum pflichtvergessenen Bischof an den von Rabbula (ca. 350–435/6) aufgestellten Idealen. 23 Dieser als alter Christus vorgestellte Mönchsbischof hatte sich einer strengen Askese gewidmet. So wundert es nicht, dass Ibas von seinen späteren theologischen Kontrahenten verschiedentlich vorgeworfen wird, übersteigerter Nutznießer seiner Amtsgewalt gewesen zu sein und defizitär zu handeln.24 Das kann weder ausgeschlossen noch bestätigt werden. Ein anderes Bild zeichnet die Edessenische Chronik, die ihn mit dem Attribut „ehrwürdig“25 lobt. Bei allen Vorwürfen der Pflichtvergessenheit ist nicht wegzuwischen, dass er als Bauherr fungierte und in seiner Amtszeit der Stadt einen Sakralbau schenkte: die „neue“ Kirche, die als Kapelle der Apostel bekannt ist.26 Stil und Herrlichkeit sollen sich von den

                                                            

19 Vgl. Peter Kawerau (Hg.), Die Chronik von Arbela (CSCO 467/468, Syr. 199/200 [textus/versio]), Lovain 1985, 18 (70/95 [T./Übs.]). Zur Frage nach der Chronik von Arbela seien um die Frage nach ihrer Echtheit folgende Aufsätze ausgewählt: Julius Assfalg, Textüberlieferung der Chronik von Arbela. Beobachtungen zu MS.Or.Fol. 3126, in: OrChr 50 (1966), 19–36; Jean-Maurice Fiey, Auteur et date, in: L’Orient syrien 12 (1967), 265–301; Wolfgang Hage, Early Christianity in Mesopotamia. Some Remarks concerning Authenticity of the Chronicle of Arbela, in: The Harp 1 (1988) 39–46; Kawerau, Chronik, IX–XII, aber auch 1–12. 20 Vgl. Edess. Chronik LIX, hg. v. Ludwig Hallier, Untersuchungen über die Edessenische Chronik. Mit dem syrischen Text und einer Übersetzung, Leipzig 1892, LIX. Vom Bischofswechsel berichten auch Elias von Nisibis, Op. chron., ed. Ernest W. Brooks, Eliae Metropolitae Nisibeni. Opus Chronologicum I, CSCO 62*/Syr. 21 textus, CSCO 63*/Syr. 23 versio, = Syr. Ser. III/7, Paris 1910, 113/54,26–27 [T./lat. Übs.]; Gregorii Barhebraei. Chronicon Ecclesiasticum 1, 156. 21 Zu seiner Bischofswahl Claudia Rammelt, Bischofswechsel in Edessa zur Zeit der christologischen Auseinandersetzungen, in: Johan Leemans u.a. (Hg.), Episcopal Elections in Late Antiquity (AKG 119), Boston 2011, 499–513. Zum Bischofswechsel und generell zu einer Charakteristik seines Bischofsamtes Rammelt, Ibas, 55–61. 22 Seine Tätigkeit als Presbyter wird verschiedentlich begründungslos angenommen, vgl. Baumstark, Geschichte, 101; aber auch Fraisse-Coué, Ch., Von Ephesus nach Chalcedon. Der „trügerische“ Friede (433-451), in: Jean-Marie Mayeur u.a. (Hg.), Die Geschichte des Christentums. Religion, Politik, Kultur 3, Freiburg i. Br. u.a. 1996, Nachdruck 2005, 4. 23 Zu Rabbula sei grundlegend auf die Monographie von Georg G. Blum, Rabbula. Der Christ, der Bischof, der Theologe (CSCO 300 Subs. 34), Louvain 1969, verwiesen. Weitere Literatur findet sich bei Karl Pinggéra, Rabbula von Edessa, in: Wassilios Klein (Hg.), Syrische Kirchenväter, Stuttgart 2004, 57–70, aber auch bei Robert Doran, Stewards of the Poor. The Man of God, Rabbula, and Hiba in FifthCentury Edessa (Cistercian Studies Series 208), Kalamazoo 2006. 24 Der Anklagekatalog ist in den Konzilsakten nachzulesen: ACO II 1,3 24,14–26,18. 25 Vgl. Edess. Chronik LIX. 26 Vgl. u.a. Edess. Chronik LIX, auch PsDionys., Chron. I, ed. Jean B. Chabot, Chronicum anonymum pseudo-dionysianum vulgo dictum I, in: CSCO 91 Syr. 43 (textus), 121 Syr. 66 (versio), = Syr. Ser.

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übrigen Kirchenbauten der Stadt nicht unterschieden haben. Der Bau stellte einen der alten Kirche ebenbürtigem Bau dar. So lobend sprechen die literarischen Quellen vom Kirchenbau des Ibas. Vermutlich war diese neue Kirche nicht in der gängigen Form einer Basilika gebaut, sondern stand in der Tradition der Apostelkirchen. Vorbild war sicher die Kirche Konstantinopels, die kreuzförmig erbaut war.27

3. Die theologische Position des Ibas von Edessa – sein Brief an den Perser Mari Theodor von Mopsuestia (350–428) gilt als prominenter Vertreter der sog. antiochenischen Christologie.28 Vor allem wurden auch seine Werke bis zum Jahr 428 an der Schule der Perser übersetzt.29 So wundert es nicht, dass diese das Zentrum und den Ausgangspunkt allen christologischen Nachdenkens der Schule und auch des Ibas bilden. In seinem Brief an den Perser Mari wird das deutlich. Dort wird Theodor von Mopsuestia von Ibas nicht nur als „Prediger der Wahrheit und Lehrer der Kirche“30 gelobt, vielmehr begegnet in den Zeilen an den Perser die klassisch antiochenische Position. Der Brief des Ibas aus dem Jahre 433 ist innerhalb der griechischen31 und lateinischen32 Konzilsakten des Konzils von Chalcedon überliefert; auf syrisch ist er innerhalb der Protokolle des letzten Verhandlungstags auf der sog. Räubersynode 449 zu lesen.33 Vermutlich hat Ibas den Brief auf Syrisch an Mari in Rev Ardashir geschrieben, der einstmals Schüler an der Perserschule von Edessa war und – in seine Heimat zurückgekehrt – mit großer

                                                             III/1, Lovanii 1927/1949, 211/157 [T./lat. Übs.]. 27 Baumstark schreibt in seinen Artikel: „[…] d.h. das edessenische ἀποστεῖλον war wohl gleich dem römischen und dem mailändischen (S. Nazario e Celso) eine auch formelle Nachbildung des konstantinopolitanischen.“ – Anton Baumstark, Vorjustinianische kirchliche Bauten in Edessa, in: OrChr 4 (1904), 164–183, 175. 28 Vgl. Peter Bruns, Art.: Theodor von Mopsuestia, LACL3, Freiburg-Basel-Wien 2002, 678–680 als erster Einblick. Zu seiner Christologie u.a. Peter Bruns, Den Menschen mit dem Himmel verbinden. Eine Studie zu den katechetischen Homilien des Theodor von Mopsuestia (CSCO 549 Subs. 89), Louvain 1995, 122–258; Alois Grillmeier, Jesus der Christus im Glauben der Kirche 1, Freiburg i. Br. u.a. 31990, 614– 634; Till Jansen, Theodor von Mopsuestia. De incarnatione: Überlieferung und Christologie der griechischen und lateinischen Fragmente, einschließlich Textausgabe (PTS 65), Berlin u.a. 2009, 153–206. 29 In den letzten Jahrzehnten des 4. und den ersten des 5. Jh.s hatte eine rege und weitreichende Übersetzungstätigkeit an der Schule eingesetzt. Bei der an der Schule der Perser geleisteten Übersetzungsarbeit traten die Werke Diodors von Tarsus und Theodors von Mopsuestia in den Mittelpunkt. Man hatte bereits im Jahre 428 fast alle Schriften Theodors ins Syrische übertragen. Vgl. Christian Lange, „Ich habe ein Streitgespräch geführt“, in: Tamcke/Hainz, Suryoye, 387–405, 404f. 30 ACO II 3,1 33,28–29. 31 Vgl. ACO II 1,3, 32,9–34,27; auch in den älteren Ausgaben Johannes D. Mansi, Sacrorum Conciliorum nova et amplissima collectio 7, 241–250 (griech./lat.), bzw. Jean Harduin, Acta Conciliorum Et Epistolae Decretales, Ac Constitutiones Summorum Pontificum 2, Paris 1714, 527–532 [griech./lat.], oder P. Labbé/G. Cossart/S. Baluze/J. Harduin, Sacrosancta concilia ad regiam editionem exacta 4, Paris 1671/72, 1573–1580 [griech./lat.]; dazu Henri Quentin, Jean-Dominique Mansi et les grandes Collections conciliaires, Paris 1900. 32 Vgl. ACO II 3,3 39,26–43,2. 33 Vgl. Flemming, Akten, 48,12–52,9/49,14–53,12 [T./Übs.].

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Ibas von Edessa

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Wahrscheinlichkeit sogar das Amt des Bischofs ausübte.34 Ibas pflegte offenbar mit ihm weiterhin freundschaftliche Beziehungen, die ihn veranlassten, den Bischof in der Ferne über die Kontroversen im Imperium Romanum zu informieren und die Wahrheit der Lehre darzulegen. In die auf eine blumige und verzierende, aber auch auf eine formelhafte Sprache verzichtende narratio über die reichskirchliche christologische Kontroverse sind konstatierende Teile eingestreut, in denen Ibas die differierenden christologischen Standpunkte darlegt und gleichermaßen seinen eigenen Standpunkt zum Ausdruck bringt.35 Ibas formuliert als grundlegendes Bekenntnis: zwei Naturen, eine Person, eine Kraft.36 Diese formelhafte Aussage drückt für den edessenischen Kirchenmann den wahren Glauben aus und erfasst das Geheimnis Jesu Christi umfassend. 37 Ibas bekennt sich damit grundlegend zu den zwei Naturen in Christus, dem Proprium antiochenischen Denkens, das den Gottessohn als zwei selbständige physische Ganzheiten denkt. Diese Auffassung liegt vor allem in dem Anliegen begründet die Transzendenz Gottes zu wahren und der Missachtung der Integrität der menschlichen Natur vorzubeugen. Immer wieder beteuert Ibas zudem mit Wendungen wie „das ist der eine Sohn, der Herr Jesus Christus“38 und „der eine Sohn Jesus Christus“39 die Einheit des Gottessohnes. Mit den Begriffen μία δύναμις und ἓν πρόσωπον will er in der formelhaften Aussage des Briefs die Einheit glaubhaft machen. Es ist der Begriff des πρόσωπον, der in der antiochenischen Christologie die Einheit des in zwei Naturen existierenden Christus als das Ergebnis und den Zustand der Naturenvereinigung ausdrückt.40 Er meint die konkrete Form, in der eine Natur bzw. die ihr grundgelegte Hypostase ansichtig wird und erscheint. Mit dem Begriff der Kraft nimmt Ibas eine weitere Begrifflichkeit zur Verdeutlichung dieser auf, die in dieser Zeit aber noch nicht im Mittelpunkt christologischer Begriffssprache stand. Wohl sah sich Ibas aus der Kritik, Jesus Christus in zwei Söhne aufzuspalten, heraus veranlasst, mit einer weiteren Begrifflichkeit diesem Vorwurf entgegenzutreten. Es ist der von Ibas bei der Untersuchung in Tyros anathematisierte Nestorius (ca. 381–451/3), der den Begriff im gleichen Kontext verwendete.41 Die Übernahme des Begriffs ist wohl vordergründig nicht aus dem Bewusstsein einer Nestoriusrezeption heraus geschehen, vielmehr ist damit das ernsthafte Bemühen um inhaltliche Klärung verbunden.42

                                                            

34 „[…] und Mari der Bischof von Fars […].“ Ibas, Bischof von Edessa, schrieb Mari, was zwischen Nestorius und Kyrill passierte: Chronik von Se‘ert 2,1, publ./trad. Addaï Scher, Histoire Nestorienne (PO 7 Fasc. 2), Paris 1911, Nachdruck Turnhout 1950, 117. Zu Mari vgl. Rammelt, Ibas, 50–54. 35 Zu den Briefformalia Rammelt, a.a.O., 62–79. 36 ACO II 1,3 33,1–2. 37 Zur Christologie des Ibas Claudia Rammelt, Überlegungen zur Christologie des Ibas von Edessa, in: Tamcke/Heinz, Suryoye. FS Hage, 267–280; Dies., Ibas, 80–110. 38 ACO II 1,3 33,2. 39 ACO II 1,3 34,25. 40 Der vor allem durch Theodor geprägten Formel galt in den Untersuchungen stets ein großes Interesse und wurde immer wieder diskutiert. Vgl. beispielsweise Luise Abramowski, Zur Theologie Theodors von Mopsuestias, in: ZKG 72 (1961), 263–293, 263–266; Bruns, Den Menschen mit dem Himmel verbinden, 210–218; Simon Gerber, Theodor von Mopsuestia. Studien zu den katechetischen Homilien (VigChrSup 51), Leiden-Boston-Köln 2000; Grillmeier, Jesus der Christus 1, 622–634. 41 Vgl. Friedrich Loofs (Hg.), Nestoriana. Die Fragmente des Nestorius, Halle 1905, 196,15. 42 Anders als Theodoret von Kyros (393–457) verband Ibas keine Freundschaft mit Nestorius. Bereits in seinem Brief distanziert sich Ibas immer wieder vom Patriarch in Konstantinopel.

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Das Bild von der Einwohnung und die Negierung der Leiden des Gottessohnes explizieren den christologischen Grundsatz des Ibas genauso wie sein mariologisches Verständnis.43 Wenn Ibas den einwohnenden Teil der transzendenten Sphäre zuordnet und der Tempel als Ausdruck für die Menschheit dient, dann wird das Bild gewissermaßen zum Vehikel für die Naturenzweiheit; gleichermaßen veranschaulicht es die Natureneinheit, denn der Tempel und der einwohnende Logos sind eins. Die im Gottesbild begründet liegende Unterscheidung παθητός – ἀπαθής zeigt die Naturenzweiheit in Christus an und führt unweigerlich zur Negierung des Theopaschismus. Die Menschheit Christi hat am Kreuz gelitten, doch blieb der Logos von jeglicher Destruktion verschont. Maria kann für Ibas im Anschluss an Theodor von Mopsuestia im übertragenen Sinn durchaus als Gottesgebärerin bezeichnet werden, so dass ihm die Annahme dieses umstrittenen Ausdrucks keinerlei Schwierigkeiten bereitete. Wiederholt hatte sich der edessenische Bischof für die Aussage: „Ich beneide Christus nicht, dass er Gott geworden, denn ist er es geworden, bin ich es geworden, denn er ist von meiner eigenen Natur“44 zu verantworten.45 Die Ibas zugeschriebene Sentenz erregte die antiochenischen Widersacher in Edessa und verhärtete die Fronten in der nordmesopotamischen Metropole. Die Quellen provozieren das Bild, dass nicht in dem Bekenntnis zu den zwei Naturen, sondern in dieser Aussage der Grund für die Verurteilung des Ibas lag. Der Aussagegehalt verdeutlicht, was passiert, wenn christologische Aussagen verkürzt und pervertiert dargestellt bzw. Gedanken ineinander geschachtelt werden: Der erste Halbsatz scheint einen Überlegenheitsanspruch auszudrücken. Dadurch wäre eine ehrfurchtsvolle Begegnung zwischen dem grammatikalischen Subjekt Mensch und dem grammatikalischen Objekt Christus nicht möglich, die Ibas aber wichtig ist. Der zweite Halbsatz entwirft Christus als Gott gewordenen Menschen. Die theologischen Wurzeln einer solchen Annahme reichen weit hinter die christologischen Streitigkeiten des 5. Jh.s zurück. Es war Paul von Samosata (ab 260 Bischof von Antiochia), der die wesenhafte Gottheit in Christus negierte und im Gottessohn einen einfachen Menschen sah. Ibas war bestrebt, nicht mit dem Samosatener in Zusammenhang gebracht zu werden und setzt ihn mit Nestorius gleich.46 Doch befreit Ibas nicht diese hölzerne Abwehr, sondern sein dyophysitisches Bekenntnis. Schließlich greift der Ausspruch die Bedeutung des Heilswerks Christi für den gläubigen Menschen auf: jeder Mensch kann Gott werden. Im Hintergrund steht sicher die Teilhabechristologie Theodor von Mopsuestias, nach der der Mensch an der Unverweslichkeit des Leibes und der Unwandelbarkeit der Seele durch die Auferstehung des Gottessohnes Anteil gewinnt. Doch erscheint sie verkürzt und lässt die eigentlichen theologischen Gedanken nicht verstehen. Es ist zu bezweifeln, dass Ibas mit dem Spruch eine adoptianistisch-nestorianische Christologie ins Spiel bringen wollten, vielmehr ist dem Bischof Glauben zu schenken, der sich als Vertreter einer klassisch antiochenischen Christologie verstand und den Ausspruch vehement abwehrte.

                                                            

43 Vgl. zu den einzelnen Punkten ausführlich Rammelt, Ibas, 90–100. 44 ACO II 1,3 27,3–4. Diese Formel ist singulär und begegnet in verschiedenen Fassungen in den unterschiedlichen Quellen. 45 Ausführlicher Rammelt, Ibas, 100–110. 46 Ibas schrieb im Brief: „Nestorius sagt nämlich […], daß die selige Maria nicht Gottesgebärerin ist, so daß viele glauben, daß er aus der Häresie des Paulus von Samosata sei […].“ ACO II 1,3 32,18–21.

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4. Ibas innerhalb der christologischen Debatte Zu Jesus Christus bekannten sich die Christen seit Anbeginn. Vorerst bewahrte man die christologischen Grundaussagen als depositum fidei, indem man sie positiv verkündete. Im Laufe intensiver theologischer Beschäftigung entwickelten sich die unterschiedlichsten Vorstellungen, die versuchten die Person Jesu Christi und seine Heilstat zu erfassen und zu beschreiben. Aber es war zunächst das Problem des Verstehens Gottes als Vater, Sohn und Heiliger Geist, das auf der großkirchlichen Ebene virulent geworden war und einer Lösung bedurfte. Die dabei immer mitschwingende christologische Diskussion kam mit Apollinaris von Laodicea (gest. 390) ins öffentliche theologische Fahrwasser und spitzte sich zunehmend zu. Die in der Literatur als Schule von Alexandrien und Schule von Antiochia bezeichneten christologischen Haltungen rangen um die Wahrheit. Ein Konzil wurde schließlich aufgrund der Auseinandersetzung um den geeigneten Titel für Maria durch Kyrill von Alexandrien (378–444) und Nestorius (um 381–453), Bischof von Konstantinopel, unausweichlich. Während Nestorius von Maria als der Christusgebärerin (χριστοτόκος) sprach, bezeichnete Kyrill Maria als Gottesgebärerin (θεοτόκος). Nach dem Konzil von Ephesus im Jahr 431 standen sich die Positionen weiterhin unvermittelt gegenüber. Auch in der antiken Metropole Edessa hatten sich die konträren christologischen Positionen etabliert. Die antiochenische Tradition wurde von der Schule der Perser gelehrt, was zweifelsohne auch mit den Übersetzungen der Werke Diodors und Theodors in Verbindung steht. Sprachbarrieren zogen in dem Fall nicht Abgrenzungsprozesse nach sich, sondern wurden produktiv angegangen, um griechische Theologie im syrischen Milieu auch über die Grenzen Edessas hinaus transparent zu machen als Prozess, der Edessa allzeit eigen war. 47 Der Rezeptionsprozess der alexandrinischen Haltung steht und fällt mit dem Mönchsbischof Rabbula, der zum Protektor der alexandrinischen Haltung spätestens nach dem Konzil von Ephesus im Jahre 431 wurde.48 Über die Gründe der Annahme hat man viel gemutmaßt. Schließlich sind sie nicht monokausal bestimmbar, sondern so komplex, wie die damaligen gesellschaftlichen Umstände und das Leben selbst. Der Gesinnungswechsel bleibt bei allen versuchten Beweis schließlich ein zu beobachtendes Phänomen, 47 Vgl. Sebastian Brock, From Antagonism to Assimilation. Syriac Attitudes to Greek Learning, in: N. Garsoïan u.a. (Hg.), East of Byzantium. Syria and Armenia in the Formative Period, Washington 1982, 17–34; Drijvers, School of Edessa, 49–59. Den griechischen Geist im Denken Ephräms macht Ute Possekel, Evidence of Greek Philosophical Concepts in the Writings of Ephrem the Syrian (CSCO 580 Subs. 102), Louvain 1999 aus. Anders Johannes Chrysostomus (gest. 407): Er bevorzugte auf Griechisch zu predigen und verschmähte das Syrische, um seine soziale Stellung anzuzeigen. Vgl. Martin Illert, Johannes Chrysostomus und das antiochenische Mönchtum. Studien zu Theologie, Rhetorik und Kirchenpolitik im antiochenischen Schrifttum des Johannes von Chrysostomus, Zürich 2000, 73. 48 Der Bericht des Hagiographen spricht nur im Rahmen seiner Schilderung der Maßnahmen gegen die Ketzer über die christologische Position Rabbulas und stellt die kyrillische Prägung als Selbstverständlichkeit dar (J. Joseph Overbeck (Hg.), S. Ephraemi Syri, Rabulae Episcopi Edesseni, Balaei aliorumque opera selecta, Oxonii 1865, 195), obgleich die theologische Prägung Rabbulas dies nicht zuvorderst nahelegt. Rabbula führte nach seiner Bekehrung ein intensives Glaubensgespräch mit dem Bischof Eusebios von Qennešrin und Akakios von Beroea (gest. zwischen 432 und 437), Geistlichkeiten, die von der antiochenischen Theologie geprägt waren. Nach einer Aussage des Ibas soll Rabbula die Schriften Theodors gelesen und sogar verehrt haben (ACO II 1,3 33,36f). Das unterstützt auch ῾Arbaya, Cause de la Fondation, 380.

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das Rabbula mit anderen Bischöfen seiner Zeit gemeinsam ist.49 Rabbula übernahm ohne Umschweife die Haltung des Kyrill, die für ihn über die Jahre der Bezugspunkt bleibt, währen die Lehre des Nestorius und des Theodor von Mopsuestia dagegen mit Vehemenz abzuwehren sind. Die renommierten Meinungsträger hatten in der Stadt nicht nur ihre christologische Position bezogen und versuchten diese zu bewahren, sondern nicht lange nach dem Konzil von Ephesus im Jahre 431 bestimmte eine offene Feindschaft und Auseinandersetzung die Situation.50 Ibas spricht in seinem Brief an den Perser Mari davon, dass Bischöfe mit Bischöfen in Streit gerieten und Volksmengen mit Volksmengen und es erfüllte sich, was geschrieben steht, dass die Feinde eines Mannes seine Hausgenossen sein sollen.51 Diese Beschreibung steht sicher mit Rabbulas Bestrebungen in Zusammenhang, der den religiösen Wettbewerb und den Kampf um die wahre Überzeugung forciert hatte. Das durch die Quellen provozierte und durch die Forschung vertiefte Bild, dass Rabbula der unterdrückten, aber doch rechtmäßigen alexandrinischen Position nur zu ihrem Recht verhelfen wollte, ist der Ausgangspunkt aller Bestrebungen. Zur Durchsetzung seiner Ziele scheute Rabbula nicht davor zurück, mit Gewalt vorzugehen. Ibas bezeichnet ihn als „Tyrannen der Stadt“52 in seinem Brief an den Perser Mari. Damit wird das Verhalten von seinem Konkurrenten deutlich charakterisiert. Rabbula sah hingegen das kirchliche Leben durch den Arius redivivius bedroht. So anathematisierte er Theodor von Mopsuestia als die Wurzel des Übels vor der gesamten Gemeinde und sprach den Bann über alle die aus, die Theodors Schriften lasen oder besaßen.53 Auch soll Rabbula als Zeichen der Verabscheuung die Bücher Theodors verbrannt haben.54 Seine bischöfliche Würde ließ ihn nicht nur überzeugt sein, mit seinen Maßnahmen gegen seine theologischen Kontrahenten rechtmäßig zu handeln,55 sondern bot ihm gleichermaßen das Instrumentarium für diese Schritte.56 Der Ausgang des Konzils des Jahres 431 legte das eigentlich nicht nahe57 und auch das administrative Zentrum Antiochia billigte Rabbulas Verhalten nicht. Der Patriarch von Antiochien Johannes (Bischof von 428–441) sah sich dazu angehalten, diese unlautere Verfolgung zu unterbinden. In einem Schreiben forderte er die Bischöfe der Osrhoëne auf, sich der Gemeinschaft mit ihrem Bischof zu enthalten.58 Vor allem aber

                                                            

49 Bischöfe einstiger antiochenischer Überzeugung wie Akakios von Melitene (gest. 438) werden zu vehementen Verteidigern der alexandrinischen Christologie. Auch noch in späterer Zeit begegnete beispielsweise in der Gestalt des Philoxenos von Mabbug (gest. 523) ein Theologe, der trotz der Prägung der edessenischen Lehranstalt für die miaphysitische Gesinnung eintrat. 50 Vgl. Rammelt, Ibas, 115–128. 51 Vgl. ACO II 1,3 33 18f. 52 ACO II 1,3 33,26. 53 Vgl. ACO I 4,2 86,29–31. 54 Vgl. ῾Arbaya, Cause de la Fondation, 381. 55 Blum, Rabbula 173f, rechtfertigt das Verhalten Rabbulas als konsequente Reaktion, die den tiefsten Lebensnerv der theologischen Rivalen entscheidend treffen wollte. 56 Zur Exkommunikation in der Alten Kirche: Walter Doskocil, Art.: Exkommunikation, in: RAC 7, Stuttgart 1969, 1–22; Ders., Der Bann in der Urkirche. Eine rechtsgeschichtliche Untersuchung (MThS.K 3/11), München 1958; Alfons Gommenginger, Bedeutet die Exkommunikation Verlust der Kirchengliedschaft, in: ZKTh 73 (1951), 1–71. 57 Letztlich waren die Verhandlungen im Jahre 431 ergebnislos vom Kaiser aufgelöst worden. Vgl. Grillmeier, Jesus der Christus 1, 687–693. 58 Vgl. ACO 1 4 87,9–18.

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forderte Johannes, dass Rabbula für sein Verhalten büßen muss. Rabbula war zur Buße nicht wirklich bereit. In seinen Briefen bringt er einmal mehr zum Ausdruck, dass er allein in der alexandrinischen Christologie die Wahrheit erblickt und für diese unerbittlich kämpfen würde. Im Zusammenhang der Unionsbemühungen kann sich Rabbula dann für kurze Zeit entschließen, die Maßnahmen gegen seine theologischen Gegner zu stoppen. Ibas freut sich in seinem Brief über den Abschluss der Unionsformel.59 Die Freude ist sicher vordergründig darin begründet, dass die erduldeten Verfolgungen und Verbannungen durch Rabbula mit der Übereinkunft ein Ende bereitet wurden.60 Darüber hinaus fand die Freude ihre Grundlage darin, dass Ibas seine christologische Grundhaltung in der Unionsformel verwirklicht sah.61 Der alexandrinischen Position war in den Augen des Ibas der Stachel genommen und ihre Vertreter trugen nunmehr „das Gegenteil ihrer früheren Lehre“62 vor. Völlig außer Acht lässt Ibas die kirchenpolitische Dimension der Entscheidung. Dass Nestorius geopfert worden war, tangierte ihn nicht. Während Ibas die Unionsformel mit all ihren Konsequenzen als Ausdruck des göttlichen Heilsplans anerkennt, ruft Rabbula schon bald nach der Übereinkunft zu einer erneuten Offensive auf.63 Der edessenische Bischof trug die Feindseligkeit gegenüber der antiochenischen Haltung über die Diozösangrenzen nach Armenien hinaus, ein Schritt, der nicht nur seine Entschlossenheit, sondern vor allem auch die Bedeutsamkeit des Kampfes um die rechtgläubige christologische Position zeigt. Im Jahre 435 verstirbt der Mönchsbischof. Ein Bischofswechsel steht in dieser Situation an. Diesen kann klar die antiochenische Seite für sich ausmachen. Ibas wird als Nachfolger gewählt. Die antiochenischen Kräfte fanden nun nicht mehr nur in der Institution der Perserschule Rückhalt, sondern wurden auch durch den bischöflichen Würdenträger gestützt. Doch verstummte die alexandrinische Position in der nordmesopotamischen Metropole nicht. Mutmaßlich allerdings durch äußere Kräfte angeregt, waren die verbliebenen Erben Rabbulas bestrebt, die antiochenische Dominanz zu brechen.64 Ibas wurde zur Angriffsfläche, seine Rechtgläubigkeit angezweifelt. Edessenische Kleriker, Adlige und Beamte beschwerten sich beim Patriarchen Proklos von Konstantinopel (ca. 390–446/7). Aus dem Antwortschreiben des Proklos an die Edessener kann rekonstruiert werden, dass Ibas zum Erweis seiner Rechtgläubigkeit das von Proklos verfasste Lehrschreiben an die Armenier unterzeichnen und mit angehängten Capitula Theodor von Mopsuestias verwerfen soll.65 59 60 61 62 63

Vgl. ACO II 1,3 34,15f. Vgl. ACO II 1,3 34,21f. Vgl. ACO II 1,3 34,23–25. ACO II 1,3 34,23. Vgl. Rammelt, Ibas, 139–142. Zu den Vorgängen in Armenien äußerten sich Blum, Rabbula,182–195, vor allem aber die Aufsätze von Vahan Inglizean, Die Beziehungen des Patriarchen Proklus von Konstantinopel und des Bischofs Akakios von Melitene zu Armenien, in: OrChr 41 (1957), 35–50, und Gabriele Winkler, Die spätere Überarbeitung der armenischen Quellen zu den Ereignissen der Jahre vor bis nach dem Ephesinum, in: OrChr 70 (1986), 143–180, ebenso Josef Rist, Proklos von Konstantinopel und sein Tomos ad Armenios. Untersuchungen zu Leben und Wirken eines konstantinopolitanischen Bischofs im V. Jahrhundert, Würzburg 1993. 64 Dass Dalmatius die Vorgänge in Edessa angestachelt hat, macht Abramowski wahrscheinlich. Vgl. Luise Abramowski, Der Streit um Diodor und Theodor zwischen den beiden ephesinischen Konzilien, in: ZKG 67 (1955/1956), 252–287, 269. 65 Vgl. ACO IV 1 140,30–143,7 sowie auszugsweise 112,7–113,32. Der nur in Fragmenten erhaltene Brief

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Nicht mehr rekonstruierbare Vorgänge ließen die Frage nach dem Tomus und den Capitula auf der Synode der Diozöse Antiochia verhandeln, so dass die Antwort nicht mehr allein bei Ibas lag.66 So nahm Ibas wie auch die Synode den Tomus an, nicht aber die Capitula. Gegen diese synodale Entscheidung vermochte eine einzelne Beschwerde nichts auszurichten, so dass die Ankläger aus Edessa nicht den erhofften Erfolg erlangten.67 Die Quellen schweigen über die Ereignisse in den nächsten Jahren, gerade so, als ob die christologische Frage nach diesem gescheiterten Versuch zugunsten der antiochenischen Position geklärt worden wäre. Doch das Bild trügt. Als durch Personen wie Eutyches gest. nach 454) und Chrysaphios, Alexander von Doryläum und Flavian von Konstantinopel (gest. 449) die Spannungen auf reichskirchlicher Ebene neu aufbrachen, entflammten diese auch wieder in Edessa mit neuer Schärfe.68 Vier edessenische Kleriker klagten Ibas ob seiner Rechtgläubigkeit und Rechtschaffenheit an.69 Um ähnliche Ergebnisse wie in den Jahren zuvor zu vermeiden, unterliefen diese die Diözesanregierung. Sie wandten sich direkt an den Kaiser als höchste Instanz der Entscheidungsfindung, der einen Kommissar einsetzte und ihn mit Untersuchungen im Fall Ibas betraute.70 Orte der Verhandlungen waren Tyros und Beirut, wo sich eine ganze Kommission im Frühjahr und im Herbst 448 mit dem Fall Ibas auseinandersetzte.71 Die Ankläger hatten nunmehr eine ganze Anklageschrift verfasst. Diese bestand interessanterweise allein aus Anklagen, die die Rechtschaffenheit des Ibas betrafen. Nur in einem Punkt wurde die Frage der Christologie aufgegriffen.72 Anders jedoch während der Verhandlungen in Beirut und Tyros selbst. Das Zentrum ihrer Anklage bildete dort der Ausspruch: „Ich beneide Christum nicht […].“ Für diesen hatte sich Ibas bei heftigen Diskussionen zu verantworten. Es gelang in Beirut nicht, Ibas zu überführen, genauso wenig in Tyros. Die Kommission stellte die Rechtgläubigkeit und die Rechtschaffenheit des edessenischen Bischofs fest, obgleich ihre Zusammensetzung das hätte nicht vermuten lassen. Vielmehr legte sie nahe, dass die Verhandlungen einen tendenziösen Charakter annehmen, der unweigerlich zu einer Verurteilung des Ibas führen würde. Die Kommission verpflichtete hingegen beide Parteien, Frieden zu wahren und ließ den Prozess fallen. Durch die Untersuchungen in Beirut und Tyros hatten die Widersacher die Kontroverse

                                                            

66 67 68 69 70 71 72

wird als dritter Brief des Proklus gezählt und ist der einzige Brief des Patriarchen von Konstantinopel an Johannes von Antiochien. Vgl. Abramowski, Streit, 252–287. Vgl. Rammelt, Ibas, 146–152. Vgl. a.a.O., 153–180. Vgl. zu den Vorfällen ACO II 1,3 20,34–21,8 und Flemming, Akten, 38,27–42,7/39,36–43,14 [T./Übs.]. Vgl. ACO II 1,3 19,6–24. Verhandlungsakten: Tyros ACO II 1,3 14,10–16,8 [griech.] bzw. 3,3 17,1–19,25 [lat.]; Beirut ACO II 1,3 19,25–34,27 [griech.] bzw. 3,3 23,23–43,2 [lat.]. Vgl. ausführlich zu den Ereignissen Rammelt, a.a.O., 153–180. Vgl. ACO II 1,3 22,30–23,12. Während sich dreizehn Anklagen explizit mit den vermeintlichen Straftaten des Ibas beschäftigen, behandeln weitere vier bzw. fünf das unlautere Verhalten Daniels von Harran nebst seiner Frau und die Einstellung des Ibas dazu. Anscheinend sah man nicht zuletzt aufgrund der verwandtschaftlichen Beziehung ihr Verhalten so eng verknüpft, dass eine Verschachtelung beider Verfahren möglich war. Inhaltlich betreffen die Anklagen gegen Ibas maßgeblich Fragen der Veruntreuung von Geldern, der Unterschlagung von Kirchengeräten sowie Probleme hinsichtlich des ungehörigen Umgangs mit Klerikerweihen, Delikte, die eine Untersuchung unabdingbar machen sollten.

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nicht nur zur einer Angelegenheit des Imperiums werden zu lassen, vielmehr war er personalisiert worden anstatt sich mit der antiochenischen Position an sich auseinanderzusetzen. Frieden fand Edessa vorerst nicht, ganz im Gegenteil. Die gesamte Stadt schien im April des Jahres 449 in Aufruhr versetzt gewesen zu sein.73 Ibas erscheint als Exemplum der Häresie, einer hybrischen Lebensweise und der Unfähigkeit der Amtsverwaltung. Protokolle innerhalb der syrischen Konzilsakten des letzten Verhandlungstages auf dem Konzil von Ephesus im Jahre 449 informieren über die tumultartigen Ereignisse und geben einen lebendigen Eindruck. Kurz soll nun skizziert werden, was passierte: Den Beginn stellt das Eintreffen des Comes und Richters der Osrhoëne namens Chaireas am 12. April 449 Edessas dar. Die exakte Vorgeschichte dafür muss allerdings im Dunkeln bleiben. Doch sind die Stadtbewohner über sein Kommen informiert, empfangen ihn an einem der Stadttore und führen ihn zur Märtyrerkapelle des Zakarius. Dort begannen die versammelten Archimandriten, Mönche, Weiber und Männer sowie andere Stadtbewohner zu akklamieren. Zunächst erbrachte die Menge den Kaisern Theodosius und Valentian zahlreiche Ehrerweisungen. Diese waren typisch für provinziale Akklamationsprotokolle mit denen auf weitere Persönlichkeiten der Provinz zu einem Block zusammengebunden.74 Erst nach dieser langen Reihe von Anerkennungen wandten sich die Versammelten dem eigentlichen Anliegen zu: „Ein anderer Bischof für die Metropolis!“ 75 Im Mittelpunkt der Akklamationen dieses ersten Tages stand die Forderung der Absetzung des Ibas. Bei der Absetzungsforderung blieben die Akklamanten nicht stehen. Sie forderten die Verbannung des Ibas,76 genauso wie seine Versetzung ins Bergwerk.77 Sie ersuchten, ihn ins Stadion zu werfen.78 Die Akklamationen kulminieren in der Forderung Ibas und seine Sippschaft zu verbrennen.79 Die Akklamationen wurden am 14. April fortgesetzt.80 An diesem Tag betrat anfangs ein kleinerer Kreis das Büro des Chaireas. 81 Ausschließlich Kleriker, Archimandriten, Mönche und Söhne des Bundes hatten sich versammelt, um ihr Wissen zu Protokoll zu geben.82 Die Unterredung dauerte nicht lange an, denn bald drängten Handwerker und Einwohner Edessas ins Büro, woraufhin erneute Rufe einsetzten, deren Mittelpunkt wiederum die Absetzung des Ibas bildete. Der Anklagekatalog ist an diesem Tag sehr umfangreich. Wieder betreffen die Vorwürfe die Rechtschaffenheit und Rechtgläubigkeit des edessenischen Bischofs.83 Summarisch werden in einem weiteren Protokoll die Akklamationen der 73 Vgl. Flemming, Akten, 14,26–31/15,35–40 [T./Übs.]. Ausführlich zu den Ereignissen Rammelt, Ibas, 180–212; Dies., Christologische Positionierung als religiöses Alltagsgeschäft in Edessa?, in: Peter Eich/Eike Faber (Hg.), Religiöser Alltag in der Spätantike (PAwB 44), Stuttgart 2013, 127–143. 74 Vgl. Flemming, Akten, 14,32–16,13/15,42–17,17 [T./Übs.]. Vgl. Hans-Ulrich Wiemer, Akklamationen im spätrömischen Reich. Zur Typologie und Funktion eines Kommunikationsrituals, in: Archiv für Kirchengeschichte 86 (Heft 1 Sonderdruck), 27–73, 41. 75 Flemming, Akten, 16,13/17,17f [T./Übs.]. 76 Vgl. a.a.O., 26,7/27,10 [T./Übs.]. 77 Vgl. a.a.O., 20,7/21,10 [T./Übs.]. 78 Vgl. a.a.O., 18,20/19,27f [T./Übs.]. 79 Vgl. a.a.O., 16,22/17,28 [T./Übs.]. 80 Vgl. a.a.O., 16,24–27/17,31–37 [T./Übs.]. 81 Vgl. a.a.O., 16,24.28/17,31.36 [T./Übs.]. 82 Vgl. a.a.O., 16,25f/17,34f [T./Übs.]. 83 Insbesondere brachte die Menge Vergehen des Ibas gegen den wahren Glauben vor: „Den Nestorius nimmt niemand!“ A.a.O., 16,37/19,1f [T./Übs.]) Neben diesen Vergehen gegen den Glauben wurden auch immer wieder Vorwürfe wegen Defiziten in der Verwaltung lautstark artikuliert: „Was der Kirche

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nächsten drei bis vier Tage zusammengefasst.84 Neben den Akklamanten fand sich ein kleinerer Kreis zusammen, der mit Chaireas in speziellere Verhandlungen trat. Eine solche Verhandlung über Ibas fand wohl erstmalig am Freitag, den 15. April in einem Kreis statt, der neben Klerikern und Mönchen aus kaiserlichen und lokalen Verwaltungsbeamten Edessas bestand.85 Als Wortführer traten die Kleriker und Mönche auf, die auch schon am Vortrag im Büro des Chaireas von ihrer Sache überzeugen wollten. Von der ersten Sitzung bzw. von diesem ersten Verhandlungstag sind leider keine Protokolle überliefert, die den Gesprächsverlauf nachvollziehen lassen. Anscheinend stand aber wie auch am folgenden Tag das Drängen im Vordergrund, eine Bittschrift an die hohen Ämter weiterzuleiten, diese über die Ereignisse in der Stadt zu informieren und damit ein erneutes Verfahren gegen den Bischof aufzurollen. Auch am folgenden Tag traten Kleriker und Mönche mit den Verwaltungsbeamten zusammen, um die Vorwürfe gegen Ibas zur Sprache zu bringen.86 Ein Presbyter namens Mikallos übernahm die Sprecherrolle der Kläger. Seine Standhaftigkeit beweist, dass er zu den führenden Persönlichkeiten im Kampf gegen die „nestorianische“ Häresie gehörte. Er relegiert erneut auf eine Bittschrift, die angenommen, verlesen und in die Akten gelegt werden soll.87 Ziel ist die Absetzung des Bischofs, die von den Behörden in Konstantinopel erwirkt werden soll. Der Comes Chaireas äußert seine Bedenken, erneut eine Meldung an die obersten Ämter ergehen zu lassen, denn es ist bereits alles gesagt.88 Trotzdem hält der Presbyter Mikallos seine Bitte aufrecht. Um für den Comes eine Weiterleitung unumgänglich zu machen, bedienten sich die anwesenden Personen des Eidschwures. Mikallos beschwor „mit dem anbetungswürdigem Eide bei Gott dem Allmächtigen, seinem Gesalbten und seinem heiligen Geiste, und bei dem Sieg unserer barmherzigen Herren, der Flavius Theodosius und Flavius Valentinianus, der Augusti in Ewigkeit, daß diese unsere Bitte den großen Ämtern bekannt gegeben werde: damit der Aufruhr, der die Stadt und die heilige Kirche ergriffen, und der Zustand, daß bei uns täglich hinsichtlich derselben Angelegenheit verhandelt wird, sein Ende finde.“89 Chaireas verfügte über keinerlei Potential, die aufgewiegelten Widersacher einzudämmen. Er schreibt unter Druck Briefe und der zweite Verhandlungstag endete mit einem zufrieden stellenden Ergebnis für die Bittsteller.90 Am Sonntag fanden keine Verhandlungen statt, doch kam es zu Tumulten während des Gottesdienstes.91 Diese müssen entstanden sein, als die Gottesdienstbesucher von den Anklagen und Untersuchungen in Beirut und Tyros erfahren hatten. So forderten die Gläubigen noch während des Gottesdienstes, über alle Vorgänge in Kenntnis gesetzt zu werden. Es gelang schließlich nur deshalb Ruhe herzustellen, weil Chaireas und Theodosius sich

                                                             gehört, möge der Kirche zurückgegeben werden!“ (ebd., 16,14f/17,19f [T./Übs.]) 84 Vgl. Flemming, Akten., 24,25/25,36 [T./Übs.]. 85 Sicher war zu diesem ersten Verhandlungstermin ein ähnlicher Personenkreis wie am folgenden Tag zusammengetreten. Vgl. a.a.O., 22,2–5/23,3–7 [T./Übs.]. 86 Ebd. 87 Vgl. a.a.O., 22,6–11/23,8–16 [T./Übs.]. 88 Vgl. ebd. 89 A.a.O., 28,2–6/29,4–10 [T./Übs.]. 90 Vgl. a.a.O., 32,27–34,17/33,31–35,22 [T./Übs.]. 91 Vgl. a.a.O., 34,21–36,12/35,27–37,12 [T./Übs.].

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einverstanden erklärten, die Sache erneut zu verhandeln. Am Montag setzte sich ein erweiterter Personenkreis nochmals mit der Angelegenheit auseinander.92 Während in den ersten beiden Verhandlungen lediglich die vehemente Forderung nach Weiterleitung von Bittschriften und Schreiben an die höheren Ämter in den Mittelpunkt getreten war, bildete jetzt eine Prüfung der Angelegenheit den Kern der Gespräche. Die Sachverhalte sollten frei dargelegt werden und die ehemaligen Ankläger von Konstantinopel, die sich in diesen Wirren auffällig zurückgehalten hatten, die Vorwürfe vorbringen. Das Zentrum des Zwiespalts bildete der Ausspruch „Ich beneide Christum nicht […].“93 Schlussendlich erreichten die Ankläger samt der aufwiegelnden Menschenmenge ihr Ziel: Höhere weltliche Würdenträger wurden mehrfach über den Willen der Akklamierenden informiert und die Entscheidung in deren Hände gelegt, zweifelsohne mit der Erwartung, von ihnen anders als in Tyros und Beirut eine Absetzung des edessenischen Bischofs Ibas zu erwirken.94 Die Protokolle provozieren das Bild, dass die Bewohnerschaft Edessas in Aufruhr versetzt war und wer nur konnte, sich gegen den amtierenden Bischof stellte. Maßstab blieb der Lebensstil und die christologische Haltung seines Amtsvorgängers. In der Tat, wer immer in der Lage war, Akklamationen zu organisieren, konnte für sich beanspruchen, die gesamte Stadt zu repräsentieren, da sie als Ausdruck des Volkswillens galten. Letztlich konnte es sich aber nicht um die ganze Stadt handeln, die sich versammelt hatte und die Absetzung des Ibas forderte, denn den Akklamierenden stand eine Tradition gegenüber, die in Edessa fest verankert war. Während der sich steigernden Auseinandersetzung mit dem monastisch-klerikalen Milieu Rabbulas verfassten beispielsweise sechsundsechzig Kleriker eine Denkschrift zur Unterstützung des Ibas.95 Damit werden zahlenmäßig die Presbyter, Diakone und Hypodiakone übertroffen, die sich während der Verhandlungen im April gegen Ibas hervortaten. Das durch die Akten provozierte Bild Edessas als reinem Bollwerk alexandrinischer Christologie seit dem Episkopat Rabbulas kann bei genauem Studium des tendenziösen Aktenmaterials vor dem Hintergrund der Ereignisse mit aller Vorsicht relativiert werden. Letztlich gelang es den Erben Rabbulas erst dann wirklich die Oberhand zu gewinnen, als sich die Situation auf dem großkirchlichen Gebiet zugespitzt und eindeutig miaphysitische Kreise die Oberhand gewonnen hatten. Der Hass gegenüber dem edessenischen Bischof ist auf dem sogenannten Latrocinium 449 unverkennbar und kulminiert in dem Ausspruch der Synodalprotokolle: „Tötet Ibas!“96 Seine Exkommunikation ist die Folge, die von Dioskur, dem Patriarchen Alexandrias (gest. 454), formuliert97 und von der Synode einstimmig bekräftigt wird.98 Auf dem Konzil von Chalcedon im Jahr 451 veränderte sich 92 Neben den akklamierenden und bittenden Klerikern, Archimandriten und Mönche, die auch bei den Akklamationen anwesenden Römer, sodann die bereits die Bittschrift unterschriebenen Handwerker und lokalen Ratsleute hatten sich versammelt. Vor allem hatten sich die namentlich erwähnten Großwürdenträger der Stadt zu der Verhandlung eingefunden. Vgl. Flemming, Akten, 24,22–24/25,31–35 [T./Übs.] und 34,18f/35,24f [T./Übs.]. 93 Vgl. u. a. a.a.O., 42,17–46,27/43,26–47,34 [T./Übs.]. 94 Leider sind die von Chaireas abgefassten Berichte nicht überliefert und seine erneuten Mitteilungen bleiben im Dunkeln. Vgl. a.a.O., 53,9–14/55,12–19 [T./Übs.]. 95 Vgl. ACO II 1,3 35,1–37,37. 96 A.a.O.,, 54,30/55,42 (T./Ü.). 97 Vgl. a.a.O., 60,14–19/61,20–27 [T./Übs.]. 98 Vgl. a.a.O., 60,20–32/61,28–67,42 [T./Übs.].

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die Situation. Die Synode rehabilitierte den edessenischen Bischof und er konnte in sein Bischofsamt zurückkehren. 99 Dafür musste er die Glaubensentscheidung von Chalcedon anerkennen, 100 aber auch Eutyches und Nestorius verbannen. 101 Dies tat Ibas möglicherweise aufgrund des äußeren Drucks, vor allem aber erblickte er darin eine historische Aufgabe: In seinem Brief an den Perser Mari hatte er deutlich gemacht, dass ihm an der Einheit und dem Frieden innerhalb der Kirche gelegen ist und mit der Entscheidung von Chalcedon Wirklichkeit werden sollte. Dem konnte er sich nicht verschließen. Zudem kam Chalcedon seiner theologischen Überzeugung nahe, da die beiden Naturen auch nach der inkarnatorischen Einswerdung getrennt wurden. Indem der Hypostasenbegriff letztlich von dem der Natur gelöst worden war, konnte Ibas auch diesen Schritt mit vollziehen, ohne seinen grundlegenden Standpunkt aufzugeben.

5. Ibas von Edessa – ein Bischof zwischen den Fronten Ibas war zwischen die Fronten geraten, auch wenn er nach der Entscheidung von Chalcedon sein Amt nochmals bis zu seinem Tod im Jahre 457 ausüben konnte. Auf der Grundlage seines Wirkens und seines Schicksals erblickte Vööbus in Ibas den letzten Agitator antiochenischer Überzeugung;102 Bruns charakterisiert ihn als eifrigen Anhänger der traditionellen antiochenischen Christologie. 103 Ibas als klassischer Vertreter theodorianischer Überzeugungen beschritt innerhalb der christologischen Kontroverse aber auch den schmalen Weg der Vermittlungen, der sich ihm als geschichtliche Notwendigkeit auferlegte. Insofern ist Han Drijvers zuzustimmen, der in ihm „a moderate-minded scholar avoiding extrems […] with a solid knowledge of human character“104 erblickt. Doch gab er niemals wirklich seine grundlegende christologische Überzeugung auf. Ibas entschwindet nach seinem Tode nicht aus den nach Chalcedon aufkeimenden und schließlich lodernden Diskussionen um Jesu Christi. Die christologische Frage wurde nunmehr über die Abwehr von Traditionen geführt und avancierte zur Apologie der eigenen Position. Die Verständigungsversuche reduzierten sich auf Vorwürfe anstatt sich in einer konstruktiv-kritischen Auseinandersetzung über inhaltliche und terminologische Auffassungen auszutauschen und gegebenenfalls anzunähern. Die miaphysitische Seite wehrte in diesem Kampf alle Traditionen ab, die die Rede von den zwei Naturen nach der Einigung favorisierten. So ordneten sie auch Ibas als Häretiker ein. Als Vertreter der Lehre von den zwei Naturen und dem einen πρόσωπον gehörte Ibas in ihren Augen den gottlosen antiochenischen Theologen an, die dem Erzketzer Nestorius folgten und Chalcedon vorbereite-

                                                            

99 Die päpstlichen Legaten, Anatolius von Konstantinopel und Maximus von Antiochien gaben ein Votum ab (ACO II 1,3 39,23–40,17), das von fünfzehn weiteren Konzilsteilnehmern bekräftigt und teilweise ausgeweitet wurde (ACO II 1,3 40,18–42,18). 100 Vgl. ACO II 1,3 42,11–15. 101 Ebd. 102 Vgl. Vööbus, History, 25. 103 Vgl. Peter Bruns, Art.: Ibas von Edessa, in: LACL3, Freiburg i. Breisgau u.a. 2002, 346. 104 Han J. W. Drijvers, The Man of God of Edessa. Bishop Rabbula and the Urban Poor, in: Journal of Early Christian Studies 4 (1996), 235–248, 244.

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ten. Immer wieder erscheint der Bischof aus Edessa in den miaphysitischen Quellen und wird verketzert.105 Die römische Reichskirche war freilich bestrebt, den vermittelnden Anspruch des Dogmas von Chalcedon zu bestärken. In der Verurteilung der Extrempositionen des Nestorius und des Eutyches sollte dieser Weg Wirklichkeit werden. Dieser Vermittlungsanspruch wurde verwirkt, indem die Drei Kapitel verurteilt wurden, um den angeblich eingeschlichenen Nestorianismus in das Dogma von Chalcedon endgültig auszuschließen. Im Ringen um die miaphysitischen Kräfte im Osten des Reichs opferte das Konzil des Jahres 553 drei antiochenische Theologen Ibas von Edessa, eigentlich den Brief an den Perser Mari, Theodor von Mopsuetia und Theodoret von Kyros.106 Ibas wurde von der Verfasserschaft mittels zweifelhafter Argumentationen enthoben und dann dem Brief nestorianische Gedanken unterstellt. Zur Verteidigung nicht mehr fähig, mussten sie ein Urteil ertragen, das einem nur menschlichen Ziel, aber nicht der Wahrheit diente. Unter Preisgabe der antiochenischen Tradition wähnte man sich im vermittelnden Schoße. Eine solche Entwicklung hatte Chalcedon zu verhindern versucht; über hundert Jahre später wurde sie Realität. Trotzdem wurde das damit verbundene Ziel, eine einheitliche Reichskirche wieder zu erlangen, verfehlt. Könnte man nun meinen, dass diejenige Kirche, die das Bekenntnis von den zwei Naturen als Dogma festschrieb, seine Tätigkeit würdigt, dann trifft dies auch nicht wirklich zu.107 Ibas hatte die Schriften Theodors in die Sprache der sog. Kirche des Ostens übersetzt, sie über die Ereignisse im Imperium Romanum informiert und fungierte als Bindeglied zwischen Edessa und den persischen Gemeinden. Diese positiven Voraussetzungen und Anstrengungen verschwimmen in den Quellen der Kirche des Ostens bis dahin, dass für manche Autoren der edessenische Bischof gänzlich außerhalb des Blickfeldes steht. Bedeutsam sind für diese Autoren dann wieder die Ereignisse, die unmittelbar mit dem persischen Gebiet verbunden sind. Auffällig ist die genaue Kenntnis der Tätigkeit durch Ebedjesus (gest. 1318). Das Bild des scheinbar bedeutungslosen Bischofs steht wahrscheinlich mit den historischen und damit verbundenen theologischen Entwicklungen in Zusammenhang, die Ibas als Kapitel des „Westens“ erscheinen ließen. Der an der Einheit interessierte theodorianische Edessener hatte in den christologischen Wirren ein Anliegen vertreten und einen Kampf geführt, das sich nicht verwirklichen ließ. Wirkliche Bedeutung erlangte er deshalb in der Kirche nie. In Ibas begegnet ein Bischof zwischen Ost und West, zwischen Häresie und Orthodoxie, zwischen der Kirche des Ostens und der byzantinischen Reichskirche. Die aus der historischen Situation und den divergierenden Wahrheitsansprüchen erwachsenen konträren Haltungen gegenüber dem edessenischen Bischof sind auch weiterhin prägend. Die byzan105 So u. a. Jakob von Sarug (ca. 451–521). Eingebettet in die Darstellung der historischen Entwicklung aus miaphysitischer Sicht anathematisierte er Nestorius und seine Geistesverwandten, „hat damit das Anathema ausgesprochen über Diodor, Theodor, Ibas und den Tomus des Leo.“ Zitiert nach Taeke Jansma, Die Christologie Jakobs von Serugh und ihre Abhängigkeit von der alexandrinischen Theologie und der Frömmigkeit Ephraems des Syrers, in: Le Museon 78 (1966), 34 (= Jakob von Sarug, Epistulae, 85,14ff). Dazu auch Rammelt, Ibas, 243–255. 106 Vgl. ACO IV 1 219,23–220,5, deutsch zitiert nach Alois Grillmeier/Theresia Hainthaler, Jesus der Christus im Glauben der Kirche 2/2, Freiburg i. Br. u. a. 1989, 474; ausführlich Rammelt, Ibas, 267– 284. 107 Vgl. Rammelt, a.a.O., 255–267.

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tinische Reichskirche hatte in Konstantinopel im Jahre 553 mit der Konzilsentscheidung ein dauerhaftes Urteil über den Brief des Ibas an den Perser Mari gesprochen. Dessen Verurteilung bleibt aufgrund der Autorität der Konzilien Realität. Auch wenn durch die ökumenischen Dialoge das Dogma von Chalcedon und Konstantinopels 553 differenzierter beurteilt wurde, gibt es viele Stimmen, die daran festhalten. So auch die syrisch-orthodoxe Kirche vom Berg Libanon in Gestalt ihres Bischofs Saliba. Für die Kirche des Ostens ist Theodor von Mopsuestia der Kirchenvater schlechthin. Mar Narsai (gest. 2010), Bischof der Kirche des Ostens im Libanon, unterstrich in einem Gespräch das in der Geschichte begründete Verhalten und bekundete: „I studied a little bit and I came to the result that Hiba was in between. He accepted things from both sides.“108 Dies war und wird das bleibende Urteil über Ibas in der Kirche des Ostens bleiben. Selbst in historischen Betrachtungen, die den Anspruch auf Objektivität erheben, schwingen nicht selten Beurteilungen mit. So klassifiziert das große Universallexikon aller Wissenschaften und Künste Ibas als vornehmsten Beschützer des Nestorius und bewertet die Verurteilung des Konzils von Konstantinopel im Jahre 553 positiv.109 Eine historische Arbeit zeigt die Vielschichtigkeit der Ereignisse. Es kann nicht darum gehen, dadurch neue Wahrheitsansprüche aufzubauen. Vielmehr wollen die Ergebnisse zum Verstehen beitragen, damit im ökumenischen Dialog Wege der Verständigung möglich sind und Ibas nicht mehr als „nestorianischer“ Bischof beschimpft wird, sondern als Bischof zwischen den Fronten, der das Schicksal einer ganzen Epoche teilte.

                                                            

108 Das Gespräch fand am 25. März 2006 mit dem Erzbischof der Kirche des Ostens für den Libanon in seinem Bischofssitz in Beirut statt. 109 Vgl. Johann H. Zedler, Art.: Ibas, in: Grosses Universales Lexikon aller Wissenschaften und Künste 14, Halle-Leipzig 1735, 293f.

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Severus von Antiochien (gest. 538) Kirchenvater der Anti-Chalcedonier Theresia Hainthaler Obwohl Severus ursprünglich seine Schriften auf Griechisch verfasst hat, keineswegs in Syrisch oder Koptisch, kann er dennoch und mit Recht als Kirchenvater der Anti-Chalcedonier in Syrien und Ägypten gelten, und das bis heute; er wird als der „bei weitem am meisten verehrte Heilige in den orthodoxen orientalischen Kirchen der syrischen und alexandrinischen Tradition“1 bezeichnet. So wurde auch für den Einband der sehr kundigen Monographie von Pauline Allen (zusammen mit Robert Hayward) über Severus von 2004 eine Ikone des Heiligen aus einer koptischen Kirche in Kairo verwendet.2 Von der ursprünglich griechischen Version der Schriften des Severus ist wenig erhalten. Hauptsächlich ist sein Werk in Syrisch überliefert, teilweise in Koptisch oder Arabisch, aus der koptischen-arabischen Tradition auch in Äthiopisch (die polemische Literatur fehlt im Äthiopischen). Die syrische Überlieferung ist mehr für ein gelehrtes theologisches Publikum, die koptisch-arabische Überlieferung richtet sich an das Volk im Allgemeinen.3 Die Verurteilung des Severus durch eine Synode in Konstantinopel 536, deren Bestimmungen durch Kaiser Justinian Reichsgesetz wurden, führte dazu, dass das griechische Original weitgehend verloren ist. Severus war zeitlebens ein Kämpfer gegen die christologische Definition des Konzils von Chalcedon 451, wonach Christus in zwei Naturen eine Person (prosopon und hypostasis) unvermischt und ungetrennt ist. Unermüdlich trat er in christologischer Hinsicht für die mia-physis-Lehre ein, und dies unter Berufung auf Cyrill von Alexandrien, der für ihn der „König der Erklärung der Dogmen“ (rex explicationis dogmatum)4 ist. Für die Forschung stellt die Studie von Joseph Lebon von 1909, 5 mit der er in Louvain promovierte, das grundlegende Datum dar. Noch weitgehend auf der Basis nicht edierter Manuskripte erarbeitete er die Grundlinien der severianischen Dogmatik und erkannte den Severianern auf-

1

So Youhanna N. Youssef (ed./transl.), A homily on Severus of Antioch by a bishop of Assiut (XV century) (PO 50,1), Turnhout 2006, 7, vgl. 13 (liturg. Feste für Severus). 2 Pauline Allen/C. T. R. Hayward, Severus of Antioch, London 2004. Zum „Nachleben“ in der koptischen Kirche vgl. Youhanna N. Youssef, The Cult of Severus in Egypt, in: Ephemerides Liturgicae 115 (2001), 101–107. 3 Allen/Hayward, Severus, 32. 4 Alois Grillmeier, Jesus der Christus im Glauben der Kirche 2/2, Freiburg i. Br. 1989, 20 mit Verweis auf Severus Ant., C. Imp. Gram. Or. III 2, 22 (CSCO 102), 4,20–23. 5 Joseph Lebon, Le monophysisme sévérien. Étude historique, littéraire et théologique sur la résistance monophysite au concile de Chalcédoine jusqu’à la constitution de l’église jacobite, Louvain 1909. Vgl. auch Ders., La christologie du monophysisme syrien, in: Alois Grillmeier/Heinrich Bacht (Hg.), Das Konzil von Chalkedon I, Würzburg 1951, 51979, 425–580, bes. 451–576.

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grund ihrer Distanz sowohl von Eutychianern als auch von Nestorianern und ihrem Festhalten an der Lehre Cyrills eine „orthodoxie matérielle“6 zu. Einer der Nachfolger des Severus war der am 21. März 2014 in Deutschland (Kiel) verstorbene syrisch-orthodoxe Patriarch Moran Mor Ignatius Zakka I. Iwas (geb. 21.4.1933 in Mosul, Irak), der 122. Patriarch (Severus gilt als der 37.). Zu seinem Nachfolger wurde am 31. März 2014 Moran Mor Ignatius Ephrem II. Karim (Metropolit Cyril Afrem Karim von West-USA, geb. 3.5.1965) gewählt. An dieser Stelle sei an den immer noch entführten syrisch-orthodoxen Metropoliten Mar Gregorius Youhanna Ibrahim von Aleppo erinnert, der am 22. April 2013 auf dem Weg nach Aleppo zusammen mit dem orthodoxen Metropoliten Pavlos von Aleppo gekidnappt wurde, als er entführte Priester (armenisch-katholische, orthodoxe) in Empfang nehmen wollte, für die er tags zuvor das Lösegeld übergeben hatte.

1. Das Leben des Severus Über das Leben des Severus unterrichten u.a. sechs Beschreibungen: Von seinem Mitstudenten in Alexandria und in Beirut, Zacharias Scholasticus, eine Vita, die die Ereignisse bis 512 erzählt und wohl um 515 in Griechisch verfasst wurde, aber nur in syrischer Übersetzung erhalten ist.7 Es gibt ferner eine Beschreibung des gesamten Lebens des Severus, vermutlich von einem unbekannten Mönch des Klosters von Beth-Aphthonia verfasst, eventuell auf Griechisch, erhalten ist aber nur eine syrische Version; diese Vita ist Johannes von Beith-Aphthonia (gest. um 558) zugeschrieben.8 Dazu gab es noch eine Vita, die dem syrisch-orthodoxen Patriarchen Athanasius Gamala von Antiochien (594–630/1) 9 zugeschrieben wird und in koptischen Fragmenten sowie einer äthiopischen Übersetzung wohl aus dem Arabischen erhalten ist (Original griechisch?). Von Georg, dem Bischof der Araber († 724), stammt eine syrische Vita in metrischer Form (abhängig von der dem Johannes Beith Aphthonia zugeschriebenen Vita).10 Ferner ist zu nennen eine bisher unpublizierte syrische Vita des Patriarchen Qyriaqos von Antiochien (793–817) sowie eine sechste Biographie in Arabisch von einem Bischof Johannes von Assiut (15. Jh.).11 1.1 Lebensdaten Das Geburtsjahr ist nicht bekannt, man nimmt an, es war um 46512 in Sozopolis in Pisidien. Severus stammte aus einer wohlhabenden heidnischen Familie; dass er Hellene war, sagte 6 Lebon, Le monophysisme sévérien, 523. 7 Marc-Antoine Kugener (éd.), Vie de Sévère par Zacharie le Scholastique (PO 2,1), Paris 1903. Datierung Allen/Hayward, Severus, 4. 8 Marc-Antoine Kugener (éd.), Vie de Sévère par Jean, supérieur du monastère de Beith-Aphthonia, (PO 2,3), Paris 1905. Die Zuschreibung an Johannes von Beth Aphthonia und andere wird diskutiert von Sebastian P. Brock, Two early lives of Severos, Patriarch of Antioch (Translated texts for historians 59), Liverpool 2013, 24f. 9 Edgar J. Goodspeed/Walter E. Crum (Ed.), The Conflict of Severus Patriarch of Antioch by Athanasius (PO 4,6), Paris 1908 (äthiop.-englisch). 10 Kathleen E. McVey (Ed.), George, Bishop of the Arabs. A Homily on Blessed Mar Severus, Patriarch of Antioch (CSCO 530.531, Syr. 216.217), Leuven 1993. 11 Zum Ganzen vgl. auch Allen/Hayward, Severus, 4f; Brock, Two early lives, 11–15. 12 William H. C. Frend, The Rise of the Monophysite Movement, Cambridge 1972, 202; Iain R. Torrance,

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Severus selbst in einer Predigt 513 in der Kirche St. Leontius in Daphne über seine Bekehrung.13 Die Nachricht des Zacharias, der Bischof Severus von Sozopolis, der am Konzil von Ephesus 431 teilnahm, sei sein Großvater,14 lässt sich nicht halten (Allen, Brock). Nach dem Tod des Vaters ging er (mit seinen beiden älteren Brüdern) 485 zum Studium nach Alexandria (griechische und lateinische Grammatik, Rhetorik) und 487 (486 Frend) nach Beirut zum Studium der Rechtswissenschaft für fünf Jahre. Während dieser Zeit ließ er sich 488/90 in Tripolis in St. Leontius taufen. Um 490 (494?) entschloss er sich, Mönch zu werden (unter dem Einfluss des Evagrius von Samosata, bei einer Pilgerfahrt nach Jerusalem) und trat in das Kloster des Theodor ein (Nachfolger des Petrus des Iberers) bei Gaza. Nach einem Aufenthalt in der Wüste von Eleutheropolis wurde er in das Kloster des Romanos (gegründet um 459) aufgenommen. Bei Majuma, dem Hafen von Gaza, gründete er ein eigenes Kloster. In seinen weiteren Studien widmete er sich dem kanonischen Recht und den Werken Cyrills von Alexandrien. 500 wurde er durch Epiphanius von Magydon (Pamphilien) zum Presbyter geweiht. 508 werden, auf Anstiftung von Nephalius, die Mönche durch Elias von Jerusalem vertrieben. Daraufhin geht Severus als Apokrisiar der Mönche nach Konstantinopel, gewinnt das Vertrauen des Kaisers Anastasius und wirkt auf ihn ein mit dem Ziel, a) die Verfolgungen in Palästina durch den Kaiser beenden zu lassen, b) die antichalcedonische Interpretation des Henotikons durchzusetzen. In Konstantinopel kommt es am 20. Juli 511 zur Disputation mit Patriarch Macedonius von Konstantinopel (dieser wird am 6. August 511 abgesetzt). Am 6. November 512 wird Severus zum Erzbischof von Antiochien gewählt und am 16. November 512 geweiht. Seine Amtszeit als Oberhaupt der Kirche von Antiochien dauert von 18. November 512 bis 29. September 518. Am 20. Juli 518 spricht die Synodos endemousa in Konstantinopel das Anathem über Severus aus. Am 29. September 518 flieht Severus nach Ägypten (ein unedierter Brief schildert die Beschwerden der Flucht15). In Ägypten beginnt die Kontroverse mit Julian von Halikarnass. In seinem Exil wechselt Severus immer wieder die Aufenthaltsorte, die nur den engsten Vertrauten bekannt sind; die Kontakte mit seiner Diözese hält er brieflich. Die Einladung Justinians zur Collatio cum Severianis 532 lehnt Severus ab, nimmt aber dann 535 die Einladung nach Konstantinopel an. Auf der Synode von 536 erfolgt am 4. Juni unter Menas seine Verurteilung in Konstantinopel. Er hat freies Geleit und begibt sich nach Ägypten. Justinian bestätigt die Verurteilung und ordnet in Novella 42 die Verbrennung der Schriften des Severus an. Dieser stirbt am 8. Februar 538 in Chois (Ägypten), das ist sein Gedenktag in der syrischorthodoxen wie der koptisch-orthodoxen Kirche; sein Grab findet sich im Kloster Der Zaggag (Alexandria).16

13 14 15 16

Christology after Chalcedon. Severus of Antioch and Sergius the Monophysite, Norwich 1988, 3; Brock, Two early lives, 1. Die Angabe „um 456“ bei Allen/Hayward, Severus, 5, und Iain Torrance, Art.: Severus, in: TRE 31 (2000), 184, dürfte eine Verschreibung sein. Hom. 27 (PO 36), 563. PO 2, 11; Brock, a.a.O., 35 mit n. 9. Brock, a.a.O., 4f, gibt einen Bericht davon; vgl. auch Evagrius Scholasticus, HE IV 4 (FC 57/2), Turnhout 2007, 456–459. André de Halleux, Art.: Severos v. Antiocheia, in: LThK 9 (1964), 702f. Zum Leben des Severus insge-

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2. Werke Mit Grillmeier17 kann man von „einem imposanten vielfältigen Werk“ sprechen, in dem sich die verschiedenen Rollen des Severus ausprägen: die monastische, politische, theologische, bischöfliche, pastorale und liturgische.18 2.1 Polemica Zweifellos war Severus Polemiker. So teilt Grillmeier seine Darstellung ein in: Der streitbare Polemiker – der Verkünder – der Dogmatiker und sein Christusbild.19 Bedeutend sind die Streitschriften, die in den Kontroversen mit verschiedenen Gegnern, mit Chalcedoniern wie Antichalcedoniern, entstanden sind. 2.1.1 Gegen Chalcedonier Gegen den chalcedonisch gewordenen Mönch Nephalius aus Alexandrien (ein „chalcedonischer Konvertit“ nennt ihn Grillmeier) und seine Apologie der Synode von Chalcedon verfasste Severus zwei Orationes (CPG 7022), wohl um 509 in Konstantinopel. Das Florilegium Cyrillianum, das Johannes Talaia von Alexandrien 482 nach Rom mitbrachte und das eine Sammlung von 244 Zitaten aus Werken des Cyrill von Alexandrien zugunsten der zwei Naturen darstellt, bekämpfte Severus mit dem Werk Philalethes (CPG 7023); mit dem „Freund der Wahrheit (philalethes)“ ist Cyrill gemeint. Wenn Severus dieses Florilegium charakterisiert mit den Worten, die Verfasser wollten „zeigen, dass der Lehrer des orthodoxen Glaubens dieselben Dinge gedacht und gesprochen habe wie die, welche unseren einzigen Herrn und Gott Jesus Christus nach der unerklärbaren Einigung in zwei Naturen teilen wollen“, dann wird bereits deutlich, aus welcher Perspektive Severus die Zwei-Naturen-Lehre betrachtet: Er sieht darin eine Teilung in zwei (Naturen). Das blieb sein Standpunkt zeitlebens. Severus bekam von diesem Florileg in Konstantinopel 508–511 Kenntnis. Der Philalethes „gilt als Meisterwerk antichalcedonischer Christologie“, so Grillmeier,20 der weiter vermerkt: „Die Intention beider Werke, des Florilegs und seiner Widerlegung, ist dazu angetan, aus Cyrill sowohl den ,Dyophysiten‘ als auch den ,Monophysiten‘ herauszustellen, womit sich auch ein verschieden akzentuiertes Christusverständnis – sei es im Sinn der dyo physeis, sei es in dem der mia physis – illustrieren läßt. Die geschichtliche Entwicklung Cyrills war in der Tat so ambivalent, daß seine Werke zum gemeinsamen Arsenal gegensätzlicher Christologien werden konnten, je nachdem, was man darin suchte.“21 Eine starke Herausforderung von chalcedonischer Seite stellte der Grammatiker Johannes von Caesarea dar. Seine Apologia concilii Chalcedonensis (CPG 6855) ist nicht erhalten samt vgl. Allen/Hayward, Severus, 5–30. 17 Grillmeier, Jesus der Christus 2/2, 184. 18 Allen/Hayward, a.a.O., 34. 19 Grillmeier, a.a.O., 20–185 (Der antichalcedonische Pol. Zur Christologie des Patriarchen Severus von Antiochien). 20 A.a.O., 21f. 21 A.a.O., 22.

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und muss aus der Widerlegung des Severus, Liber contra impium Grammaticum (nur in Syrisch erhalten, ediert mit lateinischer Übersetzung von Lebon) rekonstruiert werden.22 Johannes bietet einen ersten Versuch in die Richtung, die man später Neuchalcedonismus genannt hat, d.h. eine zusätzliche Berücksichtigung cyrillischer Ansätze (insbesondere aus dem Anathematismen-Brief) und die Arbeit am Begriff. Johannes kritisierte auch die erste Oratio gegen Nephalius. Die Widerlegung des Severus, drei Orationes Contra impium Grammaticum (CPG 7024), wurde nach Ende seiner Patriarchatszeit (518) fertig gestellt. 2.1.2 Kontroversen mit zwei antichalcedonischen Gegnern Wohl um 515 ist die Auseinandersetzung mit dem eifrigen antichalcedonischen Grammatiker Sergius zu datieren, der eine Christus-Ousia erdachte und seine Thesen Severus vorlegte. Die Korrespondenz von jeweils drei Briefen des Sergius und der energischen Antwort (und Zurechtweisung) des Severus (CPG 7025) ist auch in einer guten englischen Übersetzung zugänglich.23 Am bedeutendsten ist die Kontroverse mit Julian von Halikarnass. Gegen dessen These, der Leib Christi sei schon vor der Auferstehung „unverderbt“ und „unverderblich“ gewesen, verfasste Severus insgesamt drei Briefe (CPG 7026) und fünf weitere Schriften (CPG 7027–7031). Im Exil in Ägypten trafen die beiden aufeinander, die Kontroverse erstreckte sich hauptsächlich auf die Zeit 520–527. Nachdem Julian in einem Tomus seine Ideen veröffentlichte – bei denen er sich der Zustimmung des Severus sicher glaubte –, kam es zum Briefwechsel und dann zu einer Ergänzung seines Tomus (Additiones), danach erfolgte eine Apologie24 zur Bekräftigung und schließlich eine Art von Traktat „Gegen die Blasphemien des Severus“25. Severus hielt die Debatte für so wichtig, dass er auf jede dieser Schriften einging.26 Bedeutsam ist vor allem der Titel Censura tomi Iuliani, also eine Kritik des Tomus, wovon der dritte Brief an Julian ein Resümee bot. Der Streit führte letztendlich zur Spaltung der Antichalcedonier in Severianer und Julianisten, die noch Jahrhunderte andauerte. Julian verfasste schließlich eine große Schrift von 10 logoi zur Verteidigung seines Tomus. Wir wissen durch die Apologia Philalethis (CPG 7031) des Severus davon – von den Schriften des Julian ist nur wenig erhalten, außer drei Briefen an Severus nur Fragmente (CPG 7126). Bereits 528 liegt eine syrische Übersetzung der antijulianistischen Schriften durch Paul von Kallinikos vor. 2.2 Die Kathedralhomilien Aus der Zeit 512–518, in der Severus Erzbischof von Antiochien war, stammen die sogenannten Kathedralhomilien (CPG 7035) 27 , eine Kollektion von 125 Predigten, die als 22 Das hat Marcel Richard besorgt: Iohannis Caesariensis Presbyteri et Grammatici Opera qvae svpersvnt (CCG 1), Turnhout 1977, 6–46 (lat.), 49–58 (griech.). Nur wenige griechische Fragmente finden sich in der Doctrina Patrum unter dem Namen des Eulogius von Alexandrien. Vgl. Grillmeier, Jesus der Christus 2/2, 54. 23 Torrance, Christology. Zur christologischen Auseinandersetzung vgl. Grillmeier, a.a.O., 83–116. 24 Vgl. Robert Hespel, Sévère d’Antioche, La polémique antijulianiste II B. Adversus apologiam Iuliani (CSCO 301.302, Syr 126.127), Louvain 1969. 25 Robert Hespel, La polémique antijulianiste I (CSCO 244, Syr. 104), Louvain 1964, I. 26 Siehe CPG 7026–7031. 27 Allen/Hayward, Severus, 49–52; Hans-Joachim Höhn, Der Verkünder, in: Grillmeier, Jesus der Christus

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Sammlung schon zu seinen Lebzeiten in Umlauf war. Severus hielt sie in Antiochien, aber auch außerhalb. Sie wurden bis 528 durch Paul von Kallinikos ins Syrische übersetzt (drei der vier Bände sind erhalten) und in der 2. Hälfte des 7. Jh.s bis 701 durch Jakob von Edessa überarbeitet. 2.3 Briefe (CPG 7070-7071) Die Korrespondenz umfasste geschätzt mindestens 3.759 Briefe,28 insgesamt fast 4000.29 Sie waren in drei Gruppen unterteilt: vier Bände von Briefen vor 512, vor der Zeit als Bischof; zehn Bände aus der Amtszeit (512–518) und neun aus dem Exil, dazu noch einzelne weitere Briefe. Erhalten ist eine Briefsammlung (6. Buch Ausgewählte Briefe mit 123 Briefen, „ecclesiastical affairs“ betreffend), die 668/9 ins Syrische übersetzt wurden. Darüber hinaus sind einzelne Briefe (weitere acht in Syrisch, zwei in Koptisch, zwei in Arabisch) oder Kollektionen erhalten sowie Fragmente von 70. Insgesamt gibt es mehr als „250 surviving letters“. 2.4 Hymnen (CPG 7072–7078) Liturgische Dichtungen, Anaphora, Taufordnung, Orationes sind meist in Syrisch, einige Orationes auch in Koptisch überliefert. Seine Gedichte bilden den Grundstock für den syrischen Oktoechos.30 2.5 Exegetisches (CPG 7080, 1–17) In Katenen zu vielen alttestamentlichen Schriften, zu den Evangelien sowie zur Apostelgeschichte, den Paulusbriefen und den übrigen Briefen finden sich Fragmente aus Werken des Severus.

3. Die Kathedralhomilien Sie umfassen 1. Predigten zu den Hauptfesten des Kirchenjahres, 2. Märtyrer- und Heiligenpredigten, 3. exegetische Homilien über sonntägliche Perikopen und 4. Gelegenheitspredigten teils lehrhafter, teils paränetischer Art. Hans-Joachim Höhn hat sie wie folgt charakterisiert: „Zwar kann er auch hier den Polemiker nicht verleugnen, wie bei ihm überhaupt keine reinliche Scheidung zwischen dem Theologen und Seelsorger, zwischen Dogmatik und Kerygmatik, zwischen abstrakter, mit Begriffen arbeitender Christologie und konkreter, das Leben Jesu ausdeutender Verkündigung möglich ist. Zu den Stilmitteln seiner Predigt gehören sowohl der überkommene Formelschatz, vorwiegend cyrillianischer Prägung, als auch die gehobeneren Weisen theologisch-wissenschaftlichen Argumentierens, also Schriftexegese und Väterdeutung, dazu philosophisch-rhetorische Dialektik.“31 2/2, 135–155. 28 So bereits Ernest W. Brooks (ed.), The Sixth Book of the Select Letters of Severus, Patriarch of Antioch, vol. II, London 1903, ix–x; auch Brock, Two early lives, 5. 29 So Allen, Introduction, in: PO 49,4, 371: „an estimated total of nearly 4000“. 30 Vgl. de Halleux, Severos, 703; Thomas Böhm, Art.: Severos v. Antiochien, in: LThK 9 (2000), 503. 31 Höhn, Verkünder, 135.

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Anrührend spricht Severus von der Geburt Christi: „Wie ein König, der sich in einer kleinen Stadt aufhalten will, die unbekannt und völlig außerstande ist, seinen Aufenthalt zu unterstützen, sich oft klein macht und die Größe der stolzen Erscheinung oder der Pracht unterdrückt, die ihn umgibt, um von dieser Stadt aufgenommen werden zu können, er folglich nicht kommen kann wie ein König und auf allgemeine Weise verleugnet, wer er ist, so hat auch der Sohn und der Logos des Vaters, der unbegreifliche und unendliche, unter einer menschlichen Gestalt in die Welt kommen wollen …“ (Hom 63: PO 8, 296) Die Polemik gegen die Zwei Naturen-Lehre findet sich auch in einer Predigt über das Leiden Christi. „Vielleicht fragen sich einige von denen, die nach der unaussprechlichen Einigung diesen unseren einzigen Herrn und Gott Jesus Christus in die Zweiheit der Naturen zerteilen […]: ,Wer ist es, der da am Kreuz schreit: Mein Gott, mein Gott, warum hast du mich verlassen (Mt 27,46 par)?‘ Für uns […] ist es der Gott-Logos, der ohne Veränderung Fleisch geworden ist, der das geschrien hat, der für uns freiwillig arm geworden ist und der, sofern er Mensch geworden ist, seinen Gott Vater genannt hat. Denn er war an das Holz genagelt, insofern jener Leib daran genagelt war, mit dem er auf hypostatische Weise geeint ist. Denn er ist leidensunfähig geblieben, sofern er Gott ist, aber er ist dem Leiden nicht fremd: Der Leib, der gelitten hat, gehört ihm und niemandem sonst; es geschieht daher zu Recht, wenn man glaubt, dass das Leiden sehr wohl ihm gehört. Du aber in deiner Dummheit, wenn du sagst, dass es hier eine Schwierigkeit gibt, nimmst von seinem Fleisch das weg, was mit ihm geeint ist. […] Wenn Petrus […] den inkarnierten Logos, der auch für uns gelitten hat, nicht als einen einzigen Christus erkannt hätte, hätte er nicht von ihm in seinem Brief (1 Petr 4,1) gesagt: ,Christus hat für uns im Fleisch gelitten‘, sondern er hätte wie von zwei Christoi gesprochen […] Wenn er nicht gewusst hätte, dass derselbe, sofern er Gott ist, leidensunfähig ist, aber, sofern er Mensch ist, leidensfähig, hätte er nicht hinzugefügt ,im Fleisch‘. Denn diese Einheit des Gott-Logos mit dem Fleisch ist erhaben und unteilbar. Sie zieht diese Bestimmung notwendig nach sich, d.h. die Hinzufügung der differentia specifica: ,im Fleisch‘.“ (Hom 22: PO 37, 88) Ein wenig skeptisch merkt Höhn am Ende an: „Wenn wir auch den Gläubigen einer Weltstadt wie Antiochien einiges zumuten dürfen, so kann man sich doch fragen, ob die Ausführungen über theologische Begriffe wirklich verstanden wurden und zur religiösen Vertiefung beigetragen haben.“32

32 A.a.O., 155.

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4. Kostproben aus den Werken des Severus Gegen jeden Doketismus in der Inkarnation wendet sich Severus in einem Text aus der 1. Rede gegen Nephalius: „Wenn jemand sagt, dass das Fleisch des Herrn vom Himmel herabgestiegen oder durch die Jungfrau wie durch einen Kanal hindurchgegangen sei, es nicht vielmehr als aus ihr nach dem Gesetz der Empfängnis, wenn auch ohne Mann, gebildet, bezeichnet, sei im Bann. Weder die Empfängnis, noch die Geburt aus Maria, noch der Umgang mit den Menschen, noch Kreuz, Grab, Auferstehung von den Toten, Auffahrt in den Himmel begaben sich dem Schein nach, sondern alles der Wahrheit nach: denn wahrer Heilung bedurften wir, die wir wirklich gesündigt haben. So erwarten wir der Wahrheit nach den kommenden Christus, in eben dem Leib, in dem er das heilbringende Kreuzesleiden trug; so nämlich wird er geschaut werden von denen, die ihn durchbohrt haben (Joh 19,37). Wir halten ja in unserem Geist nicht den sog. Theopaschismus, das sei ferne; sondern sagen, dass der Herr der Herrlichkeit, wie geschrieben steht, im Fleisch gelitten habe (vgl. 1 Petr 4,1; 1 Kor 2,8). Obwohl es nämlich dem Leib eigen ist zu leiden, so wurde das leidenslose Wort einem des Leidens fähigen Leib geeint; und weil der Leib ihm eigen ist, so wird auch das Leiden von ihm ausgesagt. Aber weder ohne Seele, noch ohne Geist, sondern beseelt, mit Geist und Verstand begabt, ist unserem Glauben nach die Menschwerdung des Herrn. Wir belegen mit dem Bann die Scheinlehre (phantasia) des Eutyches und Valentin und die Gottlosigkeit der Manichäer und die Torheit des Apolinarius und die schlimme Teilung der Oikonomia des Nestorius.“33 Man findet bei Severus auch die klassische Trinitätslehre: „Vater, Sohn und Heiliger Geist sind drei verschiedene und nicht miteinander vermischte Hypostasen in einem einzigen Wesen (ousia). … Wir sagen, dass Wesen und Hypostase Begriffe sind, die das Dasein existierender Dinge anzeigen. Das Wesen bringt zur Kenntnis, dass das Subjekt existiert, und die Hypostase, dass es subsistiert […]“ (Hom. 125: PO 29, 234) „Das Wesen zeigt eine Gemeinsamkeit an, die Hypostase eine Besonderheit.“ (236) „Bezüglich der Trinität ist das Wesen die Gottheit, denn der Vater ist Gott, der Sohn ist Gott, der Heilige Geist ist Gott; keiner von ihnen ist mehr Gott als der andere wegen der Identität und Gleichheit der Ehre des Wesens (ousia). Bezüglich der Hypostase ist die des Vaters, des Sohnes und des Heiligen Geistes jeweils eine andere.“ (239) D.h. in der Trinitätslehre unterscheidet Severus deutlich zwischen ousia und hypostasis. Aber in der Inkarnationslehre ist für die Severianer eine neue Situation gegeben. Das wird besonders deutlich in einem Einwand der Severianer, den Leontius von Byzanz in der Solutio argumentorum Severi (CPG 6815) mitteilt:

33 Orat. I ad Neph. (CSCO 120), 6,28–7,17.

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„Einvernehmlich ist hypostasis und ousia oder physis in der Theologia nicht dasselbe; in der Oikonomia sind sie aber identisch. Wenn nämlich die Neuheit des Mysteriums eine Neuheit auch für die Naturen bedeutet, so wird das gemäß dem göttlichen Gregor, glaube ich, auch für die Bezeichnungen gelten. So passen nach ihm zu jedem der beiden Begriffe der Inhalt (logos) und die Definition (horos) des anderen“ (PG 86, 1921B). D. h. durch das Mysterium der Inkarnation haben die Begriffe Hypostase und Natur eine neue Bedeutung und eine neue Definition erhalten. In der Replik auf das chalcedonische Florilegium Cyrillianum schreibt Severus: „In der Tat, wer dem Gott Logos eine einzige inkarnierte Hypostase und eine einzige Person zuteilt, sagt notwendig [auch] eine einzige Natur des inkarnierten Gott Logos. Denn das, was mit irgendwelchen zwei [Elementen] als Ausgangspunkt zusammengeholt worden ist, hat einerseits aufgehört ,zwei‘ zu sein, bleibt aber [anderseits] ,eins‘ der Zusammensetzung nach: auch wenn er, ohne etwas davon aufzugeben, die Elemente, von denen her er konstituiert worden ist, aufscheinen lässt [vgl. das ,erkennbar in zwei Naturen‘ der Definition von Chalcedon], weil sie eben ohne Vermischung vereinigt worden sind, so bleibt er doch auf eine feste Weise ,einer‘, und es ist unmöglich, dass er fürderhin ,zwei‘ sei, dies wegen des untrennbaren Charakters der Einigung.“34 „Aus alldem ist zu erkennen, dass [wenn] die Union die Zweiheit und die Trennung der Naturen hat aufhören lassen, so tilgt sie doch nicht den Unterschied der Naturen aus, von denen her der Christus einer ist.“35 Diese letzte Aussage ist bedeutungsvoll: Severus bleibt Cyrill treu36 und formuliert an anderer Stelle diese Bewahrung der Eigenschaften der Naturen weiter aus.

5. Charakteristika der Lehre des Severus 5.1 Eine auf Einheit angelegte Christologie a) Mia-Physis-Formel „Denn es ist unmöglich, dass die ungeschaffene und unveränderliche Natur sich in ein Geschöpf verändere oder dass etwas vom Geschaffenen verwandelt werde und in das ungeschaffene Wesen übergehe. Vielmehr ist er geblieben, was er war, und hat sich selbst hypostatisch (qnwm’yt) mit einem Leib vereint, der eine Vernunftseele besitzt, derart, dass er aus zwei Naturen, aus der ungeschaffenen Gottheit und der geschaffenen Menschheit, uns als ein einziger Christus erschienen ist, ein einziger Herr, eine einzige Person (prswp’, prosopon), eine einzige Hypostase (qnwm’), eine einzige fleischgewordene Natur des Logos.“ (Hom 58: PO 8, 216f) 34 Philal., nr. 4 (CSCO 134 V), 139,9–18. 35 A.a.O., 140,4–7. 36 Vgl. Cyrill. Al., Ep. II ad Nestorium 3 (ACO I 1,1), 27,1–3.

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Sobald man eine Zweiheit von Naturen zugibt, kommt es zu einer zweiten Person und damit letztlich zu einer Quaternität anstatt einer Trinität: „Wenn es nicht eine Natur und eine einzige fleischgewordene Hypostase des GottLogos gibt, ist es durchaus notwendig, dass wir folglich fälschlicherweise der Trinität eine vierte Person hinzufügen. Denn die Zweiheit etabliert jede Natur in sich, abgesondert und für sich, und wenn einmal die menschliche Natur vom Logos verschieden [distincte, was für Severus bedeutet: geschieden] ist, wird man ihr notwendig eine eigene Person zusprechen. Und wenn es an der Zeit ist, wird der himmlische Thron jenen abweisen, der […] fremd ist, und nicht allein, weil er fremd ist, sondern mehr noch, weil er überzählig ist; denn wieso ist jener nicht überzählig, der aus der Trinität eine Quaternität macht und in den Himmel einen Menschen einführt und dort wohnen lässt, der zu Gott gemacht wurde, und der ihn gleichzeitig als ungeschaffenes und anbetungswürdiges Geschöpf zählt und plötzlich einen neuen Gott schafft und zusammenfügt, wie die Heiden es gewohnt sind, solche als Götter zu fabrizieren und fälschlich zu benennen, die sie unter den Menschen suchen, und sie zum Himmel aufsteigen lassen.“ (Hom 47: PO 35, S. 311–313) Erläutert wird die Einheit gerne auch durch die Leib-Seele-Analogie: „Wir sagen, dass der Mensch, der unsrige, der zusammengesetzt ist aus Seele und Leib und der in einer einzigen Hypostase (qnwm’) ist, ein sterbliches, vernünftiges Lebewesen ist; jedoch ist er einerseits durch den Leib sterblich, anderseits durch die Seele vernünftig; dennoch ist es das ganze Lebewesen, das sterblich genannt wird und das als Ganzes als vernünftig bezeichnet wird; und die Elemente, aus denen es natürlicherweise zusammengesetzt ist, sind nicht vermischt, und es ist überhaupt nicht in zwei geteilt. So ist es auch mit dem Emmanuel, da er einer aus zwei Naturen ist, und eine einzige Hypostase (qnwm’) und eine einzige inkarnierte Natur des Logos, ohne auf irgendeine Weise die Elemente vermischt zu haben, aus denen die unaussprechliche Einheit zustande gekommen ist, und auch ohne, einer bleibend, der Zweiheit Zugang zu gewähren, von der die Teilung herkommt. Denn der, der eigentlich einer ist, wird niemals zwei sein; und wenn er dazu übergeht, zwei zu werden, hat er notwendigerweise aufgehört, einer zu sein.“ (Hom 44: PO 36, S. 96–98) „Die mia physis wurde zum einzig geltenden Leitmotiv seiner Verkündigung und Reflexion“, urteilt Grillmeier.37 b) Mia energeia Gegen Johannes Grammaticus schreibt Severus: „Nur eine einzige Betätigung (energeia) gibt es, nur eine einzige wirkende Bewegung (motus operativus), wie es auch nur ein einziges Sprechen des fleischgewordenen Logos gibt, mögen auch die Handlungen und die Worte verschieden gewesen sein.“38 Damit wird das gottmenschliche Handeln und Sprechen Christi so konzipiert, dass alles vom göttlichen Logos als Naturprinzip her abgeleitet ist.

37 A.a.O., 167. 38 Vgl. Severus Ant., C. imp. Gram., Or. III, cap. 38 (CSCO 102), 175,6–7.

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Jede Betätigung fließt von oben her, wenn auch das menschliche Tätigkeitsprinzip eingeschaltet wird.39 Das zeigt sich in der Erklärung der Heilung des Aussätzigen: „Während der menschgewordene Gott mit menschlicher Zunge redete und mit menschlicher und klarer Stimme dem Aussätzigen sagte: ,Ich will, sei rein‘ (Mt 8,3), zeigte er durch die Wirkung, dass die Stimme der Gottes würdigen Mischung (mixtio) gemäß vom menschgewordenen Gott hervorgegangen sei: denn mit dem gehörten Wort ging die Heilung des Aussätzigen zusammen.“40 Die eigentliche Quelle der Aktivität ist die Gottheit; sie mischt sich der menschlichen Stimme – oder auch der Berührung der Hand Jesu – bei und bringt im Kranken die wunderbare Wirkung hervor. Die menschliche Stimme ist nur Vehikel des göttlichen Willensflusses. „Trotz der wiederholten Betonung der Realität von Seele und Leib in Christus bleibt somit ihr geistig-leiblicher Anteil an der Realisierung des Heils unterbewertet. Die LogosHegemonie, welche für das System des eine Seele Christi ausdrücklich leugnenden Apolinarius wesentlich war, ist auch bei Cyrill noch so eng begriffen, daß den leib-seelischen Kräften der Menschheit Christi noch keine spontan-originäre Funktion im gottmenschlichen Handeln Christi zuzukommen scheint. Severus ist der verschärfende Zeichner des gleichen Christusbildes.“41 c) Absage an jede Zweiheit „Wie wir eben in anderen Schriften in aller Breite entwickelt haben, verstanden und verstehen wir den Ausspruch des ganz weisen Dionysius Areopagites, der besagt: ,da Gott Mensch geworden ist, vollführte er unter uns eine neue gottmenschliche (θεανδρικὴ ἐνέργεια) Tätigkeit‘, von der einen zusammengesetzten [Tätigkeit]; er kann nicht anders gedeutet werden, denn als Absage an jede Zweiheit (πάσης δυάδος ἀπέμφασις); und wir bekennen den menschgewordenen Gott, der auf neue Weise [diese gottmenschliche Tätigkeit] vollführt hat, als die eine gottmenschliche Natur und Hypostase wie auch als die eine fleischgewordene Natur des Gott-Logos“.42 Christus ist „aus zweien“, aber ein einziger, „in dem nur durch eine ganz subtile Geistesoperation“ (secundum subtilissimam pro posse intelligentiam) zwei abstrakte Wesenheiten (ousiai), aber nicht zwei konkrete Naturen (physeis) unterschieden werden können.43 „An der Formel ,aus zweien‘ hängt eigentlich alles; daraus wird sowohl die hypostatische Einung gewirkt als auch (die Tatsache), dass es nur eine fleischgewordene Natur des Logos gibt, wie auch dies, dass man jene zwei (Wirklichkeiten), aus de39 40 41 42 43

Grillmeier, Jesus der Christus 2/2,173. Ebd., cap. 32 (CSCO 102), 94,27–32. Grillmeier, a.a.O., 179. Severus Ant., ep. 3 ad Johannem abbatem (CPG 7071,28): DP, 309 XXIV. Grillmeier, a.a.O., 169. Severus Ant., C. imp. Gram., Or. III, cap. 16 (CSCO 94), 195,9. Die spekulativen Probleme der severianischen mia physis synthetos sieht später Maximus Confessor (ep. 15, PG 91,573A) und verteidigt die Notwendigkeit der chalcedonischen Unterscheidung; vgl. Jean-Miguel Garrigues, La personne composée du Christ d’après saint Maxime le Confesseur, RThom 74 (1974), 181–204, 189–196.

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nen die Einung geschieht, nur in Gedanken als verschieden und andersartig verstehen darf, und dass man von zweien nach dem Denken des einen nicht mehr reden darf.“44 Weil Chalcedon nicht „aus zwei“ sagte, „hat es sich grundsätzlich der Möglichkeit begeben, die Teilung Christi in zwei zu verhindern.“45 Die Formel „ein Christus aus zweien“ verhindere schon allein jede Zerschneidung. Verwirft man sie, so folge die Zweiheit der Söhne und der Christoi.46 Severus akzeptiert die Leib-Seele-Analogie als „aussagekräftigste Analogie“.47 Wir haben also bei ihm einen kompromisslosen Kampf gegen die Zwei-Naturen-Lehre. Jegliche Zweiheit ist auszuschließen, da sie für Severus bereits Trennung oder Teilung beinhaltet. 5.2 Sprachbereinigung Herausgefordert von den Debatten mit Chalcedoniern, greift Severus zu einer Sprachbereinigung: Eine Berufung auf ambivalente Formeln der Väter des 4. und 5. Jh.s ist nicht mehr gestattet. Von synapheia darf nicht mehr gesprochen werden, auch wenn Severus zugibt, dass Cyrill den Terminus früher verwendet hat – aber Cyrill hatte ja auch schon diesen Gebrauch aufgegeben. Auf jeden Fall aber muss die Rede vom Christus duplex aufhören, auch wenn verschiedene Väter so gesprochen haben, so Severus in der Disputation mit Johannes Grammaticus: „Nach der Verwerfung durch den heiligen Cyrill weigern wir uns ein für allemal, Christus ,zweifach‘ zu nennen, wie er [Cyrill] auch das Wort von dem ,Anhängen‘ [adhaesio, griech.: συνάφεια] verworfen hat, obwohl es von den Vätern gut gebraucht (dictum) war. Es galt eben die Wucht des Wahnes [Meinung, doxa] des Nestorius aufzuhalten.“48 Wenn Johannes Grammaticus von zwei ousiai sprechen wollte, dann meinte Severus, „Einhalt gebieten zu müssen: um keinen Preis durfte von einer ,Zweiheit‘ die Rede sein, solange die Betrachtung mit der Konstitution Christi selber beschäftigt war und innerhalb des fleischgewordenen Wortes verblieb.“49 Auch die Rede vom homo assumptus (Gregor von Nazianz und auch Cyrill von Alexandrien haben so gesprochen) wurde ausgeschlossen, der homo deifer, anthropos kyriakos (der Mensch, der Herr ist). Cyrills dyophysitische Sprache50 wird von Severus purgiert in einer bemerkenswerten Autoritätskritik.

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Severus Ant., C. imp. Gram., Or. III, cap. 10 (CSCO 94), 141,20–25. Grillmeier, Jesus der Christus 2/2,170. Ebd., Anm. 392. A.a.O., 171. Severus Ant., C. imp. Gram., Or. III 2, cap. 23 (CSCO 102), 17,10–14: … recusamus duplicem dicere Christum. 49 Grillmeier, 79. 50 Vgl. dazu die Untersuchung von Hans van Loon, The Dyophysite Christology of Cyril of Alexandria, (VigC.S 96), Leiden 2009.

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Severus von Antiochien

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Severus tritt aber auch ein für die Bewahrung der Eigenschaften der beiden Naturen nach der Einung (was er schon bei Cyrill finden kann, s.o.), aber das wird von ihm noch verfeinert.51 5.3 Logoserlaubnis Gegen Leos I. „agit enim utraque forma […]“ im Tomus Leonis schreibt Severus: „Wenn er [scl. Leo] im Geist die hypostatische Einheit halten und bekennen würde, könnte er nicht sagen, dass jede der beiden Naturen ohne Beeinträchtigung ihre Eigenheit (proprietatem) behält, sondern er würde wie der heilige Cyrill sagen: Der Logos Gottes hat zuweilen erlaubt, dass das Fleisch das Eigene erleide und nach den Gesetzen seiner Natur betreibe. So würde der Logos selbst das als Eigenes ertragen, was des Fleisches ist, und doch nicht das aufgeben, was er seiner Wesenheit (ousia) nach hat, auch nicht die Leidensüberlegenheit und seine höchste Erhabenheit.“52 Weil die Henosis unauflösbar und ununterbrochen ist, macht sie zu ihrer Erhaltung einen steten Fluss der Energeia oder eine stets aktive und gleichbleibende Logos-Hegemonie53 erforderlich. „Die hypostatische Union bedeutete zugleich für die Menschheit Christi den steten Anspruch auf Teilnahme am göttlichen Leben. Darum bedurfte es auch jeweils der Erlaubnis von Seiten der Gottheit, hungern und leiden, ja sterben zu dürfen.“54 5.4 Zitationsgenauigkeit Severus zeichnet eine große Genauigkeit in der Wiedergabe gegnerischer Aussagen aus. Das macht seine Werke wertvoll auch für die Rekonstruktion der Schriften seiner Gegner, die meist nicht erhalten sind. Eindrucksvoll ist seine patristische Gelehrsamkeit, wie sie etwa in der Auseinandersetzung mit Johannes Grammaticus offenbar wird. So schrieb André de Halleux mit Recht von „bemerkenswerter patrist[ischer] Gelehrsamkeit und dialekt[ischem] Scharfsinn.“55 5.5 Nachwirkung Man bezieht sich immer wieder auf ihn. Ein eindrückliches Beispiel ist die Disputation von 596 zwischen Probus und severianischen Mönchen in Antiochien, mit einer Fülle von Zitaten aus Werken des Severus.56Andererseits: Die Zersplitterung innerhalb der Antichalcedonier hält an im 6. Jh. und darüber hinaus (auf dem 2. Konzil 555 in Dvin in Armenien wird Severus mit dem Anathem belegt und julianistische Positionen werden übernommen); insbesondere die Julianisten bleiben noch lange bestehen.57 51 Dazu bereits Lebon, La christologie, 534–576. Vgl. auch Theresia Hainthaler, Eine christologische Kontroverse unter den Severianern Ende des 6. Jahrhunderts. Die Konversion des Probus und Johannes Barbur zum Chalcedonismus, in: Jesus der Christus 2/3, Freiburg i. Br. 2002, 403-437, 410-415. 52 Severus Ant., C. imp. Gram., Or. III, cap. 29 (CSCO 102), 79,18–25. 53 Dazu Grillmeier, Jesus der Christus 2/2, 137.172.179.181. 54 A.a.O., 181. 55 de Halleux, Severos, 702. 56 Hainthaler, a.a.O., 409–436. Vgl. Jesus der Christus 2/3, Register s.n. 57 Vgl. Theresia Hainthaler, Gaianus und die Gaianiten, in: Grillmeier, Jesus der Christus 2/4, Freiburg i. Br. 1990, 45–48.

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Theresia Hainthaler

5.6 Der antichalcedonische Pol Mit Severus ist „in aller Schärfe der sprachliche und begriffliche Gegenpol zur Zwei-Naturen-Lehre“ 58 formuliert. „Wenn Cyrill eine Entwicklung durchgemacht hatte und eine gewisse Zweisprachigkeit verriet, so hatte der ,neue Cyrill‘ entschlossen zugegriffen und eine Sprachbereinigung durchgeführt, die nun den reinen Typ der Mia-Physis-Christologie vertrat, und zwar als geschlossene Christologie von oben, mit dem Schwerpunkt auf der Henosis, aber auch mit dem klaren Bekenntnis zur Realität und der irdischen Existenz der Menschheit Christi. Das Mißliche war nur, daß Apolinarius immer noch durchschimmerte.“59 Ähnlich formuliert es Iain Torrance, der vom „Ausblenden“ der dyophysitischen Züge des Cyrill durch Severus spricht. 60 Severus „blieb allzusehr der überkommenen apollinaristischen Begrifflichkeit verhaftet, auch wenn er theologisch darüber hinausgestoßen ist.“61 Die severianische Dogmatik stellt aber einen grundlegenden Gegenpol dar zu „monophysitischen“ Tendenzen im eigentlichen Sinn.

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Grillmeier, Jesus der Christus 2/2, 184. Ebd. Severus, 184. Grillmeier, a.a.O., 185.

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Johannes Sinaites, genannt Klimakos Konzepte zum Aufstieg ins Paradies im 6. Jahrhundert Andreas Müller Für das Profil des orthodoxen Christentums ist die monastische Tradition von zentraler Bedeutung. Mönchtum und Weltchristentum lassen sich dort grundsätzlich nicht voneinander trennen. Verantwortlich dafür ist bereits das Konzept Basileios des Großen. Dieser lebte und wirkte im vierten nachchristlichen Jahrhundert. Basileios verstand die christliche Existenz als ein Leben nach dem Evangelium. Eine solche vita evangelica hat der Christ in der Welt genauso zu leben wie der Christ im Kloster. Konsequente Nachfolge Christi ist somit seit Basileios ein Motiv, das Mönchtum und Weltchristentum miteinander verbindet. Im vierten Jahrhundert finden sich bereits auch Modelle geistlichen Aufstiegs im Christentum. Zu erwähnen ist selbst im Westen ein Kirchenvater wie Augustin von Hippo. Im Osten entwickelte sich eine immer ausgeprägtere Methodik der geistlichen Vervollkommnung. Dabei spielte die monastische Literatur eine Vorreiterrolle. Auch wenn sich die Mönche und Nonnen immer der Tatsache bewusst waren, dass sie letztlich bei ihrem Weg zu Gott auf Gnade angewiesen sind, so haben sie doch zugleich den Weg zur Begegnung mit dem Göttlichen so genau wie möglich zu beschreiben versucht. Davon zeugt im vierten Jahrhundert bereits der aus Kleinasien stammende und durch Theologen wie Basileios und Gregor geprägte Evagrios Pontikos. Ihren Höhepunkt erreicht die entsprechende Literatur sicher gut zwei Jahrhunderte später mit dem monastischen Kompendium des Johannes Sinaites. In diesem wird der Weg zum Himmel in allen seinen Verästelungen genau beschrieben. Die Klimax, die Leiter, stellt somit ein wichtiges spirituelles Grundlagenwerk dar. Ich werde mich im Folgenden auf drei Aspekte beschränken. Einige Bemerkungen muss ich zur Person des Johannes Sinaites machen, damit sein Werk historisch genauer eingeordnet werden kann. In einem zweiten Schritt werde ich mich mit eben diesem Werk beschäftigen. Schließlich soll es um Aspekte der Rezeption der Klimax gehen. Dieser Abschnitt ist mir besonders wichtig, weil hier deutlich wird, dass Johannes nicht nur im Mönchtum, sondern auch weit darüber hinaus rezipiert worden ist.

1. Zur Person des Johannes Sinaites Johannes Sinaites wird auch Johannes Scholastikos oder nach seinem Hauptwerk, der Κλίμαξ τοῦ Παραδείσου, Klimakos genannt. Biographisch zuverlässige Daten über ihn existieren nicht mehr. Zwar haben sich eine Vita aus der Feder des Daniel von Raithu und die mehrmalige Erwähnung des Sinaiten in den sogenannten Diegemata, den Erzählungen des Anastasios Sinaites erhalten. Beide Texte bieten allerdings keine biographischen In-

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formationen im modernen historiographischen Sinne. Obendrein ist ihre Datierung selber umstritten. Daniel von Raithu lebte auf dem Sinai in einem Kloster, das dem Kloster am Dornbusch sehr nahe stand. Den Einleitungsbriefen der Klimax nach war sogar von diesem Kloster die Aufforderung an den Sinaiten ergangen, seine „Leiter“ zu schreiben. Genügend biographische Informationen über den Sinaiten dürften Raithu also vorgelegen haben. Die Lebensbeschreibung Daniels ist allerdings überhaupt nicht daran interessiert, ein historisch zuverlässiges Bild des bedeutenden Sinaiten zu zeichnen. Vielmehr geht es ihr darum, ein ideales Mönchs- und Abtsleben zu konstruieren. Auffallend ist dabei, dass die Vita gleichsam die Umsetzbarkeit der Klimax mit dem Leben ihres Verfassers illustriert. Die Vita des Johannes macht also deutlich, dass ein Leben nach der Klimax möglich ist. Sie steht in einem engen intertextuellen Verhältnis zu dem Hauptwerk ihres Protagonisten. Biographisch ist sie daher alles andere als zuverlässig, wenn sie auch nicht vollkommen unabhängig von der historischen Biographie des Sinaiten dessen Lebensschritte nachgezeichnet haben dürfte. So oder so bietet die Vita keine historisch greifbaren Daten. Sie ermöglicht daher allenfalls eine relative Chronologie. Gerade die genauere Datierung des Sinaiten ist für den Historiker allerdings keineswegs unbedeutend. Ich gehe jedenfalls davon aus, dass auch hochgradig spirituelle Texte nur vor ihrem konkreten historischen Hintergrund richtig zu verstehen sind. Löst man sie von diesem Hintergrund ab, können sie für die persönliche Frömmigkeit sicher von Bedeutung sein. Ihre eigentliche historische Dimension und z.T. auch ihre innere Sprengkraft gehen allerdings bei einer ahistorischen Betrachtung derselben verloren. Ideen schweben nicht im luftleeren Raum, sondern sind immer Reaktionen, Antworten auf Fragen aus der Umwelt. Die Bedeutung von Theologie und Spiritualität liegt gerade darin, dass sie mit den geistigen und auch den übrigen geschichtlichen Entwicklungen eng verbunden sind. Daher habe ich mir im Blick auf den Sinaiten viel Mühe gemacht, ihn historisch zuverlässig zu verorten. Für eine solche Verortung ist im 20. Jh. vor allem eine Quelle genutzt worden: Die bereits genannten Diegemata des Anastasios Sinaites. Diese Erzählungen über Wüstenväter vom Sinai, in denen auch der Sinaite erwähnt wird, sind allerdings als historischer Anhaltspunkt ebenfalls problematisch. François Nau hat sie für eine Spätdatierung des Johannes genutzt. Einige Textabschnitte der Diegemata geben nämlich tatsächlich Hinweise auf mögliche Datierungen. Nach Nau starb Johannes Sinaites demnach um 649. Meines Erachtens ist diese Spätdatierung allerdings nicht haltbar. Dies hat mit der Textgeschichte mönchischer Erzählungen zu tun. Meist sind diese über einen langen Zeitraum gewachsen und haben dementsprechend immer wieder Veränderungen erfahren. Die Tradierung in Klosterbibliotheken war immer zweckorientiert, d.h. keineswegs um historische Genauigkeit bemüht. Dementsprechend konnten Texte auch angepasst und erweitert werden – hier in Göttingen, wo man seit Jahrzehnten um eine kritische Edition von Mönchserzählungen, den Apophthegmata Patrum bemüht ist, sind solche Prozesse der Textgeschichte nur allzu bekannt. Die Diegemata des Anastasios dienen also vor allem dazu, einige schöne, mit dem Sinaiten verbundene Legenden in seine Biographie zu übernehmen. Für seine Datierung tragen sie hingegen wenig aus. Immerhin machen sie deutlich, dass es sich bei dem Sinaiten um eine besonders charismatische Persönlichkeit gehandelt hat. Dafür ein Beispiel, nämlich das Diegema VI in meiner eigenen Übersetzung:

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„Als der Abba Martyrios unseren frommen Vater Johannes, den Hegumenos (= Abt), im Alter von zwanzig Jahren zum Mönch weihte, nahm er ihn und ging mit ihm fort zur Säule der Wüste bei uns, zum Abba Johannes dem Sabbaiten in der Wüste Goudda. Dort wohnte er zur dieser Zeit. Der Sabbaite hatte den Abba Stephan den Kappadokier als Schüler bei sich. Da der Geron, der Sabbaite, sie nun sah, erhob er sich, nahm Wasser und schüttete es in eine kleine Schüssel. Schließlich wusch er die Füße des Schülers und küsste dessen Hand. Die Füße des Abba Martyrios, seines Vorstehers, aber wusch er nicht. Über diese Tatsache ärgerte sich nun der Abba Stephan. Nachdem der Abba Martyrios und sein Schüler fortgegangen waren, sagt Abba Johannes (Sabbaites), weil er durch den unterscheidenden Blick bemerkte, dass sich der eigene Schüler geärgert hatte, zu ihm: Glaube mir, ich weiß nicht, wer dieses Kind ist. Ich habe aber den Abt des Sinai aufgenommen und die Füße des Abtes gewaschen. Nach vierzig Jahren wurde dieser nach der Prophetie des Geron tatsächlich unser Abt. Nicht nur der Abba Johannes der Sabbaite, sondern auch der Abba Strategos der Inkluse sagte, obwohl er überhaupt nicht (aus seiner Zelle) herausgekommen war, den Tag, an dem der Abba Johannes zum Mönch geweiht wurde, voraus.“ Datierbar ist der Sinaite allenfalls auf Grund von Mönchsnamen, die sowohl in der Klimax als auch u.a. im Leimonarion des Johannes Moschos und den Diegemata des Anastasios belegt sind. Kombiniert man alle diese Namen miteinander bzw. setzt sie zueinander in Beziehung, so kommt man jedenfalls zu einer einigermaßen schlüssigen Datierung des Johannes ins 6. Jh.1 Der Sinaite erscheint somit als ein Zeitgenosse nicht nur des bedeutenden Kaisers Justinian, der sich um die Reform des Mönchtums im byzantinischen Reich stark bemüht hat. Er lebte und wirkte vielmehr auch zeitgleich mit Benedikt von Nursia, dem bedeutenden Vater des abendländischen Mönchtums. Bei genauer Betrachtung sind tatsächlich Parallelen im Verständnis des Mönchtums bei den beiden Mönchsvätern zu beobachten. Wahrscheinlich lebte Johannes Sinaites somit von ca. 525 bis ca. 603. Mittels der relativen Chronologie des Daniel von Raithu lassen sich einige Details aus seiner Biographie aufgrund dieser Rahmendaten auch genauer festsetzen. Dort ist davon die Rede, dass Johannes zunächst bei dem Altvater Martyrios in das Mönchtum eingeführt worden ist. Der Aufenthalt bei dem Abbas ist von ca. 540 bis ca. 559 zu datieren. Die Jahre zwischen ca. 559 und 599 verbrachte Johannes dann als Einsiedler in Thola im zentralen Sinai-Massiv. Noch heute wird seine Einsiedelei dort gezeigt. Anschließend, also etwas um die Wende zum 7. Jh., wurde er Hegoumenos im nahe gelegenen Dornbusch-Kloster (heute Katharinen-Kloster). Dieses Amt ist faktisch mit dem Abts-Amt gleichzusetzen. Er versah es möglicherweise nur vier Jahre. Während seiner Zeit als Hegumenos könnte die Klimax entstanden sein. Nach einer historisch nicht mehr sicher zu belegenden Tradition soll der Sinaite noch einmal in die Einsamkeit zurückgekehrt sein, in der er dann um das Jahr 603 gestorben wäre. Johannes könnte demnach nicht nur als Zeitgenosse Justinians und Benedikts, 1

In meiner Habilitationsschrift habe ich ausführlich eine solche Kombination unternommen: Das Konzept des Geistlichen Gehorsams bei Johannes Sinaites. Zur Entwicklungsgeschichte eines Elements orthodoxer Konfessionskultur (Studien und Texte zu Antike und Christentum 37), Tübingen 2006.

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sondern auch des bedeutenden Mönchs auf dem Papstthron, nämlich Gregors des Großen gelten. Vielleicht hat er sogar einen Briefwechsel mit demselben geführt.

2. Werk Johannes hat keineswegs nur die Klimax verfasst. Vielmehr stammen aus seiner Feder auch der Λόγος πρὸς τὸν ποιμένα und ein Brief an Johannes von Raithu. Der Brief an Johannes beantwortet dessen Anfrage nach einer Schrift zur Einführung ins Mönchtum. Der Logos bietet gleichsam eine Art Abtsspiegel in 15 Kapiteln, der sich allerdings eng an die Klimax selber anlehnt. Sie hat daher als das eigentliche Hauptwerk des Sinaiten zu gelten. Der Sinaite erklärt selber, warum er eine Klimax in dreißig Stufen geschrieben hat. Das Motiv der Leiter findet sich bereits in Genesis 28, nämlich bei der Schilderung der Himmelsleiter von Bethel. Jakob hatte in einem Traum den Himmel offen gesehen. Auf der Leiter stiegen Engel herauf und hinab. Bereits seit Origenes ist das Motiv auf den geistlichen Aufstieg jeder Seele angewandt worden. Es findet sich insbesondere bei Gregor von Nyssa im 4. Jh. wieder. Evagrios Pontikos hatte den Gedanken des Aufstiegs bereits ganz konkret auf Mönche angewandt. Die dreißig Stufen der Leiter begründet Johannes ebenfalls – vermeintlich – biblisch: 30 Jahre habe sich Jesus auf sein Handeln in der Öffentlichkeit vorbereitet. Dementsprechend hat sich auch der Leser oder die Leserin der Leiter auf ein vollkommenes Leben in 30 Stufen vorzubereiten. Über den Aufbau der Leiter gibt es viele Spekulationen und weiterführende Analysen. Bis hin zu einer achsensymetrischen Anordnung der Stufen sind Vorschläge in der Literatur gemacht worden. Ich möchte hier solche Spekulationen nicht diskutieren, sondern nur auf einige grundsätzliche inhaltliche Leitlinien eingehen. Dazu möchte ich vor allem den Aufbau schildern. In den ersten drei Kapiteln der „Leiter“ thematisiert Johannes die zunächst für einen geistlichen Weg notwendige Abwendung von den Bindungen der Welt. Rückzug bedeutet dabei nicht zwangsweise Zurücklassen. Vielmehr geht es darum, sich von den weltlichen Verlockungen nicht mehr ablenken zu lassen, sich auf das Wesentliche, und das heißt für Johannes sich auf Gott zu konzentrieren. In den Stufen 4–8 thematisiert der Sinaite dann einige monastische Grundtugenden. Dazu zählt bei ihm nicht nur der Gehorsam, sondern auch die Umkehr, das memento mori, die tiefe Bußtrauer und die Zornlosigkeit. Solche Tugenden bereiten eine innerliche Abwendung von falschen Bindungen vor. Gerade der Gehorsam wird besonders stark betont. Die Grundidee ist dabei: Wer sich gehorsam einem geistlichen Vater hingibt, der wird frei für Gott. Denn es quälen ihn nicht mehr die Gedanken, wie er sein Leben eigenmächtig und selbstzentriert gestalten muss. Durch Ungehorsam – so Johannes –, durch die Konzentration auf sich selbst sind die Menschen aus dem Paradies gefallen. Nur der Gehorsam gegenüber Gott und dem ihn repräsentierenden Vater verhilft überhaupt dazu, ins Paradies zurückzukommen. Dieser Gedanke ist nicht nur für Johannes, sondern auch für die gesamte ostkirchliche Tradition von großer Bedeutung. Während auf der einen Seite in der „Leiter“ Tugenden gefördert werden, werden auf der anderen Seite Laster unmittelbar bekämpft. Wie bereits erstmals Evagrios Pontikos, so setzt sich auch der Sinaite ab Stufe 9 intensiv mit den zentralen Lastern auseinander: Nachtra-

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gen, Verleumdung, Lüge, Überdruss, Fresssucht, Unzucht, Habgier, Feigheit, Abgestumpftheit, Blasphemie, Stolz und Ruhmsucht werden von ihm dementsprechend thematisiert. Damit setzt er sich mit wesentlich mehr Lastern als der Pontier auseinander. Die Auseinandersetzung mit den Lastern, ja die Überwindung derselben ermöglichen letztlich erst einen Zustand, der für die Mönche seit dem vierten Jahrhundert das Ziel mönchischer Existenz darstellt: Dementsprechend beschreibt der Sinaite auf den Stufen 24 bis 26 die höchste mönchischen Tugenden, die Sanftmut, die Demut und die Unterscheidungsgabe. Damit ist der Weg der Läuterung, wie ihn Evagrios beschrieben hatte, faktisch zu seinem Ende gekommen. Nun wird auf den obersten Stufen ein Zustand beschrieben, den man als Mystik oder schlichtweg als den Zustand der Schau, der Theoria bezeichnen kann: Auf den Stufen 27 bis 30 geht es Johannes nämlich um die Herzensruhe, das Gebet, die Freiheit von den Leidenschaften, die Ataraxie also, und letztlich um die Liebe als Vollendung des geistlichen Weges. Dabei zielt Johannes Sinaites wie jeder Mystiker letztlich auf die Vereinigung mit Gott. Eine solche ereignet sich gerade im Gebet und in der Liebe. Erst ein solcher mystischer Prozess ermöglicht eine wirkliche Theologie, das Sprechen über Gott. Um einmal ein wenig den Stil des Sinaiten zu illustrieren, zitiere ich aus der 30. Stufe über das Thema der Liebe: „2. Wer über die Liebe sprechen will, macht sich daran, über Gott zu sprechen. Mit Worten aber über Gott Erläuterungen abzugeben ist für alle, die nicht achtgeben, unsicher und gefährlich. Über die Liebe zu reden verstehen die Engel und dieses nur nach dem Wirkungsgrad ihrer Erleuchtung. Gott ist Liebe. Wer Ihn hingegen Definitionen unterwerfen will, der zählt mit Blindheit geschlagen Sandkörner auf dem Boden des Ozeans. 3. Der Beschaffenheit nach ist die Liebe die Ähnlichkeit mit Gott, soweit es Sterblichen möglich ist, ihrer Wirkung nach hingegen die Trunkenheit der Seele und ihrer Eigenschaft nach wiederum eine Quelle des Glaubens, ein Abgrund an Langmut, ein Meer von Demut. 4. Die Liebe ist hauptsächlich das Ablegen jedes entgegengesetzten Willens, falls die Liebe wirklich an ‚nichts Böses denkt‘ (vgl. 1 Kor 13,5). Die Liebe, die Leidenschaftslosigkeit und die Annahme an Sohnes statt unterscheiden sich allein durch die Namensgebung. So wie Licht, Feuer und Flamme zu einer Wirkung zusammenlaufen, so musst du es auch bei diesen verstehen. Nach dem Maß der Unvollkommenheit besteht Furcht. Wer dagegen ohne Furcht ist, ist entweder von Liebe erfüllt oder der Seele nach gestorben.“ Eben darum, von Liebe erfüllt zu werden, geht es der Klimax. Das Textbeispiel dürfte deutlich gemacht haben, dass der Sinaite dabei keineswegs konsequent argumentiert. Die neuerlich publizierte Dissertation von Henrik R. Johnsén hat versucht, eine tiefere Argumentationsstruktur bzw. ein rhetorisches Grundmuster in der Klimax zu erarbeiten. Sie hat mich nicht wirklich zu überzeugen vermocht. Die Schrift des Sinaiten zeichnet sich nicht nur dadurch aus, dass sie das mönchische Leben sehr einfühlsam beschreibt, mit Beispielgeschichten auf Vorbilder hinweist und zahlreiche beeindruckende Aphorismen bietet. Vielmehr tauchen in der „Leiter“ auch The-

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men zum ersten Mal auf, die für die weitere Entwicklung ostkirchlicher Spiritualität von großer Bedeutung sind. Dies gilt z.B. für das so genannte Herzens-Gebet, das Johannes in Stufe 15 explizit erwähnt (gr. XV 76). Seine Ausführungen münden in Anweisungen, die sehr der später gepflegten Praxis des Herzensgebetes entsprechen: „Besteht die Möglichkeit, so ziehe dich zurück und verbirg dich für kurze Zeit an einem geheimen Ort, erhebe das Auge der Seele, oder zumindest die leiblichen Augen, kreuze unbeweglich deine Hände, um auch mit der Gestalt des Kreuzes den Amalek zu beschämen und zu bezwingen (vgl. Ex 17,11)! Rufe laut zu dem, der die Macht hat zu erretten, doch nicht mit ausgeklügelten Sprüchen, sondern mit demütigen Worten. Gebrauche als Einleitung vor allem: ‚Erbarme dich meiner, weil ich schwach bin!‘ (Ps 6,3). Daraufhin wirst du die Kraft des Höchsten erfahren und unsichtbar mit unsichtbarer Hilfe die Unsichtbaren vertreiben! Wer daran gewöhnt ist, auf diese Weise zu kämpfen, wird bald auch allein mit der Kraft der Seele die Feinde vertreiben können.“ Johannes hat keineswegs alle seine Gedanken selber entwickelt. Er ist tief verwurzelt in der monastischen Tradition. Einige seiner Vordenker nennt er selbst: So verweist er auf Johannes Cassian, Evagrios Pontikos und Gregor von Nazianz. Darüber hinaus sind eine Reihe seiner Quellen indirekt aus der „Leiter“ zu erschließen. In jedem Fall sind ihm auch Basileios von Kaisareia, Gregor von Nyssa und Diadochos von Photike bekannt. Vor allem ist der Sinaite aber in der Welt der Apophthegmata Patrum beheimatet. Auch dem rein topographisch benachbarten Gaza-Mönchtum seiner Zeit stand er nahe. So ergeben sich z.B. deutliche Überschneidungen mit dem Denken des Dorotheos von Gaza. Trotz der inhaltlichen Nähen lässt sich ein eigenes Profil der Klimax deutlich herausarbeiten. Der Sinaite war nicht einfach nur um eine Synthese bisheriger monastischer Konzepte bemüht. Oder genauer gesagt: Gerade in der Synthese liegt seine besondere Leistung. Dies wird vor allem darin deutlich, dass er ein monastisches Konzept jenseits konkreter gelebter monastischer Sozialformen herausgearbeitet hat. Das auf dem bereits erwähnten charismatischen Gehorsam basierende Konzept spielt für ihn dabei eine entscheidende Rolle. Diesen hebt Johannes in einem der ausführlichsten Kapitel, nämlich der vierten Stufe, daher auch ganz besonders hervor. Ein solcher Gehorsam spielt für ihn im Kloster ebenso eine wichtige Rolle wie in der Einsiedelei. Die Welt der Apophthegmata, die Welt des anachoretischen und semianachoretischen Mönchtums wird dementsprechend so stark wie nirgends sonst mit der übrigen Klosterwelt z.B. eines Basileios verbunden. Eine solche Synthese war in der Zeit des Johannes dringend nötig. Johannes kann ja nach der vorgeschlagenen Datierung als ein Mönch des 6. Jh.s gelten. Sein Hauptwerk, die Klimax, wurde dementsprechend in einer Zeit starken Wachstums des Sinai-Mönchtums verfasst. Das Mönchtum vor Ort befand sich in einer entsprechend disparaten Situation. Man kann regelrecht von einer Krise desselben sprechen. Auf der einen Seite wurde ein koinobitisches Normmönchtum, wie es vom Kaiserhaus gefördert wurde, auch auf dem Sinai implementiert. Davon zeugt der Bau des Dornbuschklosters, der immerhin vom Kaiser persönlich veranlasst worden ist. Auf der anderen Seite zogen sich die alteingesessenen Eremiten immer mehr in die abgelegenen Teile der Wüste zurück. Noch heute zeugen archäologische Überreste davon. In einigen Apophthegmen hat sich ein ausgesprochenes Krisenbewusstsein dieser alten Eremiten erhalten, die ihre Welt im Umbruch

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wahrnahmen. Wenn sich in der Klimax selber auch nirgends ein expliziter Hinweis auf das Krisenbewusstsein von Sinaimönchen oder gar die ausdrückliche Ablehnung von Justinians Klosterpolitik findet, so versucht sie doch implizit auf die neue Situation des Nebeneinanders von koinobitischen und semianachoretischen Lebensformen zu reagieren. Dabei geht es Johannes vor allem darum, zwar dem Koinobion einen Raum zu lassen, keineswegs aber die von Justinian eingeforderten Autoritätsstrukturen für ein Kloster zu übernehmen. Während bei Justinian die Regel bzw. die institutionelle Autorität von Abt und auch Bischof im Blick auf die Klöster hervorgehoben wird, entwickelt Johannes Sinaites ein ausgesprochen charismatisches Autoritätskonzept. Vom Charismatiker eingeforderter Gehorsam ist für Johannes die Regel des Klosters und auch semianachoretischer Verbände. Damit knüpft er an gewohnte Autoritätsstrukturen auf dem Sinai an, formuliert sie aber insbesondere in der vierten Stufe seiner Klimax wesentlich aus und wendet sie systematisch auf alle monastischen Organisationsformen an. Der geistlich-begründete Gehorsam, der in erster Linie auf das Heil der Seele des Mönches abzielt, wurde in der Ostkirche bekanntlich durch geistliche Väter oder Starzen auch von den Laien eingefordert und genießt bis heute ein enormes Ansehen.

3. Aspekte der Rezeption der Klimax und des Sinaiten Wie bereits eingangs erwähnt, ist die „Leiter“ des Sinaiten stark rezipiert worden. Die Rezeption beschränkt sich dabei keineswegs auf eine rein literarische Ebene. Vielmehr lässt sich ihre Rezeption auch auf der Ebene der bildenden Kunst, insbesondere in Form von Buch-Illuminationen und Wandfresken sowie im liturgischen Bereich feststellen. Die breite Form der Tradierung macht deutlich, dass die Klimax in unterschiedlichen, auch weit über das Mönchtum hinausgehenden Kreisen rezipiert wurde, die sie wiederum geprägt hat. 3.1 Handschriften, Übersetzungen, Scholien Die Breitenwirkung der Klimax macht zunächst die äußere Bezeugung, d.h. insbesondere die Fülle der Handschriften deutlich. Der Text gilt als einer der griechischen Kirchenvätertexte mit der stärksten Verbreitung. Ferner spricht die häufige Erwähnung von KlimaxHandschriften in Testamenten von Klosterstiftern sowie in Klosterinventaren für die starke Rezeption des Textes im klösterlichen Umfeld. Schon früh wurde die „Leiter“ in andere Sprachen übersetzt. Eine der ältesten Textvarianten überhaupt stellt eine syrische Übersetzung aus der Mitte des 7. Jh.s dar. Daneben existieren Übersetzungen ins Arabische (seit 901 belegt), Armenische, Georgische, Äthiopische (nur Teile), in die slawischen Sprachen, das Rumänische und Neugriechische. Zunächst auf der Basis der lateinischen Übersetzung ist die Klimax auch ins Italienische, Portugiesische, Spanische, Französische, Englische und schließlich ins Deutsche übertragen worden. Die vielen Übersetzungen machen deutlich, dass die Klimax hauptsächlich, aber keineswegs ausschließlich im ostkirchlich-orthodoxen Raum tradiert worden ist. Bisher ist noch nicht untersucht worden, wann die Klimax jeweils besonders stark abgeschrieben wurde. Ferner sind die Übersetzungen noch nicht systematisch historischen Kontexten zu-

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gewiesen worden. Nur in wenigen Fällen ist in der Forschung bisher bekannt, mit welchen Absichten Klimax-Übersetzungen durchgeführt wurden. Die zahlreichen Scholien, die zur „Leiter“ existieren, sind bereits umfassend dokumentiert. Sie stammen aus unterschiedlichen kirchlichen Kreisen, von Mönchen, Theologen und Hierarchen. Die Scholien zeugen von der Rezeption der Klimax in weiten Bereichen der ostkirchlich-orthodoxen Theologie. Selbst für die Entwicklung des ostkirchlichen Selbstbewusstsein so wichtige gelehrte Patriarchen wie Photios (820–893/94 ?) oder der Philosoph, Schriftsteller, Hofbeamte und vorübergehend auf dem bithynischen Olymp lebende Mönch Michael Psellos (1018 bis nach 1081) haben Scholien zur Klimax geschrieben und zeugen damit von einer Rezeption der Schrift in breiten Kreisen insbesondere ab dem 9. Jh. Ebenso bemerkenswert wie die Fülle der Handschriften, Drucke, Übersetzungen und Scholien der Klimax ist auch die Vielfalt derer, die solche Bücher nachweislich zur Hand genommen haben oder noch nehmen. Großer Einfluss der Klimax auf das Mönchtum besteht noch heute dadurch, dass der gesamte Text in der Großen Fastenzeit während des meist einzigen gemeinsamen Mahles am Tag in ostkirchlichen Klöstern gelesen wird. Durch diesen Brauch wird jeder orthodoxe, koinobitisch lebende Mönch wenigstens einmal im Jahr mit der Klimax konfrontiert. Auch bei der Einweisung ins Mönchtum spielt sie nach Aussagen zeitgenössischer Mönche eine zentrale Rolle. Bemerkenswert ist, dass die Klimax selbst unter den Regierenden eine nicht zu unterschätzende Wertschätzung erfahren hat. Sogar im Briefwechsel von Zaren hat sie einen zentralen Stellenwert eingenommen. So ist sie z.B. in der Korrespondenz Zar Ivans IV. (1530–1584) nach der Bibel das meistzitierte Buch. Der Zar führte es nicht nur in seinen Briefen an kirchliche, sondern auch an staatliche Würdenträger an. Eine wissenschaftliche Untersuchung steht auch zu diesem Phänomen noch aus. Das erste Zeugnis von der Benutzung der Klimax unter Laienchristen liegt im Umfeld Symeons des Neuen Theologen (ca. 949–1022) vor. Dieser hat das Buch in der Bibliothek seiner Vorfahren (πρόγονοι) vorgefunden, d.h. wohl konkret in der Bibliothek seines Vaters, der Laie war. Durch die Lektüre der Schrift soll sich Symeon dann allerdings zum Mönchtum entschieden haben. Eine breitere Rezeption der Klimax auch außerhalb des Mönchtums lässt sich erst in der Moderne nachweisen. Das hängt vor allem damit zusammen, dass über das Leseverhalten von Privatleuten im Bereich der ostkirchlichen Orthodoxie bis dahin wenig bekannt ist. Das bekannteste Zeugnis von einer stärkeren Rezeption unter Laien legt der Bericht „Aufrichtige Erzählungen eines russischen Pilgers“ ab, dessen erster Teil erstmals 1870 in Kasan und dessen zweiter Teil 1911 in Moskau erschien. Der Pilger war nicht nur Laie, sondern stand auch der kirchlichen Hierarchie und seiner zeitgenössischen akademischen Theologie teilweise kritisch gegenüber. Im ersten Teil seiner Erzählungen berichtet der Pilger lediglich darüber, dass er von der Frau eines Richters, die ihn zuvorkommend bewirtete, ein aus Moskau bestelltes Exemplar der Klimax mit auf den Weg bekam, um es ihrer Mutter, einer Nonne in einer Einsiedelei, zu überbringen. Diese Mutter scheint die Rolle einer Staretza innegehabt zu haben, da sie von vielen besucht und um Rat gefragt wurde. Es ist auffällig, dass eine solche „Geistliche Mutter“, die Laien beriet, eine Klimax benötigte. Im zweiten Teil berichtet der russische Pilger davon, dass er selber anderen aus der Klimax vorlas. Auch argumentiert er gelegentlich mit dem Buch. Da das Jesusgebet im Zentrum seiner Aufmerksamkeit steht, führt er in erster Linie Aussagen des Sinaiten zum Thema Gebet an.

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Johannes Sinaites

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Schon im Bereich der schriftlichen Überlieferung ist die Klimax also eindeutig wahrnehmbar über die Grenzen des Mönchtums hinaus rezipiert worden. 3.2 Kirchenkunst Einen Überblick über sämtliche Darstellungen der Klimax bzw. des Motivs der Himmelsleiter kann ich nicht geben. Es geht mir auch bei den folgenden Beispielen besonders um die Frage, ob die Klimax über die Grenzen einer bestimmten monastischen Organisationsform und auch diejenigen des Mönchtums hinaus überhaupt illustriert wurde. Von der breiten Wirkung der Klimax zeugt insbesondere die Ikonographie. Ab dem 11. Jh. lässt sich z.B. ein Zyklus von verschiedenen Tätigkeiten und Lebensumständen des Anachoretentums in den Handschriften der „Leiter“ wahrnehmen, die darauf hinweisen, dass der Text auch mit solchen monastischen Organisationsformen in Verbindung gebracht wurde. Im Bereich der Kunst wird ferner deutlich, dass die Klimax über die Grenzen des Mönchtums hinaus Beachtung finden konnte. Ein Zeugnis für eine solche Verbreitung der Idee der Klimax stellt die Außenbemalung einiger Kloster-Kirchen in der rumänischen Moldau dar. Diese Fresken haben gerade aufgrund ihrer Anbringung an Außenwänden nicht nur die Mönche und Nonnen der Klöster, sondern auch die Besucher derselben als Adressaten. Sie sind somit wohl als „Inszenierung orthodoxer Glaubenspropaganda“ zu verstehen. Dabei findet sich u.a. eine prächtige Darstellung der Klimax in der um die Wende zum 17. Jh. entstandenen Malerei der Klosterkirche von Suceviţa. Wissenschaftlich ist diese Darstellung der Himmelsleiter bisher noch nicht in ihren historischen Kontext eingeordnet worden. Es ist zu vermuten, dass die Abbildung der Leiter einer allgemeinen Konsolidierung der Betrachter mit Hilfe ursprünglich monastischer Tugendlehre in einer politisch schwierigen Zeit dienen sollte. Da oberhalb der Himmelsleiter von Suceviţa Paradiesesszenen bzw. typologisch verwoben die Schaffung des Menschen durch Christus und seines Sündenfalls dargestellt sind, wird ihr auch so ein – freilich u.a. durch den Sinaiten thematisch vorgezeichneter – allgemein anthropologisch-soteriologischer Rahmen gegeben. Somit ist sie nicht nur für den mönchischen Weg interpretierbar. Ähnliche Brücken zu einer öffentlichen, allgemeinen Rezeption des Sinaiten finden sich auch in Handschriften. Indem die Klimax z.B. in Psalterien zur Darstellung der „Unbefleckten, die nach dem Gesetz Gottes gehen“, benutzt wird, ergibt sich auch die Möglichkeit der Rezeption des Motivs über das Mönchtum hinaus. 3.3 Liturgische Tradition Die Tatsache, dass der Sinaite in der ostkirchlichen liturgischen Tradition nicht nur einen Festtag am 30. März, sondern auch einen zweiten am vierten Sonntag der großen Fastenzeit innehat, ist wohl ein Ausdruck dafür, dass die orthodoxe Kirche diesem Asketen eine besondere Bedeutung beimisst. Er steht somit an den Sonntagen der Fastenzeit in einer Reihe u.a. mit Gregorios Palamas oder Maria von Ägypten, die als das Paradigma der Ostkirche für Buße und Umkehr gelten kann. Indem der Sinaite an zwei Tagen besonders als asketischer Schriftsteller geehrt wird, wird seine Bedeutung allerdings zugleich über das Mönchtum hinaus vermittelt. Dementsprechend wird er im Apolytikion zum 30. März, das den Inhalt des Festes zusammenfasst, auch als Lichtgeber der ganzen bewohnten Welt gepriesen:

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Andreas Müller

„Durch die Ströme Deiner Tränen, bestelltest Du das unfruchtbare Land der Wüste, und durch die Seufzer aus der Tiefe, brachtest Du hundertfache Frucht im Blick auf Deine Mühen hervor, und Lichtgeber geworden für die Ökumene durch Wunder leuchtend, Johannes, unser Heiliger Vater: Bitte Christus, unseren Gott, dass unsere Seelen gerettet werden.“ Nach diesem Apolytikion wird Johannes nicht nur als Büßer, der die Gabe der Tränen selber pflegte, sondern auch als Wunder vollbringender Heiliger, Mittler und eben Erleuchter der Ökumene gefeiert. Das Apolytikion unterstreicht somit zum einen seine eigene asketische Vorbereitung auf sein Handeln und sein Charisma, zum anderen seine breite Wirkung. Obwohl in zahlreichen Texten für die beiden Festtage Johannes besonders mit Asketen und Mönchen in Verbindung gebracht wird, können jene anderseits häufig auch von einem breiteren Publikum, das nach tugendhaftem Wandel und nach einem Weg zum Himmel strebt, gelesen und gehört werden. Selbst wenn die Hymnen von Mönchen – wie der Kanon zum 30. März z.B. vom Klemens Stoudites (10. Jh.) – gedichtet wurden, so sind sie doch auch für eine nichtmonastische Gottesdienstgemeinde rezipierbar.

4. Schluss Zusammenfassend kann man also festhalten, dass Johannes Sinaites als einer der bedeutendsten spirituellen Autoren der östlichen Welt gelten kann. Wenn auch sein Wirken zeitbedingt geprägt ist, so besteht sein besonderer Wert in einer die Grenzen von Zeit, Sozialstrukturen und auch Raum übertretenden Theologie und Spiritualität. Er wurde nicht nur von Mönchen und Nonnen verschiedenster Prägung, sondern auch von vielen sogenannten Laienchristen hoch geschätzt. Dabei hat er den Weg des geistlichen Aufstiegs, den er auf der Basis zahlreicher vorhergehender Autoren entwickelt hat, in der gesamten Orthodoxie populär gemacht. Daher nimmt seine starke Verbreitung durch Handschriften, Kunst und auch kirchliche Hymnologie kaum Wunder. Johannes Sinaites hat dementsprechend vollkommen zu Recht einen Platz in der hiesigen Ringvorlesung erhalten, und sollte eigentlich auch in keiner theologiegeschichtlichen Standardvorlesung fehlen.

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Isaak von Ninive (7. Jh.) Neue Herausforderungen durch einen alten Heiligen Dmitrij F. Bumazhnov 1. Einführendes Der Einsiedler und Mystiker Isaak von Ninive, in der byzantinischen Tradition als hl. Isaak der Syrer bekannt, ist in mehr als einer Hinsicht ein höchst ungewöhnlicher Kirchenvater. Während er Zeit seines Lebens zur ostsyrischen Kirche des Ostens, den sogenannten Nestorianern,1 gehörte und ihr treu blieb, wurde er sowohl von den syrischen Jakobiten2 als auch von den syrischen Melkiten3 als ihr eigener Autor angesehen, und dies trotz deutlicher Zeichen konfessioneller Zugehörigkeit, die anfänglich in Isaaks Schriften zu finden waren. Über die Westsyrer (Jakobiten) und die syrischen Melkiten wurde Isaak von Ninive auch den byzantinischen Griechen und später generell in den Kirchen der byzantinischen Tradition sowie auch im lateinischen Westen bekannt. Paradoxerweise wird er in einigen Kirchen des byzantinischen Ritus als Heiliger verehrt, ohne dass er im strengen Sinne jemals zur byzantinischen Orthodoxie gehörte. Im christlichen Osten, wo die konfessionellen Unterschiede z.T. bis heute ernst genommen werden, ist derartige, seit dem Frühmittelalter andauernde ökumenische Geltung beeindruckend. Umso beeindruckender wird sie, wenn man sich vergegenwärtigt, dass Isaak von Ninive diese Geltung durch lediglich etwa eine Hälfte seines gesamten Werkes erlangte, während die zweite Hälfte bis vor wenigen Dezennien weder im Osten noch im Westen eine Rolle spielte und im Grunde so gut wie verschollen war. Der dritte hervorzuhebende Umstand ist die Entdeckung der verschollenen Hälfte der Werke Isaaks in der zweiten Hälfte des 20. Jh.s und ihre ‒ bis heute nicht abgeschlossene ‒ Publikation zwischen 1995 und 2011. Diese Funde sind wahrhaftig spektakulär und in der Patristik einmalig. Man wird sich kaum darüber wundern, dass die Entdeckung von rund gezählt sechshundert neuen Handschriftseiten für die Isaakforschung eine – wie im Titel dieses Beitrages angesprochen – Herausforderung darstellt. Die Herausforderung geht aber weit über die Grenzen des akademischen Interesses für neues Material und seine angemessene Bearbei1 2 3

Zu der syrischen Kirche des Ostens vgl. Wolfgang Hage, Das orientalische Christentum (Die Religionen der Menschheit 29,2), Stuttgart 2007, 269‒313. Die moderne Selbstbezeichnung dieser Kirche ist „Syrisch-Orthodoxe Kirche von Antiochia“, vgl. dazu a.a.O., 130‒167. In Unterschied zu der „nestorianischen“ Kirche des Ostens werden die Jakobiten auch als Westsyrer angesprochen. Als Melkiten wurden wegen ihrer Verbundenheit mit dem byzantinischen Kaiser (syr. malkā, arab. malik) die Anhänger des Konzils von Chalkedon (451 n.Chr.) von ihren Gegnern in christologischen Streitigkeiten bezeichnet, vgl. Johannes Madey, Art.: Melkitische Kirche, in: Hubert Kaufhold (Hg.), Kleines Lexikon des Christlichen Orients, Wiesbaden 22007, 346‒348.

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Dmitrij F. Bumazhnov

tung hinaus. Die Ideenwelt Isaaks ist genauso oder sogar noch ungewöhnlicher als seine Rezeptionsgeschichte. Die Wege dieser theologischen Herausforderung sind mannigfaltig, und wir stehen gerade am Anfang ihrer wirklichen Entfaltung. Das Ziel meines Beitrages ist, in gebotener Kürze auf die beiden Herausforderungen ‒ die akademische und theologische ‒ einzugehen, um letztlich eine Antwort auf die Frage zu geben, die uns Martin Tamcke im Kontext dieser Reihe mit aufgab: „Welchen Sinn macht es, sich Leben und Werk orientalisch-orthodoxer Christen zu vergegenwärtigen?“ Wir werden uns diesem Ziel in drei Schritten nähern: Nach den Kurzdarstellungen des Lebens und Werkes Isaaks sollen einige Einblicke in seine Ideenwelt gegeben werden, welche ‒ so hoffe ich ‒ verdeutlichen sollen, was Isaak uns heute zu sagen hat.

2. Leben Die drei Quellen, welche uns über das Leben Isaaks informieren, sind die syrische Kurzbiographie in der Sammlung der Viten bedeutender ostsyrischer Mönche Liber Castitatis („Das Buch der Keuschheit“) des Ischoʿdnaḥ von Basra (9. Jh.),4 eine anonyme, ebenfalls syrische kurze Lebensbeschreibung, die Ignatius Ephraem Rahmani 1904 herausgegeben hat,5 sowie eine arabisch überlieferte6 biographische Notiz eines jakobitischen Anonymus, bekannt durch die Erstedition von Joseph Assemani im Jahre 1719.7 Nach diesen Quellen entsteht folgendes Bild, welches jedoch möglicherweise nicht in allen seinen Teilen gleiche Historizität beanspruchen kann.8 Isaak wurde in Bet Qatraye geboren, d.h. in einer Region, die das heutige Emirat Katar im Osten der Arabischen Halbinsel und manche angrenzenden Gebiete umfasste (Ischoʿdnaḥ). Der Anonymus des Rahmani berichtet, dass Isaak aus der Familie eines nicht näher bekannten Exegeten Gabriel von Katar stammte, eine beträchtliche christliche Bildung genoss und Mönch und Lehrer seiner Kirche wurde. Der Katholikos (d.h. das Oberhaupt) der Kirche des Ostens Ge4

Išoʿdnaḥ von Basra, Liber castitatis 125; syr. Text: Paul Bedjan (Hg.), Liber superiorum seu Historia monastica auctore Thoma, episcopo Margensi; Liber fundatorum monasteriorum in regno Persarum et Arabum; Homiliae Mar-Narsetis in Joseph; Documenta partum de quibusdam verae fidei dogmatibus, Paris-Leipzig 1901, 508f; ital. Übersetzung: Sabino Chialà, Dall’ascesi eremitica alla misericordia infinita: Ricerche su Isacco di Ninive e la sua fortuna (Biblioteca della Rivista di Storia e Letteratura Religiosa, Studi 14), Firenze 2002, 53f. 5 Syr. Text: Ignatius Ephraem II Rahmani (Hg., Übers.), Studia Syriaca seu collectio documentorum hactenus ineditorum ex codicibus Syriacis (Seminario Scharfensi: Typis Patriarchalibus), 1904, lg [33]; lat. Übersetzung: ebd., 32f; ital. Übersetzung: Chialà, Dall’ascesi eremitica, 54f. 6 Der Text ist in arabischer Sprache mit syrischen Buchstaben geschrieben, diese Anwendung der syrischen Schrift nennt man Garschuni oder Karschuni, vgl. dazu Julius Aßfalg, Art.: Karšūnī, in: Hubert Kaufhold (Hg.), Kleines Lexikon des Christlichen Orients, Wiesbaden 22007, 223. 7 Arab. Text: Joseph S. Assemanus (Hg., Übers.), Bibliotheca Orientalis Clementino-Vaticana […] tomus primus De Scriptoribus Syris Orthodoxis, Roma 1719, 444b‒445a; lat. Übersetzung: ebd. 445a‒445b. 8 Eine kritische Behandlung der Quellen und eine darauf basierende Lebensbeschreibung Isaaks bietet Chialà, Dall’ascesi eremitica, 53‒63. Vgl. auch einen ähnlichen Entwurf von Alexey Muraviev, Mar Ishak Ninevijskij (prepodobnyj Isaak Sirin). Kniga o voshoždenii inoka, Pervoe sobranie (traktaty I‒VI) [Mar Isḥaq von Ninive (heiliger Isaak der Syrer). Das Buch über den Aufstieg eines Mönchs, Erste Sammlung (Traktate I‒VI), russisch], Moskau 2016, 20‒51 mit Überlegungen zur geographischen Lokalisierung der Wirkungsorte Isaaks.

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Isaak von Ninive

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wargis I. führte 676 in Bet Qatraye eine Synode durch, lernte bei dieser Gelegenheit Isaak kennen und ließ ihn ‒ wohl beeindruckt von seinen Fertigkeiten ‒ mit sich zurück nach Norden gehen, wo er Isaak zum Bischof von Ninive weihte (Anonymus des Rahmani, Ischoʿdnaḥ). Da Gewargis 680 starb, können wir die Bischofsweihe Isaaks relativ sicher zwischen 676 und 680 datieren. Demgemäß dürfte er etwa zwischen 630 und 650 geboren sein. Andere Daten sind nicht überliefert. Im Amt blieb Isaak allerdings nur fünf Monate, danach ist er mit Zustimmung des Katholikos zurückgetreten und ließ sich in den Bergen der heutigen süd-westiranischen Provinz Chuzistan (syr. Bēt-Hūzāyē) als Einsiedler nieder, während er eine lose Verbindung mit dem Kloster Rabban-Šāpūr unterhielt. In seinen späteren Jahren erblindete Isaak, so dass die Brüder seine Werke niederschreiben mussten (Anonymus des Rahmani, Ischoʿdnaḥ). Diese Information setzt einen gewissen Schülerkreis um Isaak voraus. Nach seinem Tode wurde er in Rabban-Šāpūr begraben (Anonymus des Rahmani). Der arabische Anonymus des Assemani berichtet im Zusammenhang mit dem Rücktritt aus dem Bischofsamt Folgendes. Als Bischof wurde Isaak einmal mit dem Streit zweier Christen konfrontiert, bei dem es ums Verleihen einer gewissen Geldsumme ging. Der reiche Gläubiger drängte zur Zahlung der Schuld und drohte mit weltlichem Gericht, der Schuldner bat um einen Aufschub. Nach der Bemerkung Isaaks, das Evangelium lehre, das Verliehene nicht zurückzuverlangen, umso mehr müsse man einen Aufschub fraglos gewähren,9 entgegnete der Reiche: „Lass meinetwegen das Evangelium beiseite.“ Verzweifelt über die Missachtung des Evangeliums in seinem Bistum und besorgt um eigenen geistlichen Fortschritt als Einsiedler10 unter derartigen Menschen, sieht sich Isaak zum Rücktritt genötigt. Legendär, wie diese Geschichte auf den ersten Blick anmuten kann, lässt sie sich jedoch mit einem Text Isaaks vergleichen. Darin11 behandelt er die Frage, ob ein Einsiedler einen Verbrecher auch dann nicht zum Tode verurteilen darf, wenn dessen Schuld offenbar ist und dem ungerechten Richter selbst eine tödliche Vergeltung ‒ etwa seitens der Verwandten des Klägers ‒ droht.12 Die Antwort Isaaks ist eindeutig: Ja, der Einsiedler muss nach dem Evangelium handeln und den schuldigen Verbrecher nicht zum Tode verurteilen, auch wenn dies für den Einsiedler selbst tödliche Konsequenzen haben soll. In beiden Fällen (d.h. beim arabischen Anonymus des Assemani und bei Isaak selbst) haben wir es mit einer 9 Lk 6,30. 10 Isaak selbst verstand sich ‒ sicherlich auch während seiner kurzen Bischofszeit ‒ als īḥīḏāyā (Eremit, Einsiedler) und schrieb für die īḥīḏāyē. Im syrischen protomonastischen Kontext des 3.‒4. Jh.s bezeichnete īḥīḏāyā (Plural īḥīḏāyē, gebildet vom Stamm ḥaḏ, „eins“) einen christlichen Asketen, vgl. Sebastian Brock, The Luminous Eye. The Spiritual World Vision of Saint Ephrem (Cistercian Studies Series 124), 1992, 136: „There would appear to be three basic ideas behind the term iḥidaya: singular, individual, unique; single-minded, not divided in heart; and single in the sense of unmarried, celibate.“ Im 7. Jh. war īḥīḏāyā als Bezeichnung eines eremitischen Mönchs verwendet, wobei die vielfältigen Nebenbedeutungen den syrischen Muttersprachlern sicherlich bewusst blieben. 11 Paul Bedjan (Hg.), Mar Isaacus Ninivita. De perfectione religiosa, Paris 1909, 69.455‒458. 12 Ausführlich dazu Dmitrij F. Bumazhnov, Der Tod des Einsiedlers für einen Verbrecher beim heiligen Isaak von Ninive und das syrische Stufenbuch. Ein neues Zeugnis für die „Märtyrer der Liebe“?, in: P. Gemeinhardt/J. Leemans (Hg.), Christian Martyrdom in Late Antiquity (300–450 AD). History and Discourse, Tradition and Religious Identity (Arbeiten zur Kirchengeschichte 116), Berlin-New York 2012, 225‒236.

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ungewöhnlichen Lebenssituation zu tun, in der ein Einsiedler13 sein Urteil über die Laien sprechen muss; in beiden Fällen geht es um die konsequente Orientierung am Evangelium im öffentlichen Bereich und um ernüchternde Folgen dieser Haltung. Ich erwähne hier die Episode mit dem Gläubiger und Schuldner nicht nur deswegen, weil sie einige Chancen auf biographische Authentizität hat und auf jeden Fall zum historischen Bild Isaaks gut passt. Vor allem soll sie in Kombination mit der oben nacherzählten Passage aus einem Werk Isaaks uns belehren, dass Isaak sich konsequent als Einsiedler verstand, offenbar als Bischof mit den radikalen Einstellungen eines Einsiedlers im laizistischen Bereich gescheitert war und sich danach auf das Einsiedlerleben und auf das Verfassen der für Einsiedler bestimmten Werke konzentrierte.

3. Werk Isaaks Werke wurden in Bänden bzw. Teilen (syr. penqīṯā [πίναξ] oder pālgūṯā) überliefert. Die mittelalterlichen Quellen berichten von vier (Anonymus des Assemani), fünf (Anonymus des Rahmani) oder gar sieben (ʿAbdischoʿ bar Brikha, 13. Jh.)14 Teilen. Der erste Teil liegt in zwei Versionen ‒ einer ost- und einer westsyrischen ‒ vor.15 Die ostsyrische, „nestorianische“ Version ist dem Original näher. Die westsyrischen Jakobiten haben die Texte Isaaks ihren eigenen theologischen Ansichten angepasst. U.a. galt die Anpassung den Namen der von Isaak zitierten großen Lehrer der Kirche des Ostens Diodor von Tarsus und Theodor von Mopsuestia, welche den Westsyrern als Häretiker galten. In der westsyrischen Fassung wurden sie durch die Namen der bei den Westsyrern anerkannten Kirchenväter Johannes Chrysostomos, Gregor von Nazianz oder Dionysios Areopagita u.a. ersetzt oder weggelassen. Die neuesten Erkenntnisse zeigen, dass Isaak auch von den syrischen Melkiten beansprucht worden war. Wahrscheinlich auf sie geht die Ersetzung des Namens des Euagrios Pontikos durch Nilus, Markos oder Gregor zurück (im Unterschied zu den Melkiten war Euagrios bei den Jakobiten nie anstößig).16

13 Bei dem Anonymus des Assemani versteht sich Isaak primär als Einsiedler, vgl. dazu o. Anm. 10. 14 Syr. Text mit lat. Übersetzung: Joseph S. Assemanus (Hg., Übers.), Bibliotheca Orientalis ClementinoVaticana […] tomi tertii pars prima De Scriptoribus Syris Nestorianis, Roma 1725, 104; ital. Übersetzung: Chialà, Dall’ascesi eremitica, 55. 15 Ausführlich dazu vgl. Grigory M. Kessel, The Manuskript Heritage of Isaac of Nineveh. A Survey of Syriac Manuscripts, in: Mario Kozah u.a. (Hg.), The Syriac Writers of Qatar in the Seventh Century (Gorgias Eastern Christian Studies 38), Piscataway 2014, 72‒80; ders., Rukopisnoe nasledie prp. Isaaka Sirina: obzor sirijskih rukopisej [Der handschriftliche Nachlass des hl. Isaak des Syrers: eine Übersicht der syrischen Handschriften, russisch], in: Proceedings of the First International Patristic Conference of Ss. Cyril and Methodius Theological Institute for Postgraduate Studies “Saint Isaac the Syrian and His Spiritual Legacy,” October 10th–11th, 2013, Moscow (hg. von Metropolitan Hilarion of Volokolamsk) Moscow 2014, 44‒52; ders., Sirijskij korpus sočinenij Mar Ishaka [Das syrische Korpus der Werke des Mar Isḥaq, russisch], in: Alexey Muraviev, Mar Ishak Ninevijskij (prepodobnyj Isaak Sirin). Kniga o voshoždenii inoka, Pervoe sobranie (traktaty I‒VI) [Mar Isḥaq von Ninive (heiliger Isaak der Syrer). Das Buch über den Aufstieg eines Mönchs, Erste Sammlung (Traktate I‒VI), russisch], Moskau 2016, 56‒79. 16 Kessel, Sirijskij korpus, 67.

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Isaak von Ninive

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Festzuhalten ist bei dieser Konstellation zweierlei. Erstens zeigt bereits die handschriftliche Überlieferung, dass Isaak von allen drei wichtigsten christlichen Konfessionen bereits unter den Syrern beansprucht worden ist. Zweitens ist hervorzuheben, dass seine Schriften außerhalb der syrischen Welt durch die griechische Übersetzung der interpolierten westsyrisch-melkitischen Fassung rezipiert worden ist. Außer der griechischen Übersetzung sind mittelalterliche Übersetzungen ins Arabische, Altgeorgische, Altkirchenslawische, Äthiopische und Lateinische bekannt.17 Eine dem Original nähere, 82 Traktate zählende ostsyrische Fassung wurde erst 1909 von Paul Bedjan anhand von acht ostsyrischen Handschriften herausgegeben, ohne dass westsyrisches oder melkitisches Material berücksichtigt wurde.18 Die Auffindung des zweiten und dritten Bandes am Ende des 20. Jh.s hat die Forscher auch auf die Überlieferungsgeschichte des ersten Bandes aufmerksam gemacht. Immer lauter werden die Stimmen, welche die Notwendigkeit einer Neuedition des syrischen ersten Bandes begründen, die das gesamte überlieferte handschriftliche Material berücksichtigen soll.19 Die Handschrift mit dem kompletten zweiten Teil wurde von Sebastian Brock in der Oxforder Bodleian Library 1983 entdeckt.20 Unter Heranziehung weiterer Textzeugen hat Brock 1995 die Traktate 4‒41 herausgegeben, welche etwa die Hälfte des Fundes ausmachen.21 Die Traktate 1‒3 sind in einer Reihe von Übersetzungen zugänglich, das syrische Original ist bisher nicht veröffentlicht.22 Das einzige komplette Manuskript des dritten Teiles mit 13 Traktaten wurde in der Bibliothek des Chaldäischen Erzbischofs von Teheran (Issayi 5) aufbewahrt. Sabino Chialà hat eine kritische Edition dieses Teiles 2011 veröffentlicht. 23 Die Authentizität der beiden von ihm 2013 herausgegebenen Traktate, die nach 17 18 19 20

Ausführlich zur Übersetzungsgeschichte vgl. Chialà, Dall’ascesi eremitica, 325‒364. Der syr. Text des ersten Teiles: Bedjan, Mar Isaacus; engl. Übersetzung: Wensinck, 1923. Vgl. z.B. Kessel oben Anm. 15. Vgl. Sebastian Brock, (Hg., Übers.), Isaac of Nineveh (Isaac the Syrian). The Second Part. Chapters XV-XLI (CSCO 554‒555, Scriptores Syri 224‒225) 1995, XV. 21 Ebd. 22 Traktat II 3 ital. Übersetzung: Paolo Bettiolo (Übers.), Isacco di Ninive. Discorsi Spirituali. Capitoli sulla Conoscenza, Preghiere, Contemplazione sull’Argomento della Gehenna, Altri Opuscoli, Magnano 2 1990, 49‒197; Traktate II 1‒2 engl. Übersetzung: Sebastian Brock, St Isaac the Syrian. Two Unpublished Texts, in: Sobornost/Eastern Churches Review 19 (1997), 7‒33; Traktate II 1‒41 franz. Übersetzung: André Louf (trans.), Isaac le Syrien, Œuvres spirituelles II, 41 discours récemment découverts, Bégrolles-en-Mauges 2003; ders., Isaac le Syrien, Œuvres spirituelles III, d’après un manuscrit récemment découvert, Bégrolles-en-Mauges 2009; Traktate II 1‒3 neugriech. Übersetzung: Νέστωρ Καββαδᾶς, Ισαακ του Συρου, Ἀσκητικὰ 2α: Λόγοι Α´–Γ´ (Θήρα 22006) [Nestor Kavvadas (Übers.), Isaak tu Siru, Askitika 2α: Logoj Α´–Γ´ [Isaak der Syrer, Asketische Traktate 2α: Werke 1‒3], Thira 2 2006; ders., Ισαακ του Συρου, Ἀσκητικὰ Β2: Λόγοι Γ´–ΙΑ´ (Θήρα 2006) [Nestor Kavvadas (Übers.), Isaak tu Siru, Askitika B2: Logoj Γ´–ΙΑ´ [Isaak der Syrer, Asketische Traktate B2: Werke 3‒11], Thira 2006; Traktate II 3 (in Auszügen), engl. Übersetzung: Grigory Kessel (Übers.), Isaac of Nineveh’s Chapters on Knowledge, in: Mario Kozah u.a. (Hg.), An Anthology of Syriac Writers from Qatar in the Seventh Century (Gorgias Eastern Christian Studies 39), Piscataway 2015, 253‒280. Bei Verweisen auf die Werke Isaaks von Ninive bedeutet die römische Zahl den Band bzw. Teil und die arabische die Nummer des jeweiligen Traktates in diesem Teil. 23 Syr. Text u. ital. Übersetzung: Sabino Chialà, (Hg., Übers.), Isacco di Ninive. Terza collezione (CSCO 637‒638, Scriptores Syri 246‒247), 2011; engl. Übersetzung: Mary T. Hansbury, Isaak the Syrian. The Third Part, in: Mario Kozah u.a. (Hg.), An Anthology of Syriac Writers from Qatar in the Seventh Century (Gorgias Eastern Christian Studies 39), Piscataway 2015, 281‒440.

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handschriftlichen Zeugnissen dem fünften Teil entstammen sollen,24 wurde bis jetzt nicht genügend diskutiert, der Herausgeber hält sie jedenfalls für unsicher.25 Ebenfalls kritisch ungeprüft ist die Isaaksche Verfasserschaft des vierten Teiles, die neulich in mittelalterlicher arabischer Übersetzung publiziert worden ist.26 Die sich aus dieser Quellenlage ergebenden dringenden Aufgaben für die Isaakforschung betreffen: 1. Edition der Traktate 1‒3 des zweiten Teiles; 2. Bestimmung der Autorschaft der vorhandenen Überlieferung des vierten und fünften Teiles; 3. kritische Edition des syrischen ersten Teiles; 4. Untersuchung der Übersetzungs- und Rezeptionsgeschichte; 5. allseitige inhaltliche Untersuchung des gesamten überlieferten Materials. Soweit die akademischen Herausforderungen. Abgesehen davon kann man durchaus von theologischen Herausforderungen sprechen, die sich in unterschiedlicher Art und Weise aus bestimmten Gedanken Isaaks ergeben.

4. Ideenwelt. Einige Einblicke Isaak von Ninive war nachweislich zu ganz unterschiedlichen Zeitpunkten der Rezeptionsgeschichte seiner Ideen ein umstrittener Theologe. Davon zeugt z.B. die bereits oben erwähnte Überlieferung des ersten Teiles seiner Werke bei den syrischen Jakobiten und Melkiten, die nicht ohne theologische Anpassung vonstattengehen konnte. In den mittelalterlichen Quellen findet man Zeugnisse von Anhängern und Gegnern des theologischen Nachlasses Isaaks, und in beiden Fällen handelt es sich um emotional geladene Stellungnahmen, die zwischen Neid, Begeisterung und Ablehnung kursieren.27 Als Beispiel einer aktuellen 24 Syr. Text und ital. Übersetzung: Sabino Chialà, (Hg., Übers.), Due discorsi ritrovati delle Quinta parte di Isacco di Ninive?, in: Orientalia Christiana Periodica 79 (2013), 61‒112; engl.Übersetzung: Hansbury, Isaak the Syrian, 441–470. 25 Vgl. Sabino Chialà, (Hg., Übers.), Due discorsi ritrovati delle Quinta parte di Isacco di Ninive?, in: OrChrP 79 (2013), 61‒112, 112; Ders., Two Discourses of the “Fifth Part” of Isaac the Syrian’s Writings. Prolegomena for Apokatastasis?, in: Mario Kozah u.a. (Hg.), The Syriac Writers of Qatar in the Seventh Century (Gorgias Eastern Christian Studies 38), Piscataway 2014, 123‒131. 26 Vgl. kritische Edition von Mario Kozah, The Fourth Part of Isaac Qaṭraya’s Ascetical Homilies in Garshuni, in: ders. u.a. (Hg.), An Anthology of Syriac Writers from Qatar in the Seventh Century (Gorgias Eastern Christian Studies 39), Piscataway 2015, 471‒691, nach fünf Garschunihandschriften; eine Übersetzung ist nicht vorhanden. 27 Ischoʿdnaḥ von Basra betont z.B., dass Isaak wegen seiner Lehre beneidet worden war, siehe Bedjan, Liber superiorum, 509. Der gleiche Autor berichtet, dass drei Leitsätze (syr. sūʿrānē) Isaaks „von vielen nicht angenommen worden sind“ (ebd.). Der ostsyrische Christ Ḥanūn ibn Yūḥannā ibn as-Ṣalt (zweite Hälfte des 9. Jh.s – zu seiner Person und seinem Werk vgl. Georg Graf, Geschichte der Christlichen Arabischen Literatur 2 [Studi e testi 133], Vaticano 1947, 150f, und Mark N. Swanson, Art.: Ḥanūn ibn Yūḥannā ibn as-Ṣalt, in: David Thomas/Alex Mallett [Hg.], Christian-Muslim Relations. A Bibliographical History 2 [900–1050] [History of Christian-Muslim Relations 14] Leiden-Boston 2010, 158‒162) überliefert sechs Punkte, bei denen Isaak und seine Kritiker unterschiedlicher Meinung waren: die Erschaffung Adams als sterblich bzw. unsterblich; ob der Ungehorsam der Kreatur Gottes Zorn hervorrufen kann; ob die Bestrafung der Sünder ewig dauern wird; ob das Erbarmen Gottes den verstorbenen Gerechten und Sündern gegenüber im Jenseits gleich ist; ob die Vorsehung die irdischen Güter (arabisch: ʾarzāq) nach den Verdiensten der Menschen verteilt; ob die Seelen die während ihres irdischen Lebens erlangte Erkenntnis nach dem Tode beibehalten, vgl. Paul Sbath, (Hg., Übers.), Traités religieux, philosophiques et moraux, extraits des œuvres d’Isaac de Ninive (VIIe siècle) par ibn as-Salt (IXe

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Diskussion kann man die seit der Publikation der russischen Übersetzung des zweiten Teiles im Jahre 2000 andauernde Polemik über die Rechtgläubigkeit Isaaks in der Russischen Orthodoxen Kirche anführen.28 Obwohl die Rezeptionsgeschichte des theologischen Nachlasses Isaaks noch geschrieben werden muss, versuche ich, mich dem Phänomen seiner Ausstrahlung von zwei unterschiedlichen Seiten anzunähern. Erstens möchte ich einige Ergebnisse der 2015 erschienen Untersuchung von Nestor Kavvadas referieren, der demonstrieren konnte, dass die Werke Isaaks z.T. bereits an und für sich in einem polemischen Kontext entstanden sind und bis zu einem gewissen Grad polemisch gemeint waren. Das Verständnis dieser ursprünglichen Intention macht m.E. klar, was Isaak grundsätzlich ablehnt und bejaht. Im zweiten Schritt sollen einige theologische Traditionen erschlossen werden, in denen Isaak gestanden hat und die ihn z.B. von der byzantinischen Orthodoxie unterscheiden. Diese Skizze soll theologiegeschichtlich verdeutlichen, warum das Christentum Isaaks so besonders ist. 4.1 Polemischer Kontext Bevor ich auf den polemischen Kontext der Werke Isaaks eingehen kann, soll an folgende historische Gegebenheiten erinnert werden. Erstens ist die ostsyrische Schulbewegung zu nennen. Die Bildung spielte generell bei den Ostsyrern und auch bei den ostsyrischen Mönchen eine prominente Rolle. Eine der wichtigsten überlieferten Quellen dieser Bewegung ist „Die Ursache der Begründung der Schulen“ des Ostsyrers Barḥadbšabbā (spätes 6. Jh.).29 Dieser Text erzählt die Weltgeschichte als Geschichte der Schulen, an deren Anfang die Schule der Engel bei der Erschaffung der Welt und am Ende die Schule von Nisibis steht, in der und für die besagtes Werk geschrieben worden ist. Wichtig in unserem Kontext ist die schulische Auffassung von der Gotteserkenntnis, die Barḥadbšabbā entfaltet. Gott solle demnach aus der Welt – mithilfe der durch den Neuplatoniker Porphyrios vermittelten aristotelischen Logik – erkannt werden.30 Dieser und ähnlicher Schultheologie stellt Isaak von Ninive die asketisch-mystische gnadenhafte Gotteserfahrung entgegen.31

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siècle). Texte arabe publié pour la première fois, avec corrections et annotations, et suivie d’une traduction française et d’une table des matières, Le Caire 1934, 16‒18 (arab. Text,) 77‒78 (franz. Übersetzung). Auf der anderen Seite äußern sich sowohl ibn as-Ṣalt als auch der näher nicht bekannte Mar Dazdaq (zit. beim Anonymus des Rahmani) voller Begeisterung über Isaak: vgl. Mar Dazdaq, „Die Schriften des Mar Isaak waren für mich eine große Stütze und Stärkung“ (Rahmani, Studia Syriaca, lg [33]). Vgl. Wassilios Klein, Die Heiligkeit des Syrers von Ninive (7. Jh.) in der neuzeitlichen orthodoxen Überlieferung, in: M. Tamcke (Hg.), Syriaca II. Beiträge zum 3. deutschen Syrologen-Symposium in Vierzehnheiligen 2002 (Studien zur Orientalischen Kirchengeschichte 33), Münster 2004, 91–104. Syr. Text mit franz. Übersetzung: Addai Scher (Hg., Übers.), Mar Barḥadbšabba ‘Arbaya, évêque de Ḥalwan (VIe siècle). Cause de la foundation des écoles (PO 4,4), 1908, 317–404; engl. Übersetzung: Adam H. Becker, Sources for the Study of the School of Nisibis (Translated Texts for Historians 50), Liverpool 2008, 86‒160. Darüber ausführlich Adam H. Becker, Fear of God and the Beginning of Wisdom. The School of Nisibis and the Development of Scholastic Culture in Late Antique Mesopotamia, Philadelphia 2006, 126‒154; Dmitrij F. Bumazhnov, Eine exegetische Rechtfertigung des philosophischen Unterrichts an der theologischen Schule von Nisibis? Die Erschaffung der Welt nach Barḥadbšabba ‘Arbaya, in: Peter Gemeinhardt (Hg.), Zwischen Exegese und religiöser Praxis. Heilige Texte von der Spätantike bis zum klassischen Islam, Tübingen 2016, 177–204. Vgl. Becker, Fear of God, 184‒188; Dmitrij F. Bumazhnov, Zwischen Schule und Schweigen. Der hl.

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Zweitens ist zu vergegenwärtigen, dass in der Kirche des Ostens seit der zweiten Hälfte des 5. Jh.s eine Spannung zwischen der Kirchenleitung und dem nicht-koinobitischen Mönchtum bestand. Die Spannung gipfelte in der Verurteilung der drei ostsyrischen Mystikern Johannes von Dalyatheh (8. Jh.), Johannes von Apamea (5. Jh.) und Josef (Yawsep) Ḥazzaya (8. Jh.) auf einer Synode unter dem Katholikos Timotheos I. im Jahr 786/787.32 Ohne hier die Nuancen des Konfliktes im Einzelnen darstellen zu können, möchte ich mit Kavvadas und anderen darauf hinweisen, dass sich Isaak von Ninive der Gefahr einer Verurteilung bzw. folgenschweren Kritik für seine theologischen Ansichten bewusst war.33 Kavvadas erarbeitet eine ganze Reihe von sensiblen Punkten, bei denen Isaak polemisch wurde bzw. mit andersartigen Meinungen rechnete.34 Die drei wichtigsten davon betreffen Gotteserkenntnis, Exegese und Liturgie bzw. Gebetspraxis. Die bereits oben angesprochene Polemik um die Gotteserkenntnis wird in Isaaks Kritik der sogenannten „Philosophen“ greifbar, welche eine von Isaak nicht weiter definierte „philosophische“ Erkenntnis Gottes vertraten. Dieser stellt Isaak eine unmittelbare Gotteserkenntnis durch den Heiligen Geist gegenüber. 35 Aus dem Kontext der Polemik lässt sich ableiten, dass die „Philosophen“ Isaaks keineswegs heidnische Philosophen, sondern u.a. auch philosophisch gebildete Mönche gewesen sind. In Bezug auf die Exegese fühlt sich Isaak frei, die Bibeltexte gegen ihren buchstäblichen bzw. durch die Tradition festgelegten Sinn zu deuten und verteidigt diese Freiheit.36 Dabei beruft er sich auf besondere Offenbarungen, d.h. auf seine Autorität als Pneumatikers.37 Im liturgischen Bereich geht es Isaak um die „Freiheit des geistlichen Gebets gegenüber dem festen kanonischen Ordo der kirchlichen Liturgie.“38 Konkret handelt es sich darum, dass der Mönch einen durch Gebet erreichten besonderen geistlichen Zustand (Geisteserfahrung) wegen kirchlich festgelegter Gebete nicht unterbrechen muss. Im Mittelpunkt steht wiederum die Freiheit eines Geistesträgers. Kavvadas betont zu Recht, dass Isaak auf keinen Fall offensiv gegen die kirchliche Lehre oder Ordnungen polemisiert, sondern lediglich die Eigenständigkeit der mit dem Geist Gottes Begabten innerhalb der Kirche defensiv in Schutz nimmt. Allerdings befindet sich

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Isaak von Ninive und die ostsyrischen „Schulphilosophen“, in: Peter Gemeinhardt/Ilinca TanaseanuDöbler (Hg.), „Das Paradies ist ein Hörsaal für die Seelen“. Institutionen religiöser Bildung in historischer Perspektive, Tübingen 2018, 201–219. Vgl. Assemanus, tomus primus, 100f; Khalil S. Samir, Le premier Entretien d’Élie de Nisibe avec le vizir Ibn ‘Alī al-Maġribī, sur l’unité et la Trinité, in: Ders., Foi et culture en Irak au XIe siècle. Élie de Nisibe et l’Islam (Variorum Collected Studies Series 544), Aldershot 1996, 38f. Samir bietet eine Chronologie der Verurteilung und ihrer Rezeption in der syrischen Literatur. Vgl. Nestor Kavvadas, Isaak von Ninive und seine Kephalaia Gnostika: Die Pneumatologie und ihr Kontext (VigChri.S 128), Leiden 2015, 8‒24. A.a.O., 50. Vgl. a.a.O., 77‒138; Dmitrij F. Bumazhnov, „Wahrheit ist Gott“. Hl. Isaak von Ninive über die Lektüre der Eremiten, in: ZAC 19 (2015), 149–171, 161‒164; Ders., Schule und Schweigen, 201–219. Vgl. Kavvadas, Isaak von Ninive, 43f. Vgl. Bumazhnov, Eine exegetische Rechtfertigung, 184f. Kavvadas, Isaak von Ninive, 50. Ausführlich zu diesem Themenkomplex vgl. Ders., Beobachtungen zum Verhältnis zwischen ostsyrischem Eremitentum und kirchlicher Liturgie am Beispiel Isaaks von Ninive. Liturgie und Ritual in der Alten Kirche (Studien der Patristischen Arbeitsgemeinschaft 11), Leuven 2011, 177‒186.

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nach Isaak die Kirche (oder der Katholikos?) auf der „höchsten Stufe der psychischen Existenzweise“, also nicht im Zustand des Geistes, der einem Pneumatiker vorbehalten ist.39 4.2 Theologische Tradition Der für Isaak wohl wichtigste Kirchenvater war Theodoros von Mopsuestia (gest. 428). Von ihm übernimmt Isaak die Vorstellung von zwei Katastasen (κατάστασις) oder Äonen, die sowohl die ganze Zeit nach der Weltschöpfung bis zur Auferstehung (die erste Katastase) als auch das Leben nach der Auferstehung (die zweite Katastase) umfassen.40 Das übliche Schema der Heilsgeschichte kennt dagegen drei Abschnitte: 1. von der Schöpfung bis zum Sündenfall; 2. Sündenfall und der aktuelle Zustand danach; 3. Himmelreich. Nach Theodoros und Isaak ist die erste, jetzt andauernde Katastase durch Veränderung, Sünde, Leiden und Tod gekennzeichnet. Sie ist aber endlich. In der zweiten, ewigen Katastase, die mit der allgemeinen Auferstehung anbrechen soll, werden alle Plagen aufgehoben. Der Zweck der aktuellen ersten Katastase ist pädagogisch:41 Der Mensch soll durch diese Schule hindurchgehen, um die Vorzüge des ewigen Lebens im Reich Christi schätzen zu lernen und eigene Schwäche zu erkennen. In diesem Äon wird die zweite Katastase durch die Auferstehung Christi und die Sakramente der Kirche (bei Theodoros) sowie durch die Geisteserfahrung der Asketen (bei Isaak) vorweggenommen.42 Es bedarf keiner besonderen Erklärung, dass der Sündenfall Adams und Evas nach der Katastasenlehre des Theodoros eine weniger ausgeprägte Rolle spielt,43 als es bei lateinischen und griechischen Kirchenvätern oder z.B. beim Apostel Paulus der Fall ist.44 Diese Theologen sehen die Sünde der Protoplasten als zentrales Ereignis der Weltgeschichte, das die menschliche Existenz grundsätzlich bestimmt. Bei den ostsyrischen Autoren, die in der

39 Kavvadas, Isaak von Ninive, 48, Zitat: II 20,18. Über die Deutungsmöglichkeiten dieser Stelle (Kirche/Katholikos) vgl. Brock, Isaac of Nineveh, 111, Anm. 1. 40 Zur Lehre des Theodoros von zwei Katastasen vgl. Peter Bruns, Den Menschen mit dem Himmel verbinden. Eine Studie zu den katechetischen Homilien des Theodor von Mopsuestia (CSCO 549, Sub. 89), 1995, 384‒402; Günter Koch, Die Heilsverwirklichung bei Theodor von Mopsuestia (Münchener theologische Studien 31), München 1965, 66f. Von der Übernahme und Weiterentwicklung dieser Lehre durch Isaak von Ninive vgl. Kavvadas, a.a.O., 58‒66. Bei Isaak wird die Vorstellung von zwei Weltäonen nicht selten vorausgesetzt, vgl. z.B. I 61 (Bedjan, Mar Isaacus, 436) und I 73 (503) und Kavvadas, a.a.O., 64f. 41 Vgl. dazu Robert Macina, L’homme à l’école de Dieu. D’Antioche à Nisibe: profil herméneutique, théologique et kérygmatique du mouvement scoliaste nestorien, in: POC 33 (1983), 37‒57. 42 Vgl. Kavvadas Isaak von Ninive, 143‒147. 43 Wie schon oben ausgeführt, wird der Sündenfall bei Theodoros und in der von ihm geprägten Tradition nicht als besonderes Ereignis gesehen, das die Mensch- und Heilsgeschichte in zwei grundlegende Abschnitte vor und nach ihm aufteilt. 44 Theodoros ist der Autor der polemischen Schrift Contra defensores peccati originalis (lat. Fragmente in Eduard Schwartz (Hg.), Concilivm Vniversale Ephesenvm, Acta Conciliorvm Oecvmenicorvm V,1, Berlin-Leipzig 1924/1925, 173‒176 = PG 66, 1005‒1012), in der er gegen die Dialogi contra Pelagianos des Hieronymus polemisiert und die Erbsündenlehre des Augustins widerlegt; vgl. dazu ausführlich Nestor Kavvadas, Theodore of Mopsuestia’s Against the Defenders of Original Sin, in: Alexander Hwang/Brian Matz/Augustine Casiday (ed.), Grace for Grace. The Debates after Augustine & Pelagius, Washington DC 2014, 271‒293, dort auch mehr zur Überlieferung des Traktates des Theodoros.

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Tradition des Theodoros von Mopsuestia stehen, wird der Sündenfall viel weniger explizit betont.45 Im Folgenden wird an einigen Beispielen zu zeigen sein, wie die Katastasentheologie des Theodoros bei Isaak nachwirkt und wie sich einige theologische Aussagen Isaaks aus ihrem historischen und theologischen Kontext heraus deuten und verstehen lassen. 4.3. Fallbeispiele Bereits der ostsyrisch-arabische Christ Ḥanūn ibn Yūḥannā ibn as-Ṣalt46 verzeichnet unter den umstrittenen Lehren Isaaks von Ninive die Allerlösung.47 In der Tat vertrat er die Meinung, dass die Höllenquallen, wenn auch schrecklich, aber doch nicht ewig sind und Gott alle Menschen ‒ unabhängig von ihren Sünden in dieser Katastase ‒ letztlich erlösen wird:48 Er (d.h. Gott) ist auch den Untergegangenen49 nahe und lindert ihre Qual und spricht barmherzig über sie Urteil. Denn in der künftigen Welt spricht die Gnade [Gottes] Recht, nicht [seine] Gerechtigkeit. [Gott] vermindert die Länge der Leidenszeit und durch seine Gnade macht Er alle seines Königreiches würdig. Als Begründung betont Isaak, dass man sich Gott unmöglich rachsüchtig oder zornig, d.h. menschlichen Leidenschaften unterworfen, vorstellen kann. Deswegen kann Gott den Menschen unmöglich zürnen.50 Seine grundsätzliche und unveränderliche Einstellung gegenüber dem Menschen ist die Liebe.51 Die ewige Strafe würde eine Änderung in dieser Einstellung bedeuten, die Vorstellung von Veränderung ist aber mit Gott unvereinbar.52 Gott hat nach Isaak die menschliche Natur absichtlich als schwach geschaffen,53 um sie in der Schule dieser Katastase über ihre Schwäche und über die Güte des Schöpfers zu belehren.54 Der Sündenfall Adams war mehr oder weniger von Gott geplant.55 Zugleich liegt 45 Isaak von Ninive kommt äußerst selten auf den Unterschied zwischen dem Zustand der Menschen im Paradies und danach zu sprechen, eine der wenigen, sehr kurz gehaltenen Stellen ist III 7,35. 46 Vgl. o. Anm. 27. 47 Vgl. die dritte umstrittene Frage bezüglich der Lehre Isaaks bei ibn as-Ṣalt, d.h. ob die Bestrafung der Sünder ewig ist (s. o. Anm. 27). Ibn as-Ṣalt referiert die Meinung Isaaks dazu: „Der Schöpfer ist barmherzig und zu edel dafür wegen Seiner unveränderlichen und unentäußerlichen Güte“ (arab. Text bei Sbath, Traités religieux, 17). Wenn nicht anders angegeben, stammen alle Übersetzungen von mir. 48 III 6,18 (Chialà, Isacco di Ninive, 35,4–7). Die Hervorhebung in der Übersetzung ist von mir. 49 Chialà, Isacco di Ninive, 54 übersetzt ʾabīḏē als „coloro che sono già morti“. Ausgehend von der üblichen Bedeutung des Verbes ʾeḇaḏ (zugrunde gehen) und von dem Kontext der Stelle wäre allerdings anzunehmen, dass mit ʾabīḏē nicht alle Toten ohne Unterschied, sondern die bereits verstorbenen besonders hartnäckigen Sünder angesprochen sind. 50 II 39,2. 51 II 39,2‒3; II 40,1‒4. 52 II 40,1. 53 Isaak folgt Theodoros von Mopsuestia in der Vorstellung, dass Gott den Menschen als sterblich erschaffen wollte und diesem Plan auch Folge geleistet hat, vgl. dazu ausführlich Nestor Kavvadas, Some Observations on the Theological Anthropology of Isaac of Nineveh and Its Sources, in: Scrinium 4 (2008), 147‒157, 150‒153. Nach dieser Auffassung ist also der Tod nicht eine Folge des Sündenfalls sondern Teil des göttlichen Plans. 54 Vgl. III 7,26: „Another power weaves a crown for him (d.h. für den Menschen, vgl. 2 Tim 4,8): that One who has wisely formed his wretchedness so as to reveal His goodness, knows his tendency to

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die Verantwortung für die Entscheidung für oder gegen Gott doch bei dem Menschen, weil sein Wille stärker als die Natur ist.56 Deswegen erwartet die eklatanten Sünder doch die ‒ zwar nicht ewige ‒ Bestrafung in der Gehenna.57 Dieses Beispiel demonstriert, dass die Zwei-Katastasen-Lehre die Bedeutung des Sündenfalls in der Tat verringert und seine ewige Bestrafung im Grunde sinnlos macht. Andernfalls würde Gott Menschen für die von ihm selbst geschaffene Schwäche ihrer Natur, welche zum Sündenfall geführt hat, endlos in der Gehenna peinigen. Aus diesem Kontext wird auch die für Isaak charakteristische Betonung der unveränderlichen Liebe Gottes zu den Menschen verständlich. Gott ist nach Isaak nicht gerecht, sondern barmherzig: „Du sollst nicht Gott als gerecht bezeichnen, denn seine Gerechtigkeit ist nicht daraus ersichtlich, wie es dir ergeht.“58 Die Barmherzigkeit Gottes uns gegenüber soll nach Isaak Beispiel für uns sein bei unserer Behandlung der Mitmenschen, bei der wir jede Gerechtigkeit ausschließen müssen:59 „Barmherzigkeit und Gerechtigkeit in einer Seele sind wie jemand, der Gott und Götzen im gleichen Haus verehrt. Überall ist die Barmherzigkeit der Feind der Gerechtigkeit.“60 „Der Barmherzige, wenn er die Gerechtigkeit nicht überwindet, ist nicht barmherzig. Das bedeutet, dass er nicht allein aus sich heraus mit Menschen barmherzig umgehen, sondern auch die Ungerechtigkeit mit Freude und freiwillig ertragen soll. Auch soll er die volle Gerechtigkeit im Umgang mit seinem Mitmenschen weder etablieren noch suchen, sondern ihn barmherzig behandeln und die Gerechtigkeit durch die Barmherzigkeit besiegen […].“61 Die gleiche Barmherzigkeit und tiefes Betroffensein durch fremdes Leiden geht ferner auf die ganze Kreatur über:62

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change. Such that every day, he must be justified by forgiveness of his faults which God grants and does not hinder. [This occurs] to show in him the goodness of His nature, that the weakness of human nature might by a herald of His sweetness and a witness of His mercy.“ Übersetzung nach Hansbury, Isaak the Syrian, 350. Vgl. auch III 7,38. Valentina Duca, Human Weakness in Isaak of Nineveh and the Syriac Macarian Corpus. A First Investigation, in: Aramaic Studies 14 (2016), 134‒146, hat neulich das Thema der menschlichen Schwäche bei Isaak mit dem Einfluss des syrischen Korpus des Makarios von Ägypten in Verbindung gesetzt. Die Idee der absichtlichen Erschaffung des Menschen als schwach und derer Übernahme von Theodoros von Mopsuestia werden allerdings nicht berücksichtigt. Zu diesem Problemkomplex siehe Bumazhnov, Mir, 189‒193. Vgl. II 39,4: „It was not disobedience which introduced death to the house of Adam, nor did transgression removed them from Paradise, for it is clear that (God) did not create Adam and Eve to be in Paradise, (just) a small portion of the earth; rather they were going to subjugate the entire earth.“ Übersetzung nach Brock, Isaac of Nineveh, 164. Vgl. I 38 (Bedjan, Mar Isaacus, 293,19). Zum Verhältnis zwischen dem menschlichen Willen und der menschlichen Natur bei Isaak von Ninive vgl. Dmitrij F. Bumazhnov, „Gott liebt nicht die Person, sondern die Natur des Menschen.“ Hl. Isaak von Ninive über die Liebe Gottes zur menschlichen Natur im Kontext seiner Lehre von der allgemeinen Erlösung. Einfluss Maximus des Bekenners oder Entwicklung eigener Ideen?, in: Ilinca Tanaseanu-Döbler u.a. (Hg.), Reading the Way to the Netherworld. Education and the Representations of the Beyond in Later Antiquity (Beiträge zur Europäischen Religionsgeschichte 4), Göttingen 2017, 426–444, 434‒438. Vgl. II 40,7. I 50 (Bedjan, Mar Isaacus, 357,9f). Über die unveränderliche Liebe Gottes vgl. auch II 39,22. Zu diesem Themenkreis vgl. Bumazhnov, Grenzen der Gerechtigkeit. I 50 (Bedjan, Mar Isaacus, 345,1‒3). I 4 (Bedjan, Mar Isaacus, 43,1‒6). I 74 (Bedjan, Mar Isaacus, 507,13‒19).

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Dmitrij F. Bumazhnov

„Was ist ein mitleidvolles Herz? […] Entflammen des Herzens für die ganze Schöpfung: für Menschen, Vögel und Tiere und für die Dämonen und [für] alles, was ist, so dass, wenn man sich an diese erinnert oder sie sieht, die Augen aus Mitleid und einem starken Mitgefühl, welche das Herz bedrücken, Tränen vergießen. Das Herz wird schmächtig und kann nicht ertragen, Verletzung oder [auch] ein winziges Leid eines [beliebigen] Teiles der Schöpfung wahrzunehmen oder mit zu verfolgen.“ Kommen wir aber zu der Nachwirkung der Lehre von den zwei Katastasen der Welt und der daraus folgenden verminderten Bedeutung des Sündenfalls im theologischen Denken Isaaks zurück. Konsequenterweise versteht Isaak den Kreuzestod Christi nicht als Kompensation für den Sündenfall, sondern als Zeichen der unendlichen Liebe Gottes zu den Menschen, so in einen nichtpublizierten Text aus dem zweiten Teil:63 „Und [warum] wurde Er (Christus) für die Sünder auf dem Kreuz ausgestreckt und überlieferte diesen Seinen heiligen Leib in das Leiden für die Welt? Ich behaupte nun, dass Gott dies nicht wegen etwas anderes gemacht hat, außer um der Welt seine Liebe bekannt zu machen, damit sich unsere Liebe [zu Ihm] aus ebendiesem Gefühl vergrößere, wir von Seiner Liebe [zu uns] gefangen genommen würden, [und] damit die große Kraft des Himmelreiches, welche die Liebe ist, durch den Tod Seines Sohnes eine Gelegenheit hätte, [sich zu zeigen]. Der Tod unseres Herrn ist gar nicht geschehen, damit er (der Tod) uns von den Sünden befreie, und nicht wegen eines anderen [Grundes], sondern einzig damit er die Welt die Liebe spüren lasse, welche Gott zu der Schöpfung hat. Wenn diese Seine ganze Mission [, die] voller Wunder [war,] nur wegen des Sündenerlasses geschehen wäre, [so] hätte es gereicht, dass Er [die Menschen] durch etwas anderes errettet hätte.“ Die Zwei-Katastasen-Lehre steht auch hinter einer anderen Vorstellung, die im Kontext der Alten Kirche exzeptionell irenisch klingt. In einem ebenfalls nichtveröffentlichten Text behauptet Isaak nämlich, der Streit um die theologische Wahrheit sei ein sicheres Zeichen dessen, dass die betreffende Person die Wahrheit eben noch nicht erkannt hat – so Kephalaia gnostika 4,77:64 63 II 3,4,78, zitiert nach der Handschrift Oxford Bodleian Library, ms.syr.e.7, f. 102v‒103r: ‫ܚܛܝܐ‬ ̈ ‫ܘܚܠܦ‬ ܿ ‫ܘܠܗܘ ܦܓܪܐ ܩܕܝܫܐ ܠܚܫܐ‬ ܿ ܿ ‫ ܐܢܐ ܕܝܢ‬.‫ܐܫ ܸܠܡ ܚܠܦ ܼܥܠܡܐ‬ ‫ܥܒܕ‬ ‫ܬܡܬܚ ܥܠ ܨܠܝܒܐ܇‬ ‫ܼܐ‬ ܼ ‫ ܕܐܠ ܡܛܠ ܡܕܡ ܐܚܪܝܢ‬.‫ܐܡܪܢܐ‬ ܼ ‫ܐܠܗܐ ܠܗܕܐ܉ ܐܐܠ ܐܢ ܡܛܠ ܕܚܘܒܐ ܕܐܝܬ ܠܗ ܢܘܕܥ ܠܥܠܡܐ܇ ܕܒܝܕ ܚܘܒܢ ܝܬܝܪܐ ܕܡܢ ܡܪܓܫܢܘܬܐ ܗܕܐ ܠܚܘܒܗ‬ ܿ :‫ܚܛܗܐ ܼܢܦܪܩܢ‬ ̈ ‫ ܠܘ ܟܠܗ ܡܛܠ ܕܡܢ‬.‫ܚܘܒܐ ܒܝܕ ܡܘܬܐ ܕܒܪܗ ܼܢܥܒܕ ܼܥܠܬܐ‬ ‫ܼܢܫܬܒܐ܇ ܕܚܝܐܠ ܪܒܐ ܕܡܠܟܘܬܐ ܕܫܡܝܐ ܕܐܝܬܘܗܝ‬ ܿ ‫ܘܠܘ ܡܛܠ ܡܕܡ ܐܚܪܝܢ ܗܘܐ ܡܘܬܗ ܕܡܪܢ܉ ܐܐܠ ܒܠܚܘܕ ܕܥܠܡܐ‬ ܿ ‫ ܐܠܘ ܡܛܠ‬.‫ܒܪܝܬܐ‬ ‫ܪܓܫ ܒܚܘܒܐ ܕܩ ܸܢܐ ܐܠܗܐ ܠܘܬ‬ ‫ܢ‬ ܸ ܸ .‫ܗܘܐ ܗܢܐ ܟܠܗ ܣܘܥܪܢܐ ܕܬܕܡܘܪܬܐ܉ ܿܣܦܩ ܼܗܘܐ ܕܒܡܕܡ ܐܚܪܝܢ ܢܦܪܘܩ‬ ̈ ‫ ܫܘܒܩܢ‬Der Text II 3 ist als ܸ ‫ܚܛܗܐ ܒܠܚܘܕ‬ Kephalaia gnostica bekannt; sie umfassen vier Zenturien, jede von etwa hundert kurzen und längeren Sprüchen bestehend. Bei Verweisen auf die Kephalaia gnostica bedeutet die zweite römische Ziffer die Nummer der Zenturie und die dritte die Nummer des Spruches darin. 64 II 3,4,77, Oxford Bodleian Library, ms.syr.e.7, f. 102r–v: ‫ ܡܢ‬2 ‫ ܿܨܒܐ ܐܢ̄ܬ ܠܡܥܕ ܠܓܒܪܐ ܕܦܠܝܫ ܠܒܗ܆‬1 ‫ܕܛܥܡ ܠܫܪܪܐ ܐܦ‬ ‫ ܐܝܢܐ‬3 ‫ܕܪܓܫܘܗܝ ܆ ܘܡܢ ܿܗܝ ܕܥܠ ܟܠ ܡܕܡ ܕܡܡܠܠ ܡܬܚܪܐ ܠܡܙܟܐ ܒܗ ܇‬ ̈ ‫ܡܡܠܠܗ ܣܓܝܐܐ ܘܕܘܘܕܐ‬ ܸ ܿ ‫ ܐܝܢܐ ܕܡܣܬܒܪ‬4 .‫ܐܠ ܥܠ ܫܪܪܐ ܡܬܚܪܐ‬ ‫ܒܒܢܝ ܐܢܫܐ ܚܠܦ ܫܪܪܐ܆ ܗܢܐ ܐܦ ܐܠ ܥܕܟܝܠ ܝܠܦܗ ܠܫܪܪܐܐܝܟ ܡܐ‬ ̈ ‫ܕܛܐܢ‬ ܼ ܿ ‫ܐܝܬܝܗ‬ ‫ܘܝܕܥܬܗ ܐܠ‬ ‫ ܡܘܗܒܬܗ ܕܐܠܗܐ‬6 ‫ ܡܐ ܓܝܪ ܕܝܠܦ ܫܪܝܪܐܝܬ ܦܐܫ ܠܗ ܐܦ ܡܢ ܛܢܢܐ ܕܚܠܦܘܗܝ ܀‬5 .‫ܕܐܝܬܘܗܝ‬ ܼ ܿ ܿ 7 .‫ܡܠܝܐ ܐܝܟܐ ܕܫܪܐ ܪܘܚܐ ܘܚܘܒܐ ܘܡܘܟܟܐ‬ ܿ ‫ ܐܐܠ‬.‫ܥܠܬܐ ܠܫܓܘܫܝܐ ܘܩܥܬܐ‬ ‫ܘܗܕܐ ܼܗܝ ܐܬܐ ܕܡܐܬܝܬܗ‬ ‫ܟܠܗ ܫܝܢܐ‬ ܼ ܿ ‫ܕܪܘܚܐ܆‬ ‫ ܪܥܝܢܐ ܕܐܪܓܫ ܒܐܠܗܐ ܐܦ ܐܠ ܠܫܢܐ ܐܝܬ‬9 .‫ ܫܪܪܐ ܐܝܬܘܗ ܼܝ ܐܠܗܐ‬8 .‫ܡܬܓܡܪ ܿܗܘ ܿܡܢ ܕܐܓܢ ܒܗ‬ ‫ܕܒܗܠܝܢ‬ ܼ ‫ ܘܐܠ‬.‫ ܘܐܠ ܡܬܬܙܝܥܢܘܬܐ ܕܚܡܬܐ‬.‫ ܘܠܝܬ ܠܗ ܙܘܥܐ ܕܛܢܢܐ ܘܐܠ ܚܪܝܢܐ‬10 ‫ ܘܒܢܘܚܐ ܪܒܐ ܫܪܐ ܒܠܒܗ܆‬.‫ܠܗ ܕܢܡܠܠ‬ ‫ ܐܐܠ ܒܫܝܢܐ ܪܒܐ ܕܐܠ‬11 ‫ ܘܐܠ ܪܓܬܐ ܕܡܕܡ ܘܠܘ ܨܒܝܢܐ ܕܢܦܫܗ ܠܡܥܒܕ ܪܓܝܓ܆‬.‫ܐܦܝ ܗܝܡܢܘܬܐ‬ ̈ ‫ܠܡܬܬܙܥܘ ܥܠ‬

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Isaak von Ninive

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„1 Du möchtest einen Mann erkennen, dessen Herz gebrochen ist? 2 [Du kannst ihn] daraus [erkennen, dass] er viel redet, und aus der Verwirrung seiner Gefühle und daraus, dass er bei allem, worüber er redet, Streit sucht, [um] in dieser [Sache] die Oberhand zu gewinnen. 3 Wer die Wahrheit gekostet hat, streitet auch nicht über die Wahrheit. 4 Wer mit Menschen wegen Wahrheit zu wetteifern scheint, der hat auch die Wahrheit noch nicht erkannt, wie sie ist. 5 Denn wenn er sie wahrhaftig erkannt hat, nimmt er auch von dem Eifer ihretwegen Abstand. 6 Die Gabe Gottes und seine Erkenntnis sind keine Ursache für Unruhe und Geschrei, vielmehr ist jede [Stätte], wo der Geist Wohnung nimmt, voll von Frieden, Liebe und Demut. 7 Und dies ist das Zeichen des Kommens des Geistes, dass derjenige, auf dem Er ruht, durch diese65 vollkommen wird. 8 Die Wahrheit ist Gott. 9 Der Intellekt, der Gott wahrgenommen hat, hat auch keine Sprache, um zu reden, und in großer Ruhe wohnt Er in seinem Herzen ein. 10 Und er hat keine Bewegung des Eifers, noch Streitsucht, noch die Bewegung des Zornes, noch [ist er in der Lage,] wegen des Glaubens in Bewegung gesetzt zu werden, noch [hat er] Begierde nach irgendetwas, noch begehrt der Wille seiner Seele nach dem Tun. 11 Sondern seine Seele bleibt in großem Frieden ohne Worte und in großer Ruhe. 12 Man wird nämlich aus Unwissenheit dazu getrieben, wegen der Unwissenheit und Korrektion der anderen [zu wetteifern].“ Isaak übernimmt manche dieser Gedankengänge aus dem 7. Brief des Dionysius Areopagita.66 Anders als bei Dionysius wird die Wahrheit mit Gott Selbst identifiziert (V. 8). Die unmittelbare Erkenntnis der Wahrheit bzw. des Geistes Gottes (V. 7) ist allein dem Mystiker vorbehalten. Sie stellt das Eindringen der künftigen Katastase in diesen Äon dar und führt zur vollkommenen inneren Stille. Diese unmittelbare Erkenntnis Gottes übertrifft in jeder Hinsicht die theologische Gelehrsamkeit der jetzigen Katastase, die nach Isaak nur zum unproduktiven Streit führen kann (V. 2f.12). Deutlich stehen hinter dieser Überlegung Isaaks Reflektionen über die theologischen Auseinandersetzungen mit gelehrten mönchischen „Philosophen“ seiner Zeit.67 Ihnen sagt er: „Wer mit Menschen wegen Wahrheit zu wetteifern scheint, der hat auch die Wahrheit noch nicht erkannt, wie sie ist“ (V. 4). Etwas enigmatisch klingt eine weitere Aussage Isaaks aus dem dritten Band, in der er die Liebe Gottes zu den Menschen beschreibt:68 „Er (d.h. Gott) hat den Schuldnern [Seine Gnade] gezeigt, die [Ihm] fünfhundert Denare und fünfzig [Denare] schuldeten.69 Nicht weil Er sie mehr liebte, machte [Gott] dies bei ihnen, denn Er liebt die anderen nicht weniger als sie. Denn Er liebt nicht die Person, sondern die Natur. Und wenn seine Liebe der Natur gilt,70 werden alle Personen – die guten und die bösen – innerhalb der Grenzen seiner Liebe eingeschlossen.“ 65 66 67 68 69 70

.‫ܕܐܚܪܢܐ‬ ̈ ‫ ܡܢ ܐܠ ܝܕܥܬܐ ܓܝܪ ܐܢܫ ܡܬܬܙܝܥ ܇ ܚܠܦ ܐܠ ܝܕܥܬܐ ܘܬܘܪܨܐ‬12 .‫ܡܬܡܠܠ ܘܒܫܠܝܐ ܪܒܐ ܿܫܪܝܐ ܢܦܫܗ‬ Nämlich durch Frieden, Liebe und Demut. Vgl. dazu Bumazhnov, Erkenntnis der Wahrheit. Vgl. dazu oben unter 4.1. III 6,30–31 (Chialà, Isacco di Ninive, 37,14–20). Lk 7,41f. Wörtlich: „Und wenn es die Natur ist, die Er liebt […]“.

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Dmitrij F. Bumazhnov

Die von Isaak postulierte Liebe Gottes zur Natur und nicht zur Person (parzopa) des Menschen71 läuft dem neuzeitlichen Personalismus stark entgegen. In seinem Denken gewährleistet sie, dass Gott alle Menschen – die guten wie die bösen – gleich liebt und lieben wird. Diese Liebe hat noch vor Erschaffung des Menschen – also noch vor der Entfaltung des Persönlichen – angefangen, wurde weder vom Sündenfall noch vom Verhalten eines jeden in dieser Katastase betroffen72 und wird in der zweiten Katastase nach allgemeiner Auferstehung unverändert andauern. Gott bleibt seiner Liebe immer treu. Durch die Behauptung, dass Gott vom Verhalten der Person absieht und sich auf die Natur konzentriert, erreicht Isaak zugleich die Bewahrung der menschlichen Freiheit während des Selbstentfaltens in diesem Äon und die Bestätigung der Vorstellung von endgültiger Allerlösung. Denn wenn Gott alle Menschen grundsätzlich gleich wegen ihrer gemeinsamen menschlichen Natur liebt, dann werden alle – früher oder später – aufgrund dieser Liebe das Reich Christi erreichen. Die Kehrseite dieser Konstruktion ist, dass man offenbar die Vorstellung fallen lassen muss, Gott wäre unsere Eigenart genauso wichtig wie uns. Eine Konsequenz, die Isaak selbst aus dem zitierten Grundsatz zieht, ist, dass wir ‒ dem Vorbild Gottes folgend ‒ unsere Mitmenschen gemäß unserer gemeinsamen menschlichen Natur und nicht nach ihrem persönlichen Verhalten bewerten und behandeln sollen.

5. Abschließendes Das massive Erscheinen der unbekannten Werke Isaaks von Ninive am Ende des 20. und am Anfang des 21. Jh.s, die auch auf die vertrauten Schriften Isaaks ein neues Licht werfen, ist ein Phänomen, dessen genaue Bedeutung den Zeitgenossen möglicherweise vorenthalten sein wird. Nichtdestotrotz kann man bereits jetzt sagen, dass Isaak über das Christentum etwas entscheidend Wichtiges und unglaublich Aktuelles weiß. Dieses Etwas philologisch, historisch und theologisch herauszuarbeiten, ist die Herausforderung, vor die uns dieser ostsyrische Asket und Mystiker des 7. Jh.s stellt.

71 Das zitierte Stück wird in Bumazhnov, „Gott liebt nicht“, analysiert. 72 Vgl. II 40,1f.

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Kontextuelle Neuformulierung christlicher Lehrinhalte im islamischen Raum Exemplarisch-vergleichende Analysen zwischen Johannes von Damaskus und Theodor Abū Qurrah* Vasile-Octavian Mihoc 1. Einleitung In seinem 2008 erschienenen Buch „The Church in the Shadow of the Mosque. Christian and Muslims in the World of Islam“ klagt Sidney Griffith, einer der weltweit anerkannten Spezialisten für das arabische Christentum, den bisherigen Mangel an Interesse für die Geistesgeschichte der seit Jahrhunderten in der Welt des Islams lebenden Christen bei den westlichen christlichen Denkern an. Ihre wissenschaftliche Beschäftigung habe sich – so Griffith – auf die konfessionelle Geschichte dieser Christen begrenzt, mit wenig oder gar keiner Erwähnung ihres intellektuellen und kulturellen Engagements mit den Muslimen oder ihres wissenschaftlichen Beitrags zur Zeit der Entwicklung der klassischen Kultur des Islams. Diejenigen, die sich einen tieferen Einblick in eine komparative Theologie zwischen Christentum und Islam verschaffen wollten, hätten sich nur auf einige Namen, wie etwa Petrus Abaelardus (1079–1142/3), Thomas von Aquin (1225–1274) oder Nikolaus von Kues (1401–1464), beschränkt.1 Auch wenn inzwischen die Geschichte der interkulturellen und interreligiösen Begegnung dem orientalischen Christentum und dem Islam in den letzten Jahren aufgrund der wachsenden Präsenz der Muslime in Westeuropa und Nordamerika verstärkt Beachtung fand und die Erforschung des Christlichen Orients in verschiedenen Einzeldisziplinen erfolgt, die jeweils auf bestimmte christliche Konfessionen, Sprachen und geographische Regionen konzentriert sind, so fehlen bis heute von fast allen Werken des melkitischen Theologen und Bischofs von Ḥarrān in Mesopotamien, Theodor Abū Qurrah (ca.750 bis ca. 830), eine kritische Edition, eine Überlieferungsgeschichte oder ihre Chronologie sowie historisch-theologische Kommentare. Ebenso ist eine grundlegende Klärung des Verhältnisses seiner arabischen zu den griechischen Schriften noch nicht unternommen worden.

* 1

Dieser Beitrag ist ein Ausschnitt aus meinem Buch Christliche Bilderverehrung im Kontext Bilderlosigkeit. Der Traktat über die Bilderverehrung von Theodor Abū Qurrah (ca. 755 bis ca. 830), Wiesbaden 2017. Princeton u.a. 2008, 176.

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Vasile-Octavian Mihoc

Theodor Abū Qurrah gilt „als erster kirchlicher Schriftsteller […], der sich der arabischen Sprache, und zwar schon mit vollendeter Gewandtheit zur Darlegung und Verteidigung des christlichen Glaubensgutes, in grösserem Ausmasse bedient hat.“2 Sidney Griffith machte deutlich, dass Theodors Werke „were the first fruits of the new scholarship cultivated at Mar Sabas monastery“3. Mit seiner schriftstellerischen Aktivität wurde Theodor zum ersten bedeutenden Vermittler des christlichen Erbes an die islamischen Araber. Dabei schöpfte er aus den griechischen und syrischen Überlieferungen und machte deren Inhalte im arabischen Sprach- und Kulturraum präsent. Diese Inhalte stellte er im Dialog mit dem Islam dar, so dass er als einer der bedeutendsten Urheber des christlich-islamischen Dialogs betrachtet werden kann. Unter seinem Namen haben sich 16 Schriften auf Arabisch und 43 Opusculae (kleine Schriften) auf Griechisch erhalten, von denen nicht alle zweifelsfrei ihm zugeschrieben werden können. Weitere 30 Schriften auf Syrisch, auf die er in seinem „Mīmar über den Tod Christi“ hinweist, sind verloren oder noch nicht identifiziert worden. Theodor behandelt in seinen Schriften christliche Grunddogmen und theologische Topoi, wie die Existenz Gottes und seine Attribute, die Trinität, die Providenz, die Inkarnation, die Natur und Struktur der kirchlichen Leitung, die Willensfreiheit des Menschen und die Bilderverehrung. Von allen Schriften Theodors sticht die Schrift über die Bilderverehrung hervor.4 Sie ist nicht nur in ihrer literarischen Form (pastorales Schreiben) etwas Besonderes im Vergleich zu den anderen Schriften, sondern sie bietet ein ausführliches Zeugnis für ein religiösgesellschaftliches Phänomen, das sich unter den Christen in Syrien im Zuge der islamischen Kampagne gegen den öffentlichen Bilderkult entwickelte: religiöse Ikonophobia. 5 Die Bedeutung der Schrift wächst mit der Tatsache, dass sie die einzige ihrer Art in arabischer Sprache in der Zeit der großen interreligiösen und innerchristlichen Kontroversen um die Legitimität der christlichen Bilder ist. Darüber hinaus bietet die Bilderschrift Einblicke, wie bekannt der Qur’an, die Hadith-Sammlung und die religiösen Praktiken der Muslime unter den Christen der frühen Periode des Islam waren. Ferner erlaubt sie Einblicke in die interreligiösen Beziehungen zwischen den drei monotheistischen Religionen und das Verhältnis zwischen Selbstwahrnehmung und Sicht auf den Anderen zu Anfang der abbasidischen Zeit.

                                                             2 3 4

5

Georg Graf, Geschichte der christlichen arabischen Literatur 2. Die Schriftsteller bis zur Mitte des 15. Jahrhunderts, Rom 1947, 7. Sidney H. Griffith, Stephen of Ramlah and the Christian Kerygma in Arabic in Ninth-Century Palestine, in: JEH 36 (1985), 23–45, 36. Ioannes Arendzen, Theodori Abu Kurra de Cultu Imaginum Libellus e Codice Arabico Nunc Primum Editus Latine Versus Illustratus, Bonn 1897 (mit lat. Übersetzung); Ignace Dick, Traité du culte des icônes/Maymar fi ikram al-ayqunat li-Thawudhurus Abi Qurra, édition, présentation et indexation, Jounieh u.a. 1986; Übersetzungen: Georg Graf, Die arabischen Schriften des Theodor Abû Qurra, Bischof von Harran (ca. 740–820), Paderborn 1910, 278–333; Sidney H. Griffith, A Treatise on the Veneration of the Holy Icons, Louvain 1997; P. Stéphane Bigham, Les images chrétiennes, Montréal 2010; Paola Pizzo, Theodoro Abu Qurrah. Difesa delle icone. Trattato sulla venerazione delle immagini, Milan 1995. Sidney H. Griffith, Christians, Muslims and the Image of the One God. Iconophilia and Iconophobia in the World of Islam in Umayyad and Early Abbasid Times, in: Brigitte Groneberg/Hartmut Spieckermann (Hg.), Die Welt der Götterbilder, Berlin u.a. 2007, 347–380, 355.

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Kontextuelle Neuformulierung

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Die literarischen Überlieferungen und die archäologischen Funde machen deutlich, dass in der ersten Periode des Bildersturms die Verehrung der Ikonen ein wesentlicher Teil der chalcedonischen Orthodoxie war. Dies bedeutet, dass sich die Melkiten speziell genötigt fanden, ihr ikonophiles Profil stärker herauszubilden als die anderen christlichen Gemeinschaften unter dem Islam. Diese religiöse Praxis leistete Wesentliches für die religiöse Identität der melkitischen Christen. Das bedeutet aber nicht, dass die anderen christlichen Gemeinschaften Ikonoklasten waren, sondern nur, dass die Melkiten mit ihrer charakteristischen Form der Bilderverehrung in besonderer Weise auf islamische Kritik stießen. Im Gegensatz zu den Melkiten ist die Stellungnahme der anderen zwei großen christlichen Konfessionen, der Ostsyrer (Nestorianer) und der Westsyrer (Jakobiten), zur Verehrung der christlichen Bilder und Kreuze mit Korpus eher nur vereinzelt anzutreffen6 und wenig ausgeprägt.7 Die christlichen Bilder, die im mehrheitlich islamischen Kontext ein äußeres Wahrzeichen des Christentums und Ausdruck eines ganz anderen religiösen Bewusstseins waren, wurden während der Regierungszeit von ʿAbd al-Malik (685–705) und seinen Nachfolgern zu einem Streitobjekt. Mit diesen Kalifen beginnt eine entscheidende Wende in der Gestaltung des öffentlichen Raums im Herrschaftsbereich der Muslime, der durchaus christliche Symbole beinhaltete. Durch die öffentliche omnipräsente Inszenierung der qurʾānischen Botschaft bekam dieser Raum neue rituelle Züge. Die Ritualisierung koppelte sich von den vorgefundenen religiösen Traditionen nicht ganz ab, sondern wurde von ihnen bedingt. Sie hatten einen autorisierenden Effekt in der Konstruktion der islamischen Religion. Die politische Autorität stärkte sich dadurch und wirkte auf dem sozialen Kontext in gleicher Weise, wie die kaiserliche Autorität in Byzanz dies tat. Die politisch-religiöse Inszenierung durch die Kalifen war somit ein Teil des kulturell geerbten Repertoires. Mit dem Bau prächtiger Moscheen strebten sie an, die vorgeprägte religiöse Landschaft in die eigene religiöse Praxis aufzunehmen. Die neuen Heiligtümer sollten die „Fortsetzung und die abschließende Glaubensäußerung der Leuten des Buches“ zum Ausdruck bringen.8 Gleichzeitig wollten die Kalifen die Überlegenheit und die Stärke des Islams und des neuen Staates bekunden.9 Dies und die Einschränkung oder sogar das totale Verbot des Ausdrucks des Christentums im öffentlichen Raum drängte zu einer besonderen Art von Sozialverhalten muslimischer und nicht-muslimischer Bürger. Der Wunsch und das Recht des religiös An6

Der „monophysitische“ Bischof von Ḥīra, Georg, lehnte in einem Brief im Jahre 714 die ikonoklastische Position der Armenier ab. Paul. J. Alexander, The Patriarch Nicephoros of Constantinople. Ecclesiastical Policy and Image Worship in the Byzantine Empire, Oxford 1958, 42. 7 Sebastian P. Brock, Iconoclasm and the Monophysites, in: Anthony Bryer/Judith Herrin, Iconoclasm. Papers given at the Ninth Symposium of Byzantine Studies University of Birmingham, Birmingham 1977, 53–57; Emmanuel Delly, Le culte des saintes images dans l’Église Syrienne Orientale, in: OrSyr 1 (1956), 291–296; Jean Dauvillier, Quelques témoignages et archéologiques sur la presence et sur le culte des images dans l’ancienne Église Chaldéenne, in: ebd., 297–304; Jules Leroy, Les manuscrits syriaques à peintures conservés dans les Bibliothèques d’Europe et d’Orient. Contribution a l’étude de l’iconographie des églises de langue syriaque, Paris 1964, 37–46; I.-H. Dalmais, Un „Aconisme Nestorien“? Une legende et son interpretation, in: François Boespflug/Nicola Lossky (Hg.), Nicée II. 787– 1987. Douze siècles d’images religieuses. Actes du colloque international Nicée II tenu au collège de France, Paris les 2, 3, 4 Octobre 1986, Paris 1987, 63–72; Laurence E. Browne, The Eclipse of Christianity in Asia, Cambridge 1933, 74–80. 8 Oleg Grabar, The Umayyad Dome of the Rock in Jerusalem, in: Ars Orientalis 3 (1959), 33–62, 56. 9 A.a.O., 55.

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Vasile-Octavian Mihoc

deren wurde durch das Bestreben der Kalifen einer homogenen religiös-sozialen Identität in der islamischen Gesellschaft minimalisiert. Die Einschränkung des eigenen religiösen Verhaltens der nicht-muslimischen Bürger zielte auf eine sozial-kulturelle Partizipation, die indirekt auch eine Partizipation an der Religion des Islams bedeutete. Für viele Christen wurde diese ‚Zwangsheirat‘ zwischen den repressiven sozialen Erfordernissen und den in der eigenen Tradition verwurzelten, natürlichen religiösen Impulsen unmöglich. Sie reagierten mit einer Anpassung an die Bilderlosigkeit des Islams. Sie blieben weiterhin Christen, nur dass ihre christlich-visuelle Ausdrucksweise eine ungeahnte Durchlässigkeit erlebte. Sie schrieben in manchen Kirchen das Bild-Register neu. Anstelle der Mosaiken mit biblischen Szenen und Bildern von Heiligen treten kopflose Figuren, pflanzliche Motive und geometrische Formen auf. 10 Christen ersetzten ihre vertrauten religiösen Bilder durch transgressive Formen, d.h. durch Formen, die in die visuelle Kultur des Islams übergingen. Konsequenzen für die eigene Identität der Christen waren unvermeidlich: Wenn die menschliche Form als übliche ästhetische Ausdrucksform und als Trägerin substantieller religionstheologischer Inhalte nicht mehr als das absolute Kriterium der Identifizierung funktionierte, konnte „das Formlose seinerseits nicht mehr als absolutes Kriterium der Andersheit gedacht werden“11. Aus einer Kunstperspektive wird im Prozess der Zermalmung oder Demontierung anthropomorpher Bilder die Form selbst nicht „schlichtweg negiert […]: sie wird vielmehr dialektisch negiert, das heißt sie findet sich deklassiert, eines […] ontologischen Privilegs beraubt.“12 Im theologisch-ikonologischen Verständnis bedeuten diese Einschnitte in die figurativen Darstellungen eine Distanziertheit zu den Vorbildern oder sogar gänzliche „Ausschaltung“ der Ikone durch die Entmachtung aller kommunikativen Potentialitäten mit den Dargestellten. Die islamische Ritualisierung der öffentlichen Sphäre und die Umschreibung des visuellen Raumes sowie die negative Haltung im Ḥadīṯ gegen die Maler, welche im Jenseits aufgefordert werden, rūh (Geist) von eigenem Geist ihren Malereien mit Menschen und Tieren einzuhauchen, wirkten nach und nach auf die rituelle Verhaltensweise der Christen – öffentlich und in der Kirche: Sie lehnten die Bilderverehrung ab, vor allem des berühmten Christusbildes (des Mandylions) aus der Kirche in Edessa.

2. Exemplarische Analysen der Vermittlung christlichen Gedankenguts Im Kontext dieser sich verbreitenden Bilderphobie unter den Christen und ihren Angriffen auf das orthodoxe Verständnis der Repräsentation von Heiligkeit war eine christliche Neubewertung der religiösen Bilder unausweichlich. Sie musste den muslimischen Vorwürfen Rechnung tragen, ohne das Eigene verloren zu geben.

                                                             10 Vgl. Robert Schick, The Christian Communities of Palestine from Byzantine to Islamic Rule. A Historical and Archeological Study, Princeton 1995, 180–202. Schick dokumentiert mehr als fünfzig kirchliche Mosaiken, die ikonoklastische Schäden aufweisen (188–192). Vgl. auch Rupert De Vaux, Une mosaїque byzantine a maʿin (Transjordanie), in: RB 47 (1938), 255–258; Leslie Brubaker, Representation c. 800: Arab, Byzantine, Carolingian, in: TRHS 19 (2009), 37–55, 55. 11 Georges Didi-Huberman, Formlose Ähnlichkeit oder die fröhliche Wissenschaft des Visuellen nach Georges Bataille, aus dem Französischen von M. Sedlaczek, München 2010, 147 (kursiv im Original). 12 Ebd.

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Kontextuelle Neuformulierung

Bevor Theodor sein Bildverständnis im Traktat über die Bilderverehrung darstellt, schafft er einerseits einen (a) religiös-theologischen Rahmen und andererseits einen (b) biblisch-theologischen Rahmen, welcher es überhaupt erst für möglich erscheinen lässt, weiterhin der Bilderverehrung anzuhängen. (a) Im religiös-theologischen Rahmen versucht Theodor nicht nur das Christentum als die wahre Religion und das Evangelium als die wahre heilige Schrift zu beweisen, sondern auch den „Geheimnis“-Charakter des christlichen Glaubens zu verdeutlichen. Er entfaltet keine großen theologischen Themen, sondern stellt vielmehr Zusammenhänge zwischen der christlichen Theologie und Hermeneutik und der christlichen Praxis dar. Für ihn ist das Bild untrennbar vom kirchlichen Kult und besitzt daher einen sakramentalen Status. Die Rechtfertigung der Bilder erfolgt somit auf der Grundlage dessen, was Theodor unter göttlicher Weisheit versteht. Die Grundlage für sein theologisches Konzept legt Theodor durch die Betonung der paulinischen Dialektik von Weisheit und Torheit. Die Prämisse für das Verstehen der Bilder besteht in dieser Unterscheidung zwischen der weltlichen und göttlichen Weisheit, wobei die letztere sich in dem „Wort des Kreuzes“ (1 Kor 1,18) zeigt. Das Kreuz versteht Theodor in diesem Kontext als das Zeichen, dem die Bilder, als Verkündigung desselben Geschehens, zugeordnet werden. Zusammen gehören sie sowohl zum Heilsverstehen als auch zur Auslegung der spirituellen Gesamtwirklichkeit. (b) Innerhalb des biblisch-theologischen Rahmens bearbeitet Theodor die Themen: die „Körperlichkeit“ Gottes, die Attribute Gottes, die Vorstellung vom „Thron Gottes“, das mosaische Bilderverbot, das Erlaubte und das Verbotene, das Verständnis des Willens Gottes im Alten Testament, Erfüllung und Überbietung und das ḥadīṯhische Argument gegen die Bilder. Im Folgenden werde ich exemplarisch zeigen, wie Theodor seinen theologischen Diskurs an den islamischen Kontext angepasst hatte. 2.1 Der Diskurs über die „Körperlichkeit“ (al-ǧusdānīya) Gottes Die Existenz der Bilder im sakralen Raum forderte zu einer besonderen Art des Sehens heraus. Können die Bilder etwas von der Heiligkeit dieses Raumes erzählen? Oder sogar über Gott? Der Ursprung des Erzählens über Gott in Bildern war schon in den offenbarten Schriften gelegt. Die konkrete Gestalt Gottes in Christus ist für Theodor prophetisch durch die anthropomorphen Erscheinungen Gottes im Alten Testament angebahnt. Dazu bringt er eine Reihe von Belegen, die kaum eine Entsprechung in den drei Bilderapologien von Johannes von Damaskus, der als ein indirekter Lehrer für Theodor betrachtet wird, finden. 13

Theodor Abū Qurrah

Gott sei im Paradies gelustwandelt; habe den (Opfer-)Duft vom Fett der Knochen gerochen;

Bibel Gen 3,8 Gen 8,21

Johannes v. Damaskus

14

Adam sah Gott und hörte das Geräusch seiner Füße, wie er [= Gott] abends spazieren ging;

                                                             13 Arendzen, De cultu imaginum 7; Dick, Traité du culte 104; Graf, Schriften, 285. 14 III, 26; Bonifatius Kotter (Hg.), Die Schriften des Johannes von Damaskos 3, Contra imaginum calumniatores orationes tres, Berlin 1975, 132; Dariusz J. Olewiński, Um die Ehre des Bildes. Theologische Motive der Bilderverteidigung bei Johannes von Damaskus, St. Ottilien 2004, 284f.

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Vasile-Octavian Mihoc

habe an der Welt Wohlgefallen gefunden und dann wieder Reue gehabt, Adam erschaffen zu haben; sei zur Scheidung der Sprachen in Babel herabgekommen; sei bei Abraham eingekehrt, habe gegessen und getrunken und gesprochen: „Das Geschrei Sodoms steigt zu mir herauf, und ich steige hinab, um zu erfahren, ob die Sache so ist, wie sie zu mir kommt“; sei auf einer Leiter gestanden und habe von da herab mit Jakob geredet; sei auf den Berg Sinai herabgestiegen und habe zu Mose gesagt: „Es gibt niemanden der mich sieht und noch am Leben bleibt“, und habe (trotzdem) mit Mose geredet von Angesicht zu Angesicht, wie jemand mit seinem Freund redet; sei in eine Wolkensäule in das „Zelt der Zeit“ herabgestiegen; Mose habe gesagt: „Unser Gott ist ein verzehrendes Feuer“; Gott wandelte im Lager der Söhne Israels, und habe angeordnet, dass sie es von Schmutz reinigen, damit Gott in ihm wandle. Daniel habe von Gott gesagt, dass er der Alte der Tage sei, und sein Haar wie reine Wolle.

Gen 6,6

Gen 11,7 Gen 18,20f

Gen 28,12f Ex 33,20 / Sure 6, 103; Sure 4,164

Ex 40,34 / vgl. Sure 2,57 Dtn 4,24 Ex 3,2f; 33,18–23 Dtn 23,1215

Moses sah [Gott] wie den Rücken eines Menschen.

Dan 7,9 Dan 7,13

Ezechiel sagte über ihn, er sitze auf einem Throne nach Menschenart und von seinen Lenden aufwärts sei er Lapislazuli und von seinen Lenden abwärts Feuer.

Ez 8,2

Der Prophet Amos (sic) habe ihn [Gott] am Ufer eines Flusses stehen gesehen. Ezechiel sagt: Er [Gott] habe sich mit Jerusalem vermählt, es sei ihm aber ehebrüchig geworden und er habe es verstoßen. Beim Propheten Oseas verspricht er, er werde wieder mit ihm die Ehe schließen.

Dan 10,4 oder 12,6 Ez 16

Jes 6,1

Daniel sah ein Gleichnis eines Menschen und wie einen Menschensohn, der zu dem Alten der Tage gekommen ist.

Jesaja sah wie einen auf einem Thron sitzenden Menschen.

Os 2,19 Gen 32,25

Jakob sah und rang mit Gott – es ist nämlich offensichtlich, dass ihm Gott als Mensch erschienen ist.

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Ausgehend von den anthropomorphen Aussagen über Gott in der Thora und darüber hinausgehenden Stellen im Alten Testament bringt Theodor einschlägige Stellen des Qurʾāns: Gott sitzt auf dem Thron (Sure 10,3; 13,2; 20,5) und habe Hand und Gesicht (Sure 3,73; Sure 30,38). Theodor endet diese Testimonia-Liste mit dem Hinweis: „Diese Ausführung soll die Juden angehen und die anderen, welche den Glauben für sich in Anspruch nehmen [Muslime] bezüglich der Attribute Gottes, die bei ihnen gelten.“15 Seine These lautet:16

‫ﺳﻮﻍ ﺃﻥ ﻳﻘﺎﻝ ﻓﻲ ﷲ ﻭ ﻏﻴﺮ ﻫﺬﺍ ﻣﻦ ﻟﻮﺍﺣﻖ‬ ّ ‫ ﻓﻘﺪ‬،‫ﻓﺈﺫﺍ ﺃﺩﺧﻞ ﻋﻠﻰ ﷲ ﺍﻟﺠﺴﺪﺍﻧﻴّﺔ ﻓﻲ ﻫﺬﻩ ﺍﻷﻗﺎﻭﻳﻞ‬ .‫ ﺇﻥ ﺷﺎء ﻭ ﺇﻥ ﺃﺑﻰ‬،‫ﺍﻟﺠﺴﺪﺍﻧﻴّﺔ‬ Wenn bei diesen Worten die Körperlichkeit in Gott eingeführt wird, so räumt er [der Muslim] nolens volens ein, dass bezüglich Gott auch noch andere Dinge als diese ausgesagt werden dürfen, ob er will oder nicht. Mit den „anderen Dinge“ [wa-ġayr hāḏā] meint Theodor die anderen Aussagen über Christus. Die konkrete Form Gottes in Christus wurde prophetisch durch die anthropomorphen Erscheinungen Gottes im Alten Testament eingeleitet. Diese Idee wurde bei Johannes deutlicher ausgedrückt:17 Καὶ οὐ φύσιν θεοῦ εἶδέ τις, ἀλλὰ τὸν τύπον καὶ τὴν εἰκόνα τοῦ μέλλοντος ἔσεσθαι. ἔμελλε γὰρ ὁ υἱὸς καὶ λόγος τοῦ θεοῦ ὁ ἀόρατος ἄνθρωπος γίνεσθαι ἐν ἀληθείᾳ, ἵν’ ἑνωθῇ τῇ φύσει ἡμῶν καὶ ὁραθῇ ἐπὶ γῆς. Προσεκύνησαν οὖν πάντες οἱ ἰδόντες τὸν τύπον καὶ τὴν εἰκόνα τοῦ μέλλοντος, καθὼς Παῦλός φησιν ὁ ἀπόστολος ἐν τῇ πρὸς ‘Eβραίους ἐπιστολῇ· Κατὰ πίστιν ἀπέθανον οὗτοι πάντες μὴ κομισάμενοι τὰς εὐαγγελίας, ἀλλὰ πόρρωθεν αὐτὰς ἰδόντες καὶ ἀσπασάμενοι. Und nicht die Natur Gottes sah einer, sondern die Form und das Bild des im-BegriffSeienden, zukünftig zu sein; denn der ungesehene Sohn und Logos Gottes war im Begriff, in Wahrheit Mensch zu werden, damit er mit unserer Natur vereinigt und auf Erden gesehen werde. Demnach haben alle Sehenden die Figur und das Bild des im-Begriff-Seienden verehrt, so wie der Apostel Paulus im Brief zu den Hebräern sagt: „Dem Glauben gemäß sind sie alle gestorben, ohne die Verheißungen erlangt zu haben, aber indem sie diese von Weitem sahen und begrüßten.“ Die positive Deutung der biblischen Anthropomorphismen spielt für die zwei Ikonodulen eine so bedeutende Rolle, weil sie – indem sie zwei Prinzipien der Theologie, nämlich Apophatismus/negative Theologie (Unbegreiflichkeit des Wesens Gottes) und Kataphatismus/positive Theologie (die vermenschlichten Erscheinungen Gottes bei den Propheten) zum Ausdruck bringen – den notwendigen Weg der Erkenntnis Gottes von der Schrift her legitimieren und sichern. Durch die Stellen aus dem Alten Testament und aus dem Qurʾān verdeutlicht Theodor, dass es keine göttliche Offenbarung ohne den göttlichen Anthropomorphismus gibt. Das Erscheinen des unsichtbaren Gottes im Sichtbaren gilt als das Para-

                                                             15 Arendzen, De cultu imaginum, 8; Graf, Schriften, 286; Dick, Traité du culte, 106. 16 Arendzen, a.a.O., 7f; Dick, ebd. Vgl. auch Graf, ebd. 17 Kotter, Contra imaginum, 132f; Übers. Olewiński, Ehre des Bildes, 285.

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doxon Gottes, das aus der Komplementarität der Heiligen Schriften heraus zu analysieren ist. Theodor eröffnet seinen Diskurs um den biblischen Anthropomorphismus im Kapitel V mit den Worten:18 ّ ‫ ﻭﻗﺪ ﻏﻔﻞ ﺍﻟﺬﻳﻦ ﻳﺆﻣﻨﻮﻥ‬.‫ﻭﺇﻥ ﺍﻟﻨﺼﺎﺭﻯ ﻣﺼﻴﺒﻮﻥ ﺣﻴﺚ ﻳﻘﺒﻠﻮﻥ ﺍﻟﻌﺘﻴﻘﺔ ﻭﺍﻟﺤﺪﻳﺜﺔ ﻭﻳﻔﻬﻤﻮﻧﻬﺎ ﻋﻠﻰ ﻣﻌﺎﻥ ﺣﺴﻨﺔ‬ ‫ﻲ‬ ‫ﺍﻟﺠﺴﺪﺍﻧ‬ ‫ﺍﻟﻌﻘﻞ‬ ‫ﻳﻘﺸﻌﺮ‬ ‫ﺎ‬ ‫ﻤ‬ ‫ﻣ‬ ، ‫ﻧﻔﺴﻪ‬ ‫ﻓﻲ‬ ‫ﺍﻷﻧﺒﻴﺎء‬ ‫ﻛﺘﺐ‬ ‫ﺗﻘﻮﻝ‬ [‫ﻣﺎ‬ ‫]ﻋﻦ‬ ‫ﻋﻤﺎ‬ ‫ﺍﻹﻧﺠﻴﻞ‬ ‫ﻓﻲ‬ ‫ﻣﺎ‬ ‫ﻭﻳﺴﺘﺴﻤﺠﻮﻥ‬ ، ‫ﺑﺎﻷﻧﺒﻴﺎء‬ ّ ّ ّ ّ .‫ﻣﻦ ﺳﻤﻌﻪ ﺃﺷﺪّ ﺍﻹﻗﺸﻌﺮﺍﺭ‬ Die Christen handeln recht, wenn sie das Alte und das Neue [Testament] annehmen und es in ihrem rechten Sinn verstehen. Diejenigen, die an die Propheten glauben, aber den Inhalt des Evangeliums für falsch halten, ignorieren, was die Schriften der Propheten über Gott selbst sagen, und worüber den fleischlichen Verstand schaudert, wenn er davon hört. Der anthropomorphe Gott gehört zum Wesen der christlichen Lehre. Der definitorische Grundgedanke des Christentums, nämlich die Menschwerdung Gottes, kann nur aufgrund der beiden Offenbarungsschriften begründet werden. Dafür ist eine richtige Schriftinterpretation erforderlich. Theodor mahnte in seinem „Mīmar über die Autorität des mosaischen Gesetzes und des Evangeliums und über den orthodoxen Glauben“, dass „man sich […] an den wirklichen Sinn [maʿāna ḥasan] der Schrift halten [muss] in Dingen, wo es sich um eine Grundwahrheit der Religion handelt, sonst ist es ein (Götzen-)Kult.“19 Diese Hermeneutik bezieht sich im Fall des Anthropomorphismus auf eine besondere Art des Lesens, nämlich im Sichtbargewordenen die Absicht des Unsichtbaren zu erkennen. Diese Perspektive ruft wiederum ein anderes Paradoxon hervor, was, von außerhalb des Christentums betrachtet, unvorstellbar scheint:20 ّ ‫ﺍﻥ ﺍﺑﻨﺎ ﻫﻮ ﻋﺪﻟﻪ ﻣﻦ ﺟﻮﻫﺮﻩ ﺍﻻّ ﻗﺎﻝ‬ ّ ‫ﻓﻤﻦ ﻣﻦ ﺍﻭﻻﺋﻚ ﻳﺴﻤﻊ ﺍﻟﻨﺼﺎﺭﻯ ﻳﻘﻮﻟﻮﻥ‬ ‫ ﻭﺍﺫﺍ ﺳﻤﻌﻬﻢ‬.‫ﺍﻥ ﻫﻮﻻء ﻣﺠﺎﻧﻴﻦ‬ ّ ‫ ﻟﻴﺲ ﷲ ﺑﺎﻗﺪﻡ ﻣﻨﻪ ﺃﻟﻴﺲ ﻳﻈﻨّﻬﻢ ﺍﺷﺪّ ﺍﻟﻨﺎﺱ ﻣﻜﺎﺑﺮﺓ؟ ﻭﻗﻮﻟﻬﻢ‬، ‫ﺍﻥ ﻫﺬﺍ ﺍﻻﺑﻦ ﺍﻟﻤﻮﻟﻮﺩ ﻣﻦ ﷲ‬ ّ ‫ﻳﻘﻮﻟﻮﻥ‬ ‫ﺍﻥ ﺍﻻﺏ ﻭﺍﻻﺑﻦ‬ ‫ ﺍﻟﻴﺲ ﻫﺬﺍ ﻣﻮﻗﻌﻪ ﻋﻨﺪ ﺍﻭﻟﺌﻚ‬، ‫ ﺑﻞ ﻫﻢ ﺍﻟﻪ ﻭﺍﺣﺪ‬، ‫ ﻭﻟﻴﺴﻮﺍ ﺛﻼﺛﺔ ﺁﻟﻬﺔ‬، ‫ﻭﺭﻭﺡ ﺍﻟﻘﺪﺱ ﻛ ّﻞ ﻭﺍﺣﺪ ﻣﻨﻬﻢ ﺍﻟﻪ ﻛﺎﻣﻞ‬ ‫ﻲ ﻓﻲ ﺑﻄﻦ ﻣﺮﻳﻢ ﻓﻲ ﺁﺧﺮ ﺍﻻﻳّﺎﻡ ﻭﺗﺠﺴّﺪﻩ ﻭﻣﻮﻟﺪﻩ‬ ّ ‫]ﺍﻭﻻﺋﻚ[ ﻣﻮﻗﻊ ﺟﻨﻮﻥ؟ ﻭﺍﺫﺍ ﺫﻛﺮ ﺍﻟﻨﺼﺎﺭﻯ ﺣﻠﻮﻝ ﻫﺬﺍ ﺍﻻﺑﻦ ﺍﻻﺯﻟ‬ ‫ ﺛ ّﻢ ﺳﺎﻗﻮﺍ ﺍﻟﻘﻮﻝ ﻓﻲ ﻣﻨﺎﻗﻠﻪ ]ﻣﻨﺎﻗﻠﺔ[ ﻣﻦ ]ﻓﻲ[ ﺭﺿﻮﻋﻪ ﻭﻫﺮﺑﻪ ﻣﻦ ﻫﻴﺮﻭﺩﺱ ]ﻫﺮﺫﺱ[ ﺍﻟﻰ ﻣﺼﺮ‬، ‫]ﻭﻭﻟﻮﺩﻩ[ ﻣﻨﻬﺎ‬ ْ ، ‫ ﻭﻁﻠﺒﺘﻪ ﺍﻟﻰ ﺍﺑﻴﻪ ﺍﻥ ﻳﺠﻴﺰ ﻋﻨﻪ ]ﺍﻟﻜﻠﺲ[ ﻛﺎﺱ ﺍﻟﻤﻮﺕ‬، [‫ﻭﺧﻀﻮﻋﻪ ﻷ ﺑﻴﻪ ﻭﺻﻮﻣﻪ ﻭﺻﻼﺗﻪ ]ﻭﺻﻠﻮﺗﻪ‬ ‫ﻭﺍﺧﺬ‬ ْ ‫ ﺍﻟﻬﻲ ﺍﻟﻬﻲ ]ﺍﻻﻫﻲ ﺍﻻﻫﻲ[ ﻟﻢ ﺧﺬﻟﺘﻨﻲ؟‬:‫ ﻭﻗﻮﻟﻪ ﻭﻫﻮ ﻋﻠﻰ ﺍﻟﺼﻠﻴﺐ‬، ‫ﻭﺻﻠﺒﻬﻢ ﺍﻳّﺎﻩ‬ ، ‫ ﻭﻣﺎ ﺗﻨﺎﻭﻟﻮﻩ ﺑﻪ‬، ‫ﺍﻟﻴﻬﻮﺩ ﺍﻳّﺎﻩ‬ ّ ‫ﺍﻟﺒﺮﺍﻧﻴّﻮﻥ ﺍﻧّﻬﻢ ]ﺍﻧّﻤﺎ[ ﻳ ْﻬﺬﻭﻥ‬ ‫ﻭﺍﻥ ﻫﺬﻳﺎﻥ ﺍﻟﻨﻮﻡ ﺍﻗﺮﺏ ﺍﻟﻰ ﺍﻟﺴّﺪﺍﺩ ﻣﻦ ﻛﻼﻣﻬﻢ؟‬ ّ ‫ﺍﻟﻴﺲ ﻳﺮﻯ‬ Wer von diesen [Gegner], der die Christen behaupten hört, dass Gott einen Sohn hat, der ihm wesensgleich ist, würde nicht sagen, dass diese [Christen] wahnsinnig sind? Und wenn er sie von diesem von Gott geboren Sohn behaupten hört, dem Gott nicht vorzeitlicher ist, würde er diese nicht für die meist widersprüchlichen Leute halten? Und wenn sie sagen, dass der Vater, der Sohn und der Heilige Geist jeder von ihnen vollkommen Gott sei, und nicht drei Götter, sondern nur ein Gott, ist diese Aussage für diesen nicht ein Beispiel für den Beginn des Wahnsinns? Wenn die Christen von

                                                             18 Arendzen, De cultu imaginum, 6f; Dick, Traité du culte, 103. Vgl. auch Graf, Schriften, 284. 19 Graf, Schriften, 105. 20 Arendzen, De cultu imaginum, 2f; Dick, Traité du culte, 91f.

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der Herabkunft des ewigen Sohnes in den Schoß Mariens am Ende der Tage und von seiner Körperwerdung/Menschwerdung und seiner Geburt aus ihr erzählen, um sie dann über den Verlauf seiner Kindheit zu sprechen, wie er gestillt wurde, vor Herodes nach Ägypten floh, seinem Vater gehorchte, fastete, betete, zu seinem Vater flehte, er möge den Kelch, den Kelch des Todes, an ihm vorübergehen lassen, wie ihn die Juden festnahmen, behandelten, kreuzigten, und wie er am Kreuz sprach: „Mein Gott, mein Gott, warum hast du mich verlassen?“ – würden die Fremden nicht denken, diese reden nur Murmeln, und das Geschwätz im Schlaf komme der Wahrheit näher als die Rede dieser?21 Der Sichtbarkeit Gottes entsprechen seine trinitarische Einheit und die Menschwerdung. Das biblische Paradoxon des sichtbar gewordenen Gottes und die „Erfüllung“ des Paradoxen in der Menschwerdung veranlassen eine Sichtbarkeit, die selbst der Sichtbarkeit widerspricht und eine Perspektive einführt, in der die Sichtbarkeit an Gott neue Dimensionen bekommt. Die Sichtbarkeit wird als der sicherste Weg der Erkenntnis Gottes rehabilitiert und zum wahren Medium der Kommunikation mit Gott erhoben. Unsichtbarkeit durchdringt, potenziert und aktualisiert die Sichtbarkeit, um sie aus dem Gewohnten herauszuholen und dadurch einen besonderen Rahmen der Begegnung Gottes mit seinem Geschöpfen zu schaffen. Dementsprechend kann keine Rede von Gott seine sichtbare Seite vermeiden. Die Absicht Gottes war, vollkommener Mensch zu werden, um den Menschen zu einem unvergleichbaren Sehen zu führen, dass er durch seine Erscheinungen im Alten Testament angebahnt hatte. In Christus konkretisiert sich endgültig das Wohnen und Wirken Gottes im Sichtbaren. Das ist die von Gott offenbarte „Verkündigung des Christentums“, die im Widerspruch mit aller weltlichen Weisheit steht.22 In der Liturgie verwirklicht sich immer wieder die authentische Präsenz des unsichtbaren Gottes im Sichtbaren:23 ّ ‫ﻭﻣﺎ ﺫﺍ‬ ‫ ﺛﻢ‬، ‫ ﻭﻳﻘﻮﻟﻮﻥ ﻋﻠﻴﻪ ﻛﻼﻣﺎ‬، ‫ﺗﻈﻦ ﻳﻜﻮﻥ ﻗﻮﻟﻬﻢ ﺍﺫﺍ ﺍﺑﺼﺮﻭﺍ ﺍﻟﻨﺼﺎﺭﻯ ﻳﺪﺧﻠﻮﻥ ﻣﺬﺍﺑﺤﻬﻢ ﺧﺒْﺰﺍ ﻭﺷﺮﺍﺑﺎ‬ ‫ ﻭﺍﻧّﻤﺎ ﻳﺨﺮﺝ ﻛﻤﺎ ﻭﺿﻊ‬،‫ ﻭﻫﻢ ﻳﺮﻭﻧﻪ ]ﻭﻳﺮﻭﻧﻪ[ ﻟﻢ ﻳﺘﻐﻴّﺮ‬،‫ ﻫﺬﺍ ﻟﺤﻢ ﺍﻟﻤﺴﻴﺢ ﻭﺩﻣﻪ‬:‫]ﻳﺘﻘﺮﺑﻮﻥ[ ﻭﻳﻘﻮﻟﻮﻥ‬ ‫ﻳﺘﻘﺮﺑﻮﻧﻪ‬ ّ ّ ‫]ﺩﺧﻞ[؟‬ Was meinst du, werden wohl ihre [der Fremden] Worte sein, wenn sie die Christen sehen, dass sie Brot und Wein zu ihren Altären bringen und einige Worte über sie sprechen, worauf sie Kommunion empfangen und sagen, dieses sei der Leib und das Blut Christi, während sie sehen, dass es sich nicht verändert hat; es wird weggetragen, wie es hingebracht wurde? Durch diese rhetorische Frage, die Theodor an einen Christen adressiert, zeigt er, dass die Liturgie der Gipfel des Bildes, des Wohnens des Unsichtbaren im Sichtbaren ist. Direkt im Anschluss fügt er auch das Sakrament der Taufe ein, in dem das Wirken Gottes sichtbar wird, denn der Mensch vor der Taufe war „alt und von verderbter Natur“. In der Taufe je21 Vgl. auch Graf, Schriften, 280f. 22 Arendzen, De cultu imaginum, 4; Graf, a.a.O., 282; Dick, Traité du culte, 95. 23 Arendzen, a.a.O., 3; Dick, a.a.O., 93. Vgl. auch Graf, a.a.O., 281.

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doch wurde er „neu […] und von reiner Natur“24. Das Verhalten gegenüber den liturgischen Akten, und extrapolierend auch gegenüber den anthropomorphen Erscheinungen Gottes bei den Propheten, entscheidet über die Sichtweise des Betrachters im Ganzen angesichts der Durchdringung des Sichtbaren vom Unsichtbaren. Laut Theodor wird die richtige schriftund offenbarungsgemäße Sichtweise diesbezüglich im Christentum gegeben, in dem die „Geheimnisse Gottes“ (ʾasrar Allāh) offenbart werden.25 2.2 Der Diskurs über die Attribute Gotte Die qurʾānischen Anthropomorphismen waren Anlass vieler Debatten über die Eigenschaften Gottes unter den Muslimen, die sich, wie bereits erwähnt, nicht darüber einigen konnten, ob man sie wortwörtlich oder im übertragenen Sinne zu verstehen hatte. Gleichzeitig warfen die Muslime den Christen vor, sie begrenzten Gott durch den Glauben an die Menschwerdung auf einen menschlichen Körper. Theodor erklärt, dass Anthropomorphismen und Menschwerdung Gottes in die gleichen Kategorie gehören: weder einen menschlichen Körper noch eine bildliche Erscheinung können Gott beschränken oder eingrenzen. Beide sind legitime Formen in der Auffassung Gottes. Damit reagiert Theodor nicht nur auf Angriffe seitens der Muslime, sondern liefert gleichzeitig eine Lösung für das Rätsel der Anthropomorphismen. Indem er die Verkörperung Gottes in Christus als das Ziel und die Erfüllung der alttestamentlichen Anthropomorphismen deutet, impliziert er darüber hinaus, dass man nicht verstehen könne, was diese Anthropomorphismen uns über Gott erzählen, wenn man nicht versteht, was uns die Menschwerdung Gottes über Gott sagt. Auf diese Weise begründet er die Menschwerdung als Attribut Gottes par excellence:26 ّ ‫ ﻭﻧﻌﻠﻢ‬٬ ‫ﻓﺄ ّﻣﺎ ﻧﺤﻦ ﺍﻟﻨﺼﺎﺭﻯ ﻓﺈﻧّﺎ ﺑﻨﻌﻤﺔ ﺭﻭﺡ ﺍﻟﻘﺪﺱ ﻧﺆﻣﻦ ﺑﺎﻟﻌﺘﻴﻘﺔ ﻭﺍﻟﺤﺪﻳﺜﺔ‬ ‫ ﻭﻧﻔﻬﻢ‬.‫ﺃﻥ ﻣﻨﻬﺎﺟﻬﻤﺎ ﻭﻣﺄﺧﺬﻫﻤﺎ ﻭﺍﺣﺪ‬ ‫ ﻭﻧﻌﺮﻑ ﺍﻧﺤﻄﺎﻁﻪ ﺑﺮﺣﻤﺘﻪ ﺇﻟﻰ ﻏﻴﺮ ﻣﺎ ﻳﺸﺎﻛﻞ‬، ‫ ﻭﻧﺨﻠﺺ ﻓﻲ ﻋﻘﻮﻟﻨﺎ ّ ﺍﻟﺼﻔﺔ ﺍﻟﻄﺎﻫﺮﺓ‬.‫ﻛ ّﻞ ﺷﺊ ﻓﻴﻬﻤﺎ ﻋﻠﻰ ﺟﻬﺘﻪ‬ .‫ ﻭﻧﺤﻤﺪﻩ ﻋﻠﻰ ﺫﻟﻚ‬، ‫ ﻣ ّﻤﺎ ﻓﻴﻪ ﺧﻼﺻﻨﺎ‬، ‫ﺗﺠﺮﺩ ﺟﻮﻫﺮﻩ‬ ّ Wir Christen glauben durch die Gnade des Heiligen Geistes an das Alte und das Neue [Testament] und wir wissen, dass ihr Ursprung und Ziel eins sind und wir verstehen alles darin nach seiner Weise. Und wir schreiben Gott in unserem Verstand (ʿaql) ein reines Attribut (aṣ-ṣifa aṭ-ṭāhira) zu, und wir erkennen seine Herabkunft (inḥiṭāṭ) in seiner Barmherzigkeit in einer Art und Weise, die nicht in Widerspruch zu seiner reinen Substanz (ğawhar) steht, worin unsere Erlösung ist.27 Theodor unterstreicht, dass die christliche Gottesauffassung auf der „spirituellen Interpretation der Bücher“28 des Alten und des Neuen Testaments basiert. Das Alte Testament

                                                             24 25 26 27

Ebd. Arendzen, De cultu imaginum, 5.32; Graf, Schriften, 283.313; Dick, Traité du culte, 98.171. Arendzen, a.a.O., 8; Dick, a.a.O., 107. Graf übersetzt: „Was uns Christen aber anbelangt, so glauben wir durch die Gnade des Heiligen Geistes an das Alte und Neue Testament und wissen, dass Herkunft und Quelle beider eine und dieselbe ist, und verstehen alles nach seiner Weise. Wir widmen Gott in unserem Geiste ein reines Attribut zu erkennen, dass er in seiner Barmherzigkeit sich zu etwas anderem herablässt, was der abstrakten Reinheit seiner Substanz ähnlich ist und was zu dem gehört, worin unsere Erlösung ist, und sagen ihm dessentwegen Dank.“ Schriften, 286. Graf übersetzt ʿaql mit Geist statt Verstand. 28 So betitelt Dick, a.a.O., 107, diesen Paragraphen: ‫ﻲ ﺍﻟﻜﺘﺎﺏ‬ ّ ‫ﺗﺄﻭﻳﻞ ﺍﻟﻨﺼﺎﺭﻯ ﺍﻟﺮﻭﺣ‬.

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sei im Lichte des Neuen zu verstehen. Nur durch diesen hermeneutischen Grundsatz sind die anthropomorphen Beschreibungen Gottes mit der Vernunft zu vereinbaren. Der Gedanke der Einheit Gottes, die sich in der Identifikation des Einen Gottes in den Offenbarungen Gottes im Alten und im Neuen Testament ausdrückt, ist auch bei Johannes von Damaskus zentral: „einer ist Gott, einer der Gesetzgeber des Alten und Neuen Testamentes, der einst vielfach und auf vielerlei Weise zu den Vätern durch die Propheten gesprochen hat und in den letzten Zeiten durch seinen eingeborenen Sohn.“29 Nach der bekenntnisartigen Formel in der ersten Bilderapologie spricht Johannes auch über die Herabkunft des Schöpfers: Ich erweise Verehrung nicht der Schöpfung statt dem Schöpfer, sondern ich verehre den Schöpfer, der zu dem mir Gemäßen geschaffen worden ist, und ohne Erniedrigung und Zerstörung in die Schöpfung herabgekommen ist, damit Er meine Natur verherrliche und sie zum Teilhaber der göttlichen Natur mache.30 Der Gedanke der Vergöttlichung der menschlichen Natur nahm schon früher bei den Kirchenvätern, besonders bei Maximus dem Konfessor, den auch Theodor rezipierte, einen vornehmlichen Platz ein.31 Bei Theodor ist dieser Gedanke in seinem Brief an den Miaphysiten David wiederzufinden: [A]lle Schriften sagen, daß das Gotteswort Mensch geworden ist, und daß er nach seiner Menschwerdung wahrhaft und schlechthin und in Wahrheit und in der wirklichen Bedeutung Mensch ist, und wenn dies auch eine Erniedrigung seines erhabenen Wandels ist, so folgt doch, daß es so ist. Desgleichen sagen sie, daß die Menschheit vergöttlicht ist, und wenn in ihnen das Wort in jenem Zustande Mensch genannt wird, so wird dieser (Mensch) ebenso auch Gott genannt. 32 Wie bei Johannes wird auch in Theodors Bilderschrift deutlich, dass er auf die christologische Thematik hinaus will. Die komplexe theologisch-dogmatische Ausdrucksweise komprimiert Theodor auf einige Worte in der oben zitierten Stelle zur Herabkunft Gottes. Durch die Stellen zur Gottes Herabkunft im Alten Testament möchte Theodor nur den konzeptionellen Denkrahmen, den er aus der Schrift schafft, sichern. Es geht ihm um die grundsätzliche Möglichkeit des Sehens Gottes im Alten Testament und im Qurʾān, um sein anagogisches Konzept zu legitimieren (s.u. Urbild-Abbild). Er möchte eine klare Kontinuität zwischen dem körper- und gestaltlosen Gott des Alten Testaments und Christus schaffen. Diese Verbindung wird angedeutet, aber nie explizit formuliert. Theodor lässt seine Leser diese aus den biblischen Testimonia selber ableiten. Auf die christologischen Implikationen für die Bilderfrage geht er im engeren Sinne nicht ein. Er stellt die Menschwerdung nicht zur Debatte und führt auch nicht die vor ihm in anderen Schriften formulierte 29 II, 7; Kotter, Contra imaginum, 73; Olewiński, Ehre des Bildes, 209; Vgl. Gerhard Feige (Hg.)/Wolfgang Hradsky (Übers.), Drei Verteidigungsschriften gegen diejenigen, welche die heiligen Bilder verwerfen, Leipzig 1994, 62f. 30 I, 4; Kotter, a.a.O., 77; Olewiński, a.a.O., 54; vgl. auch Feige/Hradsky, a.a.O., 29. 31 Zur Vergöttlichungslehre bei Maximus siehe Kyriakos Savvidis, Die Lehre der Vergöttlichung des Menschen bei Maximos dem Bekenner und ihre Rezeption durch Gregor Palamas, St. Ottilien 1997. 32 Graf, Schriften, 247.

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Christologie als Fundament für die Entwicklung des Bilderarguments aus. Sie ist grundsätzlich vorausgesetzt. Für ihn ist wichtig zu zeigen, dass der Widerspruch zwischen Transzendenz und Temporalität durch den herabgekommenen Gott aufgehoben wurde. Das Bindemittel zwischen den zwei Offenbarungen ist das Attribut der Herabkunft. Nur im christologischen Verstehen kann die Kontroverse über die Darstellungsmöglichkeit Gottes gelöst werden. Die Herabkunft Gottes schließt nicht nur den Gedanken eines distanzierten Gottes aus, vielmehr wird seine Unsichtbarkeit überwunden. Theodor unterstreicht, dass die Christen Gott „die reinsten Attribute (aṣ-ṣifa aṭ-ṭāhira)” zuschreiben, aber gleichzeitig seine „Herabkunft“ (inḥiṭāṭ) bekennen. Diese Herabkunft versteht er aber als das Attribut Gottes schlechthin. Dieses Attribut stehe „nicht im Widerspruch zu seiner reinen Substanz“. Mit dieser Aussage schließt Theodor zudem an eine der umstrittensten theologischen Fragen seiner Zeit im Islam an. Mit den Eigenschaften Gottes stand hier noch einmal eine ganze Wirklichkeit in Frage.33 In direktem Zusammenhang mit den aufkommenden Äußerungen über die Substanz Gottes nahm die Diskussion über die Attribute Gottes (ṣifāt Allāh) zu. Welchen ontologischen Status haben diese Attribute? In der Befürchtung, dem Polytheismus (širk)34 zu verfallen und die Einheit (tawḥīd) Gottes nicht zu bewahren, leugneten die Muʿtaziliten die Existenz der Attribute als Selbstheit, d.h. als etwas, was verschieden vom göttlichen Wesen ist. Die Deutung der ontologischen Implikation im ṣifa-Verständnis sollte eine Mehrzahl von gleichzeitig existierenden ewigen Wirklichkeiten zurückweisen und die absolute Einheit und Einzigartigkeit Gottes gewährleisten. Die Attribute sind also nicht in der Essenz Gottes vorhanden, sondern sie sind diese Essenz.35 Für Theodor ist das Attribut der Herabkunft Gottes im perfekten Einklang mit dem transzendentalen Sein Gottes. Das ist für ihn eine aus der Schrift belegte Tatsache und nicht eine theologisch-philosophische Spekulation. Gott hat die Eigenschaft, sich an verschiedenen Orten niederzulassen, um seine Offenbarung näher an die Menschen heranzubringen.

                                                             33 Diese Frage der Attribute Gottes wurde intensiv diskutiert, von den meisten Muʿtaziliten übernommen und in vielfältiger Form weiterentwickelt; vgl. Tilman Nagel, Geschichte der islamischen Theologie. Von Mohammed bis zur Gegenwart, München 1994, 106. Die Baṣra-Schule, die eine rational kritische Ontologie erarbeitete, stand vor der Notwendigkeit ein Konzept der Attributenlehre zu formulieren; vgl. Richard M. Frank, Beings and Their Attributes. The Teaching of the Basrian School of the Muʿtazila in the Classical Period, New York 1978, 19. Aus dieser Schule war der Muʿtazilit Abū l-Huḏail al-ʿAllāf (gest. 841), der „den Grundstein zu einer rationalen Attributenlehre“ legte. Er machte wahrscheinlich als erster auch eine systematische Analyse der Namen Gottes; vgl. Nagel, a.a.O. 107. Abū l-Huḏail lehnte jede Teilung zwischen Wesen und Eigenschaften Gottes ab: „Gott wisse vermittels eines Wissens, welches ganz er sei; er sei mächtig zu handeln dank einer Macht, die ganz er sei, die gewissermaßen mit seinem Sein identisch sei.“ Vgl. Claude Gilliot, Attributes of God, in: EI3 (2007), 176–182, 177. Die Attributenlehre von An-Naẓẓām (gest. 836/845), einem muʿtazilitischen Theologen und Philosoph, zeigt Vertrautheit mit diesen Gedanken. Er fasste seine Theorie wie folgt zusammen: „Wissend ist eine – objektbezogene – Bestätigung der allgemeinen Wesenhaftigkeit Gottes und die Bestreitung seines Nichtwissens; mächtig ist eine ebensolche Bestätigung seiner Wesenhaftigkeit und eine Bestreitung seiner Unfähigkeit.“ Vgl. Nagel, a.a.O., 107f. 34 Sure 16,74; 25,9. 35 Gott sei allwissend, aber er ist wissend durch sein Wesen. Das Wissen ist in ihm subsistierend (qāʾimun bihī) und nicht ein äußerlich hinzukommendes Akzidens (maʿnan). Siehe Frank, Beings, 12.15f; vgl. Josef van Ess, Theologie und Gesellschaft im 2. und 3. Jahrhundert Hidschra. Eine Geschichte des religiösen Denkens im frühen Islam 3, Berlin 1992, 274f.

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In seinem Traktat über die Menschwerdung verdeutlicht er mehrere Arten der Herabkunft Gottes: in den Dornbusch, aus welchem er mit Moses redete, in die Wolkensäule und zuletzt und vollkommen in den menschlichen Leib Christi. 36 Christliche Apologeten wie ʿAmmār al-Baṣrī, Severus ibn al Muqaffaʿ, Abū Rāʾiṭah und Paulus von Antiochien verwendeten den Gedanken der „Verschleierung“ (iḥtiğāb) Gottes im menschlichen Leib Christi. Dieses Konzept, welches eine qurʾānische Entsprechung hatte,37 war eine bevorzugte Metapher bei diesen christlich-arabischen Theologen.38 Im Qurʾān wird angegeben, dass Gott mit den Menschen nicht direkt spricht, sondern nur „durch Eingebung oder hinter einer Trennwand. Oder er sendet einen Gesandten, dass der mit seiner Erlaubnis offenbart, was er will“ (Sure 42,51). Theodor verwendet diesen Gedanken nicht direkt. Aus dem Kontext der Argumentation deutet er an, dass Gott mit den Menschen aus dem Leib Christi redete, wie er sich einst bei der Bundeslade Mose offenbarte. Theodor hebt nur hervor, dass sich der Glaube an die Herabkunft des ewigen Sohnes Gottes als Skandal für die Muslime erweise. Schon in Kapitel zwei der Bilderschrift präzisierte er unumwunden, dass die „Herabkunft“ des ewigen Sohnes in den Schoß Mariens „am Ende der Tage“ in den Augen der Fremden „nur irre“ sei.39 Jedoch sei gerade die Abbildung des Leidens Christi und die Verehrung seiner Erniedrigung in den Augen Theodors die größte „Wohltat“, wie die Christen Christus zeigen können. Die wirkliche Teilhabe an der Schmähung Christi bringt ihnen die „größte Vergeltung“. In Form eines Gleichnisses und auf eine bildhafte Weise schildert Theodor die Herabkunft Gottes im letzten Kapitel der Bilderschrift. Dieses Gleichnis, das Theodor als abschließenden Gedanken seiner Abhandlung zur letzten Ermutigung der Christen bringt, ist von Johannes von Damaskus inspiriert und neu formuliert worden. Johannes: Wir stellen Christus den König und Herr (βασιλέα καὶ κύριον) dar, indem wir ihn nicht des Heeres entkleiden (γυμνωσάτω); denn das Heer des Herrn sind die Heiligen. Der irdische König soll sich selbst des eigenen Heeres entkleiden und dann seinen König und Herrn! Er soll den Purpurmantel und das Diadem ablegen und dann soll er die Ehre derer

Theodor: Ein Gleichnis (maṯal) hierfür ist ein König (malik), welcher die ganze Welt beherrscht, und neben dessen Weisheit alle Weisheiten der Welt nur Torheit sind, welcher der Mächtigste und der Erhabenste der Geschöpfe ist, der in Purpur gekleidet, und dessen Haupt mit einer funkelnden Krone bedeckt ist, deren Glanz jeglichen Glanz übertrifft und deren Anblick die Augen (geblendet) sich abwenden […] Siehe aber diesen König, wie er sich in seiner Weisheit zur geordneten Ausführung seines Willens sich vor jenen verbirgt (ḫafiya), die sich ihm nahen, wie er sich in seinem Äußeren entstellt, seines Purpurs entkleidet (taʿarrā min),

36 Graf, Schriften, 183. Als prophetisches Zeugnis für diese Herabkunft zitiert er in seinem Traktat über die Sohnschaft Jesu eine Stelle aus dem Propheten Micha: „Höret, alle Völker! Horchet auf, alle Nationen! Und der Herr soll gegen euch Zeuge sein. Der Herr wird ausgehen von seinem Orte und herabkommen, bis er auf die Erde tritt. Dieses alles geschieht um der Sünde Jakobs willen und der Vergehen Israels wegen.“ 195. 37 Mark N. Swanson, Beyond Prooftexting. Approaches to the Qur’ān in Some Early Arabic Christian Apologies, in: MW 88 (1998), 297–319, 302. 38 Vgl. Michel Hayek, ʿAmmār al-Baṣrī, Apologie et controverses, Beirut 1977, 68–69; Ry Y. Ebied/Mil J. L. Young, The Lamp of the Intellect of Severus Ibn al Muqaffaʿ, Bishop of al-Ashmūnain, Louvain 1975, Georg Graf, Die Schriften des Jacobiten Ḥabīb Ibn Ḫidma Abū Rāʾitạh (CSCO 130–131), Louvain 1951, Bd 1 (Ar.), 160; Bd 2 (Übers.), 195. 39 Graf, Schriften, 280f.

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abschaffen, die sich gegen den Tyrannen hervorgetan und die Leidenschaften beherrscht haben! Denn wenn die Freunde Christi Erben Gottes und Miterben Christi [vgl. Röm 8,17)] und Genossen der göttlichen Herrlichkeit und des Königtums werden, wieso sollten sie nicht auch Mitteilhaber der Herrlichkeit auf Erden werden? ‚Ich nenne euch nicht Knechte‘ – sagt Gott [nach Joh 15,15)] – ‚ihr seid meine Freunde‘. Sollen wir sie denn der Ehre berauben, die ihnen von der Kirche gegeben wird? […] Du erweist einem Bild die Verehrung nicht, so erweise sie auch dem Sohne nicht, ‚der das Bild des unsichtbaren Gottes ist‘ [Kol 1,15], das lebendige [Bild] und unveränderte Ausprägung!40

seine Krone vom Haupte legt, von seinem Throne herniedersteigt, gewöhnliche, schmutzige, abgetragene Kleider anlegt, sodann sich freiwillig in die Gewalt seiner Feinde übergibt, und wie sie ihn schlagen, ihm alle Arten von Schimpf antun, ihn mit Schmach überhäufen, indem sie ihn verhöhnen, wie sie sich über seinen Zustand lustig machen, indem sie ihn auslachen, und wie sie ihn verspotten und verschreien! Und wenn dies geschehen ist, läßt ihn die große Masse derer, die ihm angehangen sind, unbekümmert im Stich. Nur ein Häuflein von ihnen bleibt übrig, welche ihre Liebe zu ihm, die sie ihm bekannt hatten, durch die Tat beweisen und mit ihm in seiner Schmach ausharren und über seinen Zustand hinwegsehen, obwohl derselbe unter seinen Feinden Anlaß dazu ist, ihn schimpflich zu schmähen. Seine Feinde (aʿdāʾ) schmähen auch sie, indem sie sagen: Wehe euch! Schämt ihr euch nicht, diesen als König (malik) zu haben? Dann rufen jene mit lauter Stimme, sich rühmend: Nein; wir haben keinen anderen König (malik) und keinen anderen Herrn (sayyid) und keinen anderen Trost (qurrat ʿayn) als diesen. Da werden sie mit ihm ebenso gekreuzigt, indem sie seine Schande tragen und ihm Genossen [Teilnehmer] (yušrik) sind in seinen Leiden, bis sein herrlicher Wandel vollendet ist und er in sein Reich und seine Seligkeit und seinen Glanz zurückkehrt. Wird der König nicht, wenn dies alles vorbei ist, sein ganzes Reich (mulk) ausbreiten und sagen: Ihr seid diejenigen, die meine Genossen [Teilhaber] in meiner Erniedrigung waret, euch sei auch teilhaft meine Seligkeit! Ihr seid […] die (wahren) Freunde, die in ihrer Liebe nicht heucheln, und die mich, als ich in meinem Reiche war, geehrt haben nicht aus Begierde nach meinen Gütern, welche ihr verlangen möchtet, sondern aus von ganzem Herzen kommender Liebe zu mir? Ebenso ist es bei uns Christen, wenn wir Christus in unseren Kirchen gekreuzigt und in seiner Schmach abbilden; da sehen ihn die anderen [d.h. die Muslime] und sagen: Wehe euch! Schämet ihr euch nicht, daß dieser euer Gott ist? Wir aber rufen mit lautester Stimme: Jawohl ist dieser unser Erlöser und unsere Hoffnung und unsere Freude; er vergilt uns dafür nach dem Maße seiner Güte mit einer Belohnung, welche nicht hinter derjenigen der Märtyrer zurücksteht […].41

Obwohl diesen beiden Ausführungen einige Motive gemeinsam sind, weisen sie große literarische, thematische und kontextuell-theologische Unterschiede auf. Während Johannes einen kurzen Vergleich zwischen Christus und einem irdischen König anstellt, wobei beide Herren wegen ihrer Heere – Heilige/Soldaten – sind, ist bei Theodor von einem langen Gleichnis die Rede, von einer Bebilderung der Menschwerdung Gottes. Das Thema bei Johannes ist die Verehrung der Heiligen,42 die das „Gewand“ Christi symbolisieren. Sowohl

                                                             40 I, 21 und II, 15; Kotter, Contra imaginum, 107; Olewiński, Ehre des Bildes, 123, 125. 41 Arendzen, De cultu imaginum, 47–49; Graf, Schriften, 330–332; Dick, Traité du culte, 213–215. 42 Die ikonoklastische Synode von Hiereia hat auch die Heiligenverehrung abgelehnt. Vgl. Torsten Kran-

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im Fall Christi als auch im Fall des Königs bedeutet der Raub die Entkleidung der Macht. Sein Vergleich kann aber auch einen historischen Hinweis enthalten, wie Olewiński bemerkte: „Der Vergleich zur königlichen Heeresmacht (στρατὸς τοῦ κυρίου) kann einen politischen Bezug haben, d.h. den/die Gegner und die Adressaten meinen. Die Form der Imperative (γυμνωσάτω, ἀπωθέσθω, περιαιρείτω) ist zwar keine direkte Anrede an einen ‚irdischen König‘ (ὁ ἐπίγειος βασιλεύς), meint aber offenbar eine konkrete Person. So kann hier ein argumentum ad hominem gesehen werden, das sich auf den Kaiser und evtl. die militärischen bzw. höfischen Kreise bezieht. Die polemischen Ausrufe sind verständlich, wenn die Gefahr der Beseitigung (περιαιρείτω) von Heiligenbildern situativ im Hintergrund steht.“43 In seinem Gleichnis spricht Theodor mehrere Themen an, die relevant für seinen Kontext waren: die göttliche Weisheit gegenüber der weltlichen Weisheit, die Menschwerdung Gottes, sein Leiden und die Teilhabe der Christen an diesem Leiden durch die an ihnen verübte Schmach seitens der Anderen. Das „Gewand“, das der König ablegt, ist bei Theodor die göttliche Herrlichkeit. Der Fokus bei Johannes und bei Theodor ist unterschiedlich: Johannes bemüht eine enge Zusammengehörigkeit zwischen Christusbildern (König) und Heiligenbildern (Purpurmantel, Diadem). Theodor legitimiert die Bilder des erniedrigten Christus, besonders Kreuzigungsdarstellungen, und beschreibt die Christen als Nachfolger des Erniedrigten in ihrer ungünstigen Position als religiöse Minderheit. In beiden Gedankengängen ist also der jeweilig spezifische Kontext herauszulesen. Die Beschreibung des einen Gottes als König wird dabei zur Metapher Christi. In diesem Gleichnis bleibt Theodor nah am biblischen Traditionsgut. Das Wort βασιλεύς, das im Neuen Testament 115 Mal vorkommt, wird auf Christus 38 Mal bezogen, insbesondere in der Passionsgeschichte, in deren Zusammenhang auch Theodor vom König-Christus spricht.44 Mit der Königstitulatur als Synonym für die Gottestitulatur in drei Gottesbildern – des Herabgekommenen, des Erniedrigten und des Erhöhten – wird die Einheit Gottes beschrieben. Dadurch, dass er einen Kreis darstellt, unterstreicht Theodor die Präexistenz und Göttlichkeit Christi.45 Die eindrucksvolle Kondeszendenz Gottes beschreibt er durch Verben der Bewegung (entkleiden, legen, herniedersteigen, anlegen, übergeben, schlagen, antun, überhäufen, verhöhnen, verlachen, verspotten, verschreien), die Anschaulichkeit und Lebendigkeit anklingen lassen. Durch die metaphorische Beschreibung der Entkleidung und des Herniedersteigens des Königs bezieht sich der Autor wahrscheinlich auf die paulinische κένωσις, d.h. Entäußerung Christi, aus dem Christushymnus in Phil 2,6–11.46 Mit der Thronbesteigung Gottes erfährt die Menschheit dessen unermessliche Liebe, die in sei-

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nic/Christoph Schubert/Claudia Sode, Die ikonoklastische Synode von Hiereia 754. Einleitung, Text, Übersetzung und Kommentar ihres Horos, Tübingen 2002, 23. Olewiński, Ehre des Bildes, 123f. K. W. Müller, König und Vater. Streiflichter zur metaphorischen Rede über Gott in der Umwelt des Neuen Testaments, in: Martin Hengel/Anna Maria Schwemer (Hg.), Königsherrschaft Gottes und himmlischer Kult im Judentum, Urchristentum und in der hellenistischen Welt (WUNT 55), Tübingen 1991, 21–43, 27, Anm. 23. In einem späteren Dialog zwischen dem koptischen Patriarchen Abrahām b. Zurʿa und dem Kalifen alMuʿizz findet man den ähnlichen Vergleich Christi mit einem König, der unerkannt auf der Straße läuft und dann wieder in seinen Palast zurückkehrt. Siehe Lucien Leroy, Histoire d’Abraham le Syrien Patriarche Copte d’Alexandrie, in: ROC 14 (1909), 380–400, und ROC 15 (1910), 26–41. Bei Johannes ist der Hinweis auf Phil 2,6 in I, 8 sicher. Kotter, Contra imaginum, 82; Olewiński, Ehre des Bildes, 70.

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ner Erniedrigung gezeigt wird. Diejenigen, die ihm folgen, nennt der erniedrigte König Freunde, denn sie haben nicht nur seine Liebe erwidert und ihr Leben dementsprechend ausgerichtet, sondern haben an seinem Leiden teilgenommen. Sie wurden zu Vorbildern für die Gläubigen. Abū Qurrah sucht religiös-übergreifende Paradigmen und konstruiert anhand des Gleichnisses einen bildhaften christologischen Diskurs. Die Gleichnisrede hat tiefe Wurzeln nicht nur in der Bibel, sondern auch in der qurʾānischen Darstellungsform.47 Der Qurʾān als das beste Produkt der arabischen Sprache verpflichtete zur Berücksichtigung der durch ihn geprägten Sprache und literarischen Formen. Er war sich bewusst, dass die Verwendung der Gleichnisse auch im Qurʾān und darüber hinaus auf islamischer Seite als Stilmittel verankert war. In den islamischen Gemeinden der mittelmekkanischen Periode war mit Gleichnisreden und -erzählungen ein neues homiletisches Element aufgetreten, das spätmekkanische mathal. In der medinischen Phase stellte das Gleichnis „ein auffallendes Charakteristikum koranischer Rede“ dar.48 Der Begriff mathal (pl. amthāl) „scheint von einer bestimmten Zeit an zu einem terminus technicus geworden zu sein, mit dessen Nennung eine exegetische Programmatik, vielleicht auch eine Referenz auf die Gleichnisreden der älteren Religionen angesprochen war“.49 Die Verkündigung des Qurʾāns wurde einprägsam durch lebendige Beschreibungen, Analogien, Vergleiche und bildliche Erzählungen.50 Darunter finden sich ungefähr 30 Gleichnisse.51 Die Häufigkeit dieser rhe-

                                                             47 Dem speziellen Typus der „Königsgleichnisse“ steht auch eine entsprechende reichhaltige Geschichte in der jüdischen Tradition gegenüber. Hier entwickelte sich die Gleichnis-Gattung im Laufe des frührabbinischen Judentums zum „midrashizing“-Programm der Rabbinen, wo Sentenzen und Gleichnisse in einem erheblichen Ausmaß zu finden sind. „Hier wird die formale und inhaltliche Einfachheit der Gleichnisse als überraschend kostbarer Wert zum Verständnis der Offenbarung gewürdigt.“ Vgl. Clemens Thoma/Simon Lauer (Hg.), Die Gleichnisse der Rabbinen I: Pesiqtā deRav Kahanā (Pesk), Bern 1986, 52. Anstatt abstrakter theologischer Lehrsätze benutzten die Rabbinen vor allem in Genesis Rabba (Sammlung von antiken rabbinischen homiletischen Interpretationen des Genesis-Buches) das Gleichnis als Auslegungsmittel. „Die Gleichnisse erzählenden Rabbinen waren sich also – entgegen einer herrschenden Skepsis – bewusst, dass die Gleichnisse den Zugang zur Tora auch für einfache, in der rabbinischen Dialektik nicht bewanderte Leute, eröffneten.“ Ebd. – In der Midraschliteratur entwickelte sich nach 135 n. Chr. der Typus von Königsgleichnissen. Vgl. Ignaz Ziegler, Die Königsgleichnisse des Midrasch beleuchtet durch die römische Zeit, Breslau 1903, XIII. Eine auffallend starke Häufung des Königsbildes und der Königsgleichnisse in Midraschim ist bis nach 350 n. Chr. zu beobachten. Diese Entwicklung war eine Gegenreaktion auf die politische Machtentfaltung der römischen Kaiser. „[…] je mehr der Principat zur Despotie sich entwickelte, je größer seine Machtentfaltung wurde, umso zahlreicher wurden die Gleichnisse, die in der Zeit von Caracalla bis Diocletian oft einen Anflug von überlegenem Hohn annehmen, und dann in der diocletianischen und constantinischen Epoche den Höhenpunkt schroffen Gegensatzes zu erreichen.“ XXIII. – Wie in den früheren jüdischen Königsgleichnissen wird Gott auch bei Theodor als liebend sorgender Vater, Israel als Sohn und die Israeliten im Reifungsprozess. Die Bezeichnung „König“ als Gottesepitheton kommt auch in der Bibel vor und hatte in der frühchristlichen Literatur eine weite Verbreitung. Vgl. Hengel/Schwemer, Königsherrschaft Gottes, passim. 48 Angelika Neuwirth, Der Koran als Text der Spätantike. Ein europäischer Zugang, Berlin 2010, 499. 49 A.a.O., 498. 50 Vgl. Frants Buhl, Über Vergleichungen und Gleichnisse im Qurʾān, in: Acta Orientalia 2 (1924), 1–11, abgedr. in: Rudi Paret (Hg.), Der Koran, Darmstadt 1975, 75–85; Theodor Lohmann, Die Gleichnisreden Mohammeds im Koran, in: MIO 12 (1966), 75–118.241–287; Moses Sister, Metaphern und Vergleiche im Koran, in: MSOS 34 (1931), 194–254; Toufic Sabbagh, La métaphore dans le Coran, Paris 1943. Für einen Überblick vgl. D. Beaumont, Simile, in: EQ 5(2006), 13–18; Angelika Neuwirth, Rhetoric and the Qurʾān, in: EQ 4 (2004), 461–476, 470–472; Dies., Images and Metaphors in the Introductory Sections of the Makkan Sūras, in: Gerald R. Hawting/Abdul-Kader A. Shareef (Hg.), Approaches

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torischen Form bildet ein Charakteristikum für die Darstellung der Offenbarung im Qurʾān. Die Entfaltung der Gleichnisse bedeutete „eine wichtige Station der koranischen rhetorischen Entwicklung“ und wurde zum typischen Merkmal für die Prophetenrede.52 Die im 9. Jh. entwickelte Lehre von der Unnachahmlichkeit des Qurʾāns (iʿǧāz al-qurʿān)53 „feierte“ den literarischen Wundercharakter der qurʾānischen Offenbarung.54 Dadurch, dass der Qurʾān als „das in sprachlicher, rhetorischer und literarischer Hinsicht beste Buch schlechthin“55 betrachtet wurde, bestimmte und beeinflusste es die damalige (inter)religiöse Sprache. Nicht nur Theodor Abū Qurrah, sondern auch der „nestorianische“ Apologet ʿAmmār al-Baṣrī,56 der „jakobitische“ Apologet Abū Rāʾiṭah57 und der Melkit Peter von Bayt al-Raʾs58 verwendeten als häufiges Stilmittel Metaphern und Gleichnisse, in denen Bilder des alltäglichen Lebens zur Erörterung religiöser Fragen verwandt wurden.

In diesem Kontext ist das Gleichnis ein dynamisches Geschehen, das als innovative und kontextgebundene Neubeschreibung der eigenen religiösen Wirklichkeit verstanden werden muss. Der theologische Fokus und (inter-)religiöse Rahmen sind miteinander verflochten. Theodor eröffnet das Gleichnis mit der Beschreibung des Königs. In dieser Beschreibung verwendet er zwei Attribute: „mächtig“ (ʿazīz) und „erhaben“ (ğalīl), die auf zwei Attribute Gottes hinweisen, die im Qurʾān oft zusammen vorkommen. Das Gleichnis bietet eine Extrapolation der Thronvision Ezechiels in der Verschmelzung mit dem qurʾānischen Thronmotiv (Sure 2,255) für die Darstellung der Menschwerdung. Es geht über das biblische Zeugnis hinaus und stellt eine neue „Erzählung“ dar. Dabei wird der religiöse Duktus in eine neue Form gegossen. Die Erzählung bekommt im islamischen Kontext theologische Relevanz schon dadurch, dass in ihr qurʾānische Elemente wiederzufinden sind. Eine der besonderen Bedeutungen solcher Erzählungen besteht in dem Reiz, Subtexte und Konnotationen zu suchen. Für Theodor schien die Verwendung dieser Art von Vermittlung seiner Gedanken als das optimale Verfahren für seinen Kontext. Das Gleichnis bezeichnet eine Matrix, die dem Qurʾān nicht fremd war. Das Verhältnis von Theodors Text zum Qurʾān schafft nicht nur eine literarische Kongruenz oder bloße literarische Rezeptionsästhetik, sondern verweist auf die darin enthaltenen theologischen

                                                            

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to Qurʾan, London u.a. 1933, 3–36; I. Lichtenständer, Origins and Interpretation of Some Koranic Symbols, in: George Makdisi (Hg.), Arabic and Islamic Studies in Honor of Hamilton A. R. Gibb, Leiden 1965, 426–436; Mustansir Mir, The Qur’an as Literature, in: Religion and Literature 20 (1988), 49–64, 54ff. Lohmann, Gleichnisreden, 75. Neuwirth, Koran als Text der Spätantike, 501.499. Siehe Gustav E. von Grunebaum, Der Begriff der „Unnachahmlichkeit des Korans“ in seiner Entstehung und Fortbildung, in: Archiv für Begriffsgeschichte 13 (1969), 58–72; Margaret Larkin, The Inimitability of the Qurʾan: Two Perspectives, in: Religion and Literature 20 (1988), 31–47; Richard C. Martin, Inimitability, in: EQ 2 (2002), 526–536. Angelika Neuwirth, Das islamische Dogma der „Unnachahmlichkeit des Korans“ in literaturwissenschaftlicher Sicht, in: Der Islam 60 (1983), 166–183, 170. A.a.O., 166. Hayek, ʿAmmār al-Baṣrī, 226–227. Graf, Schriften des Jacobiten Ḥabīb, Bd 1, 40 (Ar.), Bd 2, 52 (Übers.). In seinem Kitāb al-Burhan. Das dem Eutyches von Alexandria zugeschriebene Werk Kitāb al-Burhan – vgl. Pierre Cachia/W. Montgomery Watt (ed./trans.), Eutychius of Alexandria. The Book of Demonstration (Kitāb al-Burhān), Louvain 1960–1961 – wurde später dem Peter von Bayt ar-Raʾs zugeschrieben. Samir Khalil Samir, La littérature Melkite sous les premiers abbasides, OCP 56 (1990), 469–486, 482– 484.

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Aspekte, wie sie etwa mittels der Konstrukte „Gott als König“ (al-malik: Sure 59,23; 20,114; 114,2; 54,54-55; → al-mulk (Reich): Sure 1,4; 3,26; 36,83) oder „Gottes Thron“ (al-ʿarš: zentral Sure 2,225; darüber hinaus noch an 25 Stellen im Qurʾān) gegeben sind. Der Gedanke des Herabsteigens Gottes von seinem Thron war auch dem Islam vertraut. Wenn im Qurʾān gesagt wird, dass Gott, nachdem er Himmel und Erde und (alles), was dazwischen ist, in sechs Tagen geschaffen hat, sich auf dem Thron zurechtsetzte (Sure 7,54; 10,3; 13,2; 20,4–5; 25,59; 32,4; 57,4), so gibt der Ḥadīṯ zu erkennen, dass Gott am Freitag von seinem himmlischen Thron (ʿarš) zu den Seligen im Paradies auf seinen irdischen Thron (kursī) herabsteigt, „dann wird der Vorhang gehoben, und sie erblicken ihren Herrn leuchtend wie der Mond in einer Vollmondnacht.“59 Diese Bewegung Gottes wurde von den Theologen der kūfischen Šīʿa als die zentrale Eigenschaft Gottes verstanden.60 Diese theologischen Themen und Begrifflichkeiten sind in der für Abū Qurrah vorauszusetzenden Schriftkultur zu verorten und ihrerseits bereits, da in beiden Religionen, Sprach- und Texttraditionen beheimatet, intertextuell, also sowohl im Qurʾān und der islamischen Literatur als auch in Bibel und Thora sowie jüdischer und christlicher Literatur verankert. Jenseits der Tatsache, dass diese Gleichnisse teilweise biblisch-theologische Erzählinhalte wiedergeben oder als ergänzende Erklärungen gefasst sind, enthalten sie qurʾānische Ausdrücke, mit denen primär ein bestimmter gemeinsamer Aspekt des Erzählinhalts ins Blickfeld genommen wird, die dann aber als interpretierendes Handeln einer eigenen religiösen Welt funktionieren. Das Gleichnis erzählt Theodor hier aus der Perspektive der Bildertheoretiker. Es ist daher wichtig, das ikonische Potential des Gleichnisses zu entdecken. Theodor registriert die Außenwelt seiner zeitgenössischen Christen wie mit einer Kamera. Er blickt durch mehrere „Linsen“ – den religiösen und den literarischen Kontext – auf die Christen. Die christlichen Adressaten werden in seine Erzählung aufgenommen. So wird die Erzählung zu ihrer eigenen Geschichte. Das Gleichnis erweckt den Eindruck, als stünde es in einem unmittelbaren mündlichen Kontext. Die dazu eingeführten direkten Fragen – „Wehe euch! Schämet ihr euch nicht, daß dieser euer Gott ist?“ und „Schämt ihr euch nicht, so einen König zu haben?“ – schließen an alltägliche Erfahrungen der verunsicherten Christen und ihrer Selbstzweifel an. Es zeigt sich, dass das Christusbild der hauptsächliche Anlass der muslimisch-christlichen Auseinandersetzung war. Das Befremden gegenüber der christlichen Kernbotschaft legt Theodor den Muslimen in den Mund. Die Lästerungen, denen die Christen wegen der Bilder ausgesetzt sind, empfinden sie als privilegierte Teilhabe an seiner Erniedrigung und setzen sich aufgrund ihrer Zugehörigkeit zum erniedrigten König der Verhöhnung derer aus, die den König herabwürdigen. Aufgrund ihrer Bezogenheit auf den König wird ihnen die Nachfolge leicht, die sich eschatologisch dort vollendet, wo ihre Liebe in die „vollkommenste Glückseligkeit“ bei ihm mündet.61 Der Selbstzweifel ist zugleich der herangetragene, und die Frage religiöser Praxis kommt genau an der Schnittstelle zu stehen, wo die unterschiedlichen Anschauungen miteinander unvereinbar sind. So lässt Theodor einen Christen sagen, dass die Muslime die Christen der Bilder wegen verschmähten, obwohl sie das Bild gar

                                                             59 Van Ess, Theologie und Gesellschaft 4, 412. 60 A.a.O., 402. 61 Arendzen, De cultu imaginum, 49; Graf, Schriften, 333; Dick, Traité du culte, 217.

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nicht gesehen haben. Doch selbst wenn sie das Bild in der Kirche sähen, würden sie es nicht verstehen, und die Argumente für die Bilderverehrung würden ihnen nicht in den Sinn kommen aufgrund ihrer Grundvoraussetzungen. Das Vorhandensein der Bilder allein genügt schon, in den Fremden (den Muslimen) das Verlangen zu erwecken, die Christen zu schmähen, da die Christen mit dieser ihrer Praxis äußerlich dem Bilderverbot im Ḥadīṯ widersprechend leben.62 Das Gleichnis ist eschatologisch ausgerichtet. Dem ganz allgemein gehaltenen Lobpreis auf die Bilderverehrer – „Selig sind also diejenigen, welche Christus, unseren Herrn, abbilden und sein Bild verehren […] und welche seine Heiligen abbilden und ihre Bilder verehren aus Ehrfurcht […]“63 – korrespondiert die Freude desjenigen, an dessen Werk sie ihm nachfolgend teilhaben. Christus freue sich „über die Verehrung seines Bildes“. Und hier nun wird das gegenwärtig aufgrund ihrer religiösen Praxis in Frage gestellte Gut dargestellt als Vergeltung für die Mühe und Schmach, die sie aufgrund ihrer Bilderverehrung auf sich nehmen müssen. Theodor lädt einen jeden, der die Bilderverehrung ablehnt, dazu ein, das Bild seines Vaters an die Kirchentür anstelle der Christusikone anzubringen. Die Bilderverehrer sollten das Bild jenes Vaters, besonders wenn der Vater seinen Sohn zur Bilderablehnung motivierte, bespucken, um zu sehen, ob der Sohn sich darüber erzürnte oder nicht. Diese Inszenierung gibt Hinweise darauf, dass in der melkitischen Gemeinde heftige Auseinandersetzungen über die Angemessenheit der religiösen Bilder stattfanden und dass sich die christlichen Bildergegner schon in der zweiten Generation befanden. Theodors pädagogischer Schluss ist, dass das Maß der Güte Gottes wegen der Verehrung seines Bildes kein Verstand erfassen könne.64 Mutatis mutandis gilt das auch für die Heiligenikonen. Wer diese Ikonen nicht verehre – so Theodor an einer früheren Stelle –, der mache „sich des geistigen Todes schuldig“. Wer aber ihnen Ehre erweise, verdiene „ohne Zweifel […] das ewige Leben“.65 Das ewige Leben hängt von der Bilderverehrung ab. Eine solche Verehrung wurde schon in den Büchern des Alten Testamentes legitimiert und gesichert.

3. Schlussbetrachtungen Durch die komplexe Einrahmung der Bilderfrage unterstreicht Theodor, dass das christliche Festhalten an dem Bilderkult inmitten eines bilderfeindlichen Umfelds das religiöse Differenzmerkmal zum Islam ist, das skriptural und theologisch begründet werden kann. Um diese Differenz zu konstruieren, wählt Theodor in seiner Argumentation Gedanken aus dem interreligiösen, aber auch aus dem rein christlichen Sprachinventar aus, die ihm in seinem theologischen Wissensvorrat zur Verfügung standen und die ihm mit gewisser Selbstverständlichkeit dem Zweck seiner kommunikativen Argumentation in seinem Kontext und für seine Adressaten als angemessen erschienen. Darüber hinaus setzt Theodor stilistische Mittel und rhetorische Strategien als kommunikative Werkzeuge ein, indem er die durch die Sprache und literarischen Gattungen des Qurʾāns etablierten und herrschenden Regeln be-

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Arendzen, De cultu imaginum, 49; Graf, Schriften, 333; Dick, Traité du culte, 217. Ebd. Arendzen, a.a.O., 46; Graf, a.a.O., 329; Dick, a.a.O., 208f. Arendzen, a.a.O., 27; Graf, a.a.O., 307; Dick, a.a.O., 156.

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folgt. In diesem Vorgang zeigt sich eine Mischung aus argumentativer Gewohnheit und ausdrücklicher Absicht. Manchmal befolgt er bewusst einen interreligiös-kommunikativen Plan, in dem der gemeinsame Code („inter-skripturale“ Passagen) selektiv verwendet und abgrenzend sowie identitätsausbildend funktionalisiert wird. Theodor schreibt auch einige Gedanken von Johannes in neuen literarischen Formen (Gleichnis) neu. Diese Formen beinhalten neue Elemente infolge ihrer kontextuellen Funktion in der religiösen Kommunikationskultur, in der die literarisch-theologische Sprache des Qurʾān bestimmend war. Die neuartigen Akzente signalisieren den Übergang von selbstverständlicher Tradierung zur kontextuellen Neuformulierung christlicher Lehrinhalte – der Bezug Theodors auf den Qurʾān macht diesen Übergang deutlich – und bilden gleichzeitig die originellsten Elemente in der christlichen Bilderverteidigung.

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Kaiser Galaudeos von Äthiopien (1540–1559) Ein orthodoxer Monarch in der Auseinandersetzung mit Moslems und Katholiken Michael Kleiner Dass wir es beim traditionellen Äthiopien mit einer Kultur christlich-orthodoxer Prägung zu tun haben, auf der bis zur kommunistischen Revolution 1974 auch ein Staatswesen mit entsprechendem Selbstverständnis aufbaute, darf man bei Lesern eines Bandes wie desjenigen, den Sie in Händen halten, als bekannt voraussetzen. Wie es jedoch dazu kam, dass Äthiopien zunächst vom Christentum erreicht und anschließend von dessen orthodoxer Variante geprägt wurde, sodass es bis heute einen vitalen afrikanischen Außenposten der orthodoxen Ökumene bildet, ist demgegenüber vielleicht nicht gleichermaßen geläufig. Zum Verständnis des Hintergrundes, vor dem wir eine Figur wie Kaiser Galaudeos1 agieren sehen, sei es daher kurz rekapituliert. Anders als die meisten übrigen Territorien des subsaharanischen Afrikas waren große Teile des heutigen Eritrea sowie der angrenzenden Regionen Nordäthiopiens bereits in der Antike staatlich statt bloß tribal organisiert. Seit dem ersten christlichen Jahrhundert entfaltete sich auf ihnen der Staat von Aksum, benannt nach seiner gleichnamigen Hauptstadt. Politisch unabhängig, war Aksum doch an die Handelsnetzwerke der östlichen Mittelmeerwelt angebunden. Durch seine Kontrolle der südlichen Küsten des Roten Meeres hatte es insbesondere am Indienhandel des Imperium Romanum Anteil und kam zu erheblichem Wohlstand, der sich beispielsweise auch in einer eigenen Münzprägung niederschlug. Mit dem Handel erreichten aber unvermeidlich auch kulturelle Einflüsse aus der östlichen Mittelmeerwelt das aksumitische Gebiet. So beherrschte etwa die aksumitische Elite durchaus mehr oder weniger ordentlich Griechisch, wie wir aus antiken Zeugnissen wissen. Folglich kann nicht mehr überraschen, dass die christliche Verkündigung in den ersten nachchristlichen Jahrhunderten ebenfalls allmählich bis in das heutige Eritrea und Nordäthiopien vordrang. 1

Der in Äthiopien historisch wie aktuell wenig gebräuchliche Name ist der lokalsprachliche Reflex des lateinischen Claudius. Namenspatron für den äthiopischen Monarchen (sowie andere orthodoxe Äthiopier desselben Namens) ist dabei ein antiochenischer adliger Märtyrer des dritten Jahrhunderts, nicht etwa der heidnische römische Kaiser Claudius (reg. 41–54 n. Chr.). – Äthiopische Eigennamen werden im Text dieses Beitrags in einer vereinfachten Umschrift notiert, die auf die Verwendung unvertrauter Symbole und Diakritika verzichtet. Angestrebt wird ein alltagsorthographisches Schriftbild, das dennoch eine weitgehend korrekte Aussprache der äthiopischen Namen gewährleistet. In den Fußnoten werden ergänzend dazu die äthiopischen Namen in einheimischer Schrift sowie in wissenschaftlicher Umschrift nach dem Muster der Encyclopaedia Aethiopica gegeben. Hier sind dies: ገላውዴዎስ/Gälawdewos.

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Zu einem Wendepunkt wurde dann Mitte des 4. Jh.s der Übertritt des aksumitischen Herrscherhauses zum Christentum. Er gab der weiteren Geschichte der äthiopischen Staatlichkeit die Richtung vor, welche sie bis zur Herrschaft von Kaiser Haile Sillasé 2 (reg. 1930–1974) bestimmen sollte. Denn vom 4. Jh. bis 1974 verstanden sich zunächst Aksum und dann sein – alsbald auch so bezeichneter – Nachfolgestaat Äthiopien stets ausdrücklich als christliche Gemeinwesen. Selbst im heutigen postmonarchischen Äthiopien, in dem religiöse Neutralität inzwischen das Leitbild der staatlichen Organe darstellt (nicht zuletzt im Hinblick auf die unterdessen erheblichen islamischen Bevölkerungsgruppen im Land), ist das christliche Erbe weiterhin in einem Maß gesellschaftlich präsent und prägend, wie wir es uns im westeuropäischen Horizont heute kaum mehr vorstellen können. Das äthiopische Christentum war von Anfang an vorwiegend auf Ägypten hin orientiert. Schon Mitte des 4. Jh.s war es Athanasius der Große gewesen (ca. 298– 373) – jener bedeutende alexandrinische Patriarch, der auch in der allgemeinen Kirchengeschichte der Zeit eine überragende Rolle spielte –, welcher den ersten aksumitischen Erzbischof einsetzte. Damit begründete Athanasius eine Tradition der äthiopischen Orientierung an Ägypten, die sich im Lauf der Zeit noch vertiefte. Als die Kirche Ägyptens in den anschließenden Jahrhunderten immer stärker in einen griechischsprachigen, auf Byzanz hin orientierten und in einen koptisch-indigenen Zweig zerfiel, folgte Äthiopien dem Koptentum, mit erheblichen Auswirkungen auf seine Spiritualität und Dogmatik. Besonders hervorzuheben ist in dogmatischer Hinsicht die Übernahme der sogenannten miaphysitischen koptischen Christologie, der zufolge Christus, anders als in der griechischen und osteuropäischen Orthodoxie, aber anders auch als im Katholizismus und in den protestantischen Kirchen, nicht zugleich wahrer Mensch und wahrer Gott ist, sondern nur eine einzige und natürlich zugleich einzigartige gottmenschliche Natur besitzt, in der die göttlichen und menschlichen Bestandteile zu einer Einheit verschmolzen sind. Im Einzelnen sind wir allerdings nicht in der Lage, diese Prozesse der äthiopischen Kirchengeschichte des ersten Jahrtausends zu verfolgen und nachzuzeichnen, weil sich ab circa 450 n. Chr. die Quellenlage rasch verschlechtert. Vielmehr können wir diese Entwicklungen weithin nur aus der äußeren und inneren Verfasstheit erschließen, in der uns die äthiopisch-orthodoxe Kirche ab dem Hohen Mittelalter, ab etwa 1200, aus den dann wieder reichlicher fließenden Quellen als in Lehre, Organisation und Spiritualität gefestigte Institution gegenübertritt. Mit dem Sprung ins Mittelalter sind wir Kaiser Galaudeos und seinem 16. Jh. nun schon ein gutes Stück nähergekommen. Bevor wir uns aber endgültig seiner Zeit und Person zuwenden können, sind für deren angemessenes Verständnis noch einige weitere Hintergrundinformationen erforderlich, die insbesondere die muslimische Präsenz in der Region sowie die christlich-muslimische Interaktion bis zum 16. Jh. betreffen. Zunächst müssen wir uns klarmachen, dass das mittelalterliche orthodoxe Äthiopien, wiewohl schon deutlich weiter ins Landesinnere hinein ausgedehnt als sein antiker, stark 2

ኃይለ ሥላሴ/Ḫaylä Śəllase. Dieser bei seinem Amtsantritt gewählte Thronname des Kaisers – sein bürgerlicher Name war ተፈሪ መኰንን/Täfäri Mäkwännən – bedeutet „Macht der Dreifaltigkeit“ und bezeugt so programmatisch das christliche Selbstverständnis der äthiopischen Monarchie.

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auf das Rote Meer hin orientierter Vorläufer Aksum, noch keineswegs die Ausmaße des modernen Staates Äthiopien hatte. Vielmehr umfasste das mittelalterliche orthodoxe Äthiopien im Kern nur das nördliche und zentrale abessinische Hochland, bis heran an das Rift Valley mit seinen zahlreichen Seen, und da und dort im Süden und Südosten noch etwas darüber hinaus. Große Gebiete im Süden, Westen und ariden Osten sowie Südosten des Landes gemäß seinen heutigen Grenzen lagen jedoch außerhalb der Einflusssphäre des mittelalterlichen christlich-äthiopischen Staates, ja außerhalb seiner Kenntnis. Im Wesentlichen erst zwischen 1880 und 1930 dehnte sich Äthiopien, ausgehend von seinen christlichorthodoxen Kernlanden, bis zu seinen heutigen Grenzen aus. Insbesondere im Osten und Südosten nahm Äthiopien dabei erhebliche muslimische Populationen in sich auf. Manche dieser Populationen hatten sich erst relativ kurz zuvor, ab 1750 und später, dem Islam zugewandt. Andere blickten jedoch zum Zeitpunkt ihrer Eingliederung in das christlich-äthiopische Kaiserreich ab 1880 schon auf eine mehrhundertjährige islamische Geschichte zurück – eine Geschichte, die teilweise also ebenfalls bis in Hohe Mittelalter zurückreicht. Das gilt insbesondere für Gruppen, die gleich jenseits des Rift Valley sowie an den östlichen Rändern und Ausläufern des abessinischen Hochlands ansässig waren. Bereits im Mittelalter waren diese islamischen Gruppen und Territorien damit unmittelbare Nachbarn und Gegenüber des christlich-äthiopischen Kaiserreichs. Politisch war diese islamische Zone – die al-Maqrīzī, ein bedeutender ägyptischer Autor des 15. Jh.s, seinerzeit anschaulich als „die islamische Bordüre“ (aṭ-ṭirāz al-islāmī) am Saum des christlichen Äthiopiens bezeichnete3 –  dabei stets mehr oder weniger zersplittert, was gegenüber dem einheitlicher regierten christlichen Staat natürlich nachteilig war. Dazu kam der größere agrarische Ressourcenvorrat, auf den das christliche Reich auf dem fruchtbaren Hochland zugreifen konnte, während die „islamische Bordüre“ auch zahlreiche aride Territorien umfasste, die nur nomadische Wirtschaftsformen erlaubten, welche wiederum nur einen eher geringen Überschuss produzierten, den sich islamische Machthaber aneignen und für ihre Kriegführung nutzbar machen konnten. Nichtsdestotrotz lagen die Territorien des ṭirāz islāmī von etwa 1200 bis 1500 in einem ständigen intermittierenden Kleinkrieg mit dem christlichen Kaiserreich. Mehrfach wechselte dabei die Herrschaft über einige dieser Regionen hin und her. Da und dort mochte die christliche Seite vorübergehend Territorialgewinne erzielen oder zumindest Tribute erheben. Dagegen allerdings kam es dann nicht selten zu islamischen oder auch, ohne religiöse Motivation, einfach zu politisch-anarchischen Revolten. Andererseits waren auch die Muslime keine Kinder von Traurigkeit, und ihre aufgrund von nomadischen Traditionen vielfach größere Mobilität nutzen sie regelmäßig zu Raubzügen bis weit ins christliche Territorium hinein, wo sich aufgrund des größeren Wohlstandes dieser agrarischen Gebiete reiche Beute machen ließ. Das wiederum führte zu Vergeltungsaktionen der christlichen Seite … das Muster dürfte klar sein. Zwar kam es auch zwischen 1200 und 1500 gelegentlich zu erhöhten Amplituden im intermittierenden Kleinkrieg, zu zeitlich wie räumlich ausgedehnteren und damit auch blutigeren Kampfhandlungen. Aus der historischen Distanz betrachtet wird jedoch schnell klar, 3 Al-Maqrīzī, Kitāb al-ilmām bi-aḫbār man bi-arḍ al-ḥabaša min mulūk al-islam (Zusammenfassung der Nachrichten über islamische Herrscher in Abessinien), anonyme Edition, Kairo 1895, 1.

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dass dabei keine Seite je den ernstlichen Willen hatte, die andere vollständig zu unterwerfen, geschweige denn sie kulturell oder gar physisch auszulöschen. Wären dazu überhaupt die Machtmittel vorhanden gewesen? Nun, objektiv vielleicht, wie wir, belehrt durch die Ereignisse des 16. Jh.s, von denen sogleich die Rede sein wird, wohl sagen müssen; dies jedoch nur bei konzentrierter, zielgerichteter und langfristiger Mobilisierung aller Ressourcen. Und ob dies allerdings auch für die hoch- und spätmittelalterlichen Akteure beider Seiten ersichtlich war, darf man bezweifeln. Folglich blieb es über etwa 300 Jahre bei low intensity warfare zwischen Christen und Muslimen im nach heutiger Geographie südlichen und südöstlichen Zentraläthiopien, ohne dass die eine oder die andere Seite dauerhafte Konversionserfolge oder territoriale Gewinne hätte erzielen können. Das aber änderte sich ab etwa 1520 – mithin ungefähr zu derselben Zeit, in der auch in Europa die Türken erstmals bis vor Wien vordrangen. Denn in jenen Jahren trat unter den Muslimen der „islamischen Bordüre“ Äthiopiens eine charismatische, politisch wie militärisch gleichermaßen begabte und dazu noch rücksichtslos entschlossene Führungspersönlichkeit auf den Plan. Der Name dieser außerordentlichen Gestalt war Ahmad bin Ibrahim.4 Auf christlich-äthiopischer Seite wurde er allerdings wegen seiner Linkshändigkeit alsbald als Ahmad Grañ bezeichnet, „Ahmad der Linkshänder.“5 Wegen seiner militärischen Begabung, seiner ungewöhnlichen Erfolge sowie wegen seines Zerstörungswillens wurde Aḥmad in der älteren westlichen Literatur gelegentlich auch der Titel eines „Attila Äthiopiens“ beigelegt. In einem ersten Schritt gelang es Aḥmad Anfang der 1520er Jahre, in dem wichtigsten islamischen Staatswesen der Region, im Sultanat Adal mit Zentrum in der Stadt Harar – bis heute das spirituelle Zentrum der äthiopischen Moslems –, die Macht zu übernehmen, und das, obwohl er damals erst Anfang zwanzig war. Als rücksichtsloser, tatkräftiger und zugleich hochintelligenter junger Heißsporn schaltete Aḥmad zunächst in Harar die traditionelle islamische Herrschaftselite aus – eine Elite, die weithin eine grosso modo friedliche Koexistenz mit dem christlichen Reich vorzog, schon zur Wahrung ihrer eigenen Handelsinteressen. Aḥmad hingegen suchte die Konfrontation und den ǧihād.6 4

Namen von Moslems des äthiopischen Raums folgen weithin arabischen Mustern und Vorbildern. Im Text werden sie daher, analog zu christlich-äthiopischen Namen (vgl. Anm. 1), in vereinfachter Transkription, in ergänzenden Fußnoten in arabischer Schrift (denn die älteren Selbstzeugnisse äthiopischer Moslems sind arabisch verfasst) sowie in wissenschaftlicher Umschrift wiedergegeben. Hier lauten diese: ‫ ﺍﺤﻤﺪ ﺒﻦ ﺍﺒﺭﺍﻫﻴﻢ‬/Aḥmad bin Ibrāhīm. 5 አሕመድ ግራኝ/Aḥmäd Grañ. Das ñ ist dabei zu sprechen wie in „España“ oder wie gn in frz. „Cognac“.  6 Unsere Kenntnisse vom Aufstieg Aḥmads stammen aus einer zeitgenössischen muslimischen Quelle, den arabischsprachigen Futūḥ al-ḥabaša (Eroberungen der [Provinzen der] Äthiopier). Diese umfangreiche, detaillierte und Aḥmad wohlgesonnene Quelle entstand in den 1540er, spätestens 1550er Jahren und schildert in der Hauptsache, neben und nach Aḥmads Aufstieg, die Jahre des ǧihād bis 1537 (eine Fortführung über 1537 hinaus, gegen Ende des vorhandenen Texts in Aussicht gestellt, ist entweder nie entstanden oder verschollen). Die Futūḥ sind das Werk eines meist schon von seinen Zeit- und Glaubensgenossen einfach ˁArab faqīh („arabischer Gelehrter“) genannten jemenitischen Autors, der zwar nicht den Aufstieg Aḥmads, danach jedoch erhebliche Teile des ǧihād als Teilnehmer miterlebte und seine sonstigen Informationen von muslimischen Augenzeugen und Gewährsleuten bezog. Für die heute gebräuchlichen Ausgaben und Übersetzungen der Futūḥ sowie für ˁArab faqīhs eigentlichen und vollen Namen vgl. René Basset (ed./tr.), Futūḥ al-Ḥabaša. Histoire de la conquête de l’Abyssinie (XVIe siècle)

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Nach seiner Machtübernahme in Harar und Adal gelang es Aḥmad ferner, die Muslime der Region auch über die adalitischen Kernlande hinaus zu einem Kampfbündnis gegen das christliche Reich zu vereinen. Ab 1527 trug er so den ǧihād in die angestammten christlichen Territorien. Anfangs mögen ihn seine Erfolge noch selbst überrascht haben, doch spätestens ab 1529 verfolgte er entschlossen das Ziel, das christliche Reich insgesamt zu erobern, es politisch zu übernehmen und kulturell-religiös zu islamisieren. Damit aber war die Jahrhunderte alte muslimisch-christliche Konfrontation in Äthiopien auf eine nie zuvor gekannte Eskalationsstufe gehoben. Aḥmads Gegenüber, und notgedrungen auch Gegner, auf christlicher Seite war dabei zunächst noch nicht Galaudeos, sondern dessen Vater Libna Dingil,7 „Weihrauch für die Jungfrau (Maria)“ – wie sofort ersichtlich ein eminent, ja programmatisch christlicher Name. Libna Dingils Armeen waren allerdings, zur allgemeinen Überraschung und bald auch zur Bestürzung, ja zum Entsetzen der christlichen Seite, nicht in der Lage, dem taktischen wie strategischen Geschick Aḥmad Grañs Paroli zu bieten und wirksame Gegenwehr zu leisten. Zudem sank mit jedem muslimischen Erfolg die Moral der Christen, während umgekehrt die muslimischen ǧihād-Kämpfer durch ihre Erfolge stets nur noch mehr beflügelt wurden. So fielen in nur drei, vier Jahren um 1530 sämtliche südlichen und zentralen Provinzen des christlich-äthiopischen Kaiserreichs unter islamische Herrschaft. Ihre Klöster und Kirchen wurden ausgeraubt und zerstört, manchmal gewiss auch in Moscheen umgewandelt, und die christliche Bevölkerung vielfach vor die Wahl gestellt, sich entweder zum Islam zu bekehren oder aber den Tod zu erleiden.8 Nachvollziehbarerweise wählten die par Chihab Eddin Aḥmed ben ‘Abd el-Qāder, surnommé Arab-Faqih, Paris 1897, sowie Paul L. Stenhouse (tr.), Futūḫ al-Ḥabaša: The Conquest of Abyssinia (16th Century). By Šihāb ad-Dīn Aḥmad bin ‘Abd al-Qāder bin Sālem bin ‘Utmān, also known as ‘Arab Faqīh. With annotations by Richard Pankhurst, Hollywood CA 2003. 7 ልብነ ድንግል/Ləbnä Dəngəl (*1496/97, † 2.9.1540), nominell Kaiser seit 1508, doch bis ca. 1516 führte faktisch ein Thronrat aus Großen des Reiches für Ləbnä Dəngəl die Regierungsgeschäfte. 8 Außer den Anm. 6 erwähnten islamisch-arabischen Futūḥ liegen uns auch von christlich-äthiopischer Seite eine Reihe von Quellen für den Verlauf des ǧihād vor. Zwar schildern sie die Ereignisse nicht mit derselben Ausführlichkeit wie die Futūḥ, doch liefern auch sie, einzeln und erst recht in der Gesamtschau, eine Vielzahl von Informationen und zeichnen so insgesamt ein detailreiches und trauriglebendiges Bild der Ereignisse. Dazu kommt für die letzten zwei Jahre des ǧihād, 1541–1543, ein portugiesischer Augenzeugenbericht. Insgesamt sind wir durch dieses breite Spektrum an Quellen über den ǧihād Aḥmad Grañs der Jahre 1527–1543 so gut unterrichtet wie über keine frühere und nur wenige spätere Perioden der vormodernen äthiopischen Geschichte. Dazu kommt, dass die unterschiedliche Provenienz der Quellen in hilfreicher Weise ihren kritischen Abgleich miteinander erlaubt. – Im Einzelnen liegen als wichtigste Quellen von christlich-äthiopischer Seite vor: (1) die Abschnitte über die Regierungsjahre von Ləbnä Dəngəl und Gälawdewos in der sog. Kurzen Chronik, vgl. Manfred Kropp (Hg./Übs.), Die Geschichte des Lebna-Dengel, Claudius und Minās, Leuven 1988 (CSCO 503/504 = Scriptores aethiopici 83/84); die Publikation bietet die ǧihād-Abschnitte aus der sog. Kurzen Chronik sowie die rekapitulierenden Einleitungs-Kapitel über Ləbnä Dəngel, Gälawdewos und Minas aus der Chronik ihres Nachfolgers Śärś ̣ä Dəngəl (reg. 1563–1597), 11–28; (2) die rekapitulierenden Einführungskapitel über die Regierungszeiten von Ləbnä Dəngəl und Gälawdewos aus der Chronik von Ləbnä Dəngəls Enkel (und damit Gälawdewos’ Neffen) Śärś ̣ä Dəngəl, äth. Kaiser 1563–97 (Kropp, Bd 1 [äth. Text], 3–11 [Ləbnä Dəngəl] und 25–34 [Gälawdewos] sowie Bd 2 [dt. Übs.], 3–10 [Ləbnä Dəngəl] und 29–38 [Gälawdewos]); (3) die große Gälawdewos-Chronik, vgl. William E. Conzelman (ed./tr.), Chronique de Galâwdêwos (Claudius), Roi d’Éthiopie, Paris 1895. (Solomon Gebreyes Beyene hat 2016 in Hamburg als Dissertation eine verbesserte Neuedition des äthiopischen Textes mit umfangreich anno-

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meisten die erstere Option.9 Die kaiserliche Familie selbst befand sich ab etwa 1530 ständig auf dem Rückzug – einem Rückzug, der bald zur Flucht wurde – in stets entferntere nördliche Provinzen des Reiches, die jeweils noch nicht vom ǧihād heimgesucht worden waren. In dieser Atmosphäre und unter diesen Umständen wuchs Galaudeos heran. Um 1520 geboren, waren seine Kindheitsjahre noch ruhig, friedvoll und sogar in gewissem Maß luxuriös – wir haben Schilderungen über die entfaltete geistige und materielle Kultur am spätmittelalterlichen Kaiserhof seines Vaters Libna Dingil.10 Galaudeos’ zweites Lebensjahrzehnt jedoch, seine Jugendjahre, waren geprägt von ständiger Flucht mit der Familie vor den angreifenden Moslems, und gewiss gab es auch Episoden unmittelbarer Lebensgefahr. Zwei von Galaudeos’ Brüdern jedenfalls, der ältere Viktor 11 sowie der jüngere Minas,12 wurden in je unterschiedlicher Weise Opfer des ǧihād: Viktor wurde im April

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tierter englischer Übersetzung vorgelegt. Diese Arbeit ist jedoch bisher nur online verfügbar: ediss.sub.uni-hamburg.de/volltexte/2016/8117.) Dazu tritt der oben bereits angesprochene portugiesische Augenzeugenbericht über die letzten Jahre des ǧihād 1541–1543 aus der Feder von Miguel de Castanhoso, vgl. Robert S. Whiteway (ed./tr.), The Portuguese expedition to Abyssinia in 1541–1543, as narrated by Castanhoso, with some contemporary letters, the short account of Bermudez, and certain extracts from Correa, London 1902. Auf all diesen Quellen beruht die hier gegebene Darstellung, ohne dass jeweils Einzelnachweise erfolgen. In Kapitel 4 der großen Gälawdewos-Chronik trägt der anonyme Chronist vor – gewiss stilisierend und übertreibend, aber doch auch die allgemeine Tendenz scharf ins Relief hebend –, dass in den Jahren des ǧihād wohl nur einer von zehn Christen seiner Religion treu geblieben sei, vgl. Conzelman, 5 (äth. Text) und 123 (frz. Übs.). Von 1520–1526 hielt sich eine portugiesische diplomatische Delegation in Äthiopien und dabei für längere Zeit auch am Hof Ləbnä Dəngəls auf. Ihr gehörte als geistlicher Begleiter und Betreuer der Priester Francisco Alvares an. Nach seiner Rückkehr aus Äthiopien verfasste er einen ausführlichen Bericht über seinen dortigen Aufenthalt, der eine erstrangige und einzigartige Quelle zum blühenden christlichen Äthiopien am Vorabend des ǧihād darstellt, vgl. Charles F. Beckingham/George W. B. Huntingford (ed./tr.), The Prester John of the Indies. A True Relation of the Lands of the Prester John, being the narrative of the Portuguese Embassy to Ethiopia in 1520, written by Father Francisco Alvares, London 1961. ፊቅጦር/Fiqṭor. Noch offenkundiger als im Fall von Gälawdewos ist auch dieser äthiopische Name der Reflex eines lateinischen: Victor. Wie oben Anm. 1 erwähnt, war der Namenspatron für Gälawdewos ein antiochenischer Märtyrer des 3. Jh.s, vom dem das orthodoxe Äthiopien über seinen Heiligenkalender, das sogenannte Sənkəssar (aus griech. συναξάριον), Kunde erreicht hatte. Laut Sənkəssar war aber auch der Hl. Victor ein antiochenischer Märtyrer derselben Zeit, ja mehr noch, die antiochenischen Victor und Claudius waren dieser Tradition zufolge engste Freunde. So ist also die Namensgebung der beiden äthiopischen Prinzen Fiqṭor und Gälawdewos alles andere als zufällig, sondern aufeinander bezogen und zugleich programmatisch, insofern nämlich das enge freundschaftliche Einvernehmen der antiochenischen Namenspatrone nach dem Wunsch der Eltern auch für das äthiopische prinzliche Brüderpaar prägend sein sollte. Angesichts möglicher Thronfolgestreitigkeiten, wie sie in der äthiopischen Geschichte durchaus immer wieder vorkamen, ist eine solche gleichsam apotropäische Namensgebung nicht nur kunstreich, sondern auch in der Sache allemal verständlich. Dass durch Fiqṭors frühen gewaltsamen Tod Thronstreitigkeiten dann gar nicht erst aufkommen konnten, steht auf einem anderen Blatt. Eine weitere Parallele zwischen Fiqṭor und Gälawdewos einerseits und ihren antiochenischen Namenspatronen andererseits – eine Parallele, die die äthiopischen kaiserlichen Eltern weder voraussehen noch wünschen konnten – liegt zudem im Tod um des christlichen Glaubens willen. Für Fiqṭor wurde dies bereits hier im Text konstatiert, vom Tod des Gälawdewos wird später noch zu sprechen sein.  ሚናስ/Minas. Nach Ende des ǧihād erlangte Minas durch einen Austausch hochrangiger Gefangener sowie eine zusätzliche Lösegeldzahlung seine Freiheit wieder und konnte nach Äthiopien zurückkehren. Dort folgte er Gälawdewos nach dessen Tod 1559 auf den Kaiserthron nach und regierte das Land bis

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1539 von den islamischen Truppen getötet, Minas nur einen Monat später von den Soldaten Aḥmad Grañs gefangen genommen, auch zunächst mit Kastration bedroht, schließlich aber unversehrt als Geisel und „Geschenk“ an den osmanischen Statthalter des Jemen überstellt – eine politische Geste gegenüber der islamischen Supermacht der Zeit. Diese Ereignisse scheinen Libna Dingil, dem Vater der beiden Prinzen, das Herz gebrochen zu haben, denn er verstarb nur ein Jahr später, im September 1540, auf Dabra Damo,13 einer mit damaligen Mitteln praktisch uneinnehmbaren Kloster-Bergfestung im Grenzgebiet der heutigen Staaten Eritrea und Äthiopien, auf die er sich mit den meisten überlebenden Mitgliedern seiner Familie zurückgezogen hatte. Als Libna Dingil auf Dabra Damo verstarb, ohne äußere Feindeinwirkung und ohne dass wir von einer Krankheit hören, war er erst 42 Jahre alt. Auf diesem jungen Alter vor allem beruht meine Hypothese vom Tod an gebrochenem Vaterherz. Nach ihm bestieg nun Galaudeos, nach Viktors Tod der älteste überlebende Sohn, den äthiopischen Kaiserthron – was freilich nur metaphorisch zu verstehen ist; denn an eine prachtvolle Inthronisationszeremonie war nicht zu denken, und selbst ein Thronsessel hat Galaudeos unter den damaligen Umständen vermutlich kaum zur Verfügung gestanden.

  Als Galaudeos so 1540 seine Herrschaft antrat, war er nur mehr Kaiser eines Reiches, das auf kärgliche Reste seiner früheren Größe und Glorie reduziert war. Überhaupt schienen die Tage des christlichen Äthiopien gezählt, schien sich das Blatt nicht mehr zu wenden und der Krieg gegen die Muslime nicht mehr zu gewinnen, vielmehr das christliche Reich seinem endgültigen Untergang entgegen zu gehen. Dessen ungeachtet stürzte sich der junge Monarch mit der Unbekümmertheit und dem Wagemut der Jugend, wie es scheint, in den Kampf. Allerdings suchte er, den nur noch wenige Truppen begleiteten, vernünftigerweise nicht die offene Feldschlacht, sondern zog sich tief ins Landesinnere und in den Rücken der Feinde zurück, von wo aus er muslimische Verbände dann immer wieder mit einer Guerillataktik attackierte. Mutig und preiswürdig, gewiss – aber konnte Galaudeos hoffen, gar erwarten, so das Blatt noch zu wenden? Wir wissen natürlich nicht, was damals in seinem Gemüt vor sich ging; doch in der nüchternen historischen Rückschau betrachtet wird man das schwerlich für möglich halten. Allerdings hält die Geschichte mitunter wundersame Wendungen bereit – und im Äthiopien des Jahres 1541 begegnen wir einer solchen. Im Sommer 1541, knapp ein Jahr nach Galaudeos’ Thronbesteigung, und während er selbst tief im Landesinnern seinen Guerillakrieg führte, gingen an der eritreischen Küste des Roten Meeres vierhundert portugiesische Musketiere an Land, martyriumsbereit und mit dem erklärten Ziel, den existenziell bedrohten christlich-äthiopischen Brüdern beizustehen. Vierhundert Mann, das ist natürlich keine gewaltige Zahl, selbst nicht nach den Maßstäben jener Zeit, in der die Bevölkerungen und folglich auch die Armeen deutlich kleiner waren als in unserer Gegenwart. Allerdings: Alle zu seinem eigenen Tod 1563. Zu ihm vgl. v.a. die Minas-Chronik, Kropp Bd 1 (äth. Text), 35–63 und Bd 2 (dt. Übs.), 39–62. 13 ደብረ ዳሞ/Däbrä Damo („der Berg von Damo“ oder „das Kloster von Damo“). Die doppelte Übersetzungsmöglichkeit beruht darauf, dass Klöster im orthodoxen Äthiopien traditionellerweise auf Bergkuppen oder den im dortigen Hochland nicht seltenen Tafelbergen angelegt wurden. Dadurch nahm das Wort däbr, ursprünglich „Berg“, im Lauf der Zeit die Sekundärbedeutung „Kloster“ an.

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vierhundert Portugiesen waren mit Musketen ausgerüstet, den innovativen hightech-Waffen jener Zeit, und wussten sie zu handhaben – beim Stand der damaligen Technik durchaus keine ganz einfache und risikolose Aufgabe. Auf Seiten der äthiopischen kriegführenden Parteien, Christen wie Muslime, zirkulierten demgegenüber allenfalls wenige Dutzend Musketen. Zu den evidenten Vorteilen, die die Feuerwaffen im Kampf boten, kam noch ihre psychologische Wirkung als einstweilen wenig bekanntes Gerät: Ihr Knallen, ihr Pulverdampf und schließlich ihre auf mysteriöse Weise todbringende Wirkung hatten auf die äthiopischen Kombattanten jener Zeit, so hören wir es in den Quellen wiederholt, eine ganz außerordentliche Wirkung, verbreiteten Angst und Schrecken. Ein geschlossen und diszipliniert agierendes Korps von vierhundert Musketieren stellte also aus einem Ensemble von Gründen heraus allemal einen nicht zu unterschätzenden Faktor dar. Dazu kommt noch, dass die Portugiesen, Enkel der iberischen Reconquista, im Kampf gegen muslimische Feinde bis in die Haarspitzen motiviert waren. Zudem gelang es den Portugiesen, mit ihrem Eingreifen auch den christlich-äthiopischen Kampfgeist wieder wachzurütteln, der aufgrund der ständigen Niederlagen zuvor schon weithin erlahmt und erloschen war. Dafür war nicht zuletzt ihr kluges Zusammenwirken mit Galaudeos’ Mutter, der Kaiserinwitwe Sabla Wangél („Ähre des Evangeliums“), ausschlaggebend, einer beachtlichen Frau, welche die Chancen einer Zusammenarbeit ebenfalls erkannte und entschlossen ergriff.14 Beraten von einem lokalen Fürsten, vereinigten sich die Portugiesen – die von Cristovão da Gama angeführt wurden, einem Sohn des legendären Vasco da Gama, welcher 1498 erstmals das Südkap Afrikas umsegelt hatte – rasch mit Sabla Wangél. Für diese verließ sie die Klosterfestung von Dabra Damo, auf der ihr kaiserlicher Ehemann im Jahr zuvor verstorben war, zog mit ihnen durch den äthiopischen Norden, verlieh ihnen Legitimität in den Augen der lokalen Bevölkerung, und Portugiesen wie Kaiserin beflügelten gemeinsam neu den einheimischen Kampfgeist. Im Folgejahr 1542 vereinigten sich die Portugiesen und die Kaiserinmutter mitsamt den inzwischen mobilisierten einheimischen Truppen dann auch nördlich des Tana-Sees15 mit den Soldaten von Galaudeos. Schon zuvor war es zu vermehrten Scharmützeln mit den ǧihād-Kämpfern von Aḥmad Grañ gekommen, doch sparten beide Seiten ihre besten Kräfte für eine unabwendbare baldige Entscheidungsschlacht auf. Zu dieser Konfrontation kam es im Februar 1543 – und wundersamer Weise endete sie, nach Jahren der Niederlagen, mit einem vollständigen Sieg der christlichen Seite. Ausschlaggebend dafür war vor allem, dass irgendwann im Getümmel Aḥmad Grañ, der gleichsam überlebensgroße Anführer und Inspirator seiner Truppen, von einer Musketenkugel tödlich getroffen wurde. Als seine Soldaten bemerkten, dass ihr charismatischer Anführer gefallen war, verloren sie rasch alle Ordnung sowie Motivation und zerstreuten sich in kürzester Zeit in alle Winde. Dies auch nicht etwa nur für den Tag der Schlacht und kurze Zeit danach, um sich dann erneut zu sammeln und weiterzukämpfen, sondern ein für alle Mal. So eigentümlich es uns erscheinen mag, es berichten doch alle Quellen übereinstim14 Zur Person und Persönlichkeit von ሰብለ ወንጌል/Säblä Wängel vgl. Michael Kleiner, Art.: Säblä Wängel, in: EncAeth 4 (2010), 434f. 15 Der Tana-See liegt im Nordwesten Äthiopiens und ist, bei annähernd runder Form und einem Durchmesser von ca. 60 km, der größte See des Landes. Aus ihm fließt zudem auch der Blaue Nil.

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mend, dass die islamischen ǧihād-Kämpfer ohne ihren Anführer Aḥmad alle Eroberungen der anderthalb Jahrzehnte zuvor binnen Kurzem aufgaben und in ihre Stammlande im Osten und Südosten Äthiopiens zurückkehrten. Über die tieferen Gründe dafür kann man trefflich nachsinnen, doch ist hier nicht der Ort dafür. Hier müssen wir uns vielmehr mit der Feststellung dieser Tatsache als solcher begnügen – und zugleich konstatieren, dass das christliche äthiopische Reich, welches noch zwei Jahre zuvor am Rande des Untergangs und Verlöschens gestanden hatte, mehr oder minder auf einen Schlag nun als befreit gelten konnte, aufgrund des Zusammenwirkens der opferbereiten Portugiesen, der klugen Kaiserinwitwe und des energischen jungen Monarchen Galaudeos selbst. Selbstverständlich war damit jedoch nicht sogleich der status quo ante von 1526 wiederhergestellt, und in den Folgejahren musste Galaudeos hart daran arbeiten, wieder geordnete Verhältnisse zu schaffen, ja seine Herrschaft überhaupt wieder landesweit zu etablieren, besonders an der westlichen und südlichen Peripherie. Auch mit den Muslimen kam es in den Folgejahren immer wieder einmal zu Scharmützeln und Kämpfen. Aber diese bewegten sich grosso modo erneut im Rahmen dessen, was aus den Jahrhunderten zuvor bekannt war. Selbst wenn Galaudeos sechzehn Jahre später, im Jahr 1559, bei solchen Auseinandersetzungen mit Muslimen den Tod fand, so ändert dies doch nicht den übergreifenden Befund, dass die Kämpfe mit den Muslimen nach dem Klimax von 1543 nie mehr den Bestand des Reiches in der Weise gefährdeten, wie es zuvor in singulärer Manier der ǧihād des Aḥmad Grañ getan hatte. Sogar als die Osmanen selbst in den 1550er Jahren vom Roten Meer aus nach Eritrea ausgriffen und dort für eine Generation eine nicht unerhebliche Präsenz etablierten, blieb dies letztlich ein Geschehen von bloß regionaler Bedeutung. Der ǧihād des Aḥmad Grañ hatte demgegenüber eine ganz andere Dimension erreicht, er hatte das Christentum im Land an die Grenze des Untergangs geführt und ist ein einzigartiges Ereignis der äthiopischen Geschichte – das dementsprechend im kollektiven historischen Bewusstsein des Landes tiefe Spuren hinterlassen hat, auf beiden Seiten.16 Soviel zu Galaudeos’ blutigen, ihm aufgezwungenen Kämpfen mit den benachbarten Muslimen. Kommen wir nun zu seiner Auseinandersetzung mit Katholiken und dem Katholizismus. Glücklicherweise verlief dieser Konflikt weitaus weniger dramatisch als jener, vor allem aber völlig unblutig. Stattdessen wurde er, während weniger Jahre oder sogar nur Monate, allein auf der intellektuellen und rhetorischen Ebene ausgetragen. Dennoch verdient auch er Erwähnung, und zwar nicht nur der historischen Vollständigkeit halber, sondern weil er gleichsam das Präludium zu einer deutlich intensivierten katholisch-orthodoxen Auseinandersetzung im Äthiopien des 17. Jh.s bildet. Hier aber wollen und müssen wir uns auf das 16. Jh. und unseren Protagonisten Galaudeos beschränken. 16 Dass der ǧihād den äthiopischen Christen traumatisch in Erinnerung blieb sowie ein tiefes Misstrauen gegen die Intentionen der angrenzenden Moslems in die kollektive Psyche einschrieb, bedarf kaum einer weiteren Erläuterung. Eher kann es den europäischen – und vielleicht insbesondere den deutschen – Betrachter verblüffen, dass, aufs Ganze gesehen, die Erinnerung an Aḥmad Grañ den Moslems des Horns von Afrika keineswegs unangenehm ist, sondern er ihnen als Heros gilt. So steht (stand?) in der somalischen Hauptstadt Mogadischo ein Reiterdenkmal zu seinen Ehren, und verschiedene muslimische Ethnien der Region, insbesondere die Afar und Somali, stritten bis in die jüngste Zeit um das vermeintliche Privileg, ihn als aus ihrem Volk hervorgegangen beanspruchen zu können. 

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Zunächst: Wie kam Galaudeos überhaupt mit Katholiken erst in Kontakt und geriet dann mit ihnen in theologischen Konflikt? Spielten hier etwa die oben erwähnten vierhundert portugiesischen Soldaten eine ausschlaggebende Rolle, die ihn in der Endphase seines Kampfes gegen die ǧihād-Armeen so entscheidend unterstützt hatten, und die natürlich allesamt Katholiken waren? Die Antwort auf diese Frage ist ein klares Nein: Mit diesen Waffenbrüdern geriet Galaudeos in keiner Weise in Streit über Religionsfragen. Vielmehr war das Einvernehmen zwischen dem Kaiser und den portugiesischen Kämpfern, die sich so sehr um Äthiopien verdient gemacht hatten, von beiden Seiten her vortrefflich, wie uns insbesondere Miguel de Castanhoso schildert, ein Soldat, der selbst an der äthiopischen Expedition teilnahm und anschließend einen längeren Bericht darüber verfasste.17 Ohnehin kehrten die meisten überlebenden Portugiesen – weniger als zweihundert von den ursprünglichen vierhundert – bald nach Abschluss der Kämpfe in die Heimat bzw. ins indische Goa zurück, von wo sie seinerzeit in See gestochen waren. Doch eine gewisse Zahl blieb auch im Land, wurde vom Monarchen mit Ländereien ausgestattet, heiratete und wurde so in Äthiopien sesshaft. Doch wieso waren die vierhundert portugiesischen Soldaten, von Goa kommend, 1541 überhaupt an der eritreischen Küste aufgetaucht, um den äthiopischen Glaubensbrüdern beizustehen? Bereits in den 1520er Jahren hatte eine erste portugiesische diplomatische Delegation Äthiopien besucht und sich mehrere Jahre dort aufgehalten. Denn im Zuge der Etablierung des portugiesischen Indienhandels nach der Entdeckung des Seewegs dorthin war man auch in das Rote Meer vorgestoßen und hatte dort dann bewusst den Kontakt mit den glaubensverwandten Äthiopiern gesucht. Als sich anschließend der ǧihād entfaltete, hatte der bedrängte Libna Dingil Anfang der 1530er Jahre einen Brief mit der Bitte um Waffenhilfe an die portugiesische Krone geschrieben – der auf verschlungenen Wegen und nach mehreren Jahren auch tatsächlich sein Ziel erreichte. Daher landeten, nach nochmals einigen Jahren, 1541 eben tatsächlich die vierhundert Freiwilligen unter Cristovão da Gama an der eritreischen Küste. Von 1520 bis zum Ende des ǧihād 1543 war das äthiopischportugiesische Einvernehmen also ungetrübt, ja hatte, insbesondere für Äthiopien, die schönsten Früchte getragen; und noch ungefähr weitere zehn Jahre blieb das Miteinander ohne Beeinträchtigungen. Während derselben Zeitspanne, zwischen 1520 und 1550, fanden jedoch in Europa dramatische Umbrüche statt, die sich in der Folge auch auf die portugiesisch-äthiopischen Beziehungen auswirkten. Namentlich entfaltete in diesen Jahrzehnten die von Luther, Zwingli, Calvin und ihren Mitstreitern auf den Weg gebrachte Reformation ihre Wirkungen, und die zuvor einheitliche europäische Christenheit wurde konfessionell in Protestanten und Katholiken gespalten. Diese Konfessionalisierung auf dem Heimatkontinent veränderte aber auch den Blick Portugals auf Äthiopien. Nicht mehr länger standen nun das Staunen und die Freude darüber, dass man im entlegenen Afrika überhaupt christliche Brüder gefunden hatte, im Vordergrund, sondern ein verschärftes konfessionelles Bewusstsein, ausgebildet in der Auseinandersetzung mit der Reformation und dem Protestantismus, sorgte dafür, dass die Portugiesen ab etwa der Mitte des 16. Jh.s jetzt auch bei den Äthiopiern vermehrt das vom einheimischen, katholischen Christentum Abweichende wahrnahmen.

17 Vgl. Whiteway, Portuguese expedition.

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Eine besondere Rolle spielte in diesem Zusammenhang der 1534 gegründete und zunächst stark iberisch geprägte Jesuitenorden mit seiner sowohl entschieden katholischkonfessionellen Haltung als auch weltweiten Ausrichtung. Erstmals 1555 entsandten die Jesuiten eine Delegation nach Äthiopien, einerseits um für die im Land verbliebenen Soldaten von 1541 und ihre Nachkommen seelsorgerlich tätig zu werden, andererseits um die Möglichkeiten zu sondieren, Galaudeos, und damit sein Land, für den Katholizismus zu gewinnen. Wie diese frühen Jesuiten bald einsehen mussten, bestand darauf jedoch keinerlei Aussicht, so sehr sie auch darauf dringen und dem Kaiser sowie den geistlichen Autoritäten des Landes die vermeintlichen Fehler und Irrtümer in orthodoxer Lehre und Praxis vorhalten mochten – gelegentlich durchaus in einer, für den heutigen Geschmack, recht brüsken Art und Weise. Doch noch genossen Portugiesen aller Couleur aufgrund der in lebendiger Erinnerung gebliebenen Verdienste ihrer Nation um die Rettung des christlichen Äthiopiens großen Kredit im Land, und so behandelte der Kaiser auch die Jesuiten, ungeachtet ihrer geistlichen Zudringlichkeiten, im Kern freundlich, wies ihnen zudem Land zu und ließ sie ihre Landsleute ungehindert betreuen. Im theologischen Disput jedoch ließ er sie regelrecht abblitzen. Dies allerdings nicht einfach mit Machtmitteln und ohne etwa auf ihre Einwände gegen die Orthodoxie überhaupt einzugehen. Vielmehr fanden am Königshof offenbar ausführliche Disputationen zwischen den angereisten Jesuiten und den äthiopischen Kirchengelehrten statt; darauf gibt uns die große Galaudeos-Chronik in ihrem Kapitel 55 deutliche Hinweise.18 Aus ihnen ging schließlich die sogenannte Confessio Claudii hervor, ein Glaubensbekenntnis, niedergeschrieben im Namen des Galaudeos in der ersten Person, doch wohl schwerlich von ihm persönlich verfasst.19 Die Confessio Claudii legt zunächst positiv das Bekenntnis der äthiopischen Orthodoxie dar, um anschließend auf einige spezielle Kritikpunkte an der orthodoxen kirchlichen Praxis einzugehen, die die Jesuiten offenkundig geltend gemacht hatten – Kritikpunkte, die der Kaiser nun zurückweist bzw. zurückweisen lässt. Im Einzelnen geht es dabei um den Sabbat, den die äthiopische Orthodoxie seinerzeit neben dem Sonntag als wöchentlichen Feiertag beachtete; um die Knabenbeschneidung, die in Äthiopien allgemein praktiziert wurde (und wird), sowie schließlich um die Meidung von Schweinefleisch, wie sie, gleich den Juden und den Moslems, auch die orthodoxen Äthiopier pflegen, und zwar ebenfalls bis heute. Im Grundsatz lässt Galaudeos zu all diesen Punkten erwidern, dass diese durchgängig alttestamentlich vorgeprägten und inspirierten Gebräuche für die christlichen Äthiopier keineswegs verbindliche Bestandteile ihres orthodoxen Lebens und Glaubens seien – was ja auf eine Negation des Paulus hinausgelaufen wäre –, sondern einfach der Landestradition entsprächen. Wer seinen Sohn nicht beschneiden lassen wolle oder wem der Sinn nach Schweinefleisch stehe (welches allerdings, nicht zuletzt wegen der kirchlichen Praxis, in Äthiopien ohnehin allenfalls von Wild- und nicht von Hausschweinen zur Verfügung stand), der sei durchaus frei, entsprechend zu handeln, ohne dass die Kirche ihn dafür aus-

18 Siehe Conzelman, 63f. (äth. Text) und 158f. (frz. Übs.). 19 Zugänglich z.B. bei Edward Ullendorff, The Confessio Claudii of King Claudius of Ethiopia, in: JSSt 32 (1987), 159–176.

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schließe oder ausdrücklich verurteile; nur wolle und tue dergleichen aufgrund der Landessitten eben niemand. Für Galaudeos und seine äthiopischen Zeitgenossen hatte es damit sein Bewenden, war die Sache zu einem Abschluss gebracht, zumal die Jesuiten ja nicht in der Lage waren, ihre Beanstandungen über die Grenzen hinaus zu forcieren, die ihnen das kaiserliche Wohlwollen setzte. Dass die Frage der katholischen Mission im 17. Jh., zweieinhalb Generationen nach Galaudeos, abermals virulent wurde und dann eine ganz andere Dynamik gewann, hatte ich bereits angedeutet. Hätte man dies Galaudeos oder auch ganz allgemein seinen äthiopischen Zeitgenossen vorausgesagt, so hätte er und so hätten sie darauf gewiss mit ungläubigem Staunen reagiert. Doch die intensivierte orthodox-katholische Interaktion im 17. Jh. ist ein Thema für sich, das hier nicht mehr behandelt werden kann. Hier ging es allein um Einblicke in die äthiopische Religionsgeschichte aus den ersten zwei Dritteln des 16. Jh.s. Sie verlief allemal dramatisch genug.

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Bei europäischen Sklaven in Algier Carl Nottbecks Mission in Algier von 1746–1748 Tobias Kröger 1. Einleitung Verlassen, so muss sich der Herrnhuter Missionar Carl Nottbeck vorgekommen sein, als er im Jahr 1745 in Algier ankam. Er war der zweite Missionar, der zu den Sklaven in den Norden Afrikas geschickt wurde. Alleine in einer fremden Welt, mit nicht viel mehr als dem eigenen Glauben ausgestattet, versuchte er den von Piraten gefangenen europäischen Sklaven das Evangelium zu bringen. Es scheint, als wäre sein Unterfangen gescheitert, denn die Missionsforschung des letzten Jahrhunderts und auch die auf die Herrnhuter spezialisierten Werke haben ihn weitgehend vergessen. In der jüngsten Gesamtdarstellung zur Geschichte der Herrnhuter Mission, H. Becks „Brüder in vielen Völkern“ (1981),1 wird Algier mit einem Satz abgespeist,2 Carl Nottbecks Name fällt nicht einmal. Es wird nur bemerkt, dass sein Vorgänger versuchte, „christliche Sklaven zu finden und ihnen zu dienen“. 3 Die Missionsgeschichte von K. Müller, die zweite bedeutende Missionsgeschichte von 1931,4 erwähnt weder Nottbeck noch Algier. Es wirkt so, als hätte das Projekt nie stattgefunden, obwohl es zahlreiche Aufzeichnungen gibt. Lediglich ein an sich unbedeutender und abgelegener Kurzbeitrag von K. J. Paulsen versuchte 1979 an Carl Nottbeck5 vergeblich zu erinnern. Auch Nottbecks Eintrag in der ADB6 fand keine Neuaufnahme in der NDB7. Dieser Beitrag unternimmt den Versuch, dieses verlorene Kapitel der Missionsgeschichte aufzuschlagen und wissenschaftlich fruchtbar zu machen. Die Person Carl Nottbeck, die Stadt Algier, die Situation der Sklaven und die Entwicklung der Mission in der Barbareskenstadt sollen an Beispielen wieder ins Bewusstsein gerückt werden. Im Folgenden sind folgende Fragen zu klären: Wer war Carl Nottbeck? Unter welchen Rahmenbedingungen ist die Mission in Algier verlaufen und wie? Welche Faktoren haben dazu geführt, dass die Mission eingestellt wurde? Der erste Abschnitt des Beitrags dient der Einordnung in das historische Umfeld der Mission Nottbecks. Algier, seine Beziehungen zu Europa und die Situation der dort lebenden 1 Helmut Beck, Brüder in vielen Völkern. 250 Jahre Mission der Brüdergemeine, Erlangen 1981. 2 Vgl. a.a.O., 55. 3 Ebd. 4 Karl Müller, 200 Jahre Brüdermission, Herrnhut 1931. 5 Vgl. Karl Johann Paulsen, Carl Nottbeck – ein vergessener Herrnhuter Bruder, in: Jahrbuch des baltischen Deutschtums 16 (1979), 19–23. 6 Hermann Arthur Lier, Art.: Nottbeck, in: Allgemeine Deutsche Biographie (ADB) 24, Leipzig 1887, 41. 7 Vgl. hierzu Neue Deutsche Biographie (NDB) 19, Berlin 1999.

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Sklaven werden anhand von Augenzeugenberichten, zeitgenössischen Staatsbeschreibungen und aktueller historischer Forschungsliteratur rekonstruiert. Die verwendeten zeitgenössischen Texte werden dabei in einer knappen Diskussion einer Quellenkritik unterzogen. Der zweite Abschnitt „Mission und Auftrag“ setzt sich mit den äußeren Rahmenbedingungen der Herrnhuter Mission, Nottbecks Vorgänger Richter und dem besonderen, zinzendorfschen Begriff „Plan“ auseinander. Der dritte Teil des Beitrags beschäftigt sich mit den individuellen Voraussetzungen Nottbecks. Er beinhaltet einen Lebenslauf, einen Exkurs zu seiner ersten Betätigung für die Brüdergemeine in Lissabon und zu seiner inneren religiösen Einstellung. Auf der Grundlage dieser notwendigen Grundlagen können im vierten Abschnitt „Nottbecks Tätigkeit und Leistung“ in Algier behandelt werden. Es werden ein kurzer Verlaufsplan der Mission, beispielhafte Episoden, besondere Personen und Nottbecks theologische Praxis dargestellt und analysiert. Den thematischen Abschluss bildet die Auseinandersetzung mit den Faktoren für und wider die Fortführung der Missionsarbeit Nottbecks in Algier. Im Gegensatz zu der Person Nottbecks und ihrem Projekt ist die Bedeutung Algiers im 18. Jh. gut erforscht. Es liegen zahlreiche französische und englische Publikationen vor. Aufgrund einer Sprachbarriere zum Französischen, einer Fokussierung auf eine deutsche Perspektive auf Algier und das mit ihm eng verbundene Korsarentum werden vorwiegend deutsche Quelltexte und deutsch- wie auch englischsprachige Sekundärliteratur zu Rate gezogen. Im jüngst erschienenen Band „Zwischen Sklavenkassen und Türkenpässen“ (2012) fasst Magnus Ressel die heutige Forschungslage zum Thema der Sklaverei in Algier gut zusammen und nennt unter den bisherigen Forschern zu diesem Thema vor allem die Namen Bono und Panzac, deren einschlägige Werke in diesem Beitrag Verwendung gefunden haben.8 Des Weiteren wurden historische Arbeiten zum zeitlichen Kontext herangezogen. Als besonders ergiebig erwies sich in diesem Zusammenhang Abun-Nasrs „A History oft the Maghreb“ (1971).9

2. Algier und die Sklaverei 2.1 Die Geschichte der Stadt Algier Algier, die Hauptstadt des gleichnamigen Reiches, galt für die christlichen Seefahrer des Mittelmeeres bis ins 18. Jh. als eine der größten Gefahrenquelle für ihre Freiheit. Aus christlicheuropäischer Perspektive war Algier der Heimathafen der muslimischen Korsaren,10 die die mediterranen Gewässer unsicher machten. So lange die eigene Heimatnation keinen besonderen Vertrag mit Algier geschlossen hatte, drohte für Christen stets die Gefahr, von algerischen Piraten gekapert und in die Sklaverei verschleppt zu werden.11 Der Ruf der Stadt litt auch da-

8 Magnus Ressel, Zwischen Sklavenkassen und Türkenpässen. Nordeuropa und die Barbaresken in der Frühen Neuzeit, Berlin 2012, 29–30. 9 Jamil M. Abun-Nasr, A History of Maghreb, Cambridge 1971. 10 „Corsairing, was ‘official’ piracy, in the employ of a government, or at least to its politics, directed to political and religious ends.”A.a.O., 271. 11 Nehemia Levtzion, North-West Africa: from the Maghrib to the fringes of the forest, in: The Cambridge History of Africa 4, hg. v. Richard Gray, Cambridge 1975, 145f.

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runter, dass die bis zur Unterwerfung durch die Franzosen 1830 amtierende Regierung und Staatsform von einem berüchtigten Seeräuber eingeführt worden war.12 Zum Ende des 11. Jh.s geriet Algier unter die Herrschaft des Königs Tremesin von Fez und blieb etwa zwei Jahrhunderte unter der Kontrolle dieses Königshauses. Als der tremesinische König von Josephus Almansor unterworfen wurde, sah die Stadt Algier den Moment gekommen, sich von seinem westlichen Unterdrücker zu lösen und sich unter den Schutz des Königs von Bugia zu stellen, der die Stadt mit mehr Privilegien ausstattete.13 Caspar Gottschling, ein Philosophiestudent und Adjunkt an der Universität Halle,14 vermutet, dass die Zugeständnisse seitens Bugias so groß waren, dass Algier sich allmählich zu einer Republik entwickeln konnte. Unter den neuen politischen Umständen unternahmen die algerischen Korsaren die ersten Überfallfahrten auf die spanischen Inseln.15 Im Zeitraum von 1509 bis 1515 starteten die Spanier eine Großoffensive gegen Nordafrika und nahmen mehrere nordafrikanische Städte ein, darunter auch Bugia und Algier.16 Um sich von den Besatzern zu befreien, wandte sich die Stadt an die Korsaren-Brüder Hariaden (Khair ad-Din) „Barbarossa“ und Oruç Lesbos.17 Der ältere Bruder Oruç starb zwar beim Kampf um Bugia, aber sein jüngerer Bruder Hariaden eroberte 1518 Algier und wurde dafür von den Einwohnern der Stadt zum Dey18 ernannt. Auf diese Weise hatte man die Spanier aus Algier vertrieben, aber noch nicht aus Afrika, und so bedrohten die Kastilianer Algier von der westlich gelegenen Stadt Oran aus. Ebenso hatte er nur die Stadt, jedoch nicht das Land und seine Einwohner gewonnen. Denn auch von Seiten der Stämme im Süden drohten kriegerische Konflikte, da sie autonom bleiben und die fremde Autorität der Stadt nicht anerkennen wollten. Der neue Dey, in einem Zwei-Fronten-Konflikt, sah sich nach einem starken Verbündeten um. Daher unterstellte er Algier als Vasallen dem Osmanischen Reich und konnte dadurch militärische Unterstützung und Protektion aus dem Osten erwarten. Auf diese Weise sicherte er den Fortbestand seines Reiches, das nun mehrere Städte des Maghrebs wie Algier und Bugia umspannte und im Laufe der Zeit noch wachsen sollte.19 Gleichzeitig behielt der Dey große Freiheiten und konnte nahezu uneingeschränkt herrschen. In den kommenden zehn Jahren bekämpfte „Barbarossa“ die Spanier im Westen und die Stämme im Süden und festigte seine Position, bis er 12 13 14 15 16

Vgl. a.a.O., 146. Caspar Gottschling, Staat von dem Königreiche Algier in Africa, Halle 1711 (unsicher), 11f. Vgl. CERL Thesaurus: http://thesaurus.cerl.org/record/cnp00931874 (20.8.2013). Gottschling, Staat, 11f. Salvatore Bono, Piraten und Korsaren im Mittelmeer. Seekrieg, Handel und Sklaverei vom 16. bis 19. Jahrhundert, Stuttgart 2009, 32. 17 Folgender Abschnitt basiert bis zum Absatz auf: Elizabeth Isichei, A History of African Societies to 1870, Cambridge 1997, 270–272. 18 „Dey/ Dayi, Turkish word meaning ‘maternal uncle’, which seems to have been used to designate official functions only in the Regencies of Algiers and Tunis. […] In Algiers, after 1671, when the Corsair Captains took over the power of the Ag̲h̲as (see art. algeria (ii) (2), the title of dayı̊ was borne by the head of the Regency. This was not yet the case at the beginning of the seventeenth century, when Pierre Dan was in Algiers. Elected at first by the company (ṭāʾifa) of corsair masters, the dayı̊ was elected by the officers of the army after 1689. Thirty dayı̊ s succeeded each other in power between 1671 and 1830. In theory their power was limited by the control of the dīwān of the militia; in fact if the dayı̊ had a strong personality, he enjoyed an absolute power.“ R. le Tourneau, Art.: Dayı̊ , in: Encyclopaedia of Islam, Second Edition, hg. v. P. Bearman/Th. Bianquis/C. E. Bosworth u.a. (Brill Online 2013), http:// referenceworks.brillonline.com/entries/encyclopaedia-of-islam-2/dayi-SIM_1767 (28.9.2013). 19 Vgl. Gottschling, Staat, 12f.

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schließlich alleiniger Herrscher der Stadt und des „Königreichs“20 war. Im weiteren Lauf seines Lebens erweiterte er seinen Einfluss noch und stieg zum Oberkommandanten der türkischen Flotte auf. Er eroberte auch Tremesin und Bugia und ordnete sie Algier unter. Das von ihm verkörperte Korsarentum wurde so für das Osmanische Reich wie auch die Stadt Algier ein sehr wichtiger Wirtschaftsfaktor und brachte Barbarossas Residenzstadt große Einkünfte ein. Im Jahr 1534 verließ er seine Hauptstadt und kehrte nicht mehr dorthin zurück.21 Die Deys in seiner Nachfolge setzten sich auch weiterhin erfolgreich gegen die Spanier zur Wehr und drängten sie bis nach Oran zurück.22 Algier profitierte von seinem Bündnis und den erfolgreichen Kriegsunternehmungen, und so entwickelte sich Algier unter der offiziellen Herrschaft der Osmanen von einem einfachen Hafen zu einer großen Metropole mit 60.000 Einwohnern.23 Mit dem Vasallentum gegenüber dem Osmanischen Reich kam auch die Einsetzung eines türkischen Abgesandten, dem Pascha oder Bacha,24 der der Regierung Algiers vorstehen sollte. Das auf drei Jahre begrenzte, von der Hohen Pforte in Istanbul aus besetzt Amt konnte keine besondere Bedeutung erlangen. Leroy beschreibt den Pascha als einen machtlosen, aber gut situierten Mann, der zwar das Recht besaß, den Diwan, der im Haus des Paschas tagte, zu besuchen, aber dort kein Stimmrecht hatte.25 Die reelle Macht lag bei dem Dey, der die Soldaten bezahlte, Gerichtsurteile fällte und die tatsächliche Landesregierung ausübte. Wenn ein Dey ausschied, häufig durch einen gewaltsamen Tod oder Flucht, wurden durch den Pascha und die sogenannten Agas26 die Soldaten zur Wahl aufgerufen. Leroy bemerkt ferner, dass die Wahlen oft von Gewalt begleitet waren. Auch der Amtsantritt blieb selten gewaltfrei. Bei Leroy heißt es über den 1718 gewählten „Dey Al‘ Bacha“: „dieser ließ im ersten Monat seiner Regierung mehr als 1700 Menschen teils erwürgen, teils ersäufen oder sonst hinrichten.“27 Diese Menschen waren größtenteils Beamte der Regierung und wurden getötet, um Stellen für die Sympathisanten des neuen Deys zu schaffen. In den Jahren 1746–1748 übten nach den Aufzeichnungen des Herrnhuter Missionars Carl Nottbeck drei unterschiedliche Männer die Funktion des Deys aus.28

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Nach dem zeitgenössischem Sprachgebrauch, z.B. bei Gottschling, Leroy, Kühn etc. Isichei, History, 272. Vgl. Gottschling, Staat, 13. Vgl. Abun-Nasr, Maghreb, 167. Der Pasha Algiers stand zwar offiziell der Regierung aufgrund des Vasallentums Algiers gegenüber dem Osmanischen Reichs vor, konnte aber keine Macht ausüben, da dieses Amt immer mehr durch den Diwan und den Dey beschnitten wurde. Vgl. dazu Louis Leroy, Allgemeine und besondere Staatsverfassung des Königreich Algier, Hannover 1752, 17f. Bacha stammt von dem Begriff Pasha, und je nach Quelle wird der Titel entweder als Bacha oder Pascha verwendet. Leroy führt eine ganze Reihe von Beamten mit dem Titelelement Bacha auf und bezeichnet das von den Osmanen eingesetzte Oberhaupt Algiers einfach mit Bacha. Wahrscheinlich liegt dieser Varianz eine Übertragung aus dem Französischen zugrunde: „In western usage, the word was at first pronounced bas̲ h̲a (the pronunciation pas̲ h̲a does not appear till the 17th century): Ital. bascia, Low Latin bassa, Fr. bacha or bassa, Engl, bashaw, to say nothing of variant spellings.“ Vgl. Art.: Pas̲ h̲a, in: Encyclopaedia of Islam, http://referenceworks.brillonline.com/entries/encyclopaedia-of-islam-2/pasha-COM_0887 (28.9.2013). Leroy, Staatsverfassung, 18f. Agas sind nach dem Dey die höchsten Würdenträger im algerischen Staat; vgl. a.a.O., 25. A.a.O., 22. Nachzuvollziehen in der Übersicht des Missionsverlaufs Nottbecks (Kap. 5.1).

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Die Kandidaten für den Thron des Deys rekrutieren sich aus dem Diwan, einem Rat, der sich aus erfahrenen Kriegern bzw. den Veteranen unter den Janitscharen und dem Taifa, dem Rat der Korsarenkapitäne, zusammensetzt. Die Janitscharen gehörten zum Großteil nicht zu den Ureinwohnern des Maghrebs,29 und unter den Korsaren befand sich ein erheblicher Prozentsatz von konvertierten Europäern.30 Sie bildeten zusammen die fremdstämmige Minderheit, die die gesellschaftliche Oberschicht darstellte und über den eingeborenen Bewohnern, Juden,31 Christen und aus dem Süden herangebrachten Einheimischen, meist „Mohren“ genannt, wie auch allen Sklaven stand.32 Leroy, Nottbeck wie auch die meisten anderen Berichterstatter nennen diese Minderheit „Türken“. Obwohl sie als solche bezeichnet werden, zollen sie dem Osmanischen Reich nur so viel Respekt, als sie das Amt des Paschas zwar erhielten, ihm aber zunehmend jegliche Einmischung in die Regierung bis zur Unmöglichkeit erschwerten. Weitaus detaillierter unterscheidet Abun-Nasr die Einwohner Algiers in Christen, Juden, Türken, Andalusier, Berber und ansässige Araber.33 Wenn in diesem Beitrag von Türken die Rede ist, so ist im Folgenden die obere Bevölkerungsschicht gemeint, die sich vorwiegend aus den Korsaren und Janitscharen zusammensetzte. Es herrschen unterschiedliche Meinungen zur Bedeutung der Seeräuberei für die Wirtschaft Algiers. Vertiefend geht Bono auf diesen Aspekt ein. Einem anonymen Autor von 1745 zufolge stellte die jährliche Beute mit 100.000 Piastern etwa ein Siebtel der Jahreseinkünfte der Stadt Algier dar.34 Jüngere Wissenschaftler wie Valensi zweifeln unter der Voraussetzung, dass sie als eine stabile Größe im Haushalt des Staates fungierten, eine positive Bilanz der Kaperfahrten an.35 Sicher ist hingegen, dass viele der in Algier lebenden Sklaven Teil der sogenannten Prise36 waren. In Algier gab es sowohl versklavte Stammesangehörige aus dem Landesinnern als auch viele christliche Seeleute, die Opfer der Korsaren wurden.37 Das Korsarentum sollte noch bis ins späte 18. Jh. eine bedeutende Gefahr für Seefahrer aller nicht mit Algier verbündeten Staaten werden. Zum Erliegen kam es erst mit der Eroberung durch die Franzosen.38 2.2 „Europa“ und Algier um 1750 Nach Jahren des offenen Krieges, geführt vom Osmanischen Reich und seinen Gegnern Spanien und Österreich sowie deren Verbündeten, kam es um 1600 erstmals zu erfolgreichen diplomatischen Verhandlungen christlich-europäischer Staaten mit den nordafrikanischen Vasallen der Türken. Algier schloss 1598 mit Frankreich und 1604 mit England Frieden bzw. ein Waffenstillstandsabkommen, während Spanien und der Maghreb weiterhin im Kriegszustand 29 Zuerst wurden sie aus Istanbul entsandt, später in Anatolien angeworben; vgl. Isichei, History, 272. 30 „In der großen Zeit des Korsarentums jedoch kamen die meisten Korsarenkapitäne aus Europa, insbesondere aus den Mittelmeerstaaten.“ Bono, Korsaren, 39. 31 Zu den Juden im Maghreb Richard Hull, Jews and Judaism in African history, Princeton 2009; H. Z. (J. W.) Hirschberg, A history of the Jews in North Africa, Leiden 21981. 32 Vgl. Gottschling, Staat, 35–38. 33 Vgl. Abun-Nasr, Maghreb, 167. 34 Bono, Korsaren, 235f. 35 Ebd. 36 Als Prise wird die auf einer Kaperfahrt eingebrachte Beute bezeichnet; Bono, Korsaren, 227f. 37 Vgl. a.a.O., 248f. 38 Vgl. Levtzion, North-West Africa, 146.

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blieben.39 Diese Abkommen beinhalteten jedoch noch keine Schutzbriefe für Schiffe der europäischen Nationen. Die Christen waren den Korsaren auf See in ihrer Flottenstärke häufig unterlegen, und auch gelegentlich durchgeführte Strafexpeditionen nach Algier scheiterten immer wieder.40 Die nordafrikanischen Städte Tripolis, Tunis und Algier konnten über ein Jahrhundert nahezu ungestört ihre Kaperfahrten fortführen. 1658 erneuerte England den Vertrag mit Algier und erwirkte erstmals in den Verhandlungen, dass englische Schiffe mit einem Schutzpass ausgerüstet wurden, der die Mannschaft vor der Gefangennahme während einer algerischen „Schiffsinspektion“ bewahrte. Um diesen Schutz vor Überfällen zu erhalten, wurden regelmäßige Geldzahlungen oder Waffenlieferungen an Algier ausgehandelt. 41 Gegen Ende des 17. Jh.s hatten England, Frankreich und die Niederlande es geschafft, diplomatische Beziehungen zu den Barbareskenstaaten aufzubauen, Schutzpässe für ihre Schiffe zu erhalten und auch Handelsbeziehungen aufzubauen. Um 1750 hatte der Großteil der europäischen Staaten Frieden mit den Staaten des Maghrebs geschlossen. Besonders in den Jahren von 1740 bis 1752 wurden mehrere Verträge neu ausgehandelt.42 Wie diese Verträge zustande kamen, war von der jeweiligen Nation abhängig, kleinere oder auf See wenig einflussreiche Staaten führten friedliche Verhandlungen, stärkere Staaten wie England ließen den Verhandlungen kurze Kriegszüge gegen die nordafrikanischen Staaten vorausgehen. Lediglich Neapel, Venedig und Spanien wie auch der Malteserorden führten auch nach 1752 weiterhin Krieg.43 Neben den Sklaven und Korsaren lebten noch zwei weitere Gruppen von Europäern in Algier und übernahmen spezifische Aufgaben. Nach Gottschling war ein Großteil dieser in Algier lebenden Christen Händler.44 Was von den Korsaren an Kaperprisen in die Stadt gebracht wurde, ist dort häufig nicht an Algerier verkauft, sondern wieder nach Europa gebracht worden. „Die europäischen Kaufleute, die als Abnehmer der erbeuteten Waren auftraten, wickelten ihre Geschäfte zum größten Teil über Repräsentanten und Mittelsmänner ab, die sich in den Barbareskenregentenschaften niedergelassen hatten.“45 Daraus resultierte, dass europäische Händler Waren nach Europa verkauften, die zuvor Korsaren aus Algier anderen europäischen Händlern gestohlen und die Mannschaften wahrscheinlich in die Sklaverei verkauft hatten. Wie der Wiederverkauf ablief, berichtete 1625 der venezianische Gesandte Giovanni Battista Salvago an den Dogen: „In Algier und Tunis aber sind Handelsherren aus Livorno, Korsen, Genuesen, Franzosen, Holländer, Engländer, Juden und Venezianer und noch aus anderen Ländern ansässig. Diese kaufen sämtliche erbeutete Waren und schiffen sie zum Freihafen von Livorno ein, der seinen Namen wahrhaft alle Ehre macht, denn von dort gelangen sie ungehindert nach Italien. Ebenso wird einiges nach Genua, ins savoyische Villafrance und Nizza verschickt und von Nizza aus nach Marseille. Doch geht diese Fracht stets über Livorno, woselbst man beim Anlanden keinen Zoll verlangt und Händler ihre 39 40 41 42 43 44 45

Daniel Panzac, Barbary Corsairs. The End of a Legend 1800–1820, Boston 2005, 25f. Vgl. Bono, Korsaren, 53f. Ebd. Panzac, Corsairs, 38. Vgl. a.a.O., 38–40. Gottschling, Staat, 35. Bono, Korsaren, 239.

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Ware ein ganzes Jahr auf Stapel legen können, ohne die geringste Abgabe leisten zu müssen.“46 Trotz der umfangreichen Abkommen verschleppten die Korsaren immer noch Mannschaften von gekaperten Schiffen – englischen und hamburgischen – als Sklaven nach Algier. Die Verträge sicherten also keinen vollständigen Schutz für Seefahrer, ermöglichten es jedoch Europäern, in Algier zu leben und dort die neu angekommenen Sklaven zu sehen und den Rückkaufprozess zu beschleunigen. Die zweite, recht kleine Gruppe setzte sich aus den Konsuln einiger europäischer Staaten in Algier zusammen. Die in den Verhandlungen genutzten Konsulate waren teilweise schon lange vor den jeweiligen Friedensabkommen eingerichtet worden. Die Franzosen eröffneten 1564 ihr Konsulat in Algier.47 Um 1740/50 sind Paul Paravicini für die Niederlande,48 Georg Logie (1694–1776)49 für Schweden, Ambrose Staniford50 für England, Thomas für Frankreich 51 und Friedrich von Hanncken für Dänemark52 in Algier tätig. Diese Männer lebten meist mit ihren Familien in Algier und verfügten über einen „Garten“ und einen eigenen kleinen Hausstand.53 Sie waren soweit geachtet, dass sie bei den Aufsehern und Agas einigen Einfluss hatten und auch beim Dey vorsprechen konnten, um weitere Verhandlungen zu führen. Die Situation eines solchen Abgesandten konnte sich jedoch schnell zum Schlechteren verändern. Wenn der Divan oder der Dey beschlossen, gegen den Staat eines spezifischen Konsuls Krieg zu führen, verlor dieser seinen Einfluss und musste mit vielen Hindernissen bei seinen alltäglichen Tätigkeiten rechnen.54 Nach Johann M. Kühn55 gestaltete sich die Lage der Konsuln sogar noch schwieriger. In seinem Buch weiß er von zwei Begebenheiten zu berichten, in denen Konsuln vom Diwan zu schweren Strafen wegen geringerer Vergehen verur46 Ebd. 47 Vgl. Abun-Nasr, Maghreb, 167. 48 Gottlieb Schumann, Jährliches genealogisches Hand-Buch, in welchem die neuesten Nachrichten von allen Häusern jetztregierender Europäischer Kayser und Könige und aller geist- und weltlicher Churund Fürsten, wie auch Grafen des Röm. Reichs, ingleichen aller Cardinäle, Mitglieder königlicher Orden, auch Dom- und Capitular-Herren aller Erzt- und Hoch-Stiffter in Teutschland, Leipzig 1729–1749, 304. 49 Johann Samuel Heinsius, Vlg., Fortgesetzt Neue Genealogisch-Historische Nachrichten von den vornehmsten Begebenheiten, welche sich in den Europäischen Höfen zugetragen, worinnen zugleich vieler Stands-Personen Lebens-Beschreibungen vorkommen Bd. 162, Leipzig 1776, 842f. 50 Nottbecks Brief an Zinzendorf am 2./4.6.1745 zu entnehmen. 51 Schumann, Hand-Buch, 295. 52 A.a.O., 297. 53 „Er hat eine große Familie hier, alle Schotten, und besitzt viel Land hier erb u[nd] eigen, die sonst wieder die Sachten des Landes sind, der Dey aber hats ihm alleine erlaubet, weil er ihn lieb haben soll.“ Brief an Zinzendorf vom 2./4.6.1745. 54 Vgl. Leroy, Staatsverfassung, 87. 55 Johann Michael Kühn, Johann Michael Kuehns Merckwuerdige Lebens- und Reise-Beschreibung : worinnen nicht nur dessen Schiffahrten nach Groenland und Spitzbergen, Strat Davis, denen Canarischen Insuln und Lissabon erzehlet, sondern auch seine darauf erfolgte Algierische Gefangenschafft und Vierzehenjaerige Sclaverey, in derselben mitgethane Caper-Fahrten, und darbey ausgestandene Gefaehrlichkeiten, nebst besondern Erzehlungen vom Wallfisch-Fange, Sclaven-Stande in Algier, wie auch Sitten und Gebraeuchen derer Inwohner daselbst, Letztlich noch Dessen endliche Rantzionierung, Reise durch Franckreich nach Hamburg, und Ankunfft in seinem Vaterlande, aufrichtig beschrieben werden, Gotha 1741.

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teilt wurden. In einer von beiden Geschichten wurde der Diplomat sogar zuerst zum Tode verurteilt und erst im letzten Moment dann doch nur mit einem Stock geschlagen, und das, obwohl beide beteiligten Nationen eine friedliche Beziehung zueinander hatten.56 Wenn auch nicht nachvollziehbar ist, wie hoch der Wahrheitsgehalt dieser Aussagen ist, zeigt es doch recht deutlich, wie schwierig die Situation von Europäern in Algier in Europa empfunden wurde. 2.3 Zu den Quellen Gottschling, Leroy und Kühn Um einen Einblick in das während des 18. Jh.s im deutschsprachigen Raum kursierende Bild von Algier zu gewinnen, kann man die Staatsbeschreibungen Algiers heranziehen, die Anfang und Mitte des Jahrhunderts entstanden. 1712 veröffentlichte Caspar Gottschling seinen Bericht. Gottschling hatte vor seiner Beschreibung Algiers im ähnlichen Umfang bereits Ägypten und nach 1712 Tunis beschrieben. Über das Leben des Autors ist nicht mehr bekannt, als dass er ein Philosophiestudium absolviert, 1709 einen Adjunktenposten an der Universität Halle, der Wirkungsstätte des bedeutenden Pietisten und Missionstheologen August Hermann Franke, und 1710 eine Rektorenstelle am Lyzeum in Neubrandenburg angenommen hatte.57 Des Weiteren war er in Anstellungen als Bibliothekar und Pädagoge. Es ist auffällig, dass seine ersten drei veröffentlichten Bücher den Titel „Einleitung zur Wissenschaft guter und [meistenteils] neuer Bücher“ tragen.58 Der Autor schöpft nach eigenen Angaben weitgehend aus sekundären Quellen; der Wert seiner Arbeit besteht hauptsächlich in der Kompilation, Sammlung und Wiedergabe bereits bekannten Wissens und somit zum Teil auch zeitgenössischer Erwartungshaltungen. Gottschling schreibt farbenprächtig und betont mehrfach die Unzivilisiertheit der Korsaren und „Türken“. Auch lässt sich in seiner Beschreibung ein mindestens latenter Antijudaismus feststellen.59 Er berichtet sehr detailliert und geht systematisch gegliedert vor. Das Kapitel „Von der Grausamkeit dieser Nation gegen die Christen und absonderlich gegen die Sclaven“ enthält einige Berichte von ehemaligen Sklaven. Gottschling verschweigt seine Quellen und vermischt bei seinen Nacherzählungen häufig unterschiedliche Erzählperspektiven. Es ist davon auszugehen, dass er selbst nie in Algier war und sich bei den Beschreibungen auf die „Augenzeugenberichte“ verlassen musste. Von größerer historischer Verlässlichkeit als Gottschlings Werk dürfte Louis Leroys Buch „Allgemeine und besondere Staatsverfassung des Königreichs und der Stadt Algier“ (1752) sein.60 Es ist dem Admiral-Leutnant Cornelis Schryver gewidmet, auf dessen Zureden Leroy das Buch unter seinem eigenen Namen veröffentlicht hat.61 Als stellvertretendes Oberhaupt der niederländischen Flotte dürfte bei Schryver großes Interesse an der Geschichte und gesellschaftlichen Entwicklung der Stadt Algier geherrscht ha56 57 58 59 60 61

A.a.O., 211. Francksche Stiftung, Personenregister, http://192.124.243.55/cgi-bin/gkdb.pl (20.8.2013). CERL Thesaurus, http://thesaurus.cerl.org/record/cnp00931874 (20.8.2013). Vgl. Gottschling, Staat, 35f. Originalausgabe: L. Leroy, Etat géneral et particulier du royaume et de la ville d’Alger, La Haye 1750. „[…] daß ohne den hohen Beyfall des Herrn Admirallieutenant Schryver, und die Aufmunterung einiger Freunde […] ich mich noch nicht wuerde entschlossen haben, meine eigene Flagge auf diesem Meere wehen zu lassen.“ Vgl. Leroy, Staatsverfassung, Vorwort, 2f; mit dem Meer ist die Welt der Autoren und der Buchmarkt gemeint; unter eigener Flagge wird als Metapher für Name verwendet.

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ben, zumal er maßgeblich an den Friedensverhandlungen beteiligt war und zu diesem Zweck Algier selbst besucht hatte. Besonders interessant wird das Buch dadurch, dass Schryver zwischen 1739 und 1748 in Kontakt mit den Herrnhutern Richter und Nottbeck sowie Zinzendorf stand und die Missionare mit Empfehlungsschreiben nach Algier ausgestattet hatte. In seinem Vorwort betont der Autor, keinen lückenlosen Bericht verfasst zu haben.62 Er bemühe sich, dem Vokabular und Sinn seiner vorliegenden Quellen möglichst gerecht werden zu können. Das Ziel seines Werkes sei: „[…] wenn dieses Buch denjenigen Mächten, die mit Algier etwas zu thun haben, nützliche Dienste leisten kann; wenn es ihnen einige Anleitung geben kann, inskünftige sicherer, geschwinder und vorteilhafter in Sachen die die Schiffahrt betreffen, mit diesen Republikanern zu handeln; und wenn es endlich auch dazu etwas beyträgt, das lächerliche und unbillige Vorurtheil zu zerstören, welches die Unwissenheit, und der Aberglaube aufgebracht, und ein ausschweifender Eifer in allen christlichen Staaten bisher gegen alles was nur einen türkischen Namen führet, unterhalten hat, als wenn die Türken keine Menschen wären wie wir sind.“63 Betrachtet man das Erscheinungsjahr, so stellt man fest, dass das Buch genau in jener Phase erschien und geschrieben wurde, in der zwischen den Staaten des Maghrebs und Europas viel diplomatischer Austausch stattfand und man sich um die Wahrung oder Einrichtung des Friedens bemühte. Der enge Kontakt des Autors zu Schryver, der die Verhältnisse bestens kannte, könnte dazu geführt haben, dass Leroy von dem Vizeadmiral beauftragt oder angeregt wurde, ein Buch über Algier zu schreiben, um den europäischen Verhandlungspartnern und der Öffentlichkeit einen positiveren Zugang zu dem Thema zu ermöglichen und herrschende Vorurteile und Meinungsbilder zu bekämpfenden, wie sie von Gottschling und seinesgleichen genährt worden waren. Im Ganzen spricht Leroy positiver von Algier und seinen Bewohnern als Gottschling und liefert auch detailliertere Beschreibungen. Quellen gibt Leroy teilweise in seinen Fußnoten an und diskutiert bisherige Veröffentlichungen zu Algier. Neben diesen beiden Beschreibungen gibt es auch noch einen deutschsprachigen Bericht eines Mannes, der in Algier 15 Jahre in Gefangenschaft gelebt haben will.64 Der Text wurde als Buch unter der Autorenschaft von Johann Michael Kühn veröffentlicht. Der Ich-Erzähler berichtet von seinen Reisen nach Grönland und seiner Gefangenschaft in Algier. Der Text ist mit vielen Anekdoten angereichert und eindeutig als unterhaltsame Lektüre gedacht. Kühn war laut Aussage des Buches ein Metzger,65 und es ist fraglich, ob er das etwa 400 Seiten umfassende Werk selbstständig verfasst hat. Auch die Sprache mit in auffälligen Lettern immer wieder eingeworfenen französischen und englischen Fremdwörtern entspricht nicht den Erwartungen, die man seiner Bildungsschicht entgegenbringen würde. Da die Aussagen zur Autorenschaft anzuzweifeln sind, stellt sich ebenfalls die Frage, ob Kühn tatsächlich in Grönland und Algier war. Er soll auch nach seiner Rückkehr in die Heimatstadt Gotha nicht dort geblieben, sondern nach kurzer Zeit nach Surinam aufgebrochen sein.66 Auffällig ist, dass Grön62 A.a.O., 4. 63 Ebd. 64 Kühn, Lebensbeschreibung, 403. 65 A.a.O., 260. 66 A.a.O., 408.

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land, Algier und auch Surinam Missionsorte der Herrnhuter Brüdergemeine waren. Ob hier ein Zusammenhang besteht, konnte allerdings nicht ermittelt werden. Da er aber nicht, wie sich später zeigen wird, von den anderen Quellen oder der Sekundärliteratur abweicht und nur Ergänzungen liefert, kann das Buch als ein tatsächlicher Augenzeugenbericht, eine Sammlung von Augenzeugenberichten oder Spiegel der deutschensprachigen Wahrnehmung der Gefangenschaften genutzt werden. Kühn wird in diesem Beitrag besonders in Hinblick auf die Sklaven selbst und im Bewusstsein ihrer schwierigen Situation verwendet. 2.4 Sklaven in Algier Um sich ein Bild von der Gesamtsituation der Sklaven in Algier zu machen, muss man sich vor Augen halten, dass es innerhalb der beträchtlichen Masse an Sklaven unterscheidbare Gruppen gab. Man kann laut Panzac eine Einteilung von Sklaven nach ihrem Wohlstand und der zu erwartenden Lösegeldsumme vornehmen und dabei gewisse Regelmäßigkeiten und Muster in ihren individuellen Lebenslagen feststellen.67 1. Die Reichen wurden relativ schnell wieder befreit. Die Freikaufsummen waren häufig sehr hoch und wurden von Privatpersonen, Familienmitgliedern oder Institutionen gezahlt. Diese Sklaven waren nach Panzac die wichtigste Einnahmequelle der Beutezüge. Gelegentlich wird berichtet, dass einflussreiche oder reiche Personen sich arm und unbedeutend zu geben versuchten, um so die Lösegelder möglichst klein zu halten. Gottschling beschreibt einen besonderen Umgang mit gebildeten und besser situierten Gefangenen. Nach seinem Bericht hätten die „Türken“, sobald sie einem Gefangenen eine bessere Herkunft ansahen, diesen zunehmend schlecht behandelt, so dass dieser seinen Verwandten davon berichtete und der Druck zum Freikauf erhöht wurde. Dieser Sonderbehandlung zu entgehen, war zusätzlich Motivation, eine bessere Herkunft zu verbergen.68 2. Arme und einfache Leute wie Seeleute, Fischer oder Bauern verbrachten hingegen oft lange Zeit als Sklaven in Algier. Sie wurde weniger komfortabel als jene behandelt, für die höhere Lösesummen zu erwarten waren. Pro Person lag der Freikaufspreis etwa bei 600 bis 1.000 Franken im Vergleich zu einem Preis von 600 bis 1.700 auf dem Sklavenmarkt.69 So sie freigekauft wurden, geschah dies häufig durch kirchliche oder staatliche Institutionen wie die Sklavenkassen. 3. Die dritte Gruppe bestand aus jenen, die bar jeglicher Freilösesumme aus der Sklaverei herauskamen. Dies geschah beispielsweise bei einem Austausch von Galeerensklaven von europäischen Schiffen gegen gefangene Europäer. Gegen Ende des 18. Jh.s kamen mehr als tausend Sklaven im Rahmen von diplomatischen Verhandlungen frei. Dies ist jedoch eine Entwicklung, die zur Mitte des Jahrhunderts noch nicht eingesetzt hatte. In diesem Überblick fehlt freilich die Gruppe jener, die nicht freigekauft wurden und in Algier starben oder zu den wenigen gehörten, denen tatsächlich eine Flucht gelang. Im 18. Jh. gingen die Zahlen der Sklaven im Verhältnis zum 17. Jh. stark zurück. Auch wenn die Angaben schwanken und je nach Quelle im 17. Jh. zwischen 20.000 bis 25.000 und 40.000 bis 67 Vgl. Panzac, Corsairs, 120. 68 Gottschling, Staat, 106f. 69 Diese Zahlen beziehen sich auf das Ende des 18. Jh.s. Sie dürften aber das Verhältnis dennoch relativ zuverlässig widerspiegeln.

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45.000 Sklaven in Algier lebten, waren es 1750 noch etwa 7.000. Carl Nottbeck gibt an, es wären 3–4.000.70 Auch im weiteren Fortgang der Geschichte nahmen die Zahlen immer mehr ab.71 Ein entscheidender Faktor werden die Schutzabkommen und Pässe gewesen sein, die an die mit Algier verbündeten Nationen ausgehändigt wurden. Ebenfalls strukturierten sich die Institutionen, die für den Freikauf von Sklaven eintreten, immer mehr und konnten effektiver arbeiten. In Algier wurden die meisten Sklaven in fünf großen Gebäuden untergebracht, die Bain genannt wurden. Bain leitet sich vom französischen le bain (das Bad) bzw. baigner (baden) ab. Nottbeck verwendet meist die Form „baigne“ als Name für die Quartiere – im Weiteren wird dieser auch hier beibehalten. In diesen Gebäuden, die bewacht wurden und einem Aufseher unterstellt waren, bekam jeder Sklave eine Decke und eine Unterlage zum Schlafen.72 Tagsüber arbeiteten die Sklaven für ihren Herrn und kehrten abends zurück in ihre Unterkunft. Es war ihnen auch gestattet, einem eigenen Handwerk oder Beruf nachzugehen, wenn sie ihrem Dienstherrn einen bestimmten Anteil abtraten. Den Rest des Ertrags konnten sie behalten und für mehr Nahrung ausgeben, sparen, um sich damit freizukaufen oder in den Schenken auszugeben, die in den Baignes untergebracht waren.73 Den Türken war es nicht gestattet selbst Wirtstuben zu unterhalten, daher kamen nur die Christen und Juden in Frage ein solches Gewerbe zu betreiben. Neben den Schenken verfügte jede Baigne auch über eine katholische Kapelle, deren Name auch der Bezeichnung des ganzen Quartiers diente. Die in Algier am meisten und offiziell praktizierte Religion war zwar der Islam, aber es war jedem Einwohner, auch den Sklaven, freigestellt, ihre eigene Religion und Konfession zu praktizieren.74 Jedem Gefangenen wurde zwar angeboten – teilweise mit dem Versprechen der Freilassung und des sozialen Aufstiegs – zum Islam zu konvertieren, doch wurde in den meisten Fällen kein Druck ausgeübt, sondern nur materielle Vorteile in Aussicht gestellt.75 Diese relativ liberale Haltung hatte neben einer gewissen Toleranz möglicherweise mit den Geldern zu tun, die für den Sklavenfreikauf von christlichen Institutionen und Privatpersonen bezahlt wurden und die ausfielen, wenn der Sklave kein Christ mehr war. So schlecht, wie man vielleicht annehmen könnte, war die Situation für das religiöse Leben in Algier also nicht. Die Baignes waren mit Kapellen ausgestattet, und spanische Franziskaner unterhielten ein Spital, in dem die Sklaven behandelt wurden und Kontakt mit den Padres haben konnten.76 Leroy zählt zusätzlich zwei Kirchen in Algier auf: „[…] nämlich erstlich [gibt es Gottesdienst und Sakramente] der französischen Mißionarien, unter welchen einer ist, den der Pabst zum apostolischen Vicarius bei der [alg.] Christenheit ernennet. […] Zum andern in des französischen Consuls Hause, wo er vordem einen Capellan hielte, welches doch seit vielen Jahren nicht mehr geschehen ist. Zum dritten in dem spanischen Hospital.“77 70 71 72 73 74 75 76 77

Brief an von Watteville vom 23.7.1745 Bono, Korsaren, 251. Leroy, Staatsverfassung, 78. Ebd. Leroy, Staatsverfassung, 89. Vgl. Bono, Korsaren, 262–263. Leroy, Staatsverfassung, 90f. A.a.O., 89f.

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Diese „öffentlich zugänglichen“ Angebote waren jedoch in den meisten Fällen katholischer Konfession, und es gab für einen Protestanten wenige Möglichkeiten, seine religiösen Bedürfnisse zu stillen. Daher hatten auch einige der anderen europäischen Konsuln Hausprediger, z.B. der dänische und der englische Konsul. Das später folgende Beispiel vom englischen Prediger Bolton und dem Sklaven Clarck zeigt, dass es auch als protestantischer Sklave möglich war, mit einem Pfarrer in Kontakt zu kommen und Teil einer Gemeinde zu werden. Diese Prediger waren gemäß der Nationalität in einigen Fällen protestantisch und hielten von Zeit zu Zeit Gottesdienste, deren Besuch den Sklaven aber nur bedingt ermöglicht wurde. Zum Beispiel weigerte sich der Prediger Paravicinis am Freitag, der für die Sklaven frei war, zu predigen.78 Nach muslimischer Tradition wurde den Sklaven freitags und nicht sonntags frei gegeben, und Ausnahmen von dieser Regel wurden selten gemacht. Personen, die zum Beispiel in den Gärten der christlichen Gesandten arbeiteten, hatten jedoch einen leichteren Zugang zu diesen Veranstaltungen. Es waren somit in Algier spanische und französische Katholiken wie auch dänische und englische Kirchenmänner aktiv. In der Beschreibung Kühns wird für die Europäer des 18. Jh.s ein detailliertes Bild der Baigne gezeichnet. Er berichtet von einem großen Komplex, der zu seiner Zeit 3.000 Sklaven beherbergt haben soll. Neben den Schenken gab es dort wohl auch Garküchen und Bratereien. Die große Baigne bestand aus einem einzigen, großen Gebäude, das nur über ein kleines, bewachtes Tor verfügte. Licht drang durch Gitter im Dach ein. Die vier anderen Baignes bestanden aus Hütten, die aus losen Brettern zusammengezimmert und von außen an ein zentrales Gebäude angebaut wurden. Diese Hütten oder Kammern waren von jeweils 40 bis 50 Sklaven bewohnt und wurden auch aufeinander gebaut. In Ermangelung von Treppen oder Leitern sollen die Bewohner von außen an den Wänden hochgeklettert sein.79 Einer dieser Sklaven war John Rogers. Seine Biographie soll als Beispiel dienen, um den Weg, den ein Sklave nach und in Algier ging, nachzuvollziehen.80 Er wurde am 1. Januar 1704 in Portsmuth in England geboren. 1716 ging er als Schiffsjunge an Bord eines englischen Kriegsschiffs und kam nach New York, wo er 8 Jahre lang in der Landwirtschaft gearbeitet hat. Dann wurde er des Landlebens überdrüssig und ging bei Boston wieder als Seemann in Dienst. Er hielt es jedoch auch auf diesem Schiff nicht lange aus und wechselte mehrfach die Anstellung auf andere Schiffe. Letztlich ließ er sich als Soldat in Oran unter spanischer Herrschaft stationieren. Er berichtet selbst in seinem Lebenslauf darüber: „Ich begab mich gleich in das Türckische Campement in der Gegend, und die Türcken brachten mich nach Algier und verkauften mich als einen Sclaven nach Algier an den Dey.“81 Nach den Angaben seines teilweise selbstverfassten Lebenslaufes geschah dies im Jahr 1732. Auch im weiteren Verlauf des Textes macht Rogers keine Angaben dazu, warum er den spanischen Posten verlassen hat. Es steht zu vermuten, dass er zu den Deserteuren gehörte, die nicht sel78 „Der Dom[ine] erwartet von d[em] H[er]rn Gener. Haaten ehestens seine Dimission, ob er gleich auf 3 Jahren angenommen ist. Die Sclaven haben verlangt, d[a]ß er des Freutags[sic] ihnen predigen mögte, weil sie des Sontags arbeiten müßen, das will er nicht.“ Brief an Dober vom 11.6.1745. 79 Kühn, Lebensbeschreibung, 204f. 80 Der folgende Abschnitt orientiert sich sehr stark an Leroy, Staatsverfassung, 76f. Alle wesentlichen Informationen sind dieser Quelle entnommen. 81 „Lebenslauf des John Rogers“ in: Diarium von Bethlehem zum 23. Januar 1759 (R.14.A.a.12; desgl. SHA Hht 161.30).

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ten das Lager verließen, weil die Versorgung mit Lebensmitteln und anderen Bedarfsgütern mangelhaft und darüber hinaus die Besoldung sehr gering war. Möglicherweise trieb ihn zusätzlich sein unruhiges Wesen, das sich bereits zuvor bei seinen Reisen zeigte, aus seiner festen Stellung. Es ist ebenso ungewiss, ob er sich freiwillig zu den Türken begab oder Sklavenfängern in die Hände fiel. Nicht alle Sklaven stammten aus den Kaperfahrten der Korsaren, viele wurden auch zu Land eingefangen, und so kamen nicht nur Rogers, sondern auch andere Deserteure aus dem spanischen Dienst in die Gefangenschaft in Algier.82 Wer gefasst wurde, wurde in die Hauptstadt auf den eigens dafür eingerichteten Sklavenmarkt gebracht. Sklaven, die Teil einer Schiffsbeute waren, wurden zuerst vor den Dey geführt. Dieser oder einer seiner Beamten begutachteten dann die „Ware“, und je nach Größe der Prise und Anzahl der Gefangenen ging ein bestimmter Anteil von Sklaven an das Staatsoberhaupt. Im Regelfall wurde in Algier jeder achte Passagier oder Seemann Eigentum des Deys. Auf dem Sklavenmarkt wurden die neuen Sklaven mehrere Tage lang ausgestellt und von den potentiellen Käufern begutachtet. Jeder Freie, der Interesse hatte, konnte sich an den Verkäufer wenden und einen Preis für den Sklaven aushandeln. Im Anschluss wurden die „verkauften“ Sklaven noch einmal den Vertrauten des Deys vorgeführt, und diesen stand es offen, mittels eines Vorkaufsrechts die Sklaven zum bereits vorher auf dem Sklavenmarkt ausgehandelten Preis selbst einzukaufen. Der vormalige Interessent ging in diesem Fall leer aus. Machten der Dey oder seine Vertreter nicht von diesem Recht Gebrauch, ging die Verhandlung in die zweite Runde. Auf Basis des ersten Preises wurde erneut gehandelt, und der zweite Preis war der tatsächliche Kaufpreis für den Sklaven. Die Differenz zwischen den beiden Preisen ging jedoch nicht an den Händler, sondern in die Schatzkammern des Deys. Auf diese Weise profitierte der Staat von jedem Sklaven, unabhängig davon, ob dieser in staatlichen oder privaten Besitz gelangt war. Rogers wurde ein Sklave des Deys. Auch hier lässt sich aus der Quelle wieder nicht ablesen, über welchen Weg er in den Besitz des „Königs“ von Algier geriet, es ist aber anzunehmen, dass der oben beschriebene reguläre Verkauf stattgefunden hat. „Da wurde ich nun fest genug gehalten, daß ich nicht entlaufen konnte, so gern ich auch wolte.“83 In der Zeit seines Aufenthaltes in Algier hatte die Stadt bereits über ein Jahrhundert Erfahrungen im Umgang mit Sklaven gesammelt. Beispielsweise wurden christliche Schiffe im Hafen schwer überwacht. Nur selten gelang es jemandem daher, sich über Land- oder Wasserweg aus der Gefangenschaft zu befreien. Alle ein- und auslaufenden christliche Schiffe wurden vor dem Auslaufen von Janitscharen durchsucht, und wurde ein Entlaufener gefunden, wurde die gesamte Mannschaft in die Sklaverei gegeben. So schilderte es zumindest Kühn,84 der nur von wenigen Ausnahmen zu erzählen weiß, in denen eine Flucht zu Wasser gelungen war. Für noch unwahrscheinlicher hielt er den Ausweg übers Land, da die Wüste um Algier weder Verstecke noch Verpflegung auf der Flucht bot. Darüber hinaus seien die dort lebenden „Mohren“ und „Araber“ den Flüchtlingen eher feindlich gesinnt. Zusätzlich kamen noch Wachtrupps der Stadt hinzu, die Algier gegen die außerhalb Lebenden absicher82 Noch in der zweiten Hälfte des18. Jh.s war Desertion in Oran an der Tagesordnung. In knapp 30 Jahren sollen ca. 30.000 Soldaten geflohen sein. Vgl. Don Isidoro de Antillon, Erdbeschreibung von Spanien und Portugal. Fortsetzung (Nach dem Span. Original bearbeitet vom Hrn. Hofrath Rehfues zu Stuttgardt.), in: Allgemeine Geographische Ephemeriden Bd. 44, hg. v. F. J. Bertuch, Weimar 1918, 140– 144, 144. 83 Lebenslauf Rogers. 84 Kühn, Lebensbeschreibung, 263.268.

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ten und immer ein Auge nach Entlaufenen offen hielten. Denjenigen, die es dennoch versuchten und wieder gefangen wurden, drohten schwere Strafen. Kühn weiß von einigen besonderen Regeln für die Nächte in Algier zu berichten. Dann mussten sich die Sklaven vorsehen, nicht auf den Straßen der Stadt unterwegs zu sein oder gesehen zu werden. Drohten einem Türken oder Mohren 50 Stockschläge auf die Fußsohlen bei einer Verletzung der nächtlichen Ausgangssperre, musste ein Sklave mit härterer Bestrafung rechnen. Darüber hinaus ging er aus dem privaten Besitz direkt in den des Deys über.85 Die Tage der Sklaven wurden sehr treffend von Norman Robert Bennett zusammengefasst. Bennett bezieht sich zwar auf Sklaven in Marokko, allerdings stimmen seine Beobachtungen mit denen Kühns86 überein: „Activities began at dawn when they were driven together and counted. The Muslim overseer was personally responsible for any who had escaped, and had to pay for the loss himself. The prisoners were then given a quarter of an hour for breakfast before leaving for work. All had to go but those too sick to move; these prisoners were dependent on the hospitals; those who did not work did not eat. […] Constant pressing by the overseers made conditions no easier. Pellow, Ockley, and Mouette report that no break was given for the noon-day meal; all had to eat and work at the same time. An anonymous Frenchman states that the men received an hour's respite for this meal. Work continued until dusk when they were returned to the prisons. The weaker prisoners who had not been able to work during the day were sent to guard the flocks of the ruler during the night while the rest remained in the compounds, except on special occasions when night work was forced on all. The captives themselves report very harsh treatment during the working hours. Allowing for a natural exaggeration of men who had been deprived of their freedom, their position was certainly difficult. As Christians they were subject to hatred by the local population, naturally hostile to any strangers. The food and clothing allotments of the prisoner were in keeping with the above facts. His daily food consisted of a fixed amount of bread (about fourteen ounces) and oil. To Thomas Phelps this bread 'stunk'; the wheat had been kept in an underground storage-bin for seven years. Clothes were given out once a year and were expected to last out the year, or at times even longer. With the nature of the labour the men performed, the clothes never lasted the prescribed period and the men had to go exposed to the elements until the next issue of clothing was due. These statements are not exaggerated.“87 Und obwohl dies schlimme Umstände waren, muss auch Gottschling, der sein Kapitel zu den Sklaven mit folgenden Sätzen beginnt: „Es ist eine allgemeine Gewohnheit unter denen Barbarn, daß sie absonderlich unter denen Algeriern, daß sie abgesagte Feinde der Christen sind. […] An diesen armen Leuten üben sie ihre Grausamkeit auf das erbärmlichste aus und diese 85 A.a.O., 205. 86 Vgl. a.a.O., 144–146.158. 87 Norbert Robert Bennett, Christian and Negro Slavery in Eighteenth-Century North Africa, in: The Journal of African History 1/1960, 67f.

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sollen auch dasjenige Werkzeug sein, welches uns zu den Beweißthum ihrer Boßheit dienen soll“,88 konstatieren: „Daß es manchen recht übel ergeht, solches komt meistentheils von ihrer heillosen Boßheit, Starkopffe, Ungehorsam und Wiederspenstigkeit [sic] her und es trifft es in Wahrheit ein auf die Galeeren verbannter unter denen Christen viel schlimmer als ein RuderSclave in der Barbarey.“89 Wenn also auch Gottschling, dem daran gelegen war, die Algerier als überaus schlechte Menschen darzustellen,90 zugeben musste, dass die christlichen Sklaven in Algier bessere Lebensbedingungen hatten als muslimische in christlicher Gefangenschaft, müssen die Unterschiede durchaus bemerkbar gewesen sein. Da aber in Algier stets der Gedanke mitschwang, Sklaven wieder freikaufen zu lassen, war dies eine Motivation, mit diesen pfleglicher umzugehen als mit Galeerensklaven auf christlicher Seite, die eher selten ausgelöst wurden.91 Die Ursache für die Mühsal der Sklaven in Algier machte Gottschling auch vorwiegend an dem Gemüt der Seeleute fest. Da sie wenig geeignet seien, sich lange an einem Ort aufzuhalten und vorwiegend einen Mangel an Gehorsam zeigten, machten sie sich die Situation schwerer als sie sein müsste. Inwiefern diese Aussage zutrifft, ist diskutabel. Sie ist jedoch als wichtig festzuhalten, da auch Nottbeck sich über die gleichen Eigenschaften der Sklaven beklagt. Im gleichen Ton spricht auch Kühn von dem Einfluss, den die fehlende Anpassung der Seeleute an die an sie gestellten Erwartungen auf ihre Behandlung hatte.92 Sklaven wurden vielseitig eingesetzt, zum Bau von öffentlichen Gebäuden, auf Feldern, im Straßenbau, in Weinbergen und auf Schiffen. Je nachdem, wie gesund und kräftig der Sklave war, wurde ihm Arbeit zugemutet. Sklaven in staatlichem Besitz wurden nach Bono „zumeist als Ruderknechte auf den Galeeren und auf anderen Schiffen der Barbaresken eingesetzt oder bei öffentlichen Bau- und Ausschachtungsarbeiten, als Lastträger oder zu anderen schweren Arbeiten eingesetzt.“93 In Kühns Bericht werden weitere Beispiele für mögliche Aufgaben genannt und nach ihrem Anforderungsgrad sortiert. Auf „junge“ Sklaven – gemeint sind solche, die gesundheitlich gut standen und körperlich stark belastbar waren – wartete unter anderem die Betätigung von schweren Handmühlen, das manuelle Pflügen, der Transport von Gütern mit und ohne Lasttier, das Ausrüsten von Schiffen, diese zu teeren und schließlich als Matrosen zu befahren.94 Nicht selten fuhren Sklaven als Teil von Korsarenmannschaften zur See und beteiligten sich für ihren Besitzer an den Raubzügen. Je nach Größe der Mannschaft erhielt der Patron für seinen Sklaven einen Anteil der Beute, der für ihn den einzigen Verdienst darstellte. So eine Kaperfahrt erfolgreich verlief, konnte der Sklavenhalter große Gewinne machen, wenn er viele Männer stellte. Wenn jedoch keine Prise gemacht wurde, gewann der Patron nichts und hatte darüber hinaus den Verlust seiner eingesetzten Ressourcen zu tragen. Erfolglosen Sklaven drohte in diesem Fall laut Kühn eine schlimme Strafe,

88 Gottschling, Staat, 103f. 89 A.a.O., 106. 90 Er assoziiert sie mit „Gewinnsucht, Untreu, Geitz, Ungerechtigkeit, Falschheit, List, Betrügerey, Bevortheilung des Nächstens im Handel und Wandel, Graumsakeit“ und meint, dass dies „ihre besten Tugenden seyn“. Vgl. a.a.O., 33. 91 Vgl. Bono, Korsaren, 249. 92 Kühn, Lebensbeschreibung, 262. 93 Bono, Korsaren, 259. 94 Vgl. Kühn, Lebensbeschreibung, 260.

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während Erfolg bei der Raubfahrt seinerseits mit Züchtigung vergolten wurde, damit die Sklaven nicht „eitel“ wurden und ein zu starkes Selbstbewusstsein entwickelten.95 „Alte“ Sklaven hingegen waren diejenigen, die versehrt oder anderweitig körperlich beeinträchtigt waren. Ihnen wurde häufig aufgetragen, mit Maultieren durch die Stadt zu gehen und Wasser an Passanten zu verkaufen, Böden zu reinigen, Tiere zu hüten, Kinder zu beaufsichtigen, Textilien zu waschen, die Häuser zu kalken und in der Küche auszuhelfen. Sollten diejenigen, die etwas verkauften, nicht genug Profit für ihren Besitzer erwirtschaften, drohten ihnen ebenfalls schlimme Strafen, so dass die Sklaven sich auch im Taschendiebstahl übten. Die hier beschriebenen Tätigkeiten beziehen sich vornehmlich auf männliche Sklaven,96 und von der Belastbarkeit und Kompetenz für diese Aufgaben hing der Preis für den Sklaven auf dem Markt ab. Wie bereits erwähnt, durften Sklaven neben ihrer Arbeit für ihren Besitzer auch einem eigenen Verdienst nachgehen. Besonders üblich war das Betreiben der Schenken in den Baignes, aber auch andere Tätigkeiten waren möglich, solange stets ein Teil des Gewinns an den Besitzer ging. Nicht selten waren Betätigungen als Kleinhändler für Tabak und Verbrauchsgüter oder als Schneider.97 Auch wenn es ein stillschweigendes Abkommen98 zwischen dem christlichen Europa und dem muslimischen Nordafrika gab, dass die Sklaven nicht zu schlecht behandelt wurden, bedeutet dies noch nicht, dass es den Gefangenen besonders gut ging. Zwischen den in einer Baigne versammelten Nationalitäten kam es immer wieder zu Streit oder in manchen Fällen auch zu Gewalt. Die Freizeitgestaltung stellte sich sehr einseitig dar. Wer neben seinen normalen Sklaventätigkeiten noch anders Geld verdiente, verprasste dieses häufig in den Wirtsstuben, und Trinkschulden waren keine Seltenheit. Das enge Zusammenleben ohne Privatsphäre fern der Heimat und Familie ließ viele Gefangene verrohen. Über diese Zustände beklagte sich auch Nottbeck, als er Umgang mit den Sklaven in Algier hatte.

3. Herrnhuter Mission und Auftrag Die für diesen Beitrag vorliegenden unpublizierten handschriftlichen Quellen stammen aus dem Unitätsarchiv in Herrnhut. Sie umfassen eine Sammlung von Briefen von und an Carl Nottbeck, seinen Lebenslauf und drei Tagebücher aus Algier, die von den Unternehmungen der Brüdergemeine in Algier herrühren. Darüber hinaus wurde in diesem Beitrag auf weitere Diarien des sogenannten Jüngerhauses und aus den Brüdergemeinen Herrnhut und Herrnhaag zurückgegriffen sowie sporadisch auf weitere Quellen wie Lebensläufe von Beteiligten, Synodalprotokolle oder Lieddichtung. Die Quellenüberlieferung stimmt im Wesentlichen mit denjenigen anderer Unternehmungen wie z.B. nach Ägypten überein.99 Aus den Briefen und den Tagebüchern aus der Zeit in Algier geht hervor, dass nicht alle Briefe erhalten geblieben sind. Ebenso fehlt das Tagebuch vom Jahr 1745, Nottbecks erstem Jahr in Algier. Während 95 96 97 98 99

A.a.O., 246–247. A.a.O., 258f. Vgl. Bono, Korsaren, 262. Vgl. a.a.O., 263f. Siehe hierzu die Ausführungen bei Arthur Manukyan, Konstantinopel und Kairo. Die Herrnhuter Brüdergemeine im Kontakt zum Ökumenischen Patriarchat und zur Koptischen Kirche, Interkonfessionelle und Interkulturelle Begegnungen im 18. Jahrhundert, Würzburg 2010, 25.

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die Tagebücher weitaus detaillierter die Entwicklungen der zu Missionierenden und mehr Erlebnisse Nottbecks wiedergeben, konzentrieren sich die Briefe häufig auf ein bis vier Ereignisse oder Themen und werden dann häufig detailreicher. In nahezu jedem Brief demonstriert Nottbeck seinen gefühlten Glauben und drückt sein Vermissen der Gemeine in der Ferne aus. Man erfährt gelegentlich, dass ihm die Arbeit schwer fällt und er mit Widerständen zu kämpfen hat. Stets bittet er auch um Fürbitte für ihn. Gemessen an der Zeitspanne, in der Nottbeck in Algier war, hat er verhältnismäßig wenig Briefe geschrieben, häufig über Monate hinweg keinen einzigen. Dies ist auch Zinzendorf aufgefallen, und so schreibt er an Nottbeck: „Daher geschiehet es nicht aus Geringschätzigkeit, daß ich so wenig schreibe sondern aus Verlegenheit, weil du so wenig ganze Nachrichten schreibest und was auch erfreul[ich] klingt, dir selbst bedenkl[ich] machst.“100 3.1 Herrnhut und die Mission – Abraham Ehrenfried Richter in Algier Als Rogers bereits etwa zwei Jahre lang in Gefangenschaft lebte, brachen aus Herrnhut zwei einfache Christen auf, um auf den Westindischen Inseln den dort lebenden Plantagensklaven das Evangelium zu verkünden. Jene gehörten zu der noch jungen Brüdergemeine, die unter dem Schutz und der Leitung des Reichsgrafen Nikolaus Ludwig von Zinzendorf stand. Man hatte den Plan gefasst, im „Heilsplan des HERRN als ausführende Kraft zu dienen“. Gemäß der Vorstellung, der Heiland habe bereits in den Menschen den Glauben eingepflanzt und benötige nun nur noch das Personal, um das Evangelium zu den zu Bekehrenden zu bringen, sollte die Brüdergemeine im Verlauf von wenigen Jahren ein weltumspannendes Netz von Missionen aufbauen. Vorbild für dieses Vorhaben war die Dänisch-Hallensische Mission, mit deren geistigem Vater August Hermann Franke Zinzendorf gut bekannt war. Und obwohl das Gesamtprojekt zu groß für eine kleine Gemeinschaft von mährischen Flüchtlingen und unstudierten Handwerkern schien, wurde die Brüdergemeine zu einem der bedeutendsten protestantischen Missionsträger des 18. Jh.s und hinterließ eine große interkontinentale Glaubensgemeinschaft. Der Herrnhuter Mission wurde von Seiten der akademischen Forschung schon viel Aufmerksamkeit101 entgegengebracht, und das nicht zuletzt in Göttingen, wo 2013 ein weiterer Editionsband von Briefen aus Ägypten veröffentlicht wurde. Abgesehen von einer Teiledition zu Richters Tätigkeit aus dem 19. Jh.,102 existiert aber noch keine Einzeldarstellung zum Thema Herrnhuter in Algier. Die Anfänge der Herrnhuter Mission lagen bei den Plantagensklaven in St. Thomas (Virgin Islands) und wurden in besonderem Maße von Leonhard Dober geprägt, der 1732 dorthin aufgebrochen war. Die versklavten Arbeitskräfte wurden von der Westküste Afrikas zu den Jungferninseln deportiert und stellten eine Seite des berüchtigten Dreieckshandels zwischen Afrika, Amerika und Europa dar. Sie waren aller Wahrscheinlichkeit nach dem Christentum höchstens als Religion der europäischen Sklavenhalter begegnet. Auch wenn Dober und seine Nachfolger mit vielen Schwierigkeiten zu kämpfen hatten und schwere personelle Verluste 100 Brief von Zinzendorf an Nottbeck vom 30.6.1746. 101 Aus der jüngeren Vergangenheit sei nur an die umfangreichen Studien und Editionen der Missionsgeschichte von Oldendorp oder Hermann Wellenreuthers Projekt zum „Indianermissionar“ David Zeisberger erinnert; aus anderem Blickwinkel bearbeitet Claus Füllberg-Stolberg (Hannover) in einem vor dem Abschluss stehenden Projekt das Thema Mission und Sklaverei. 102 Erich von Rantzau, Kurze Nachricht von dem Versuch der Brüder, die Christen-Sclaven in Algier mit dem Evangelio zu bedienen. Anno 1739[–1740], in: Der Brüder-Bote 18 (1880), 266–269.

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erlitten, entstand auf St. Thomas eine Missionsgemeinde, und dieses Projekt wurde zum Beweis erfolgreicher Missionsbestrebungen. Bald starteten weitere Projekte von Herrnhut aus, z.B. nach Grönland (1733), Suriname/Berbice (1735/1738), Nordamerika (1735/1740), Südund Westafrika (1736) und schließlich auch Algier (1739). Der Kaufmann Abraham Ehrenfried Richter wurde 1739 von der Brüdergemeine entsandt, um ebenfalls unter Sklaven zu missionieren. Richter wurde von Schryver in die nordafrikanische Stadt gebracht und dort von dem Konsul Paravicini in Empfang genommen. Obwohl die Stadt zu diesem Zeitpunkt unter der Pest litt, entschied sich Richter dafür, das Unterkunftsangebot in Paravicinis Landhaus nur für kurze Zeit anzunehmen und sich schon nach kurzer Zeit in einem jüdischen Haus in der Stadt einzuquartieren. In seinem Tagebuch teilte er mit, dass seine Nachbarin und ihr Kind während seines Einzugs bereits erkrankt waren. In seiner kurzen Zeit vor Ort bekam Richter nur wenige Möglichkeiten, auf die Menschen in seiner Umgebung einzuwirken. Er konnte für die Sklaven nur zwei Predigten halten, bevor er nach etwas mehr als zwei Wochen Aufenthalt in der Stadt der Pest erlag und starb.103 Dennoch hinterließ sein Tod Spuren, auf die später Nottbeck stoßen sollte. Sein Projekt wird in der Missionsgeschichte selten mit mehr als ein paar Zeilen berücksichtigt, jedoch vergaß man ihn weder in Algier noch in Herrnhut. Nach dem Tod Richters erfuhr die Brüdergemeine Zuspruch von unerwarteter Seite. Admiral Schryver äußerte nach dem Protokoll der „Winter Conferenz der Ältesten, Bischöfe und Vorsteher […] in Marienborn“ am 7.12.1740: „daß die Gemeine nun ein Recht an Algier hätte durch Bruder Richters Tod. Wer weiß, ob nicht sein Geist manches in der Pest verstorbenen Türcken seiner Seele gesegnet ist.“ 104 Diese Aussage schreibt dem Tod Richters eine wichtige Funktion zu. Dadurch, dass er furchtlos für seinen Glauben eingetreten sei und sich nicht aus Furcht vor dem Tod zurückgezogen habe, habe er seine Treue zu seinen Überzeugung und seine Integrität bewiesen. Da er als Vertreter der Unität agierte, habe er ein Bild der Zuverlässigkeit und Hingabe für die Aufgabe der gesamten Gemeine erzeugt. Die Algerier hätten daher einen Eindruck davon gewonnen, was sie von einem Herrnhuter Missionar zu erwarten hätten. In diesem Zusammenhang konnte Richter als Beispiel für religiöse Überzeugung und Verlässlichkeit gelten. Für die Herrnhuter wurde Richter zu einem Vorbild, dem es nachzueifern galt und das für Standhaftigkeit stand. So äußerte sich auch Zinzendorf 1748: „Daß unser Bruder Richter zur Pest-Zeit in Algier geblieben bei den Sclaven, ist was wichtiges“.105 Gehört auch das Wort Märtyrer für die Unität nicht in diesen Zusammenhang, so spricht man hier von einem Zeugen, einer Person, die über einen so starken Glauben verfügt, dass sie sogar zuversichtlich dem Tod ins Auge sieht. Der zweite Satz des Vermerks in dem zuvor genannten Protokoll liest sich umständlich und wirft die Frage auf, wer eigentlich missioniert werden sollte? Die christlichen Sklaven 103 „[…] wo er sich doch über 14 Tage aufgehalten hat, obschon an seiner Stube, wo nur einige Bretter zwischen, ein Kind an der Pest lag und starb, u[nd] die Leute die Kleider von dem Kinde in seiner Stube gelegt hatten, welches ein erstaunlichen Gestank verursacht, und in dem Gestank hat er speißen und schlafen müßen.“ Brief an Zinzendorf vom 2./4.6.1745. 104 Winter Conferenz der Ältesten, Bischöfe, Vorsteher und Helfer verschiedener Gemeinen, zu Marienborn, Sessio VI. Mittwoch, den 7. Decembris [1740] Nachmittag, R.2.A.4.1, 40. 105 [Zinzendorf: Rede] Mittags in der Friedau. Dienstag 9. Juli 1748. [über] Er ist mein Gott, von meiner Mutterleibe an. Psalm 22, 11. (HS 13,120–128, 126–128).

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oder die Türken? In der kurz vor der Abreise Richters verfassten Herrnhaag-Kantate werden diverse Missionsziele aufgezählt, u.a. Algier. Hier wird die Formulierung: „Algier fällt nicht hin“ verwendet: „Recit. Die Calmucken flattern noch in ihrer irr; und die Tattern sind noch im gewirr; der Mohr in Delmina wartet auf hüllfe: kennt ihr die trifften, wo das crocodill im schilffe, und satan laurt in lüfften menschen zu vergifften: das kluge Candy, sanffte Indostan, die verlegne Gauern, JEsu erster gewinn, warten vielleicht auf bauern: Algier fällt nicht hin, JESU sein geblüte dringt uns zu gemüthe: Laßt die Corsaren die menschen stehlen, das Lamm befrey nur der sclaven seelen, und fang an in den Türcken durch sein blut zu würcken.“106 Damit kann zweierlei gemeint sein, zum einen, dass das Missionsziel Algier nicht wegfallen soll, oder zum andern, dass die Stadt noch nicht dem Heiland anheimgefallen ist. Die anschließenden zwei Verse speziell zu Algier bringen etwas mehr Licht in das Dunkel. Der Sklavenfang durch die Korsaren wird in seiner Relevanz heruntergespielt, denn sie sind nicht das Ziel der Mission. Das „Lamm“ interessiert sich hingegen für die Seelen der Sklaven. Dies zeigt eine Exklusion der Korsaren vom Vorhaben und eine Inklusion der Sklaven. Die Nennung der Türken im zweiten Vers jedoch sorgt wieder für Unklarheit. Eine Trennung zwischen Korsaren und Türken ist durchaus sinnvoll, denn bestand die türkische Oberschicht größtenteils aus Janitscharen und tatsächlichen ehemaligen Bewohnern der Levante, setzte sich die Gruppe der Korsaren aus einer Mischung von christlichen Überläufern und anderen Völkern zusammen. Die Formulierung „in den Türken […] zu würken“ ist wiederum in zweierlei Hinsicht zu deuten. Zum einen kann tatsächlich die Innerlichkeit der Türken gemeint sein und eine verbotene Mission an den Muslimen angestrebt werden, oder es meint eine Mission unter den Türken im Sinne von „unter türkischer Herrschaft“, womit noch einmal auf die Lokalität Bezug genommen würde. Die Frage lässt sich anhand der literarischen Texte und dem indirekten Zitat Schryvers nicht eindeutig lösen. Auf der Synode in Zeist im Jahr 1746 wurde festgehalten: „Ordinarius [i.e. Zinzendorf, TK] denkt: Hüfel, Hocker, Gottlieb und Rüffer solten mit einander an einem Ort, z.E. nach Algier gehn, und wenn sie da wären, so solten sie sichs erst ansehen, wozu sie Neigung hätten, wer von ihnen da bleiben und an den Sclaven arbeiten, oder wer zu den Mauris und Negern in Africa gehen wolte.“107 Hier ist bei der Aussendung weiterer Mitarbeiter nach Algier nur von den Sklaven die Rede, und auch bei den alternativen Missionszielen wird die algerische Oberschicht nicht erwähnt. Die Zweideutigkeiten werden also zugunsten der reinen Sklavenmission auszulegen sein. Vergleicht man andere Missionsunternehmungen der Herrnhuter mit denen von Richter und Nottbeck, so fällt auf, dass die meisten aufgezählten Missionsvorhaben von mindestens zwei Mitarbeitern begonnen wurden. Richter und Nottbeck sind jeweils allein nach Algier aufgebrochen und haben sich dort nicht getroffen. Sie waren dabei aber auch kein Einzelfall: 106 Hans-Walter Erbe, Die Herrnhaag-Kantate von 1739. Ihre Geschichte und ihr Komponist Philipp Heinrich Molther, Hamburg 1982, 43. 107 Synode Zeist, Sessio XXXI, Montag, den 13. Juni 1746; Nachmittags, R.2.A.19.1, 402f.

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Georg Schmidt wurde 1736 alleine nach Südafrika entsandt, und auch Friedrich Wilhelm Hocker brach 1752 alleine nach Ägypten auf. Trotzdem war ein einzelner Missionar in der Fremde ein seltenes Bild unter den Herrnhutern.108 Es gab in Algier die für eine große Stadt typische Infrastruktur und den Herrnhutern wohlgesinnte Delegationen aus Europa. Da es zudem einen steten Mangel an vorbereiteten Missionaren gab und man in Algier auf die Unterstützung der Konsuln bauen konnte, können auch ökonomische Gründe dazu geführt haben, dass in Algier weniger Personen stationiert wurden. Berücksichtigt man zudem, dass die Zahl der Sklaven im 18. Jh. stets abnahm und auch immer wieder potentielle Klientel der Herrnhuter freigekauft wurde, so kann auch dies ausschlaggebend für Entscheidung gegen die Entsendung von zwei Missionaren gewesen sein. Und ein zweites Kriterium unterscheidet die Algier-Missionare von den anderen hier benannten: Ihr Ziel waren keine Heiden, sondern die bereits nominell christlichen Sklaven, und lediglich Hocker befand sich in Ägypten in einer vergleichbaren Situation.109 3.2 Der „Plan“ Bevor man auf einzelne Unternehmungen selbst zu sprechen kommt, muss ein zentraler Begriff geklärt werden, der gelegentlich in den Briefen und Tagebüchern Nottbecks erwähnt wird: der „Plan“ zu dem Projekt in Algier. Nottbeck spricht entweder davon, dass ihm der „Plan“ schwerfällt110 oder sehr am Herzen liegt,111 während Zinzendorf an Nottbeck kritisiert: „Auch hat mirs nicht gefallen daß du deinen Plan nicht recht vor Augen hast.“112 Dieser Plan ist weniger ein vorformulierter Ablaufplan mit Arbeitsschritten und Methoden, und er ist auch nicht das Produkt Nottbecks, sondern geht darüber hinaus.113 Es handelt sich nach der Auffassung der Herrnhuter bei dem „Plan“ in Algier um einen „Teil des Heilsplans des HERRN“. Zinzendorf verwendet den Begriff Plan synonym zu „Ökonomie Gottes“114 und bezieht ihn in der „Rede vom Grund-Plane unserer Heidenmissionen Himmelfahrtstag, 19. Mai 1746“115 auf das Konzept der Erstlingsmission. Es ist nicht das Ziel der Mission, möglichst viele, sondern nur Einzelne, „Erstlinge“116 zu bekehren. „[Denn], meine Geschwister, wenn ich sage, daß wir uns aus einer ganzen Nation kaum zehn, zwölf Familien zum Heiland zu bringen haben, daß unsere Bestimmung, unser Grundplan nicht weiter geht als auf primitias, auf die Erstlinge, so heißt das nicht, daß sich nicht mehr Leute

108 109 110 111 112 113

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Vgl. Manukyan, Konstantinopel, 235. Ebd. Z.B.: „darum liegt mir des Heyl. Plan hier sehr hart am Herzen.“ Tagebuch Nottbeck 15.9.1747. Z.B.: „Mein Plan, u. der Engl. elender Zustand, weil alle Gnaden Rührungen einzugehen schiene, lag mir sehr am Herzen.“ Tagebuch Nottbeck 20.9.1747; „Der Plan wurde mir abends im Gebet wichtig u. gesegnet.“ Tagebuch Nottbeck 1.9.1746. Brief Zinzendorf an Nottbeck vom 30.6.1746. Paul Peucker, Herrnhuter Wörterbuch. Kleines Lexikon von brüderischen Begriffen, Herrnhut 2000, 44: „Vom Heiland bestimmte Richtlinien und Aufgabengebiet für eine Person, eine Gruppe oder einen Ort und die Stelle, an der dieser Plan ausgeführt werden sollte („Das Geschwister Peters gingen nach Haarlem auf ihrem Plan, nachdem sie in Gröningen 2 Jahr gestanden.“ ...). Helmut Bintz (Hg.), Nikolaus Ludwig Zinzendorf. Texte zur Mission, mit einer Einführung in die Missionstheologie Zinzendorfs, Hamburg 1979, 27. Bintz, Texte, 97–100. Vgl. Apk 14,4.

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da bekehren werden, sondern wir sollen nur etwas phlegmatisch dazu sein“117. Der Fokus liegt auf dem Individuum als Missionsziel, man erhebt nicht den Anspruch, ganze Gruppen oder gar Völker zu bekehren. Aus diesem Abschnitt geht hervor, dass man sich auf die Erstlinge, auf einzelne Individuen, die anschließend die Missionsarbeit selbst fortsetzen können, konzentrieren soll. Wenn jedoch über eine kleine Gruppe von ersten Bekehrten hinaus noch mehr Erfolge erzielt werden können, dann wird dies ebenfalls gutgeheißen. Es geht also um wenige „Senfkörner“ in einer ganzen Nation, die sich langsam vermehren werden. Dabei befindet sich Nottbeck in einer nahezu einzigartigen Situation. Lediglich die Missionare, die nach Ägypten zu den Kopten gingen, sahen sich ebenfalls mit Christen in einer heidnischen Umgebung als Ziel konfrontiert. Da sie ja schon nominell Christen waren, ist es schwer, von einer Mission oder im engeren Sinne einer Heidenmission zu sprechen. Viel eher gehört ihre Tätigkeit zur Diasporaarbeit oder Ökumene, denn man suchte die zumindest getauften Christen zur Herzensreligion zu erwecken. Man kann diese Tätigkeit aber nur dann richtig begreifen, wenn man sich von der Vorstellung einer scharfen Trennung dieser Begriffe löst, da sie sich an dieser Stelle gegenseitig bedingen und überlappen. Man muss vielmehr eine Verbindung aus Mission und Ökumene denken. Peter Vogt formuliert das besondere Verhältnis der beiden, das gerade an diesen „Missions“-Orten zutage tritt, treffend: „Ein komplementäres Verhältnis von Mission und Ökumene zeigt sich auch im Blick auf das jeweilige Ziel. Das missionarische Anliegen, Menschen aus den Heidenvölkern für Christus zu gewinnen, geht Hand in Hand mit dem ökumenischen Anliegen, der Erweckung und Sammlung von Gläubigen unter den (nominell) christlichen Bevölkerungen. Beide Male geht es darum, die von Gott vorbereiteten Seelen zu erreichen und so dem verborgenen Leib Christi zeichenhaft Gestalt zu geben. Beides trägt jeweils auf seine Weise zum Bau und zur Ausbreitung des Reiches Gottes bei.“118 Wenn also in diesem Beitrag von Mission oder Missionar gesprochen wird, muss diese Doppelrolle dabei mitgedacht werden. Denn Nottbeck beispielsweise führte auch Bekehrungsgespräche mit Juden, die eindeutig unter den Begriff der Mission fallen.119 Zinzendorf hat auch in Hinsicht auf nominelle Christen den „Plan“ 1745 folgendermaßen beschrieben: „Die Leute in ihren principiis corrigieren, das ist eigentlich nicht unser Plan, sondern den Leuten das bekannte Jesusbild […] das neu bringen, das frisch wieder bringen, als wenn’s heute erst nach dem Leben geschildert wäre, als wenns vor unseren Augen gekreuzigt wäre […] Denn wer ohne einen solchen lebendigen, lebhaften und gegenwärtigen Eindruck […] unter Menschen geht, der ist nicht von uns geschickt, der hat sich 117 Bintz, Texte, 97. 118 Peter Vogt, Graf Zinzendorfs orientalische Initiativen, in: Martin Tamcke/Arthur Manukyan (Hg.), Protestanten im Orient, Würzburg 2009, 33–52, 50. 119 Z.B: „Sontag. Frühe kam d[er] Holl[ändische] Jude [durchgestrichen: Abraam; ersetzt durch:]‘Salomon‘, der Europa zieml[ich] durchgereißet, aber mir schlechten success, all das seinige zur See eingebüßet, u[nd] in St. Cruz Sclave gewesen, zu mir. Ich sprach mit ihm aus d[er] Schrifft vom Messia sehr klar, u[nd] bezeigte die Gnade, die das Lamm mit seiner Erniedrigung u[nd] Versöhnung am Creuze, u[nd] mit d[er] ganzen Erfüllung des Gesetzes u[nd] aller Prophezeiung uns gebracht hätte, u[nd] ‚welches‘[eingefügt] wo er glauben wolte, sich an seinem Herzen beweißen würde. Er konte nichts dagegen, denn der Beweiß u[nd] Macht des Evang[eliums] hatte ihn überzeuget.“ Tagebuch 13.3.1746.

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und uns betrogen. […] denn keiner unserer Boten hat, was als seinen Kreuzverstand; und den Kreuzverstand muß er haben.“120 Just mit diesem „Plan“ hadert Nottbeck, sodass Zinzendorf ihn in Algier gefährdet sieht. In den Instruktionen für die Heidenboten 1738121 wird die Relevanz des „Plans“ zusätzlich unterstrichen: „ Es ist also nur vor folgenden Versuchungen zu warnen. […] 3) Sich erst in den Ländern besinnen, was man dort will.“122 Da die konkrete Situation im Missionsgebiet schwer vorhersehbar ist, ist anzunehmen, dass hiermit ebenfalls der „Plan“ gemeint ist. Man muss sich im Vorlauf zur Reise schon intensiv mit dem Auftrag auseinandersetzen und den „Plan“ verinnerlichen. Andernfalls führt es dazu, dass der Missionar das Ziel aus den Augen verliert und Melancholie und Depressionen über ihn kommen. Der „Plan“ ist nicht nur ein Auftrag, sondern durch seinen Ursprung „im Heiland“ ist er zugleich auch Motivation und Stütze. Er soll den Missionar gegen die Widerstände, auf die er bei der Missionsarbeit trifft, unterstützen. Darauf wird noch einmal zurückzukommen sein, wenn die Hindernisse Nottbecks besprochen wurden.

4. Voraussetzungen 4.1 Carl Nottbecks Lebenslauf Lebensläufe sind in pietistischen Kreisen schon vor Nottbeck keine Seltenheit gewesen und etwa ab 1750 in der Herrnhuter Brüderunität von jedem Mitglied erwartet worden.123 Sie wurden im Idealfall gegen Ende des Lebens vom Betreffenden selbst verfasst und dienten als Reflektion und Zeugnis seiner Lebenszeit. Lebensläufe wurden mit einer spezifischen Absicht verfasst, zum Beispiel die besonders fromme Lebensweise einer Person zu betonen und ihr so eine Vorbildfunktion zu geben.124 Diesen Aspekt unterstreicht besonders Pia Schmidt, wenn sie hervorhebt: „Sie [die Lebensläufe] konstruierten eine bestimmte Kommunikation in der Gemein[e] bzw. waren innerhalb eines gemeinsamen kommunikativen Feldes angesiedelt. Die Lebensläufe bildeten innerhalb der Brüdergemeine ein wichtiges Medium der Vergemeinschaftung.“125 Mit dieser Zweckgebundenheit ist häufig ein spezifisches Vokabular mit vorgeprägten Ausdrücken verbunden, das Eingang in den persönlichen Lebenslauf findet. Selbstverständlichen haben diese Begriffe auch eine Bedeutung für das Individuum, sind aber so stark vom pietistischen Umfeld geprägt und mit der Absicht eingesetzt, ein spezifisches

120 Müller, Brüdermission, 307. 121 „Instruktion an alle Heidenboten 1738“ in: Bintz, Texte, 54. Eine detaillierte Analyse zu einer ähnlichen Instruktion findet sich bei Manukyan, Konstantinopel, 40–47. Manukyan verwendet eine der früheren Missionsinstruktionen, von Zinzendorf als Instruktion für den Orient herausgegeben, die tatsächlich jedoch die Missionare in Lappland bestimmt war. Die spätere von mir gebrauchte ist klarer gegliedert, die Regeln prägnanter gefasst. Sie stellt auch die letzte überlieferte Fassung der Instruktionen dar, die quasi als ein Endergebnis anzusehen ist. 122 Bintz, Texte, 52. 123 Vgl. Pia Schmid, Herrnhuter Lebensläufe als erziehungshistorische Quelle betrachtet, in: Pietismus und Neuzeit. Ein Jahrbuch zur Geschichte des neueren Pietismus 38, Göttingen 2012, 118–134, 120. 124 Vgl. a.a.O., 119f. 125 A.a.O., 120.

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Bild zu erwecken, dass sie weniger dazu genutzt werden können, Rückschlüsse auf die Person als auf die Gattung zu ziehen. Carl Nottbeck wurde am 2. Januar 1713 als Sohn eines Ratssekretärs geboren. Er erlernte mit 14 Jahren den Beruf des Kaufmanns und wurde im gleichen Alter „zum heiligen Abendmahl praepariert“. Er schreibt in seinem Lebenslauf: „Bei dem erstmaligen Genuß desselben wurde ich sehr bewegt und vergoß viele Thränen; versprach auch dem lieben Gott mich von Herzen zu bekehren und Ihm ein wohlgefälliges Leben zu führen.“126 Bei dieser Beschreibung kann es sich um einen für die Gattung des pietistischen Lebenslaufs typischen Baustein handeln. Das erste Abendmahl wird in die Erfahrungswelt eines Jugendlichen gesetzt, der die Größe des Ereignisses zwar erahnt, aber, wie er später reflektiert, nicht begreift. Ob der Häufigkeit dieses ersten Bekehrungsmotivs in Lebensläufen, das stets von einer Phase des Zweifels und einer darauf folgenden endgültigen Bekehrung begleitet wird, muss man bezweifeln, dass die hier wiedergegebene Konfirmationsszene tatsächlich von so großer Relevanz war. Es folgt in der Tat im Lebenslauf eine Phase der „Irreführungen und Abkehr“ von Gott, bis schließlich 1736 eine Predigt von Zinzendorf gehört und die theologischen Schriften Frankes gelesen wurden und damit die für die literarische Gattung typische Konsolidierungsphase eintritt. So schloss sich Nottbeck schließlich den Herrnhutern an. 1739 nahm er eine Anstellung als Hauslehrer bei seinem Onkel an, da seine vorherigen kaufmännischen Betätigungen zum Erliegen gekommen waren. Diesen Posten konnte er der eigenen Vorstellung nach nicht zur Genüge ausfüllen und entschloss sich schließlich 1740, nach Herrnhaag zu gehen und sich der Brüdergemeine anzuschließen. Am 10. Dezember gleichen Jahres wurde er in Marienborn als Mitglied aufgenommen. Die folgenden drei Jahre blieb er in der Gemeine und wurde 1743 auf der Synode zu Gnadeck als Akoluth127 angenommen. Er bekam den Auftrag, nach Lissabon zu gehen und dort einem Anwärter auf Mitgliedschaft beizustehen. Dazu reiste er über England und lernte dort den bereits mehrfach erwähnten Admiral Schryver kennen, der per Schiff zu seinem Ziel brachte. Da sich bei dem Lissaboner Kaufmann nichts Positives bewirken ließ, wurde Nottbeck abberufen und stattdessen nach Algier entsandt, um dort die christlichen Sklaven zu missionieren. Fünf Monate nach seiner Ankunft in Lissabon brach Nottbeck am 27. Februar 1745 auf und gelangte über Marseille am 23. Juni 1745 in Algier an. Am 20. Oktober 1948 verließ Nottbeck scheinbar erfolglos Nordafrika wieder und lebte ab 1751 für zehn Jahre in Herrnhut. Sein Leben beschloss er in Niesky 1783. 4.2 Exkurs: Lissabon Wie schon aus dem Lebenslauf hervorging, bekam Nottbeck 1743 den Auftrag, nach Lissabon zu gehen. Auch wenn dies wahrscheinlich nicht von vornherein in dieser Weise geplant war, stellt diese erste Mission oder besser Diasporaarbeit Nottbecks für ihn eine Vorbereitung auf seine Missionstätigkeit dar. Es erscheint daher sinnvoll, diesen Einsatz genauer kennenzulernen, um zu erfahren, welche Erfahrungen oder Kompetenzen er ihm einbrachte. Diese Ent126 Handschriftlicher Lebenslauf Carl Nottbeck (UA. R.22.104.71). 127 „Akoluth – Bruder oder Schwester, die zum besonderen Helferdienst in der Gemeinde angenommen ist. Zu den Aufgaben gehören die besondere Aufsicht über bestimmte Bereiche des Dienstes innerhalb der örtlichen Gemeinde und das Dienen beim Abendmahl. Zinzendorf nannte dieses Amt auch Dienst der Streiterschaft. In der Römisch-Katholischen Kirche gehört der Akoluth zu den niedrigen Weihen. Die Böhmische Brüder-Unität hatte dieses Amt beibehalten. Hier waren die Akoluthen jüngere Brüder, die sich auf das geistliche Amt vorbereiteten.“ Peuker, Wörterbuch, 11.

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sendung war die Antwort auf die Bitte eines Kaufmannes, der mit der Brüdergemeine in Kontakt kam und daraufhin das Bedürfnis hatte, Näheres über die Brüder und den Heiland zu erfahren. Im Protokoll des Gemeintages der Wetterauischen Gemeinen am 30. März 1744 wurde festgehalten: „Aus Lissabon schrieb Bruder Ahlers, daß er in 7 Wochen aus England glücklich dahin gekommen, das Zeugniß vom Blut des Lammes […] helfe ihn jetzt da in vielen Umständen, und er warte mit Schmerzen auf Bruder Notbeck.“ Als Nottbeck am 18. September 1744 bei Ahlers eintrifft, hatte sich die Situation schon stark verändert. Elf Tage später schreiben Nottbeck und Ahlers an Neisser und Zinzendorf und legen die neue Situation dar. Ahlers gesteht in seinem Brief: „Ach liebe Hertzen, warum habe ich doch immer gantze 9 Monathe hier alleine zappeln müßen? Alleine ich will mir nicht suchen zu entschuldigen und meine blöße zu bemänteln, sondern frey gestehen, mein Hertze ist leyder seitdehm so arm, Todt und kalt wieder gerathen, als du dier es nur immer fürstellen kanst“. Nottbeck berichtet in seinem Brief von den Gründen des Sinneswandels bei Ahlers. Anscheinend hatte er in der Zwischenzeit eine Affäre mit einer katholischen Dame begonnen und war darüber hinaus noch einen Heiratsvertrag eingegangen. Ahlers ist Protestant und ersuchte einige Monate zuvor noch die Mitgliedschaft in der Brüdergemeine. Eine katholische Hochzeit würde diese Planung vereiteln. Jedoch zeigte sich der Anwärter nicht gewillt, von dem Vertrag zurückzutreten oder nur seine Treffen mit der Dame einzustellen. Im Laufe der Tage erfuhr Nottbeck, dass diese Affäre bereits im Gange war, bevor Ahlers mit den Herrnhutern in Kontakt getreten war. Nottbeck ist empört darüber, dass ein lediger und kein verheirateter Bruder von Ahlers bestellt worden war, da die Probleme vor Ort nicht von einem Ledigen zu behandeln waren. Weitere Probleme kamen hinzu. Zum einen war die Unterkunft Nottbecks nicht gesichert; er sollte eigentlich im Hause von Ahlers unterkommen, doch verwehrte dies dessen Partner, Mr. Green. In der Herberge fand Nottbeck keine Ruhe oder Privatsphäre, und sein Aufenthalt wurde zunehmend strapaziös. Green stellte sich im Weiteren noch als größeres Hindernis dar. Nach der Aussage von Ahlers hatte er seine beiden Partner um Geld betrogen und sollte aus der Buchhandlung ausgeschlossen werden.128 „Nun sind kürzl[ich] H[er]r Lenthal u Ahlers einig geworden, ihren ältesten Compagnon, der sie zu betrügen sucht, so bald wie mögl[ich] aus dem Hauß u[nd] ihr[er] Compag[nie] zu stoßen, u[nd] sie beyden haben sich schrift[lich] Verbunden ein dem andern treulich beyzustehen […]“] und schaffte es letzten Endes doch, seine Stellung zu sichern [„nachhero aber hat der Green dem Lenthal die Ohren so geschmieret, daß der auf Greens Seite trat, u[nd] den Ahl[ers], der nicht mehr von Green wißen wollte, so persuadirte, daß der sich wieder zu seiner alten Comp[agnie] verstunde, doch ist ein jeder im Mißtrauen gegen den andern, und handelt der Green immernoch versteckt.“129 Green konnte dazu überredet werden, Nottbeck für eine Weile ins Haus aufzunehmen, hatte aber auch Anteil daran, dass Nottbeck zuvor mehrere Wochen auf dem Schiff Schryvers Zuflucht suchte und dort, weil er häufig Ahlers nicht finden konnte, mit dem Schiffspersonal Umgang hatte.

128 Brief an Zinzendorf vom 13.10.1744. 129 Brief an Peistel vom 3.11.1744.

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„Bishero habe ich ihn nicht anders, als besuchen können, und habe ihn selten angetroffen, oder aber sehr wenig zu sprechen gekriget, und die Zeit ist so passirt, und wäre mir, da ich weiter nichts zu thun gehabt, sehr lang in einer publiquen Stube geworden, wenn nicht der liebe Vice Adm[iral] mich genöthigt hätte, bey ihm auf sein Schiff zu seyn, wo ich bei 3 o[der] 4 Wochen ordentl[ich] logiret, und viele Liebe genoßen habe, die ihm der liebe Heyland vergelten wolle!“130 Um seinen Aufenthalt zu finanzieren, sollte Nottbeck in Ahlers Buchhandlung arbeiten, immerhin war er Kaufmann. Es geht aus den Briefen jedoch hervor, dass dies nur teilweise gelang. Green knüpfte an den Arbeitsvertrag einige schwere Verpflichtungen, denen Ahlers schon im Voraus zugesagt hatte, Nottbeck aber nicht unterliegen wollte. „Ich zog also Mittwoch als den 11ten [Novem]br[is] in ihrem Hauße ein, mit einem gebeugten u[nd] dem Lamm ergebenen Hertzen. Ahlers sagte mir die Condition: weil Green mir nicht anders erlauben wolle hinein zu ziehen, als daß Ahlers seinen leiblichen Bruder in Hamburg gleich contramandiren solle, nicht hinüber auf ihren contoir zu kommen, und Ahlers es auch wie wohl mit vielen Schmertzen es versprechen müßen, weil Er die Hand des Heylands hierunter gemerket. So verlangten seine Compagnons, daß ich mich wie gewöhnlich verschreiben solle, ihnen dreyen in allem zu dienen und zu gehorsamen, was sie mir befehlen würden, und vorlegten zu thun, und alodenn[sic] solle ich meine oredentl. Salarium genießen; und den sagte Ahlers, das wäre die eintzige condition, darauf ich bey ihm bleiben könne, wiedrigenfalls, wenn mir das nicht gefiehle, könne ich lieber gleich mit dem Vice Adm[iral] wieder gehen, der mir auch ohnedem offt sein Schiff und Dienste erboten, wieder mit ihm zu gehen. Das war mir nun was hartes von Ahlers zu hören. Ich sagte ihm darauf, Er mögte sich besinnen, auf welche condition er mich verlanget, ich wäre von der Gem[eine] nur vor ihm alleine geschicket, und wäre willig ihm zu assistiren, und aufs contoir zu helfen, worinn ich nur könne; keinem anderen aber wolle ich mich nicht zum Knecht verschreiben, noch ihrer absurden Befehle mich unterwerfen. Und da ich frug, warum Er ohne meinen Vorwißen diese condition eingegangen, und nicht vielmehr die, welche ich ihm am Sonnabend proponirt, sagte Er: Er könne keinen Bedienten vor sich allein halten aufs contoir, und Green würde nur darüber in Verdacht kommen.“131 Das Unternehmen scheiterte zuletzt an Ahlers Eigensinnigkeit und musste abgebrochen werden. Die Differenzen zwischen Nottbeck, Ahlers und Green waren wohl unüberwindbar. Nottbeck hatte auf dieser Mission die Möglichkeit, schon einige Erfahrungen zu sammeln und zu lernen. Für Nottbeck kam es gelegen, dass sich Vizeadmiral Schryver eine Zeitlang gleichzeitig mit ihm in Lissabon aufhielt und die beiden sich häufig trafen, um mit einander zu reden. Diese Gespräche können durchaus den Vizeadmiral darin bestärkt haben, das Empfehlungsschreiben für Nottbeck auszustellen, mit dem er in Algier vorstellig werden konnte. Darüber hinaus lernte er einiges über die Eigenheiten von Menschen, die zu einem Glauben nach herrnhutischem Verständnis finden sollten. Ihre „Verstrickungen mit der Welt“ können so tief sein, dass sie schädlich für den Verstrickten und den Missionar werden können: „bey 130 Brief an Dober vom 13.11.1744. 131 Ebd.

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ihren Verstrikungen mit der Welt ist es nicht nur unnöthig dergleichen Gesellschaft um sich zu haben, sondern es ist auch schädl[ich] und Nottbeck hat sich schon zu viel darüber eingelaßen“132 – so Zinzendorf in seinem Brief vom 15.11.1744 an Nottbeck und Ahlers. In diesem Brief drückt er seinen Ärger über Ahlers aus und fordert ihn auf, Nottbeck zurückzuschicken. Des Weiteren stellt er eine kurze Liste von Regeln auf, die Nottbeck in seiner Situation hätte beachten sollen. Diese Liste scheint durchaus einigen Einfluss auf dessen Verhalten in Algier gehabt zu haben. Nottbeck solle sich erstens in einem privaten Haus einquartieren, zweitens seinem Partner stets dienlich und hilfreich sein, drittens nur, wenn es förderlich sei, Bande133 mit dem Partner halten, viertens die eigene Lebensgestaltung an die des Partners anpassen und ihm ein steter, tröstlicher Gesprächspartner zu sein. Weitere Punkte der Liste beziehen sich zu stark auf die Situation Nottbecks in Lissabon und brauchen deshalb hier nicht aufgeführt zu werden. Den Ratschlag, ein eigenes Haus zu mieten, hat Nottbeck in Algier umgesetzt. In seinen Tagebüchern gewinnt man den Eindruck, er bemühe sich sehr stark um jeden einzelnen seiner Schützlinge. Er lebte in erbärmlichen Umständen, wie Penz, ein durchreisender Pfarrer aus Dänemark, bestätigte,134 und hatte stets ein offenes Ohr für die Sorgen der Sklaven. Die Zeit in Lissabon kann ihn noch in anderer Weise auf Algier vorbereitet haben. Denn er beschreibt die Bewohner Lissabons in seinem ersten Brief so: „In Europa ist wohl kein schlechter Volk, als wie diese: Das Stehlen, Morden, Huren und Sodomiterey ist unter der Nation grand mode, und gar nicht unanständig. Die Auswärtigen, derer sehr viele sind, leben wie das Vieh in den Tag hinein, und machen aus dem Gottesdienst so viel, als wie die Barbaren und Hottentotten. Sowohl unter Einheimische als auswärtige, was nicht geistlich ist, das handelt, und zwar wie die Juden, ohne Ehre und Gewißen, und so gehet der Verdienst auch wieder hin. Der Pracht von Kleidern, und das unmäßige Wohlleben machet daß alles in Confusion und Unordnung lieget wo man nur hinkomt“.135 Eine solch harsche Ausdrucksweise findet er für Algier nicht. Der Kulturschock wird den Missionar nicht so unvorbereitet getroffen haben, da er bereits fremdartige Gebräuche, Kulturen und Menschen hatte kennenlernen können. 4.3 Nottbecks innere religiöse Einstellung Nach drei Jahren des engen Kontakts mit der Brüdergemeine wird Nottbeck 1743 zur Akoluthie in der Gemeine angenommen. Im gleichen Jahr schreibt er ein Lied, dessen genaues Entstehungsdatum nicht mehr nachvollziehbar ist.136 Jedoch lassen einige Hinweise im Text den 132 Zinzendorf in seinem Brief vom 15.11.1744. 133 „Banden – (oder Gesellschaften) kleine, nach Geschlechtern getrennte Gruppen, in denen vertraulich über persönliche Glaubensangelegenheiten gesprochen wurde. Sie entstanden am 9. Juli 1727 in Herrnhut und bestanden auch nach der Bildung der Chöre innerhalb der Chöre weiter.“ Peuker, Wörterbuch, 14. 134 Synodal-Gemeintag, 2. Teil, gehalten am 31. May 1747 in Herrnhaag, in: Beylagen zum GemeinDiario 1747, GN.A.2, 1162f. 135 Brief an Zinzendorf am 29.9.1744. 136 Erich Beyreuther/Gerhard Meyer/Gudrun Meyer-Hickel (Hg.), Nikolaus Ludwig von Zinzendorf. Materialien und Dokumente, Reihe 4, Band III: Herrnhuter Gesangbuch. Christliches Gesang-Buch

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Schluss zu, dass Nottbeck dieses Lied im Zusammenhang mit seiner Annahme verfasst hat und darin etwas von seinem religiösen Selbstbild und seiner persönlichen Theologie zur Sprache kommt. Das Lied selbst umfasst 13 Strophen, unter denen die siebte als Gelenk und Wendepunkt dient. Die ersten sechs Strophen beschreiben die Sündigkeit des Autors und die Schmerzen, die ihm aus seinem Kleinglauben erwachsen. Er kann die Brüder und auch den Herrn Jesus Christus nicht genug lieben. Er klagt über Zweifel an seinem eigenen Glauben und der Flüchtigkeit seiner religiösen Erfahrungen. In der fünften Strophe postuliert er, hätte er den Glauben erst einmal recht erfahren, dann könne er an Seele und Geist gesunden wie auch in der Wunde Jesu leben. Die siebte Strophe verändert den Ton des Liedes, indem sie sich nicht mehr auf die vergangenen Erfahrungen beschränkt, sondern zugibt, dass es in der Gegenwart zu Momenten von Sicherheit kommt, auch wenn diese wiederum schnell vergehen. Ab der achten Strophe wird die Klage von einer Bitte oder einem Flehen abgelöst. Das „Lämmlein“ soll aktiv werden, denn gemäß herrnhutischer Ansicht kann der Glaube einzig und allein aus der Gnade des Lammes entspringen. Der Mensch selbst ist unfähig, seinen eigenen Glauben zu beeinflussen. Die Lebensförderlichkeit dieser Gnade kommt in der neunten Strophe zum Ausdruck, und daraus resultiert die in der zehnten Strophe angesprochene Aktivität Nottbecks. Durch die Befähigung und Bekräftigung des Lammes wäre er in der Lage, „die Brüder zu lieben“, also einer unter allen liebenden Brüdern zu werden. Dazu enthält diese Strophe einen entscheidenden Vers, der die Annahme begründet, dass dieses Lied im Blick auf den kurz bevorstehenden Akoluthenstatus verfasst wurde. Die Zeile endet mit: „und zum inn- und äussern recht geschiklich.“ „Geschicklich sein“ meint nützlich sein. Das angesprochene Innere ist die Gemeine, in der er seine Pflicht erfüllen möchte. Das Äußere hingegen muss außerhalb der Gemeine liegen und kann sehr gut die Mission, den Außendienst bezeichnen. Strophe elf und zwölf sind weitere Bitten um Zuwendung. Das Lied schließt mit der Bitte an den Heiland, den Autor ganz und gar herzustellen und eine Heilung an Geist und Seele herbeizuführen. Diese Heilung nimmt sogar körperliche Dimensionen an. Schlüsselbegriffe wie die „Wunden des Herrn“, das „Lämmlein“, die „Seitenhöhle“ wie auch die Vorstellung, dass der Glaube „im Herzen“ ruht, und die Hoffnung auf die Zuwendung des Herrn zum Sänger machen deutlich, dass Nottbeck sich das herrnhutische Denken zueigen gemacht hat. Er verfügt über die Fähigkeit, sich in diesem Vokabular auszudrücken und verwendet es auch später in seinen Briefen und Tagebüchern reichlich. Das Lied dient zunächst einmal dazu, seine Unwürdigkeit und Bescheidenheit zu demonstrieren. Ebenso heilandsorientiert wie die Frömmigkeit war auch die Mission der Herrnhuter ausgerichtet. Zinzendorf verwarf einen rationalen, verkopften Zugang zu der Materie. Hatte man bisher stets den „Heiden“ zuerst Gott den Vater und dann erst den Sohn versucht näherzubringen, so kürzte Zinzendorf den Vater nahezu ganz heraus und kann dafür auch biblische Argumente aufbieten: „Laßt euch nicht durch die Vernunft blenden, als müßten die Leute in der Ordnung erst an Gott glauben lernen, darnach an Jesum. Es ist falsch, denn daß ein Gott sei, ist ihnen offenbar. Vom Sohn müssen sie unterrichtet werden. Es ist in keinem anderen der Evangelischen Brüder-Gemeinen von 1735, Reprint der 3., durchaus rev. Aufl. von 1741 einschließlich der Anhänge I–XII (mit Zugabe) von 1741–1748, Hildesheim 1981, Nr. 1529.

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Heil, es ist auch kein anderer Name den Menschen gegeben. Paulus wußte nichts unter den Heiden ohne allein Jesum Christ und zwar gehangen und gekreuzigt. Es ist den Gelehrten, Weisen und allen Ungläubigen eine Torheit, aber es ist doch Gottes Kraft und Weisheit im höchsten Grad […].137 Auch an diesem Beispiel kann man eine deutliche Abkehr von einem Vernunftglauben bemerken. Der Glaube muss erfahrbar sein, ein kognitives Bewusstsein des Heils reicht noch nicht aus. Das merkt man sehr deutlich bei den Einträgen im Tagebuch Nottbecks. Immer wieder spricht er mit seinen Leuten „im Segen“, und häufig scheint es Verständnis für die Botschaft des Missionars zu geben, aber die Sklaven blieben dennoch „sehr leichtsinnig u[nd] kalt gegens Lamm“138. Das Ziel Nottbecks sind Christen, die immer wieder das Wirken des Heilands an sich selbst spüren. Sie sollen sich aus Freude, Demut und Einfältigkeit von der Welt abkehren und „ein Lohn des Lammes werden“139. Dass sich gerade daraus Probleme ergeben mussten, zeigte sich in den Schwierigkeiten, mit denen Nottbeck zu kämpfen hatte.140 Bevor Nottbeck aufbrach, konnte man bereits etwas über ein Jahrzehnt Erfahrungen mit der Mission sammeln und bekam durch die zahlreichen Briefe, die an die Gemeine in Herrnhut geschickt wurden, ein Bild davon, welche Methoden tatsächlich erfolgreich waren und welche Faktoren das Wirken der Missionare behinderten. 1738 verfasste Zinzendorf einen kurzen Katalog „Instruktionen an alle Heidenboten von 1738“ mit Ermahnungen und Ratschlägen, die von Brüdern im Missionsdienst zu beachten waren.141 Dieser Katalog erhebt keinen Anspruch auf Vollständigkeit oder Allgemeingültigkeit, denn jeder Missionar sah sich je nach seinem Auftragsgebiet mit anderen Herausforderungen konfrontiert. In diesen Instruktionen findet sich eine Anweisung zur Öffentlichkeit und der Einzelmission: „4) Fangt nicht mit öffentlichen Predigten an, sondern mit Zuspruch bei einzelnen Seelen, die es wert sind, die euch der Heiland anweisen und ihr fühlen werdet. Wenn’s aber von euch begehrt worden, so bezeugt jedermann das Evangelium auch offenbar.“142 Für Nottbeck wäre diese Anweisung möglicherweise anzupassen gewesen sein, zumindest hielt er sie nicht ein. In seiner besonderen Situation hatte er bereits viele potentielle Zuhörer, bei denen er grundsätzliche christliche Begriffe wie Gottvater und Sohn voraussetzen durfte und die sehr wohl auch christliche Gottesdienste kannten. Die Annahme, dass die Männer den nach Nottbeck richtigen Inhalt dieser Begriffe nicht verstanden, war der Auslöser für das gesamte Projekt. Dass Nottbeck direkt mit Predigen begonnen hat, zeigt, dass es sich hierbei nicht um eine Erstlingsbekehrung im Speziellen handelte, sondern vielmehr um die Erweckung der Protestanten zu einem neuen Verständnis ihrer Religion und zu einer seelischen Befreiung, da eine körperliche Freiheit nur unter ganz besonderen Umständen möglich war. Es stellt sich die Frage, wie sich ein Herrnhuter in den Jahren von 1730 bis 1750 gegenüber der Sklaverei als gesellschaftliches System zu verhalten hatte und wie dieses Verhalten in der konkreten Situation aussah. Eine theologische Aufbereitung der Frage hat noch nicht stattgefunden, und es dauerte noch bis in die Gegenwart, bis dieses Thema ernsthaft aufge137 138 139 140 141 142

Zinzendorf, Instruktion für die zu den Samojeden gesandten Brüder 1736, nach Bintz, Texte, 40. Tagebuch Nottbeck 7.4.1746. Tagebuch Nottbeck 23.3.1746. Zu den Schwierigkeiten und Hindernissen vgl. Kap. 6.3. Bintz, Texte, 50. A.a.O., 41.

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griffen wurde. Man konnte sich nicht offen gegen die Sklaverei positionieren, da man ansonsten wie im Falle der Westindischen Inseln die Unterstützung der Plantagenbesitzer143 und europäischen Kaufleute verlor, die dort tätig waren. Um mit den Sklaven arbeiten zu können, mussten die Herrnhuter mit den Sklavenhaltern kooperieren, ja, sie wurden selber zu Plantagenbesitzern, die freilich in dem Ruf standen, ungebührliche Nähe zu den Sklaven zu haben. Es fand sogar eine Hochzeit zwischen einem Missionar und einer freigelassenen Sklavin statt. Das Gebot der Nächstenliebe, aber mehr noch die Vorstellung der Gleichheit aller Menschen (vor Gott) sollte es unmöglich erscheinen lassen, zumindest aus heutiger Perspektive, Sklaverei mit dem Christentum zu vereinbaren. Nottbeck unterlag in seiner Zeit jedoch spezifischen gesellschaftlichen Bedingungen, die er als gegeben und wenig hinterfragt kennen lernte. So musste er mit dem System kooperieren, um zumindest die Möglichkeit einer inneren Freiheit den Unbekehrten zu eröffnen. Wie äußerte sich die Leitung der Gemeine zu dieser Problematik? „Zinzendorf selbst offenbarte während des Besuchs auf St. Thomas sein konservatives Weltbild, das selbstverständlich an den gesellschaftlichen Übereinkünften und Hierarchien seiner Zeit festhielt. Er bestätigte die herrschende Ordnung der Plantagensklaverei und verlangte den Gehorsam der Sklaven gegenüber den Pflanzern: ,denn der Herr hat alles selbst gemacht, König, Herr, Knecht, und Sklave. Ein jeder muss bleiben in der Ordnung, da Gott ihn eingesetzt hat, und mit Seinem weisen Rat zufrieden sein.‘“144

5. Nottbecks Tätigkeit und Leistung 5.1 Verlaufsplan über die Ereignisse und Mission in Algier 1745–1748145 Nach einer achttägigen Seereise von Marseille aus erreichte Nottbeck am 23. Mai 1745 Algier. Er nahm Kontakt zu den Konsuln auf und fand dort die gesuchte Unterstützung. Er lebte bis zum 12. Juni im Haus des Konsuls Logie und zog anschließend in ein eigenes, in dem sich auch gut Versammlungen abhalten ließen. Bis zu diesem Zeitpunkt hatte er noch keinen Kontakt mit den Sklaven.146 Am gleichen Tag hielt er in der Baigne die erste Predigt.147 Zunächst verlief das Projekt gut. Nottbeck fand Anklang bei Engländern, Hamburgern, Schweizern und sogar „Katholiken“. Mit voranschreitender Zeit wurden die Hamburger aber ungeduldig und begannen den Missionar zu sabotieren und zu beschimpfen.148 Er predige nur den „Sohn“ und anders als sie es aus Hamburg kennen, so lauteten die Begründungen für ihre Schmähungen.149 Spätestens ab dem 27.1.1746 wurde es gelegentlich unmöglich, in der Baigne zu predigen. Parallel zu seiner Tätigkeit in dem Sklavenquartier fanden Versammlungen und Sing143 Claus Füllberg-Stolberg, Die Herrnhuter Mission, Sklaverei und Sklavenemanzipation in der Karibik, in: Elisabeth Herrmann-Otto u.a. (Hg.), Sklaverei und Zwangsarbeit zwischen Akzeptanz und Widerstand, Hildesheim-Zürich-New York 2011, 255. 144 Ebd. 145 Die in diesem Kapitel angegebenen Informationen stammen, so nicht anders angegeben, aus den Tagebüchern Nottbecks und sind an den jeweils im Text angegebenen Eintragsdaten zu entnehmen. 146 Zu der Anfangsphase und den zugrunde liegenden Briefen vgl. Kapitel 5.3 „Die Ankunft und die ersten Monate in Algier“. 147 Vgl. Brief an von Watteville vom 23.7.1745. 148 Vgl. Kapitel 6.2 „Widerstand der Sklaven“. 149 Vgl. Tagebuch Nottbeck 27.1.1746.

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stunden in seinem Haus statt, und er hielt Bande mit ausgewählten Sklaven. Da er keine Anstellung fand, hatte Nottbeck kein Einkommen und musste sich häufiger Geld von den Konsuln Paravicini und Logie leihen.150 Am 2.2.1746 wurde Nottbeck nachts in seinem Haus überfallen und schwebte in Lebensgefahr.151 Er wollte ausziehen, bekam aber stattdessen ab dem 5.2. als Gesellschaft den Sklaven Adam Drews ins Haus. Am 15.2. gab es Probleme mit Drews und Schutzgelderpressung durch den Nachbarn. Am Tag darauf zog er aus dem Haus aus und suchte sich ein Quartier bei Logie. Mit Hilfe des Konsuls mietete Nottbeck sich am 20.2. in ein neues Haus ein. Nottbeck entschloss sich am 20.5.1746, eine deutsch-englische Gemeinschaft zu gründen und erwähnte drei Tage später das erste Mal den englischen Sklaven Rogers.152 Wegen unerwünschter Gespräche mit Katholiken wurde Nottbeck ab dem 27.6. der Zugang zum Hospital, in dem diese untergebracht waren, vom Pater Administrator verboten.153 Seine Lage verbesserte sich etwas, als im Umfeld der Friedensschließung zwischen Dänemark und Algier (5.8.1746) der dänische Schiffsprediger Penz am 9.8. Kontakt mit Nottbeck aufnahm und ihn unterstützte.154 Doch schon in den folgenden Tagen fühlte sich Nottbeck sehr niedergeschlagen und wollte abreisen. Stattdessen begann er mit dem Sklaven Clarck und zwei weiteren Engländern am 17.8. eine Bande, in der man sich alle acht Tage regelmäßig treffen wollte. Bis zum 12.2.1747 gab es keine größeren Einschnitte in der Arbeit des Missionars. Die Situation in der Baigne entspannte sich etwas, da die meisten problematischen Hamburger vom Dey an Privatpersonen verkauft worden waren.155 Dennoch schwankte die Anzahl von Nottbecks Zuhörern immer noch stark. Eine Nachricht, dass er Verstärkung bekommen könnte, ließ ihn optimistischer werden.156 Die Singstunden mit den englischen Sklaven fanden mit einiger Regelmäßigkeit statt, und Nottbeck machte auch Hausbesuche. Bei einem dieser Hausbesuche, ebenfalls am 12.2., besuchte Nottbeck einen Sklaven im Haus eines Mannes, der ein einflussreicher Jude und gleichzeitig der Vermieter von Nottbecks Haus war. Es kam zu einem Streit, und Nottbeck musste zuerst das Haus des Mannes und dann am folgenden Tag das eigene verlassen.157 Er wurde von nun an mit Gewalt von den jüdischen Häusern ferngehalten und wohnte wieder bei Logie.158 Ab dem 12.4. befand sich Nottbeck in häufiger Gesellschaft des schwedischen Kapitäns Fonthin, den er schon bald „Bruder“ nannte. Seit einem nicht genauer beschriebenen Zeitpunkt schlief er auch bei ihm. In Erwartung zweier weiterer Herrnhuter, Gottlieb Haberecht und sein leiblicher Bruder Christian Nottbeck, stellte Nottbeck die Arbeit mit den deutschen Sklaven am 20.4. ein und konzentrierte sich nun nur noch auf die weniger widerspenstigen Engländer. Man fand am 26.5. ein neues Quartier, in dessen 150 „An äußerer Arbeit weiß mir nichts vorzunehmen, als daß mit Schreiben und Lesen m[eine] Zeit passiren werde.“ Brief an Zinzendorf vom 2./4.06.1745. Mit dem Tod seiner Mutter fiel ihm Anfang 1746 eine kleine Erbschaft zu; ob er von dieser Leben konnte ist ungewiss. (UA, R.21.B.125.c). Zu Nottbeck und den Konsuln vgl. hier Kap. 2.2, 5.3 und 5.5. 151 Zum Überfall s. Kap. 5.5. 152 Zu Rogers s. Kap. 5.6. 153 Zu den Konflikten mit den katholischen Padres vgl. Kap. 6.3. 154 Zu Penz ebd. 155 Brief an Zinzendorf vom 15.1.1747. 156 Ebd. 157 Der Streit beruhte auf dem Vorwurf, dass Nottbeck sich unerlaubter Weise in dem Haus aufhielte, weil sein Gesprächspartner einer anderen Konfession angehöre. 158 Vgl. Kap. 6.4.

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Mietvertrag eingesetzt wurde, dass niemand Nottbeck daraus vertreiben dürfe. Er zog dennoch erst am 13.6. dort ein, und das auch erst nach einem Streit mit dem Hauspersonal von Logie.159 Die lang ersehnten Brüder trafen am 28.6.1747 in Algier ein. Doch statt Freude gab es einigen Streit. 160 Nottbeck stellte nahezu alle Missionstätigkeiten ein, und die drei Männer gründeten eine Wohngemeinschaft, aus der Haberecht schnell wieder austrat und zu Logie zog, bei dem er auch arbeitete. Christian Nottbeck reiste wegen des Streites schon am 23.8. wieder ab. Im gleichen Zeitraum weigerte sich Logie, Nottbeck weiteres Geld zu leihen, und dieser musste einen anderen Geldgeber suchen. Es folgte eine Phase der Inaktivität bis Mitte Dezember. Nottbeck redete nur vereinzelt mit Sklaven und hatte mit Geldnöten zu kämpfen. Am 12.1.1748 kamen nach sechs Monaten wieder Hamburger Sklaven zu Nottbecks Predigt. Er schien die Arbeit wieder aufzunehmen. Mit dem Tod des Deys am 3.2. stand in Algier ein Regierungswechsel an. Um nicht alleine zu sein, nahm Nottbeck zum 6.3. den Sklaven Vogel in sein Haus als Diener auf. Dennoch konnte dies die Schwermut nicht kompensieren, die er empfand, als er am 31.3. einen Brief an die Gemeine schrieb.161 Ab dem 5.4. war Nottbeck wieder der einzige Herrnhuter in Algier, da Haberecht die Stadt wieder in Richtung Europa verließ. Gegen Ende April und im Mai erlebte Nottbeck noch einmal eine Phase der Motivation, dennoch blieben seine Tagebucheinträge kurz. Zwischen den Einträgen sind oftmals Abstände von Wochen. Es verwundert nicht, dass er am 8.7. erwog, einen weiteren Brief mit Bitte um Ablösung zu schreiben. Am gleichen Tag nahm er auch seit langem wieder Kontakt zu Logie auf.162 Zum 24.7. findet sich im Tagebuch eine ungewöhnliche Form der Reflektion. Die Engländer verhielten sich schlecht, und Nottbeck suchte die Schuld bei sich selbst. Zwei Tage später versöhnte er sich wieder mit den Konsuln. Eine für ihn erfreuliche Nachricht wurde am 17.8. notiert: Der Heilige Geist spreche nun selbst mit den englischen Sklaven, Nottbeck sei kaum noch nötig. Aber die englische Singstunde verlief einige Zeit später nicht mehr nach Nottbecks Vorstellungen,163 und deshalb wurden am 3.9. die Singstunden beendet und stattdessen Banden gehalten. Schließlich kam es am 10.9. zur letzten von einer Reihe von Mordandrohungen durch einen „Mohren“ vor dem Tor gegen Nottbeck.164 Am 11.9. machte er den letzten Eintrag zu Algier im Tagebuch. Über die Zeit bis zum 20.10.1748, dem Datum seiner Abreise aus Algier, schweigt das Diarium.165 5.3 Die Ankunft und die ersten Monate in Algier Die Textgrundlage der folgenden Kapitel sind die von Nottbeck verfassten Tagebücher und Briefe. Das Tagebuch aus seiner Eingewöhnungsphase, dem Jahr 1745, ist nicht mehr auffindbar, dennoch kann man sich dank einiger ausführlicher Briefe ein Bild dieses Abschnitts in der Tätigkeit Nottbecks machen. Die Frequenz der Briefe selbst ist für Herrnhuter Verhält-

159 160 161 162 163 164 165

Der Grund für den Streit geht aus den Quellen nicht hervor. Dazu Kap. 6.1 „Christian Nottbeck, Gottlieb Haberecht und der Herbst 1747“. Zu der emotionalen Verfassung Nottbecks vgl. Kap. 6.5 „Das Ende der Mission“. Der Grund für die Differenzen Nottbecks und Logies wird in den Quellen nicht genannt. Mehr Details gibt Nottbeck nicht an. Die Quellen schweigen sich über den Grund der Drohungen aus. Zum Ende der Mission in Algier vgl. Kap. 6.5.

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nisse eher spärlich, und die Unitätsleitung drückt auch ihr Missfallen darüber aus.166 Die einzelnen Briefe ähneln sich häufig sehr stark, wenn sie im engen zeitlichen Abstand zueinander geschrieben wurden. Sie fassen einige Ereignisse der Zeit seit den letzten Briefen zusammen, lassen aber auch vieles aus. Von den Rückfällen der Missionierten kann man beispielsweise nichts in den Briefen lesen. Auch wenn der Ton der Briefe einiges davon suggeriert, erfährt man selten etwas über die Gefühlswelt Nottbecks abseits seiner frommen Haltung. So beteuert er häufig seine tiefe Demut und Niedrigkeit vor dem Herrn. Im Gegensatz dazu teilt er seine Sorgen genauso wenig mit wie dass er „seinen Plan“ für die Mission erläutert. Die Tagebücher sind in dieser Hinsicht ergiebiger. Sie berichten, teilweise erzählend, teilweise fast schon stichpunktartig, von den Ereignissen der Tage, sofern sie für das religiöse Wirken Nottbecks oder seine Situation in Algier relevant sind. Es kommt durchaus vor, dass mehrere Tage hintereinander nichts eingetragen wird. Man kann jedoch, da Nottbeck seine Besuche(r) häufig mit Namen nennt, gut nachvollziehen, wie sich bestimmte Personen entwickeln. Dabei beschreibt er manchmal nur das Symptom einer Entwicklung, zum Beispiel, dass einer seiner regelmäßigen Besucher lange fortblieb und nun ganz „weltlich“ sei. Den Grund gibt er nicht zwingend an. Wenn er es dann einmal tut, so ist dies wesentlich aufschlussreicher und bestätigt den einen oder anderen Bericht wie von Kühn, Leroy oder Gottschling. In seinem Schreiben an Zinzendorf vom 2. oder 4. Juni 1745 berichtet Nottbeck folgendes: Er erreicht mittels der Unterstützung einiger Engländer und Deutscher im Hafen und eines Empfehlungsschreibens von Herrn Till aus Lissabon den Konsul Paravicini am Tag nach seiner Ankunft in Algier. Dieser bietet Nottbeck an, bis er eine andere Bleibe und vom Dey ein Schutzschreiben hat, bei ihm zu wohnen und auch an seiner Tafel zu speisen. Dieses Angebot nimmt Nottbeck an und wird am folgenden Tag mit dem Konsul Logie bekannt gemacht. Dieser regelt die Fragen des Schutzbriefes und der Erlaubnis, zu den Sklaven in die Baigne zu dürfen und später auch ein Haus mieten zu können. Nottbeck und Logie besuchen zusammen den Dey zu seiner offiziellen Vorstellung. In der folgenden Zeit begegnet der Missionar auch den anderen europäischen Konsuln, u.a. dem englischen, der ihm seine Dienste anbietet. Die Frage der Unterkunft bleibt eine Weile ungeklärt, denn auch wenn Paravicini Nottbeck als Hausprediger übernehmen wollte, konnte er es nicht tun, da er bereits einen hatte. Logie erwirkte die Erlaubnis, dass Nottbeck in den Baignes unterkommen könne, doch Nottbeck befragte dazu das Los, und dieses entschied, dass er in einem eigenen Haus unterkommen solle. Sehr früh zeichnete sich auch schon ab, dass es zwischen dem holländischen Prediger und Nottbeck Spannungen geben würde, da der Holländer seine kirchlichen Pflichten arg vernachlässigte und der Neuankömmling Konkurrenz bedeutete.167 Nottbeck befürchtete zwischenzeitlich, dass die sich zwischen ihnen entwickelnde Rivalität zu seinem Nachteil auswirken würde:

166 Brief von Zinzendorf an Nottbeck vom 30.6.1746. 167 „Der Holl[ändische] Domine stehet mit dem Holl[ändischen] Consul schon seit 1 Jahr in Unfreundschaft, u[nd] weil er in 1 Jahr weder geprediget, noch sich d[er] Sclaven sonst angenommen, hat er gebeten u[nd] erwartet s[eine] dimission. Der Engl[ische] Consul erwartet einen Pfarrer. Der Holl[ändische] Pfarrer ist schon 2 Jahren von den Staaten hier hat ab[er] keinen einz[ig]en Freund, weil er keinen das Abendmahl bishero hat geben wollen, u[n] kommt fast nicht von s[eine]r Stube.“ Brief an Zinzendorf vom 2./4.6.1745.

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„Der Holl[ändische] Domine hat getrachtet, beym Holl[ändischen] Consul mir das Predigen inhibiren zu laßen, er hat sich aber aus Furcht eines repulses nicht gewaget. Er ist sehr verächtl[ich] weil er gar nicht prediget, u[nd] nicht von seiner Stube kommt, u[nd] auch wegen seines großen Geizes, und wenn das nicht wäre, so würde er mehr Gelegenheit suchen, mir zu hindern.“168 Dies kann einer der Gründe dafür sein, dass Nottbeck auch auf öffentliche Veranstaltungen verzichten und stattdessen in der Baigne aktiv werden und Gäste zu sich in das Haus einladen wollte. Diesen Vorsatz hielt er jedoch nicht ein. Von Paravicini erhält Nottbeck auch die Tagebücher und Briefe Richters wie auch den Hinweis, dass Richter ihm, Paravicini, eine nicht unbeträchtliche Summe Geldes schuldig geblieben sei. In einem Brief an Leonhard Dober sind einige dieser Inhalte breiter ausgeführt, und die Geldangelegenheiten werden angesprochen. Zum Zeitpunkt dieses Briefes hatte Logie bereits ein Haus für Nottbeck gefunden und, da dem Herrnhuter das Geld fehlte und die Unterkunft für ein Jahr im Voraus bezahlt werden musste, die nötige Miete ohne Rückversicherungen ausgelegt. Auch für einige Möbel sorgten Logie und Paravicini. Das Geld sollte über Dober und einen holländischen Mittelsmann namens Heezel an Paravicini überwiesen werden. Nottbeck benötigte weiteres Geld, um einen Hausboten einzustellen. Die Formulierung: „Ich muß einen Knecht halten mit kost u[nd] Kleider, und seinen Herrn monatl[ich] zahlen“ legt nahe, dass er sich hierzu einen Sklaven ins Haus holen wollte und dessen Herrn dafür bezahlen musste. Deshalb bat er Dober um 50 holländische Gulden, die ihren Weg zu Paravicini finden sollten. Die Verwandtschaft der beiden Konsuln – Paravicinis war der Schwiegersohn von Logie – erlaubte es, dass Geld für beide an einen gezahlt wurde. Über seine Empfindungen gegenüber der Stadt oder den dort lebenden Menschen sagte er kaum etwas. Dies kann daran liegen, dass er möglicherweise voraussetzte, dass man in der Gemeine bereits ausreichend über Algier informiert sei. Sein ihn später besuchender Bruder Christian Nottbeck gibt in seinem Reisediarium deutlich mehr Informationen preis.169 In dem zuvor genannten Brief an Zinzendorf gibt Carl Nottbeck seine ersten Eindrücke während der ersten Schritte im algerischen Hafen so wieder: „Die Beschreibung des Lammes machte mich aufmerksam. Ich wurde mit einmal eine große Menge an Menschen von Türken u[nd] Sclaven gewahr, die mich ansahen, ich dachte, lieber Heyl[land] hier bin ich nun, und kenne keinen Menschen“, und in der Erzählung an gleicher Stelle äußert er sich gegenüber Dober: „D[en] 23ten langten wir nun in Algier an, wo alsbald ein par Engelländer, (als wenn sie geruffen; weil ich mir nicht zu rathen wuste, wie ich einen Bekanten antreffen sollte) kamen“. Nottbecks Gefühl, in dieser fremden Umgebung unter lauter Unbekannten zu sein, scheint an dieser Stelle durch, wird aber noch selten direkt zur Sprache gebracht. Dies könnte darauf hinweisen, dass er versucht, die Fremdheit seiner neuen Umgebung zu überspielen oder fernzuhalten. Deutlicher wird dieses Gefühl jedoch, wenn er sich darüber beklagt, dass er niemanden hat, dem er sich anvertrauen kann.170 Abgesehen von dem Dey171 oder dem Sklavenwärter172 wird nur sehr selten auf die nichtchristlichen Einwohner Algiers eingegangen. Le168 169 170 171 172

Brief an Dober vom 11.6.1745. Vgl. Tagebuch Christian Nottbeck 2.7.1747. „Ich habe jetzo also keinen, mit dem vertraut sprechen kan vom Lamme“, Tagebuch 15.9.1747. Z.B. in den Tagebüchern: 3.2.1748 und 18.3.1748. Vgl. Tagebuch Nottbeck 24.1.1746.

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diglich die Juden, bei denen er Hausbesuche macht173 und sich einmietet oder einmal die Synagoge besuchte174, stellen eine Ausnahme dar. Die einzig für Nottbeck relevante und unbekannte Personengruppe in Algier scheinen die Sklaven zu sein. So hält er, bevor er noch Algier erreicht, fest: „von hier auf Algier unter meine liebe Sclaven gehen, zu deßen Dienst ich mich ganz aufopfern u[nd] hingeben will.“175 Die einzige Beschreibung Algiers und seiner Bewohner fällt sehr knapp aus: „Die Stadt, welche eine kleine ½ Stunde im Umkreiß hat, soll bey die 300 000 Einwohner haben, worunter sehr viele Juden sind. Die Gaßen sind so enge, d[a]ß in vielen nicht mehr als eine Person zugleich gehen kan. Ich habe noch keinen von meinen Leuten gesprochen, denn ich habe mich immer still gehalten, so daß es noch niemand anders weiß, als obig erwehnte Personen.“176 Zumindest in seinen Texten blendet Nottbeck die fremdartige Situation, in der er sich befindet, aus. Seine Konzentration auf sein christliches Umfeld, wie z.B. die Konsuln, legt nahe, dass er das muslimische Umfeld mied. 5.4 Los und Predigt – Nottbecks gelebte Theologie 5.4.1 Das Los Als Mitglied der erneuerten Brüder-Unität kam Nottbeck mit einem spezifischen theologischen Blickwinkel nach Algier. Er lebte in einem stark christozentrischen Weltbild. Das auffällige Vokabular seiner Briefe und Tagebucheinträge zeigt sehr deutlich, wie verinnerlicht er diese Denkweisen hatte. Bei wichtigen Entscheidungen befragte er darüber hinaus das Los. Eine Praxis, die er wahrscheinlich in der Brüder-Unität kennengelernt hatte. Dabei ist dies keine Methode der Entscheidungsfindung, die den Missionar auf billigem Wege von dem Treffen der Entscheidung entbindet, sondern geschah aus tiefer Devotion zum „Heyland“, der in diesem Ritual zu einem Sachverhalt befragt wurde. Das lässt sich sehr gut daran ablesen, dass Nottbeck nicht einfach nur das Losen durchführte, sondern zuvor in einem Los den Heiland befragte, ob er zu diesem Sachverhalt überhaupt losen dürfe. So zum Beispiel: „und weil ich Freudigkeit dazu fühlte, so frug erst, ob ich fragen dürfe?“177, oder: „daß wenn er178 nicht zur Gem. gehen könne, er partout zum Cons. L gehen wole, den Heyl. Darum zu fragen: Erstlich ob ich fragen dürfe? In sr. presance, od. Abwesenheit? Es hieß, in sr. Abwesenheit: denn frug […]“179. Auch Bettermann betont, dass innerhalb der Gemeine sorgfältig darauf geachtet wurde, dass das Losen nicht zu einem bequemen Werkzeug wurde: „Man darf aber nicht glauben, dass das Los ein bequemes Mittel für die Leitung gewesen wäre, sich der Verantwortung zu entziehen. Es galt als tadelnswert, eine Losfrage leichtsinnig, unüberlegt zu stellen. Das Los setzte eine gewissenhafte Erwägung aller 173 174 175 176 177 178 179

Vgl. Tagebuch Nottbeck 12.2.1747. Vgl. Tagebuch Nottbeck 27.1.1747. Brief an Weiss vom 7.5.1745. Brief an Zinzendorf. Tagebuch zum 12.8.1747. Gottlieb Haberecht, ein späterer Mitarbeiter Nottbecks, der kurz davor ist, diesen wieder zu verlassen. Tagebuch zum 4.1.1748.

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Umstände voraus. Aber weil der menschliche Verstand unzureichend ist, misstraute man der eigenen Klugheit und griff zu Los. Da es sich hier nicht um eine Zufallsentscheidung handelte, sondern um eine Frage an Gott, war die allergrößte Gewissenhaftigkeit geboten.“180 Nottbeck befragte den Heiland bei diversen wichtigen Entscheidungen, so zum Beispiel, ob er ein eigenes Haus nehmen oder lieber bei den Sklaven in der Baigne leben solle, ob er einen der Sklaven in sein Haus einziehen lassen solle und ob er dem Pater Luyzo die „GemeinHandlungen“ oder „Gemein-Tage“181 zum Lesen geben dürfe, denn besagter Pater war ein Karmeliter. Es wurden also lebensweltliche wie auch spirituelle Fragen mit dem Heiland per Los geklärt. 5.4.2 Predigt In den Tagebüchern ist eine nicht vollständige, aber informative Menge an Texten enthalten, über die Nottbeck predigte. Es geschah nur sehr selten, dass er mehr als nur die Bibelstelle angab. Die konkreten Inhalte der Predigten sind schwer fassbar und müssen rückgeschlossen werden. Dies kann darin begründet sein, dass er erwartete, dass alle Leser wussten, in welcher Weise er die Stellen auslegen würde. Dies ist in einer solch engen Gemeinschaft, die zudem unter dem starken Einfluss Zinzendorfs stand, nicht unwahrscheinlich. Einige der zentralen Aspekte seiner Predigtpraxis sollen an dieser Stelle hervorgehoben werden, um das Bild von Nottbeck zu vervollständigen. Teilweise gab er sehr genau die Verse seiner Predigtstellen an, manchmal nannte er nur die Kapitel, die in einigen Fällen wiederum mehrere Gleichnisse und Episoden umfassen, und in einigen Fällen zählte er nicht nur ein, sondern mehrere Kapitel auf. Die Anteile aus dem Alten Testament sind entsprechend der christozentrischen Theologie Nottbecks eher gering. Die einzigen nicht neutestamentlichen Texte sind Ps 16 und Jes 32,1–4 und Jes 53. Die drei alttestamentlichen Texte lassen sich bei entsprechender Interpretation gut in den „Heilandsbezug“ der anderen einreihen, beachtet man, dass der zehnte Vers des Psalms 16, der vom Sieg über den Tod spricht, für einen Christen auch zu der Interpretation führen kann, dass der HERR niemand anderes als der Sohn sein könne. Zumal die auf Jesus zugespitzte Theologie Zinzendorfs diese Verbindung sehr leicht herstellt. Auch das vielbesprochene Kapitel Jes 53 reiht sich ganz natürlich in den Christuszusammenhang ein. Der eschatologische Inhalt der Jesaja-Perikope 32,1–4, die Rede über das Reich der Gerechtigkeit, knüpft wiederum sehr eng an die Reich-Gottes-Vorstellung an. Die neutestamentlichen Predigttexte speisen sich aus den Briefen, der Apostelgeschichte und besonders aus den Evangelien. Es mag an der begrenzten Anzahl der von Nottbeck genannten Bibelstellen liegen, aber es ist ein deutlicher Fokus auf dem Evangelium nach Johannes festzustellen. Alleine zehn Vermerke, eine der genannten Stellen wurde nicht im Rahmen einer Predigt, sondern einer Diskussion erwähnt, verweisen auf Johannes. Auf Joh 1 wurde zweimal Bezug genommen, einmal mit Fokus auf 9–18 und einmal das gesamte Kapitel. Ebenso liest er auch zweimal daraus gleich mehrere Kapitel vor: zum einen das 5., zum anderen die letzten sechs. Sechsmal erwähnt Nottbeck das Matthäus-Evangelium. Während Lukas 180 Wilhelm Bettermann, Das Los in der Brüdergemeine, in: Zeitschrift für Volkskunde 3 (1931), 284– 287. 181 Tagebuch Nottbeck 8.7.1746.

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mit prominenten Stellen wie dem verlorenen Sohn und der Passionsgeschichte zu Wort kommt, gibt es keine Hinweise auf die Nutzung von Markus. Es gibt auch ein paar mehrdeutige Bezeichnungen wie das „Weihnachtsevangelium“ oder „Fastnachtsevangelium“. Überblickend kann man feststellen, dass die am häufigsten angesprochenen Themen der Glauben und die daraus resultierende Abkehr von allem Weltlichen bzw. die bedingungslose Unterordnung unter Gott und die Demut sind (Mt 6; 11,28; Lk 8; 1Kor 9–10,13). Auch zur Sprache kommen die Verwerfung der Ungläubigen und das Verderben der Herzen (Joh 8,12; 1Kor 9–10,13), die Eschatologie und abschließend das Wesen des Heilands (Joh 1,9–18; 6,28–37; 1; 14,10–15; Mt 17). In Diskussionen wurde Nottbeck häufiger zu Fragen der Bedeutung guter Werke für die Rechtfertigung des Menschen verwickelt. Seine Textauswahl dazu legt nahe, dass er sich deutlich gegen jede Form der Werkgerechtigkeit ausspricht – eine logische Konsequenz aus der Annahme, dass alles Heil lediglich aus göttlicher Gnade kommen kann. Dazu nimmt er Bezug auf Lk 15, 1Joh 3,9, Röm 3,19f und Mt 16,27. Versucht man aus der genannten Menge an Bibelstellen eine Form von Grundbotschaft Nottbecks für die Sklaven abzuleiten, so könnte diese so aussehen: Es gibt ein Angebot des Heils für alle, die davon hören, denn nach zinzendorfscher Theologie wirkt der Heiland bereits aktiv in den zu Bekehrenden auf das Heil hin. Dass sich jeder angesprochen fühlen kann, darf man der Begegnung Jesu mit der Samariterin (Joh 4) und den Gleichnissen vom verlorenen Schaf (Mt 18,11) und verlorenen Sohn (Lk 15) entnehmen. Besonders die Wahl des letzten Textes könnte äußerst wirkungsvoll sein, da die Sklaven zwar nominell Christen, aber nach herrnhutischer Vorstellung unbekehrt und gegenüber dem Heiland noch fremd sind. Das Wiederaufnehmen des Sohnes in die Familie im Gleichnis mag daher als eine gute Metapher für die Wiederaufnahme der Bekehrten in die fühlende Christenheit gedient haben und passte damit genau zu Nottbecks Handeln. Voraussetzung für die Aufnahme ist das bedingungslose Anvertrauen an Gott, die Abkehr von weltlichen Gütern wie Alkohol, Spiel und dem Klagen über die Mühsal des Sklavendaseins. In diesem Punkt verlangt Nottbeck sehr viel von den Sklaven. Alleine schon die intensive Beschäftigung mit der Hoffnung auf Freiheit konnte sie vom „rechten Pfad“ abbringen. Denn mit der Bekehrung gehe einher, dass sie in der von Gott gegebenen Ordnung der Welt ihre Rolle spielten und diese sei zurzeit die eines Sklaven. Im Gegenzug erlaube es einem die Annahme der Gnade und Liebe des Heilands, der selbst große Qualen erlitten hat, das Sklavendasein zu ertragen und Liebe für Gott zu empfinden. Auf jene, die die Gnade des HERRN jedoch ablehnen, warte die Verwerfung. Darüber hinaus musste den Zuhörern natürlich ein möglichst deutliches Bild von Jesus Christus gezeichnet werden. Die Verklärungsepisode aus Matthäus und gerade die vielen Bilder aus Johannes erschienen Nottbeck in dieser Hinsicht sehr hilfreich zu sein. Es scheint gerade diese „Erst wenn – dann“-Struktur zu sein, die zwar zum einen sehr stark im Jesu-Nachfolge-Gedanken steht, zum anderen aber auch für viele Hörer Probleme hervorruft. Als seine Herrnhuter Brüder einer von Nottbecks Predigten beiwohnten, kritisieren ihn sehr harsch: „Es war mir bey dieser ersten Versamlung gleich nicht wohl, und da uns mein Bruder fragte, wie uns diese predig gefallen, sagte Br. Gottlieb ganz gerade: nicht sonderlich, es wäre Gesez und Evangelium unter einander […]. Mein Bruder hat ganz und gar keinen Gemein-Plan, sondern predigt den Seelen Gesez und Evangelium unter einan-

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der, so wies ihm einfält. Es ist überhaupt ohne Geist und ohne Leben und bestehet nur aus puren Kopf-Glauben.“182 Die Textgrundlage der Predigt ist nicht erhalten, und es wird keine Bibelstelle erwähnt. Es ist daher schwer zu rekonstruieren, was genau mit dieser Aussage tatsächlich gemeint war. Um sie zu ergründen, muss man sich bewusst machen, dass Christian Nottbeck und Gottlieb Haberecht mit frischen Eindrücken der Theologie und Missionsvorstellungen Zinzendorfs angereist waren. Sie waren mit der zinzendorfschen Denkweise gut vertraut und sahen die Differenzen zwischen der gegenwärtigen Herrnhuter Theorie und Nottbecks Praxis. Zinzendorf war der Ansicht, es wäre falsch, dass die Predigt „auf den moralischen Menschen, der das Resultat einer sittlichen Erziehung ist, [ziele,] aber nicht auf den neuen Menschen, den Gott alleine schaffen kann.“183 Die Sittenpredigt hätte zwar auch ihren Platz, aber sie sei nicht das Wesentliche der zu vermittelnden Botschaft. Nottbeck, der stetig mit der Trinksucht und Spielerei, generell den „weltlichen Ablenkungen“ der Sklaven zu kämpfen hatte, schien sowohl die Sittenpredigt als auch die Verkündigung eng zusammenzuführen. Nach der Vorstellung der anderen beiden Herrnhuter war dies unvorstellbar. So musste auch der Eindruck der Planlosigkeit entstehen. Inwieweit er sich darüber hinaus auch rhetorisch ungeschickt verhielt, ist nicht mehr nachvollziehbar. Der zweite Kritikpunkt ist der „Kopf-Glauben“ Nottbecks. Der Kopfglauben ist im Sprachgebrauch der Herrnhuter der Vernunftglauben, etwas, das dem fühlenden Herz-Glauben, dem erweckten Glauben gegenüber steht. Wer nur mit dem Kopf glaubt, habe das Evangelium noch nicht verstanden und den Heiland nicht lieben gelernt – so lautet der schwere Vorwurf seiner Brüder gegen Nottbeck. Christian Nottbeck gibt, von den bereits zitierten Zeilen abgesehen, keine weiteren Informationen, was ihn zu diesem Vorwurf gebracht haben könnte. Carl Nottbecks Briefe sind stets angereichert mit Formulierungen des Herz-Glaubens. Häufig „fühlt“ er die Wunden des Heilands. Diese Verinnerlichung des Leidens des Heilands und der Bedeutung dieses Leidens für die Menschen ist ein wichtiger Bestandteil des Herzglaubens. 1743 formuliert Zinzendorf in einem Brief an einen Bruder Schmidt: „daß ich mit großer Scham denke, daß sie bei ihnen selbst manchmal sagen mögen: ach! da geht der arme, elende Grönländer, der tote Böhnisch. Ach! daß er doch die Wunden des Lammes recht kennen und fühlen möchte!“184 Die wenigen Informationen über seine Motive für das Verbleiben auf seinem Posten und die Hingabe und Wertschätzung des Losens sind darüber hinaus alles deutliche Anzeichen dafür, dass Carl Nottbeck nicht „innerlich ohne Leben“ war. Selbstverständlich sind die Texte stilistisch auch insofern angepasst, dass er der Gemeine das Bild vermitteln möchte, einen starken Herzensglauben zu haben. Es ist aber ebenso wichtig zu berücksichtigen, dass die beiden Gäste in Herrnhaag vor ihrem Aufbruch nach Algier die Anfänge der „Sichtungszeit“ miterlebten. Die Gemeine geriet in einen nahezu kollektiven Zustand steigender Euphorie und religiöser Ekstase. Die Bewertungen dieser Zeit fallen dabei sehr unterschiedlich aus. Die Phase wird entweder als beschämendes Kapitel der Geschichte der Gemeine oder als ihre größte kreative Schaffensphase betrachtet.185 Die bei182 183 184 185

Tagebuch Christian Nottbeck 2.7.1747. Müller, Brüdermission, 302. A.a.O., 306. Vgl. Paul Peucker, „Blut auf unsre grünen Bändchen“. Die Sichtungszeit in der Herrnhuter Brüdergemeine, in: Unitas Fratrum, Zeitschrift für Geschichte und Gegenwart der Brüdergemeine 49/50 (2002), 41–94 sowie Hans Schneider, Zu den Begriffen „Sichtung“ und „Sichtungszeit“, in: Unitas

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den Neuankömmlinge brachten also ein euphorisch-erneuertes Verständnis von gefühltem Glauben mit nach Algier, was sich von dem Verständnis Nottbecks unterschied. Da er selbst diese Phase nicht miterlebt hatte, waren Nottbeck die mit der Sichtungszeit verbundenen extremen Perspektiven fremdartig. Daher muss man bei der Einordnung der Kritik der beiden „Sichtungszeit-Herrnhuter“ Vorsicht walten lassen. Sie waren unter ganz anderen Bedingungen nach Algier aufgebrochen und hatten neue Ideen mitgebracht. Damit wird jedoch nicht gänzlich ausgeschlossen, dass Nottbeck dennoch auch nach gemäßigter herrnhutischer Vorstellung Mängel in seiner Predigt aufwies. In dieser besonderen Situation Nottbecks ist interessant, dass er zwei spezifische Texte zu Predigttexten ausgewählt hatte, zum einen 1Kor 9f.13, in dem die besondere Situation des Apostels Paulus beschrieben und verteidigt wird. Für Nottbeck finden sich hier einige Hinweise, wie das Leben eines Botschafters des Heilands aussehen kann und sollte. Gleichzeitig liefert die Passage den Zuhörern eine Erklärung für das Verhalten des Missionars. Er sprach über diesen Text am 20.2.1746 und hatte zu diesem Zeitpunkt schon einige verbale und körperliche Anfeindungen hinter sich. Einen direkten Anlass für die Auswahl des Textes nennt er selbst nicht, ein Bezug zu dem im Folgenden näher betrachteten Ereignis liegt aber auf der Hand. 5.5 Der Überfall auf Nottbeck Am 2. Februar 1746 kam es für Nottbeck zu einem einschneidenden Erlebnis. In der Nacht überfielen ihn zwei Männer in seinem eigenen Haus und hätten ihn beinahe getötet. Da in diesem Fall der fünf Tage später geschriebene Brief an Bruder Weiss ausführlicher als das Tagebuch ist, ist dieser hier zu Rate zu ziehen. Entgegen seinem ursprünglichen Ansinnen186 wohnte Nottbeck alleine in dem Haus. Im Moment des Überfalls war er ganz alleine, und die Nachbarn, die ja noch wach waren, konnten ihn nicht hören. Beachtenswert ist die emotionale und rationale Verarbeitung des Ereignisses. Er rief, wie es sich für einen guten Herrnhuter gehörte, im Moment der Not den Heiland an – nicht nach nachbarschaftlicher Hilfe. Dass er die Begegnung überlebte, erklärte er dann mit der ihm zuteil gewordenen göttlichen Hilfe des „Lammes“. Obwohl ihm Gewalt widerfuhr, äußerte er gegenüber Weiss, dass er „vor allem Schaden bewahret“ worden war, und dies sei wiederum das Verdienst des Lammes gewesen. Weiss war ein nicht unwichtiger Mann in der Brüdergemeine, und es ist sehr fraglich, ob Nottbeck ihm seine Zweifel mitgeteilt hätte, sollte der Überfall ihn in seinem Gottvertrauen erschüttert haben. Daher führte er auch den Lehrtext des Tages („Lammestext“) an und berief sich darauf, darin Sicherheit gefunden zu haben. In seinem Tagebuch beschrieb er am 3. Februar seine Gefühle, und auch dort liest man nur von der Dankbarkeit und Demut des Missionars: „Ich wurde über des Lammes Treue u[nd] Vorsorge sehr tief gebeuget u[nd] gestärket, meine Hütte zitterte, u[nd] meine Augen stunden in Thränen darüber, u[nd] m[ein] Herze fühlte ausnehmend Gnaden Kräfte, die mir auch blieben u[nd] immer erneuert wurden, daras [sic] ich ihn tief anbete.“ Er konnte dieses schreckliche Ereignis positiv auslegen und deuten und erfuhr dadurch eine Bestätigung seines Glaubens. So predigte Nottbeck am folgenden Tag zu Joh 14,10–15. Vers 14 dieses Kapitels beinhaltet die Antwort auf den Hilferuf Nottbecks: „Was ihr bitten Fratrum 63/64 (2010), 211–224. 186 Schon zuvor genannter Knecht aus dem Brief an Dober vom 11.6.1745.

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werdet in meinem Namen, das will ich thun.“ Nottbeck wandelt sein Erlebnis auch am nächsten Tag direkt in eine Predigt um. Dass er bei der Verbindung zwischen Predigttext und seiner Bitte in der Nacht zuvor vor seiner Hörerschaft auch über sein Erlebnis gesprochen hat, ist möglich, aber nicht wahrscheinlich. Er konnte aber zumindest davon ausgehen, dass es sich bald herumgesprochen hätte. Nach diesem Überfall stieg zumindest die Größe seiner Hörerschaft an. Er schreibt weiter an Weiss: „Ich habe nun angefangen ‚in d[er] baigne zu predigen, u[nd] finde mehr Stille, respect u[nd] Gefühl bey den Sclaven, das Lamm ist mit mir, u[nd] läst mich in Krafft von seiner Menschheit Niedrigkeit u[nd] Leiden, von seinen Tod und Wunden zeugen. Ich warte nur was es thun wird, u[nd] sehne mich indeßen seinen Lenden gleich zu werden, u[nd] denen Seelen näher anzukommen.“ Die Sklaven hatten es jetzt mit jemandem zu tun, der selbst Schmerzen erlebt hatte. Er konnte nun aus der Position eines Opfers, das sich selbst aber als errettet sieht, predigen. Dies verschaffte ihm Respekt und vor allem Glaubwürdigkeit. Dieser Zwischenfall zeigt aber noch etwas Weiteres. Im Tagebucheintrag zum 3. Februar berichtete er davon, wie er die Autoritäten über den Überfall unterrichtete. Er war bei Logie zu Besuch gewesen, um dort unterzukommen, denn in seinem Haus wollte er aus verständlichen Gründen nicht bleiben. Außerdem suchte er den Guarda Bacha auf, der eine Untersuchung einleiten wollte. Nottbeck unterband dies jedoch. Er sei sich der Herkunft der Sklaven nicht einmal sicher. Nicht zum letzten Mal sorgte Nottbeck also dafür, dass diejenigen, die ihm schaden wollten, so gut wie möglich aus der Situation hervorgingen.187 Eine mögliche Erklärung dafür kann auf seiner biblizistischen Haltung basieren. Gemäß Lk 6,29 konnte es nicht Nottbecks Ziel sein, sich zu rächen oder Macht auszuüben, sondern in Demut sein Schicksal zu ertragen. Möglicherweise sah er darin auch eine Versuchung, die ihm einen Treuebeweis gegenüber dem Heiland abverlangte. In den folgenden Tagen erlebte Nottbeck sehr schwankende Resonanz auf sein Predigtangebot. Am Freitag, dem 11.2., dem freien Tag der Sklaven, wollte er, wahrscheinlich in seinem Haus, eine Predigt halten. Es kam jedoch niemand, obwohl er zuvor positive Rückmeldung bekam. Am Sonntag, dem 13., predigte er in der Baigne und „die Stube war voll“. Er sprach „übers Evangelium aus Mt 17“, woraus sich nicht zuverlässig auf den Überfall rückschließen lässt. Auch der Text von Donnerstag, dem 17.2, aus Jes 31,1–4 ist nicht einfach auf die Gewalttat zu beziehen. In seiner Textauswahl zeigt sich, dass Nottbeck weiterarbeitete und sich bemühte, sich nicht von dem Übergriff zu sehr beeinflussen zu lassen. Eine Woche später, bei einer Predigt zu Röm 3,19f, waren es nur noch wenige, die ihm zuhörten, und auch am Sonntag, dem 6.3., hatte er zum „Fastnachtsevangelium“ ein sehr kleines Publikum. Es zeigte sich ein breites Desinteresse. Auch eine möglicherweise verteidigende Predigt am 20.2. zu 1Kor 9f scheint daran nichts geändert zu haben. Zu dieser speziellen Predigt machte er über Zuhörer keine Angabe, sie könnte also normal besucht gewesen sein. Der Bibeltext hätte es dem Missionar ermöglicht, noch einmal auf den Überfall zu sprechen zu kommen und somit einen zusätzlichen Anreiz zum Verfolgen der Predigt zu geben. Für Nottbeck eröffnete der Text die Möglichkeit, selbst ein weiteres Mal über seine Situation zu reflektieren und sich darin zu bestärken und zu bestätigen. Er selbst gab dazu aber keinen weiteren Kommentar ab. Kurz nach dem Überfall ersuchte Nottbeck Logie um ein neues Quartier. Er wollte in ein jüdisches Haus ziehen, um nicht mehr alleine zu sein. Außerdem kamen die Sklaven ohnehin 187 Vgl. Kap. 6.4.

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nicht mehr in das Haus zur Predigt. Logie lehnte dies jedoch ab und gab ihm einen Sklaven zur Seite, der von nun an über Nacht mit Nottbeck im Haus blieb.188 Nottbecks Sicherheit in Algier war eine Frage, mit der sich der Herrnhuter häufig aufs Neue auseinandersetzen musste. Als Christ und Europäer benötigt er den besonderen Schutz des Deys. Diesen erhielt er durch den Einsatz der Konsuln Paravicini und Logie, die für Nottbeck beim Dey vorsprachen. Da der Dey jedoch auch während der Zeit Nottbecks in Algier zweimal wechselte, war fraglich, ob die Abmachung unter der neuen Regierung weiterhin gültig blieb. Ebenso schwankte der Einfluss der Konsuln immer wieder. So geriet Logie für einige Zeit in Schwierigkeiten und verlor viele Fürsprecher, als der Diwan erwog, den Friedensvertrag mit Schweden zu kündigen. Daher war es für Logie auch gefährlich, Umgang mit einem Mann zu haben, der von vielen anderen Personen nicht gut gelitten war. Dennoch blieben beide einander verbunden.189 Sollte es jedoch zum Krieg zwischen der schwedischen und der algerischen Nation kommen, würde Nottbeck seinen wichtigsten Unterstützer verlieren. Paravicini sah wiederum seine eigene Position durch die jüngst abgeschlossenen Friedensverhandlungen mit Dänemark bedroht. Algier hatte mit dem Staat kurz vor Nottbecks Eintreffen einen Vertrag geschlossen, und als Folge daraus war nicht nur die Familie Hanncken in Algier eingetroffen, um Handel zu treiben, sondern auch die potentielle Beute auf See geschmälert worden. Durften keine dänischen Schiffe mehr gekapert werden, musste das Einkommen woanders herkommen. Paravicinis Befürchtungen gingen daher dahin, dass Algier sich von seinen älteren Verbündeten Niederlande und Schweden abwenden würde.190 So gab es auch unter den Europäern in Algier Missgunst und Argwohn. Ob Nottbeck sich dessen bewusst war, lässt sich nicht mehr ermitteln. Er zeigte in seinem Verhalten aber keine besondere Sensibilität in dieser Hinsicht. Auch wenn er sich zunächst stark an Paravicini und dann an Logie hielt, besuchte er stets auch Hanncken. Mit allen drei unterhielt er eine gute Beziehung. Zu dem französischen und englischen Konsul hatte er selten Kontakt. Wie bereits angedeutet, war der Herrnhuter noch in einer zweiten Hinsicht von den Konsuln abhängig. Er fand in Algier keine Möglichkeit als Kaufmann tätig zu werden und konnte somit keine Einkünfte erzielen, um sein Leben zu finanzieren. Häufig aß er bei den Konsuln, nahm an der Tischgemeinschaft teil und suchte dort Kontakte. Dieses Verhalten ähnelt sehr stark seiner Zeit auf dem Schiff des Admirals in Lissabon, als er hätte bei Ahlers sein sollen. Dies tat er auch entgegen dem ausdrücklichen Rat Zinzendorfs und Dobers, nicht „mit reicher oder vornehmer Leute Bekehrung sich unzeitig zu tun oder mit ihnen Compagnie machen, das Werk des Herrn zu treiben […]“191 Logie half Nottbeck aber auch dabei, auf eigenen Füßen zu stehen, und vermittelte ihm die meisten seiner Quartiere. Brauchte er eine vorübergehende Bleibe, wie nach dem Einbruch im Haus, konnte er auf den schwedischen Gesandten zählen. So war er in vielerlei Hinsicht an das Wohlergehen der Konsuln gebunden, die ihm auch beistanden, wenn er Probleme mit den Franziskanern oder Wachen der Baignes hatte. 188 Tagebuch 4.2.1746. 189 „Die meisten seiner anverwandten u[nd] fast alle fremdem sind ihm feind, u[nd] haben sich alle Mühe gegeben, ihn aus dem Sattel zu heben. Der König war durch sie schon zieml[ich] persuadirt, den Krieg wied. Schweden zu declariren, es ist aber alles zu waßer worden. Man erwartet ein großes Present aus Schweden ehestens.“ Brief an Hutton oder Neisser vom 15.6.45. 190 Vgl. Ernst Baasch, Die Hansestädte Hamburg, Bremen und Lübeck und ihre Beziehungen zu Algier und Marokko, Kassel 1897, 29. 191 Aus „Instruktion an alle Heidenboten 1738“ in: Bintz, Texte, 54.

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Gleichzeitig bereitete er seinen Schirmherrn auch Probleme. Logie verlor, zumal er zunehmend sein hohes Ansehen einbüßte, durch seine Assoziation mit Nottbeck weitere Freunde. Dies mag nicht nur an der ungewohnten Theologie Nottbecks und seiner Arbeit mit den Sklaven, sondern auch an den Gerüchten, er sei ein Freimaurer, gelegen haben.192 Die Konsuln unterstützten ihn dennoch immer wieder, indem sie ihm Geld liehen, das er über den Bankier Jochim Councler in Marseille193 zurückerstatten ließ. Dafür löste er das Erbe auf, das er von seiner Mutter erhalten hatte und das von einem Mitglied der Gemeine verwaltet wurde. Er lieh sich also in Algier Geld, ließ diese Schulden von der Gemeine über einen Mittelsmann in Marseille auszahlen, lieh es sich dafür aber wiederum bei der Gemeine und zahlte es dieser aus seiner privaten Tasche zurück. Nottbeck war also nicht nur der Hauptakteuer der Mission in Algier, sondern auch mit seinem eigenen Vermögen maßgeblich beteiligt. Neben den schon angesprochenen Kosten für seine Unterkunft und Speise übergab er nicht unbeträchtliche Mengen Geld an einen Sklaven Fitz für dessen Schulden. Schließlich mussten noch die Schulden ausgeglichen werden, die Richter hinterlassen hatte. Laut einem Brief vom 11.8.1746 an Leonhard Dober handelte es sich um einen Betrag von 50 F[rancs?]. Als Christian Nottbeck194 und Gottlieb Haberecht195 zu Carl hinzustießen, wurde die Frage des Geldes noch drängender. Den beiden Neuankömmlingen war es unrecht, stets beim Konsul zu speisen. Man beschloss, die besagte „eigene Ökonomie“ zu gründen. Wie diese zu zahlen sei, musste aber noch geklärt werden. Nachdem Christian schon wieder abgereist war, einigten sich Nottbeck und Haberecht am 23.8.: „wir wären des Heyl. u. der Gem. u. um ihre Sache hier, müsten also einen Sinn u. Zweck haben, ein Herz u. eine Seele seyn; u. da ginge freyl. alles auf der Gem. Rechnung auf.“196 Alleine, dass es in dieser Angelegenheit Diskussionsbedarf gab, zeigt, dass die finanzielle Verantwortung nicht geklärt war und Nottbeck, der im Gegensatz zu Haberecht keinem Erwerb in Algier nachging, in Unsicherheit seiner Finanzen lebte. 5.6 Der Sklave Rogers, ein Fallbeispiel Der Weg des Sklaven John Rogers nach Algier wurde bereits zuvor angesprochen. Dieses Beispiel wurde keineswegs willkürlich ausgewählt, denn der Fall Rogers gehört zu den wenigen belegten Missionserfolgen Nottbecks. Die Begegnung zwischen ihm und Rogers war überhaupt erst die Voraussetzung für die Überlieferung des Lebenslaufes dieses Sklaven. Das erste Mal wird Rogers namentlich im Tagebuch am 31. Juli 1746 erwähnt. Die Frage, ob er bereits zuvor Nottbeck getroffen hat, ist nicht ganz eindeutig zu beantworten und muss daher näher überprüft werden. Am 23. Mai 1746 lässt sich ein Eintrag finden, der auf den ersten Blick auch auf Rogers zutreffen könnte: „Ein eng[lischer] Schuster, der in Spanien Cath[olisch] geworden, u[nd] kürz[lich] von Oran hieher echapieret, sprach vom Heyl[and], er war aber in s[einem] Sinn schon bekehrt,“ Die Nationalität stimmt überein, ebenso ein Aufenthalt in Spanien und die Station in Oran: „bis ich nach Spanien kam; da wurde ich Soldat, und nach Oran.“Dass er Schuster geworden sei, geht aus dem Lebenslauf Rogers nicht 192 193 194 195

Brief an James Hutton vom 26.1.1746. Brief an Weiss vom 12.8.1746. Geboren am 16.1.1714 in Reval, gestorben 6.10.1790 in Warbyl (Mitteilung des Unitätsarchivs). Geboren am 10.5.1700 in Schönheide (Niederschlesien), gestorben 28.2.1767 in Nazareth (Pennsylvania) (Mitteilung des Unitätsarchivs). 196 Tagebuch Nottbeck 23.8.1747.

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hervor. Die Wahrscheinlichkeit dafür ist jedoch eher gering, da er ja bereits mit 12 Jahren auf einem Schiff anheuerte und sich dann in New York „in die 8 Jahre unter den dortigen Farmer aufhielt“. Dass er im Zusammenhang mit New York die Farmer erwähnt, legt zwar nahe, dass er dort auch Feldarbeit geleistet hat, muss ihn aber nicht auf diese Tätigkeit festlegen, so dass er doch noch das Schusterhandwerk hätte erlernen können. Dennoch wird im weiteren Verlauf der Tagebücher Nottbecks Rogers nicht als Schuster bezeichnet. Ebenso wenig erwähnt der Lebenslauf einen Übertritt zur Katholischen Kirche, was in dem Lebensbericht für die Brüdergemeine vielleicht als weitere Verirrung erwähnt worden wäre. Dass Nottbeck Rogers mit den Worten „Der Engelländer Rogers sprach mir an“ am 31. Juli erwähnte, lässt die Vermutung zu, dass Rogers dem Leser entweder noch nicht bekannt ist, er den Sklaven auch nicht aus dem Tagebuch von 1745 kennen kann, oder dass Rogers bisher zumindest nur selten aufgetreten ist. Der Sklave Hinrich, der über ein dutzend Mal im Tagebuch von 1746 erwähnt wird, wird auch noch nach mehrmaligem Auftreten mit dem Attribut „der Engl[ände]r“197 versehen. Ich bin daher geneigt anzunehmen, dass es sich bei dem namenlosen Schuster und Rogers um ein und dieselbe Person handelt. Weiteren Anlass zu dieser Annahme gibt eine Notiz zum Sklaven Thomas Clarck am 30. Mai 1746: „Der Thom[as] Clarck machte sich zu thun mit dem Cath[olisch] gewordnen Engelländer, u[nd] weil ich sie antraf, so sprach auch etwas, er blieb aber unüberzeugt u[nd] sicher.“ Clarck arbeitete mit dem Unbenannten, und im Laufe der Entwicklungen traten Rogers und Clarck häufig zusammen auf. Sie schrieben schließlich einen Brief zusammen an die Direktion der Brüdergemeine. Sie hatten also eine gewisse Vertrauensbasis und waren die treuesten Anhänger Nottbecks, zuweilen sogar seine Mitarbeiter.198 Clarck verteidigte gelegentlich Nottbeck und Rogers gegen andere Sklaven, wenn ihnen wie zum Beispiel am 14.3.1746 Feindseligkeit aufgrund des gepredigten Textes und dessen Auslegung entgegengebracht wurde.199 Wie es vor dem Treffen mit Nottbeck um Rogers Gemüt und Seele beschert war, kann man seinem eigenen Lebenslauf entnehmen: „Aber anstatt deß mich meine Sclaverey zum Nachdenken über mich selber hätte bringen sollen, so wurde ich nur immer ärger und wilder, und durch Gewohnheit endlich ein wohlabgerichteter Satans-Knecht, so daß selbst die Türken vor mir erschraken.“200 197 Tagebuch Nottbeck 19.6.1746. 198 „nun anfänget einen Jeden, den er nur ankommen kan, vom Heyl[and] u[nd] seiner Liebe zu zeigen, wo zu er gute Gelegenheit hat, weil er in einer Tavern bey einem andern Schlaven dienet, denn die Sclaven alleine haben die Erlaubnis wirthshäuser zu halten“ Brief an Hutton oder Neisser 15.6.45. 199 „Nachmittag, wie ich in des Dennis Krug seinen Schneider Friedr[ich] sprach, war d[er] Paul d[er] Schweizer da, der nach einen discours aus d[er] Schrift, wozu ich ganz stille war, von mir eine Erklärung über Matth[äus] 16, v[ers] 27 forderte, das that ich ganz herzl[ich] u[nd] kurz, er wurde aber darüber sehr kühne u[nd] entrüstet, daß er lästerte u[nd] fluchte, u[nd] mir sagte, ich solle in d[er] baigne in ihrer Kammer nicht mehr kommen, u[nd] indem 3 Hamb[urger] Schiffer dazu kamen, so repitirte ers, u[nd] nennte sie zu Zeugen. Ich merkte wol, daß die Finsternis sie überzogen hatte, u[nd] sie kein theil an d[er] Gnade des Evangelii begehrten, u[nd] d[er] Schiffer Sout wütete, als wenn d[er] Feind ihn sichtbarl[ich] hanthieret hätte, u[nd] darum ginge nachdem ich einige Worte gesaget, von ihnen. Der engl[ische] Clark defendirte m[eine] Sache gegen sie, u[nd] sagte, so könne er unmögl[ich] handeln, denn er wüste es, er wäre kein wahrer Christ.“ Tagebuch Nottbeck 14.3.1746. 200 Lebenslauf Rogers.

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Diese Einschätzung geschah aus der Retrospektive, als Rogers schon mehrere Jahre Umgang mit den Herrnhutern hatte und schon lange kein Sklave mehr war. Sie ist natürlich von seinem späteren Weltbild und der verstrichenen Zeit gefärbt, und der Zustand wurde wohl auch aus stilistischen Gründen noch etwas überzeichnet. Dennoch passt diese Darstellung zu den Äußerungen Kühns, Leroys und auch Nottbecks, so dieser den Umgang der Sklaven mit sich selbst beschrieb. Rogers lieferte ein weiteres Beispiel dafür, wie sich die Männer in Gefangenschaft entwickelten und wie wenig ihre Wirklichkeit zu dem demütigen, frommen Leben passte, das die Missionare für sie vorgesehen hatten. Rogers innere Wende zum Heiland kam mit Nottbeck, dessen Bemühungen durch den Lebenslauf Rogers dankbar gelobt und herausgestrichen werden. „Dieses Todten-Leben führte ich 16 Jahr lang fort, bis es zulezt meinem lieben Heiland gefiel, aus Barmherzigkeit gegen mich arme Creatur, den Bruder Carl Nottbeck anno 46 nach Algier zu senden mit der Botschaft von Jesu Blut und Tod, und der dadurch geschehenen Erlösung. Sein Zeugniß war mir wol eine ganz neue, aber selig machende Lehre. Ich sahe meinen jämmerlichen Zustand; schämte mich von herzen und glaubte bald, ich könnte von meiner Ungerechtigkeit nicht anders gewaschen werden als durch Jesu Blut, noch von meinen Banden erlöst werden als durch Ihn. Ich legte mich aufs Bitten, und der Heiland erwies sich unaussprechlich gnädig gegen seine arme Creatur, vergab mir meine Sünden und schenkte mir Gnade in seinem Blut, und ich fing an mich Sein zu freuen und Ihn lieb zu haben.“ Man sieht an der Wortwahl, wie sehr er die Gedanken Nottbecks angenommen hatte. Nahezu alle zentralen Begriffe lassen sich in dieser Passage finden: Barmherzigkeit des Heilands gegenüber dem Bedürftigen, das Zeugnis des Zeugen Nottbeck, die Scham im Herzen, der einzige Weg in die wahre Freiheit durch das Blut Jesu, das Bitten um Vergebung der Sünden, die Liebe gegenüber dem Heiland und nicht zuletzt, dass Nottbeck vom Heiland zur Errettung gesandt wurde und nicht aus eigenen Motiven handelte. Rogers bietet an dieser Stelle zumindest in der Rückprojektion die gesamte gelebte Theologie Nottbecks auf und demonstriert auf diese Weise, dass der Missionar bei ihm Erfolg hatte. Im ersten Jahr mochte dem Herrnhuter nicht bewusst gewesen sein, dass er in Rogers die deutlichsten Spuren seines Wirkens in Algier hinterlassen würde. Die Offenheit des Engländers Rogers für Nottbecks Botschaft deutete sich bereits in den frühesten aufgezeichneten Begegnungen an. Bei der ersten namentlichen Nennung von Rogers brachte dieser bereits neues Publikum für Nottbeck mit. Auch wenn Rogers zu diesem Zeitpunkt „unüberzeugt u[nd] sicher [in seinen eigenen alten Ansichten]“ war, so musste er jedoch bereits Sympathie für Nottbeck und dessen Wirken haben. Denn Rogers entschloss sich dafür, in seiner streng bemessenen Freizeit auch Nottbeck zu besuchen und sogar neue Zuhörer mitzubringen. Zugegebenermaßen sind die namentlichen Erwähnungen Rogers im Tagebuch von 1746 von geringer Zahl. Zählt man die Bezeichnung als „Cath[olisch] gewordnen Engelländer“ mit, so kommt man nur auf vier Mal. Jedoch tritt gelegentlich auch die Formulierung „Engländer“ im Plural auf. Bei diesen Treffen kann Rogers auch mitgedacht sein. Andere Sklaven standen in diesem Jahr deutlicher im Vordergrund, darunter besonders Thomas Clarck [76 Mal erwähnt] und Fitz [78], der Engländer Johns [27], Adam Drews [49], Jacob Vogel [47] und John Dillon [36].

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Im Jahr 1747 nahmen Rogers Aktivitäten zu oder fielen häufiger auf: 30 Mal fällt sein Name in dem zugehörigen Tagebuch. Am 27. Januar hält Nottbeck fest: „Florenz u. Rodger besuchten mich, sie haben eine kleine Anfaßung, u[nd] waren gerne da.“ Nottbeck führt in seinem Tagebuch regelrecht Buch über die Entwicklungen seiner Schützlinge und vermerkt, Rogers entwickele sich von einem „unüberzeugten und sicheren“ Mann zu einem Sünder nach herrnhutischem Verständnis. Das heißt, er erkannte seine eigene Bedürftigkeit nach Gnade und entwickelte eine entsprechend demütige und liebevolle Einstellung. Nottbeck notierte dazu am 19. April 1747: „Beym Sprechen mit Rogers war der Hey[land] ihm nahe, u[nd] er wird zum Sünder.“ Bande halten Nottbeck und Rogers hingegen selten. Sie sprechen häufig miteinander, dies auch im Segen, jedoch fällt der Begriff Bande nur zweimal. Mit Clarck und Fitz finden diese Treffen wesentlich häufiger statt. Entweder verwendet Nottbeck hier unabsichtlich den Begriff selten und meint mit „Bande halten“ und „im Segen sprechen“ das gleiche, oder es war ihm zunächst gar nicht bewusst, wie positiv Rogers sich aus Nottbecks Sicht entwickelte. Im Juli zeigt sich bei Clark und Rogers eine Regung, die bei keinem anderen Sklaven aus Nottbecks Umfeld zu bemerken war. Sie schreiben an die Direktion in Europa einen Brief. Jeder schreibt einen eigenen und bringt darin seine Seelen- und Gemütslage zum Ausdruck. Rogers bittet die Direktion in seinen wenigen Zeilen: „that they would may the Lamb Jesus Christ to keep me lock’d upon his blood wounds, till I become hearty in the Lamb, there is nothing I defere to but Jesus Christ and the Mystery of his Cross and bloody Pains a[nd] Stripes and that it may become deeply grassed in my poor heard, that my Soul may become joyful in the Crucify’d Lamb, out of that blessed pierced Side, that flow’d with Blood a[nd] water, that my Soul may plunge in that pure flood. “201 Rogers scheint also schon zu diesem Zeitpunkt zentrale Inhalte Nottbecks Lehren verinnerlicht zu haben. Wieder kommen komprimiert die zentralen Elemente zum Vorschein. Besonders eindrucksvoll ist die Einsicht in den letzten Zeilen des Briefs: „So I remain my Lamb’s poor Blood bought Sinner. My D[ear] Breth[eren] of the Congregation I should think myself abundently happy if I could be with you, but since the Lamb’s pleasure is that I should be here a Slave in Barbary, I remain content till his infinite wisdom shall take me from hence or to his Heavenly Kingdom.“202 Entgegen möglicher Erwartungen hat Rogers – anders als Fitz – tatsächlich in seiner Ergebenheit „zum HERRN“ das Ziel der Freiheit aufgegeben. Er will darauf warten, was das Lamm am besten für ihn befinde und ob es ihn aus der Sklaverei befreien werde oder nicht. Für einen Mann, der es nach eigener Aussage schwer länger an einem Ort aushält und auch nach acht Jahren sesshaften Lebens wieder zur See geht, und als er auf einem Handelsschiff nicht genug Beschäftigung findet, sich schließlich dem Militär verpflichtet, ist dies eine beeindruckende Entwicklung. Rogers ist ein unruhiger Mensch gewesen, der nicht nur mit seiner Gefangenschaft im Äußeren, sondern auch mit dem Bewegungs- und Abwechslungsdrang in

201 Brief Rogers und Clarck 1.7.1747. 202 Ebd.

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seinem Inneren zu kämpfen hatte.203 Gerade bei diesem Mann Erfolg zu haben, zeigt, dass Nottbeck mit seiner Missionsmethode und Predigt durchaus erfolgreich sein konnte. Es ist anzunehmen, dass Clarck und Rogers in einigen Phasen der Arbeit Nottbecks die Hauptstützen des Missionars waren. Sie scheinen sich aber auch gegenseitig gestützt zu haben. Immer häufiger treten sie gemeinsam auf. Sie schreiben gemeinsam Briefe und Gedichte, die aber nicht mehr erhalten sind. Clarck macht Nottbeck und Rogers miteinander bekannt, und zu zweit überstehen sie die restliche Zeit der Gefangenschaft und nehmen die ihnen von Nottbeck vermittelte Lehre soweit auf, dass Rogers der Gemeine beitritt und Clarck sie zumindest in Bloomsburry besucht.204 Doch auch mit Rogers erlebte Nottbeck einige Überraschungen. Dessen Gemütsverfassung hing stark von seinem Umfeld ab. Dies ist ein sehr natürlicher Vorgang in Folge eines manifesten Gruppenzwangs. Die meisten dieser Bezugspersonen führten nun kein sehr frommes Leben, sondern befanden sich in dem Zustand, indem sich Rogers zuerst auch befand. In seinem Lebenslauf beschreibt er die Zeit nach Nottbecks Abreise folgendermaßen: „nach seiner Abreise aber wurde ich, weil das Leidens-Wort noch nicht tief genug gewurzelt hatte, nach und nach unter meine alte Company gezogen, und wieder leichtsinnig. Das Liebs-Gefühl vom Heiland, und der Eindruck von seiner theuren Person und mir bewiesenen Erbarmung verlor sich, und es ging mir leider! nach dem Sprüchwort: ‚Der Hund frißt wieder was er gespien hat, und die Sau welzet sich wieder nach der Schwemme im Koth’; aber unter tausend Angst und Noth meines Herzens, das die zeit über wie in einer Hölle war.“ Er verlor sich in den alten Verhaltensmustern und ähnelt damit Nottbeck, der ja Ähnliches in seinem Lied von sich selbst sagte. Der Rückfall und Abfall vom Heilsweg wird durch die Abwesenheit der Lehrerperson zu einem akuten Risiko. Doch auch noch während Nottbeck in Algier war, gab es einige Auseinandersetzungen mit Rogers, der eine längere Phase durchlebte, in der er Nottbeck ablehnend gegenüber stand. „D. 15ten [September 1747] traf den Roggers, der nun seit 4 Wochen sehr selten zu mir gekommen; er war ganz mit d. Welt verwickelt u. finster“ „[Am 1.10.1747] In d. baigne sprach den Rogers, der sich so vor mir scheute, über seine phantasien u. fleischl. Sinn, u. er erkante sich.“ Die Phase dieser Verstimmung hielt an bis zum 22.12.1747, an dem Nottbeck auch die schon seit mehreren Monaten ausgefallene Singstunde wieder aufnehmen konnte. „Den folgenden Tag [der 21. Dezember] kam Rogers zu mir, und sagte er wolle sich dem Heyl. wied. ergeben, er wäre seit seiner Krankheit im Hospital von seiner Untreue zum Heyl. sehr überzeugt u. unruhig gewesen. D. 22. kam er wieder, und kam mehr 203 Wie schon auf Seite 13 beschrieben, konnte oder wollte Rogers kein sesshaftes Leben an Land führen und wechselte häufig die Schiffe auf denen er arbeitete, bis er schließlich dem spanischen Militär beitrat: „unter den dortigen Farmers mich aufhielt; endlich aber, weil ich mir die stille Lebens-Art unerträglich war, Dienste nah, auf einem Kriegs-Schif bey Boston, und nicht lange drauf in einem Kaufmanns-Schiff wieder nach Alt-England segelte. Hier ging ich wieder auf ein Kriegs-Schif; wurde aber des Lebens auf demselben überdrüßig, und machte mich abermal auf ein Kaufmanns-Schif, wo ich eine gute Weile aushielt, aber mit einem herumschweifenden unruhigen Gemüthe, bis ich nach Spanien kam; da wurde ich Soldat, und nach Oran, einer Spanischen Stadt in Africa, geschickt.“ Vgl. Lebenslauf Rogers. 204 Extrahirte Historica aus dem Diario des Jüngerhauses, 23.4.1749 (GN-Extr).

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auf sein Herz. Und weil auch Th. Clark dazu kam, so hielte ich auf ihr Verlangen mit ihnen die erste Singst. wieder seit 4 a 5 mon.“205

6. Faktoren für und wider die Fortführung der Missionsarbeit Nottbecks in Algier 6.1 Christian Nottbeck, Gottlieb Haberecht und der Herbst 1747 Der Herbst 1747 war für Nottbeck im Ganzen eine schwierige Zeit. Nicht nur Rogers, sondern auch Clarck hatten sich von Nottbeck und seiner Botschaft abgewendet. Wie wertvoll Rogers für Nottbeck tatsächlich war, kann man an dem Fortgang des Eintrags vom 15.9.1747 ablesen: „Ich habe jetzo also keinen, mit dem vertraut sprechen kan vom Lamme, noch einige Hoffnung, ob gleich so wol Hamburger als Engl. sehr frl. zu mir thun, u. darum liegt mir des Heyl. Plan hier sehr hart am Herzen.“ Die Relevanz dieser Aussage wird deutlich, wenn man berücksichtigt, dass in diesem Zeitraum der 15 Jahre ältere Gottlieb Haberecht und Nottbecks leiblicher Bruder Christian in Algier waren. Ende Juni kamen Christian Nottbeck und Haberecht in Algier an, und Ende August reiste Christian Nottbeck wieder ab. Seit der Abreise von Nottbecks Bruder konnte keine ordentliche Singstunde mehr gehalten werden. Auch in dieser Phase verhielten sich Rogers und Clarck sehr ähnlich zueinander. Zu Beginn des Besuchs der beiden anderen Herrnhuter waren sie häufig in deren Haus, speisten zusammen und halfen beim Einzug. Nach der Abreise Christian Nottbecks entfremdeten sich die beiden Sklaven von dem Missionar. Nottbeck hatte in dieser Zeit nur seine gelegentlichen Predigten in der Baigne und Gespräche mit einem (freien) Uhrmacher bzw. Banden mit Fitz, als ihm im Oktober zu Ohren kam, dass Clarck „sich liederl. aufführte“206. Auch wenn er ein paar kleine Fortschritte machte, dauerte es doch bis zum 16. November, bis Clarck nach einem Vierteljahr von selbst wieder zu Nottbeck kam. Am Tag, bevor Rogers auch zurückkommen würde, führten Nottbeck und Clarck eine „harte Bande“207. Das heißt, dort gab es eine gründliche Aussprache zwischen den beiden, die der Anlass dafür gewesen sein kann, dass Rogers wieder zurückkam. Die Notwendigkeit dieser harten Bande deutet darauf hin, dass nicht nur theologische Inhalte geklärt werden mussten. Die positive Beziehung zwischen Clarck und Nottbeck wurde wieder hergestellt. Doch Streitigkeiten tauchten auch an anderen Stellen auf. Nottbeck und Haberecht waren häufig nicht einer Meinung. Dies führte sogar dazu, dass Haberecht aus der eigens eingerichteten Hausgemeinschaft aus- und im Haus des Konsuls Logie einzog. Mit fortschreitender Zeit wendete sich dann auch der stärkste Befürworter Nottbecks, Georg Logie, von dem Missionar ab. Am 8.7.1748 vermerkt Nottbeck: „besuchte den Schwed. Cons. zum erstenmal wieder.“ Der letzte Eintrag über ein Gespräch mit Logie selbst steht unter dem 11.3.1748. Es herrschte also bis zu vier Monate lang Schweigen zwischen den beiden. Erst am 23.7.1748 folgt dann die Aussprache nach dem ersten Treffen. „Ich war auch beym Schw. Cons. Er sprach von s.r jalousie gegen mich, doch ward er zufrieden gestellt, u. bezeigte sich freundl. Der Holl. Cons. Parav. offirirte mir daselbst so viel Gelld vorzuschießen, als ich brauchte.“ 205 Tagebuch Nottbeck 22.12.1747. 206 Tagebuch Nottbeck 25.10.1747. 207 Tagebuch Nottbeck 20.12.1747.

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Dieses Beispiel zeigt, dass Haberecht einen ähnlichen Effekt auf die Sklaven gehabt haben mochte. Lediglich derjenige, der stets hoffte, Nottbeck für seine Zechschulden auszunehmen, und der ohnehin schon freie Uhrmacher blieben für Nottbeck ansprechbar. In einem Brief an Zinzendorf am 11. Dezember schreibt er deprimiert: „So daß ich nun in 4 mon[ath] fast nichts thun können; u[nd] sehe auch gar keinen Weg vor mich, wie daß es sich ändern würde. Weil nun aber der Plan hier überaus wichtig ist, ja ‚vielleich‘ wichtiger denn in Thomas oder sonst wo, zumal alle Gelegenheit von außen sehr schöne sind, und jetzo über hundert Teutsche prot[estantische] Sclaven hier sind, an die man gar nichts feindseliges oder verdächtiges gegen und mehr spühret, so bitte, ob die Gem[eine] uns einen sehr würdigen Br[uder] ehestens herschicken wolle, der mich elenden ablösen mögte, u[nd] der müste seyn ein ordentl[iche]r Prediger, u[nd] durch den würde es gehen; Er müste aber nothwendig englisch können, um sich derer auch anzunehmen, und wenn es mögl[ich] auch andere Sprachen.“ Wieder handelt es sich um das eben schon angesprochene Zeitfenster. Nottbeck will abgelöst werden. Er sieht sich selbst als für die Aufgabe nicht geeignet. Dies hing auf der einen Seite natürlich mit den Gewalttaten gegen ihn zusammen. Nottbeck musste noch immer jeden Tag damit rechnen, ein weiteres Mal zum Opfer zu werden, und er sah, dass auch Gottlieb Haberecht Gewalt angetan wurde.208 Auf der anderen Seite hatte Haberecht ihm die Verbündeten, die Zuhörer und Vertrauten entfremdet. Unterstrichen wird Nottbecks Situation aber auch durch das, was er nicht sagt. Im Tagebuch gibt es zwischen dem 16. November und 20. Dezember keinen einzigen Eintrag. Ebenso gibt es kaum Briefe aus dieser Zeit. Lediglich ein einziger wird in einem wesentlich späteren Brief erwähnt.209 Erst mit der tatsächlichen Rückkehr und „harten Bande“ mit Clarck schöpfte Nottbeck wieder Zuversicht und Hoffnung: „Nachdem ich vor einige Tage mit Clark eine scharfe Bande gehalten hatte, so fand ihn heute ganz sündermäßig, u. waren in Segen zusammen. Ich wünschte u. segnete ihm aus einem ganz innigen Gefühl dem Lamme zur ganzen Beute u. zu seinem Knechte. Auch wurde der hiesige Plan mir überhaupt wichtig u. gemüthl. u. ich wurde getröstet u. gestärket, auch durch die Losung u. die Reden des Heyl.“ Clarck und Rogers waren eindeutige Erstlinge. Dass sie auch nach ihrer weiteren Gefangenschaft und schließlich Freilassung noch die Brüdergemeine aufsuchten, zeigt eindeutig, dass zumindest bei ihnen nach zinzendorfscher Vorstellung der (Heils-) „Plan“ erfüllt wurde. Nottbeck assoziierte die beiden auch sehr stark mit dem Erfolg seines „Plans“. Als am 1.10.1747 Clarck wieder einmal melancholisch wurde, bereitete dies dem Missionar Zweifel am Erfolg des „Plans“: „darum liegt mir des Heyl. Plan hier sehr hart am Herzen.“ Ihre Anwesenheit und Unterstützung bestärkten Nottbeck immer wieder dazu, seine Arbeit fortzusetzen, während Christian Nottbeck und Haberecht ihn davon abbringen zu wollen schienen. Christian Nottbecks Tagebucheintrag zur Predigt seines Bruders sagt recht deutlich, dass er seinen Bruder für inkompetent hält:

208 Tagebuch Nottbeck 16.9.1747: „Gottl. gings auch so, u. er wurde so gar auf d. Gaße geschlagen“. 209 Brief an Johannes von Watteville vom 15.9.1747, erwähnt im Brief an Zinzendorf vom 11.12.1747.

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„Algier kam mir als ein ganz besonderer Ort vor, das Evangelium da zu verkündigen, und woraus das Lämmlein viele Leute kriegen könte, wenn nur ein recht gesezter und Evangelischer Bruder von der Gemeine da wäre, bißher aber ist noch nichts rechts in Algier gearbeitet worden. […] Kurz sein Zustand ging mir zu Herzen, und ich habe wehrend meiner Aufenthalt in Algier manche Thränlein drüber vergoßen. Ich will daher auch noch jezt, da ich noch ein schmerzliches Andenken davon habe, ihm der Gemeine aufs neue Ihren zärtlichen Herzen und Andenken empfehlen.“ Er sei weder „gestanden“210 noch habe er bisher etwas erreicht – Christian sieht in den bisher gewonnenen Seelen keinen Erfolg. 6.2 Widerstand der Sklaven Unter den Sklaven gab es auf der einen Seite Männer wie Clarck und Rogers, z.B. Adam Drews, oder ein Junge namens Florenz, die Nottbeck meist ohne größere Hintergedanken positiv gegenüberstanden. Auf der anderen Seite können andere wie Johan Fitz aus Calnsmark beispielhaft für jene stehen, bei denen es fraglich war, wie groß ihr tatsächliches religiöses Interesse an Nottbeck und seiner Botschaft war. Fitz und Nottbeck sprachen häufig miteinander. Sie machten Fortschritte in der Entwicklung von Fitz zu Demut und Vertrauen in den Heiland, nur dass der Sklave unerwartet „rückfällig“ wurde und abseits aller pietistischen Verhaltensregeln wandelte. Häufig kam er zu dem Prediger und fragte ihn um Geld für Kleidung oder um seine Zechschulden zu bezahlen. Nottbeck bezahlte und ließ sich von Fitz erpressen, indem dieser drohte, zur katholischen Kirche zu konvertieren, sollte Nottbeck ihm kein Geld geben. Immer wieder kommt er und fragt direkt nach Geld für Wein oder erfindet abstruse Geschichten zum selben Zweck. An manchen Tagen gab Nottbeck ihm eine oder zwei Zechinen. So zum Beispiel am 22.4.1746: „Fitz war fast den ganzen Tag bey mir, da wir von seinen Umständen u[nd] andern Heils materien sprachen. Ob ich nun ihn gleich gewarnet hatte, sich mit niemanden einzulaßen, so sagte er dennoch, es hätte ihm ein Wirth, der gewust, daß er zu hauße noch eine Erbschaft hätte, offeriret Geld vorzustrecken, bis er von hauße Geld kriegte; Weil er nun davon nicht abzubringen war, so muste, seine Schwachheit zu übersehen, ihm 1 Zech. geben, womit er lange auskommen wolte, u[nd] da überließ er mir sein Geld vor s[eine] ranzion herzuverschreiben, u[nd] dann bey mir zu bleiben.“ Man kann sich die Größe der ausgehändigten Summe gut vorstellen, wenn man sich vor Augen hält, dass die Unterkunft Nottbecks sechs Zechinen für acht Monate kostete. Manchmal kam Fitz nach längerer Pause zu ihm und gab sich äußerst reumütig. Nottbeck gewann den Eindruck, der Mann habe doch ein ernstes Interesse „am Heyland“ und lässt sich auf Fitz ein. Beinahe jedes Mal kam Fitz am folgenden Tag oder dem darauf mit der Bitte um Geld für seine Schulden oder Kleidungsstücke. Die häufigen Rückfälle und das Verhaltensmuster von Fitz legen nahe, dass er weniger am „Heil“ als am Geld für gutes Betragen interessiert war, und wohl nicht nur er dachte in dieser Weise. In einem Streitgespräch wird gegenüber Nottbeck geäußert, dass sämtliche Sklaven zu seiner Predigt kommen würden, wenn er ihnen etwas zu essen kaufen würde. Dies scheint eine Praktik gewesen zu sein, die tatsächlich ange210 Tagebuch Christian Nottbeck 2.7.1747.

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wandt wurde. Nottbeck erwähnt an verschiedener Stelle, dass „so gar […] sehr wenige Catholiquen in die Meße [gehen], u[nd] wer dahin gehet, thuts deshalben, d[a]ß ihm der Paff allemal ½ Creuzer zum Toback giebt.“211 Besonders bei Fitz, aber auch gegenüber den anderen Sklaven schien Nottbeck eine gewisse Verantwortung zu verspüren. Zusätzlich wollte er den „Plan“ erfüllen, und so gab er zumindest bei Fitz häufig nach. Man gewinnt durchaus den Eindruck, dass Nottbeck ausgenutzt wurde und er es geschehen ließ, um seine Arbeit fortzusetzen. Wenn er sich dieser Ausbeutung bewusst war, so äußerte er sich dazu nicht in seinen Tagebüchern oder Briefen. Er konnte aber durchaus den Eindruck gewonnen haben, dass sein eigentliches Anliegen fruchtlos war. Wenn er aber Erfolge bei Fitz zu erzielen schien, dann hob dies auch stets die Moral des Missionars. Die größte Menge der Sklaven gehörte jedoch zu der „rauen Sorte“, die häufig streitlustig und wenig zugänglich für Nottbecks Gedanken waren: „Alleine was ists, der Satanas hat hier eine große Macht. Es herrschet ein unvermeidlicher Schade, der wol nirgends so angetroffen wird, nehml[ich] die große und verwirrte Gesellschaft, da die liederlichsten, frechesten und boshaftesten Leute aus allen nationen so häuffig Bey und untereinander wohnen, d[a]ß die Wahrheit nicht länger überzeugend ist, als so lange man mit ihnen spricht, und bey ihren schlechten Unterhalt denkt ein jeder nur auf eine plaisier und auf seine Freyheit, und weil die Unruhe des Herzens sie darüber verfolgt, so gehen sie mir manchmal aus dem Gesichte, u[nd] kan ich unter einen so großen Hauffen und bey so wenig Zeit, da sie des abends nach ihrer Arbeit nur ein par Stunden Zeit haben, die Seelen nicht so aparte sprechen, wie ichs wünschte. Des Freutags, da sie den ganzen Tag ihre Freyheit haben herum zu gehen, und ich mich offeriret ihnen zu predigen, gehen die mehresten frühe in den Garten, draußen zu die H[er]rn Consuls, und laßen sich was zu eßen u[nd] zu trinken geben“212 Der stete Gedanke an die körperliche Freiheit lenkte die Sklaven von Nottbecks Ziel ihrer innerlichen Freiheit ab. Beachtet man die schreckliche Situation der Sklaven, wie sie in Kapitel 2.4 geschildert wurde, dann ist es nur zu verständlich, dass die Gefangenen ihre momentane Situation so sehr zu verbessern oder erträglich zu machen suchten, wie es ihnen nur möglich war. Nottbeck hatte immer wieder damit zu kämpfen, dass der von ihm vorgeschlagene Lebenswandel auf wenig Gegenliebe stieß. Im besten Falle wurde Nottbeck ignoriert, und die Männer widmeten sich dem Alkohol und dem Spiel. Die Aussage Nottbecks, dass es lediglich auf die innere Freiheit ankomme, musste denjenigen, die in Gefangenschaft lebten, besonders scheinheilig erscheinen, da sie von jemandem geäußert wurde, der sich fast immer auf die einflussreichen Europäer in der Stadt als Freunde und Gastgeber verlassen konnte. Die Versorgung der Sklaven mit Lebensmitteln hingegen war schlecht, sie lebten zusammengepfercht mit zu vielen Menschen auf engem Raum und mussten jeden Tag größte körperliche Mühen erleiden, während sie für jeden Ungehorsam mit schweren Strafen rechnen mussten. Zudem wurde immer wieder durch den Freikauf von Sklaven die Hoffnung auf die eigene Befreiung geweckt und dennoch meistens wieder enttäuscht. Nottbeck sah dieses Freiheitsstreben als störend für seine Mission an. Er entschied sich in einigen Fällen sogar dafür, einzelnen Skla211 Brief an von Watteville am 23.7.1745. 212 Ebd.

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ven nicht durch die Beschaffung einer besseren Arbeitsstelle zu helfen, damit ihnen die dadurch gewonnenen Freiheiten nicht zu Kopf steige und der entsprechende Mann sein Seelenheil aus den Augen verlöre. „Jacob Vogel kam auch, den ich etwas in Segen sprach, gab ihm ein Hemd, u[nd] brachte ihm beym Cons[ul] P[aravicini] speißen, weil seine tägl[iche] Speiße nichts denn Waßer u[nd] Br[od] ist. Er mögte gerne da dienen, weil er die chirurgie u[nd] das Balsieren verstund, alleine ich wolte ihn nicht wo anbringen, weil die Freyheit u[nd] das commode Leben da ihm schädl[ich] seyn würde.“ 213 Diese Bevorzugung von seelischer Erlösung vor körperliche Befreiung bestärkt auch die Annahme von Kapitel 5.5, dass Nottbeck aufgrund seiner religiösen Einstellung und seiner Orientierung an Evangeliumsinhalten wie Lk 6,29 selbst viel Leid ertrug, ohne die Verantwortlichen zur Rechenschaft zu ziehen. Auch mag irritierend gewirkt haben, dass Nottbeck von dem Lamm predigte, dass als Opfer gelitten hatte und für die Menschheit gestorben war, um diese zu befreien, und sich gleichzeitig strikt an den Leitsatz Zinzendorfs hielt, dass auch Sklaven zur Weltordnung Gottes gehören und jeder sich in seinen Platz einfinden müsse. Er berichtete nicht davon, dass er den Sklaven von der Gefahr der Freiheit erzählte, aber das eben angeführte Beispiel zeigt deutlich, dass Nottbeck eher gewillt war, das System der Sklaverei zu unterstützen, als den körperlichen Freiheitsbedürfnissen der Sklaven nachzugeben. Kühn erzählt von einem besonderen Gruß, mit dem sich die Sklaven in Algier angesprochen haben sollen: „Gott gebe dir Freiheit.“214 Im Fortgang des Berichts wird deutlich, dass Kühn hier Freiheit als körperliche Freiheit verstanden wissen will. Sollten sich die Sklaven tatsächlich so gegrüßt haben, dann verbanden sie Gott zwar mit Freiheit und Errettung, jedoch nicht im Sinne von Nottbecks auf das Innere gerichteter Botschaft. Der Missionar bewertet die Situation der Sklaven anhand eines sehr spezifischen Wertekanons, und seine strenge herrnhutisch-pietistische Perspektive scheint einen anderen Zugang deutlich verhindert zu haben. Seine Arbeit wurde für den Missionar dadurch nicht einfacher, dass er auf seine Zuhörer gleich zweifach einen zwiespältigen Eindruck gemacht haben musste. Zum einen sprach er unentwegt von seinem Heiland, auch dann, wenn kaum jemand ihn zu diesem Thema reden hören wollte, und zum anderen war er nicht dazu bereit, den Sklaven das Abendmahl zu reichen.215 Die Klientel mag nur begrenzten Sinn in gemeinsamem Singen und Predigt erkannt haben, konnte aber dafür mit der Bedeutung des Abendmahls mehr anfangen, denn dieses erfüllt auch und gerade nach protestantischer Ansicht einen unaustauschbaren Zweck. Dass er es ihnen nicht spendete, hing wohl hauptsächlich damit zusammen, dass er dazu als Akoluth und eben nicht als ordinierter Diakonus216 nicht berechtigt war. Wenn der Missionar also

213 Tagebuch Nottbeck 18.2.1746. 214 Kühn, Lebensbericht, 262. 215 „Der Schiffer Sout frug mir als ein Schalk, ob ich ihm das Abendmal reichen wolle? Rh. Nein! Da fluchte er, wolte ferner mit mir nichts zu thun haben, und suchte, seine Boßheit an mich auszuschütten, doch brachte ihn durch Liebe zur Stille. Ihre Kälte u[nd] [?]stes Leben schmerzte mich u[nd] klagte es dem Heyl[and].“ Tagebuch 3.3.1746. 216 „Diakonus – 1. Erstes der ordinierten Ämtern und eigentliche Ordination; von der alten Brüder-Unität 1745 übernommen. Ursprünglich Hilfsprediger, war aber zur Bedienung der Sakramente und zu allen

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nicht das für die Sklaven Interessante anbot und stattdessen erwartete, dass sie an der unattraktiven Predigt, deren Inhalt sich stets zu wiederholen schien, teilnahmen, dann erzeugte dies ein Klima, in dem die potentiellen Zuhörer sich in ihren Bedürfnissen nicht wahrgenommen fühlten. Streit scheint in diesem Fall unausweichlich. In den Augen der Sklaven wirkte der Missionar wie ein Schwätzer, der die wichtigsten Elemente des religiösen Lebens verweigerte. Auf der anderen Seite kann und will der Missionar das Abendmahl nicht spenden, gerade weil er es als ein wichtiges und ernstes Erlebnis217 und Sakrament verstand und er von Amts wegen nicht dazu befugt war, es zu spenden. Der Konflikt zwischen den Sklaven und Nottbeck lässt sich nicht auf die Abendmahlsfrage reduzieren, aber sie wird nicht unwichtig gewesen sein. Die Sklaven warfen Nottbeck zudem vor, ungebildet zu sein. Er war kein ausgebildeter Theologe, sondern Kaufmann, und sein Vokabular war daher ein anderes als das eines studierten Pastors. Ebenso beherrsche er nicht die richtigen Sprachen. An diesem Punkt versuchte der Missionar jedoch Abhilfe zu leisten und erwarb mit einem katholischen Geistlichen zusammen weitere Sprachkenntnisse. Zudem war das Klientel häufig hamburgischer Herkunft. Dort war man zu diesem Zeitpunkt den pietistischen Ansichten Zinzendorfs gegenüber nahezu feindlich eingestellt. Man kann also seitens der deutschsprachigen Sklaven Nottbeck vorwerfen, er verweigere Sakramente, sei ungebildet und verträte sogar noch die falschen Thesen. Immer wieder traf der Missionar auf „Unverstand“ oder konfessionell und theologisch anders geprägte Meinungen. Dies bemerkte er zuweilen selbst, wenn er während oder nach seiner Predigt angefeindet wurde: „d[en] 14. [Januar, 1746] Freutag […] Die Sclaven kamen nicht zur Predigt, deßhalben ging nachmittag in d[ie] baigne, wo mit einigen umständl[ich] sprach, davon sie überzeugt wurden, doch opponirten d[er] Paul u[nd] der Casseler Johann, den ich s[eine]r Heucheley beschuldigte, u[nd] weil er, ohngeachtet vieler ‚s[eine]r‘ Überzeugungen sagte, man verstünde mich nicht.“ Auch am 24.2.1746 vermerkt Nottbeck: „Es waren wenige Zuhörer, u[nd] man sagte, sie hätten keine Lust zu kommen, weil ich nicht gelehrt wäre“ Aber auch von Außenstehenden bekam er die gleiche Rückmeldung, so zum Beispiel am 11.1.1746 von Konsul Paravicini: „Die Sclaven hätten auch gesagt, ich predige zwar gut, man verstünde mich aber nicht.“ Wenn man diese Einschätzung für die zu dem Zeitpunkt in der Baigne untergebrachten, deutschsprachigen Sklaven als zutreffend annimmt, so schien für die Hamburger weniger ein Mangel an Wortgewandtheit als vielmehr ein schwer verständlicher theologischer Ansatz das Problem zu sein. Es kam kurz darauf zu so großen Meinungsverschiedenen, dass es am 27. des Monats Nottbeck wegen der „Hamburger Unordnung“218 unmöglich war, in der Baigne zu predigen. Die Zuhörer wurden stetig weniger und blieben häufiger ganz aus. Nottbecks Gegner redeten auch potentiellen Zuhörern aus, weiterhin zu der Predigt zu erscheinen. Dass er nahezu seit Beginn des Unternehmens gegen seine Zuhörer angehen musste, ließ Nottbeck dabei nicht Amtshandlungen berechtigt und konnte auch selbstständig eine Gemeinde oder Einrichtung leiten.“ Peuker, Wörterbuch, 21. 217 Nach der Aufnahme in die Gemeine musste Nottbeck neun Monate unter „viel Schmerzen und Tränen“ auf sein erstes Abendmahl warten; vgl. Lebenslauf Nottbecks. 218 Tagebuch Nottbeck 27.1.1746.

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unberührt. Sein Ausweg war gleichzeitig seine Botschaft: der Heiland. „Ob mir nur gleich ihre Ungebrochenheit und Unempfindlichkeit gegens Lamm Gottes das Herze ofte sehr schwer machet, und ich keinen Ausweg sehe, so behalte ich Muth und Vertrauen, zu dem Vater unsers Gotts.“219 Dennoch zeigte sich mit der Zeit, dass Nottbeck stets nur ein kleines, wenn überhaupt gewilltes Publikum hatte. Unter diesen Umständen war er gezwungen gewesen, seinen Kritikern unter den Sklaven Paroli zu bieten und besonders eng mit denen zusammenzuarbeiten, die immer noch gewillt waren, sich ihm anzuvertrauen. 6.3 Begegnungen mit anderen Kirchen und Geistlichen in Algier Aber nicht nur die Sklaven sahen das Treiben Nottbecks als problematisch an. Am 20.4.1747 schreibt Nottbeck in seinem Tagebuch von einem Gespräch, das er mit seinem engsten Vertrauten Clarck führte. Clarck wurde von dem englischen Prediger Bolton gefragt, warum er sich von der englischen Gemeinde fernhalte und damit die anderen Besucher Boltons verärgere. Bolton warf im Weiteren Nottbeck vor, Clarck dazu verführt zu haben, denn Nottbeck sei „doch kein ordentl. Prediger, sondern blos ein Bruder“220. Während diese Auseinandersetzung zum einen nur von Clarck geführt und auch mehr oder weniger erfolgreich beendet wurde, ergaben sich mit den katholischen Geistlichen größere Probleme. Nottbeck war im Januar 1746 gerademal siebeneinhalb Monate in Algier, als ihm ebenfalls von Paravicini anvertraut wurde, dass ein spanischer Padre eine „Bulle vom Pabst“221 mitgebracht hätte, die vor vier Irrlehrern warne. Einer dieser als sehr gefährlich charakterisierten Männer sei in Algier. In dem Schreiben hieße es weiter, dass man sich von diesen Personen fernhalten und alle ihre Bücher im eigenen Besitz verbrennen solle. Wer dies nicht tue, habe mit hohen Strafen zu rechnen. Nottbeck erwähnte zwar keine direkten Vorwürfe dieser Art gegen ihn, aber dass der Konsul dieses Thema erwähnenswert fand, verweist darauf, dass bei einigen anderen auf diese Weise ein schlechter Eindruck von Nottbeck entstanden war. Nottbeck geriet noch in einen anderen Konflikt mit den Katholiken. Obwohl seine Beziehung zu ihnen zunächst recht positiv war,222 entstand Streit darum, ob Nottbeck das SklavenHospital betreten dürfte. Konsul Logie hatte bei dem Dey ausgehandelt, dass er die Sklaven seiner Religion, sprich Konfession, besuchen dürfte. Dies umfasste formal auch die Kranken, die im Hospital lagen. Am 19.6.1746 berichtete ein Nottbeck bekannter Karmeliter, dass die Padres im Hospital Nottbeck dabei gesehen hätten, wie er sich mit Katholiken unterhalten hätte, was ihm wiederum nicht gestattet war. Der Bekannte teilte daraufhin dem Missionar mit, dass dieser dort nicht mehr gerne gesehen wäre. Nottbeck setzte seine Besuche jedoch fort. Und eine Woche später wurde er vor den Pater Administrator geladen, der ihm den weiteren Zugang zu verbieten suchte. Nottbeck wurde darauf nach einem Jahr des freien Zugangs mit geringer Handgreiflichkeit aus dem Krankenhaus verwiesen. Er bemühte sich um Verständigungsgespräche, welche jedoch scheiterten, und musste schließlich auf höhere Autoritäten zurückgreifen. Die Konsuln versuchten, auf die Hospitalleitung einzuwirken, und verwiesen darauf, dass die Einrichtung vor der spanischen Leitung von Protestanten gegründet wor219 220 221 222

Brief an von Watteville vom 23.7.1745. Tagebuch 20.4.1747. Tagebuch 24.1.1746. „Ob ich nun gleich mit den Catholiquen oft spreche, so habe noch nicht gemerket, d[a]ß die Padres was dagegen hätten, der Pater Vicarius soll gesagt haben, er wünschte, d[a]ß er auch die Gabe hätte, mit allen Religions Leuten zu sprechen.“ Brief an von Watteville vom 23.7.1745.

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den war. Dieser Versuch schlug ebenso fehl wie die Beteuerungen, Nottbeck würde jegliches Gespräch mit Katholiken im Hospital vermeiden. Auch ein späteres Gespräch mit dem Guarda Bacha, einem algerischen Regierungsbeamten, brachte keinen Fortschritt. Aus den Tagebüchern geht nicht hervor, dass er den Zugang noch einmal zurückerhielt. Dieser Konflikt zeigt recht deutlich, dass sich, obwohl Herrnhuter Missionare respektvoll und vorsichtig mit anderen Kirchen umgehen sollten, interkonfessionelle Widersacher, die sich durch sein Treiben bedroht fühlen, leicht finden ließen. Wieder einmal gerät Nottbeck mit den Richtlinien Dobers und Zinzendorfs in Konflikt. Schließlich soll er weder „sich mit einigen Gegnern überwerfen“ noch sich in die Angelegenheiten anderer Kirchen einmischen.223 Es gibt jedoch auch Gegenbeispiele. Besonders auffallend ist dabei der Karmeliter Pater Louyso. Die beiden Männer trafen sich zunächst, um ihre sprachlichen Fähigkeiten auszubauen und Fremdsprachen zu erlernen. Dass es in diesem Rahmen zu Gesprächen mit theologischen Inhalten kam, ist selbstverständlich. Obwohl es zwischen ihnen große Differenzen gab und Nottbeck auch festhielt, dass sein Lernpartner sehr energisch gegen ihn argumentierte, findet der Pater beinahe über den ganzen dokumentierten Zeitraum Erwähnung. Aus der Wortwahl Nottbecks geht dabei hervor, dass sie mit der Zeit weniger heftig diskutieren und sich einander annähern. Dies geht nicht so weit, dass sich hier eine tatsächliche Freundschaft gebildet hätte, aber es war möglich, einen lang anhaltenden, interkonfessionellen Dialog zu führen. Weitere Zeugnisse über Nottbecks Wirkung sind eher selten. Er begegnete jedoch im Jahr 1746 einem dänischen Prediger, der ihn kennenlernte und ihm einige Zeilen in einem Traktat widmete. Ein Auszug daraus fand schließlich seinen Weg auf den Synodal-Gemeintag am 31. Mai 1747 in Herrnhaag. Nottbeck und der Däne wurden über einen holländischen Kapitän miteinander bekanntgemacht und man baute eine positive Beziehung zueinander auf. Nottbeck vermerkte im Jahr 1746 einen dänischen Pfarrer mit Namen Penz, den er am 9. August kennenlernte: „Ein Dänischer Schiff-Prediger namens Penz sprach mit mir u. einigen andern über unsre Gemeine, u. gab ihr ein gutes Lob, hatte auch von der Schrifft u. dem Heyls Weg hübsche Erkäntniße, u. war sehr artig.“ Penz äußerte sich zu den Treffen: „ich […] kann mit Wahrheit sagen, daß ich nichts ungereimtes oder unanständiges an diesem Menschen gefunden, doch geben ihm nicht alle Leute dieses Zeugnis, die vielleicht auch ihre raison haben.“ Diese Einschätzung des Dänen wird nicht weiter ausgeführt. Das Verhältnis der beiden spricht aber auch von dem Problem Nottbecks, wenig Anerkennung ob seiner fehlenden Ordination zu genießen. Denn während Nottbeck seine Motive für den Kontakt mit Penz nicht gänzlich offenlegt, schreibt der Däne: „Der Missionair hielt sich nah der Zeit mehr zu mir um sich dadurch bei seinen Zuhörer, die ihm oft das vorgeworfen, er wäre nicht ordinirt, eine kleine Autorität zu verschaffen. Dazu contribuirte ich, so viel ich konnte und dankte Gott, daß Christus auf

223 Man muss Nottbeck allerdings zugestehen, dass er auf ausdrücklichen Wunsch der betroffenen Katholiken mit diesen im Hospital verkehrte. Die katholische Kirche respektierte demnach kein Selbstbestimmungsrecht ihrer Mitglieder. Vermutlich war alles auch nur ein Vorwand, um Nottbeck von dem allzu freundlichen Pater Louyzo fernzuhalten.

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einige Art gepredigt werde. Endlich bat er mich, ich möchte vor diesen armen Leuten eine Rede halten im Sclavenhause, es wurde aber zu spät begehrt.“224 Der Ton von Penz bleibt jedoch stets freundlich gegenüber Nottbeck, und er unterstützt den Herrnhuter in seinem Vorhaben nach seinen Möglichkeiten. Aus dem Beitrag des Dänen für die Gemeine zu Nottbeck geht auch hervor, dass Nottbeck entgegen der eigenen Aussagen sehr ärmlich lebte und einige Mühsal für sein Vorhaben ertrug: „Er ist da auf seine eigene Rechnung, lebt kümmerlichst, aber vergnügt und will nicht quittiren, so lange er was gutes ausrichten kan und einiger massen subsistiren. Ich stärkte ihn in seinem Vorsaz und will hoffen, daß Gott seine Arbeit, so wohl segnen als belonen wird.“225 Gemäß dem Tagebuch Nottbecks verließen die dänischen Schiffe und somit wohl auch Penz Algier am 15. August wieder. Penz’ Urteil unterstreicht die bisherigen Feststellungen zur Person und Mission Nottbecks. 6.4 Erfolge und Konflikte mit den freien Bewohnern Algiers Auch von nicht theologisch geschulten Personen erhält Nottbeck vereinzelt deutlichen Zuspruch. Besonders einprägsam dürfte für ihn eine Begebenheit am 1.3.1747 gewesen sein: „Abends sang u. spielte aufs Spinet, die dem Doctor u. der Frau L[ogie] sehr gefielen. Beym Eßen fing d. Doct. an aus der Schrifft mit mir zu sprechen, da nahm ich Gelegenheit ihnen manche Wahrheiten zu sagen, u. von der freien Gnade etwas zu erzehlen, welches dem Doct. sehr charmirte, u. die Frau L[ogie] vergoß darüber manche Thränen u. wünschte so wie ich zu seyn.“ Er ging nicht weiter auf den Vorfall ein. Dieser führt aber deutlich vor Augen, dass Nottbeck für einige Leute eine eindeutige Vorbildfunktion hatte. Im Mai 1746 wurde Nottbeck auch gebeten, das Kind der Familie Roberts226 zu taufen. Als Nottbeck dies ablehnte, führte dies zu „Critteley“ beim Bittsteller, der niemand anderes war als Konsul Logie, der durchaus auch andere Prediger für die Taufe hätte aussuchen können. Nottbeck wird in den freien protestantischen Kreisen Algiers also wertgeschätzt und anderen Predigern wie Bolton vorgezogen. Nottbeck stieß aber an einigen Stellen auch auf gewaltsamen Widerstand. Von einem dieser Vorfälle ist zu berichten: Am 12.2.1747 wird er von einem Sklaven aus Mecklenburg aufgefordert, in das Haus seines Herrn zu kommen und dort mit ihm zu reden. Den entsprechenden Patron nennt er den „Juden König“. Besagter Mann tritt zu den beiden hinzu und erkundigt sich, was Nottbeck dort treibe. Er überprüft die Konfessionszugehörigkeit der beiden und will Nottbeck trotz gleicher „Religion“ fortschicken. Nottbeck antwortet, er habe die Erlaubnis des Deys, die Sklaven zu besuchen, und dürfe deshalb bleiben. Schließlich ruft der Jude einen spanischen Sklaven, der den Eindringling entfernen soll. Der Spanier entwendet Nottbeck dafür den (Geh)Stock, treibt ihn unter Prügeln aus dem Haus und verletzt ihn am Kopf. Als Nottbeck am Boden liegt, greift der Bruder des Patrons ein und rettet ihn. Der Sklave soll bestraft werden, doch der Missionar setzt sich dafür ein, dass dies nicht geschieht. Ebenso 224 Synodal-Gemeintag, 2. Teil, gehalten am 31. May 1747 in Herrnhaag, in: Beylagen zum GemeinDiario 1747 (GN.A.2, 1162f). 225 Ebd. 226 Eine Familie von freien Christen in Algier, mit der Nottbeck regelmäßig Kontakt hatte und die für seine religiösen Ideen offen war. Eine familiäre Beziehung zu den Konsuln wird nicht angedeutet.

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lässt er sich vom Bruder des Hausbesitzers versorgen, und nach einem freundlichen Gespräch und Entschuldigungen des Juden geht er „stille und friedlich, überließ die Sache dem Heyland“. Am folgenden Tag wurde Nottbeck von einem Mitglied dieser Judenfamilie fristlos aus seiner Unterkunft verwiesen, die er bei eben dieser Familie gemietet hatte. Abgesehen von seiner Suche nach einer Unterkunft und dem erneuten Einzug bei Logie äußerte er sich nicht weiter zu dem Vorfall. Er nahm auch in keinem Brief darauf Bezug. Er spricht an diesem Tag noch mit einigen Hamburgern, allerdings gibt er nicht an worüber. Nottbeck zeigt sich hier mit großem Gleichmut und der Bereitschaft zur Vergebung. Auch auf der Straße war der Missionar nicht sicher. Am 23.10.1746 notierte Nottbeck: „Gegen 6 Uhr abend, wie ich von Drews komme, begegnen mir diverse trunke Türken, u. einer hieb mit seinem langen Meßer gerade nach m. Kopf, den ich halvirte durch bücken.“227 Es ist nicht verwunderlich, dass Nottbeck, da er bereits schlechte Erfahrungen in Algier gesammelt hatte, misstrauisch wurde. Ob zu Recht oder Unrecht, lässt sich aus heutiger Perspektive nicht mehr sagen, aber er fühlte sich am 19.9.1746 verfolgt: „Vor Babelweit wolte an der Seite treten in ein oder drei andere Orte, wo ich noch nie einen Menschen zu gehen gesehen habe, doch es gingen an beyden Orten gerade vor mich Leute hin, daß ich also genöthiget ward, vorüber zu gehen, u. dachte lieber Gott, warum ist das? Darauf sehe hinter mich, u. da kommt derselbige Türk, der mir den 17ten Febr. nachgestellet, u. läst sich mit mir ein, doch war es am Wege, u. da entkam ihm.“228 Dabei nahm er Bezug auf folgenden Eintrag am besagten Datum: „Mittag spatzierte vors Thor Babelweit, da engagirte sich ein Türke, der einige Wörter Teutsch sprach, an mich, suchte mich in enge passagen zu bringen, wo sonst keine Leute viel gehen, aber allemal einige begegneten, darüber ich, u[nd] weil er sehr mich flattirte, gegen ihn verdächtig ward, u[nd] mich seiner entschlug, er nöthigte mich morgen wider dahin zu kommen, u[nd] verfolgte mich bis zu Hauße.“229 Bis zum Ende seines Aufenthaltes wurde Nottbeck immer wieder von Türken belästigt und bedroht. Sein vorletzter Eintrag vor seiner im Tagebuch und Briefen unangekündigten Abreise lautet: „D. 10ten abends mahnte mir ein Moor vors Thor, was ich alle Tage vors Thor so herum spatzierte, es lauerten einige Türken auf mich, um mich zu greiffen od. gar zu erwürgen. Ich bin auch im Herzen ermahnet worden, u. darum unterlaße nun völlig das Spatzieren vors Thor.“230 Dadurch wäre es, wenn Nottbeck länger in Algier geblieben wäre, unmöglich geworden, die vor der Stadt arbeiteten Sklaven zu besuchen oder zu den Gärten und Landhäusern der Konsuln zu gelangen. Ihm wurde in der Zeit von 1746 bis 1748 auf der Straße außerdem zweimal der „Hut vom Kopf gestoßen“231, einmal „sehr am Halße gestoßen“232 und mit

227 228 229 230 231 232

Tagebuch Nottbeck 23.10. 1746. Tagebuch Nottbeck 19.9.1746. Tagebuch Nottbeck 17.2.1746. Tagebuch Nottbeck 10.9.1748. Tagebuch Nottbeck 9.1.1747 und 18.2.1747. Tagebuch Nottbeck 18.2.1747, an diesem Tag ist Nottbeck zweimal in eine Handgreiflichkeit verwickelt worden.

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einem Messer angegriffen233. Bezieht man den Überfall in seinem eigenen Haus und die Prügel im Hause seines jüdischen Vermieters mit ein, so wurde Nottbeck innerhalb von drei Jahren mindestens acht Mal bedroht oder angegriffen. Durch die gesellschaftliche Sonderstellung der Türken war es ihm auch nicht möglich, Maßnahmen dagegen zu ergreifen, und die stetige Bedrohung seines Lebens wird einen wesentlichen Beitrag zu seiner Abreise geleistet haben. 6.5 Das Ende der Mission in Algier Mit der Abreise Nottbecks endete das Missionsprojekt Algier. Es gab zwar noch einmal eine Bemühung Haberechts, 1752 nach Algier zurückzukehren und die Arbeit dort fortzusetzen,234 allerdings geht aus dem Diarium des Gemeinhauses oder der Hütten vom Jahr 1752 hervor, dass dieses Vorhaben unterbunden wurde.235 Der Anlass dazu wird im nicht Diarium angegeben, dafür äußert sich aber Zinzendorf in seinem Lied „Dank-Opfer“ vom 13.11.1752 dazu in Versform: „Warum schlägts noch mit Algier fehl? Die Brüder sind so wenig schuld, Der botschafter der Algerinen Als Mahometh, an dem versäumnis. Hat ja von neuem, GOtt zu dienen, GOtt weiß allein um das geheimnis Gelobt in seines Divans seel. Der langmuth, oder ungeduld.“ Zunächst einmal wird die bisherige Mission als Fehlschlag bezeichnet, ein deutlich negatives Urteil. Die Schuld wird weder bei den Brüdern noch den Muslimen noch den algerischen Behörden gesucht. Nur Gott weiß, warum Nottbeck und Haberecht die Geduld verloren haben und zurückkehrten, warum die Sklaven keine Geduld mit der Predigt hatten und warum sie ihre körperliche Freiheit nicht früh genug erwarten konnten. Nach herrnhutischer Vorstellung ist es wieder einmal der „Plan des Heilands“, der die tragende Rolle spielt. Weil der „Plan“ nicht fehlschlagen kann, musste bereits alles getan worden sein, was zu tun war, sonst wäre das Projekt nicht durch die ausführenden Personen beendet worden. Hinzu kam, dass dadurch, dass 1752 mit dem Friedensvertrag der Dänen kein protestantischer Staat mehr im Krieg mit Algier lag, es auf lange Sicht absehbar war, dass die Zielgruppe der Sklaven sehr schrumpfen würde. Gleichzeitig gab es Anfragen an Zinzendorf, dass, wenn Algier missioniert werden würde, auch Tripolis und Tunis berücksichtigt werden sollten. Möglicherweise überstieg dies die Kapazitäten der Gemeine, die gerade mit Hocker die Fühler nach Ägypten ausstreckte. Vier Jahre später äußerte sich Zinzendorf nochmals zum Thema: „Algier hat Ordinarius sonst immer soutenirt, bis ihn einmal jemand gefragt, warum Tripoli, Tunis etc. das Evangelium nicht auch hören solten. Das allerschlimmste ist, daß die leute daselbst das Evangelium nicht mögen. Doch ists nicht ganz leer abgegangen.“236 Der wichtigste Grund ist also die Ablehnung des Evangeliums durch die Sklaven. Die Missionsbemühungen wurden wegen Ineffizienz eingestellt. Die Erfolge bei Rogers, Clarck und einigen anderen wurden aber zur Kenntnis genommen, und somit endete das Unternehmen unerwarteter Weise mit einer positiven Endnote. Entgegen aller Erwartungen soll Nottbeck im Januar 1760 noch einmal nach 233 234 235 236

Vgl. Tagebuch Nottbeck 23.10.1746. Brief an Zinzendorf vom 1.5.1752. Extrahirte Historica aus dem Diarium des Gemeinhauses oder der Hütten vom Jahr 1752, 23.3.1752. Synodus Generalis in Bethel vom 8. Juni–5. Juli 1756 Sessio III. nachmittags den 15ten Junii 1756. (UA, R.2.A.39.B.1, 168).

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Herrnhut gerufen worden sein, um ein weiteres Mal nach Algier aufzubrechen. Das erneute Projekt Mission in Algier wurde aber, wahrscheinlich bedingt durch den Tod Zinzendorfs im Mai 1760, nicht mehr umgesetzt oder nur erwähnt.237 Um alle Gründe für das Ende der Mission in Algier zusammenzufügen, muss noch ein Blick auf die emotionale Verfassung Nottbecks geworfen werden. Da Nottbeck seine Tätigkeit ohne explizite Begründung abbricht, ist ein emotionaler Auslöser sehr wahrscheinlich. Nottbeck erwähnte nicht, dass er zu seiner Rückkehr „den Heiland“ mit dem Los befragt hätte. Seiner Gewohnheit gemäß hätte er das eigentlich tun sollen. Die Erfolge Nottbecks sind rar, er kämpfte seit Beginn seiner Mission mit massivem Widerstand. Als in Aussicht stand, dass er Unterstützung bekommen könnte, freute er sich zunächst darüber und äußerte gegenüber Weiss am 12.8.1746: „So wie ich aus Br[uder] Doerbaums Brief gemerket, so soll unser Br[uder] Huffel u[nd] noch ein ander hieher kommen. Sie sollen von Herzen willkommen seyn, damit sie meinen Geist erfreuen, u[nd] das angefangene Werk völlig continuiren. […] weil ich so selten Gelegenheit habe, an die Herzen zu arbeiten, so dringe u[nd] arbeite nur dahin, daß sie mehr fühlen als verstehen sollen, und derohalben wünschte ich, d[a]ß ich ein Hauffen teutsche Bücher hier hätte, welches seinen unfehlbaren Segen haben würde.“238 Aber dann erlebte er die Enttäuschung über die Differenzen mit seinen Brüdern. Es entstanden bei Nottbeck Zweifel am „Plan“, bis schließlich Einsamkeit und Ratlosigkeit in seinem letzten Brief 1747 nicht mehr zu übersehen waren. Er bat um Abberufung und wünschte sich zurück in den Schutz und die Gemeinschaft der Gemeine: „denn wird die l[iebe] Gem[eine] ferner an mich denken, ob ich directe zu sie kommen soll, da ich denn als ein Kückl. unter ihre Flügel kriechen u[nd] mich erwärmen will, oder ob ich etwa zuvor nach Smirna oder Alexandria von hier aus gehen soll, u[nd] die recognosciren, dazu ich mich Ihnen m[ein] th[eurer] Papa u[nd] der ganzen Gem[eine] Segen mich kindl[ich] empfehle. Das Andenken von ihrer Liebe zu mir unwürdigsten ist mir allemal ein Trost u[nd] Balsam. Überhaupt aber ist mir in der Welt nichts als die Marter Gestalt meines Lämml[eins] u[nd] sein Blut, u[nd] die Liebe meiner Geschw[ister] meine einige Freude, Stärke u[nd] Gewinn.“239 Eine schwere Melancholie wird in diesen Zeilen deutlich. Auch Hocker litt in Ägypten unter ähnlichen Gefühlen. Manukyan charakterisierte Hocker während seiner ersten Reise nach Ägypten folgendermaßen: „Den Alltag Hockers durchzog eine gewisse melancholische Grundstimmung: Es war das Gefühl der inneren Einsamkeit und einer gewissen äußeren Isolation, die ihn in der Fremde überfallen hatte. ,Ich bin hier ein ganz isoliertes Wesen, weiß bis dato keinen einigen [=einzigen] ehrlichen Menschen, geschweige einen honneten freund, am al-

237 Vgl. Rantzau, Nachrichten, 269. Die von Rantzau angegebenen Quellen sagen darüber allerdings nichts. 238 Brief an Weiss vom 12.8.1746. 239 Brief an Zinzendorf vom 11.12.1747.

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lerwenigsten ein nach Jesu ausgestrecktes herz; mein lieber Herr ist aber desto näher, freundlicher und gnädiger gegen mich.‘“240 Wenn Nottbeck auf massiven Widerstand traf, dann zeigt sich die gleiche rhetorische Struktur in seinen Briefen. Der zu beklagende Gegenstand wird genannt, die Ausweglosigkeit der Situation beschrieben und schließlich die Verantwortung in die Hände des Heilands gegeben, was zumindest auf rationaler Ebene Zuversicht stiften sollte. „Den Freutag, der ihnen [den Sklaven] frey ist, kommen nun auch sehr selten welche zu mir. Ich verlaße mich nun aber auf den Hirten, der die seinigen hier kennet, u[nd] sie erretten muß aus dem tief verfinsterten Orte, da man fast keine Möglichkeit siehet, wie einer armen Seele unter den großen Haufen u[nd] Gesellschaft der ruchlosten und frechsten Christen, wo einer den andern zu fangen und zu schaden sucht, geholfen werden kan. Die Unordnung und Freyheit unter sich in der Bagne muß man wahrl[ich] mit sehr betrübten Augen ansehen, u[nd] gehts unter den Mohren u[nd] Heiden nicht so wild und frech zu. Es finden sich zuweilen Seelen, bey denen das Wort überzeugend ist, u[nd] die eine Anfaßung u[nd] Willigkeit haben der Wahrheit zu folgen, allein ehe mans gewahr wird, so stecken sie wieder in ihre alte Lüste, u[nd] wühlen in dem Schlamm des Satans, und weil sie sich denn verstecken, so muß ich hier nur so ausharren und versuchen, wie der Heyl[and] helfen wird. Die Sclaven, welche noch am besten gesinnet sind, sagen frey, daß so lange sie in ihren Sclaverey steckten, keine Möglichkeit wäre, sich zu bekehren, welches auch d[er] Schwed[ische] Consul saget, der Bey die 20 Jahren hier gewesen, allein ich traue dem Lamme festigl[ich] zu, daß Es mit der Zeit hier sich Seelen auserlesen u[nd] saml. werde, an die es seine Barmherzigkeit u[nd] Gnade offenbaren will.“241 Es stellt sich die Frage, ob Nottbeck mittels dieser Strategie sein Durchhaltevermögen langfristig stärken konnte. Das Zitat stammt aus der frühen Phase der Mission. Nottbeck blieb noch fast drei weitere Jahre im Land. Das beschworene Vertrauen auf den Herrn passt auch zu seinem Umgang mit der gegen ihn gerichteten Gewalt. Wenn es sich hierbei nicht um geschickte Selbstdarstellung handelte, die weit von der Wahrheit entfernt war, so wird man annehmen dürfen, dass Nottbeck trotz der melancholischen Grundstimmung in seinem Glauben Halt fand. Beide Männer waren in Hinsicht auf ihre emotionale Verfassung kein Einzelfall und verfolgten dieselbe Verarbeitungsstrategie.242 Auch Hockers erste Reise nach Ägypten endete nach drei Jahren mit einem ähnlichen Ergebnis wie Nottbecks Mission in Algier.

240 Manukyan, Konstantinopel, 252. 241 Brief an Neisser vom 27.9.1745. 242 Ein weiteres, sehr passendes Beispiel von Nottbeck: „Der lieben Mutter [der Hlg. Geist] bin ich ein begnadigtes Kind, u[nd] werde von ihr, ohngeachtet meiner großen u[nd] vielfältigen Untreue u[nd] Ungehorsam treul[ich] u[nd] zärtl[ich] gepfleget u[nd] geleitet. Meine Hütte ist was schwächl[ich] doch lebe ich durch Hülfe meines Herrn.“ Brief an Hutton oder Neisser vom 15.6.1746.

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7. Conclusio Nottbeck traf in Algier auf verschiedenen Ebenen auf Widerstände: seitens der zu Bekehrenden auf interkonfessionell-kirchlicher Ebene, seitens der Einheimischen, die seine Gesundheit und sein Leben bedrohten. Bei alledem scheinen die Erfolge selten oder von vorübergehender Natur zu gewesen sein. Verschmäht und vertrieben aus der Baigne und selten zu Hause zur Predigt besucht, versuchte Nottbeck, sich vorwiegend an seine englischen Schützlinge zu halten. Doch auch bei diesen erfuhr er Rückschläge, wenn sie wieder mit dem Trinken anfingen oder sich gegen seine Lehren auflehnten. Die anderen Sklaven, vor allem die Hamburger, erwiesen sich aus mehreren Gründen als schwer zugänglich für Nottbeck. Sie widersprachen ihm theologisch und hörten ihm nicht zu. Die wenigen Männer, die Nottbeck für sich gewinnen konnte, wurden von den anderen bedrängt und wieder zu alten Verhaltensweisen verführt. Nottbecks Weltsicht und seine theologischen Grundsätze führten ihrerseits dazu, dass er auf die primären Bedürfnisse der Sklaven nicht weiter einging. In diesem Zusammenhang sind besonders die Begriffe der inneren und äußeren Freiheit von großer Relevanz. Es zeigte sich, dass Nottbeck Freiheit und das Wohl eines Menschen nach Maßstäben bewertete, die sich von denen der Sklaven sehr unterschieden. Neben dem Vorwurf der Ungelehrtheit und der Weigerung, Sakramente zu spenden, lag in den unterschiedlichen Bewertungen der Situation der Sklaven und der für ihr Wohlergehen wichtigsten Güter – innere oder äußere Freiheit – ein großes Konfliktpotential, welches auch häufiger offen zu Tage trat. Die Persönlichkeit Nottbecks war stark vom pietistischen Gedankengut Herrnhuts geprägt. Dies äußerte sich in dem verwendeten Vokabular und der sehr spezifischen Perspektive Nottbecks auf die Situation der Sklaven. Dennoch zeigte sich, dass der Missionar in seinen Überzeugungen und Tätigkeit von den Vorstellungen seiner Mitbrüder Christian Nottbeck und Gottlieb Haberecht stark abwich. Sie kritisierten ihn und stellten sein missionarisches und predigendes Wirken infrage. In diesem Konflikt empfand sich Nottbeck als Fehlbesetzung für die Mission in Algier. Man kann die zuvor genannten Faktoren als Gründe dafür ansehen, dass Nottbeck die Entscheidung traf, aus Algier abzureisen und seinen „Plan“ dort aufzugeben. Trotzdem wandte er sich nicht von der Brüdergemeine ab, sondern kehrte nach Herrnhaag zurück. Zu seiner verhängnisvollen Lage führte ferner seine Neigung, sich bei der gehobenen Gesellschaft aufzuhalten, und seine seltene Rücksprache mit der Heimat. Auch eine gewisse Planlosigkeit im heutigen Sinne und Unbeholfenheit wirkten sich nachteilig auf seine Beziehung mit den Sklaven aus. Ein psychologischer Prozess wurde in Gang gesetzt, der aus den häufigen Misserfolgen, den negativen Rückmeldungen, der Zurückweisung und heftigen Kritik derjenigen, die eigentlich auf seiner Seite sein sollten, hervorging und Nottbeck melancholisch machte. Denn obwohl er mit Rogers und Clarck Erstlinge bekehrt und damit den „Plan“ im Grunde erfüllt hatte, reichten ihm diese Erfolge nicht aus. Resignation und Verzweiflung wie auch der Wunsch nach Gemeinschaft und Sicherheit überwogen schließlich das Gewicht des „Plans“. Nicht zuletzt wird Nottbeck vor der willkürlichen Gewalt und den Drohungen gegen ihn geflohen sein. In der Auseinandersetzung mit seinen Herrnhuter Brüdern wurde Nottbeck vorgeworfen, er verfüge nur über „Kopf-“ und keinen „Herz-Glauben“, also einen Glauben, der sich in gedanklichen Konstrukten erschöpft und nicht gelebt und gefühlt wird. Auch wenn Nottbeck

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sich an manchen, möglicherweise sogar an vielen Stellen nicht so verhalten hat, wie es sich Dober und Zinzendorf vorgestellt hatten, und damit auch nicht der Einzige war, hat er häufig Gleichmut und Gnade bewiesen. Dies gilt im besonderen Maße gegenüber denjenigen, die ihm geschadet haben. Um so zu handeln, war eine bestimmte innere Einstellung vonnöten, wie sie nicht zuletzt im Neuen Testament gepredigt wird und von einem gläubigen Christen gelebt werden kann. Nottbeck ist dabei auch kein Einzelfall. Die Hindernisse, denen er sich gegenüber sah, sind teilweise auch Hocker begegnet, und wo Nottbeck gegen eine Richtlinie verstieß, handelte er gegen eine Instruktion, die auf Fehlern von Missionaren in der Vergangenheit beruhte.243 Man könnte gegen ihn vorbringen, er hätte aus den Erfahrungen anderer lernen sollen und können. Man darf aber auch nicht vergessen, dass Carl Nottbeck aufgrund seiner eigentümlichen Persönlichkeit die Mission in Algier wohl nie reibungslos hätte führen können. Er hätte zumindest aus den Vorgängen in Algier und seinen Erlebnissen mit Fitz lernen sollen, dass er sich den gegebenen Umständen nicht anpassen konnte oder wollte. Möglicherweise haben auch die Erfahrungen in Lissabon dazu beigetragen, dass Nottbeck einige Zeit länger durchgehalten hat. Der Brief Zinzendorfs zur Beendigung seiner Tätigkeit in Portugals Hauptstadt kann aber mit dazu beigetragen haben, dass Nottbeck eher dazu bereit war, in den einfachsten Verhältnissen zu leben und sich ganz dem Nutzen seines Projektes unterzuordnen. Im Laufe des Beitrags hat sich herausgestellt, dass die Motive Nottbecks von besonderer Relevanz für sein Missionsprojekt waren. Nottbeck war als Herrnhuter Missionar getrieben von seinen inneren religiösen Erfahrungen und Empfindungen, die durch das Gefühl der Zugehörigkeit zu den Herrnhutern noch verstärkt wurden. Wenn ihm die Gemeinde der Kinder Gottes „im Namen des HERRN“ seinen „Plan“ kundtat, verließ er sich darauf, dass „der HERR“ ihm trotz menschlicher Schwächen mit allem Notwendigen für seinen Dienst ausstatten würde. Zweifel, die ihm im Verlauf seiner Tätigkeit darüber kamen, konnte er – allein gelassen – nur als eigene Schwäche auslegen. Stärkung konnte er dann nur direkt „vom HERRN“ erwarten oder mittelbar in der Gemeine suchen. Sein besonderes religiöses und theologisches Profil versperrte ihm den Zugang zu den Perspektiven von nicht herrnhutisch geprägten Personen. Seine Prägung erlaubte es ihm im Gegenzug aber auch entgegen allen anderer Einschätzungen oder Bewertungen, seine Lage weit über zwei Jahre hinaus zu ertragen. Sie befähigte ihn dazu, sich fromme Ziele zu stecken und diese trotz aller Widrigkeiten wie soziale Konstellationen oder zeitlich bedingte gesellschaftliche Faktoren zu verfolgen.

243 Z.B. Instruktionen an die Heidenboten 1738, in: Bintz, Texte, 54.

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Reformation in einer orientalischen Kirche des 19. Jahrhunderts? Beobachtungen anhand des „Vaters“ der „lutherischen Nestorianer“ Yuhannon Pera (1850–1924) Martin Tamcke Wir feierten im Jahr 2017, beinahe weltweit, das 500. Jahr seit Beginn der Reformation. Die Reformation nahm mit Luther ihren Ausgang, wurde dann aber schnell ein breites Flussbett von Theologen: Melanchthon, Calvin, Zwingli, Müntzer, Karlstadt, Bucer, Bugenhagen und zahlreiche mehr, darunter auch Frauen, wie Elisabeth von Braunschweig. Immer mehr Länder wurden von der Reformation erfasst: zu Deutschland kam Frankreich, die Niederlande, Ungarn, Rumänien, Skandinavien, Tschechien, die Slowakei, Estland und das Baltikum und immer mehr Länder hinzu. In einigen wurde die Reformation erfolgreich bekämpft und unterdrückt, in anderen etablierte sie sich. Und doch: Die Reformation war weithin ein nord- und zentraleuropäisches Geschehen in der Zeit der beginnenden Eroberung der Welt durch die Europäer. Europa war ganz selbstverständlich das Kerngebiet des Christentums, das in Asien und Afrika besonders durch den Islam stark reduziert worden war und in Osteuropa weithin unter der Herrschaft des Islams stand. Versuche, die Internationalität dieses Vorganges hervorzuheben dadurch, dass auf ähnliche Reformbewegungen zur gleichen Zeit hingewiesen wird, wie Johannes Schilling das in seinem Buch zum Jahr 1517 versucht, haben deutlich ihre Grenzen.1 Das stellten wir auch gemeinsam fest, als wir in Trient uns dazu noch einmal kritisch miteinander verständigten und dabei mit Gudrun Krämer (Berlin) etwa auch den Islam einbezogen oder mit Roni Weinstein (Jerusalem) das Judentum. So einfach ist es mit der internationalen Rezeption der Reformation also nicht. Da hat die Missionsepoche vom 16. bis zum frühen 20. Jh. massiver zur Verbreitung des Gedankengutes der Reformation beigetragen. Und das war dann nicht mehr nur das Gedankengut Luthers und des Jahres 1517, das waren Formen reformatorischer Einsichten, die oft mit dem Luthertum in Spannung standen – Puritaner, Reformierte aller Gattungen, Baptisten, Methodisten etwa. Oft genug waren das, wenn es um lutherische Missionen ging, Bewegungen, die gerade nicht theologisch übereinstimmten mit den aus Luthers Impuls sich speisenden Landeskirchen, diesem Zwischending zwischen Staat und Religion, das weithin sich an staatliche Gegebenheiten anpasste und zugleich über Staat und Schule politisch relevant war als ein durchaus nicht nur religiöser Faktor. Und trotz dieser zahlreichen Bre1

Zum Programm der Konferenz: https://email.gwdg.de/owa/#path=/attachmentlightbox. Die wichtigsten Beiträge wurden veröffentlicht in: Heinz Schilling/Menchi Seidel, The Protestant Reformation in a context of Global History, Religious Reforms and World Civilizations (Annali dell’Istituto storica italogermanico in Trient 33), Bologna 2017.

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chungen der reformatorischen Anfänge, trotz ihrer Überführung zuweilen in Ordnungssysteme, die öffentliches und privates Leben regulierten, blieb der Impuls Luthers bestehen und wirkte nun auch weit über die Grenzen Europas und des Christentums hinaus. Zuweilen wissen wir nur wenig darüber, wie dieser Impuls sich anderen Kulturen, Konfessionen und Regionen vermittelte. So ist das auch bei dem Fall, den ich Ihnen heute vorstellen möchte. Ich erhebe daraus nicht gleich den Anspruch, dass dieser Fall exemplarisch zu sein hat. Dieser heute viel zu oft erhobene Anspruch sucht eine Legitimation für mikrohistorische Arbeit zu geben, derer sie gar nicht bedarf. Die feinen Beobachtungen zu menschlichen Empfindungen, Einstellungen und Lebensvollzügen bei Stifter oder Siegfried Lenz erschließen eine Welt, die selbst mit Blick auf die sogenannte „große“ Geschichte von Weltreichen und Herrschern, von Kirchen und Patriarchen zuweilen tiefe Auswirkungen haben. Sehen wir uns den Fall des Yuhannon Pera etwas näher an.2 Was trieb ihn dazu, seinen Sohn zeichenhaft mit dem Vornamen „Luther“ zu nennen?3 Was trieb ihn dazu, Jahrzehnte seines Lebens der Verbreitung des Luthertums in seiner Heimat, dem Nordwesten des Iran, zu widmen?4 Wieso übersetzte sein Sohn Luthers Katechismus ins Syrische und der beiden gemeinsame Weggefährte Yuhannon Pascha zudem noch die Confessio Augustana?5 Wir stehen mit solchen Fragen, wie Sie gleich sehen werden, im Nebel. Da und dort ist ein wenig zu erkennen, was da gewesen sein könnte. Oft genug bleiben aber Sachverhalte im Dunkel der Geschichte. Wer sich im Iran des 19. Jh.s als Angehöriger der dortigen syrischen Christenheit für das Luthertum und Luther und die Reformation interessierte, dessen Interesse am Westen war deutlich anders gelagert als das vieler anderer Glieder der (Assyrischen) Apostolischen Kirche des Ostens. Dieser Kirche gehörten traditionellerweise die syrischsprachigen Christen des Iran an. Westliche Missions- und Unionsbewegungen hatten immer wieder Gläubi-

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Der hier vorgelegte Vortrag hat eine Reihe speziellere Aufsätze zu Vorläufern, die das Thema in einem weniger breiten Rahmen angingen (etwa bei der Reformationskonferenz in der Slowakei an der Theologischen Fakultät in Bratislava – in Drucklegung – oder an der Reformationskonferenz im Libanon an der Near Eastern School of Theology oder an der russischen Konferenz zum Christlichen Orient an der Eremitage in St. Petersburg oder dem Deutschen Syrologentag in Eichstätt), inhaltlich aber hier mit eingingen. Der Aufsatz bei der Konferenz in der Slowakei ist großenteils eine Übersetzung des hier vorgelten Beitrages. 3 Martin Tamcke, Art.: Pera, Luther, in: BBKL 18 (2001), 1138f; Ders., Luther Pera’s Contribution to the Restoration of the Church of the East in Urmia, in: The Harp 8/9 (1995/96), 251–261; Ders., Urmia und Hermannsburg. Luther Pera im Dienst der Hermannsburger Mission in Urmia 1910–1915, in: OrChr 80 (1996), 43–65. 4 Ein erster – heute revisionsbedürftiger – Versuch dazu war: Martin Tamcke, Pera Johannes, in: René Lavenant, VI. Symposium Syriacum 1992 (Orientalia Christiana Analecta 247), Rom 1994, 361–369. Vgl. Ders., „Reform der Kirche des Ostens von innen?“ Programm und Lebenswerk des Yuhannon Pera, in: Peter Bruns/Thomas Kremer (Hg.), Studia Syriaca. Beiträge des IX. Deutschen Syrologentages in Eichstätt 2016 (Eichstätter Beiträge zum Christlichen Orient 6), Wiesbaden 2018, 181–192. Mit zusammengefassten Texten von ihm zur Liturgie: Die Hermannsburger Mission in Persien (mit einem Anhang: Pera Johannes, Kirchliche und bürgerliche Sitten der Nestorianer in Persien), in: Martin Tamcke/Andreas Heinz, Zu Geschichte, Theologie, Liturgie und Gegenwartslage der syrischen Kirche. Ausgewählte Vorträge des deutschen Syrologen-Symposiums vom 2.–4. Oktober 1998 in Hermannsburg (Studien zur Orientalischen Kirchengeschichte 9), Hamburg 2000. 231–265 (Anhang: Seite 266–273). 5 Zu ihm: Martin Tamcke, Art.: Pascha, Johannes, in: BBKL 18 (2001), 1118f; Ders., Johannes Pascha (1862–1911). Der Leidensweg eines „kollektierenden Syrers“, in: The Harp 11–12 (1998/99), 203–223.

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ge dieser Kirche gewinnen können.6 Das hatte stets zum Zerwürfnis mit der Mutterkirche geführt. So stärkte die französisch-katholische Mission der Lazaristen die Chaldäer, also die mit Rom verbundene Kirche. 7 Die Mutterkirche verlor einen erheblichen Teil ihrer Gläubigen an die Union mit Rom. Die Mission der amerikanischen Presbyterianer ab 1835 führte zu einer eigenständigen protestantischen Kirche syrischsprachiger Christen, der Assyrian Evangelical Church, die bis heute existiert. Die Mission der Russen verstärkte die Anschlussbewegung an die Russische Orthodoxe Kirche, die unter Leitung des Bischofs Yonan große Teile der syrischen Christenheit der Urmia-Region vorübergehend mit Moskau vereinte.8 Immer wieder entstanden Konversionsbewegungen aus der Interaktion der Kirche mit Ländern und Kirchen, Missionen und Mächten außerhalb des Iran. Solche Kontakte zeigen die syrischen Christen des Iran als Grenzgänger. Dazu hatten sich Angehörige der Kirche des Ostens schon lange entwickelt. Der für Iran desaströse Frieden von Gulistan vom 12. Oktober 1813, der den russisch-iranischen Krieg beendete, hatte Aserbaidschan in einen russischen und einen iranischen Teil zertrennt.9 Der für Persien demütigende Friedensvertrag von 1828 hatte zudem ausdrücklich festgelegt, dass jeder persische Untertan frei in das russische Staatsgebiet auswandern konnte. Darüber wurde zum Beispiel die bereits im Frieden von Gulistan russisch gewordene Erdölstadt Baku „das Zentrum der iranischen Arbeiterschaft!“ 10 Hundertausende von Persern – unter ihnen besonders viele Angehörige der Apostolischen Kirche des Ostens – verließen ihre persische Heimat auf der Suche nach einem Auskommen für sich und ihre oft in der Heimat verbliebenen Familien.11 Ostsyrer gründeten so in Städten wie Armawir neue Gemeinden. Andere Ostsyrer zog es nun, möglicherweise eine Folge der Präsenz westlicher Missionsgesellschaften unter ihnen, über Europa, wo besonders Frankreich ein prominentes Zielland der Migranten wurde, bis in die USA, wo alsbald zahlreiche ostsyrische Gemeinden entstanden.12 Viele Ostsyrer ließen zunächst ihre Familien in der iranischen Heimat zurück, kamen aus Russland etwa noch über den Winter nach Hause, wenn sie sich nur als Gast- oder Wanderarbeiter verdingten, oder aber waren auf briefliche Korrespondenz mit ihren Frauen und Kindern angewiesen.13 Die politischen Grenzen standen dabei immer noch zur Diskussion mittels des steten russischen Übergreifens auf den Iran und der starken Präsenz der Briten im Süden des Staates. Die erste iranische Revolution, die sogenannte konstitutionelle Revolution von 6 Klassische Darstellung im deutschsprachigen Raum: Julius Richter, Mission und Evangelisation im Orient, Gütersloh 1908. 7 Herman Teule, Les Assyro-Chaldéens. Chrétiens d’Iraq, d’Iran et de Turquie, Turnhout 2008. 8 E. C. Suttner, Die Union der sogenannten Nestorianer aus der Gegend von Urmia/Persien mit der russischen Kirche (Ostkirchliche Studien 44), Würzburg 1995, 33–40. 9 Werner Zürrer, Persien zwischen England und Rußland 1918–1925. Großmachteinflüsse und nationaler Wiederaufstieg am Beispiel des Iran, Bern 1978, 11. 10 A.a.O., 12. 11 Zürrer gibt an, dass 200.000 Personen bis 1910 auf diese Weise verlassen hatten, vgl. a.a.O., 14. 12 Martin Tamcke, Nach Russland, Deutschland, „ja über den Ozean in das Land der Freiheit und des Dollars“. Streiflichter aus deutschen Akten zur ersten Migrationswelle der Ostsyrer (Assyrer/„Nestorianer“), in: The Journal of Eastern Christian Studies 54 (2002), 25–38. 13 Martin Tamcke, „… damit die Unschuld und Ehre gerettet und das Recht geschützt oder der Betrug offenbar und gestraft werde.“ – Ein Exempel aus der ersten Migrationswelle der Nestorianer im Südrußland des 19. Jahrhunderts, in: Ders., Syriaca (Studien zur Orientalischen Kirchengeschichte 17), Hamburg 2002, 449–458.

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1905–1911, hatte zunächst den Erhalt der Unabhängigkeit und die Beseitigung der erdrückenden Präsenz ausländischer Mächte zum Ziel. 14 Deutschland erschien dabei auf der Bühne als eine besonders die britischen Interessen irritierende Größe. Augenfällig dokumentiert die Gründung der deutsch-iranischen Militärmission deutsches Interesse am Iran.15 Paradigmatisch war das Interesse des Schahs an den Deutschen während seines Deutschlandaufenthaltes gewesen. In Berlin parallelisierte er seine Erfahrungen mit dem iranischen Klerus mit denen des protestantischen Reichskanzlers Bismarck im Kulturkampf mit den katholischen Bischöfen. So jedenfalls wollte es ein unter seinem Namen erschienenes Reisetagebuch. In diesem Reisetagebuch schrieb Naser ad-Din Schah (1831–1896) unter dem 4. Juni 1873: „Den Deutschen geht es nicht anders als uns in Iran. Diese Mullahs scheinen in aller Welt und unter allen Konfessionen gleich zu sein […] Sollte dem deutschen Kaiser in seinem sogenannten Kulturkampf ein Erfolg beschieden sein, so will ich nicht zögern, auch in meinem Land an energische Reformen heranzugehen, sollte es mich auch Opfer an altüberlieferten Gebräuchen kosten.“16 Bis zum Ende der Monarchie wird dieser Kampf zwischen Religion und Herrscher im Iran anhalten und stets auch Nahrung finden in deutschen Modellen zum Verhältnis dieser beiden Größen. Das 1874 als Reisetagebuch des Schahs erschienene Werk konnte später als Fälschung entlarvt werden. 17 Dennoch entsprach es als Fiktion Entwicklungen im Iran wie auch in Deutschland. Was sich da auf den Höhen von Politik und Kultur an Interaktion ereignete, das fand seinen Niederschlag in ganz anderer Weise im Leben von Menschen, die sich – wie Yuhannon Pera – die Erneuerung ihres Geisteslebens von westlichen Impulsen her versprachen. Die internationalen politischen Verwicklungen hatten ihren Niederschlag gerade auch im Bereich der Religion und Mission. Für die Russen bereitete ihre Union mit den Syrern eine erhoffte Okkupation des Iran vor. Die Engländer konnten ihren Einfluss erweitern, indem sie die künftigen Patriarchen der Kirche in England erzogen, solange sie noch Jungen waren. Bahnbrechend waren die amerikanischen Presbyterianer durch ihr Schul- und Hochschulwesen. Das Neuostsyrische halfen sie entscheidend zu verschriftlichen und gründeten zentrale Organe im Bereich des Pressewesens.18 Aber natürlich löste das auch einen heftigen Streit unter den syrischen Christen darüber aus, ob der moderne Dialekt verschriftlicht

                                                            

14 Mangol Bayat, Iran’s First Revolution. Shi’ism and the Constitutional Revolution of 1905–1909. Studies in Middle Eastern History, Oxford 1991; Ahmad Kasravi, History of the Iranian Constitutional Revolution. Tarikh-e Mashrute-ye Iran I, Costa Mesa 2006. 15 Zur deutschen Persienpolitik informiert Ulrich Gehrke, Persien in der deutschen Orientpolitik während des Ersten Weltkrieges. Darstellungen zur auswärtigen Politik 1, Stuttgart 1960. 16 Hans Leicht (Hg.), Ein Harem in Bismarcks Reich. Das ergötzliche Reisetagebuch des Nasreddin Schah, Stuttgart 42001, 125f. 17 Leichts Edition ist die Neuauflage einer 1874 erschienen gefälschten deutschen Übersetzung des Europa-Tagebuches, die in Wirklichkeit von dem Wiener Journalisten und Autor Michael Klapp (1834– 1888) verfasst wurde und als Satire auf die europäische Gesellschaft diente; von dem Herausgeber der neuen Auflage, Hans Leicht, wurde dieser Umstand offenbar nicht bemerkt. Christl Catanzaro, Michael Klapps „Reisetagebuch des Nasreddin-Schah“ – Plagiat oder Fiktion?, in: Holger Preissler/Heidi Stein (Hg.), Annäherung an das Fremde. XXVI. Deutscher Orientalistentag vom 25. bis 29.9.1995 in Leipzig – Vorträge (= ZDMG Suppl 11), Stuttgart 1998, 411–418; Eberhard Krüger, Die Reisetagebücher Nāṣir ad-Dins – ein autobiographisches Zeugnis?, in: Die Welt des Islams 14, Nr. 1–4 (1973), 171–191; Naghmeh Sohrabi, Taken for Wonder. Nineteenth-Century Travel Accounts from Iran to Europe. Oxford 2012 (Kap. 4: The Traveling King. Nasir al-Din Shah and His Books of Travel, 73–103). 18 Dazu ausführlich Rudolf Macuch, Geschichte der spät- und neusyrischen Literatur, Berlin 1976.

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werden dürfe oder nicht. Das bis dahin allein schriftlich verwendete klassische Syrisch, das in der Liturgie gesungen und von nicht wenigen als „heilige Sprache“ empfunden wurde, war nun in seiner Stellung gefährdet.

Yuhannons Weg nach Deutschland Folgen wir kurz einem Repräsentanten des Interesses am Luthertum auf seinem Weg. Der erwähnte Yuhannon kam im Jahr 1875 aus dem Dorf Ardischei bei Urmia, wo er 1850 geboren worden war, nach Russland, um lutherische Theologie zu studieren.19 Zuvor hatte er eine amerikanische Missionsschule besucht. Im heute ukrainischen Odessa riet der dortige deutsche lutherische Pfarrer ihm, sich mit seinem Ausbildungswunsch nach Deutschland zu wenden und sandte ihn nach Leipzig zur Leipziger Mission. Er machte sich zu Fuß auf den Weg, mit wenig Geld. Der Direktor der Leipziger Mission, Hardeland, konnte aber dem Ansinnen des jungen Syrers nicht entsprechen.20 Er verwies ihn an die Basler Missionsgesellschaft, die zwar nicht lutherisch war, aber seit langer Zeit Beziehungen zum Orient unterhielt.21 In Straßburg geriet Yuhannon dann aber an die Führer der lutherischen Kirche im Elsass. Deren Führungsgestalt, Pfarrer Horning, nahm ihn freundlich auf und sorgte für eine lutherische Ausbildung für Yuhannon, damit der nicht in die Hände der Schweizer Reformierten fiele.22 Horning war gemeinsam mit Pfarrer Magnus in Bischheim der Gründer der konfessionellen lutherischen Missionsgesellschaft des Elsass gewesen.23 Er engagierte sich umgehend für den Syrer. Er bot ihn der Hermannsburger Mission für deren Missions19 Kurzbiographie: Martin Tamcke, Art.: Pera, Johannes, in: BBKL 18 (2001), 1136–1138; Ders., Pera Johannes, in: René Lavenant, VI Symposium Syriacum 1992, OCA 247 (1994), 361–369; Pera Johannes, Kirchliche und bürgerliche Sitten der Nestorianer in Persien, in: Martin Tamcke/Andreas Heinz, Zu Geschichte, Theologie, Liturgie und Gegenwartslage der syrischen Kirche. Ausgewählte Vorträge des deutschen Syrologen-Symposiums vom 2.–4. Oktober 1998 in Hermannsburg, Hamburg 2000, 266–273. 20 Zum Leipziger Missionsdirektor Hardeland (1828–1903) vgl. Friedrich Wilhelm Bautz, Art.: Hardeland, Julius, in: BBKL 2 (1990), 523. Nach Theologiestudium in Göttingen (Lücke, Ehrenfeuchter) 1850 Hauslehrer, dann 1853 Subrektor der Gelehrtenschule in Ratzeburg, 1854 Pfarrer in Lassahn/Herzogtum Lauenburg, 1860 Inspektor der Leipziger Mission (Nachfolge von Karl Graul), 1891– 94 Superintendent in Doberan/Mecklenburg-Schwerin. Bemühte sich vergeblich um den Erhalt des Prinzips akademischer Studien für Missionare und errichtete schließlich das Leipziger Missionsseminar. 21 Andreas Waldburger, Missionare und Moslems. Die Basler Mission in Persien 1833–1837, Basel 1984. 22 Die folgenden Ausführungen gehen parallel mit einem Vortrag, den ich in Princeton 2003 gehalten habe, vgl. Hugoye. Journal of Syriac Studies 7 (2004). Vgl. auch Martin Tamcke, Die Anfänge der lutherisch-nestorianischen Bewegung im Iran, in: Pro Georgia. Journal of Kartvelological Studies 19, Warschau 2009, 43–50. 23 Zu Friedrich Theodor Horning (1809–1882) vgl. Friedrich Wilhelm Bautz, Art.: Horning, Friedrich Theodor, in: BBKL 2 (1990), 1064–1065. Ursprünglich gemäßigt rationalistisch, seit 1846 konfessioneller Lutheraner, der in den Beziehungen der Lutheraner des Elsass zur Basler Mission die Gefahr kirchlicher Union witterte. Mit seinem Bruder Wilhelm gründete er die Evangelisch-lutherische Missionsgesellschaft zur Unterstützung der Leipziger und Hermannsburger Missionsarbeit. Entschiedener Kämpfer gegen alle Werke, die sich nicht eindeutig zum Luthertum bekannten. Zu Magnus als Gesangbuchreformer: Eduard Emil Koch/Adolf Wilhelm Koch/Richard Lauxmann, Geschichte des Kirchenlieds und Kirchengesangs der christlichen, insbesondere der deutschen evangelischen Kirche, 3. umgearb. verm. Aufl. Stuttgart 1866–77 (Nachdruck Hildesheim 1973), 133.

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seminar an. Yuhannon machte er klar, „daß er in der unierten Basler Missionsanstalt lutherische Theologie schwerlich würde studieren können“. 24 So schickte er ihn nach Hermannsburg. Das Verhalten des bekenntnistreuen Lutheraners im Elsass verwundert weniger als das vorausgehende Interesse Yuhannons an einer Ausbildung in lutherischer Theologie. Das war gerade nicht jene Theologie, die er bei den amerikanischen Missionaren kennengelernt hatte. Besonders erklärungsbedürftig wird die Wendung zur lutherischen Theologie angesichts der Tatsache, dass der Vater Yuhannons in Ardischai bis 1893 als Prediger der Presbyterianer tätig gewesen war.25 Der damalige Direktor der Hermannsburger Mission nahm das Angebot der Elsässer unter der Voraussetzung an, dass seiner Mission keine Kosten durch die Übernahme der Ausbildung des Syrers entstünden.26 Die Missionsleute im Elsass sagten zu, die Kosten der Ausbildung zu begleichen.27 So kam Yuhannon nach Hermannsburg. Er konnte einen syrischen Brief eines Bischofs Joseph aus dem Jahr 1874 vorweisen, der ihn den Lutheranern empfahl. Der „an die gesamte christliche evangelische Bruderschaft von Europa“ gerichtete Brief bezeugte, dass der Diakon Yuhannon aus dem Dorf Wazirabad bei Urmia von der dortigen Kirche „nach Europa oder nach Preußen geschickt“ worden sei. Unzweideutig war

                                                            

24 Hermannsburger Missionsblatt 1882, 32. Dies entsprach Hornings entschiedenem Kampf gegen die Basler als Repräsentanten einer „Mischung“ anstelle konfessioneller Eindeutigkeit. – Georg Haccius, Hannoversche Missionsgeschichte 3/1, Hermannsburg 1914, 412–422, bes. 415. Zu den Anfängen vgl. auch Karl Röbbelen, Aus unserer Arbeit, Missionsblatt für unsere liebe Jugend 12, November 1909, 2f. Pfarrer Friedrich Theodor Horning in Straßburg wird dabei bewusst in seiner Funktion für das erweckte Luthertum parallelisiert zu Luwig Harms in Hermannsburg. Röbbelen konnte sich zudem darauf berufen, Horning in seiner Jugend selber einmal gesehen zu haben. Er sei ihm „unvergesslich geblieben“. Als Geburtsdatum Hornings gibt Röbbelen den 25. Oktober 1809, als Todesdatum den 21. Januar 1882 an (eigentümlicher Weise findet sich unter dem mitten auf der Seite abgedruckten Bild Hornings der 20. Januar 1882 als Todesdatum). Bei Horning nun sei Pera Johannes vorstellig geworden, habe sich als „evangelisch gesinnt“ ausgegeben und seinen Wunsch vorgetragen, „in Europa in der lutherischen Kirche zum Missionsdienst für seine Heimatkirche“ ausgebildet zu werden. Als er das gesagt habe, habe er „Pfarrer Hornings Angesicht so freundlich leuchten“ gesehen, „wie eines Engels Angesicht“, meinte späterhin Pera Johannes. Horning behielt Pera Johannes zunächst noch einige Zeit in seinem Pfarrhaus, ehe er ihn nach Hermannsburg weitersandte. Zwei Jahre nach der Entsendung des Pera Johannes nach Persien starb Horning. 25 Hermannsburger Missionsblatt 1907, 339. Dort berichtet Luther Pera, der Sohn des Pera Johannes, über einen Besuch in der Gemeinde Ardischai und erzählt, wie oft er dort im „Pfarrhause“ als Kind zu Gast war, weil dort sein Großvater Prediger der Presbyterianer gewesen sei, und weist darauf hin, dass die „schöne“ Kirche aufgrund eines Befehls des Schahs gebaut worden sei für die altsyrische Gemeinde (also nicht für die Presbyterianer, für die der Großvater Luther Pera und Vater Johannes Pera dort wirkte). 26 Sowohl die Empfehlung nach Leipzig als auch das Studium in Hermannsburg hatten ihren Sitz im Leben in der besonderen Stellung der beiden Missionsgesellschaften zur lutherischen Kirche Russlands. Deutlich formuliert findet sich diese Treue zu den beiden Missionen im wichtigsten Presseorgan der russischen Lutheraner. „Es ist natürlich, dass wir vor Allem die Leipziger und dann die Hermannsburger Mission als die unseren ansehen, weil sie beide im Dienste unserer lieben lutherischen Kirche stehen“, bzw. „können wir aber von unserer luth. Kirche nicht lassen und zu einer anderen gehen, so können wir auch nicht von ihrer Mission lassen und einer anderen dienen“, St. Petersburgisches Ev. Sonntagsblatt 1860, No. 16, 121–126; vgl. Martin Tamcke, Die Arbeit im Vorderen Orient, in: Ernst-August Luedemann (zusammen mit Arbeitskreis), Vision. Gemeinde weltweit. 150 Jahre Hermannsburger Mission und Ev.-luth. Missionswerk in Niedersachsen, Hermannsburg 2000, 511–548. 27 Haccius, Hannoversche Missionsgeschichte, 415. Zu den Anfängen vgl. auch Karl Röbbelen, Aus unserer Arbeit. Missionsblatt für unsere liebe Jugend 12, November 1909, 2f.

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die Bitte an die Europäer: „Nehmen Sie ihn in der Schule der Missionare auf, damit er die deutsche und eine weitere europäische Sprache erlernen kann“. Ziel war also eine missionarische Ausbildung bei gleichzeitigem Ausbau der Fremdsprachenkompetenz. Die Briefschreiber hofften, dass er zu einem kompetenten Prediger ausgebildet würde. Sie vergaßen nicht den Hinweis auf die finanzielle Not ihrer Kirche. Die sei arm und es herrsche seit drei Jahren Hunger im Lande. „Nun bitten wir Sie im Namen unseres Herrn Jesus, unseres Erlösers: Meine Lieben! Seien Sie gewiss, Sie haben die Liebe Gottes, wenn Sie für unseren Bruder, der unterwegs ist, Sorge tragen und ihn in die Schule aufnehmen. Er kann Ihnen dafür nichts bezahlen, aber Gott wird Ihnen Ihren Lohn im Himmelreich vergelten.“ Der eigentlich interessante Abschnitt des Briefes folgt hieran anschließend: „Wir evangelische Lutheraner haben keine Schule der Missionare“. Die Absender empfanden sich also als Lutheraner. Sie waren an der Errichtung einer Missionsschule interessiert. Deutlich setzten sie sich von der amerikanischen Missionsarbeit ab, indem sie ausdrücklich darauf verwiesen, dass es bei Ihnen keine Arbeit „von den Amerikanern“ gäbe. Dass solche Bettelbriefe von Bischöfen mitgegeben wurden, ist keine Besonderheit. Schon bald sollte in Deutschland vor den kollektierenden Syrern gewarnt werden, die einzig deshalb nach Deutschland kamen und dort von Gemeinde zu Gemeinde pilgerten, um sich einen Freundeskreis zu ihrer Unterstützung zu erwerben oder einfach nur Spenden einzusammeln. Das hier interessierende Faktum ist die Selbstidentifizierung der Briefschreiber als „Lutheraner“. Es ist vollkommen unklar, wie es zur Entstehung der frühen lutherischen Regungen vor 1874 innerhalb der Apostolischen Kirche des Ostens gekommen ist. Das Siegel des Bischofs weist ihn als Bischof Mar Joseph, Mutran, aus, mit der zusätzlichen lateinischen Übersetzung „IPISKOP IOSIF“. Dafür kommt für die Zeit der Abfassung des Schreibens nur Bischof Joseph Henanischo‘ in Betracht, der Metropolit/Mutran von Schemsdin in den Jahren von ca. 1864 bis 1884 war.28 Tatsächlich finden sich dessen Suffraganbischöfe in der Folgezeit als besondere Vertraute der mit den Lutheranern in Hermannsburg kooperierenden Priester der Kirche des Ostens. Besonders der Suffraganbischof Denha von Tis, später im Zuge des Völkermords grausam getötet, unterhielt einen vertrauten Umgang mit ihnen.29 Doch weder Denha noch der Mutran/Metropolit Joseph Henanischo‘ können als Lutheraner betrachtet werden. Sollte die Zuordnung des Bischofs stimmen – und alles spricht dafür –, so ergibt sich der Tatbestand, dass sich der Mutran der Apostolischen Kirche des Ostens als Lutheraner ausgab. Dabei ist es bei der Aussendung des Yuhannon durch ihn sicher kein Zufall, dass dieser zunächst Pfarrhäuser der deutschrussischen Lutheraner ansteuerte. Die waren besonders mit ihrem starken Kirchenbezirk in Georgien, der erst in den Jahren 1836 bis 1841 sich der lutherischen Kirche Russlands angeschlossen hatte, für Ostsyrer und deren Verwandte, die sich in Tiflis niedergelassen hatten, deutlich wahrnehmbare Nachbarn. Erstmals studierte in Gestalt Yuhannons ein Nichteuropäer am Seminar in Hermannsburg. Überhaupt gehören die nun zahlreicher werdenden ostsyrischen Theologiestudenten 28 Vgl. David Wilmshurst, The Ecclesiastical Organisation of the Church of the East. 1313–1913, CSCO 582 (Subsidia 104), 277.280 – Joseph Henanischo‘ als Nachfolger des für 1850 von Badger belegten Metropoliten/Mutran Henanischo‘, zuletzt 1884 von Riley bezeugt, ebd., 365.825. 29 Das Wirken des Bischofs Mar Dinha bei den Feierlichkeiten zur Silberhochzeit des lutherischen Priesters Pera Johannes dokumentiert dies deutlich: Ein Jubelfest in Wasyrabad in Persien, Hermannsburger Missionsblatt 1906, 321–325. In derselben Zeitschrift erschien das Gruppenphoto der Hochzeitsgesellschaft mit Mar Dinha im Hermannsburger Missionsblatt 1906, 265.

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aus dem Iran zu dessen erster größerer Studentengruppe in Deutschland. Unter dem Einfluss seiner Ausbildung an der amerikanischen Missionsschule und aufgrund der Begleitung durch amerikanische Missionare war Yuhannon „mit mehreren seiner Verwandten“ schließlich „Protestant“ geworden.30 Bereits vor seiner Wanderung nach Deutschland hatte er seinen Wohnsitz in dem Dorf Wasyrabad bei Urmia genommen, wo ein Onkel der Gemeinde der presbyterianisch-nestorianischen Gemeinde als Prediger vorstand.31 Den Lesern des Hermannsburger Missionsblattes wurde umgehend berichtet, mit welch „mangelhafter Kleidung“ Yuhannon nach seiner Wanderung quer durch Europa Hermannsburg erreichte. Die Armut des Neuankömmlings stach ins Auge. Andererseits zog das individuelle Merkmal des Fremdlings die Aufmerksamkeit auf sich: ein herrlicher, blauschwarzer Schnurrbart. Beide Erkennungsmerkmale wurden umgehend beseitigt und er sozusagen seiner Einpassung in seine Herkunftskultur entnommen und in die lokale Kultur der Norddeutschen transferiert. Die beiden Akte zur Veränderung seines Äußeren nahm er dabei unterschiedlich auf. „Das Erste, was geschah,“ berichtet Missionsdirektor Harms, „war, dass er in neue Kleider gesteckt wurde, welches er sich gern gefallen ließ; das Zweite, dass sein schöner Schnauzbart, seine ganze Zierde, abgeschnitten wurde, welches er sich sehr ungern gefallen ließ, aber sich damit tröstete, dass keiner seiner Landsleute ihn in dieser seiner Verunglimpfung sehen könne.“32 Die nächsten Stationen des Yuhannon seien nur angedeutet. Er studierte erfolgreich und stach besonders im Hebräischen hervor.33 Die Theologie, an der er hier geschult wurde, war die lutherisch-erwecklich-konfessionelle Variante der politisch restaurativ orientierten deutschen Protestanten des 19. Jh.s. Er wurde ordiniert und kehrte über Tiflis zurück in die Urmia-Region, zuletzt mit der üblichen Mulikarawane, da technisch die Region für Eisenbahn, Autostraße oder moderne Schifffahrt noch nicht erschlossen war.34 Er selbst erlebte seine Rückkehr in seine Heimat als eine Rückkehr in die Rückständigkeit. Er und alle folgenden in Deutschland studierten Priester seiner Kirche hatten nicht nur theologisch sich als Grenzgänger zu bewähren, sondern auch in ihren kulturellen Erfahrungen nun zwei Welten miteinander in ihren Seelen an ihrem Selbstverständnis arbeiten.

Yuhannon als Priester der Kirche des Ostens Nach seiner Rückkehr übernahm er die Gemeinde der Kirche des Ostens in seinem Wohnort und geriet dadurch in heftigen Gegensatz zu seinem Onkel, der weiterhin der presbyterianisch-nestorianischen Gemeinde am Ort vorstand. Zum Dorf gehörten ungefähr fünfzig Familien.35 Der Onkel von Yuhannon Pera, Kascha Siyad, galt als ein spiritueller Mann, der dort seit dreißig Jahren arbeitete.36 Er hatte eine Gemeinde von mehr als 50 Gemeinde-

                                                            

30 Hermannsburger Missionsblatt 1882, 32. 31 Zur Tätigkeit des Onkels: ArELM, Brief von John H. Shedd aus Oroomiah Peizia, Oct. 27 1883 („To the Superintendents, Hermansburgh Germany“). 32 Hermannsburger Missionsblatt, a.a.O. 33 Ebd. 34 ArELM, Brief des Pera Johannes aus Wasyrabad, d. 9. September 1880 35 ArELM, Brief von John H. Shedd aus Oroomiah Peizia, Oct. 27 1883. 36 Ebd.

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gliedern um sich versammeln können. Seit einigen Jahren zahlten diese Gemeindeglieder die Hälfte des Gehalts des Priesters.37 Eine Dorfschule der Presbyterianer wurde eröffnet, die für alle Kinder offen stand. Die „alten Irrtümer und der alte Aberglaube der nestorianischen Kirche“ seien, so betonten die amerikanischen Missionare gegenüber der deutschen Missionszentrale in Hermannsburg, zusehends verschwunden. Wenn Kascha Yuhannon Pera in einen Ort gegangen wäre, wo er wirklich vonnöten gewesen wäre, da hätten ihm auch die amerikanischen Missionare die nötige Unterstützung zukommen lassen.38 Aber so stand er aus Sicht der amerikanischen Missionare am falschen Ort: „that Kasha Pera has settled in a village already fully supplied with Evangelical instruction.“39 Der zweite Kritikpunkt der Amerikaner war seine Art, die Gemeinde zu leiten. Er formierte eine neue Gemeinde und „drifted into the ways of the Old Nestorian Church. He now occupies the place of an Old Nestorian Priest”.40 Aus dem vermeintlichen Missionar der deutschen Lutheraner sei ein Priester der Apostolischen Kirche des Ostens geworden. Er unterscheide sich nur dadurch von den anderen Priestern der Nestorianer, dass er seiner Gemeinde Predigten halte. Ansonsten aber erwiesen er und die seinen sich gänzlich so wie die alten Nestorianer. „In this village of ours“, so Missionar Shedd, habe Yuhannon Pera begonnen, die Dunkelheit zu den Nestorianern zurückzubringen.41 Fünf Punkte wurden gegen Pera Johannes Praxis in der Gemeinde vorgebracht. Erstens läse er in der altsyrischen Sprache in seiner Gemeinde, die er doch selber gar nicht verstehe außer einigen Worten, zu denen es in der modernen Sprache Parallelen gäbe. Die nestorianischen Priester benützten diese Sprache: „The ignorant people are pleased because they say, this is our own.“42 Zweitens gehe Pera Johannes in seiner Nähe zur Kirche des Ostens so weit, dass er nestorianische Priester einlade, in seiner Gemeinde zu predigen und seinen Gemeindegliedern die Zeremonien der nestorianischen Kirche zu lehren.43 Drittens gehe er mit den Leuten in die Häuser, in denen jemand gestorben sei und spräche nach dem Essen das Gebet, dass Gott den Seelen der Verstorbenen die Ruhe geben möge, was doch ein unzulässiges Gebet für die Verstorbenen sei.44 Viertens nutze er für die Trauerfeier die Ordnung der Kirche des Ostens, die viele solcher Gebete für Verstorbene enthalte.45 Fünftens gebe er die Sakramente an den Festtagen und den Tagen der Heiligen wie am Marientag. 46 Diese wenigen Kritikpunkte zeigten doch schon, wie er die Menschen zurückführe in die Dunkelheit des Irrtums. Könnten denn die evangelischen Christen rechtfertigen, dass dies an einem Ort geschehe, in dem schon so viel Missionsarbeit geschehen sei? Außerdem akzeptiere Pera Johannes alle Männer und Frauen des Dorfes bei der Kommunion. Einige dieser Männer aber seien notorische Trinker: „This method of a church without any discipline cannot in this land build up true Kingdom of Christ.“47 Zudem nahm Shedd am Finanzgebaren des Pera Johannes Anstoß: 37 38 39 40 41 42 43 44 45 46 47

Ebd. Ebd. Ebd. Ebd. Ebd. Ebd. Ebd. Ebd. Ebd. Ebd. ArELM, Brief von John H. Shedd aus Oroomiah Peizia, Oct. 27 1883.

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„Again Kasha Pera asks nothing from his parishioners and so takes away all motive that the people have had to help themselves in supporting schools and preaching.“48 So gäbe er einen Anlass für die Nachlässigen nichts mehr zu geben und auch für die Botschaft nichts mehr zu tun. Yuhannon Pera hingegen ging, darin von den Hermannsburger Theologen nachhaltig unterstützt, davon aus, dass seine Kirche in Knospe enthalte, was mit der Reformation sich zu voller Blüte entfaltet habe.49 Er hatte das Einverständnis seines Patriarchen eingeholt, als Priester seiner Kirche zu amtieren und der Patriarch hatte ihm das gewährt.50 Ein unglaublicher Akt ökumenischer Weite in einer Ostkirche, da Yuhannon Pera zwar eine Ordination als lutherischer Pastor vorzuweisen hatte, aber nie gemäß den Riten seiner Kirche zum Priester geweiht wurde. Tatsächlich änderte er nur vorsichtig dort etwas, wo er etwas im Gegensatz sah zur Schrift. Auf die Einführung der Konfirmation verzichtete er mit dem Hinweis, dass die in seinem Kulturkreis unüblich sei. Der konfessionell grenzüberschreitende Weg, der theologisch in Deutschland seit dem 16. Jh. sich Bahn brechende Einsichten mit der Wirklichkeit einer Kirche zu verbinden trachtete, die sich seit Mitte des 5. Jh.s besonders im Gegensatz zur byzantinischen Orthodoxie ihr Gepräge gegeben hatte, bleibt beeindruckend. Die Eigenart ihrer Kirche bemühten sich die Priester gegen die Union von Teilen der Kirche mit der Russischen Orthodoxen Kirche zu erhalten. Zeitweise wurden ihnen ihre Kirchen mit Gewalt genommen. Aber sie standen den einzig geschlossen gegen die Union Widerstand leistenden Gemeinden vor, aus denen dann die politische und kirchliche Initiative erwuchs, die die Kirche des Ostens in der Region wieder erstehen ließ und zugleich die Keimzelle für den ethnisch-nationalen Widerstand der Assyrer war.51 Während Yuhannon Pera und die anderen Vertreter der ersten Generation der deutschassyrischen Zusammenarbeit sich noch ganz in die kulturellen Bedingungen ihrer Region fügten, forderten ihre ebenfalls in Deutschland dann ausgebildeten Söhne grundsätzlichere Änderungen in der iranischen Gesellschaft, forderten Staatsbürgerrechte anstelle der sie als Minderheit diskriminierenden Praktiken, bauten Schulen52, wo bislang in Privatwohnungen unterrichtet wurde, errichteten Pfarrhäuser, wo bislang in aus Lehm gefertigten Ein-RaumHäusern mit Feuerstelle in der Mitte des Raums gelebt wurde. Schon in der ersten Generation aber ließ sich dieser Aufbruch beobachten, der erwuchs am Spiegelbild der deutschen Kultur.53 Als Yuhannon Pera von einem deutschen Missionar besucht werden sollte, geriet

                                                            

48 Ebd. 49 HMB 1901, 367. 50 Martin Tamcke, Die Kontroverse um die Gültigkeit der lutherischen Ordination anstelle der Priesterweihe in der Kirche des Ostens (Nestorianer), in: Michael Kohlbacher/Markus Lesinski, Horizonte der Christenheit. Festschrift für Friedrich Heyer zu seinem 85. Geburtstag, Oikonomia (Quellen und Studien zur orthodoxen Theologie 34), Erlangen 1994, 268–274. 51 Martin Tamcke, Luther Pera’s Contribution to the Restoration of the Church of the East in Urmia, in: The Harp 8/9 (1995/96), 251–261. 52 Martin Tamcke, Schulfragen im Kreis um Pera Johannes (Yuhannon Pera) in der Urmia-Region, in: Dietmar W. Winkler, Syrische Studien. Beiträge zum 8. Deutschen Syrologie-Symposium in Salzburg 2014 (orientalia – patristica – oecimenica 10), Wien 2016, 215–226. 53 Martin Tamcke, Westbindung als Ausweg? Die „lutherischen Nestorianer“ der Urmia-Region, in: Islam 88 (2011), 147–157.

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seine Frau in Panik und ihr Mann musste nach Deutschland schreiben: sie wurde umgetrieben vom Umstand, dass sie weder Messer noch Gabeln besaßen. Erst als der Deutsche sich bereit erklärte, wie sie mit den Händen zu essen, legte sich ihre Panik.54

Die Reorganisation der Kirche des Ostens unter Mar Abimelek Im Juni 1905 erschien Metropolit Mar Abimelek in der Urmia-Region im Auftrag des Patriarchen, um die Aktionen der Lutheraner zu untersuchen. Zu den grundlegenden Forderungen für die Reorganisation seiner Kirche gehörten für ihn, dass jeder Priester die Lehren und Dogmen der Kirche bekennt.55 Jeder Priester sei dem Patriarchen untergeordnet und den Vorschriften der Synodalakten, müsse gut Altsyrisch können und muss in den Lehren der Kirche geprüft werden. Er habe mit allen kirchlichen Gebetbüchern gut bekannt zu sein. Ohne diese Vorbedingungen werde er nicht vom Patriarchen oder Bischof geweiht. Wer nicht in dieser Kirche geweiht wurde, habe keine Berechtigung, ein kirchliches Amt zu bekleiden. Gelder aus dem Ausland sind dem Komitee des Patriarchen zu überantworten. An den Schulen der Kirche seien nur Lehrer zugelassen, die über Kenntnisse zur Lehre der Kirche verfügen. Jeder Schüler müsse das Nicänische Glaubensbekenntnis in altsyrischer Sprache lernen, dazu die Lehren der Kirche. Sprachliches Hauptfach sei die alt- und neusyrische Sprache. In zweiter Linie sei die persische Sprache zu unterrichten. In den höheren Schulen solle das „Buch der Perle“ von Ebedjesus gelesen werden. Alle Kirchen und Schulen sind Eigentum der Kirche und ihres Patriarchen, der Erbauer habe kein Eigentumsrecht. Es folgte eine Reihe von Synoden, deren Ergebnis schließlich war, dass sich die meisten „lutherischen Nestorianer“ der Leitung Abimeleks und der von ihm repräsentierten Kirchenleitung unterstellten. Selbst der lutherisch-amerikanische Missionar Fossum tat diesen Schritt. Resistentere Lutheraner wurden exkommuniziert, unter ihnen der Leiter des Patriarchalischen Komitees, der Arzt Dr. Oschana Khan, und der Priester der schwedischamerikanischen Augustana-Synode Isaak Johannes in Digalah. Auch die mit Hermannsburg verbundenen Geistlichen gerieten unter Druck. Obwohl sie sich den Exkommunizierten nahe fühlten und sich von der Gruppe um Fossum distanzierten, ist es wohl ihrer Verbindung zu dem Metropoliten Mar Dinkha zu verdanken, dass sie Teil der Kirchengemeinschaft blieben. Abimeleks Forderungen stießen bei den mit Hermannsburg verbundenen Geistlichen auf entschiedenen Widerstand. Sie hielten am Kleinen Katechismus Martin Luthers fest, wo Abimelek den Unterricht in Abdischo‘s „Buch der Perle der Wahrheit des Christentums“ forderte; sie hielten zudem an ihrer Zuordnung zur Missionsleitung im fernen Hermannsburg fest, wo Abimelek die Einordnung in die Hierarchie der Kirche des Ostens verlangte; sie blieben bei ihrer lutherischen Ordination mit Verpflichtung auf die lutherische Lehre und die Ordnungen der Kirche des Ostens, wo Abimelek die Weihe durch einen Bischof der Kirche des Ostens für unabdinglich hielt. Sie fühlten sich durch die von Abimelek erwirkten Synodalbeschlüsse in „einen schwierigen Stand“ versetzt, da „sie bei der evangelischen Wahrheit ohne Verleugnung bleiben“ wollten. Der Hermannsburger Missi54 Ebd. 55 Vgl. Tamcke, Kontroverse, dort auch die folgenden Details.

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onsdirektor Haccius kommentierte die Entwicklung: „Es war ein Rückschritt in das alte, starre und tote Wesen, und von einer Evangelisation und Reformation war keine Rede mehr, man wollte die alte Kirche unter allen Umständen erhalten. ... Würden diese Grundsätze streng durchgeführt, so würde das unsere Pastoren und ihre Arbeit zur Separation gezwungen haben.“56 Noch im Oktober weihte der Patriarch den Kascha David unter dem Namen Mar Ephrem zum Bischof von Urmia. Er wurde dort vom Leiter der anglikanischen Station, Brown, freudig begrüßt, wenn auch mit dem begleitenden Hinweis, dass er keinerlei finanzielle Mittel für die Rückgewinnung der zur russischen Orthodoxie Konvertierten gewähren könne. Mar Ephrem nun besann sich für die Restauration seiner Kirche in Urmia auf die im Dienste der Hermannsburger Mission stehenden Lutheraner. Besonders bemühte er sich um Luther Pera, den Sohn Yuhannon Peras, der zu dieser Zeit als Priester für eine syrische Gemeinde im südrussischen Armawir im Gespräch war. Der drängte den Bischof, ihm eine Gemeinde zuzuweisen. Mar Ephrem hatte in Ermangelung der angestammten Kirchen das Qurbana zunächst in der Kapelle der anglikanischen Station in Urmia feiern müssen. Seit Frühjahr 1909 betrieben der Bischof und der Priester den Wiederaufbau der Kirche in Urmia und den Erwerb eines ersten Kirchengebäudes. Es gelang. Erst der Weltkrieg und die systematischen Vernichtungsaktionen gegen die Assyrer durch türkisches Militär und kurdische Milizen zerstörten das Werk. Yuhannon Pera entkam misshandelt und beraubt knapp zu seinem Sohn nach Urmia, ein muslimischer Nachbar versteckte die Bedrohten in seinem Haus, auf der Flucht starb ein Enkelkind, Yuhannon Pera wich schließlich zunächst nach Tiflis aus und war fortan nicht mehr in der Lage, als Priester zu arbeiten. Über Konstantinopel ging er nach dem Weltkrieg ins französisch gewordene Elsass und starb dort am 3. September 1924 im Stift Kronenburg bei Straßburg.

Und Luther? Nicht zufällig ist der Umstand, dass Yuhannon Pera seinem ältesten Sohn den Namen „Luther“ als Vornamen gab. So tief war seine Bewunderung für den deutschen Reformator, so sehr wünschte er eine geradezu familiäre Bindung an das deutsche Luthertum. Luther Pera erhielt vor seinem Studium auch eine Schulbildung in Deutschland. Nach anschließenden Zusatzausbildungen ging er zunächst in die Gemeinde seines Vaters zurück. Er half in verschiedenen Gemeinden der Region aus, ehe er in Urmia eine Kirche kaufte, die erste in Urmia, die wieder allein der Kirche des Ostens gehörte. Alle traditionellen Kirchen der Kirche des Ostens waren mittlerweile an die Russische Orthodoxe Kirche gefallen und auch auf dem Rechtsweg erwies es sich nicht als möglich, die Kirchen zurück zu erhalten. Luther Pera wirkte nun dort als Gemeindepriester. Er übersetzte wesentliche Schriften des deutschen Luthertums in seine Muttersprache, unter denen die syrische Übersetzung des Kleinen Katechismus von Martin Luther deshalb herausragt, weil sie noch in Amerika, nachdem er über Deutschland und Frankreich, wo er einige Jahre blieb, schließlich in die

                                                            

56 Urmia und Hermannsburg. Luther Pera im Dienst der Hermannsburger Mission in Urmia 1910–1915, in: OrChr 80 (1996), 43–65, dort auch das Folgende.

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USA geflüchtet war, einen erneuten Druck erfuhr.57 Anders als sein Vater, der lediglich mündlich seinen Unterricht mit Luthers Katechismus betrieb und Vorträge zu Luther hielt, wollte die nächste Generation also, dass dessen deutsche Kirchenlieder in Syrisch gesungen wurden, seine Texte in Syrisch zu studieren waren.58 Während die Generation der Väter zunächst Priester der Kirche des Ostens waren, erst dann Lutheraner, so drangen die Söhne auf Übernahme westlicher Standards, auf kulturelle, technische und wirtschaftliche Entwicklung. Zu diesem Ansatz gehörte dann auch ihr Luthertum. Während die Väter glaubten, die Kirche des Ostens enthalte in Knospenform, was die Kirche Luthers charakterisiere, drangen die Söhne darauf, dass die lutherischen Lehren und Inhalte nun auch tatsächlich manifest in der Kirche werden sollten, gingen also von der Bipolarität und ihrer Brückenfunktion ab, indem sie einseitig die Impulse des deutschen Luthertums und der deutschen Gesellschaft zur Entwicklung ihrer eigenen Region und Kirche verwandten in dem Sinne, dass die deutschen Impulse richtungsweisend für die Vorstellung künftiger Entwicklung wurden, die der eigenen Region aber wesentlich zum Ausdruck überholter Standards wurden, die die Reformbedürftigkeit von Kirche und Kultur geradezu belegten. Die bibliographische Angabe zum Katechismus ist schlicht: „Das Buch vom Kleinen Katechismus des Doktors Martin Luther“. 59 Als Druckerei erscheint die Druckerei von Ephrem Abraham aus Urmia, Iran, als Druckort „Chicago, Amerika“ und als Datum „März 1932“. Der Weg von der Handschrift der ersten Übersetzung des Kleinen Katechismus vor dem Ersten Weltkrieg, die im Archiv der Evangelisch-lutherischen Mission in Hermannsburg liegt, zur zweiten Druckfassung von 1932 lässt sich noch nicht wirklich erhellen. Aber die Widmung vom 12. Oktober 1932 in der Ausgabe, die im Familienbesitz der Nachfahren des Bruders von Luther Pera, Augustin Pera, sich findet, lässt keinen Zweifel daran, dass Luther Peras Übersetzung nicht allein seine Arbeit war. Er bedankt sich in der Widmung bei seinem Bruder Augustin mit den Worten, dass der sich an der Übersetzung des Buches beteiligt habe. Es ist leider zu früh für eine Auswertung in systematisch-theologischer Hinsicht. Ich sitze erst gerade an einer zweiten umfangreicheren Biographie zu einem der wichtigsten Repräsentanten der Lutheraner in der Kirche des Ostens. Aber es lässt sich doch folgender Weg erkennen: der Impuls zur Kontaktaufnahme mit den Lutheranern kam tatsächlich aus der Region. Er scheint bewusst im Gegensatz zum amerikanischen Presbyterianismus gestanden zu haben. Während die erste Generation die Ordnung der Kirche weithin treu einhielt, aber sich nicht vom Patriarchen zum Priester weihen ließ, intensivierte die zweite Generation ihr Bemühen um den Transfer der Lehre Luthers. Hier entstand folgerichtig die Idee zur Gründung einer Hochschule und eines eigenen Druckereiwesens. Das Experiment ging im Orient im Schatten des Völkermords zugrunde. Lediglich in den USA gibt es heute immer noch lutherisch-assyrische Gemeinschaften. Aber der Beitrag zur nationalen, religiösen und ethnischen Selbstbehauptung der Kirche zeitigte Folgen, die bis heute den Erhalt 57 Details dazu in: Martin Tamcke, Auf der Suche nach einer verlorenen Literatur. Erkundungen zum ostsyrischen Schrifttum der „lutherischen Nestorianer“, in: Peter Bruns/Heinz Otto Laube, Orientalia Christiana. Festschrift für Hubert Kaufhold zum 70. Geburtstag (Eichstättter Beiträge zum Christlichen Orient 3), Wiesbaden 2013, 475–486. 58 Ebd. 59 Dank an Jeremy Pera, Kansas, der mir das gedruckte Exemplar des Katechismus bei seinem Besuch in Göttingen mitbrachte.

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der Kirche in der Region sichern. Sozusagen gegen ihre theologischen Zielsetzungen an ermöglichte ihr Grenzgängertum zwischen Deutschland und Iran, ein Widerlager zu entwickeln, dass den politisch-religiösen Verlockungen zu kurzfristigen Allianzen widerstand und damit dazu beitrug, dass die Kirche zwar Völkermord und Vertreibung nicht entging, aber diese auf dem Hintergrund einer ethnisch-religiös einenden Tradition zu interpretieren in der Lage war. Die politische Konsequenz lutherischer Präsenz war durchaus kein Zufall. Wichtiger aber dürfte sein, was an dieser Geschichte für die gegenwärtigen Ökumene ein eigentümlich besonderer Beispielfall ist: Es war über Jahrzehnte möglich, Priester einer Ostkirche zu sein und zugleich ein Vertreter lutherischer Theologie, der auch mit seiner Vernetzung mit deutschen lutherischen Theologen unter Beweis stellte, dass er wirklich beide Pole in sich vereinte: Lutheraner zu sein und Angehöriger der Assyrischen Apostolischen Kirche des Ostens. Damit ist er entweder eine Symbolfigur vorweggenommener Einheit der Kirchen oder Ausdruck eines Experimentes, das scheinbar nicht dauerhaft Folgen zeitigen konnte, sondern zeigt, dass letztlich doch die Differenz und Unterscheidung gewichtiger ist, die zu einer einseitigeren konfessionellen Identität drängt und solche konfessionelle Bipolarität ausschließt.

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Durch den Rost der Literaturgeschichte Kahlil Gibran (1883–1931) als Literat und spiritueller Meister Andreas Pflitsch Der 1883 in den libanesischen Bergen geborene und 1931 in New York gestorbene libanesisch-amerikanische Maler und Dichter Kahlil Gibran wurde schon zu seinen Lebzeiten zu einer legendären Gestalt, zu einem Phänomen des Literaturbetriebs und schließlich zu einem Mythos, der die reale Person des Autors bis heute überlagert und nahezu unkenntlich macht. Es waren nicht zuletzt die Biographen Gibrans, deren Aufgabe es eigentlich doch gewesen wäre, uns die private Person näher zu bringen, die zu dessen Verklärung beigetragen haben. Angefangen mit der „unverblümt hagiographischen“ 1 Überhöhung durch Barbara Young 2 über die deutlich kritischeren und nüchterneren Erinnerungen seines Freundes und Kollegen Mikhail Nuaima3, die sich (ausnahmsweise!) auf sein literarisches Werk konzentrierende Dissertation des Dichters Khalil Hawi4 und die akribischen und ausführlichen Biographien von Jean und Kahlil Gibran5 und Pierre Dahdah6 bis hin zu Alexandre Najjars 2002 in Paris erschienenem biographischen Essay „Khalil Gibran. L’auteur du Prophète“ sind sie sämtlich in erster Linie eine Auseinandersetzung mit dem Phänomen Gibran. Gibran ist sicherlich nicht das einzige Beispiel für einen Autor, der von seinem eigenen Werk geradezu überrollt worden ist und, wie Goethes Zauberlehrling, die „Geister, die er rief“, nicht mehr loswerden konnte. Aber er ist sicherlich ein besonders prägnantes Beispiel dafür, wie sehr die Rezeption eines literarischen Textes diesen verändern und bestimmen kann. Gibrans Leben war von Gegensätzen geprägt, und entsprechend widersprüchlich stellt sich seine Wirkungsgeschichte in der arabischen Welt und im Westen dar. Das passt zu ihm: Sein Leben wie sein Werk zeichnen sich durch ein „Dazwischen“ aus – zwischen Malerei und Schriftstellerei, zwischen Amerika und dem Libanon, zwischen arabischer und englischer Sprache. Von den Einen wird er heute als Autor stereotyper Erbauungsliteratur geschmäht, von den Anderen als radikaler Erneuerer der arabischen Prosa gefeiert und von wieder Anderen als Weiser aus dem Morgenland quasi religiös verehrt. „The Prophet“, sein mit großem Abstand bekanntestes und erfolgreichstes Werk, erfährt auch vierundneunzig Jahre nach seinem Erscheinen 1923 in New York ständig neue Auflagen. Es handelt sich um ein schmales Bändchen. Der Plot ist schnell erzählt: Al Mustapha, der Auserwählte und Geliebte, verlässt nach zwölf Jahren die fiktive Stadt Orphalese und 1 Stefan Wild, Notizen über Khalil Gibran, in: Khalil Gibran, Der Prophet, München 2008, 98–109, 109. 2 This Man from Lebanon. A Study of Kahlil Gibran, New York 1945. 3 Jubrân Khalîl Jubrân. Hayâtuhu, Mawtuhu, Adabuhu, Fannuhu, Beirut 1960. 4 Kahlil Gibran. His Background, Character and Works, Beirut 1972. 5 Kahlil Gibran. His Life and World, Boston 1971. 6 Khalil Gibran. Une biographie, Paris 1994.

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wendet sich ein letztes Mal an die Menschen, die sich zu seiner Verabschiedung versammelt haben. Er spricht in kurzen predigtartigen Vorträgen „Von der Liebe“, „Von der Ehe“, „Von den Kindern“, „Von der Arbeit“ und vielen anderen basalen Dingen. Oft zitiert wird der Passus „Von den Kindern“. Die Auflage in Amerika übertrifft die aller amerikanischen Dichter von Walt Whitman bis T. S. Eliot spielend. Doch die Anerkennung der angelsächsischen Literaturgeschichtsschreibung bleibt ihm bis heute versagt. In den Kanon der amerikanischen Literaturgeschichte hat es das Werk nie geschafft, an den Universitäten wird es nicht gelehrt, und von der Literaturkritik wurde es entweder übersehen oder mit vernichtenden Kritiken bedacht. Über den Erfolg des Buches sagt all das allerdings wenig aus. Es wurde in geschätzte fünfzig Sprachen übersetzt und steht so ganz weit oben in der ewigen Hitparade orientalischer Literatur – gleich hinter der Bibel und den Erzählungen aus Tausendundeiner Nacht. Allein in deutscher Sprache ist er in ungezählten Übersetzungen erschienen, als kleines Geschenkbuch oder großformatige Prachtausgabe, illustriert oder schlicht, gebunden oder als Taschenbuch. Vielleicht ist die Affinität des deutschen Publikums zu Gibran besonders ausgeprägt. Vielleicht spricht er mit seinen Werken eine spezifische Religiosität einerseits und eine spezifische Form von Romantik und Poesie an, die dem, was man für den deutschen Nationalcharakter hält, entspricht. Vielleicht aber gehen solche Überlegungen nur den üblichen Klischees auf den Leim. Zu finden sind die Werke Gibrans in deutschen Buchhandlungen nicht in den Literaturabteilungen, sondern in den Abteilungen für Geschenkbücher, bei den Ratgebern der Rubrik Lebenshilfe oder in den Regalen für Esoterik und Religiöses. Anthologien seiner Texte tragen Titel wie „Gedanken des Meisters“. The Prophet erscheint bei einem deutschen Verlag in einer Reihe namens „Kleine Bibliothek der Weltweisheit“, und Zitate daraus hängen, auf Postkarten gedruckt, an den Kühlschränken dieser Welt: „Eure Kinder sind nicht eure Kinder …“ und ähnliche Zitate sind in das kollektive Wissen eingegangen. So wurde The Prophet in Deutschland zum fast kanonischen Text, der in christlichen Gottesdiensten Verwendung findet oder in den Todesanzeigen der Tageszeitungen zitiert wird. Pastor Ferdinand von Zobeltitz, Schriftführer der Bremischen Evangelischen Kirche, ist damit einverstanden: „Ich kann diese Texte von Gibran gut benutzen in einer Trauansprache, weil die christliche Liebe von Freiheit bestimmt ist. Liebe und Freiheit sind keine Gegensätze. Und deswegen können die Gedanken von Gibran das Verständnis von christlicher Liebe gut kommentieren.“ „Aber“, schränkt er dann doch ein, „ich würde nie einem Brautpaar oder einem Täufling ein Zitat von Gibran als Tauf- oder Trauspruch geben. Das muss schon ein Bibelwort sein.“7 Trotz dieser Einschränkung ist festzuhalten, dass Gibrans Text deutlich religiös aufgeladen ist und kaum noch als literarischer Text wahrgenommen wird. Derart zerrieben zwischen den Erwartungen und Ansprüchen von Publikum, Literaturbetrieb, Kritik und Wissenschaft, wurde The Prophet zu einem „Un-Buch“, wie es Stefan Wild einmal genannt hat.8 7 8

So in einem Radiobeitrag von Mechthild Müser über Khalil Gibran im WDR vom April 2006. Wild, Notizen, 107.

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Das „Phänomen Gibran“ könnte mit einer Konstellation verschiedenster literaturhistorischer, kultur- und mentalitätsgeschichtlicher Voraussetzungen erklärt werden, die ich anhand von drei Punkten beleuchten möchte: 1. Der orientalistische Exotismus im Westen und das Phänomen der „Selbst-Orientalisierung“; 2. Muhammad und Mustapha: Der blinde Fleck des Propheten; und 3. Die literaturhistorische Verspätung.

1. Der orientalistische Exotismus im Westen und das Phänomen der „Selbst-Orientalisierung“ In Boston lernte Gibran schon 1896, also im jugendlichen Alter von 13 Jahren, den Verleger, Künstler und Photographen Fred Holland Day kennen. Day ist das, was man damals einen Dandy nennt, ein Außenseiter, Bohemien, dessen Leben in jungen Jahren einen ersten Höhepunkt erfahren hatte, als er Oscar Wilde während dessen Amerikareise 1882 erfolgreich um ein Autogramm bat. Der „schöne syrische Knabe mit den langen schwarzen Haaren und dem traurigen Blick“, wie er von einem Zeitgenossen beschrieben wird, sitzt ihm Modell – nicht selten orientalisch verkleidet – und bezaubert den betont unkonventionellen Kreis um Day durch seine orientalische Schönheit. Day lichtet Gibran mit den exotischen Insignien des Orients wie Wasserpfeife, Fez und reichverzierter Kleidung ab. Der junge Kahlil wird bestaunt und bewundert und ist beeindruckt vom hohen Ansehen, das seine Heimat im Westen genießt. Alles, was man in ihm sieht, bemüht er sich in den folgenden Jahren zu werden. So lernt er schon früh, seinen „Exotenbonus“ auszuspielen und mit seinem orientalischen Pfund zu wuchern. Er wird zum Parade-Orientalen, zum Salon-Araber gemacht, und er spielt das Spiel mit. Es ermöglicht ihm, der Enge des Bostoner Armenviertels zu entkommen. Im Kontext des spätromantischen Exotismus der 1920er Jahre war The Prophet von Anfang an als Ausdruck einer vorgeblich typisch orientalischen mystischen Spiritualität äußerst erfolgreich. Eine zeitgenössische Rezension der Londoner Times sah hier „die Synthese aus dem Besten, was es im christlichen und im buddhistischen Denken gibt.“ The Prophet stellte sicherlich eine Antwort auf die Erwartungshaltung des westlichen Publikums dar, wie es der junge Gibran in Boston zu spüren bekommen hatte. Das Buch ist damit ein Paradebeispiel für das Phänomen der „Selbst-Orientalisierung“.

2. Muhammad und Mustapha: Der blinde Fleck des Propheten Die Figur des Propheten Muhammad hat den Westen schon immer fasziniert. Der Gründer des Islams stellte für die abendländische Christenheit eine Herausforderung dar, die auch in den Zeiten der längst abgeklungenen realen militärischen Bedrohung – etwa durch die Osmanen – fortwirkte. Die Bedeutung Muhammads erschloss sich dem westlichen Publikum indes nur bedingt. Die Ideen von orientalischer Spiritualität, Poesie, Pathos und Charisma vermittelten sich dem westlichen Beobachter ausgerechnet dann nicht, wenn er ins Herz der islamischen Religion vorstieß und sich mit dem Koran beschäftigte. Was die Muslime

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selbst als unnachahmliche Schönheit des Wort Gottes priesen, war für die auf Übersetzungen angewiesenen westlichen Leser kaum nachvollziehbar. Zwischen der vermeintlichen Poetizität und Spiritualität des Orients und dem heiligen Buch der Muslime klaffte offenbar eine erhebliche Lücke. Für Johann Wolfgang Goethe etwa war der Orient das „Land des Glaubens, der Offenbarungen, Weissagungen und Verheißungen“. Seine Beschäftigung mit dem Koran war für ihn jedoch eine bittere Enttäuschung: In den „Noten und Abhandlungen zu besserem Verständnis des west-östlichen Divan“9 stehen Ablehnung und Anerkennung eigentümlich nebeneinander. Man spürt Goethes Bemühen um Verständnis, und sieht ihn zugleich an seine Grenzen stoßen. „Nähere Bestimmungen des Gebotenen und Verbotenen“, findet er im Koran, „fabelhafte Geschichten jüdischer und christlicher Religion, Amplifikationen aller Art, grenzenlose Tautologien und Wiederholungen bilden den Körper dieses heiligen Buches, das uns, so oft wir auch daran gehen, immer von neuem anwidert, dann aber anzieht, in Erstaunen setzt und am Ende Verehrung abnötigt.“ Goethes Worte sind typisch für die wenig schmeichelhaften Urteile über den Stil des Korans im 19. Jh. Theodor Nöldeke, der mit „Die Geschichte des Qorâns“ 1860 das Standardwerk einer ganzen Epoche der Orientalistik vorlegte, bezeichnete die Sprache des Korans als „gedehnt, matt und prosaisch“, bemängelte die „ewigen Wiederholungen“ und die „aller Schärfe und Klarheit entbehrende Beweisführung“. Für ihn war das heilige Buch des Islams „oft geradezu langweilig“; Nöldekes Kollege Friedrich Schwally schrieb gar von der „schauerlichen Öde weiter Strecken des heiligen Buches“.10 Die meisten Leser im Westen verkannten, grob gesagt, den liturgischen Charakter des Korans und maßen ihn an den biblischen Erzählungen. Angesichts der Kluft zwischen dem orientalistischen Topos des spirituellen Orients und der „schauerlichen Öde“ des heiligen Buches des Islam, konnte The Prophet von Gibran zu einer Zeit, als der orientalistische Exotismus im Westen in voller Blüte stand, als missing link fungieren. Sprache, Stil und Erzählgestus waren für den westlichen Leser hinreichend vertraut und angenehm fremd zugleich. Mustapha stellte sich, mit anderen Worten, als eine nahezu perfekte Überblendung von Jesus und Muhammad dar, von christlicher Liebesbotschaft und prophetischem Gestus. Der schlichte und etwas altmodische, sich an die Sprache der englischen Bibel anlehnende Stil des „Propheten“ trug ebenfalls dazu bei, das Buch dem Geschmack und den Erwartungen eines westlichen Publikums anschlussfähig zu machen. Dieser Stil war weniger dem Willen des Autors geschuldet als den Umständen. Aus der Not seiner nicht perfekten Kenntnisse der englischen Sprache machte er eine Tugend. Hinzu kam der Geschmack seiner Gönnerin Mary Haskell, die die englischsprachigen Texte Gibrans sprachlich überarbeitete. Am Ende stand dann ein – je nach Geschmack – geradezu betörend eingängiger oder ein epigonaler Text.

9 In: Johann Wolfgang Goethe, West-östlicher Divan, hg. v. Hans-J. Weitz, Frankfurt a. M. 1988, 125– 271, Zitat 146. 10 Nach Stefan Wild, Die schauerliche Öde des Heiligen Buches. Westliche Wertungen des koranischen Stils, in: Alma Giese/Johann Christoph Bürgel (Hg.), Gott ist schön und Er liebt die Schönheit, Bern 1994, 429–444, hier 431 u. 434.

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3. Die literaturhistorische Verspätung Die beiden bislang angesprochenen Punkte erklären den Erfolg des Propheten beim westlichen Publikum, nicht aber die diesem Erfolg widersprechende Abwesenheit im Kanon der westlichen Literaturgeschichte. Von der zeitgenössischen Kritik wurde The Prophet übergangen, da das Buch zu einer Zeit veröffentlicht wurde, als die anglo-amerikanische Literatur sich auf die radikale Modernität von T. S. Eliot berief, dessen The Waste Land 1922, und damit genau ein Jahr vorher, erschienen war. Als The Prophet erschien, hatte man sich von spätromantischen Konzepten weitgehend verabschiedet. Geschmack und Mode hatten sich radikal geändert, seit 1913 Rabindranath Tagore, dessen Werk im Westen einer ähnlich selektiven Rezeption unterlag wie The Prophet, und 1911 Maurice Maeterlinck – mit seinen von einem romantischen Mystizismus und vom Streben nach Transzendenz geprägten Gedichten und symbolistischen Dramen – mit dem Literaturnobelpreis ausgezeichnet worden waren. Nur zehn Jahre also stehen zwischen diesen beiden Nobelpreisen und dem Erscheinen von The Prophet, aber diese relativ kurze Zeitspanne reichte aus, um das Werk, von westlicher literaturhistorischer Warte aus gesehen, als epigonal erscheinen zu lassen. Paradoxerweise haben aber das Werk und sein Autor, so meine These, davon profitiert, „zu spät“ gekommen zu sein. Weil The Prophet abseits des Mainstreams lag, konnte er von Anfang an vom Nimbus des Besonderen profitieren. Es bot sich zudem demjenigen Teil des lesenden Publikums an, dem die radikale Modernität der Zeit zu weit ging. Adonis und die Anfänge der arabischen Moderne Die literaturhistorische und mentalitätsgeschichtliche Konstellation, die ich zu beschreiben versucht habe, hat das „Phänomen Gibran“ im Westen möglich gemacht. Im Osten stellt sich seine Geschichte kaum weniger zufällig dar. Ähnlich unfreiwillig wurde Gibran auch zu einem Pionier der arabischen literarischen Moderne. In der arabischen Welt beruht sein Ruhm allerdings weniger auf The Prophet als auf seinen frühen, in arabischer Sprache geschriebenen Werken. Diese Erzählbände thematisieren die Diskrepanz zwischen der Lehre Jesu und dem Gebaren des libanesischen Klerus. Das Thema des Machtmissbrauchs durch den Klerus wurde von Gibran und anderen libanesisch-amerikanischen Autoren der Zeit wie Mikhail Nuaimah und Amin Raihani immer wieder aufgenommen. Wichtiger als die Thematik aber war der Stil dieser Texte. Sie zeichnen sich durch eine einfache, ja schlichte und bildreiche Sprache aus. Der sentimentale Grundton der Erzählungen und mehr noch die mangelhafte Ausgestaltung der auftretenden Personen, die selten mit lebendigen, individuellen Zügen ausgestattet werden und oft nur als Sprachrohr der sozialkritischen und religionsphilosophischen Überlegungen ihres Autors herhalten müssen, sind erhebliche Schwächen aller genannten Werke. Auch gibt es statt einer sich entwickelnden Handlung meist nur konfliktuöse Konstellationen ohne innere Dynamik, die überraschungsarm einem moralisierenden Ende zugeführt werden. Was heute allerdings als Mangel erscheint, bedeutete für die zu dieser Zeit sich erst ausprobierende moderne arabische Prosaliteratur eine wichtige Entwicklung: Das einfache Vokabular und die ungekünstelte Syntax Gibrans – dessen Arabischkenntnisse für die extrem artifizielle, an den Konventionen der großen klassischen Tradition orientierte Dichtung

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Andreas Pflitsch

seiner Zeit schlichtweg nicht ausreichend waren – wurden damals als Teil der Bemühungen wahrgenommen, die weiterhin gültige, teilweise strengen Regeln unterworfene Formensprache der klassischen und klassizistischen arabischen Dichtung zu überwinden und zu einem modernen arabischen Erzählen zu kommen. Niemand Geringeres als der syrische Dichter Adonis sieht darum in Gibrans Werk den Beginn der modernen arabischen Dichtung.

Fazit Der Protagonist in Rabih Alameddines Roman „Koolaids“ schimpft in einem Anflug von Selbsthass, Gibran sei „probably the most overrated writer in history“. Vielleicht ist das angesichts der Zufälligkeit seiner Rezeption nicht ganz falsch. Aber zugleich wird eine solche Einschätzung gerade der Besonderheit des „Phänomens Gibran“ nicht gerecht. Statt bei der Behauptung stehen zu bleiben, dass er überschätzt und letztlich missverstanden worden ist, gilt es zu fragen, warum und auf welche Weise er überschätzt und missverstanden wird. Er ist und bleibt ein Phänomen, das sich im Westen als in jeder Zeit anschlussfähig erwiesen hat, so dass man verschiedene Wellen der Rezeption unterscheiden kann. So folgte auf den Exotismus der 1920er Jahre in den 1960er Jahren eine neue Welle im Zuge der Hippie- und der Flower-power-Bewegung. In den 1980er Jahren war es dann die New-Ageund Esoterik-Bewegung, die in Gibran einen ihrer Gewährsleute ausmachte. Heute, da wir angeblich in einer Zeit der Wiederkehr der Religionen leben, hat Gibran für alle die etwas zu bieten, die Spiritualität suchen, ohne sich auf eine Religion und ihre Dogmen festlegen zu wollen. Darauf weist auch der bereits zitierte evangelische Pastor Zobeltitz hin: „Er hatte eine poetische Art und Weise, die spirituelle Dimension des Lebens zur Sprache zu bringen und er tut das in einer solchen Offenheit, dass ein Bekenntnis, eine Zugehörigkeit zu einer ganz bestimmten Religionsgemeinschaft daraus nicht zu hören ist. Und das ist attraktiv für Menschen heute, weil wir in einer Zeit der sogenannten Wiederkehr der Religionen leben. Alle spüren, dass Religion doch etwas ist, was unser Leben bestimmt, aber gleichzeitig gibt es einen Vorbehalt. Der moderne, individualistische, im Pluralismus lebende Mensch möchte die Möglichkeit haben, die Religion sich selbst ein Stück weit auszusuchen oder zu zimmern, das zu suchen, was für ihn wichtig ist. Und deswegen sind alle Texte, die sehr offen sind, sehr attraktiv.“ Nicht zuletzt aus diesem Grund werden Gibran und sein Werk wohl auf absehbare Zeit Bestand haben – und sie werden, zumindest im Westen, weiterhin im Bereich des Religiösen und nicht im Bereich des Literarischen verortet bleiben. Kahlil Gibran ist längst mit seiner Figur verschmolzen und selbst zum Propheten geworden, zeitlos und ahistorisch.

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Historische Perspektiven auf das orientalische Christentum am Beispiel von Karl Beth* Maibritt Gustrau Der typische Blick eines evangelischen Theologen zwischen 1850 und 1914 auf orientalische Kirchen war weder wertschätzend noch freundlich, in der Regel auch nicht kenntnisreich oder neugierig. Evangelische Theologen, insbesondere Pfarrer, die den Orient bereisten, wussten schon vor ihrer Orientreise, was sie von orientalischen Kirchen zu halten hatten. Ihr kirchengeschichtliches Wissen bezog sich meist auf die ersten fünf Jahrhunderte. Sie waren geschult an konfessionskundlichen Studien, die historische und politische Perspektiven meist außer Acht ließen und die Gegenwart der orientalischen Kirchen nicht zur Kenntnis nahmen. Selbstverständlich konnten sie die bedeutenden Lehrentwicklungen der ersten vier Jahrhunderte referieren. Aber die Gegenwart und die lange Zeitspanne dazwischen waren im Bewusstsein vieler mit großer Unkenntnis verbunden.1 Karl Beths Blick war ein wenig anders. 1872 wurde er in Förderstedt/Sachsen als Sohn eines Schulrektors geboren, studierte evangelische Theologie und Philosophie in Tübingen und Berlin, promovierte in beiden Fächern und habilitierte sich schließlich 1901 in Systematischer Theologie mit einer Arbeit über Schleiermacher. Auch wenn von ihm gesagt wurde, dass seine Reisestudien das erste Werk eines evangelischen Theologen gewesen sei, das der Ostkirche in ihrer besonderen Eigenart gerecht zu werden vermochte – berühmt geworden ist Beth durch seine Forschungen zur Religionspsychologie.2 1906 erhielt Beth einen Ruf nach Wien, wo er bis 1938 lehrte. 1927 gründete er die Internationale religionspsychologische Gesellschaft, deren Publikationsorgan er in Wien herausgab, wo er schon seit 1922 auch ein eigenes Forschungsinstitut für Religionspsychologie leitete. Eine weitere Facette seines Wirkens war sein Engagement in den Anfängen der ökumenischen Bewegung. Er leitete den österreichischen Zweig des Weltbundes für internationale Freundschaftsarbeit der Kirchen nach dem Ersten Weltkrieg. 1906 heiratete er Marianne von Weisl, eine promovierte Juristin und Orientalistin. Da sie jüdischer Herkunft war, wurde Beth 1938 nach der rassistischen Neuordnung des österreichi* Der vorliegende Beitrag wurde am 21. Oktober 2017 im Rahmen der Konferenz „Füreinander einstehen. Altorientalisch-evangelischer theologischer Dialog“ gehalten und im Tagungsband veröffentlicht: Irena Zeltner Pavlović/Martin Illert (Hg.), Ostkirchen und Reformation 2017. Begegnungen und Tagungen im Jubiläumsjahr 3. Das Zeugnis der Christen im Nahen Osten, Leipzig 2018. 1 Vgl. Maibritt Gustrau: Orientalen oder Christen? Orientalisches Christentum in Reiseberichten deutscher Theologen (Kirche-Konfession-Religion 66), Göttingen 2016. 2 Vgl. Edgar Schmitz (Hg.), Religionspsychologie. Eine Bestandsaufnahme des gegenwärtigen Forschungsstandes, Göttingen-Bern u.a. 1992; Jacob A. van Belzen, Religionspsychologie. Eine historische Analyse im Spiegel der Internationalen Gesellschaft, Berlin-Heidelberg 2015; Isabelle Noth, Freuds bleibende Aktualität. Psychoanalyserezeption in der Pastoral- und Religionspsychologie im deutschen Sprachraum und in den USA, Stuttgart 2010.

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schen Berufsbeamtentums aus dem Lehramt vertrieben. Er emigrierte nach Chicago und unterrichtete von 1941–1944 an der Meadville Lombard Theological School. Er starb 1959.3 1902 erschien sein Buch „Die orientalische Christenheit der Mittelmeerländer. Reisestudien zur Statistik und Symbolik der griechischen, armenischen und koptischen Kirche“. Finanziert wurde die fünfmonatige Forschungsreise von der Schleiermacher-Stiftung in Berlin. Seine Reise von März bis Juli 1901 führt ihn durch den östlichen Mittelmeerraum. Die Anschauung der „orientalischen Confessionen“,4 die sich unter anderen sozialen und kulturellen Lebensbedingungen gebildet hätten, seien für ein Gesamtbild des Christentums notwendig hinzuzunehmen. Auf 427 Seiten entfaltete, erklärte und berichtete er vom „Bestand und der Organisation der orientalischen Kirchen“ und in einem zweiten Schritt vom „religiösen Leben“. Diese beiden Kapitel umfassten sowohl ausführliche Patriarchenlisten, eine Einführung in die verschiedenen Ämter, Fest- und Feiertage des Kirchenjahres, eine Erklärung von Kirchenraum und Ikonen sowie Erklärungen zur Liturgie. Sein Augenmerk widmete Beth den Kirchen, die in den von ihm bereisten Gebieten am stärksten vertreten waren: der Griechen, Kopten und Armenier. Weniger ausführlich ergänzte er Besonderheiten der unierten orientalischen Kirchen, der Maroniten etwa, und dann auch der Syrer und Äthiopier und der apostolischen Kirche des Ostens, die auch von Beth, wie damals üblich, Nestorianer genannt wurden. Beth hielt allerdings fest, dass der Name „Nestorianer“ zu Unrecht in Gebrauch sei und sie wie die Chaldäer auch auf dem Fundament des Nicänums stünden.5 Beth verwahrte sich gegen einige Missstände in den Begrifflichkeiten. Grundsätzlich machte er auf das Problem aufmerksam, von Griechen als Graeci und der sie umgebenden Bevölkerung als Orientales zu sprechen und dabei für letztere „nicht-orthodox“ zu meinen. Er verwahrte sich gegen den traditionellen Zwang, die orientalischen Kirchen aus der Perspektive der Griechen zu beurteilen und sie damit als Häretiker zu klassifizieren. Es kam daher für Beth auch nicht in Frage, von „Secten“ oder „Nebenkirchen“ zu sprechen, wie es in konfessionskundlichen Standardwerken gebraucht wurde. Mit dem ersten würde man sich das Urteil der Griechen zu Eigen machen, und das zweite spräche den Kirchen ihre Vollwertigkeit ab. „Warum ist das nicht orthodox, was von dem abweicht, das die griechische Kirche als orthodox hinstellt? Wenn man auf die Entwicklung der orientalischen Christenheit und besonders auf die der griechischen Kirche sieht, so kann man mit gleichem Recht umgekehrt behaupten, dass die griechische Kirche die häretische ist, und jene andern, die das im Altertum Festgelegte hielten, die orthodoxen sind.“6 Kirchen könnten nur von innen und unter Berücksichtigung ihres Selbstverständnisses verstanden werden. „Hingegen wenn wir wissen wollen, was jene andern Kirchen sind, so sehen wir zu, was sie an sich selber und in ihren eigenen Augen sind.“7 Beths Absicht beim Verfassen seiner Reisestudien war, einem Mangel der zeitgenössischen Konfessionskunde abzuhelfen. Das Hauptwerk, auf das er sich bezog, ist Ferdinand Kattenbuschs 1892 erschienene „Lehrbuch der vergleichenden Konfessionskunde“. Selbst diese in Beths Augen „gründlichste Darstellung“ ließ Wichtiges vermissen, denn sie sei nur

                                                             3 4

Vgl. Karl Schwarz, Karl Beth, http://geschichte.univie.ac.at/de/personen/karl-beth-prof-dr (1.2.2018). Karl Beth, Die orientalische Christenheit der Mittelmeerländer. Reisestudien zur Statistik und Symbolik der griechischen, armenischen und koptischen Kirche, Berlin 1902, V. 5 Vgl. a.a.O., 139. 6 A.a.O., 107. 7 A.a.O., 109.

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Historische Perspektiven

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auf literarisches und älteres Material gestützt. „Da nun einerseits das Leben der Religion oft unvermutet fortschreitet, andererseits die confessionelle Eigenart selbst in der eigenen Litteratur oft zu ungenügender, ja falscher Darstellung kommt, so ist auch bei dieser scharfsinnigen Monographie über die Kirchen des Orients, da sie eben nur litterarisches Material verwertet, manches enthalten, das einer Ergänzung bedarf.“8 Diese Kritik an Kattenbusch war nicht unerheblich, hatte dieser doch erst jüngst den Begriff „Konfessionskunde“ geprägt und eingeführt, um von dem jahrhundertealten Begriff des „Symbols“ zu einer Begrifflichkeit zu führen, die sich als deskriptive und nicht mehr als apologetische oder polemische Disziplin verstand. In zahlreichen Fußnoten oder auch Bemerkungen im Haupttext9 korrigierte Beth Kattenbuschs Konfessionskunde in Einzelfragen und Details, beantwortete offen gebliebene Fragen10 oder bestätigte Kattenbuschs Angaben.11 Vor dem Auge des Lesers entstand bei der Lektüre das Bild eines kohärenten Systems. Das erreichte Beth dadurch, dass er auf verschiedenen Ebenen berichtete und erklärte: Er besprach ausführlich religionspolitische Zusammenhänge, wie etwa das Verhältnis des Ökumenischen Patriarchen zum Sultan, die Rolle des Heiligen Rates und der Synode, aber auch die Unterdrückung der Kopten in Ägypten12 oder auch den engen Verbund und konfessionelle Zugehörigkeit und Nationalität. Daneben erläuterte er auch Strukturen und kirchliche Ordnungen, was nicht ganz so kurzweilig war, aber eben den Eindruck unterstrich, dass die Kirchen Struktur und Ordnung hatten. Vor diesem Hintergrund konnte Beth auch heiße Eisen anfassen. Die im Westen viel zitierten und mit großem Unverständnis beobachteten sogenannten Eifersüchteleien und Streitereien der verschiedene Kirchen an den Heiligen Stätten rekapitulierte er nicht nur nüchtern und gelassen, sondern führte sie in ihrem Kern auf die Bedeutung der Nationalität zurück. Religion als Privatsache sei im Orient völlig unverständlich. Denn die Nationalität könne sich nur in der Religion ausprägen, denn die Hohe Pforte unterbinde jede politische Betätigung der christlichen Untertanen. In diesem Zusammenhang nahm Beth selbstverständlich auch die Grabeskirche als Ort in den Blick, an dem sich die Streitereien wie in einem Brennglas bündelten.13 „Das türkische Reich ist wie eine Mietskaserne kleiner Leute. Die im Parterre Wohnenden haben im Keller Teile am Fundament zur Mitbenutzung; die Familien der ersten Etage bekommen Gelasse auf dem Boden unter dem Dach. Aber alle anderen merken gar nichts von dem gemeinsamen schützenden Dach und Fundament dieses Gebäudes. Und es ist eines an dem nie gebessert wird. So wohnen die meisten in zerfallenen und zerfallenden Räumen, sie selbst Reste in Ruinen. Was Wunder, dass da ein jedes Völkchen noch halten möchte, was irgend haltbar erscheint! So klammert man sich an der Vorväter Cult!“14 Obwohl er ausführlich über Mohammed Ali berichtete und auch die Bedingungen des Osmanischen Reiches unter die Lupe nahm, erstaunt, dass er mit keinem Wort auf die Hamidischen Massaker einging. Ende der 1890er Jahre waren in Istanbul und den Ostprovinzen der Türkei hunderttausende Armenier Verfolgungen zum Opfer gefallen. Wohl aber 8 9 10 11 12 13 14

A.a.O., VII. Vgl. a.a.O., 31f.60.82.108.114. Vgl. a.a.O., 20. Vgl. a.a.O., 58.82. Vgl. a.a.O., 128. Vgl. a.a.O., 166f. A.a.O., 163f.

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merkte er selbstkritisch an, als er auf das Verhältnis der orientalischen Christen zu den Protestanten zu sprechen kam: „Als ich dem armenischen Patriarchen von Konstantinopel meinen ersten Besuch machte, glaubte ich ihm etwas Erfreuliches zu sagen, indem ich das Gespräch auf die deutschen Bemühungen für die verfolgten Armenier und für die durch Misshandlungen zerspaltenen und decimierten armenischen Familien lenkte. Allein das war fehl gegriffen. Auch dieser intelligente und weit schauende Mann war vor den deutschen Bestrebungen wenig erbaut. Stiften diese nicht unendlich viel Gutes? Erhalten sie nicht zahlreichen Familien, namentlich der aufwachsenden verwaisten Generation den Lebensmut? – Aber dass der Protestantismus daraus Kapital zu schlagen sucht und das ein grosser Teil der Armenier die eigentümliche Form des armenischen Christentums verliert, wird als ein um so schwererer Schlag empfunden.“15 Ohne Frage bedurften die „anatolischen Kirchengesellschaften“ in Beths Augen der Reformation. Die könne aber niemals von außen an sie herangetragen und eingepflanzt werden, denn „eine Lebensanschauung kann niemandem von aussen gegeben werden; sie bildet sich auf dem Grunde der Lebensbedingungen durch die Lebenserfahrung.“16 Hier zeigt sich, was Beth in einem autobiographischen Aufsatz mit dem Begriff der Dehnbarkeit veranschaulicht. Für Beth hat das Christentum universellen Charakter, Anspruch und Bestimmung. Ein Missionsgedanke, der die „Vereinerleiung“ der verschiedenen Ausprägungen im Sinn hat, stünde dem Christentum selbst entgegen. Das Christentum, so Beth, hätte gerade deshalb seinen Siegeszug angetreten, weil es „gewaltige Modalitätsmöglichkeiten“17 in sich trug und dass es „in keiner bestimmten Begrenzung des monotheistisch-religiösen Geistes sich ausleben konnte. Das heißt: es war auf Individuation angelegt und konnte daher nur in der Fülle der von ihm inspirierten und gebildeten Individualitäten sein Wesen erschöpfen. Hätten das die Kirchen immer verstanden, hätten sie diesen Umstand immer beachtet, sowohl im zwischenkirchlichen Verkehr, wie in ihrem eigenen inneren Leben, so wäre der Christenheit viel Unheil erspart geblieben […].“18 Karl Beths Blick wich ab vom typischen Blick eines evangelischen Theologen seiner Zeit, wenn es um orientalisches Christentum ging. Nichts gibt einen Hinweis darauf, dass er besondere Fähigkeiten oder Begabungen gehabt hätte. Aber er verfügte über einen wachen Geist, ein unabhängiges theologisches Urteilsvermögen, über Empathie und ein Interesse am Anderssein der Anderen.

                                                            

15 A.a.O., 183. 16 A.a.O., 184. 17 Karl Beth, Karl Beth, in: Erich Stange (Hg.), Die Religionswissenschaft der Gegenwart in Selbstdarstellungen, Leipzig 1926, 22. 18 Ebd.

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Mor Philoxenos Yuhanna Dolabani (1885–1969) Ein Vater syrisch-orthodoxer Spiritualität im 20. Jahrhundert Aho Shemunkasho Einleitung Mor Philoxenos Yuhanna Dolabani (1885–1969) gehört zu den renommierten Gelehrten der syrischen Tradition im 20. Jahrhundert. Unter den syrischen Christen ist ein Teil seiner veröffentlichten Schriften weit verbreitet, und für viele Zeitgenossen bleibt er in guter Erinnerung. Einige seiner Schüler reihen sich heute noch unter den Bischöfen, Priestern, Diakonen und Lehrern der syrischen (orthodoxen) Kirche ein, und sie berichten mit Freude über ihre Erinnerungen an ihn. Sein kreatives Schreiben aus Liebe zum syrischen Christentum, zur Sprache und zum Volk, als auch seine menschliche Freundlichkeit, Offenheit, Frömmigkeit und sein asketisches Leben haben viele seiner Zeitgenossen beeindruckt und können heute noch viele in Staunen versetzen. Sein literarisches Schaffen lässt sich in vier Bereiche einteilen: 1. Monographien, Traktate, Artikel, Briefe, Protokolle und seine eigene Biographie, 2. Übersetzungen in und aus dem Syrischen, Arabischen und Türkischen, 3. Editionen und Veröffentlichungen von theologischen Werken der Kirchenväter und antiker Texte, 4. Herausgeberschaft der Zeitschrift Hekhemtho (‫)ܚܟܡܬܐ‬. Ausführliche Information über sein Leben und seine Arbeit können am besten aus seiner syrischen Biographie entnommen werden, die von Eliyo Dere und Thomas Isik 2007 herausgeben wurde. 1 Auf Syrisch verfasste Elias Shahin 2014 eine kleine Broschüre über Dolabani.2

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̈ ‫ – ܬܫܥܝܬܐ‬Biographie von Yuhanna Dolabani, IsEliyo Dere/Thomas Isik (Hg.), ‫ܕܚܝܐ ܕܝܘܚܢܢ ܕܘܠܒܐܢܝ‬ tanbul 2007. Diese Biographie verdient es übersetzt zu werden. Kap. 1 (1–260) ist die syrische Edition der Biographie, die von Dolabani selbst im Jahre 1968 kurz vor seinem Tod verfasst wurde. Sie endet allerding mit dem Jahr 1955. Wahrscheinlich konnte Dolabani aufgrund seiner Krankheit sein Tagebuch nicht mehr bearbeiten. Kap. 2 (261–285) enthält einige Protokolle aus seiner Zeit als Sekretär des Patriarchen Ignatius Elias III. (1917–1932). Kap. 3 (286–325) führt 32 Hymnen/Gedichte von Dolabani auf. Kap. 4 (S. 326–341) berichtet über die Assyrer und ihre Schulen in Kilikien. Kap. 5 (342–353) ist eine Sammlung von Briefen von und an Dolabani. Kap. 6 (354–366) bietet sechs Gedichte, die Dolabani preisen und rühmen. Kap. 7 (367–386) listet seine Werke auf. Elias Shahin, ‫ ܕܘܠܒܐܢܝ ܕܡܪܕܝܢ‬.‫ ܝ‬.‫ – ܩܕܝܫܐ ܕܕܪܐ ܕܥܣܪܝܢ ܡܪܝ ܦ‬The Saint of the 20th Century. Mar F. Y. Dolabani of Mardin, Södertälje 2014. Auf Syrisch gibt es auch einen kurzen Artikel von Malphono Aziz George Zazoyo, verfasst am 20.3.2015, http://suryoyena-online.de/Qohne/1.Yuhanon%20Dolabani% 20suryoyo.pdf (20.9.2018).

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Aho Shemunkasho

In seiner Einleitung zur Veröffentlichung von Dolabanis Catalogue of Syriac Manuscripts in Za’faran Monastery (Dairo Dmor Hananyo) widmet Mor Gregorios Yohanna Ibrahim dem Autor 42 Seiten auf Arabisch. Aus seinen persönlichen Begegnungen mit ihm führt Gregorios wichtige Information über das Leben und die Arbeit von Dolabani an und bietet eine Liste seiner Werke.3 Die Arbeit von Nihat Durak über Dolabani ist 2014 auf Türkisch als Taschenbuch erschienen und enthält gute Informationen über die einzelnen Werke.4 Obwohl die veröffentlichten Werke von Dolabani zum Teil auch im Westen zugänglich sind5 und in der Regel die Syrologen von ihm gehört haben, ist bis jetzt wenig Ausführliches auf Deutsch, Englisch oder Französisch über ihn erschienen. Über sein Leben und seine Bedeutung für die syrische Literatur findet man im Westen kurze Informationen u.a. bei Sebastian Brock,6 Christine Chaillot,7 Georg Kiraz8 und Hans Hollerweger.9 Dolabanis Leben und Werke verdienen es, im historischen Kontext des 20 Jh.s studiert und untersucht zu werden. Dieser Beitrag kann dies kaum bieten, ist aber bemüht, Dolabani den Lesern ein wenig näher bekannt zu machen. Auf Basis seiner eigenen Biographie sollen in Kürze chronologisch wichtige Eckdaten seines Lebens präsentiert und dabei selektiv auf einige Merkmale seines Denkens und Handelns als Mönch, Bischof und Wissenschaftler im Kontext seiner Zeit hingewiesen werden.10

                                                             3 Gregorios Yohanna Ibrahim (Hg.), Catalogue of Syriac Manuscripts in Za’faran Monatery (Dairo dmor Hananyo) – Mar Filoksinos Yohanna Dolabany (1895–1969), Damaskus 1994, 9–51. 4 Nihat Durak, Süryani Kadim Metropolit Hanna Dolapönü, Istanbul 2014. 5 Hier einige Editionen: Filoksinos Yuhanna Dolabani (Hg.), Mīmrē w-mūšḥātā d-sīmīn l-mār Yōḥannān bar Ma‘dani paṭriyarkā d-Anṭiyokyā, Jerusalem 1929; Egrāteh d-Dāwid bar Pawlos d-metidā d-Bet Rabban, 750–840, Mardin 1953; Aḥiqar safra w-ḥakkima, Mardin 1962; Book of the Dove. Ascetic Instructions by Gregory Bar Hebraeus, New Jersey 2010; Selected Poems of John Bar Ma’dani, New Jersey 2011. – Monographien von Dolabani: Distinct Confessions of Christ, New Jersey 2011; Die Patriarchen der Syrisch-Orthodoxen Kirche von Antiochien [syrisch], Glane 1990; Die Geschichte des Klosters von Mor Jakob von Salah, Atchane 1973; „Mysterien/Sakramente der Syrischen Kirche“ in den Zeitschriften Qolo Suryoyo 130/2000, 132/2001, 133/2001, 134/2001, 135/2002; Shetesto 2 – Herge Gramatikoye, Glane 1997; Kataloge der Bibliotheken von Mardin (Dairo Dmor Hananyo), Damaskus 1994, Jerusalem (Dairo Dmor Marqos), Damaskus 1994, Homs (PdO 19/1994), und Catalogue of Syriac Manuscripts in Syrian Churches and Monasteries, Damaskus 1994. 6 Sebastian Brock: A Syrian Orthodox Bishop and Scholar: Mar Philoxenos Iohanna Dolaponu (1885– 1969), in: Ostkirchliche Studien 26 (1977), 47–52. Vgl. auch die 2-bändige Bibliographie von Sebastian Brock, Syriac Studies, Kaslik 1996/2014. 7 Christine Chaillot, The Syrian Orthodox Church of Antioch and All the East. A Brief Introduction to its Life and Spirituality, Geneva 1998. 8 George A. Kiraz, Philoxenos Yuhanon Dolabani, in: Sebastian P. Brock et al. (Hg.), Gorgias Encyclopedic Dictionary of the Syriac Heritage, Piscataway/NJ 2011, Nr. 174. 9 Hans Hollerweger, Turabdin – Lebendiges Kulturerbe, Linz 1999. 10 Mor Philoxenos war im Alter von 83 Jahren durch eine Krankheit sehr geschwächt, als er seine eigene Biographie auf mehrmaliges Ansuchen von mehreren Personen verfasste und am 11.7.1968 abschloss. Er weist in seiner Einleitung darauf hin, dass sein Leben ein Kampf um die aramäische Sprache war, die den Ausgang der Einheit und Entwicklung bildet (vgl. Dere/Isik, Biographie, 20): ‫ܐܬܬ ܠܝ ܐܓܪܬܐ‬

‫ܬܠܝܬܝܬܐ ܡܢ ܚܕܥܣܪ ܓܒ̈ܪܐ ܕܡܪܕܘܬܐ ܘܕܣܦܪܝܘܬܐ ܬܢܝܢ ܒܥܘܬܐ܆ ܗܝܕܝܢܐܠܨܢܝ ܚܘܒܗܘܢ ܕܐܩܒܠ ܒܥܘܬܗܘܢ‬ ̈ ̈ ‫ܕܚܝܝ ܟܒܪ‬ ̈ ‫ ܘܐܬܢܐ ܡܕܡ ܡܕܡ ܡܢ ܥ̈ܪܝܨܬܐ‬.‫ܐܦܝ ܠܫܢܢ ܐܪܡܝܐ‬ ̈ ‫ܕܐܟܬܘܒ ܣܦܪ‬ ‫ܢܗܝܢ‬ ‫ܚܝܝ ܘܐܫܘܕܥ ܐܓܘܢܝ ܕܥܠ‬ ‫ܕܘܡܝܐ ܠܩ̈ܪܘܝܐ ܘܢܐܨܦܘܢ ܐܝܟ ܚܝܠܗܘܢ ܕܒܢܝܢ ܒܝܬܐ ܕܠܫܢܐ ܐܒܗܝܐ܆ ܗܘ ܕܗܘܝܘ ܫܪܫܐ ܕܚܤܝܘܬܐ ܘܫܕܘܘܫܬܐ‬

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Mor Philoxenos Yuhanna Dolabani

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1. Familienherkunft Yuhanna Dolabani wurde in einer christlichen Familie am Freitag, dem 27. September 1885, in Mardin geboren. Der Familienname Dolabani geht zurück auf das 18. Jh. in Qaluqa, östlich von Sawro.11 Mit der gleichen Familie ist auch die Familie Hadayeh verbunden. Die Familien Hadayeh und Dolabani brachten viele Gelehrte, Diakone, Priester und Mönche hervor. Am bekanntesten für ihre schriftstellerische Kreativität waren die beiden Priester Pfarrer Gabriel und Pfarrer Elijah. Gabriel war als Sekretär des Patriarchen zuständig für die Korrespondenz mit dem syrischen Katholikos in Kerala/Indien, und er verfasste zudem die Annalen der Patriarchen von Antiochien auf Syrisch und Arabisch.12 Die Eltern, Yoseph und Nani (Naima), wohnten östlich der Vierzig-Märtyrer-Kirche in Mardin, ließen ihren Sohn auf den Namen Yuhanna im Kloster Za‘faran vom Mönchpriester Elijas Shakher taufen, der später Patriarch wurde. Die Herkunft seiner Familie, verwurzelt in einer guten syrischen Bildungstradition, ist ein Beweis für die allgemeine, traditionell gute Bildung unter den Syrern. Dies ist umso wichtiger, weil es mit den politischen Ereignissen des Genozids und in Folge während der Zeit unseres Autors zu enormen Veränderungen kam, sodass mit dem Zusammenbruch der damals vorhandenen Schulen die traditionelle Tradierung von Glaube und Wissen, Sprache und Kultur nicht mehr gewährleistet war und auch heute noch nicht ist.

2. Bildung Seit seinem sechsten Lebensjahr besuchte Yuhanna Dolabani die Schule in der VierzigMärtyrer-Kirche in Mardin, die von seinem Onkel, Pfarrer Gabriel Dolabani, und dessen Sohn Elijah geführt wurde. Einer von seinen weiteren Lehrern war Iskander Kawabe, der später auch Mönch wurde. Yuhanna wurden gute Kenntnisse der syrischen, arabischen und

                                                             .‫ܐܟܚܕ‬.. – „Ich habe einen dritten Brief von elf Männern aus Gesellschaft und Wissenschaft mit wieder-

holten Anfragen erhalten. Daraufhin veranlasste mich ihre Liebe, ihrem Ansuchen nachzugehen, meine Biographie zu verfassen, meinen Kampf um unsere aramäische Sprache zu schildern und einige der erlebten Bedrängnisse zu erzählen, damit sie eventuell zum Vorbild für die Leser werden, so dass sie entsprechend ihrer Macht für den Aufbau der patristischen Sprache Sorge tragen, welche gleichsam die Wurzel der Einheit und Entwicklung ist.“ 11 Sawro ist der gleiche Ort, aus dem auch Moses von Mardin/Sawro stammte, der im 16. Jh. nach Rom und Wien kam, um die syrische Bibel zu drucken. Vgl. Pier G. Borbone, From Tur ‘Abdin to Rome. The Syro-Orthodox Presence in Sixteenth-Century Rome, in: Herman G. B. Teule et al. (Hg.), Syriac in its Multi-cultural Context, Leuven 2015; George A. Kiraz, The Widmanstadt-Moses of Mardin Editio Princeps of The Syriac Gospels of 1555, New Jersey 2006, dort die Einleitung; Lucas Van Rompay (2011), Mushe of Mardin, in: Sebastian P. Brock et al. (Hg.), Gorgias Encyclopedic Dictionary of the Syriac Heritage, Piscataway/NJ 2011, 300f; Aho Shemunkasho, Von Osten nach Westen – Moses von Mardin und sein Beitrag zu den syrischen Studien in Europa, in: Pro Oriente 2011, 100–111; Robert J. Wilkonson, Orientalism, Aramaic and Kabbalah in the Catholic Reformation. The First Printing of the Syriac New Testament, Leiden 2007. 12 Biographie, 22. Das Buch von Dolabani über „Die Patriarchen der Syrisch-Orthodoxen Kirche von Antiochien“ wurde 1990 von Julius Jesu Cicek herausgegeben.

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türkischen Sprachen vermittelt, sodass er später von einer Sprache in die andere übersetzen konnte.13 Weiterhin wurde er gut in den verschiedenen Schulfächern und besonders in Katechese und Liturgie unterwiesen. Was liturgische Hymnen betrifft, lernte er von seinem Lehrer Johanna Affandigeqi die Melodien nach der reichen Tradition von Amid (heute Diyarbakir). Mit all dem haben seine Lehrer Yuhanna Dolabani besonders die Liebe zur syrischen Sprache und zum christlichen Mönchtum vermittelt. Als Jugendlicher besuchte Dolabani ab 1900 die Schule der Kapuzinermissionare in Mardin und wurde dabei auch in Französisch unterwiesen. Es ist wichtig zu wissen, dass in Mardin damals ca. 25.000 Menschen lebten, ca.10.000 davon waren Christen. Von ihnen gehörten wiederum ca. 3.000 der chaldäischen und syrisch-katholischen Kirche an, wobei letztere relativ neu war – seit dem Jahr 1852 – und seit 1888 vom Patriarchatssitz in Mardin aus geleitet wurde, später von jenem in Beirut. Zu dieser Zeit gab es auch evangelische Missionare aus den USA in Mardin.14 Weiterhin ist zu erwähnen, dass das Kloster Za‘faran seit 1292 als Patriarchatssitz der syrischen Kirche diente, und zwar bis 1933. Aus der dortigen Klosterschule sind viele bekannte Gelehrte, Bischöfe und Patriarchen hervorgegangen. Die Ursprünge des Klosters gehen als christliches Heiligtum auf das 5. Jh. zurück und als heidnische Kultstätte noch viel weiter auf vorchristliche Zeit.

3. Interesse am Mönchtum Obwohl Dolabani 1902 seine Schullaufbahn abbrach und den Beruf des Schuhmachers erlernte, verlor er sein Interesse am Mönchtum nicht. Am Ende seiner Schuhmacherausbildung wollten seine Eltern ein Schuhgeschäft für ihn eröffnen, aber er zeigte kein Interesse an einem weltlichen Beruf. Dazu schreibt er: „Ich gehorchte ihnen nicht, da meine Gedanken zum Mönchtum tendierten.“15 Mit vier Freunden traf er sich regelmäßig zum Studium der Bibel, zum Lesen von Hagiographien und zur Reflexion über das monastische Leben und über die Vergänglichkeit dieser Welt. Sie alle waren in Mardin als außerordentliche Jugendliche bekannt. Patriarch Ignatius Abdallah II. (1906–1915) bemerkte den Fleiß von Dolabani und sein Interesse am Mönchtum, aber da Dolabani der einzige Sohn der Familie war (er hatte eine Schwester), wollte er ihn seinen Eltern nicht wegnehmen, damit er für sie in Zukunft sorgen möge. Diese Fürsorge beschrieb der Patriarch als alternatives Mönchtum. Dolabani verwies auf den anwesenden Metropolit Kyriakus Gewargis, der ebenfalls der einzige Sohn seiner Eltern war. Der Patriarch Abdallah dachte dann an das Kloster Za‘faran, in dem Dolabani wenigstens in der Nähe seiner Eltern bleiben würde, aber Dolabani verwies auf

                                                             13 Biographie, 24. 14 Vgl. „Mardin“ auf der Website von „New Advent“ http://www.newadvent.org/cathen/09650e.htm (15.5.2017) mit dem Quellenhinweis auf Assemani, Bibliotheca orientalis II, 470; Chapot, La frontière de lʼEuphrate, Paris 1907, 312; Cuinet, La Turquie dʼAsie, II, 494–502; Piolet, Les missions catholiques françaises au XIXe siècle I, Paris, 274–294; Missiones Catholicæ, Rom 1907, 161.756.805.810. 15 Biographie, 25: ‫ ܘܐܠ ܫܠܡܬ ܠܗܘܢ܆ ܒܕܪܥܝܢܝ ܨܐܠ ܗܘܐ ܠܘܬ ܕܝܪܝܘܬܐ‬.

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den Mönchvater Antonius in der ägyptischen Wüste und sagt: „Meine Seele sehnt sich nach der Einsiedelei.“16 Diese Sehnsucht wurde auf seiner Reise durch den Turabdin und auf dem Weg zu seiner Tante Arillia in Bashekhwo in Silvan immer größer. Bei seiner Tante verbrachte er drei Monate. Auf dem Weg dahin, in Tello-d-Mawzlath (heute Veranshahir), bemerkte er, wie Muslime kultisches Holz nicht verbrannten, und er war davon beeindruckt, wie er schreibt: „Mir ist bewusst geworden, wie sie heilige Stätten verehren.“ 17 Im Hinblick auf moralische Fragen notiert er, was sein Onkel zu Geschäften mit gestohlenen Gütern auf dem Markt sagte: „Dass diese zur Beute gehören, daran ist nichts Gutes. Denn die Eigentümer sehnen sich noch danach.“18 Auf seiner Reise durch den Turabdin im Jahre 1907 besuchte er viele Klöster und begegnete vielen Mönchen und Bischöfen, die asketisch lebten. Das war noch die Zeit vor dem Sayfo von 1914/15, wo nicht nur die Dörfer und Städte von Christen gut besiedelt, sondern auch die Klöster bestens bewohnt waren. Er zählte namentlich sechs Mönche in Mor Sharbel in Midyat auf, sprach vor einer großen Menschenmenge um den Erzbischof Mor Athanasios Ephrem in Mor Gabriel, nannte elf Mönche in den bekannten Klöstern von Mor Abrohom von Kashkar, die seine besonderen Vorbilder wurden, und verbrachte viele Monate im Kloster Mor Eliyo in Hbob mit seinem Cousin Mönch Ebed Jeshu‘.19 Yuhanna verbrachte auch 17 Tage im Kloster von Mor Melke. Er zitiert einen Hinweis von Mönch Murad wie folgt: „Schaut euch die Dorfbewohner an, die nachts aufstehen und Holz [auf die Esel] aufladen und nach Midyat bringen, um es dort für ein paar Qamari zu verkaufen. Dafür bleiben sie die ganze Nacht wach und ertragen die Last der Hin- und Rückreise. Um wieviel mehr sollen wir nachts Vigil halten, um wachsam zu beten, da sogar unser Herr uns befohlen hat: Wacht auf und betet, damit ihr nicht in Versuchung fallt.“20

4. Ordensweihe und asketisches Leben In dieser Zeit schickte Patriarch Abdalah II. einen Brief durch den Erzbischof Athanasios Ephrem an Dolabani und lud ihn in das Kloster Za‘faran zum Gespräch ein. Daraufhin folgten weitere Gespräche mit seinem Priester in Mardin und besonders mit seinen Eltern, bis er am 9. Dezember 1907 von seinen Eltern Abschied nahm. Sein Vater verabschiedete sich mit den Worten: „Mein Sohn, wir haben all diese Zeit gewartet, dass du deine Meinung än-

                                                             16 A.a.O., 30: ‫ ܘܗܟܘܬ ܢܦܫܝ ܒܥܝܐ ܠܚܘܕܝܘܬܐ‬.‫ܘܦܢܝܬ܆ ܡܪܝ ܐܢܛܘܢܝܘܣ ܗܟܘܬ ܚܝܐ ܒܕܒܪܐ ܕܪܚܝܩ ܡܢ ܐܢܫܘܬܐ‬. 17 Biographie, 26: ‫ ܦܢܝܘ ܗܢܘܢ ܕܐܠ ܡܘܩܕܝܢܢ ܗܠܝܢ܇ ܡܛܠ ܕܕܘܟܬܐ‬.‫ܝܒܝܫܐ ܣܓܝ‬ ̈ ‫ܩܝܣܐ‬ ̈ ‫ܘܟܕ ܐܡܪܬ ܠܗܘܢ ܕܗܐ‬

‫ܐܢܘܢ ܒܪܝܟܬܐ‬.

18 Ebd.: ‫ ܘܐܡܪܬ‬.‫ܡܐܢܐ ܕܒܙܬܐ ܕܩܪܗܒܓ ܒܫܘܝܬܐ‬ ̈ ‫ܘܠܨܦܪܗ ܕܝܘܡܐ ܟܕ ܐܙܠܬ ܠܚܢܘܬܐ ܕܕܝ܆ ܘܗܐ ܒܫܘܩܐ ܡܙܕܒܢܝܢ‬

‫ܕܥܝܢܐ‬ ̈ ‫ ܡܛܠ‬.‫ ܘܦܢܝ ܗܠܝܢ ܕܒܙܬܐ ܐܢܘܢ ܠܝܬ ܒܗܘܢ ܛܒܬܐ‬.‫ܠܕܕܝ ܠܡܘܢ ܐܠ ܫܩܠ ܐܢܬ ܗܠܝܢ ܕܕܝ ܫܘܝܢ ܣܓܝ‬ ‫ܕܡܪܝܗܘܢ ܒܗܘܢ ܐܢܝܢ‬ ̈ .

19 Hbob ist ein Nachbardorf meines Geburtsortes Beth Debe. In den 1970er Jahren konnte ich das Kloster Mor Eliyo nur noch als Ruine kennenlernen, und bist jetzt ist es noch nicht wieder aufgebaut. 20 Biographie, 29: ‫ܠܩܝܣܐ ܘܐܙܠܝܢ ܠܡܕܝܕ ܟܕ ܡܙܒܢܝܢ ܠܛܥܢܐ‬ ̈ ‫ܠܩܘܪܝܝܐ ܕܩܝܡܝܢ ܡܢ ܠܠܝܐ ܘܡܬܥܢܝܢ‬ ̈ ‫ܐܡܪ ܠܡ ܕܚܙܝܬܘܢ‬

‫ ܟܡܐ ܝܬܝܪܐܝܬ ܘܐܠ ܠܢ ܚܢܢ ܕܢܫܗܪ‬.‫ܓܒܐ‬ ̈ ‫ܕܩܝܣܐ ܒܩܡܪܝ܆ ܡܛܠ ܩܡܪܝ ܫܗܪܝܢ ܘܡܣܝܒܪܝܢ ܐܠܘܬܐ ܕܐܘܪܚܐ ܡܢ ܬܪܝܢ‬ ̈ ‫ ܐܬܬܥܝܪ ܘܨܠܘ ܕܐܠ ܬܥܠܘܢ ܠܢܣܝܘܢܐ‬: ‫ܒܨܠܘܬܐ ܝܬܝܪܐܝܬ ܕܡܪܢ ܦܩܕ ܠܢ‬.

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derst und deinen Willen aufgibst, aber wir haben deine Entschlossenheit erkannt: Geh in Frieden, der Herr sei mit dir.“ Diesbezüglich schreibt Dolabani: „Oh, wie kostbar war für mich dieser väterlicher Wunsch: Geh in Frieden, der Herr sei mit dir. So oft ich daran dachte, wurde ich mit neuer Kraft erfüllt.“21 Dolabani verbrachte mit zwei weiteren Mönchen vier Monate in einer Zelle des Marienklosters Nutpho, oberhalb des Klosters Za‘faran, bis er dann am 5. März 1908 ins Noviziat aufgenommen wurde. Etwa fünf Jahre lang verbrachte er sein Leben als Einsiedler mit Fasten, Beten und dem Studium in einer Zelle in den Felsen oberhalb des Klosters Za‘faran. Sein Fasten und seine vegane Ernährung (er verzichtete meistens auf das Frühstück und Mittagessen) gab er erst nach zwölf Jahren auf, als er sich in Begleitung von Patriarch Elijas auf Reisen begab. Er schreibt, er wurde krank und fühle eine Veränderung in seinem Körper, als er zum ersten Mal wieder tierisches Fett zu sich nahm. Als Einsiedler war er schriftstellerisch sehr umfangreich tätig. Er übersetzte die Episteln und die Offenbarung ins Arabische und schickte sie dann nach Ägypten zum Druck – aber wegen des Ersten Weltkriegs wurde nur ein Teil gedruckt. Er übersetzte auch die Reihe der Gebetbücher der achtwöchigen vorweihnachtlichen Zeit (Advent) ins Arabische. Zusätzlich verfasste er zwei Gebete auf Arabisch, das Buch Ganan alna’im und Murshed altayeb und ein persönliches Gebet für Jakob Tanurgi aus dem Kloster St. Jakob. Eine besondere Tätigkeit für viele literarisch begabte Mönche war das Abschreiben von liturgischen Büchern. Dolabani kopierte einige Hochgebete, Husoye und Begräbnisriten für die Nachbargemeinden und auch für Einzelpersonen und sammelte und kopierte für sich selbst einige Hagiographien. Darüber hinaus verfasste er auch Hagiographien wie die von Mönch Yuhanon Meshtoyo, nachdem er Bischof Mor Philoxenos und einige Mönche aus dem Mor Augin Kloster interviewt hatte, die 1909 zu Besuch kamen. Ab 1910 fing Dolabani unter der Leitung von Michael Geqi an, Syrisch und Religionswissenschaften (‫ܬܘܕܝܬܢܝܐ‬ ̈ ‫ܘܝܘܠܦܢܐ‬ ̈ ‫ )ܣܘܪܝܝܐ‬zu unterrichten. In diesem Zusammenhang schreibt Dolabani über den Besuch von Isma’il Bag, dem geistlichen Führer der Yiziden in der Region Shiger. Dolabani fragte ihn, warum sie wohl ihre Kinder vom Unterricht fernhalten und ihnen das Lesen nicht beibringen. Die Antwort muss wohl Dolabani besonders zum Nachdenken gebracht haben: „Ihr und die Muslime könnt lesen, aber haltet ihr euch daran, was ihr lest? Es reicht doch aus, wenn man die zehn Gottesgebote lernt, und alle sind aneinander gebunden. Jesus hat sie doch in zwei zusammenfasst: Liebe Gott aus deinem ganzen Herzen, aus deine ganzen Seele, und deinen Nächsten wie dich selbst. In diesen sind doch die Tora und die Propheten enthalten. Wohl dem, der diese [Gebote] hält.“22

                                                             21 Biographie, 32: ‫ ܒܪܝ ܟܠܝܢ ܗܘܝܢ ܠܟ ܟܠܗ ܗܢܐ ܡܬܚܐ ܟܒܪ‬:‫ܐܒܗܝ ܩܡ ܐܒܝ ܘܗܟܢ ܡܠܠ ܥܡܝ‬ ̈ ‫ܘܟܕ ܡܬܦܪܫ ܐܢܐ ܡܢ‬

.‫ ܘܕܚܙܝܢܢ ܪܣܝܟ ܐܢܬ ܒܗ ܒܢܝܫܟ ܙܠ ܒܫܠܡܐ ܘܡܪܝܐ ܢܗܘܐ ܥܡܟ‬.‫ܡܙܕܥܙܥ ܪܥܝܢܟ܆ ܘܗܟܢ ܗܦܟ ܐܢܬ ܡܢ ܨܒܝܢܟ‬ ‫ ܘܟܠ ܟܡܐ ܕܡܬܕܟܪ ܐܢ ܠܗ ܡܬܚܕܬ‬.‫ ܙܠ ܒܫܠܡ܆ ܡܪܝܐ ܢܗܘܐ ܥܡܟ‬.‫ܐܘ ܟܡܐ ܝܩܝܪܐ ܗܘܐ ܠܝ ܗܕܐ ܒܥܘܬܐ ܕܐܒܐ‬ .‫ܗܘܐ ܚܝܠܝ‬ 22 A.a.O., 34f: ‫ܕܝܙܝܕܝܐ‬ ̈ ‫ܒܓ ܪܝܫܐ‬ ̇ ‫ܘܒܗ ܒܫܢܬܐ ܒܩܝܛܐ ܐܬܐ ܠܣܥܘܪܘܬܗ ܕܕܝܪܐ ܕܝܠܕܬ ܐܠܗܐ ܕܢܛܦܐ ܐܣܡܐܥܝܠ‬ ̇ ‫ܠܒܢܝܟܘܢ‬ ̈ ‫ ܘܒܥܢܝܢܝ ܕܥܡܗ ܫܐܠܬܗ ܠܡܘܢ ܐܠ ܡܠܦܝܬܘܢ‬.‫ ܘܢܚܬܬ ܠܫܠܡܗ‬..‫ ܘܦܪܣܘ ܠܗ ܠܬܚܬ ܠܘܬ ܢܛܦܐ‬.‫ܕܒܫܝܓܪ‬ ‫ ܣܦܩ ܐܠܢܫ ܕܢܐܠܦ ܥܣܪܐ‬.‫ܘܛܝܝܐ ܩܪܝܬܘܢ܆ ܘܢܛܪܝܬܘܢ ܐܢܬܘܢ ܟܝ ܟܠ ܡܐ ܕܩܪܝܬܘܢ‬ ̈ ‫ ܘܦܢܝ ܥܠܝ܆ ܐܢܬܘܢ‬.‫ܩܪܝܢܐ‬ ‫ ܡܫܝܚܐ ܚܒܫ ܐܢܘܢ ܒܬܪܬܝܢ ܘܐܝܬܝܗܝܢ ܪܚܡ ܐܠܠܗܟ ܡܢ ܟܠܗ ܠܒܟ‬.‫ܒܚܕܕܐ‬ ̈ ‫ܦܘܩܕܢܐ ܕܐܠܗܐ ܘܟܠܗܘܢ ܐܣܝܪܝܢ‬ ̈ ‫ ܘܛܘܒܬܢܐ ܗܘ ܗܘ ܕܢܛܪ ܠܗܠܝܢ‬.‫ܘܢܒܝܐ‬ ̈ ‫ ܒܗܠܝܢ ܬܠܝܐ ܐܘܪܝܬܐ‬.‫ܟܠܗ ܢܦܫܟ ܘܠܩܪܝܒܟ ܐܝܟ ܢܦܫܟ‬ ̇ ‫ ܘܡܢ‬.

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Mit der Anschaffung der Druckerei durch die Unterstützung des britischen Königshauses konnte die Syrische Kirche in Mardin und Jerusalem eigene Bücher zum ersten Mal vor Ort drucken. Dolabani wurde involviert und half beim Druck von liturgischen Büchern und theologischen Traktaten mit. Die Versetzung von der Einsiedelei in das Kloster Za‘faran kam durch die Anordnung von Patriarch Abdalah II. im Jahr 1913 zustande. Dolabani trennte sich unter Tränen von den anderen Einsiedlern. 1913 wurde er zum Lehrer in Deir Za‘faran ernannt, aber selber studierte mit zwei weiteren Mönchen vor allem alte Mönchsregeln und verfasste neue Regeln, die für das Kloster von Nutzen waren und der Zeit entsprachen, wie er sagt.

5. Fatale Auswirkungen des Genozids (Sayfo) während des Ersten Weltkriegs Yuhanna berichtet über die Auswirkungen des Sayfo und die schrecklichen Ereignisse und zählt die Dörfer und Städte auf, die in der Nachbarschaft angegriffen wurden.23 Dabei erwähnt er kurz die Angriffe auf das Kloster Za‘faran am 15. Juni 2015. Die Angriffe erfolgten von militanten Kurden, aber Nuri Afandi kam mit 90 Kämpfern und vertrieb sie. Nach zwei Tagen ging er weg und ließ zehn Kämpfer zum Schutz des Klosters da, später waren es nur noch vier. Aber die Überlebenden, Verletzten, Verwundeten und Kranken aus der Region kamen in das Kloster, um Zuflucht zu finden. Dolabani und die anderen Mönche betreuten und verpflegten die Verwundeten, gaben ihnen alles, was sie hatten. Er berichtet, dass er alle seine Kleider an die Bedürftigen verteilte und nur noch das hatte, was er auf dem Leib trug. Der Abt erfuhr dies erst an dem Tag, an dem die Kleider üblicherweise gewaschen werden, und gab ihm Kleidung.24 Wegen der Krankenpflege und der hygienischen Zustände war auch Dolabani zwei Wochen lang schwer krank. Patriarch Abdallah starb am 1. August 1915. Am 31. Oktober 1916 wurde in Jerusalem Metropolit Eliyas Shaker zum Patriarchen gewählt, der dann am 12. Februar 1917 im Kloster Za‘faran inthronisiert wurde. Das Kloster war noch überfüllt von den Überlebenden und Verwundeten, die auch stark unter Hunger litten.25 Bei einer Beerdigung zitiert Dolabani Abt Eliyas Qoro, der bei der Trauerfeierlichkeit sagte: „Wir haben Kinder erzogen, die der Menschheit dienen sollten, [aber] der Herr hat sie zu sich genommen und die Gewalttätigen und Mörder zurückgelassen – Seine Größe sei verherrlicht26 und seine Werke sind jenseits des Begreifens.“27

                                                             23 Über den Sayfo vgl. u.a. David Gaunt et al. (Hg.), Let them not return. Sayfo – The Genocide against the Assyrian, Syriac, and Chaldean Christians in the Ottoman Empire, New York 2017; Suleyman Henno, Gunhe d-Suryoye d-Tur Abdin da-shnath 1915 – Schicksalsschläge der syrischen Christen im Tur Abdin 1915, Glane 1987; Martin Tamcke, Der Genozid an den Assyrern/Nestorianern, in: Tessa Hofmann (Hg.), Verfolgung, Vertreibung und Vernichtung der Christen im Osmanischen Reich 1912–1922, Münster 2004, 103–118. 24 Biographie, 38. 25 A.a.O., 40. 26 A.a.O., 36f: ‫ܘܟܕ ܐܙܠܢ ܐܢܐ ܘܪܝܫܕܝܪܐ ܐܠܙ‬.

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Am Ende des Krieges kam eine britische Delegation zum Patriarchen in das Kloster Dayrza’faren und fragte, zu welcher Nation der Patriarch gehöre: zur türkischen, arabischen oder kurdischen. Der Patriarch antwortete diesbezüglich nicht, sagte aber: „Ihr kommt zu spät. Sie antworteten: Wir haben nicht gedacht, dass jemand von euch überlebt hat.“28 Die Wirkung des Genozids und der Zerstörung der christlichen Gemeinden und Diözesen, Schulen und sozialen Einrichtungen ist erst nach dem 1. Weltkrieg deutlich geworden. Nach dem Krieg hat Yuhanna den Patriarchen auf seinen Visitationsreisen begleitet.

6. Priesterweihe Die Ermordung des Pfarrers Joseph von Benebil und vieler anderer Geistlicher war der Grund, Yuhanna am 18. März 1918 zum Priester zu weihen. Zusätzlich zu seiner anderen Arbeit betreute er die Pfarre Benebil, ein Dorf nicht weit von Mardin.29 In seiner pastoralen Aufgabe ermutigte Dolabani die verbliebenen Christen, wieder in die Kirche zu gehen und die heilige Kommunion zu empfangen, besonders die Frauen und die Kinder. In einer Ausführung über eine Frau, die mit ihrem Kind zur Beichte gekommen war, wird dies besonders deutlich. Nach der Beichte sprach er lange Zeit mit dem Kind und gab ihm anschließen die heilige Kommunion. Daraufhin hatte sich das Kind zum Guten verändert. Als alle anderen Mütter diese Veränderung zum Guten sahen, haben sie auch angefangen, ihre Kinder zum Gottesdienst mitzubringen. Schulunterricht und Beichte sind die weiteren Bereiche, auf die Dolabani unermüdlich achtgab. Bezüglich zweier Personen, die gestritten haben, bat er den einen, das Vaterunser laut vorzubeten. Beim Beten übersprang er den Vers „Vergib uns unsere Schuld, wie wir unseren Schuldigern vergeben“. Sehr sensibel und feinfühlig nahm Dolabani dies zum Anlass, die theologische Bedeutung der Vergebung zu erläutern, um eine Versöhnung unter den verfeindeten Personen zu erzielen.30

7. Visitationsreise mit Patriarch Ignatius Elias Shaker III. Erst als sich die politische Lage nach dem Ersten Weltkrieg ein wenig beruhigte, konnte Patriarch Ignatius Elias Shaker III. (1917–1932) seine erste Visitationsreise aufnehmen und sich einen Überblick über die Auswirkung des Genozids und die Lage der Verbliebenen verschaffen. Auf diese Reise, zu der er mit seiner Kutsche am Freitag, den 18. April 1919 aufbrach, nahm er Dolabani mit, der kurze Notizen über die Reise, Aufenthaltsorte und Begegnungen machte.

                                                             27 Ebd.: ‫ܥܒܕܘܗܝ‬ ̈ ‫ܘܩܛܘܐܠ ܫܘܒܚܐ ܠܪܒܘܬܗ‬ ̈ ‫ܠܒܥܪܝܪܝܐ‬ ̈ ‫ܒܢܝܐ ܕܢܗܘܘܢ ܝܘܬܪܢܐ ܐܠܢܫܘܬܐ ܢܣܒ ܐܢܘܢ ܘܫܒܩ‬ ̈ ‫ܕܪܒܝܢܢ‬

‫ܡܢ ܡܕܪܟܢܘܬܐ ܐܢܘܢ‬.

28 Biographie, 42: ‫ܘܦܢܝܘ ܥܠܘܗܝ܆ ܕܐܠ ܣܒܪܝܢ ܗܘܝܢ ܕܐܬܦܨܝ ܐܢܫ ܡܢܟܘܢ‬. 29 Bnebil ist das einzige Dorf weit und breit um Mardin herum, in dem noch bis zu Beginn des 21. Jh.s ein greiser Priester lebte, Yakub Günay. Seit seinem Tod vor 10 Jahren werden die wenigen verbliebenen christlichen Familien von den Geistlichen im Kloster Za’faran seelsorgerlich betreut. 30 Biographie, 41.

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Die Reise verlief über Amid, Urhoy, Aleppo, Hama, Homs, Zaydal, Zahle, Damaskus und zurück über Homs, Zaydal, Phayruza, Saddad, Haphar, Qeryatayn, Pruqlos und wieder über Homs, Hama und Aleppo. Dann reiste er noch bis Jerusalem und zurück.31 Die Reise war nicht ungefährlich. Schon am ersten Tag auf dem Weg nach Amid (Diyarbaker), in Khanakah angekommen, hörten sie Schüsse, und ein Soldat teilte ihnen mit, dass es die Schüsse der Hirten seien. Danach erfuhren sie, dass zwei der Dorfbewohner getötet wurden. In Aleppo wurden sie für Spione gehalten, weil sie Syrisch sprachen,32 in Qeryatayn misstrauten die Behörden ihren Dokumenten, und sie wurde erst durch zusätzlichen Aufwand freigegeben.33 Dolabani lag sehr viel auf dem Herzen: Einerseits die pastorale und sakramentale Betreuung der Gläubigen zu sichern, andererseits die Einrichtung von Schulen und des Katechetenunterrichts zu bewirken. Dabei notierte er, dass einige Menschen über Jahre hinweg auf Grund von Angst der Kirche fernblieben und sich erst jetzt trauen, sich wieder als Christen zu zeigen und ihre Kinder taufen zu lassen. Er notierte in seinem Reisebericht besonders, wie der Patriarch die Christen zur Errichtung von Waisenheimen in Form von Schulen und Internaten motivierte, und rief besonders zu solchen Versammlungen auf, wie zum Beispiel am 27. April 1919 in Amid oder später in Qeryatayn und Jerusalem. In Urhoy angekommen, schreibt Dolabani: „Urhoy ist das Land der Syrer und die Wurzel/Rebe der antiken syrischen Sprache. Ich bin stolz auf dich, und du solltest dich auf dem Besuch Seiner Seligkeit freuen.“34 Bei dieser Reise wurden auch Diakone, Priester und Bischöfe geweiht. Auf der Rückreise aus Jerusalem war Dolabani alleine und er trug kein Geld mit sich, nicht einmal für seine Fahrkarten. Dies hat er auch später als Bischof beibehalten, woran sich noch viele Zeitgenossen mit Respekt und Bewunderung erinnern.

8. Waisenheime als Schulen und theologische Ausbildungsstätten 1919 erfolgte die Gründung von einem Waisenhaus für 118 Kinder und einer Schule für rund weitere 1.000 Kinder in Adana. Dolabani unterrichtete hier drei Jahre lang hauptsächlich Syrisch und Arabisch. Die syrischen Kenntnisse der Kinder waren sehr unterschiedlich, aber nach drei Unterrichtsjahren konnten sich die meisten Schüler aus dem Waisenhaus gut in klassischem Syrisch unterhalten und beherrschten die Grammatik. Um das Gefühl der nationalen Zugehörigkeit, ein Syrer bzw. Assyrer oder Aramäer zu sein, zu stärken, legte Dolabani im Sprachunterricht besonderen Wert auf die Musik und hat viele Volkshymnen,

                                                             31 32 33 34

Biographie, 42–78. A.a.O., 77. Ebd. A.a.O., 49: ‫ܒܗ܆‬ ̇ ‫ ܘܐܢܐ ܡܫܬܒܗܪ ܐܢܐ‬.‫ܕܣܘܪܝܝܐ‬ ̈ ‫ ܘܒܝܬ ܡܘܥܝܬܐ ܕܠܫܢܐ ܥܬܝܩܐ‬.‫ܕܣܘܪܝܝܐ‬ ̈ ‫ܘܕܐܘܪܗܝ ܡܬܐ ܗܝ‬

̇ ‫ܠܘܬܗ‬ ‫ܐܟܡܐ ܕܗܝ ܙܕܩ ܠܡܫܬܒܗܪܘ ܝܘܡܢ ܒܡܐܬܝܬܐ ܕܛܘܒܬܢܘܬܗ‬.

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Lieder und Gesänge gedichtet.35 Die Dichtungen haben die Schüler nicht nur in ihrer Identität als Christen, sondern auch in ihrer nationalen Identität sehr stark geprägt. Dolabani war sich seiner Herkunft als Träger einer reichen zivilisierten Tradition und des christlichen Glaubens sehr bewusst. Ihm fiel es sehr schwer zu sehen, wie diese Tradition religiös und kulturell sehr gefährdet war und wie er selbst diesen Prozess erleben musste. Daher hat er sich nicht nur auf die religiösen Werte konzentriert, sondern auch auf die nationalen und volkstümlich kulturellen Werte und nicht zuletzt auf die Sprache. In Adana komponierte er 30 syrische Gedichte (zmirotho suryoyotho), die zum Teil das Schicksal der syrischen Christenheit angesichts ihres historischen Reichtums widerspiegeln. Mit seinen Dichtungen sah er seine Aufgabe darin, die Überlebenden in ihrer Identität als Christen und Syrer bzw. Assyrer zu stärken, sich dieser nicht zu schämen, sondern im Gegenteil sie zu motivieren, sich dazu zu bekennen. Nach drei Jahren, Ende 1922, wurde die Schule geschlossen und die Waisenkinder und viele Christen nach Aleppo und Richtung Syrien vertrieben. Dies fiel Dolabani sehr schwer, vor allem das Abschiednehmen von seinen Schülern. Ein Jahr später wurden auch die letzten Christen aus Edessa vertrieben. Die Schule brachte viele gute Gelehrte des 20. Jh.s hervor, die später literarisch kreativ waren, u.a. Naaman Abdulmesih Karabashi (1903–1983), 36 Abrohom Gabriel Sawme (1913–1996), 37 Denho Ghattas Maqdese Elias (1911–2008) 38 und Gabriel Asaad (1907– 1997).39 Danach wurde Dolabani nach Beirut versetzt und leitete das dortige Waisenhaus von 1922–1925. Angesichts der Folgen des Genozids war die Gründung von Waisenhäusern ein essentielles Anliegen von Dolabani, um den überlebenden Kindern sowohl Unterkunft und Verpflegung zu bieten als auch Bildung zu ermöglichen. Auf seinen Reisen widmete er den Waisenhäusern große Aufmerksamkeit, nicht nur in Amid, Adana und Beirut, sondern auch an vielen anderen Orten. Darüber hinaus verwandelte Dolabani die Waisenhäuser stets in Schulen, und er ging sogar so weit, die Waisen als Seminaristen (‫ )ܩܠܝ̈ܪܝܩܝܐ‬zu sehen.40 Dies war auch politisch bedingt, da es formell keine christlichen Schulen geben durfte. Dolabani erfüllte seine Aufgabe als Direktor und Lehrer bis 1926 in Beirut, dann wurde er nach Jerusalem versetzt. Während seines ersten Besuchs dort 1919 half er bei der Schuleinrichtung. Jetzt übernahm er die Leitung der Schule bis 1929 und unterrichtete die Seminaristen im Kloster. In dieser Zeit veröffentliche er einige Bücher und gab die Zeitschrift

                                                             35 Biographie, 286–325. 36 Karabshi ist sehr bekannt für seine Grammatikbücher für 1. bis 8. Klasse sowie Dmo Zliho (Vergossenes Blut), die in Barhebraeus-Verlag in Glane erschienen sind. 37 Sawme floh nach Brasilien und verfasste dort acht Bände unter dem Titel Mardutho d-Suryoye. 38 Zu Ghattas vgl. ARAM-Magazine No 8 – Winter 1994. Ghatas gab das syrische Magazin in Aleppo heraus, übersetzte aus dem Französischen ins Syrische die Novelle „Paul et Virginie“ von Bernadine St. Pierre (hg. 1955 in Beirut) und war ein großer Dichter (vgl. seine Sammlung in Tugone 1989 und Bugone 1994). 39 Gabriel Asaad ist für seine Kompositionen und Musik bekannt geworden. Er starb in Schweden; vgl. https://www.qeenatha.com/artists/GabrielAsaad/222/ (20.9.2018). 40 Biographie, 85: ‫ܘܝܬܡܐ ܕܝܠܢ ܐܝܟ‬ ̈ .‫ ܘܩܘܪܒܐ ܒܚܕ ܒܫܒܐ‬.‫ܥܒܕܝܢ ܗܘܝܢ ܨܠܘܬܐ ܟܠ ܝܘܡ ܒܨܦܪܐ ܘܒܪܡܫܐ‬ ‫ܩܠܝܪܝܩܝܐ ܝܕܥܝܢ ܗܘܘ‬ ̈ . – „Wir hielten täglich morgens und abends Gottesdienst und an Sonntagen die Eucharistiefeier. Unsere Waisen wussten so viel wie die Seminaristen [Kleriker].“

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Mor Philoxenos Yuhanna Dolabani

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Al-Hekhmat heraus.41 Aber aus Gesundheitsgründen ging er zurück nach Mardin, wo er die zweite Hälfte seines Lebens blieb, zuerst als Mönch und dann ab 1947 als Bischof unter dem Namen Philoxenos.

9. Aufbau des Klosters Za‘faran nach dem Krieg Patriarch Ignatius Elias III. verstarb 1933 auf einer Reise in Indien. Der nachfolgende Patriarch Ephrem Barsoum wurde in Homs inthronisiert. Für das Kloster Za‘faran bedeutete es den endgültigen Verlust des Patriarchatssitzes nach rund 641 Jahren. Nach seiner Rückkehr nach Mardin im Jahr 1929 konnte sich Dolabani einerseits auf die pastorale Arbeit konzentrieren, um den Verwundeten, Verletzten, Witwen, Waisenkindern und Gefangenen Trost zu spenden und damit die Pfarren in Mardin und Umgebung wieder aufzubauen, andererseits war er sehr bemüht, die Bildungstradition im Kloster Za‘faran aufrecht zu erhalten. Wegen seiner Bescheidenheit und unermüdlichen Arbeit wurde er von der Diözese einstimmig zum Bischof vorgeschlagen und am 20. April 1947 zum Metropolit von Mardin geweiht. Trotz der Schwierigkeiten mit der türkischen Regierung hat er das Theologische Seminar wieder aufgebaut, selbst dort unterrichtet und weitere Lehrer dazu geholt. Allmählich diente das Kloster wieder als Bildungsort und brachte Priester und Lehrer hervor. Er ordinierte viele Priester für überall dort, wo sich wieder Pfarren und Gemeinden in den Städten und Dorfgemeinschaften bildeten. Mit seiner ökumenischen Einstellung sorgte er nicht nur für die syrisch-orthodoxen Christen, sondern auch für die Ostsyrer, Armenier, Chaldäer und Syrisch-Orthodoxen. Später als Bischof weihte er Priester und schickte sie hinaus, um die anderen Christen sakramental und pastoral zu betreuen. Darunter war auch der Vater von Erzbischof Mor Julius Jesu Cice, nämlich Pfarrer Baursaum, der nach Siirt/Besheriye zu den Armeniern geschickt wurde und dort 250 Personen taufte, die nach dem Genozid keinen armenischen Priester mehr hatten.42 In seiner pastoralen und seelsorgerlichen Arbeit bereiste Dolabani unermüdlich die Dörfer und Städte um Mardin, Turabdin und Syrien. Seine Predigten waren immer theologisch fundiert. In seiner Biographie gibt er auch die Themen seiner Predigten an. Er ordinierte viele Diakone und Priester und verteilte Bücher an die Schulen.43

                                                             41 Biographie, 97: ‫ ܐܫܩܠܢܢ ܐܠܘܪܫܠܡ ܘܡܚܕܐ ܕܡܛܝܬ ܦܪܫܢܝ ܠܡܠܦܢܘܬ ܣܘܪܝܝܐ ܒܡܕܪܫܬܐ‬1929 ‫ܘܒܫܢܬ‬

‫ܗܪܓܐ ܘܬܘܕܝܬܐ‬ ̈ ‫ ܘܒܬܪ ܛܗܪܐ ܡܬܥܢܐ ܗܘܝܬ ܒܟܬܝܒܬܐ ܘܒܝܗܘܒܘܬ‬.‫ܒܗ ܒܨܦܪܐ‬ ̇ ‫ܘܡܩܪܐ ܗܘܝܬ‬ ‫ܠܬܠܡܝܕܐ ܕܒܕܝܪܐ‬ ̈ . – „Im Jahre 1929 zogen wir nach Jerusalem. Sobald ich dort ankam, erkundigte ich

mich über den Syrisch-Unterricht in der Schule. Ich lehrte dort vormittags und beschäftigte mich nachmittags mit dem Schreiben, hielt Unterricht in Konfessionskunde für die Studenten im Kloster.“ 42 Nach einer Aussage von Pfarrer Semun Demir aus Delbruck in Deutschland hat Dolabani einigen Priestern sogar erlaubt, unter den Ostsyrern die heilige Messe nach deren Ritus zu feiern. 43 Vgl. z.B. Biographie, 118: ‫ܕܡܐܡܪܐ ܕܒܪ ܡܥܕܢܝ‬ ̈ ‫;ܘܝܗܒܬ ܠܗ ]ܐܣܡܪ ܒܪ ܩܫܝܫܐ ܓܘܪܓܝ ܕܟܪܒܘܪܐܢ[ ܚܕ ܟܬܒܐ‬ – „Und ich gab ihn [Asmar, der Sohn von Pfarrer Gewargi aus Karboran] ein Buch der Mimre von Bar Ma’dani“; 137: ‫ܣܝܡܝ ܕܢܬܥܕܪܘܢ ܒܗܘܢ‬ ̈ ‫ܟܬܒܐ ܡܢ‬ ̈ ‫„ – ;ܘܝܗܒܬ ܠܗܘܢ ܟܡܐ‬Und ich gab ihnen einige Bücher, die ich verfasst hatte, um ihnen dadurch zu helfen“; 176: [‫ܘܝܗܒܬ ܠܗ ]ܠܚܕ ܦܘܠܚܐ ܣܘܪܝܝܐ ܡܢ ܥܡܢ‬

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Aufgrund seiner liberalen Haltung und ökumenischen Offenheit war es nicht immer harmonisch zwischen ihm und dem Patriarchen Jakob III. (1957–1980). Yuhanna Dolabani starb am 5. November 1969 im Alter von 84 Jahren und hinterließ einen großen Reichtum an guten Erinnerungen bei denen, die ihn kennenlernen durften. Durch seine schriftstellerische Kreativität hinterließ er auch viele unterschiedliche Texte und leistete damit einen großen Beitrag zur syrischen Literatur. Dazu gehören Übersetzungen von syrischen Texten unterschiedlicher Gattungen ins Arabische und Türkische sowie aus dem Arabischen ins Syrische. Die bekannteste darunter ist aus der Liturgie die Übersetzung der heiligen Eucharistiefeier ins Türkische – übrigens zum ersten Mal aufgrund der neuen türkisch-sprechenden Gemeinde in Istanbul. Und aus der Literatur ist die Übersetzung des Standardwerkes von Ephrem Barsaum Berule b-dhire (Geschichte der Syrischen Literatur) eine großartige Leistung. Zu den Editionen gehören Texte von Kirchenvätern, besonders von Barhebraeus, liturgische Bücher und Heiligenviten. Unter seinen Kompositionen auf Syrisch, Arabisch und Türkisch befinden sich viele Hymnen und Lieder, profane und volkstümliche. Verfasst hat er theologisch-geistliche Traktate, Gebete, Berichte, Tagebücher, Predigten, eine Geschichte von Mardin und schließlich eine syrische Grammatik und Lehrbücher.44

10. Schlusswort Bis zum Tod von Mor Philoxenos Yuhanna Dolabani konzentrierte sich das Studium der syrischen Literatur in Europa hauptsächlich auf antike Texte, die alten Kirchväter, das frühe syrische Christentum, das „Goldene Zeitalter“ vor und nach den christologischen Auseinandersetzungen und bestenfalls noch auf die syrische Renaissance bis hinein ins 13./14. Jh. Darüber hinaus wurden nur in seltenen Fällen weitere Studien unternommen, und es wurden kaum die historischen Ereignisse der syrischen Christenheit und die Entwicklung und Tradierung ihrer Theologie ab dem 13. Jh. bearbeitet, geschweige denn damalige aktuelle Ereignisse. Und das, obwohl das Studium der syrischen Sprache und der syrischen Bibel in Europa schon mit Moses von Sawro und seiner Reise nach Rom und Wien Mitte des 16. Jh.s angefangen hatte.45 Bis zum Beginn der Gastarbeiterwelle ab dem Ende der 1960er Jahre und der Auswanderungswelle der syrischen Christen aus dem Turabdin im Südosten der Türkei ab 1976 gab es in Europa kaum regelmäßigen Kontakt mit den syrischen Christen im Nahen Osten, und auch nur in Ausnahmefällen unter den Gelehrten. Daher beschäftigte man sich, aus westlicher Sicht, mit der syrischen Tradition, als wäre sie nicht mehr vorhanden, als wäre sie nur eine Wissenschaft des Altertums und der Antike,

                                                             ‫ܟܬܒܐ ܕܕܝܬܩܐ ܚܕܬܐ‬ ̈ ‫ܕܨܠܘܬܐ ܘܥܣܪܐ ܕܝܘܠܦܢܐ ܡܫܝܚܝܐ ܘܬܪܝܢ‬ ̈ ‫ܟܬܒܐ‬ ̈ ‫„ – ;ܥܣܪܐ‬Und ich gab ihm [einem Soldat aus unseres Suryoye-Volkes] zehn Gebetbücher, zehn Bücher der Katechese und zwei Bücher des Neuen Testaments“; 177: ‫ܕܝܢܪܐ‬ ̈ ‫ܟܬܒܐ ܒܬܡܢܝܐ‬ ̈ [ ‫ܣܥܘܪܐ ܡܢ ܟܦܪܒܘܪܐܢ‬ ̈ ‫ܠܒܢܝܗܘܢ ]ܕܬܪܝܢ‬ ̈ ‫ܘܕܫܢܬ‬. – „Und ich schenkte ihren Kindern [zwei Besuchern aus Karboran] Bücher in Wert von zwei Dinar.“ 44 Vgl. hierzu Biographie, 367–386; Ibrahim, Catalogue of Syriac, 9–51; Durak, Süryani Kadim, 29–75. 45 Moses von Sawro, genannt auch Moses von Mardin, kommt aus dem gleichen Kloster Za’faran wie Dolabani.

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und als wäre das Aramäische eine tote Sprache, wie das Lateinische und Altgriechische. In diesem Sinne notiert Mor Philoxenos Yuhanna Dolabani die Aussage von einigen Franzosen, die im Jahr 1922 ihn und hunderte von Waisenkindern in der 1919 gegründeten Schule in Adana besuchten und hörten, dass sie Syrisch sprachen: „Misiou Dolabani, wir dachten, dass das Syrisch zu den ausgestorbenen Sprachen gehört, aber wie es aussieht, es lebt noch und ihr redet, singt und [tut] vieles mehr auf Syrisch.“46 Die Begegnung mit syrischen Christen in Deutschland als lebendige Träger des syrischen Erbes in all ihren Dimensionen war eine Überraschung und bewies bzw. beweist die lebendige Vitalität des syrisch-semitischen Christentums noch heute. Mit dem Zuwachs der syrischen Christen in Europa und der Gründung von Kirchen und Gemeinden wurde in Loser Glane in den Niederlanden, an der Grenze zu Gronau in Deutschland, 1981 das erste syrisch-orthodoxe Kloster in Europa gegründet und dient seither als Metropolitensitz, zunächst für ganz Mitteleuropa und die Beneluxländer, später nur für die Niederlande. Mor Julius Jesus Cicek, der erste Metropolit, erwählte drei syrische Persönlichkeiten für das neue Verwaltungszentrum, darunter Mor Philoxenos Yuhanna Dolabani: Das Kloster wurde nach dem bekannten Heiligen des frühen syrischen Christentums aus dem 4. Jh. Mor Ephrem der Syrer genannt, das eingerichtete Verlagshaus nach dem prominenten Universalgelehrten des 13. Jh.s Mor Gregorios Barhebraeus und der Konferenzsaal nach Mor Philoxenos Yuhanna Dolabani aus dem 20. Jh. Alle drei Namensgeber sind Repräsentanten ihrer Zeit, haben einen enormen Beitrag zur Entwicklung des orientalischen Christentums geleistet und zeugen von der Lebendigkeit der syrischen Christenheit im Kontext der jeweiligen Zeit. Die Biographie und die Werke von Mor Philoxenos Yuhanna Dolabani bezeugen in exzellenter Weise eine bescheidene und gelehrte Person, die spirituell mit großer Sensibilität auf die schwierigen Zeiten und Nöte seiner Zeit in Liebe und Geduld reagierte. Dies ist noch im Bewusstsein und in der Erinnerung von vielen Menschen, die heute noch leben und ihm begegnet sind, bei ihm gearbeitet oder studiert haben. Als Gelehrter der syrischen Literatur in Oxford besuchte Sebastian Brock 1966 Mor Philoxenos und notiert später: „I met Bishop Philexinos Dolabani, once, a few years before he died, and he has always greatly impressed me, both as a man of great holiness and as a tireless scholar in the service of the Syrian Orthodox Church.“47 Dies wird von weiteren Zeitzeugen bestätigt. Mit seinen zahlreichen literarischen Werken gilt Dolabani als Erneuerer der syrischen Sprache im 20. Jh.48 und wird mit seinem Namenspatron Mor Philoxenos von Mabbug gleichgestellt.49 Hinweisend auf sein asketi-

                                                             46 Biographie, 84f: ‫ܡܝܬܐ ܐܝܬܘܗܝ ܗܐ ܚܝܐ‬ ̈ ‫ܠܫܢܐ‬ ̈ ‫ܡܘܣܝܘ ܕܘܠܒܐܢܝܐܢ ܚܢܢ ܣܒܪܝܢ ܗܘܝܢ ܕܠܫܢܐ ܣܘܪܝܝܐ ܡܢ‬

‫ܡܬܚܙܐ܆ ܕܒܗ ܡܡܠܠܝܢ ܐܢܬܘܢ ܘܙܡܪܝܬܘܢ ܘܣܛܪ‬.

47 www.syriacchristianity.info/bio/MorDolabani.htm (17.5.2017). 48 Kap. 6 der Biographie enthält 6 Gedichte von Zeitzeugen, die Dolabani loben. Paulus Gabriel schreibt 355: ‫ܒܟ ܐܬܚܕܬ ܒܕܪܐ ܕܥܣܪܝܢ ܡܡܠܐܠ ܕܠܥܙܢ‬. 49 Chorepiskopos Malke aus der Familie des Priesters Ephrem (a.a.O., 357): ‫ܪܒܟ ܕܐܬܒܟ ܥܠ ܟܘܪܣܝܐ‬

‫ܡܪܕܝܢܝܐ܆ ܘܗܒ ܠܟ ܟܘܢܝ ܦܝܠܘܟܣܝܢܘܣ ܡܒܘܓܝܐ܆ ܫܘܐ ܐܢܬ ܒܢܙܠܗ ܒܛܢܢܟ ܗܘ ܐܠܗܝܐ܆ ܕܒܗ ܐܬܟܬܫ ܚܠܦ‬ ‫ܬܘܕܝܬܐ ܕܐܠ ܬܘܗܝܐ‬. – „Dein Meister, der dich auf dem Bischofssitz von Mardin inthronisierte, gab dir

den Titel Philoxenos von Mabbug, dessen Spuren du würdig bist in deinem göttlichen Eifer, in denen er ohne Zögern für den Glauben kämpfte.“

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sches Leben beschreibt ihn Elyas Shahin als einen tapferen Kämpfer für seine Nation und Religion und zögert nicht, ihn als Heiligen des 20. Jh.s zu nennen.50 Sein Wirken für das syrische Christentum, die Nation und Sprache verdienen eine hohe Anerkennung, wie dies auch aus dem Gedicht von Isa Garres anlässlich der Beisetzung Dolabanis 1969 deutlich wird. Dolabani wird als Symbol für die Wiedervereinigung des syrischen/assyrischen Volkes und der Kirchen gelobt.51 Zum Gedenken an seinen 40. Todestag veranstalteten die syrischen Christen im Jahr 2009 viele Vorträge und Podiumsdiskussionen wie jene in Wien, an welcher auch Mor Gregorios Yuhanna Ibrahim (einer der im Jahr 2013 entführten Erzbischöfe von Aleppo) teilgenommen hatte. In allen Vorträgen, die hauptsächlich auf Syrisch stattfanden und von denen einige noch auf YouTube zu hören sind, wird Mor Philoxenos als eine überragende Persönlichkeit seiner Zeit gesehen und als Vorbild für heutige Bischöfe und Priester, aber auch als Modell für alle Aktivisten, die parteipolitisch und sozial agieren. Er wird als Gelehrter verstanden, der mit der Geschichte in der Gegenwart lebte und zugleich Visionen für die Zukunft hatte. 2019 ist seines 50. Todestages zu gedenken, und seine Werke verdienen es ediert, studiert und übersetzt zu werden.

                                                             50 Shahin, Bibliographie, 361: ‫ܝܐܝܐ ܠܗ ܕܐܫܬܘܝ ܟܐܢܐܝܬ ܕܐܠ ܚܪܝܢ܆ ܕܢܬܩܪܐ ܩܕܝܫܐ ܕܕܪܐ ܕܥܣܪܝܢ‬. 51 Garres, Bibliographie, 364f: ‫ܠܥܕܬܗ ܫܒܚ ܘܐܠܘܡܬܗ ܐܚܒ ܫܪܝܪܐܝܬ܆ ܘܦܩܕ ܘܙܗܪ ܕܚܘܝܕ ܠܥܙܢ ܢܨܝܚܐܝܬ܆‬ ‫ܘܫܝܦܘܪܐ ܗܘܐ ܒܝܬ ܡܫܪܝܬܢ ܐܡܝܢܐܝܬ܆ ܕܠܚܘܝܕܐ ܡܙܡܢ ܗܘܐ ܠܢ ܚܘܒܢܐܝܬ‬. – „Er verherrlichte seine Kirche und liebte sein Vaterland wahrhaftig, mahnte und machte erfolgreich aufmerksam auf die Einigung unserer Sprache. Er war stets ein Horn in unserer Region, der uns dauerhaft mit Liebe zur [Wiederver-] Einigung einlud.“

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Paulos Mar Gregorios (1922–1996) Indische Orthodoxie im „Zeitalter der Ökumene“ Lukas Pieper 1. Indien als Ort orientalischer Orthodoxie Unter den Gestalten, denen sich dieser Band widmet, finden sich Persönlichkeiten und Denker der syrischen, koptischen, äthiopischen und armenischen Kirchengeschichte. Befasst man sich jedoch mit „Gestalten der orientalischen Orthodoxie“, so darf auch ein indischer Theologe darunter nicht fehlen. Diese Tatsache vermag nach wie vor Erstaunen bei dem ein oder der anderen hervorrufen: Orientalische Orthodoxie in Indien? Dabei gehören die Christen Indiens dem Selbstverständnis nach zu jenen der ersten Stunde. Dazu gibt es zwei voneinander unabhängige Legenden, die beide den Apostel Thomas als Gründungsgestalt des indischen Christentums beschreiben. 1 Die erste Gründungslegende entstammt den sogenannten Thomasakten aus dem 3. Jh., die den Apostel über das Meer in den Nordwesten Indiens kommen lassen, an den Hof des Königs Gundaphoros bzw. Gondophares – eines Herrschers, dessen historische Existenz mittlerweile gesichert ist. Der zweiten, in Indien bis heute deutlich populäreren Legende nach, landete der Apostel Thomas im Jahre 52 n. Chr. an der südindischen Malabarküste an, taufte hier die ersten brahmanischen Familien und gründete sieben Gemeinden. Später soll er dann in Chennai (früher Madras) gestorben sein, wo heute noch sein Grab verehrt wird. Gelegentlich werden heute beide Thomas-Legenden miteinander verknüpft, denn, wenn es um die Identität der Christen Malabars geht, spielt der Heilige Thomas eine wesentliche Rolle, sichtbar daran, dass sie sich ihrem Gründer gemäß „Thomaschristen“ nennen. Die Frage, ob diese oder jene Gründungsgeschichte historisch der Wahrheit entspricht, muss in letzter Konsequenz unbeantwortet bleiben, doch ist es zumindest beachtenswert, dass beide Möglichkeiten unter Historikern bis heute offen diskutiert werden, da die historischen Ursprünge der Thomaschristenheit schlicht im Dunkeln liegen.2 Wolfgang Hage bringt die Sache auf den Punkt: „Ob der historische Thomas wirklich in Indien war – und wenn ja, dann an welchen Orten? – ist strittig und stehe dahin; aber heute ist er da: in seiner tiefen und prägenden Wirkung auf die, die sich nach ihm nennen.“3 1 2 3

Hierzu wie zum Folgenden vgl. Wolfgang Hage, Das orientalische Christentum (Religionen der Menschheit 29,2), Stuttgart 2007, 316–318. Ausführlich zur Frage der Historizität der Thomas-Tradition: A. Mathias Mundadan, History of Christianity in India I. From the Beginning up to the Middle of the Sixteenth Century (up to 1542), Bangalore 1989, 21–64. Wolfgang Hage, Die Thomas-Tradition in Indien, in: Martin Tamcke (Hg.), Blicke gen Osten. Festschrift für Friedrich Heyer zum 95. Geburtstag (Studien zur orientalischen Kirchengeschichte 30),

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Um dieses „heute“ soll es hier gehen. Doch zuvor soll noch die eingangs gestellte Frage beantwortet werden, wie es dazu kam, dass heute ein Teil der Thomaschristen der orientalischen Orthodoxie angehört. Die ersten historisch gesicherten Informationen über die Existenz der Christen Indiens finden sich um das Jahr 300, da hier ein gewisser Bischof David von Basra aus der Region am Persischen Golf nach al-Hind gegangen sein und hier eine große Zahl Anhänger gewonnen haben soll.4 Spätestens seit diesem Ereignis standen die Thomaschristen in der syrischen, wohlgemerkt zunächst ostsyrischen Tradition, waren somit eine Metropolie der Kirche des Ostens. Wenn es hier um eine Gestalt des orientalischorthodoxen Christentums Indiens gehen soll, ist also die Frage gestattet: Wie kommt es, dass die orthodoxen Thomaschristen heute nicht mehr in der Tradition der Kirche des Ostens stehen, sondern miaphysitischen Bekenntnisses sind, also in der westsyrischen Tradition stehen? Grund dafür ist ein Ereignis des Jahres 1653, das als „Eid am Kunen kurisu“ – als Eid am gekrümmten Kreuz – in das kollektive Gedächtnis der Thomaschristen einging. Nachdem die portugiesische Kolonialmacht im Jahre 1599 auf der Synode von Diamper versucht hatte, die Gesamtheit der Christen Malabars in die Union mit Rom zu bringen, formierte sich Widerstand.5 Der Teil der Revoltierenden, der die eigene Unabhängigkeit bewahren wollte, suchte nun nach einem kirchlichen Schutzherrn, um nicht aus der apostolischen Sukzession zu fallen und somit keine legitimen Bischöfe mehr weihen zu können.6 Zur eigentlichen Mutterkirche – der Kirche des Ostens – hatte man schon lange keinen Kontakt mehr gehabt, hatte diese unter der muslimischen Vorherrschaft in Persien beträchtlich an Stabilität und Ausdehnung verloren. Man wurde schließlich in der SyrischOrthodoxen Kirche fündig, wohl in Kauf nehmend, dass man hiermit konfessionell gleichsam einen Salto mortale vollzog: Es war der Schritt von einem dyophysitischen zu einem miaphysitischen Bekenntnis und somit der Beginn der Geschichte der orientalischen Orthodoxie in Indien. Doch war dies somit auch der Beginn der Spaltung der Thomaschristenheit, die von nun an in einem römisch-katholischen und einem orientalisch-orthodoxen Teil existierte. Viele weitere Spaltungen bis ins 20. Jh. hinein sollten folgen.

2. Leben und Wirken von Paulos Mar Gregorios Hier soll es also um einen Vertreter jener Orthodoxen Südindiens im 20. Jh. gehen: Paulos Mar Gregorios (1922–1996). Dieses 20. Jh. wird im Titel des Beitrags als „Zeitalter der Ökumene“ bezeichnet. Diese Titulierung als solche findet sich in ähnlicher Form immer wieder in der Literatur.7 Die Gründe dafür liegen auf der Hand: Kein anderes Jahrhundert

                                                             Münster 2004, 232 (im Original hervorgehoben). Vgl. Hage, Christentum, 319. Zu den verschiedenen Interpretationen der Ereignisse um die Synode von Diamper und den Eid am Kunen kurisu aus Sicht der unterschiedlichen Kirchen der Thomaschristenheit, vgl. Karen Schmitz, Diamper und seine Folgen. Die konfessionelle Konturierung der Thomaschristenheit in Kerala (Südindien), Marburg 2014. Dabei gibt es etwa einen großen Streit zwischen den mit Rom unierten Thomaschristen und den anderen, ob der Eid als Revolte gegen die Union mit Rom oder lediglich als Revolte gegen die Herrschaft der Jesuiten und die Latinisierung verstanden werden kann. Vgl. ebd., 56f. 6 Hierzu wie zum Folgenden, vgl. Hage, Christentum, 342–344. 7 Vgl. etwa Friederike Nüssel/Dorothea Sattler, Einführung in die ökumenische Theologie, Darmstadt 4 5

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stand so sehr im Zeichen des Dialogs der Konfessionen. Das Leben und Werk von Mar Gregorios war auf unvergleichliche Weise geprägt von diesem Jahrhundert sowie von den Dialogen, die er im Rahmen dessen führte. Er war eine führende Persönlichkeit der ökumenischen Bewegung, allem voran im Ökumenischen Rat der Kirchen (ÖRK) und zugleich gilt er als einer der wohl profiliertesten Theologen Indiens des 20. Jh.s, weshalb man ihn in seiner eigenen Kirche – beinahe im Duktus der Heiligenverehrung – „Gregory of India“ nennt. Dabei zeigt sich, dass beide Aspekte – der seines ökumenischen Handelns und die große Bedeutung, die ihm in seiner eigenen Kirche zukommt – in einem engen Zusammenhang stehen. Das heißt: Das, was Mar Gregorios intellektuell als eigenes, indischorthodoxes Denken entwarf, formierte sich maßgeblich im Angesicht dessen, was er als ökumenisches Gegenüber identifizierte. Das Diktum Martin Bubers gilt hier in besonderer Weise: „Ich werde am Du; Ich werdend spreche ich Du.“8 Doch wer ist dieses „Du“? In den Werken von Mar Gregorios subsummiert er dies häufig unter dem Begriff des „Westens“. Man mag diese Tatsache problematisieren, doch greift dies zu kurz. Wenn man das Diktum Bubers ernst nimmt, kommt man nicht umhin anzuerkennen: Um des Entwurfs des eigenen Denkens willen bedarf es oftmals eines Gegenübers, das freilich nie frei ist von Elementen der Konstruktion und das es kritisch zu hinterfragen gilt, aber das vor allem in dieser seiner Funktion als dialogisches Pendant interpretiert werden muss. Dabei lohnt es, diesem Phänomen zunächst in der Biographie von Mar Gregorios nachzugehen. Geboren wurde Paul Verghese, der erst später als Metropolit von Delhi den Namen Paulos Mar Gregorios tragen sollte, am 9. August 1922 als Kind einer christlichen Familie in der Nähe von Kochi im heutigen Bundesstaat Kerala, also jenem Gebiet, das früher Malabar hieß und seit jeher die Heimat der Thomaschristen darstellt.9 Aufgewachsen in ärmlichen Verhältnissen, war es der Familie Paul Vergheses nicht möglich, ihn auf eine Universität zu schicken. So scheint es ein gewisses Charisma gewesen zu sein, das es ihm als junger Mann ermöglichte, eine Stelle als Lehrer in Äthiopien anzunehmen, wo man in den 1940er Jahren im Zuge der Bildungsreformen des Kaisers Haile Selassie unzählige Lehrer aus Indien in das Land holte.10 Paul Verghese arbeitete dort zunächst für drei Jahre – von 1947 bis 1950 –, um schließlich durch die Bekanntschaft mit mennonitischen Missionaren ein Stipendium für ein Theologiestudium in Indiana in den Vereinigten Staaten zu bekommen. Er studierte dort an einer der führenden theologischen Einrichtungen der Mennoniten, dem Goshen College.11 Im Anschluss daran setzte er seine Studien am Princeton Theological Seminary fort. In den USA machte er zum ersten Mal intensive Bekanntschaft mit dem westlichen Protestantismus, doch bei näherem Hinsehen zeigt sich, dass das negative Bild, das er später von diesem zeichnen sollte, hier aller Wahrscheinlichkeit nach noch 2008, 23. 8 Martin Buber, Ich und Du, Heidelberg 1958, 15. 9 Die wertvollste, wenn auch stets mit Vorsicht zu rezipierende Quelle für Mar Gregorios’ Leben ist seine in Fragmenten vorliegende Autobiographie. Veröffentlicht wurde diese durch seinen Schüler Kondothra M. George unter dem Titel: Paulos Mar Gregorios. Love’s Freedom The Grand Mystery. A Spiritual Autobiography, Kottayam 1997. 10 Vgl. a.a.O., 77–80. 11 Vgl. a.a.O., 107–108. Zur Bildungspolitik Haile Selassies und die Rolle indischer Lehrer in Äthiopien vgl. John Markakis, Ethiopia. Anatomy of a Traditional Policy, Oxford 1974, 151.

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nicht existierte. Er engagierte sich sogar in einer afroamerikanischen Baptistengemeinde und zeigte sich sehr interessiert an der aufkommenden Bürgerrechtsbewegung.12 Nach seinen Studien ging er nach Indien zurück, um hier für seine Kirche zu arbeiten.13 Im Jahre 1956 fand er jedoch seinen Weg zurück nach Äthiopien.14 Grund hierfür war, dass der Kaiser Haile Selassie in demselben Jahr Indien besuchte. Jener Haile Selassie hatte durch Zufall Paul Verghese bei dessen ersten Aufenthalt in Äthiopien kennengelernt und – seit dessen Weggang – versucht, diesen als seinen persönlichen Berater zu gewinnen. Offenbar hatte Paul Verghese großen Eindruck auf den äthiopischen Kaiser gemacht. Dass er schließlich nach Jahren des Wehrens sich überreden ließ, zurück nach Äthiopien zu gehen, lag jedoch daran, dass der Kaiser das Oberhaupt der Kirche Paul Vergheses davon überzeugte, dass er ihn brauche. Man darf dies nicht unterschätzen: Für die orientalische Orthodoxie, die nie eine staatlich privilegierte Position inne hatte, wie dies für die Kirchen des ehemals west- und oströmischen Reiches gilt, war Haile Selassie, der sich laut äthiopischer Verfassung als „Verteidiger des orthodoxen Glaubens“15 bezeichnete, eine unvergleichlich wichtige Figur. Für den Katholikos der Kirche Paul Vergheses mag es also von höchstem Interesse gewesen sein, einen Vertreter seiner Kirche am Kaiserhof zu wissen. Paul Verghese gehorchte. Jedoch währte dies nicht lange. Nach bereits drei Jahren entschied er sich im Jahre 1959 erneut, für theologische Studien in die USA zu gehen, diesmal nach Yale.16 In der Retrospektive beschreibt Mar Gregorios hier eine Art „intellektuelle Pubertät“. Nachdem er all seine bisherige theologische Ausbildung an westlich-protestantischen Institutionen erhalten hatte, geschieht hier – im Bild des Pubertierenden bleibend – seine Revolte gegen die Vaterfigur westlicher Theologie: „A father-figure comes in handy for the adolescent’s discovery of self-identity – especially if the figure is dominant and powerful enough to make one’s own revolt look all the more heroic. For me, Augustine of Hippo was such a figure. What a release it was to learn, in 1959–60, that he was the spring and fount of all creative Western theology, and then to make the gratifying discovery that this source was poisoned! “17 Augustinus blieb für Mar Gregorios Identifikationsfigur dessen, was er als „westliche Theologie“ erkannte. Auf seinen maßgeblichen Einfluss – und damit steht er freilich nicht alleine18 – führte er das zurück, was diese an Positivem, aber vor allem Negativem hervorge-

                                                             12 Vgl. Mar Gregorios, Love’s Freedom, 20.113. Paul Verghese, Thoughts on Liberation. James Reeb and Herbert Marcuse, in: The Princeton Seminary Bulletin 63 (1970), 42–52, 42. 13 Vgl. Mar Gregorios, Love’s Freedom, 115. 14 Hierzu wie zum Folgenden, vgl. a.a.O., 115–124. 15 Zitiert nach Karl Pinggéra, Die Äthiopisch-Orthodoxe Kirche und die Eritreisch-Orthodoxe Kirche, in: Christian Lange/Karl Pinggéra (Hg.), Die altorientalischen Kirchen. Glaube und Geschichte, Darmstadt 2 2011, 41–50, 49. 16 Vgl. Mar Gregorios, Love’s Freedom, 21. 17 Paulos Mar Gregorios, A Sacramental Humanism, in: Ders., Love’s Freedom, 169–178, 170. 18 Westliche Theologie im positiven Sinne ideengeschichtlich von Augustinus her zu verstehen, ist ein weit verbreitetes Phänomen, sowohl in evangelischer wie katholischer Theologie. In gewisser Weise bildeten diese Ansätze die Vorlage dafür, dass man – wie im Falle von Mar Gregorios – jenes historische Narrativ negativ gegen „den Westen“ wenden konnte. Auf byzantinisch-orthodoxer Seite findet sich dieses Vorgehen prominent vertreten durch etwa John Romanides (1927–2001) oder Christos Yan-

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bracht hatte. Dennoch setzte er sein Studium im Westen fort und begann 1960 in Oxford zu promovieren bei dem bekannten Patristiker John N.D. Kelly (1909–1997), der wiederum ebenfalls zu einer Projektionsfläche seiner negativen Gefühle geriet: „What if my supervisor at Oxford insisted that only Western thinkers like Augustine could think problems through? It was this well-known professor’s incapacity to understand Eastern thought, together with his adoption of Augustinianism as a standard by which to measure the doctrines of others, that prompted my revolt.“19 In seiner Doktorarbeit beschäftigte sich Paul Verghese nun mit dem Denken Gregors von Nyssa (ca. 335/340–394), den er – im Gegensatz zu Augustinus – als Kirchenvater des Ostens bezeichnet und diesem zugleich theologisch weit überlegen.20 Die Arbeit an seiner Dissertation währte jedoch nicht lange, denn bereits im darauffolgenden Jahr erhielt er eine Einladung des Generalsekretärs des Ökumenischen Rates der Kirchen Willem Visser’t Hooft (1900–1985), der ihn als Mitarbeiter in Genf gewinnen wollte. Paul Verghese lehnte zunächst ab: „I found the WCC too uncongenial, as being too western and too Protestant.“21 Doch erneut geschah etwas ähnliches wie zuvor, im Falle seines Weggangs nach Äthiopien: Seine Kirche beauftragte ihn, an der Vollversammlung des ÖRK in Neu-Delhi 1961 als Delegierter teilzunehmen. Zudem wurde er gebeten, unter anderem neben Martin Niemöller, die Haupt-Bibelarbeiten dort zu halten.22 Im Anschluss wandte man sich seitens des ÖRK an den Katholikos und dieser überzeugte Paul Verghese nach Genf zu gehen, als „Sprecher für alle orthodoxen Kirchen“23 – wie er später selbst schreibt. In Genf arbeitete Paul Verghese ab 1962 als Direktor der Abteilung für Ökumenische Aktivität und stellvertretender Generalsekretär. Er war Zeuge und Gestalter einiger der wichtigsten ökumenischen Ereignisse des 20. Jh.s: Er war offizieller Beobachter des ÖRK bei dem Zweiten Vatikanischen Konzil 1962 bis 1965. Er bemühte sich um ein einheitliches Handeln der orientalisch-orthodoxen Kirchen, deren Oberhäupter sich im Jahre im Jahre 1965 auf seinen Vorschlag hin in Addis Abeba zum ersten Mal seit dem fünften Jahrhundert trafen. Paul Verghese war führend an dem sowohl inoffiziellen wie offiziellen Dialog zwischen den byzantinisch-orthodoxen und orientalisch-orthodoxen Kirchen beteiligt, der einen substanziellen Konsens in Sachen Christologie formulierte. Nachdem er im Jahre 1967 seine Stelle in Genf gekündigt hatte und nach Indien zurückkehrte, wurde er Principal des Orthodox Theological Seminary in Kottayam, der zentralen Ausbildungsstätte für Theologen und Priester seiner Kirche. Dennoch setzte er seine Tätigkeit für den ÖRK sowie in anderen ökumenischen Gremien fort. Er war beteiligt an naras (*1935). Vgl. hierzu George E. Demacopoulos/Aristotle Papanikolaou, Augustine and the Orthodox. ‚The West‘ in the East, in: Dies. (Hg.), Orthodox Readings of Augustine, Crestwood 2008, 11–40; George E. Demacopoulos/Aristotle Papanikolaou, Orthodox Naming of the Other. A Postcolonial Approach, in: Dies. (Hg.), Orthodox Constructions of the West, New York 2013, 1–22. 19 Mar Gregorios, Sacramental Humanism, 170. 20 Vgl. etwa Paul Verghese, Freedom and Authority, Madras 1974, 61. 21 Mar Gregorios, Love’s Freedom, 22. 22 Vgl. ebd. 23 A.a.O., 23: „The Orthodox delegates present in New Delhi decided to make the trip south to Kerala (a good 3000 kilometers) to request the head of my church to persuade me to go to Geneva and become the spokesman on the staff for all the Orthodox churches.“

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dem inoffiziellen Dialog zwischen den orientalisch-orthodoxen Kirchen und der römischkatholischen Kirche im Rahmen der Stiftung Pro Oriente zwischen 1971 und 1988, welcher die „Wiener Christologische Formel“ zum Ergebnis hatte.24 Im eigenen Land war er Mitinitiator des Lutherisch-Orthodoxen Dialogs zwischen 1978 und 1982.25 Dies sind nur einige Schlaglichter seiner ökumenischen Tätigkeit. Im Jahre 1975 wurde Paul Verghese zum Metropoliten von Delhi geweiht und trug von nun an den Namen Paulos Mar Gregorios. Dass er sich den Namen „Gregorios“ gab, zeugt von der engen Bindung, die er zu dem Kirchenvater Gregor von Nyssa empfand. Als Metropolit von Delhi umfasste seine Diözese nicht nur die Diaspora seiner Kirche im Nordwesten Indiens, sondern auch die Golfstaaten und Europa. So verband die unzähligen Positionen innerhalb der Ökumenischen Bewegung und in seiner Kirche die Aufgabe des Dialogs, der er bis zum Ende seines Lebens auf vielerlei Weise gerecht zu werden suchte. Er starb am 24. November 1996 in Delhi. Beerdigt wurde er in einem Seitenschiff der Kirche des Orthodox Theological Seminary in Kottayam. Über seinem Grab steht folgender Satz: „Principal of the Seminary, Metropolitan of Delhi Diocese, President of W.C.C., Philosopher, Theologian, Writer, Ecumenical Leader, Philanthropist, Prophet of Peace with Justice and above all great Lover of God’s Creation.“ Im Folgenden möchte ich auf letzteren Aspekt, der hier besonders hervorgehoben wird, eingehen: „above all great Lover of God’s Creation“. Was ist damit gemeint? Warum wird dieser Aspekt besonders hervorgehoben? Inwiefern hat sich also Mar Gregorios in besonderer Weise um die christliche Rede von der Schöpfung verdient gemacht?

3. Die ökumenische Diskussion um die „Bewahrung der Schöpfung“ 3.1 Der Kontext der Diskussion Dass Paulos Mar Gregorios als „Liebender der Schöpfung“ von seiner Nachwelt gewürdigt wurde, hat einen ganz konkreten Grund. Die Position innerhalb des ÖRK, die Mar Gregorios einen nachhaltig positiven Ruf einbrachte, war die als Vorsitzender der Konferenz Faith, Science and the Future, die als Meilenstein in der ökologischen Diskussion in der Ökumene sowie den Dialog zwischen Theologie und Naturwissenschaften gilt.26 Auslöser der weltweit geführten Debatte um die Frage, ob und inwiefern die Welt und die Menschheit unter den Umständen schwindender natürlicher Ressourcen und einer massiven Zerstörung der Umwelt überlebensfähig seien, war die vom Club of Rome 1972 herausgegebene Studie The Limits of Growth.27 Man entschied in Folge der Vollversammlung des ÖRK in Nairobi

                                                             24 Zur Wiener Christologischen Formel vgl. Dietmar W. Winkler, Koptische Kirche und Reichskirche. Altes Schisma und neuer Dialog (Innsbrucker theologische Studien 48), Innsbruck u.a. 1997, 263–271. 25 Der Dialog wurde im Anschluss publiziert: Kondothra M. George/Herbert E. Hoefer (Hg.), A Dialogue Begins. Papers, Minutes and Agreed Statements from the Lutheran-Orthodox Dialogue in India 1978– 1982, Madras u.a. 1983. 26 Vgl. Paul Abrecht, Im Memoriam. M.M. Thomas. Paulos Mar Gregorios, in: ER 49 (1997), 110–113, 113; Heinrich Bedford-Strohm, Die Entdeckung der Ökologie in der Ökumenischen Bewegung, in: Hans-Georg Link/Geiko Müller-Fahrenholz (Hg.), Hoffnungswege. Wegweisende Impulse der Ökumenischen Rates der Kirchen aus sechs Jahrzehnten, Frankfurt a. M. 2008, 321–347, 331–333. 27 Deutsche Ausgabe: Dennis Meadows u.a., Die Grenzen des Wachstums. Bericht des Club of Rome zur

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1975, gemeinsam mit dem Massachusetts Institute of Technology (MIT), deren Wissenschaftler federführend bei der Abfassung der Studie beteiligt waren, eine gemeinsame Konferenz zu dem Thema zu organisieren.28 Diese fand im Jahre 1979 statt und an ihr nahmen insgesamt über 900 Naturwissenschaftler, Sozialwissenschaftler, Politiker, Industrielle, Theologen und Kirchenführer aus der ganzen Welt teil.29 Innerhalb des Vorbereitungskommittees der Konferenz, das Mar Gregorios leitete, kam es zwischen ihm und dem US-amerikanischen, reformierten Theologen Thomas Sieger Derr (*1931) zu einem theologischen Schlagabtausch. Derr hatte kurz zuvor ein Werk publiziert, das sich dem Thema der Ökologie aus theologischer Perspektive widmete.30 Mar Gregorios schreibt in seinen autobiographischen Aufzeichnungen darüber: „It was much too Calvinistic and hardly Christian from my perspective. The best I could do to respond was to sit in the Gregorian Library in Rome for three weeks and produce The Human Presence, giving an Eastern Orthodox Christian approach to the same problem.“31 Anhand dieses Zitats werden einige wesentliche Charakteristika der Motive von Mar Gregorios’ intellektuellem Schaffen deutlich: Zunächst ist dies der erwähnte Gegensatz. Er grenzt sich ab und das auf vehemente Weise. Dazu kommt, dass er sein eigenes Denken ganz praktisch in Reaktion auf diesen empfundenen Gegensatz entwirft – er zieht sich zurück, um einige Monate an einem Buch zu arbeiten. Schließlich wird aber auch deutlich: Kann er zwar manchem westlichen, insbesondere protestantischen Theologen – wie in diesem Fall – sogar die Christlichkeit absprechen, ist er sich mit diesem einig in der Problemstellung. Salopp gesagt: Die westlichen Kirchen stellen im Kontext der Ökumene zwar durchaus die richtigen Fragen, geben aber die falschen Antworten. Mar Gregorios hat also keinesfalls – wie manch anderer orthodoxe Vertreter seiner Zeit 32 – ein grundsätzliches Problem mit dem Paradigmenwechsel innerhalb des ÖRK hin zu sozialethischen Fragestellungen, insistiert jedoch darauf, die theologischen Voraussetzungen, aufgrund derer Aussagen getroffen werden, zu diskutieren – im Zweifelsfall äußerst kontrovers.

Lage der Menschheit, Reinbek bei Hamburg 1973. 28 Paul Abrecht (Hg.), Faith Science and the Future. Preparatory Readings for a World Conference Organized by the World Council of Churches at the Massachusetts Institute of Technology, Cambridge, Mass., USA July 12–24, 1979, Geneva 1978, 5–6. 29 Vgl. Bedford-Strohm, Ökologie, 331; Mar Gregorios, Love’s Freedom, 27. 30 Vgl. Thomas Derr, Ecology and Human Liberation. A Theological Critique of the Use and Abuse of our Birthright (WSCF Books 7), Geneva 1973. 31 Mar Gregorios, Sacramental Humanism, 27. 32 Als Beispiel sei der ökumenisch engagierte orthodoxe Theologe Papandreou zitiert: „Man denkt heute aber oft nicht daran, daß Gott in Christus Mensch wurde, damit das Menschsein von der Menschlichkeit Gottes bestimmt wird. So tritt heute oft hinter gesellschaftlichen, soziologischen und anthropologischen Perspektiven die Theologie zurück. Der Ökumenismus scheint auf dem Wege zum Humanismus zu sein, weil er die Entwicklung zur kommenden Weltgemeinschaft, zur einen Menschheit beschleunigen will.“ Damaskinos Papandreou, Der Stand der Ökumene in orthodoxer Sicht, in: Ders., Orthodoxie und Ökumene. Gesammelte Aufsätze, Stuttgart u.a. 1986, 191–197, 195. Die Rede etwa von der „einen Menschheit“ nimmt Mar Gregorios positiv auf und interpretiert sie im Kontext des orthodoxen TheosisGedankens. Darin unterscheidet er sich grundlegend von anderen orientalisch- wie byzantinisch-orthodoxen Theologen.

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3.2 The Human Presence Und so bildet das Werk – mit ganzem Titel The Human Presence. An Orthodox View of Nature – diese genannten Aspekte bereits im Aufbau ab: Beginnend mit der Beschreibung der gegenwärtigen Herausforderungen – namentlich der Umweltzerstörung und den Neuerungen von Naturwissenschaften und Technik –, widmet es sich zunächst klassischen Vorstellungen von „Natur“, mit besonderem Schwerpunkt auf theologischen und philosophischen Konzepten westlicher Provenienz. Die westliche theologische Tradition findet demnach einen ersten Höhepunkt in der scholastischen Unterscheidung von Natur und Übernatur bzw. Natur und Gnade.33 Hier erscheint der Mensch als die dritte Größe, dessen Aufgabe darin besteht, sich gleichsam „nach oben“ der übernatürlichen Gnade zu öffnen sowie „nach unten“ die Natur zu beherrschen. Diese Vorstellung des dominium terrae erfährt im Zuge des Umbruchs zur Neuzeit eine folgenreiche Transformation: Im Zuge der Säkularisierung entfällt jener transzendente Bezug, der die mittelalterliche Philosophie prägte und es verbleibt ein rein immanentes Weltbild.34 Was jedoch Bestand hat, ist die Vorstellung, dass der Mensch Herr über die Natur ist, was wiederum seinen Umgang mit der Natur prägt: Der Mensch ist kein Teil der Natur, sondern Subjekt gegenüber dem Objekt der Natur, das auf wissenschaftliche Weise erforscht, aber auch ausgebeutet werden kann.35 Das ökologische Problem ist demnach angelegt in der christlich-europäischen Geistesgeschichte. Dieses in dem Kontext des ökologischen Diskurses immer wieder in unterschiedlichen Varianten erzählte Narrativ gibt Mar Gregorios hier wieder, jedoch zugespitzt darauf, dass es nicht – wie so oft behauptet – die jüdisch-christliche Tradition als Ganze gewesen sei, die jene „Vergegenständlichung“ der Natur sowie einen falschen Herrschaftsanspruch des Menschen zu verantworten habe.36 Er schreibt dies ausschließlich den geistesgeschichtlichen Verirrungen des Westens zu und bietet infolgedessen einen wie er sagt „[…] orthodoxen Zugang zu dem […] Problem.“37 Dabei wird deutlich, dass die Charakterisierung westlicher Theologie und Geistesgeschichte exakt den Zweck verfolgt, seinen eigenen als orthodox qualifizierten Zugang als Gegenentwurf zu charakterisieren. Seine Kritik am „Wes-

                                                            

33 Vgl. Paulos Mar Gregorios, The Human Presence. An Orthodox View of Nature, Madras 21980, 19.29– 32; Ders., Science for Sane Societies, New York 21987, 105f. 34 Vgl. Mar Gregorios, Human Presence, 30. Ein Werk, das kritisch jenen Zusammenhang von scholastischer Kosmologie und moderner Säkularisierungsthese analysiert, ist: Charles Taylor, Ein säkulares Zeitalter, Berlin 2012. 35 In ähnlicher Weise verdeutlicht dies Christian Link, Schöpfung. Schöpfungstheologie angesichts der Herausforderungen des 20. Jahrhunderts (Handbuch Systematische Theologie 7/2), Gütersloh 1991, 343: „Indem die ökologische Krise den Cartesianismus der Wissenschaft – die angemaßte Subjektstellung des Menschen als ‚maître et possesseur de la nature‘ (Descartes) – als eine gefährliche Selbsttäuschung erwies, hat sie hier auch das Tor zu einem notwendigen Umdenken weithin sichtbar geöffnet.“ 36 Vgl. Mar Gregorios, Human Presence, 26f. Eine Pointe ist hier, dass er das gesamte Konzept von „Natur“, im Sinne des nicht-menschlichen Teils des Universums, als „unchristlich“ bezeichnet und damit indirekt westlichem Christentum, für das jener Naturbegriff konstitutiv ist, die Christlichkeit abspricht. Vgl. auch Paulos Mar Gregorios, An Eastern Orthodox Perspective of Nature, Man and God, in: Ders., Science, Technology, and the Future of Humanity, Delhi u.a. 2007, 100: „[…] nature does not exist; only the creation exists.“ 37 Mar Gregorios, Sacramental Humanism, 27; vgl. Ders., Human Presence, 28.

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ten“ wird so als Versuch der Emanzipation eines orientalisch-orthodoxen Denkers im ökumenischen Diskurs verständlich.38 Mar Gregorios’ eigener Entwurf zu dem Thema basiert im Wesentlichen auf dem, was er im Rahmen seiner Doktorarbeit untersuchte, die sich dem Denken Gregors von Nyssa widmet und hierin dem Verhältnis von Gott, Mensch und Welt. In „The Human Presence“ bietet er gewissermaßen eine Kurzfassung der Ergebnisse seiner Arbeit an dem Kirchenvater. Im Mittelpunkt steht hierbei – wie der Titel anzeigt – der Mensch. Dieser hat innerhalb des Kosmos eine einmalige Stellung: Er partizipiert sowohl an der göttlichen wie an der weltlichen Wirklichkeit. Er steht nicht über der Welt, er ist Teil von ihr. Er steht aber auch nicht einfach unter Gott, er ist auch Teilhaber an Gottes Wirklichkeit. In den Worten Gregors von Nyssa: „Darum legt er [Gott] auch zweierlei Naturanlagen in ihn [den Menschen], in das Irdische das Göttliche mischend, damit er durch beide für beiderlei Genuß befähigt und empfänglich sei, Gottes genießend durch die gottverwandte Natur, der irdischen Güter aber durch die gleichartige Sinnenempfindung.“ 39 Wenn dies der Terminologie nach an christologische Aussagen erinnert, liegt freilich richtig. Diese Mittlerrolle des Menschen, ja der Menschheit als Ganzer, liegt im Christusgeschehen begründet. Mar Gregorios schreibt: „The only humanity that can survive is the new humanity, the humanity that has now been inseparably, indivisibly united with God in Jesus Christ. And because of its locus in the one divine-human nature of Christ, the new humanity is a mediatory humanity – a humanity that reconciles and unites God and the world. It is an incarnate humanity – a humanity that is an inseparable part of the whole creation and inseparably united to the Creator.“40 In der Inkarnation wird die Menschheit mit Christus gleichgestaltet und darin zum Mittler zwischen Gott und Welt. In Christus und dadurch auch in der Menschheit sind Göttliches und Weltliches unteilbar eins.41 Die besondere Betonung der Unteilbarkeit – das wird deutlich, wenn man Mar Gregorios’ Beträge in etlichen Dialogen näher betrachtet – deutet zudem darauf hin, dass er das miaphysitische Bekenntnis als adäquatere Grundlage für eine solche Anthropologie hält, da dieses auf der Untrennbarkeit von Göttlichem und Menschlichem in Christus insistiert.42 Das Charakteristische ist daher der äußerst enge Zusammenhang von Christologie und Anthropologie. Die wiederum strenge Unterscheidung von beidem insbesondere im Protestantismus seiner Zeit kritisiert Mar Gregorios harsch: „Since

38 So kann etwa seiner Beschreibung des westlich-theologischen Konzepts von „Natur“ unzulässige Simplifizierung vorgeworfen werden, da er das scholastische Konzept ohne weiteres auf den Protestantismus überträgt, vgl. Human Presence, 18. 39 Gregor von Nyssa, De opificio hominis, 2. Übersetzung zitiert nach: Ausgewählte Schriften des heiligen Gregorius, Bischofs von Nyssa. Abhandlung über die Ausstattung des Menschen (Bibliothek der Kirchenväter 1/24), Kempten u.a. 1874, 217. Vgl. Verghese, Freedom, 79. 40 Human Presence, 8. 41 Vgl. Mar Gregorios, Human Presence, 66: „Christ, together with the new humanity – the ‘total Christ’ – is the true pleroma that fills the gap between God’s being and the universe, and participates in both.“ 42 Vgl. etwa sein Beitrag in der ersten Wiener Konsultation: Paul Verghese, The Relevance of Christology Today, in: Wort und Wahrheit. Revue for Religion and Culture, Supplementory Issue 1 (1972), 166– 181, 174f.

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the incarnation of Jesus Christ, God and man are not ‘totally other’. Across the gap between the creation and the creator, the creator God has come in person.“43 Er hält westlichem Christentum vor – in diesem Falle hat er offensichtlich die spezifische Form barthscher Theologie vor Augen – von einer Dichotomie zwischen Gott und Mensch zu sprechen, wo die Vätertradition und mit ihr die orthodoxe Theologie von einer in Christus begründeten integralen Vision von Welt, Gott und Mensch zu sprechen vermag. Was der Mensch ist, was er sein soll, wird in Christus ansichtig. Hierin wäre ein Konsens zwischen Ost und West möglich. Doch in der Frage wie und inwiefern dies unter den Bedingungen von Raum und Zeit Wirklichkeit wird, besteht nach Mar Gregorios ein deutlicher Unterschied. Betone die westliche theologische Tradition seit Augustinus besonders die bleibende Sündhaftigkeit und somit Trennung des Menschen von Gott sowie die Gefallenheit der Welt, spreche die orthodoxe Tradition von der Gleichgestaltung des Menschen mit Christus als Vergöttlichung (gr. theosis). Der Mensch hat demnach die Freiheit voranzuschreiten, aufzusteigen zu Gott. Zugleich wird er darin seiner Mittlerrolle gerecht, indem er mit sich die ganze Schöpfung in diesen Prozess des Aufstiegs zu Gott hineinnimmt. Dieses mit seiner Betonung der menschlichen Freiheit sehr optimistische Bild vom Menschen und seinen Fähigkeiten erhält jedoch auch eine Begrenzung. Jener Aufstieg des Menschen erreicht niemals das Ziel.44 Ist Gott in der Schöpfung – im Menschen wie in der Natur – in seinem Wirken (gr. energeia) zwar gegenwärtig und erkennbar, bleibt Gottes Wesen (gr. ousia) unerreichbar. Die Teilhabe des Menschen und der Natur an Gottes Wirklichkeit kann nur ausgesagt werden, wenn zugleich die Unerreichbarkeit und bleibende Transzendenz Gottes gewahrt bleibt.45 Gottes Gegenwart in der Welt steht stets in Spannung zu seiner Entzogenheit. Dies kann als ein Charakteristikum orthodoxer Theologie bezeichnet werden, die klassisch von dem Gleichgewicht zwischen apophatischer und kataphatischer Theologie spricht. Hierauf nimmt Mar Gregorios Bezug, wenn er schreibt: „[…] the Christian tradition insists that the negation is not the whole truth, that it becomes truth only when held in tension with the affirmation of the world as created and sustained by the energeia of God. Both being and non-being are dimensions of God in his immanence-transcendence.“46 Interessant ist nicht nur, dass er orthodoxes Denken klar in Opposition zu westlicher – katholischer wie protestantischer – Theologie formuliert, sondern hier vor allem Theologumena aufnimmt, die in der byzantinischen Tradition zum klassischen dogmatischen Inventar gehören: Die Unterscheidung zwischen ousia und energeia und eng damit zusammenhängend die zwischen apophatischer und kataphatischer Theologie sind zwar in der

                                                             43 Mar Gregorios, Human Presence, 68. 44 Vgl. a.a.O., 71. 45 Ein wichtiger Einfluss in der Sache für Mar Gregorios war das Werk des russischen Exilstheologen Vladimir Lossky (1903–1958), der als einer der Initiatoren des Neo-Palamismus im 20. Jh. gilt, für den die Unterscheidung von ousia und energeia konstitutiv ist. Auch bei Lossky finden sich anti-westliche Klischees, die möglicherweise Mar Gregorios beeinflussten. Vgl. Verghese, Freedom, v; Vladimir Lossky, Die mystische Theologie der morgenländischen Kirche, Geist und Leben der Ostkirche. Texte und Studien zur Kenntnis ostkirchlicher Geistigkeit 1, Graz u.a. 1961, 90: „[…] wir erlangen Anteil an der Natur Gottes, und dennoch bleibt sie völlig unerreichbar. Wir müssen beides gleicherweise bekennen und die darin liegende Antinomie als Kriterium der rechten Glaubensgesinnung betrachten.“ 46 Mar Gregorios, Human Presence, 74.

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orientalisch-orthodoxen Tradition nicht unbekannt, jedoch zitiert Mar Gregorios hier neben Gregor von Nyssa vor allem Denker der (im weitesten Sinne) byzantinisch-orthodoxen Tradition: etwa Maximus Confessor (ca. 580–662) oder den russischen Religionsphilosophen Wladimir Solowjew (1863–1900). Hier zeigt sich somit intellektuell ein bestimmtes Interesse, das Mar Gregorios auch ganz praktisch in der Ökumene verfolgte: Innerhalb des orthodoxen Lagers plädierte er vehement für ein geschlossenes Auftreten, für eine Überwindung gegenseitiger dogmatischer Verurteilungen, um so gemeinsam ein Gegengewicht zu einer protestantischen Mehrheit im ÖRK zu bilden. Zum anderen – und auch das ist typisch für Mar Gregorios – bringt er seine Überlegungen in Verbindung mit Vorstellungen indischer Philosophie – sprich hinduistischen und buddhistischen Konzepten –, die er was kosmologische und erkenntnistheoretische Fragestellungen angeht in vielem mit orthodoxen Vorstellungen im Einklang sieht, wenngleich er auch deutlich abgrenzt.47 Letzterer Aspekt spielt eine große Rolle, wenn es um die intellektuelle Grundlage eine genuin inkulturierten indischen Orthodoxie geht, für die Mar Gregorios als Vordenker im 20. Jh. gelten kann.48 Was bedeuten jedoch seine Überlegungen mit Blick auf das ökologische Problem sowie die Herausforderungen durch die modernen Naturwissenschaften? Er kritisiert zunächst aus orthodoxer Perspektive eine Weltsicht ohne die Möglichkeit eines Transzendenzbezugs. Er plädiert dafür, dass es auch dem modernen Menschen möglich sei, die Natur als Ort der Gegenwart Gottes in der Welt zu erkennen, ohne gleich hinter die Errungenschaften der Moderne zurückzufallen: „It is the attitude of being open to fundamental reality as it manifests itself to us through visible, audible, sensible realities in the creation. This fresh attitude is not to be adopted as an alternative to the scientific-technological attitude but as a necessary complement.“49 Er spricht von zwei sich einander ergänzenden Haltungen gegenüber der Natur: Zum einen ist dies die Erkenntnis der Natur als „mystery“, als der Ort, an dem Gott in seinem geheimnisvollen Wirken gegenwärtig ist. Die andere Haltung ist die der „mastery“ und beschreibt den Herrschaftsauftrag des Menschen gegenüber der Natur. Darin beutet der Mensch jedoch die Natur nicht aus Eigennutz aus, sondern gebraucht naturwissenschaftliche und technische Errungenschaften zur – wie Mar Gregorios es nennt – „Humanisierung“ der Welt. Diese Humanisierung entspricht dabei dem, was Mar Gregorios zuvor als Vergöttlichung beschreibt.50 Die Welt menschlicher zu machen bedeutet somit sie gleichsam näher zu Christus zu bringen, findet sich doch in Christus, was der Mensch in Wahrheit ist und sein sollte. In diesem guten Handeln verwirklicht der Mensch seine Freiheit und erfüllt zugleich den Auftrag, die Welt im Sinne Gottes zu gestalten. Mar Gregorios bedient sich auch der Vorstellung des Priesteramtes der Menschheit gegenüber der Welt: Wie der Priester in der Liturgie die Elemente wandelt, so hat die Menschheit die Welt zu wandeln, zu 47 Vgl. etwa das Kapitel „Gregory of Nyssa and the Sages of India“, Verghese, Freedom, 101–112. 48 Vgl. hierzu: Lukas Pieper, Paulos Mar Gregorios. (Dis-)Kontinuität syrischer Tradition im indischen Kontext, in: Peter Bruns/Thomas Krämer (Hg.), Studia Syriaca. Beiträge des IX. Deutschen Syrologentages in Eichstätt 2016 (Eichstätter Beiträge zum Christlichen Orient 6), Wiesbaden 2018, 139–145. 49 Mar Gregorios, Human Presence, 86. 50 Den Begriff „Humanisierung“ übernimmt er offenbar von Pierre Teilhardt de Chardin (1881–1955), der große Wirkung auf ihn hatte. Vgl. Paulos Mar Gregorios, Humanization as a World Problem, in: Ders., Science, Technology and the Future of Humanity, 11–33, 23.

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Lukas Pieper

vergöttlichen: „Christ has become part of creation, and in his created body he lifted up the creation to God, and humankind must participate in this eternal priesthood of Christ.“51 Welche praktischen Konsequenzen zieht Mar Gregorios aufgrund seiner Reflexionen? Zunächst fordert er eine intellektuelle Rekonzeptualisierung des westlichen Weltbildes hin zu einem aus seiner Sicht „ausgewogenem“ Paradigma von Gott, Mensch und Welt als drei Realitäten, die zwar voneinander unterschieden sind, sich jedoch zugleich durchdringen.52 Dies ist die Voraussetzung eines neuen Verhältnisses des Menschen zur Natur, die nicht mehr als Objekt außerhalb seiner selbst, sondern als konstitutioneller Grund der menschlichen Existenz zum einen sowie als Ort göttlicher Gegenwart zum anderen erkannt wird. Als weitere praktische Konsequenz fordert er so etwas wie eine neue monastische Bewegung, die er als „interdisziplinäre, interkulturelle, interreligiöse Gemeinschaft von mündigen, begabten, charismatischen Menschen“53 versteht, die zusammen leben und gemeinsam prototypisch der Mittlerrolle der Menschheit nachkommen: offen für Gottes Wirken als spirituelle Gemeinschaft und zugleich für die Probleme und Herausforderungen der Welt, derer sie sich annimmt. Als solche soll sie als eine Art Avantgarde in die Gesellschaft und in die Welt hineinwirken. Die Forderung nach einer derartigen spirituellen Gemeinschaft findet sich an vielen Stellen in Mar Gregorios’ Werk und bildet implizit seine bleibende Kritik am Ökumenischen Rat der Kirchen: Wenngleich hier die Probleme richtig erkannt würden, bleibe dieser in seiner Verfasstheit eine allzu machtvolle und in seiner Struktur und Arbeit säkulare Organisation ohne spirituelle Ausrichtung und nehme daher die nach seiner theologischen Definition dem Menschen bestimmte Rolle nicht richtig wahr.54

51 Mar Gregorios, Human Presence, 85. Auch hier ist er sichtlich beeinflusst von Teilhard, der von der „Kosmischen Messe“ spricht. Vgl. Pierre Teilhard de Chardin, Lobgesang des Alls. Die Messe über die Welt – Christus in der Materie – Die geistige Potenz der Materie, Olten 1964. Ob es die Kirche ist, die als Priester die Welt vergöttlicht, oder die Menschheit, changiert bei Mar Gregorios je nach Kontext. Beides schließt sich mithin nicht aus: Die Kirche hat – als eschatologische Gemeinschaft der Heiligen – proleptisch der Aufgabe nachzukommen, die eigentlich der gesamten Menschheit zukommt. Vgl. Paulos Mar Gregorios, Joy of Freedom. Eastern Worship and Modern Man, Madras 21986, 55; Mar Gregorios, Sane Societies, 230. 52 Vgl. Mar Gregorios, Human Presence, 104. Mar Gregorios spricht in diesem Zusammenhang – erneut in klassischen christologischen Termini – von einer communicatio idiomatum sowie perichoresis, vgl. a.a.O., 78.102. Ausführlich dazu: Mar Gregorios, Sane Societies, 122–158. In diesem Tun kulminieren menschliche und göttliche Freiheit im Sinne der Synergie, des Mitwirkens des Menschen am Schöpfungswerk Gottes. Dies wird für Mar Gregorios besonders in der Eucharistie ansichtig, vgl. 230: „The elements of the offering, bread and wine, are products of God’s creative activity but transformed by the human activity of milling wheat and baking it, of gathering grapes and taking juice out of them. These divine-human products of bread and wine are the symbolic offering of the created order.“ 53 Mar Gregorios, Human Presence, 100. 54 Vgl. Paul Verghese, The Finality of Jesus Christ in the Age of Universal History, in: ER XV (1962), 12–25, 20; Paulos Mar Gregorios, An Evaluation of the WCC Assembly at Nairobi, in: Ders., On Ecumenism, Delhi 2006, S.103, Ders., Beyond 2000 AD. Prospects for the Ecumenical Movement, in: Ders., On Ecumenism, 69–79, 76.

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Paulos Mar Gregorios

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4. Fazit Zwei Dinge werden deutlich, wenn man das Leben und Denken von Paulos Mar Gregorios betrachtet. Zum einen ist es die Tatsache, dass das Aufeinandertreffen der unterschiedlichen theologischen und kirchlichen Traditionen im Rahmen der ökumenischen Bewegung im 20. Jh. nicht nur ein beeindruckendes gemeinsames Auftreten und Engagement der Kirchen mit sich brachte, sondern zugleich zu einer konfessionellen Profilierung derselben beitrug.55 Das wird in besonderer Weise anhand der Biographie und des Werkes von Mar Gregorios deutlich, der gerade aufgrund eines tief empfundenen Gegensatzes zu dem von ihm so erfahrenen „Westen“ ein eigenes, indisch-orthodoxes Profil entwarf, das anders nicht möglich gewesen wäre. Damit verbunden ist zum anderen eine weitere Beobachtung, die insbesondere im zweiten Teil des Beitrags deutlich geworden sein soll und die abschließend das Gesamtthema des vorliegenden Bandes in den Blick nimmt: Mit Paulos Mar Gregorios hat man es mit einem Vertreter der orientalischen Orthodoxie zu tun, der es bewusst mit den Herausforderungen des 20. Jh.s aufnahm. Das Vorurteil, die (orientalische wie byzantinische) Orthodoxie sei hierzu nicht in der Lage, sei gar rückwärtsgewandt, findet sich bis heute immer wieder, auch in ökumenischen Kreisen. Dass sich diese deutlich komplexer darstellt, zeigt ein Denker wie Mar Gregorios. Dies mag den Blick auf die orientalische Orthodoxie verändern und auch auf Seiten dieser eine Inspiration sein für ein ökumenisches Miteinander, das Paulos Mar Gregorios einmal wie folgt charakterisierte: „[…] unity is not a mere matter of structure, of Faith and Order, but also of love and personal community of cultural and political tensions transcended but not overlooked by love, a unity that moves on in struggle and hope, receiving fresh wounds and still looking for healing in companionship and disagreement.“56

55 Vgl. hierzu Silke Dangel, Konfessionelle Identität und ökumenische Prozesse. Analysen zum interkonfessionellen Diskurs des Christentums (Theologische Bibliothek Töpelmann 168), Berlin u.a. 2014; Beate Bengard, Rezeption und Anerkennung. Die ökumenische Hermeneutik von Paul Ricœur im Spiegel aktueller Dialogprozesse in Frankreich (Forschungen zur systematischen und ökumenischen Theologie 151), Göttingen u.a. 2015. 56 Paulos Mar Gregorios, Captive Freedom? Reflections on the Nairobi Assembly of the World Council of Churches, in: Ders., On Ecumenism, 104–114, 110.

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Der äthiopisch-orthodoxe Patriarch Abunä Pawlos (1992–2012) – geliebt und gehasst Kai Merten Lebenslauf1 Am 3. November 1935 wurde Gäbrä-Mädḫən Wäldä-Yoḥannəs2 in der Stadt ʽAdwa in der nordäthiopischen Provinz Təgre geboren. Aufgewachsen in einer frommen Familie, ging er bereits als junger Mann ins nahe Kloster Abunä Gärima, wo er erst zum Diakon und anschließend zum Priester ausgebildet wurde. Dort empfing er auch die Mönchsweihen und nahm den Namen Abba Gäbrä-Mädḫən an. Später studierte er am Holy-Trinitiy-Theological-College in Addis Abäba, nachdem der damalige Patriarch Abunä Tewoflos3 auf diesen klugen Kopf aufmerksam geworden war. Nach seinem Examen schickte man ihn in die USA, um am orthodoxen St.-VladimirSeminary seine Doktorarbeit zu schreiben. Kurz darauf wechselte er ans Theologische Seminar der Universität in Princeton. Nach der Revolution der Kommunisten und der Ermordung des Kaisers Haylä Śəllase musste er jedoch auf Anordnung seines Patriarchen seine Studien abbrechen und in die Heimat zurückkehren. Dort weihte ihn Patriarch Tewoflos zusammen mit vier anderen jungen Priestern zum Bischof. In diesem Amt nahm er den Namen Abunä Pawlos an. Zunächst war er dem Patriarchen als Beauftragter für ökumenische Fragen beigegeben. Weil der Patriarch aber vor der Weihe nicht die Erlaubnis der neuen Regierung eingeholt hatte, wurden sowohl das Kirchenoberhaupt als auch die fünf neuen Bischöfe im Jahr 1976 verhaftet und zu mehrjährigen Gefängnisstrafen verurteilt. Abunä Tewoflos sollte kurz darauf von den Kommunisten hingerichtet werden. Für die anderen folgten sieben Jahre Haft und ein weiteres Jahr mit Hausarrest, so dass Abunä Pawlos erst im Jahr 1984 zum zweiten Mal nach Princeton gehen konnte, um dort seine Doktorarbeit abzuschließen. Im Jahr 1988 wurde er promoviert. Der Titel seiner Dissertation lautet „The Feast of the Assumption of the Virgin Mary and the Mariological Tradition of the Ethiopian Orthodox Tewahedo Church“. Wegen der politischen Situation in seiner Heimat entschloss sich Abunä Pawlos, auch danach zunächst im Exil zu bleiben. Dort wurde er sogar in Abwesenheit vom neuen Patriarchen Abunä Täklä Haymanot4 zum Erzbischof ernannt. 1 2 3 4

Ein kurzer Lebenslauf von Abunä Pawlos findet sich im Internet auf zahlreichen Homepages, nicht zuletzt bei Wikipedia. Viele davon sind allerdings teils wortwörtlich voneinander abhängig. Die Schreibweise äthiopischer Namen und Begriffe entspricht der wissenschaftlich anerkannten Transkription. Patriarch von 1971–1976. Patriarch von 1976–1988.

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Kai Merten

Nach dem Sieg der Rebellen im 30-jährigen Bürgerkrieg und dem Ende der kommunistischen Herrschaft im Jahr 1991 wurden alle Äthiopier, die ins Exil geflohen waren, eingeladen, in ihre Heimat zurückzukehren. Abunä Pawlos folgte diesem Ruf und wurde am 5. Juli 1992 von der Heiligen Synode als neuer Patriarch der ÄOK5 gewählt und eingesetzt (es hatte damals fünf Kandidaten gegeben). Er ist damit der Nachfolger von Abunä Märqorewos,6 von dem gleich noch die Rede sein wird. Die Äthiopienkenner Kefellew Zelleke und Friedrich Heyer ergänzen dazu, dass Abunä Pawlos gewählt worden sei, weil er – wie die Mitglieder der neuen Regierung – „von Herkunft Tigriner“ gewesen sei.7 Sein vollständiger Titel lautete „Seine Heiligkeit Abunä Pawlos, Fünfter Patriarch und Katholikos von Äthiopien, Эččäge des Stuhls von St. Täklä Haymanot und Erzbischof von Aksum.“ Er sollte dieses Amt 20 Jahre lang ausüben. Nach einem Schwächeanfall ins Krankenhaus gekommen, starb Abunä Pawlos am 16. August 2012 in Addis Abäba. In den diesbezüglichen offiziellen Verlautbarungen ist keine Todesursache angegeben. Aufgrund inoffizieller Informationen sprach man damals meistens von Herzinfarkt. Es wurde auch darauf hingewiesen, dass der Patriarch seit Jahren an Bluthochdruck und an Diabetes gelitten habe. Er wurde am 23. August 2012 in der HolyTrinity-Cathedral in Addis Abäba beigesetzt. Wegen des unerwarteten Ablebens des Patriarchen erbat sich die Synode anschließend Bedenkzeit, um den richtigen Kandidaten zu finden. Deswegen übernahm zunächst Abunä Natnaʼel kommissarisch die Kirchenleitung. Am 3. März 2013 wurde dann der neue Patriarch Abunä Matewos als sechster äthiopisch-orthodoxer Patriarch geweiht und in sein Amt eingeführt. Er leitet die Geschicke der ÄOK bis heute.

Das Schisma nach der Wahl von Abunä Pawlos Nach dem Zusammenbruch des kommunistischen Regimes in Addis Abäba entbrannte, wie in vielen ehemals sozialistischen Staaten in Mittel- und Osteuropa auch, innerhalb der ÄOK eine heftige Diskussion um die Rolle des Patriarchen. Man warf Abunä Märqorewos, seit 1988 der Nachfolger Abunä Täklä Haymanots, vor, die atheistische Regierung unterstützt und zu wenig Widerstand geleistet zu haben. Er war ja schließlich auch seinerzeit von dieser Regierung ausgesucht und eingesetzt worden. Um diesen Streit zu beenden, stellte er im Jahr 1992 sein Amt zur Verfügung. Doch über diesen Schritt wurde von Anfang an unterschiedlich geurteilt. Die einen behaupteten, er sei gezwungen worden abzudanken; die anderen erwiderten, er sei freiwillig zurückgetreten, weil zu viele Gläubige gegen ihn protestiert hätten. Kurz darauf entschied sich Abunä Märqorewos sogar, seinen Rücktritt zurückzunehmen und doch nicht auf sein Amt zu verzichten; doch die Synode wies sein Anliegen zurück und inthronisierte an seiner Stelle Abunä Pawlos.

5 6 7

ÄOK = Äthiopisch-Orthodoxe-Täwaḥədo-Kirche. Patriarch von 1988–91. Kefelew Zelleke /Friedrich Heyer, Das orthodoxe Äthiopien und Eritrea in jüngster Geschichte, Aachen – Heidelberg 2001, 144.

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Patriarch Abunä Pawlos

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Dieser Amtswechsel war zwar durchaus verständlich, nach orthodoxem Kirchenrecht jedoch nicht zulässig; denn ein Patriarch darf nicht abgesetzt werden. Erst nach seinem Tod darf ein Nachfolger gewählt oder bestimmt werden. Daher löste die Wahl von Abunä Pawlos, der ohnehin kein unumstrittener Kandidat gewesen war, ein Schisma aus, das noch immer anhält. Schon vor der Wahl hatten acht Mitglieder der Synode gesagt, die Wahl dürfe nicht stattfinden, weil sie gegen kanonisches Recht verstoße. Diese Gruppe wanderte später in die USA aus und gründete dort die „ÄOK im Exil“. Während der größte Teil der ÄOK Abunä Pawlos folgt, wirft ihm daher seitdem eine kleinere Gruppe vor, illegitim an die Macht gekommen und kein rechtmäßiges Oberhaupt der Kirche zu sein. Diese Gemeinden sammeln sich um den mittlerweile ebenfalls ins Exil ausgewanderten und in Berkeley (Kalifornien) residierenden Märqorewos. Er besitzt kaum Anhänger in Äthiopien selber. Sie leben hauptsächlich in den USA, sind aber auch in Europa (u.a. in Berlin und Frankfurt am Main) vertreten. In Äthiopien selber werden diese Bischöfe sogar verachtet. Es wird gesagt, sie hätten sich in ihre Klöster zurückziehen sollen, anstatt „wie die jungen Leute ins Ausland abzuwandern“.8

Abunä Pawlos als Kirchenoberhaupt Rein äußerlich bzw. kirchenrechtlich betrachtet hat in der ÄOK der Patriarch unter dem Haupt Christus die oberste kirchliche Macht über die Gläubigen.9 Er ist für die Einteilung der Bistümer und die Einsetzung der Bischöfe verantwortlich. Dem Patriarchen steht die Heilige Synode zur Seite. Sie wird aus den Metropoliten oder Diözesanbischöfen gebildet und regelt alle geistlichen und kirchenrechtlichen Angelegenheiten. Sie berät auch den Patriarchen bei seinen Entscheidungen. Die Heilige Synode tritt zweimal im Jahr zusammen. In der Zwischenzeit kümmert sich eine Permanente Synode, zu der der Patriarch, der Generalsekretär und der Sekretär der Heiligen Synode sowie drei weitere Bischöfe gehören, um alle Angelegenheiten, die keinen Aufschub dulden. Daneben ist eine Kirchenverwaltung für alle administrativen Vorgänge zuständig. Derzeit gibt es in der ÄOK 24 Erzbischöfe und Bischöfe, die ungefähr 250.000 Priester unter sich haben, die wiederum in rund 36.000 Kirchengemeinden Dienst tun. Als Abunä Pawlos sein Amt antrat, war er in mehrfacher Hinsicht vor ein schwieriges Erbe gestellt. Zum einen war das Land nach dreißig Jahren Bürgerkrieg nicht nur völlig verarmt, sondern auch innerlich zerrissen. Egal, auf welcher Seite die Menschen im Krieg gestanden hatten oder ob sie nur in Frieden hatten leben wollen, es gab kaum eine Familie, die keine Opfer zu verzeichnen und kein leidvolles Schicksal hinter sich hatte. Zum anderen musste die Stellung der Kirche neu definiert werden. Unter den Kommunisten waren alle Religionen unerwünscht gewesen, aber nach den schlimmen Jahren des sogenannten Roten Terrors (1975–77) zumindest inoffiziell geduldet worden. Allerdings war der größte Teil des erheblichen Grundbesitzes der ÄOK enteignet worden. Damit hatte man der ÄOK den wichtigsten Teil ihrer Finanzierung entzogen. Nun, nach der Wende, wurden ihr zwar 8 9

Zelleke/Heyer, S. 144. Zum Aufbau der ÄOK vgl. Kai Merten, Das äthiopische-orthodoxe Christentum. Ein Versuch zu verstehen (Studien zur Orientalischen Kirchengeschichte 44), Berlin 2012, 226–230.

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zahlreiche Grundstücke zurückgegeben, aber bei weitem nicht alle. Außerdem erhielt die ÄOK nicht mehr ihren Status als Staatsreligion zurück, den sie in der Kaiserzeit bis 1974 innegehabt hatte. Die gegenwärtige äthiopische Verfassung garantiert die allgemeine Religionsfreiheit und damit die Gleichberechtigung aller Religionen im Land. Daher ist die ÄOK zwar weiterhin die mit Abstand größte Religionsgemeinschaft in Äthiopien, aber eben nicht mehr mit privilegierter Stellung. Darum mussten viele Dinge neu geregelt werden und neue Wege in den interkonfessionellen wie den interreligiösen Beziehungen gegangen und vereinbart werden. In die Amtszeit von Abunä Pawlos fällt somit die Restrukturierung und Modernisierung der Kirchenverwaltung, der Neubau des Patriarchenpalastes und eines benachbarten Bürogebäudes für die kirchliche Verwaltung sowie die Renovierung der Holy-Trinity-Cathedral. Er ließ zugleich die Richtlinien für das theologische Studium am Holy-Trinity-College überarbeiten und die Ausbildung zum Masterstudiengang ausweiten. Seit 2007 ist es sogar möglich, dort seinen Doktor der Theologie zu erwerben.

Das soziale Engagement von Abunä Pawlos Abunä Pawlos war während seiner gesamten Amtszeit bemüht, Frieden zu stiften und zwischen verfeindeten Gruppen zu vermitteln. Dazu setzte er sowohl seine Autorität als Patriarch als auch sein diplomatisches Geschick als auch die biblische Botschaft von der Versöhnung ein. Bekannt wurde er vor allem, weil er sich während des äthiopisch-eritreischen Krieges von 1998 und danach für eine friedliche Verständigung der beiden Länder einsetzte. Deshalb initiierte und leitete er Friedenstreffen mit äthiopischen und eritreischen Geistlichen, die in den Jahren 1998, 1999 und 2000 in Oslo stattfanden. Für diese Anstrengungen, Frieden dauerhaft zu schaffen, wurde er am 3. November 2000, d.h. an seinem Geburtstag, von der Hohen Kommissarin des UNHCR mit der Nansen-Medaille ausgezeichnet.10 Er traf sich darüber hinaus mehrmals mit dem sudanesischen Regierungschef ʿUmar Ḥasan Aḥmad al-Bašīr in Khartum, um an einer Lösung für den Konflikt in Dar Fur zu arbeiten. Um für die Menschen in ganz Afrika einzutreten und ihre Lebensverhältnisse insgesamt zu verbessern, trat Abunä Pawlos auch mehrfach beim Weltwirtschaftsforum, bei den Vereinten Nationen und auf internationalen Konferenzen auf. Des Weiteren gehörte er zu den Ehrenpräsidenten der Organisation „Religions for Peace“, einer internationalen und interreligiösen Vereinigung von religiösen Würdenträgern, die im Jahr 1970 in Kyoto/Japan gegründet wurde, heute ihren Sitz in New York hat und sich weltweit für das Ende bewaffneter Konflikte, vor allem im Namen der Religion, einsetzt.11 Im eigenen Land engagierte sich Abunä Pawlos vor allem in der Gesundheitsfürsorge. Als akademisch gebildetem Mann war ihm die Bedeutung von Impfungen und Vorsorgemaßnahmen sehr bewusst, und er versuchte, auch seine Gläubigen davon zu überzeugen. Die ÄOK beteiligte sich deshalb an staatlichen Impfprogrammen und Aufklärungskampag10 Zelleke/Heyer, 144 Anm. 271. 11 http://www.religionsforpeace.org/vision-history/history/ (4.10.2016).

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Patriarch Abunä Pawlos

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nen, insbesondere AIDS betreffend. Er selber stellte sich dafür als Schirmherr zur Verfügung. Außerdem unterhält die ÄOK seit langem eigene Organisationen, mit denen sie ihren sozialethischen Auftrag für die Gesellschaft wahrnimmt. Ein besonderes Augenmerk verdient dabei das kirchliche Hilfswerk, in dem die ÄOK mit der „Inter-Church Aid Commission“ zusammenarbeitet. Dieses Werk, im Jahr 1972 gegründet, untersteht einer eigenen Abteilung in der Verwaltung des Patriarchates. Zu seinen Aufgaben gehören die Unterstützung von Flüchtlingen und Rückkehrern aus dem Ausland, die Hilfe in Notfällen sowie die Kampagnen zur Aufklärung und Vermeidung von AIDS. Aber die Kommission führt z.B. auch Entwicklungsprogramme in der Landwirtschaft, bei der Wasserversorgung oder zur Verbesserung der Situation von Frauen durch. Zugleich sensibilisiert sie Priester und andere kirchliche Mitarbeiter in speziellen Fortbildungskursen für die Bedeutung und Art dieser Arbeit, um diese Personen später als Multiplikatoren in der Gesellschaft zu nutzen. In akuten Notlagen verteilt das Hilfswerk natürlich auch einfach Lebensmittel und Kleidung an die leidende Bevölkerung und sorgt für eine kostenlose medizinische Betreuung. Das Ziel ist, ganz allgemein ausgedrückt, die Minderung von Armut mit besonderer Berücksichtigung gefährdeter Gruppen in der Gesellschaft. Finanziert werden die Projekte dieses Hilfswerks im Wesentlichen aus dem Ausland, d.h. von Kirchen in aller Welt, deren Gelder über den Ökumenischen Rat der Kirchen (ÖRK) vermittelt werden. Ein weiteres eigenständiges Werk innerhalb der Kirchenverwaltung ist die „Organisation für Kinder- und Familienangelegenheiten“. Sie wurde im Jahr 1973 als Reaktion auf die große Dürre von 1972/73 gegründet, um sich um Waisenkinder und Familien in Not zu kümmern. Mittlerweile hat dieses Werk über das Land verstreut 26 „Child Care Center“, die sich vor allem die Hilfe zur Selbsthilfe für Straßenkinder vorgenommen haben. Ihnen soll ein Schulabschluss bzw. eine berufliche Ausbildung ermöglicht werden, und natürlich sind diese Zentren Anlaufpunkte für Kinder und Familien, die in allen möglichen Notlagen sein mögen. Diese Organisation arbeitet u.a. mit der deutschen Kindernothilfe zusammen.12 Beide Werke erfuhren während der Amtszeit von Abunä Pawlos eine besondere Unterstützung seitens des Patriarchates. Darüber hinaus war eines der großen Ziele von Abunä Pawlos die Versöhnung unter den früher verfeindeten Gruppen in Äthiopien nach dem jahrzehntelangen Bürgerkrieg. Deshalb nahm er einerseits in den Jahren 1997–2004 demonstrativ an staatlichen wie kirchlichen Gedenkfeiern zu Ehren der Opfer des kommunistischen Regimes teil, u.a. auch an den feierlichen Beisetzungen der sterblichen Überreste der ermordeten Kaiserfamilie und hochrangiger kaiserlicher Beamter. Andererseits plädierte er für eine Amnestie für inhaftierte Mitglieder des kommunistischen Regimes, die ihn zuvor um Vergebung für die Gräueltaten gebeten hatten, die sie dem äthiopischen Volk angetan hatten. Die äthiopische Re12 Zu beiden Werken vgl. Merten, 146; Eshete Amsalu, The Role of the Ancient, Historic and Apostolic Orthodox Church for Orphans and Vulnerable Children, in: Melake Mikr Kefyalew Merahi (Hg.), Christianity in Ethiopia II, Addis Ababa 2009, 125–157, 148–153; Klemens M. Reidlinger, Soziale Entwicklungsaktivitäten innerhalb der Äthiopisch-Orthodoxen Täwahido Kirche, in: Kirche und Schule in Äthiopien. Mitteilungen der Tabor Society e.V. Heidelberg 62 (November 2009), 35–49, 41–43; Johannes Launhardt, Evangelicals in Addis Ababa (1919–1991). With Special Reference to the Ethiopian Evangelical Church Mekane Yesus and the Addis Ababa Synod (Studien zur Orientalischen Kirchengeschichte 31), Münster 2004, 177–179.

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gierung folgte im Jahr 2011 der entsprechenden Bitte des Patriarchen und wandelte erfolgte Todesurteile in lebenslängliche Haft um (in Äthiopien gleichbedeutend mit 25 Jahren Haft). Politische Gefangene mit geringeren Strafen wurden freigelassen. Als vor allem die Angehörigen der Opfer des kommunistischen Regimes gegen diese Maßnahme protestierten, ermahnte sie der Patriarch, dass es die Pflicht eines Christen sei zu vergeben, insbesondere dann, wenn der Sünder Reue zeige. Andere Angehörige von Opfern begrüßten aber auch den Vorstoß des Patriarchen und folgten ihm in seinem Wunsch nach Vergebung und Versöhnung. An einer anderen Stelle blieb Abunä Pawlos allerdings seiner traditionellen Auffassung treu. Mit großer Vehemenz und Deutlichkeit verurteilte er die Homosexualität und lehnte jede Art von Legalisierung homosexueller Beziehungen ab, als dies im Jahr 2008 im äthiopischen Parlament diskutiert wurde. Eine ausführliche theologische Stellungnahme zu dieser Thematik von Seiten der ÄOK legte vor zehn Jahren der Erzbischof von Addis Abäba, Abba Samuel, vor. Sein Buch „Sodomites and the Wage of Sin“ erhielt die Bestätigung von Abunä Pawlos, dass sein Inhalt mit der offiziellen Lehre der Kirche vollkommen übereinstimme.13 Der Erzbischof schreibt an vielen Stellen seines Werkes, dass niemand, der seine Sünden nicht bereue, das Himmelreich erben könne. Wer in der Sünde verharre, spreche sich selber das Urteil zur Verdammnis. Die Homosexualität bezeichnet er daraufhin als eine dieser Sünden, die nur durch Umkehr zum Willen Gottes, durch Reue und durch geistliche Übungen zu überwinden seien.14 Er begründet das mit zahlreichen biblischen Belegen (vor allem Lev 18,22), wobei er Sodomie (vgl. Gen 19,1–20) mit Homosexualität gleichsetzt, sowie mit der theologischen Überlegung, dass der menschliche Körper als Tempel des Heiligen Geistes nie ungestraft durch sexuelle Verirrungen verunreinigt werden dürfe. Außerdem gebe es keine einzige Stelle in der Bibel, die die Homosexualität erlaube oder als richtig bezeichne. Die westliche Welt, die sich doch christlich nenne, habe sich an diesem Punkt von Gott abgewandt, weil sie derartige Praktiken gutheiße, die von Gott verdammt seien. Zusätzlich krönten diese westlichen Kirchen ihre Verirrung damit, dass sie sogar homosexuelle Bischöfe einsetzten und im ÖRK die Homosexualität legalisieren wollten. Abba Samuel nennt die Vertreter derartiger Bestrebungen „Namenschristen“, denn die Aufgabe des ÖRK sei es doch, das Evangelium gemäß der Lehre der Apostel zu verkünden und Seelen zu retten, anstatt sie gegen die biblischen Lehren aufzubringen. Dabei sei keinesfalls die Diskriminierung homosexuell empfindender Menschen im Blick, sondern im Gegenteil ihre Rettung für das Reich Gottes aus der christlichen Liebe und Gnade heraus. Nicht das Urteil von Menschen über Menschen, sondern das Gebet füreinander, um Gottes Strafen für offensichtliche Sünden abzuwenden, stehe im Zentrum dieser Gedanken. Wer sich dem aber endgültig verweigere und die Homosexualität weiter praktiziere, könne dann nicht mehr als Glied der Kirche als dem Leib Christi gelten, weil er Gottes Willen nicht gehorche.

13 „Letter of Approval“ in: Abba Samuel, Sodomites and the Wage of Sins, Addis Ababa 2007, S. 146. 14 Vgl. zum Folgenden Abba Samuel.

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Patriarch Abunä Pawlos

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Das ökumenische Engagement von Abunä Pawlos Zunächst einmal ist zu sagen, dass die ÄOK in voller Kirchengemeinschaft mit den anderen (alt-)orientalischen Kirchen steht, also der Koptischen Orthodoxen Kirche, der Syrischen Orthodoxen Kirche, der Armenischen Apostolischen Kirche, der Malankarischen Orthodoxen Syrischen Kirche in Indien und jüngst der Eritreischen Orthodoxen Kirche. Zu den anderen orthodoxen Kirchen bestand über Jahrhunderte hinweg keine Beziehung, da man sich im 5. Jh. gegenseitig verurteilt hatte. Erst in der zweiten Hälfte des 20. Jh.s führten mehrere inoffizielle Konsultationen und offizielle theologische Gespräche im Jahr 1990 zu einer „Zweiten Gemeinsamen Erklärung von Chambésy“, die besagt, dass die Unterschiede in der Begrifflichkeit nicht den gemeinsamen Glauben an den Herrn und Erlöser Jesus Christus in seiner wahren Gottheit und wahren Menschheit beeinträchtigen. Im Jahr 1993 folgte, ebenfalls in Chambésy, der Beschluss bzw. der Aufruf an alle orthodoxen Ersthierarchen, die gegenseitigen Verurteilungen (Anathemata) aufzuheben. Seither verstehen sich beide orthodoxen Kirchenfamilien zwar weiterhin als voneinander unterschieden, doch sie arbeiten in gemeinsamen Gremien an der endgültigen Wiederherstellung der vollen kirchlichen Gemeinschaft. Darüber hinaus ist die ÄOK seit der Zeit nach dem Zweiten Weltkrieg, in dem auch die ökumenische Bewegung insgesamt außerordentlich zunahm, sehr ökumenisch eingestellt. Sie gehört zu den Gründungsmitgliedern des ÖRK und der Allafrikanischen Kirchenkonferenz (AAKK).15 Die Beschäftigung mit der Ökumene lag Abunä Pawlos bereits als Jugendlichem am Herzen. In einem Interview aus dem Jahr 2006 sagte er: „1968 bekam ich die Möglichkeit, unsere Kirchenführer zur ÖRK-Vollversammlung nach Uppsala zu begleiten. 1975 wurde ich auf der Vollversammlung in Nairobi in den Zentralausschuss gewählt.“ Zu den Gründen, warum er so ökumenisch eingestellt ist, meinte er: „Wir leben in einer Welt voller Probleme. Die Form der Probleme mag unterschiedlich sein, aber Konflikte gibt es überall. Junge Leute fragen: welche Funktion hat der ÖRK in diesen Problemen? Wir müssen für sichtbare, konkrete Handlungen sorgen. … Unsere Ziele müssen sein: für Versöhnung zu sorgen, Hoffnung und Ermutigung zu bringen. … Wir alle brauchen eine friedliche Zukunft. Und dazu brauchen wir den ÖRK.“16 Wegen dieser ökumenischen Grundeinstellung war Abunä Pawlos seinerzeit vom damaligen Patriarchen nicht mit einem Bistum betraut, sondern innerhalb der kirchlichen Verwaltung zum Beauftragten für Ökumene ernannt worden. Aber auch zu anderen Konfessionen pflegte er den Kontakt und den bilateralen Dialog, vor allem natürlich zu den orthodoxen Schwesterkirchen. In den Jahren 2004–12 besuchten sich der koptische Patriarch Šinūda III. und er mehrere Male gegenseitig, um gemeinsam Differenzen auszuräumen, die in den Jahren zuvor die beiden Kirchen entzweit hatten. Zum einen ging es dabei darum, dass Šinūda III. nicht zur Weihe von Abunä Pawlos im Jahr 1992 eingeladen gewesen war, um den autokephalen Status der ÄOK zu verdeutlichen. 15 Der ÖRK wurde im Jahr 1948 in Amsterdam gegründet und hat seinen Sitz in Genf. Die AAKK wurde im Jahr 1958 in Ibadan/Nigeria gegründet und hat ihren Sitz in Nairobi/Kenia. 16 Beide Zitate aus: http://www.oikoumene.org/de/press-centre/news/wir-muessen-unserer-berufungdienen-interview-mit-dem-patriarchen-abune-paulos-von-aethiopien (3.10.2016).

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Zum anderen war im Jahr 1993 die eritreisch-orthodoxe Kirche von der ÄOK unabhängig geworden. Abunä Pawlos hatte dieser Entwicklung auch zugestimmt, weil sie orthodoxem, kanonischem Recht gemäß ist. Trotzdem hatte sich das Oberhaupt der neuen eritreischen Kirche von Šinūda III. weihen lassen und sich daher der koptischen Kirche anstatt der ÄOK zugeordnet.17 Außerdem traf sich Abunä Pawlos zu Gesprächen mit dem syrisch-orthodoxen Patriarchen Mor Ignatius Zakka I. Iwas in Damaskus, mit dem indisch-orthodoxen Patriarchen Basilios Thoma Didymus I. sowie mit dem armenisch-orthodoxen Katholikos Aram I. Im Jahr 2009 nahm er im Vatikan an der Afrika-Synode der römisch-katholischen Kirche teil und traf sich mit Papst Benedikt XVI. In seinem berühmt gewordenen Grußwort rief er die Synode auf, sich mit der ÄOK zusammen für die Menschenwürde und die Menschenrechte in Afrika einzusetzen.18 Seit der Vollversammlung des ÖRK in Porto Alegre/Brasilien im Jahr 2006 gehörte Abunä Pawlos zudem als Vertreter der orientalisch-orthodoxen Kirchen zum Präsidium des Weltrats der Kirchen. Zuvor hatte er bereits im Zentralkomitee und in der Kommission für Glaube und Kirchenverfassung mitgearbeitet. In diesen Funktionen wirkte er auch an einer Behebung der schwelenden Unzufriedenheit mit dem ÖRK seitens der orthodoxen Kirchen mit. Dass sich in dieser Zeit das Verhältnis der Ostkirchen insgesamt zur ökumenischen Bewegung erheblich verschlechterte, hatte mehrere Ursachen. Zunächst einmal waren die orthodoxen Kirchen mit dem Abstimmungsmodus in den Gremien des ÖRK unzufrieden. Sie fühlten sich häufig von den zahlreichen, aber zugleich oft recht kleinen, aus der Reformation hervorgegangenen Kirchen übervorteilt und sahen die Gefahr, in wesentlichen Fragen schlicht überstimmt zu werden. Zudem hatte sich im Laufe der Zeit die hauptsächliche Zielrichtung des ÖRK geändert. Zunächst als Bewegung hin zur Wiederherstellung der Einheit der christlichen Kirchen gegründet, legt man mittlerweile mehr Gewicht auf die Lösung aktueller Probleme in der Welt, wobei man versucht, zugleich der Vielzahl und Verschiedenheit der Kirchen gerecht zu werden. Die Orthodoxie, die sich besonders der Einheitsbewegung verpflichtet sieht, verfolgt diese kirchenpolitische Entwicklung mit Misstrauen. Dieser Konflikt führte, um eine weitere gedeihliche ökumenische Zusammenarbeit zu bewahren, zu einer paritätisch besetzten Sonderkommission, als deren Vorschlag man im Jahr 2005 ein neues Konsensverfahren einführte, das im Jahr 2006 auf der erwähnten Vollversammlung in Porto Alegre erstmals versuchsweise zum Einsatz kam.19 Darüber hinaus lehnen alle orthodoxen Kirchen aus theologischen Gründen Entwicklungen ab, die in den letzten Jahrzehnten vor allem die Kirchen, die aus der Reformation hervorgegangen sind, verstärkt vorangetrieben haben. Hauptsächlich handelt es sich dabei um die Frauenordination und um die fehlende Verurteilung der Homosexualität als Sünde, die in einigen reformatorischen Kirchen sogar die Erlaubnis der Segnung gleichgeschlechtlicher Lebenspartnerschaften zur Folge hatte. 17 http://en.wataninet.com/coptic-affairs-coptic-affairs/coptic-affairs/the-egyptian-and-ethiopian-churchesbound-by-history/14719/ (3.10.2016). 18 http://africamission-mafr.org/cisa19.htm (3.10.2016). 19 Vgl. dazu http://www.oikoumene.org/de/dokumentation/documents/oerk-zentralausschuss/genf-2003/ zwischenbericht-zum-konsensverfahren.html (2.11.16).

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Patriarch Abunä Pawlos

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Die öffentliche Meinung in Äthiopien über Abunä Pawlos Im Ausland hat sich Abunä Pawlos aufgrund seines vielfältigen Engagements hohes Ansehen erworben. Nicht zuletzt die zahlreichen Nachrufe aus aller Welt anlässlich seines Todes belegen das. Doch im eigenen Land war Abunä Pawlos alles andere als geachtet und geliebt. Es scheint sogar fast unmöglich zu sein, Menschen in Äthiopien zu bewegen, überhaupt ihre Meinung über Abunä Pawlos kundzutun. Seine Person ist derart umstritten, dass es manchmal sogar als gefährlich bezeichnet wurde, auch nur Fragen zu ihm zu stellen. Das musste meine Frau erfahren, als sie sich Anfang des Jahres 2017 in Addis Abäba bemühte, in meinem Auftrag anhand eines schlichten Fragebogens die allgemeine Stimmung und konkrete Meinungen zu Abunä Pawlos herauszufinden. Obwohl die Fragen – meiner Meinung nach – unverfänglich und ganz allgemein formuliert waren,20 erklärten sich nur wenige Menschen bereit, etwas zu ihrem früheren Patriarchen zu sagen, sowohl in der Kirche als auch in nicht-kirchlichen Räumen. Sofern sie sich überhaupt äußerten, wollten sie dies ausnahmslos anonym tun. Aus diesem Grund kann das, was ich im Folgenden kurz andeuten möchte, natürlich in keiner Weise repräsentativ oder gar erschöpfend sein. Angesichts der Tatsache, dass sich Stellungnahmen einfacher Äthiopier zu Abunä Pawlos sonst so gut wie nicht finden, mag es aber vielleicht dennoch als ein punktuelles Aufleuchten vereinzelter Stimmen aus Addis Abäba von Anfang 2017 von Bedeutung sein. Die meisten Gefragten drückten ihre eindeutige Ablehnung von Abunä Pawlos aus. Er habe der Kirche geschadet, ja, er habe sie „zerstört“. Er sei kein Christ. Man wirft ihm vor, in Wahrheit zur Regierungspartei gehört und deren Ziele verfolgt zu haben, anstatt der Kirche gedient zu haben. Außerdem habe er diejenigen im Klerus, die gegen ihn gewesen seien, ermorden lassen. Auch sein ökumenisches Engagement wird deutlich kritisiert. Er habe sich mehr wie ein Evangelischer als wie ein orthodoxer Patriarch verhalten. Gemäßigtere Stimmen bedauern, dass Abunä Pawlos in vielem missverstanden worden sei. Zumindest wird anerkannt, dass er sehr gebildet gewesen sei und die orthodoxe Kirche angemessen repräsentiert – auch im Ausland und gegenüber anderen Kirchen und staatlichen Organisationen – und dass er einiges erreicht habe. Genannt wird dabei vor allem, dass er es geschafft habe, den Streit mit der koptischen Kirche beizulegen und die einst von Mussolini gestohlenen Obelisken von ʽAdwa aus Italien zurückzuerhalten. Darüber hinaus habe er wichtige Reformen in der Kirche vorangetrieben, z.B. bezüglich des Holy-Trinity-College und der Priesterausbildung. Außerdem habe er in ländlichen Gebieten21 zahlreiche Kirchen bauen oder renovieren lassen und erlaubt, dass in Gemeinden, die nicht Amharisch als Muttersprache hätten, der Gottesdienst und der katechetische Unterricht in der jeweiligen Muttersprache durchgeführt werden dürfe. Ein ganz wichtiges Argument solch vorsichtiger Befürworter der Arbeit von Abunä Pawlos ist jedoch folgendes: Ein Patriarch ist nicht nur von der Heiligen Synode gewählt, sondern auch von Gott berufen. Wenn somit Gott offensichtlich zugestimmt hat, dass Pawlos zum Patriarchen gewählt wurde, wie können dann Menschen seine Wahl ablehnen?

20 Die zentrale Frage lautete: „How is the public opinion about Abune Pawlos as patriarch? How do the believers/the clerics of your church characterize him?“ 21 Namentlich erwähnt wurde Gambella.

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Fazit Als die Heilige Synode im Jahr 1992 auf die Suche nach einem Kandidaten für das Amt des Patriarchen ging, fiel ihr Augenmerk auf Abunä Pawlos, weil er in Bezug auf die jüngste kommunistische Vergangenheit des Landes nicht vorbelastet war. Im Gegenteil, er gehörte selber zu den Opfern dieses Regimes. Außerdem war er durch seine Studien und seinen langjährigen Aufenthalt in den USA das erste Oberhaupt der ÄOK, das den akademischen Grad eines Doktors der Theologie vorweisen konnte und das bereits weitreichende, internationale und vor allem ökumenische Kontakte ins Amt mitbrachte. Die Ökumene lag ihm ohnehin seit seiner Jugend am Herzen. Aus diesem Grund hat er für die ÄOK in einer für Äthiopien innen- wie außenpolitisch schwierigen Zeit viel erreicht. Er band die ÄOK näher an den ÖRK. Er intensivierte auf seinen zahlreichen Reisen die Kontakte zu anderen orthodoxen Schwesterkirchen, zur römisch-katholischen Kirche und zu den protestantischen Kirchen und zeigte sich auch im eigenen Land ökumenisch eingestellt. Überall war er bemüht, in Konflikten zu vermitteln bzw. sie zu beheben, insbesondere in Bezug auf die direkten Schwesterkirchen der koptisch-orthodoxen Kirche und der eritreisch-orthodoxen Kirche. Auf der anderen Seite erntete er gerade durch diese Aktivitäten in seiner Heimat viel Kritik bis hin zu offener Anfeindung. Gerade wegen seiner ökumenischen Offenheit stieß er unter konservativen Bischöfen, Priestern und auch einfachen Gläubigen auf eine Wand der Ablehnung. Das ging bis dahin, dass man offen aussprach, der Patriarch sei selber zum „Pente“ geworden („Pente“ ist in Äthiopien eine negativ besetzte Alltagsbezeichnung für alle Kirchen, die in der Tradition der Reformation stehen). Außerdem bilden die zahlreichen unterschiedlichen ethnischen Gruppen im Land weiterhin ständige Konfliktherde. Auch aus diesem Grund wurde Abunä Pawlos kritisiert. Er sei eben aus Təgre – wie die derzeitige Regierung – und nur deshalb Patriarch geworden, und genau darum stehe er der Regierung genauso unkritisch nahe wie sein Vorgänger den Kommunisten. Dass seine Initiative zur Versöhnung zwischen Tätern und Opfern des kommunistischen Unrechtsregimes kontroverse Reaktionen hervorgerufen hat, ist da wahrscheinlich noch viel verständlicher. Umso mutiger war es von ihm, daran festzuhalten und seine Gläubigen unermüdlich zur Vergebung aufzurufen, aber zugleich von den Tätern echte Reue zu fordern. Schließlich überschattet das erwähnte Schisma, das sich an seiner Wahl entzündet hatte und das nun sogar über seinen Tod hinaus Bestand hat, seine gesamte Amtszeit. Allerdings wirkt sich dieses Schisma nicht in Äthiopien selber aus, sondern entzweit nur die Äthiopier im Ausland, vor allem in den USA, aber auch in Europa. Unbestritten ist hingegen sein soziales Engagement, insbesondere zugunsten von AIDSKranken und den Randgruppen der Gesellschaft – wieder verbunden sowohl mit der Betonung medizinischer Fürsorge und Aufklärung als auch mit der Ermahnung zu ehelicher Treue. Dass er homosexuelle Beziehungen unverändert und kompromisslos ablehnte, ist dabei aus seiner orthodoxen Sicht und vor allem im Gesamtkontext der afrikanischen Verhältnisse erklärbar und zu verstehen. Dies verbindet ihn übrigens durchaus mit christlichen Kirchen anderer Konfessionen auf diesem Kontinent.

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Insgesamt betrachtet, war er vor die Aufgabe gestellt, die schmale Gratwanderung zu bewältigen, einerseits in der eigenen Kirche allzu konservative Auffassungen für die Anforderungen einer modernen Gesellschaft zu gewinnen und andererseits in den ökumenischen Beziehungen national wie international den Standpunkt der ÄOK zu vertreten und zugleich andere Kirchen in ihrer Prägung anzuerkennen. Er hat nicht alle seine Ziele erreicht und war sicher – wie wir alle – nicht ohne Fehler, auch nicht ohne falsche Weichenstellungen. Trotzdem erwies er sich im Grundsatz als ein Patriarch, der fest auf dem Boden der Bibel stand, der seine Handlungen und Entscheidungen biblisch-theologisch begründete und andere dazu aufforderte, es ihm gleich zu tun und nicht einfach unkritisch der Tradition, der eigenen persönlichen Meinung oder gar gern gehegten Vorurteilen zu folgen. Und was könnte ein Patriarch Besseres tun, als sein Amt im Licht des Evangeliums zu sehen und sich zu bemühen, darin Jesus nachzufolgen?

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The Holy Land in the Proto-Byzantine Period The Trans-Jordanian Sector Irfan Shahid 1. The Non-Territoriality of Holiness The blinding influence of familiarity with the phrase, Holy Land, tends to make Christians oblivious of the fact that the rise and development of this concept took place in direct opposition to two important Christian documents: the Gospel of St. John and the Apocalypse of his namesake. In the Fourth Gospel, Christ speaks to the Samaritan woman beside Jacob’s well for the non-territoriality of holiness when he says: “Woman, believe me the hour is coming when you will worship the Father neither on this mountain nor in Jerusalem … God is spirit and those who worship Him must worship in spirit and in truth”1, while the writer of Apocalypse introduced the concept of the Heavenly Jerusalem instead of the Earthly one.2 Christianity is a Scriptural religion and what Scripture says is binding. And yet the concept of the Holy Land took root and gained altitude in spite of what both the founder of Christianity and the visionary of Patmos had strongly expressed. Not only Scriptural authority was against the concept but also some of the most influential theologians and churchmen of this proto-Byzantine period: Origen, Jerome, Gregory of Nyssa, and Augustine.3 Jerome was distinguished by the fact that he was not an armchair Biblical scholar but one who lived long in the Holy Land and so spoke from experience almost saying what in modern terms would be “Distance lends enchantment to the view”. The most influential, Augustine, gave a warm embrace to the Heavenly Jerusalem but a cold shoulder to the earthly one.4 Yet in spite of all these formidable barriers, the concept grew, developed, and matured in this period as Christians could not be severed from their mental bondage to a land, and especially to a city that was host to the Three Persons of their Trinity: God’s divine presence had resided in the Temple, before it departed on its destruction in A.D. 70; the city witnessed the Crucifixion and the Resurrection of the Second Person of the Trinity; and it was in Jerusalem that the descent of the Third Person, the Holy Spirit, took place on Pentecost, and with it the birth of the Christian Ecclesia. The irresistible appeal of the 1 2 3

4

Jn 4:21–24. Rv 21. The views of these Church Fathers, sometimes ambivalent, have been collected by Robert L. Wilken, The Land Called Holy, New Haven-London 1992, 65–81.101.125. Jerome is worth quoting in this connection on living the good life in the New Jerusalem: Non Hierosolymis fuisse, sed Hierosolymis bene vixisse laudandum est, quoted by B. Hamilton, The Impact of Crusader Jerusalem on Western Christendom, in: CHR 70 (1994), 695. When Augustine used the phrase terra sancta, he was referring only to the carton of soil brought from Palestine during a pilgrimage; see Wilken, Land, 125.

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Psalmist to Old Israel, “If I forget thee, O Jerusalem”,5 carried the same intensity to the New, the community of the Christian oikoumenê. In addition to the problem of non-territoriality of holiness in the strict Christian view and that what mattered was the Church and not the land, there were other related problems: the phrase itself, the Holy Land, and its provenance; its two terms, Holy and Land; and thirdly, the extent and boundaries of the Land, all of which is necessary to go through briefly before treating the main theme of this article – the Trans-Jordanian sector of the Holy Land. 1.1 The Two Terms: Holy and Land The term “holy” in the phrase relates to the Christian concept of holiness. Old Testament holiness applied, strictly speaking, to only one place, the Temple, where the Divine Presence resided. New Testament holiness pertained to the Second Person of the Trinity and all that related to Him, synchronously to His Apostles, and diachronously to confessors, martyrs, theologians, and monks. Hence the rise of the plural concept of holiness attaching to all these figures and with it the plural, “holy places”. These later included all or most figures of the Old Testament, to whom the Christian concept of holiness was transferred. So the term “holy” in the phrase became a composite one partaking of both Old and New Testament holiness, derivative from the fact that the Christian Bible comprised both Testaments, reflective of a Scriptural continuum. It is noteworthy that the phrase “Holy Land” was not in common parlance in the first half of this period; the Holy Places were. The term “Holy Land,” terra sancta, appeared in the second half of this period and was taken over by the Latin West rather than by the Greek East. Byzantium, throughout its eleven centuries, used Holy Places, as modern Greece still does. How “Holy Places” in the plural became “Holy Land” in the singular is not entirely clear since the phrase does not appear in the singular in the New Testament nor in the Old. The hapax legomenon in the latter,6 “The Land of Holiness”, does not answer to the Holy Land in its Christian acceptation. But the change from plural “places” to singular “land” was natural, even inevitable. And if it was not due to the phrase in Zakaria, it more plausibly may have been due partly to the transference of the term “land”, from the Old Testament “Promised Land”,7since the Holy Land as a Christian concept came to be roughly co-terminous with the Promised Land, Canaan, in its extent or considerably overlapped with it. 1.2 The Development of the Concept “Holy Land” The rise of the concept may be assigned to the reign of Constantine. In the previous three centuries, Christianity had been a persecuted religion and its members were unable to perform pilgrimages to their holy places or erect appropriate structures on what they considered holy sites. All this came to an end with the declaration of Christianity as religio licita by Constantine, which made the New Dispensation an Imperial religion, entailing, inter alia, the building of churches in the region. More important was the journey of his mother, 5 6 7

Ps 137:5–6. Zk 2:12. The phrase, however, terra promissionis, was coined in Heb 11:9.

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Helena, to Jerusalem and Bethlehem, thus initiating the rite of Christian Pilgrimage to the region, and this was the first stage in the birth and the subsequent gradual development of the concept of the Holy Land during the three centuries of Late Antiquity – the protoByzantine period. In the fourth century, the term does not seem to have been used in its strict Christian acceptation. According to one view, Jerome may have avoided it because it was sometimes used by the Jews.8 Jerome, however, may have unconsciously contributed to its acceptance when, in his Vulgate, he translated from Hebrew the well-known phrase ’admat (sic!) haqqōdeš, which appears as a hapax legomenon in Zechariah,9 although in that context it referred to the ground of the Temple in Jerusalem, and not to the Land of the Promise, as is indicated by the use of ’admat, not the emotionally charged H’ereṣ as in H’ereṣ yiśrā’ēl. Jerome’s Latin version of the phrase was not a literal and precise translation of the Hebrew phrase in Zechariah, ’admat haqqōdeš, the Land of Holiness, not the Holy Land. Instead of using an abstract Latin term for holiness after terra, he used a passive participle sanctificata, from the Late Latin verb sanctificare, hence the term the sanctified land, terra sanctificata, later terra sancta. He may have been influenced by the Septuagint, which translated holiness not as an abstract noun but by an adjective, ἁγία, where the phrase appears as ἁγία γῆ.10 The popularity of Jerome’s Vulgate in Western Europe in the second half of this period may explain the vogue of the term in the West. It was more in the fifth century and the sixth when Monasticism spread into the Jordan Valley on both its sides, that the term, Holy Land, came to prominence, derivative from the fact that its monks came to settle in the land and not visit it for a short time as pilgrims. But for the monks of the Jordan Valley and for their historian, Cyril of Skythopolis, the Holy Land was still a restricted area round Jerusalem, the Holy City.11 For others however, who were interested in the region as a pilgrimage destination, the term became more extensive, encompassing all the holy sites associated with Jesus and the Twelve, an area coterminous with Palaestina Prima and a small portion of Secunda. The concept of the Holy Land as a Christian term, received much enhancement with the rise of the Patriarchate of Jerusalem12 in conformity with one of the canons of the Council of Chalcedon in A.D. 451. The new Patriarchate13 with territorial jurisdiction over only Palestine of all the provinces of Oriens clinched the existence and boundaries of the Holy Land, so did it enhance its holiness by its being now an ecclesiastical province and, what is more, a Patriarchate – the nearest approximation to being an official Holy Land, with its head in the Holy city, the patriarch, in charge of its holy places and presiding over its various episcopal sees. In the sixth century the concept of the Holy Land is clearly reflected in the Map of Theodosius. As has been cogently argued, the guide books for pilgrimage, especially those 8 See Wilken, Land, 125. 9 See n. 6. 10 For the Greek in the Septuagint, see Alfred Rahlfs (ed.), Septuaginta II, Stuttgart 71962, 547, l. 17: ἐπὶ τὴν γὴν τὴν ἁγίαν. 11 See Wilken, Land, 154–172. 12 For Juvenal, the first incumbent of the new Patriarchate, see Ernst Honigmann, Juvenal of Jerusalem, in: DOP 5 (1950), 207–227. 13 It, thus, made the previous Ecclesiastical Tetrarchy of Rome, Constantinople, Antioch and Alexandria, a Pentarchy.

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coming from Western Europe, naturally developed into maps, and the title of the work of Theodosius is significantly titled De situ Terrae Sanctae, “The Lay-out of the Holy Land”.14 One map clearly reflects the extent and the boundaries of the Holy Land in the strict Christian sense, related to the ministry of Jesus and the Twelve, mostly Palaestina Prima with two sites on the other side of the Jordan.15 The sources of the seventh century continue to speak of the Holy Land. Zacharia, the Patriarch of Jerusalem, uses the term when the Persians captured the City in A.D. 614, and so does Sophronius, who became the Patriarch of Jerusalem in the thirties.16 The term was by now so well established that it even appears in the Qur’an as al-’arḍ al-muqaddasa.17 1.3 Extent and Boundaries Even more relevant to the theme of this article than the genealogy of the phrase and its two terms in the history of ideas is the problem of the extent and boundaries of the Holy Land. What are they? These are not described in Scripture since the term Holy Land in its Christian acceptation does not appear in the New Testament, in sharp contrast to the Promised Land, which in the Old Testament is attested, the boundaries of which are all clearly and explicitly stated in more than one place, albeit with different sets of boundaries.18 So, those of the Christian Holy Land grew and fluctuated with the growth in the number of holy places, and in their most extensive version were co-terminous with Bibleland, as conceived by armchair historian Eusebius, in his Biblical Onomasticon, made more lively and intimate by the feet of later pilgrims, such as Egeria, who traversed the wide expanse of Bible land in the whole of Oriens and Egypt.19 However, the Holy Land proper and in its more restricted sense, came to be applied to the Roman-Byzantine province called Palestine, the name given by the pagan Roman Empire to the land of the Chosen People, instead of Judaea, in order to obliterate its Jewishness after the Jewish revolt. The Christian Roman Empire continued to use the term, including the calling of the Holy City by both its anti-Jewish and anti-Christian term, Aelia Capitolina, a repulsive pagan name, related to Jupiter, and to the pagan emperor, Hadrian, who completed the wiping out of Jerusalem as a Jewish city. Palestine was, however, a province with a well-defined boundary, and towards the year 300, it was enlarged with the addition of a chunk from the provincia Arabia,20 subsequently becoming tripartite: Palaestina Prima, Secunda, and Tertia, the last of which comprised Sinai, the Negev, and the region south of the Arnon river. Tertia had some important Holy sites but they were relatively peripheral in 14 See Yoram Tsafrir, The Maps Used by Theodosius. On the Pilgrim Maps of the Holy Land and Jerusalem in the Sixth Century C.E., in: DOP 40 (1986), 129–145. Theodosius was an Archdeacon and his map has been dated to the third decade of the Sixth Century. On the dating of his map, see ibid., 129, n. 4; and John Wilkinson, Jerusalem Pilgrims before the Crusades, Warminster 2002, 9. 15 See the map in Tsafrir, Maps, 141. 16 See Wilken, Land, 222, l. 23; 229, l. 1. 17 Qur’an, Surat al-Ma’ida, 5:21. 18 As in Jos 13 and Ez 47–48. 19 For Egeria and her pilgrimage, see John Wilkinson, Egeria’s Travels, Warminster 31999. 20 For the provincial reorganization of Palestine, see Irfan Shahid, Byzantium and the Arabs in the Fourth Century, Dumbarton Oaks 1948, 48–50. For a more extensive treatment, see Glen W. Bowersock, Roman Arabia, Cambridge MS 1983, 76–109, and Yoram Tsafrir, The Transfer of the Negev, Sinai, and Southern Transjordan from Arabia to Palestine, in: IEJ 436 (1986), 77–86.

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the order of holiness compared to those in Palaestina Prima, west of the Jordan, where Jerusalem was located and the other two cities associated with Christ: Nazereth, the city of the Annunciation and Bethlehem, the city of the Nativity, together with Galilea and its Lake, the region that witnessed most of Christ’s ministries, all of which bring the discussion closer to the subtitle of this article, “The Trans-Jordanian Sector” which will be treated in four related parts: The Holiness of Trans-Jordan; Three Trans-Jordanian Documents; Heraclius and the Holy Land; and Trans-Jordan in Literary Art.

2. The Holiness of Trans-Jordan As a result of the concentration of Constantine and his mother on the region west of the Jordan, the one east of the river, Trans-Jordan, tended to recede into the background as a Holy Land, thus becoming the Cinderella of its two regions, and many factors contributed to this. It was never the object of imperial interest: Constantine favored Palestine in the fourth century, Empress Eudocia favored it in the fifth, and Justinian in the sixth,21 in addition to the fact that the three holy cities, associated with the life and death of Jesus, were not in Jordan but in Palestine. Even the onomastics of the region militated against its holiness in the perception of the outside world. Trans-Jordan was called the Provincia Arabia, a name associated neither with Old Israel nor with the New, but with the Arabs, who, as Sons of Ishmael, were in Biblical terms “Outside the Promises”. In official communications, such as the Novels of Justinian, the Holy Land was considered Palestine,22 while Trans-Jordan (the provincia Arabia) was for the emperor “the country of the Arabs” and its capital, Bostra, the scene of the pagan rites of Dusara.23 Even geographically Trans-Jordan consisted in Biblical terms of Edom, Moabitis and Ammonitis, all regions of the enemies of the Chosen People of God, Old Israel. Its character as a Christian Holy Land receded even more into the background with the Muslim Conquest, as over it now hovered a new level of Holiness, consisting of that of the two older religions plus that of the New Ishmael, with its own Muslim martyrs and holy men. If Palestine stole the show from Trans-Jordan as a Holy Land, this certainly was not the native perception – the self-image of Trans-Jordan, witness the Christian artistic explosion during these three centuries, especially the sixth, the debris of which even now arouse admiration, and reflect a region strongly possessed of its Christian identity.24 Its self-image 21 See Irfan Shahid, Justinian and the Christianization of Palestine. The Nea Ecclesia in Jerusalem, Mémorial Nikos Oikonomides, Athens 2007, 373–385. 22 See the prooimion of the Novel 103 on Palestine in Rudolf Schoell/Wilhelm Kroll (ed.), Corpus Iuris Civilis III, Berlin 1928, 469–499. The prooimion has been analyzed by Shahid, Justinian, 383f. 23 For the Novel on the provincia Arabia, see Schoell/Kroll, ibid., 492–495, also analyzed by Irfan Shahid, Byzantium and the Arabs in the Sixth Century I.1, Dumbarton 1995, 196–198. The phrase τὴν Ἀράβων χώραν occurs in the prooimion cap. 3, 495. 24 Advertized in the striking discoveries and the publications of the Studium Publicum Franciscanum, directed by Fr. M. Piccirillo. See his The Mosaics of Jordan, Amman 1993. And his more recent volume, the title of which audaciously reflects the new very Christian look of the province, namely, Michele Piccirillo, L’ Arabia Cristiana, Milano 2002.

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was not only that of a very Christian country but of one that was an integral part of the Holy Land, in the capacious denotation of the phrase. The various levels of this holiness may be explicated as follows: the region played host to the major figures of the Exodus, namely, Moses, Aaron and Joshua. The first two died and were buried in Trans-Jordan25 while the third is still commemorated at the spot whence he led the dramatic descent to the Jordan and the Eisodos into Canaan.26 As Trans-Jordan witnessed the climax of the drama of the Exodus (the last scenes involving Moses), this gave Trans-Jordanian holiness a strong Old Testament fundamentalist strain, still prevalent in such countries of Oriens Christianus as Ethiopia,27 with its Imitatio Veteris Testamenti. It even made Lot a holy man and a saint for whom a chapel was built,28 since his dwelling was in Trans-Jordan. No other region in the world – and I may be mistaken about this – would have considered a saint a man who committed incest with his two daughters, even though he was drunk. And finally in Old Testament terms it was in Trans-Jordan that two and a half tribes of Old Israel had their portions of the Promised Land, Reuben, Gad and half of Manassah.29 And if Palestine could boast the Holy Sepulchre of the Founder of Christianity, Trans-Jordan could boast the burial site of the Founder of Judaism, Moses himself.30 As for the New Testament holiness of Trans-Jordan, its various Christian levels may be presented as follows, related to the Precursor, to Christ Himself, to St. Paul, and to the martyrs of the first three centuries. It was in Trans-Jordan that the Baptist performed his ministry and in Machaerus that he was martyred by Herod; Christ was baptized in TransJordan,31 which thus became historically the home of one of the Sacraments of the New Dispensation; Christ’s ministry involved three regions of Trans-Jordan: Peraea, the Decapolis and the Gōlān, where he performed miracles. Equally important is the presence in Trans-Jordan for three years of St. Paul, the most prominent figure in Christianity after Christ. His conversion on his way to Damascus 32 may have taken place somewhere in northern Trans-Jordan, but more important is his withdrawal for three years to Arabia33 after his conversion. The Arabia of Acts could only have been what later became the provincia Arabia that is Nabataea, Trans-Jordan. So, for three long years, Trans-Jordan played host to the Apostle who was to leave his indelible mark on Christianity. It was in TransJordan that he meditated and prepared himself for the extraordinary mission he undertook for the spiritual conquest of the Roman world. Soon after Paul was martyred, one of the cities of the Decapolis, Pella,34 acted as haven for the early Jewish-Christian community of Jerusalem after the destruction of the Temple 25 26 27 28 29 30 31 32 33 34

Dt 32:50; 34:6. Commemorated by a mosque, located near the city of Salt in Jordan. See Edward Ullendorff, Ethiopia and the Bible, Oxford 1968, 15–30.73–130. On the church of Lot, see Piccirillo, Mosaics, 164f. There is also the Cave of Lot to the south east of the Dead Sea, which is a complex of a cave, church, and a monastery, see ibid., 336. Jos 13:7.15–23.24–28. Dt 34:6. B. Macdonald has thoroughly examined the Israelite presence in Trans-Jordan during the Exodus in his East of the Jordan, American School of Oriental Research 6, Boston 2000. “Across the Jordan” πέραν τοῦ Ἰορδάνου, according to one Evangelist, see Jn 1:28. Ac 9:1–9. Gal 1:17. On Pella, see Jean-Marie Fenasse, Art.: Pella, in: Dictionnaire de la Bible, Sup. VII, Paris 1966, 605–626.

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in A.D. 70. Then came the series of martyrs during the first three centuries of the Christian Era before the peace of the Church in 313, and Jordan contributed a considerable number.35 These seeds of holiness were sown in the first three centuries of the pre-Constantinian period but bore fruit after Constantine, with the rise of an elaborate ecclesiastical hierarchy and the expression of Christianity in art and architecture. A last level of holiness should not be forgotten, and it was woven into the texture of Trans-Jordanian Christianity in the first three centuries of the Byzantine period. During this period there were no martyrs or confessors, as they ceased after the Edict of Milan. But a new type of holy man appeared, instead of the martyr, namely, the monk, who became the new saint of this period. The monasteries became holy places and Trans-Jordan with its arid spots and deserts became an important monastic region for anchorites and eremites, the counterpart of the monastic region on the other side of the Jordan in Palestine, especially in the Desert of Juda, its most important sector. Palestinian monasticism found an historian in the person of Cyril of Scythopolis. Trans-Jordanian monasticism found none, and yet it was no less impressive. It spread all along the eastern bank of the river Jordan. The fact is evidenced onomastically even today by the abundance of toponyms that begin with Dayr, meaning “monastery of”36. The southern part of this monastic belt has been researched and excavated by Father Piccirillo, in such regions as that of Mayfa‘a (Umm al-Rasas),37 which turns out to be partly a major monastic complex, and the cave of Lot to the southeast of the Dead Sea, but the northern portion has not received the attention it deserves, in the Golan Heights, which lie east of the Jordan. It is an unknown chapter in the monastic history of the region and it rests mainly on difficult contemporary sixth century Arabic poetic sources and early Islamic ones, which inform on the Golan Heights, as a flourishing Christian monastic oasis.38 So much for the holiness of Jordan and its self-image. Yet that holiness and its being a part of the Holy Land was not entirely a self-image. Pilgrims, whose feet charted the boundaries of the Holy Land more than anything else, did not entirely neglect TransJordan. The more perceptive among them, such as Egeria39 and Peter the Iberian,40 crossed the river Jordan and sought holy places on its other side. 35 Jordan counts among its martyrs Elianus and Zaccheus; for the martyrs of Jordan, see Piccirillo, Mosaics, Index, 380 s.v. Martyrs. 36 A contemporary primary official Syriac document of A.D. 569 lists no less than one hundred and thirty seven Monophysite monasteries in the provincia Arabia, evidence for the spread of monasticism in Trans-Jordan, which thus emerges as a major monastic region. The document has been analyzed in a masterly fashion by Theodor Nöldeke, Zur Topographie und Geschichte des Damascenischen Gebietes und der Haurângegend, in: ZDMG 29 (1875), 419–444; the Arab monasteries within these Monophysite monasteries have been analyzed by Shahid, Sixth Century I.2, 825–838. The list of 137 monasteries includes also some monasteries in Damascene and Auranitis. 37 For which see Michele Piccirillo/Eugenio Alliata, Umm al-Rasas, Mayfa‘a I (SBF.CMa 28), Jerusalem 1994. 38 I have researched this segment of the monastic belt in Trans-Jordan in the second volume of my Byzantium and the Arabs in the Sixth Century, BASIC II.ii, Dumbarton Oaks 2002. Pages 156–219 are devoted to Ghassanid Arab monastic establishments, not only in Trans-Jordan. 39 See Wilkinson, Egeria’s Travels, 119–129. 40 The life of Peter the Iberian was written by John Rufus, bishop of Maiouma; the Syriac version of this vita was edited and turned into German by Richard Raabe, Petrus der Iberer, Leipzig 1895, 81–92, for his visit to Trans-Jordan.

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3. Three Documents The self-image of Trans-Jordan in this proto-Byzantine period as an integral part of the Holy Land will now serve as a background for the analysis of three documents that have survived from this period: (1) the correspondence between Pope Gregory and the Bishop of Gerasa, Marianus; (2) the Madaba Mosaic Map; and (3) the Hall of Hippolytus, also a Madaba document. (1) Gerasa. In February A.D. 601 Pope Gregory wrote a letter to Bishop Marianus in answer to a request expressed by the latter, who had sent one of his abbots, Candidus, to Rome, in order to ask the Pope for holy relics to be translated to Gerasa. The Pope’s letter indicated that the request had been granted and that the relics had been handed over to Candidus. Pierre-Louis Gatier has convincingly argued that the bishop involved was that of Gerasa, and that the request for the relics related to the building of a church there, dedicated to the two apostles, Peter and Paul.41 The Pope’s letter has survived but not the bishop’s, the contents of which can only be inferred. The background of this correspondence is shrouded in obscurity.42 It was an extraordinary exchange – a request on the part of a relatively minor and provincial see, that of Gerasa, to no other than Pope Gregory, in far away Rome for relics, and the response of Pope, involving the relics of the two Apostles that made Rome a Holy City. Such precious relics cannot have been plentiful and yet the Pope could spare some of them. These relics must have pertained to the two Apostles, since they were used for dedicating the church built in their names. Part of the background of this correspondence must have been the fierce struggle in this period in the provincia Arabia between Monophysitism and Dyophysitism, the latter promoted and protected by Orthodox Byzantium, the former by the strong Ghassanid military shield. A primary Syriac document of this period has revealed the existence of no less than 137 Monophysite monasteries in the provincia Arabia alone.43 Even more important was the abundance of Monophysite relics,44 consequent on the martyrdoms in Monophysite Najran earlier in the century and the desirability of having some relics for the Dyophysite church in Gerasa to offset these. What is more relevant to the theme of this paper is to understand what the bishop of Gerasa must or might have written in order to convince the Pope of the desirability and appropriateness of parting with such precious relics. It is perfectly possible that he may have mentioned that Trans-Jordan was host to St. Paul himself for some three years, as has been explained in the previous part of this paper; and that it was only appropriate, and now also desirable, that this host country should possess some of his relics. That such a request might very well have come from Gerasa in particular may be explained by the possibility that when Paul retired to Arabia for this crucial triennium, it was to the region of Gerasa that he may have

41 See Pierre L. Gatier, Une lettre du Pape Grégoire le grand à Marianus évêque de Gerasa, in: Syr 64 (1987), 131–135; and more recently, Michele Piccirillo, Gregorio Magno e le Province Orientali di Palestina e Arabia, in: Liber Annus 54 (2004), 321-341, 327–329. 42 For this background, see the present writer in Shahid, Sixth Century I. 2, 935–938. 43 For these Monophysite monasteries mentioned in the subscriptions of the archimandrites of the provincia Arabia, see supra, n. 36. 44 For these Monophysite relics, see Irfan Shahid, Byzantium in South Arabia, in: DOP 33 (1979), esp. 76–80.

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done so. Paul was the Apostle of the Gentiles,45 and as a diaspora Jew was a speaker of, and writer in, Greek. What then would have been more natural for one who wanted to spend a triennium of withdrawal in Arabia away from his co-religionists than to have come to a city such as Gentile Gerasa of the Decapolis and, what is more, Greek-speaking. A few years after Paul was martyred, the Jewish-Christian community of Jerusalem, following the destruction of the Temple, fled to Pella, another Decapolis city. (2) The Madaba map: Unlike the correspondence involving the Pope and the bishop of Gerasa, where the self-image of Jordan is only an inference, the Madaba map transmits that image powerfully and without any doubt.46 There have been many answers to the question involving the purpose of the mosaicist or the ecclesiastic who commissioned the map; was it a pilgrim’s guide, or did it serve a didactic purpose for the edification of the worshippers?47 There is general agreement, however, that the map reflects the Christian “rendering of the history of Salvation within its geographical framework”,48 because of the prominence given Christian Jerusalem and the Basilica over the Holy Sepulchre, which dominates the map. All these answers are worthy of consideration, and arguments have been advanced for and against each of them, but they may not be mutually exclusive since the map may have served more than one purpose. However, in the context of this article on the self-image of Trans-Jordan, I should like to pose the question, which seems to me necessary to pose, namely, why was this unique map crafted only in this portion of God’s earth and nowhere else? The answer brings us close to what that perceptive Frenchman, Clermont Ganneau has said, namely, that it represents the vision of the Promised Land as seen by Moses from the top of Mt. Nebo.49 The arguments that have been advanced against this view, even by the honest Clermont Ganneau himself, are far from substantial or convincing, and the principal one was that the map reveals more, much more than what God had shown Moses. It is a composite vision of the Promised Land, and the Holy Land with Jerusalem, not as the City of David but that of Christ, Christ of the Anastasis, which Moses could not have seen.50 The answer to this objection consists in the realization that the map is not laid inside a Jewish synagogue but inside a Christian church of the new ecclesia, whose clerics accepted the Old Israel and incorporated its Holy Book in its Bible, considering itself the New Israel. Thus, there is no contradiction in a Christian work of art combining sites or places, holy to both the Old and the New Israel. What the artist did was to capture the unique moment when God Himself showed the Promised Land to Moses; Moses then recedes into the background, since the artist was a Christian and the promised Land for him develops into 45 Ac 13:46–48. 46 The Madaba map has been the subject of many studies ever since its discovery, almost a hundred years ago. The following may be singled out: Michael Avi-Yonah, The Madaba Mosaic Map, Jerusalem 1954; Herbert Donner/Heinz Cüppers, Die Mosaikkarte von Madaba. Tafelband, Wiesbaden 1977; Michele Piccirillo, Madaba: le chiesi e i mosaici, Milan 1989, 76–95. Herbert Donner, The Mosaic Map of Madaba (Palaestina antiqua 7), Kampen 1992; and Irfan Shahid, The Madaba Mosaic Map Revisited. Some New Observations on its Purpose and Meaning, in: Michele Piccirillo/Eugenio Alliata (ed.), The Madaba Map Centenary, SBF.CMa 40, 1999, 147–154. 47 See e.g. Avi-Yonah, Madaba, 33f; Donner/Cüppers, Mosaikkarte, p. 30f; Piccirillo, Mosaics, 29. 48 Ibid. 49 See C. Ganneau, in: PEFQSt 1901, 243–246, and Dt 2:48; 34:1–4. 50 The orientation of the map is not a serious objection; cf. Wilken, Land, 177.

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the Holy Land of the New Israel in its most extensive boundaries, with Christian Jerusalem of the Anastasis as its central landmark.51 So, the hard fact remains and persists, namely, that this unique Map was executed in the Madaba region, a fact that calls for explanation to which I return now in the light of recent research on Trans-Jordan in this Byzantine period. The Sixth century of Byzantine Trans-Jordan is the century that witnessed that astounding artistic explosion in the region, when the Christian faith was the passion of its people, expressed and documented in its Christian art. The incumbent of each episcopal see piously and vigorously worked in order to enhance the Christian character of his see. We have seen the bishop of Gerasa asking Pope Gregory for relics of Saints Peter and Paul. The bishop of Madaba could not have been, in his zeal, far behind that of Gerasa. Both cities boasted at least twelve churches. But while Gerasa had no certain Biblical association, Madaba did. Not only could it boast being the scene of Moses’ last days and his burial place, but it could boast something unique, an Epiphany, when God revealed Himself and discoursed with Moses, according to Deuteronomy,52 face to face, a unique encounter between the Human and the Divine, almost equivalent to that on Mt. Sinai. This immediately made of the Madaba region, to which Mt. Nebo belonged, a holy region with a unique encounter. It did not take too much imagination on the part of the Madaba bishop or ecclesiastic who commissioned the mosaic, to realize the importance of representing this unique encounter for the brighter image of the Madaba episcopal see; hence the nativity of the concept of a map to be appropriately placed in the same region as that of the Epiphany, and the only place in the world whence the Promised Land and the Holy Land could be seen simultaneously from the most advantageous point.53 As will be seen when the third document, the Hall of Hippolytus, is discussed, the see of Madaba was not unaware of its importance even vis-àvis one of the members of the Ecclesiastical Pentarchy, and, what is more, one that held primacy among the five, Rome itself. Thus the ecclesiastic who conceived the idea of expressing through this mosaic map the unique Divine-Human encounter must have thought that Madaba possessed a certain holiness, derivative from that of the Epiphany, that unique historic moment at the climax of the peregrinatio of the Israelites. This encounter does not, of course, appear on the mosaic, it is only the background that must have sparked the imagination of the ecclesiastic who commissioned the map. It remains to discuss the Trans-Jordanian sector of the Madaba map in this context of the holiness of the Madaba region in which the map was executed. The mosaicist included a number of Trans-Jordanian places54 in this map which reflects the Holy Land in its most 51 Furthermore, Church Fathers and Christian authors interpreted the Old Testament in Christian terms. John Philoponos, for instance, made Moses himself speak proleptically of the Trinity, thus including Christ as its Second Person; see Joh. Phil., op. mund. VI, 4 (BSGRT, 235–237, Reichardt). 52 Dtn 34:10. 53 Egeria experienced the thrill of the Biblical panorama unfolding before her eyes when she stood on Mt. Nebo and later wrote, “In fact from there you can see most of Palestine, the Promised Land and everything in the area of Jordan as far as the eye can see”, Wilkinson, Egeria’s Travels, 127. The ecclesiastics of Madaba two centuries later must have experienced the same thrill, and the one who commissioned the map was one of them. 54 See Herbert Donner, Transjordan and Egypt on the Mosaic Map of Madaba, in: Annual of the Department of Antiquities 28 (1984), 249–254. A survey of holy sites and Christian monuments in Byzantine Trans-Jordan may be found in Sylvester J. Saller/Bellarmino Bagatti, The Town of Nebo with a Brief Survey of Other Ancient Christian Monuments in Transjordan, in: PSBF 7(1949), 221–235.

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extensive boundaries. As has been argued in this paper, onomastically and in the perception of the outside world, the Holy Land was identified with Palestine, west of the Jordan River.55 Now the mosaic map does away with the Jordan as a river that defines the eastern boundary of the Holy Land, excluding Trans-Jordan. The inclusion of Trans-Jordan within the mosaic of the Holy Land, welded, so to speak, Trans-Jordan to the Holy Land proper, west of the Jordan, and presented it as an integral part of the Holy Land, to both the native population of Jordan and to outsiders who visited Jordan and who may have identified the Holy Land with Palestine, west of the Jordan. Now in the map, the river does not separate Palestine from Trans-Jordan; it unites the two banks and the two regions. The visual dimension is much more powerful than the auditory one. Hence more than the pericopes heard in church or read in the Bible, the mosaic map transmits more immediately and more powerfully the fact of Trans-Jordan’s holiness and its integral belonging and affiliation to the Holy Land. This is how I understand the Madaba map and its relation to the region wherein it was executed. “Christian art illustrates passages from the books of the Bible from Genesis to Revelation, either individual figures or episodes or sequences. The map is consonant with this, but is unique in that it is a vast canvas that encompasses the entire panorama of the history of Old Israel in one Testament and that of the New in another. What the literary art of the spoken word had separated, that is, the last chapters of Deuteronomy from the last chapters of the Gospels, are now united by the only art that can unite them, namely, visual art, which thus presents them simultaneously, and synoptically as literary art could not. The climax was the depiction of the Holy City not as the City of David but as that of the Crucifixion and the Anastasis, which dominates the entire map, conveying unmistakably the message of Christian Salvation.”56 Thus the practical purposes of the Map such as its being a guide to pilgrims, recedes to the background; the edificatory57 or didactic purpose sounds the more plausible one in the sense I have tried to explain. The map reflects the concern of the episcopal see of Madaba to present itself as a very important Biblical locale, perhaps the most important in the whole of Trans-Jordan in view of the extraordinary events that took place within its jurisdiction, and which made it unique. The map is thus a celebration of the sanctity of the Madaba region with all its rich Biblical associations.58 Pious Chris55 This perception of the Holy Land as lying west of the River Jordan has persisted till the present day; see the first paragraph in the article of Robert L. Wilken, Art.: Heiliges Land, in: TRE XIV (1985), 684. 56 Shahid, Madaba map, p. 152, col. A. 57 Bowersock’s view on the edificatory purpose of the map may be quoted. “The map is replete with Christian legends to edify the pious. These legends are so numerous and so ample that it seems reasonable to suppose that instruction and inspiration were the principle purpose in the creation of the mosaic”, see Bowersock, Roman Arabia, 171f. The edificatory purpose of Christian art, however, has been called into question; see Lawrence G. Duggan, Was art really the ‘book of the illiterate’?, in: Word and Image 5 (1989), 227–251; related also is Joanna E. Ziegler, Michelangelo and the Medieval Piety: The Sculpture of Devotion or the Art of Sculpture, in: Gesta 34 (1995), 28–36. It is noteworthy that the map could not have been edificatory for the illiterate; the legends attached to the toponyms militate against this view. It must have been edificatory in another sense, if any. 58 Donner endows the mosaicist or the ecclesiastic who commissioned it with four motives or purposes, but it is not clear whether he thinks they were all operative simultaneously and if so whether they were equipollent. In addition to the ones already discussed in this paper, he adds “a clear liturgical function”, see Donner, Madaba, p. 30f. Thus he makes the Map accessory to liturgy and ritual devotion, related to

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tians may stand on the top of Mt. Nebo; however, on a rainy misty day or during a dark night it is difficult to see across the Jordan. But the map telescopes the entire vista and panorama on both sides of the Jordan and presents them to the spectator clearly and accessibly on the floor of a church. The Horatian ideal of ut pictura poesis was attained by the plastic artist who executed the Madaba mosaic map, primarily for the greater glory of the Madaba region and the Madaba episcopal see. (3) The third document that illustrates the self-image of Jordan and Madaba in particular is the mosaic floor of the Hall of Hippolytus, also in Madaba. In the pavement along the east wall there are personifications of three cities: Rome, Gregoria, and Madaba are seated on thrones; each holds a small Cross with a long staff in the right hand, and a cornucopia (of) a basket in the left.59 To my knowledge, no one has so far commented on the implications of this for ecclesiastical history, but it can be easily related to the self-image of TransJordan in the ecumenical ecclesiastical hierarchy. The Madaba region was the richest of all Trans-Jordanian regions in Biblical associations as we have seen. Its hierarchy was aware of that fact60 when they commissioned the Madaba map. Now they go a step further when they put their episcopal see not on the same pedestal as the metropolitan see of Arabia, Bostra, but with the most distinguished of the Pentarchy, Rome itself, or less likely Nea Rhome. It may seem presumptuous but there it is. Perhaps the local hierarchy thought that although Rome had the remains of the two Apostles, yet Madaba could boast something higher in the order of holiness – the Epiphany and Moses himself, the founder of Judaism and the main figure of the New Dispensation; besides, Madaba is part of the Holy Land, properly speaking, which Rome is not. The personification of Rome raises another question: why was Rome and not some other member of the Pentarchy chosen, Alexandria or Antioch? Perhaps it was the association of both, Jordan and Rome, with St. Paul, the one as the region of his triennium of withdrawal, and the other as the city of his martyrdom. As we have seen in the case of Gerasa, the relics from the Rome of St. Paul had reached that bishopric and so there was some contemporary or recent contact between Rome and TransJordan to make Rome alive in the consciousness of a Trans-Jordanian bishopric such as Madaba, even if the specifically Pauline connection between Trans-Jordan and Rome was not vivid in the mind of the local Madaba hierarchy.

4. Heraclius and the Holy Land The final and most dramatic chapter in the history of Palestine and Trans-Jordan before the Muslim Conquest was written by the Emperor Heraclius. The Holy Land had flourished in the course of these three centuries of the Proto-Byzantine period and rested secure from Persian military threat and from its allies, the Lakhmids, protected by the Byzantine army of Oriens and its Federates, the Ghassanids. But during the reign of Heraclius, the two un“salvation history”. The liturgical function of the Madaba mosaic would be easier to defend if the mosaic represented a readily comprehensible familiar religious theme such as the Last Supper, but is not easy to defend in the case of a map. For a much more detailed statement on the Madaba map as the second of these three documents, discussed in this article, see Shahid, Madaba. 59 See Piccirillo, Madaba, 57. 60 For a succinct and authoritative statement on the sea of Madaba, see ibid., 316–322.

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thinkables happened, which directly affected the Holy Land. A Persian army crossed the frontier, the Euphrates, and its victorious march through Oriens brought it to the walls of Jerusalem in 614, which it captured and whence it carried the Holy Cross to its Babylonian captivity of some sixteen years.61 Hardly a decade had passed after the final victory of Heraclius over the Persians at the battle of Nineveh, when another army, this time Muslim Arab, marched from Medina in Hijaz in the direction of the Holy Land, where some furious battles were fought before its possession, including the fateful battle of Yarmuk in 636, which decided forever the fate of Byzantium in Oriens, and also made possible the second fall of Jerusalem in A.D. 638 to the Caliph Omar.62 These were historical events that changed the course of world history in the Mediterranean world and southwestern Asia.63 What concerns us in this article is their relevance to the Holy Land. During the fifteen years of its occupation by the Persians, the Christian Roman Empire lived for the first time in its history without its Holy Land and its spiritual capital Jerusalem, hostages in the hands of fire-worshiping Persians. After the battle of Yarmuk, Byzantium lost the Holy Land forever and never recovered it. With the exception of the capture of Jerusalem in A.D. 614 and the restoration of the Holy Cross in A.D. 630, the history of the Holy Land and Oriens is almost a blank, between the Persian and the Muslim Conquest, and that includes the quinquennium that elapsed between the Persian evacuation of Oriens in A.D. 629 and the Arab offensive against Oriens in A.D. 634. This period had no historians, and in this connection one is tempted to say with the Latin poet: Vixere fortes ante Agamemnona multi; sed omnes inlacrimabiles urgentur, ignotique longa nocta, carent quia vate sacro.64 But much happened in Oriens, which is partly retrievable from the data of Arab history for this period and these are many and hard. They inform us on the provincial structure of Oriens when the Arabs took it over from Byzantium immediately after the Muslim conquest. The clear implication is that Byzantium in the quinquennium, A.D. 629–634, effected farreaching changes in the administration of Oriens involving regional re-grouping and a new onomasticon. Instead of the eleven provinces into which Oriens had been divided, it now consisted of four which ran from the desert to the Mediterranean and all horizontally placed in relation to one another. Two of them in the south comprised the two regions of the Holy 61 On the fall of Jerusalem to the Persians in A.D. 614, see Robert L. Wilken, The Expugnatio Hierosolymae A.D. 614, in: ParOr 16 (1990–1991), 73–81. 62 See Philip K. Hitti, History of the Arabs, London 1934, 153f. 63 For a recent re-assessment of the causes of the outbreak of this final Byzantine-Sasanid war, see Irfan Shahid, The Last Sasanid-Byzantine Conflict in the Seventh Century, in: La Persia e Bisanzio. Convegno international (Roma, 14–18 ottobre 2002), Atti dei convegni Lincei 201, Roma 2004, 223–244. 64 Hor., od. IV,9 (BSGRT, 126, l. 25–28, Shakleton-Bailey). I quote from the Augustan poet in the tradition of Sir Ronald Syme, who was both a distinguished Roman historian and a connoisseur of poetry. In his lectures and discourses he used to quote from the Classical literary tradition. See my salute to him in Shahid, Sixth Century II.ii, XXIII.

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Land, Palestine and Trans-Jordan. But instead of being divided from each other vertically by the river Jordan, they were now united, divided horizontally into two parts, each of the two parts containing territory from both sides of the Jordan and running from the desert in the east to the Mediterranean in the west.65 Before I discuss its significance, I should like to mention that there is no doubt about the historicity of this new look that the Holy Land now assumed. Both proponents and opponents of the vexata quaestio of the Heraclian origin of the theme system have accepted the Byzantine pre-Islamic origin of this re-grouping:66 the bone of contention revolves round whether these new divisions should be called themes or ducates, irrelevant to the topic of this article.67 And all Arabic sources are unanimous in ascribing a Byzantine pre-Islamic origin to these recent divisions of Orient and the Holy Land, inherited by the Muslim Arabs. This was a drastic re-organization of the Holy Land and it affected the two terms in the title of my paper, boundaries and Trans-Jordan. What it did to both may be explained as follows: (1) The boundaries of the Holy Land are now enlarged so as to include the whole of the Trans-Jordanian sector. The northern half now contained the Golan with all its holy sites, together with Galilee, including Kinneret and Nazareth. The southern half consisted of the remaining part of old Palestine and its extension across the Jordan to the desert in the East. (2) The affiliation of Trans-Jordan with the Holy Land is now clinched administratively as part of the Holy Land proper, Palestine. So the holiness of Jordan, obscured before by administrative divisions and terms, is now clearly reflected. The river that had separated Palestine from Trans-Jordan now united them. (3) As striking as the geographical re-grouping, is the new onomasticon that is adopted to reflect these administrative changes, and it is redolent of the religious tone that prevailed in this period. It is reminiscent of the onomastic game that was played by the Romans in the first century, when they changed the name, Judaea, to Palestine. Now the onomastic game involved three terms: Arabia, Jordan, and Palestine: (a) Arabia, the name of the Roman province in the Trans-Jordanian region disappears, presumably abolished as a term that had no holy associations. (b) Palestine, hallowed by centuries of usage and identification with the Holy Land, is retained and it sheds its onomastic holiness on the southern part of what used to be TransJordan or Arabia and which now became part of Palestine. (c) The term “Jordan” is new and is the truly exciting one. It reflects the religious cast of mind that effected these changes and suggested the new terms for the new territorial regrouping.68 As is well known, the Jordan was a Holy River to Christians and is often referred to as such.69 It was the river where the Founder of Christianity was baptized and was the scene of 65 For these far–reaching changes in Orient during the period which elapsed between the Persian evacuation of the region in A.D. 629 and the battle of Yarmuk, A.D. 636 or even slightly before it, see the present writer in a series of five articles devoted to this problem, in Irfan Shahid, Byzantium and the Arabs. Late Antiquity I (Bibliothèque de Byzantion 7), Bruxelles 2005, 191–280. 66 See J. Haldon, Byzantium in the Seventh Century, Cambridge 1990, 215 n. 27. 67 For the view that these new divisions were indeed themes, see the present writer, Shahid, ibid., 191– 280, esp. 223–280. 68 See Irfan Shahid, Heraclius and the Theme System. Further Observations, in: Byz 59 (1989), 222–224.

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The Holy Land in the Proto-Byzantine Period

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the ministry of John the Baptist. After fifteen years of dismay and depression during the Persian occupation of the Holy Land and Jerusalem, consequent on the stunning news that the Holy City had fallen, Byzantium rode the crest of a euphoric wave with strong religious overtones, culminating in Heraclius’ pilgrimage and restoration of the Holy Cross to Jerusalem.70 It is within this setting that the resuscitation of the name Jordan must be set. The Christian Roman Empire did not have to rummage the New Testament for an appropriate Christian term. “Jordan” suggested itself as the natural Christian name for the new province, now united by the river instead of being divided by it. Furthermore it acquired an imperial association around this time, and the events of A.D. 630 provide an intimate background for understanding the sudden emergence of this term, as the name of the new province. This background is related to the two emperors Heraclius and Constantine. For the first time, a Roman emperor, Heraclius, performs the pilgrimage to the Holy Land and actually crosses the river Jordan,71 which thus becomes alive in the consciousness of the Roman ruler. But imperial memories of the river Jordan go back to Constantine, who said on the eve of his death that he had postponed his baptism because he wanted it in the same river that his Saviour had been baptized in, the Jordan. This statement in the Vita Constantini has attracted the attention of scholars and has gone through various interpretations, the most recent of which appears in the last issue of the Journal of Roman Studies, where it is linked to his projected campaign against Persia.72 It is, however, much more natural to understand it as a desire on the part of Constantine for imitatio Christi, whose selfimage as a Christian and as a Christian ruler has been the subject of much speculation by those who have been chasing the rainbow of charting the spiritual journey of this enigmatic and inscrutable emperor. Yet the datum on the Jordan is important for our theme and for Heraclius. It implies that Constantine wanted to visit the land he and his mother had made holy, especially after the year 335, when the Church of the Anastasis was finished and dedicated. His journey as imitatio Helenae would have been at the same time a pilgrimage, the climax of which would have been his baptism, no doubt at the very spot where Christ was baptized at Bethábora in Trans-Jordan. Then his imitatio Christi would have been perfect. All this, or at least Constantine’s wish to be baptized in the Jordan, must have been alive in the consciousness of Heraclius when he crossed the Jordan. As is well known, he appeared or masqueraded as the New Constantine, neos Konstantinos, on his coins and in the pages of George of Pisidia.73 And the point in so calling himself must have been so obvious when he performed the pilgrimage, carrying the very same Cross74 that Constantine’s mother had discovered, rebuilding the Church of Anastasis that Constantine had built, and restoring the 69 Ibid. 70 Reflected also in Heraclius’ shedding of the long imperial titulature and his assumption of the short, resoundingly Christian one, πιστὸς ἐν Χριστῷ βασιλεύς see Irfan Shahid, The Iranian Factor in Byzantium during the Reign of Heraclius, in: DOP 26 (1972), 295–320, and idem, Heraclius. Πιστὸς ἐν Χριστῷ βασιλεύς, in: DOP 34–35 (1980–1981), 225–237. 71 On his way from Hierapolis to Tiberias, see Andreas N. Stratos, Byzantium in the Seventh Century I, Amsterdam 1968, 253. 72 On this see Garth Fowden, The Last Days of Constantine: Oppositional Versions and their Influence, in: JRS 84 (1994), 146–170. 73 See Shahid, Iranian Factor, 309f and note 65. 74 Stratos, Byzantium, 254.

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city, made the spiritual capital of the empire by Constantine. So Heraclius performed the pilgrimage that Constantine had hoped to perform before death overtook him, and he must have especially remembered the holy river that Constantine singled out from the toponymy and topography of the Holy Land for his last words before he died. Such then was the physiognomy of the Holy Land at the very end of this period just before the Muslim Conquest, as reorganized by the New Constantine. The longevity of the term Jordan has been remarkable, since it has survived until the present day, and what is more, in its Greek form, sure evidence for the Byzantine origin of the term, which the Arabs inherited.75

5. Trans-Jordan in Literary Art Trans-Jordan’s brush with holiness was not left unsung. It was remembered in the visual arts, which a number of dedicated scholars, mainly Catholic priests, have revealed, the most recent of whom has been Father Michele Piccirillo. For those who have not the time or energy to see the splendors of Trans-Jordanian Christianity, the auditory dimension of the spoken word is a substitute. The holiness of Trans-Jordan is remembered in some chapters of world literature, despite the fact that the Trans-Jordanian association or inspiration is more often than not, forgotten. They are principally three: (1) the account in Deuteronomy that records the last days of Moses on earth – the climax of the Exodus narrative, including the song, the blessing, and his death, which do not fail to touch with their noble simplicity Jew and Gentile alike.76 (2) It was immortalized in the best of all Psalms, the Psalm of mercy.77 It is unfortunate that the order of the Old Testament canon separates this Psalm from its background, namely, the story of David, Bathsheba, Uriah the Hittite, and Prophet Nathan in the second Book of Samuel.78 But when placed after this account, the Psalm gains in power as a Psalm of repentance for the blood of Uriah the Hittite, shed before the walls of Rabbath-Ammon in Trans-Jordan. (3) Finally there is the charm of the Book of Ruth with its three winsome characters. It was raised to a higher power of verbal art when the foremost English romantic poet set it as the most luminous psephos in the mosaic floor of his Ode to a Nightingale. For connoisseurs of English poetry this is how79 Keats remembered Ruth, the girl from Moabitis in Trans-Jordan, in his apostrophe to the Nightingale. 75 For this, see Irfan Shahid, Heraclius and the Theme System. New Light from the Arabic, in: Byz 57 (1987), 396. As a Semitic Arabic term, it should have been ha-Yārdēn, as it is in Hebrew, but in Arabic it appears in the Greek form for the new province, with its iota and its omicron, faithfully represented by the Arabic plosive sound, the hamza, and the vocalic damma respectively. 76 Dt 32:1–44; 33f. 77 Ps 51. 78 2 Sam 11f. 79 Thou wast not born for death, immortal Bird! No hungry generations tread thee down; The voice I hear this passing night was heard In ancient days by emperor and clown; Perhaps the self-same song that found a path Through the sad heart of Ruth, when sick for home, She stood in tears amid the alien corn;

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The Holy Land in the Proto-Byzantine Period

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6. Epilogue Just as the reign of Constantine in the fourth century was a watershed for the rise of the concept of the Holy Land, so was the Arab Conquest of Palestine in the seventh. For centuries after, the concept of the Holy Land, especially its boundaries, remained alive, indeed, became even more alive during this long period. I – For Muslims, in whose Holy Book, the Qur’an, the phrase appears, the Holy Land continued its appeal, especially in the Umayyad Period. It was discussed together with another concept, the “Blessed Land”, and many authors gave various accounts of it extent and its boundaries.80 II – The Holy Land attained its strongest visibility during the Crusades as did the boundaries, relevant to the Latin Kingdom of Jerusalem. And it was then that Palestine in its most extensive denotation, was revived, comprising the three Palestines: Prima, Secunda, and Tertia. III – In Modern times, it was the Palestine Exploration Fund that in the nineteenth century revived interest in the Holy Land, especially its boundaries in a very serious manner. Its surveys concentrated mainly on the region west of the Jordan River, which it conducted in the seventies, and which resulted in a 26 sheet map and many volumes.81 These became the basis for re-drawing the map of the western portion of the Fertile Crescent some forty years later. IV – At the Cairo Conference in 1921, Winston Churchill, then Colonial Secretary (assisted by T.E. Lawrence of Arabia)82 was guided by the surveys of the Palestine Exploration Fund, west of the Jordan in working out the boundaries of Mandate Palestine and later of the State of Israel.83 East of the River became the Emirate of Trans-Jordan. V – Trans-Jordan, the Emirate, became later the Hashemite Kingdom of Jordan, whose ruler is a descendant of the Prophet Muhammad. Its Christian character, however, has been retrieved archaeologically by the efforts of the Studium Biblicum Franciscanum in Jerusalem and the Department of Antiquities promotes tourism in the country by advertising its Christian character, especially the baptism of Jesus in Trans-Jordan now west of it. Thus the character of Trans-Jordan, as part of the Holy Land, has not been consigned to oblivion; and Islam accepts Jesus as a most revered figure in the Qur’an.

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The same that oft-times hath Charm’d magic casements, opening on the foam Of perilous seas, in faery lands forlorn. See Khalid al-Awaisi, Mapping Islamic Jerusalem: A Rediscovery of Geographical Boundaries, Dundee 2007, esp. 64–77. For the work of the Palestine Exploration Fund, see Neil A. Silberman, Digging for God and Country, New York 1982, index s.v. I should like to thank E. D. Corbett warmly for drawing my attention to the Surveys of the Palestine Exploration Fund and to their relevance to the Cairo Conference of 1921. Who had worked with the Palestine Exploration Fund, for which, see Silberman, Digging, 190f. According to Nadia Abu al-Haj, Archaeological Practice and Territorial Self–Fashioning in Israeli Society, Chicago 2001, 28, and before her Silberman, ibid., 123.

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Reflections on Religious and Cultural Identity of St. Thomas Christians in India His Holyness Baselios Marthoma Paulose II. Greetings to the Honourable Members of the Faculty of the University of Göttingen, Research Scholars, Students and the distinguished guests, in the name of the blessed Holy Trinity. At the outset, we would like to thank Prof. Martin Tamcke and his colleagues in organizing this august Meeting.1 We consider this as a great honour you bestow to the St. Thomas Christians in India. We have a common term in use in our vernacular language to propose what we call the “religious and cultural identity of the St. Thomas Christians”, which is Marthomayude Margam. This could be translated as the “Way of St. Thomas”. The “Way” as we know is synonymous to the nomenclature – “Christianity” or “Christian Religion”. The reference of Margam certainly dates back to the pre-medieval times. The Acts and Decrees of the Synod of Diamper of 1599, refer to the prevailing Christianity in the Malabar Region of India as 1

Im Oktober 2017 trafen sich die Patriarchen der orientalisch-orthodoxen Kirchen und ihre Delegationen mit der EKD zu einem Dialog und einem gemeinsamen Fürbittgebet im Berliner Dom. Im Anschluss gab es an der Georg-August-Universität Göttingen zwei gesonderte Tagungen (eine mit Vertretern der Indischen Orthodoxen Kirche und eine mit der Koptischen Orthodoxen Kirche). Einer der Höhepunkte der Tagung in Göttingen war die Rede des indisch-orthodoxen Katholikos des Ostens, zugleich Malankara-Metropolit, des Oberhauptes der Indischen Orthodoxen Kirche, seine Heiligkeit Baselios Marthoma Paulose II. Der Katholikos wurde von einer größeren, hochrangigen Delegation nach Deutschland begleitet und musste des sich nahenden Todes einer seiner Metropoliten wegen vorzeitig nach Indien zurückreisen. Das Programm der Delegation wurde aber nicht geändert. Metropolit Zachariah Mar Nicholovos (Diözese von Nordostamerika) leitete die Delegation und verlas die Rede beim Festakt im Hörsaal der Theologischen Fakultät. Er ist der Präsident des Departments für ökumenische Beziehungen der Indischen Orthodoxen Kirche. Der frühere Principal des orthodoxen Seminars in Kottayam und derzeitig als Professor an der Mahatma-Gandhi-Universität in Kottayam lehrende Fr. Dr. K. M. George war nicht zum ersten Mal in Göttingen und ist ein langjähriger Freund Martin Tamckes noch aus seiner Zeit als Dozent für orthodoxe Theologie in Bossey in der Schweiz. Er gehört zu den international besonders respektierten Ökumenikern seiner Kirche und war lange Zeit Moderator des Programmkomitees des Weltkirchenrates. Fr. Aswin Zefrin Fernandis ist Protokollssekretär des Katholikos und ein bedeutender Ikonenmaler, Fr. Abraham Thomas hat das Amt des Sekretärs des Departments für ökumenische Beziehungen inne. Er übergab beim Festakt zwei Bände des alten Liturgiebuches seiner Kirche an das Göttinger Institut. Prof. Dr. Joseph Varghese, der in Göttingen studiert hat, gehört zum Leitungsgremium des Orthodoxen Seminars in Kottayam und hatte wesentlichen Anteil am erfolgreichen Verlauf der dreitägigen Tagung in Göttingen. Während des Festaktes in der Göttinger Fakultät wurde der Katholikos vom Institut für Ökumenische Theologie mit dem Nikolai-und-WladimirLossky-Orden für seine Verdienste um die Ökumene ausgezeichnet.

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Baselios Marthoma Paulose II.

Marthomayude Margam. We would like to highlight a few aspects reflecting the religious and cultural identity of the Margam.

Dialogue of Life In my primary school days, among little children, we used to play a wonderful game. In my vernacular language, the game was named as Unni-choru-vechu kali, which literally means, “little children’s game of preparing rice”. This is played out over the summer vacation. All the children in the neighbourhood will gather together under a tree. The group will be counted as one family. A father and mother will be selected among them. The rest of the children will be considered as the little ones of the family. Every single child will be bringing his or her little share of different raw foods and whatever household utensils they could. Under the leadership of the selected “father and mother” of the family, gruel and little sidedishes will be prepared. And, finally, when everything is ready, all of us will sit down under the tree and share the food, as if we are one big family. This game has contributed a lot to the happiness of our innocent childhood. I grew up in a village where we have people of all the major religions of South India. And in our group, we had children from all these religions. We never felt any difference between us. We were certainly aware that we were from different religions. Yet, we felt that we are one family. This “dialogue of life” is my humble foundation that I have received from my parents. My parents, who were born and brought up in the colonial India, well before the Second World War, well rooted in the St. Thomas Christian Tradition, did uphold this ‘dialogue of life’. We have been brought up in a culture where the preservation of identity was significant, but it was never meant to be a tool in having hatred to people of another faith or tradition. It never became a destructive catalyst in dishonouring the “dialogue of life”. Alongside of this, my mother, who is my first spiritual guide in my life, like any of us, taught me to read the Holy Bible. My mother was my first biblical interpreter. She used to present the Gospel events as if they are happening in our life time. I would like to recollect one of the Gospel stories on how she taught me. It was the story of the centurion whose servant was healed by our Lord. She read the testimony of the Jewish elders of the neighbourhood as “He is worthy of having you do this for him, for he loves our people, and it is he who built our synagogue for us.” (St. Luke 7:4f). And then she said: “We once had a Hindu ruler like this centurion, who gave the St. Thomas Christians a Hindu Temple, to be converted to a church. And our forefathers consecrated and dedicated this temple as a church in the blessed name of the child martyr, St. Kuriakos.” Words are hardly enough to explain how powerfully this message of generosity and harmony got into my heart. Dear friends, I am not here to idolize our past or to inflate our St. Thomas Christian identity. We certainly have our own flipsides as well. But I would like to spread the good news of peace and harmony our St. Thomas Tradition has instilled in us. Truth sometimes hurts. But time has its own good techniques of healing. Before the colonial times the St. Thomas Christians were one single community. After the 16th century we had factional multiplications. Now St. Thomas Christians are spread across, at least, in seven denominations. We have denominations covering the Catholic, Orthodox and

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Religious and Cultural Identity

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Protestant traditions. Thank God, after long centuries of division, in the 1980’s we started building up a common platform shared by all the denominations of the St. Thomas traditions. At Nilakkal, a place where St. Thomas, the Apostle is believed to have founded a church, the Church’s together founded a church, which is a common place of worship for all the denominations. This is a symbol and common witness of the unity of the St. Thomas Christians in India. (So far, we are not aware of a common worshipping place in the world, except for Nilakkal, where the Protestants, Orthodox and Catholic traditions share the same place of worship). We believe that this “dialogue of life” in itself speaks on the dynamism of the religiosity and the culture of the St. Thomas Christians.

Cultural and Inter-religious Interactions: A Brief Reflection It will be easier for me to reflect on the cultural and inter-religious interactions of the St. Thomas Christians based on something physically possessed in our treasury from the past. We are referring to the Tharisapalli Cheped, otherwise referred to as Tharisapalli Copper Plates. These are “copper plate grants” issued by the King of Quilon called Ayyanadikal Thiruvadikal in C.E. 849, to the St. Thomas Christians of the Malabar Coast. This refers to the gift of a plot of land and an array of privileges and rights given to the St. Thomas Christians. As early as 1800’s the scholarly world has shown interest in this prime possession. In the first decade of 1800’s Claudius Buchanan of the Church Missionary Society made a copy of these plates to hand it over the Cambridge University. And thereafter several serious studies have been made over this. Thanks to Dr Elizabeth Lambourn, the Reader of De Montfort University, Leicester, UK, who in the recent years (2012) has initiated an intense research on the maritime history and the commercial networks in the Indian Ocean and the southern coast of India. This research initiative has brought an added interest in the scholarly studies of the Copper Plates. According to the transcription of Rev. Herman Gundert this has been issued by the local ruler with the concurrence of the King of (Venadu) Travancore. Again, according to him, the Anjuvannam and Manigramam, which are the Jewish and Christian dynasties “are being appointed joint protectors of the land and the Church endowed”. All the scholarly transcriptions and academic interpretations thereafter point towards the fact that the issuance of the plates and reservation of the privileges show the “cultural symbiosis” of the St. Thomas Christians of the Malabar Coast. Personally I would like to highlight, not on the privileges enjoyed by the St. Thomas Christians in the past centuries; but I would rather wish to emphasize on the interdependencies and inculturation of the community. It is a proven fact that before the colonial interventions the nature of the St. Thomas Christians was more indigenized. This has been clearly attested by the Acts and Decrees of the Synod of Diamper as well.

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Baselios Marthoma Paulose II.

Retention of the Identity and the Quest for Freedom As I have already mentioned the preservation of the identity does not have the connotation of a judgmental attitude to any other parallel traditions. In order to refer to the quest for identity and freedom of the St. Thomas Christians, again, as Head of the Church I would like to refer to another priceless document that our Church is in possession of. In C.E. 1806, one of our main parishes in the northern region published a pledge which is now referred to as Aarthat Padiyola. The content is something that came out of their bitter experience of subjugation from Rome which resulted in the division of St. Thomas Christians. This was signed by 12 lay leaders and the main priest of the Parish, to submit it to our predecessor Mar Dionysius I (+1808). The document clearly refers to the agonies caused by the division by the intervention of the Roman Church. Further to this, a pledge is made on becoming cautious for the future on any possible physical interventions from “Rome, Babylon or Antioch”. The original of this is an inscription on thin brass plate, which is now kept in our treasury. As we all could agree the ecclesiology of the Orthodox Church affirms the significance of national identity and autocephaly. These aspects are not contradictory to the possible common witnesses or the acknowledgements of the primacy of honours. Our forefathers valued their freedom. And, in all Christian spirit we value it too, while wholeheartedly acknowledging the significance of fraternal relations.

Acknowledgements on Some Extraordinary Interactions We would like to spell out a few acknowledgements on the mission of help received by the St. Thomas Christians. We have been hugely supported by the Anglican and CMS Missionaries. The linguistic and philological contributions of renowned German luminaries of which I would like to specifically mention on the contributions of Arnos Pathiri (Johann Ernst Hanxleden SJ (1681–1732) and Dr. Hermann Gundert (1814–1893) are substantial. Both of them have contributed to our language tremendously, of which St. Thomas Christians are huge beneficiaries. (On a lighter note, it is Dr. Gundert who introduced punctuation marks, especially “full stop” in our language. We are sometimes in the habit of talking more, hence ‘finding full-stop’ sounds to be more symbolic for us). Again, interestingly I wish to bring to your notice a gift one of our predecessors received in 1808. The gift in reference is a gold medal of a little less than nine sovereigns given by Dr. Claudius Buchanan to our Parish in Kunnamkulam. What fascinates me is the German inscription on it Unserer Tauff Vorbild ist Deine Tauff Herr Jesus Christus which reads in English as Thy Baptism, Oh Lord Christ if the prototype of our own Baptism. It has been recorded in Dr. Buchanan’s memoirs: “The medal which I presented to them was that which Mrs. J gave me before I left Calcutta. It is about three times as large as a college gold medal and exhibits the baptism of Jesus in Jordan elegantly executed and on the reverse a child brought to be baptized. I placed it on the altar in the presence of the peo-

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Religious and Cultural Identity

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ple with due solemnity and beside it a gift to the poor.” In the translation of the Holy Bible to the vernacular Malayalam, the CMS Missionaries were of great support to the local translators.

Conclusion The St. Thomas Christians had been supported well by the rulers of the land in the past. We have never faced any organized persecution from the rulers of our nation. (Having said this, we take this opportunity to express our heartfelt prayers and our solidarity with the persecuted Churches of the present time. We, as a Church, are in constant touch with the Coptic and Syriac Orthodox Patriarchs in expressing our Church’s prayerful support. We do pray and hope that peace will prevail in the affected regions and that terrorism will come to an end). We take this occasion in profusely thanking our host Prof. Martin Tamcke and his team. From our Professors and Teachers who visit Göttingen we have heard a lot about Prof. Tamcke and his students. Your interest in Oriental and intercultural theologies has become beneficial to several particular traditions in knowing themselves. It will not be an exaggeration if I say that, our students have been benefitted much by the visits of your research scholars to India. Our doors are always open to you. We would be most glad to welcome you and your students to our Church and our institutions for co-operative study and research programs. May the love, grace and communion of the Father, Son and Holy Spirit, one True God, be with you all, now and forever. Amen.

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