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German Pages 166 [168] Year 2014
Klaus Lüderssen Produktive Spiegelungen III Recht im künstlerischen Kontext Juristische Zeitgeschichte Abteilung 6, Band 43
Juristische Zeitgeschichte Hrsg. von Prof. Dr. Dr. Thomas Vormbaum (FernUniversität in Hagen)
Abteilung 6: Recht in der Kunst – Kunst im Recht Mithrsg. Prof. Dr. Gunter Reiß (Universität Münster) Band 43 Redaktion: Katharina Kühne
De Gruyter
Klaus Lüderssen
Produktive Spiegelungen III Recht im künstlerischen Kontext
De Gruyter
ISBN 978-3-11-037259-5 e-ISBN 978-3-11-036681-5
Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar. © 2014 Walter de Gruyter GmbH, Berlin/Boston Abbildung auf dem Schutzumschlag: Ausschnitt aus: „La maison de verre“ von René Magritte Druck: Hubert & Co. GmbH & Co. KG, Göttingen ∞ Gedruckt auf säurefreiem Papier Printed in Germany www.degruyter.com
Vorwort Die Themen dieser Sammlung von Aufsätzen können nicht beanspruchen, durchweg einen Bezug zum Recht herzustellen. Die Trennung der Sphären war schon bisher schwer genug, das Universelle am Recht reicht überall hin, je nachdem, wie man es definiert, und so sind Texte aufgenommen worden, die auch auf den zweiten und dritten Blick mit dem Recht nichts zu tun zu haben scheinen. Die fließenden Übergänge sind weiterhin der Grund, weshalb ich dieses Mal die Texte nicht in verschiedene Sachgebiete aufgeteilt habe. Vielmehr sind sie chronologisch angeordnet. Je nach Anlass weichen auch in diesem Band die Formen voneinander ab, und wiederum habe ich darauf verzichtet, dort, wo zunächst keine Belege vorgesehen waren, sie nachträglich einzufügen. Thomas Vormbaum danke ich für die Aufnahme in die Schriftenreihe, Frau Anne Gipperich für die verlässliche Arbeit an den Manuskripten. Frankfurt/Main, im März 2014
Klaus Lüderssen
Inhalt Vorwort .............................................................................................................V 1.
Aufklärung zwischen Revolution und Restauration Joseph v. Eichendorff (1788–1857) als Jurist ........................................... 1
2.
Shakespeare oder „Die Erfindung des gewaltempfindlichen Gewissens“ ..... 5
3.
Konsequente Inkonsequenzen in Recht und Literatur? ........................... 15
4.
Jenny Lind und Fontane Eine Anmerkung zur Geschichte der Kunstreligion ................................ 47
5.
Die Wunde Wagner ................................................................................. 51
6.
Das Furchtbare erkennen. Über Jonathan Littell, „Die Wohlgesinnten“.... 57
7.
Duell und Selbsttötung bei Theodor Fontane.......................................... 61
8.
Von der Bankrotterklärung des Rechts. Kleists Neigung „zu lastender Rechtsproblematik“ (Thomas Mann)................................ 81
9.
„Auf ein tüchtiges Element in der Brust des Mordbrenners bauend“ Anmerkungen zu Kleists „Michael Kohlhaas“........................................ 87
10. Geheimnisse der Jurisprudenz im Vatikan. Nachwort zu „Audienz in Rom“ von Tadeusz Breza ............................. 107 11. Die Demokratie – „The greasy Pole“? – Ein Lehrstück aus „Yes Minister“......................................................... 115 12. Schillers Theodizee und das Schuldstrafrecht ....................................... 121 13. Schiller und das Recht – neue Perspektiven.......................................... 131 14. Das Kunstwahre im Film Käutner revisited .......................................... 135 15. Vom „Foul“ zur Regel .......................................................................... 141
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Inhalt
16. Die Ungleichzeitigkeit des Gleichzeitigen. Goethe, Zacharias Werner und Fontane – eine kleine Nachlese zu Safranskis Goethe-Biographie ..... 143 Fundstellenverzeichnis.................................................................................. 147
1.
Aufklärung zwischen Revolution und Restauration Joseph v. Eichendorff (1788–1857) als Jurist Wenn ein Schriftsteller oder Dichter gleichzeitig, oder vielleicht sogar in erster Linie eine juristische Tätigkeit ausübt, möchte man gern wissen, wie das zusammen geht. Die tiefe Prosa des Rechtslebens muss da ein Fremdkörper sein. Diese Intuition liegt nahe, entspricht aber nicht der Realität. Der Wirklichkeitsbezug der Schriftsteller ist weiter und intensiver als der Laie sich das vorstellt. Wenig wird erfunden. Einen stimmigen Sachverhalt aus der unendlichen Masse chaotisch zusammenströmender Details zu formulieren, lernt der Jurist schon im Studium, und dem Dichter in ihm kommt das gegebenenfalls zugute. Es sind Zufälle, oder auch die Notwendigkeit des „Brotberufs“, die einen Menschen, der Romane oder Verse schreiben möchte oder Theaterstükke, in den juristischen Beruf treiben – so war das früher, jedenfalls ganz sicher noch zu Eichendorffs Zeiten, dessen 150. Todestag sich demnächst jährt. Er wäre lieber Gutsbesitzer gewesen, musste aber studieren und Jurist werden, weil der Bankrott des väterlichen Besitzes bevorstand. In Preußen galt seinerzeit freilich noch ein wenig die Devise, dass ein gebildeter Beamter ein besonders guter Beamter sei, nicht nur dem Ansehen des Staates förderlich, sondern auch in der Sache effektiver. Bei Licht besehen war das wohl eher ein Ideal weniger Leute und vor allem der Schriftsteller selbst; es ist bekannt, dass Kleist seine Ideen eines wirklich freien Preußen gern in einer Stellung, die ihm sein Land aber verweigerte, verwirklicht hätte. Eichendorff kam einigermaßen durch, doch seine Existenz als Beamter blieb durchschnittlich, unauffällig. Am Schluss war er „Geheimer Regierungsrat“ und lebte in Berlin. Die politischen Schriften hingegen, die er im Zusammenhang mit seiner amtlichen Tätigkeit verfasst hat, lassen aufmerken. Sie offenbaren eine Konzeption von Staat und Gesellschaft, die eine interessante Mischung zwischen Revolution, Restauration und ruhigem aufgeklärt-bürgerlichen Fortschritt ergibt. Deshalb lohnt es sich, auch bei Eichendorff nach dem genaueren Verhältnis zwischen Jurisprudenz und Literatur zu fragen. Manche Autoren haben das in der Vergangenheit sogar mit Blick auf seine Romane für sinnvoll gehalten. Indessen ist das eher gewissermaßen aus gutem
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Aufklärung zwischen Revolution und Restauration
Willen geschehen, und Ausdruck einer Konvention, die spätestens mit Goethe beginnt, dann Konjunktur bekommt etwa bei der Beschäftigung mit Grillparzer, E.T.A. Hoffmann und Heine. In dem berühmten Werk eines angesehenen Rechtshistorikers, Eugen Wohlhaupter, ist das alles seit einem guten halben Jahrhundert nachzulesen. Mit „Dichterjuristen“ sind diese drei Bände überschrieben, und man bekommt dort alle „Anknüpfungstatsachen“ gleichsam bequem aufgetischt. Gleichwohl: Selbst die Absicht, aus der Erzählung Schloß Durande auf eine ähnliche Weise Funken zu schlagen wie aus Kleists Michael Kohlhaas, musste fehl gehen. Schloß Durande ist eine romantische Erzählung darüber, wie ein junger Mann an der Macht scheitert und untergeht. In Kleists Kohlhaas indessen werden ganz scharf abgezirkelte, distinkte Rechtspositionen nacheinander aufbereitet, erörtert, miteinander abgewogen und zu provozierenden Konsequenzen entwickelt, über die die Nachwelt dann, wie man weiß, die unterschiedlichsten Urteile gefällt hat. Und mit den übrigen Geschichten oder den Gedichten Eichendorffs ist für unser Thema erst recht nichts anzufangen. Gelegentlich wird von der Literaturwissenschaft das Experiment gemacht, in den Sätzen des Rechts literarische Modelle zu suchen. Traditionell bezieht sich das eher auf die Anfänge von Rechtsordnungen, vielleicht sogar nur auf Rechtsmythen. Moderne Rechtstheoretiker beginnen – in einer Neigung, Wissenschaft und Erzählen ineinander fließen zu lassen (nach dem Vorbild des amerikanischen Historikers Hayden White) – neue Verwandtschaften zwischen Rechtstexten und literarischen Texten zu etablieren. Doch selbst sie werden bei Eichendorff nicht fündig. Bleiben also seine politischen Schriften. Hier kann man nun in der Tat viel entdecken. Die Abgeklärtheit, mit der Eichendorff gleichzeitig die Gräuel der Französischen Revolution und der Demagogenverfolgung beobachtete, setzte ihn in den Stand, Entwicklungen des gesellschaftlichen und rechtlichen Lebens präziser zu diagnostizieren als es manche juristische Zeitgenossen vermochten. Die „Tyrannei der Vernunft“ war abzulehnen, aber ein lammfrommer Quietismus des Lebens in der Geschichte ebenso. Es ging Eichendorff vor allem darum, Individualität und Freiheit in einem wechselseitigen Abhängigkeitsverhältnis zu begreifen und das seine zu tun, diesen Tatbestand in der komplexen Gemengelage von Ideen, politischen Umwälzungen, neuen Regierungsformen etc. sichtbar zu machen. Er konnte deshalb einen Gegensatz relativieren, den Rechtshistoriker bis auf den heutigen Tag für unüberbrückbar halten: Gesetzgebung oder langsam wirkender „Volksgeist“. Diese Dichotomie ist mit zwei berühmten Namen verbunden, Anton Friedrich Justus Thibaut auf der einen Seite, Friedrich Carl von Savigny auf der anderen. Eichendorff kannte und
Joseph v. Eichendorff (1788–1857) als Jurist
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schätzte sie beide und sah in ihrem Zusammenwirken eine wichtige Quelle für die zu mobilisierenden Erkenntnisse der Zukunft. Dass er dabei unter dem Einfluss katholisch-konservativer Staatsdenker wie Joseph Görres und Adam Müller stand, stört dieses Bild kaum, denn er hatte – da kam ihm auch seine aristokratische Abkunft und seine dementsprechend großzügig verbrachte Jugend zustatten – ein eher ästhetisches Verhältnis zur Religion. Freilich passte das zur Stimmung der ganzen Romantik. In der Gegenwart fallen einem dazu Autoren wie Evelyn Waugh und Graham Greene ein. Eichendorff sah im übrigen in dem Widerstand der katholischen Kirche gegen den sich seiner säkularisierten Überlegenheit immer stärker bewusst werdenden Staat (den Bismarck’schen Kulturkampf konnte er freilich kaum vorausahnen) einen zu verteidigenden Hort privater Freiheit. Für einen Betrachter der jüngeren deutschen Rechtsgeschichte erschließt sich auf diese Weise ein Material, das die inzwischen etablierte Verbindung von Rechtsgeschichte und Rechtssoziologie nachträglich belegt. Als sich nämlich am Ende des 19. Jahrhunderts doch diejenigen durchgesetzt hatten, die dafür waren, die gewachsene Vernunft in Gesetze zu packen – sichtbarstes Ergebnis das Bürgerliche Gesetzbuch (BGB) – machte sich bald ein Überdruss an zu viel Logik und System bemerkbar. Neue Impulse des Rechtsgefühls waren im Fin de Siècle aufgekommen und hatten eine Parallele in der Kunst, etwa des beginnenden Expressionismus der Malerei. Die so genannte Freirechtsbewegung entstand, die darauf setzte, dass der Richter seine Entscheidungen nicht aus vorgegebenen Prinzipien ableiten, sondern unmittelbar der Situation Rechnung tragen, den Bedürfnissen, die in einem Rechtsfall hervor traten, folgen sollte. Da es dabei nicht um Erfindungen ging, sondern um mit den Verhältnissen und gesellschaftlich-staatlichen Strukturen genetisch Verbundenes, griffen die Vertreter dieser neuen Schule auf die Rechtsgeschichte zurück und entdeckten dabei viele Berührungspunkte. „Savigny und der Modernismus im Recht“ war eine bald zu hörende Parole, und einer der Begründer jener Freirechtsbewegung, der Cernowitzer Rechtssoziologe Eugen Ehrlich, rief den wichtigsten Vertreter der Historischen Rechtsschule, Savigny, förmlich zum Zeugen auf für das, was ihm als verbindliche Rechtswirklichkeit vorschwebte. Diese Assoziationen existierten über die Jahrzehnte hinweg eigentlich immer nur in den Fußnoten. Für eine vitale Integration fehlte der Impetus. Das lag zum Teil auch daran, dass die Freirechtsbewegung nicht populär wurde, zu vieles hatte sie in Frage gestellt, außerdem reformierte sich die begriffliche, systemorientierte Jurisprudenz, und es entstand die so genannte Interessenjurisprudenz. Revolutionäre Konzepte werden ja häufig von einer Art Reform aufgesogen, unter Abzug der im „Zeitgeist“ geschuldeter Übertreibungen.
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Aufklärung zwischen Revolution und Restauration
Wer aber buchstäblich sehen möchte, wie diese Kombination von Historischer Rechtsschule und Freirechtsbewegung funktionieren könnte, kann bei Eichendorff nachlesen, der sie in bewunderungswürdiger Weise antizipiert hat. Die Gesetzgebungsanalysen, die er beispielsweise in seinen Arbeiten über die Preußische Verfassung vornimmt, atmen diesen Geist1. Eichendorff nennt auch die Gründe, die seine Epoche daran gehindert habe, die erstrebte Synthese zu vollziehen: „Die breite, schwere Masse der Kant’schen Orthodoxen und der Stockjuristen ... sämtlich von dem wohlfeilen Kunststück vornehmen Ignorierens fleißig Gebrauch machend“, war im Wege. Diese Erstarrung erreichte ihren Höhepunkt in der Verabsolutierung des um die Mitte des 19. Jahrhunderts erreichten Standes der systematischen Erfassung des geltenden Römischen Rechts. Dass Savigny diese Dogmatisierung nicht gewollt hat, stand Eichendorff klarer vor Augen als späteren Juristengenerationen. Außerdem waren ihm die europäischen Wurzeln seiner Überzeugungen ganz selbstverständlich, während die Rechtsprofessoren das erst im 20. Jahrhundert deutlich formulierten. Wir haben also Gründe genug, aus Eichendorffs historischsoziologischen Einsichten für die juristische Begriffswelt der Gegenwart Nutzen zu ziehen.
1
Einzelheiten bei Klaus Lüderssen, Eichendorff und das Recht, Frankfurt am Main 2007, S. 58 ff.
2.
Shakespeare oder „Die Erfindung des gewaltempfindlichen Gewissens“ Der Wunsch der Hamburger Kollegen, ich möge – mit Bezug auf Hamburg – etwas über Recht und Literatur sagen, weckt natürlich zunächst die Erinnerung an Eberhard Schmidhäuser, der für eine ganze Generation Hamburger Strafrechtslehrer in der zweiten Hälfte des vorigen Jahrhunderts steht und sich während dieser Zeit intensiv und breit gestreut um das Thema Recht und Literatur gekümmert hat. Seine Essays über Verbrechen und Strafe sind mit dem Untertitel „Ein Streifzug durch die Weltliteratur von Sophokles bis Dürrenmatt“ vor einem guten Dutzend Jahren in einem schönen Band bei C.H. Beck erschienen1. Eberhard Schmidhäusers sei hier also ausdrücklich und mit Verehrung gedacht. Was die Literatur selbst angeht, so bin ich bald auf Lessing gestoßen, für den die Stadt am Gänsemarkt ein Denkmal aufgestellt hat und den die Hamburger, wie mir viele versichert haben, als einen der ihren betrachten. „Nathan der Weise“, aber auch „Emilia Galotti“, „Minna von Barnhelm“ oder „Miss Sara Sampson“ laden sicher zu einer Art rechtlich-moralischer Durchdringung ein, aber nicht so entschieden wie etwa die Schiller’schen Stücke. Doch selbst wenn es so wäre, man kennt das Muster. Und dann würde ja bei aller Verehrung für Lessing noch etwas fehlen für diesen kleinen Vortrag, nämlich die Verbindung mit dem Thema unserer Tagung „Strafrecht, Naturwissenschaften und technologische Entwicklungen“.
A Lassen Sie mich dabei einen Augenblick bleiben Eigentlich ist das ein Gegensatz – das Strafrecht ist normativ, wie soll es mit Technik und sonstiger Naturwissenschaft zusammen kommen? Wie sollen überhaupt Geisteswissenschaften und Naturwissenschaften zusammen kommen? Die Dichotomie von Erklären und Verstehen fällt einem ein, kulminierend in dem verzweifelten Versuch Diltheys, am Ende des 19. Jahrhunderts, 1
München 1995.
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Shakespeare oder
durch die Beschwörung der Hermeneutik die Autonomie der Geisteswissenschaften zu retten. Die gestrigen Vorträge und der heutige Vortrag haben zwar gezeigt, wie viel Neues man auch jetzt wieder durch die Naturwissenschaften wissen soll für die Produktion und Anwendung von Strafrecht, aber es gibt ganz viel, was man eben nach wie vor nicht wissen kann, vielleicht nie wissen wird oder am Ende auch nicht wissen sollte. Wie frei ist man also heutzutage im Umgang mit dem nicht-naturwissenschaftlichen Wissen? So lange Religion und höhere Vernunft diese Lücke füllen konnten, gab es insoweit keine Probleme. Aber in dem Maße, wie naturwissenschaftliche Erkenntnisse wachsen und präziser werden, schwindet der gute Wille, es mit dem Rest metaphysisch zu versuchen, und so müssen wir mit der Wahrnehmung leben, dass im Laufe der Jahrhunderte neue Erkenntnisgewinne immer häufiger neue Gewissheitsverluste auslösen. Die Folgen für die Rechtswelt sind, dass sie immer sensibler wird für die Legitimationsprobleme des Positivismus. Gegenwärtig oszillieren diese – im Rahmen der fast überall etablierten Verfassungen – zwischen Dezision und Konsens und – wissenschaftstheoretisch – zwischen Konstruktion und Dekonstruktion. Begonnen aber haben diese Legitimationsprobleme in der Renaissance, als der erste große Anlauf der Naturwissenschaften den weltlichen Gewalten ihre kosmologisch verbürgte Sicherheit nahm und deshalb die Lehre von der Souveränität des Staates aufkam. Der Staat musste sich nunmehr absolut legitimieren. Das war viel aufwendiger als die bis dahin zuständige Theologie. Es bedurfte einer Theorie der Staatsraison, die Niccolò Machiavelli mit dem Resultat konkretisierte, dass die Herrscher auf einer neuen Basis der Machtphilosophie wieder ein gutes Gewissen haben durften. Wobei aber? Natürlich bei der Anwendung von Gewalt, die sich ja nicht mehr von selbst verstand. Der nächstliegende Gedanke war daher, Gewalt sei nötig, um Gewaltanwendung zu verhindern. Freilich sofort etwas paradox.
B Und dies ist nun die Stelle, wo die Literatur auftaucht. Schriftsteller melden sich ja – vielleicht instinktiv, vielleicht aber auch, weil (wie übrigens schon Lessing bemerkt hat) das „Auge des Künstlers größtenteils viel scharfsichtiger ist als das scharfsichtigste seiner Betrachter“2 – dann, wenn Wissenschaft und Politik scheitern.
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Hamburgische Dramaturgie, Dreiundsiebzigstes Stück, den 12. Januar 1768.
„Die Erfindung des gewaltempfindlichen Gewissens“
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Ein Entrée, das die Literatur in die uns jetzt interessierende Epoche der frühen Neuzeit gewährt, sieht so aus: „Shakespeare oder Die Erfindung des gewaltempfindlichen Gewissens“.
I. Das klingt anders als die Abfolge der dürren Anweisungen Machiavellis. Doch wer sagt es? Es sagt das der Hamburger Literaturwissenschaftler Jan Philipp Reemtsma in seinem voriges Jahr erschienenen Buch über Vertrauen und Gewalt, mit dem Untertitel Versuch über eine besondere Konstellation der Moderne3. Die Literatur spricht hier durch die Literaturwissenschaft. Mit „Recht und Literatur“ sind natürlich auch Rechtsw i s s e n s c h a f t und Literaturw i s s e n s c h a f t gemeint. Man denkt dabei vorerst an die literarische und juristische Hermeneutik. Dann aber auch an die Reflexion über das, was man narrative Argumentation nennen könnte4. Vielleicht wird das im folgenden anschaulich. Reemtsma zeigt – mit Shakespeare – wie das von des Gedankens Blässe gestörte Gewaltkalkül des Herrschers aussieht, eingedenk wohl der Warnung (auch sie stammt von Lessing), dass man Shakespeare studieren müsse, nicht plündern dürfe5. Das versteht sich keineswegs von selbst. Gerade Literaturwissenschaftler weisen uns Juristen immer wieder darauf hin, dass die Literatur keine Quelle sei für die Weisheiten und Erfahrungen, nach denen wir bei der Lösung unserer Probleme suchen; die Autonomie der ästhetischen Dimension verwehre uns den Eintritt in das Reich der Literatur (so mit Nachdruck der Herausgeber des MERKUR, Karl Heinz Bohrer vor gut einem Jahr in seiner eigenen Zeitschrift6, und in diesen Tagen erneut in seinem gerade bei Hanser erschienenen Buch über das Tragische7). Mit der Wirklichkeit habe die Literatur gar nichts zu tun, betont Bohrer, man müsse sie bewahren vor dem unzulässigen Zugriff im Namen einer sich anspruchsvoll gebärdenden allgemeinen Kulturwissenschaft. Andererseits haben wir inzwischen auch eine Art realistische Richtung in der gegenwärtigen Literaturwissenschaft (die den linguistischen, pragmatischen, hermeneutischen und kulturellen Richtungen Konkurrenz macht), 3 4 5 6 7
Hamburg 2008, S. 233. Dazu Klaus Lüderssen, Produktive Spiegelungen, Band 1, 2. Auflage, 2002, S. 66 ff. Hamburgische Dramaturgie aaO. Literatur oder Wirklichkeit. Die Flucht der Literaturwissenschaft vor der Kunst, Merkur (685) 2006, S. 425 ff. München 2009.
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Shakespeare oder
wonach die Auffassung wieder an Boden gewinnt, „dass die Kunstwerke ... ihrerseits etwas beobachten: wirklich existierende Probleme wie Krankheit, Geldknappheiten, Unfälle, seelische Konflikte, Kriege, Glaubenskämpfe usw“8. Am Ende läuft es wohl auf so etwas hinaus wie eine durch Fiktion gesteigerte Realität9. Reemtsma freilich muss darüber nicht belehrt werden; er äußert sich sehr genau zu dieser Frage – und jetzt verdoppelt sich der Hamburger Bezug – in seiner Studie über „Lessing in Hamburg“10. Für Shakespeare heißt das: Reemtsma hat keine methodologischen Bedenken zu sagen, Shakespeare sei klüger als Machiavelli, er sei vor allem der bessere Analytiker der Macht11.
II. Dieser Bemerkung möchte ich ein wenig nachgehen. Shakespeare, fährt Reemtsma fort, „als Allegoriker verstehen zu wollen, wäre lachhaft,“12
und Reemtsma befindet sich dabei in der besten Gesellschaft, in der Gesellschaft von Karl Kraus, der verkündet: „Dort ist Kultur, wo die Gesetze des Staates paraphierte Shakespeare-Gedanken sind.“13
Reemtsma präsentiert nun die Figur Richard des Dritten als Beispiel für den überlegenen Realismus, mit dem Shakespeare die Machtpolitik der englischen Könige durchschaut. Richard der Dritte ist, wie Reemtsma es ausdrückt, „nicht nur einer der skrupellosesten von Shakespeares königlichen Mördern,“14
sondern – gerade deshalb, möchte man hinzufügen – auch einer, der „auf Legitimität besonders bedacht ist. Seine Mordpläne sind bestimmt von dynastischen Erwägungen, Absicherungen von Erbfolgen, dem Ausschalten von durch
8 9 10 11 12 13 14
Jochen Hörisch, Bedeutsamkeit, München 2008, S. 4. Lüderssen, Produktive Spiegelungen aaO. S. 19 ff. München 2008, S. 62. Vertrauen und Gewalt aaO., S. 242, s. auch schon S. 76. AaO., S. 12. Die Fackel 115 (September 1902); dazu Ekkehard Krippendorff, Politik in Shakespeares Dramen, Frankfurt am Main 1992, S. 9. Vertrauen und Gewalt aaO., S. 154.
„Die Erfindung des gewaltempfindlichen Gewissens“
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Regelsysteme legitimierten Konkurrenten, der Instrumentalisierung von Parla15 menten und Kirchen zur Machtergreifung.“
Richard der Dritte ist einer, fährt Reemtsma fort, „der die Legitimationsrhetorik perfekt beherrscht, das heißt, sogar jene rhetorischen Kunststücke, die darin bestehen, demjenigen, dem man etwas angetan hat, 16 zu versichern, das sei das Beste gewesen, was ihm hätte widerfahren können,“
und weiter: „‘Richard III.’ ist nicht nur das Textbuch für die taktisch erfolgreich eingesetzte Gewalttat, sondern auch für die Transformation von Ergebnissen von Gewalttaten 17 in institutionell abgesicherte Rechtsfolgen.“
Richard der Dritte mache, heißt es schließlich, „die Mechanismen deutlich [...], mit denen mörderische Regime Normalität, Amnestie und Amnesie wieder zu gewinnen in der Lage sind.“18
Etwas enigmatisch, zugegeben. Aber Reemtsma erklärt es uns, mit Max Weber zunächst. Die Herrschenden stellen einen Legitimationsanspruch nach unten, die Beherrschten adressieren einen Legitimationsglauben nach oben19. Aber wie wird, fragt Reemtsma weiter, „aus dieser (absurden) wechselseitigen Aufladung [...] ein Machtgewinn über andere?“20
Die Antwort ist, „dass das Komplementärverhältnis von Legitimationsanspruch und Legitimationsglauben antizipierend simuliert wird.“21
Damit gewinnt Reemtsma den Anschluss an Einsichten, die auch schon David Hume formuliert habe. Letztlich sei die „Zustimmung der Mehrheit zum Machtstatus der Minderheit die Grundlage der Macht.“22
Reemtsma freilich spitzt diesen Satz auf die hier offenbar werdende Paradoxie zu, dass nämlich 15 16 17 18 19 20 21 22
AaO. AaO. AaO. AaO. AaO., S. 158. AaO., S. 159. AaO., S. 159. AaO., S. 160.
10
Shakespeare oder „das konsensuelle Moment, ohne das Macht sich nicht entfalten kann, selbst als 23 Ausdruck von Macht zu verstehen sei.“
Das konnte Machiavelli nicht sagen; aber Reemtsma kann es, weil Shakespeare ihm mit den Mitteln der Kunst den Blick öffnet, und zwar nicht nur für das Verständnis der historischen Situation, sondern auch für die Deutung, wie Reemtsma sagt, unserer Moderne, die gekennzeichnet sei durch eine „prekäre Koexistenz von einem Vertrauen in ihre Gewaltarmut und der Faktizität 24 extremer Gewalttätigkeit.“
Reemtsmas Ergebnis ist: „Akzeptierte Legitimationsrhetoriken sind der Ausdruck eines intakten Zusammenspiels von Kontrolle, Imagination und Interaktion.“25
Er lässt uns nicht allein mit dieser fabelhaften Definition. Das ganze Buch dient ihrer Erläuterung. Aber i c h muss Sie jetzt damit allein lassen. Die Zeit reicht nur noch für ein paar Schlussfolgerungen.
III. Die während der sukzessiven Säkularisierung sich allmählich bildenden, durch die Wissenschaften nicht mehr auffüllbaren Gewissheitsverluste provozieren, wie Reemtsma schreibt, die „Idee, die Unsicherheit selbst als Fundament der ersehnten Sicherheit zu nehmen,“26
(wieder ein Paradoxon), und er findet, dass dieses „Descartes’sche System“ einer „der größten Geniestreiche der europäischen Geistesgeschichte“
sei. Politisch-psychologisch bedeutet das, dass „die Abkoppelung des frühbürgerlichen Subjekts aus religiösen [...] und familiären Ordnungsgefügen [...] ‘den Blick in die Abgründe des Menschen’“
freigibt – so lesen wir es bei dem Anglisten Klaus Reichert27.
23 24 25 26 27
AaO., S. 162. AaO., S. 270. AaO., S. 270. AaO., S. 207. Klaus Reichert, „‘Ich bin ich’. Auftritte neuer Formen des Bösen in der Frühen Neuzeit“, in: Ders., Der fremde Shakespeare, München 1998, S. 298–309 (299).
„Die Erfindung des gewaltempfindlichen Gewissens“
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Der Mensch, auf sich gestellt, kann also nicht nur das Größte leisten, sondern auch die schwerste Schuld auf sich laden. Für diese Seite des Menschen liefert Shakespeares Richard der Dritte einen eindrucksvollen Beleg. Eine berühmte Stelle. Reemtsma ruft sie uns in Erinnerung, und ich tue das jetzt auch: „Was fürcht’ ich denn? mich selbst? Sonst ist hier niemand. Richard liebt Richard: das heißt, Ich bin Ich. Ist hier ein Mörder? Nein. – Ja, ich bin hier. So flieh! – Wie? Vor mir selbst? Mit gutem Grund: Ich möchte rächen. Wie? mich an mir selbst? Ich liebe ja mich selbst. Wofür? für Gutes, Das je ich selbst hätt’ an mir selbst getan? O leider nein! Vielmehr hass’ ich mich selbst, Verhaßter Taten halb, durch mich verübt. Ich bin ein Schurke – doch ich lüg’, ich bin’s nicht. Tor, rede gut von dir! – Tor, schmeichle nicht! Hat mein Gewissen doch viel tausend Zungen, Und jede Zunge bringt verschied’nes Zeugnis, Und jedes Zeugnis straft mich einen Schurken, Meineid, Meineid, im allerhöchsten Grad, Mord, grauser Mord, im fürchterlichsten Grad, Jedwede Sünd’, in jedem Grad geübt, Stürmt an die Schranken, rufend: Schuldig! schuldig! Ich muß verzweifeln. – Kein Geschöpfe liebt mich, Und sterb’ ich, wird sich keine Seel’ erbarmen; Ja, warum sollten’s andre? Find’ ich selbst In mir doch kein Erbarmen mit mir selbst.“
Erneut ist es Lessing28, der – sich auf Texte dieser Art beziehend – den Abschied von den alten Dichtern einläutet, die „lieber die Schuld auf das Schicksal“
schieben und „das Verbrechen lieber zu einem Verhängnis einer rächenden Gottheit“
machen wollten, und damit „den freien Menschen in eine Maschine“ ...
verwandelten, „ehe sie uns bei der grässlichen Idee wollten verweilen lassen, dass der Mensch von Natur einer solchen Verderbnis fähig sei.“
Die Könige, die in den Shakespeare’schen Stücken auch dann grausam handeln, wenn dies für die Erreichung ihrer Zwecke eigentlich gar nicht erforderlich ist, tun dies nun also gleichsam auf eigene Rechnung. 28
Hamburger Dramaturgie, Vierundsiebzigstes Stück, 15. Januar 1768.
12
Shakespeare oder „Die Kennzeichnung ‘grausam’ wird daher zum ‘Delegitimierungsargument’,“29
folgert Reemtsma. Aber gleichzeitig, weil natürlich kein Herrscher dieses Argument akzeptieren will, entsteht eine neue, fatale Legitimationsrhetorik, auf die es, solange – im Mittelalter – die Macht noch unter dem christlich geprägten Recht stand, gar nicht angekommen wäre. Deshalb klagt Hamlet „Thus conscience does make cowards of us all.“
Ich zitiere den englischen Text, weil die deutsche Übersetzung (jedenfalls die von Schlegel / Tieck) „So macht Bewusstsein Feige aus uns allen.“
den Doppelsinn von Bewusstsein und/oder Gewissen – der hier die Pointe ist – unterschlägt. Shakespeare sieht dieses Problem sehr viel deutlicher, als Künstler eben, der – um mit Thomas Mann zu sprechen – „sich darauf versteht, dem Wirklichen eine poetische Gestalt zu geben und dem Erfundenen den Stempel der Wirklichkeit zu verleihen.“30
und so erschrickt Reemtsma förmlich31, wenn er Macbeth zitiert: „... Daß selbstgeschaffnes Grauen mich quält, ist Furcht des Neulings, dem die Übung fehlt.“
C Ich komme zum Schluss. Was hier im Sinne von Jean Paul Sartres Urteil, dass der Mensch zur Freiheit verdammt sei (eine moderne Version des Gewissheitsverlustes) bereits von Shakespeare mobilisiert worden ist, hat dreihundert Jahre später Hans Henny Jahnn – auch ein Hamburger – in seinem Theaterstück „Die Krönung Richards III.“ (das Werk eines Zweiundzwanzigjährigen) expressionistisch zu wilden Konsequenzen entwickelt. Man kann das so sehen. Man kann aber auch versöhnlicher umgehen mit den Aporien, in die uns die Literatur lockt, wenn wir sie – zwischen Erkenntnisgewinnen und Gewissheitsverlusten, wie gesagt, schwankend – erwartungsvoll befragen, und mit Reemtsma32 zunächst aus Lessings „Hamburger Dramaturgie“ die Summe ziehen: 29 30 31 32
Vertrauen und Gewalt aaO., S. 260. Lotte in Weimar (Thomas Mann, Große kommentierte Frankfurter Ausgabe, Band 9.1), S. 66. AaO., S. 253. Reemtsma, Lessing in Hamburg aaO., S. 59.
„Die Erfindung des gewaltempfindlichen Gewissens“
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„In ihr verbindet Lessing die Vorstellung einer auf Empathie gegründeten Moral mit der Einsicht in die Fragilität unseres Lebens.“
Reemtsma selbst aber findet die wunderbare Formulierung: „Das Träumerisch-Weltfremde mancher Wünsche zeigt den Grad des resignierenden Einverständnisses mit der Welt, in der man lebt.“33
Juristen können das, meine ich, getrost einmal in ihre Vorurteilsstrukturen aufnehmen. Es muss ja nicht immer alles gleich subsumtionsfähig sein.
33
Vertrauen und Gewalt aaO., S. 96.
3.
Konsequente Inkonsequenzen in Recht und Literatur?1 Spätestens durch Luhmanns lakonische Feststellungen ist der Begriff der Paradoxie auch den Juristen geläufig geworden. Was man bei unbefangener Betrachtung einfach für einen Widerspruch erklären möchte, wird zum Paradoxon heraufstilisiert und damit in eine Welt höherer, dem Anspruch logischer Arbeit entzogener Weisheitssphäre entrückt. Misstrauisch bemüht man sich, diesen Imaginationen auf den Grund zu gehen, und gerät dann leicht in die Stimmung, bei gehörigem Nachdenken und Berücksichtigung aller Tatsachen bleibe von den sogenannten Paradoxien nichts übrig, vielmehr seien die Widersprüche auf einer wenn auch entfernten höheren Ebene auflösbar. Auch unter rechtstheoretisch gut orientierten Juristen ist diese Meinung sehr verbreitet, man kann sie mit vielen Beispielen unterstützen. Wer aber erneut ganz genau hinsieht, erkennt doch Grenzen dieser Rationalisierung, schon beim praktischen Fortgang der Argumente, und in einem zweiten Anlauf wächst dann die Neigung, die große Literatur über Paradoxien, die Geschichte dieses Begriffes so ernst zu nehmen, wie sie das selbst tut. Nicht ganz allerdings. An vielen spielerisch zugespitzten Dilemmata möchte man doch vorübergehen2, kann keine Verbindung sehen zu den konkreten Rechtsproblemen, die uns quälen. Wenn dann der Übergang hergestellt wird zu den „Paradoxien des gegenwärtigen Kapitalismus“ – von einer neuen Frankfurter soziologischen Richtung jetzt zum Forschungsgegenstand erklärt3 1
2 3
Der Text beruht zum Teil auf wörtlicher Übernahme von Partien aus älteren Veröffentlichungen (Paradoxien im Strafprozessrecht, in: Summa, Dieter Simon zum 70. Geburtstag, Frankfurt am Main, 2005, S. 367 ff.; Schiller und die Jurisprudenz, in: Produktive Spiegelungen Band II, Berlin 2007, S. 32 ff.; Die düstere Poesie des Paradoxen im Recht, Kafkas Romane „Der Prozess“ und verwandte Texte, in: Produktive Spiegelungen aaO., S. 141 ff.; Verdeckte Ermittlungen im Strafprozess, in: 50 Jahre Bundesgerichtshof, Festgabe aus der Wissenschaft, Band IV, Strafrecht, Strafprozessrecht, München 2000, S. 883 ff.) und bringt diese mit Blick auf die zugespitzte Fragestellung des Symposions und in Auseinandersetzung mit neuerer rechtstheoretischer Literatur à jour. Vgl. bei R.M. Sainsbury, Paradoxien, Stuttgart 1993, etwa die Seiten 24 ff., 38 ff., 102 ff. Vgl. Axel Honneth (Hrsg.), Befreiung aus der Mündigkeit, Frankfurt am Main / New York 2002.
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Konsequente Inkonsequenzen
– nimmt die Skepsis zwar ab, aber es bleiben doch Widerstände, die sich teils speisen aus dem Déjà-vu der gesamten Marxismus-Debatte, teils aber auch aus dem Misstrauen gegenüber der ökonomischen Orientierung, denen jene Sozialwissenschaftler folgen: zu abgehoben, zu sehr bezogen auf die enttäuschte Wahrnehmung der Abweichung des täglichen betriebswirtschaftlichen Geschehens von dem – offenbar immer noch gehegten – Ideal einer perfekten, Gleichheit und Freiheit gleichermaßen verbürgenden ökonomischen Vernunft. Verbindlicher wird es, wenn wir uns den systemtheoretisch begründeten Paradoxien nähern. Jene den Spätkapitalismus studierenden Soziologen relativieren deren Bedeutung zwar, weil sie ihr Material dort nicht wiederfinden, die Juristen hingegen haben allen Grund aufzumerken, denn hier gibt es nun wirklich einige Mitteilungen, die ihnen die Grenzen widerspruchsfreien Rechtsdenkens vor Augen führen.
A Im Zentrum stehen dabei freilich ebenso einfache wie grundsätzliche Aussagen, denen gemeinsam ist, dass der praktisch arbeitende Jurist an ihnen nicht interessiert zu sein braucht, zum Beispiel, wenn behauptet wird, dass der Code Recht / Unrecht „nicht auf sich selbst angewandt“ werden kann, „ohne dass eine Paradoxie entstünde, die das weitere Beobachten blockierte“4. Damit ist – etwas konkreter – gemeint, dass „die Regel, die Geltung erkennbar macht, nicht eine der geltenden Regeln sein“ kann. „Überhaupt kann es im System keine Regel geben, die die Anwendbarkeit / Nichtanwendbarkeit aller Regeln regelt“5. Anschaulicher wird das dann, wenn auf das Verfassungsrecht hingewiesen wird, das Normen kenne, „die festlegen, dass bestimmte Normen, sie selbst eingeschlossen, nicht geändert werden können“. Das laufe, heißt es dann weiter, „auf eine vieldiskutierte Paradoxie hinaus“6. Daraus folge, dass Unrecht erst einmal „in eine Rechtsform gebracht werden“ müsse, „um es r e c h t m ä ß i g e r Behandlung zu unterwerfen“7. Weniger zugespitzt, aber näher am Rechtsleben sozusagen bewegen sich quer durch die ganze Rechtsgeschichte Äußerungen, die eine gewisse Ratlosigkeit zwar nicht zum Programm, wohl aber zu einer Art Hintergrundmusik machen, so dass den Juristen nicht recht wohl ist bei ihrer Arbeit. Die sich einstellenden 4 5 6 7
Niklas Luhmann, Das Recht der Gesellschaft, S. 72. AaO., S. 102. AaO., S. 104 mit weiterer Literatur. AaO., S. 170.
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Assoziationen oszillieren zwischen mehr oder weniger Gutes verheißendem Tiefsinn und fröhlichem bis bitterem Zynismus. Zur ersten Gruppe gehört Radbruchs Verkündung der Antinomien der Rechtsidee. Gerechtigkeit, Rechtssicherheit und Zweckmäßigkeit behindern oder steigern einander – das ist eine Sache der Perspektive, und die ist am Ende von ganz persönlichen Erfahrungen, Hoffnungen und Ängsten bestimmt. Das Zynische ist präsent in den „Eristischen Tricks“8. Eristik rangiert eine Stufe unter der Paradoxie. Das Historische Wörterbuch der Philosophie definiert Eristik als „Die leere Diskutierkunst der Sophisten“9. Sie bereitet das Erlebnis des Paradoxen vor, etwa mit Argumentationsfiguren wie die der „Inklusion“. Der topos lautet: „Was für das Ganze gilt, gilt auch für den Teil“, andererseits ist mit der „Betonung der Eigenfigur“ zu rechnen. Oder die Konfrontation von Meinungstreue und Denunziation eines Ergebnisses, dessen Widersprüchlichkeit die Folge seiner Lösung aus dem Kontext ist. Oder „Transitivität, wobei der argumentative Vorsprung davon abhängt, inwieweit man in der Lage ist, die qualifizierbaren Faktoren herauszubekommen, von denen das jeweilige Verhältnis abhängt (topos: „Die Freunde meiner Freunde sind auch meine Freunde“). Man sage nicht, Paradoxien seien etwas völlig anderes. Verfolgt man deren Fixierung weit zurück, so tauchen sehr vorsichtige Wendungen auf. „Paradox“ sind „Sachverhalte oder Aussagen über Sachverhalte, die der allgemeinen Meinung oder Erwartung zuwiderlaufen und deshalb zunächst unverständlich bleiben“. Dafür wird Cicero zitiert10. Später wird es zwar dialektischer, „deus a peccato per peccatum liberat“ („Gott befreit von der Sünde durch die Sünde“)11. Aber das ist Theologie, und so warten wir auf „Aufklärung und Romantik“. „Zwischen dem Ich, das sich weiß, und dem Ich, das mit dem Selbstbewusstsein gegeben ist, tut sich ein Abgrund auf, der es ausschließt, beide Identitäten als mit sich identisch zu begreifen“12. Die folgende Epoche zieht sich wieder auf den „heuristischen Wert des Paradoxons“ zurück – berühmt und einflussreich ist die Definition Goethes: er spricht von Resultaten, „die, wenn wir nicht ihre Veranlassung wissen, als paradox erscheinen, uns aber nötigen, vermittelst eines umgekehrten Findens und Erfindens rückwärts 8 9 10 11 12
Dieter Simon, Eristische Tricks, unveröffentlichtes Manuskript. B. Waldenfels, Band 2, Darmstadt 1972, S. 643. Historisches Wörterbuch der Philosophie, aaO., P. Probst, Band 7, Darmstadt 1989, S. 82. Probst aaO., S. 85. Jochen Hörisch, Dialektik der Romantik, Athenäum 2003, S. 43 ff. (48).
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zu gehen und uns die Filiation solcher Gedanken von weit her“ zu vergegenwärtigen13. Erst die moderne Logik und Mathematik gelangen wieder in die Nähe der Ausweglosigkeit der Theologie. Die Juristen aber sollten, darüber froh werdend, dass sie allmählich doch der alten Theologie entrinnen, sich nicht von einer neuen einfangen lassen; sie haben deren Puzzle-Spiele gar nicht nötig.
B Denn sie stoßen in der Stufenfolge immer schwieriger und komplexer werdender Widersprüche tangential gleichsam zu Phänomenen vor, die durchaus jenen gleichen, die durch divinatorischen Zugriff, buchstäblich von oben also, zu Paradoxien erklärt werden. Der induktive Weg, auf dem die Juristen diese Einsicht gewinnen, bewahrt sie vor dem Vorwurf, sich hochgemuten Spekulationen zu überlassen, entzieht sie der wohlfeilen, die Lacher sofort auf ihre Seite ziehenden, versnobten Intellektualität.
I. Beginnen wir mit jener Sorte von Widersprüchen, für die sich inzwischen der topos „Missglückte Gesetze“ eingebürgert hat. Mit diesem Begriff eröffnet man sich den Zugang zu den Problemen besonders leicht, weil offensichtlich zu sein scheint, wie sie besser hätten gelöst werden können. Ein spezielles materielles Kriterium, das andeutet, man sei auf dem Wege zum Paradoxon, ist damit noch nicht benannt. Begibt man sich auf die Suche danach, welche Kriterien es denn sein könnten, die ein Gesetz zum misslungenen machen, so kann es freilich passieren, dass die Entscheidung für ein bestimmtes Kriterium den nächsten Fehler impliziert: ist das Kriterium falsch, so ist das Gesetz auf einmal nicht mehr misslungen. Unter den Kriterien, die gewöhnlich aufgezählt werden, sind unter anderem Klarheit, Kohärenz, Gerechtigkeit, Zweckmäßigkeit, Wirksamkeit14. Doch jeder dieser Begriffe ist seinerseits interpretationsbedürftig und fehleranfällig, so dass, bleibt man auf dieser allgemeinen Stufe, kein Erkenntnisgewinn zu erwarten ist. Daher empfiehlt es sich vielleicht, einfach mit einer Behauptung zu beginnen, um dann zu sehen, wie weit sie trägt. 13 14
Probst aaO., S. 87. Ralf Dreier, Misslungene Gesetze, in: Uwe Diedrichsen / Ralf Dreier (Hrsg.), Das missglückte Gesetz, Göttingen 1997, S. 1 ff. (2); Gunther Arzt, Das missglückte Strafgesetz, in: Diederichsen / Dreier aaO., S. 17 ff. (17/18), meint, man müsse auf die Intention des Gesetzgebers abstellen.
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1. Nehmen wir als Beispiel die akzessorische Regelung der Strafbarkeit der Teilnahme einer Person an der Tat eines anderen. Die einschlägige Vorschrift des Strafgesetzbuchs setzt für die Haftung des Teilnehmers voraus, dass die Tat des Haupttäters ihrerseits Unrecht ist. Unrecht existiert nicht abstrakt, sondern immer nur als Ergebnis der Handlung einer Person. Wenn zwei dasselbe tun, so ist es nicht dasselbe, und so kann es geschehen, dass in der Person des Haupttäters etwas Unrecht ist, was in der Person des Teilnehmers kein Unrecht ist, etwa, wenn der Teilnehmer den Haupttäter veranlasst, seine, des Teilnehmers, Sache wegzunehmen (im Zuge einer der Verbrechensaufklärung dienenden Provokation). Für den Teilnehmer ist die Sache nicht fremd, also liegt für ihn keine Verletzung fremden Eigentums vor, während der Haupttäter fremdes Eigentum verletzt, denn für ihn ist die Sache fremd. Der Gesetzgeber hat auf diese Differenz keine Rücksicht genommen. Er hätte es auch nicht tun müssen, wenn seine Vorstellung vom Strafgrund der Teilnahme dahin gehen würde, dass man auch für die Hervorrufung oder Beteiligung an fremdem Unrecht haftet. Diese Position ist aber – wenn auch unter dem im ganzen weiter gefassten Begriff der Teilnahme nicht nur an fremdem Unrecht, sondern an fremder Schuld – immer (von verschwindenden Ausnahmen abgesehen) abgelehnt worden. Die Erklärungen dafür, dass für die Realisierung des eigenen Unrechts des Teilnehmers auch erforderlich sein könnte, dass zusätzlich ein anderer – der Haupttäter – seinerseits Unrecht begeht, sind alle mehr oder minder verzweifelt. Niemand kann diese gesetzgeberische Regelung auf einen Begriff bringen. Seit 150 Jahren, etwa mit Beginn der Geltung des Reichsstrafgesetzbuchs, dem das zwanzig Jahre ältere Preußische Strafgesetzbuch zugrunde lag, ist das umstritten. Man ist deshalb versucht, schon hier nach einer höheren Weisheit zu suchen, welche die Verneinung der Haftung für fremdes Unrecht harmonisiert mit der – Bestandteile der Haftung für fremdes Unrecht einbeziehenden – Haftung für eigenes Unrecht. Offensichtlich ein Paradoxon. Doch so lange alternative Lösungen, die in sich kohärent sind, möglich erscheinen – entweder die Einheitstäter-Lösung unter Verzicht auf jenen Bestandteil der Haftung des Teilnehmers auch für fremdes Unrecht, oder die alte Schuldteilnahmelösung, also die Herauslösung des Begriffs der Teilnahme aus dem Prinzip der Haftung für eigenes Unrecht – könnte man sagen, dass das geltende Recht nicht das letzte Wort hat. Freilich wird seine Interpretation an beiden Alternativen vorbei zäh aufrecht erhalten. Ganz auszuschließen ist also nicht, dass hier schon das Paradoxon als letzte Auskunft erreicht ist. Dann müsste man allerdings versuchen, dafür eine spezielle Legitimation zu finden. Das würde uns jetzt aber in
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den Sog der unendlichen „Strafgrund der Teilnahme“-Diskussion ziehen und soll deshalb offen bleiben.
2. Eine ähnliche Problematik kann man registrieren auf dem Gebiete der notwendigen Verteidigung oder, wie man auch sagt, der Pflichtverteidigung im Strafprozess. Hier gibt es zwei Fallgruppen. Einmal die Beschuldigten, die das Geld nicht haben, einen Wahlverteidiger zu bezahlen, zum anderen die Beschuldigten, die einen Verteidiger nicht haben wollen, aber haben sollen. Es liegt auf der Hand, welche Unterschiede hier bestehen. Die Regelung der Strafprozessordnung macht jedoch keinen Unterschied, sondern stellt für beide Fallgruppen dieselben Voraussetzungen auf. So lange es so war, dass auch den armen Beschuldigten keine Möglichkeit eingeräumt wurde, einen Verteidiger ihrer Wahl für die Bestellung zum Pflichtverteidiger vorzuschlagen, fiel das nicht auf. Inzwischen hat die Einsicht an Boden gewonnen, dass man bei der Zubilligung eines, wie man im Grunde sagen müsste, Armenrechtsverteidigers, großzügig sein muss, bei der Bestellung eines Zwangsverteidigers – dieser Begriff ist bereits eingeführt – aber restriktiv. Das Gesetz bietet dafür aber keine Handhabe, weil es eben unter einer Chiffre zwei verschiedene Fallgruppen regelt. Obwohl die Zwangsverteidigung nur ausnahmsweise stattfindet, während die Armenrechtsverteidigung in der Praxis die Regel ist, wird nicht die Armenrechtsverteidigung zum gemeinsamen Dach der Verteidigung gemacht, sondern die Zwangsverteidigung – unter der Devise, dass sie aus rechtsstaatlichen Gründen erforderlich sei. Damit kann nur gemeint sein, dass der Beschuldigte gleichsam vor sich selbst geschützt werden soll, während das bei den dem Beschuldigten willkommenen Pflichtverteidigern ja gar kein Argument ist. Hier fragt sich, weshalb der Gesetzgeber nicht die erforderliche Klarheit schafft. Wieder ist nach der geheimen Weisheit zu forschen, die hinter der Vereinheitlichung des Unterschiedlichen stehen könnte. Noch schwieriger wird es, wenn eine weitere Prämisse bemüht wird, nämlich, dass Wahl- und Pflichtverteidiger dieselben Aufgaben haben. Wenn man diese Gemeinsamkeit ableiten würde aus dem Recht des Beschuldigten, sich jederzeit eines Verteidigers zu bedienen, gleichviel, ob er ihn bezahlen kann oder nicht, hätte sie ein ganz anderes Gesicht, als wenn der Typus der Verteidigung Pate stünde, die aus rechtsstaatlichen Gründen notwendig ist. Die Forderung, dass der Verteidiger gewisse Parteilichkeiten zu unterlassen habe (etwa zur Wahrheit verpflichtet sei, während der Beschuldigte das nicht ist), wird im Namen des Prinzips erhoben, dass der Verteidiger Organ der Rechtspflege sei. Das ist aber
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nur verständlich mit Blick auf den fürsorglich tätigen Verteidiger, also jenen ausnahmsweise dem Beschuldigten aufgezwungenen Verteidiger. Gäbe es diesen Verteidiger nicht, wäre die Idee, der Verteidiger könne ein Organ der Rechtspflege sein, gar nicht aufgekommen, sondern selbstverständlich würde man den Verteidiger wie andere Anwälte auch in erster Linie als Vertragspartner des Beschuldigten sehen. Merkwürdig ist, warum diese Entwicklungen nicht wenigstens durch die Rechtsprechung korrigiert werden. Ähnlich wie beim Strafgrund der Teilnahme sind die alternativen Regelungen sichtbar, aber wiederum drängt sich die Vermutung auf, man habe es, weil der Widerstand gegen diese Verbesserungen so zäh ist, vielleicht doch mit versteckten Paradoxien zu tun. Oder liegt der Leugnung jener deutlich gemachten Differenzierungen die Strategie zugrunde, Fallgruppen, die für sich genommen dem Zugriff einer staatlich fürsorgerischen Verteidigungskonzeption entzogen sind, ihr auf diesem Umwege dann doch zu unterwerfen? Widersprüche werden dann sozusagen in strategischer Absicht aufrecht erhalten. Dass sie zu einer paradoxen Situation führen, wäre dann nur ein Schein.
II. Näher an eine reale Paradoxie rücken dann aber die Fälle, in denen der Widerspruch nicht nur strategisch aufrecht erhalten wird, sondern eine sachliche Funktion hat. Dafür möchte ich nicht auf Beispiele schon vollzogener Gesetzgebung zurückgreifen, sondern die gegenwärtige, künftige Gesetzgebungen vielleicht vorbereitende, jedenfalls aber schon in den Gefilden der Justiz angelangte Rechtspolitik heranziehen. Gemeint sind Grenzfälle wie die so genannte Rettungsfolter und der Abschuss eines von Terroristen, in der Absicht, viele Menschen zu töten, eingesetzten Flugzeuges mit vielen unbeteiligten Passagieren an Bord. Hier ist die Strategie der Politiker zu beobachten, ein Verbot aufrecht zu erhalten und gleichzeitig seine Übertretungen zu programmieren. Das heißt, das Nebeneinander ist beabsichtigt. Ausnahmen von dem Verbot sollen nicht nur zugelassen werden, vielmehr soll das Verbot auch für die Fälle, in denen man seine Verletzung sanktionslos lassen möchte, aufrecht erhalten bleiben. Im Strafrecht ist das technische Instrument dafür der Entschuldigungsgrund. Aber sowohl bei der „Rettungsfolter“ wie bei dem „Abschuss“ soll ja die Entschuldigung nicht nur das Zugeständnis an ein Nichtanders-Handeln-können des jeweiligen Akteurs sein, vielmehr soll ihre Antizipation ihn zum Handeln ermutigen.
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Man könnte dieses Paradoxon zum Anlass nehmen, jene Argumente zu Gunsten der Folter und des Abschusses endgültig zu verabschieden. Wer das anders sieht, muss die Inkorporation des Paradoxons in den Rechtsbetrieb akzeptieren. Nach dem Stand der Diskussion wäre das freilich noch relativ theoretisch.
III. Die Praxis ist dort erreicht, wo das Nebeneinander des Unvereinbaren bereits auf weiter Strecke anerkannt wird.
1. Hierfür steht die wohlbekannte Disharmonie zwischen Beweiserhebungs- und Beweisverwertungsverboten. Das Bundesverfassungsgericht verbietet mit starken Worten die Erhebung bestimmter Beweise – der Fall Sedlmayer: Die Zeugen werden auf unzulässige Weise getäuscht, und so kommt die Tatwaffe zum Vorschein – lässt aber die Verwertung dieser Beweise zu. Das ist nicht etwa das Ergebnis einer Abwägung, die ein Rechtsgut einem anderen vorzieht. So wäre es, wenn man mit Blick auf die Notwendigkeit der Aufklärung schwerster Verbrechen auch schon die an sich illegale Beweiserhebung zulassen würde. Vielmehr soll beides nebeneinander gelten, das Erhebungsverbot und die Verwertungserlaubnis. Eine Auflösung dieses Paradoxons wird gelegentlich mit dem Hinweis versucht, die Gerichte könnten sich auf diese Weise die Entscheidung für jeden Einzelfall offen halten: Erst einmal verbieten und dann sehen, was man am Ende wirklich macht. Die Paradoxie läge dann aber in dem Argument, das diese Strategie offen zu legen verbietet. Ginge es nur um ihre Verheimlichung, wären wir wieder bei jener schon besprochenen Vorstufe des Paradoxen. Aber was hier passiert, ist etwas anderes. Denn die Absolutheit des Nebeneinanders der beiden Bewertungen macht es den Gerichten ja gerade erst möglich, die Entscheidung offen zu halten.
2. Ein weiterer Anwendungsfall der in Kauf genommenen Widersprüchlichkeit ist die Geldwäsche-Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts. Das aus einer Straftat des Mandanten stammende Honorar des Verteidigers soll zwar weiter unter den § 261 StGB fallen, die freie Berufsausübung des Wahlverteidigers soll aber dadurch nicht beeinträchtigt werden. Also stellt man so hohe Anforderungen an den Vorsatz des Anwalt-Täters, dass die Vorschrift ihn nicht erreicht, obwohl sie ihm weiterhin gilt.
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3. Aber auch Fragen des Allgemeinen Teils des Strafgesetzbuchs, deren Antwort nicht kodifiziert ist, gehören hierher.
a) Das ist einmal das Verhältnis von Schuld und Prävention. An sich ist Schuld etwas, wonach man retrospektiv fragt, so dass es im Zusammenhang mit Prävention prima vista nicht einleuchtet. Trotzdem hat sich die Konzeption entwickelt, die Valutierung der Schuld im konkreten Fall von präventiven Erwägungen abhängig zu machen, etwa so: Ein Verbotsirrtum – klassischer Fall eines Schuldproblems – wird für irrelevant erklärt, wenn man sagen kann, dass derjenige, dessen Fehlvorstellungen man zu beurteilen hat, mit Blick auf Genese und Intensität dieser Fehlvorstellungen als nicht resozialisierungsbedürftig erscheint. Das Paradoxe liegt darin, dass man die präventive Erwägung nicht anstellen kann, ohne gleichzeitig retrospektiv zu denken. Nun könnte man die retrospektive Rekonstruktion als Frage nach einer empirischen Voraussetzung für gelingende Resozialisierung auffassen. Man kann niemanden resozialisieren, der nicht einsieht, dass er sich für das, was ihm die Verurteilung eingetragen hat, verantwortlich fühlt. Aber so ist die dogmatische Verknüpfung von Schuld und Prävention nicht gemeint. Vielmehr wird schon die Entstehung der Schuld gleichsam präventiv organisiert, und damit der retrospektive Charakter des Vorwurfs eigentlich gestrichen. Die Gegner dieser Verknüpfung der beiden Aspekte werden auch nicht müde, darauf hinzuweisen. Aber in der Praxis setzt sich der Gedanke, man brauche jemanden nichts vorzuwerfen, wenn er keiner Sanktion bedürftig sei, doch durch. Wahrscheinlich, weil wir ein Verfahren, dass sich mit der Feststellung der Schuld ohne Sanktion begnügt, noch nicht haben. Man muss daher, wenn man diese Sanktion im Ergebnis nicht will, ein Vehikel finden, womit man Feststellungen, die nach dem geltenden Recht eine Sanktion nach sich ziehen muss, gar nicht trifft. Das Interessante ist nun, dass selbst bei Durchsichtigkeit dieses Motivs, das Konzept, nun endlich doch ein reines Feststellungsverfahren zu etablieren, nicht entwickelt wird. Offenbar, weil man einen solchen Einschnitt in die Strafprozessordnung nicht wünscht. Die Sanktion ist das Wichtigste und einzig Relevante im Strafprozess; man will sie deshalb nur dann nicht verhängen, wenn die Voraussetzungen dafür wirklich nicht vorliegen. Unrecht und Schuld feststellen und dann doch keine Sanktion verhängen, widerstrebt einer festgefahrenen Vorstellung davon, dass Strafe sein muss. Da hilft man sich, indem man die Rechtsfolge, Strafe muss nicht sein, nicht selbständig begründet aus allerlei sozialen und vielleicht auch rechtspolitischen Erwägungen, sondern
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eine Konzeption findet, die in diesen Fällen erlaubt, auch das Vorliegen der Voraussetzungen für die Sanktion zu verneinen. Das ist eine Hypokrisie, aber sie ist gewollt – aus rechtspolitischen Motiven, denen man nachgehen müsste. Vorläufig bleibt es bei einer Paradoxie.
b) Vergleichbares gibt es mit Blick auf das Verhältnis von Erfolg und Handlung. Sieht man einmal darüber hinweg, dass die Bezeichnung einer Rechtsgutsverletzung als „Erfolg“ eigentlich nicht angemessen ist, stellt sich das Problem, dass der Eintritt dieses Erfolges nicht etwas ist, was verboten werden kann. Verboten werden kann nur eine darauf gerichtete Handlung. Wenn dann der Zufall darüber entscheidet, ob diese Handlung auch zum „Erfolg“ führt, muss man die Relevanz dieses Umstandes extra begründen. Unrecht und Schuld liegen bereits vor, wenn die Handlung abgeschlossen ist, und erfahren durch das, was später passiert, weder eine Steigerung noch eine Abschwächung. Die Missachtung des Verbots ist jeweils die gleiche. Und doch unterscheiden wir zwischen Versuch und Vollendung in diesen Fällen mit Folgen für die Sanktion. Die landläufigen Erklärungen, die etwas utilitaristisch klingen, dass – wenn „jeder“ Handlungsunwert „bestraft würde – die Masse des zu verfolgenden strafbaren Verhaltens ins Unerträgliche wüchse, die Strafbarkeit des Versuchs also nur in relativ wenigen Fällen angeordnet wird (allerdings immer bei Verbrechen, während bei Vergehen eine Regelungsfreiheit besteht), ignoriert die verbreitete und starke Empfindung, dass „nach dem Erfolg geurteilt wird“. Zwei Paradigmen treffen hier aufeinander: Nur was von einem Verbot erfasst werden kann, kann Unrecht und Schuld sein. Bei einer gewissen Schwere der Rechtsgutsverletzung will man das aber nicht genügen lassen, sondern noch einen malus dazu nehmen. Nun könnte man sagen, dass dieser malus das Entscheidende ist und nur an die zusätzliche Voraussetzung einer vorhergehenden unrechten und schuldhaften Handlung geknüpft sein soll. Diese Kumulation der Haftungsvoraussetzungen wäre noch nicht widerspruchsvoll, wenn man überzeugende Gesichtspunkte dafür finden könnte, dass die schuldhafte Übertretung des Verbotes gewissermaßen nicht alles ist, vielmehr im Falle des eingetretenen Erfolges noch ein zusätzlicher Haftungsgrund besteht. Er könnte in dem Satz gefunden werden, „versanti in re illicita omnia imputantur quae ex delicto sequntur“. Dieser Satz wird aber von der Schulddogmatik kategorisch abgelehnt, weil er auch Fälle umfasst, in denen die Schuld sich auf das, was wirklich passiert, nicht erstreckt; der Täter hat diesen Erfolg nicht gewollt und auch nicht fahrlässig bewirkt. Das der Satz „versanti in re illicita ...“ aber auch darüber entscheidet, es nicht bei der Sanktion für den abge-
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schlossenen Versuch zu belassen (ihn aber auch für die Haftung stets genügen zu lassen), womit also der schuldhafte Verbotseintritt eigentlich abgeschlossen ist, d a r f nicht sein, denn dann könnte man ihn nicht mehr ablehnen. Man will das aber, und trotzdem jenseits der Verbotsmaterie den Eintritt des Erfolges zusätzlich bewerten. Noch einmal: Wenn man dafür eine jenseits der Verbotsmaterie sich bewegende überzeugende Erklärung fände, wäre ja alles in Ordnung. Dass man diese Erklärung nicht nur nicht findet, sondern auch nicht finden will, bezeichnet die Paradoxie. Der Satz, dass die Verbotsmaterie alles entscheidet, soll auch dann unangefochten bleiben, wenn seine Gültigkeit eigentlich durch andere Gesichtspunkte relativiert wird15.
IV. Darüber hinaus gehen die Fälle, in denen das Nebeneinander des Unvereinbaren nicht nur in Kauf genommen wird, sondern beabsichtigt ist. Das gilt für die Aufgaben, die ein agent provocateur im Rahmen der Strafverfolgung übernimmt. Dabei soll Material verwertet werden, dessen Effekt gerade in seiner Rechtswidrigkeit liegt. Der Provozierte muss überführt worden sein und strafbar, anderenfalls ist der Erfolg – im größeren Rahmen der Verbrechensbekämpfung eine „gefährliche Person aus dem Verkehr gezogen zu haben“ – nicht erreicht. Noch einmal und mit anderen Worten: Wenn die Verletzung von Rechtsnormen der einen Ordnung unumgänglich wäre, um die Ziele, die sich Rechtsnormen einer anderen Ordnung setzen, zu realisieren, könnte man geringeres Unrecht gegen größeres Recht gleichsam abwägen und das Ergebnis im Namen einer höheren Gerechtigkeit gutheißen. Aber die intendierte Strafbarkeit passt nicht in dieses Konzept. Denn ist für die Erreichung des höheren Rechtszieles erforderlich, dass gerade die Verletzung einer Rechtsnorm stattfinden muss, stehen sich nicht mehr unterschiedliche Rechtsgüter gegenüber, sondern einander ausschließende Zielsetzungen – dies allerdings unter der Voraussetzung, dass man die Rechtsordnung als eine Einheit begreift. Lässt man diese Voraussetzung fallen, dann gibt es Rechtsinseln, die miteinander nichts zu tun haben und sich frei bekämpfen. Damit wäre man aber erst recht außerhalb rechtlicher Ordnung. Ein Staat, der trotzdem auf agents provocateurs nicht verzichten und sie auch nicht mit halber Kraft
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Genauer dazu Klaus Lüderssen, Der „Erfolgsunwert“, Festschrift für Rolf-Dieter Herzberg, Tübingen 2008, S. 209 ff.
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arbeiten lassen will, befindet sich also entweder partiell im Krieg, oder definiert an dieser Stelle seine Rechtsordnung paradox16.
V. Das moderne Recht jedenfalls geht davon aus, dass Rechtsfragen einer dem Einzelfall vorweggehenden mehr oder weniger allgemeinen Regelung zugänglich sind. Dort, wo das nicht der Fall ist und der Staat gleichwohl Regeln erlässt – sehenden Auges, dass eine Regelung unmöglich ist – kann man einen Akt symbolischer Gesetzgebung vermuten, aber auch eine Kapitulation vor dem Paradoxon registrieren.
1. Ein Beispiel liefern die Vorschriften über „Verdeckte Ermittler“. Diese dürfen, damit sie im Milieu nicht auffallen, in gewissem Umfang Regeln übertreten. So sieht es die Strafprozessordnung in den §§ 110 ff. inzwischen vor. Jedes Milieu wird aber früher oder später Bescheid wissen, welche Regeln von den verdeckten Ermittlern übertreten werden dürfen und welche nicht und als „Keuschheitsprobe“ etwas verlangen, was ihnen nicht gestattet ist, also etwa die Teilnahme an handfesten Verbrechen (die Regelungs-Thematik berührt sich hier mit der, wie oben skizziert, ebenfalls zu paradoxen Rechtssituationen führenden sachlichen Problematik des agent provocateur). Keine Regelung wird diesen nach Art einer Spirale sich entwickelnden infiniten Regress des jeweils als nicht regelbar übrig gelassenen Stoffs einholen können. Eine Gesetzgebung, die sich damit abfindet, steuert also ein Paradox an.
2. Ähnlich verhält es sich bei der die moderne Gesetzgebung zunehmend beschäftigenden Regelung der sogenannten Absprachen. Man legt fest, unter welchen Voraussetzungen Vereinbarungen über die Beweislage und die zu verhängenden Sanktionen verbindlich sein sollen. Es liegt in der Natur der Sache, dass jenseits dieser Regelungen jeweils wieder neue Konsense gesucht 16
An anderer Stelle (Klaus Lüderssen, Verdeckte Ermittlungen im Strafprozess, in: 50 Jahre Bundesgerichtshof, Festgabe aus der Wissenschaft, Band IV [hrsg. von Claus Roxin und Gunter Widmaier], S. 883 ff. [902]) habe ich versucht, für die Inkonsistenz, die sich hier auftut, eine der beiden berühmten Radbruch-Formeln zu bemühen: „Wo Gerechtigkeit nicht einmal erstrebt wird, […] da ist das Gesetz nicht etwa nur ‘unrichtiges Recht’, vielmehr entbehrt es überhaupt der Rechtsnatur“. Daran gemessen ist die Entscheidung für ein Paradoxon ein Euphemismus.
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werden, gerade weil man mit diesen Regeln genauso unzufrieden ist wie mit dem Rechtszustand vor der Regelung der Absprachen.
VI. Vielleicht muss man am Ende sogar das ganze Strafrecht unter das Fragezeichen dieser Grenzfigur des Rechts stellen. Denn eindeutige Verhältnisse haben wir nur in extremen Konstellationen. Einmal in Gemeinwesen, die das Strafrecht ganz sichtbar instrumentalistisch handhaben. Also in totalitären Staaten. Jeder sieht, dass dieses „Strafrecht“ durch und durch politisiert ist und seinen Namen, soweit es sich dabei um Recht handelt, nicht verdient. Zum anderen in Gesellschaften, die keinen Kampf mehr kennen, in denen ganz durchgehend anerkannt ist, was sein soll und was nicht sein soll, etwa vergleichbar einer harmonischen Familie. Der Strafgedanke ist hier ein Ungedanke. Wenn es ihn doch noch gibt, dann nur als perverses Rückbleibsel vergangener Kampfeszustände und insofern auch noch als Indiz dafür, dass es mit dem Krieg immer noch nicht ganz vorbei ist. Das Dilemma ist nun, dass die Gesellschaft, in der wir leben, weder dem einen, noch dem anderen Extrem zuzuordnen ist, sondern genau jenen Mittelzustand repräsentiert, der auf Strafe nicht verzichtet und dafür auch eine Reihe rechtlicher Begründungen anführen kann, diese aber nicht konsequent durchzuhalten in der Lage ist. Für solche Gesellschaften gilt, dass sie den Abschied von der Dichotomie „Freund – Feind“ noch nicht erreicht haben, der es ihnen erlauben würde, vom Strafen als Kampfmittel abzusehen; die Befriedung ist aber insgesamt doch so weit fortgeschritten, dass diese Kampfsituation weitgehend verschleiert bleibt und deshalb der Schein der Legitimation der Strafe entsteht. Wenn solche Gesellschaften durch ungewöhnliche Situationen an ihre Grenzen geführt werden, sieht man genau, was gemeint ist. Entweder: das Strafen wird (wieder) oder bleibt (noch) Kampfinstrument. Doch der Alltag des Strafens liegt zwischen diesen beiden Extremen, und seine Diagnose wird bestimmt durch jenen Verschleierungseffekt. In dem Moment, in dem der Mangel an gemeinsamer Legitimationsüberzeugung so stark ist, dass sich die einzelnen Gruppen einfach nur mit der Strafe bekämpfen, hat man nicht mehr jenes unerklärliche Phänomen vor sich, sondern etwas sehr leicht zu Erklärendes; dort indessen, wo eben die vollständige kommunikative Ruhe eingekehrt ist, muss man sich mit der Existenz der Strafe gar nicht mehr arrangieren, weil sie – allenfalls – marginalen Charakter hat. Nur die modernen, aufgeklärten, rechtsstaatlichen, demokratischen Rechtsgesellschaften sind es also, in denen
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die Strafe jene so schwer erklärbare Funktion – noch – hat; wegen der Fülle rechtsstaatlicher Begrenzungen bleibt dieser Tatbestand unentdeckt, und man denkt, man habe mit der Legitimation der Begrenzungen der Eingriffe eine Legitimation auch der Strafe. So lange die Gesellschaft das Recht noch braucht, ist das also ein Zeichen dafür, dass der Gegensatz von Macht und Partizipation nicht aufgehoben ist. Eine Strafrechtsgesellschaft ist mithin förmlich dadurch definiert, dass es auf der einen Seite überschießende, nicht kontrollierbare Machtanteile, und auf der anderen Seite das Recht gleichsam unterlaufende Partizipationsanteile gibt. Dieses Strafrecht ist demnach eine Organisationsform paradoxaler Kriminalpolitik.
C Gegenwärtig scheint die allgemeine Rechtstheorie bei Paradoxien noch für „prinzipielle Unentscheidbarkeit“ zu optieren. Kollisionen hingegen könne man „durch Entscheidung zwischen Alternativen auflösen“; auch sei ein Kompromiss denkbar. „Beide Wege sind bei Paradoxien verstellt“. Andererseits heißt es: „Sie bergen destruktive, ... Potentiale, zugleich aber auch produktive, schöpferische Möglichkeiten“17. Wie soll man da herauskommen? Luhmann, der uns die moderne Version dieser verzweifelten Diagnose beschert hat, meint: „Paradoxien sind die einzige Form, in der Wissen unbedingt gegeben ist“. Deshalb sucht er nach etwas Vergleichbarem und findet es im transzendentalen Subjekt, „dem Kant und seine Nachfolger einen Direktzugang zu unkonditioniertem, a priori gültigem, aus sich selbst heraus einsichtigem Wissen zugemutet hatten“18. Für die positivistische Methodologie des 19. und 20. Jahrhunderts war das immer noch zuviel Metaphysik. Wenn wir schon darauf angewiesen sind, so mag Luhmann gedacht haben, mit letzten Unbegreiflichkeiten umzugehen, dann 17
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Gunther Teubner, Der Umgang mit Rechtsparadoxien: Derrida, Luhmann, Wiethölter, in: Christian Joerges / Gunther Teubner (Hrsg.), Rechtsverfassungsrecht, Baden-Baden 2004, S. 25 ff. (28 bzw. 31); s. auch George P. Fletcher, Paradoxes in Legal Thought, Columbia Law Review, S. 85/1985, S. 1263 ff.; Roberta Kevelson, Peirce, Paradox, Practice – The Image, The Conflict and the Law, Berlin 1990; Rainer Maria Kiesow, Das Alphabet des Rechts, Frankfurt am Main 2004, S. 247, ferner S. 33, 145, 151, 254, 274: zur fächerübergreifenden Diskussion s. Hans-Ulrich Gumbrecht / K. Ludwig Pfeiffer (Hrsg.), Paradoxien, Dissonanzen, Zusammenbrüche: Situationen einer offenen Epistemologie, Frankfurt am Main 1991; s. ferner Marc Amstutz, Rechtsgenesis: Ursprungsparadox und supplément, in: Gunther Teubner (Hrsg.), Nach Jacques Derrida und Niklas Luhmann: Zur (Un-)Möglichkeit einer Gesellschaftstheorie der Gerechtigkeit, Stuttgart 2008, S. 125 ff. Niklas Luhmann, Die Religion der Gesellschaft, Frankfurt am Main 2000, S. 231.
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doch lieber wenigstens in der gesellschaftlichen Realität. Sie ist voller Paradoxien, und „sie treten“, meint Luhmann deshalb, „an die Stelle des transzendentalen Subjekts“19. Aber dessen Absolutheit ist ja durch moderne Idealismus-Forschungen ziemlich in den Hintergrund gedrängt worden. Insbesondere die Empirie „zur Unhintergehbarkeit von Individualität“20 hat die Akzente verschoben. Die Psychologie der Introspektion führt an die Quellen des Selbstbewusstseins, das schon „Geist und Gesellschaft“ des letzten Jahrzehnts im 18. Jahrhundert zum Mittelpunkt des Interesses machten21. Wenn die Entzauberung des transzendentalen Ichs fortschreitet, ist vielleicht auch für die „Parallelerscheinung“ des Paradoxon etwas zu erwarten, im Sinne einer zu neuen Erfahrungen einladenden Intuition, mit einem Anspruch, den die Wissenschaft nicht, wohl aber vielleicht die Kunst einlösen kann. Schon vor Jahren hat Dieter Simon das Buch22 von Daniel Fulda, Wissenschaft aus Kunst23, vorgestellt24, und – sich darauf beziehend – von einem „Maximalprogramm“ ... „für konstruktivistisch aufgeklärte Untersuchungen“ gesprochen, das darauf hinausläuft, „die Differenz zwischen wissenschaftlichem und literarischem Diskurs überhaupt zu negieren“25. Das kann man ja einmal versuchen. In der Tat, die Literatur hat es immer gewusst.
I. „Richtiges Auffassen einer Sache und Missverstehen der gleichen Sache schließen einander nicht aus“, sagen „die Erklärer“ in der Erzählung vom Türhüter (S. 142). Dies ist die „Logik“ des Traumes, der Franz Kafkas Roman „Der Prozess“ folgt. Sie entwickelt wie kein Text zuvor die Paradoxien26, denen die Welt des Strafrechts nicht ausweichen kann.
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Luhmann aaO. Manfred Frank, Die Unhintergehbarkeit von Individualität,, Frankfurt am Main 1986. Teodore Ziolkowski, Das Wunderjahr in Jena. Geist und Gesellschaft 1794–1795, Stuttgart 1998. Zur Neuausgabe s. unten S.107 ff. Bonn / New York 1996. Rechtshistorisches Journal 16 (1997), S. 220 ff. So der Bericht bei Daniel Fulda, aaO., S. 464. Generell zur Bedeutung der Paradoxie für Kafkas Perspektive auf das Recht: Hans Helmut Hiebel, Die Zeichen des Gesetzes. Recht und Macht bei Franz Kafka, München, 2. Auflage 1989, S. 21 ff.
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Im Zentrum steht die Situation, dass der Beschuldigte nicht weiß, was ihm vorgeworfen wird. Damit beginnt die Geschichte im „Prozess“. In vielen Varianten erneuert sich diese Situation, auch mit Blick auf die Handlungsmöglichkeiten, niemand weiß, wogegen sich die erste Eingabe zu richten hat, sie kann daher nur zufälligerweise etwas enthalten, was für die Sache von Bedeutung ist. „... Unter diesen Verhältnissen ist ... die Verteidigung in einer sehr ungünstigen und schwierigen Lage, aber auch das ist beabsichtigt“ (S. 73). Das sind die bekannten Muster machtorientierter Justiz, in Europa durch die totalitären Regime des vergangenen Jahrhunderts noch einmal grell ins Bewusstsein gehoben und für die Zukunft keineswegs überwunden, sondern womöglich in die mühsam erkämpfte rechtsstaatliche übersichtlicher gewordene Ordnung zurückflutend. Da die Akteure Menschen sind, lässt sich die Abstraktion des Ungewissen nicht ganz durchhalten, und so entstehen die schiefen Situationen: „Dann aber einmal, überraschenderweise und ohne besonderen Grund lassen sie sich durch einen Scherz, den man nur deshalb wagt, weil alles aussichtslos scheint, zum Lachen bringen, und sind versöhnt“ (S. 77). Aber diese flüchtigen „Beziehungen zu den Beamten“ helfen nicht lange, „denn sie selbst wissen nichts“. Irgendwann tritt bei Kafka der Prozess in ein Stadium, „wo keine Hilfe mehr geleistet werden darf, wo ihn unzugängliche Gerichtshöfe bearbeiten, wo auch der Angeklagte für den Advokaten nicht mehr erreichbar ist“(S. 78). Dem entspricht es, dass „nicht anerkannte Stellungen einflussreicher als die anerkannten“ sind (S. 95), etwa die des Gerichtsmalers. Dazu passt ferner, dass keine öffentlichen Folgerungen aus dem gezogen werden, „was zwischen vier Augen gesagt ist“ (S. 75). Das kennt man von den „Absprachen“ im gegenwärtigen Strafjustizsystem und sieht sich auf einmal im Sog einer aus unbegrenzten Phantasien kommenden Kritik an dieser eigentlich eher pragmatisch aufgefassten Praxis. Die Gewissheitsverluste führen allerdings nicht nur zu einer sich auf Erfahrbares beschränkenden Bescheidenheit, sondern auch ins Dunkle. K. weiß inzwischen: „Meine Unschuld vereinfacht die Sache nicht ... es kommt auf viele Feinheiten an, in denen sich das Gericht verliert. Zum Schluss aber zieht es von irgendwoher, wo ursprünglich gar nichts gewesen ist, eine große Schuld hervor“ (S. 96). Sind die Entwicklungen so unwägbar, dann überrascht auch die Feststellung nicht mehr, dass die Angeklagten in der Zeit des Prozesses „zuversichtlicher“ sind, „als nach dem Freispruch“ (S. 102). Der Prozess ist das eigentliche Leben. Dass die Richter „ja schon beim Freispruch“ die nächste „Verhaftung vorhergesehen“ haben (S. 103), erinnert an die Gewohnheit der Gestapo, freigesprochene oder mild bestrafte Angeklagte anschließend ins KZ zu
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bringen. Das Praktische am Totalitären stellt die Verbindung zum NichtTotalitären her, eröffnet einen Zugang zu Grauzonen, worauf etwa die in den Medien kolportierten Ideen aus Regierungskreisen deuten, man müsse im Kampf gegen den Terrorismus auch Menschen festnehmen, bei denen sich der Verdacht noch nicht auf eine bestimmte Tat beziehe. Diese Grauzonen provozieren Ambivalenzen. „Die Verschleppung besteht darin, dass der Prozess dauernd im niedrigsten Prozess-Stadium erhalten wird“ (S. 104). Andererseits: „Der Prozess hört zwar nicht auf, aber der Angeklagte ist vor einer Verurteilung fast ebenso gesichert, wie wenn er frei wäre. Gegenüber dem scheinbaren Freispruch hat die Verschleppung den Vorteil, dass die Zukunft des Angeklagten weniger unbestimmt ist, er bleibt vor dem Schrecken der plötzlichen Verhaftung bewahrt“ (S. 104). Allerdings kann der Prozess „nicht stillstehen, ohne dass wenigstens scheinbare Gründe dafür vorliegen. Es muss deshalb im Prozess nach außen hin etwas geschehen. Der Prozess muss eben immerfort in dem kleinen Kreis, auf den er künstlich eingeschränkt worden ist, gedreht werden“ (S. 104). Die Apotheose des Prozesses geht so weit, dass der Advokat27 meint, wenn man den richtigen Blick dafür habe, finde „man die Angeklagten wirklich oft schön... . Es kann nicht die Schuld sein, die sie schön macht ..., es sind doch nicht alle schuldig, es kann auch nicht die künftige Strafe sein, die sie jetzt schon schön macht, denn es werden doch nicht alle bestraft, es kann also nur an dem gegen sie erhobenen Verfahren liegen, das ihnen irgendwie anhaftet“ (S. 120). Später sagt – im Dom – der Geistliche, „das Urteil kommt nicht mit einem Mal, das Verfahren geht allmählich ins Urteil über“. Und so erklärt sich auch die „Einfalt des Türhüters ... . Man sagt, dass er das Innere des Gesetzes nicht kennt, sondern nur den Weg, den er vor dem Eingang immer wieder abgehen muss“ (S. 142). Der Schluss des Romans scheint allerdings eindeutig zu sein. „... an K.’s Gurgel legten sich die Hände des einen Herrn, während der andere ihm das Messer ins Herz stieß und zweimal dort drehte. Mit brechenden Augen sah noch K., wie nahe vor seinem Gesicht die Herren Wange an Wange aneinandergelehnt die Entscheidung beobachteten. ‘Wie ein Hund’ sagte er, es war als wollte die Scham ihn überleben“. Doch man weiß, dass K. sich längst mit seinen Richtern heimlich zu identifizieren begonnen hat. Dem entspricht, dass 27
Seine Gestalt im „Prozess“ hat eine spezielle Literatur hervorgebracht, dazu: Georg Sterzenbach, Streitroß und Bettungeheuer – Zum Advokatenbild Franz Kafkas, in: Hermann / Weber (Hrsg.), Recht und Juristen im Bild der Literatur – Recht, Literatur und Kunst in der Neuen Juristischen Wochenschrift (7), S. 165 ff.
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er am Ende glaubt, „dass es seine Pflicht gewesen wäre, das Messer, als es von Hand zu Hand über ihm schwebte, selbst zu fassen und sich einzubohren“ (S. 149). Es passiert nur nicht. Das quittiert Kafka mit der Bemerkung: „Die Logik ist zwar unerschütterlich, aber einem Menschen, der leben will, widersteht sie nicht“ (S. 149). Selbst das ist nicht die letzte Reduktion. Vielmehr bürdet Kafka den Fehler, der darin liegen könnte, dass er sich retten möchte, dem auf, „der ihm den Rest der dazu nötigen Kraft versagt hatte“ (S. 149). Der Schöpfer des Lebens ist es offenbar, der das „ich in der absurden Welt“28des Rechts allein lässt und damit die Paradoxie besiegelt. Dem Urvertrauen, das nach Freud eine Mindestvoraussetzung für ein gelingendes Leben ist, steht hier also das Ur-Misstrauen gegenüber: Das Leben hat „vor lauter Überzeugungskraft keinen Platz in sich für Recht und Unrecht“29. Die Paradoxien sind für Kafka der Beleg für die Unmöglichkeit des Rechts. Als interpretatorisches Problem bleibt die Verknüpfung der persönlich okkupierten Semantik des Rechts mit dessen von Kafka ebenfalls reflektierten substanziellem Gehalt. Man kann darin sowohl eine Re-Archaisierung sehen wie eine Antizipation ganz modernen Rechtsdenkens, etwa unter Bezugnahme auf Niklas Luhmann, der die Inkompatibilität „reiner“ Systeme denunziert und damit eine Welt des Paradoxen etabliert. Begünstigt werden gesellschaftliche Wahrnehmungen dieser Art sicher durch bei Kafka häufig belegte persönliche Erlebnisse von der „Unreinheit“ rechtlicher Verhältnisse, auf der Basis eines durch die Sensibilität des poetischen Talents beförderten Rechtsgefühls. In dessen Perfektion liegt aber gleichzeitig auch die Gefahr der Überforderung, wie uns Kleists „Michael Kohlhaas“ lehrt. Der „kraftsparende Trieb nach Einheitlichkeit des Vorstellens“ (Georg Simmel) ist nicht die reifste Position. Paradoxie kann auch ein Ausdruck gesteigerter, einfacher Auflösung sich entziehender Komplexität sein, gerade auch wegen des Anteils des Persönlichen.
II. Das wird in einem sehr lesenswerten Roman anschaulich, der knapp ein halbes Jahrhundert nach Kafka vergleichbare Umstände der kirchlichen Gerichtsbarkeit analysiert – wiederum nicht abstrakt, sondern anhand des Schicksals der 28 29
Claus Hebell, Rechtstheoretische und geistesgeschichtliche Voraussetzungen für das Werk Franz Kafkas, Frankfurt am Main 1993, S. 140. Franz Kafka, Tagebücher 1910–1920, herausgegeben von Max Brod, Frankfurt am Main, 1986, S. 408; dazu Janko Ferk, Recht ist ein Prozess. Über Kafkas Rechtsphilosophie, Frankfurt am Main 1999, S. 60.
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Intervention, die ein aus dem kommunistischen Polen kommender junger Mann für seinen Vater, der als kirchlicher Justitiar Schwierigkeiten mit seinem Bischof hat, bei der Rota in Rom unternimmt. „Das Amt“ heißt dieses 1962 in Deutschland unter dem Titel „Audienz in Rom“ im Verlag Volk und Wissen erschienene Buch. Sein Verfasser ist Tadeusz Breza (1905–1970), ein in Polen hoch geschätzter Autor, der von 1955 bis 1959 Kulturattaché der polnischen Regierung in Rom war. Auch hier gibt es einen Advokaten, der seinem Klienten die Maschinerie des Rechts erklärt: „Sie stellt eine imposante Wirklichkeit für sich dar, die alle anderen ihrer Art durch ihre Tiefe, durch ihre Abstraktheit, durch ihre Vielschichtigkeit übertrifft. Denn bedenke, außer allen irdischen und menschlichen Dimensionen berücksichtigt sie noch eine weitere: die ‘mystische’, so dass sich „die augenblickliche Wirklichkeit mit der unsterblichen kreuzt“ (S. 329). Im Kern geht es darum, dass man zuerst wissen muss, „was die Monsigniori in der Rota und außerhalb der Rota als Wahrheit hinzunehmen bereit sind, ehe man irgendeine Wahrheit ... zu lancieren beginnt“ (S. 107). Angesichts dessen, dass „die Curie ... ein Labyrinth, ein Mechanismus mit hundert, mit tausend Unbekannten“ ist (S. 329), sind die Aussichten, in dieses letzte Stadium des Verfahrens zu gelangen, gering. Aber damit nicht genug: „Außer der Gerechtigkeit, von der Du sprichst, gibt es noch Dutzende andere Rücksichten. Keine davon außer Acht zu lassen – das ist das Wesen unserer Arbeit und unserer Berufung“ (S. 330). Auch bei Breza ist es vor allen Dingen der Advokat, der hier Bescheid weiß, der „eine unvergleichliche Übung darin hat, den eigentlichen Sinn der Worte meiner Partner zu erfassen. Stellen, die mir dunkel schienen, erhellte er rasch und untrüglich. Da er den Text überschaute, musste ich annehmen, dass er auch die Begleitumstände, alle jene Pausen und Kleinigkeiten, die sich während meiner Gespräche ergeben hatten, richtig einschätzte“ (S. 103). Dazu gehört ein gleichzeitiges Vorgehen auf vielen Ebenen, und der Anwalt gibt zu, dass „die Zufälle und die Unberechenbarkeit bei dieser Taktik unerträglich“ seien. „Aber wer sich daran gewöhnt hat, der wird sie nicht aufgeben wollen. Bei diesem Modus ist niemals etwas vorzeitig entschieden, unwiderruflich erledigt oder von Ausnahmen ausgenommen. Nie hat man völlige Gewissheit, aber man bleibt auch nie ohne einen Funken Hoffnung. Das ist wunderbar“ (S. 106). In dem Roman von Breza ist gleichwohl vieles konkreter als bei Kafka – nicht nur der Ausgangspunkt – sondern auch die Reaktion des Klerus. Dabei spielt eine Rolle, dass der Bittsteller aus einem Lande kommt, „in dem die Feinde unserer Kirche herrschen“ (S. 185), woraus sich Verdachtsmomente ergeben, die pikanterweise von der polnischen Emigration in Rom geäußert werden: Die
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Befremdung „ist durchaus begreiflich, wo es sich um Menschen handelt, die hinter dem Eisernen Vorhang hervorkommen“, sagt die polnische Frau des Advokaten, und der polnische Schwiegersohn ergänzt: „die bemüht sind, hinter den Vorhang aus Weihrauch zu gelangen“ (S. 75). Der Bischof stirbt, und man spricht im Vatikan eine Weile von dem Plan seiner Seligsprechung. Damit sinken die Aussichten für die Rehabilitierung des Vaters auf null. Aber es gibt Gegenströmungen, und sein Sohn bleibt optimistisch. Die schließlich ergehende scheinbar günstige, in Wahrheit nichtssagende Entscheidung lässt den Fall immerhin in der Schwebe.
III. Alle Hoffnung aber verliert man wieder dort, wo sich kirchliche Traditionen mit archaischen Verhältnissen verbinden. Salvatore Satta (1902–1975) beschreibt in seinem – in Italien 1979, auf Deutsch 1983 bei Suhrkamp publizierten und von Walter Boehlich alsbald in den Rang großer Literatur gerückten – Roman „Der Tag des Gerichts“ unbedeutende Advokaten in Nuoro, einer kleinen Stadt im Inneren Sardiniens, die nie ein Gesetzbuch aufgeschlagen haben, wie sie nachmittags im Café Tettamanzi parlieren. Zusammen mit den vielen, nur institutionell legitimierten Priestern, ohne Aufgabe und Glauben, in armen Verhältnissen, repräsentieren sie eine Gesellschaft, für deren Mitglieder es am wichtigsten ist, „einen Prozess zu haben. Es ging nicht darum, ihn zu gewinnen oder zu verlieren, denn dann wäre der Prozess zuende gewesen. Der Prozess war ein Teil der Persönlichkeit“ (S. 295), für die es keine Wahrheit gibt, sondern nur Notwendigkeit. Diese letzte Wendung stammt freilich aus Kafkas „Prozess“ (dort S. 144). Sie könnte auch von Salvatore Satta sein (einem Rechtsprofessor, den seine Kollegen zum Mythos erklärt haben)30, eine Allusion vielleicht auf sein etwas aus dem Rahmen des juristischen Handwerks fallendes Werk: „Il mistero del processo“31. Davon ausgehend, dass das Recht sich immer am wirklichen Leben zu orientieren habe, wendet Satta eine Methode des „non so come“ (ich weiß nicht, wie) an, um die Vereinbarkeit von Staat und Realität oder Staat und Mensch zu erreichen. Eingedenk der Äußerung Goethes, dass die Natur „so wenig systematisch“ sei, scheint ihm die Distanz zwischen ‘Leben’ und 30 31
Ausführlicher hierzu Klaus Lüderssen, Produktive Spiegelungen, Band II, 2007, S. 131 ff. Erst nach seinem Tode 1994 veröffentlicht; in der Bibliographie, die in dem Buch von Vanna Gazzola Stacchini, Come in un giudicio, vita di Salvatore Satta, Rom 2002, auf S. 169 vor allem mitgeteilt ist, wird das Buch unter die „literarischen“ Werke Salvatore Sattas gerechnet.
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‘Recht’ immer größer zu werden. Unter dem Eindruck der Nürnberger Prozesse spricht er von einem „schmerzlichen Rätsel“ (mistero doloroso). Jeder Prozess sei mit einer Eigendynamik ausgestattet, die ihn dem Leben selbst entfremde. Die offiziellen Zwecke des Prozesses, nämlich der Wille des Gesetzes (volontá della legge) und die Verteidigung des Rechts des Individuums (difesa del diritti soggettivo), sind sekundär; Satta kommt zu dem Schluss, dass der Zweck des Prozesses zwar das Urteil sei. Dieses aber sei mit dem Prozess wiederum identisch, woraus folge, dass der Prozess dann doch ein Selbstzweck sei. Somit sind Prozess und Urteil die einzigen Akte ohne Zweck: Darin sieht Satta das Paradoxon des Prozesses und auch des Lebens. Ein Beweis für diese These ist das Jüngste Gericht (giorno del giudizio), das den Menschen einen Begriff von der „göttlichen“ und damit „anti-humanen“ Natur des Prozesses gebe, die auch im irdischen Prozess präsent sei. Im Roman freilich ist die Ideologie des ewigen Prozesses in eine grelle Normalität getaucht. Das Mysterium beginnt beim Einzelnen und endet bei ihm. „Dass er geboren wurde und starb ..., das verleiht ihm eine Wirklichkeit im Konkreten, denn die Geburt und der Tod sind die beiden Augenblicke, in denen das Unendliche endlich wird“ [...].
D In dem erstaunlich avancierten Buch von Thomas Vesting, „Rechtstheorie“32, werden theoretische Folgerungen, die man an diese literarischen Analysen anschließen könnte, deutlich, die hier ein wenig ausgebreitet werden sollen. „Mit dem Rekurs auf Momente wie ‘Unentscheidbarkeit’ und ‘Ungewissheit’ verfolgen wir keine Neuauflage des Dezisionismus“, schreibt Vesting33. „Die einzelne Entscheidung“, heißt es weiter, sei „immer durch die Anschlussträger eines Netzwerks an Entscheidungen gebunden; das Mysterium der Entscheidung liegt allein darin, dass der Augenblick der Entscheidung selbst dunkel, uneinholbar, abwesend bleibt. Die Funktion der Deliberation ist daher nur paradox zu fassen: Sie dient der provisorischen Bindung an Ungewissheit, d.h. dem Schutz in das Vertrauen der Stabilität der rechtlichen Regelbestände (Erwartungssicherheit), aber zugleich, ja in einem in einer dynamischen Gesellschaft vielleicht sogar primär, der Ermöglichung des Neuen (Variation)“34. Daraus zieht Vesting den Schluss, dass die neuere Methodendiskussion 32 33 34
München, 2007. AaO., S. 118. AaO. Dort auch weitere sehr interessante Ausführungen über die Rolle, welche der französische Philosoph Derrida in diesem Zusammenhang in der Auseinandersetzung mit Luhmann spielt.
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zeige, „am ‘Anfang’ stehe nicht Rationalität und Gerechtigkeit, die vorausgesetzt oder gefunden werden können, sondern das Mysterium der Entscheidung“, und dann wird Walter Benjamin zitiert mit seinem berühmten Artikel über die Kritik der Gewalt, mit seinem Hinweis auf die „entmutigende Erfahrung von der letzten Unentscheidbarkeit aller Rechtsprobleme“35. Bis in die Wortwahl hinein ist das die Thematik des später Salvatore Satta. Ist es ein Zufall, dass gerade dieser Autor am Ende seines Lebens eine sehr persönlich gefärbte, in die frühe Jugend rückreichende Autobiographie schreibt, die obendrein große literarische Anerkennung erfahren hat?36
E Deshalb kann man verstehen, dass die Praxis, ohne sich darüber freilich ausdrücklich Rechenschaft zu geben, angesichts derartiger mehr oder weniger, vielleicht auch antizipierter Probleme in einen narrativen Argumentationsstil flüchtet, bei dem man sich natürlich fragen muss, ob die narrativen Anteile auf Larvierung der eigentlichen Schwierigkeiten hinaus laufen, oder aber ein Ausdruck sich selbst befreiender Kreativität sind. Wir sind insofern in einer günstigen Ausgangslage, als gerade die – oben als Anwendungsfall für paradoxes Entscheiden aufgeführte – Praxis der Einsetzung von agents provocateurs die höchstrichterliche Rechtsprechung zu dem Argumentationsstil hat greifen lassen, der hier zur Überprüfung ansteht. Die Rechtsprechung hat sich nie zu einer völligen Verwerfung der Einsetzung von agents provocateurs bestimmen lassen, wohl aber gleichsam Abschwächungsmechanismen entwikkelt, indem sie ihre entscheidenden Argumente in die Strafzumessung und die Beweiswürdigung verlagert, also dorthin, wo nicht dogmatisch-begriffliche Abgrenzung des Ausschlag gibt, sondern eben etwas anderes.
I. Lassen wir zunächst die Strafzumessungsentscheidungen auf uns wirken. Ihre „Gründe“ sind eine gleitende Skala von Darstellung und Würdigung der Sachverhalte. Hier ein Beispiel: BGH Urteil vom 20.3.198537. Die Entscheidung formuliert zunächst einige Prämissen: 35 36 37
Walter Benjamin, Zur Kritik der Gewalt (1921), 1965 S. 54. S. dazu Lüderssen, Rechtssoziologie in der Erinnerung, in „Produktive Spiegelungen“ Band II, aaO., S. 131 ff. Strafverteidiger 1985, S. 272.
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„Die Grenzen zulässiger Tatprovokation können überschritten sein, wenn der Lockspitzel in nachhaltiger Weise – etwa durch wiederholte, länger andauernde Überredungsversuche, intensive und hartnäckige Beeinflussung – auf den Täter einwirkt.“
Dann geht sie zum Sachverhalt über: „Diese Merkmale lagen im hier zur beurteilenden Falle nicht vor. Allerdings hatte der Angekl., erstmals von Z. auf die Besorgung von Heroin angesprochen, erklärt, er kenne weder Leute, die ihm Heroin beschaffen könnten, noch wolle er etwas damit zu tun haben. Als er aber erneut von Z. auf die Möglichkeit, Heroin zu beschaffen, angesprochen wurde, lehnte er weder ab noch sagte er zu, sondern reagierte mit hinhaltenden Erklärungen, weil er in der Hoffnung, doch noch eines Tages Arbeit vermittelt zu bekommen, den Kontakt zu K. und Z. nicht völlig abbrechen wollte. Kurz darauf bekam er Kontakt zu einem Landsmann, der erklärte, Heroin besorgen zu können, rief daraufhin Z. an, vereinbarte mit ihm ein Treffen, lieh sich ein Kfz und fuhr, zusammen mit dem Heroinlieferanten, zum verabredeten Treffpunkt, wo er alsdann über den Verkauf von 1 Kilogramm Heroin verhandelte.“
Jetzt kommt ein Stück Wertung: „Angesichts dieses Verlaufs kann von einer nachhaltigen, intensiven und hartnäkkigen Beeinflussung des Angekl. durch den Lockspitzel hier keine Rede sein.“
Aber das ist nur ein Satz, sofort geht es mit dem Sachverhalt weiter. „denn der Angekl. hat Zs. Ansinnen, ihm Heroin zu besorgen, nur beim ersten Mal ausdrücklich abgelehnt, der bloßen Wiederholung dieses Vorschlags kann aber keinen Widerspruch mehr entgegengesetzt und – ohne besonders bedrängt oder unter Druck gesetzt worden zu sein – alsbald eine sich ihm bietende Gelegenheit wahrgenommen und eigene, nicht fremdgesteuerte Aktivitäten entfaltet, um ein Rauschgiftgeschäft beträchtlichen Umfangs zustande zu bringen.“
Nunmehr folgt eine Einschränkung der zunächst aufgestellten Prämisse: „Allerdings kann eine Tatprovokation auch ohne bedrängende Einwirkung auf den Täter unzulässig sein, wenn der Lockspitzel sich zur Herbeiführung des Tatentschlusses unlauterer Mittel bedient.“
Dann geht es wieder mit dem Sachverhalt weiter, aber wiederum nicht ganz rein, kleine Wertungen werden dazwischengeschoben: „Dass der Angekl. seinerzeit arbeitslos war und sich von dem Kontakt zu Z., der ein Büro für Arbeitsvermittlung betrieb, den Nachweis einer Arbeitsstelle versprach, genügt nicht, um seine Bestimmung zur Tat durch Z. als arglistige Ausnutzung einer Not- oder Zwangslage erscheinen zu lassen. Seine wirtschaftlichen Verhältnisse waren zur Tatzeit angespannt – er hatte aus einem Bankdarlehen etwa 9000 DM Schulden und bezog etwa 1000 DM Arbeitslosengeld monatlich –, eine Notlage in dem hier vorausgesetzten Sinne bestand aber nicht, Freilich mag der Tatbeitrag des Lockspitzels auch dann ein unvertretbares Übergewicht erlangen, wenn dieser eine zwar noch unterhalb der Schwelle einer Not- oder Zwangslage liegende, aber schwierige Situation des Täters arglistig ausnutzt und außerdem in
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Konsequente Inkonsequenzen beträchtlichem – wiewohl der bloßen Intensität nach noch unbedenklichen – Maße auf ihn einwirkt. Setzt er beide Mittel zur Herbeiführung des Tatentschlusses ein, so kann sich die Tatprovokation bei einer Gesamtwürdigung aller Umstände als unzulässig erweisen. Ein solcher Fall liegt indessen nicht vor. Die Einwirkung des Lockspitzels war nicht so beträchtlich, dass sie – im Zusammenwirken mit einer Ausnutzung der Arbeitslosigkeit des Angekl. – ein Verfahrenshindernis zu begründen vermochte. Wie der festgestellte Geschehensablauf zeigt, hatte hier bereits die bloße Wiederholung des Vorschlags, Heroin zu besorgen, bei dem Angekl. die innere Bereitschaft geweckt, sich auf ein entsprechendes Rauschgiftgeschäft einzulassen, ohne dass es dazu noch besonderer Überredung oder weiterer Beeinflussung bedurfte.“
Sachverhaltsschilderung und würdigende Erörterung sind kaum noch zu trennen. Unseren Studenten verbieten wir ein derartiges Durcheinander und schreiben an den Rand: „Unnötige Wiederholung des Sachverhalts“, manchmal freilich von dem Zweifel beschlichen, ob hier nicht doch mit der jeweiligen Plazierung von Sachverhaltsstücken der Gang der Lösung plausibler wird. Wenn ja, müssen wir konstatieren, dass der Sachverhalt sich gleichsam selbst entscheidet, und stoßen damit auf eine seit langem in der Methodologie der Subsumtion erörterte Argumentationsfigur38. In der modernen Rechtsmethodologie wird angesichts vergleichbarer Vorgänge von „Narrativität“ gesprochen. Jurisprudenz – das sind Geschichten, und sie überzeugen, indem man sie auf bestimmte Weise erzählt; abstrakte Argumente haben eine untergeordnete, jedenfalls nur noch schwer zu definierende Funktion. Es mag zunächst noch offen bleiben, ob hier ein neuer Irrationalismus erscheint oder nicht doch besser als bisher reflektiert wird, wie häufig oder geradezu regelmäßig die „reine Wissenschaft“ dem aufsitzt, was man ein in anderen Zusammenhängen berühmt gewordenes dictum abwandelnd „falsche Abstraktion“ nennen könnte.
II. Vielmehr muss nun erst einmal gefragt werden, ob auf dem anderen hier interessierenden Gebiet – Stichwort: Beweiswürdigung – ähnliches zu beobachten ist. Wieder zunächst ein Beispiel: BGH Beschluss vom 2.8.198339.
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Beginnend mit Winfried Hassemer, Tatbestand und Typus, Köln u.a. 1968. Strafverteidiger 1983, S. 403.
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„Nach den Feststellungen haben die Angekl. mehrfach Heroin in kleineren Mengen an die Zeugen S. und B. sowie 6,28 g Heroin an die Zeugin R. und einen Vertrauensmann der Polizei verkauft. der ihnen unter dem Namen ‘Jonny’ bekannt geworden ist. Das Rauschgiftdezernat der Hamburger Polizei hatte diesen Vertrauensmann beauftragt, Kontakt zu den Angekl. herzustellen, weil ihm bekannt geworden war, dass beide Heroingeschäfte durchführten und eine nach § 100a Nr. 4 StPO angeordnete Telefonüberwachung diesen Verdacht erhärtet hatte. ‘Jonny’ traf sich zunächst allein mit beiden Angekl. in Frankfurt, wobei sich der Angekl. J. ohne zu zögern bereit erklärte, Heroin an ‘Jonny’ zu verkaufen. Bei den weiteren Verhandlungen mit den Angekl., bei denen diese das Heroin verkauften und sich bereit erklärten, Heroin in einer Größenordnung von einem bis zwei Kilogramm gegen eine Vermittlungsgebühr zu besorgen, wurde ‘Jonny’ von der Zeugin R. begleitet, einer Polizeibeamtin, die sich als Prostituierte ausgab. Da die Verhandlungen über die weiteren Heroinlieferungen letztlich ohne Ergebnis blieben, wurde die Angekl. drei Tage später verhaftet. Die Angekl. behaupten, Heroin nur in kleineren Mengen für den Eigenbedarf des Angekl. J. erworben zu haben, da er sich das Heroinrauchen habe abgewöhnen wollen. Das Heroin hätten sie nur deshalb an ‘Jonny’ und die Zeugin R. verkauft und sich auf die Gespräche über den weiteren Verkauf von Heroin eingelassen, weil ‘Jonny’ sie ‘während eines längeren Zeitraumes gedrängt’, ‘sie wochenlang genervt’ habe, für ihn Heroin zu besorgen.“
Die Ausgangslage ist klar: Indizien für das zu verwaltende „Unzulässigkeitspotential“ liegen auf dem Tisch. Prozessual hätte man nun durch die Aussage des „Jonny“ eine Lösung finden können, die verfahrensrechtlich befriedigt. Aber jetzt kommt die zweite Hürde. Der V-Mann wird nach § 96 StPO „gesperrt“. Wiederum hätte es sich angeboten, nunmehr die Akten zu schließen und den Prozess unter Hinweis auf ein unüberwindbares Verfahrenshindernis zu beenden. Aber das findet eben nicht statt, sondern eine „indirekte Befragung durch Vernehmung des Kriminalbeamten, der den V-Mann geführt hat, als Zeugen“. Dieser Kompromiss wird dann relativiert durch den Hinweis darauf, dass „in diesem Falle ... der Tatrichter jedoch gehalten“ sei, „den Beweiswert dieses weniger sachnahen Beweismittels bei seiner Überzeugungsbildung besonders sorgfältig und vorsichtig zu prüfen und zu würdigen“. Woraus ergibt sich die Überzeugungskraft dieser „Zwischenlösung“? Ein sprachliches, logisches, systematisches Argument ist nicht sichtbar. Teleologisch – Sinn und Zweck der Normen hier und jetzt – dieses Eingangstor bleibt immer. Aber jetzt müssten doch die Abwägungen kommen. Die Aussage des Kommissars soll entscheiden, aber nicht ganz sozusagen. Für diese halbherzige Option gibt es keinen anderen Beleg als die „Geschichte“. Man liest sie und denkt: Bei dieser Schieflage gibt es nur – assoziativ und spontan gedacht – die Antwort mit einer anderen Schieflage. Das k a n n Jurisprudenz sein, wenn man sich auf „Überzeugungsgewinnungsmuster“ (Denk- oder Argumentationsmuster kann man eigentlich nicht mehr sagen) einlässt, die mit im Detail
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nicht mehr nachprüfbaren Suggestionen arbeiten, so wie es die Literatur tut, man nehme die Vorgänge auf dem See, die Theodor Dreiser so schildert, dass man genau nachvollziehen kann, weshalb Clyde eigentlich gar nichts tut und doch möglicherweise das Entscheidende unterlässt. Kann man das, so ist das vielleicht mehr wert als eine schulgemäße Anwendung der Grundsätze über das unechte Unterlassungsdelikt. Man kann bei dieser Sachlage gut verstehen, dass Derrida meint, in jeder Generalisierung, in jeder Abstraktion stecke ein Stück Gewalt, denn kein Sachverhalt gleiche einem anderen, und Egalisierungen durch generalisierte Begriffe vernichten diesen Unterschied.
F Das Problem ist in der rechtsmethodologischen Literatur seit langem bekannt. Die Debatten über „Generalisierung und Individualisierung im Rechtsdenken“40 füllen ganze Bücher. Aber die Eindringlichkeit, mit der unter Bezug auf die Literatur und die Literaturwissenschaft, die mit diesem Problemen eben ganz anders umgeht, die Jurisprudenz zur Überwindung dieser Diskrepanzen aufgefordert wird, ist doch ein neuen Ton.
I. Mehr Individualisierung – das kann auch heißen, dass man nicht nur den abgestuften Bedürfnissen und Ansprüchen einer Person besser Rechnung tragen soll, sondern auch, dass institutionelle Gegebenheiten und die Dynamik von Verfahren für sich sprechen sollen und damit subtiler wahrgenommen werden können als das geschehen kann, wenn man sie unter herangetragenen Prämissen betrachtet. Ganz kann natürlich die Außenperspektive nicht aufgegeben werden, gleichsam bis hin zu autopoietischen Blindheit. Aber die Abstände zwischen Allgemeinem und Besonderen sollten kleiner werden. Das Besondere, das die hier apostrophierte Amalgamisierung von Sachverhalt und Begründung hervorbringt, ist die Relativierung von Unrecht im Namen des Rechts. Am deutlichsten ist es dort, wo man das Strafbare braucht für die Bekämpfung des Strafbaren. Das hat beim agent provocateur zur Strafzumessungslösung geführt. Mit der Abtrennung der Logik des Verwertungsverbotes von der Logik des Erhebungsverbots, die zur Beweiswürdigungslösung führt, steht es aber nicht anders. Die unzulässigen Beweiserhebungen sind ja kein Missgeschick, das man, um nicht einer doktrinären Perfektion zu verfallen, 40
So der Titel des 45. Beiheftes des ARSP.
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später dann doch korrigieren darf. Vielmehr sind die Vorgänge, die eine Beweiserhebung unzulässig machen, kriminalistisch gerade deshalb so ergiebig, weil sie durch ihre Milieuangemessenheit erst das Material hervorbringen, das zu verwerten sich lohnt. Nur die Mitwirkung im Unerlaubten schafft das Vertrauen, das zu den Mitteilungen führt, die man braucht. Mit anderen Worten, auch hier ist es so, dass die auf die Unzulässigkeit gerichtete Intention Voraussetzung ist für das spätere, mit dem Stempel der rechtlichen Zulässigkeit versehene Ergebnis.
II. Lehrt uns die Literatur hier eine andere Grammatik, die uns erlaubt, mit Widersprüchen zu leben? Der Schriftsteller Martin Walser lässt den Protagonisten seines Romans „Verteidigung der Kindheit“41 im Text am Schluss sagen: „Je tiefer er sich in einen Fall einarbeitet, um so deutlicher wird die Unlösbarkeit. Jeder hat recht. Das ist seine Erfahrung. Aber wenn man das gelten ließe, hörte die Welt morgen auf zu atmen. Sie würde im gegenseitigen Rechthaben erstarren. Also muss man für eine glimpfliche Täuschung sorgen. Für eine Problemanästhesie sozusagen. Die Positionen dürfen sich nicht mehr so deutlich empfinden. Dass sie voneinander lassen können, dass es auf etwas, worauf es vorher ausschließlich ankam, nicht mehr so ankommt“. Walser zieht aus dieser Situationsbeschreibung dann freilich den Schluss, „zu dieser Anästhetisierung gibt es das Gesetz oder: die Verallgemeinerung des Einzelnen“. Das ist der typische Glaube des kultivierten Nicht-Juristen an die große Weisheit der Rechtsordnung42. Der juristische Leser dieser Passage sieht aber, dass sie klüger ist als sein Autor. Das Absolute und Generalisierende stellt dieser Text ja gerade – mit Recht – in Frage. Es gibt andere Beispiele. Für das „Unheilige Reich des Reineke Fuchs“ hat Peter Schneider43 die These aufgestellt, dass die Juristen vorsichtig sein sollten, es ganz und gar zu verdammen; vielmehr offenbare sich hier möglicherweise ein Stück höherer Weisheit im Spiel zwischen Macht und Recht. Das kann hier aber nicht vertieft werden44.
41 42 43 44
Frankfurt am Main 1991. Genauer dazu Klaus Lüderssen, Produktive Spiegelungen, Band I, aaO., S. 135 ff. Vgl. seinen gleichnamigen Aufsatz in: Klaus Lüderssen (Hrsg.), Goethe und die Jurisprudenz, Frankfurt am Main 1999, S. 195 ff. Vgl. auch Lüderssen, Produktive Spiegelungen, Band I, aaO., S. 103 ff.
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III. Wie muss man das beurteilen? Vesting meint – nicht bezogen auf diese Beispiele, aber generell – mit großer Entschiedenheit, dass es in diesen Fällen nicht darum gehe, „Richtern in einem Entlarvungsgestus die Unbegründbarkeit ihres Tuns vorzuhalten ...“. Eine „‘postmoderne’ Methodenlehre ... wäre vielmehr der Versuch, die Entscheidungsparadoxie zu entparadoxieren“45. Wie das – ohne Rückgriff auf das Assoziationspotential des Narrativen in einer „rein“ dogmatischen Argumentation soll stattfinden können, bleibt offen. Vielleicht ist es wirklich so, dass hier nicht nur eine Möglichkeit der Amalgamisierung von Recht und Literatur besteht, sondern eine Notwendigkeit. Es ist nicht ausgeschlossen, dass die Anstöße, die das Law and Literature Movement insoweit gegeben hat, tatsächlich einmal so etwas hervor bringen wie einen Stil genuiner narrativer Argumentation, und künftige Zeiten mitleidig auf jene Epochen zurück blicken werden, die geglaubt haben, mit Logik und Deduktion alles erreichen zu können, auf der Basis eines einfältigen Begriffes von Konsistenz.
G Wie weit man damit nicht nur im Alltag rechtlicher Entscheidungen, sondern auch dort, wo es um grundlegende Fragen über das Verhältnis von Recht und Macht geht, scheitert, hat – und mit diesem literarischen Beispiel möchte ich schließen – Schiller gezeigt. Dafür mögen ein paar Passagen aus „Wallenstein“ stehen46. Hier treten zwei Positionen einander gegenüber, die jede für sich eine vertretbare moralisch-rechtliche Legitimation beanspruchen kann47: Der Kaiser – dynastisch-traditionell, einschließlich des Katholizismus; Wallenstein – visionär, Einheit stiftend, dem Neuen, wenn es sein muss, auch dem Protestantismus zugewandt. Es geht nicht nur darum, dass jede dieser Positionen ihrer45 46 47
AaO., S. 119. Ausführlicher dargestellt, auch mit Blick auf „Don Carlos“ und „Maria Stuart“, in: Klaus Lüderssen, „Dass nicht der Nutzen des Staates Euch als Gerechtigkeit erscheine“, Schiller und das Recht, Frankfurt am Main 2007, S. 145–182. Das mag streitig sein; es gibt die frühe Äußerung Schillers, dass an Wallenstein durchaus nichts Edles sein dürfe. Allerdings hat er diese Position später aufgegeben, sie hätte nicht zu dem im engen Austausch mit Goethe entwickelten Konzept gepasst, Wallenstein zur tragischen Persönlichkeit zu machen (darüber mit Belegen jetzt sehr präzise Walter Müller-Seidel, Friedrich Schiller und die Politik, München 2009, S. 125 f.); verfehlt ist insoweit die berühmte Inszenierung, die Peter Stein im Jahre 2007 in Berlin produziert hat: Brandauer als ein Wallenstein, der eigentlich nur listig und landsknechtsmäßig ist, gelegentlich, dort wo es darum geht, blitzartig eine Situation richtig zu erfassen oder auch zu verkennen, freilich ungewöhnlich geistreich und tiefgründig.
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seits unterminiert ist durch trübe Motive: Machterhaltung beim Kaiser – Machtzugewinn bei Wallenstein, einschließlich jeweils übler Manöver – Octavios Hinterlist48, Wallensteins Gemeinheit gegenüber Buttler49 – sondern darum, dass die gleichsam höhere Wahrheit, aber die ist eben paradox, in der Akzeptanz der Widersprüche besteht. Dass dabei den Protagonisten dieser Konfrontation Spannungen auch dort, wo ihre moralische Motivation noch einwandfrei ist, bewusst sind, ist ein starker Indikator dafür. Bezeichnenderweise wird das dann offenbar, wenn sie sich jeweils Max Piccolomini verständlich machen wollen – zunächst der Vater50: Octavio: Mein bester Sohn! Es ist nicht immer möglich, im Leben sich so Kinderrein zu halten, Wie’s uns die Stimme lehrt im Innersten. In steter Notwehr gegen arge List bleibt auch das redliche Gemüt nicht wahr [...] (V. 2447-2451).
Und dann der Freund und Mentor Wallenstein51: Doch, wo von zwei gewissen Übeln eins Ergriffen werden muss, wo sich das Herz Nicht ganz zurückbringt aus dem Streit der Pflichten, da ist es Wohltat, keine Wahl zu haben [...] (V.697-700).
Das Unerlöste dieser persönlichen Positionen u n d die auch nicht auflösbare Gleichberechtigung jener auseinander strebenden politisch-rechtlichen Zielsetzungen gipfeln in der Parallelität der Beschwörung alter und neuer Ordnung. Octavio (wieder zu Max)52: Mein Sohn! Laß’ uns die alten, engen Ordnungen gering nicht achten! Köstlich unschätzbare Gewichte sind’s, die der bedrängte Mensch an seiner Dränger Willen band. Denn immer war die Willkür fürchterlich. Der Weg der Ordnung, ging er auch durch Krümmen, er ist kein Umweg. Gradaus geht des Blitzes, 48
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Befiehlt nur gleich die Klugheit und die Pflicht, die ich dem Reich, dem Kaiser schuldig bin. Dass ich mein wahres Herz vor ihm verberge, Ein falsches hab’ ich niemals ihm geheuchelt. (Klassiker Ausgabe, Bd. 4, S. 68). Er sendet dem Kaiser nicht den befürwortenden Brief, den er Buttler zu lesen gegeben hat, sondern einen anderen, Buttlers Bitte um den Grafentitel verwerfenden Brief. Klassiker Ausgabe, Bd. 4, S. 143. Ebd., S. 71 f. Klassiker Ausgabe, Bd. 4, S. 178.
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Konsequente Inkonsequenzen geht des Kanonenballs fürchterlicher Pfad – schnell, auf dem nächsten Wege, langt er an, macht sich zermalmend Platz, um zu zermalmen. Mein Sohn! Die Straße, die der Mensch befährt, worauf der Segen wandelt, diese folgt der Flüsse Lauf, der Täler freien Krümmen, umgeht das weite Feld, den Rebenhügel, des Eigentums gemess’ne Grenzen ehrend – so führt sie zu später, sicher doch zum Ziel. (V. 463–478).
Nun aber Wallenstein (jetzt, „mit sich selbst redend“, wie die Regieanweisung für den großen Monolog lautet)53: Und was ist Dein Beginnen? Hast Du Dir’s auch redlich selbst bekannt? Du willst die Macht, die ruhig, sicher thronende erschüttert, die in verjährt geheiligtem Besitz in der Gewohnheit fest gegründet ruht, die an der Völker frommen Kinderglauben mit tausend zähen Wurzeln sich befestigt. Das wird kein Kampf der Kraft sein mit der Kraft, [...] Ein unsichtbarer Feind ist’s, den ich fürchte, der in der Menschen Brust mir widersteht. Durch feige Furcht allein mir fürchterlich. Nicht was lebendig, kraftvoll sich verkündigt ist das gefährliche Furchtbare. Das ganz Gemeine ist’s, das ewig Gestrige, was immer war und immer wieder kehrt, und morgen gilt, weil’s heute hat gegolten! [...] Das Jahr übt eine heiligende Kraft, was grau für Alter ist, das ist ihm göttlich. Sei im Besitze, und Du wohnst im Recht, und heilig wird’s die Menge Dir bewahren.
Noch einmal: keiner von beiden erreicht eine widerspruchsfreie Rechtsposition, könnte sie auch nicht erreichen.
H Möglicherweise gibt es in der Geschichte etwas, was ich zögern würde, ein unsichtbares Gesetz zu nennen, wonach die höhere Weisheit im unentwirrbaren Voranschreiten von Gegensätzen liegt. Das gemahnt keineswegs an Hegel, der sucht ja nach Auflösungen, sondern mehr an das, wovon schon die Rede
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Ebd., S. 160 ff.
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war, die Schiller / Sartre’sche Dialektik der Freiheit54, und letztlich wird man nicht sagen, die Wahrheit ist das Ganze, sondern: das Ganze ist das Unwahre55, und dazu gehören oder das sind sogar – wie ich ergänzen möchte – die unaufgelösten Paradoxien. Ist das der Geist der Romantik, die Paradoxien nicht „für ein vermeidbares, durch logisches Argumentieren austreibbares Problem“ hielt, sondern „für Manifestationen hartnäckiger Widerspruchsstrukturen – und für das unwiderstehliche Ingredienz eines nicht langweiligen Lebens“?56 Die Unbekannten in der Rechnung sind jene unsichtbaren Vorgaben, die erst im Moment des Entscheidens präsent sind. „Die Wirklichkeit der Person wird nur in dem manifest, wozu sie sich entscheidet“57. Wallenstein formuliert jene Vorgaben pessimistisch, Octavio optimistisch. Gleichwohl obsiegt dieser nicht, denn keineswegs ist es ja mit Wallensteins Tod – trotz Hegels bekannter depressiver Deutung des Stückes – mit dem zu Ende, was Wallenstein gewollt hat, wie der weitere Verlauf der europäischen Geschichte zeigt. Die narrative Argumentation macht das Paradoxe kreativ. Für die Rechtstheorie könnte man daraus folgern: „Unter Bedingungen höherer Komplexität der Rechtskonflikte ... können die canones der traditionellen Auslegungslehre ... allein nicht mehr als überzeugend angesehen werden“58. Daraus folgert Vesting, dass „eine Selbstbindung der Rechtsinterpretation“ nur eintreten könne, „wenn diese Selbstbindung evolutionäre Fortentwicklungen zulässt“59. „Evolution“ ist daher auch die Überschrift des letzten Kapitels60 der von Vesting vorgelegten Rechtstheorie. „Der neuzeitliche moderne Geschichtsbegriff konnte erst entstehen, nachdem die Welt nicht mehr in einer unverfügbaren (metaphysischen) Transzendenz wurzelte, sondern zum Gegenstand ihrer eigenen Entwicklung geworden war“61. Damit ist ein Historismus programmiert, der die „prinzipielle Zugehörigkeit des Subjekts der Ge-
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Darüber genauer: Lüderssen, Produktive Spiegelungen, Band II, 2009, S. 60 ff. Theodor W. Adorno: Minima Moralia. Reflexionen aus dem beschädigten Leben, Berlin u. Frankfurt am Main: Suhrkamp Verlag 1951, S. 80. Jochen Hörisch, Dialektik der Romantik, Athenäum, 2003, S. 45. Kurt Wölfel: Friedrich Schiller, München: Deutscher Taschenbuch Verlag, 2004 (mit Blick auf Maria Stuart und Wallenstein), S. 148. K.-H. Ladeur / I. Augsberg, Auslegungsparadoxien, Rechtstheorie 2005, S. 143 ff. (176). AaO., S. 124, unter ausdrücklicher Bezugnahme auf Ladeur / Augsburg aaO., S. 170. AaO., S. 128. AaO., S. 124, unter ausdrücklicher Bezugnahme auf Ladeur / Augsburg aaO., S. 170. AaO., S. 128.
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schichtserkenntnis zu seinem Gegenstandsbereich“ erkennt62. In Verbindung mit dem Evolutionsgedanken kann das nur heißen, dass die Relevanz von Einigungsprozessen ihrerseits das Ergebnis von für relevant gehaltenen historischen Entwicklungen ist, deren Wahrnehmung die Gestalt – Intersubjektivität verbürgender – menschlicher Selbsterkenntnisse annimmt63. Der Beitrag, den die schöne Literatur dazu leisten kann, ist unendlich.
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Herbert Schnädelbach, Geschichtsphilosophie nach Hegel. Die Problematik des Historismus, Freiburg / München, 1974, S. 183. Dazu genauer Lüderssen, Genesis und Geltung in der Jurisprudenz, Frankfurt am Main 1996, S. 61 ff.
4.
Jenny Lind und Fontane. Eine Anmerkung zur Geschichte der Kunstreligion Nie hätte ich geglaubt, man könne noch einmal auf Fontanes Romanfigur Pastor Lorenzen und sein Verhältnis zu Jenny Lind zu sprechen kommen, deren Bild in seinem Studierzimmer zu sehen ist. „Die Lind war, glaube ich, seine erste Liebe, sehr wahrscheinlich auch seine letzte“, sagte Woldemar von Stechlin während einer Landpartie, die zum „Eierhäuschen“ an der Oberspree führt. Fontane macht – nicht nur im „Stechlin“ – viele Anspielungen auf die Realien seiner Epoche. Was noch in den „Wanderungen durch die Mark Brandenburg“ nur zur Historie gehört, wird in den Romanen raffiniert in die Dialoge geschoben, immer mit tieferer Bedeutung. Nun hat „Die schwedische Nachtigall“ im Namen der „Geschichte des Ruhms“ das Interesse der neuesten musikwissenschaftlichen Forschung gefunden. Christiane Tewinkel berichtet darüber auf der Seite „Geisteswissenschaften“ (Frankfurter Allgemeine Zeitung vom 30. Dezember 2009) und überrascht uns mit der Information, dass bei Jenny Lind „kunstreligiöse Aspekte [...] in die Wahrnehmung ihrer Figur hinein spielten“. Sie habe „mit ihrer Wohltätigkeit Konzertsäle zu Kirchen“ umfunktioniert, sei bereit gewesen, „auch hohe Gagen umgehend zu spenden und sozial schwächere Menschen in ihre Konzerte einzuladen“. Hat Fontane das gewusst? Oder ist es ein Zufall, dass Pastor Lorenzen mit Adolf Stöcker sympathisiert, jenem Berliner Hof- und Domprediger, der 1878 – gleichsam zwischen Sozialdemokratie und Wilhelm II – die „Christlichsoziale Bewegung“ gegründet hat? Man müsste weiter fragen: Hat Fontane sich vorgestellt, dass Lorenzen von der sozialen fürsorglichen Seite Jenny Linds etwas wusste? Das Lind-Porträt von Eduard Magnus, damals in der Berliner Nationalgalerie, hing als Kopie in der Lorenzen’schen Pfarre „über seinem Sofa, dicht unter einer Rubens’schen Kreuzabnahme ..., wenn man will, eine etwas sonderbare Zusammenstellung“, sagt Woldemar. Lorenzen habe noch auf der Schulbank gesessen und sich mit Stundengeben durchgeschlagen, „aber er hörte die Diva trotzdem jeden Abend und wusste sich auch trotz bescheidenster Mittel, das Bild zu verschaffen“. Wenn man die Lebensdaten – Adolf Stöcker: 1835 bis 1909, Jenny Lind: 1820 bis 1887 – vergleicht,
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liegt der Schluss nahe, dass die Ideen Stöckers, als der junge Lorenzen die Lind singen hörte, noch nicht aktuell waren. Es würde Lorenzen freilich gefallen haben, dass Kunst und Sinn für Soziales in der Person dieser Sängerin zusammen kamen. Der Erwerb des Bildes war also gewissermaßen auch Teil einer Art divinatorischer Antizipation. Nichts davon ahnt Superintendent Koseleger. Zwar meint er bei Gelegenheit seines Besuches in der Pfarre (nach der früher als erwartet zu Ende gegangenen Wahlversammlung im Stechliner Krug) – unter Hinweis darauf, Lorenzen habe etwas von einem Feinschmecker – „Sie sind Ästhetikus“, aber er versteht darunter etwas anderes. Er sieht nur das Rubens-Bild (und gibt sofort eine kunstgeschichtliche Expertise ab), nicht die Lind, schwärmt für das Schöne, wie er es „im Haag als Teil der vornehmen Welt“ kennen gelernt hat: „Und da war ich dann heute in Amsterdam und morgen in Scheveningen, und am dritten Tag in Gent oder in Brügge, Reliquienschein, Hans Memling – so was müssten Sie sehen“. Sein Kunstbegriff verbindet sich in der Theologie mit einer „strengen Richtung“, der, wie Woldemar berichtet, auch Frau Oberförster Katzler, eine geborene Prinzessin Ippe-Büchsenstein, folgt; sie „hält zu Superintendent Koseleger, unserem Papst hier“. Damit betritt eine dritte Figur die kirchliche Szene, die wie ein vielmaschiges Netz über dem ganzen Roman liegt – als persönliche Lebensform, aber auch als Politikum. „Kirchliche Szene“ ist eigentlich nicht richtig, denn welche Rolle Religion und Theologie hier haben, ist ja äußerst umstritten; im Roman spürt das niemand genauer als Dubslav von Stechlin: „Ich bin ja, wie Du weißt, eigentlich kirchlich, wenigstens kirchlicher als mein guter Pastor (es wird immer schlimmer mit ihm) ...“. Schaut man genauer hin, so ergibt sich ein Reigen: Die Prinzessin und Koseleger verbinden sich gegen Lorenzen, indem sie den kranken Dubslav als Medium benutzen. „... Engelke, sie wollen mich bekehren“, klagt dieser. Die Prinzessin geht dabei direkt vor, wieder über die Ästhetik. Koseleger sei, wie seine Feinde sagen, ein Mann „von ‘schönen Worten’. Aber soll ich mich einem Heilswort verschließen, weil es sich in Schönheit kleidet? Soll ich eine mich segnende Hand zurück weisen, weil es eine weiche Hand ist?“ Koseleger versucht es indirekt über die Denunziation des freigeistigen Lehrers Krippenstapel. An Lorenzen „persönlich wagen sie sich nicht ran“ räsoniert der das Manöver durchschauende Dubslav. Ein anderer Weg, Weltläufigkeit und Religion zu verknüpfen, führt Koseleger und Melusine zusammen, gegen Tante Adelheid, weil diese kein Verständnis hat für die aparten Surrealismen englischer Prozesse, die es zulassen, Gerech-
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tigkeitsfragen zu ästhetisieren. Tante Adelheid wiederum verständigt sich mit Rex – der (ein Assessor im Kulturministerium) ländliche Frühgottesdienste organisiert – über „sittliche Hebungsfragen“, auf Kosten des alles viel politischer sehenden Lorenzen. Weitere Allianzen und Gegnerschaften eröffnen sich. Tante Adelheid beharrt auf der „Liebe des natürlichen Menschen ...“, die sich „am besten in der Familie“ zeige, und widerspricht damit Melusine, die von Lorenzen schwärmt. „Welch ein Mann ... und zum Glück auch noch unverheiratet“. Der Reigen schließt sich, indem er wieder bei Lorenzen ankommt und erneut, diesmal im Gespräch mit Melusine, Jenny Lind das Thema ist. Lorenzen glaubt, auf die Kreuzabnahme hinweisen zu sollen, aber Melusine spricht nur von dem Bild der Lind, dessen Platz in der Pfarre für sie ein Symbol der Liebe ist. Fast möchte man hinzufügen Daran „hanget das ganze Gesetz und die Propheten“ (Matthäus 22/40), ein Satz, der eigentlich über den Glauben hinaus geht oder dahinter zurück bleibt, Melusine jedenfalls fühlt sich zu der Bemerkung veranlasst, dass sie „wenigstens demütig“ sei. Lorenzen quittiert das keineswegs mit Großzügigkeit, sondern erweist sich jetzt doch als fundierter Kirchenmann, für den Demut keine Konzession, sondern die hohe Tugend ist, die allein den Menschen befähigt, die Gnade Gottes zu empfangen. Am Ende hat Fontane also mit dem Nebeneinander von Kreuzesabnahme und mondäner Sängerin nicht nur eine biographische Kuriosität fixiert, sondern – inmitten der vielen persönlichen Varianten protestantischen Christentums – ein Stück moderner, gebrochener Theologie geliefert; erst die wissenschaftliche Vergegenwärtigung des „Marianischen Frauenbildes“ der Jenny Lind bringt das, wie man sieht, zum Vorschein.
5.
Die Wunde Wagner „Wagner und Bayreuth“ (1966) von Adorno wiedergelesen. Was für ein schöner, unprätentiöser Text. Verheißungsvoll war alles am Anfang, noch fern der traurigen Wahrnehmung, Bayreuth sei das „geistige Gravitationszentrum“ jenes „wild-nationalistisch“ gesinnten Altwagnertums, das schließlich zu der Münchner Aktion gegen Thomas Manns Vortrag über „Leiden und Größe Richard Wagners“ geführt hat. Spätestens seit dieser Kontroverse ist die Ambiguität Wagners im öffentlichen kulturellen Bewusstsein auch Deutschlands präsent. An der Intensität, mit der sich dann Bayreuth und der Nationalsozialismus verbanden, hätte wohl auch die Übersetzung der großen Biographie von Ernest Newman, die Adorno dreißig Jahre später immer noch vermisst (und sie fehlt nach wie vor), nichts ändern können. Statt dessen kommt es zu der forcierten Entpolitisierung im Bayreuth der Nachkriegszeit: Im ersten Programmheft heißt es: „Im Interesse einer reibungslosen Durchführung der Festspiele bitten wir, von Gesprächen und Debatten politischer Art auf dem Festspielhügel freundlichst absehen zu wollen. Hier gilt die Kunst“. Das ist nun – nach der Ära Chéreau und Boulez – auch schon lange wieder Vergangenheit. Doch auch eine „Wunde Wagner“ bleibt. Jeder neue „Ring“ bringt die alten Fragen auf den Tisch. So beispielsweise in Frankfurt in der WerneckeInszenierung (mit Sylvain Cambreling als Dirigent) in den mittleren neunziger Jahren – denkwürdiges Ereignis, begleitet durch die viel beachtete, rühmenswerte Dokumentation „Rund um den Ring“. Und jetzt beginnt es wieder in Frankfurt. „Rheingold“ ist schon da; für den frühen Herbst und den Winter ist der Rest der Tetralogie zu erwarten und damit die Fortsetzung der Gespräche über zu wenig oder zu viel Realismus. Denn nicht nur die Verabschiedung des auf sittliche Hebung dringenden Mythos ruft Kritik hervor, sondern auch die sich erneuernde nüchterne Idee, dass es im „Ring“ um antikapitalistisch motivierte Politikkritik gehe, indem der „Täuschungs- und Unterdrückungscharakter“ herausgestellt werde oder gar das „repressive Moment ‘trüber Verträge’, das zur Selbstfesselung dessen führe, der sich ihrer machtpolitisch zu bedienen versuche“ (Udo Bermbach, in: „Rund um den Ring“).
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Die Wunde Wagner
Diese entweder metaphysischen oder mehr oder weniger aktuellen parteilichen Finalisierungen ergreifen eben nur einen Bruchteil dessen (und verfälschen ihn obendrein), was Wagner mit den Texten und – diese weit hinter sich lassend – mit der Musik anbietet. Neben den verklärten, faustisch-vorwärtsdrängenden Visionen öffnen sich Perspektiven der Dekadenz. Sie werden sehnsüchtig oder schmerzlich eingenommen, oder ablehnend bis hasserfüllt und verachtend. Oder alles geht auf in ruchlosem Optimismus (Arthur Schopenhauer). Vielleicht empfiehlt es sich, den Abtausch der – allmählich auch zu einer unendlichen Melodie werdenden – Argumente einmal zu ersetzen durch die Probe auf ein Exempel. „Der den Trotz lehrte, straft den Trotz / Der die Tat entzündet, zürnt um die Tat? / Der die Rechte wahrt, der die Eide hütet / wehret dem Recht, herrscht durch Meineid?“
singt Erda und meint Wotan. Das ist eine verzweifelte Klage, nicht über korrigierbare Missstände, sondern über die Melancholie der Macht. „Deus a peccato per peccatione liberat“. Die Geburt des Rechts aus dem Geist der Gewalt. Ein viel besprochenes künstlerisches Beispiel dafür ist „Reineke Fuchs“, so wie Goethe ihn präsentiert. Dass das Recht seine eigenen Voraussetzungen nicht definiert, dass der erste Eigentümer nicht im Recht und der erste auf Herrschaft gegründete Staat nicht legitim gewesen sein können – das sind vertraute Puzzlespiele der „höheren“ Jurisprudenz. Freilich nicht zu allen Zeiten. Denn als Wagner komponiert, bewegt sich die deutsche Rechtswelt konsequent und selbstbewusst auf das zu, was man seitdem Begriffsjurisprudenz nennt. System, logische Analyse und Deduktion bestimmen die Szene. Anfang des 20. Jahrhunderts ändert sich das ein wenig. Direkte Bewertungen, auch Rücksicht auf Emotionen schieben sich dazwischen. Man nennt das je nachdem Interessenjurisprudenz oder Freirechtslehre, es bleibt aber im Ganzen doch beim Alten, zu stark ist die einigende Gewalt (!) der großen Kodifikationen des bürgerlichen Rechts, des Strafrechts und des Prozessrechts, welche die Rechtspolitik des 19. Jahrhunderts abschließen. Vielleicht liegt es an dieser Kontinuität, dass juristische Annäherungen an Wagners Opern zunächst kasuistisch bleiben, bis hin zu Kindisch-Anekdotischem. Später kommen ernstere Untersuchungen (im ersten Drittel des zwanzigsten Jahrhunderts), die sich bemühen, im anarchisch-wüsten Betrieb von Regelbehauptung und Regelverletzung eine verborgene Staatstheorie zu finden, animiert durch Wagners ehrgeizige Ambitionen auf diesem Gebiet und eine Art per aspera ad astra-Mentalität. Die NS-Zeit ist allerdings zu juristenfeindlich, als dass ihre Theoretiker es hätten reizvoll finden können, die Mischung aus Chaos, Op-
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portunismus und schrecklichen Heilslehren in das Konzept einer Rechtsordnung zu überführen. Als die Nazi-Zeit vorüber ist, werden zwar Demokratie und Rechtsstaat wieder belebt, an der Struktur der Rechtsgesellschaft ändert sich aber nichts. Erst Globalisierung und Immigration bringen dann eine Heterogenität hervor, die den Glauben an die Möglichkeit, Widersprüche zu überwinden, schwinden lassen zugunsten eines freieren Umgangs mit Paradoxem bis hin zu der verstohlenen Bemerkung, dass Widersprechendes nebeneinander gelten zu lassen, der Weisheit letzter Schluss sein könnte. Zu einer handfesten Rechtstheorie hat sich diese Behauptung noch nicht verdichtet. Aber die Kunst hat es immer gewusst. Berühmt und einflussreich ist die Definition Goethes: Er spricht von Resultaten, „die, wenn wir nicht ihre Veranlassung wissen, als paradox erscheinen, uns aber nötigen, vermittelst eines umgekehrten Findens und Erfindens rückwärts zu gehen und uns die Filiation solcher Gedanken von weither zu vergegenwärtigen“. Die Musik ist entschiedener. Jene Zeilen aus der Introduktionsszene zum dritten Akt des „Siegfried“ werden aus ihrer kontradiktorischen Gefangenschaft erlöst, weil „das Nebeneinander der heterogenen Motive ... durch Chromatik zu einem unmittelbar fasslichen Konnex vermittelt“ wird, „durch eine Chromatik, die nicht bloß vage und generell den Bereich umschreibt, dem die Harmonik der Motive oder Motivgruppen angehört, sondern die deren Substanz bildet“. Das sagt der Musikwissenschaftler Carl Dahlhaus, ohne zu ahnen, welche Untiefen der Jurisprudenz er damit überbrückt. Der insofern vorurteilsbeladene Jurist akzeptiert das nicht, registriert das im Tonsatz eigentlich verbotene Intervall des – obendrein eine Oktave übergreifenden – Tritonus (diabolus in musica), der den „Meineid“ zum Sprengsatz macht und damit den – durch den verdeckt bitonalen harmonischen Gestus und die outrierte Melodik widergespiegelten – Konflikt jäh beendet: „Gymnastik des Hässlichen auf dem Seile der Enharmonik“ (Friedrich Nietzsche). Natürlich steht auch eine programmatische Musik – selbst wenn, wie es Wagner wünscht, die Orchestermelodien nicht vom Dialog abhängen, sondern der Dialog von der Orchestermelodie – nicht ohne weiteres für Rechtsprinzipien oder deren Ablehnung. Aber sie kann zum Symbol werden für einen Stil des Rechts und seine Genese. Signalisiert unsere „Stelle“ also, dass – übersetzt sozusagen – unter den Möglichkeiten, die im Umgang mit Paradoxien im Recht diskutiert werden, nur diejenige realistisch ist, die mit der wachsenden Prävalenz des Paradoxen im Recht dessen Scheitern diagnostiziert?
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Wie universell kann das gemeint sein? Wagner provoziert die Integration des Grauens in die Phantasie der Weltbeglückung, mit der alles vereinenden Chiffre des „Untergangs“ oder ohne sie. Vielleicht liefert er damit einen Schlüssel für die Lösung von Problemen, die uns die Rechtsgeschichte der NSZeit aufgibt. Die „geistigen“ Ursachen der Brutalität, das auf endlosen Umwegen „Ausgedachte“, sind die Katastrophe, nicht nur die sadistisch bösen Taten. Das Verwirrspiel von Äquivokationen, das Wagner zubereitet, gehört zu den Brutstätten eines, salopp gesagt, politischen Idealismus auf Abwegen, historisch anschaulich im – an dubiosen Wechselfällen auch im Privaten nicht armen – Leben des berühmt-berüchtigten nationalsozialistischen Staatsrechtlers Carl Schmitt, fiktiv durch die Figur des frivol-ästhetisierenden, die Schwächen zu Stärken stilisierenden Max Aue in Jonathan Littells Roman „Die Wohlgesinnten“. In diesem perversen Milieu ist auch Platz für Siegfried: Eine „unbehauene Inkarnation des Freien, des Anarchischen, des zur Rettung einer verrotteten Welt ausersehenen Menschen“, der auf eine „fatale Weise frei ist“ (Peter Wapnewski), „dem die soziale Moral durchaus fehlt, die Hoffnung vieler, aber abgründig“ (Martin Gregor Dellin). Daher kommt wohl so viel Inzest im „Ring“ vor. Bezeichnenderweise auch bei Jonathan Littell – ebenso wie Wagner inspiriert durch Aischylos’ Orestie. Leicht zu nehmen war das damals nicht, auch wenn Nike Wagner schreibt, Richard Wagner bleibe „über die Form Herr seiner Wünsche“, und „indem er gleichsam Schuldgefühl und Strafe gleich“ mitliefere „zu den Delikten“, sei es für die „Kulturbürger nach erfolgter inzestuöser Mittäterschaft“ kein Problem, beruhigt nach Hause zu gehen. Die Politikwissenschaft widerspricht dieser treuherzigen Harmonisierung: „Der ‘illegale’ Inzest erscheint als der eigentlich moralische Akt, der die nicht mehr zu rechtfertigenden gesellschaftlichen Konventionen zerstört und damit neue individuelle Freiheitsperspektiven eröffnet“ (Udo Bermbach, in „Rund um den Ring“). Wer – alt genug – so belehrt ein wenig forscht in seinen Erinnerungen, stößt auf den Typ des intellektuellen, mal zynischen, mal „hochfliegenden“ nationalsozialistischen Wagnerianers, dessen Rekonstruktion unter dem Eindruck sich ständig vertiefender Einsichten in Wagners „Ring“ über das hinaus gehen könnte, was allgemein schon mit „es ist viel Hitler in Wagner“ virulent ist. Bleibt die Frage, ob das Paradoxe im Recht am Ende, was einige jüngere unorthodoxe und mutige Rechtstheoretiker überlegen, kreativ genutzt werden könnte. Andere Disziplinen, vor allem die Sozialwissenschaften, sind hier weniger zurückhaltend. Gibt es nicht auch für die Juristen reichhaltige alternative Komplexität? Der Abschied von nur aus wenigen Prinzipien folgenden rechtlichen Regelungen muss nicht in einen undurchdringlichen, gefährlichen
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Sumpf führen, kann auch gestaltreiche Vielseitigkeit freisetzen. Schiller, der sich Gedanken gemacht hat über „den Gebrauch des Gemeinen und Niedrigen in der Kunst“, beschwört gleichwohl in den Briefen über die ästhetische Erziehung des Menschen eine unbegrenzt bedürfnisorientierte Spontaneität auf der Basis tiefgefühlter Anerkennungen. Die daraus folgende Forderung nach Auflösung der Identität vom guten und freien Willen ist am eindringlichsten von Jean-Paul Sartre erhoben worden; zwischen ihm und Schiller steht Wagner und stellt vor, was als Anspruch erscheint auf eine „ausgreifende Utopie der Vereinigung von Politik und Kunst, die Ersetzung der Religion durch das Kunstwerk der Zukunft mit den Künstlern als Priestern und Propheten“ (Helmut Brackert, in „Rund um den Ring“). Schwer einlösbar – für das „Positive“ müssen die Wissenschaften eben wohl doch selbst sorgen. Aber die Kunst – sei es auch nur um ihrer Intentionen willen – kann sie vielleicht davor behüten, zu schnell aufzugeben. In schwachen Stunden, schreibt Wagner, habe er sich immer wieder den symphonischen Dichtungen von Franz Liszt zugewandt; seine das ganze Leben währende enge Bindung an Liszt hat dessen Werk für ihn vielleicht zu dem gemacht, was er selber vergeblich erstrebt hat. Oder war Liszt naiv? Hört man die Etudes d’exécution transcendante, – demnächst beim „Kunstfest Weimar“ zu genießen – und liest die Noten, möchte man das nicht vermuten. Aus unendlicher Ferne wird irrlichternd herbeizitiert, was schließlich in Kaskaden zusammenwächst. War das ein Trost für Wagner und ist sein Vertrauen in Liszts Optimismus deshalb vielleicht eine Hilfe bei der Interpretation seines eigenen Werkes?
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Das Furchtbare erkennen. Über Jonathan Littell, „Die Wohlgesinnten“ Recht und Literatur haben das Narrative gemeinsam: die Erzählung ist auch Argumentation, und das Recht erzählt auch Geschichten – und das Hermeneutische: die Texte wollen verstanden werden, bis hin zum Dekonstruktiven: Auch was nicht gesagt wird, beschäftigt die Juristen; Texte werden entlarvt, unaufrichtige oder verschwiegene Prämissen entdeckt. Getrennt sind Recht und Literatur durch verschiedene Ansprüche auf Geltung. Die Literatur will ästhetisch überzeugen, das Recht will wirksam sein, befolgt und angewendet werden. In diesem Punkt ähneln seine Texte mehr den theologischen, nur haben sie nicht deren Autorität und Eindeutigkeit. Ungewißheit der Legitimation, also notfalls sogar nur Gesetzespositivismus und – bei so viel Weltlichkeit – genuine Beurteilungsspielräume sind sein Alltag, Interpretation ist alles, und damit nähert sich das Recht wieder der Literatur beziehungsweise die Rechtswissenschaft der Literaturwissenschaft. Aber was sind die Ziele der Interpretation? Das Recht will wahr und richtig sein, will das die Literatur auch? Der Vorwurf, das sei keine Literatur, kommt bei Dostojewski, der es in „Verbrechen und Strafe“ an schonungsloser Genauigkeit der Analyse und Kritik der Verhältnisse nicht fehlen lässt, gar nicht in Frage. Erst recht nicht bei Schillers „Räubern“. Doch hier ist der Stoff in ein phantastisches Universum getaucht. So wie Franz Moor und Karl Moor spricht niemand, hat nie jemand gesprochen. Eine zweite Welt taucht auf, der ersten nicht ganz unähnlich, aber zu einer Analogie reicht es nicht. Nur gleichnishaft und symbolisch kann, was geschieht, zu jedermanns Erfahrungen und Entscheidungen heraufstilisiert werden. „Kunst will die extremsten Aspekte menschlicher Erfahrung vermitteln“, sagt Jonathan Littell und: „Literatur ... will ein Fenster hin zum Unverständlichen öffnen ...“. Der Roman „Die Wohlgesinnten“, zu Beginn des zu Ende gehenden Jahres und weiterhin heftig umstritten, erhebt unerhörte Zumutungen an die inzwischen längst in Gang gekommenen vielen gemeinsamen Projekte zwischen Juristen und Literaten. Seine Figuren und Handlungen sind fiktiv, auch dort, wo es um Träger historisch verbürgter Namen geht, müssen aber den Überprüfungen durch die Recherchen standhalten, die der Verfasser –
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übrigens gründlich und von niemandem angezweifelt – vorgenommen hat. Wer – wie Karl Heinz Bohrer – argwöhnend, dass die Literatur von der Kulturwissenschaft vereinnahmt werden könne, ihren Wirklichkeitsbezug leugnen, nein, eigentlich verbieten möchte, wird auf das schärfste dagegen protestieren, dass Littells Roman Literatur sei. Nun, damit kommt die Welt zurecht. Besorgt fragt Bohrer denn auch: „Wenn die Poeten selbst die Türen öffnen zur Idee von der Realität, wo bleibt da die ästhetische Differenz?“ Sie bekommt freilich eine besondere Note, wenn die Wahrheit als Kriterium des gelungenen Wirklichkeitsbezuges von Literatur sich mit der Darstellung äußerster Unmoral verbindet. Das Problem dabei ist, dass Littell nicht die Wahrheit des Unmoralischen anbietet, sondern die Unmoral der Wahrheit. Da diese „Wahrheit“ von Verbrechen und der staatlichen gesellschaftlichen Reaktion beziehungsweise Nichtreaktion darauf handelt, geht sie die Juristen etwas an. Sie haben immer über das verfügt, was man Täterliteratur nennt – jemand „steigt aus“ und erzählt nun, wie es war. Und dann entscheiden die Literaturkritiker, ob das Kunst ist. Die „Täter“ sind entweder schuldbewusst oder, wie die Kriminologen sagen, um Neutralisierungen bemüht. Nichts davon bewegt die Figur, die Littell in seinem Roman sprechen lässt. Vielmehr haben wir die Hilflosigkeit dessen vor uns, der die grauenhaftesten Ereignisse mit einer Ideologie versieht, die pervers, aber nicht zynisch ist. Das kann es, darf es nicht geben, hört man. Thomas Mann apostrophiert „Das intellektuelle und moralische Niveau“ und sagt dazu, „die beiden gehören zusammen“, und dem korrespondieren die ersten Reaktionen auf den Roman. Der Versuch „fiktionaler – nichtautobiographischer, nicht-dokumentarischer – Darstellung des nationalsozialistischen Massenmordes“ wird „als ‘blasphemisch’, ja, als moralisches Verbrechen’ bezeichnet“. „Ein Jude versetzt sich in das Triebleben, in Denken und Fühlen eines Massenmörders? Unerhört! Skandalös!“ Aber wenn er es richtig macht? Claude Lanzmann, der den Film „Shoah“ gedreht hat, sagt: „Littell ist sehr begabt, ich kenne das, worüber er schreibt. Was mich zuallererst erstaunt hat: Die absolute Exaktheit. Alles stimmt. Die Namen der Leute, der Orte. Ich habe mir gesagt, die beiden einzigen Menschen, die dieses Buch von A bis Z verstehen können, sind Raoul Hilberg und ich.“ Littell sagt: „Wahrheit in der Literatur, wenn Sie so wollen, in dem Sinne, in dem ein Buch wie Madame Bovary wahr ist.“ Halten wir uns daran: Die Wahrheit des Sturmbannführers Dr. Aue, dessen Erlebnisse während des Zweiten Weltkrieges vor allem im Osten gut 1300 Seiten füllen, ist die, dass die Obszönität der Naziideologie keineswegs iden-
Über Jonathan Littell, „Die Wohlgesinnten“
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tisch ist mit dem schlechterdings Niedrigen, sondern gerade erst durch eine entsetzliche Intellektualität Gestalt annimmt – eine absurde Kombination, die Littell vorführt. Selbst ein vom Konstruktivismus paralysierter Historiker könnte das nicht. Da gibt es, etwa bezogen auf die „Bergjuden“ im Kaukasus, Diskussionen darüber, ob sie nicht von der Vernichtung auszunehmen seien, weil der rassische Aspekt entfalle. Einschlägige Untersuchungen des 19. Jahrhunderts werden zitiert. Die Tendenz der Wehrmacht ist eindeutig: keine Liquidation. Anders die SS. Sie versucht zu argumentieren mit einer hochqualifizierten Wissenschaftlichkeit sozusagen als Voraussetzung für das Grauen. Oft versucht Aue, die besonders schlimmen Exzesse der ja ohnehin exzessiven Aktionen zu mildern, etwa mit Hinweis auf die Erhaltung der Arbeitsfähigkeit der Häftlinge. Die Überprüfung des absolut Furchtbaren mit solchen relativierenden Rationalismen ist der Schock. Erzählungen, die gewissermaßen in die differenzierte Empirie eines Menschen hineinreichen, öffnen keineswegs nur den Weg zu seiner Entlastung. Der Holocaust ist keine Naturkatastrophe, sondern als Menschenwerk zu begreifen. Das Böse, indem man es erklärt, wird nicht weniger böse, sondern noch böser. Es kann also keine Rede davon sein, dass der Roman „eine verstörende Arbeit am nationalsozialistischen Mythos“ ist, dass der Autor den „Nachlass des Nationalsozialismus poliert“. Deshalb ist es auch falsch zu behaupten, Littell habe sich „alle Mühe“ gegeben, „aus Aue eine handelnde Person zu machen, mit der man sich identifizieren kann“. Was Aue zu jemandem werden lässt, „der keine Gewalt sehen kann, ohne an ein Massengrab zu denken“, rückt ihn vielmehr in große Ferne. Die Frage, ob die Literatur strategische Rücksichten nehmen darf oder gar soll, braucht also im vorliegenden Fall gar nicht beantwortet zu werden. Der Gipfel ist das fiktive Gespräch mit Eichmann, der den Erzähler fragt, ob er Kant gelesen habe. Dann überlegen die beiden, „ob unsere Arbeit mit dem kategorischen Imperativ in Einklang“ stehe. Das wird ernsthaft erörtert: „Handele so, dass der Führer, wenn er von Deinem Handeln Kenntnis hätte, dieses Handeln billigen würde.“ Es ist nicht Kants Schuld, eine Abstraktion gewählt zu haben, die verschiedenen Richtungen die jeweils ihnen gemäße Konkretisierung erlaubt. Was man herauszubekommen versuchen muss, ist vielmehr, wie es Menschen möglich ist, sich mit den schrecklichsten Vorgängen in den höchsten Sphären des Geistes zu bewegen. Littell versucht in immer wieder neuen Anläufen deutlich zu machen, wie es im Kopf jemandes aussieht, der so angestrengt über die Rechtfertigung der größten staatlichen Verbrechen nachdenkt, die es bisher gegeben hat. Unzählige Details werden aufgehäuft, damit das Bild eines an diesen Verbrechen beteiligten Menschen entstehen
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kann, dessen Flaubert-Lektüre beispielsweise – die „Lehrjahre des Gefühls“ sind es – nicht etwa ein Doppelleben signalisiert (wie das Streichquartettspiel des in Prag herrschenden SS-Führers Heydrich), sondern offenbar zum integrierenden Bestandteil einer völkischen Lebensphilosophie wird. Man könnte das alles kurzerhand für pathologischen Unsinn halten, aber die antiaufklärerischen Töne schon in Thomas Manns „Bekenntnissen eines Unpolitischen“, die merkwürdigen Anwandlungen eines neuen Vitalismus, des sich abwechselnd den Nazis und dann wieder den Kommunisten zuwendenden späteren Widerstandskämpfers Schulze-Boysen, die zwielichtigen Bekenntnisse Gottfried Benns zu Beginn der Nazizeit oder auch die indistinkten Attitüden des nach dem Krieg mit allen bürgerlich-kultivierten Raffinessen arbeitenden Friedrich Sieburg in der Zeit der deutschen Besetzung von Paris machen die Versuchungen deutlich, mit denen selbst erlesenste Geister kämpfen. Dass jemand gleichzeitig gewissermaßen die schönsten Landschaftsbeschreibungen leistet, zart-differenzierende Wendungen für die Liebe findet (ungeachtet extremer Praktiken), bei von ihm durchaus gebilligten Erschießungen ausgefallene Sadismen zu verhindern sucht, eine „interne“ SS-Gerechtigkeit fordert, ist keine sensationslüsterne Mixtur des Autors, wie manche vermuten, sondern ein Wahnsinn, der Methode hat. Dem entspricht das Ende: „Ich bin allein mit dem sterbenden Flusspferd, einigen Straußen und den Kadavern, allein mit der Zeit, mit der Traurigkeit und dem Leid der Erinnerung, mit der Grausamkeit meiner Existenz und meines künftigen Todes. Die Wohlgesinnten hatten meine Spur wieder aufgenommen.“ Das ist nicht die Banalität des Bösen, sondern seine unendliche Motivation. Sie versinkt in der Trostlosigkeit eines Nichts, das eine stärkere „Ästhetik des Schreckens“ verbürgt als metaphysische Dämonisierungen. Dort, wo der Historiker Zahlen nennt und Strukturen herausarbeitet, liefert der Schriftsteller die Scheußlichkeiten mikroskopisch. Die Kunst hat hier eigentlich nie eine Grenze gesehen. Die Marterbilder mittelalterlicher Maler, die Grausamkeit der Vorgänge auf den Bildern Caravaggios, die kaltblütige Schilderung Goethes von den Schlachtabfällen, die – während der Kampagne in Frankreich – durch den Morast in die Zelte sickern, kennen wir. Warum soll gerade die Kunst der Moderne sich zurückhalten, zumal die Herausforderungen alles Bisherige übersteigen. Wenn die Wahrnehmungen des Äußersten und Verborgensten womöglich von Phantasien nicht mehr zu unterscheiden sind, heißt das nicht, dass der Wunsch zu erkennen aufgegeben ist. Die Intention entscheidet. Jonathan Littell wusste das. Sein Buch gehört eindeutig in den Kanon von Recht und Literatur.
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Duell und Selbsttötung bei Theodor Fontane Die erste Assoziationen bei dem Wort Duell ist gewissermaßen historischverträumt, man denkt an die tragischen, heldenhaften oder auch vielleicht grausamen Vorgänge, die Verklärung des Sieges der Ehre, Festungshaft statt Gefängnis, eine Art Ehrenhaft, aber eben doch Haft, also auch in der ersten Annäherung eine ambivalente Wahrnehmung. Aber das ist alles vorbei, und warum soll man sich damit noch beschäftigen außer in der Absicht einer sich selbst genügenden historischen Vergegenwärtigung. Ganz sicher sollte man sich dieser historischen Isolierung des Problems nicht sein. Am Ende handelt es sich vielleicht doch um ein ubiquitäres menschliches und gesellschaftliches Bedürfnis, das sich, wenn gewisse überlieferte Formen nicht mehr zur Verfügung stehen, auf andere Weise Bahn bricht. Man stelle sich vor, das staatliche Verdikt „Tötung ist Tötung“ hätte sich nicht durchgesetzt und das Duell wäre jetzt ähnlich wie Tennis und Golf eine Art Volkssport geworden für jeden, der glaubt, seine Ehre verteidigen zu müssen. Die Ehre ist sicher nicht nur ein Immigrationsproblem; vielmehr führt sie in den üblichen zivilrechtlichen und gelegentlich auch strafrechtlichen Verfahren, die durch ihre Verletzung heraufbeschworen werden, ein unterdrücktes Dasein – und dann entstehen gelegentlich doch die erstaunlichsten Motivlagen für schwere Gewalttaten. Ob die Institution des Duells, gäbe es sie noch, auch die so genannten „Ehrenmorde“ verhindern würde, ist freilich fraglich; hier scheint es doch genuin um einseitige Hinrichtungen zu gehen, die jene fremden Kulturen mehr oder weniger vorzuschreiben scheinen, und dass hier ein verhängnisvoller interkultureller Einfluss sich entfalten könnte, ist nicht zu besorgen. Abstrahiert man die Merkmale der Institution des Duells in der Erwartung, dann komme etwas Verallgemeinerbares zu Tage, so ist es ein Zweikampf mit unterschiedlichen Prioritäten, je nach dem, wer der Beleidigte ist, wobei insoweit häufig Zufälle eine Rolle spielen. Der ursprüngliche Hintergrund, dass ein Gottesurteil auf diese Weise ins Spiel kommen könne, ist in der relativ modernen Version, welche die Phantasie des gegenwärtigen Menschen beschäftigt, kaum noch präsent (obwohl es am Ende der Epochen, die das Duell noch kennen, immerhin heißt es – so äußert sich bei Fontane Herr v. Molchow im „Stechlin“ – „Blut sühnt“), wohl aber die Vorstellung, dass eine Elite, die
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sich auf eine clandestine Weise selbst definiert, glaubt, nur durch diese Form der Auseinandersetzung ihre Selbstachtung behalten zu können. Das ist aber alles sehr diffizil, weshalb vielleicht summarische Literaturangaben hilfreich sind1. Die Selbsttötung hingegen als Thema der Literatur bedarf keiner aktualisierenden Pointierung. Sie ist mehr denn je aktuell. Was aber vielleicht eine Erklärung fordert, ist die Verbindung, in die sie hier. mit dem Duell gebracht wird. Mit der ersten Antwort auf diese Frage greife ich den späteren Ausführungen freilich schon vor. Es ist in erster Linie Fontanes Roman „Cécile“, der zeigt, wie die Genese einer Selbsttötung mit vorausgehenden Duellen zusammen hängt. Die Frau, Cécile, die dem Roman seinen Namen gibt, kann die tödlichen Folgen der Duelle, zu denen sie aus verschiedenen Gründen Anlass gegeben hat, nicht ertragen, wobei – das sei schon jetzt angedeutet – sehr interpretationsbedürftig ist, ob Schuldgefühle oder der Gedanke, in ein tragisches Schicksal verstrickt zu sein, sie zu der Tat bewegen. Wäre nur durch diesen Roman die Frage nach dem Zusammenhang von Duell und Selbsttötung ausgelöst, hätten wir vielleicht doch eine zu schmale Basis für die gemeinsame Erörterung der beiden Phänomene. Aber sieht man genauer hin, so könnte auch der Tod von Effi Briest hier noch in Betracht kommen, als verdeckte, mehr oder weniger bewusste Selbsttötung. Das Duell ist hier freilich eher als verhängnisvolle Folge des Ehebruchs, dessen sie sich schuldig fühlt, im Spiel. Aber dieser Hintergrund öffnet nun auch den Blick für weitere Fälle, in denen der Ehebruch oder eine vergleichbare Kränkung im Rahmen einer Beziehung zwischen Mann und Frau in Fontanes Romanen zu Selbsttötungen führt. Das ist einmal der Tod von Christine Gräfin Holk in „Unwiederbringlich“, und zum anderen von Graf Petöfy, der es nicht verwindet, dass sein Sohn ihm den Rang abläuft in der Beziehung zu einer jungen Frau. Einmal auf dieser etwas erweiterten Schiene angekommen, liegt es dann doch nahe, noch nach weiteren Selbsttötungen zu suchen, die in der Romanliteratur Fontanes eine beherrschende Stellung einnehmen. Und da kommt man ganz von selbst auf „Schach von Wuthenow“ und „Stine“. Hier sind es nur Männer, die die Selbsttötung begehen. Der eine, Herr von Schach, um den Folgen einer
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Ute Frevert, Ehrenmänner. Das Duell in der bürgerlichen Gesellschaft, München 1991; Peter Dieners, Das Duell und die Sonderrolle des Militärs. Zur preußisch-deutschen Entwicklung von Militär- und Zivilgewalt im 19. Jahrhundert, Berlin 1992; Bernhard Schlinck, Das Duell im 19. Jahrhundert – Realität und literarisches Bild einer adligen Institution in der bürgerlichen Gesellschaft, Neue Juristische Wochenschrift, 2002, S. 537 ff.
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unerwünschten Heirat zu entkommen; der andere, Graf Haldern, weil er die Weigerung einer Frau, ihn zu heiraten, nicht verwindet. In den Fällen, in denen die Selbsttötung direkt mit dem Duell zusammen hängt, kann man – mit Hilfe psychoanalytischer Kategorien jedenfalls – eine einfache Rechnung aufmachen: Männer reagieren auf Probleme aggressiv, das heißt alloplastisch, gehen gewissermaßen auf den anderen los. Frauen kehren die Aggression gegen sich selbst, man nennt das autoplastisch. Ich will jetzt nicht untersuchen, ob hier nur Clichés nachträglich mit wissenschaftlichen oder hermeneutischen Begriffen besetzt werden. Schach und Haldern reagieren jedenfalls autoplastisch. Freilich sind in ihrer Situation die aggressiven Möglichkeiten begrenzt. Man darf also das hier griffige Gegensatzpaar von alloplastisch und autoplastisch nicht strapazieren. Und doch werden wir bei genauerem Studium der psychischen Situationen und ihrer Genese sehen, dass diese Unterscheidungen eine Basis dafür abgeben können, die Tötung eines anderen und die Selbsttötung im Zusammenhang zu betrachten. Das führt uns sofort zu den Überlegungen, mit denen ich diese Vorbemerkungen beenden möchte. Fontanes Behandlung des Stoffes fördert viele Details zutage, die zusammen auf eindeutige Anklage des Duells hinaus laufen, und auch auf eine Kritik der Umstände, die den Menschen in die Selbsttötung treiben können. Sicher haben Fontanes Romane diesen Effekt gehabt, vielleicht sollten sie ihn auch haben. Und doch steht im Mittelpunkt der Analysen, um die ich mich im Folgenden ein wenig bemühen möchte, nicht die Intentionen, wie man die Probleme besser lösen könnte, sondern das Interesse an der Erkenntnis ihrer Genese. Alles, was wir an der Romankunst Fontanes, die auch einmal „soziale Romankunst“ genannt worden ist, bewundern und lieben, und woraus wir lernen, hat diesen Schwerpunkt. Das Politisch-Postulative ist eine Zutat – sicher nicht unerwünscht, aber in ihrem relativen Stellenwert doch unverkennbar. Dass gleichwohl die Hoffnung besteht, es werde hier der Dichter für etwas Normatives, durchaus die Rechtsordnung Berührendes als Erkenntnisquelle erschlossen, ist trotzdem nicht falsch. Zum Recht gehören auch die Tatsachen, und zwar auch innere Tatsachen. Dass sie es vor allem sind, die bei aller akribischer Beschreibung der äußeren Verhältnisse im Zentrum der Romane, um die es hier geht, stehen, nimmt ihnen also nicht die Relevanz für das Thema „Law and Literature“.
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A Vielleicht empfiehlt sich zunächst eine kurze Darstellung der Geschichten, um die es geht.
I. Effi Briest heiratet mit siebzehn Jahren den Landrat Geert von Innstetten, der zwanzig Jahre älter ist, als junger Mann sich für die Mutter interessiert hat und nun comme il faut um die Hand der Tochter anhält. Alle Beteiligten, auch Effi, sehen die gute Partie – alles stimmt, die Familie, die Stellung des Mannes – Landrat, das ist in Preußen damals eine bevorzugte, häufig von Adligen eingenommene Position. Nach einer Hochzeitsreise, wie sie gleichsam „im Buch steht“, beginnt das gemeinsame Leben in einer Stadt an der Ostsee, verhältnismäßig einsam und bescheiden, im Milieu des in der Umgebung wohnenden Landadels und der wenigen Honoratioren der Stadt. Effi ist unglücklich, einmal wegen einer merkwürdigen an dem Haus, in dem sie wohnen, haftenden Spukgeschichte, u n d weil offensichtlich die Zärtlichkeiten ihres Mannes sich in Grenzen halten. Das, was man in solchen Konstellationen vermutet, nämlich eher eine Art Erschrecken und Zurückhaltung der sehr viel jüngeren Frau, ist nicht eingetreten. Es gibt ganz zu Anfang des Romans Anspielungen, die darauf hindeuten, dass Effi keineswegs ohne erotische Phantasie ist, und so kommt in Gestalt des nach einem knappen Jahr auffällig in Erscheinung tretenden neuen Chefs des Landwehrbezirks, Major Crampas, ein „Damenmann“, eine handfeste Versuchung auf sie zu, der sie erliegt, ohne es eigentlich zu wollen. Die Affäre dauert nur wenige Monate, Innstetten wird nach Berlin berufen, Effi ist froh darüber. Aber sechs Jahre später findet Innstetten zufällig einen Briefwechsel zwischen ihr und Crampas. Er fordert ihn deshalb zum Duell und tötet ihn dabei. Effi lebt nun einige Jahre in einfachen Verhältnissen in Berlin allein, die Eltern haben sie auch verbannt. Der sie wegen nervöser und auch wohl tuberkuloseverdächtiger Umstände behandelnde Arzt erwirkt schließlich ihre Wiederaufnahme durch die Eltern. Dort lebt sie noch ein halbes Jahr, dann stirbt sie, wohl an Auszehrung, wie man damals sagte, kurz und schmerzlos. Beiläufig, dieser Verlauf ist wenig wahrscheinlich. Das ist eine Schwäche, wie ich anmerken möchte, fast aller Fontane’schen Romane, in denen jemand stirbt. Als ob das so einfach wäre.
II. In „Cécile“ kommt es nicht zu einem Ehebruch. Vielmehr entwickelt sich die Duell-Situation schon in einer Art Vorspiel. Oberst St. Arnoud heiratet Cécile,
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obwohl einige Offiziere seines Regimentes ihn warnen, weil Cécile eine „Vergangenheit“ habe. Sie war die Geliebte eines Fürsten irgendwo im Schlesischen. Deshalb erschießt St. Arnoud im Duell den Offizier, der ihm diese Bedenken vorgetragen hat, muss eine Festungshaft hinter sich bringen und reist anschließend nach Thale im Harz, um dort mit seiner Frau eine Art Erholungsurlaub (für beide gleichsam) zuzubringen. Dort taucht der ehemalige Offizier und jetzige Bauingenieur von Leslie Gordon auf, ein Gentleman durch und durch, anziehend in jeder Hinsicht, gebildet, formvollendet, und macht Cécile den Hof. Mehr als ein mühsam beherrschter Flirt wird daraus aber nicht. In Berlin sehen sie sich wieder, Gordon hat inzwischen in Erfahrung gebracht, wie Cécile vor ihrer Ehe gelebt hat und wird im Ton etwas freier. Sie merkt das, beschwört ihn, eine gewisse Grenze nicht zu überschreiten. Er gelobt das, trifft sie dann aber später in einer Situation an, von der er vermutet, dass sie ihre Tugend Lügen straft, und wird so kühn und zugleich verletzend im Ton, dass der Oberst glaubt, ihn dafür im Duell zur Rechenschaft ziehen zu sollen. Zum zweiten Mal tötet St. Arnoud also im Duell jemanden um seiner Frau willen. Er flieht ins Ausland, bekommt dort die Nachricht, dass seine Frau den eigenen Tod gesucht und gefunden hat. Jetzt käme „Graf Petöfy“, doch vielleicht sollte man diese Geschichte fortan beiseite zu lassen; sie ist wirklich zu uninteressant.
III. „Unwiederbringlich“ ist die Geschichte eines Ehebruchs, in dem der männliche Rivale fehlt. „Opfer“ ist die Ehefrau – Christine Gräfin Holk –, die sich zunächst resigniert mit dem Geschehen abfindet. Nach der Scheidung kommt es zwei Jahre später erneut zur Heirat, aber die Frau spürt den Kompromiss, dass sie die Liebe ihres Mannes eigentlich nicht wieder gewinnen und auch ihre eigene Liebe nicht recht wieder beleben kann, und „geht ins Wasser“, wie man im Deutschen etwas salopp sagt.
IV. In „Schach von Wuthenow“ passiert es dem Herrn von Schach, dass er sich in ein Mädchen verliebt, deren Mutter sich eigentlich Hoffnung auf ihn gemacht hat. Das Mädchen, Victoire von Carayon, ist blatternarbig, aber doch anziehend im Sinne von beauté diable. Dieser Begriff fällt in einer Gesprächsrunde, zu der Prinz Louis von Preußen – der Roman spielt im ersten Jahrzehnt des 19. Jahrhunderts – eingeladen hat, und Herr von Schach ist auf eine eigenartige Weise berührt von dieser Assoziation, so dass er sich – ganz plausibel ist das
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nicht motiviert – zu einer Verführung hinreißen lässt, bei der er müheloses Spiel hat, weil Victoire in ihrer Ausnahmesituation wohl auch die konventionelle Barriere leicht hinter sich lässt. Aber heiraten will Herr von Schach sie nicht; die Mutter erzwingt seine Bereitschaft. Unmittelbar nach der Eheschließung erschießt sich Schach.
V. Schließlich „Stine“. Das ist der Name einer jungen, einfachen „Heimarbeiterin“, würde man heute sagen, mit der Graf Haldern bekannt wird, weil bei ihrer älteren Schwester, Pauline Pittelkow, ein Fest stattfindet, zu dem ein Onkel des Grafen Haldern, der mit ihr in einem „Verhältnis“ steht, eingeladen hat. Ein höchst dubioser Abend. Stine und der Graf sitzen still dabei. Dieser besucht sie einen Tag später und will eigentlich nichts anderes als ernsthafte Unterhaltungen. Denn er ist aus einem Kriege (es muss sich um den deutsch-französischen Krieg 1870/71 handeln) so schwer verwundet zurück gekommen, dass er nicht weiß, ob er leben oder sterben soll. Trotzdem entwickelt sich die Beziehung so, dass er schließlich Stine gegenüber den Wunsch äußert, sie möge ihn heiraten. Sie weist ihn aber zurück, weil sie besser als er überblickt, wie schwierig das im einzelnen sein würde. Auf seine Frage, ob sie ihn wirklich geliebt habe, antwortet sie „ja“, und das ganze endet in Tränen. Mit Schlaftabletten, die er wohlweislich seit langem gesammelt hat, bringt der junge Graf sich um. Soweit in aller Kürze die Erinnerung an den äußeren Ablauf der Geschichten. Wie das alles passiert, beschreibt Fontane nun minutiös und im Rahmen der schon eingangs dargelegten Konzeption, dass seine Romane weniger auf normative Konsequenzen zielen als auf die Genese von Entstehungszusammenhängen. Die Herausarbeitung der Konflikte, die schließlich zu diesen Katastrophen führen, beschränkt sich nicht darauf, dass typische Konstellationen präsentiert werden; vielmehr muss man sehen, das ist jedenfalls meine Wahrnehmung, dass Fontane in dem, was sich da zusammen braut, die Folge ganz bestimmter, von langer Hand sozusagen angelegter Charakterentwicklungen sieht; dass die Duelle und Selbsttötungen sich als Paravant gewissermaßen darstellen für die Lösung höchstpersönlicher Probleme, deren Entstehung weit hinter den Anlass, der schließlich zur Explosion führt, zurückreicht. Das muss, bei begrenzter Zeit, als Information und Hypothese genügen für die nun ins Einzelne gehenden Überlegungen.
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B I. Zunächst die Duelle und die damit zusammen hängenden Selbsttötungen.
1. Beginnen wir erneut mit Effi Briest. Schon als Innstetten erfährt (er findet die Briefe, die Crampas an seine Frau gerichtet hat, in einem Nähtischchen, das die beiden Hausmädchen auf der Suche nach einer Mullbinde für die verletzte Tochter geöffnet haben), was sich seinerzeit in Kessin vor über sechs Jahren zugetragen hat, ist er von Zweifeln darüber erfüllt, was zu tun sei. Diese Reflexionen werden in mehreren Situationen offenbar. In der ersten Situation geht es um ein Gespräch, das er mit Wüllersdorf, seinem engeren Fachkollegen führt. Alle Argumente pro und contra werden bereits aufgezählt, insbesondere das einer denkbaren Verjährung. Wüllersdorf, um den Beistand als Sekundant und Überbringer der Forderung gebeten, lässt kein Argument aus, das gegen das Duell spricht. Innstetten widerspricht keineswegs kategorisch, sondern lässt sich ganz ausführlich ein, teilt seine eigenen Bedenken mit. Das einzige, was am Schluss auch nach Meinung Wüllersdorfs übrig bleibt, ist der „Comment“: „unser Ehrenkultus ist ein Götzendienst, aber wir müssen uns ihm unterwerfen, solange der Götze gilt“. Im zweiten Anlauf, schon auf der Fahrt von Kessin zurück, packt ihn bereits die Reue, nicht in dem Sinne einer moralischen Selbstverdammung, sondern mehr als Ausdruck des jetzt doch ganz stark gewordenen Gefühls der Unsinnigkeit des Ganzen. Freilich stimmt das nicht ganz. Zwar bewegt sich die erste Phantasie, dass Crampas’ Blick am Schluss bedeutet haben könnte, „Innstetten, Prinzipienreiterei ... Sie konnten es mir ersparen und sich selber auch“, noch in diesem Rahmen. Aber am Schluss bekennt er ganz offen, dass er sich wünscht, „[...] ich hätte das Auge mit seinem Frageblicke und mit seiner stummen, leisen Anklage nicht vor mir“. Jahre später, gerade als der Brief von Roswitha kommt, in dem sie um den Hund bittet für die einsamen Spaziergänge von Effi, spricht Innstetten mit Wüllersdorf und ist ohne weiteres mit ihm einig. „‘Ja’“, sagt dieser, „die ist uns über.“ „Finde ich auch“, sagte Innstetten. Was hat sie denn geschrieben? Hier ist der Brief. „Gnädiger Herr! Sie werden sich wohl am Ende wundern, daß ich Ihnen schreibe, aber es ist wegen Rollo. Anniechen hat uns schon voriges Jahr gesagt: Rollo wäre jetzt so faul; aber das tut hier nichts, er kann hier so faul sein, wie er will, je fauler,
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Innstetten phantasiert über sein „Schulmeistertum, was ja wohl mein Eigentlichstes ist“, [...] und erwägt seine Rolle als höherer „Sittendirektor“. „Hm, dagegen ist nichts zu sagen; das würde gehen“, meint Wüllersdorf. „Nein, es geht auch nicht. Auch das nicht mal. Mir ist eben alles verschlossen. Wie soll ich einen Totschläger an seiner Seele packen? Dazu muß man selber intakt sein. Und wenn man’s nicht mehr ist und selber so was an den Fingerspitzen hat, dann muß man wenigstens vor seinen zu bekehrenden Confratres den wahnsinnigen Büßer spielen und eine Riesenzerknirschung zum besten geben können“. Diese moralische Grundstimmung ist eigentlich von Beginn an vorhanden, schon in dem ersten Gespräch mit Wüllersdorf bekundet Innstetten ja, dass er seine Frau nach wie vor liebe, dass von Hassgefühlen keine Rede sein könne, und schon auf der Rückfahrt von Kessin nach dem Duell kann er sich vorstellen, wie sein Leben ohne Duell weiter gegangen sein könnte. Allerdings nicht versöhnlich; vielmehr macht er doch die Einschränkung, dass er sich vorstellt, zu Effi gesagt zu haben: „Da ist dein Platz, und musste mich innerlich von ihr scheiden“. Also das, was man mit Vernunft und Liebe hätte leisten können, findet auch in die Zweifel an der Notwendigkeit des Duells keinen Eingang. Andererseits sagt er in dem ersten Gespräch mit Wüllersdorf klar, dass er sogar zum Verzeihen geneigt sei. Das kann man als widersprüchliche Linie in der Darstellung durch den Autor Fontane selbst bezeichnen und unaufgelöst lassen. Man kann es aber auch noch auf einem anderen Hintergrund deuten. Die gesellschaftliche Orientierung Innstettens ist es, die ihn in das Duell treibt; die alternative Lösung, die er sich vorstellt, den Rest seines Lebens mit Effi gleichsam aggressionslos-defätistisch zu verbringen, ist aber ebenso konventionell, nur auf einer anderen Stufe. Warum kommt er, klug und gebildet wie er ist, aus diesem Coucon nicht heraus, folgt nicht seinem spontanen Gefühl, zur Tagesordnung überzugehen und zu vergessen? Man stelle sich vor, er hätte Effi von seiner Entdeckung berichtet und wäre dann mit ihr in eine längere Auseinandersetzung eingetreten. Effi hätte diesen Diskurs glücklich aufgenommen, und man könnte vermuten, dass nun alles gut geworden wäre. Aber hätte das ernsthaft etwas daran geändert, dass in der Grundsubstanz der Beziehung zwischen beiden etwas nicht stimmte? Wäre nicht nach einer solchen gründlichen Aussprache mit ein paar Nachwehen der alte Zustand wieder
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eingetreten, der den Satz bestätigt hätte, „Denn er hatte viel Gutes in seiner Natur und war so edel, wie jemand sein kann, der ohne rechte Liebe ist“. Und dies ist die Stelle, an der man, wie angekündigt, versuchen muss, tiefer liegende charakterliche Umstände zu finden, die weder durch das soziale Klima noch durch besondere persönliche Nähe bestimmbar sind. Dafür gibt es Indizien, die sich gewissermaßen um den Vorgang des Duells selbst gruppieren. Auf dem Weg zu dem Ort, an dem das Duell ausgefochten werden soll, pflückt sich Innstetten eine blutrote Nelke und steckt sie sich ins Knopfloch. Auch Immortellen wachsen dort, und das kommentiert Innstetten mit der Bemerkung „Die Immortellen nachher“. In der Kommentierung zu dieser Stelle in der großen Hanser-Ausgabe heißt es, „Ähnlich wie der Heliotrop eine eigenartige hell-dunkle Stimmung bei F. verbildlicht, sind die Immortellen Bilder eines duftlosen, wehmütig kargen Todes ...“. Wenn Innstetten die Immortellen sich erst nach dem Duell anstecken möchte, kann das nur bedeuten, dass er fest mit dem Tod des Gegners, und nicht mit seinem eigenen rechnet. Dazu passt die eindeutige Entschlossenheit, dass – entgegen der Phantasie Wüllersdorfs – alles eben nicht „glatt“ ablaufen dürfe. Vor der klischeehaften Empfindung, hier zeige sich der wahre Charakter, sollte man nicht zurückschrecken, sondern genauer hinsehen. Effi ist dem in einigen Momenten ganz zu Anfang ihrer Ehe und sogar noch davor durchaus schon auf der Spur. So, wenn sie nach langen zögernden, ausweichenden Wendungen schließlich ihrer Mutter bekennt, dass sie sich vor Innstetten fürchte. Sie hat einen mehrfachen, schwer aufzuklärenden Ursprung, diese Furcht. Einerseits sind es die Grundsätze und Prinzipien, mit der ironisch, aber auch ängstlich anheim stellenden Interpretation, dass Prinzipien noch mehr seien als Grundsätze – von beidem habe Pfarrer Niemeyer respektvoll gesprochen – die sie schrecken: „Ach, und ich ... ich habe keine“. Hinzu kommt aber auch ein indistinktes Gefühl mit Blick auf die zu erwartenden Zärtlichkeiten. Man darf sich hier nicht zu schnell von gewissermaßen später nachwachsenden Vorurteilen leiten lassen, so wie das in dem letzten Effi Briest-Film geschehen ist, in dem der „Vollzug“ der Ehe als eine Vergewaltigung dargestellt wird, woraus sich dann mit Leichtigkeit der Schluss ergibt, dass bei der erstbesten Gelegenheit in Erwartung einer Korrektur dieser Grausamkeit der Ehebruch stattfindet. Andererseits ist diese Phantasie nicht so weit her geholt, bedenkt man, dass Frau von Briest selbst unüberhörbar illusionslos zu Effi sagt: „Die Wirklichkeit ist anders, und oft ist es gut, dass es statt Licht und Schimmer ein Dunkel gibt“. Aber selbst wenn man das beiseite lässt, gibt es im ersten Winter in Kessin genügend Hinweise, woran Innstetten es jedenfalls fehlen lässt. „Es war fast zur Regel geworden, daß er sich, wenn Friedrich
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die Lampe brachte, aus seiner Frau Zimmer in sein eigenes zurückzog“. [...] “Um neun erschien dann Innstetten wieder zum Tee, meist die Zeitung in der Hand, sprach vom Fürsten, der wieder viel Ärger habe, [...], und ging dann die Ernennungen und Ordensverleihungen durch, von denen er die meisten beanstandete“. [...] „War er damit durch, so bat er Effi, daß sie was spiele, aus Lohengrin oder aus der Walküre, denn er war ein Wagner-Schwärmer. Was ihn zu diesem hinübergeführt hatte, war ungewiß; einige sagten, seine Nerven, denn so nüchtern er schien, eigentlich war er nervös“. [...] „Um zehn war Innstetten dann abgespannt und erging sich in ein paar wohlgemeinten, aber etwas müden Zärtlichkeiten, die sich Effi gefallen ließ, ohne sie recht zu erwidern“. Das klingt harmloser als es ist; man muss es erst einmal vielleicht mit den Bildern vergleichen, die Effi sich – durch situative Assoziationen verführt – von Innstetten macht. „Ich habe mal ein Bilderbuch gehabt, wo ein persischer oder indischer Fürst (denn er trug einen Turban) mit untergeschlagenen Beinen auf einem roten Seidenkissen saß, und in seinem Rücken war außerdem noch eine große rote Seidenrolle, die links und rechts ganz bauschig zum Vorschein kam, und die Wand hinter dem indischen Fürsten starrte von Schwertern und Dolchen und Parderfellen und Schilden und langen türkischen Flinten. Und sieh, ganz so sieht es hier bei dir aus, und wenn du noch die Beine unterschlägst, ist die Ähnlichkeit vollkommen“. Man könnte so weit gehen zu sagen, dass Innstetten in der Tiefe seines Gemütes spürt, das, was er wirklich wünsche, könne er ohnehin nicht bekommen. Die absurde und gewalttätige Welt Wagners, dies vielleicht sogar bezogen auch auf die Musik, ist ein Ventil. Auch das durchschaut Effi sehr bald. „Und du bist nichts anderes als die anderen, wenn du auch so feierlich und ehrsam tust. Ich weiß es recht gut, Geert ... Eigentlich bist du ... [...] Nun, ich will es lieber nicht sagen. Aber ich kenne dich recht gut; du bist eigentlich, wie der Schwantikower Onkel mal sagte, ein Zärtlichkeitsmensch und unterm Liebesstern geboren, und Onkel Belling hatte ganz recht, als er das sagte. Du willst es bloß nicht zeigen und denkst, es schickt sich nicht und verdirbt einem die Karriere“. Und von hier führt der Weg zu einer verhängnisvollen Wahrnehmung: „Aber das andere, daß er den Spuk als Erziehungsmittel brauchte, das war doch arg und beinahe beleidigend. Und ‘Erziehungsmittel’, darüber war sie sich klar, sagte nur die kleinere Hälfte; was Crampas gemeint hatte, war viel, viel mehr, war eine Art Angstapparat aus Kalkül. Es fehlte jede Herzensgüte darin und grenzte schon fast an Grausamkeit.“
Nur in dem viel gerühmten, aber auch geschmähten Film von Fassbinder wird diese Stelle des Romans aufmerksam registriert. Es ist müßig, nun zu überlegen, woher das alles kommt, da müsste man tief einsteigen, vielleicht auch psychoanalytisch. Dazu gibt es nicht genügend Material in dem Roman. Doch
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die Verbindung zum Duell wird recht deutlich: Wieder eine – diesmal freilich gesteigerte – Möglichkeit, im Offiziellen das Ungewöhnliche und Ungebändigte zu verbergen. Ständig wird etwas unterdrückt. Man könnte sogar so weit gehen zu sagen, dass Innstettens Mitteilung auf Wüllersdorfs eindringliche Frage, ob es sein müsse, dass einer weg müsse, dass er den Liebhaber hasse, „nein, so sei es nicht“, auch schon wieder die Anpassung an eine Art gesellschaftlich-kultivierten Umganges mit einem solchen Problem ist, dass er sich einfach nicht leistet, was Crampas in seiner dem Heine-Gedicht entnommenen Erzählung vom Calavatra-Ritter berichtet, der den Liebhaber seiner Frau grausam und ostentativ umbringen lässt – das findet Effi übrigens übertrieben.
2. Was bei Innstetten verborgen bleibt, ist – in „Cécile“ – bei St. Arnoud von schrecklicher Direktheit. Nicht der geringste Skrupel ergreift ihn; freilich erfährt man auch nichts darüber, weshalb er dieses durch seine beiden Duelle dann doch aus dem Rahmen fallende und ihn letztlich an den Rand der Gesellschaft drängende Leben führt. Gelegentliche Resignationsanwandlungen auf den Spaziergängen im Harz beziehen sich eigentlich nur darauf, dass – in diesem Punkte – Cécile ihm leid tut, weil sie die gesellschaftliche Exponiertheit schwer erträgt. Ihm ist das ganz gleichgültig, seine Unabhängigkeit ist geradezu überwältigend. Die entsprechenden Phantasien Gordons, dass er sich St. Arnoud eigentlich als Riffpirat vorstelle, als jemanden, der außerhalb aller Ordnungen lebt, passen dazu. Während Instetten die Festungshaft ohne weiteres akzeptiert, sie gehört gleichsam zum Spiel, entzieht sich St. Arnoud beim zweiten Mal jedenfalls souverän und zugleich höhnisch amüsiert dem Zugriff. Es gibt kein besseres Resumé seiner Gemütsverfassung als den Brief, den er nach Erledigung Gordons (so muss man es schon nennen) aus Mentone schreibt. Hier ist er (leicht gekürzt) im Wortlaut: „Meine liebe Cécile! Was geschehen ist, wirst Du mittlerweile durch Rossow erfahren haben, und über meinen persönlichen Verbleib gibt Dir der Poststempel Auskunft. Ich habe hier im Hotel Bauer (es findet sich überall dieser Name) Wohnung genommen und genieße der Ruhe nach all den Vorkommnissen und unruhigen Bewegungen der nun zurückliegenden Woche. Selbst von einer gewissen Herzensbewegung darf ich sprechen, zu der ich mich, Dir gegenüber, gern bekenne. Der Ausgang der Sache machte doch einen Eindruck auf mich, und so bot ich ihm die Hand zur Versöhnung. Aber er wies sie zurück. Eine Minute später war er nicht mehr. Ich hoffe, daß Du das Geschehene nimmst, wie’s genommen werden muß. ’Tu l’as voulu, George Dandin’. Sein Benehmen war ein Affront gegen Dich und mich, und er hätte mich besser kennen müssen. Übrigens bin ich seinem Mute Gerechtigkeit
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Duell und Selbsttötung schuldig und mehr noch seiner unsentimentalen Entschlossenheit, die mir beinah imponiert hat. Denn er wollte mich treffen, und seine Kugel, die mir die Rippen streifte, ging nur zwei Finger breit zu weit rechts. Sonst wär’ ich da, wo er jetzt ist. Daß Du mit ein paar Herzensfasern an ihm hingst, weiß ich und war mir recht – eine junge Frau braucht dergleichen. Aber nimm das Ganze nicht tragischer als nötig, die Welt ist kein Treibhaus für überzarte Gefühle. Daß ich mich den Langweiligkeiten einer abermaligen Prozessierung entzogen habe, wirst Du natürlich finden. Ich werde mit nächstem sechzig und fühle keinen Beruf in mir, abermals ein Jahr lang (oder vielleicht noch länger) um den Juliusturm spazierenzugehen. So zog ich denn die Riviera vor.“
Dieser extravaganten Mentalität entspricht es, dass der Anlass des Duells relativ geringfügig ist. Nichts ist passiert zwischen Cécile und Gordon, seine vielleicht etwas anfechtbare Attitüde in der Theaterloge und die weiteren Gesprächsverläufe im Hause Arnoud reichen eigentlich nicht für den Normalfall eines Duells. Dementsprechend dezidiert ist das Verhalten Gordons, der als nunmehr Beleidigter ebenfalls keine Skrupel hat, was St. Arnoud auch noch anerkennend vermerkt, wie wir gesehen haben, und das gleiche gilt für die Selbsttötung Céciles, die illusionslos ist mit Blick auf das Schicksal Gordons – erschütternd die Mitteilung an das Mädchen: „Merk die Minute ... Er ist erschossen ... jetzt“ – und in Bezug auf sich selbst ein gewissermaßen perfektes Elend klar empfindet, demütig aufgefangen im – wieder gewonnenen – katholischen Bekenntnis.
3. Kehren wir von diesen Vorgängen zurück zu Effi Briest, so gibt es bei ihr die Parallele zum verdeckten Agieren insofern, als die Vermutung, ihr Tod sei letztlich auch als Selbsttötung aufzufassen, nur bedeuten kann, dass sie ebenso viel verbirgt wie Innstetten mit seinem gesellschaftlichen Opportunismus, und bei beiden Untiefen des Charakters spürbar werden. Nur in einer Situation löst sie sich (nachdem die Wiederbegegnung mit ihrer Tochter missglückt ist) von der Konvention, der Innstetten trotz aller Einsichten niemals entkommt. Hierfür steht ihr großer Monolog: „Oh, du Gott im Himmel, vergibt mir, was ich getan; ich war ein Kind ... Aber nein, nein, ich war kein Kind, ich war alt genug, um zu wissen, was ich tat. Ich hab’ es auch gewusst, und ich will meine Schuld nicht kleiner machen, ... aber das ist zuviel. Denn das hier, mit dem Kind, das bist nicht du, Gott, der mich strafen will, das ist er, bloß er! Ich habe geglaubt, dass er ein edles Herz habe und habe mich immer klein neben ihm gefühlt; aber jetzt weiß ich, dass er es ist, er ist klein. Und weil er klein ist, ist er grausam. Alles, was klein ist, ist grausam. Das hat er dem Kinde beige-
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bracht, ein Schulmeister war er immer, Crampas hat ihn so genannt, spöttisch damals, aber er hat recht gehabt. ‘O gewiß, wenn ich darf’. Du brauchst nicht zu dürfen, ich will Euch nicht mehr, ich haß’ euch, auch mein eigenes Kind. Was zuviel ist, ist zuviel. Ein Streber war er, weiter nichts. – Ehre, Ehre, Ehre ... und dann hat er den armen Kerl totgeschossen, den ich nicht einmal liebte und den ich vergessen hatte, weil ich ihn nicht liebte. Dummheit war alles, und nun Blut und Mord. Und ich schuld“. Crampas hingegen folgt, indem er sich der Forderung zum Duell nicht entzieht, nur äußerlich der Konvention. Im übrigen denkt er ganz selbständig. hält die ganze Sache für vollkommen überflüssig und unsinnig, ebenso wie die Reaktion Innstettens, als sie bei ihren Ausritten auf Robben stoßen (und Crampas spontane Jagdgelüste zeigt): „Geht nicht, Hafenpolizei“. Man möchte jetzt mit einer gewissen Konsequenz sagen, dass Crampas überall den Sinn für das Richtige hat. Aber ganz so einfach ist es dann doch nicht. Ordnungen haben ihre Funktion, und nun muss man doch noch einmal ernsthaft fragen, wohin gehört insoweit die Institution des Duells? Es ist unter Leuten von Stand in gewissen Situationen ein Gebot und bleibt doch – wenn auch in Grenzen – verboten. Ist diese paradoxe Situation nun die allgemein akzeptierte Ordnung oder prävaliert auch in Zeiten der durchgehenden gesellschaftlichen Anerkennung des Duells am Ende doch eine höhere Ordnung, in deren Namen sich so etwas verbietet? Immerhin gibt es auch dafür anerkannte Sachwalter. Das wird deutlich, als Crampas überlegt, wen er als Sekundant wählen könnte. Er spricht davon, dass einige, die in erster Linie in Betracht zu kommen scheinen, doch zu alt und zu fromm seien. Insofern ist es ganz schwierig, diesen mittleren Geltungsgrad der Duellinstitution zu fixieren. Den Ausschlag gibt aber dann doch wohl die positive Reaktion des Ministers auf Innstettens Meldung, und die Tatsache, dass die Festungshaft in Glatz, versehen mit dem Kommentar des alten Kaisers, sechs Wochen seien in so einem Falle gerade genug, Innstetten nicht im mindesten schadet. Wenn man bei der Suche nach den tieferen Gründen für die Duelle nicht nur den aggressiven Part ins Auge fasst, sondern auch das Opfer – hier Crampas –, wird man fündig. Ein Defätismus Heine’scher Provenienz, nicht etwa der Respekt vor den geschriebenen oder ungeschriebenen Ordnungen der Gesellschaft bestimmt sein Leben – und sein Verhältnis zum Tod. Die halb spielerischen, halb ernsthaften Gespräche – beim ersten intensiveren Zusammentreffen mit dem Innstettischen Paar am Ende der Badesaison auf der Veranda – über die von ihm imaginierte Todesart, sein an Innstetten gerichteter Wunsch, er möge über Bismarck, den er doch gut kenne, ihm ein wenig Krieg besorgen, damit er den anständigen Soldatentod sterben könne, passen zu der Romantik,
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die sich auch bei der Wahl des Platzes für das Duell offenbart (von Innstetten ironisierend kommentiert): Es ist die Stelle, wo er mit Effi zum ersten Mal allein das Frühstück einnimmt und man zwischen zwei Dünen den Blick aufs Meer hat,. Von Heine stammt auch das Gedicht, das mit der Zeile endet: „und mein Stamm sind jene Asra, welche sterben, wenn sie lieben“. Es kommt in dem Roman „Effi Briest“ nicht vor, aber man kann schon davon ausgehen, dass Crampas es kennt, und natürlich – wie auch Heine selbst – wiederum nicht ganz ernst nimmt, aber einen Teil davon in sein Gemüt lässt, und auf diese Weise seinen Frieden machen kann mit seinem schließlichen Schicksal. Staaten kann man nicht bilden und zusammen halten auf dieser Basis, und wenn es darauf ankommt, so müsste man bei der Abwägung verschiedenen Wertsysteme, in denen sich Innstetten und Crampas bewegen, doch noch einmal vorsichtig fragen: Wäre die Welt besser, wenn sie mit Leuten von der Art Crampas, oder wenn sie mit Leuten von der Art Innstettens angefüllt wäre, und könnte dann am Ende nicht entscheiden. Das muss auch nicht geschehen. Wie gesagt, Fontane hatte nicht den Ehrgeiz, die normative Frage endgültig zu beantworten, es ging ihm nur um die Psychogramme, gut auch für den Juristen, der sich über „Law and Literature“ den Zugang zu den Problemen, die er lösen soll, erleichtern möchte.
II. Bei den Selbsttötungen, die nicht mit einem Duell zusammen hängen, ist es ebenfalls so, dass deren Genese nicht durch Situationen erklärt wird, die vielleicht jeden Menschen in Versuchung führen würden, seinem Leben ein Ende zu setzen, sondern sehr spezifisch ist, mit langfristigen Charakterentwicklungen zu tun hat.
1. Der Fall Christine Gräfin Holk ist am deutlichsten. Frühe Todesgedanken offenbaren das im Grunde schon. Eine neue Gruft soll gebaut werden, weil die alte baufällig ist. Graf Holk interessiert das nicht, und so sagt Christine zu dem evangelischen Seminardirektor Schwarzkoppen: „Und wenn ich nicht alles Spitze und Verletzliche meiden möchte, so würd’ ich ihm sagen, es handele sich gar nicht darum, den Reigen durch ihn eröffnet zu sehen, ich wolle es ... .“
Eine Art Vorahnung, aus Pflichtgefühl vielleicht in den Tod getrieben zu werden, könnte man hier spüren. „Die Kraft ist bei denen, die nüchtern sind und sich bezwingen“, sagt sie zu ihrem Mann. Und wenn man das nicht mehr
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kann, möchte man hinzu fügen, dann bleibt nur der Tod. Dass das Leben in seinem Kern auf Enttäuschung hinaus läuft, gehört zu dieser Konzeption. Das Lied, das bei einer kleinen familiären Geselligkeit am Abend gesungen wird und dessen Text Christine wortlos ergreift und in ihrem Zimmer verschwindet, beginnt mit der Zeile: „Die Ruhe ist wohl das Beste von allem Glück der Welt“ und endet mit den Zeilen „Wer hasst, ist zu bedauern und mehr noch fast wer liebt“. Der Text stammt von einem durch Hölderlin beeinflussten schwäbischen Dichter namens Wilhelm Friedrich Waiblinger und trägt die Überschrift „Der Kirchhof“. In einer Anmerkung dazu heißt es, der Schriftsteller habe dabei an den Friedhof der Protestanten in Rom gedacht nahe der Cestius-Pyramide. „Es ist das ein Ort wie geschaffen für Schwermut“. Als es wider Erwarten später zur Versöhnung und erneuten Eheschließung gekommen ist, zeigt sich, dass Christine vergessen möchte, aber sie kann es nicht. Wieder gibt es einen Liedvortrag, und nachdem die letzten Zeilen verklungen sind, „Ich denke verschwundener Tage, und sie sind allzeit ein Glück, doch die mir die liebsten gewesen sind, ich wünsche sie nicht zurück“, verschwindet die Gräfin erneut, und in einem der berühmten Briefe, mit denen Fontane dritte Personen die Quintessenz ziehen lässt, steht dann auch noch einmal das Wesentliche unter Bezugnahme auf jenes erste Lied. Man könnte das Ganze als eine gleichsam in sich stimmige Melancholie begreifen, wenn nicht die Frage zu beantworten wäre, wie sich dieser Schritt der Gräfin mit dem „christlichen Sinn“ und der ganzen „Glaubensfestigkeit der teuren Entschlafenen“ verträgt, mit dem „christlichen Sinn, der das Leben trägt, so lange Gott es will“. Im Grunde liegt es wohl so, dass Christine die Devise, „Die Ruhe ist wohl das Beste [...]; wer hasst, ist zu bedauern, und mehr noch fast, wer liebt“, im Leben nicht durchhalten konnte: weltlicher Hochmut und christliche Demut nicht in Einklang zu bringen waren. Man kann Konflikte dieser Art vielleicht auch abstrakt behandeln, aber sie werden anschaulich und nachfühlbar erst durch eine Erzählung, und insofern ist, wenn man die Selbsttötung, was in der strafrechtlich-kriminologischen Zunft durchaus geschieht, in den Bereich der fachlichen Interessen einbezieht, hier etwas sichtbar gemacht worden, das der wissenschaftlichen Literatur entgeht.
2. Bei Schach von Wuthenow haben wir das klare Bild eines fast pathologischen Narzisten vor uns. Dass Frau von Carayon vergeblich auf ihn wartet, weil er nicht in der Lage ist, sich vorzustellen, verheiratet zu sein, sein Leben gleichsam teilen zu müssen, wird sehr bald von anderen deutlich ausgesprochen. Und
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als nun obendrein auch noch die falsche Frau es ist, die ihn zur Ehe verpflichten soll, ist sein Entschluss gefasst. Man würde das vielleicht schwer begreifen, wenn nicht Fontane mit einem besonderen Kunstgriff das subjektive Elend des Herrn von Schach in Szene gesetzt hätte. Er kommt auf der Flucht vor Victoire auf seinem heimatlichen Gut in die Ahnengalerie und stellt sich nun vor, wie die blatternarbige Victoire dort vielleicht einmal verewigt sein könnte, und er dem Maler sagt, „‘Ich rechne darauf, dass Sie den Ausdruck zu treffen wissen. Die Seele macht ähnlich’“. Oder soll ich ihm geradezu sagen: ‘Machen Sie’s gnädig’ ... Nein, nein!“ Wieder ist es ein Brief, der alles erklärt: „[...] Er sei, so versichern die Leute, der schöne Schach gewesen, und ich, das mindeste zu sagen, die nicht-schöne Victoire – das habe den Spott herausgefordert, und diesem Spotte Trotz zu bieten, dazu hab’ er nicht die Kraft gehabt. Und so sei er denn aus Furcht vor dem Leben in den Tod gegangen. So sagt die Welt, und in vielem wird es zutreffen. Schrieb er mir doch Ähnliches und verklagte sich darüber. Aber wie die Welt strenger gewesen ist, als nötig, so vielleicht auch er selbst. Ich seh’ es in einem anderen Licht. [...] Aber eine kluge Stimme, die die Stimme seiner eigensten und innersten Natur war, rief ihm beständig zu, daß er, wenn auch siegreich gegen die Welt, nicht siegreich gegen sich selber sein würde. Das war es. Er gehörte durchaus, und mehr als irgendwer, den ich kennengelernt habe, zu den Männern, die nicht für die Ehe geschaffen sind. [...] Er war seiner ganzen Natur nach auf Repräsentation und Geltendmachung einer gewissen Grandezza gestellt, auf mehr äußerliche Dinge, woraus Du sehen magst, dass ich ihn nicht überschätze [...].“
Dass ein pathologischer Narzissmus, der in der psychoanalytischen Fachliteratur üblicherweise als typische Ausgangssituation für alloplastisches, also aggressives Handeln erscheint, hier autoplastisch abreagiert wird, ist das Besondere. Man könnte versucht sein, das als Spielart eines femininen Narzissmus anzusehen. Kriminelle pathologisch-narzisstische Aktionen sind nur von Männern überliefert. Der weibliche pathologische Narzissmus scheint insoweit nicht erforscht zu sein. Womöglich gibt es ihn nicht, vielleicht überwiegt das genuin Weiblich-autoplastische die primär zum Alloplastischen drängende Komponente, so wie ja nach wie vor der Anteil der Frauen an der Kriminalität trotz Emanzipation auf den verschiedensten Gebieten nicht signifikant gewachsen ist. Bei Herrn von Schach eine feminine Spielart des Narzissmus anzunehmen, ist natürlich eine gewagte Spekulation, für die es eigentlich keinen anderen Beleg gibt als eine gewisse Alltagserfahrung; mit dem Typus „gut aussehender Mann“, dessen Eigenliebe seine Aggression reduziert und sie insofern dem klischeehaften Typ der friedfertigen Frau annähert, welche die Lösung ihrer Probleme nicht auf Kosten anderer sucht.
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Formuliert man es so, bleibt allerdings der Einwand, dass Schachs Opfer ja immerhin vor allem die zurückgelassene Victoire mit dem Kind ist. Man könnte bei Schach indessen noch eine andere Rechnung aufmachen. Das, was ihn schließlich zum Selbstmord treibt, die Heirat, wird ihm ja aufgezwungen. Der Brief, in dem Frau von Carayon, nachdem sie erfahren hat, dass Schach auf seinem Gut Wuthenow ist, ihm schreibt, ist durchaus im Duktus einer Duellforderung gehalten. Für den Fall, dass bis zu einem bestimmten Tage die Bekanntmachung des Verlöbnisses nicht erfolgt sei, kündigt sie entscheidende Schritte zur Durchsetzung ihres Anspruchs an, sie droht mit der Anrufung einer höheren Instanz. Das, woran sie denkt, ist nichts geringeres als ein Fußfall vor dem König. Mit den „Waffen einer Frau“ will sie die Rücknahme der Beleidigung bzw. deren Beendigung erreichen, nämlich die Aufgabe der Weigerung Schachs, Victoire zu heiraten. Auch im normalen Duell kann ja der Geforderte dem Duell zu entgehen versuchen durch die Bitte um Versöhnung. Schach ergreift diese Chance nicht. Für den Fall der Verweigerung der Versöhnung den im Duell zu riskierenden Tod in Kauf zu nehmen, kommt nicht in Betracht, weil die Frau nicht schießt. Schach muss also selbst seinen Tod herbeiführen. Das Einverständnis dessen mit seinem Tode, der dem Beleidigten den ersten Schuss lassen muss, ist ein ganz normaler Bestandteil des Duells, nimmt ihm den Charakter eines „gemeinen“ Totschlags. Die Zwangsläufigkeit, mit der Frau von Carayon Herrn von Schach für den Fall seiner Weigerung, Victoire zu heiraten, in den Tod treibt, ist zwar nicht so hochrangig wie beim „richtigen“ Duell, aber der Vater von Victoire, wenn er noch da gewesen wäre, hätte ohne weiteres Schach zum Duell fordern können im Namen der Ehre seiner Tochter. Dann wäre Schach als Beleidigender eben nach allen notorischen Regeln im Duell gefallen. Der Mechanismus, den Frau von Carayon in Gang setzt, hat also die gleiche Nötigungsstruktur, auch wenn die Versöhnungsvariante wahrscheinlicher ist als die Tötungsvariante, und die Tötungsvariante auch nicht direkt ins Visier kommt. Aber man täusche sich nicht. Dass der Tod Schachs als Alternative zur Verweigerung der Hochzeit mit Victoire der einzige ehrenvolle Ausweg ist gegenüber der Alternative, es einfach bei allem zu belassen und sich um nichts zu kümmern, liegt auf der Hand. So gesehen kann man sagen, dass Schach derjenige ist, der im Duell mit Frau von Carayon, wenn man ihr Vorgehen so charakterisieren würde, fällt. Auf gewisse Weise ist die Ehre der Tochter dann wiederhergestellt. Dazu könnte passen, dass Victoire selbst in dem Brief an ihre Freundin mit relativer Gelassenheit und Überlegenheit das Ganze würdigt. Wollte er nicht die Versöhnung, blieb ihm kein anderer Weg. Das wird gewissermaßen achselzuckend von beiden Damen akzeptiert.
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Kriminologisch gesehen ist auch die Selbsttötung Schachs also eine Sühne, der Selbsttötung Céciles und Effi Briests vergleichbar. Sofern die Wissenschaft auch die Kriminologie des Duells in ihren Forschungsbereich aufnimmt, bekommt sie hier durch die Literatur also eine Anregung über mögliche feministische Analogien zum Duell. Das alles kann man von einem Schriftsteller lernen, die einschlägigen psychologischen Wissenschaften bleiben dahinter zurück, und erst recht die Jurisprudenz.
3. Beim Grafen Haldern liegt es einfacher. Da gibt es keinen Narzissmus, mit dem man das autoplastische Verhalten erklären kann; vielmehr ist dieser Mann ja ganz demütig und verzichtet einfach auf sein Leben. Allenfalls könnte man versucht sein, eine quasi masochistische Komponente auszumachen. Aber die Fragilität seines Gesundheitszustandes, die permanent damit verbundene Verzweiflung überwiegen einfach als Erklärungsmuster, und insofern ist diese Selbsttötung nicht nur aus der individuellen Psychologie zu erklären. Um so mehr aber aus einer gesellschaftlichen Perspektive. Da ist diese Stiefmutter, eine von „Petersburger Erinnerungen getragene kurländische Dame“, die mit dem an seiner schweren Verwundung leidenden jungen Mann nichts anfangen kann. Den Rest gibt ihm die zurückweisende Härte des Onkels, der ihn ja eigentlich erst in diese zweifelhafte Lage gebracht hat. Hätte er eine Chance gehabt, sich in dieser Familie wohl zu fühlen, wäre ihm eine Alternative zur Heirat mit Stine vielleicht leichter gefallen. Das alles wir durch die Erzählung so konkret, dass man wiederum sagen muss, die Literatur weiß hier einiges besser als die Wissenschaft.
C Abschließend möchte ich zum Schwerpunkt unseres Themas zurück kehren: den Duellen in Effi Briest und Cécile. Sie werfen die Frage auf, weshalb in vergleichbaren Erzählungen es nicht zum Duell kommt. Dafür ist bei Fontane „L’adultera“ das Beispiel. Van der Straaten, vielleicht nicht satisfaktionsfähig als Geschäftsmann jüdischer Provenienz (?), Rubehn, ebenfalls jüdisch, aber eben doch Reserveoffizier, wäre es wohl. Keiner der Beteiligten kommt auf die Idee. Woran liegt das? Die nächstliegende Erklärung ist eben dann doch die, dass das Duell eine Sache ist einer sich selbst definierenden Elite, und van der Staaten und Rubehn, wiewohl sie vom bürgerlichen Respektstatus her gesehen dazu gehören könnten, fühlen sich außerhalb dieser Kreise. Wäre der Schwa-
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ger Melanies, der Ehemann ihrer Schwester, der Major von Gryczinski, in irgendeiner Weise involviert, hätte es an der Duellentwicklung keinen Zweifel gegeben. So bestätigt diese Geschichte die schon eingangs zu den ziemlich konstanten Bedingungen des Duells gerechnete Statussymbolik, und man könnte sich nun der weiteren Frage stellen, wie es im übrigen in der Weltliteratur aussieht. Da ist „Anna Karenina“ von Tolstoi. Auch hier kommt es nicht zum Duell, obwohl sich Wronski ihm, für den Fall, dass ihn eine Forderung erreicht hätte, sofort ohne Zaudern und Skrupel gestellt haben würde. Aber die Skrupel liegen bei Karenin, dem Beamten. Allerdings ist er ein noch höherer Beamter als Innstetten es war, und vom Elite-Gesichtspunkt her hätte das Duell wirklich nahe gelegen. Deshalb überrascht nicht, dass diese Frage von allen Beteiligten, vor allem aber von Karenin, in immer wieder neuen Anläufen reflektiert wird. Das ist indessen ein neues Thema. Ich denke aber, dass ein Hinweis auf die parallele Literatur hier nicht falsch ist, weil so noch einmal deutlich wird, wie spezifisch und präzise Fontane das Problem fixiert.
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Von der Bankrotterklärung des Rechts. Kleists Neigung „zu lastender Rechtsproblematik“ (Thomas Mann)
„Kohlhaas, der Du Dich gesandt zu sein vorgibst, das Schwert der Gerechtigkeit zu handhaben, was unterfängst Du Dich, Vermessener, im Wahnsinn stockblinder Leidenschaft, Du, den Ungerechtigkeit selbst, vom Wirbel bis zur Sohle erfüllt? Weil der Landesherr Dir, dem Du untertan bist, dein Recht verweigert hat, dein Recht in dem Streit um ein nichtiges Gut, erhebst Du Dich, Heilloser, mit Feuer und Schwert, und brichst, wie der Wolf der Wüste, in die friedliche Gemeinheit, die er beschirmt.“
So beginnt das Plakat, das Luther – in Kleists Erzählung – anschlagen lässt. Pathos und scharfsinniger Grimm verdichten sich darin zu einer Poesie, die man ebenso gut Kleist wie Luther zuschreiben kann. Hier sind in einer Mischung aus Andeutung und Zuspitzung alle Argumente pro und contra versammelt, die in der vielleicht gründlichsten Debatte über die Bedeutung eines literarischen Textes für staats- und strafrechtliche Fragen im Laufe von zweihundert Jahren mit großem gelehrten Aufwand weiträumig und detailreich entwickelt worden sind. Rechtsphilosophie und Rechtsgeschichte werden – die Zeitebenen wechselnd – intensiv bemüht. Was man im 16. Jahrhundert, also zu der Zeit, in der die Erzählung spielt, über ein Recht zum Widerstand gegen staatliches Unrecht denken mochte, konkurriert mit dem Ideenhaushalt der Kleist’schen Epoche und schließlich mit modernen Konzeptionen. Auch tauchen zum Vergleich Figuren anderer Dichtungen auf: Don Quichotte, Shylock, Wilhelm Tell, und – je nach dem – reale Gestalten aus terroristischen Bewegungen oder anerkennungswerte Widerstandskämpfer. Zu einer vollständigen Bloßlegung der in Kleists Erzählung verborgenen Wurzeln eines Widerstandsrechts, wobei dessen angeblich germanische Ursprünge mehr denunziatorisch, wie es scheint, als werbend ins Spiel gebracht werden, kommt es nicht, weil der Einwand der Unverhältnismäßigkeit die differenzierenden Wertungen bald abschneidet. Denn spätestens nachdem „unter dem Jubel Hersens, aus den offenen Fenstern der Vogtei, die Leichen des Schlossvogts und Verwalters mit Weib und Kindern herab“ geflogen sind, kann man sich ernsthaft nicht mehr für Kohlhaas engagieren. Es sei denn, man überlässt sich einer fiat justitia et
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Von der Bankrotterklärung des Rechts
pereat mundus -Idee, die trotz Kants Versuch einer Säkularisierung ihre Herkunft aus der frühchristlichen Eschatologie nicht verleugnen kann. Wer bei so viel metaphysischer Konsequenz unruhig wird, mag seine Zuflucht nehmen in eine Kohlhaas rechtfertigende anarchisierende Position: eine Gesellschaft, die sich am Unrecht des Staates (hier durch Abschirmung des Schuldigen) beteiligt, muss das durch Rebellion verursachte Chaos hinnehmen. Viel gefordert freilich, wenn man bedenkt, dass Kohlhaases Empörung „nur“ im Namen des positiven Rechts geschieht. Manche sprechen deshalb von einem positiv-rechtlichen Fanatismus, und dazu passt Kohlhaas’ überzogene Forderung, der Junker von Tronka sei zur höchstpersönlichen Dickfütterung der Rappen zu verurteilen (eine zweifellos auch vom damaligen Recht nicht vorgesehene Form der Naturalrestitution). Kohlhaas glaubt freilich, er sei durch die Rechtsverweigerung aus der Gesellschaft verstoßen worden und insoweit von jeder Verpflichtung, auf die übrige Welt Rücksicht zu nehmen, frei. Immerhin meint deshalb sogar Luther (bei Kleist), man solle ihn doch, „um aus dem Handel zu kommen, mehr als eine fremde, in das Land gefallene Macht“, und nicht [...] „als einen Rebellen, der sich gegen den Thron auflehne“ betrachten. Gleichviel, am Ende ist alles in Ordnung. Junker von Tronka wird zu einer Gefängnisstrafe verurteilt, und Kohlhaas wird hingerichtet. Das firmiert sogar als Versöhnungstheorie: „Sein Vermögen, im Ich sich durchs Nicht-Ich bestimmt zu sehen, ist wieder hergestellt: Kohlhaas ist aus dem Entsetzlichen zurückgesetzt ins Gesetz“ (Joachim Bohnert). Fichte steht hier Pate, im Hintergrund auch Hegel. Ein mythisches Rechenexempel. Genügt diese Rechtsphilosophie? Sind nicht auch kriminologische Fragen zu stellen, etwa nach der latenten Gewaltbereitschaft Kohlhaases? Eine noch so vitale Empfindung, es geschehe ihm Unrecht, erklärt nicht, weshalb derselbe Mann, der eben noch in der Befragung Herses – des Knechtes, den er in der Tronkenburg zur Versorgung der „verpfändeten“ Rappen zurückgelassen hatte – die äußersten Skrupel an den Tag legt, alsbald den ersten, der sich ihm, nachdem die Wächter am Tor niedergeritten worden sind, entgegenstellt, so malträtiert, dass „er sein Gehirn an den Steinen verspritzte“, oder muss man ihn schon jetzt ohne weiteres für gestört halten – mit den schlichten Worten seiner Frau „‘Oh! Ich verstehe Dich!’ ‘Du brauchst jetzt nichts mehr als Waffen und Pferde; das andere kann nehmen wer will!’“ Mehr erfährt man über die andere Seite. Wie die vielen Verwaltungs- und Justizpersonen – teils der Aristokratie zugehörig, teils einer selbstbewussten Bürgerkaste – funktionieren, wird bis in kleinste Abstufungen deutlich. Die
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Erzählung ist streckenweise ähnlich aufgebaut wie Dreisers Roman „An American Tragedy“. Der erste Teil beschäftigt sich mit den Taten, der zweite mit dem strafverfolgenden Staat, der dabei neue Kriminalität produziert. Bei Dreiser sind es Beweismittelfälschungen, bei Kleist benutzen die Behörden einen agent provocateur, um Kohlhaas, dem schon eine Amnestie zugesagt ist, doch noch in eine Falle zu locken. Das gelingt auch, und dann erst beginnt seine schwere Haft in Ketten. Hier haben wir einen Realismus, der an Schillers späte Pläne, die Arbeit der Pariser Polizei dramatisch zu fixieren, erinnert. Den weiteren Gang des Verfahrens bestimmen außenpolitische Rücksichten: Der Konflikt zwischen Sachsen und Polen. Dem Kurfürsten von Brandenburg, der den Zugriff auf seine Untertanen beansprucht, obwohl die Delikte überwiegend in Sachsen begangen worden sind, müssen Konzessionen gemacht werden, damit er zur Vermittlung zwischen Sachsen und Polen bereit ist. Auslieferungsprozesse unserer Tage kennen vergleichbare Opportunismen. Politik und Kriminalsoziologie liefern jetzt also weitere Erklärungsmuster, aber sie werden ebenfalls, wie die Rechtsphilosophie, nur an den Text herangetragen. Das genügt eben nicht. Denn Kleists Argumente imprägnieren die Sprache, gehen ihr nicht voraus. Die narrative Logik eröffnet Perspektiven, die dem abstrakt-fachspezifischen Zugriff verschlossen sind. Daher ist auch die märchenhafte Auflösung der Geschichte – durch die Intervention der Zigeunerin, die Kohlhaas nach einigen Umwegen die Möglichkeit verschafft, den die Zukunft des sächsischen Kurfürsten voraussagenden Zettel zu verschlucken und ihn damit empfindlicher zu treffen, als es irgendeine strafrechtliche Aktion vermocht hätte – keineswegs, wie Kafka meinte, ein schwacher Abgesang, sondern als Kunstwahrheit akzeptabel, ja willkommen. Das könnte selbst für eine phantastische Überhöhung der Erzählung zur „Geburt des Partisanen aus dem Geist der Poesie“ (Wolf Kittler) gelten. Aber derselbe Autor, der die Kunstwahrheit propagiert, würde gerade dieser Interpretation widersprechen: „Es gehört ein großer Geist des Widerspruches dazu“, sagt Goethe nach der Lektüre des „Kohlhaas“, „um einen so einzelnen Fall mit so durchgeführter, gründlicher Hypochondrie im Weltlaufe geltend zu machen“. Es gebe ein „Unschönes in der Natur, ein Beängstigendes, mit dem sich die Dichtkunst bei noch so kunstreicher Behandlung weder befassen noch ausdehnen könne“. Zwar betont Peter-André Alt in seinem kürzlich erschienenen Buch über die „Ästhetik des Bösen“, dass sich „eine Befreiung vom Diktat der christlichen bzw. aufklärerischen Wirkungsdoktrin“, wie man wisse, „mit dem Aufkommen des Programms der Kunstautonomie um 1800“ vollzogen habe. Trotzdem ist diese Freiheit der Kunst seit Hegels Ablehnung einer
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Ästhetik des Bösen „als ein Widerspruch in sich“ zweifelhaft geblieben, und für die aktuelle Wiederaufnahme der Diskussion bedurfte es vielleicht erst Karl Heinz Bohrers Apostrophierung des Bösen als künstlerisches Ereignis. Wird die Poesie so zu einer „den Alltag ablehnenden geheimen Welt“ (Lars Gustavson), in der sich auch „Wallenstein“ einfinden mag? Schiller liegt ja als Schatten über dem ganzen Werk Kleists, der ihn in „nachahmender oder überbietender Strategie“ vielfach zitiert. Wallensteins Astrologie treibt ebenso absurde Blüten wie Kohlhaases – eines „Reich- und Weltfreien, Gott allein unterworfenen Herrn“ – Sendungsbewusstsein und führt zu einer sowohl wirklichkeitsfernen wie kleinlichen Rabulistik, ein Wechselbad, das auch Kohlhaas dem Leser zumutet, wenn er als „Engel des Gerichts [...] vom Himmel herab [...] fährt“ und nahezu im gleichen Atemzuge zwar auf Haus und Hof verzichtet und seinen Wohlstand, aber darauf besteht, dass Herses alte Mutter „eine Berechnung der Heilkosten und eine Spezifikation dessen, was der Sohn in der Tronkenburg eingebüßt, beibringen“ möge, „und den Schaden, den er „wegen nicht verkaufter Rappen“ erlitten habe, „durch einen Sachverständigen abschätzen“ zu lassen empfiehlt. Doch selbst wer von vornherein der genuinen Erzählstruktur folgen will, ist ja noch mit der eigenen „Wirklichkeit“, seinen Ideen und Bildern belastet, die den absoluten Primat des Textes paralysieren. Kann hier vielleicht eine Art höherer Grammatik helfen? Ernst Cassirer habe, teilt Jürgen Habermas mit, jene „die Welt konstituierende Leistung des erkennenden Subjekts in eine die Welt erschließende Funktion einer übersubjektiven Sprachform transformiert“; und noch entschiedener formuliert das Gabrielle M. Spiegel: Sprache reflektiere „nicht die Welt in Worten“, sondern konstituiere jene Welt erst, besitze also „eine ‘generative’ statt einer „mimetischen’ Funktion“. Betäubt man den hier sogleich sich meldenden, allgemein schon oft gegenüber dem „linguistic turn“ geäußerten Verdacht kryptischer Ontologie, und liest nun den Kohlhaas erneut und immer wieder, lernt ihn förmlich und tut somit das, was Kleist für Schillers „Wallenstein“ fordert, so öffnet sich ein Kosmos sinnverwirrender Abwägungen, die den Wunsch nach Klärung der Rechtslage allmählich verstummen lassen: Noch ehe Kohlhaas zur ersten Tat schreitet, heißt es, dass „sein Rechtsgefühl [...] einer Goldwaage glich“. Das muss man wörtlich nehmen. Auf feine Unterschiede kommt es an beim Gold, das allerkleinste ist unwägbar und doch wichtig. So konnte Kohlhaas nur in einer „zerrissenen Brust“ schließlich den Plan wälzen, „Leipzig einzuäschern“. Als das Plakat Luthers erschien, trat er zu seinen Knechten, und „indem er sie zerstreut ansah [...], an den Pfeiler
Kleists Neigung „zu lastender Rechtsproblematik“ (Thomas Mann)
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heran“. Er las den Text und wendete sich „mit ungewissen Blicken mitten unter die Knechte zurück, als ob er etwas sagen wollte, und sagte nichts“. Die Unschlüssigkeit erreicht ihren Höhepunkt – als er mit Luther spricht – in Wendungen, die unter den Wallenstein-Adaptionen Kleists die wohl berühmtesten sind. „Hätt’ ich vorher gewusst, was nun geschehen“, sagt Wallenstein zu Gordon, „dass es den liebsten Freund mir würde kosten, und hätte mir das Herz wie jetzt gesprochen, kann sein, ich hätte mich bedacht – kann sein auch nicht – doch was nun schonen noch? Zu ernsthaft hat’s angefangen, um im Nichts zu enden. Habe es denn seinen Lauf“. Kohlhaas: „Kann sein! [...] Kann sein, auch nicht! Hätte ich gewusst, dass ich sie mit Blut aus dem Herzen meiner lieben Frau würde auf die Beine bringen müssen, kann sein, ich hätte getan, wie Ihr sagt, hochwürdiger Herr, und einen Scheffel Hafer nicht gescheut! Doch weil sie mir einmal so teuer zu stehen gekommen sind, so habe es denn, meine ich, seinen Lauf“. Das düstere Pendant zu dieser wehmütigen Stimmung des Kohlhaas sind die höfisch-verschlüsselten, mit tückischen Bürokratismen versetzten Reden und Gegenreden der mit ihm kämpfenden Hofleute und Beamten, bis hin zu symbolisierenden Gesten: „Der Kämmerer, indem er für ihn und den Kurfürsten Stühle von der Wand nahm, und auf eine verbindliche Weise ins Zimmer setzte“ [...]; und dann: „Der Prinz, indem er den Stuhl, ohne sich zu setzen, in der Hand hielt und ihn ansah [...]“. Die quälenden Zweifel werden immer wieder konterkariert durch den krassen und eindeutigen Naturalismus der äußeren Vorgänge, in ständigem Austausch gewissermaßen, etwa in der Szene mit dem Abdecker von Döbeln, dem Kerl, „der mit empfindungslosem Eifer seine Geschäfte“ betreibt, und mit proletarischem Selbstbewusstsein die Frage nach den die Rappen betreffenden Eigentumsverhältnissen als für ihn unmaßgeblich zurückweist. „Und damit ging er, die Peitsche quer über seinen breiten Rücken, nach einer Kneipe, ...“, den Kämmerer in eine panische Stimmung versetzend, indem dieser „gänzlich unwissend, was er zu tun oder zu lassen habe, aus dem Haufen des Volkes zurück trat“. Kann man noch weiter gehen und andere auf den ersten Blick zufällige und marginale Ereignisse in dieser Weise auszeichnen? Etwa das Auftreten des Burgvogtes, das dem bis dahin ganz harmlos wirkenden Vorgang am Schlagbaum vielleicht schon eine vage Vorbedeutung gibt: „Der Burgvogt, indem er sich noch eine Weste über seinen weitläufigen Leib zuknöpfte, kam und fragte, schief gegen die Witterung gestellt, nach dem Paßschein“, eine zweideutige, den betrügerischen Plan signalisierende Haltung und der Beginn einer „dunklen Vorahnung“ bei Kohlhaas, die ihn später, weil er der in Aussicht gestellten Amnestie zu misstrauen beginnt, erneut überfällt, als er in der Absicht, alles aufzugeben und mit seinen Kindern nach Amerika zu gehen, sich „mit einem traurigen Blick“ auf
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Von der Bankrotterklärung des Rechts
den ihm gleisnerisch präsentierten Befreiungsplan seines korrumpierten „Stellvertreters“ Nagelschmidt einlässt. Schon auf der ersten Seite der Erzählung wird klar, dass die vielen Ungewissheiten nicht offene Situationen schaffen, sondern Ausweglosigkeit und Resignation. Kohlhaas wird eingeführt als „einer der rechtschaffensten zugleich und entsetzlichsten Menschen seiner Zeit“. „Zugleich und“, und nicht „und zugleich“, wie viele Leser glauben den Autor verbessern zu sollen. Die gelehrte Welt sieht in dieser Kohlhaas-Stelle eine „syntaktisch ungewöhnliche Umstellung“, wodurch „die widerspruchsvolle Kohärenz der beiden einander opponierenden Attribute zusätzlich unterstrichen“ werde. Es handele sich um eine coincidentia oppositorum, die „über die in der Person versammelten unterschiedlichen Eigenschaften hergestellt wird“ (Peter-André Alt). Das ist mehr als ein Paradoxon; dort bleiben die Positionen ja wenigstens n e b e n einander bestehen. Ist es wiederum (kein) Zufall, dass Luther „mit einem verdrießlichen Gesicht [...] die Papiere, die auf seinem Tisch lagen, übereinander“ wirft und später der sächsische Kurfürst „mit dem Ausdruck zurückgehaltenen Unwillens“ buchstäblich das Gleiche tut? Am Ende verdichten sich diese Wahrnehmungen zu einem geschlossenen Gespinst und bedürfen gar nicht mehr der Unterstützung einer relativierenden Literaturwissenschaft, wonach „nicht mehr der feststehende Sinn eines Textes“ interessiert, „der durch eine sorgfältige Hermeneutik zu erschießen“ ist, sondern wichtiger ist, dass es „eine fragmentierte Abfolge unzusammenhängender heterogener und widersprüchlicher Codes“ gibt, die sich einer vereinheitlichenden Interpretation widersetzen“ (Gabrielle M. Spiegel). Ganz sicher ist „Michael Kohlhaas“ also kein Dokument elementarer Gewissheiten, die allen Stürmen trotzen und heroisch durchgehalten werden, sondern demonstriert erbarmungslos und anschaulich die Unlösbarkeit von Rechtsproblemen jenseits des Alltags. Die Bankrotterklärung des Rechts gerade bei den großen Fragen muss die Gegenwart mehr denn je registrieren: Abschuss eines mit Terroristen besetzten Flugzeuges, das auf eine Millionenstadt zufliegt, aktive Sterbehilfe, humanitäre Intervention – alles nicht regelbar. Im Kohlhaas hat Kleist diese Aporien des modernen Rechtslebens antizipiert. In der „unendlichen Annäherung“, die von der Romantik gesucht, aber, wie Cassirer vermerkt, in keinem großen tragischen Kunstwerk erreicht worden ist, liegt Kleists literarisches Verdienst. Sein Verhängnis war, dass er das wohl nicht wusste, sondern bis zum Schluss kategorisch-prinzipiell gedacht, aber sinnlichassoziativ geschrieben hat. Als er „die Wahrheit“ spürte, dass so jemandem „auf Erden nicht zu helfen“ ist, nahm er sich – am 21. November 1811 – das Leben.
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„Auf ein tüchtiges Element in der Brust des Mordbrenners bauend“
Anmerkungen zu Kleists „Michael Kohlhaas“ An den Ufern der Havel lebte, um die Mitte des sechzehnten Jahrhunderts, ein Roßhändler, namens Michael Kohlhaas, Sohn eines Schulmeisters, einer der rechtschaffensten zugleich und entsetzlichsten Menschen seiner Zeit. – Dieser außerordentliche Mann würde, bis in sein dreißigstes Jahr für das Muster eines guten Staatsbürgers haben gelten können. Er besaß in einem Dorfe, das noch von ihm den Namen führt, einen Meierhof, auf welchem er sich durch sein Gewerbe ruhig ernährte; die Kinder, die ihm sein Weib schenkte, erzog er, in der Furcht Gottes, zur Arbeitsamkeit und Treue; nicht einer war unter seinen Nachbarn, der sich nicht seiner Wohltätigkeit, oder seiner Gerechtigkeit erfreut hätte; kurz, die Welt würde sein Andenken haben segnen müssen, wenn er in einer Tugend nicht ausgeschweift hätte. Das Rechtgefühl aber machte ihn zum Räuber und Mörder.
Was kündigt sich da an? Ein spannender Stoff oder ein Kunstprodukt, oder beides? Es existiert die Chronik des „wahren“ Kohlhaas. Er heißt da Hans Kohlhase1 und es gibt vielfältige Bemühungen, die Geschichte zu rekonstruieren und Kleists Erzählung damit irgendwie zu verknüpfen. Das führt aber zu gar nichts, denn wenn es hier überhaupt um „Wahrheit“ geht, dann im Sinne einer virtuellen Wahrheit, also einer Vorstellung davon, was real hätte sein können, und das muss nicht von vornherein in das Reich der unverbindlichen Phantasie verwiesen werden. Unverbindlich, das heißt, diese Phantasie muss nicht nachvollziehbar sein, sie steht für sich. Aber gibt es das? Selbst ein Märchen spielt gewissermaßen irgendwo. Es gibt wenigstens immer Versatzstücke aus der dem mutmaßlichen Leser vertrauten Realität. Das muss auch einsehen, wer sich von vornherein weigert, dem Sinn einer Geschichte nachzuspüren – unter dem Gesichtspunkt ihrer Wahrscheinlichkeit, ihrer „Botschaft“ oder ihrer Funktion, die Welt zu erklären oder gar zu verändern. Bei Kleists „Michael Kohlhaas“ wird keine dieser denkbaren Perspektiven ausgelassen von den Interpreten. Doch sollte man sich vergewissern, ehe man in deren Betrachtung eintritt, was denn die Alternativen zu den Realitätsbezügen sein könnte. Die Aufforderung Karl Heinz Bohrers, in der Kunst nichts 1
Malte Disselhorst, Hans Kohlhase / Michael Kohlhaas, in: Kleist-Jahrbuch 1988/98, Berlin 1988, S. 334 ff.; gute Darstellung auch bei Hans-Jürgen Schmelzer, Heinrich von Kleist, Deutschlands unglücklichster Dichter, Stuttgart / Leipzig 2011, S. 44 ff.
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„Auf ein tüchtiges Element in der Brust des Mordbrenners bauend“
dergleichen zu suchen, sondern das Ästhetische entscheiden zu lassen2, ist nur die zugespitzte Formulierung für das, was viele Literaturkritiker, aber auch Schriftsteller selbst meinen, wenn sie es ablehnen, ihre Hervorbringungen Maßstäben einer noch so in der Schwebe gehaltenen Realität zu unterwerfen. Am radikalsten hat das Friedrich Schiller formuliert: Das Kunstgeheimnis des Meisters sei, „... dass er den Stoff durch die Form vertilgt“3. Zunächst wird man auf die Sprache verwiesen, bis hin zu sehr anspruchsvollen Formulierungen, wie etwa die von Jürgen Habermas über Ernst Cassierer, der „jene die Welt konstituierende Leistung des erkennenden Subjekts in eine die Welt erschließende Funktion einer übersubjektiven Sprachform transformiert“ habe4. Es bleibt dann zwar immer noch eine Stoffbestimmtheit, aber die Eigendynamik der Sprache gibt den Ausschlag. Jedenfalls könnte man keinen geringeren als Thomas Mann veranlasst sehen, diese Spur zu gehen, wenn er Kleists Sprache aus dem Rahmen alles bisher Bekannten fallen lässt: Auch zu Kleists Zeit habe niemand so gesprochen oder geschrieben5. Die Sprache hat eine generierende, nicht nurmehr mimetische Funktion. Wir erleben einen spezifisch sprachgefangenen Sinn, etwa in dem vielfach kommentierten „zugleich“ in der ersten Fixierung des Protagonisten: „... einer der rechtschaffensten zugleich und entsetzlichsten Menschen seiner Zeit“. Die gelehrte Welt sieht hier eine syntaktisch ungewöhnliche Umstellung, wodurch „die widerspruchsvolle Konkurrenz der beiden einander kombinierenden Attribute zusätzlich unterstrichen werde“. Es handele sich um eine coincidencia oppositorum, die „über die in der Person versammelten unterschiedlichen Eigenschaften hergestellt wird“6. Man kann darin durchaus auch einen Indikator für eine fiktive Gegenwelt sehen, und daraus eine Leitlinie für die Interpretation ableiten. Zum willkürlichen Umgang mit den Sachen, die im Text erzählt werden, berechtigt das aber nicht. Zu viele Realitätsbezüge m ü s s e n einfach aufgegriffen werden. Die Gegenwelt ist allenfalls eine abgewandelte reale Welt, mit – bei Lichte besehen – wenigen Freiheiten vom Stoff. Unterschied2 3 4 5 6
Karl Heinz Bohrer, Literatur oder Wirklichkeit. Die Flucht der Kulturwissenschaft vor der Kunst. Merkur, Heft 685 (2006), S. 425 ff.; dazu Lüderssen, Produktive Spiegelungen, Band 2, Berlin 2007, S. 71 ff. Über die ästhetische Erziehung des Menschen, 22. Brief. Jürgen Habermas, Die befreiende Kraft der symbolischen Formgebung – Ernst Cassierers humanistisches Erbe, in: Jürgen Habermas, Vom sinnlichen Eindruck zum symbolischen Ausdruck, Frankfurt am Main 1997, S. 9 ff. Thomas Mann, Heinrich von Kleist und seine Erzählungen, in: Heinrich von Kleist, Die Erzählungen, Hamburg 1956 m (Einleitung), S. 7 ff. (10). Peter-André Alt, Ästhetik des Bösen, München 2010, S. 215 f.; s. auch Klaus MüllerSalget (Hrsg.), Heinrich von Kleist, sämtliche Erzählungen, Anekdoten, Gedichte, Schriften, Frankfurt am Main 2005, Stellenkommentar S. 730.
Anmerkungen zu Kleists „Michael Kohlhaas“
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lich sind nur die Abstraktionsgrade. Wenn es heißt, man müsse den Text aus sich heraus verstehen, so verdeckt das nur, dass man nach subtileren, individuelleren Maßstäben sucht, nicht schnelle Subsumtionen vornimmt unter bestehende konventionelle Prämissen. Es bleibt immer ein externer Überschuss. Oft ist er ziemlich durchsichtig; die Beschwörung der Eigendynamik des Textes ist nur der Paravent, hinter dem ungestört die höchst persönlichen Auffassungen des Interpreten zur Geltung kommen. Richtig ist, dass man sich vor zu schnellen oder gewaltsamen Abstraktionen wirklich hüten muss, sondern suchen sollte, was man „unendliche Annäherung“ nennen könnte7, und den Schlüssel dafür bietet sehr wohl die Sprache, deren geheimen Code man sich ruhig überlassen kann, ohne Furcht vor dem immer schwebenden Verdacht, hier gehe es eben doch um die Prävalenz der Ontologie einer Grammatik. Aber wo endet die unendliche Annäherung und wo beginnt die Gegenwelt? Der terminus Annäherung setzt eigentlich voraus, dass es eine Welt jenseits der Sprache bereits gibt. Diese Parataxe ist unauflösbar. Ihr ist mit noch so viel Klugheit nicht zu entgehen. Man kann nur Satz für Satz registrieren, an welcher Stelle die Reflexion über das Kunstwahre gerade angekommen ist, und dann auf eine gewisse Einverständnisevidenz hoffen. Den Weg, auf dem man sich diese relative Gewissheit jeweils verschafft, weist vielleicht am besten die Chronologie der Erzählung. Deshalb beginnt diese kleine Abhandlung mit einem Text daraus, und es werden dann immer wieder weitere Texte eingeschoben, welche die Fragen, die jeweils auftauchen, besonders gut veranschaulichen. Sehen wir also zu, möchte man mit Andersen sagen, denn es ist eine wahre Geschichte. Kohlhaas ritt einst, mit einer Koppel junger Pferde, wohlgenährt alle und glänzend, ins Ausland, und überschlug eben, wie er den Gewinst, den er auf den Märkten damit zu machen hoffte, anlegen wolle: teils, nach Art guter Wirte, auf neuen Gewinst, teils aber auch auf den Genuß der Gegenwart: als er an die Elbe kam, und bei einer stattlichen Ritterburg, auf sächsischem Gebiete, einen Schlagbaum traf, den er sonst auf diesem Wege nicht gefunden hatte. Er hielt, in einem Augenblick, da eben der Regen heftig stürmte, mit den Pferden still, und rief den Schlagwärter, der auch bald darauf, mit einem grämlichen Gesicht, aus dem Fenster sah. Der Roßhändler sagte, daß er ihm öffnen solle. Was gibts hier Neues? fragte er, da der Zöllner, nach einer geraumen Zeit, aus dem Hause trat. Landesherrliches Privilegium, antwortete dieser, indem er aufschloß: dem Junker Wenzel von Tronka verliehen. – So, sagte Kohlhaas. Wenzel heißt der Junker? und sah sich das Schloß an, das mit glänzenden Zinnen über das Feld blickte. Ist der alte Herr tot? – Am Schlagfluß gestorben, erwiderte der Zöllner, indem er den Baum in die Höhe ließ. 7
Vgl. dazu Manfred Frank, Unendliche Annäherung, Frankfurt am Main 1997.
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„Auf ein tüchtiges Element in der Brust des Mordbrenners bauend“ – Hm! Schade! versetzte Kohlhaas. Ein würdiger alter Herr, der seine Freude am Verkehr der Menschen hatte, Handel und Wandel, wo er nur vermochte, forthalf, und einen Steindamm einst bauen ließ, weil mir eine Stute, draußen, wo der Weg ins Dorf geht, das Bein gebrochen. Nun! Was bin ich schuldig? – fragte er; und holte die Groschen, die der Zollwärter verlangte, mühselig unter dem im Winde flatternden Mantel hervor. ‘Ja, Alter’, setzte er noch hinzu, da dieser: hurtig! hurtig! murmelte, und über die Witterung fluchte: ‘wenn der Baum im Walde stehen geblieben wäre, wärs besser gewesen, für mich und Euch’; und damit gab er ihm das Geld und wollte reiten. Er war aber noch kaum unter den Schlagbaum gekommen, als eine neue Stimme schon: halt dort, der Roßkamm! hinter ihm vom Turm erscholl, und er den Burgvogt ein Fenster zuwerfen und zu ihm herabeilen sah. Nun, was gibts Neues? fragte Kohlhaas bei sich selbst, und hielt mit den Pferden an. Der Burgvogt, indem er sich noch eine Weste über seinen weitläufigen Leib zuknüpfte, kam, und fragte, schief gegen die Witterung gestellt, nach dem Paßschein.
Das ist eine zweideutige, den betrügerischen Plan symbolisierende Haltung, und der Beginn einer ‘dunklen’ Vorahnung bei Kohlhaas. Der weitere Verlauf der Geschichte gibt ihm recht. Weil Kohlhaas den „Paßschein“ nicht hat, werden auf Veranlassen des Verwalters zwei Pferde als Pfand auf der Tronkenburg zurückbehalten. Der Knecht, den Kohlhaas zur Versorgung der Pferde auch dort lässt, wird unter einem fadenscheinigen Vorwand vom Hof geworfen und verprügelt. Kohlhaas informiert sich in Dresden über den „Ungrund“ des Paßscheins, kehrt auf die Tronkenburg zurück, erfährt dort den Hergang der Dinge aus der Sicht des Personals gewissermaßen, und nun erleben wir den ganz feinsinnigen, von Nachdenklichkeiten geradezu überladenen Beginn einer Aktion, deren schließlich äußerste Gewaltsamkeit seismographisch verknüpft ist mit einer zunächst ausgesprochen rechtsstaatlich, wie wir heute sagen würden, motivierten Entscheidung: Kohlhaas, schon im Begriffe nach Dresden zurück zu reisen, um dort sein Recht einzuklagen, folgt zunächst einer anderen Eingebung und reitet nach Kohlhaasenbrück, um den Knecht Herse zu hören, denn sollten sich dessen Mitteilungen mit denen der Leute von der Tronkenburg nur einigermaßen decken, dann sei es wohl doch richtiger, das Ganze auf sich beruhen zu lassen. Und nun kommt die Vernehmung Herses, von der es in den juristischen Kommentierungen heißt, sie sei wert, als Musterbeispiel in die Lehrbücher des Strafprozessrechts eingerückt zu werden8: Was hast du in der Tronkenburg gemacht? fragte Kohlhaas, da Lisbeth mit ihm in das Zimmer trat. Ich bin nicht eben wohl mit dir zufrieden. – Der Knecht, auf dessen blassem Gesicht sich, bei diesen Worten, eine Röte fleckig zeigte, schwieg eine Weile; und: da habt Ihr recht, Herr! antwortete er; denn einen Schwefelfaden, 8
In diesem Sinne Wolfgang Naucke, Die Michael-Kohlhaas-Situation, Ein juristischer Kommentar, in: Heinrich von Kleist, Michael Kohlhaas (1810), Baden-Baden 2000, S. 111 ff. (111).
Anmerkungen zu Kleists „Michael Kohlhaas“
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den ich durch Gottes Fügung bei mir trug, um das Raubnest, aus dem ich verjagt worden war, in Brand zu stecken, warf ich, als ich ein Kind darin jammern hörte, in das Elbwasser, und dachte: mag es Gottes Blitz einäschern; ich wills nicht! – Kohlhaas sagte betroffen: wodurch aber hast du dir die Verjagung aus der Tronkenburg zugezogen? Drauf Herse: durch einen schlechten Streich, Herr; und trocknete sich den Schweiß von der Stirn: Geschehenes ist aber nicht zu ändern. Ich wollte die Pferde nicht auf der Feldarbeit zu Grunde richten lassen, und sagte, daß sie noch jung wären und nicht gezogen hätten. – Kohlhaas erwiderte, indem er seine Verwirrung zu verbergen suchte, daß er hierin nicht ganz die Wahrheit gesagt, indem die Pferde schon zu Anfange des verflossenen Frühjahrs ein wenig im Geschirr gewesen wären. Du hättest dich auf der Burg, fuhr er fort, wo du doch eine Art von Gast warest, schon ein oder etliche Mal, wenn gerade, wegen schleunigst Einführung der Ernte Not war, gefällig zeigen können. – Das habe ich auch getan, Herr, sprach Herse. Ich dachte, da sie mir grämliche Gesichter machten, es wird doch die Rappen just nicht kosten. Am dritten Vormittag spannt ich sie vor, und drei Fuhren Getreide führt ich ein. Kohlhaas, dem das Herz emporquoll, schlug die Augen zu Boden, und versetzte: davon hat man mir nichts gesagt, Herse! – Herse versicherte ihn, daß es so sei. Meine Ungefälligkeit, sprach er, bestand darin, daß ich die Pferde, als sie zu Mittag kaum ausgefressen hatten, nicht wieder ins Joch spannen wollte; und daß ich dem Schloßvogt und dem Verwalter, als sie mir vorschlugen frei Futter dafür anzunehmen, und das Geld, das Ihr mir für Futterkosten zurückgelassen hattet, in den Sack zu stecken, antwortete – ich würde ihnen sonst was tun; mich umkehrte und wegging. – Um dieser Ungefälligkeit aber, sagte Kohlhaas, bist du von der Tronkenburg nicht weggejagt worden. – Behüte Gott, rief der Knecht, um eine gottvergessene Missetat! Denn auf den Abend wurden die Pferde zweier Ritter, welche auf die Tronkenburg kamen, in den Stall geführt, und meine an die Stalltür angebunden. Und da ich dem Schloßvogt, der sie daselbst einquartierte, die Rappen aus der Hand nahm, und fragte, wo die Tiere jetzo bleiben sollten, so zeigte er mir einen Schweinekoben an, der von Latten und Brettern an der Schloßmauer auferbaut war. – Du meinst, unterbrach ihn Kohlhaas, es war ein so schlechtes Behältnis für Pferde, daß es einem Schweinekoben ähnlicher war, als einem Stall. – Es war ein Schweinekoben, Herr, antwortete Herse; wirklich und wahrhaftig ein Schweinekoben, in welchem die Schweine aus- und einliefen, und ich nicht aufrecht stehen konnte. – Vielleicht war sonst kein Unterkommen für die Rappen aufzufinden, versetzte Kohlhaas; die Pferde der Ritter gingen, auf eine gewisse Art, vor. – Der Platz, erwiderte der Knecht, indem er die Stimme fallen ließ, war eng. Es hauseten jetzt in allem sieben Ritter auf der Burg. Wenn Ihr es gewesen wäret, Ihr hättet die Pferde ein wenig zusammenrücken lassen. Ich sagte, ich wolle mir im Dorf einen Stall zu mieten suchen; doch der Schloßvogt versetzte, daß er die Pferde unter seinen Augen behalten müsse, und daß ich mich nicht unterstehen solle, sie vom Hofe wegzuführen. – Hm! sagte Kohlhaas. Was gabst du darauf an? – Weil der Verwalter sprach, die beiden Gäste würden bloß übernachten, und am andern Morgen weiter reiten, so führte ich die Pferde in den Schweinekoben hinein. Aber der folgende Tag verfloß, ohne daß es geschah; und als der dritte anbrach, hieß es, die Herren würden noch einige Wochen auf der Burg verweilen. – Am Ende wars nicht so schlimm, Herse, im Schweinekoben, sagte Kohlhaas, als es dir, da du zuerst die Nase hineinstecktest, vorkam. – ‘s ist wahr, erwiderte jener. Da ich den Ort ein bissel ausfegte, gings an. Ich gab der Magd einen Groschen, daß sie die Schweine woanders einstecke. Und den Tag über be-
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„Auf ein tüchtiges Element in der Brust des Mordbrenners bauend“ werkstelligte ich auch, daß die Pferde aufrecht stehen konnten, indem ich die Bretter oben, wenn der Morgen dämmerte, von den Latten abnahm, und abends wieder auflegte. Sie guckten nun, wie Gänse, aus dem Dach vor, und sahen sich nach Kohlhaasenbrück, oder sonst, wo es besser ist, um. – Nun denn, fragte Kohlhaas, warum also, in aller Welt, jagte man dich fort?
Herse schildert nun, was ihm dort widerfahren ist: Man habe ihn unbedingt los sein wollen, um die Pferde rücksichtslos ausnutzen zu können, und ihn deshalb verdächtigt, mit den Pferden fliehen zu wollen, ganz zu Unrecht, wie Herse glaubhaft versichert. Was wir in diesem Text vor uns haben, ist narrative Argumentation par excellence. Später hat Fontane so etwas gemacht in den Briefen, die am Schluss von Erzählungen („Unwiederbringlich“, „Cecile“, „Schach von Wuthenow“), alles aufdecken, in unvergleichlich scharfsinnigen, zugleich psychologisierenden und soziologisierenden Analysen des Geschehenen durch – zwar nicht fernstehende, aber doch aus einer gewissen Distanz urteilende – Dritte. Was im „Kohlhaas“ folgt, ist eine vertrauliche Aussprache mit seiner Frau: „Sag’ mir an“ sprach er, „indem er ihr die Locken von der Stirne strich, „was soll ich tun? Soll ich meine Sache aufgeben? Soll ich nach der Tronkenburg gehen, und den Ritter bitten, dass er mir die Pferde wieder geben mich aufschwingen, und sie dir herreiten?“ – Lisbeth wagte nicht: ja! ja! ja! zu sagen – sie schüttelte weinend mit dem Kopf, sie drückte ihn heftig an sich, und überdeckte mit heißen Küssen seine Brust. „Nun also“, rief Kohlhaas. „Wenn du fühlst, dass mir, falls ich mein Gewerbe forttreiben soll, Recht werden muß: so gönne mir auch die Freiheit, die mir nötig ist, es mir zu verschaffen!“
Die Frau, Lisbeth, sieht das ein und beredet ihren Mann nun, ihr die Gelegenheit zu geben, eine Bittschrift an den Kurfürsten von Brandenburg überreichen zu lassen – durch einen Kastellan, der ihr einmal nahe gestanden habe. Kohlhaas willigt ein. Diese Reise war aber von allen erfolglosen Schritten, die er in seiner Sache getan hatte, der allerunglücklichste. Denn schon nach wenigen Tagen zog Sternbald in den Hof wieder ein, Schritt vor Schritt den Wagen führend, in welchem die Frau, mit einer gefährlichen Quetschung an der Brust, ausgestreckt darnieder lag. Kohlhaas, der bleich an das Fuhrwerk trat, konnte nichts Zusammenhängendes über das, was dieses Unglück verursacht hatte, erfahren. Der Kastellan war, wie der Knecht sagte, nicht zu Hause gewesen; man war also genötigt worden, in einem Wirtshause, das in der Nähe des Schlosses lag, abzusteigen; dies Wirtshaus hatte Lisbeth am andern Morgen verlassen, und dem Knecht befohlen, bei den Pferden zurückzubleiben; und eher nicht, als am Abend, sei sie, in diesem Zustand, zurückgekommen. Es schien, sie hatte sich zu dreist an die Person des Landesherrn vorgedrängt, und, ohne Verschulden desselben, von dem bloßen rohen Eifer einer Wache, die ihn umringte, einen Stoß, mit dem Schaft einer Lanze, vor die Brust erhalten. Wenigstens berichteten die Leute so, die sie, in bewußtlosem Zustand, gegen Abend in den Gasthof brachten; denn sie selbst konnte, von aus dem Mund vorquellendem
Anmerkungen zu Kleists „Michael Kohlhaas“
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Blute gehindert, wenig sprechen. Die Bittschrift war ihr nachher durch einen Ritter abgenommen worden. Sternbald sagte, daß es sein Wille gewesen sei, sich gleich auf ein Pferd zu setzen, und ihm von diesem unglücklichen Vorfall Nachricht zu geben; doch sie habe, trotz der Vorstellungen des herbeigerufenen Wundarztes, darauf bestanden, ohne alle vorgängige Benachrichtigungen, zu ihrem Manne nach Kohlhaasenbrück abgeführt zu werden. Kohlhaas brachte sie, die von der Reise völlig zu Grunde gerichtet worden war, in ein Bett, wo sie, unter schmerzhaften Bemühungen, Atem zu holen, noch einige Tage lebte. Man versuchte vergebens, ihr das Bewußtsein wieder zu geben, um über das, was vorgefallen war, einige Aufschlüsse zu erhalten; sie lag, mit starrem, schon gebrochenen Auge, da, und antwortete nicht. Nur kurz vor ihrem Tode kehrte ihr noch einmal die Besinnung wieder. Denn da ein Geistlicher lutherischer Religion (zu welchem eben damals aufkeimenden Glauben sie sich, nach dem Beispiel ihres Mannes, bekannt hatte) neben ihrem Bette stand, und ihr mit lauter und empfindlich-feierlicher Stimme, ein Kapitel aus der Bibel vorlas: so sah sie ihn plötzlich, mit einem finstern Ausdruck, an, nahm ihm, als ob ihr daraus nichts vorzulesen wäre, die Bibel aus der Hand, blätterte und blätterte, und schien etwas darin zu suchen; und zeigte dem Kohlhaas, der an ihrem Bette saß, mit dem Zeigefinger, den Vers: ‘Vergib deinen Feinden; tue wohl auch denen, die dich hassen.’ – Sie drückte ihm dabei mit einem überaus seelenvollen Blick die Hand, und starb. – Kohlhaas dachte: ‘so möge mir Gott nie vergeben, wie ich dem Junker vergebe!’ küßte sie, indem ihm häufig die Tränen flossen, drückte ihr die Augen zu, und verließ das Gemach.
Was Kohlhaas in diesen letzten Momenten seiner Frau denkt, wird unterschiedlich interpretiert. Meines Erachtens ist er so erschüttert durch das Sterben seiner Frau, dass er alle seine auf Vergeltung und Wiederherstellung der Ordnung gerichteten Pläne nun doch aufgeben will, und von diesem letzten Entschluss erst wieder dadurch abgebracht wird, dass ausgerechnet während des Begräbnisses die Ablehnung des Bittgesuchs ankommt, mit verachtenden und verletzenden Formulierungen, er möge in der Sache nicht weiter einkommen, bei Strafe des Gefängnisses, usw. Die Lakonie, mit der er jetzt sofort die notwendigen Schritte – endgültiger Verkauf seines Anwesens, Versorgung seiner Kinder – einleitet, damit er „das Geschäft der Rache“ übernehmen könne, spricht für diese stillschweigende Abkehr von dem am Totenbett seiner Frau gefühlten Wunsche, dem Junker zu vergeben. Man kann aber auch eine andere Rechnung aufmachen. Philologisch ist dieser Satz „So möge Gott mir nie vergeben, wie ich dem Junker vergebe“ ein Rätsel. In der kommentierten Klassikerausgabe heißt es freilich ganz einfach, dass damit gemeint sei: „Gott möge ihm gnädiger sein, als er selbst es dem Junker gegenüber vermag“9. Das ist, wie mir scheint, eine ziemlich gewaltsame Umformulierung. Das „vergebe“ am Ende jenes Satzes kann dann doch nur 9
Heinrich von Kleist, Sämtliche Erzählungen, Anekdoten, Gedichte, Schriften, aaO., Stellenkommentar, S. 748.
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„Auf ein tüchtiges Element in der Brust des Mordbrenners bauend“
höhnisch gemeint sein, denn Kohlhaas vergibt dem Junker nach dieser Lesart ja gerade nicht. Bei dem Ernst, mit dem Kohlhaas den Tod seiner Frau und das Begräbnis erlebt, ist das eigentlich ein Ungedanke. Man müsste schon ein gehöriges Maß von Sophistikation annehmen bei Kohlhaas, wenn solche Einflüsterungen ihn begleiten, während er seiner armen Frau die Augen zudrückt und sie dabei küsst. Dass freilich trotzdem auch insoweit eine andere Deutung möglich ist – darüber später. Vorerst taucht eine weitere Komplikation auf: Die Stelle ist nicht klar belegt, sie fehlt zunächst. Jedenfalls vermerkt der Kommentar, dass diese „gleichwohl unversöhnlichen Gedanken“ des Kohlhaas „... 1808 anscheinend noch nicht formuliert“ waren10. Wie geht es weiter? Das Grundstück wird endgültig verkauft, die Kinder werden fortgeschickt, der Haushalt wird aufgelöst, und dann kommt alles ganz schnell: Er fiel auch, mit diesem kleinen Haufen, schon, beim Einbruch der dritten Nacht, den Zollwärter und Torwächter, die im Gespräch unter dem Tor standen, niederreitend, in die Burg, und während, unter plötzlicher Aufprasselung aller Baracken im Schloßraum, die sie mit Feuer bewarfen, Herse, über die Windeltreppe, in den Turm der Vogtei eilte, und den Schloßvogt und Verwalter, die, halb entkleidet, beim Spiel saßen, mit Hieben und Stichen überfiel, stürzte Kohlhaas zum Junker Wenzel ins Schloß. Der Engel des Gerichts fährt also vom Himmel herab; und der Junker, der eben, unter vielem Gelächter, dem Troß junger Freunde, der bei ihm war, den Rechtsschluß, den ihm der Roßkamm übermacht hatte, vorlas, hatte nicht sobald dessen Stimme im Schloßhof vernommen: als er den Herren schon, plötzlich leichenbleich: Brüder, rettet euch! zurief, und verschwand. Kohlhaas, der, beim Eintritt in den Saal, einen Junker Hans von Tronka, der ihm entgegen kam, bei der Brust faßte, und in den Winkel des Saals schleuderte, daß er sein Hirn an den Steinen verspritzte, fragte, während die Knechte die anderen Ritter, die zu den Waffen gegriffen hatten, überwältigten, und zerstreuten: wo der Junker Wenzel von Tronka sei? Und da er, bei der Unwissenheit der betäubten Männer, die Türen zweier Gemächer, die in die Seitenflügel des Schlosses führten, mit einem Fußtritt sprengte, und in allen Richtungen, in denen er das weitläufige Gebäude durchkreuzte, niemanden fand, so stieg er fluchend in den Schloßhof hinab, um die Ausgänge besetzen zu lassen. Inzwischen war, vom Feuer der Baracken ergriffen, nun schon das Schloß, mit allen Seitengebäuden, starken Rauch gen Himmel qualmend, angegangen, und während Sternbald, mit drei geschäftigen Knechten, alles, was nicht niet- und nagelfest war, zusammenschleppten, und zwischen den Pferden, als gute Beute, umstürzten, flogen, unter dem Jubel Hersens, aus den offenen Fenstern der Vogtei, die Leichen des Schloßvogts und Verwalters, mit Weib und Kindern, herab.
Es fällt mir schwer, hier nicht sofort in dem Sinne Stellung zu nehmen, dass jedes Maß überschritten ist mit diesen Taten. Juristen halten dafür das Prinzip 10
AaO.
Anmerkungen zu Kleists „Michael Kohlhaas“
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der Verhältnismäßigkeit bereit, das nur dann aufgehoben ist, wenn es sich um die Abwehr eines direkten Angriffs handelt, der obendrein gegenwärtig sein muss. Diese Voraussetzungen sind im vorliegenden Fall nicht mehr gegeben. Aber das ist das Wertesystem des geltenden Rechts, mindestens müsste man prüfen, wie die Rechtslage zur Zeit der Erzählung war, oder als Kleist sie schrieb. Die Schwierigkeit, sich hier für eine der Varianten zu entscheiden, zeigt die Künstlichkeit der Kriterien für die Beurteilung des Geschehenen, und man könnte deshalb getrost einen Schritt weiter gehen und sagen, das ist alles fiktiv, gar nicht von dieser Welt, hat sein eigenes Gesetz, vielleicht als eine sogar bewusst kreierte Gegenwelt, um den Menschen zu zeigen, wie Probleme auch ganz anders entstehen und gelöst werden können, als man es aus der Wirklichkeit, in der man lebt, gewohnt ist, und darin liegt eben der Vorzug und der Reiz der Dichtung. Das mag sein, aber nichts führt daran vorbei, dass es eine hundertprozentig vom Realen abweichende, sie ersetzende Phantasie nicht gibt, es sei denn, man bestückt die Erzählung mit Fabelwesen. Aber davon sind wir hier ja weit entfernt. Die handelnden Personen und ihre Verhältnisse sollen als Teil dieser Welt ernst genommen werden, ungeachtet ihrer Umgestaltung durch die künstlerische Form. Auf Adornos Mahnung: „Die vollständige Unterjochung der Stofflichkeit in einer Kunst, die zum Leiden des Menschen indifferent wäre, wäre der Tod der Kunst ... In der ungetrübten Schönheit wäre Widerstrebendes ganz zur Ruhe gekommen, und solche ästhetische Versöhnung ist tödlich fürs Außerästhetische“11, kommt es also gar nicht an, sie versteht sich von selbst. In der modernen Literatur wird der Umgang mit diesem Problem freilich immer komplizierter. Figuren werden erfunden, und trotzdem beruht die Geschichte auf Recherchen, wie etwa bei Jonathan Littell12, aber auch in dem kürzlich erschienenen Roman über das Ghetto in Łódź. Die Theorie geht ja inzwischen so weit zu sagen, dass historische Romane in dem Maße auf Recherchen beruhen, wie die Geschichtsschreiber glauben, narrativ sein zu dürfen. Die Darstellungen nähern sich einander.
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Theodor W. Adorno, Ästhetische Theorie, in: Gesammelte Schriften, Band 7, Frankfurt am Main 1997, S. 84. Die Wohlgesinnten, vgl. dazu s. oben S. 57 ff., und die Referate bei dem Symposion „Literatur, Wahrheit und Gerechtigkeit“, im Forschungskolleg Humanwissenschaft in Bad Homburg am 11./12. September 2009, in: Thomas Vormbaum (Hrsg.), Jahrbuch der juristischen Zeitgeschichte, Band 12 (2011), S. 352 ff. S. dazu auch Alt, aaO., S. 496 ff.
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Man darf also einen Autor und seinen Text durchaus daraufhin befragen, was er vielleicht damit in der realen Welt erreichen möchte. Bei Kleists Kohlhaas wächst das Interesse des Lesers in dem Maße, wie seine Aktionen sich steigern und ausdehnen. Es werden „Haufen“ gegen ihn „zusammengezogen“, zunächst fünfzig, dann hundertfünfzig, dann fünfhundert, dann schließlich zweitausend Mann, alles misslingt, und die von Kohlhaas bei der Jagd nach dem Junker verursachten weiteren „Kollateralschäden“ provozieren neue Rechtfertigungen: Eine Gesellschaft, die sich am Unrecht des Staates (hier durch Abschirmung der Schuldigen) beteiligt, muss das durch Rebellion verursachte Chaos hinnehmen, wird nun gesagt13. Dazu passt Kohlhaases Vorstellung, er sei aus der Menschheit ausgeschlossen durch das Unrecht, das ihm widerfahren sei, und damit gewissermaßen zu allem berechtigt14. Da bald abzusehen ist, dass Kohlhaas irgendwann eine – schwere – Bestrafung würde auf sich nehmen müssen, sind viele Leser auf die Idee gekommen, die Hinnahme einer solchen Bestrafung – als gerechter Ausgleich für das von ihm begangene Unrecht – könne ihn auf das Ganze gesehen von einem Vorwurf befreien. In dem Sinne, dass damit das Unrecht nachträglich wieder aufgehoben werde, ist das nicht zu verstehen, will es auch niemand verstehen. Und doch ist da eine eigenartige Ideologie spürbar, die auf die romantische Vorstellung hinaus läuft, wer bereit sei zu sühnen, dürfe auch Unrecht begehen, wenn es eine höhere Moral gibt. Das Argument hat schon vor Jahrzehnten einen gewissen „Schick“ bekommen durch Bekenntnisse eines jungen Offiziers, der zu den Widerstandskämpfern gegen Hitler in den vierziger Jahren des vorigen Jahrhunderts gehört hat. Die Bombe, die in die Maschine geschmuggelt worden war, mit der Hitler von 13
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Darauf läuft das Votum hinaus, das Wolfgang Naucke abgibt, aaO., S. 127 (s. auch noch einmal die Zusammenfassung auf S. 128 Mitte und unten), nach einer glänzenden, alle Argumente von allen Seiten behandelnden Rhetorik, der entgegen zu treten mir aus ästhetischen Gründen eigentlich schwer fällt. In der Literaturwissenschaft gibt es auch ganz einfach Erklärungen: „Kohlhaas muss übertrieben ‘reagieren’, weil sonst das Unrecht triumphiert hätte“ (Klaus Müller-Salget, Heinrich von Kleist, 2. Auflage, Stuttgart 2011, S. 208); manche gehen noch weiter: „Vor dem geschichtlichen Hintergrund von 1808 probt Kohlhaas mit seinen Knechten sozusagen den nationalen Volksaufstand der Deutschen gegen die napoleonische Beuteherrschaft“ (Günther Blamberger, Heinrich von Kleist, Biographie, Frankfurt am Main 2011, S. 425). Intensive Prüfung aller juristischen Möglichkeiten der Deutung der Erzählung bei Joachim Rückert, „[...] der Welt in der Pflicht verfallen ...“, in: Kleist-Jahrbuch 1988/89, Berlin 1988, S. 375 ff. Umfassende Hinweise auf „Die Juristen-Literatur über Kohlhaas“, bei Naucke aaO., S. 116, in der Anm. 6; aus jüngster Zeit: Georgia Stefanopoulou, Heinrich von Kleist (1777–1811): Kritischer Rechtsdenker, in: Juristenzeitung, 2011, S. 1154 (1154/1155), mit weiteren Literaturhinweisen.
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Smolensk nach Berlin fliegen sollte, hätte die ganze Mannschaft getötet. Dafür eine Bestrafung hinzunehmen, waren die Beteiligten bereit, weil sie sich moralisch mit dieser Abwägung – Inkaufnahme des Todes Unschuldiger – im Recht fühlten. Wenn es aber eine Moral gibt, die solche Abwägung zulässt, muss sie auch Eingang in das Recht finden, andernfalls bleibt das Recht ja sprachlos gerade dort, wo man eine substanzielle Orientierung wünscht. Die Fälle, in denen man dennoch der Versuchung unterliegen könnte, jener Logik zu folgen, häufen sich in der Gegenwart: Abschuss eines mit Terroristen besetzten Flugzeuges, das auf eine Millionenstadt zufliegt, humanitäre Interventionen in Revolutionsgebieten, „Rettungsfolter“. Abgesehen davon, dass die Verlagerung des Problems aus dem Recht in die Moral den Denkfehler nicht beseitigt (Sühnebereitschaft ist auch kein moralischer Rechtfertigungsgrund), und dass eine Differenzierung zwischen Recht und Verantwortungsethik bei den gemeinsamen Segmenten unzulässig ist, gibt es auch substanziell nur eine Verschiebung. Hätte man eine Atombombe auf Berlin geworfen, um den „Führer“ zu vernichten, wäre wohl auch die Moral dieser Widerstandshandlung problematisch geworden; jedenfalls lassen sich Fälle denken, in denen die Abwägung zu Lasten der Widerstandshandlung ausgehen würde – unermessliche „Kollateralschäden“ sind vor keinem Forum zu rechtfertigen. Auf dem Höhepunkt der Kohlhaas-Exzesse mischt sich Luther ein und veröffentlicht ein Verdikt über die Taten des Kohlhaas. Dieser ist so getroffen, dass er zu einer Unterredung mit Luther eilt, inkognito zunächst. Das Ergebnis ist, dass Kohlhaas durch Luthers Vorhaltungen unsicher wird. Da kommt die Parallele zu „Wallenstein“. „Hätte ich vorher gewusst, was nun geschehen“, sagt Wallenstein zu Gordon, „dass es den liebsten Freund mir würde kosten, hätte mir das Herz wie jetzt gesprochen, kann sein, ich hätte mich bedacht, kann sein, auch nicht. Doch was nun schonen noch. Zu ernsthaft hat es angefangen, und in nichts zu enden, habe es dann seinen Lauf“. Und nun Kohlhaas gegenüber Luther: „Kann sein, [...] kann sein auch nicht. Hätte ich gewusst, dass ich sie mit Blut aus dem Herzen meiner lieben Frau würde auf die Beine bringen müssen, kann sein ich hätte getan, wie Ihr sagt, hochwürdiger Herr, und einen Scheffel Hafer nicht gescheut! Doch weil sie mir nur einmal so teuer zu stehen gekommen sind, so habe es denn, meine ich, seinen Lauf“. Luther verweigert ihm das Abendmahl, weil Kohlhaas weiterhin nicht bereit ist, dem Junker zu verzeihen. Aber immerhin erwirkt er durch eine Intervention beim Kurfürsten von Sachsen eine Art freies Geleit und Amnestieankündigung, zum Teil mit opportunistischen Erwägungen unter Hinweis darauf, dass die Öffentlichkeit auf eine merkwürdige Weise auf der Seite dieses Mannes stehe.
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Und nun kommt eine Passage in der Erzählung, die ebenfalls wie das Verhör, das Kohlhaas mit Herse anstellt, wert ist, in die Literatur klassischer Juristentexte aufgenommen zu werden. Die in verschiedenen höheren Positionen stehenden Männer um den Kurfürsten von Sachsen erörtern nach Eingang des Schreibens von Luther die Lage: Der Kurfürst erhielt diesen Brief eben, als der Prinz Christiern von Meißen, Generalissimus des Reichs, Oheim des bei Mühlberg geschlagenen und an seinen Wunden noch daniederliegenden Prinzen Friedrich von Meißen; der Großkanzler des Tribunals, Graf Wrede; Graf Kallheim, Präsident der Staatskanzlei; und die beiden Herren Hinz und Kunz von Tronka, dieser Kämmerer, jener Mundschenk, die Jugendfreunde und Vertrauten des Herrn, in dem Schlosse gegenwärtig waren. Der Kämmerer, Herr Kunz, der, in der Qualität eines Geheimenrats, des Herrn geheime Korrespondenz, mit der Befugnis, sich seines Namens und Wappens zu bedienen, besorgte, nahm zuerst das Wort, und nachdem er noch einmal weitläufig auseinander gelegt hatte, daß er die Klage, die der Roßhändler gegen den Junker, seinen Vetter, bei dem Tribunal eingereicht, nimmermehr durch eine eigenmächtige Verfügung niedergeschlagen haben würde, wenn er sie nicht, durch falsche Angaben verführt, für eine völlig grundlose und nichtsnutzige Plackerei gehalten hätte, kam er auf die gegenwärtige Lage der Dinge. Er bemerkte, daß, weder nach göttlichen noch menschlichen Gesetzen, der Roßkamm, um dieses Mißgriffs willen, befugt gewesen wäre, eine so ungeheure Selbstrache, als er sich erlaubt, auszuüben; schilderte den Glanz, der durch eine Verhandlung mit demselben, als einer rechtlichen Kriegsgewalt, auf sein gottverdammtes Haupt falle; und die Schmach, die dadurch auf die geheiligte Person des Kurfürsten zurückspringe, schien ihm so unerträglich, daß er, im Feuer der Beredsamkeit, lieber das Äußerste erleben, den Rechtsschluß des rasenden Rebellen erfüllt, und den Junker, seinen Vetter, zur Dickfütterung der Rappen nach Kohlhaasenbrück abgeführt sehen, als den Vorschlag, den der Doktor Luther gemacht, angenommen wissen wollte. Der Großkanzler des Tribunals, Graf Wrede, äußerte, halb zu ihm gewandt, sein Bedauern, daß eine so zarte Sorgfalt, als er, bei der Auflösung dieser allerdings mißlichen Sache, für den Ruhm des Herrn zeige, ihn nicht, bei der ersten Veranlassung derselben, erfüllt hätte. Er stellte dem Kurfürsten sein Bedenken vor, die Staatsgewalt, zur Durchsetzung einer offenbar unrechtlichen Maßregel, in Anspruch zu nehmen; bemerkte, mit einem bedeutenden Blick auf den Zulauf, den der Roßhändler fortdauernd im Lande fand, daß der Faden der Freveltaten sich auf diese Weise ins Unendliche fortzuspinnen drohe, und erklärte, daß nur ein schlichtes Rechttun, indem man unmittelbar und rücksichtslos den Fehltritt, den man sich zu Schulden kommen lassen, wieder gut machte, ihn abreißen und die Regierung glücklich aus diesem häßlichen Handel herausziehen könne. Der Prinz Christiern von Meißen, auf die Frage des Herrn, was er davon halte? äußerte, mit Verehrung gegen den Großkanzler gewandt: die Denkungsart, die er an den Tag lege, erfülle ihn zwar mit dem größten Respekt; indem er aber dem Kohlhaas zu seinem Recht verhelfen wolle, bedenke er nicht daß er Wittenberg und Leipzig, und das ganze durch ihn mißhandelte Land, in seinem gerechten Anspruch auf Schadenersatz, oder wenigstens Bestrafung, beeinträchtige. Die Ordnung des Staats sei, in Beziehung auf diesen Mann, so verrückt, daß man sie schwerlich durch einen Grundsatz, aus der Wissenschaft des Rechts entlehnt, werde einrenken können. Daher stimme er, nach der Meinung
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des Kämmerers, dafür, das Mittel, das für solche Fälle eingesetzt sei, ins Spiel zu ziehen: einen Kriegshaufen, von hinreichender Größe zusammenzuraffen, und den Roßhändler, der in Lützen aufgepflanzt sei, damit aufzuheben oder zu erdrücken. Der Kämmerer, indem er für ihn und den Kurfürsten Stühle von der Wand nahm, und auf eine verbindliche Weise ins Zimmer setzte, sagte: er freue sich, daß ein Mann von seiner Rechtschaffenheit und Einsicht mit ihm in dem Mittel, diese Sache zweideutiger Art beizulegen, übereinstimme. Der Prinz, indem er den Stuhl, ohne sich zu setzen, in der Hand hielt, und ihn ansah, versicherte ihn: daß er gar nicht Ursache hätte sich deshalb zu freuen, indem die damit verbundene Maßregel notwendig die wäre, einen Verhaftungsbefehl vorher gegen ihn zu erlassen, und wegen Mißbrauchs des landesherrlichen Namens den Prozeß zu machen. Denn wenn Notwendigkeit erfordere, den Schleier vor dem Thron der Gerechtigkeit niederzulassen, über eine Reihe von Freveltaten, die unabsehbar wie sie sich forterzeugt, vor den Schranken desselben zu erscheinen, nicht mehr Raum fänden, so gelte das nicht von der ersten, die sie veranlaßt; und allererst seine Anklage auf Leben und Tod könne den Staat zur Zermalmung des Roßhändlers bevollmächtigen, dessen Sache, wie bekannt, sehr gerecht sei, und dem man das Schwert, das er führe, selbst in die Hand gegeben. Der Kurfürst, den der Junker bei diesen Worten betroffen ansah, wandte sich, indem er über das ganze Gesicht rot ward, und trat ans Fenster. Der Graf Kallheim, nach einer verlegenen Pause von allen Seiten, sagte, daß man auf diese Weise aus dem Zauberkreise, in dem man befangen, nicht herauskäme. Mit demselben Rechte könne seinem Neffen, dem Prinzen Friedrich, der Prozeß gemacht werden; denn auch er hätte, auf dem Streifzug sonderbarer Art, den er gegen den Kohlhaas unternommen, seine Instruktion auf mancherlei Weise überschritten: dergestalt, daß wenn man nach der weitläufigen Schar derjenigen frage, die die Verlegenheit, in welcher man sich befinde, veranlaßt, er gleichfalls unter die Zahl derselben würde benannt, und von dem Landesherrn wegen dessen was bei Mühlberg vorgefallen, zur Rechenschaft gezogen werden müssen. Der Mundschenk, Herr Hinz von Tronka, während der Kurfürst mit ungewissen Blicken an seinen Tisch trat, nahm das Wort und sagte: er begriffe nicht, wie der Staatsbeschluß, der zu fassen sei, Männern von solcher Weisheit, als hier versammelt wären, entgehen könne. Der Roßhändler habe, seines Wissens, gegen bloß freies Geleit nach Dresden, und erneuerte Untersuchung seiner Sache, versprochen, den Haufen, mit dem er in das Land gefallen, auseinander gehen zu lassen. Daraus aber folge nicht, daß man ihm, wegen dieser frevelhaften Selbstrache, Amnestie erteilen müsse: zwei Rechtsbegriffe, die der Doktor Luther sowohl, als auch der Staatsrat zu verwechseln scheine. Wenn, fuhr er fort, indem er den Finger an die Nase legte, bei dem Tribunal zu Dresden, gleichviel wie, das Erkenntnis der Rappen wegen gefallen ist; so hindert nichts, den Kohlhaas auf den Grund seiner Mordbrennereien und Räubereien einzustecken: eine staatskluge Wendung, die die Vorteile der Ansichten beider Staatsmänner vereinigt, und des Beifalls der Welt und Nachwelt gewiß ist. – Der Kurfürst, da der Prinz sowohl als der Großkanzler dem Mundschenk, Herrn Hinz, auf diese Rede mit einem bloßen Blick antworteten, und die Verhandlung mithin geschlossen schien, sagte: daß er die verschiedenen Meinungen, die sie ihm vorgetragen, bis zur nächsten Sitzung des Staatsrats bei sich selbst überlegen würde. – Es schien, die PräliminarMaßregel, deren der Prinz gedacht, hatte seinem für Freundschaft sehr empfänglichen Herzen die Lust benommen, den Heereszug gegen den Kohlhaas, zu welchem schon alles vorbereitet war, auszuführen Wenigstens behielt er den Großkanzler,
100 „Auf ein tüchtiges Element in der Brust des Mordbrenners bauend“ Grafen Wrede, dessen Meinung ihm die zweckmäßigste schien, bei sich zurück; und da dieser ihm Briefe vorzeigte, aus welchen hervorging, daß der Roßhändler in der Tat schon zu einer Stärke von vierhundert Mann herangewachsen sei; ja, bei der allgemeinen Unzufriedenheit, die wegen der Unziemlichkeiten des Kämmerers im Lande herrschte, in kurzem auf eine doppelte und dreifache Stärke rechnen könne: so entschloß sich der Kurfürst, ohne weiteren Anstand, den Rat, den ihm der Doktor Luther erteilt, anzunehmen.
Hier erinnert der Aufbau der Erzählung an Theodor Dreisers „An American Tragedy“. Im ersten Teil werden dort die Ursachen, die zur Tat führen, geschildert, und dann wird diese Tat genau beschrieben, im zweiten Teil folgt die Reaktion der Strafverfolgungsbehörden, die ebenfalls nicht nur genau beschrieben, sondern auch in ihren Motivationen und äußeren Determiniertheiten analysiert wird. Bei Kleists Kohlhaas sind es vorerst Gespräche, höfisch verschlüsselt, mit tückischen Bürokratismen versetzt, aber auch erfüllt von juristischen Selbstquälereien. Der erfahrene juristische Leser wird an die vielen Schriftsätze denken, die seinen Schreibtisch passiert haben, aber auch an viele gerichtliche Entscheidungen, die auf ähnliche Weise sich mäandernd mit Problemen beschäftigen, die am Ende nicht gelöst werden. Die Ökonomen unserer Zeit operieren ganz unverhohlen mit „constructive ambiguity“, eine Kapitulation vor den Paradoxien, zu denen jede Rechtsordnung greifen muss, um sich aufrecht zu erhalten. Die hinhaltenden und von wechselseitigen Vorsichten überquellenden Reden werden zusammen mit symbolisierenden Gesten präsentiert und liefern damit eine Melodie, deren Reiz nicht in der Abgehobenheit der Kunst, sondern darin besteht, die virtuelle Realität zu überhöhen, so dass man keine Sekunde das Gefühl hat, nur in einer poetischen Welt zu sein. Im Wilhelm Praml-Theater in Frankfurt am Main ist das übrigens am Ende des Kleist-Jahres 2011 auf der Bühne durchexerziert worden, indem innerhalb eines Satzes im Sekundentempo die Sprecher wechselten, und am Schluss alles in eine gestikulierende sprachliche Wirrnis überging, zunächst einem akustischen Höhepunkt zustrebend, dann sich gespenstisch in den Weiten der Bühne verlierend. Der Rest ist schnell erzählt. Kohlhaas hat eigentlich alles aufgegeben, erwägt eine Auswanderung mit seinen Kindern nach Amerika, verspielt aber die Chancen, die ihm das freie Geleit gewährt haben, indem er in eine Falle geht und dadurch der Anschein entsteht, er habe mit seinem Stellvertreter oder „Nachfolger“, Nagelschmidt, auch noch nach der Inanspruchnahme des freien Geleits gemeinsame Sache gemacht. Die sich anschließenden rechtstechnischen Verfeinerungen durch Einbeziehung des auf Kaiser und Reich bezogenen Aspekts und – über das problematische Verhältnis zu Polen – sich entwickelnde wechselseitige Rücksichtnahmen zwischen dem Kurfürstentum
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Sachsen und dem Kurfürstentum Brandenburg kann man getrost übergehen. Am Schluss steht die Hinrichtung des Kohlhaas, die mit einer gewissen Munterkeit in Szene gesetzt wird. Auch der Junker wird verurteilt und alles scheint in Ordnung zu sein. Doch weit gefehlt. Der Leser weiß inzwischen, dass aus Gründen, die hier auszubreiten wenig Sinn hat, eine Zigeunerin dem Kurfürst von Sachsen die Zukunft gedeutet, aber davon abgesehen hat, ihm das Ergebnis mitzuteilen, sondern es auf einen Zettel geschrieben und diesen dem in der Menge sichtbaren Kohlhaas übergeben hat. Alle Versuche des Kurfürsten von Sachsen, dieses Zettels habhaftig zu werden, scheitern. Nun steht er – verkleidet – in der Menge und wartet auf die Hinrichtung, um sich den Zettel denn doch noch zu verschaffen. Aber was geschieht? Kohlhaas trat an den Block. Eben knüpfte er sich das Tuch vom Hals ab und öffnete seinen Brustlatz: als er, mit einem flüchtigen Blick auf den Kreis, den das Volk bildete, in geringer Entfernung von sich, zwischen zwei Rittern, die ihn mit ihren Leibern halb deckten, den wohlbekannten Mann mit blauen und weißen Federbüschen wahrnahm. Kohlhaas löste sich, indem er mit einem plötzlichen, die Wache, die ihn umringte, befremdenden Schritt, dicht vor ihn trat, die Kapsel von der Brust; er nahm den Zettel heraus, entsiegelte ihn, und überlas ihn: und das Auge unverwandt auf den Mann mit blauen und weißen Federbüschen gerichtet, der bereits süßen Hoffnungen Raum zu geben anfing, steckte er ihn in den Mund und verschlang ihn. Der Mann mit blauen und weißen Federbüschen sank, bei diesem Anblick, ohnmächtig, in Krämpfen nieder. Kohlhaas aber, während die bestürzten Begleiter desselben sich herabbeugten, und ihn vom Boden aufhoben, wandte sich zu dem Schafott, wo sein Haupt unter dem Beil des Scharfrichters fiel.
Prominente Kleist-Leser wie Kafka und Lukacz haben unumwunden gesagt, dass die Geschichte mit der Zigeunerin ganz überflüssig sei, mit dem eigentlichen Stoff nichts zu tun habe, bestenfalls ein Zugeständnis an eine damals ein wenig auf Phantastisches eingestellte Leserschaft sei15. Bei Lukacz ist das ganz durchsichtig. Die klassenkämpferische Pointe des Kohlhaas leidet unter dieser märchenhaften Entwicklung. Aber Kafka? Warum sieht auch er das so nüchtern?16
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Zur Rezeption der so genannten „Zigeunerin-Episode“ vgl. den Bericht in: Sämtliche Erzählungen, Anekdoten, Schriften, aaO., S. 715 ff.; s. auch den Überblick bei Schmelzer, aaO., S. 52 ff. Zum Verhältnis von Kafka und Kleist „eine komplexe Verwandtschaft“ vgl. Walter Hinderer, Vom Gesetz des Widerspruchs, über Heinrich von Kleist, Würzburg 2011, S. 173 ff. Naucke aaO., S. 128, meint, „dieses Urteil“ helfe, „sich von Kleists allzu ausgewogenem ordnungsfreundlichen Schluss zu befreien“.
102 „Auf ein tüchtiges Element in der Brust des Mordbrenners bauend“ Dass Kleist den Aufwand nicht scheut, eine Geschichte zu erzählen, die – nach Durchquerung vieler gewundener Pfade – einer ganz überraschenden Aktion des Kohlhaas dient, bedarf der Begründung. Natürlich könnte man noch einmal darauf verweisen, dass es sich eben um eine Erzählung handelt, deren geheimnisvolle Ausgestaltung die künstlerische Zutat des Autors ist, und sich damit realistischen Deutungen entzieht. Näher als diese Verlegenheitsauskunft liegt indessen die Vermutung, dass die Zigeunerin und das Schicksal ihres Zettels eine wichtige Information vermitteln. Relativ spät haben Psychoanalytiker herausgefunden, dass es nicht nur die neurotische Persönlichkeitsstörung gibt, sondern auch eine, die man als pathologischen Narzissmus bezeichnen kann. Sie äußert sich – auf die Spitze getrieben formuliert – so, dass davon befallene Personen andere Personen eigentlich nur vereinnahmen oder vernichten können. Da in den meisten Fällen die äußerlichen Anpassungsleistungen, die eine solche extreme Alternativität verhindern, dann doch erbracht werden, genügen schon gewisse Surrogate für diese Diagnose. Spätestens die Androhungen, ganze Städte einzuäschern, wenn sie nicht den Junker herausgeben, offenbaren bei Kohlhaas diese extreme Pro- oder ContraPsychologie. Wenn man diese Perspektive erst einmal eingenommen hat, eröffnen sich Blicke auf vergleichbare Phänomene. Schon vor der ersten Aktion auf der Tronkenburg erhebt Kohlhaas Forderungen, die einen maßlosen moralischen Rigorismus verraten: Der Junker von Tronka sei zur höchst persönlichen Dickfütterung der Rappen zu verurteilen, verlangt er unter anderem. Die äußeren Begleitumstände seines Auftretens – Vorantragen eines Banners, Bekanntmachungen über den Sitz der provisorischen Weltregierung – tun ein übriges, um den borderline case, wie die moderne Psychoanalyse hier sagt, ins Licht treten zu lassen. Die Wissenschaft hat natürlich Hypothesen aufgestellt und auch entsprechende Beweise zu führen versucht über die Entstehung eines solchen psychosozialen Syndroms. Die „Patienten“ überwinden zwar den kindlich-autistischen Zustand, lernen Subjekt und Objekt zu unterscheiden, können sich aber aus der Mutter/Kind-Dyade oder der ihr entsprechenden Beziehung nicht lösen, sondern halten über die normale Kindheitsepoche hinaus den symbiotischen Betrieb aufrecht, das heißt, wenn es die Mutter nicht mehr sein kann, dann sind es andere Menschen, die ausgebeutet werden. Das Wunder einer „normalen“ Entwicklung, dass nämlich das kleine Kind lernt, andere jeweils mit eigenen Ansprüchen gegenübertretende Personen zu achten, bleibt in den Fällen des pathologischen Narzissmus aus. Wie man mit anderen Personen so umgeht, dass man zwar versuchen kann oder sogar muss, sich ihnen gegenüber durchzusetzen, dass man aber dabei
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doch die Grenzen erkennt, lernen die Kinder nicht, wenn entweder wegen zu harter konfrontativer Erziehung sie keine Chance sehen, etwas auf dem Wege des Einverständnisses zu erlangen, oder umgekehrt wegen zu lockerer indolenter Nachgiebigkeit die Wahrnehmung des Widerstandes fehlt, an dem man das richtige Verhalten lernen kann17. Die Diagnose eines pathologischen Narzissmus bei Michael Kohlhaas18 könnte natürlich ohne weiteres daran scheitern, dass man nichts über seine Kindheit erfährt. Aber es gibt Indikatoren aus dem späteren Leben. Die spezifische Beziehungsunfähigkeit, die den pathologischen Narzissmus ausmacht, muss nicht immer zu Aggressionen führen. Wer die Schwierigkeiten, die das Leben mit sich bringt, auf andere Weise, durch große Begabung, Reichtum und ähnliches überwindet, merkt vielleicht nie, wie es um ihn steht. Das heißt, die sozialschädliche Seite des pathologischen Narzissmus ist an spätere äußerliche Bedingungen geknüpft. Wenn diese Bedingungen nicht eintreten, bleibt es zunächst bei einer latenten Potenz, die aber manifest werden kann, sofern die bisher glückhaften Umstände auf einmal wegfallen. Das kann man nun bei Kohlhaas durchaus sehen. Der vorzüglich funktionierende, allseits beliebte, erfolgreiche Pferdehändler wird quasi über Nacht ein anderer. An dieser Stelle ist, wie schon angekündigt, noch einmal aufzugreifen, was am Sterbebett der Frau Lisbeth geschieht. Wenn jene enigmatische Wendung wirklich die – unbeeinflusst von der Erschütterung durch die letzten Worte seiner Frau weiter bestehende – Unversöhnlichkeit seines Standpunktes bezeichnet, dann ist dies ein zusätzlicher wichtiger Hinweis auf die narzisstische Überreaktion. Dass sein Narzissmus gleichzeitig auch der des erfolgreichen Menschen ist, offenbaren seine unheimlichen kriegerischen Erfolge; bis zum Schluss bleibt er der überlegene Stratege. Aber der Ausgleich in seiner Person gelingt eben nicht, und die scheinbar unwägbaren Übergänge vom Tüchtigen ins Verbrecherische werden immer wieder deutlich. Nur in einer „zerrissenen Brust“ konnte er den Plan wälzen, „Leipzig einzuäschern“. Als das Plakat Luthers erschien, trat er mit seinen Knechten, „indem er sie zerstreut ansah, an den Pfeiler heran. Er las den Text und wendete sich mit unsicheren Blicken mitten unter die Knechte zurück, als ob er etwas sagen wollte, und sagte nichts“. Es ist der Dichter, der diese Janusköpfigkeit seines Protagonisten
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Nachweise der einschlägigen Literatur bei Lüderssen, Abschaffen des Strafens? Frankfurt am Main 1995, S. 294 ff. Einen ersten Versuch in diese Richtung hat schon vor Jahrzehnten Helga Gallas gemacht: Das Textbegehren des „Michael Kohlhaas“. Die Sprache des Unbewussten und der Sinn der Literatur. Hamburg 1981, S. 106 ff. (118).
104 „Auf ein tüchtiges Element in der Brust des Mordbrenners bauend“ demonstriert, und dieser Erkenntnisgewinn steht für das, was manche Interpreten (nur) als autonome ästhetische Dimension begreifen. Man bewegt sich auf gefährlichem Terrain, wenn man das Nebeneinander des erfolgreichen und des sozial abweichenden Narzissmus registriert. Viele auffallende Persönlichkeiten, die am Ende nicht auf der Schattenseite des Lebens bleiben wie Kohlhaas, sondern mit einem gewissen Recht als „Helden“ in die Geschichte eingehen, können nachträglich ins Zwielicht geraten, wenn man sehr genau hinsieht. Bei Kohlhaas indessen ist die Provokation, den Blick vor einer eindeutigen Analyse nicht zu verschließen, unbestreitbar. Der Gipfel ist die ostentative Zettelvernichtung und die Zufriedenheit, mit der er anschließend ans Schafott tritt. Dass die Hinrichtung von Kohlhaas und die Bestrafung des Junkers zusammen eine schöne Harmonie ergeben, hat Kleist nicht gemeint19. Auch eine poetische Gerechtigkeit hat ihm nicht vorgeschwebt. Vielmehr zeigt er die bare Aussichtslosigkeit, der Gebrechlichkeit dieser Welt rechtlich abzuhelfen20, und als Schlusslicht erscheint eher, wie Aguirre, der Zorn Gottes, in dem gleichnamigen Film von Werner Herzog, einsam auf dem – von der Kamera ruhelos umkreisten – Floß im Amazonas vor sich hinsieht. Es bleiben freilich die Verdikte über diese Art von Literatur. Kann die Kunst, darf sie, muss sie auch das Furchtbare erkennen, so wie es die Wissenschaft nicht kann, oder gibt es da Unterschiede? Goethe meint, „der echte gesetzgebende Künstler strebt nach Kunstwahrheit, der gesetzlose, der einem blinden Trieb folgt, nach Naturwirklichkeit. Durch jenen wird die Kunst zum höchsten Gipfel, durch diesen auf ihre niedrigste Stufe gebracht“, und weiter – ausdrücklich mit Bezug auf „Kohlhaas“ – „es gehört ein großer Geisteswiderspruch dazu“ ..., um einen so einzelnen Fall mit so durchgeführter gründlicher Hypochondrie im Weltlauf geltend zu machen. Es gebe ein Unschönes in der Natur, ein Beängstigendes, mit dem sich die Dichtkunst bei noch so kunstrei-
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Anders Wolfgang Naucke, aaO., S. 128, wenn er insoweit der Geschichte „ein wahrhaftiges Ende“ bescheinigt; ganz wohl ist ihm dabei aber nicht, weshalb er diese Feststellung mit dem Kommentar begleitet, es handele sich offenbar um „etwas märchenhaftes, etwas begrifflich unwahrscheinliches, etwas nicht realistisches“; s. dazu auch Michael Pawlik, Person, Subjekt, Bürger. Zur Legitimation von Strafe. Berlin 2004, S. 9. So sieht es am Ende wohl auch Joachim Rückert: „Der paradoxe Schluss der Novelle verweist zurück auf eine zu rigorose paradoxe Genese“ (aaO., S. 403).
Anmerkungen zu Kleists „Michael Kohlhaas“
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cher Betrachtung weder befassen noch ausdehnen könne“21. Zwar wird später22 von der „Ästhetik des Bösen“ gesagt, dass sich „eine Befreiung vom Diktat der christlichen bzw. aufklärerischen Wirkungsdoktrin“, wie man wisse, „mit dem Aufkommen des Programms der Kunstautonomie um 1800“ vollzogen habe. Trotzdem ist diese Freiheit der Kunst seit Hegels Ablehnung einer „Ästhetik des Bösen als ein Widerspruch in sich“ zweifelhaft geblieben, und für die aktuelle Wiederaufnahme der Diskussion bedurfte es vielleicht erst Karl Heinz Bohrers Apostrophierung des Bösen als künstlerisches Ereignis23. Die ganze Welt ist eine Jurisprudenz, sagt Thomas Bernhard24, eine Jurisprudenz geprägt durch Paradoxien, könnte man hinzufügen. Längst sind die Reflexionen über Recht und Literatur an dieser Stelle angelangt, ein Thema, das Imme Roxin, der ich zu ihrem 75. Geburtstag diesen Text in großer Verehrung und Zuneigung darreiche, gut kennt – nicht zuletzt auf der Basis ihrer Erfahrungen im Austausch von einander überbietenden Gutachten und Gegengutachten – und seine Verifizierung in der schönen Literatur mit scharfem Blick wahrnehmen wird.
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Nachweise bei Katharina Mommsen, Kleists Kampf mit Goethe, Heidelberg 1974, S. 68, 104. Alt, aaO., S. 12. Karl Heinz Bohrer, Die Ästhetik des Schreckens, München / Wien 1978. S. dazu Lüderssen, Produktive Spiegelungen, Band 2, aaO., S. 146 f.
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Geheimnisse der Jurisprudenz im Vatikan.
Nachwort zu „Audienz in Rom“ von Tadeusz Breza Tadeusz Breza wurde 1905 geboren und ist ein Zeitgenosse von Witold Gombrowicz und Jersej Andrejewski. Er studierte Jura, absolvierte aber auch das Noviziat in einem Benediktinerorden in Belgien. Später studierte er Philosophie mit einer Abschlussarbeit über David Hume. Dann trat er in den diplomatischen Dienst ein und war zunächst (1929–1932) in dieser Eigenschaft in England. Danach arbeitete er als Journalist in Warschau und war dort auch zwei Jahre lang Leiter eines Theaters, übrigens auch wohl noch, als Ernst Lubitsch den Film „Sein oder Nichtsein“ drehte, in dem das Ensemble eines kleinen Theaters einen sehr wagemutigen Widerstandscoup landet. Auch Breza war in der polnischen Widerstandsbewegung während der deutschen Besatzung. Als der Krieg vorbei war, lebte er in Krakau und in Warschau und war wiederum publizistisch tätig. 1955 wurde er Kulturattaché an der polnischen Botschaft in Rom, und dort entstanden seine beiden wichtigsten Bücher: „Das Bronzene Tor“ und „Audienz in Rom“ (ursprünglich „Mysia“ [Die Mission], später URZAD [Das Amt] genannt). Beide Bücher sind in Polen Bestseller gewesen und wurden in viele Sprachen übersetzt. Breza bekam viele Auszeichnungen. Er starb 1970.
A Vielleicht ist es kein Zufall, dass der erste Hinweis auf diesen nach Resultat und Genese gleichermaßen komplexen Roman schon in den sechziger Jahren von einem Freund kam, der sich zunächst ebenso heftig gegen den AntiKommunismus der Bundesrepublik wehrte, wie er ihn später guthieß, und aus dieser spannungsreichen Entwicklung ein Interesse an autoritären Strukturen zurückbehielt, das ihn empfänglich machte für den Reiz paralleler Erscheinungen. Stendhals „Kartause von Parma“ war ihm dabei ebenso gegenwärtig wie Dostojewskis „Dämonen“, die er an den Stränden von Sizilien las, und Breza hätte sich keinen auf sein Opus besser vorbereiteten Leser und Fürsprecher wünschen können. Jedenfalls übertrug sich die Affinität des Freundes zu dem Stoff ohne weiteres auf mich, denn ich hatte sowohl – durch in der sowjetischen Zone verbrachte
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Geheimnisse der Jurisprudenz im Vatikan
Jahre – Erfahrung mit dem Kommunismus, wie – nach der Flucht in das im Westen gelegene Fulda – sehr bewegende Erlebnisse mit dem Katholizismus, und – wieder später – schloss sich auch bei mir der Kreis mit intensiven Italienreisen. Von da an las ich das Buch von Breza in regelmäßigen Abständen, und es zog mich so in seinen Bann, dass ich begann, mir zu überlegen, wie ich für seine Publikation im Westen sorgen könnte, zumal es in dem DDR-Verlag Volk und Welt nicht mehr lieferbar war. Aber das klappte nicht. Bezeichnend war vielleicht die Reaktion der sehr gelehrten und gebildeten Lektorin eines großen Verlages, das Buch werde die katholischen Leser ohne Not erbittern, die protestantischen aber langweilen, und außerdem hätten wir längst Kafka. Im Jahr 1983 – also ein paar Jahre nach der Wahl des polnischen Papstes Johannes Paul II. und unmittelbar nach der Aufhebung des Ausnahmezustandes – besuchte ich Polen, und traf in Krakau einen Kollegen, dem es – wie vielen anderen auch – gelungen war, sich vom Regime frei zu halten, freilich um den Preis der Verweigerung einer festen Anstellung. Wir machten eine längere Tour in die Umgebung, und er führte mich zu einem Kloster, in dessen Mauern er sich sicher genug fühlte, alles zu sagen, was ihn am Zustand Polens bedrückte. Am darauf folgenden Sonntag – nun in Warschau – besuchte ich mit einer dortigen Kollegin mehrere katholische Gottesdienste und war tief beeindruckt von der Zivilität und der in den Ritualen durchaus sichtbar werdenden Warmherzigkeit der priesterlichen Verrichtungen. Eine vom kommunistischen Alltag reinlich geschiedene, andere Welt – aber auch eine Gegenwelt? Ich dachte an den jungen Protagonisten in Brezas Buch, der überall im Vatikan auf Freundlichkeit und Verständnis stieß und doch nichts bewirkte.
B Ein internes kirchliches Problem in einem kommunistischen Staat Mitte der fünfziger Jahre des vorigen Jahrhunderts, das in Rom gelöst werden soll. Das ist schon einigermaßen apart. Der Bischof von Toruń in Polen verweigert die Zusammenarbeit mit dem Justiziar der Diözese. Dessen Sohn, angehender Jurist, reist nach Italien, um sich bei den vatikanischen Behörden für seinen Vater zu verwenden. Das könnte man nun vielleicht auf sich beruhen lassen, wenn nicht das politische Polen dabei auch präsent wäre – als osteuropäische bedrohliche Macht und in Gestalt der Emigranten. In feinen Abstufungen wird das mitgeteilt, nicht aus der überlegenen Distanz des Westens, sondern von einem im Osten gebliebenen Polen, freilich nach vielen Aufenthalten in westlichen Ländern.
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Der Roman widerstrebt dem Versuch, ihn irgendwie zu klassifizieren. Das beginnt beim Stoff. Wie gravierend ist der Konflikt des Vaters mit seinem Bischof? Die Zerrüttung des Verhältnisses ist es, die den Vater quält, aber es geht auch um seine wirtschaftliche Existenz. Allerdings wohl nicht in dem Sinne, dass alles auf dem Spiel steht. Er ist sechzig Jahre alt, könnte einfach aufhören zu arbeiten. Das wäre schmerzlich, aber nicht dramatisch. Oder? Der Verfasser lässt die Frage in der Schwebe. Nimmt man das Problem des Vaters sehr ernst, ist das, was seinem Sohn im Vatikan passiert, ein großes Unrecht. Bedeutet es am Ende doch nicht so viel, dann darf man sich nicht zu sehr aufregen. Zwischen diesen beiden Stimmungen bewegt sich der Sohn und kommt deshalb bis zum Schluss nicht zu einer endgültigen, für ihn verbindlichen Deutung des Geschehens. Brezas leichtfüßige Lakonie zielt – das ist schon ungewöhnlich – eher auf Indistinktes als auf Tragisch-Zwangsläufiges. Flaubert, an den ich beim ersten Lesen bald dachte, scheidet also als Pate aus. Sein Schüler Maupassant schreibt, wie Breza, mit genialer Einfachheit, nimmt aber auch die Sachen selbst leichter und ist wiederum gerade deshalb kein Anhaltspunkt. Erst recht muss man die Assoziation „Kafka“ von vornherein relativieren. Das Enigmatisch-Drängende seiner Texte, etwa im „Prozess“, fehlt bei Breza ganz. Dem entspricht auch, dass Breza seinen Erzähler nicht – wie Kafka – einer Welt aussetzt, die von vornherein jedem Versuch, sie zu erklären, spottet; vielmehr kreist der Autor die ständigen Vagheiten und Ambiguitäten in empirischer Absicht förmlich ein, sie werden dadurch zu kleinen Inseln des Nichtverstehbaren, und am Ende steht nicht man nicht vor einem Abgrund, sondern ein Mosaik vieler Unwägbarkeiten ist ausgebreitet, das einige Beteiligte sogar in gute Laune versetzt, wie den Anwalt Campilli: „Bei diesem Modus ist niemals etwas vorzeitig entschieden, unwiderruflich erledigt oder von Ausnahmen ausgenommen. Nie hat man völlige Gewissheit, aber man bleibt auch nie ohne einen Funken Hoffnung, das ist wunderbar“. Die Ingredienzien dieses Optimismus sind vielfältig. Der Vatikan – keine totalitäre Institution mehr mit Zwangsmitteln gegen Dritte, wohl aber – wenn auch begrenzt durch die Freiheitsstrukturen des modernen demokratischen Staates – nach innen mächtig. Das Schicksal des armen Piolanti, der ein Buch geschrieben hat über sein Erschrecken angesichts der Ungläubigkeit seiner Gemeinde und deshalb nicht mehr in seine Pfarre darf, sondern lernen muss, was die Kirche für gut hält, macht das deutlich. Diese Nebenhandlung ist wichtig für das Verständnis des Ganzen, weil sie zeigt, dass es nicht nur die Kraft des Wortes ist, mit der die Kirche regiert – obwohl in den vielen Gesprächen, die der Sohn mit Patres und Kardinälen führt, dieser Anschein entsteht.
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Und Campilli thront ja nicht wie der Anwalt in Kafkas „Prozess“ unheimlich in seiner privaten Residenz, wo Mandanten übernachten, um jederzeit zur Stelle zu sein, sondern ist ein Grandseigneur bester bürgerlicher Provenienz, mit allen Insignien eines höheren Wohllebens – Villa in Rom, in den Abruzzen und am Meer, feinsten Sitten in der Routine des Tages, aber auch in speziellen diffizilen Kommunikationen. Er passt gut in das Bild maßvoll gewordener klerikaler Institutionen und Praktiken. Der Kommunismus der östlichen Länder erscheint dem gegenüber unverändert monolithisch, sofern man in dem Buch überhaupt etwas über ihn erfährt. Seine begrenzten Spiegelungen in eigentlich nur am Rande gesprochenen Sätzen, im Milieu der von Emigranten geprägten Pension Wanda bezeugen nicht primär das Grauen, sondern eher die stereotype Langeweile sinnloser Tyrannei, mit einem Zusatz gutartigen Spotts, der freilich in dem anderen Emigrantenmilieu, das vorgeführt wird in Gestalt der polnischen Ehefrau Campillis und seines polnischen Schwiegersohns, ganz fehlt. Aber auch hier gibt es keinen Fanatismus im Antikommunismus, sondern nur – allerdings kompromisslose – Indignation. Das alles im heißen Sommer in Rom, kurz vor der Flucht der Bürger aus der Stadt in die Berge oder ans Meer, ein Rom, das der junge Mann aus Toruń in seiner von ihm rührend bewunderten Modernität ebenso registriert wie das Imperiale der Paläste, Kirchen und Reste antiker Bauwerke, sowohl im ständigen Austausch der Gefühle über diesen Doppeleindruck, wie auch in Verbindung mit dem gerade im Vatikan Erlebten. Von einer Nebenhandlung war schon die Rede. Eine zweite, nicht minder nah am Zentrum der Erzählung, ist die Arbeit in der Bibliothek. Der polnische Doktorand der Rechtsgeschichte will etwas herausfinden über die Herkunft der Bezeichnung „Rota“ für den höchsten vatikanischen Gerichtshof. Er hat einige Vermutungen, mit denen er die bisherigen Forschungsergebnisse widerlegen könnte, und sucht dafür eine Bestätigung in alten Dokumenten, die ihm zunächst zugänglich gemacht werden, bis es auf einmal heißt, er dürfe die Bibliothek nicht mehr benutzen. Campilli hatte ihm die Erlaubnis erwirkt, doch sein Einfluss reicht nicht so weit, das genuine Misstrauen gegen den Benutzer aus dem Osten, der obendrein in zweifelhafter Mission im Vatikan erscheint, zu beseitigen. Campilli verhüllt diesen Tatbestand, und nun ist man endgültig bereit, ihn für falsch und herzlos zu halten. Doch das wäre falsch. Seine Liebenswürdigkeit gegenüber dem Sohn seines Freundes aus Toruń ist nicht gespielt, er reizt alle seine eigenen Möglichkeiten wirklich aus, nur riskiert er eben nicht das Äußerste. Die Undurchdringlichkeit des Systems der Kooperation vieler einflussreicher Personen im Vatikan dehnt sich auf seine Strategie
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zwar aus, gleichwohl darf sie nicht ohne weiteres als opportunistisch abgetan werden. Vielmehr muss man sich Mühe geben, sie so zu begreifen, wie Campilli selbst das tut, als eine Art höherer Geschmeidigkeit für das, was am Ende allen frommen könnte. Die vielen, aus gegenläufigen Richtungen kommenden und sich kreuzenden Linien werden schließlich noch ergänzt durch Reminiszenzen an das nationalsozialistische Deutschland und seine Schreckensherrschaft über Europa während des Krieges. Dass der Bischof Horzeliński in Toruń in Dachau in einem KZ gewesen ist, macht ihn zum Charakter indelebilis und erschwert die Mission des Sohnes seines Gegners. Auch in den Schicksalen der Personen in der Pension Wanda wetterleuchten die NS-Zeit und der Krieg. Viele Polen kamen als Sieger nach Italien und wurden erst später zu Emigranten, mit wenig guten Aussichten für ihr weiteres Leben, und um so bitterer halten sie die Erinnerungen an die Rolle der Deutschen in Polen aufrecht. Aber kein Wort über Verstrickungen auch der katholischen Kirche in die Verbrechen der Nazis. Diesen „Stoff“ treibt der Erzähler vor sich her in einer Mischung aus die Präzision im Lockeren kultivierender Erzählung und Reflexion der diffizilen kirchenpolitischen und theologischen Fragen. Die dramatischen Zäsuren werden episch abgemildert durch die parallelen Entwicklungen im Alltag: Da verschwindet, nachdem mit der Nachricht vom Tod des Bischofs Horzeliński das Problem auf natürliche Weise gelöst zu sein scheint, die Familie Campilli in den Abruzzen, und der junge Mann fährt mit Piolanti, der ihm nach und nach seine Geschichte enthüllt, nach Lazaretto, einem ehemaligen LepraKrankenasyl. Dort geht es in einer historisierenden Theateraufführung im Stil einer „uralten pantomimischen Moralität“ um Bettler, die nicht gesund werden wollen, weil sie von ihrem Gebrechen leben. Auch die gegenwärtige Szenerie ist gebrochen – alte winzige Gärten inmitten moderner Spitalbauten, kläglich vertrocknete Sträucher in guter Luft, das Meer in der Ferne als „Glastäfelchen“ zu sehen. Lange wird der Leser darüber in Ungewissheit gehalten, was eigentlich den besonderen Grund des Zerwürfnisses zwischen Bischof Horzeliński und seinem Justiziar ausmacht. Auf einmal wird der Zusammenhang mit dem politischen Regime doch offenbar. Während einer Erkrankung Horzelińskis hatte Canonicus Rolle seine Aufgabe übernommen. Der war bereit, das eine oder andere Gute des Regimes anzuerkennen, und in dem Maße wie der Justitiar dafür Verständnis zeigte, entfernte er sich von Horzeliński. Die nächste Zäsur ist der in Umrissen erkennbare Plan des Vatikans, Bischof Horzeliński selig zu sprechen. Die Folge ist: jede auch nur virtuelle Kritik an
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seiner Person verbietet sich. Als der Plan der Seligsprechung wieder fallengelassen wird, tritt keineswegs der status quo ante ein. Vielmehr gibt es neue Ausweichmanöver, und schließlich soll ein geschickter Schachzug die ganze Affaire beenden: Eine Anfrage bei der Diözese Toruń wegen eines Falles mit der Bitte, den Justitiar damit zu beauftragen, könnte eine antizipierte Verbindlichkeit gegenüber Rom schaffen. Der Brief wird abgeschickt, eine Kopie gelangt nach langem Antechambrieren an den Sohn, und dort steht dann unmissverständlich: nicht in Toruń wird die alte Zuständigkeit des Justitiars wiederhergestellt, sondern in Tarnow soll eine neue etabliert werden. Ein Missverständnis oder ein bürokratischer Fehler wird stillschweigend ausgeschlossen. Der Sohn unterwirft sich in einer diffus bleibenden, mit einem Anflug grimmiger Fröhlichkeit versehenen Motivation. Er wird nicht, wie K. im „Prozess“, schließlich an einer Grube stehend, umgebracht, sondern fährt nach Hause.
C Ob dem Autor vorgeschwebt hat, dass auch der Kommunismus sich dermaleinst von der Gewalt der Tat zugunsten der nurmehr kommunikativ ausgeübten Macht verabschieden werde, kann niemand sagen. Breza selbst formuliert sein Ziel sehr bescheiden. „Die Rota ist ein Teil der Kurie, die Kurie ist ein Teil des Vatikans, dieser seltsamen Institution, die das Urbild aller ähnlich riesigen und entfremdeten Ämter ist. Die spezifische Mentalität dieses Prototypen zu zeigen, seine Rhythmen, Verfahrensweisen und Formalitäten, das beabsichtige ich in meinem Buch“. (Aus dem Vorwort zur französischen Ausgabe). Was politisch eingetreten ist, geht weit über das hinaus, was man damals ahnen konnte: Der Kommunismus als Staatsform verschwindet. Hätte er eine Chance gehabt, wenn die in seinem Geiste geführten Länder – der Kirche vergleichbar – zivile Strukturen der geheimen Machtausübung entwickelt hätten? Die totale, jede Verhältnismäßigkeit der darauf verwendeten Mittel sprengende Information, wie beispielsweise in den Schlussphasen der DDR, hätte überführt werden müssen in einen Zustand des Gewaltverzichts gegenüber Dissidenten. Die Welt hätte dem dann vielleicht ebenso indolent zugesehen wie dem verbliebenen Machtbetrieb der katholischen Kirche. Aber die Kirche kann sich nach wie vor auf den „mystischen Ruf einer unübersehbaren Masse menschlicher Seelen stützen, auf den nur der Himmel eine Antwort zu geben weiß“. Ein ähnliches Surplus stand den Zentralkomitees der kommunistischen Parteien eben nicht zur Verfügung. An diesem schlichten Manko scheitern die Jesuitenpatres, die – ein Zwischenspiel – versuchen, den jungen Mann aus Polen als Informanten zu gewinnen,
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weil sie sich nicht vorstellen können, dass ein so mächtiger Apparat ohne höhere Inspiration so gut funktionieren kann. Sie vermuten, dass die Sprache der Partei „andere Veränderungen“ verberge, „jene in euren Seelen und in euren Köpfen, die Veränderungen eurer Gesellschaft!“ Das „studieren wir alles, eure Presse, eure Literatur, die wissenschaftlichen Publikationen, Berichte, die speziell für uns angefertigt werden, zusammenfassende Arbeiten ... aber uns fehlt der Schlüssel“. Breza liefert ihn auch nicht, stattdessen liefert er den Schlüssel für den Vatikan. Die Idee des harmonischen Ganzen, „in dem ein Glied, und sei es noch so wichtig, einem anderen nicht widersprechen darf“, schwebt über allem, und die Kurie „ist wie ein künstliches Gehirn, das Hunderte von Gleichungen auf einmal löst“. Das klingt nach einer unerbittlichen Konstruktion, aber sie gibt doch – was Campilli ausdrücklich vermerkt – sogar dem Zufall Raum, wie der Verlauf der Unterhaltung mit dem Kardinal Travia zeigt, der bei Gelegenheit der Audienz, die er dem jungen Polen gewährt, „Gedanken“ äußert über die Möglichkeit einer Art neuer Mission im Osten durch die Jugend. Wer Evelyn Waughs „Brideshead Revisited“ gelesen hat, erinnert sich daran, dass der – ganz ungläubige – Erzähler am Schluss, ohne es eigentlich zu wollen, das Knie beugt beim Sterben des Familienpatriarchen. „‘Behalten sie mich in guter Erinnerung’, flüsterte ich“, sagt unser Erzähler, und das gilt dem Anwalt Campilli, von dem man doch weiß, dass sein Beistand durchwachsen war mit „Vorsicht, Unentschlossenheit, Abwarten“. „Du darfst das nicht übel nehmen“, sagt Campilli, „denn wir stehen im Schnittpunkt zu vieler Einflusssphären und handeln unter dem Druck einer großen Verantwortung. Außer der Gerechtigkeit, von der du sprichst, gibt es noch Dutzende andere Rücksichten, und keine wird außer Acht gelassen – das ist das Wesen unserer Arbeit und unserer Berufung“. Hier nur Heuchelei zu vermuten, ginge an der Realität vorbei. Kunst und Bürgertum gehören zu dem, was jene „imposante Wirklichkeit“ ausmacht, die „alle anderen durch ihre Art, durch ihre Tiefe, ihre Abstraktheit, ihre Festigkeit übertrifft“. Die Eleganz des Clubs „Circulum Romanum“, in dem Campilli sich regelmäßig aufhält, und die Fassade der Kirche, die sein Vater in der Jugend so entzückt hatte, beeindrucken den Sohn gleichermaßen und bilden zusammen mit dem lautlosen und höflichen, auf Nuancen achtenden Auftreten der priesterlichen Sekretäre in den Vorzimmern ein Netz, das die Härte der reinen Doktrin auffängt. Die Frage bleibt, ob für Breza dies alles nicht nur die Bemäntelung einer Machtentfaltung ist, die dadurch am Ende um so furchtbarer wird, und er das zeigen wollte. Foucault hat dieses Modell immer wieder vorgeführt. Bis heute kann man sich nicht darauf einigen, ob damit eine gleisnerische „Aufklärung“
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zerstört oder nur eine andere Ideologie präsentiert wird. Dass Breza in dieser Kontroverse mit einer spannenden Geschichte einen neuen Schauplatz eröffnet, auf den sich gegenwärtig sowohl der Blick der großen Politik wie die Alltagserwartungen enttäuschter Bürger richten, gibt seinem Buch eine unvergleichliche Aktualität.
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Die Demokratie – „The greasy Pole“? – Ein Lehrstück aus „Yes Minister“ Eigentlich steht alles bei „Yes Minister“, sozusagen für jede Lebenslage. Durchdrungen von dieser Einsicht bin ich mit meinen Exemplifizierungen einmal so weit gegangen, dass mir mein Freund H. während einer gemeinsamen Reise zu einem Kongress in Pavia ernstlich Gutscheine anbot für jedes Yes-Minister-Zitat, das ich loswerden wolle. Wie viele Gutscheine ich denn bekommen würde, fragte ich. Soviel Du willst, war die Antwort – in der weisen Voraussicht, dass, wer auf das Pflichtteil des Gutscheins gesetzt ist, davon automatisch sparsam Gebrauch machen wird. Ich bin auf den Trick nicht eingegangen, war aber doch eingeschüchtert. Was ist „Yes Minister“? Äußerlich betrachtet handelt es sich um eine BBC TV-Serie, geschrieben von zwei Journalisten, Jonathan Lynn und Antony Jay, und publiziert bei BBC Books in den früheren und mittleren achtziger Jahren, zwei Bände mit den Diaries of the Rt. Hon. Jim Hacker. Im ersten Band ist er ein Minister of the Cabinet, im zweiten Prime Minister. Gespräche in unregelmäßigen Abständen sind es vor allem, die das Tagebuch festhält: in erster Linie mit Sir Humphrey Appleby, seinem Staatssekretär, der zu den vierzig Beamten gehört, die – wie überall in der Welt – den Staat regieren, eine Wahrnehmung, die der scheinbar ganz weltfremde Franz Werfel einmal für österreichische Regierungsverhältnisse (Eine blassblaue Frauenschrift) fixiert hat. Dazu passen die Themen: Staatsgeschäfte, versetzt mit diffizilen Kommunikationen, die ins Höchstpersönliche reichen. Dies um so mehr dort, wo die verborgene Psychologie der Macht – durch individuelle Interessen pervertiert und zugleich entdramatisiert – den Ausschlag gibt. Drohende Bankzusammenbrüche, Krankenhausfinanzierung, telefonische Überwachung hoher Politiker, Bestechung im Ausland, Truppenverlagerungen, terroristische Drohungen, Interventionen in Krisengebieten und ähnliches mehr sind der Anlass für diese Begegnungen. Der Mittelpunkt ist Downing Street Number Ten, meistens das Büro des Ministers, oft aber auch der etwas kleinere Raum von Sir Humphrey. Subversivität und Argumente ad absurdum geben den Ton an. Dafür liefert der Dritte im Bunde, Bernard Woolley, Privatsekretär des Ministers, freundlich-sarka-
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stische Miniaturen, während Sir Humphrey distanziert-sardonisch-strittige – Prinzipien balanciert, und Hacker sich mit einer Mischung aus echter und gespielter Naivität in den Fallen verliert, die Humphrey ihm stellt, aus denen er sich aber auch wieder befreit, manchmal mit der Genialität dessen, der nichts weiß, hin und wieder aber auch mit plumper Chuzpe. Dieser enge Kreis zieht weitere Kreise – Abgeordnete, Gewerkschaftsfunktionäre, parteipolitische Berater, Leiter von Industrieunternehmen, Minister und Staatssekretäre vergangener Legislaturperioden, Chauffeure, und schließlich Mrs. Hacker gehören dazu, und wenn man nicht in Number Ten verhandelt, dann in einem vornehmen Club oder in der Privatwohnung Hackers. Witz ist in jeder Minute, imprägniert gleichsam. Aber das Erstaunliche ist der latente Ernst und, ja fast möchte man sagen, die Treuherzigkeit – ein diskret larvierter Patriotismus aller Beteiligten. BBC kündigt für den Beginn des nächsten Jahres eine Fortsetzung der Serien an. Wer die neuen Folgen richtig genießen möchte, tut gut daran, sich die alten noch einmal zu vergegenwärtigen. Dreißig Jahre sind zwar vergangen, doch wenn nicht alles täuscht, werden vergleichbare Dinge vorkommen und ähnliche Pointen anfallen, denn es schreiben dieselben Autoren. Räumt die neue Serie jedoch alle Erinnerungen beiseite, so gilt es, ein Monument zu erhalten. Nehmen wir „The Greasy Pole“. Es geht um Fabriken und Umweltschutz. Ein neues Chemieprodukt soll auf den Markt. Es heißt Metadioxin. Weil die 1976 die Welt erschütternde Katastrophe in Seveso auf der Verwendung von Dioxin beruhte, verbreitet sich Misstrauen, und es gibt Protestaktionen. Sie beeindrukken den Minister, und er sagt: „It’s the people’s will. I am their leader. I have to follow them“. Das ist entwaffnend. Wozu noch Politikwissenschaft? Sie denunziert nur den Zirkelschluss: „Repräsentative Demokratie ist Responsible Government in einem besonderen, im demokratischen Sinn: Vor der Gesamtheit der Bürger zu Verantwortendes wird von der Gesamtheit der Bürger kontrolliertes Regieren“ (Graf Kielmansegg). Das Dilemma verschiebt sich, wenn man es für die direkte Demokratie formuliert, denn der Freiheit des Repräsentanten könnte man vielleicht noch eine Art selbstreferentieller Ursprünglichkeit zubilligen. „Pluralismus“ heißt das neue Zauberwort, nicht zuletzt in europäischen Kontexten. „Sekundäre Normenwelt“, „Recht ohne Staat“, „Selbstregulierung“ sind andere Wendungen, die der Identität von Regierten und Regierenden näher kommen wollen. Anerkennung und Konsens stiften die Vermittlungen. Allerdings fehlt noch die Antwort auf die Frage, was den logischen Status der substanziellen Argumente ausmacht, die den Verständigungsbetrieb leiten.
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Denn es kann ja nicht so sein, dass man wechselseitig im sich entwickelnden Konsens darauf lauert, was die anderen gerade wollen, und danach sein eigenes Wollen richtet, vergleichbar der perplexen Situation, die entsteht, wenn alle gleichmäßig dem christlichen Gebot folgen wollen, dem Gegner die Wange hinzuhalten. Nur in dem Glauben, dass sich das bessere Argument durchsetzt in der – womöglich idealen – Sprechsituation, entkommt man der Aporie. Das ist mit dem Zugeständnis verbunden, wechselseitige Anerkennung und Konsenssuche seien nichts anderes als ein besonderer Weg zu Wahrheit und Gerechtigkeit; allein die Demokratie verbürge die richtige Entscheidung. Demokratie nur als Methode ist indessen halbherzig. Vielmehr sollte doch wohl der Volkswille die letzte objektive Instanz sein. Aber wie ist er zu erkunden, und was macht man mit divergierenden Gruppeninteressen? Es hilft auch wenig, zu sagen, die Demokratie beginne erst bei der Durchsetzung von Ideen, deren Zustandekommen sei an Regeln der Demokratie noch nicht gebunden. Denn was gar nicht durchsetzbar ist, trägt man lieber nicht erst vor, wagt es kaum zu denken. Diesem Verdikt könnte man sich idealistisch widersetzen, aber das kann auch Don Quichotterie sein oder Hochmut. Soll man sich also mit der halbierten Vernunft zugunsten der Demokratie abfinden oder die Demokratie als einen Mythos auffassen, dessen geheimer Botschaft man – sogar im Wahlkampf – lauschen muss, um sie dann in leitender Stellung zu verkünden? Oder geht es auch anders? „Greasy Pole“ ist schwer zu übersetzen. Eine aufschlussreiche Umschreibung lautet: „to climb the greasy pole means reaching the upper echelons of any hierarchy, but usually refers to politics“, und spannend wird es, wenn man erfährt, Benjamin Disraeli habe damit anschaulich machen wollen, wie schwer es für einen Menschen jüdischer Abkunft sei, im Empire eine hohe politische Position zu erringen. Für Hacker ist „The Greasy Pole“ die nicht genau lokalisierbare Stelle zwischen dem Willen des Volkes und seiner eigenen Entscheidung. Er würde natürlich gern die Industrieförderung, die mit dem neuen chemischen Stoff verbunden ist, auf seinem Konto verbuchen. Doch tritt ihm die Abgeordnete Joan Littler aus dem Wahlkreis entgegen, in dem diese Produktion stattfinden soll. Sie befürchtet, dass der Partei Wähler abhanden kommen, und ohne den Sieg der Partei bei der nächsten Wahl könne er, Hacker, nicht Minister bleiben. Dementsprechend werden die zu erwartenden Pressestimmen ausfallen, wenn der Plan durchgeführt wird: „Hacker tötet ungeborene Babys“, werde „The Daily Mirror“ wohl schreiben, befürchtet Hacker, und wenn er die Produktion nicht zulasse, werde es in „The Times“ heißen, er sei ein Feigling.
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Wo liegt das Gemeinwohl und wer definiert es? Was ist die Basis seiner demokratischen Legitimation? Dass es um „Votes“ gehe, lehnt Hacker entrüstet ab. Als der Leiter des Projekts, Sir Wally McFarlane, ihm erklärt, der neue Stoff sei chemisch ganz einwandfrei, meint er „chemisch vielleicht ja, aber nicht politisch“. Der – hochgerechnet – zu erwartende Sturz der Regierung würde durch die in Gang gesetzte, Arbeitsplätze schaffende Produktion nicht kompensiert. Deshalb sucht Hacker nach einer Möglichkeit, die Produktion zu verbieten und dennoch nicht als jemand dazustehen, der lediglich das vordergründig Populäre tut. Der Dschungel der Abwägungen, in den er jetzt gerät, wird undurchdringlich. Was die wirklich demokratische Entscheidung wäre, vermag keiner zu sagen. Niemand weiß das besser als Hacker selbst. Warum er dann so daran interessiert sei, „The Greasy Pole“ zu erklimmen, fragt Sir Humphrey zuletzt. Und nun passiert das Überraschende: Hacker weist diesen Vorwurf nicht zurück, sondern sagt einfach, mit einer fast exzessiv magischen Gebärde, „because it’s there“, und verschwindet. Während Sir Humphrey fassungslos zurückbleibt, ist für Hacker „The Greasy Pole“ das Gobetween eines sich aus kurzfristigen und langfristigen Prognosen zusammensetzenden Kompromisses, den keine Theorie aufschlüsseln kann. Kann es aber die Kunst? Die Frage darf gestellt werden, denn „Yes Minister“ ist veritable Literatur. Man kann das natürlich nicht beweisen. Vor kurzem ist auf einer Germanistentagung das von Hans-Ulrich Gumbrecht und anderen wieder einmal präsentierte Kriterium der „Stimmung“ diskutiert worden, das mit dem biederen Fleiß der Hermeneutik bis hin zur „Wut des Verstehens“ (Schleiermacher) konkurriere. Auch von Präsenz war die Rede, „Yes Minister“ und „Yes Prime Minister“ erfüllen diese speziellen Forderungen: Dafür stehen das Tagebuch als Fiktion, satirische Zuspitzungen, die Doppelbödigkeit fast jeder Äußerung, die Ironie mit Gegenübertragung in den Dialogen und die Imagination unbarmherziger Wahrheitsfindung in den Klammerbemerkungen der „Herausgeber“. Bleibt man bei einem Literaturverständnis, das Verstehenwollen nicht für unehrenhaft oder unintellektuell hält, fällt das Urteil, dass wir hier Literatur vor uns haben, noch leichter. Das gleisnerische Understatement der Herausgeber, die nur die Quellen zugänglich machen wollen, ebnet Analysen den Pfad, deren vielfältige Zwischentöne die Fachgelehrsamkeit nicht ermitteln kann und will. Wie geht es aus? Worauf verfällt Hacker? Er trifft „zufällig“ Professor Henderson, dessen Gutachten die Grundlage für die Freigabe der neuen chemischen Substanz ist, und konfrontiert ihn mit Fragen, die dieser nicht beantworten kann und deshalb das Gutachten durch einen Schlusssatz ergänzt, der die zeitliche Begrenztheit seiner Aussage betont. Unübertroffen ist der
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Einfall der Herausgeber-Autoren, den Minister für sein Fragespiel ein Schema benutzen zu lassen, das ihm ausgerechnet Sir Humphrey an die Hand gegeben hat, nicht ahnend, dass der Minister es gegen ihn, der für die uneingeschränkte Übernahme des neuen Produkts ist, verwenden wird. Die ganze Geschichte ist im übrigen höchst unterhaltlich, etwa wenn der Professor auf der Teaparty des College-Direktors (Provost), der mit Hacker befreundet ist und dieses Zusammentreffen („what a coincidence“) arrangiert hat, sich von den Klammern befreit, die er zum Schutz seiner Hosen beim Fahrradfahren angelegt hat, und der Provost, nachdem das Gespräch in Gang gekommen ist, sich mit fröhlich-vielsagender Miene entfernt, „to help my wife with the tea“, nachdem er auf die Frage Hackers, wie ihm denn der Wechsel vom Unterhaus ins Oberhaus gefalle, erwidert hat, es sei wie der Wechsel „from the animals to the vegetables“. Sehr hübsch auch, wie Bernard – als Humphrey erklären will, was Metadioxin sei, und sich dabei in grammatikalischen Erklärungen ergeht – darauf aufmerksam macht, dass es im Griechischen keinen Ablativ gebe. Hat Hacker mit seiner von maliziösen Unterstellungen nicht freien Beeinflussung des Gutachters, dessen der Presse mitgeteilter Zusatz sofort dazu führt, dass die Produktion aufgegeben wird, nun „The Greasy Pole“ erklommen? Ist das ein kreativer Umgang mit Paradoxien, so wie ihn jüngere Experten empfehlen? Dass Hacker auf diese Weise aus der Schusslinie kommt und es tatsächlich fertigbringt, jene drei kleinen Sätze miteinander in Harmonie zu bringen, ist der literarische Effekt. Die Texte erfinden nichts, ihre Versatzstükke entstammen der Wirklichkeit. Aber sie wird nicht rekonstruiert, sondern in ein neues Medium überführt, das Probleme zu lösen hilft, denen „Vernunft und Wissenschaft“ nicht gewachsen sind. Die Episoden von „Yes Minister“ und „Yes Prime Minister“ führen das vielfältig vor. „The Greasy Pole“ ist eine Einladung, schnell noch die anderen Episoden zu lesen und die DVDs anzusehen.
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Schillers Theodizee und das Schuldstrafrecht Gegen Ende seines Aufsatzes über „Individuum und Person, strafrechtliche Zurechnung und Ergebnisse moderner Hirnforschung“, stellt Günther Jakobs lakonisch fest: „Wer kein Theodizee-Problem zu lösen hat, bedarf auch zur tadelnden Zurechnung keiner Willensfreiheit“1. Ähnlich enigmatisch äußert sich Klaus Günther: Wenn es eine „Stabilität der Orientierung in der Welt überhaupt“ gebe, und „diese Orientierung auf der tiefsitzenden Überzeugung gründet, dass die Welt gerecht geordnet sei, dann muss die von Menschen verhängte Strafe die ausbleibende natürliche Strafe substituieren oder ihre Exekution beschleunigen. Strafe wird zu einem Akt der Theodizee in einer säkularisierten post-metaphysischen Welt“2. In beiden Aufsätzen geht es um die Annahme, dass den Menschen für das, was er tue, eine Zuständigkeit treffe, dass Zurechnung und Sanktion Bestandteile einer prästabilierten Harmonie der Weltordnung seien, so wie sie von der „Theorie der Rechtfertigung Gottes angesichts des physischen und moralischen Übels in der Welt“3 als Theodizee begründet werde. Die Formulierung, von der man dabei ausgeht, stammt von Leibniz4, hat indessen antike Vorbilder5 und in der Folge fast alle bedeutenden Philosophen angeregt; am be-
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Zeitschrift für die gesamte Strafrechtswissenschaft, Band 117 (2005), S. 247 ff. (263). Klaus Günther, Kritik der Strafe I, in: Westend, Neue Zeitschrift für Sozialforschung, 1. Jahrgang (2004), S. 117 ff. (140). Stefan Lorenz, Theodizee, in: Joachim Ritter / Karlfried Gründer (Hrsg.), Historisches Wörterbuch der Philosophie, Darmstadt, Band 10, 1998, Spalte 1066 ff. (1066). Lorenz aaO. „Ist’s aber also, daß unsre Ungerechtigkeit Gottes Gerechtigkeit preist, was wollen wir sagen? Ist denn Gott auch ungerecht, daß er darüber zürnt?“. Brief des Paulus an die Römer, Kapitel 3, Vers 5. Oder Epikur, der von „der Vereinbarkeit der göttlichen Attribute Macht, Güte und Gerechtigkeit mit den Übeln und Zweckwidrigkeiten dieser Welt“ spreche (Lorenz aaO.). Über die sich langsam vorbereitende neuzeitliche Formulierung des Theodizee-Problems im Kontext von Gnosis und Manichäismus. Odo Marquard, Apologie des Zufälligen, Stuttgart, 1986, S. 15 f. Die wichtigsten Belege in der Anm. 5 auf S. 30.
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rühmtesten sind vielleicht Kants Bemerkungen „Über das Mißlingen aller philosophischen Versuche in der Theodizee“6. So wenig man die Kontinuität des Problems und seine weit zurückliegenden Ursprünge leugnen kann7, so sehr fällt doch auf, dass von einem bedeutenden Sachkenner gesagt wird: „Das Theodizee-Problem blieb dem Mittelalter fremd“8. Das erklärt in der Tat, weshalb „selbst bei apokalyptischen Katastrophen wie 1348 in Kärnten, als mit der großen Pest gleichzeitig ein Erdbeben geschah [...] kein Anzeichen eines Glaubensbruchs auszumachen“ war9 – entweder weil das Übel und das Böse als von Gott unabhängig gedacht wurden, oder weil man sich nicht vermaß, Gottes Zorn zu begrenzen, sei es wegen der Unerforschlichkeit seines Ratschlusses, die man problemlos akzeptierte, sei es, weil man einfach daran glaubte, dass Gott mit seinem Zorn immer im Recht ist – dies mit der Folge, dass „die Welt [...] der Herausforderung begegnen konnte“ durch „Wahrhaftigkeit und Gerechtigkeit“, wozu auch die weltliche Strafe gehörte10. Auf dieser Linie bewegt sich Klaus Günthers Interpretation – unter Zugrundelegung eines weiteren Theodizee-Begriffs, müsste man wohl sagen, während jetzt deutlich wird, dass Angenendts These sich auf einen engeren TheodizeeBegriff bezieht, von dem Günther Jakobs ausgeht. Das Engere liegt darin, dass das E r l e b n i s der Freiheit den Ausschlag gibt. Eine noch engere Definition würde besagen, dass das Legitimationsproblem, das die Theodizee lösen will, die richtige Umschreibung erst findet, wenn man Gottes Allmacht unter einen mit Legitimationsanspruch auftretenden Freiheitsbegriff stellt, oder aber die Freiheit philosophisch so unreduzierbar definiert, wie Kant das in seiner Lehre von den Antinomien der reinen Vernunft getan hat, am deutlichsten in einer Fußnote11: „Die eigentliche Moralität der Handlungen bleibt uns, selbst die 6 7
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Kants Werke, herausgegeben von W. Weischedel, Band XI, Frankfurt am Main 1964, S. 105 ff. Sehr gute Orientierung über die Aspektabhängigkeit der Lösungsvorschläge bei Alexander Dietz, Die Bedeutung der Ausgangsfrage für die Bearbeitung des TheodizeeProblems, Neue Zeitschrift für systematische Theologie, 53. Band (2011), S. 285 ff.; dort auch die neueste Literatur. Vgl. auch die tiefdringenden geistvollen Analysen bei Odo Marquard, aaO., S. 11 ff. Arnold Angenendt, Geschichte der Religiosität im Mittelalter, Darmstadt 1997, S. 104. So auch Max Weber, Die protestantische Ethik und der Geist des Kapitalismus (1904), hier zitiert nach der von Dirk Kaesler besorgten Ausgabe aus dem Jahr 2004, S. 149. Angenendt, aaO. Arnold Borst, Das Erdbeben von 1348. Ein historischer Beitrag zur Katastrophenforschung. In: HZ 132 (1981), S. 129 ff. (145). Kritik der reinen Vernunft (Ausgabe Felix Meiner), S. 536.
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unseres eigenen Verhaltens, gänzlich verborgen. Unsere Zurechnungen können nur auf den empirischen Charakter bezogen werden. Wie viel davon eine Wirkung der Freiheit, wie viel der bloßen Natur und dem unverschuldeten Fehler des Temperaments, oder dessen glücklicher Beschaffenheit (merito fortunae) zuzuschreiben sei, kann niemand ergründen, und daher auch nicht nach völliger Gerechtigkeit richten“. Das ist schon die moderne „Unhintergehbarkeit von Individualität“12. Wenn man diese Analysen in Beziehung setzt zu den gelehrten Einsichten in die Entstehung des öffentlichen Strafanspruchs13, wonach zum hohen Bild des Menschen, wie es die mediävistische Philosophie gezeichnet hat, eben gleichermaßen auch die Fähigkeit zur großen Sünde gehört14, dann muss man feststellen, dass der aus dieser Grundannahme hervorgehende Freiheitsbegriff integriert ist in ein religiöses System, das ihm die Ursprünglichkeit versagt, sowohl in legitimatorischer, wie in erkenntnistheoretischer Hinsicht. Zu den Entwicklungen, die der öffentliche Strafanspruch durchläuft, bis hin zur Strafrechtsphilosophie der Aufklärung, muss daher auch die skizzierte Wandlung des Freiheitsbegriffs gerechnet werden. Die nächstliegende Konsequenz dieses Freiheitsbegriffs wäre die Leugnung Gottes, und damit die Öffnung des Weges für ein unmetaphysisches Strafrecht. Für die normative Legitimation der Freiheit mag das uneingeschränkt gelten, nicht aber für die Grenzen ihrer Erkennbarkeit. „The hidden structure of conscience-ness“15 ist die unübersteigbare Barriere. Mindestens muss man das – agnostisch – offen lassen. Ist man so weit und endgültig ratlos, empfindet man mit Dankbarkeit, dass an dieser Stelle vielleicht die Poesie helfen könnte, eine gedankenschwere Poesie freilich. Schiller ist es nämlich, der hier ins Spiel kommt. In „Don Carlos“ präsentiert er einen Freiheitsbegriff, der die göttliche Schöpfung, wenn es sie denn gibt, vollendet und zugleich sprengt. Die Stelle kommt unmittelbar nach der Forderung des Marquis Posa, König Philipp möge Gedankenfreiheit geben, und lautet16: 12 13 14 15 16
Titel des Buches von Manfred Frank (Frankfurt am Main 1886); s. dazu Klaus Lüderssen, Rechtsfreie Räume? Berlin 2012, S. 65 ff. mit Belegen. Klaus Lüderssen (Hrsg.), Die Durchsetzung des öffentlichen Strafanspruchs, Köln / Weimar / Wien, 2002. Lüderssen, aaO., S. 268 ff. Colin McGinn, The Problem of Consciousness, Cambridge (USA), 1991, S. 89; auch dazu Lüderssen, Rechtsfreie Räume?, aaO., S. 68 ff. 3. Akt, 10. Auftritt.
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Schillers Theodizee und das Schuldstrafrecht Sehen sie sich um In seiner herrlichen Natur! Auf Freiheit Ist sie gegründet – und wie reich ist sie Durch Freiheit!“ ... Ihre Schöpfung Wie eng und arm! Das Rauschen eines Blattes Erschreckt den Herrn der Christenheit – Sie müssen Vor jeder Tugend zittern ... Er – der Freiheit Entzückende Erscheinung nicht zu stören – Er läßt des Übels grauenvolles Heer In seinem Weltall lieber toben – ihn, Den Künstler, wird man nicht gewahr, bescheiden Verhüllt er sich in ewige Gesetze; Die sieht der Freigeist, doch nicht Ihn. Wozu Ein Gott? sagt er; die Welt ist sich genug. Und keines Christen Andacht hat ihn mehr als dieses Freigeists Lästerung gepriesen.
Zwar ist kein Zweifel daran möglich, dass d i e s e Freiheit nicht ursprünglich gedacht ist, als Konkurrenz zu Gott, aber der Raum, der ihr gewährt wird, ist unermesslich groß, endet nur bei der Existenz Gottes, die nicht aufhebbar ist. P r a k t i s c h besteht eine Übereinstimmung mit unreligiösen Freiheitsbegriffen. Dass man das überhaupt denken kann, ist das Raffinierte an Schillers Konstruktion. In der einschlägigen Literatur wird das weitgehend übersehen17, es wird nur trocken auf die Anleihen bei Rousseau verwiesen18. Auch der in diesem Zusammenhang viel zitierte Essay über „die Bedeutung Rousseaus und Montesquieus für die Gesprächsszene im 3. Akt, 10. Auftritt“ dringt nicht zum Kern des Problems vor19. Die entscheidenden Passagen über den grundlegenden Irrtum des „Freigeist“(s) werden nicht zitiert, so dass es auf die Auseinandersetzung mit der Meinung, wonach der Einfluss Rousseaus auf Schiller überschätzt werde20, hier gar nicht ankommt. 17 18
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Eine Ausnahme ist Karl Wolff, Schillers Theodizee bis zum Beginn der Kantischen Studien, mit einer Einleitung über das Theodizee-Problem in der Philosophie und Literatur des 18. Jahrhunderts, Leipzig 1909, S. 134 ff. Paul Böckmann / Gerhard Kluge (Hrsg.), Schillers Werke, Nationalausgabe, 7. Band, Teil II, Don Carlos, Anmerkungen, Weimar 1986, S. 435 f.; Gerhard Kluge (Hrsg.), Friedrich Schiller, Dramen II (= Friedrich Schiller, Werke und Briefe in 12 Bänden, Band 3), Frankfurt am Main (Deutscher Klassiker-Verlag) 1989, Stellen-Kommentar S. 1315 f. Paul Böckmann, Schillers „Don Carlos“, Edition der ursprünglichen Fassung und entstehungsgeschichtlicher Kommentar, Stuttgart 1974, S. 494 ff. Yvonne Nilges, Schiller und das Recht, Göttingen 2012, S. 234 – unter ausdrücklicher Bezugnahme auf den Aufsatz von Böckmann; s. auch unten S. 131 ff.
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Das Problem ist in dem größeren Zusammenhang der Versuche zu sehen, das Verhältnis von Gut und Böse in der Welt zu begreifen. Da gibt es dualistische Lösungen, sowohl im Sinne einer Gleichwertigkeit wie von Abstufungen. Diese Abstufungen unterscheiden sich wiederum danach, ob das Böse oder ob das Gute als das Primäre erscheint, aber auch die Ununterscheidbarkeit von Gut und Böse wird behauptet. In einer früheren Arbeit habe ich diese Positionen relativ ausführlich dargestellt und mit Belegen versehen21. Dieses Material will ich hier nicht ausbreiten, auch nicht die Schlußfolgerung diskutieren, die ich damals gezogen habe, dass nämlich in einer demokratisch orientierten und wissenschaftstheoretischen Argumenten zugänglichen Gesellschaft die Prioritäten oder Ausschließlichkeitsfragen im Wege des Diskurses entschieden werden22. Vielmehr möchte ich der Vermutung nachgehen, dass dem produktiven Paradoxon Schillers ein rezeptives der strafenden Gesellschaft entspricht. So wie die Freiheit, auf welche die Natur gegründet sei, von Schiller gedacht wird, eröffnet sie nicht nur Spielräume, die „als wahrer Souverän [...] Gott seinen Kreaturen“ gewährt23. Das ist, glaube ich nach jahrzehntelangem, immer wieder aufgenommenem Studium der zitierten Stelle, nicht gemeint bei Schiller. Die letztlich doch gewaltsamen Harmonisierungen, welche die Theodizee-Forschungen hervorgebracht haben einerseits, die Konstatierung des Scheiterns dieser Forschungen andererseits, gehen an einer Deutung der Phänomene vorbei, die vielleicht nur die Dichtung leisten kann, vor allem dann, wenn die Theologie sich sowohl an das rational begreifende Publikum wendet wie an die Menschen, denen es nicht auf das Verstehen ankommt. Dass wir es mit diesen Mischzuständen zu tun haben, macht die Sache so kompliziert. Die Poesie – jedenfalls in dem weiten Sinne verstanden, dass Roman und Drama dazu gehören – folgt ja nicht nur einem ästhetischen Instinkt, sondern lässt durchaus Argumente zu, die freilich im poetischen ductus eine besondere Färbung bekommen. „Die Welt ist sich genug“, das heißt, die Schöpfung ist so gut, dass man in ihr leben kann, ohne sich auf den Schöpfer angewiesen zu sehen. Der Gipfel seiner Leistung ist erreicht, wenn die Schöpfung ohne ihn auskommt. Die Menschen, denen er sie anvertraut, haben s e i n e Freiheit. Das ist eigentlich mehr, als Gott geben kann, ohne sich selbst zu entmachten. Wie er das bewerkstelligt, bleibt sein Geheimnis und ist der Urgrund für das Kompliment an 21 22 23
Klaus Lüderssen, Moderne Wege kriminalpolitischen Denkens, in: Klaus Lüderssen (Hrsg.), Aufgeklärte Kriminalpolitik oder Kampf gegen das Böse, Band 1, BadenBaden 1998, Legitimationen, S. 25 ff. (39–46). AaO., S. 43 ff. Peter André Alt, Schiller, Leben – Werk – Zeit, 1. Band, München 2002, S. 449.
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den Freigeist, transformiert dessen „Lästerung“ – durch hyperbolisierende Inversion des Erwarteten – in das Lob einer Struktur24, die erkannt zu haben mehr wert ist als ein noch so stark gefühlter Glaube. Auch die Theologie setzt ja voraus, dass nachgedacht werden darf. Aber in beiden Welten gibt es dann – nicht lokalisierbar und nicht definierbar und deshalb willkürlich erscheinende – über das Kognitive hinausgehende Appelle an Imaginäres. Die Freiheit, die Schiller beschwört, muss zwar als von Gott zugeteilt begriffen werden, aber gleichzeitig auch als etwas, das gerade durch diesen Zuteilungsakt einen Unabhängigkeitsstatus25 erhält, der unwiderruflich ist26. Die exzessiven Formulierungen, die Schiller wählt, sind der Versuch, das anzudeuten. „Entzükkend“ ist die Erscheinung der Freiheit, und „grauenvoll das Heer des Übels“, und „noch bei den toten Räumen der Verwesung“ ergötzt sich „die Willkür“. Dass sich hier die frühen Erlebnisse des jungen Schiller in den Anatomie-Sälen melden27, mahnt nicht zu nüchternerer Betrachtung seiner Bilder, sondern belehrt uns über die von Schiller schon damals empfundene Metaphysik des kleinsten Details. Die undurchdringliche Amalgamisierung der TheodizeeProbleme führt Schiller gerade im „Don Carlos“ auch an anderen Stellen vor: „Gott richtet im Himmel, ich auf Erden ...“, sagt Alba. Darauf erwidert Carlos: „Gott oder Teufel gilt gleichviel! Sie waren sein rechter Arm“28, oder: Nach der höhnischen Denunziation seiner Unfähigkeit, das Herrscheramt auszuüben („Muss ich die Elemente der Monarchen-Kunst mit meinem grauen Schüler überhören?“29), antwortet Philipp dem Großinquisitor-Kardinal. „Ich bin ein 24 25
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Säkularisiert finden wir sie als Modell parlamentarischer Monarchie: Die englische Königin gewinnt an Würde in dem Maße, wie sie dem Volk die eigene Entscheidung über sein politisches Schicksal zutraut und zumutet. „Der Mensch ist da, dass er nachringe der Größe seines Schöpfers, mit eben dem Blick umfasse die Welt wie der Schöpfer sie umfasst“. Daraus folgt: „Gottgleichheit ist die Bestimmung des Menschen“ (Schiller, Belege bei Wolff, aaO., S. 135 – unter ausdrücklicher Bezugnahme auf die hier in den Mittelpunkt gerückte Stelle aus „Don Carlos“). Marquard, aaO., S. 18, formuliert das so: „Diese Autonomierung – eine Art Atheismus ad majorem Dei gloriam, zu der so das Theorem und spätere Mythologem vom Ende Gottes gehört – diese Autonomiesierung ist ein Theodizeemotiv in der neuzeitlichen Philosophie“. Das impliziert auch die Auflösung der wechselseitigen Abhängigkeit von Freiheit und Sittlichkeit, wie sie Kant aus der apriorischen Annahme des kategorischen Imperativs folgert, s. dazu im einzelnen Lüderssen, Produktive Spiegelungen, Band 2, Berlin 2007, S. 56 ff. Über die auf diesen Erfahrungen aufbauenden wissenschaftlichen Arbeiten vgl. Alt, aaO., S. 156 ff; zur materialistischen Argumentation bei Schiller vgl. auch Peter-André Alt, Ästhetik des Bösen, München, 2010, S. 189 ff. 2. Akt; 5. Auftritt. 5. Akt, 10. Auftritt.
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kleiner Mensch, ich fühl’s – du forderst von dem Geschöpf, was nur der Schöpfer leistet“30. Das heißt: Wenn Gott es ernst meint mit der Freiheit des Menschen, muss er ihm die Freiheit geben, über die er selbst verfügt. Schiller wird nicht müde, das poetisch auszudrücken31. Deutlich wird das auch dort, wo er die Karikatur der göttlichen Freiheitsstiftung vorführt – in der Strategie des Großinquisitor-Kardinals, der über Marquis Posa sagt: „Durch uns zu sterben war er da. Ihn schenkte der Notdurft dieses Zeitenlaufes Gott, in seines Geistes feierlicher Schändung die prahlende Vernunft zur Schau zu führen“32. Diese Art Zerrbild hat das Mittelalter daran gehindert, die Frage der Theodizee konsequent zu fixieren. Dass hier theologisch viel mehr zu sagen ist, weiß ich. Aber gerade dieser mittlere Aufklärungsstatus regiert die Überlieferung. Alle verbleibenden Unklarheiten werden perpetuiert mit der Umsetzung dieser Theologie in eine Strafpraxis, die einen dementsprechend ebenso hochgemuten wie halbherzigen Begriff der Zurechnung entwickelt hat. Nicht ganz zu Ende gedacht scheint zu sein, dass Freiheit und Zurechenbarkeit auch Sanktionen nach sich ziehen. Es wird ein Zusammenhang vermutet zwischen Freiheit, Harmonie und Ordnung33. Dass daraus auch folgen soll, der Mensch müsse für seine Taten büßen, wird seit Augustin mit der Erbsünde in Verbindung gebracht: „Alle menschlichen Ansätze, weil seit der Sünde Adams ganz in Ich-Sucht verfangen“, führen „notwendig ins Verderben. Der Sündenfall des Menschen [...] sei eine Revolte gegen den Schöpfer für eine von ihm losgelöste Freiheit. Dabei sei der Wille, die wichtigste Kraft im Menschen, so gänzlich pervertiert worden, dass fortan jede Aktivität notwendig in die falsche Richtung gehe. Wenn Gott helfend zuvorkomme, so tue er das nicht als Reaktion auf vorausliegende gute Taten des Menschen, weil es solche gar nicht gebe und auch gar nicht geben könne. Reine Gnade bedeute es, wenn Gott rette, reine Gerechtigkeit aber, wenn er verwerfe“34. Der Befehl Gottes, diese Gerechtigkeit schon auf Erden zu üben, folgt daraus meines Erachtens nicht. 30 31 32 33 34
AaO. „Eine Seele, die bis zu dem Grad erleuchtet ist, dass sie den Plan der göttlichen Vorsehung im Ganzen vor Augen hat, ist die glücklichste Seele“ (zitiert bei Wolff, aaO., S. 136). 5. Akt, 10. Auftritt. Klassiker-Ausgabe aaO., S. 1315. Angenendt, S. 105; vgl. auch die Ausführungen Max Webers über „Die religiösen Grundlagen der innerweltlichen Askese“ in: „Die protestantische Ethik und der Geist des Kapitalismus“, aaO., S. 138 ff. Dazu Klaus Lüderssen, Muß Strafe sein? Das Strafrecht auf dem Weg in die Zivilgesellschaft, in: Festschrift für Winfried Hassemer, Heidelberg u.a., 2010, S. 467 ff. (477 f.).
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Die Lücke, welche die Theologie hier lässt, wird verdeckt, indem man ein elementares, nicht weiterer Erklärung bedürftiges Motiv der Menschen annimmt, auf schuldhaftes Unrecht müsse die persönliche Haftung folgen durch Erduldung eines Strafübels. Was wir hier vor uns haben, ist die Vereinnahmung oder vielleicht auch Überhöhung des rationalen Freiheitsbegriffs, der die Grundlage der modernen Verbrechenslehre ist, durch unbemerkt bleibende oder allmählich in Vergessenheit geratene, jedoch subkutan weiterwirkende theologische Elemente35. Als fortgeschrittene Theodizee sind sie besonders verführerisch, weil diese Lehre die Unbekannten in der Rechnung beseitigt: Wenn selbst der lenkende Schöpfergott in der Freiheitsphilosophie einen Platz zugewiesen bekommt, braucht man sich um die metaphysischen Überhänge des Freiheits- und Schuldbegriffs keine Sorgen mehr zu machen. Etwas Besseres kann es gar nicht geben als dieses mixtum compositum von Freiheit und Gott. Niemand kann diese Freiheitslehre noch der Trivialität zeihen, sie als nur auf subjektive Erlebnisse gegründete Konzeption denunzieren. Das ist eine wechselseitige „Aufschaukelung“: Die Theodizee gewinnt durch die Zugeständnisse an den weltlichen Freiheitsbegriff – der weltliche Freiheitsbegriff gewinnt durch die Anbindung an die Theodizee. Ich glaube, dass in der neuen Auseinandersetzung, die unter dem Einfluss moderner Hirnforschung über den freien Willen begonnen hat, das Freiheitspostulat der Strafrechtler eine besondere Durchsetzungskraft hat, weil der Theodizee-Gedanke dahinter steht. Nach wie vor ist weder die deterministische noch die indeterministische Position beweisbar. Aber wenn die Religion die indeterministische Position in einer Weise stärkt, die kognitiv nachvollziehbar ist, gewinnt diese einen Vorsprung. Erinnern wir uns daran, dass zur Entgrenzung der Freiheit im Rahmen moderner Theodizee auch die Einsicht gehört, dass das Selbstbewusstsein im Kern etwas Verborgenes ist, dann wird der Anschluss zu einer nachmetaphysischen Philosophie hergestellt, „die bei der Analyse des Selbstbewusstseins einsetzt und den Durchgriff auf ein kosmisch erweitertes Bewusstsein bahnt“36.
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Allgemein zum Status der erreichten Säkularisierung: Hubert Rottleuthner, Wie säkular ist die Bundesrepublik? In: Matthias Mahlmann / Hubert Rottleuthner (Hrsg.), Ein neuer Kampf der Religionen, Staat, Recht und religiöse Toleranz, Berlin, 2006, S. 13 ff. „Mit der Sublimierung der Mächte von Heil und Unheil zu einer transzendentalen Macht verbanden sich zudem epistemische Zugänge, die in allen Fällen eine ethische Umdeutung der tradierten Riten […] zur Folge haben“. Jürgen Habermas, Nachmetaphysisches Denken, Band 2, Frankfurt am Main, 2002, S. 125 f.
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Wie wirkt sich diese religiöse Infiltrierung des modernen Freiheitsgedankens auf die Strafe aus? Solange aus der von Gott eingeräumten Freiheit auch die Schuld folgt, ist die traditionell spätestens seit dem hohen Mittelalter virulente Vorstellung von Buße, Vergeltung, Sühne unmittelbar akzessorisch. Die Alltagstheorien – etwa, die Menschen seien daran gewöhnt, dass Übles vergolten würde, so wie ja auch Gutes belohnt würde, das sei ein ganz normaler anthropologisch vorgegebener Prozess – und der Hegelsche topos von der „Wiederherstellung des Rechts“ reichen für sich genommen nicht aus, überleben aber durch die ins Unterbewusste gesunkene Theodizee. Das ist eine starke Behauptung, mit der sich Fragen an die Geschichte des Strafrechts verbinden, deren Beantwortung ein Forschungsprogramm ausmacht. Gesetzt, die offenen Fragen würden im Sinne der hier skizzierten Hypothesen beantwortet, dann würde sich sofort die Anschlußfrage erheben, ob damit für jeden, der Gründe hat, einer modernisierten TheodizeeKonzeption zu folgen, die tradierten Muster der Verkopplung von Schuld und Sühne verbindlich sind, oder ob der hohe Begriff der Freiheit, so wie sie Schiller in seinem fortgeschrittenen Theodizee-Konzept beschreibt, nicht auch einen anderen Umgang mit der Schuld ermöglicht. Ausgangspunkt müsste die Feststellung sein, dass die an die Freiheit geknüpfte Duldung einer Entscheidung für das Böse nicht bedeutet, dass dieses Böse nicht gleichzeitig im Namen dieser Freiheit bekämpft werden darf. Zugespitzt formuliert: Der Mensch ist frei, das Übel abzuwenden, obwohl diese Freiheit zur Voraussetzung hat, dass das Übel existiert. Die Freiheit ist also Bedingung für das Übel und Kompetenz zugleich, es zu bekämpfen. Wenn man dieses Paradoxon akzeptiert als Folge der Gottähnlichkeit, die dem Menschen durch die ihm zugebilligte Freiheit verliehen wird, ist alles, was zur Bekämpfung von schuldhaftem Unrecht zweckmäßig, zulässig und geboten ist, damit vereinbar, also auch Prävention, sofern man dafür Argumente hat und diese Argumente nicht dann entstehenden Zielkonflikten weichen müssen. Auch wenn man sich davon, die Freiheit im Rahmen der Theodizee zu denken, nicht lösen kann, sei es in einem generell metaphysischen Grundgefühl, sei es aus speziell christlicher Perspektive, können Zurechnung und Prävention auf einen Nenner gebracht werden. Wer meint, dass diese Verknüpfung geboten ist, braucht sich also keineswegs gegen alle metaphysische Tradition zu wenden. Zwar hat die Theodizee das mittelalterliche Vergeltungs- und Sühnedenken vor seinem durch die neuzeitliche Aufklärung präjudizierten Untergang bewahrt und nimmt deshalb im kollektiven Gefühl eine mächtige Position ein. Aber gleichzeitig liefert der Freiheitsbegriff der Theodizee mit seiner Grandiosität eine wichtige Grundlage für das gesamte
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Potential moderner Kriminalpolitik. Was dabei paradox ist, bleibt freilich als Problem der Theologie und Metaphysik zurück, auch wenn es durch den Charme der Poesie eine gewisse Plausibilität erhält.
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Schiller und das Recht – neue Perspektiven „... und das Recht“ – eine Inflation der Titel, die mit einem mehr oder weniger berühmten Dichternamen beginnen, breitet sich aus. Literatur und Recht oder Recht und Literatur gehen aufeinander zu wie nie zuvor. Das ist streckenweise Ausdruck einer universalisierenden Tendenz, die große Teile der Geisteswissenschaften ergriffen hat, wozu auch die wachsende Literarisierung der Ökonomie in den Feuilletons der großen Zeitungen gehört, teilweise aber auch die Folge spezieller Strömungen, wie des Law and Literature Movements in den USA, das dort seit Jahrzehnten blüht, bis hin zu organisatorischen Verknüpfungen in eigens dafür geschaffenen Professuren und Instituten. Es hat mehrere Wurzeln. Aus der Perspektive des R e c h t s : das zunehmende Ungenügen an einer die schlichten Analogien einfach auftürmenden Case Law Jurisprudence und die Entdeckung übernahmefähiger hermeneutischer Methoden in der Literaturwissenschaft, worauf die europäisch-kontinentale Jurisprudenz nicht angewiesen ist, weil sie über ein originäres Instrumentarium der Norminterpretation verfügt. Die von der Literatur im Rahmen des Law and Literature Movement ausgehenden Impulse hingegen gelten dem spezifischen Sprachstil der Juristen, insbesondere dessen performativen Funktionen. Zusammen ergibt das: Law as Literature und Literature as Law. Dass diese Entwicklungen gerade in Deutschland mit seinem vor allem auf die Leistungen des neunzehnten Jahrhunderts bezogenen besonderen Anspruch an die W i s s e n s c h a f t des Rechts nach wie vor wenig beachtet werden, kann nicht über den grundsätzlichen Wandel des Verhältnisses von Recht und Literatur hinwegtäuschen. Vorbei ist es mit dem Interesse an schwärmender Bewunderung der Juristen für die tieferen Einsichten der Literatur und auch der – freilich selten ganz aufrichtigen – Respekthaltung der Literatur vor den monolithischen machtbewussten Rechtsordnungen und ihren Sachwaltern, die zum auserwählten „Stoff“ der Literatur werden. Das muss sich vor Augen halten, wer die Klage der Verfasserin des hier anzuzeigenden Buches vernimmt, Schillers Beschäftigung mit dem Recht habe eigentlich immer noch nicht eine angemessene Würdigung erfahren. Freilich gehört es zum Ritual von größeren Monographien, insbesondere wenn sie – wie hier – als Habilitationsschrift eine maßgebende Position im Wissenschaftsbetrieb einnehmen, dass sie damit beginnen, das „richtige“ zum Thema
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gebe es noch nicht, und diese Auskunft mit den Belegen umsichtiger Voruntersuchungen stützen. Wie zweifelhaft die Fehlanzeige der Verfasserin auch sein mag, ihr Buch geht weit über das hinaus, was man bisher zum Thema wissen konnte oder auch nur wissen mochte. Diese Feststellung bezieht sich zunächst auf den Umfang des Untersuchungsgegenstandes. Nichts ist ausgelassen, durchforstet werden die historischen Schriften ebenso wie theoretische Traktate, die Gedichte und die Dramen, durchgehend auch unter Berücksichtigung der Kommentare des Autors in Briefen und Gesprächen, sowie seiner Ausbildung und frühen Studien. Umfassend angelegt ist die Arbeit aber auch mit Blick auf die zu stellenden Fragen. „Theorie“ des Rechts, Rechtspolitik und „Rechtstatsachen“ werden zum Thema, ferner spezielle Materien wie Menschenrechte, Verbrechen und Strafe, oder Maximen und Praxis des Staatsrechts. Bis dahin lautet das Urteil: Warum nicht, damit muss doch jeder einverstanden sein. Kritische Fragen erheben sich indessen zum die Verfasserin leitenden Erkenntnisinteresse, zu ihren methodologischen Fundamenten und in Bezug auf ihr zentrales Ergebnis – die Valutierung des „Kunstwahren“ bei Schiller als ästhetisch generierte Gerechtigkeit. Gemessen an der Zahl und Vielfalt der von der Verfasserin herangezogenen Quellen ist ihr Hauptinteresse wohl gewesen, herauszufinden, aufgrund welcher Lektüre und auch sonstigen Belehrungen Schiller zu bestimmten Ansichten über das Recht gelangt ist und wie er das verarbeitet hat. Das einschlägige Material ist mit Fleiß gesammelt und scharfsinnig analysiert, doch der „Einfluß“ kann jeweils natürlich nur ganz selten exakt bewiesen werden, und deshalb kommt es auf die Plausibilität der geäußerten Vermutungen an. Dafür liefert die Verfasserin keine Kriterien, und so erscheint manches gewagt. Das ist das eine. Das andere ist, dass die Relevanz der Rekonstruktionen in etlichen Fällen nicht recht einleuchtet und manchmal die gelehrte Wissensausbreitung unverhältnismäßig ist. Vielleicht steckt dahinter eine – nicht ausdrücklich präsentierte – Konzeption guter und solider Philologie, ein Positivismus der Bescheidenheit gewissermaßen, der sich mehr, insbesondere tiefergehendes prätentiöses Verstehenwollen nicht zutraut. Damit ist auch die kritisch zu beurteilende Ebene der Methodologie des Textes schon betreten, denn die Favorisierung dieser historisierenden Selbstbeschränkung hat notwendig zur Folge, dass die – von der Verfasserin nicht geleistete – Auseinandersetzung mit hermeneutischen Problemen unwichtig wird. Nur so kann man verstehen, und das führt zum dritten kritischen Punkt, dass die Verfasserin ohne weiteres jene ästheti-
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sche Theorie der Gerechtigkeit und auch des Staates anbietet. Diese Konfundierung zweier Kategoriensysteme hätte ausführlicher Begründung bedurft. So passiert es, dass die Darlegungen der Verfasserin dort, wo sie Schillers poetischem Duktus folgen, eine erstaunliche Unbefangenheit offenbaren. Dass zum Beispiel Wallenstein in seinem großen Gespräch mit Max Piccolomini beschwörend sagt, „nur die Stärke siegt“ und dann fortfährt: „dem bösen Geist gehört die Erde, nicht dem guten“, nimmt die Verfasserin als ernste Aussagen über Herrschaft und Krieg (S. 255); selbst dem Kapuziner in Wallensteins Lager wird in seiner Predigt eine wenn auch „burlesk gefärbte“ Adaption des „Grotius’schen Völkerrechts“ bescheinigt (S. 258). Aber es sind Rollen, welche die jeweiligen Figuren verkörpern, wenn sie sprechen. I h r e Perspektiven entscheiden über den Sinn dessen, was sie sagen. Doppelbödig ist das alles – und verallgemeinerungsfähig nur für Persönlichkeitsstudien, so wie sie ein Dichter hervorbringt: psychologischer Realismus des Individuellen auf dem Hintergrund der Politik. Wallensteins Diktum vom „bösen Geist“ ist eine ganz persönliche Resignation gegenüber „den falschen Mächten ..., die unterm Tage schlimm geartet hausen“, und mit denen richtig umzugehen er eigentlich nur seinem Feldmarschall Illo zutraut: „In der Erde magst du finster wühlen, blind wie der Unterirdische, der mit dem bleichen bleifarbenen Schein ins Leben dir geleuchtet“, während „die Geisterleiter die aus dieser Welt des Staubes bis in die Sternenwelt mit tausend Sprossen hinauf sich baut“ ihm selbst vorbehalten ist: „Die sieht das Auge nur, das Entsiegelte der hellgeborenen Jovis Kinder“. Was sich hier in der Seele Wallensteins abspielt, ist – um es mit Fontane, der freilich seine Romane damit meint, zu sagen – „Psychographie und Kritik, Dunkelschöpfung ins Licht gerückt“. Wenn diesen Stellen Mitteilungen über Macht und Krieg überhaupt abgewonnen werden sollen, dann sind sie von dieser Art. Was sie außerdem staatsrechtlich und politisch bedeuten, wäre sorgfältig zu prüfen, aber dafür reicht nicht das Handbuch von Isensee / Kirchof (die Hauptquelle für die rechtswissenschaftliche Untermauerung dessen, was die Verfasserin über das Recht bei Schiller sagt); da müsste schon etwas mehr Rechtsphilosophie bemüht werden für die Frage, welche Funktion das Subjektive im Recht hat. Mit diesen komplexen Wahrheiten der Juristen konfrontiert, hätte es Verfasserin freilich schwer gehabt, die literaturwissenschaftlichen Konsequenzen zu ziehen, denn sie beschäftigt sich gar nicht mit den Voraussetzungen für die Erforschung der „Wahrheit der Dichter“. Vergeblich sucht man im Literaturverzeichnis nach den einschlägigen Titeln von Erich Auerbach, Käte Hamburger und Heinz Schlaffer.
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Ohne Zögern steuert Verfasserin denn auch auf ihre Hauptthese zu, die Vision der poetischen Gerechtigkeit und des ästhetischen Staats. Das letzte Ziel sind ideale Zustände und dazu soll die Ästhetik verhelfen. Aber wie sie Gestalt annehmen könnten (oder sollen sie das gar nicht?), wird nicht gesagt, sondern erscheint als keiner Erklärung bedürftiges Implikat des Ästhetischen. Mindestens die moderneren, in die allgemeine Medienlandschaft reichenden Diskussionen bis hin zu Karl Heinz Bohrer und Hans Ulrich Gumbrecht hätten Aufmerksamkeit verdient, und bei Schiller selbst hätte Verfasserin genauer hinsehen sollen. Dabei war ihr ein Anknüpfungspunkt zum Greifen nahe. Verfasserin zitiert die Stelle aus einem Brief an Körner (S. 235), wo Schiller sagt, „dass der Stoff die Form überwiegt, dass es r o h e r Demant ist, in dem wir uns die angenehme Mühe des Schleifens geben können“. Aber es gibt auch eine – diesen Satz umkehrende – andere Stelle: „Darin also besteht das eigentliche Kunstgeheimnis des Meisters, daß er den Stoff durch die Form vertilgt“. Das lesen wir in den Briefen über die ästhetische Erziehung des Menschen (Nr. 22), welche die Verfasserin gründlich behandelt. Sie empfindet zwar das Problem der „Wechselwirkung“ zwischen „Form- und Stofftrieb“ (S. 205) und nähert sich dabei dem „Autonomieprinzip der Kunst“, spricht von „Eigensinn des Schönen und [...] Sinnenteignung des Politischen“ (S. 207), lässt diesen Gegensatz jedoch in einem „ästhetischen Zustand“ aufgehen (S. 209). Das mag für die „Briefe“ stimmen, bei den Theaterstücken liegt es anders; die Paradoxien – von der Verfasserin selbst apostrophiert (S. 319) – bleiben. Der qualitative Sprung vom Ästhetischen zum Moralischen gelingt nicht, wird nicht einmal versucht. Hier läuft der Dichter seiner eigenen Theorie den Rang ab. Literarische Texte provozieren die Juristen, über ihre Begriffe und Postulate neu nachzudenken. Rechtssätze reizen die Literatur, in ihren Texten bisher nicht wahrgenommener Sinngehalte zu entdecken. Dass Verfasserin sich diesen Interdependenzen entzieht, ist schade. Ihre große Vertrautheit mit dem Schiller’schen Werk, die sie auf Schritt und Tritt demonstriert, kann deshalb nicht richtig zur Geltung kommen. Auf das Ganze gesehen ist das Buch gleichwohl sehr lehrreich und unbedingt lesenswert.
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Das Kunstwahre im Film Käutner revisited
Nichts bringt den Ernst und die Leichtigkeit des Filmes „In jenen Tagen“ zurück, den ich 1948 im sowjetisch besetzten Wernigerode in den WesterntorLichtspielen gesehen habe und jetzt wieder, fünfundsechzig Jahre später, als DVD. Während dieser Zeit habe ich keine Szene, keine Figur vergessen, sie haben mich begleitet als eine Art Grundmelodie bei den Versuchen, die Kriegs- und Nachkriegszeit zu begreifen, die meine frühe Jugend bestimmt hat. Nach einem totalen politischen Zusammenbruch, der zugleich Befreiung ist, erwartet man einfache, starke Bilder, Eindeutigkeit. Aber das ist die Perspektive von Erwachsenen. Kinder spüren die Gegensätze nicht so, wissen viel weniger und sind empfänglich für Zwischentöne, die am Ende auch die großen Wahrheiten, seien sie schön oder schrecklich, prägen. Zwei relativ junge Männer, in der damals typischen Tracht aus abgetragenen Uniformfragmenten, nehmen das Wrack eines kleinen Automobils auseinander, das – von Trümmern umgeben – auf einmal zu reden beginnt. Es erzählt seine Geschichte während der zwölf Jahre des „dritten Reichs“, und lässt sich dabei von den Zufallsfunden der beiden Monteure leiten. Sie entdecken eine in die Windschutzscheibe eingeritzte Zahl, die sie für eine Telefonnummer halten. Es ist aber das Datum des 30.1.33., und die Rückblende eröffnet die erste Episode. Karge brandenburgische Winterlandschaft, ein Auto – unser Auto – hält in der Nähe eines Landguts, dessen Besitzerin – gespielt von Winnie Markus – das ihr von einem Berliner Freund zugedachte Geschenk kühl zurückweist. Aber der Fahrer kümmert sich nicht darum und verschwindet. Man rätselt noch an der Situation, als die Frau nun doch mit dem Auto startet. Bei einer Abzweigung kommt ihr ein Auto entgegen, ein Mann (Werner Hinz) entsteigt; sie gehen, nachdem auch sie ausgestiegen ist, aufeinander zu, und man sieht gleich bei den ersten Worten, die gewechselt werden: das ist eine höchst problematische Beziehung. Werner Hinz, soigniert und feinsinnig, aber gleichzeitig forciert wortkarg und dezidiert; Winnie Markus, auffallend gekleidet, in einem kurzhaarigen Pelz mit breitem Gürtel, zurückgenommen, skeptisch,
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Das Kunstwahre im Film
doch man kann das eigentlich nicht glauben. Eher sieht es so aus, als ob Verletztheit und Hochmut sich die Waage halten. Wie lange sie brauche, fragt er, um für eine Überseereise zu packen? Ob ein halber Tag genüge? Durch diesen abenteuerlichen Vorschlag für Sekunden von der Vorstellung befreit, ihre Reserviertheit könne doch ganz fehl am Platze sein sein, lehnt sie ab. Welche Gründe es denn dafür gebe? Er schweigt, bittet still, mit bewegendem, durch ganz zarte Ironie leicht verfremdeten Ernst um Vertrauen. Als das nicht fruchtet, kehrt er um. Mit einem Kuß trennen sie sich, wie es Leute tun, die eine lange enge Liebe verbindet, mit verzehrenden Enttäuschungsintervallen, so wie bei Meryl Streep und Robert Redford in „Jenseits von Afrika“. Sie fährt nach Berlin, und trifft dort den neuen Freund (Carl John). Sie geraten in einen sehr dichten Verkehr, umtost von Märschen und Fackelzügen. Er genießt ihre diskrete Isolierung in der Menge, sie teilt seine Stimmung mit der vordergründigen Entschiedenheit einer Frau, die bereit ist, das Zweitbeste uneingeschränkt zu wollen. Was denn los sei, fragt sie. Darauf er: „Ach ja, der ..., der Dingsda ist jetzt Reichskanzler geworden“. Als sie von dem Besuch ihres früheren Freundes erzählt und dessen rigorosem Vorschlag, meint er nur, ja natürlich, der wäre ja einer der Ersten gewesen, den sie sich geschnappt hätten. Unterdes hat er den „glücklichsten Tag seines Lebens“ in die Windschutzscheibe des Autos geritzt. Aber sie sagt, obwohl sie sich gerade umarmt haben (unnachahmlich die zärtliche Gebärde ihrer Hand im Handschuh), es werde wohl nicht sein glücklichster Tag sein, denn sie müsse sofort nach Hamburg, wo morgen das Schiff abgehe. Sie spricht mit dem werbenden Charme liebenswürdiger Vergeblichkeit. Er reagiert mit einer raschen Stufenfolge freundlicher, trauriger, verständnisvoller und entsagender Mienen. So etwas gibt es im Kino, große Kunst. Durch den Kontrast zu den Weltereignissen, die alle Maßstäbe sprengen, gewinnt die Politik hier, indem sie sich im Privaten spiegelt, einen Realitätsgehalt, den die Geschichtsbücher nicht treffen. Dies um so weniger, wenn das private Leben kompliziert und ambivalent ist, durch vielerlei äußere und innere Probleme, die genuin mit der Politik nichts zu tun haben, belastet. Dass die Politik ihrerseits schicksalhaft interveniert, ist die erste gut sichtbare Pointe der Geschichte. Die zweite, tiefer liegende besteht darin, dass diese Intervention nicht direkt ist, sondern die Eigendynamik des Privaten bewegt, neue Orientierungen auslöst, die wieder höchst privat sind. Wie sich hier die narrative Überlegenheit des Kunstwahren offenbart, ist das Faszinosum. Auch für die zweite Geschichte gilt das. Franz Schafheitlin spielt einen Museumsdirektor, dessen schmale dunkelhaarige Frau heimlich den im herzlichsten
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Ton mit der Familie umgehenden Freund des Mannes, einen modernen Komponisten, gespielt von Hans Nielsen, trifft. Das wird nicht gesagt, aber man merkt es auf der Stelle, durch ein Ensemble flüchtigster, zartester, subtilster Andeutungen, die sich gleichmäßig – ohne Steigerung – im Fortgang der Handlung wiederholen, etwa bei der Verabschiedung nach einem in der Villa des Ehepaares auf dem Lande verbrachten Wochenende. Hans Nielsen bedankt sich mit doppelbödiger, aber dabei keineswegs unaufrichtig wirkender Wärme bei der „Hausfrau“ in schönen ritualischen Wendungen, die der Ehemann in sympathischer Arglosigkeit bonhommistisch kommentiert, eine große Leistung von Franz Schafheitlin, den man eigentlich eher als intriganten Bösewicht kennt. Überlagert ist diese ebenso gutartig wie raffiniert larvierte Intimität von der ganz offenen, längst freundlich belächelten, schwärmerischen Liebe der kindlichen Tochter zu dem Komponisten. Sie ist es, die ein Beweisstück, einen im Auto des Komponisten – es ist wieder unser Auto – verlorenen Kamm der Mutter findet, über dessen Verschwinden schon vorher harmlose Redensarten gewechselt werden, von der Tochter freilich alle auf den einen dunklen Punkt hin investigatorisch verbucht. Sie tut das besonders eindringlich, als sich alle Vier bei einem gemeinsamen Ausflug auf einer kleinen Anhöhe gelagert haben. Nur der Ehemann spricht, die anderen schweigen, von gemeinsamen wie getrennten Geheimnissen bedrückt. Äußerste Privatheit, der vergnügt redselige Ehemann fragt nach dem nächsten Konzert des Komponisten. Dieser teilt daraufhin mit, dazu werde es nicht kommen, er sei „verboten“, „untragbar“, ausgeschlossen. Der Schock vereinigt die Gefühle, und fast sieht es so aus, als ob alle anderen Probleme relativiert seien. Aber das ist nur der erste Eindruck – des Betrachters wie der Beteiligten. In Wahrheit versinken sie nun im Zwielicht, verschwinden nicht, sondern werden nur noch komplizierter. Die Hiobsbotschaft paralysiert die Absicht der Tochter, der Gesellschaft die Wahrheit zu verkünden, aber das Unglück nistet sich um so stärker in die Seelen ein, wie nun erst recht nicht darüber gesprochen wird. Nur der ahnungslose Ehemann erlaubt sich den Luxus reiner Empörung, die anderen wissen eigentlich nicht, wofür sie sich entscheiden sollen, für das politische Unglück oder das persönliche. Keineswegs öffnet sich nun der Weg zu durch Eindeutigkeit befreienden Alternativen. Denn das politische Unglück ist ja gar keine Alternative, sondern nur die Steigerung des persönlichen Unglücks. „Wollen wir gehen?“ fragt der Komponist, und von der Ambiguität dieser neuen Gefühlslage gelähmt, wandeln sie davon, eine Gruppe, vergleichbar Bunuels schweigendem Spaziergang der fünf Freunde auf einem einsamen Landsträßchen im „Diskreten Charme der Bourgoisie“. Die Frau unschlüssig, in sich gekehrt, verstört, der Komponist politisch-visionär vom Zorn entflammt, aber das Großartige daran wird getrübt
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durch sein nicht unterdrückbares Gefühl der endgültigen Zerstörung eines ohnehin bedrohten persönlichen Glücks. Wiederum eine schauspielerische Leistung höchsten Ranges, und man denkt an Peter Steins Ausspruch vom Schauspieler mit den sieben Gesichtern. Die Tochter, das Kind, weicht demütig vor den Problemen zurück, die ihr persönliches Leid in den Schatten stellen, aber nicht beseitigen, und dieser ungelöste Rest gibt ihrem Gesicht einen zusätzlichen Zug trotziger Zerknirschung angesichts der jetzt noch unbegreiflicher werdenden Welt der Erwachsenen. Wieder ist es so, dass die Politik die Ambivalenz nicht mit einer großen Woge wegspült, sondern verschärft – durch die im Vergleich mit der Realität des unhintergehbar Individuellen fiktive Absurdität des Allgemeinen. Die dritte Geschichte. Ida Ehre spielt die jüdische Frau, die zusammen mit ihrem nichtjüdischen Mann ein Bilderrahmengeschäft betreibt, und ihn und sich selbst vor den Folgen des Verdikts auch über die „Mischehen“ bewahren möchte, indem sie sich von ihm trennt. Sie bepacken ein Auto – unser Auto – dessen Beschlagnahme bevorsteht, mit Koffern und Kästen, um sich zu einem außerhalb der Stadt gelegenen Gartenhaus zu begeben, streiten sich dabei auf eine quälende kleinbürgerliche Weise. Der Mann weiß und ahnt auch nicht, was die Frau vorhat. Nach und nach sagt sie es, unter kränkenden Hinweisen darauf, dass ihre Ehe doch ohnehin nichts wert sei, jeder seine eigenen Wege gegangen sei und schon lange auch nicht einmal das. Ihr Gesicht, hochmütignachsichtig mit scharfen Konturen und dunklen Schatten herber Melancholie, aber doch überlegen-milde, ist so überzeugend, dass man sich nicht recht vorstellen kann, wie der mißmutige farblose Mann darauf eigentlich angemessen reagieren könnte. Aber dann passiert das überraschende: Das Gesicht des Mannes füllt sich in einem schnellen Wechsel des Ausdrucks mit Leben. Späte Betroffenheit, Erschütterung, eine Art Durchstieg zu den ganz frühen Gefühlen ihrer Liebe, verbinden sich zu einem Signal verzeihender Resignation. Auch hier führt der Einbruch der Politik jedenfalls nicht sofort zu einer kathartischen Lösung, sondern bringt einen Mischzustand hervor. Die beiden kehren – in dem Auto – in die Stadt zurück und erleben die „Kristallnacht“. Ihr eigenes Geschäft bleibt, weil es unter dem Namen des Mannes läuft, verschont. Daraufhin nimmt er einen großen Stein und zerstört selbst die Scheibe seines Geschäfts. Also doch ein Ende mit Schrecken? Man erfährt nicht genau, was aus den beiden nun wird. Die Episode endet mit einer polizeilichen Augenscheinnahme. Beide sind tot, durch Selbstmord. Aber das ist nicht ohne weiteres politisch zu deuten, sondern auch als desperates Ende einer traurigen Ehe.
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In der vierten Geschichte sieht man durch die Windschutzscheibe unseres Autos zwei Frauen in einem ernsten Gespräch. Die Ältere – sie sind Schwestern, wie man bald erfährt – macht sich Sorgen über das Verschwinden ihres Mannes. Die jüngere Schwester schweigt – lastend. S i e weiß, wo der Mann ist, denn er ist ihr heimlicher Geliebter, arbeitet zusammen mit ihr im politischen Untergrund. Inzwischen ist er auf der Flucht. Nach einigem Zögern klärt die Schwester die Ehefrau auf. Diese versteinert. Die Schwester steigt aus, die Ehefrau fährt weiter, kommt in eine Polizeikontrolle, und da die Frau gesucht wird, mit der ihr Mann zusammen gearbeitet hat, entschließt sie sich, die Schwester zu bitten, ihm ins Ausland zu folgen, obwohl sie bereits weiß, dass er „auf der Flucht erschossen“ worden ist. Was ist das? Die Erbitterung über die untreue Schwester wird weggeschwemmt durch die höhere politische Idee, könnte man sagen. Es mag aber auch einfach so sein, dass die Sorge um die Schwester sie mehr beschäftigt als deren Untreue. Oder es ist so, dass ihre Enttäuschung weder durch den politischen Heldenmut des Mannes aufgehoben ist, noch durch die Rettung der Schwester kompensiert werden kann, und nichts bleibt als ein moralisches Minimum. Ich habe diese vier Geschichten ausgewählt, weil sie übereinstimmen in der Tendenz, dass politische Perversion, wenn sie das private Leben ergreift, dieses auch dort schwieriger macht, wo sie sich nicht unmittelbar auswirkt. Die mittelbaren Wirkungen sind Resignation oder Heroismus, oder beides zusammen. Am Anfang des Films sagt der eine der beiden Männer, gespielt von Erich Schellow, in die Stille einer gedankenschweren Pause hinein: „Weißt Du, es gibt keine Menschen mehr“. Das ist das Stichwort für das sprechende Auto, und es beginnt mit seinem bis zum Ende des Krieges reichenden Bericht über Schicksale, deren Protagonisten das Erlebnis unmenschlicher Politik, ohne sie direkt zu bekämpfen, mit privater Menschlichkeit quittieren. Diese Menschlichkeit präsentiert sich in schmerzlichen Kompromissen. Den Informationen über das messbare große Leid – inzwischen in aller Munde – werden Wahrnehmungen hinzugefügt, die im Mikrobereich unermesslich bleiben. Die ersten künstlerischen Reaktionen auf das Grauen des Krieges greifen also sofort in Tiefen, die spätere aufwendige und materialreichere Produktionen nur selten erreichen. Vielleicht gibt es so etwas wie eine Genialität des Anfangs, so wie die ersten Tonfilme, etwa „Unter den Dächern von Paris“, „M“, „Im Westen nichts Neues“, eigentlich ohne Konkurrenz geblieben sind.
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Vom „Foul“ zur Regel „Ich prüfe Fußball“, sagte der schweizerische Rechtsphilosoph Peter Noll (bekannt geworden vor allem durch seine „Gesetzgebungslehre“), die Silben – baslerisch – zerdehnend, als er gefragt wurde, ob er sich für Fußball interessiere. Ich blinzelte – snobistisch angeflogen – ungläubig, aber die Autorität dieses Kollegen sprach doch immerhin für sich. Jahrzehnte sind seitdem vergangen. Ich habe den Satz bei vielen Gelegenheiten zitiert, er ist förmlich in mich hinein gewachsen, und jetzt, bei dieser Europameisterschaft, wird er mir endlich zur Gewissheit. Was prüfte Noll denn? „Die Regeln und ihre Verletzungen“, war die Antwort, wieder im breiten, Verlässlichkeit atmenden Baslerisch. Was sich buchstäblich „abspielt“, ist die Koinzidenz von Abenteuer und System, Spontaneität und Weitsicht, Autonomie und Anpassung, pars pro toto gipfelnd in der schicksalsschweren Spannung und Zerrissenheit der Züge des Spielers, der zum Freistoß über die unüberwindbar scheinende Barriere der Gegner ansetzt – vom Mut der Verzweiflung und dem scharfen Kalkül in den Mienen der Kombattanten beim Elfmeter ganz zu schweigen. Diese Vorgänge leben davon, dass Regeln existieren, deren Spielraum die Spieler „ausreizen“ müssen, um sie zu valutieren. Bewegen sich die Spieler nur im ganz sicheren Bereich, damit der Schiedsrichter nicht pfeift, wird das Spiel nicht nur langweilig, sondern dysfunktional. Ängstliche Bravheit ist ganz falsch. „Fouls“ sind also unvermeidbar; der Übergang zum nicht mehr Zulässigen ist fließend, und wer bis an die Grenze des Erlaubten gehen möchte, riskiert in einem gewissen Rahmen unausweichlich die Verletzung. Dass auch diese Grenzzone grau bleibt – die Inkaufnahme schwerer Verletzungen wird nicht gebilligt – , indiziert das erlaubte Risiko im Risiko. Deshalb werden längst nicht alle „Fouls“ sanktioniert, andernfalls würde niemand mehr gerade das wagen, was die Verletzung der Regel zu deren Bestätigung beiträgt. Dass dieser Mechanismus, so klügelnd seine Rekonstruktion anmutet, von den Beteiligten, auch dem Schiedsrichter, nicht gedacht, sondern gelebt wird, ist die Pointe. Sie überzeugt selbst den, der Regeln eigentlich nicht mag, vielleicht sogar verachtet. Auch die Leidenschaft und die Lust beim Ansehen der Spiele
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würde fehlen, wenn es keine oder doch nur ganz simple Regeln gäbe. Dass gerade die sorgfältig getüftelten Regeln populär sind, ist das großartige. Dem Fußball und seinen Regeln muss man nun einen besonderen Kranz winden. Wenn man sieht, wie angestrengt die Spieler vermeiden, ihre Hände zu benutzen, versuchen, den Ball, wenn er von weitem auf sie zukommt, in der Mitte des Körpers abzufangen, beim dribbelnden Kampf um den Ball den Gegner nicht anzufassen oder gar festzuhalten, wird aus der Kombination von Fuß und Kopf, die eigentlich primitiv und komisch wirkt, eine raffinierte Erfindung. Dies um so mehr, als das Endziel, das Tor, verhältnismäßig selten realisiert wird. Zwei zu Eins ist vielleicht das Beste. Sieben zu Fünf ist banal, Null zu Null ist quälend. Dass die großen Spiele sich in einem ganz engen Bereich möglicher Zahlenverhältnisse bewegen, ist eine Art goldener Schnitt, der signalisiert, wie die durch Regel und Regelverletzung optimierten Effekte am besten zustande kommen. Ein diskussionswürdiges Modell gesellschaftlichen Lebens? Es ist gar nicht leicht, dieser auf den zweiten Blick voreiligen Apotheose mit dem der Seriosität geschuldeten Misstrauen zu begegnen. Denn hinzu kommt ja noch, dass auch das Problem, wie verhalte ich mich im Kollektiv, gelöst ist. Das – zielsichere – Abgeben des Balles unter den Mitgliedern der gleichen Mannschaft hat zwar zunächst vielleicht den Anschein selbstgefälliger Virtuosität; aber man wird sehr bald eines besseren belehrt, wenn sich daraus auf einmal der Paß des einzelnen Spielers herausschält, die Frucht einer umsichtig vorbereiteten Koordination. Und während mich beim Schreiben die Furcht überschleicht, das sei ja doch eine mühselig forcierte Sinngebung, sehe ich, wie die kleineren und größeren Flecken einander umkreisender Spieler in schnellsten Veränderungen dahingleiten und in diesen schwimmenden Bewegungen das Komplizierteste von selbst geschieht, die Regeln zugleich respektiert und verhüllt werden.
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Die Ungleichzeitigkeit des Gleichzeitigen
Goethe, Zacharias Werner und Fontane – eine kleine Nachlese zu Safranskis Goethe-Biographie Wenn man in Fontanes „Schach von Wuthenow“ erfährt, wie die Berliner Gesellschaft über die Aufführung des Theaterstücks von Zacharias Werner, „Martin Luther oder Die Weihe der Kraft“ diskutiert, kommt man nicht so leicht auf die Idee, sich vorzustellen, was zur gleichen Zeit über diesen Schriftsteller dort gesagt wird, wo gerade die „Wahlverwandtschaften“ entstehen. Was hat sein Drama mit Goethes Roman zu tun? Für die der zeitgenössischen Chemie zuzurechnenden Metaphern ist Goethe selbst zuständig, erst recht für die nicht rein erfundenen Erlebnisse. Relativ fremd bleibt ihm aber, wie sich inzwischen Religiöses und Sinnlich-Erotisches neuartig mischen. Bei der Abfassung der „Wahlverwandtschaften“ ein schwieriges Problem im Hintergrund. Dass der Schriftsteller Zacharias Werner (1768–1823) in jenen Tagen „bei Goethe aus- und einging“, ist demnach gar nicht so erstaunlich, wie Rüdiger Safranski meint. Immerhin schreibt er selbst: „Werner war nun wirklich ein vorbildlicher Autor, doch zugleich auch ein höchst sinnlicher, für Goethe ein Beispiel zweideutiger Schlüpfrigkeiten, bei der das Schmachten nach dem Heiligen nicht mit dem Sinnlichen, sondern mit dem Sexuellen verbunden ist“, und mit dem Luther-Stück wollte Werner zugleich „einen Heiligen, einen Berserker und Frauenliebling“ vorstellen. Dieser Autor bringt, was Goethe selber nicht will und kann, wohl aber für seine Geschichte braucht, weil er eben doch „besonders in Geheimnissen, dunklen imaginativen Verhältnissen eine Wohllust gefunden“ habe, wie er später, als er „Dichtung und Wahrheit“ zu schreiben beginnt, bekundet. Keineswegs sucht er, wie Safranski meint, „die scharfen Kontraste und deutlichen Konturen, oben und unten, gut und böse, streng getrennt“, sondern ist durchaus interessiert an „schwankenden, rätselhaften, grübelnden, gemischten Charakteren“ nach dem Vorbild Shakespeares“. Wie der Einfluss von Zacharias Werner auf Goethe letztlich zu gewichten ist, wissen wir freilich nicht. Aber von welcher Art er gewesen sein könnte, wird anschaulich in dem Dickicht von Stimmungen, das Fontane um die Berliner
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Die Ungleichzeitigkeit des Gleichzeitigen
Aufführung des Stückes legt. Der Rittmeister Schach von Wuthenow – eigentümlich berührt von den gewagten Bemerkungen über beauté diable, die der in der Berliner Gesellschaft irrlichternde Prinz Louis Ferdinand bei Gelegenheit einer reinen Herreneinladung fallen lässt – verführt die stark blatternarbige Victoire von Carayon, obwohl ihn, wie die Freunde wissen – die immer noch schöne – Mutter liebt. Am Tage danach spricht Schach bei den Carayons vor, und es kommt die Rede auf das Theaterstück. Jede Zeile widerstreite dem Geist und Jahrhundert der Reformation, sagt Schach. Ihn interessiere das nicht. „Oder soll ich mich für Caterina von Bora begeistern, eine Nonne, die schließlich keine war? Victoire senkte den Blick und ihre Hand zitterte, Schach sah es. Und er erschrak über seinen Fauxpas“; Schuldgefühle auf beiden Seiten, konstatiert Fontane. Bei anderen, etwa dem Hauptmann von Alvensleben, ist es schlichte Frömmigkeit, die jede Befassung mit dem Luther-Stück ablehnt, und man wundert sich auch über Iffland, der ein Freimaurer sei und sich auf solche rätselhaften Sachen doch eigentlich nicht einlassen könne, was dann mit der Bemerkung quittiert wird, er habe ja die Hauptrolle. Wieder andere finden, da gebe es nichts zu schonen: denn was habe Luther in Wahrheit in die Welt gebracht? Unduldsamkeit und Hexenprozesse, Nüchternheit und Langeweile ...“1. Ganz absurd sei es – so der mit „Staatenuntergang“ beschäftigte Militärschriftsteller von Bülow – den Bühnen-Luther nicht sehen zu wollen, „weil es Anstoß gebe, weil es Entheiligung sei“. Alle diese Leute verkehren 1808 im Haus der Frau von Carayon, aber die Sprache des Autors, Fontane, ist siebzig Jahre jünger. Kommt bei ihm deshalb alles so leicht über die Lippe, wie es zu Goethes Zeiten einfach nicht möglich gewesen wäre, oder erweist sich – vorausschauend – Goethes Realismus als besonders überlegen? Fontanes Realismus ist die Triebfeder seiner Romane und kennt keine Grenze, das Soziale und Politische gehört auch im Detail sofort dazu, ganz natürlich. Goethes Konzept des Erzählens ist ein anderes. Dezenter Abglanz soll es nur sein. Diese Mittelhöhe ist am deutlichsten im „Tasso“. Das Kunstwerk Goethe, das Safranski beschreibt, besteht in diesen Balanceakten. Sie erschöpfen sich nicht im pro und contra von Erfahrungen beim Denken und Fühlen, sondern werden von den Welthändeln buchstäblich angerührt. Goethes Beteiligung – von Safranski lebhaft beschrieben – an der Überwachung der RekrutenErhebungen, die für die Teilnahme an Preußens Alliance gegen Napoleon erforderlich werden, sind das Milieu, in dem er an „Iphigenie“ arbeitet. Das ist nicht nur Vielseitigkeit und große Lebensanstrengung, sondern es sind substanzielle Zerreißproben. Die Umsetzung in die Literatur geschieht in Bre1
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Eine kleine Nachlese zu Safranskis Goethe-Biographie
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chungen, von denen die späteren realistischen Zeitalter keinen Begriff mehr haben. Die Abschattierungen reichen bei Goethe über die unerkennbaren Verschlüsselungen in den kleineren Revolutionsdramen und wohlfeilen Gemütlichkeiten in „Hermann und Dorothea“, bis zu der ernsten Frage, ob das Dämonische – präsent in Napoleon – eher bei Egmont oder Alba zu fixieren sei. Die geistig-politischen Fragen verdichten sich aber auch zu konkreten Handlungsproblemen, deren Transformation ins Poetische nicht minder komplizierte Akte der Verfremdung provozieren. Der Herzog, eigentlich kein Feind Napoleons, muss sich wegen der verwandtschaftlichen Beziehungen mit dem Zarenhaus gegen ihn stellen, und bringt Goethe, der Loyalität nach beiden Seiten entwickelt, in große Verlegenheit. Hinzu kommt, was diesen sonst noch bedrängt: die diffizilen gesellschaftlichen Fragen nach der Heirat mit Christiane, die Aufrechterhaltung der Motivation für die Farbenlehre, der Wunsch, vertraut zu werden mit neuen internationalen Strömungen des Geisteslebens. Diese dreifache Abstraktionsleistung des Dichters Goethe – vom eigenen gesellschaftlich-politisch verantwortungsvollen Handeln, dem Sog der Welt und seinen Erkenntnisinteressen – sucht ihresgleichen und bedarf der Interpretationshilfe. Eine davon bietet Fontane durch die Unbekümmertheit, mit der er poetisch umsetzt, was er politisch sieht und intellektuell erlebt. Muss man deshalb sagen, dass Goethe es sich zu schwer gemacht hat? Wenn er alles ausgesprochen hätte in den „Wahlverwandtschaften“ – und er hätte es gekonnt, wie die eher okkasionellen Miniaturen von Persönlichkeiten zeigen in den Annalen oder Tag- und Jahres-Heften und etlichen Tagebucheinträgen – wäre der Roman um entscheidende Pointen gebracht. Das zeigen Safranskis einschlägige Fragen: Sind Ottilie und Eduard an ihrer „Schuld“ gestorben, oder waren sie Opfer der Konvention? War die Liebe Ottilies eher somnambul? Warum ist Mittler eine so schwache Gestalt? Hatte er am Ende eben gerade nicht die Funktion, für die Ehe einzutreten, sollte diese durch seine absurden Aktivitäten eher diskreditiert werden? Goethes Realismus ist „Kunstwahrheit [...] nicht einfach Nachgeahmtes, sondern gesteigerte Natur“, sagt Safranski. Ein Prozess, den man schon besser versteht, wenn er auch nur auf einer kleinen Strecke zusammen mit Fontane absolviert wird, dessen Raffinesse ebenfalls nicht gering war, aber doch anders – und gerade damit vielleicht einen Schlüssel liefert für einiges bei Goethe.
Fundstellenverzeichnis 1.
Aufklärung zwischen Revolution und Restauration. Joseph v. Eichendorff (1788–1857) als Jurist Rotary Magazin 2007, Heft 11 (Eichendorff).
2.
Shakespeare oder „Die Erfindung des gewaltempfindlichen Gewissens“ Zeitschrift für die gesamte Strafrechtswissenschaft (ZStW), 121. Band, 2009, S. 1014–1021.
3.
Konsequente Inkonsequenzen in Recht und Literatur? Zeitschrift für Internationale Strafrechtsdogmatik 1/2010, ZIS- online, S. 20–31.
4.
Jenny Lind und Fontane. Eine Anmerkung zur Geschichte der Kunstreligion FAZ 6.1.2010, S. N4 (Natur und Wissenschaft).
5.
Die Wunde Wagner FAZ 21.8.2010, S. Z3 (Bilder und Zeiten).
6.
Das Furchtbare erkennen. Über Jonathan Littell, „Die Wohlgesinnten“ Thomas Vormbaum (Hrsg.), Jahrbuch der Juristischen Zeitgeschichte 2011, Band 12, S. 353–356.
7.
Duell und Selbsttötung bei Theodor Fontane Festschrift für Hans Achenbach 2011, S. 283–297. Die italienische Fassung: „Un velato omicidio. Duello e morte volontaria in Theodor Fontane“ Diritto e castigo, Bologna 2013, S. 97–117.
8.
Von der Bankrotterklärung des Rechts. Kleists Neigung „zu lastender Rechtsproblematik“ (Thomas Mann) Erschienen unter dem Titel „Von der Bankrotterklärung des Rechts“ FAZ 22.1.2011, S. Z3 (Bilder und Zeiten).
9.
„Auf ein tüchtiges Element in der Brust des Mordbrenners bauend“ Anmerkungen zu Kleists „Michael Kohlhaas“ Festschrift für Imme Roxin 2012, S. 879–896.
10.
Geheimnisse der Jurisprudenz im Vatikan. „Nachwort zu Audienz in Rom“ von Tadeusz Breza.
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Fundstellenverzeichnis Ausführlichere Fassung des Aufsatzes in: Festschrift für Andrzej Zoll 2012, Bd. 1, S. 275 ff.
11.
Die Demokratie – „The greasy Pole“? – Ein Lehrstück aus „Yes Minister“ Erschienen unter dem Titel „Ein Lehrstück des Subversiven“ FAZ 15.1.2013.
12.
Schillers Theodizee und das Schuldstrafrecht Festschrift für Michael Walter 2014, erscheint in d. J.
13.
Schiller und das Recht – neue Perspektiven Besprechung des Buches von Yvonne Nilges, „Schiller und das Recht“, Göttingen 2012, in: Arbitrium 2013, 31. Jahrgang, Heft 3, S. 345 ff.
14.
Das Kunstwahre im Film. Käutner revisited Erstveröffentlichung.
15.
Vom „Foul“ zur Regel Erstveröffentlichung.
16.
Die Ungleichzeitigkeit des Gleichzeitigen. Goethe, Zacharias Werner und Fontane – eine kleine Nachlese zu Safranskis Goethe-Biographie Erstveröffentlichung.
Juristische Zeitgeschichte Herausgeber: Prof. Dr. Dr. Thomas Vormbaum, FernUniversität in Hagen Abteilung 1: Allgemeine Reihe 1 Thomas Vormbaum (Hrsg.): Die Sozialdemokratie und die Entstehung des Bürgerlichen Gesetzbuchs. Quellen aus der sozialdemokratischen Partei und Presse (1997) 2 Heiko Ahlbrecht: Geschichte der völkerrechtlichen Strafgerichtsbarkeit im 20. Jahrhundert (1999) 3 Dominik Westerkamp: Pressefreiheit und Zensur im Sachsen des Vormärz (1999) 4 Wolfgang Naucke: Über die Zerbrechlichkeit des rechtsstaatlichen Strafrechts. Gesammelte Aufsätze zur Strafrechtsgeschichte (2000) 5 Jörg Ernst August Waldow: Der strafrechtliche Ehrenschutz in der NS-Zeit (2000) 6 Bernhard Diestelkamp: Rechtsgeschichte als Zeitgeschichte. Beiträge zur Rechtsgeschichte des 20. Jahrhunderts (2001) 7 Michael Damnitz: Bürgerliches Recht zwischen Staat und Kirche. Mitwirkung der Zentrumspartei am Bürgerlichen Gesetzbuch (2001) 8 Massimo Nobili: Die freie richterliche Überzeugungsbildung. Reformdiskussion und Gesetzgebung in Italien, Frankreich und Deutschland seit dem Ausgang des 18. Jahrhunderts (2001) 9 Diemut Majer: Nationalsozialismus im Lichte der Juristischen Zeitgeschichte (2002) 10 Bianca Vieregge: Die Gerichtsbarkeit einer „Elite“. Nationalsozialistische Rechtsprechung am Beispiel der SS- und Polizeigerichtsbarkeit (2002) 11 Norbert Berthold Wagner: Die deutschen Schutzgebiete (2002) 12 Milosˇ Vec: Die Spur des Täters. Methoden der Identifikation in der Kriminalistik (1879–1933), (2002) 13 Christian Amann: Ordentliche Jugendgerichtsbarkeit und Justizalltag im OLG-Bezirk Hamm von 1939 bis 1945 (2003) 14 Günter Gribbohm: Das Reichskriegsgericht (2004) 15 Martin M. Arnold: Pressefreiheit und Zensur im Baden des Vormärz. Im Spannungsfeld zwischen Bundestreue und Liberalismus (2003) 16 Ettore Dezza: Beiträge zur Geschichte des modernen italienischen Strafrechts (2004) 17 Thomas Vormbaum (Hrsg.): „Euthanasie“ vor Gericht. Die Anklageschrift des Generalstaatsanwalts beim OLG Frankfurt/M. gegen Werner Heyde u. a. vom 22. Mai 1962 (2005) 18 Kai Cornelius: Vom spurlosen Verschwindenlassen zur Benachrichtigungspflicht bei Festnahmen (2006) 19 Kristina Brümmer-Pauly: Desertion im Recht des Nationalsozialismus (2006) 20 Hanns-Jürgen Wiegand: Direktdemokratische Elemente in der deutschen Verfassungsgeschichte (2006) 21 Hans-Peter Marutschke (Hrsg.): Beiträge zur modernen japanischen Rechtsgeschichte (2006)
22 Katrin Stoll: Die Herstellung der Wahrheit (2011) 23 Thorsten Kurtz: Das Oberste Rückerstattungsgericht in Herford (2014) 24 Sebastian Schermaul: Die Umsetzung der Karlsbader Beschlüsse an der Universität Leipzig 1819–1848 (2013)
Abteilung 2: Forum Juristische Zeitgeschichte 1 Franz-Josef Düwell / Thomas Vormbaum (Hrsg.): Themen juristischer Zeitgeschichte (1) – Schwerpunktthema: Recht und Nationalsozialismus (1998) 2 Karl-Heinz Keldungs: Das Sondergericht Duisburg 1943–1945 (1998) 3 Franz-Josef Düwell / Thomas Vormbaum (Hrsg.): Themen juristischer Zeitgeschichte (2) – Schwerpunktthema: Recht und Juristen in der Revolution von 1848/49 (1998) 4 Thomas Vormbaum: Beiträge zur juristischen Zeitgeschichte (1999) 5 Franz-Josef Düwell / Thomas Vormbaum: Themen juristischer Zeitgeschichte (3), (1999) 6 Thomas Vormbaum (Hrsg.): Themen juristischer Zeitgeschichte (4), (2000) 7 Frank Roeser: Das Sondergericht Essen 1942–1945 (2000) 8 Heinz Müller-Dietz: Recht und Nationalsozialismus – Gesammelte Beiträge (2000) 9 Franz-Josef Düwell (Hrsg.): Licht und Schatten. Der 9. November in der deutschen Geschichte und Rechtsgeschichte – Symposium der Arnold-Freymuth-Gesellschaft, Hamm (2000) 10 Bernd-Rüdiger Kern / Klaus-Peter Schroeder (Hrsg.): Eduard von Simson (1810–1899). „Chorführer der Deutschen“ und erster Präsident des Reichsgerichts (2001) 11 Norbert Haase / Bert Pampel (Hrsg.): Die Waldheimer „Prozesse“ – fünfzig Jahre danach. Dokumentation der Tagung der Stiftung Sächsische Gedenkstätten am 28. und 29. September in Waldheim (2001) 12 Wolfgang Form (Hrsg.): Literatur- und Urteilsverzeichnis zum politischen NS-Strafrecht (2001) 13 Sabine Hain: Die Individualverfassungsbeschwerde nach Bundesrecht (2002) 14 Gerhard Pauli / Thomas Vormbaum (Hrsg.): Justiz und Nationalsozialismus – Kontinuität und Diskontinuität. Fachtagung in der Justizakademie des Landes NRW, Recklinghausen, am 19. und 20. November 2001 (2003) 15 Mario Da Passano (Hrsg.): Europäische Strafkolonien im 19. Jahrhundert. Internationaler Kongreß des Dipartimento di Storia der Universität Sassari und des Parco nazionale di Asinara, Porto Torres, 25. Mai 2001 (2006) 16 Sylvia Kesper-Biermann / Petra Overath (Hrsg.): Die Internationalisierung von Strafrechtswissenschaft und Kriminalpolitik (1870–1930). Deutschland im Vergleich (2007) 17 Hermann Weber (Hrsg.): Literatur, Recht und Musik. Tagung im Nordkolleg Rendsburg vom 16. bis 18. September 2005 (2007) 18 Hermann Weber (Hrsg.): Literatur, Recht und (bildende) Kunst. Tagung im Nordkolleg Rendsburg vom 21. bis 23. September 2007 (2008) 19 Francisco Muñoz Conde / Thomas Vormbaum (Hrsg.): Transformation von Diktaturen in Demokratien und Aufarbeitung der Vergangenheit (2010)
Abteilung 3: Beiträge zur modernen deutschen Strafgesetzgebung. Materialien zu einem historischen Kommentar 1 Thomas Vormbaum / Jürgen Welp (Hrsg.): Das Strafgesetzbuch seit 1870. Sammlung der Änderungen und Neubekanntmachungen; Vier Textbände (1999–2002) und drei Supplementbände (2005, 2006) 2 Christian Müller: Das Gewohnheitsverbrechergesetz vom 24. November 1933. Kriminalpolitik als Rassenpolitik (1998) 3 Maria Meyer-Höger: Der Jugendarrest. Entstehung und Weiterentwicklung einer Sanktion (1998) 4 Kirsten Gieseler: Unterlassene Hilfeleistung – § 323c StGB. Reformdiskussion und Gesetzgebung seit 1870. (1999) 5 Robert Weber: Die Entwicklung des Nebenstrafrechts 1871–1914 (1999) 6 Frank Nobis: Die Strafprozeßgesetzgebung der späten Weimarer Republik (2000) 7 Karsten Felske: Kriminelle und terroristische Vereinigungen – §§ 129, 129a StGB (2002) 8 Ralf Baumgarten: Zweikampf – §§ 201–210 a.F. StGB (2003) 9 Felix Prinz: Diebstahl – §§ 242 ff. StGB (2003) 10 Werner Schubert / Thomas Vormbaum (Hrsg.): Entstehung des Strafgesetzbuchs. Kommissionsprotokolle und Entwürfe. Band 1: 1869 (2002); Band 2: 1870 (2004) 11 Lars Bernhard: Falsche Verdächtigung (§§ 164, 165 StGB) und Vortäuschen einer Straftat (§ 145d StGB), (2003) 12 Frank Korn: Körperverletzungsdelikte – §§ 223 ff., 340 StGB. Reformdiskussion und Gesetzgebung von 1870 bis 1933 (2003) 13 Christian Gröning: Körperverletzungsdelikte – §§ 223 ff., 340 StGB. Reformdiskussion und Gesetzgebung seit 1933 (2004) 14 Sabine Putzke: Die Strafbarkeit der Abtreibung in der Kaiserzeit und in der Weimarer Zeit. Eine Analyse der Reformdiskussion und der Straftatbestände in den Reformentwürfen (1908–1931), (2003) 15 Eckard Voßiek: Strafbare Veröffentlichung amtlicher Schriftstücke (§ 353d Nr. 3 StGB). Gesetzgebung und Rechtsanwendung seit 1851 (2004) 16 Stefan Lindenberg: Brandstiftungsdelikte – §§ 306 ff. StGB. Reformdiskussion und Gesetzgebung seit 1870 (2004) 17 Ninette Barreneche†: Materialien zu einer Strafrechtsgeschichte der Münchener Räterepublik 1918/1919 (2004) 18 Carsten Thiel: Rechtsbeugung – § 339 StGB. Reformdiskussion und Gesetzgebung seit 1870 (2005) 19 Vera Große-Vehne: Tötung auf Verlangen (§ 216 StGB), „Euthanasie“ und Sterbehilfe. Reformdiskussion und Gesetzgebung seit 1870 (2005) 20 Thomas Vormbaum / Kathrin Rentrop (Hrsg.): Reform des Strafgesetzbuchs. Sammlung der Reformentwürfe. Band 1: 1909 bis 1919. Band 2: 1922 bis 1939. Band 3: 1959 bis 1996 (2008) 21 Dietmar Prechtel: Urkundendelikte (§§ 267 ff. StGB). Reformdiskussion und Gesetzgebung seit 1870 (2005) 22 Ilya Hartmann: Prostitution, Kuppelei, Zuhälterei. Reformdiskussion und Gesetzgebung seit 1870 (2006)
23 Ralf Seemann: Strafbare Vereitelung von Gläubigerrechten (§§ 283 ff., 288 StGB). Reformdiskussion und Gesetzgebung seit 1870 (2006) 24 Andrea Hartmann: Majestätsbeleidigung (§§ 94 ff. StGB a.F.) und Verunglimpfung des Staatsoberhauptes (§ 90 StGB). Reformdiskussion und Gesetzgebung seit dem 19. Jahrhundert (2006) 25 Christina Rampf: Hausfriedensbruch (§ 123 StGB). Reformdiskussion und Gesetzgebung seit 1870 (2006) 26 Christian Schäfer: „Widernatürliche Unzucht“ (§§ 175, 175a, 175b, 182, a.F. StGB). Reformdiskussion und Gesetzgebung seit 1945 (2006) 27 Kathrin Rentrop: Untreue und Unterschlagung (§§ 266 und 246 StGB). Reformdiskussion und Gesetzgebung seit dem 19. Jahrhundert (2007) 28 Martin Asholt: Straßenverkehrsstrafrecht. Reformdiskussion und Gesetzgebung seit dem Ausgang des 19. Jahrhunderts (2007) 29 Katharina Linka: Mord und Totschlag (§§ 211–213 StGB). Reformdiskussion und Gesetzgebung seit 1870 (2008) 30 Juliane Sophia Dettmar: Legalität und Opportunität im Strafprozess. Reformdiskussion und Gesetzgebung von 1877 bis 1933 (2008) 31 Jürgen Durynek: Korruptionsdelikte (§§ 331 ff. StGB). Reformdiskussion und Gesetzgebung seit dem 19. Jahrhundert (2008) 32 Judith Weber: Das sächsische Strafrecht im 19. Jahrhundert bis zum Reichsstrafgesetzbuch (2009) 33 Denis Matthies: Exemplifikationen und Regelbeispiele. Eine Untersuchung zum 100-jährigen Beitrag von Adolf Wach zur „Legislativen Technik“ (2009) 34 Benedikt Rohrßen: Von der „Anreizung zum Klassenkampf“ zur „Volksverhetzung“ (§ 130 StGB). Reformdiskussion und Gesetzgebung seit dem 19. Jahrhundert (2009) 35 Friederike Goltsche: Der Entwurf eines Allgemeinen Deutschen Strafgesetzbuches von 1922 (Entwurf Radbruch) (2010) 36 Tarig Elobied: Die Entwicklung des Strafbefehlsverfahrens von 1846 bis in die Gegenwart (2010) 37 Christina Müting: Sexuelle Nötigung; Vergewaltigung (§ 177 StGB) (2010) 38 Nadeschda Wilkitzki: Entstehung des Gesetzes über Internationale Rechtshilfe in Strafsachen (IRG) (2010) 39 André Brambring: Kindestötung (§ 217 a.F. StGB). Reformdiskussion und Gesetzgebung seit 1870 (2010) 40 Wilhelm Rettler: Der strafrechtliche Schutz des sozialistischen Eigentums in der DDR (2010) 41 Yvonne Hötzel: Debatten um die Todesstrafe in der Bundesrepublik Deutschland von 1949 bis 1990 (2010) 42 Dagmar Kolbe: Strafbarkeit im Vorfeld und im Umfeld der Teilnahme (§§ 88a, 110, 111, 130a und 140 StGB). Reformdiskussion und Gesetzgebung seit dem 19. Jahrhundert (2011)
Abteilung 4: Leben und Werk. Biographien und Werkanalysen 1 Mario A. Cattaneo: Karl Grolmans strafrechtlicher Humanismus (1998) 2 Gerit Thulfaut: Kriminalpolitik und Strafrechtstheorie bei Edmund Mezger (2000) 3 Adolf Laufs: Persönlichkeit und Recht. Gesammelte Aufsätze (2001) 4 Hanno Durth: Der Kampf gegen das Unrecht. Gustav Radbruchs Theorie eines Kulturverfassungsrechts (2001) 5 Volker Tausch: Max Güde (1902–1984). Generalbundesanwalt und Rechtspolitiker (2002) 6 Bernd Schmalhausen: Josef Neuberger (1902–1977). Ein Leben für eine menschliche Justiz (2002) 7 Wolf Christian von Arnswald: Savigny als Strafrechtspraktiker. Ministerium für die Gesetzesrevision (1842–1848), (2003) 8 Thilo Ramm: Ferdinand Lassalle. Der Revolutionär und das Recht (2004) 9 Martin D. Klein: Demokratisches Denken bei Gustav Radbruch (2007) 10 Francisco Muñoz Conde: Edmund Mezger – Beiträge zu einem Juristenleben (2007) 11 Whitney R. Harris: Tyrannen vor Gericht. Das Verfahren gegen die deutschen Hauptkriegsverbrecher nach dem Zweiten Weltkrieg in Nürnberg 1945–1946 (2008) 12 Eric Hilgendorf (Hrsg.): Die deutschsprachige Strafrechtswissenschaft in Selbstdarstellungen (2010) 13 Tamara Cipolla: Friedrich Karl von Strombeck. Leben und Werk – Unter besonderer Berücksichtigung des Entwurfes eines Strafgesetzbuches für ein Norddeutsches Staatsgebiet (2010) 14 Karoline Peters: J. D. H. Temme und das preußische Strafverfahren in der Mitte des 19. Jahrhunderts (2010)
Abteilung 5: Juristisches Zeitgeschehen Rechtspolitik und Justiz aus zeitgenössischer Perspektive Mitherausgegeben von Gisela Friedrichsen („Der Spiegel“) und RA Prof. Dr. Franz Salditt 1 Diether Posser: Anwalt im Kalten Krieg. Ein Stück deutscher Geschichte in politischen Prozessen 1951–1968. 3. Auflage (1999) 2 Jörg Arnold (Hrsg.): Strafrechtliche Auseinandersetzung mit Systemvergangenheit am Beispiel der DDR (2000) 3 Thomas Vormbaum (Hrsg.): Vichy vor Gericht: Der Papon-Prozeß (2000) 4 Heiko Ahlbrecht / Kai Ambos (Hrsg.): Der Fall Pinochet(s). Auslieferung wegen staatsverstärkter Kriminalität? (1999) 5 Oliver Franz: Ausgehverbot für Jugendliche („Juvenile Curfew“) in den USA. Reformdiskussion und Gesetzgebung seit dem 19. Jahrhundert (2000) 6 Gabriele Zwiehoff (Hrsg.): „Großer Lauschangriff“. Die Entstehung des Gesetzes zur Änderung des Grundgesetzes vom 26. März 1998 und des Gesetzes zur Änderung der Strafprozeßordnung vom 4. Mai 1998 in der Presseberichterstattung 1997/98 (2000)
7 Mario A. Cattaneo: Strafrechtstotalitarismus. Terrorismus und Willkür (2001) 8 Gisela Friedrichsen / Gerhard Mauz: Er oder sie? Der Strafprozeß Böttcher/ Weimar. Prozeßberichte 1987 bis 1999 (2001) 9 Heribert Prantl / Thomas Vormbaum (Hrsg.): Juristisches Zeitgeschehen 2000 in der Süddeutschen Zeitung (2001) 10 Helmut Kreicker: Art. 7 EMRK und die Gewalttaten an der deutsch-deutschen Grenze (2002) 11 Heribert Prantl / Thomas Vormbaum (Hrsg.): Juristisches Zeitgeschehen 2001 in der Süddeutschen Zeitung (2002) 12 Henning Floto: Der Rechtsstatus des Johanniterordens. Eine rechtsgeschichtliche und rechtsdogmatische Untersuchung zum Rechtsstatus der Balley Brandenburg des ritterlichen Ordens St. Johannis vom Spital zu Jerusalem (2003) 13 Heribert Prantl / Thomas Vormbaum (Hrsg.): Juristisches Zeitgeschehen 2002 in der Süddeutschen Zeitung (2003) 14 Kai Ambos / Jörg Arnold (Hrsg.): Der Irak-Krieg und das Völkerrecht (2004) 15 Heribert Prantl / Thomas Vormbaum (Hrsg.): Juristisches Zeitgeschehen 2003 in der Süddeutschen Zeitung (2004) 16 Sascha Rolf Lüder: Völkerrechtliche Verantwortlichkeit bei Teilnahme an „Peace-keeping“-Missionen der Vereinten Nationen (2004) 17 Heribert Prantl / Thomas Vormbaum (Hrsg.): Juristisches Zeitgeschehen 2004 in der Süddeutschen Zeitung (2005) 18 Christian Haumann: Die „gewichtende Arbeitsweise“ der Finanzverwaltung. Eine Untersuchung über die Aufgabenerfüllung der Finanzverwaltung bei der Festsetzung der Veranlagungssteuern (2008) 19 Asmerom Ogbamichael: Das neue deutsche Geldwäscherecht (2011) 20 Lars Chr. Barnewitz: Die Entschädigung der Freimaurerlogen nach 1945 und nach 1989 (2011) 21 Ralf Gnüchtel: Jugendschutztatbestände im 13. Abschnitt des StGB (2013)
Abteilung 6: Recht in der Kunst Mitherausgegeben von Prof. Dr. Gunter Reiß 1 Heinz Müller-Dietz: Recht und Kriminalität im literarischen Widerschein. Gesammelte Aufsätze (1999) 2 Klaus Lüderssen (Hrsg.): »Die wahre Liberalität ist Anerkennung«. Goethe und die Juris prudenz (1999) 3 Bertolt Brecht: Die Dreigroschenoper (1928) / Dreigroschenroman (1934). Mit Kommentaren von Iring Fetscher und Bodo Plachta (2001) 4 Annette von Droste-Hülshoff: Die Judenbuche (1842) / Die Vergeltung (1841). Mit Kommentaren von Heinz Holzhauer und Winfried Woesler (2000) 5 Theodor Fontane: Unterm Birnbaum (1885). Mit Kommentaren von Hugo Aust und Klaus Lüderssen (2001) 6 Heinrich von Kleist: Michael Kohlhaas (1810). Mit Kommentaren von Wolfgang Naucke und Joachim Linder (2000) 7 Anja Sya: Literatur und juristisches Erkenntnisinteresse. Joachim Maass’ Roman „Der Fall Gouffé“ und sein Verhältnis zu der historischen Vorlage (2001)
8 Heiner Mückenberger: Theodor Storm – Dichter und Richter. Eine rechtsgeschichtliche Lebensbeschreibung (2001) 9 Hermann Weber (Hrsg.): Annäherung an das Thema „Recht und Literatur“. Recht, Literatur und Kunst in der NJW (1), (2002) 10 Hermann Weber (Hrsg.): Juristen als Dichter. Recht, Literatur und Kunst in der NJW (2), (2002) 11 Hermann Weber (Hrsg.): Prozesse und Rechtsstreitigkeiten um Recht, Literatur und Kunst. Recht, Literatur und Kunst in der NJW (3), (2002) 12 Klaus Lüderssen: Produktive Spiegelungen. 2., erweiterte Auflage (2002) 13 Lion Feuchtwanger: Erfolg. Drei Jahre Geschichte einer Provinz. Roman (1929). Mit Kommentaren von Theo Rasehorn und Ernst Ribbat (2002) 14 Jakob Wassermann: Der Fall Maurizius. Roman (1928). Mit Kommentaren von Thomas Vormbaum und Regina Schäfer (2003) 15 Hermann Weber (Hrsg.): Recht, Staat und Politik im Bild der Dichtung. Recht, Literatur und Kunst in der Neuen Juristischen Wochenschrift (4), (2003) 16 Hermann Weber (Hrsg.): Reale und fiktive Kriminalfälle als Gegenstand der Literatur. Recht, Literatur und Kunst in der Neuen Juristischen Wochenschrift (5), (2003) 17 Karl Kraus: Sittlichkeit und Kriminalität. (1908). Mit Kommentaren von Helmut Arntzen und Heinz Müller-Dietz (2004) 18 Hermann Weber (Hrsg.): Dichter als Juristen. Recht, Literatur und Kunst in der Neuen Juristischen Wochenschrift (6), (2004) 19 Hermann Weber (Hrsg.): Recht und Juristen im Bild der Literatur. Recht, Literatur und Kunst in der Neuen Juristischen Wochenschrift (7), (2005) 20 Heinrich von Kleist: Der zerbrochne Krug. Ein Lustspiel (1811). Mit Kommentaren von Michael Walter und Regina Schäfer (2005) 21 Francisco Muñoz Conde / Marta Muñoz Aunión: „Das Urteil von Nürnberg“. Juristischer und filmwissenschaftlicher Kommentar zum Film von Stanley Kramer (1961), (2006) 22 Fjodor Dostojewski: Aufzeichnungen aus einem Totenhaus (1860). Mit Kommentaren von Heinz Müller-Dietz und Dunja Brötz (2005) 23 Thomas Vormbaum (Hrsg.): Anton Matthias Sprickmann. Dichter und Jurist. Mit Kommentaren von Walter Gödden, Jörg Löffler und Thomas Vormbaum (2006) 24 Friedrich Schiller: Verbrecher aus Infamie (1786). Mit Kommentaren von Heinz Müller-Dietz und Martin Huber (2006) 25 Franz Kafka: Der Proceß. Roman (1925). Mit Kommentaren von Detlef Kremer und Jörg Tenckhoff (2006) 26 Heinrich Heine: Deutschland. Ein Wintermährchen. Geschrieben im Januar 1844. Mit Kommentaren von Winfried Woesler und Thomas Vormbaum (2006) 27 Thomas Vormbaum (Hrsg.): Recht, Rechtswissenschaft und Juristen im Werk Heinrich Heines (2006) 28 Heinz Müller-Dietz: Recht und Kriminalität in literarischen Spiegelungen (2007) 29 Alexander Puschkin: Pique Dame (1834). Mit Kommentaren von Barbara Aufschnaiter/Dunja Brötz und Friedrich-Christian Schroeder (2007)
30 Georg Büchner: Danton’s Tod. Dramatische Bilder aus Frankreichs Schreckensherrschaft. Mit Kommentaren von Sven Kramer und Bodo Pieroth (2007) 31 Daniel Halft: Die Szene wird zum Tribunal! Eine Studie zu den Beziehungen von Recht und Literatur am Beispiel des Schauspiels „Cyankali“ von Friedrich Wolf (2007) 32 Erich Wulffen: Kriminalpsychologie und Psychopathologie in Schillers Räubern (1907). Herausgegeben von Jürgen Seul (2007) 33 Klaus Lüderssen: Produktive Spiegelungen: Recht in Literatur, Theater und Film. Band II (2007) 34 Albert Camus: Der Fall. Roman (1956). Mit Kommentaren von Brigitte Sändig und Sven Grotendiek (2008) 35 Thomas Vormbaum (Hrsg.): Pest, Folter und Schandsäule. Der Mailänder Prozess wegen „Pestschmierereien“ in Rechtskritik und Literatur. Mit Kommentaren von Ezequiel Malarino und Helmut C. Jacobs (2008) 36 E.T.A. Hoffmann: Das Fräulein von Scuderi – Erzählung aus dem Zeitalter Ludwigs des Vierzehnten (1819). Mit Kommentaren von Heinz Müller-Dietz und Marion Bönnighausen (2010) 37 Leonardo Sciascia: Der Tag der Eule. Mit Kommentaren von Gisela Schlüter und Daniele Negri (2010) 38 Franz Werfel: Eine blaßblaue Frauenschrift. Novelle (1941). Mit Kommentaren von Matthias Pape und Wilhelm Brauneder (2011) 39 Thomas Mann: Das Gesetz. Novelle (1944). Mit Kommentaren von Volker Ladenthin und Thomas Vormbaum (2013) 40 Theodor Storm: Ein Doppelgänger. Novelle (1886) (2013) 41 Dorothea Peters: Der Kriminalrechtsfall ,Kaspar Hauser‘ und seine Rezeption in Jakob Wassermanns Caspar-Hauser-Roman (im Erscheinen) 42 Jörg Schönert: Kriminalität in der Literatur (im Erscheinen) 43 Klaus Lüderssen: Produktive Spiegelungen. Recht im künstlerischen Kontext. Band 3 (2014)
Abteilung 7: Beiträge zur Anwaltsgeschichte Mitherausgegeben von Gerhard Jungfer, Dr. Tilmann Krach und Prof. Dr. Hinrich Rüping 1 Babette Tondorf: Strafverteidigung in der Frühphase des reformierten Strafprozesses. Das Hochverratsverfahren gegen die badischen Aufständischen Gustav Struve und Karl Blind (1848/49), (2006) 2 Hinrich Rüping: Rechtsanwälte im Bezirk Celle während des Nationalsozialismus (2007)
Abteilung 8: Judaica 1 Hannes Ludyga: Philipp Auerbach (1906–1952). „Staatskommissar für rassisch, religiös und politisch Verfolgte“ (2005) 2 Thomas Vormbaum: Der Judeneid im 19. Jahrhundert, vornehmlich in Preußen. Ein Beitrag zur juristischen Zeitgeschichte (2006)
3 Hannes Ludyga: Die Rechtsstellung der Juden in Bayern von 1819 bis 1918. Studie im Spiegel der Verhandlungen der Kammer der Abgeordneten des bayerischen Landtags (2007) 4 Michele Sarfatti: Die Juden im faschistischen Italien. Geschichte, Identität, Verfolgung (2014)